Einführung in die angewandte Ethik. Verantwortlichkeit und Gewissen 3170148036

125 55

German Pages [147] Year 1997

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Einführung in die angewandte Ethik. Verantwortlichkeit und Gewissen
 3170148036

Citation preview

Hans Lenk

Einführung in die angewandte Ethik Verantwortlichkeit und Gewissen

Verlag W. Kohlhammer Stuttgart Berlin Köln

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Lenk, Hans:

Einführung in die angewandte Ethik: Verantwortlichkeit und Gewissen / Hans Lenk. - Stuttgart; Berlin; Köln: Kohlhammer, 1997 ISBN 3-17-014803-6 kart.

Alle Rechte vorbehalten © 1997 W. Kohlhammer GmbH Stuttgart Berlin Köln Umschlag: Data Images, audiovisuelle Kommunikation GmbH, Stuttgart Verlagsort: Stuttgart Gesamtherstellung: W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co. Stuttgart Printed in Germany

Inhaltsverzeichnis

. . .....

6

r.... ..............

12

1. Einleitung - Überblick über Konzeptionen der Ethik 2. Das Gewissen als Stimme - Überblick über

Gewissensbegriffe..............

3. Humanität als Selbstverantwortlichkeit - Zur Philosophie

der konkreten Humanität..... 4. Selbstverantwortung und Sozialverantwortung

41

58

5. Bhopal: Unverantwortbarkeit und Verantwortungslosigkeit:

Eine Fallstudie 6. Typen und Dimensionen der Verantwortlichkeit 7. Zur Verantwortung des Wissenschaftlers

Die Milgram-Experimente Zur Verantwortungsfrage in den Naturwissenschaften Habers Verwicklung in den (gas)chemischen Krieg Forderungen eines Physikers von heute Lösen Ethikkomitees die moralischen Dilemmata? Zur spezifischen Doppelverantwortung bei Human- und Feldversuchen

67

82 113 116 122 129

133

135

136

.......... .............. 138 ....,.......... 140 Sieben Thesen zur Verantwortung in der Wissenschaft '................. 141

Konkurrenzzwang und Ethikkonfikt ... Mitverantwortlichkeit ohne Alleinverantwortung.

Literatur ...........................................00000111. 143

5

1. Einleitung -

Uberblick über Konzeptionen der Ethik

Ethik ist die Disziplin, die Begriffe, Probleme und Theorien des Guten untersucht darunter besonders des guten Handelns und Lebens. Eine Hauptaufgabe der Ethik ist es, die Grundsätze guten und gerechten Handelns zu begründen oder zu rechtfertigen

sowie die herrschende Moral kritisch zu untersuchen. Es gibt philosophische wie auch theologische Ethiken. Unglücklicherweise ist der Ausdruck „Ethik" seit dem wissenschaftlichen Beginn dieser Disziplin - seit Aristoteles - mehrdeutig verwendet worden: Mit dem Ausdruck Ethik meint man einerseits die philosophische (oder theologische) Untersuchung von Moral und Sittlichkeit: In diesem Sinne ist Ethik gleichbedeutend

mit Moralphilosophie oder -theologie. Andererseits werden oft die moralischen oder

sittlichen Vorschriften und Regeln in ihrer Gesamtheit als Ethik bezeichnet. Um

dieser Mehrdeutigkeit abzuhelfen, empfiehlt es sich, „Ethik" auf die erstgenannte Bedeutung zu beschränken: Ethik soll hier im engeren Sinne für „philosophische Ethik"

stehen.

Auch die Ausdrücke „Moral" und „Sittlichkeit" sind in unserer Sprache mehrdeutig. Unter Moral wird häufig eine in der Gesellschaft übliche Menge von Verhaltensnormen - im Sinne von gesellschaftlich erwarteten oder sanktionierten Sitten oder gar spezifischer Gruppensitten - verstanden. Häufig werden „moralisch" und „sittlich" gar noch enger auf den Bereich der Sexualsitten eingeschränkt. Daher ist der Ausdruck „Sittlichkeit", der herkömmlich die allgemeingültigen und somit absolut unbeschränkten Verbindlichkeiten des Menschen in seinem Handeln gegenüber dem Menschen, aber auch gegenüber anderen Lebewesen bezeichnete, ebenfalls nicht mehr eindeutig. Um diesen terminologischen Schwierigkeiten zu entgehen, empfiehlt es sich, den Ausdruck „Moral" auf Gruppen- und Gesellschaftsmoralen im weiteren Sinne anzuwenden und die von der philosophischen Ethik (kurz: Ethik) zu untersuchenden Regeln und Normen „Universalmoral" (oder „Fundamentalmoral") zu

nennen. (Normen sind dabei mit Beurteilung oder Sanktion verbundene bzw. im philosophischen Sinne allgemein gerechtfertigte Handlungserwartungen, die man

gegenüber anderen und sich selbst hegen soll.)

Grob läßt sich die Ethik einteilen in eine beschreibende oder erfahrungswissenschaftliche Untersuchung der moralischen Phänomene, wie sie insbesondere durch Moralsoziologie, Moralpsychologie (zumal Entwicklungspsychologie), Ethnologie und Kulturanthropologie geleistet wird, und die vorschreibende (normative) Ethik, die philosophisch (oder theologisch) die Grundsätze und -regeln guten Handelns begründet und Normen beurteilt. (Dies ist die eigentliche inhaltliche philosophische Ethik herkömmlicher Art.) Zudem ist in neuerer Zeit die Begriffs- und Sprachanalyse moralischer Sätze einschließlich der Methoden ihrer Rechtfertigung Gegenstand der sogenannten Metaethik geworden. Untersuchungen der unterschiedlichen mo-

6

ralphilosophischen Ansätze (wie die Unterscheidung zwischen deskriptiver, normativer Ethik und Metaethik selbst) gehören im wesentlichen zum Bereich der Metaethik. Weitere wichtige Unterscheidungen in diesem Zusammenhang sind die zwischen Erkenntnisansätzen (sogenannten kognitivistischen Theorien) der Ethik und solchen Grundlegungen, welche die Autgabe der Ethik nicht in einer eigenen Erkenntnis, sondern etwa in einer sozialen Funktion des Empfehlens oder Vorschreibens usw. sehen (nicht-kognitivistische Theorien wie z. B. die präskriptive Ethik: Ethische Sätzeimpulsive seien umformulierte Befehle, oder Ethische seien letztlich Gefühlsäußerungen). Queremotive zu dieserTheorien: Einteilung verläuftSätze diejenige zwischen naturalistischen und nicht-naturalistischen Ansätzen: Die ersteren versuchen ethische Normen, Regeln und Sätze auf natürliche Bedürfnisse zurückzuführen. Naturalistische Theorien sind deskriptiv. Die letzteren stützen sich auf nicht-natürliche, nicht naturwissenschaftlich zu erfassende Erfahrungen im Moralischen - wie etwa die intuitionistischen Grundlegungen, die eine dem Menschen eigentümliche besondere moralische (Wert)erfahrung als Basis annehmen. Ferner ist in modernen Sozialwissenschaften der Unterschied zwischen subjektivistischen und objektivistischen Ansätzen wichtig: Subjektivistische führen alle Normen, moralischen und universalmoralischen Sätze logisch auf subjektive Präferenzen zurück. Objektivistische Ansätze leugnen die Folgerungsbeziehungen zwischen subjektiven Vorrangsbewertungen und universalmoralischen Sätzen. Schließlich ist ein beson-

ders wichtiger Unterschied noch der zwischen einer Folgenethik (die Handlungen nur nach dem Wert ihrer Konsequenzen beurteilt) und einer Prinzipienethik (die den Wert einer Handlung nach deren Absichten oder Motiven oder nach der Handlungsweise beurteilt). Für diese letztere Gesinnungs- oder Handlungsweisenethik, für die der Zweck nicht allgemein jedes Mittel heiligen kann, hat sich der Ausdruck „deontologische" Ethiktheorie eingebürgert. Die Folgenethik wurde von Max Weber sehr mißverständlich „Verantwortungsethik" genannt; sie wird heute als teleologische oder konsequentialistische bezeichnet. Der besonders aktuelle und wichtige Utilitarismus in der Ethik, aus der englischen Tradition von Bentham und John St. Mill stammend, ist die wichtigste Variante der teleologischen Ethiktypen, welche das höchst anzustrebende Gut mit dem „größten Glück der größten Zahl" (von Menschen oder allgemeiner: Lebewesen) gleichsetzt. (Beim Utilitarismus muß der sogenannte Handlungsutilitarismus, der jede einzelne Handlungsfolge extra bewertet, von dem Regel-Utilitarismus, der nicht die einzelnen Handlungen, sondern die Regeln und Normen bewertet, die regelgemäß und regelmäßig zu Konsequenzen der Handlungen führen, unterschieden werden. Der Regel-Utilitarismus ist heute eine besonders prominente Theorie einer praxiszugewandten und adressatenorientierten pragmatischen Ethik. Natürlich können sich unterschiedliche Ethiktypen der genannten Art auch überlappen und verbinden: So betont etwa der sogenannte metaethische Multifunktionalismus die Vielfalt ethischer Bedeutungen und Funktionen; er ist also ein pluralistischer Ansatz gegenüber den monistischen Theorien, die jeweils ein einziges Prinzip als charakteristisches Merkmal für das Gute bzw. als einzige Präferenzbeziehung auszeichnen.

Was die Konkretisierung der Aufgaben der normativen Ethik betrifft, so stehen inhaltlich orientierte (materiale) Ethiken den formalen, welche die Aufgabe der Moralphilosophie nur im abstrakten allgemeinsten Prinzip und deren Anwendung sehen, gegenüber. 7

Die inhaltlich-materialen Ansätze sind zweifellos die älteren. Sie entstammen religiö-

sen Traditionen, wurden dann aber durch philosophische Begründungsversuche

schrittweise verselbständigt: Manchmal gab es Mischungen zwischen religiösen und philosophischen Begründungen. Etwa das älteste und umfassendste philosophisch all-

gemeinste Prinzip, das Ahimsa-Gebot des „Nicht-Verletzens" und Nicht-Tötens" das den vorderindischen Jainas als oberstes Normgebot galt: keinem lebendigen Wesen etwas zuleide zu tun, ist sowohl religiös als auch philosophisch motiviert (hier haben wir die früheste Quelle einer ethischen Revolution durch eine religiöse Gruppe, deren Gründung dem Mahavira, einem Zeitgenossen des Buddha, im 6. Jahrhun-

dert v. Chr. zugeschrieben wurde", die aber vermutlich auf weiter zurückliegende my-

thische Wurzeln zurückgeht). Im Abendland dürften die auf die persönliche

Glückseligkeit, maßvolle und gute Lebensführung sowie Wohlgemutheit ausgerichteten (eudaimonistischen) Weisheitssprüche Demokrits den Anfang der Ethik darstellen. Die Sophisten und Sokrates entdeckten das Prinzip des menschlichen Maßes, die Rolle der Individualität und der Tugendlehren als Rechtfertigung. Bei Platon wurden das

Gute, das Wahre und das Schöne geradezu identifiziert. Aristoteles als eigentlicher Gründer der wissenschaftlich-philosophischen Ethik stellte das Ideal der Leistungstugend und die rechte Mitte zwischen Extremen als ethische Grundlage seiner Theorie des praktisch guten Lebens in den Mittelpunkt und ordnete auch die soziale Tugend der Gerechtigkeit sowie andere Sozialtugenden in seinen weiten Rahmen einer praktischen Philosophie des guten Handelns und Lebens ein. Galten ihm die theoretische Betrachtung und die Leistungstugend (Arete) als urethische Tugenden, so sahen Stoiker die Vernunftgemäßheit und „stoische" Leidenschaftslosigkeit, Seelenruhe und Selbstgenügsamkeit als oberste Tugend an. Auch die freudeorientierten, sogenannten hedonistischen Begründungen nach Aristipp und Epikur sind eudaimonistische inhaltliche Ethiken. Die christliche Moral der Nächsten-, ja, Feindesliebe wurde nicht nur religiös begründet, sondern im Mittelalter besonders auch philosophisch begründet und ausgelegt. Das Christentum betonte vor allem den hohen, geradezu unendlichen Wert des einzelnen und der Individualität. In der Neuzeit ragen neben den weiterwirkenden christlichen Tugendlehren besonders die Theorien des moralischen Gefühls bei schottischen Moralphilosophen, die erwähnten utilitaristischen Ansätze sowie die formale Prinzipienethik Immanuel Kants hervor. Dessen Ethik bedeutete wiederum eine Art Revolution in der Moralphilosophie, weil das Universalmoralische, das Sittliche, sich auf die von allen individuellen Glücksorientierungen und Neigungen unabhängige Achtung vor der sittlichen Pflicht und dem Sittengesetz an sich beschränkte. Ethik war ihm Pflichtenethik; die Sittlichkeit hatte frei von allen Neigungen zu sein und mußte aus dem allumfassenden Sittengesetz, dem Kategorischen Imperativ, vor aller Erfahrung begründet werden: „Handle nur nach derjenigen Maxime (begründeter Handlungsvorsatz, d. Verf.), durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde" (Kant AA IV, 421). „Handle repräsentativ!" ist also die einzige formale und allgemeine Anweisung Kants, welche die pflichtenmäßige Beachtung der Sittlichkeit und der anderen notwendig mit

ihr verbundenen Werte, insbesondere der Idee der Menschheit und ihrer Anerkennung in jeder anderen Person sowie der Freiheit als sittlicher Autonomie, betont. Allgemeine Gesetzlichkeit und somit die notwendige unbeschränkte Verallgemeinerbarkeit sind das Charakteristikum des Sittlichen, des Universalmoralischen bei Kant. Für die späteren Zwecke ist allerdings seine Unterscheidung zwischen einer strengen oder engeren („unnachlaßlichen") Pflicht und jeder nur weiteren („verdienstlichen")

8

Pflicht wichtig: Die Verwirklichung „nicht absolut gebotener Werte gehört für Kant zu diesen weiteren Pflichten, besonders zur ethisch begründbaren Universalmoral." Kants rigoristische Prinzipienethik ist der genaue Gegenpol zu allen utilitaristischen Ansätzen. Heute scheint es notwendig zu sein, sowohl Elemente der Prinzipienethik als auch der Folgenethik (wenigstens im regel-utilitaristischen Sinne) in eine Ethik zu integrieren,

die Elemente der pflichtmäßigen Achtung vor dem anderen und dem Selbst mit Elementen des Wohlwollens verbindet. Weder rein formalistische noch rein inhaltliche Ethikbegründungen scheinen noch vertretbar zu sein. Wenn nicht der Mensch

für die Moral, sondern die Moral für den Menschen gemacht ist (Frankena 1972, 141), können extreme Zuspitzungen beider Arten nicht mehr gerechtfertigt erscheinen. Die Ethik scheint nur eine gemischte pluralistische Universalmoral zu erlauben. Dies gilt auch für neueste interessante moralphilosophische Begründungen der Ethik und einer Theorie der Gerechtigkeit als einer verbesserten Form der Idee des Gesellschafts- und Generationenvertrages („Gerechtigkeit als Fairneß" Rawls 1975) und einer besonders wichtigen rein philosophischen Neuauflage der verallgemeinerten Ahimsa-Universal-

moral nach Bernard Gert (Gert 1983). Gert nennt Handlungen (universal) - „moralisch gut"", „die alle rationalen Menschen öffentlich befürworten"', „moralisch richtig" „diejenigen, deren Ausführungen alle rationalen Menschen nicht nur öffentlich befürworten, sondern für deren Unterlassung sie allgemein auch eine Bestrafung fordern" „Moralisch schlecht" bzw. „falsch" sind dann Handlungen, „deren Nichtausführung" bzw. deren zusätzliche Bestrafung „alle rationalen Menschen öffentlich befürworten" (ebd. 243). Gert hat also das Kriterium der universalmoralischen Regeln seiner Ethik auf die Beurteilung durch rationale Menschen eingeschränkt und die Kantische Forderung der Universalisierbarkeit, der Allgemeinrepräsentativität durch die Forderung der „öffentlichen Befürwortung" durch alle rationalen Menschen ersetzt, wobei der Ausdruck „alle rationalen Menschen" sich keineswegs nur auf eine Kultur, Gesellschaft oder Gruppe beschränken darf.

Durch dieses „formale Kriterium" für universalmoralische Regeln gewinnt er seine zehn moralischen Regeln, die im wesentlichen Sinne des Ahimsa-Gebots fordern, „daß man keinem ein Ubel zufügt" (ebd. 182): ,l. Du sollst nicht töten. 2. Du sollst keine Schmerzen verursachen. 3. Du sollst nicht unfähig machen. 4. Du sollst nicht Freiheit oder Chancen entziehen. 5. Du sollst nicht Lust entziehen. 6. Du sollst nicht täuschen. 7. Du sollst Deine Versprechen halten. 8. Du sollst nicht betrügen. 9. Du sollst dem Gesetz gehorchen. 10. Du sollst Deine Pflicht tun" (ebd. 176). Jeder rationale Mensch soll jeder dieser Regeln gegenüber „die folgende öffentliche Einstellung

einnehmen: Jedermann soll der Regel gehorchen, es sei denn, er könnte ihre Ver-

letzung öffentlich befürworten" (ebd.) (Es gibt also ausnahmsweise durchaus öffentlich zu befürwortende Verletzungen von moralischen Regeln! Z. B. Tötung eines Wahn-

sinnigen am Auslösehebel einer Wasserstoffbombe oder eines Tyrannen, um Millionen zu retten.) - Im weiteren Sinne ergänzt Gert diese auf das Verbot der Ubelzu-

migras ein serinke suis au deren, Oralische Regeln odere durch die zu mildern" (ebd.), zählt dies aber nicht (u. E. fälschlich) zur Universalmoral im enge-

ren Sinne.

Aus der voranstehenden Kurzübersicht ist zu ersehen, daß Typen ethischer Begründungen sowie universalmoralische Regeln sich in der abendländischen Tradition

9

nahezu ausschließlich auf das Handeln und Leben von Individuen beziehen. In unserer Industriegesellschaft treten demgegenüber heutzutage in starkem Ausmaß und zunehmend auch Phänomene des kollektiven Handelns (etwa hunderter Beteiligter innerhalb eines Großprojekts), Auswirkungen erst gemeinsam schädliche Wirkung zeitigender Ergebnisse strategisch Handelnder (sogenannte synergetische und kumulative Wirkungen), Probleme der Verteilungsgerechtigkeit sozialer Güter (mit Einzelansprüchen an das erwirtschaftete Gemeinschaftsgut der Gesellschaft) sowie andere verwandte Probleme auf, die mit einer streng individualistischen Universalmoral nicht mehr erfaßt werden können. Ethik und Universalmoral müssen sich also von der ausschließlichen Beschränkung auf individualistische Aspekte lösen, die soziale Verortung moralischer Probleme und Phänomene berücksichtigen, ohne nun ins andere Extrem einer kollektivistischen oder total politisierten Moral zu verfallen. Gerade im Bereich der Auswirkungen von Technik und Industrie zeigen sich Entwicklungen, die mit der herkömmlichen Individualmoral und einer ihr entsprechenden politischen und rechtlichen Regelung nicht mehr sinnvoll gesteuert werden können. Man denke nur an die Phänomene der „Tragödie der Gemeingüter" (Hardin) in der Umweltproblematik, wo sich geradezu „soziale Fallen" stellen, indem einzelne Handelnde Vorteile ausschließlich daraus beziehen, daß alle anderen sich an Gemeinschaftsregeln halten. Die Struktur des sogenannten Gefangenendilemmas findet sich in vielen Bereichen öffentlichen technischen Wirkens und Handelns und weist auf individualistisch nicht zu lösende Problemkonstellationen hin. Durch sein technisches Handeln ist der Mensch so mächtig geworden, daß er nicht mehr mit einer Moral auskommen kann, die sich stammesgeschichtlich in der kleinen Gruppe, in der jeder jeden kannte und die nur anderen Außenseitergruppen gegenüberstand, entwickelte. Die vielfältige, Kontinente und viele Bereich übergreifende Wirkungs- und Handlungsverflechtung erfordert neue Formen der „Fernethik" (ein Ausdruck, den schon Nietzsche - „Fernstenethik" - verwendet hatte) und neuartige Verantwortlichkeiten: Dies gilt besonders auch für Achtung und Verantwortung gegenüber der künftigen Existenz der Menschheit in einer möglichst ungeschädigten Umwelt, gegenüber künftigen Generationen und der Natur

moralischen Verpflichtung" nicht mehr genügen kann - „bei aller Aufrechterhaltung der moralischen Integritätsrechte des Individuums" (Lenk 1979, 69f.): „Mit der Ausdehnung der technisch-wissenschaftlichen Manipulations- und Einwirkungsmöglichkeiten sowie der Langzeiteffekte von unter Umständen irreversiblen

Verantwortli der wei die zumindest di gepragaen moralis et hen weiterh, ende,

und räumlich ausdehnen. In einer durch technische Eingriffe, ökonomische Abhängigkeiten, ökologische Systembedingungen näher zusammenrückenden, immer enger verflochtenen Welt kann keine Moral der bloßen Nächstenliebe mehr genügen, sondern die Ethik muß darüber hinaus von einer zu praktizierenden Verantwortung für die Gesamtmenschheit getragen werden - nicht nur für die Existierenden, sondern auch für die Nachwelt"'. „Die Ethik muß stärker gesamtmenschheitsorientiert, sozialer, kooperativer werden." (Lenk 1979, 70). Gegenüber einem der ältesten moralischen Gebote, der negativen Goldenen Regel: „Was Du nicht willst, das man Dir tu, das füg' auch keinem andern zu!", muß heute und künftig die positive Goldene Regel:

„Tue, leiste das, was Du in bedürftiger Situation hoffen und erwarten würdest, das

andere Dir gegenüber tun" einiges von ihrer moralischen Unverbindlichkeit, von ihrer bloßen Appellfunktion verlieren (ebd.).

10

Trotz aller Konstanz der ethischen Grundeinsichten und -intuitionen kann also auch die Ethik „nichts Statisches bleiben", sondern sie muß sich der erweiterten moralischen Bedeutsamkeit menschlicher Handlungen, Schöpfungen und Institutionen sowie den ins Ungeheuerliche gewachsenen Möglichkeiten des „Machbaren" und deren Problemen stellen: „Neue Aktionsmöglichkeiten aktualisieren, erweiterte und modifizierte Verantwortlichkeiten" , so wurde schon früher betont (ebd. 73). Ethisches Nachdenken und universalmoralisches Urteilen müssen sich stärker den Fragen des technischen Neuerschaffenden, die Welt verändernden Menschen widmen. In dieser Hinsicht und auch in der sozialen Offnung muß die Ethik und (Universal-)Moral angesichts aller dynamischen Entwicklungen ständig neu weiter „erschaffen" oder entwickelt, also in Teilen „dynamisiert" werden. Dies gilt besonders für die neuartigen moralischen Probleme, die sich der hochentwickelten Technik in ihren Auswirkungen stellen. Unter Beibehaltung der universalmoralischen Grundeinsichten müssen Ethik und (Universal-)Moral pragmatischer werden, sich praxisnah den gewandelten Situationen und Bedingungen im Technischen, ja, informations- und systemtechnologischen Zeitalter stellen. Bisher gibt es hierzu noch keine umfassenderen Ansätze.

Vom Ahimsa-Gebot bis zur Techno-Ethik des systemtechnologischen Zeitalters ist es

ein weiter Weg. Gänzlich andere Situationen, Bedingungen und Handlungmöglichkeiten herrschen heute vor. Dennoch blieben der Mensch selbst und seine ethische

Einsicht seit den großen ethischen Entdeckungen des Altertums unverändert. Der Mensch: das universalmoralische Wesen, das Wesen, das von eigenen Perspektiven und Ansprüchen abstrahierend verallgemeinern kann? Ethik und Universalmoral scheinen das eigentlich Humane, ja, wie der späte Kant meinte, das Göttliche am Menschen zu sein (Kant: „Gott - das ist die moralisch-praktische Vernunft", AA XXI, 145). Das Ethische also zeichnet den Menschen aus, erhebt ihn über den sogenannten Kampf der Natur.

Dies sollte im Zeitalter der Technik und der technisch multiplizierten Macht nicht anders sein als zuvor. Im Gegenteil: Ein verfeinertes situationsadäquates universalmoralisches Bewußtsein ist gefordert, eine der wenigen Chancen, mit den selbstgemachten technologischen Herausforderungen und Auswirkungen fertig zu werden. Der Weg ist technisch-industriell sehr weit gewesen, universalmoralisch hingegen bemerkenswert kurz: Er muß konsequent und kontinuierlich weiter beschritten werden.

11

2. Das Gewissen als Stimme - Überblick über Gewissensbegriffe

„Wenn ich nicht durch die Zeugnisse der Heiligen Schrift oder mit klaren und hellen Gründen überzeugt werde - denn weder dem Papst noch den Konzilien allein kann ich glauben, weil sie sich so häufig geirrt oder selber widersprochen haben -, so bin ich

an mein Gewissen und an das Wort Gottes gebunden. Ich kann und will daher nichts widerrufen, weil es gefährlich ist und die Seligkeit bedroht, gegen das Gewissen zu handeln. Gott helfe mir. Amen" (zit. Fischer-Fabian 1987,7).

Dies ist die authentische Stellungnahme Martin Luthers beim Reichstag zu Worms 1521 - ein Wort zu Karl V., das meist falsch zitiert wird, nämlich in einer Legendenversion, die später als Flugblatt verteilt wurde: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen." In der historischen Fassung verweist Luther also auf sein Gewissen und das Gebot Gottes, in dem er das Wort Gottes als Richter anruft, als Entscheidungsquelle und -kriterium dafür, daß er „nicht anders (handeln) kann", wie es in der überlieferten Legendenversion heißt. „Weil es gefährlich ist und die Seligkeit bedroht, gegen das Gewissen zu handeln" - das sind ernste und konzentrierte Worte des Martin Luther, der sich an sein Gewissen und an das Wort Gottes gebunden weiß. Es bedurfte in der Tat eines beträchtlichen persönlichen Mutes, darauf zu vertrauen, daß ihm das freie Geleit auch wirklich gewährt würde; denn hundert Jahre zuvor war Johann Hus ja auch ein freies Geleit zugesichert worden, aber dieser wurde trotzdem auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Karl V. hat später in seinem Leben noch gesagt, es sei ein großer Fehler gewesen, diesen widerspenstigen Mönch, nämlich Luther, nicht umgebracht zu haben.

Solche Gewissensentscheidungen sind natürlich nicht Sache nur der Historie und lange zurückliegender Zeiten. Ein anderes, ein modernes Beispiel ebenfalls aus dem Buch von Fischer-Fabian Die Macht des Gewissens (1987, 21):

„Im Juli 1944 wurde der aus Tirol stammende Soldat Walter Krajnc in eine Abteilung eingereiht, die den Befehl bekam, französische Geiseln zu erschießen. Krajnc stellte über den Befehl seines Kommandeurs den Befehl seines Gewissens, das, wie er angab, es ihm unmöglich mache, wehrlose Menschen zu töten. Er verweigerte trotz Wieder-

holung der Order den Gehorsam, kam vor das Kriegsgericht und starb unter den Kugeln seiner Kameraden." Ein weiteres Beispiel, auch 1944, sei ein Brief „eines einfachen Bauernsohnes aus dem

Sudetenland" vom 3. Februar:

„Liebe Eltern. Ich muß Euch heute eine traurige Nachricht mitteilen, daß ich zum Tode verurteilt wurde, ich und Gustav G. Wir haben es nicht unterschrieben zur SS,

12

da haben sie uns zum Tode verurteilt. Ihr habt mir jedoch geschrieben, ich soll nicht zur SS gehen. Mein Kamerad Gustav hat das auch nicht unterschrieben. Wir beide wollen lieber sterben, als unser Gewissen mit so Greueltaten zu beflecken ... Ich weiß, was die SS ausführen muß" (ebd.). Es sind unüberbietbare persönliche Gewissensentscheidungen. Gewissensentscheidungen können somit über Leben und Tod entscheiden. Um auch ein anderes Beispiel eines Bekannteren aus der modernen Zeit zu zitieren

(ebd. 23): Lew Kopelew, der berühmte Schriftsteller und Emigrant aus Rußland, hatte Einspruch erhoben, als sowjetische Soldaten Anfang 1945 in Ostpreußen Grausamkeiten an der deutschen Zivilbevölkerung verübten: Er bezahlte seinen Mut, den er mit seinem Einspruch, seinem Eintreten gegen diese Übergriffe bewies, mit einem fast

ein Jahrzehnt lang dauernden Zwangsaufenthalt in Lagern und Gefängnissen: „Sein Glaubensbekenntnis: 'Ich bin nurmehr meinem eigenen Gewissen verantwortlich. Ich

will mich nie mehr fürchten und immer so handeln, daß ich mich meiner Taten nicht zu schämen brauche':" Der Berichter sagt, daß sich dieses Beispiel wie die anderen zuvor genannten in einer „Reihe" ndet, „die sich nicht beliebig fortsetzen ließe", weil es sich eben um Ausnahmeereignisse handelte und weil das Entscheiden unter dem eigenen autonomen Gewissen nicht so oft zu nden ist. Wir wissen das ja alles von uns selber - auch in eher alltäglichen Situationen: Wenn jeder immer nach seinem

eigenen Gewissen entscheiden würde, hätte es solche Phänomene wie das Dritte Reich mit seinen unmenschlichen Zuspitzungen und barbarischen Grausamkeiten und der menschenverachtenden Praxis, sei es der SS, sei es der Konzentrationslager, nie ge-

geben.

Wir reden also vom Gewissen. Was ist das Gewissen? Eine schwierige Frage. Menander, im Altertum etwa zur Zeit nach Platon und Aristoteles, hat schon gesagt: „Das Gewissen ist uns allen ein Gott"•. Und die Stoiker haben das auch so aufgefaßt und das Gewissen geradezu als den Ort oder die Instanz, die Stimme Gottes in uns definiert. Insbesondere waren es z.B. Seneca, aber auch Cicero, die in dieser Hinsicht vom Gewissen gesprochen haben. Das Gewissen ist uns eine Art göttlicher Stimme. Ich möchte ein wenig aus dem berühmten 41. Brief des Seneca (1987, IV, 57) an Lucilius zitieren, wo er schreibt: „Lucilius, ein heiliger Geist wohnt in uns als Beobachter und Überwacher unserer bösen und guten Taten; wie dieser von uns behandelt wurde, so behandelt er uns. Ein guter Mensch aber ist niemand (= nicht jemand) ohne Gott: Oder vermag sich etwa jemand über das Geschick hinaus zu erheben außer mit seiner Hilfe? Es gibt bedeutsame und erhabene Ratschläge, in jedem guten Menschen 'wohnt ein Gott..." Dieser letzte Teil ist nicht ganz gesichert, aber eine Seite weiter heißt es: „Wenn du einen Menschen erblickst, unerschrocken in Gefahren, unberührt von Leidenschaften, im Unglück glücklich, mitten in den Stürmen gelassen, von einer höheren Ebene die Menschen betrachtend, auf gleicher die Götter, wird dich nicht Ehrfurcht vor ihm überkommen? Wirst du nicht sagen: 'Dieses Wesen ist größer und erhabener, als daß man annehmen könnte, es gleiche diesem schwächlichen Körper, in dem es sich befindet?' Eine göttliche Kraft hat sich da hineingesenkt: Einen Geist, hervorragend und maßvoll, der sich über alles, als wäre es weniger wichtig, hinweg-

setzt, alles, was wir fürchten und wünschen, belächelt, bewegt eine himmlische Macht. Nicht kann ein so großartiges Ding ohne Spitze der Gottheit bestehen." ... ,,so verweilt der Geist - groß und heilig und dazu herabgesandt, daß wir Göttliches näher kennenlernen -, zwar bei uns, bleibt jedoch mit seinem Ursprung verbunden; daran hängt er,

fi

fi

13

dahin blickt und strebt er, an unseren Anliegen nimmt er gewissermaßen als ein höheres Wesen teil. Wer ist nun dieser Geist?" (ebd. 59) Seneca versucht diesen noch etwas näher zu umschreiben und kommt dann kurz danach (ebd. 61) zu der Aussage, daß er das sei, „was das spezifische Merkmal des Menschen ist"•„Du fragst, was es sei? Der Geist und die im Geist vollkommene Vernunft. Ein vernunftbegabtes Wesen nämlich ist der Mensch." Conscientia, dieser Ausdruck wird von Seneca vielfach gebraucht, er geht auf das griechische Wort syneidesis zurück, beides bedeutet sinnvollerweise das

„Mitwissen", das „Mitbewußtsein"• Seneca sieht auch deutlich, daß die schlechten Taten, er redet auch als erster vom „guten" und„bösen Gewissen", vom Gewissen getadelt werden, ja, er sagt sogar: gegeißelt werden, und daß die meisten Qualen dadurch entstehen, daß es u.U, als eine dauernde Beunruhigung uns bedrängt und quält. Das Gewissen wird also als eine Stimme, eine quasigöttliche Mahnstimme aufgefaßt, die grundsätzlich den Menschen ermahnt, zur Stellungnahme aufruft, selber wertet, Stellung nimmt. Es ist in gewissem Sinne eine autoritative Instanz oder wird häufig als solche verstanden: Es geht als diese dauernde Beunruhigung über dieses begleitende Bewußtsein hinaus, über dieses Mitwissen, indem es diesen grundsätzlich normativ verpflichtenden Charakter aufweist. Deswegen haben die stoischen Philosophen schon eine Art von Dreiteilung im Gewissen gesehen, nämlich einmal das Mitwissen, das Mitbewußtsein, eben diese „conscientia" im engeren Sinne des Wortes,

und dann das, was die affektive Potenz, das Betroffenmachen, die Betroffenheit

persönlicher Art betrifft. Dafür hatte man einen eigenen Ausdruck: Synt(h)eresis - gelegentlich wurde auch das „Theta" mit „d" wiedergegeben, etwa bei Bonaventura und Thomas von Aquin, die aber diese Lehre aus der Stoa übernahmen. Beides zusammen, sowohl das Bewußtsein, das Mitwissen, und diese affektive Potenz, ergeben dann in einem sogenannten gewissensoder entscheidungspraktischen Syllogismus (der nicht zu verwechseln ist mit dem praktischen Syllogismus in der Handlungstheorie nach Aristoteles) eine Conclusio, einen Schlußsatz der Gewissensentscheidung. Cice-

ro, den man ja ohne weiteres den Stoikern zurechnen kann, hat selber bereits

verschiedene Formen des Gewissens unterschieden, er sprach von der „großen Kraft"

des Gewissens, selbst in der Furcht vor Strafe zu wirken; er redete gar von „Gewissensbissen": Dieser Ausdruck ist bei Cicero belegt, das Gewissen, das im wahrsten Sinne des Wortes „beißen" kann, „morderi". Cicero sieht übrigens darin so etwas wie eine unechte Form des Gewissens eben nur als Angst oder Furcht vor der Strafe, etwas

nicht zu tun, und er unterscheidet davon die echte, rechte Form, die recta conscientia, von

der man überhaupt nicht abweichen dürfe. Auch unterscheidet er schon das voraus-

schauende Gewissen von dem rückwärtig bewertenden Gewissen, und er hebt das autonome Gewissen hervor, das über allem steht und u.a. umfaßt, daß ihm sein eigenes Gewissen mehr bedeute als aller Leute Gerede.

Das sind Zeugnisse für Auffassungen vom Gewissen aus der Antike, die von der Kraft und von einigen Formen des Gewissens zeugen, aber noch nicht so etwas wie eine theoretische Erklärung oder Beschreibung des Gewissens ergeben. Philon von Alexandria hat versucht, das Gewissen als eine Art von Beweismittel gleichsam in einem inneren Gerichtsverfahren in das Innere des Menschen hineinzuprojizieren, zu introjizieren. Es besteht darin, daß der Mensch sozusagen zum eigenen Ankläger und Richter wird, das Gewissen ist Zeuge aller geheimen Pläne und wird zugleich zum inneren ' Das Mitwissen schwingt ja auch im deutschen Wort mit, das übrigens von Notker zum ersten Mal wohl verwendet worden ist.

14

Ankläger und Richter, weist den Menschen zurecht, mahnt ihn zur Umkehr und kann ihn auch eben vorausschauend weisen oder hinlenken auf eine bestimmte Tat oder vor bestimmten Untaten warnen und entsprechend sogar auch dann befehlend wirken. Bei Paulus ist ja auch eine Stellungnahme bezeugt, die das Gewissen (Röm 2, 14/15) sogar den Heiden zuschreibt: „Denn so die Heiden, die das Gesetz nicht haben, von Natur tun des Gesetzes Werk, sind dieselben, dieweil sie das Gesetz nicht haben, sich selbst ein Gesetz, als die das beweisen, das Gesetzeswerk sei geschrieben in ihrem Herzen, sintemal ihr Gewissen ihnen dazu zeugt auch die Gedanken, die sich untereinander verklagen oder entschuldigen (das ist ganz wichtig: die Gedanken, die sich untereinander verklagen oder entschuldigen!) auf den Tag, das Gott das Verdorbene

der Menschen durch Jesum Christum richten wird laut meines Evangeliums." Diese

wie gesagt auch bei Philon von Alexandria bezeugte Auffassung des inneren Gerichts-

hofes ist natürlich bei den Christen, bei Paulus, auf das vorausgeahnte und -genommene Jüngste Gericht bezogen. Doch diese Konzeption des inneren Gerichtshofes spielt auch später in der Geschichte des Gewissensbegriffes und auch

unabhängig dann von der christlichen Auffassung eine entscheidene Rolle - zunächst natürlich in der Antike bei den im wesentlichen „existentialistisch" ausgerichteten oder persönlich sich engagierenden Denkern, z.B. Augustinus, für den eben Gott Mitwisser des Geheimnisses ist und Gott in der conscientia, also im Gewissen spricht: Auch christlch gilt das Gewissen als „vox del", als Stimme Gottes. Auch im Mittelalter findet die stoische Dreiteilung, die ich erwähnt habe, statt: Bei Bonaventura etwa in der Franziskaner-Schule spielt die affektive Betroffenheit neben dem Mitbewußtsein eine entscheidene Rolle. Schließlich meint auch Thomas von Aquin, daß diese aktive Kraft, diese potentia affectiva, diese syntheresis, das diese antreibende Moment, das

motivierende Moment beim Gewissen, nicht nur eine Möglichkeit ist, sondern zu einem Habitus, einer Gewohnheit wird, zumindest werden kann, und daß es natürlich eine wichtige Aufgabe in der Versittlichung des Menschen ist, daß dieser das Gewissen eben auch schult und prüft. „Es gibt keine Sünde außer gegen das Gewissen", so Abaelard. All diese Stellungnahmen zeigen, daß offensichtlich sowohl im christlichen als auch im philosophischen Kontext das Gewissen als eine versittlichende Stimme gesehen wur-

de, die entweder direkt oder metaphorisch quasi das Göttliche oder das Höhere im Menschen darstellt, das den Menschen in gewisser Weise zur Selbstbeurteilung, zur Stellungnahme, ja, zu einer Art von Richten über sich selber herausfordert und entsprechend auch eine dauernde Beunruhigung darstellen kann, wie es auch einen Befehl geben kann, zumindest als autoritative Instanz wirkt. Zugleich ist es eben auch in gewisser Weise eine beschreibende, die Übersicht über die Situation gebende Instanz. Dabei wird meistens eine gewisse Reinheit des Gewissens gefordert, wenn es darum geht, sich eben ausschließlich von dem Gott oder der Gewissensstimme verpflichten zu lassen, und zwar von dem ethischen Gewissen im engeren Sinne, also nicht etwa dem unechten Gewissen, wie Cicero es schon gesehen hatte, sondern von dem echten, dem autonomen Gewissen. Diese Auffassungen sind bekannt, sind überliefert und spielen auch späterhin eine große Rolle. Wichtig ist es zu bemerken, daß sie eigentlich von einer Metapher leben: derjenigen des inneren Gerichtshofes. Das Gewissenskonzept läßt sich als eine Art von forensischem Modell beschreiben: Das Gewissen wohnt in uns selber und ist der Wächter über alles Gute und Böse, ist das „Forum internum", wie Kant es dann nennen sollte (ich komme darauf zurück). Dies ist also eine metaphorische Erfassung dessen, was das Gewissen sein und leisten kann, wie es funktioniert. 15

Auch Unterteilungen nach Bereichen und Gesichtspunkten dabei wurden vorgenom-

men: Eine der berühmtesten und ersten ist in der Tat auch wiederum von Luther, nämlich aus seiner kurz vor dem Reichstag zu Worms gehaltenen Predigt Sermon von dreierlei guten Lehren, das Gewissen zu unterrichten. Hierbei unterscheidet er drei Bereiche

des Gewissens, einen äußeren, nicht inneren, den heiligsten, den er „sanctum sanctorum" nennt, das Allerheiligste, könnte man sagen. Das ist natürlich der theologische Gewissensaspekt unter dem Gesichtspunkt der göttlichen Stimme des christlichen Gottes. Davon abgehoben wird eine weitere, durchaus auch „heilig", „sanctum", aber eben nicht „sanctum sanctorum" genannte Aspekthaftigkeit der ethischen Gewissensstimme, die Luther durch die ethischen Tugenden exemplifiziert sieht, wie z.B. Milde, Sanftmütigkeit, Demut, Geduld, Friedfertigkeit, Treue, Liebe, ja, Zucht und Disziplin, die sich also auf sich selbst bezieht, also Selbstdisziplin, bis hin zu der Keuschheit. Das alles gehört für Luther zum ethischen Tugendbereich des Gewissens im ethischen Sinne, also zum „sanctum". Dagegen liegt ganz außen das Atrium - das ist das rituelle Beachten von vorgeschriebenen Formen und Normen, hier handelt es sich also um ein „Gewissen"', das sozusagen in einer Alibifunktion benutzt wird; man hält sich an Regeln und braucht sich selber dann nicht weiter betroffen zu fühlen; Philister- und Pharisäertum sind hier einzuordnen. Luther nennt dieses Gewissen gar ein „gefährliches und schädliches" Gewissen, das nur einen äußeren Antrieb hat und nicht auf inneren Antrieb zurückgeht. Der innere Antrieb aber würde eigentlich den Menschen überfordern, insbesondere natürlich in dem zweiten Bereich: Wenn er auf sich selber gestellt wäre, so Luther, könnte der Mensch nicht wirklich ethisch, nicht aus sich selbst

heraus, sittlich gut handeln; der Mensch wird überfordert, und deswegen braucht Luther für den Gläubigen den Bereich des sanctum sanctorum, d.h., den theologischen,

den gottesgebundenen Aspekt des Gewissens. Und man kann auch nicht darauf hoffen, das sittlich Gute durch gute Werke allein zu erreichen, die man in der Tat auch

unter dem Gesichtpunkt des ritualisierten entlastenden Alibigewissens sehen könnte.

Luther ist der Meinung, und das ist dann natürlich seine protestantische Lehre, daß im Grunde hier nur Gnade einspringen kann. In dieser Predigt von 1521 sagt er sogar:

„Man muß hier zur Gnad kriechen." Diese Dreiteilung hat übrigens später auch noch weiter gewirkt; man kann sie - ent-

sprechend der erwähnten Dreiteilung bei den katholischen Philosophen Thomas von Aquin und Bonaventura - sogar noch bei Freud finden. Diese Dreiteilung differenziert den Begriff des Gewissens in einer für die Theologie und die religionsmäßige Fundierung der Gewissenstheorie revolutionären Weise. Das wird übrigens mit hervorragender Detailkenntnis dargestellt und diskutiert in einem jüngst erschienenen Buch von Heinz Kittsteiner Die Entstehung des modernen Gewissens (1991), ein Buch, das gerade die-

sen Übergang von der theonomen Moral des Gewissens zu einer autonomen Moral des - wie man sagen könnte - säkularen Gewissens in der Ethik beschreibt, und zwar im wesentlichen in drei Phasen. Kittsteiner setzt auch an dieser Predigt von Luther an und meint, sie führe in die Theologie eine Art von philosophischem Sprengsatz ein, indem sie nämlich im gewissen Sinne die Ethisierung der Religion und die Enttheologisierung des Gewissens oder die Entritualisierung des reinen theonomen Gewissens vorbereitet. Indem diese Dreiteilung eingehalten wird und das rituelle Gewissen gleichsam als „gefährlich", „schädlich" abgelehnt wird, wird der Mensch im ethischen Sinne auf sich selbst verwiesen, auf seine persönliche Zwiesprache mit Gott, auf das persönliche Gewissen. Diese Dreiteilung ist also der Beginn einer Säkularisierung des Gewissens am Beginn und in der Entwicklung - und das ist durchaus verständlich - des Protestantismus. Man kann neben der von Kittsteiner angeführten Ethisierung und Entritualisie-

16

rung der Religion noch weitere Momente anführen, die ähnlich charakteristisch sind: Insbesondere für den Protestantismus ist natürlich die Introjizierung, das Hineinlegen des Gewissensaspektes in den einzelnen, ein besonderer Gesichtspunkt, der zwar vielleicht wie die Säkularisierung generell unter die Ethisierung eingepaßt werden kann,

der aber ganz wichtig und besonders hervorzuheben ist. Darüber hinaus ist dann

natürlich sicherlich auch die Säkularisierung allgemein eine Wirkung dieser Unterteilung des Gewissensbegriffes, und schließlich kann man auch wichtige Ansatzpunkte darin sehen, daß das säkularisierte Gewissen doch wieder so etwas braucht wie eine Art von Kontrollinstanz. Es bleibt die Auffassung des Gewissens als eine Instanz oder Stimme, die irgendwie gestützt wird; wenn es auch nicht mehr durch einen transzendenten

Gott gestützt wird, so wird dieser durch etwas anderes ersetzt, wie z. B. später bei Freud durch die Gesellschaft. Die Gewissenstimme wird das Über-Ich, das in der gesellschaftlichen Erwartungshaltung geschult und einprojiziert sowie durch die Eltern repräsentiert wird. Die Säkularisierung des Gewissensbegriffes setzt also hier an, und sie führt dazu, das zeigt Kittsteiner sehr ausführlich, daß zunächst eine Art Entwertung des Gewissens stattfindet. Diese ist also im wesentlichen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts schon angelegt; er spricht von einer Abwertung des religiös bestimmten Gewissens zwischen etwa 1650 und 1720, von einem Modernisierungsschub, der allgemein in der Phase der Aufklärung stattfindet und der dann zu einer Art von

Zunächst erst einmal zu der Psychologisierung: da ist nicht nur die allgemeine säkularisierende Philosophie ein Hauptansatz, etwa bei Hobbes, sondern besonders John Lockes Ansatz einerseits mit seinem positiveren Menschenbild, aber auch andererseits insbesondere mit seiner Lehre, daß der Mensch eben im Grunde als „tabula rasa" geboren wür-

de, daß nichts beim ihm angeboren wäre. Das Gewissen kann dann ebenfalls nicht angeboren sein, mit anderen Worten: Das Gewissen kann nun entweder psychogenetisch oder soziogenetisch entstanden sein, als Affektkontrolle und Gewöhnung an eine Affekt-

kontrolle - etwa aus Angst oder unter dem Gesichtspunkt, einen Liebesentzug oder Zuwendungsentzug durch Identifikationspersonen möglichst zu vermeiden.

Die andere Entwicklungsrichtung, auf die ich noch ausführlicher zurückkomme, ist dann neben der „realistisch-gesellschaftlichen" besonders die säkulare, von Kittsteiner (ebd. 283) so genannte „utopische" Linie und „Dimension" des modernen Gewissens, die dem genetischen Denken skeptisch gegenübersteht und die insbesondere durch

Kant repräsentiert wird. Dieser Ansatz mußte gleichsam neue Normen, neue Ge-

sichtspunkte, neue Triebfedern erfinden und die Religionskritik sozusagen überholen, um einen positiven Neuansatz des Gewissens möglich zu machen. Es handelt sich um eine längere Entwicklung, die insbesondere an die Paulinische Idee des inneren Gerichtshofes anschließt, die ja schon aus der Antike bekannt ist, nun natürlich ohne den christlichen Gott als den Urheber der Stimme und ohne vorgestellte ideelle Vorwegnahme des Jüngsten Gerichts. Dieses „innere Forum"', von dem Kant ausdrücklich in seiner erst 1924 veröffentlichten Ethikvorlesung spricht, ist ein Forum des Wissens, der innere Gerichtshof. Das „forum internum, welches das forum conscientiae ist" (1990, 77), also der Gerichtshof des Gewissens: „denn unsere Facta können nicht anders in diesem Leben von dem göttlichen foro imputiert werden (also zugeschrieben, zugerechnet, d. Verf.) als per conscientiam, demnach ist das forum internum in diesem Leben ein forum divinum (also ein göttliches Forum). Ein

17

Forum soll Zwang ausüben, sein Urteil soll rechtskräftig sein, es soll die consectaria des Gesetzes auszuführen zwingen können.

Wir haben ein Vermögen zu urteilen, ob etwas Recht oder Unrecht ist, und dieses geht sowohl auf unsere als auf andere Handlungen. Dieses Vermögen liegt im Verstand. Wir haben auch ein Vermögen der Lust und Unlust, sowohl über uns als andere zu urteilen, was gefällt oder mißfällt, und das ist das moralische Gefühl. Wenn wir nun das moralische Urteil und das moralische Gesetzt vorausgesetzt haben, so finden wir

noch drittens einen Instinkt, einen willkürlichen und unwiderstehlichen Trieb in unserer Natur, welcher uns zwingt, über unsere Handlungen rechtskräftig zu urteilen, so daß er uns einen inneren Schmerz über die bösen und eine innere Freude über die guten Handlungen erteilt, nach dem Verhältnis", das „die Handlung zum Gesetz hat. Das Gewissen ist der Instinkt, über unsere Handlungen zu urteilen und zu richten. Es ist kein Vermögen, sondern Instinkt. Wäre es ein willkürliches Vermögen, so wäre es

kein Gerichtshof, indem es uns alsdann nicht zwingen könnte. Soll es ein innerer Gerichtshof sein, so muß er Macht haben, uns zu zwingen, unwillkürlich über unsere Handlungen zu urteilen und zu richten und uns innerlich loszusprechen oder zu verdammen. Jeder hat ein Vermögen, spekulativ zu urteilen, welches aber in unserer Willkür steht; aber es ist in uns etwas, was uns zwingt, über unsere Handlungen zu urteilen, es legt uns das Gesetz vor und zwingt uns, vor dem Richter zu erscheinen, es richtet uns wider unsere Willkür, es ist also ein wahrer Richter.

Dieses forum internum ist ein forum divinum, indem es uns nach unseren Gesinnungen selbst

beurteilt; und wir können uns doch keinen anderen Begriff von foro divino machen, als daß wir uns selbst nach unserer Gesinnung richten müssen. Also alle Gesinnungen und Handlungen, die äußerlich nicht bekannt werden, gehören vor das forum internum. Denn das forum externum humanum kann nicht nach Gesinnungen urteilen. Es ist also das Gewissen der Repräsentant des fori divini" (77f., Hervorhebungen i. O.).

(Diese Vorlesung ist zwischen 1775 und 1785 von Kant immer wieder gehalten worden, also kurz nach dem Ubergang zu seiner sog. kritischen Phase oder während der Entstehung seiner Hauptschriften in der kritischen Phase.) Auch später hat Kant diese Metaphorik des inneren Gerichtshofes beibehalten und versucht, dieses Gleichnis mit seiner Moralphilosophie zu verknüpfen, indem er zum Beispiel in der Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft in § 4 sagt: „Das Gewissen ist ein Berußtsein, das

für sich selbst Pflicht ist' - und kurz danach: „Man könnte das Gewissen auch so definieren: es ist die sich selbst richtende Urteilskraft... hier richtet die Vernunft sich selbst,

ob sie auch wirklich jene Beurteilung der Handlungen mit aller Behutsamkeit (ob sie recht oder unrecht sind) übernommen habe, und stellt den Menschen wider oder für sich selbst zum Zeugen auf, daß dies geschehen oder nicht geschehen sei" (AA VI, 185f.). In der Metaphysik der Sitten, also in seinem Spätwerk, kommt er nochmals auf dieses Bild zurück. In den Metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre (AA VI, 400) nennt er das

Gewissen „die dem Menschen in jedem Fall eines Gesetzes seine Pflicht zum Lossprechen und Verurtheilen vorhaltende praktische Vernunft"', die sich allein auf das Subjekt bezieht und „nicht ... auf ein Objekt"; sie zielt also auf das Pflichtbewußtsein. Er mein freilich dort auch (ebd. 401):

„Nach Gewissen zu handeln kann also nicht selbst Pflicht sein, weil es sonst noch ein zweites Gewissen geben müßte, um sich des Acts des ersten bewußt zu werden. Die

18

Pflicht ist hier nur, sein Gewissen zu kultivieren, die Aufmerksamkeit auf die Stimme des inneren Richters zu schärfen und alle Mittel anzuwenden (mithin nur indirecte Pflicht), um ihm Gehör zu verschaffen." Etwas später in dieser selben Schrift, in der Ethischen Elementarlehre, sagt Kant: „Das Bewußtsein des inneren Gerichthofes im Menschen, vor welchem sich seine Gedanken einander verklagen oder entschuldigen, ist das Gewissen" (ebd. 438). Diese Formulierung

kennt man; es ist nämlich praktisch wörtlich die übernommene Formulierung von Paulus, allerdings hier natürlich ohne den Hinweis auf das Jüngste Gericht. Es geht also um ein säkularisertes Gewissen, das als ein innerer Gerichtshof aufgefaßt wird. Was

entspricht dann bei Kant der Gottesvorstellung, die traditionellerweise zu der Stützung oder zum Inhalt oder zum Kern des Gewissens gehörte? Bei Kant ist es interessanterweise das Moralische selbst, die moralisch-praktische Vernunft, die er ja im Nachlaß sogar mit „Gott" - oder wir könnten vielleicht sagen, dem göttlichen Prinzip - identifiziert. Und in der Metaphysik der Sitten schreibt er, daß die Gewissensbeurteilung voraussetzt, daß jemand ein Kundiger (oder wie Kant immer sagt: ein „herzenskündiger" Wächter) ist, der die Motivation kennt, in die Antriebe und Motive des Handelns hineinsehen kann, und das kann natürlich niemand von außen leisten.? Im Zusammenhang mit dieser Gewissensauffassung stellt Kant fest, die Person, die zugleich Angeklagter und Richter ist, sei ja in einer verzwickten Lage, weil einerseits eigentlich immer der Angeklagte recht haben wolle, da letztlich doch der Egoismus dafür spräche, daß der Mensch sich selber rechtfertigen wolle. In der Metaphysik der Sitten sagt er andererseits an einer Stelle (AA VI, 438f.): „Diese ursprüngliche intellectuelle und (weil sie eine Pflichtvorstellung ist) moralische Anlage, Gewissen genannt, hat nun das Besondere in sich, daß, obzwar dieses sein Geschäfte ein Geschäfte des Menschen mit sich selbst ist, dieser sich doch durch seine Vernunft genöthigt sieht, es als auf den Geheiß einer anderen Person zu treiben. Denn der Handel ist hier die Führung einer Rechtssache (causa) vor Gericht. Daß aber der durch sein Gewissen Angeklagte mit dem Richter als ein und dieselbe Person vorgestellt werde, ist

eine ungereimte Vorstellungsart von einem Gerichtshofe; denn da würde ja der Ankläger gleichzeitig verlieren. - Also wird das Gewissen des Menschen bei allen Pflichten einen Anderen (als den Menschen überhaupt, d. i.) als sich selbst, zum Richter seiner Handlungen denken müssen, wenn es nicht mit sich selbst in Widerspruch stehen soll. Dieser Andere mag nun eine wirkliche, oder blos idealische Person sein, welche die Vernunft sich selbst schafft."

Und kurz darauf meint er, daß diese Person eben „ein Herzenskündiger sein" muß, der „Gerichtshof" sei „im Inneren des Menschen aufgeschlagen", zugleich ist er aber auch „allverpflichtend"', d. h. „eine solche Person" muß alles übersehen können, muß gleichzeitig allwissend in bezug auf die eigene Motivation sein und eben auch über al-

2 Kant benutzt diese Argumentation im Grunde für einen dritten moralischen Gottesbeweis. Bei ihm gibt es ja verschiedene Gottesbeweise, in denen Gott als notwendiges Postulat der Sittlichkeit gefordert wird. Und dieses Kundigsein des Richters liefert einen dritten Beweis, der im wesentlichen in seiner Religionsschrift vorkommt (AA VI, 1-202), der zwar normalerweise nicht als Gottesbeweis angesehen oder behandelt wird: Aber man kann das Angedeutete im Zusammenhang gerade mit dieser Einsicht als einen solchen Gottesbeweis dritter Art auffassen. Ich habe das in früheren Arbeiten (1981a, 1989b) zu entwickeln versucht.

19

le freien Handlungen der Person den Uberblick haben und innerlich richtend und urteilend verfügen können: „Da nun ein solches moralisches Wesen zugleich alle Gewalt (im Himmel und auf Erden) haben muß, weil es sonst nicht (was doch zum Richteramt nothwendig gehört) seinen Gesetzen den ihnen angemessen Effect verschaffen könnte, ein solches über Alles machthabende moralische Wesen aber Gott heißt, so wird das Gewissen als subjectives Prinzip einer vor Gott seiner Thaten wegen zu leistender Verantwortung gedacht werden müssen: ja, es wird der letztere Begriff (wenn gleich nur auf dunkele Art) in jenem moralischen Selbstbewußtsein jederzeit enthalten sein." Mit anderen Worten: Kant behandelt diese Metapher vom inneren Gerichtshof und die Verweisung auf einen Richter, der in uns selbst steckt, doch letztlich ganz ähnlich, wie es in der traditionellen Auffassung der Theologen vom Gewissen als Gottesstimme geschieht, obwohl eben die äußere Verweisung auf die Gottbezogenheit gestrichen ist. Kittsteiner (1991, 278) meint nun, daß sich hier ein Paradox ergibt, nämlich: „Die Ausübung des Gewissens ist ein 'Geschäft des Menschen mit sich selbst', und demnach muß das Gewissen auf eine andere Person bezogen sein, mag diese andere Person nun auch eine „idealische" sein oder eine Vernunftkonstruktion. Kant habe sich also allein dadurch gerettet, daß er den Homo noumenon, also den Wesenskern, das geistige apriorische Kerngebilde des Menschen - man könnte sagen, den Menschen, wie er die Idee des Menschen repräsentiert -, von dem empirischen Menschen, dem Homo phaenomenon unterscheidet. Über das Kausalverhältnis des Intelligiblen zum Sensiblen, also über das Wirksamwerden des bloß Intelligiblen, das das Noumenale, das Wesentliche, das Eigentliche, das Apriorische vertritt, gibt es nach Kant keine Theorie. Mit anderen Worten: Kant gibt zu, daß er hier keine Lösung hat, außer eben einer Verweisung auf eine Metapher, nämlich die Metapher des inneren Gerichtshofes, und auf eine metaphorische-symbolische Ideal-Instanz, die quasi als Gottesstimme, als Richter funktioniert. Kant rettet sich dann, indem er z. B. versucht, in der Kritik der praktischen Vernunft gewisse Vorstöße zu machen. In Ablehnung etwa an eine bloße Gefühlsbegründung des Gewissens führt er so etwas wie eine eigentliche Grundlage ein, nämlich

ein nichtempirisches Gefühl, das er bekanntlich „Achtung vor dem Sittengesetz"

nennt, das durch den Kategorischen Imperativ generell gegeben ist: Aus Achtung allein vor dem Gesetz, dem Sittengesetz, sollen wir handeln. Dieser nichtempirische Respekt würde dann in einem wirklich idealiter zu verstehenden Sinne die empirischen

moralischen Gefühle vertreten oder ersetzen. Kant weigert sich wie z. B. die angel-

sächsische Schule, Adam Smith u. a., die Moral auf eine Affektionspsychologie und auf

eine Gefühlstheorie zurückzuführen - und insbesondere auch die Gewissensstimme nur als eine Art empirischen Faktor zu verstehen. Bei Kant bleibt sozusagen das „utopische" Unbedingte erhalten - trotz seiner säkularisierten Auffassung: Er kritisiert zwar in gewisser Weise das religiöse Gewissen; das Gewissen ist nämlich für ihn z. B. nicht mehr allein an den christlichen persönlichen Gott gebunden, aber der einflußreichste Moralphilosoph der Neuzeit behält doch sozusagen dessen Wirkungsweise, nämlich als auf den inneren Gerichtshof „quasi-göttlich" wirkende Stimme, bei, ja, Kant setzt, wie Kittsteiner (1991, 280) sagt, das Gewissen wieder direkt in seine Funktion ein. Wie aber zeigt sich, daß sich das Gewissen nun intern selbst geändert haben muß? Das Gewissen ist in gewissem Sinne „kein bewußter Willensakt mehr, keine logische Operation" (ebd.), sondern es ist eine Art von fiktiver projizierter Instanz - ein Deutungs-

postulat, eine Interpretationskonstruktbildung, die vorausgesetzt wird und als Vergleichsmaßstab, als Standard notwendig ist; aber das Urteilen selbst wird nicht vom Gewissen vorgenommen, sondern vom Verstand bzw. von der Urteilskraft. Die Ur-

20

teilskraft ist es, die nach Kant urteilt - insbesondere, wenn es um Erweiterungsurteile geht, die nicht bloß wie die analytischen auf logische Operationen zurückgeführt werden können, die dem Verstande unterliegen. So spricht das Gewissen unwillkürlich und unvermeidlich; aber letztlich ist es eben die Urteilskraft, die praktische Vernunft selber, die, wie Kant ja sagt, sich selber beurteilt, sich selber richtet: Das Gewissen ist „die sich selbst richtende moralische Urteilskraft" ', so in der Religionsschrift (AA VI, 186) und wie zitiert auch sinngemäß in der Metaphysik der Sitten (ebd. 400, 438 u.a.). Die Vernunft richtet sich also selbst*', so sagt er wiederum (a. a. O.) in der Religionsschrift, „ob sie

auch wirklich jene Beurteilung der Handlungen mit aller Behutsamkeit (ob sie recht oder unrecht sind) übernommen habe, und stellt den Menschen wider oder für sich zum Zeugen auf, daß dieses geschehen oder nicht geschehen sei".

Das Gewissen ist also ein internes (Deutungs- oder Interpretations-)Konstrukt, das ei-

ne Metapher benutzt, zugleich sie aber an die moralische Substanz bindet, die für Kant im Grunde das Wesentliche am Menschen ist, nämlich die praktische Vernunft bzw. das Göttliche im Menschen, das durch seine moralische Vernunft eben repräsentiert wird. Man könnte zunächst versucht sein, Kant angesichts dieser Metapherverwendung zu kritisieren. Das wäre jedoch sicherlich ungerecht, weil er sich selber im

klaren ist, daß diese Rede vom inneren Gerichtshof eine Metapher ist. Die Vernunft selber bzw. die Urteilskraft ist nicht ein Homunkulus, ein kleiner Zensor im Kopf, die bzw. der selber handelt oder agiert, sondern 'Handeln' und 'Agieren' usw. sind Ausdrücke, die wir der Person zuschreiben, und nicht einem Teilvermögen der Person. Personen und Menschen handeln, nicht die praktische Vernunft. Sie allein als Akteur, das

wäre eine Homunkulustheorie, die zwar bei dieser Richtermetapher sehr naheliegend zu sein scheint. Aber wenn man diese ernst nimmt und nicht nur als Bild versteht, dann gerät aus dem Blickfeld, daß es sich hier im wesentlichen um ein Konstrukt han-

delt, um ein Konstrukt zur Selbstdeutung, Selbstbeurteilung, Selbstmoralisierung,

3 Fast eine tautologische Unterstellung wie traditionell „Lebenskraft", „élan vital" ', »vis dorma-

tiva"? Jedenfalls muß der Begriff der Urteilskraft als erkenntnistheoretisches Interpretationskonstrukt verstanden werden.

* Auch das ist natürlich eine Metapher in einer aktionistischen Homunkulussprechweise! Eine solche Kritik, die ich an einer anderen Stelle in der Auseinandersetzung mit Kants theoretischer Philosophie allgemein auszuführen versucht habe, verweist etwas kritisch auf diese Aussage, daß die Vernunft sich selber bzw. die praktische Urteilskraft oder die praktische Vernunft

'sich selber beurteilt' oder 'sich urteilt', 'sich selber richtet'. Das ist eine psychologisch aktionistische Terminologie, die Kant eigentlich nicht so gemeint haben kann, denn sowohl die Vernunft wie auch die Urteilskraft, auch der Verstand sind für Kant Vermögen, die gleichsam Dispositionen ausdrücken, dessen, was der Mensch handeln, sich orientieren, erfassen und leisten kann; es sind im Grunde erkenntnistheoretische Konstrukte, die er benutzt, um sich überhaupt das Zusammenspiel postulierter Funktionen der gesamten theoretischen Erkenntnistheorie klar zu machen - und insbesondere natürlich auch das Zusammenspiel der theoretischen Philosophie mit der Moralphilosophie, der praktischen Philosophie. Die Vernunft ist für ihn eine Einheit, obwohl sie gar nicht so zu sein scheint. Kant schreibt ja verschiedene Werke über die theoretische Vernunft, die reine Vernunft, über die praktische Vernunft und über die Urteilskraft, aber dennoch ist er der Meinung, daß die Vernunft eine Einheit bildet, daß die praktische Vernunft letztlich stets den Vorrang hat und den obersten Beurteilungsmaßstab abgibt, das ist hier nicht zu diskutieren. Wichtig ist nur, daß diese aktionistische Terminologie, die fälschlich ein handelndes Zentrum unterstellt, das mit der Urteilskraft bzw. der praktischen Vernunft identifiziert wird, eben doch die Überziehung eben auch einer Metapher bedeutet.

21

nach Kant um ein durchaus nicht-empirisches, sondern ein zugeschriebenes Konstrukt, das als solches aber nicht ein handelnder Urteilender, Urheber oder ein Akteur selbst ist. Nicht das Gewissen als kleiner Zensor in der Person, sondern die Person

selbst beurteilt ihre Handlungen und sich selbst unter dem verinnerlichten Gewissenskonzept und unter diesem Bild des inneren Gerichthofes. Mit anderen Worten: Kant arbeitet hier, wie überhaupt auch generell in seiner theoretischen und praktischen Philosophie, mit Konstrukten, mit (erkenntnistheoretischen) Interpretationskonstrukten, wie ich das nenne (vgl. 1993, 1993a).

Auch das Gewissen ist für ihn als eine Instanz aufzufassen, die methodologisch gesehen ein integrierendes und integriertes Interpretationskonzept oder -konstrukt ist. Deswegen kann man eigentlich nicht von dem Gewissen so einfach als einer direkt aktiven Instanz selber reden, genausowenig wie man direkt von der Vernunft oder der Urteilskraft als einer aktiven Instanz reden kann; es handelt sich eben um ein in der Bewußtseinssphäre repräsentiertes Interpretationskonstrukt; und ich denke, daß man

unter diesem Gesichtspunkt der Interpretation eine kleine Gewissenstheorie entwickeln kann. Beim Gewissen handelt es sich - wie oben schon angedeutet, und das gilt zumal und zumindest für den Ausdruck des Gewissens - um ein Bewußtsein der selbstzugeschriebenen Verantwortlichkeit bzw. um das Bewußt-sein der Anerkennung, Übernahme einer Verbindlichkeit im Sinne etwa der moralischen Selbstbeurteilung. Das ist sicherlich auch in einem bestimmten psychisch aktualisierten Gefühl oder einem gefühlsmäßigen Widerspiegeln, einer gefühlsmäßigen Resonanz des Gewissens reflektiert, nämlich im Bewußt-sein der Verinnerlichung der innerlichen Selbstverpflichtung, der bewußt als Akt erlebten Anerkennung des Anspruchs, aber diese Konstruktion des Gewissens ist selbst im wesentlichen ein Art von Interpretation(sergebnis), eine Art von funktional und formal wichtiger Projektion nach innen. Dabei ist die Zumutung eines solchermaßen ideal verstandenen quasiutopischen Gewissens in nichterfahrungsgebundener Weise bei Kant gerade das Entscheidende, geradezu das Ethische selbst und muß von der bloß empirischen gefühlsmäßigen Widerspiegelung, der gefühlsbetonten Gewissensstimme, säuberlich getrennt werden. Das verinnerlichte Konzept des Gewissens als Zuschreibung der Verantwortlichkeit zu sich selber unter dem Gesichtspunkt eben der Achtung vor dem Sittengesetz ist etwas anderes als die gefühlsmäßige Widerspiegelung der Gewissensstimme in der Person als psychischer Einheit. Wie Kant ja überhaupt bei seinem Subjektbegriff zwischen dem psychologischen Subjekt, wie wir es empirisch vorfinden, und dem erkenntnistheoretischen Subjekt unterscheidet, das erst die oberste integrierende Einheit darstellt, die alle Vorstellungen erst verbindet oder, besser gesagt, überhaupt als in einer Einheit befindlich zu denken gestattet. Wir müssen sozusagen die Einheit der Person, die Einheit des Subjekts unterstellen, das ist ein notwendiges Postulat, das wir für uns selber aufstellen, das wir aber auch jedem anderen Menschen, zumal wenn er im vollen Besitz seiner geistigen und moralischen Kräfte ist, als einer Person zumuten müssen. Mit anderen Worten: dieses Gewissen ist eine seinerseits intern zugeschriebene Projektion; dieser innere Gerichtshof ist also im Grunde eine Art Nach-Innen-Wendung. Deswegen finden wir bei Kittsteiner diese Ethisierung der Gewissenstimme und des ursprünglich religiösen Gewissensgebotes, das gleichsam von außen zu kommen scheint, aber in uns, durch uns als Gottesstimme repräsentiert bzw. gedeutet wird. Diese Verinnerlichung oder, besser gesagt, diese Nach-Innen-Verlagerung der Kontrolle wird auch gerade im Zeitalter Kants wiederum als eine Art positiver Wertung des Gewissens gesehen: Das Gewissen wird zwar nicht mehr direkt an die religiöse Begründung gebunden, aber es wird doch denkend zu einer handlungsleitenden 22

Instanz stilisiert, die die Handlungen einerseits beurteilt, insbesondere retrospektiv, und andererseits anmahnt oder auch als ein vorausgreifendes Gewissen zu erfassen gestattet. Wir haben bei Kant die Problematik dessen, was er die Achtung vor dem Sittengesetz, die er einfach postuliert, gleichsam als das Moralische, „das Faktum der Vernunft" nennt und fordert. Letztlich ist in gewissen Sinne dieser moralische Appell der Menschen an sich selbst bei ihm so etwas wie eine unendliche utopische notwendige Forderung, die wir immer (normativ) stellen müssen, die wir aber auch (hypothetisch) unterstellen müssen - insofern, als wir sie selbst zu haben vermeinen und eben auch anderen zumuten. Die handlungsleitende Instanz des Gewissens geht also auch auf zukünftiges Handeln. Insofern bleibt das Gewissen eine Zentralinstanz der Selbstregulierung, der Selbstkontrolle und Selbstnormierung, „die Zentralinstanz der Normation", wie ein Gestaltpsychologe, Rüdiger (1968, 475f.), in diesem Jahrhundert sagte. Häufig wird es als Organ der Wertorientierung, als Zentralinstanz der sich selbst steuernden und verantwortenden Persönlichkeit aufgefaßt, jedenfalls als innerer Beurteiler.

Auch Goethe hat das in entsprechender Weise schon gesehen in seinem bekannten Gedicht Vermächtnis: „... wende dich nach innen, das Zentrum findest du da drinnen. Woran kein Edler zweifeln mag, wirst keine Regel du vermissen: denn das selbstständige Gewissen ist Sonne deinem Sittentag." Das sind natürlich recht pathetische Worte, die wir heute vielleicht nicht mehr gebrauchen würden, aber sie sind wirksam gewesen und auch viel zitiert worden. Manche Psychologen sind durchaus über diesen Ansatz hinausgegangen und haben auch noch in der Gegenwart das Gewissen als eine Art Gottesstimme aufgefaßt, so beispielsweise Carl Gustav Jung (1958): Er hat das Gewissen als einen „numinosen", d. h., als einen erhabenen und überwältigenden „Imperativ" bezeichnet, dem von jeher eine höhere Autorität zukommt als dem menschlichen Verstande. Das „Daimonion" die mahnende Stimme des Sokrates, sei nicht die empirische Person des Sokrates, das Gewissen selber. Denn objektiv betrachtet, d. h. ohne rationale Voraussetzung, benimmt es sich in bezug auf „Anspruch" und „Autorität"„Wie ein Gott", sagt jung und sagt damit aus, daß es eine „vox dei"", eine Gottesstimme sei. „Diese Aussage"", so Jung, „kann auch eine objektive Psychologie, die auch das Irrationale einbeziehen muß, nicht umgehen." Es gibt viele Beispiele dieser Nachinnenwendung, die freilich dann oft diese göttlich Bindung der Stimme leugnet, etwa in der Richtung von Nietzsche und Freud. Nietzsche (1887) versteht das Gewissen keineswegs als eine moralische Instanz, die jenseits aller Kritik einzuordnen ist, sondern er meint, es sei im Grunde nichts anderes als eine Nach-innen-Verlagerung der gegen sich selbst gerichteten Aggression des Menschen, die sich nun nicht auf einen anderen richtet, sondern eben auf die urteilende/handelnde Person selber oder auf den verobjektivierten Teil des Ich. Der Ursprung des schlechten Gewissens sei eigentlich die Feindschaft, die Grausamkeit, die Lust an der Verfolgung, am Überfall, am Wechsel, an der Zerstörung, alles sei gegen den Inhaber solcher Instinkte gewendet. Gewissen sei also verinnerlichte Aggression, Aggressivität des Menschen - und als solches ein Ausdruck auch des Willens zur Macht, wenn auch in einer eher destruktiven Selbstbeherrschung („Selbst- Vergewal-

23

tigung", 1887, 322f., 326ff.) oder eine introjizierten Moralität, die im Grunde versucht, durch eine nach innen gelenkte Triebdynamik das zu erreichen, was durch

äußere soziale Kontrolle allein nicht erreicht werden kann - eine Verinnerli-

chungsthese übrigens, die ähnlich bei Freud eine große Rolle spielt. Freud war durchaus der Meinung, daß Ethik als eine Verinnerlichung des Gebots der Gesellschaft in Form der Über-Ich-Stimme aufzufassen sei. Handelt es sich beim Gewissen bloß um eine Introjektion von gesellschaftlichen Vorstellungen bzw. von überkommenen Moralvorstellungen etwa der christlichen Sklavenmoral in das Innere? Freud hat in der Tat das Gewissen als etwas behandelt, das nur durch Introjektion der gesellschaftlichen Forderungen und Erwartungen in das Ich oder in die Person in Form des zensierenden, kontrollierenden Uber-Ichs entsteht und das zur Bildung von Schuldgefühlen beiträgt. Man kann natürlich sagen, daß diese Art der Gewissensentwicklung eine Art „Pathogenese" (Kittsteiner 1991, 409) bedeutet. Das Gewissen überfordert den Menschen einerseits, ist andererseits einem Sinnverlust unterworfen; denn die eigentliche affektive, die verbindlich machende Potenz ist nicht mehr vorhanden, wenn man nur gesellschaftliche Forderungen empirisch nach innen projiziert. Kittsteiner (ebd.) sagt deswegen am Ende seines Buches, die Situation sei ähnlich wie am Ende des 17. Jahrhunderts: Man müsse nicht nur wie damals dem religiös befangenen Gewissen kritisch gegenübertreten, sondern auch dem „geschichtsphilosophisch befangenen Gewissen" - etwa jenen Konstrukt im Sinne der zunehmenden Aufklärung des Menschen oder gar dem ethischen Gewissen im Sinne etwa der Ethisierung. Er meint (ebd. 410), daß die „Ritualisierung" auch vor der Ethik nicht Halt gemacht habe, und man könne sich leicht vorstellen, daß das Postulieren oder Anrufen von einer Gewissensstimme auch in bestimmter Weise als eine Alibifunktion oder eine Art von Zirkel in der Ethik zurückführt:

»Die Schwierigkeiten mit einem auf die Geschichte ausgerichteten Gewissen lassen sich in einem Paradox formulieren: ohne die Bindung an letzte Wertvorstellungen scheint es nicht auskommen zu können, wo sie fehlen, stellen sich Pathologisierungen und Ritualisierungen ein. Umgekehrt hat sich dieser höchste Bereich der Verantwor-

tung als der gefährlichste erwiesen: in seinem Namen sind im 20. Jahrhundert die größtmöglichen Ubel geschehen. Nur eine neue Aufklärung kann das Gewissen aus dieser Verstrickung in eine Geschichtsteleologie aus einer angemaßten Verantwortung für das Ganze herausführen" (ebd. 410).

Kittsteiner schreibt (ebd. 410f.) ferner, daß man das Gewissen eben nie als ein „abgeschlossenes"', sondern als ein „offenes" Phänomen aufzufassen habe und daß es dar-

auf ankomme, „neue 'letzte Werte'" als eine Art von oberster Bindung oder Stützungsmöglichkeit für das Gewissen zu entwicklen. Er fragt, ob „nicht 'die Liebe zur Welt'«', also zur Erhaltung unserer Welt und Erde, ein solcher Wert sein könnte: „ein denkbarer Normbereich", der die letzten Werte sozusagen repräsentieren könnte und „an dem das Gewissen sich orientieren könnte" (ebd. 411). Ich glaube, daß das in gewisser Weise eine Verlegenheitslösung ist und daß man in der Tat einerseits nicht davon absehen kann, daß es solche Grundfunktionen des Gewissens, wie in den Ein-

gangsbeispielen geschildert, gibt: Die Stimme ist vorhanden, ist da, erklingt

verbindlich, ist verpflichtend. Ich denke aber, daß andererseits die Einsicht, daß es sich hier in der Tat um eine Art von normierendem, normativen Interpretationskonstrukt, um eine hypothetische Konstruktbildung handelt, die durchaus nach innen verlagert ist, an die Person gebunden ist, ihr zugeschrieben wird, aber doch „erlebt" wird. Es gilt dieses beides beizubehalten. Wir leben von (inneren) Deutungen.

24

Man könnte eine Phänomenologie der verschiedenen Gewissensteile und -funktionen entwickeln, wie es beispielsweise der kürzlich verstorbene Ethiker Hans Reiner (1971, 1978) zu tun versucht hat, der beim Gewissen Grundfunktionen sieht und unterscheidet, nämlich zweierlei Funktionen: einerseits die Verhaltensweisungsfunktion, die Leitungsfunktion, den Anspruch an das Verhalten, und zweitens die Verhaltenskontrolle, die Feststellung oder Prüfung von einer Erfüllung oder Nichterfüllung eines sittlichen Anspruches oder Gebots. Er spricht ausführlich von der Unterscheidung zwischen einem „autonomen Gewissen"', das eben im Grunde auf eigener beurteilender Stellungsnahme beruht, und einem „autoritären Gewissen", einem Gewissen, das an eine äußere

Autorität gebunden ist. Das autonome Gewissen betrifft im wesentlichen die Weisungsfunktion, das autoritäre mehr die Kontrollfunktion. Beide können natürlich rückschauend wie vorausschauend, auf zukünftiges Verhalten usw. ausgerichtet sein,

man kann dann entsprechend auch ein gutes und ein schlechtes Gewissen rückschauend und vorausschauend, etwa als mahnendes Gewissen oder warnendes Gewissen analytisch unterscheiden. Das sind alles Versuche, die die Vielfalt der Gewissensbegriffe differenzieren sollen, die aber nicht dazu angetan sind, die Grundkonstruktion selber zu erhellen. Leider scheint sich heute in der Tat eine Desorientierungssituation zu ergeben: Niklas Luhmann hat sogar von einem vollständigen Versagen der geisteswissenschaftlichen wertethischen Betrachtungsweise beim Gewissensbegriff geredet; man solle nach einem Gewissensbegriff suchen, der nicht an eine bestimmte Thematik, vielleicht nicht einmal an eine allgemeine ethische Unterscheidung von Gut und Böse gebunden ist und dadurch begrenzt sei, sondern man solle allein einen Begriff benutzen, der durch

die Funktion des Gewissens definiert ist, also praktisch nur durch die Kontrollfunktion.

Das hätte natürlich zur Folge, daß dann entsprechend wie bei Nietzsche und Freud oder wie auch bei Locke die Introjektion nur empirisch sein kann. Es kommt dann überhaupt nicht zu einem allgemeinen und umfassenden ethischen Anspruch. Jürgen Blühdorn, der einen sehr lesenswerten Sammelband zum Gewissen herausgebracht hat, bezeichnet den Diskussionsstand als „wohl ... desolat"', gekennzeichnet durch einen Pluralismus durch Schwäche" (1976, 4), man sei ,weiter denn je entfernt... von einer einheitlichen Bestimmung": Es gebe kein einheitliches Gewissensphänomen mehr in der heutigen Gewissenskrise, es könne das Gewissen nur interdisziplinär durch Zusammenarbeit vieler verschiedener Fächer, besonders der Psychologie, Sozialwissenschaft, Philosophie behandelt werden. Das ist sicherlich richtig; es gilt aber zweifellos auch, daß die Genese und Entwicklung des empirischen Gewissens in einer Person natürlich viel mit der Entwicklungspsychologie zu tun hat und durch entwicklungspsychologische Modelle beschrieben werden kann, wie z. B. jener von Rüdiger (1968). Dieser führt die Gewissensbildung auf eine Anfangs- und Ursituation der Harmonie oder Vertrauensbildung zur Mutter zurück, die natürlich gestört werden kann. Es entwickelt sich in einer Art von spiraligem Modell eine Sensitivität der Störungen und der Abwendungs-, Zuwendungs-, Distanzierungserlebnisse. Das Ge-

wissen begründet sich als eine dynamische Gefühlsstruktur auf der Basis eines Urvertrauens: „Das Erlebnis des Geliebtseins und Liebenkönnens muß stets vor dem der Schuld stehen"

(ebd. 483).

Eine andere Möglichkeit besteht natürlich darin, das Gewissen in der sozialen Ausweitung zu verorten. Das hat z. B. der Gestaltpsychologe Friedrich Kümmel

(1969, 443f.) versucht, der die „soziale Verflochtenheit" des Gewissens besonders betont; er meint, der Prototyp, das eigentlich Entscheidende am Gewissensphänomen,

25

also die eigentliche Form des Gewissenhabens, sei das öffentliche verantwortungstragende

Gewissen für andere, also für andere Verantwortung zu übernehmen, das sei die Modellvorstellung, die für das Gewissen prototypisch ist. Das kommt natürlich der Auffassung des Gewissens als der Bewußtheit selbstzugeschriebenen Verantwortlichkeit nahe. Man kann das empirische Gewissensphänomen als den zugehörigen Ausdruck, als den mentalen oder psychischen Ausdruck verstehen: Gewissen-Haben ist das Bewußtsein selbstzugeschriebener Verantwortlichkeit. Das Gewissen ist dadurch eine Art von Verantwortungszuschreibung - eine Verantwortlichkeit, die man sich eben unter Anspruch der Achtung gegenüber anderen und vor sich selber unter ethischen

Gesichtspunkten - im allgemeinen Sinne des Wortes - selbst zuschreibt. Wie bei den Verantwortungskonzepten (s. u.) handelt es sich bei dem Gewissens(bewußtseins)phänomen und seinen Varianten um die Bildung von (prototypisch zunächst normativen, dann aber auch kognitiv-deskriptiv verwendeten) Interpretationskonstrukten. Ich denke, daß dieser kurze Gang durch die Geschichte des Gewissensbegriffs gezeigt hat, wie eng Verantwortung und Gewissen oder Verantwortungszuschreibung und Gewissensstimme miteinander verknüpft sind. Das Gewissen ist die Konkretisierung

und das „Bewußt-haben", Bewußt-sein, der Verantwortungszuschreibung in der Selbstanwendung. Und es stellt jeweils, zumal in der normativen Weisungs- und Kontrollfunktion (doch auch in der Leistungsfunktion), auch den jeweiligen Bezug einer moralischen Verantwortung auf die konkrete Situation dar: Das Gewissen ist die Stimme der personal- und situativkonkretisierten Humanität. Moralisches Gewissen beschwört Humanität, ist notwendig zur Verwirklichung konkreter Humanität (vgl. Verf. 1996).

Der Angeklagte berief sich darauf, daß er eine „Gewissenskrise" erlebt hatte, und daß er im Grunde bei der Ausführung seiner mörderischen Pflicht eigentlich sein Gewissen habe überwinden müssen. Hannah Arendt (Eichmann in Jerusalem, 1964, 185, 176, 130 u.a.), die von Eichmann in Jerusalem berichtet und die Frage des Gewissens des Mörders, des sozusagen legalisierten staatlichen Töters, erörterte, kommt zu dem Urteil, dal Eichmann durchaus Gewissenskrisen, Gewissensbisse gehabt habe. Dieser selbst hat in seinem Prozeß auch gelegentlich auf den Ausdruck „Gewissen" Bezug genommen bzw. meistens auf den Ausdruck „Pflichtbewußtsein" (ebd. 173 ff.) oder ähnliches. Hannah Arendt schreibt (ebd. 130) über die Frage, ob der Angeklagte ein Gewissen hatte: „Die Antwort schien klar. Ja, Eichmann hatte ein Gewissen, sein Ge-

wissen hat ungefähr vier Wochen lang so funktioniert, wie man es normalerweise erwarten durfte; danach kehrte es sich gleichsam um und funktionierte genau in der entgegengesetzten Weise"

Eichmann selber versuchte sich später herauszureden, daß er nur „ein kleines Licht" gewesen sei, nur den 'Kadavergehorsam' ausführen mußte, sich dem Zwang seiner Zeit unterordnen mußte, einem Befehl bzw. dem „Gesetz" zu folgen hatte, das, wie er später selbst sagte, ein von Staats wegen „legalisiertes" Verbrechen erlaubte bzw. befahl. Er sagte in einem Verhör, daß er die Kritik der praktischen Vernunft gelesen habe; und

er konnte zu jedermanns Überraschung sogar ziemlich genau die Definition des Kategorischen Imperativs von Kant vortragen: „Da verstand ich darunter, daß das Prinzip meines Wollens und das Prinzip meines Strebens so sein muß, daß es jederzeit zum Prinzip der allgemeinen Gesetzgebung erhoben werden könnte" (zit. ebd. 174). Er gebrauchte zwar die Kantische Formulierung, aber er meinte wahrscheinlich, nach Hannah Arendt, eine zurechtgebogene inhaltliche Version, die sich auf Hans Franks „Neuformulierung" des Kategorischen Imperativs im Dritten Reich bezog, und die 26

lautet: „Handle so, daß der Führer, wenn er von deinem Handeln Kenntnis hätte, dieses Handeln billigen würde" (aus: Hans Frank, Die Technik des Staates, 1942, 15f.)! Die

Einstellung Eichmanns entspricht jedoch in jedem Falle einer Verzerrung und Entstellung des Kategorischen Imperatives: Wenn er sich darauf beruft, ist es allenfalls das, was er selbst dann „den Kategorischen Imperativ im Hausgebrauch des kleinen Mannes" (ebd. 175) nannte, nämlich Gesetzesgehorsam: „Gesetz war ihm Gesetz, Ausnahmen durfte es nicht geben" (ebd.). Er selber hatte sogar zwei Ausnahmen ge-

mashe en, mlich iner hain dische ondie gehollen die si en indischen Warinan - und auch jetzt noch bei der Befragung im Kreuzverhör - peinlich; denn er hatte

gegen die Insinuierung, daß keine Ausnahmen geduldet werden dürfen, in zwei Fällen selber verstoßen. „Keine Ausnahmen, keine Kompromisse" - das war sozusagen die Zusammenfassung oder der Gipfel dieser Art von Kadaver- und Gesetzesgehorsam. Er glaubte immer noch, „der Pflicht gefolgt" zu sein (ebd. 176). Hannah Arendt kommt zu dem Schluß (ebd. 185), daß die „traurige und beunruhigende Wahrheit ... vermutlich (war), daß nicht sein Fanatismus Eichmann zu seinem kompromißlosen Verhalten im letzten Kriegsjahr getrieben hat, sondern sein Gewissen, das ihn drei Jahre zuvor für eine kurze Zeitspanne in die umgekehrte Richtung gedrängt hatte. Eichmann wuß-

te, daß Himmlers Anordnungen dem Führerbefehl direkt zuwiderliefen." Dennoch sah er sich in der Situation, Anordnungen und Befehle auszuführen. Er berief sich natürlich im Sinne der üblichen Befehlsnotstandsausreden darauf, daß „seine Schuld ... sein Gehorsam" (ebd. 294) gewesen sei - und nur sein Gehorsam: „und Gehorsam werde doch als Tugend gepriesen". . Diese l'ugend sei eben „von den Regierenden mißbraucht worden, aber er hätte nicht zur 'Führungsschicht'gehört": „Ich bin nicht der Unmensch, zu dem man mich macht. Ich bin das Opfer eines Fehlschlusses" (zit. ebd.), sagte er schließlich in seinem Schlußwort anläßlich der Verurteilung. Man sieht, daß die Berufung auf das Gewissen seltsame Wege gehen kann und daß das Gewissen nicht erst seit dem Zweiten Weltkrieg - in gewisser Weise fraglich, inhaltlich fraglich geworden ist; die bloße Berufung auf die Instanz, gleichsam auf die formale Stimme des Gewissens allein kann offenbar nicht ausreichen. Das ist auch in gewisser Weise eine Stellungnahme, die der frühere deutsche Bundespräsident, Richard von Weizsäcker, 1985 in seiner berühmten Rede zum 8. Mai gesagt hat, indem er sich auf die Ablenkungstaktiken, -strategien, Selbsttäuschungen im sogenannten Dritten Reich bezog: „Da gab es viele Formen, das Gewissen ablenken zu lassen, nicht zuständig zu sein, wegzuschauen, zu schweigen". Das gilt insbesondere für den Normalbürger, der natürlich auch in einem gewissen Sinne in einen Gewissenskonflikt geraten war und

geraten mußte - mehr oder minder abhängig natürlich von seinem Wissensstand.

Nicht von ungefähr wird ja auch der 20. Juli als „Aufstand des Gewissens" bezeichnet, und diese Bezeichnung ist sicherlich richtig. Dabei mag auch die Ehre und das Gewissen der traditionellen Orientierung der Offiziersgarde eine Rolle mitgespielt ha-

ben. Doch hatten gerade früher die preußischen und später die deutschen Oftiziere den „Gehorsam" gegenüber dem Befehlshaber besonders verinnerlicht.*

s Dennoch weigerte sich im Siebenjährigen Kriege der Oberst Johann Friedrich Adolf von der Marwitz, den Befehl Friedrichs II. auszuführen, das Schloß Hubertusburg plündern zu lassen, weil solches „gegen Ehre und Gewissen eines Offiziers" ginge. Er wurde aus der Armee „in Ungnaden" entlassen, ließ später auf seinen Grabstein setzen: „Wählte Ungnade, wo Gehorsam nicht Ehre brachte"! (Fischer - Fabian 1987, 21f.).

27

Es finden sich wie oben erwähnt Wechselbeziehungen nicht nur zwischen dem Begriff der Verantwortung und dem Gewissen, sondern es gibt natürlich auch Zusammenhänge zu dem Stolz auf sich selbst, den man früher „Ehre" nannte. Schon Annette von Droste-Hülshoff hat das in ihrem Gedicht Halt fest! ausgedrückt:

„Uns allen ward ein Kompaß eingedrückt Noch keiner hat ihn aus der Brust gerissen; die Ehre nennt ihn, wer zur Erde blickt, wer zum Himmel, nennt ihn das Gewissen." Offenbar hat Gewissen mit Mut und Zivilcourage, mit einem persönlichen Einsatz zu tun. Das ist beispielsweise auch die These von John F. Kennedy in seinem Buch Profiles and Courage (1955), wo er an einer Stelle sagt: „Wir stehen alle immer wieder vor der gleichen grundlegenden Alternative: Mut oder Nachgeben." Wie sich jede Tugend üben läßt, so auch die Zivilcourage. „Der Weg zur Hölle" dagegen ist „mit den kleinen Feigheiten gepflastert" (Fischer-Fabian 1987, 17), und deshalb sollte man diesen kleinen Feigheiten auch im Alltagsleben nicht zu leicht nachgeben. Es ist sicherlich zynisch gemeint, aber vielleicht liegt doch ein gewisser hintergründiger Sinn darin, etwas Wahres, wenn Oscar Wilde sagt: „Gewissen und Feigheit sind in Wirklichkeit ein und dasselbe. Das Gewissen ist nur der öffentliche Geschäftsname der Doppelfirma." In gewissem Sinne hat man vielleicht mit dem Gewissen im Grunde eine Art von Selbstberuhigungsstrategie, die man anruft, hinter der man sich dann auch wie unter einem großen Dach gerne verstecken möchte und kann. Fischer-Fabian, aus dessen Buch Die Macht des Gewissens (1987, 17) ich die-

sen Hinweis auf das Kennedy-Buch habe, sagt: „Deshalb gilt: nicht mehr zu schwei-

gen, wenn der Kollege vom Chef öffentlich gedemütigt, über Nichtanwesende

ehrabschneidig geredet, ein Mensch wegen seiner anderen Hautfarbe oder Volkszugehörigkeit beleidigt, ein Tier gequält wird und so fort; wenn also Unrecht geschieht, und zwar im eigenen Umkreis. Dieses Kehren - besser Uben - vor der eigenen Haustür scheint am wirkungsvollsten". Und es ist - so können wir vorweg schon sagen - Gebot der konkreten Humanität in Sachen eigenen Gewissens. Heutzutage haben wir ja eine etwas bessere Gesetzeslage: Man kann sich nämlich auf den Schutz des Grundgesetzes, Art. 4, Abs. 1, berufen, der unter anderem Freiheit des Glaubens als „unverletzlich"ansieht und eben auch die Freiheit des Gewissens „unverletzlich" nennt. Insbesondere wird im Absatz 3 auch ausgeschlossen, daß jemand zum Dienst mit der Waffe gezwungen werden darf. Dieses Recht ist also grundgesetzlich geschützt, und es wird darauf verwiesen, daß das Nähere durch Bundesgesetze geregelt würde. Diese Freiheit des Gewissens ist natürlich insofern scheinbar ein wenig paradox, weil einerseits das Gewissen ja offenbar doch nicht als eine willkürliche oder freie Stimme erlebt wird, sondern als ein gewissermaßen Unverfügbares, als eine zwingende Stimme, die uns eher der Freiheit im Sinne von Willkür beraubt. Aber gemeint ist natürlich die Freiheit der Anerkennung der Gewissensstimme bei anderen; und diese Freiheit ist die Grundlage der grundgesetzlichen Toleranz in bezug auf die Gewissensentscheidungen.

In Wirklichkeit hat es natürlich auch in unserer Gesellschaft derjenige recht schwer, der sich auf Gewissensentscheidungen beruft. Das gilt insbesondere im Arbeitsleben. Und dazu wurden kaum Gerichtsurteile bekannt. Eines ist das folgende:

28

Vor einigen Jahren, 1986/87, hatten zwei angestellte Ärzte beim Arbeitsgericht Mönchengladbach gegen die Kündigung durch ihren Arbeitgeber, einen Pharma-

konzern, geklagt. Dieser hatte sie entlassen, weil die Arzte sich geweigert hatten, die Forschungen mit einer Substanz zu einem Medikament voranzutreiben, das gegen Erbrechen entwickelt werden sollte. Die Ärzte hegten die Vermutung, daß diese Substanz im Zusammenhang mit eventuellen „Strahlenkrankheiten" unter militärischem Aspekt als Medikament mit einem hohen Marktpotential entwickelt werden sollte und daß es insbesondere ein geeignetes Gegenmittel gegen Erbrechen infolge eines Nuklearkrieges und der entsprechenden Verstrahlung - zumal für Soldaten - darstellen sollte. Die Arzte lehnten die Mitarbeit unter Hinweis auf medizinische und ethische Gründe ab - und eben unter Berufung auf ihr Gewissen. Hierauf fanden zwischen den

Ärzten und deren Vorgesetzten mehrere Gespräche statt, die jedoch zu keiner Einigung führten. Den beiden Ärzten wurde dann schriftlich mitgeteilt, daß die primäre

Indikation die Entwicklung eines Medikaments gegen das Erbrechen nach der Chemotherapie bei Krebserkrankungen sei und daß die Zweckbestimmung zur Entwicklung dieser Substanz nicht der militärische Einsatz im Falle eines nuklearen Krieges sei.

Aber auch weitere Gespräche, in denen schon von Kündigung die Rede war, brachten keine Einigung. Und so kam es zu dieser Kündigung, gegen welche die Ärzte dann klagten.

Sowohl das Arbeitsgericht Mönchengladbach (1987, 5Ca 586/87) als auch das Landesarbeitsgericht (LAG 11(16) Sa 1364/87) Düsseldorf wiesen diese Kündigungsschutzklage ab. Das Arbeitsgericht verneinte den Verstoß gegen Standesregeln und den hippokratischen Eid, denn die Entwicklung eines Medikaments, das ein bestimmtes Symptom stoppt, widerspreche nicht der Menschlichkeit. Das Landesarbeitsgericht prüfte insbesondere die mittelbare Wirkung der Grundrechte auf Gewissensfreiheit, auf Leistungsbestimmungen nach „billigem Ermessen" und sogenannte Einschrän-

kungen des Direktionsrechts, des Weisungsrechts des Arbeitgebers nach billigem

Ermessen: „Der Arbeitgeber" dürfe „dem Arbeitnehmer keine Arbeit zuweisen ..., die den Arbeitnehmer in einen solchen Gewissenskonflikt versetze, der unter Abwägung der beiderseitigen Interessen vermeidbar gewesen wäre. Was dem billigen Ermessen entspreche, sei unter Abwägung der Interessenlage beider Vertragsparteien festzustellen". Die Zuweisung einer Arbeit sei nur dann nicht gerechtfertigt - so das Lan-

desarbeitsgericht -, wenn der Arbeitsauftrag „den Arbeitnehmer nach allgemeiner

Ansicht - aus der Sicht eines Dritten - in einen unzumutbaren Gewissenskonflikt bringe". Diese Floskel „nach allgemeiner Ansicht" - „aus der Sicht eines Dritten -" ist hier natürlich entscheidend für die Stützung des Spruches des Landesarbeitsgerichts, das ausführt: daß „auch bei einem unvorhersehbaren Gewissenskonflikt ... der aus Gewis-

sensgründen Vertragsbrüchige das Schadensrisiko selbst tragen .. muß", und dies wäre nur dann nicht der Fall, wenn die Arbeitsanweisung mit „dem Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden unvereinbar" sei. Dem Gewissenskonflikt der Arbeitnehmer komme insgesamt nicht das Gewicht zu, daß diese die Arbeit nicht hätten ausführen müssen; die Kündigung sei also zu Recht erfolgt.

Das Landesarbeitsgericht und das Arbeitsgericht in Mönchengladbach stellten sich

also auf den Standpunkt, daß es so etwas gibt wie einen objektiven, intersubjektiv ermittelbaren Gewissensbegriff und einen Gewissensspruch, der sich auf einen Beobachter-

standpunkt aus der Perspektive eines Dritten, eines extern Urteilenden, und eben

durch die allgemeine Ansicht bzw. durch das „Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden" definiert. Das Bundesarbeitsgericht entschied nun gegen diese Vorinstan-

29

zen und verwies den Rechtsstreit an das Landesarbeitsgericht zurück. Entgegen dem Landesarbeitsgericht ging das Bundesarbeitsgericht von einem sogenannten subjektiven Gewissensbegriff aus, eine Gewissensentscheidung ist danach „jede ernste sittliche, d.h. an den Kategorien von 'Gut' und 'Böse' orientierte Entscheidung ..., die der einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und verpflichtend" erfahre. Der

Arbeitnehmer müsse „seine Konfliktlage im einzelnen darlegen und erläutern", wobei es für das Gericht überprüfbar bleibe, „ob der Gewissenskonflikt bei der vereinbarten Tätigkeit tatsächlich auftritt"'. In einem objektiven Gewissensbegriff, der unter anderem auch auf einen für Dritte nachvollziehbaren Konflikt bezogen ist, sah das Bundesarbeitsgericht eine gesetzwidrige Verkürzung des durch die Verfassung (GG Art. 4) geschützten subjektiven Gewissens. Gewissen ist also subjektiv - und dann auch als subjektives gesetzlich zu achten. Die Bundesarbeitssrichter anerkannten insofern den Gewissenskonflikt der klagenden Ärzte, da die Substanz auch geeignet sei, in einem Nuklearkrieg eingesetzt zu werden, und dies vom Pharmakonzern nicht ausgeschlossen werde (obwohl eben diese Mitteilung, daß das nicht der Fall sein sollte, von der Firma den Ärzten mitgeteilt worden war). Der Arbeitgeber habe diese Gewissensgründe zu respektieren; die Ablehnung der weiteren Mitwirkung aus Gewissensnot sei ebenso gerechtfertigt wie eine gewisse Begrenzung des Direktionsrechts, und insofern ist also der Schutz des subjektiven Gewissens vorrangig und grundgesetzlich geschützt: Das subjektive Gewissen hat offenbar eine gewisse Priorität gegenüber der aus der Sicht der Dritten oder des allgemeinen Anstandsgefühls oder der Allgemeinheit als objektivierbar einsehbaren Zumutung. Das grundgesetzlich geschützte Gewissen ist also das subjektive Gewissen, das freilich - durchaus

und gerade auch in solchen Fragen - interpretations- und ausfüllungsbefürftig ist, insbesondere wenn es um intrikate Konflikt- und Streitfalle geht. Das ergibt sich z.B. auch schon aus den Befürchtungen der Arbeitsgerichte, daß dann, wenn man sich allzu sehr auf die Subjektivität des Gewissens verlassen wollte und dieses nicht extern kontrollierbar erfaßbare Gewissen immer und in jedem Fall schützen müßte, so etwas wie eine Inflation von Gewissensentscheidungen und von subjektiver Beliebigkeit eintreten würde, was man schon im Interesse der Rechtssicherheit und der

Rechtsordnung vermeiden müsse. Aber es wird anerkannt, daß insbesondere nach dem Bundesverfassungsgericht (BVG) eine Gewissensentscheidung jedenfalls dann vorliegt, wenn jemandem die Identifikation mit einem von ihm aus religiösen, ethischen oder weltanschaulichen Gründen abgelehnten oder wenigstens die Distanzierung von einem durch ihn aus solchen Gründen für richtig gehaltenen Standpunkt abverlangt werde. Das BVG (BVerfGE 12,45) hat selbst das Gewissen ja wie erwähnt im Sinne des Art. 4 als ein „real erfahrbares seelisches Phänomen" verstanden, „dessen Forderungen, Mahnungen und Weisungen für jeden Menschen unmittelbar evidente Gebote unbedingten Sollens sind. Als eine Gewissensentscheidung ist jede ernstliche sittliche, an den Kategorien von 'Gut' und 'Böse' orientierte Entscheidung anzusehen,

die der einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt, so daß er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könne" (zitiert aus der Stellungsnahme der Urteilsbegründung des Landesarbeitsgerichts).

Matthias Maring, dem ich diese Recherche zu diesem Fall verdanke, hat selber zusammenfassend den Fall - vor der Zurückweisung durch das BAG an das LAG und vor der Entscheidung des LAG - wie folgt beurteilt:

30

„Insgesamt gesehen ist die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts aus den eben genannten Gründen sehr zu begrüßen, stellt sie doch eine erfolgversprechende Möglichkeit dar, die Wirksamkeit von Ethik zu erhöhen und damit deren Wirkungsmöglichkeiten zu vergrößern und zu verbessern. Denn gerade die abhängig Beschäftigten, aber nicht nur diese, benötigen arbeitsrechtlich wirksame Unterstützung, damit auch andere als ökonomische Interessen, Ziele und Werte zur Geltung kommen können. Die Höherschätzung der Gewissensentscheidung und deren generelle Beachtung ist nicht zu gering einzuschätzen." Nach der Zurückweisung vom BAG an das LAG Düsseldorf hatte letzteres zu prüfen, ob ein anderweitiger Einsatz der Ärzte möglich und zumutbar für die Beklagte gewesen wäre. „Aufgrund der mündlichen Verhandlung und der durchgeführten Beweisaufnahme" kam „die erkennende Kammer" zu „der Auffassung, daß die Beklagte den

Kläger nicht anderweitig beschäftigen konnte" (LAG Düsseldorf 11 Sa 1349/87, 1.2.1991).

Offensichtlich besteht die Schwierigkeit darin, daß das Gewissen einerseits etwas Subjektives ist, dessen Gehalt und Ausrichtung nur als subjektiver Appell erlebt wird, allerdings als eine verbindliche, zwingende Stimme. Andererseits handelt es sich um Sachverhalte, die aus rechtlicher Sicht auch wenigstens in gewissem Sinne objektivierbar sind und sein müßten. Wie erwähnt - das Bundesverfassungsgericht hält das Gewissen für ein „real erfahrbares seelisches Phänomen", ohne dieses im einzelnen näher zu begründen oder zu analysieren. Was also ist das Gewissen? Handelt es sich um eine Instanz, gar eine letzte Normierungsinstanz der menschlichen Entscheidung, sei diese nun selber die entscheidende

Instanz oder sei es sekundär als eine Instanz der (Selbst-)Beurteilung, der Beratung und Bewertung der eigenen Handlungen? Handelt es sich um ein „Organ" der „Normation" (s. o., Rüdiger), gar um ein „Organ der Transzendenz" ', wie der Philosoph Helmut Kuhn, gesagt hat? Das entspräche ja dem „numinosen" ethischen „Imperativ" nach Carl Gustav Jung. Handelt es sich um ein Vermögen des Menschen, wie viele Philosophen, insbesondere auch angelsächsische, etwa Kroy (1974) in seiner Monographie The Conscience zum Gewissensbegriff, gemeint haben? Handelt es sich um eine innere Stimme, die irgendwie ins Bewußtsein tritt, eine „vox dei", eine göttliche Stimme, von der schon Menander und Seneca gesprochen haben? Gibt es so etwas wie eine nach innen projizierte dialogische Funktion des Gewissens oder einen inneren Ge-

richtshof, wie Kant das sah - ein „Forum internum", aut dem im Konzert der inneren Selbstvergewisserung insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Selbstverklagung, der Selbstanklage und Selbstrichtung geurteilt wird?

Oder handelt es sich im Grunde mehr im Sinne der Freudschen Psychoanalyse um ein Uber-Ich, um einen sozialen „Reflex", der introjiziert und internalisiert worden ist? Ist

das Gewissen der Übervater, der sich als Uber-Ich im mentalen Inneren dokumentiert? Oder ist es nichts anderes als eine perverse Introjektion christlicher „Sklavenmoral", wie es Nietzsche aufgefaßt hat, der ja in seinem Menschliches - Allzumenschliches

geschrieben hat: „Der Glaube an Autorität ist die Quelle des Gewissens, es ist also nicht die Stimme Gottes in der Brust des Menschen, sondern die Stimme einiger Menschen im Menschen"? Wäre das Gewissen somit nichts anderes als eine Art von Tra-

dition der Wertung und der Normung, die nur nach innen projiziert ist? Oder wie sonst ist das Gewissen zu verstehen? Kann es überhaupt einheitlich gedeutet werden? 31

Oder ist gar, wie ein Aphoristiker gesagt hat, „das Gewissen - eine eingefleischte Kulturgeschichte"? Ist es kulturrelativ, kulturbedingt, kulturbestimmt? Oder ist es ein angeborenes Prinzip der Natur - wie es Rousseau etwa im Emile: „Es liegt tief in unserer Seele ein angeborenes Prinzip der Gerechtigkeit und der Tugend, nach dem wir unsere Handlungen und die anderer beurteilen, ob sie gut oder böse sind. Und diesem Prinzip gebe ich den Namen Gewissen" behauptete?

Diese Fragen sind schwierig und keineswegs abschließend zu beantworten. Die verschiedenen Aspekte scheinen einander auszuschließen, aber doch nur teilweise; sie überlappen einander. Kann es so zu verstehen sein, daß es analog wie der Mensch etwa angeborenerweise über Sprache verfügt, d. h. genauer: über die Fähigkeit, Sprache zu entwickeln und individuell zu erlangen, ähnlich auch bei der Gewissensstimme und bei deren Selbstvergewisserung bestellt ist? Daß wir also generell die Fähigkeit zur Gewissensentwicklung und -aktivierung besitzen, daß aber der Inhalt, die Art der Außerung oder die Entfaltung, die inhaltliche Gestaltung des Gewissens u.U. durchaus kulturell und sozial variabel sein können? Offenbar gilt dies zumindest in bestimmtem Maße.

Es geht hier im wesentlichen nicht darum, eine mögliche Theorie des angeborenen Gewissens zu verfolgen oder auch nur die Frage zu diskutieren, ob diese Stimme überhaupt angeboren ist oder nicht - das kann man mit den gegenwärtigen Mitteln wahr-

scheinlich gar nicht entscheiden. Es geht auch nicht darum, daß man nun etwa die Faktizität des Gewissens bestreiten würde oder könnte, wie es beispielsweise manche

Autoren versuchen, die das Gewissen auf irgendwelche anderen psychischen Faktoren reduzieren möchten; in jeder naturalistischen Reduktion steckt letztlich auch eine Art von Ablenkunsstrategie. Es geht schließlich auch nicht darum, das Gewissen bloß als eine Art von Sammelbezeichnung oder Funktionssammlung aufzufassen, wie es etwa Luhmann fordert, der meint, die traditionelle Theorie der Gewissensstimme hätte

. Fruchtbarer könne man unabhängig von der einzelnen Person und

völlig „versagt".

ihrer Identifikation mit dem Gewissen formal-funktional die Funktionen des Gewissens analysieren - und das sei alles, was man leisten könne.

Auch Goethe hat sich ähnlich abwiegelnd zur Gewissenslenkung geäußert - nicht nur in dem berühmten Prolog zum Faust: „Ein guter Mensch in seinem dunklen Drange ist sich des rechten Weges wohl bewußt" (was wäre dieser „dunkle Drang" anderes als das Gewissen?). Goethe hat jedoch - wie fast immer - einen interessanten Aspekt in den Vordergrund gehoben, der allerdings m. E. in diesem Falle zu einer falschen Beurteilung führt: Er sagt nämlich in seinen Maximen und Reflexionen (II) in einer ebenfalls sehr

bekannten Formulierung: „Der Handelnde ist immer gewissenlos. Es hat niemand Gewissen als der Betrachtende." Das heißt, das Gewissen ist ein nachträgliches Betrachtungsergebnis, eine Deutung, ein Reflektionsphänomen. Das bedeutet, daß man, insofern man handelt, eigentlich nicht reflektiert oder zu reflektieren in der Lage ist bzw., daß es nicht so etwas gibt wie das planende, handelnde oder dem Handeln vorgeschaltete Gewissen, das unmittelbar selbst oder durch den Vorsatz zum Handeln das Handeln entscheidend mit beeinflußt. Ich glaube, daß das ein falsches Urteil unseres

dichterischen Altmeisters ist; denn in der Tat gibt es auch das mahnende, warnende, vorausschauende Gewissen, das selber auf das Handeln Einfluß nimmt. Aber was ist dieses Einflußnehmen und dieses Gewissen? Dieser Frage sind wir also

mitnichten nähergekommen. Die traditionellen Auffassungen sind auch nicht ge-

32

eignet, diese Frage wirklich zu beantworten, das gilt übrigens selbst für die oben

zitierten juristischen Gewissensauffassungen und -begriffe. Alle diese Gewissenstheorien, insbesondere jene in der Philosophie, aber auch solche in der rechtlichen Verwen-

dung, die von dem „realen" Phänomen oder der „Stimme" oder der „Instanz" oder dem inneren Gerichtshof oder dem „Organ" sprechen, versubstantivieren sozusagen das Gewissen zu einer Quasientität, zu einer Instanz, zu einer Prozeßeinheit oder gar zu einer Substanz. Sie sind wenigstens Substantialisierungs- oder Substantivierungskonzepte, die eine ideale Substanz bzw. Instanz im Menschen fordern bzw. als real wirkend erkennen wollen, die wie ein selbständiger „kleiner Handelnder" im Geist des Menschen, im Gehirn oder wie immer, die Entscheidung des Menschen mitsteuern sollen. Es handelt sich um Homunkuluskonzepte des Gewissens. Der Homunkulus spricht

mit der Gewissensstimme. Das Problem ist eigentlich, daß hier eine Art von abstrakter Gegenständlichkeit projiziert wird, die dann in bezug auf das Handlungswissen und die Handlungssteuerung wirksam werden soll, etwa motivierend oder kausal oder eben wenigstens beurteilend - quasi in einem inneren Gerichtsverfahren - man den-

ke an das Modell des „inneren Forums" von Kant.

Hier muß man kritisch ansetzen und auf die schon kurz erwähnte Auffassung des Gewissens bzw. seiner ausdrucksmäßigen Form oder seiner Äußerung zurückgreifen, die auf einer bewußtseinsmäßigen Selbstzuschreibung von Verantwortlichkeit beruht - und zwar in

dem Sinne, daß sie nun wirklich die Persönlichkeit engagiert und betrifft bzw. gar

„trifft". Bei einem solchen interpretatorischen Ansatz ist man nicht darauf angewiesen, so etwas wie eine Substantialisierung des Gewissens als eines inneren kleinen „Mannes" im Geiste oder eines kleinen Akteurs anzunehmen.

In der analytischen Philosophie ist das Phänomen des Gewissen auch in diesem Sinne

untersucht worden, und zwar schon 1940 von C. D. Broad, der einen berühmt gewordenen Aufsatz über Gewissen und gewissenhaftes Handeln geschrieben hat, in dem er versucht, die Definitionen des Gewissens zu umgehen und eine Art von nichtteleologischer Auffassung zu entwickeln. Er wendet sich also gegen den Utilitarismus und meint überhaupt, das Phänomen des Gewissens könnte vom Utilitarismus überhaupt nicht erklärt werden. „Wenn der Utilitarismus wahr ist, dann hat kein Mensch ein Gewissen", denn die Essenz, das Wesentliche am Utilitarismus sei die Behauptung, daß es überhaupt keine nichtteleologischen, keine nichtfolgenorientierten Begründungen und Verpflichtungen gebe. Broad versucht, das Gewissen auf das gewissenhafte Handeln (»conscientious action") zurückzuführen ..: „Eine Handlung ist gewissens-

gebunden (conscientious'), wenn die folgenden Bedingungen erfüllt sind: 1. Der Handelnde hat über die Situation, die Handlung selbst und über alle seine Alter-

nativen reflektiert, um sich für die richtige Weise des Handelns zu entscheiden. Er hat in diesen Reflexionen das Äußerste zu erreichen versucht, um die wichtigen, relevanten Fakten zu erkennen und ihnen auch die entsprechende Gewichtigkeit zu geben. 2. Er hat sich entschieden - und zwar aufgrund der faktischen und ethischen Information, die ihm zugänglich ist -, daß die Handlung, um die es geht, wahrscheinlich die richtigste oder die am wenigsten falsche („the most right or least wrong") von all denen ist, die ihm als Alternativen offenstehen. 3. Und das ist das Wichtigste - sein Glaube, daß die Handlung diese moralische Charakteristik hat, zusammen mit seinem Wunsch, das zu tun, was als solches richtig ist, ist entweder a) die einzige Motivkomponente, dieses zu tun, ober b) eine hinreichende und notwendige Motivkomponente,

es zu tun. Wenn die erste Alternative a) erfüllt ist, also wenn die Motivkomponente die

einzige ist, dies zu tun, dann spricht Broad von einem ,reinen gewissenhaften Han-

33

deln". Wenn das aber nur „vorwiegend so ist", von einem „vorwiegend gewissenhaf-

ten Handeln"

Man sieht natürlich, daß diese Analyse zu einer recht formalistischen Auffassung führt. Wer würde letztlich Eichmann bestreiten können, daß er in diesem Sinne gewissenhaft, gewissenhaft bis zum Äußersten gehandelt hat? Der Ausdruck „gewissenhaft" ist eben - auch im Deutschen - doppeldeutig. (Im Französischen ist der Ausdruck „con-

science" noch im größeren Maße mehrdeutig; denn er bedeutet auch einfach „Bewußtsein"; deswegen müssen die Franzosen, wenn sie „Gewissen" in unserem Sinne

meinen, meistens „moralisches Gewissen" sagen (conscience morale).)

Jedenfalls zeigt sich, daß die bloße analytische Erhellung und Aufschlüsselung von solchen Begriffen sicherlich nicht ausreicht, um das Phänomen, das „reale seelische Phänomen", von dem das Verfassungsgericht spricht, irgendwie näher zu erhellen. Man muß zweifellos gewisse Unterscheidungen machen; diese aber müssen, ja dürfen nicht Unterscheidungen nach Substanzarten oder methodologischen Zugängen allein sein, sondern solche lassen sich am besten treffen, wenn man einen interpretatorischen Zugang, interpretationsmethodologischen Zugang wählt (vgl. Verf. 1993, 1995, zum Gewissensbegriff auch v. Verf. 1986; 1987, 571-591; 1992, 53-75). Solche Unterscheidungen werden dann auch vielfach getroffen. Einerseits ist das Gewissen sicherlich empirisch-faktisch unleugbar: Es kommt tatsächlich vor, macht sich bemerkbar und wirkt u. U. - zwar nicht bei allen Menschen; denn es gibt auch Gewissenblindheit oder Gewissenlosigkeit. Doch immerhin hat schon Kant gesagt: „Gewissenlosigkert ist nicht Mangel des Gewissens, sondern Hang, sich an dessen Urteil nicht zu kehren" (AA VI, 401). Damit ist also unterstellt, daß bei jedem untergründig doch eine Gewissensstim-

me vorhanden sei. Daß man diese nun überrollen oder nicht beachten kann, ist

zweifellos richtig - und das war schon in der Tradition bekannt; z. B. Fénélon bereits sagte: „Man ist nie scharfsinniger, als wenn es darauf ankommt, sich selbst zu täuschen und seine Gewissensbisse zu unterdrücken." Oder Jean Paul: „Niemand wird leichter betrogen, nicht einmal die Weiber und die Fürsten, als das Gewissen." Mit anderen Worten: die empirische Faktizität scheint dafür zu sprechen, daß es doch so etwas gibt

wie eine generelle anthropologische Kennzeichnung oder Auszeichnung des Menschen durch das Gewissen. Viktor Frankl hält das Gewissen für das „Sinn-Organ"', also für zentral für die Sinnsuche und Sinnkonstitution des auf Sinnerfahrung und Sinnstreben angewiesenen Menschen. So wäre das Gewissen denn doch eine anthropologische Konstante, die man in Fremd- wie Selbstzuschreibung annehmen kann, die aber - vielleicht ähnlich wie die Sprache - nur als eine Anlage, als ein Talent und als

eine Möglichkeit oder Fähigkeit vorhanden ist, welche durchaus, was das Inhaltliche

und die Entfaltung angeht, sehr variabel ist und dementsprechend erst entwickelt, geschult, geübt werden kann und auch muß.

„Die Aktualisierung des Sozialgewissens im Individuum", so hat Rauschenberger das individuelle Gewissen definiert - und das scheint in gewissem Sinne an die Freudsche Auffassung vom Über-Ich anzuschließen. Als psychisches Phänomen ist die Gewissensstimme sicherlich nicht zu bestreiten, aber das ist eigentlich nicht dasjenige Moment, das zu der philosophischen Frage der moralischen Letztinstanz und der letzten Urteils- oder Entscheidungsinstanz geführt hat. Es handelt sich hier eigentlich nur um ein Beispielmaterial, das man aus der Psychologie erhält. Man kann die Gewissensschulung, -einübung und -ausbildung untersuchen und studieren - und das ist alles

34

sehr hilfreich und wichtig -, aber das alles ersetzt nicht die philosophische Theoriebildung. Diese ist bislang allerdings in der Tat sehr verworren. Das empirische Gewissen leugnet keiner der Philosophen (außer vielleicht Nietzsche, selbst der jedoch läßt es sozusagen noch in einer perversen, abartigen Form zu) - darüber ist man sich also einig: Die Gewissensstimme ist faktisch vorhanden. Man gesteht zu, daß diese Stimme sozusagen - metaphorisch gesprochen - in uns redet, aber die Frage ist doch: wie, wodurch

„spricht" Grundlagediese für das metaphorische doch erlebteStimme Äußerungsphänomen? nun realiter? Was steckt dahinter, was ist die Gibt es neben und unabhängig von dem empirischen Gewissen so etwas wie eine apriorische Struktur des Gewissens, die geradezu in gewisser Weise dann nicht nur transzendental verortet werden, sondern gar transzendenzorientiert sein kann? „Organ der Transzenz"', so hatte ich schon das Wort von Helmut Kuhn zitiert, der meint, daß im Grunde mit dem Gewissen geradezu eine besondere Seinsstruktur aufgedeckt würde: Mit dem Gewissen brächten wir uns „in das Sein", „dessen Ordnung, soweit sie das menschliche Handeln angeht, sich im Gewissen offenbart". Also das (idealmoralische) Sein offenbare seine Ordnung im Gewissen; dies ist im Grunde eine ontologische Affirmation, eine Art von Seinsontologie eines besonderen Bereichs, der nur durch dieses „Organ der Transzendenz" zugänglich wird und eine apriorische besondere, sonderliche Seinsontologie dessen darstellt, was das Gewissen bezeichnet, also z.B. ein idealer (platonischer) Bereich von bestimmten Werten usw. Die letzte Entscheidungsinstanz wäre also in gewisser Weise eine Instanz, die sich „im Sein" selber artikuliert, dokumentiert, darstellt. Die Letztinstanz ist also hier gleichsam selbst eine Seinsinstanz. Alle diese formulierungen bedeuten natürlich eine nicht nur metaphysische, sondern auch metaphorische Redeweise, die sich den Vorwurf der Substantialisierung, ja, der Essentialisierung und Ontologisierung, gefallen lassen muß - eine Deutung, die heutzutage keineswegs mehr überzeugen kann. Deswegen haben ja auch die Philosophen versucht, dieses Projektionsverfahren zu kritisieren.

Hans-Joachim Werner (1983) schrieb über die verschiedenen Diskussionen des modernen Gewissensbegriffs einen neueren Überblick, in dem ausführlich die Deutungen des Gewissens und der Gewissensstimme zitiert und untersucht werden. Auch Werner kommt in seiner Tour d'horizon schließlich zu einer recht einfachen Deutung in bezug auf die Einteilung der Theorien des Gewissens. Er unterscheidet nämlich zwischen Theorien, die das Gewissen als Entscheidungsinstanz betrachten, und solchen, die ihm

lediglich eine Kontrollfunktion zuordnen, es als Kontrollinstanz sehen. Das seien die beiden großen Gruppen. Zwar könnten beide relativ oft nicht sehr scharf voneinander getrennt werden, es gibt manche Fälle und auch manche Autoren, bei denen beide zusammen in Anspruch genommen werden: So etwa auch von Richard Hare, der das

Gewissen einfach als die Instanz ansieht, die über die Wahl eines Handlungsprinzips entscheidet, also sozusagen ein Metaprinzip der Entscheidung darstellt und somit in diesem Sinne eigentlich ein Entscheidungs- und ein Kontrollorgan gleichzeitig ist, nämlich der Kontrolle über die Entscheidungen für Handlungsprinzipien.

Es gibt aber auch die Auffassung, daß neben den formal-funktionalen Theorien der Entscheidungsinstanz und der Kontrollinstanz inhaltlich entsprechende andere Werte oder Normen vorausgesetzt werden, wie z. B. bei Max Scheler, der entschieden

bestritten hat, daß es so etwas wie eine Letztinstanz „Gewissen"gibt. Es kommt aber auch vor, daß das Gewissen nur als recht untergeordnete Instanz angesehen wird, die sich nun vor dem Forum des entscheidenen Ich eben als eine Stimme unter anderen

35

regt und keinen Absolutheitsanspruch mehr erheben kann. (Hier ist dann auch die Psychoanalyse mit anzuführen.) Hier ist auf Werners informative Resümierung dieser verschiedenen Autoren im einzelnen nicht weiter einzugehen. Man müßte aber durchaus die Theorien des Gewissens als einer Entscheidungsinstanz und als einer Kontrollinstanz noch durch eine Theorie des Gewissens als einer Metaentscheidungsinstanz ergänzen, indem man das Gewissen etwa als die moralische Instanz zur Konstituierung des Selbst, der Person in einem bestimmten Idealbild auffaßt. Man könnte geradezu von einer Konstituierung eines moralischen „Meta-Selbst" sprechen, das durch die Ausbildung des über dem vorausgesetzten, etwa empirischen Selbst gebildet wird. Zur Selbstkonstitution der ethisch-moralischen Person gehört also eine solche ethische Metakonstituierung - eine Funktion des Gewissens als des Bewußthabens selbstzugeschriebenen Verantwortlichseins, die weit über die erörterten Kontroll- und Leitungsfunktionen hinausgeht. Das scheint mir in gewisser Weise die These in einem Aufsatz Das Selbst in der Funktion

als Gewissen von Norbert Matroß zu sein (1966/67, wiederabgedruckt in Blühdorn, Hg., 1976) von dem im Grunde eine funktionale Theorie des Gewissens entwickelt wird. Matroß versucht eine funktionalistische Theorie des Selbst als einer Akthierarchie zu entwickeln, als einer Gefügesystematik von Handlungsgepflogenheiten und Handlungen, die in gewissem Sinne den apriorischen Grund des Gewissens darstellen soll. Die Akthierarchie bzw. das Selbst konstituiert gleichsam das Apriorische am Gewissen, ist der apriorische Grund des Gewissen. Matroß sieht zunächst als Merkmale des Gewissens an, daß dieses in Vorentscheidungen bewußt wird und Qualitäten beinhaltet. Das ist natürlich etwas vage ausgedrückt. Es handelt sich ferner um ein ungegenständliches Wissen, nämlich um ein moralisches Wissen (was immer dieses sein

mag), und - das scheint mir wichtig und entscheidend zu sein - das Gewissen ist ein Wissen mit persönlicher Ausschließlichkeit, das also die Person ausschließlich betrifft und engagiert. Und jetzt kommt der entscheidende Satz, den Matroß allerdings nicht näher erläutert und den man natürlich weiter ausführen und erläutern und wohl auch begründen müßte: „Das Selbst als der apriorische Grund des Gewissens ist normativer

Art."

Ich denke, daß dieser Ansatz uns eine Möglichkeit gibt, das Gewissen als ein normatives Interpretationskonstrukt oder als ein Bündel von solchen zu verstehen, nämlich im Lichte eines Selbstbildes oder auch in der Perspektive einer bestimmten Selbstachtung, wie Kant etwa sagen würde. Das Gewissen selbst stellt sich in diesem philosophischen Sinne als eine interpretative normative Zuschreibung dar. Es „ist"geradezu diese Selbstzuschreibung in unserem eigenen Bewußtsein. Ich sprach ja schon davon, daß (der Ausdruck des) Gewissen(s) das Bewußtsein selbstzugeschriebener Verantwortlichkeit ist. Wir können nun in diesem Sinne ergänzen, daß dieses Gewissen die Persönlichkeit unmittelbar betrifft; es ist die Selbstorientierung und die unmittelbare persönliche Engagiertheit, die gemeint sind, die aber auch dazu führen, daß das Gewissen in gewisser Weise als eine quasi dialogische (innere) Instanz mit beratender Struktur aufgefaßt wird, wie es auch ein analytischer Philosoph, ein Vertreter des ethischen Multifunktionalismus, Noel-Smith, vertreten hat. Dabei beruht diese dialogische Instanz auf einer Art von Introjektion oder nach „innen" gewendeter Selbstdeutung; wir projizieren gleichsam als ein verpflichtendes Bild ein Frage-Antwort-Spiel in uns hinein, etwa auf jenen metaphorischen inneren Gerichtshof, von dem Kant gesprochen hat, und sehen die Gewissensstimme eben als Richter bzw. Ankläger in die-

36

sem Zusammenhang. Das Gewissen ist ein solches Konstitutionsprodukt der Selbstzuschreibung ; es verpflichtet uns im moralischen Sinne zu einer normativen personalen Selbstkonstitution als einem Ergebnis eines Interpretationsvorganges. Wir konstituieren uns als verantwortliche, als normative Personen, indem wir uns ein Gewissen zuschreiben, indem wir uns Verantwortlichsein und persönliches Engagiertsein im Sinne dieser Verantwortlichkeit zuschreiben. Im Gewissenhaben konstituieren wir uns normati selbst als moralische Personen. Das Auszeichnende am Menschen ist es gerade, daß wir normative moralische Personen sind, daß wir Wesen sind, die wir uns Verpflichtungen selber auterlegen können, die im Bewußtsein so etwas wie eine „Stimme" erkennen können. Aber diese „Stimme" ist eben eine dialogische Interjektion, ist Ergeb-

nis einer Interpretation; sie ist ein als verbindlich erlebtes, verbindlich gemachtes normatives Interpretationskonstrukt.

Insofern kann man auch Karl Jaspers verstehen, wenn er in seiner Existenzphilosophie das Gewissen als „die Stimme, die ich selbst bin"', auffaßt und diesen Gedanken zu einer existentialistischen Gewissenstheorie ausarbeitet. Ahnliches findet sich auch bei anderen, dem existenzphilosophischen Kreis verwandten Philosophen, etwa bei Wilhelm Weischedel (1975), der das allgemeine Gewissen von dem „Gewissen für mich" unterschieden hat: Das „Gewissen für mich" ist die mich persönlich unmittelbar engagierende Stimme bzw. die entsprechende Introjektion, die für mich absolut gilt und insofern auch unfehlbar ist bzw. nicht irren kann - jedenfalls als Stimme; sie kann allenfalls noch im Allgemeinen irren, weil zwischen dem Privaten und dem Allgemeinen unterschieden werden kann und muß. Die private Gewissensstimme muß nicht mit der allgemeinen Sollenssphäre direkt übereinstimmen, aber das Selbst ist jenes Konstituierte, das sich in dieser Gewissensstimme am echtesten und am persönlichsten darstellt. Die Gewissensentscheidung ist also immer eine persönliche; und die personale Dimension ist, was das Gewissen betrifft, das Wesentliche an diesem anthropologischen Grundgesichtspunkt. Das Gewissen ist also in diesem Sinne eine normative Projektion, die das Personale an der Verantwortlichkeit hervorhebt. Es ist eine personal engagierte

Bereußtheit von eigener Verantwortlichkeit und bezieht sich eben insofern notwendig auf mich selber als Person.

Es kann aber auch allgemeiner als gängige Zumutung - ähnlich wie das „objektive Gewissen" in der oben zitierten Rechtsprechung - fungieren; es handelt sich dann natürlich um eine andere Konstruktbildung. D.h., es gibt ein Feld von verschiedenen Teilkonzepten. Wir haben oben ja die mittelalterliche Unterscheidung zwischen der gewissensgebundenen Appellfunktion (syntheresis, synderesis), der Motivationsfunktion einerseits und der Wissenskomponente in Gestalt der conscientia im engeren Sinne andererseits, diskutiert. Auch Werner hält diese mittelalterliche Unterscheidung für sinnvoll - freilich mit einer unzureichenden Begründung; er sagt nämlich, sie biete einen Anknüpfungspunkt, weil durch diese Unterscheidung, nämlich zwischen der unfehlbaren Appell-

• Matroß (a.a.O.) sagt beispielsweise, daß das Sichselbstgleichbleiben des Selbst vorausgesetzt werden muß, das Selbst muß kontinuierlich sein, muß immer dasselbe sein und als solches vorausgesetzt werden. Aber dies liefert m. E. keine deskriptive oder apriorische Ableitung, sondern es handelt sich um eine methodisch notwendige, durch Entscheidung oder Akzeptieren gewonnene Unterstellung, sozusagen um eine normierende Konstitution, eine Projektion.

37

funktion und der natürlich fehlbaren Wissenskomponente, eine Verabsolutierung bestimmter, auf jeweils konkrete Situationen bezogener Gewissensentscheidungen ein totaler Wertnihilismus vermieden werden könne. Das sei keine Prognose über die Entwicklung des Gewissensbegriffs, sondern allenfalls ein Vorschlag, meint der Autor; aber dieses Argument ist natürlich von der Qualität eines Palmströmarguments: „daß nicht sein kann, was nicht sein darf". Weil wir den Wertnihilismus und Beliebigkeit einerseits oder auch die starre Absolutheit der Gewissensentscheidung andererseits vermeiden wollen, müsse diese Interpretation des Gewissensbegriffes gewählt werden. Das ist sicherlich nicht als ratio essendi überzeugend, allenfalls kann es als ratio cognoscen-

di plausibel erscheinen. Werner liefert freilich bewußt nur einen Literaturbericht und entwickelt in seinem Beitrag keine eigene Gewissentheorie.

Vielleicht sollten wir versuchen, wenigstens ansatzweise so etwas wie gewisse Bausteine zu einer Gewissenstheorie zu liefern. Das Gewissen, so haben wir eingesehen, hat offensichtlich eine konstituierte Relevanz für die Persönlichkeit, für die moralische Person, insofern als es das Selbst, die Person engagiert und als Ganze betrifft. Das Gewissen eine dialogische wird in Instanz der üblichen und erfordert Weise oft somit alseine eineDistanzbildung, Art von „Stimme" in der aufgefaßt, wir von also uns und als unseren Handlungen ideell bzw. modellhaft, uns selber deutend, Abstand nehmen und uns selbst bewerten und unsere Handlungen beurteilen. Es gibt also etwas wie eine vorausgesetzte Distanznahme, eine Dualität im Selbst, wie sie etwa Eric Mount schon 1969 in seinem Buch Conscience and Responsibility forderte. Man entwickelt einen inneren Dialog, genauer: das fiktive Spiegelbild oder Konstrukte eines solchen QuasiGesprächs, das eben nach innen projiziert wird. Dieser Dialog gehört notwendig zum Gewissen. Auch Mount betont, daß zwischen Gewissen und Verantwortlichkeit ein Zusammenhang besteht - dergestalt nämlich, daß die Integrität, die Einheit des Selbst auch durch die Handlungen und deren Gefüge, insbesondere in bezug auf die Verantwortlichkeiten des Handelnden, gebildet wird. Die Verantwortlichkeit gegenüber anderen ist nach innen projiziert worden, „zu Herzen genommen" worden - und das ist eben das Charakteristische für das Gewissen. Das heißt, dieses setzt auch einen inneren Anhalt oder ein inneres „Zentrum der Loyalität" voraus, wie es der Theologe Niebuhr genannt hat, oder einen letzten Bezugspunkt, etwas, um das es mir im Letzten geht, was Tillich ja bekanntlich mit „Gott" identifiziert hat. Wir können das natürlich auch mit Kant ausdrücken, der das Moralische mit dem Göttlichen im Menschen identifiziert hat: „Gott, das ist die moralisch-praktische Vernunft!" (AA 21, 145). Das

ist natürlich nicht in einem personalistisch christlichen Sinne gemeint, sondern in seiner ethischen Begründung der Religion bzw. der Religiosität oder der transzendental verstandenen Transzendenzorientierung des Menschen in einem relativ abstrakten

Sinne. Wenn man dieses Wort vom „Göttlichen" der moralischen Vernunft auf das entsprechende Bewußtsein, auf das Selbstsein' der Person bezieht, dann handelt es sich nach dieser Auffassung um eine Begründung des Gewissens, die nun zwar anthropologisch ist, transzendental-anthropologisch bleibt, aber andererseits eben auch eine

funktionsorientierte ist und nicht notwendig an eine Substantialisierung des Gewissens als einem „kleinen Handelnden im Geist"gebunden wäre.

7 In AA IV, 439 schreibt Kant: „Da ein solches über Alles machthabende moralische Wesen aber Gott heißt: so wird das Gewissen als subjectives Prinzip einer vor Gott seiner Thaten wegen zu leistenden Verantwortung gedeckt werden müssen: ja es wird der letztere Begriff (wenn gleich nur auf dunkele Art) in jenem moralischen Selbstbewußtsein jederzeit enthalten sein"

38

Wir können also beim Gewissen zweierlei unterscheiden. Einerseits das empirischphänomenale Gewissensphänomen, das die Psychologen untersuchen. Dieses kann man auch immer wieder an sich selber feststellen. Wir können fragen, wie ist dieses empirisch-phänomenale Gewissen zustandegekommen? Ist es kulturabhängig? Ist es eine Projektion wie das Über-Ich? Wird es und wie wird es ausgebildet, geschult? Ist es immer vorhanden oder nicht? Das sind in der Tat Fragen, welche die Moralwissenschaft im empirischen Sinne - zumal die Moralpsychologie und die Entwicklungspsychologie, aber auch die Moral- und Kultursoziologie - angehen und die dennoch für die Philosophie sehr wichtig und interessant sind, aber sie betreffen nicht eigentlich die philosophische Grundidee, die Grundintuition. Diese wird eher durch das wiedergegeben, was man vielleicht das apriorisch-transzendentale Gewissensphänomen nennen kann oder die methodologische Gewissenskonstruktbildung. Und hier handelt es sich in der Tat um eine normative Leitidee: Der Mensch ist und wird nur da ganz im konkret-moralischen oder ethischen Sinne Mensch, wo er sich auch dem idealen Gewissen und dessen Stimme unterstellt. Das Gewissen ist eine Konstruktion, ein Interpretationskonstrukt, eine normative Bildung, die darauf hinausläuft, daß man sich als konkret Verantwortlichen und als Verpflichteten versteht, daß man bestimmte Zumutungen an sich erfährt und als sinnvoll und verbindlich, verpflichtend erlebt. Im Gewissen dokumentiert sich die konkrete Humanität als normativer (Selbst-)Anspruch und Fremdappell. Es handelt sich also, wie gesagt, um (das Bewußtsein) eine(r) Selbstzuschreibung von

Verantwortlichkeit im engen, im strikt persönlichen Sinne, wobei eben die Person engagiert wird, sich selber engagiert (weiß). Diese Quasistimme des Gewissens, die Stimme des Gewissen im metaphorischen Verstande, ist eine Reflexion der bewußten

Selbstzuschreibung von Verantwortlichkeit in einem die Person engagierenden Sinne. Es handelt sich also bei dem Gewissensphänomen um normativ verwendete Interpretationskonstrukte oder um eine Projektion oder Bildung, eine bewußtseinsmäßige Reflexion der selbstzugeschriebenen uns persönlich betreffenden Verantwortlichkeit, wobei gerade die zuvor erwähnte personale Eingebundenheit oder Ausschließlichkeit im Vordergrund steht. Der Mensch ist in der Tat das normative Wesen, das insofern auf sein Gewissen, auf die Bildung und diese Art von normativer Konstruktverwendung moralisch angewiesen, normativ verwiesen ist. Das Gewissen ist also in diesem Sinne ein normatives Phänomen, das zwar sozial beeinflußt sein kann und als Erfahrung erlebt wird, aber das doch letztlich als verbindlich und als normativ aufgefaßt wird. Es ist dem Selbst, der Selbstkonstitution, der Selbstbildung, dem Selbstverständnis als einer für sich selbst verantwortlichen und sich selbst bewertenden Persönlichkeit unmittelbar konstitutiv (sozusagen normativ-apriorisch) verbunden und ist mit der Kantischen oder von Kant so oft betonten Idee der Selbstachtung gekoppelt. Die Selbstachtung ist ein moralisches Phänomen, das gerade auch durch das Gewissen reflektiert wird. Andererseits ist die Personbildung und die entsprechende Gewissensorientierung auch erst ein Vehikel zur Ausbildung von Selbstachtung. Es handelt sich also um ein normatives Interpretationskonstrukt, um eine bewußte, dann auch in der Erziehung zu vermittelnde Stilisierung zur Humanität, zur Menschlichkeit - und zwar um eine konkret-persönlich relevante Orientierung, also um den Anstoß und die Entwicklung zur konkreten Humanität. Dabei kann dieser stete Appell, der eine Anmutung und Zumutung ist, in einer geistig differenzierten Kultur begründet sein, die ihrerseits dem Menschen auch angemutet und zugemutet wird und einer gezielten Bildung bedarf. Dieses normative Interpretationskonstrukt des Gewissens ist in gewissem Sinne charakteristisch für den besonders humanen Menschen, für die Persönlich-

39

keit, den „homo humanus" der Antike, also für das Menschliche im Sinne eines emphatischen, konkret verpflichtenden, verbindlichen Menschenbildes. Wir Menschen sind ja in unserer geschichtlichen Gegenwart konkret verantwortlich für die Bewahrung auch der stets gefährdeten Idee der Humanität. Insofern ist ein Zusammenhang gegeben zwischen der Gewissensstimme und ihrer Ausbildung in diesem normativen Konstruktsinne und der Entwicklung einer allgemeinen Philosophie der Humanität sowie deren Kultivierung in concreto, also auch der Aufgabe, eine Moral- und Sozialphilosophie der konkreten Humanität zu entwickeln. Ich möchte zum Abschluß des Kapitels noch ein Wort von Hebbel zitieren, das umschreibt, daß das Gewissen zutiefst für den Menschen kennzeichnend ist, insofern er zwischen dem Höchsten und dem Tiefsten, zwischen Göttlichem und Tierischem verortet ist: „Kein Gewissen zu haben bezeichnet das Höchste und Tiefste. Denn es erlischt nur im Gott, doch es verstummt

auch im Tier."

40

3. Humanität als Selbstverantwortlichkeit Zur Philosophie der konkreten Humanität

Alfred North Whitehead, der berühmte Logiker, der zusammen mit Bertrand Russell die Principia Mathematica geschrieben hat, hat in einem Buch über Wissenschaft und moderne Welt eine „fallacy of misplaced concreteness" festgestellt, die darin besteht, daß man sich abstrakte Zusammenhänge, besonders auch Beziehungen, zu leicht anhand des Modells von konkreten Dingen vorstellt, quasi verdinglicht. Das gilt sogar, wie er meint, für den Begriff der Substanz, einen traditionellen philosophischen Begriff, von dem man denkt, er bezeichne etwas, das konkret ist. Die Substanz aber resultiert nach Whitehead in der Tat aus Relationen; er verficht ein Weltbild der relationalen Punkte oder der Entwicklung von Relationengefügen. Als ein anderes Beispiel führt er an, daß die Physiker geneigt sind, auch Raum-Zeit-Punkte zumindest für ihre Analyse als Entitäten, quasi als konkrete Entitäten zu behandeln, obwohl das ebenfalls falsch sei. Diesem „Trugschluß der unangebrachten Konkretisierung" kann ein Trug-

schluß der unangebrachten Abstraktheit entgegengesetzt werden - oder in Whiteheads variiertem Ausdruck eine „fallacy of misplaced abstractness"

Davon möchte ich im folgenden handeln, ein entsprechendes Dilemma des Philoso-

phierens aufweisen und schließlich auf unser Thema der konkreten Humanität zurückkommen. Es scheint geradezu so zu sein, daß fast die gesamte Geschichte der Philosophie weitgehend diesem Trugschluß der unangebrachten Abstraktheit anheimgefallen ist. Albert Schweitzer (1960, 325) nannte die „Abstraktion" den „Tod der Ethik", wobei er mit Ethik das lebendige moralische Leben meinte. Er sah gleichsam Sünden der Abstraktion fast überall in der Geschichte der abendländischen Philosophie, insbesondere in der Geschichte der abendländischen Ethik. Wir können das erweitern und sagen, daß pure oder übertriebene Abstraktion auch den Tod der konkreten Humanität bedeutet. Beispiele hierfür sind wohlbekannt: Inhumanitäten, die

auftreten können, wenn man immer nach einem generellen Prinzip, nach einem

allgemeinen Gesetz, beispielsweise als Arzt in der Notsituation in der Intensivstation, vorgehen muß. „He who generalizes generally lies", hatten wir aus dem Amerikanischen übernommen, und diese Sünde der unangebrachten Verallgemeinerung ist insbesondere in konkreten Situationen zu finden, die eine humane Entscheidung erfor-

derten, in denen es um die Bewahrung konkreter Humanität geht, wo konkrete Humanität notwendig ist, aber das Beharren auf formalen Normen oder Gesetzen oder bürokratischen Anweisungen oder Erlasse diese humane Entscheidung verhindern. Der betroffene Mensch ist in solcher Situation auf konkrete Humanität angewiesen, durch konkrete Humanität wird aber der Handelnde erst eigentlich menschlich. In der Wissenschaft kann das kaum eine Rolle spielen, deswegen kann Wissenschaft keinen Anspruch erheben, für alles Menschliche zu stehen, obwohl es die zunehmen-

41

de Tendenz in den letzten Jahrhunderten war, eine Verwissenschaftlichung von allem und jedem zu erzeugen, geradezu zu forcieren, und Wissen, Erkenntnis und möglichst alles Handeln immer auch in der Wissenschaft zu verankern. Das Menschliche im konkret humanistischen Sinne wurde oft verdrängt oder vergessen, eben „verwissenschaftlicht". Der „Fall" der Menschlichkeit (und zwar im mehrdeutigen Sinne) besteht darin, daß die Menschen zum „Fall" werden, zum Fall im Sinne einer Instantiierung eines allgemeinen Falles, einer allgemeinen Regel, einer allgemeinen Regelmäßigkeit. Diese Probleme der Verwissenschaftlichung sind nicht außer acht zu lassen. Die gleiche Gefahr besteht aber auch in der Philosophie; denn es ist gerade die Philosophie, die von alters her dazu neigt zu abstrahieren, zu allgemeinsten Sätzen, Aussagen, Prinzipien, obersten Grundsätzen zurückzugehen und geradezu zur Verkörperung des abstrakten, allgemeinen, universellen Denkens und Behandelns zu werden. Das gilt insbesondere auch für die universitäre Philosophie.

Hierzu paßt das Zitat eines Literaten, Robert Pirsig, der einmal ein Autor der jungen Generation war, der über Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten einst einen Bestseller

geschrieben hatte und kürzlich einen Roman Lila: ein Versuch über Moral über eine Segeltour veröffentlichte, in dem er viele recht philosophische Reflexionen anstellt: Er nimmt auf diese Segeltour eine zweibändige Biographie über William James mit und meint, die würde ihn wohl eine Weile beschäftigen: „Nichts ist so gut zum Einschlafen wie die gute alte Philosophologie": „Er mochte das Wort 'Philosophologie'. Es war genau richtig. Es hatte etwas Behäbiges, Schwerfälliges, Uberflüssiges an sich, das präsize die Sache traf. Philosophologie ist für die Philosophie das, was Musikwissenschaft für die Musik oder Kunstwissenschaft und Kunstgeschichte für die Kunst oder Literaturwissenschaft für die Literatur ist. Es ist ein abgeleitetes, sekundäres Gebiet, eine gelegentlich parasitäre Wucherung, die zu denken beliebt, sie beherrsche ihren Wirt dadurch, daß sie sein Verhalten analysiert und intellektualisiert. Literaturwissenschaftler sind manchmal erstaunt über den Haß, den viele Schriftsteller ihnen entgegenbringen. Kunsthistoriker machen dieselbe Erfahrung. Er vermutete, daß das auch auf Musikwissenschaftler zutraf, aber er wußte nicht genug über sie. Doch Philosophologen kennen dieses Problem nicht, da die Philosophen, die sie hätten verurteilen können, keine eigene Klasse bilden. Es gibt sie nicht. Es gibt nur Philosophologen, die sich selbst als Philosophen bezeichnen. Man kann sich vorstellen, wie lächerlich sich ein Kunsthistoriker benehmen würde, der seine Studenten in ein Museum führt, sie eine Arbeit über irgendeinen historischen oder technischen Aspekt des Werkes schreiben läßt, das sie betrachten, um ihnen nach einigen Jahren einen akademischen Grad zu verleihen, der sie als fertige Künstler ausweist. Sie haben nie einen Pinsel oder einen Meißel in der Hand gehabt. Alles, was sie kennen, ist Kunstgeschichte. Doch so lächerlich es klingen mag - genau das geschieht in der Philosophologie, die sich selbst als Philosophie bezeichnet. Man erwartet von den Studenten nicht, daß sie philosophieren. Ihre Lehrer würden kaum wissen, was sie dazu sagen sollten, wenn sie es täten. Sie würden die Arbeiten der Studenten wahrscheinlich mit Mill oder Kant vergleichen, sie als minderwertig abqualifizieren und ihren Verfassern raten, die Sache aufzugeben. Als Student war Phaidros gewarnt worden, daß er 'auf die Nase fallen' würde, wenn er sich zu sehr mit eigenen philosophischen Ideen beschäftigte [...]. Man braucht nur zu fotokopieren, w« würde, IF er sich zu sehr mit eigenen philosophischen Ideen beschäftigte. Literatur-, Musik- und Kunstwissenschaft florieren wie die Philosophologie in akademischen Institutionen, weil sie leicht zu unterrichten sind. Man braucht nur zu

42

photokopieren, »was irgendein Philosoph gesagt hat, und die Studenten darüber diskutieren zu lassen; und wenn sie sich am Ende des Semesters nicht mehr an die bei der Diskussion vorgetragenen Argumente erinnern, läßt man sie durchfallen. Malerei, musikalische Komposition und kreatives Schreiben sind fast unmöglich zu lehren, und so finden sie kaum Einlaß in die akademische Welt. Wirkliche Philosophie gelangt überhaupt nicht hinein. Philosophologen würden häufig gern selbst philoso-

phieren, aber als Philosophologen unterdrücken sie diesen Wunsch, wie Literaturwissenschaftler ihren Wunsch nach kreativem Schreiben unterdrücken. Von einigen Ausnahmen abgesehen, betrachten sie Philosophieren nicht als ihr Arbeitsgebiet" (1992, 362ff.). Der Vorwurf also ist, daß man das philosophische Eigendenken durch das Reden über die Gedanken anderer ersetzt hat. Man hat statt Philosophie eben Philosophologie betrieben, man ist kein Philosoph, sondern eher Philosophologe oder Philosophologistiker, oder man huldigt einem philosophischen Abstraktizismus. Derrida hat ja der traditionellen europäischen Philosophie vorgeworfen, daß sie zu stark logozentristisch ausgerichtet sei, auf das Verstandesdenken und (das bedeutet „Logos" ja auch) auf das Reden über Gedanken beschränkt sei. Logozentriker sind wir - statt Eigendenker. In der Tat ist das in gewisser Weise eine Gefahr, die lange in der Philosophie geherrscht hat und nach wie vor vorherrscht, die aber auch von einigen Philosophen seit dem letz-

ten Jahrhundert kritisiert, unterwandert, abgelehnt worden ist: Da sind besonders Nietzsche und Kierkegaard zu nennen, die beide die Radikalität des einzelnen und

seiner Existenz (wie Kierkegaard sagt, was dann zu der Terminologie und zum Grundentwurf der späteren Existenzphilosophie geführt hatte) in den Vordergrund gestellt haben. Jede Unterordnung des Denkens, des Handelns des einzelnen unter einen Gattungsbegriff ist in gewissem Sinne ein Versuch, jemanden, ein Schicksal, ein Leben oder eine Begegnung in eine allgemeinere Ordnung zu pressen, auf ein Prokrustesbett zu zwängen oder in eine „Schublade" zu packen bzw. in ein System von Schubladen. Es gibt ja die Neigung der modernen Welt zur „Schubladenisierung". Das „Schubla-

denisieren" ist nicht nur Anfang und Mittel der generellen Einordnung und damit nicht nur der erkenntnismäßigen Beherrschung, sondern es ist als Mittel der erkenntnismäßigen Beherrschung dann auch Mittel der Beherrschung der Sache selber. Er-

kennen ist verwoben mit Einordenkönnen, mit Beherrschen, mit Bevormunden, wie Emmanuel Lévinas sagt, insoweit „Wissen immer Beherrschen" (1989, 147) ist. Darüber müßte man im einzelnen genauer diskutieren. Aber zumindest kann das An-

spruchsdenken der traditionellen Philosophen als eine Art von intellektueller oder geistiger Bevormundung oder zumindest als der Versuch dazu gesehen werden. Philosophische oder intellektuelle Bevormundung, das war weitgehend die Strategie der abendländischen Philosophie. Dagegen haben radikale Denker wie Nietzsche, Kierkegaard und vielleicht auch schon, wir wissen das nicht genau, der historische Sokrates opponiert. In bezug auf die Existenzphilosophen selber hat - und das erscheint zunächst paradox - Otto Teischel in seinem Buche: Selbstsein: Notwendigkeit und Paradox einer Philosophie der

Existenz (1986) die Themen des Generalisierens und der unangebrachten Abstraktion und gar der „Bevormundung" verfolgt. Er schildert, wie gerade auch in der Tradition und der Entwicklung der Existenzphilosophie diese Idee der Bevormundung und we-

sentlich die Ablehnung der Bevormundung eine Rolle gespielt hat, aber dennoch schließlich wieder einige der berühmtesten Existenzphilosophen eingeholt hat. Tei-

schel schreibt (1986, 208f.):

43

„Weil Nietzsche die umfassende Bevormundung als so ungeheuer unterdrückend empfand, wollte er alle Moral und jede außermenschliche Autorität abschaften und errichtete eben dadurch ein neues Dogma, an dem er schließlich selbst zerbrach. Kierkegaard unterwarf sich in einem ähnlichen Zustand grenzenloser Einsamkeit dem Glauben an die christliche Offenbarung und verkündete diesen Schritt als den einzig wahren Weg der Erlösung. Heidegger und Jaspers stellen mit ihrer systematischen Beschreibung der existentiellen Situation unter Beweis, wie sehr sie dem Anspruch auf wissenschaftliche Objektivität, den sie im Hinblick auf das Dasein des einzelnen für unangemessen hielten, im Grunde doch selbst unterlegen sind. Und zu behaupten, im Ekel vor dem Dasein, im Blick auf die hoffnungslose Absurdität der Welt erschließe sich deren Wesen und nur aus der Angst könne die Freiheit des einzelnen entstehen, ist wohl allein aus einem eigenen tragischen Schicksal verständlich, indem die verzweifelte Auflehnung gegen das erfahrene Leid der einzige Ausweg bleibt." (Das bezieht sich natürlich auf Sartre und Camus im Anschluß an Heidegger.) „Im Grunde trieben ja Sartre und Camus die wesentlichen Intentionen der Wesensphilosophie nur auf die Spitze, kennzeichnet doch alle Auffassungen, daß sie die Angst, das Leiden und

die grenzenlose Einsamkeit des einzelnen und damit die Verzweiflung für die ent-

scheidende Grundbefindlichkeit halten. Die einzige Chance bestehe deshalb in der bewußten Hinnahme dieser Situation und dem erst dadurch ermöglichten Versuch, diesem schrecklichen Schicksal in einer ungeheuer heroischen Kraftanstrengung einen Sieg abzutrotzen. Die kämpferische Grundhaltung, das angestrengte Bemühen, die Grenzen der Existenz zu überwinden, ganz gleich, ob diese mehr der äußeren Natur oder eigener selbstverschuldeter Schwäche zugerechnet sind, ist bei allen Standpunkten in ähnlicher Weise ausgeprägt, und die dadurch zum Ausdruck gebrachte Bewertung der menschlichen Situation verdeckt schließlich mehr und mehr die Absicht, den einzelnen zur selbstbestimmten Existenz zu befähigen. Denn so wird nicht, wie es anfänglich zu sein schien, gegen metaphysische Spekulation und philosophische Systematik die Notwendigkeit betont, die lebendige Wirklichkeit des einzelnen als Ganzes zu berücksichtigen, und zwar in ihrem widersprüchlichen Nebeneinander von Vernunft und Gefühl, Einheit und Vielheit, allgemeiner Erkenntnis und individuellem Leid, sondern an die Stelle möglicher Freiheit tritt bloß wieder ein neues Dogma, ein weiterer letztgültiger Erklärungsanspruch: Angst und Verzweiflung gelten gleichsam als Gradmesser der erfolgreichen Selbstverwirklichung. Dabei können ohne Frage menschliche Grenzsituationen, insbesondere die Erkenntnis eigener Sterblichkeit, von ganz entscheidender Bedeutung für das Hervorbrechen persönlicher Freiheit sein, die in der bewußten Annahme dieses unausweichlichen Schicksals die vielleicht größte Bewährungsprobe zu bestehen hat, aber sie sind deshalb noch längst nicht deren einziger Grund."

Teischel meint, daß das Verhängnis im wesentlichen das Anspruchsdenken, das Allgemeinheitsdenken, dieses formale, abstrakte, verallgemeinernde Denken gewesen sei, das mehr oder minder geradezu von selbst zur Bevormundung der einzelnen führte oder verleiten müßte. Das Philosophieren müsse heute diesen Anspruch radikal aufgeben: »Philosophie im Bewußtsein solcher Einheit kann kein Anspruchsdenken mehr sein,

nicht der Versuch, objektive Tatbestände, 'Fakten' zu beschreiben und einander

systematisch zuzuordnen. Wenn das Wissenschaft bedeutet, wenn sich in der Mißachtung des Subjektiven, in der Einseitigkeit einer versachlichten Sichtweise die Aneignung der Welt und des Menschen vollziehen soll, dann wird Philosophie zum Mythos,

44

zum 'Geheimwissen' von Verbündeten des Lebens, die noch an die Freiheit des einzelnen glauben und einander in Liebe begegnen können, so wie sie ihnen durch ihr Dasein gewährt worden ist" (ebd. 233).

Teischel versucht dann noch zu beschreiben, was konkrete Existenz des Denkens sein kann. Im wesentlichen ist es zunächst einerseits eine kritische Auseinandersetzung mit

der traditionellen Bevormundung durch die Philosophie; andererseits ist die einzige

Einschränkung, die in „einer offenen und liebevollen Begegnung aller Menschen und

Weltanschauungen" noch bestehen bleibt, die „Pflicht, einander nicht dadurch zu bevormunden", daß man dem „eigenen Standpunkt den Anschein der Allgemeingül-

tigkeit" verleiht. Das heißt für ein offenes, konkretes Philosophieren: fragen, sprechen, für einander offen sein, liebevoll miteinander umgehen, aber keine allgemeinen Vorschriften machen, die der andere befolgen muß oder soll. Doch damit gerät man in ein Dilemma. Philosophie ist ja wesentlich das Umgehen mit

Begriffen, mit Kategorien, mit Formen der Sprache, mit Gedanken, und es scheint sich somit eine unvermeidliche und unlösbare Schwierigkeit, eine Aporie, eine „Ausweglosigkeit" zu ergeben, in die das Philosophieren gerät, wenn es ernsthaft mit dem Konkretwerden konfrontiert wird. Das Dilemma besteht nach Teischel (ebd. 192) darin, daß „mit jeder beliebigen Aussage eine Bevormundung des einzelnen" bewirkt werde, weil Philosophie „schon von ihrem Selbstverständnis her offenbar beabsichtigt,

nur wesentliche und allgemeingültige Bestimmungen über die Welt und den Menschen zu liefern; ein so hochgesteckter Anspruch kann deshalb dem konkreten einzel-

nen allenfalls noch eine Statistenrolle zuweisen". Das müsse freilich „keineswegs zwangsläufig so sein": „Wenn sie (die Philosophie, d. Verf.) ihr Ziel nämlich allein in der Erweiterung der Perspektive statt in deren Beschränkung sähe, im Erschließen

neuer Möglichkeiten statt in der Festlegung neuer Grenzen, wenn sie das Gesetz durch den Appell ersetzte und das System durch ihr leidenschaftliches Interesse." Und wenn in der traditionellen Wissenschaft und Philosophie „das Leben zur Theorie" verkam „und die Wahrheit zu einer Rechenaufgabe" (ebd. 193), dann ist die Welt gleichsam als „ein bloßes System" aufgefaßt worden, der eigentlichen lebendigen Wirklichkeit gleichsam übergestülpt und die „lebendige Wirklichkeit zerstört" worden.

Das alles mag ein wenig übertrieben dargestellt sein, sehr pointiert sein, aber es bezeichnet doch zumindest eine echte Gefahr. Eine echte Gefahr, die nur durch ein wirklich konkretes Philosophieren vermieden - oder zumindest gemildert - werden kann. Es kann nämlich wirklich sein, daß in der Tat diese Gefahr gar nicht zu vermeiden ist.

Und deshalb entsteht wirklich ein Dilemma, weil wir notwendig Abstraktionen verwenden und in gewissem Sinne z. T. unangebrachten Verallgemeinerungen unterliegen müssen, wenn wir allgemeine gattungsmäßige, generische und generelle, Begrifte benutzen. Alles Reden ist typisierend, kategorisierend, subsumierend, strukturierend, verhältnismäßig allgemein, gattungsmäßig (generisch), generell; zumindest gilt das für das objektive Darstellen, das Reden, das auf Allgemeingültigkeit Anspruch erhebt bzw. etwa an Universitäten gelehrt wird. Es gibt natürlich auch ein anderes Reden, das direkte Sprechen miteinander, z. B. ein ganz intimes persönliches Gespräch. Dennoch verweisen und verführen die Formen unserer Sprache von vornherein auf Verallgemeinerung und auch auf die Möglichkeit und die Gefahr, etwas - und gerade auch das Konkret-(Mit)Menschliche - bloß als einen „Fall" einzuordnen. Das Reden ist also stets in der Versuchung zu verallgemeinern, zu „verabstrahieren", zum Reden über Fälle zu werden.

45

Das wirkliche Leben hingegen ist konkret, ist einzeln, bezieht sich auf den je einzelnen, obwohl sich das auch noch hinterfragen läßt. Und gerade das ist auch ein Anliegen der Philosophie der „Existenz"', der konkreten Existenz. Die Ausdrucksweise „Existenzphilosophie" ist vielleicht etwas unglücklich, denn im wesentlichen ist die radikale Vereinzelung gemeint - und nicht „Existenz" im Sinne des Existierens als Sein oder dessen, daß etwas „seiend" ist. Existenzphilosophie hat es in der Tat zunächst - und das ist ganz radikal so bei Kierkegaard - mit der konkreten Situation, den konkreten Möglichkeiten, dem konkreten Erleben und Verstehen des einzelnen zu tun. Heidegger hat da einen sehr schönen Ausdruck gefunden, der allerdings m. E. auch wieder etwas irreführt; er redet von der „Jemeinigkeit des Daseins"', man ist immer je ein einziger. Aber „Jemeinigkeit" ist auch ein Begriff, der sich an ein Possessivum anschließt, also einen besitzanzeigenden Ausdruck, hier: „mein", und vielleicht deswegen in Gefahr

gerät, in dieser Weise mißdeutet zu werden, als zeige er einen „Besitzen" oder ein Eigentumsverhältnis an. Deswegen sollte man vielleicht statt „Jemeinigkeit" „Jeeinzigkeit" sagen und darunter die Unvertretbarkeit des einzelnen als Person in der konkreten Situation verstehen, sein „Selbstsein", wie manch ein Existenzphilosoph (z. B. Weischedel 1933, 19722) und auch Teischel sagt. Die Aufgabe der Philosophie wäre es dann, in diesem Verständnis einer konkreten Existenzphilosophie oder eines Philosophierens über konkrete Existenz - oder besser: eines Philosophierens der konkreten Einzigartigkeit - die Unvertretbarkeit zu verteidigen, zu reflektieren, ins Bewußtsein zu rufen und die „Kraft des Selbstseins zu bezeugen" (Teischel a. a. O. 235). Der Ausdruck „Kraft" ist hier sicherlich metaphorisch zu verstehen, aber zumindest geht es um das eigene Sein, das eigene Selbstverständnis, die Einzigartigkeit, die Jeeinzigkeit als Person, die zweifellos als ein hervorstechendes Merkmal eines konkret-humanistischen Philosophierens und eines konkret-existentiellen Philosophierens aufgefaßt werden muß. Philosophie der konkreten Humanität erfordert ein solches Philosophieren, das sich angesichts des konkreten Lebens mit den Fragen des Lebens in einer persönlichen Situation auseinandersetzt - und nicht nur etwa unter dem Gesichtspunkt eines Be-

vormundungsversuches steht, z. B. eines bevormundenden Gesprächs, sondern eben in nichtbevormundenden Gesprächen und im gemeinsamen Suchen besteht. Jedwede

philosophische Bevormundung muß nach Teischel abgelegt werden, sei es die theoretische, sei es die praktische, weil sie bereits als Bevormundung zur praktischen oder wenigstens theoretischen Überwältigung führt, oft sogar zu einer Art von Vergewaltigung. Das Philosophieren in diesem konkreten Sinne darf nicht zur Unterordnung oder Beherrschung führen, weder begrifilich noch praktisch - und zwar schon deswegen, weil die begriffliche Unterordnung zu schnell zur Unterordnung schlechthin führt. Es darf „kein Anspruchsdenken" (ebd. 233) in der Philosophie mehr geben; der Anspruch an den Anderen muß ersetzt werden durch das Verständnis für den Anderen und durch den entsprechenden Anspruch, den man allenfalls an sich selber stellt. Man darf nicht und sollte nicht das „Paradox einer verordneten Freiheit" (ebd. 234) eingehen, das zu sehr gerade auch die Philosophie der traditionellen Ethik im Anschluß

an Kant, aber selbst größtenteils auch z.B. die Existenzphilosophie im Sinne der genannten Autoren (zumal bei Jaspers und Heidegger) prägt.

Philosophieren besteht dann in einem am einzelnen und seiner Person und Situation orientierten, konkreten Sinne in der Vergewisserung der Jeeinzigkeit der Person, des Ich

bzw. der sozialen Situation, in der er oder sie bzw. mehrere einzelne sich jeweils (be)finden.

46

Selbstsein ist immer auf den einzelnen bezogen. Selbstsein kann sich natürlich in dieser Philosophie der konkreten Existenz nur auf die jeweilige einzelne Person beziehen. Das eröffnet auch schon eine Frage, die zu einer Art von Kritik führt. Ist nicht ein solcher Standpunkt ebenfalls einseitig, extrem? Wird man hier nicht von einem Philosophieren über den einzelnen und seine Jeeinzigkeit notwendig zu einer Perspektive der radikalen Vereinzelung geführt? In der Tat muß man wohl sagen, daß in der traditionellen Existenzphilosophie und auch in der Philosophie der konkreten Existenz jedenfalls dem Ansatz nach doch der Grundstock zu einer radikalen Vereinzelung gelegt ist. Der einzelne ist radikal einsam auf sich gestellt, und das ist eine dogmatische Abschneidung von Gesichtspunkten und wichtigen Inhalten der lebendigen sozialen Wirklichkeit des Lebens. Der einzelne existiert nicht so einzeln oder vereinzelt wie die Existenzphilosophen und die traditionelle Existenzphilosophie sich das vorgestellt hatten. Man könnte meinen, wie Lévinas, das traditionelle Vernunftwesen, das rationale Tier, wie Aristoteles den Menschen definiert hatte, sei, sofern es „animal" ist, in Natur aufgelöst: „Das animal rationale, sofern es animal ist, löst sich in die Natur auf; sofern es rationale ist, verblaßt es aber in dem Licht, in dem es die Ideen zum Vorschein bringt; diese Ideen sind zu sich selbst zurückgekehrte Begriffe, logische und mathematische Verkettungen, Strukturen" (Humanismus des anderen Menschen 1989, 68). Ist nicht hier dann auch in der radikalen Vereinzelung gleichsam die soziale Komponente abgeschnitten worden? Das wäre eine ähnliche Verblassung. Wird da nicht auf ganz ähnliche Weise, trotz der allumfassenden Betonung der Einzigkeit und des wirklichen Existierens, doch so etwas wie eine fallacy of misplaced abstractness, jetzt nur im Blick auf

die Kategorie des „Einzelnen"', vorgenommen? Ist es nicht notwendig, eine jeweils für andere und deren Jeeinzigkeit oder Jemeinigkeit offene Philosophie der konkreten Existenz oder des konkreten Lebens und Erlebens unter Berücksichtigung und besonderer Beteiligung der mitmenschlichen Solidarität zu entwickeln? Hat nicht eine Philosophie der konkreten Humanität die Aufgabe, stets auch ein Philosophieren der

konkreten Cohumanität, der Mitmenschlichkeit zu sein? Das ist in der Tat ein Hauptziel und ein radikaler Schritt, den Lévinas mit seiner Philosophie im Auge hat.

Die Selbstverantwortlichkeit wurde besonders auch in der Existenzphilosophie unter-

sucht, z.B. von dem Heidegger-Schüler Wilhelm Weischedel in einem Buch Das Wesen der Verantwortung (1933, 1972). Er geht aus von einer radikalen, vielleicht ähnlich

extremen Begründung der Verantwortlichkeit aus der Selbstauffassung, aus dem

„Selbstsein"3', einem Begriff, den er wie viele Existenzphilosophen benutzt. Tiefe Selbstverantwortlichkeit bedeutet Verantwortung zunächst vor sich selber. Ich selbst bin die Instanz, die mich selber auch beurteilt, und habe somit eine Art von Dialogverhältnis zu mir; denn um mich selber beurteilen zu können, muß ich mich von mir selber distanzieren (können): Nur so kann Verantwortung vor mir selbst entstehen. Und natürlich ist in Selbstverantwortung - das ist mitgemeint, obwohl bei Weischedel nicht unmittelbar thematisiert - auch Verantwortung für mich selbst, für mein Handeln, für mein Verhalten, für meine Entwicklung als Person, für mein Selbst enthalten. (Der Ausdruck „Selbstverantwortlichkeit" umfaßt also eine Doppelbedeutung.) „Trefe

(ebd. Selbstverantwortlichkeit" 110): Der Mensch(ebd. ist insofern 75) versteht frei,Weischedel als er die„als Verantwortung die radikale Freiheit für sich desselbst Menschen" über„Selbstverantwortung besagt: ich verantworte mich - den Anspruch auf Verwirklichung, den ich im Bilde einer Möglichkeit meines Existierens an mich stelle - vor mir selbst - als meinem Selbstsein, das mir als anspruchhaftes Vorbild meines Von-mir-aus-sein-könnens begegnet -" (1972, 60).

47

nehmen muß, ja, erst bilden kann. Weischedel spricht von einer „Grundselbstverantwortung" (ebd. 63ff.) und meint damit eigentlich den Anspruch, den ich selber an mich

stelle, und den Entwurf eines selbstgesetzten Vorbildes des Handelns - oder, wie

er existenzphilosophisch formuliert: „Das 'Was' der Grundselbstverantwortung (...) zeigt

sich als das Vorbild der Existenz", und er charakterisiert die „Existenz im Sich-

Richten nach ihrem Vorbild" eben als diese „Grundselbstverantwortung". Ich erhebe mir selber gegenüber einen Anspruch und entwickele ein Vorbild, dem ich nachzuleben habe, das ich weitgehend erfüllen soll. Insofern ist diese Art von originärer Verantwortungssituation in der Selbstauseinandersetzung mit meiner Besinnung auf meine eigene Existenz und ihren Sinn und Selbstbeurteilung gegeben. Vor mir selbst bin ich verantwortlich, und für mich selber bin ich verantwortlich - beides setzt ein dialogisches Selbstverhältnis voraus.

Weischedel leugnet nun nicht, daß es soziale Verantwortlichkeit (»Fürverantwortlichkeit", ebd. 38) gibt, aber er sagt, die Selbstverantwortlichkeit sei tiefer zu verorten und zu (be)"gründen": „Selbstverantwortlichkeit ist Instanz für soziale Verantwortlichkeit" (ebd.

102, s. a. 26ff., 103f.). Mit anderen Worten: um über soziale Verantwortlichkeit überhaupt reden zu können, muß ich im Grunde schon eine Selbstverantwortlichkeit mir gegenüber empfinden, entwickelt haben, zumindest analytisch voraussetzen. Auch die religiöse Verantwortlichkeit gegenüber Gott führt Weischedel auf die Selbstverantwortlichkeit zurück (ebd. 51ff.). Die Selbstverantwortlichkeit sei selbst noch tiefer als die Verantwortlichkeit gegenüber Gott; denn es muß immer darüber entschieden werden, ob ich mich Gott gegenüber verantwortlich fühlen will - aufgrund einer Entscheidung, die ich eben selbst und vor mir selber verantworten muß. Diese zwei üblichen Grundformen der Verantwortlichkeit werden von ihm letztlich auf die dritte Variante, das Selbstverantwortlichsein, zurückgeführt.

Das Ich, sagt Weischedel, als „Existenz" immer „im Sich-Richten" nach dem „Vorbild" (ebd. 64), wie der Mensch sein kann oder sein möchte und wozu er sich verpflichte, entscheide - und ist damit vor sich und für sich verantwortlich. Auf diese Wei-

se könne man in der „Grundselbstverantwortung" auch die „Fraglichkeit der Existenz" überwinden, Sinn in der Verantwortlichkeit finden. Das tiefe Selbstverantwortlichsein ist die Wurzel, die Grundbestimmung des Verantwortlichseins und damit des Gewinnens von Lebenssinn selbst: „In ihr wird die Fraglichkeit der Existenz überwunden, indem der Mensch sich entschließt, in dem offenbargewordenen Grund-'Ich' existierend sich zu gründen" (ebd. 72). „Die Grundselbstverantwortung im ergentachen sinne entschließt sich zur Selbstverantwortlichkeit" (ebd. 74). Als könne sich die Grundselbstver-

antwortung selbst entschließen! Das ist zwar eine Homunkulus-Sprache, eine metaphorische Verwendung, setzt so etwas wie ein „Grund-Ich" voraus, das entscheiden kann, und man kann natürlich kritisch fragen, was dieses Grund-Ich ist und wie es als kleiner Grundentscheider handeln kann: Sind nicht alle solche Auffassungen späte, eben reflektierende Konstruktbildungen, Selbstinterpretationen? Wie dem auch sei: Es ist für den Existenzphilosophen das sichentwerfende „Selbstsein", das „reine 'Vonsich-aus'" (ebd. 79), das von dem ursprünglichen „Sein-können" („Grund-'Ich'") aus-

geht und einen Anspruch an den Menschen selbst stellt - und insofern ist dieses

Grund-Ich, das Weischedel hypothetisch fordert, „ursprünglicher als der Mensch" selbst

(ebd. 80). Ich vergleiche mich mit einer Grundauffassung, wie ich mich verstehen möchte und zu der ich mich verbindlich verstehen möchte; ich selbst entwerfe und entscheide mich dann dazu. Es müssen also mindestens dieses Seinkönnen und die Möglichkeiten der Verantwortungsübernahme, der verschiedenen Formen der Selbst-

48

entwicklung und des möglichen Handelns in der Zukunft durch das Grundich strukturiert oder vorgegeben sein, damit ich mich zur Grundselbstverantwortlichkeit entscheiden kann und wagende Selbstverantwortlichkeit entwickeln kann.

Nun gibt es in dieser Entwicklung der Selbstverantwortlichkeit drei verschiedene Phasen („Stadien"): 1. Die Grundselbstverantwortlichkeit muß sich dadurch dokumentieren oder teilweise realisieren, daß man sich überhaupt dieser Frage der Übernahme der Verantwortlichkeit und dem Anspruch an Verantwortlichkeit öffnet. Dieser Anspruch kann natürlich in erster Linie nur von mir selber stammen, aber er kann - als Anspruch oder eher als Anlaß - theoretisch auch von anderen kommen. 2. Dieser Anspruch, an mich selbst gerichtet, ist dann ein Anspruch des Selbstseins, ein Vorbild, den bzw. das ich anerkennen muß. (Ähnlich wie ich das erste Sichöffnen konterkarieren kann, indem ich mich verschließe und dem Anspruch nicht öffne, kann

ich sodann auch den Anspruch nicht anerkennen, sondern ablehnen.) Aber das ist noch die zweite Vorphase. 3. Die entscheidende Phase ist das „Sich-Zusagen" der Grundselbstverantwortlichkeit, daß ich diese also annehme und mich zur Selbstverantwortlichkeit entschließe. „Im letzten Grunde der Existenz schlägt Wurzel die tiefe Selbstverantwortlichkeit, als die radikale Freiheit des Menschen" (ebd. 110): Die Selbstverantwort-

lichkeit aus dieser Struktur der entworfenen Grundverantwortlichkeit und des vorausgesetzten bzw. dann die Grundverantwortlichkeit und deren Charakterisierung

mitkennzeichnendem Grund-Ich entwickelt die Verantwortungsbeziehung und die Verantwortung vor mir und für mich selbst. Weischedel versucht das alles zusammen-

zuraffen, indem er das Wesen der Grundselbstverantwortung bestimmen möchte: „Sie ist im formalen Sinne Entscheidung über Selbst-werden-wollen oder Nicht-selbst-

werden-wollen. Im eigentlichen Sinne ist sie Wendung zum Einswerden mit sich selbst

aufgrund der aufgebrochenen Zwiespältigkeit der Existenz, wie sie im Anspruch des Selbstseins als der ursprünglichen Zukunft sich als schuldhaftes Gewesensein offen-

bart. Als solche macht sich Grundselbstverantwortung auf den Weg in Richtung auf

das Selbstwerden und bestimmt sich so als Sich-vorholen.® Ich verantworte mich vor mir selbst, heißt also: ich hole mich - meine Existenz im ganzen - aus meinem zwiespältigen Sein in schuldhaftem Gewesensein vor in mein Selbst-sein-können als mein Von-mir aus-sein-können

und Mit-mir-eins-sein-können, das als meine ursprüngliche Zukunft mich beansprucht" (ebd. 86,

Hervorhebungen i.O.).

„Schuldhaftes Gewesensein", das heißt, daß ich irgendwie schuldhaft gehandelt haben kann und daß ich dann verantwortlich die Schuld(igkeit) übernehmen muß. „Ursprüngliche Zukunft" bedeutet wohl, daß ich immer von meiner ganzen Struktur her ausgelegt bin auf meine Entwicklungsmöglichkeiten hin, auf das Mir-vorwegsein, auf das Vorbild, auf den Anspruch, den ich mir gegenüber erhebe - und insofern, als ich

diese Vorwegorientierung als einen gewissen „Ur-sprung" für die Bildung meiner Ver-

antwortlichkeit ansehe. (Wir sehen, daß hier in der Tat in existenzphilosophischer Manier mit gewissen Ausdrücken geradezu gespielt wird, daß man aber vielleicht dennoch daraus durchaus einige Einsichten ziehen kann.) Das „Sich-vorholen in der 9 Hier muß man wohl hinzufügen, daß Weischedel das „Sich-vorholen" wohl in doppeltem Sinne meint, einmal als Ich-Werden, als ein Aus-der-Grundstruktur-dieser-ursprünglichen-Intuition-Sich-Herausholen, aber auch als Sich-Vorausentwerfen-in-die-Zukunft, als Sich-unterden-zukünftigen-Möglichkeiten-der-Entwicklung-Interpretieren-und-Sehen.

49

Grundselbstverantwortung" beschreibt Weischedel (ebd. 82) so: „Die eigentliche Antwort - die Grundselbstverantwortung im eigentlichen Sinne - ist Sich-herausholen. In ihm holt sich der Mensch in seine Zukunft hinein, die ihm wesenhaft voraus ist: er holt sich nach vorne. Wir kennzeichnen deshalb die Grundselbstverantwortung im eigentlichen Sinne, das dritte Moment des Gesamtgeschehens, als Sich-vorholen"

Diese drei Momente des Selbstseins als Existenz im schuldhaften Gewesensein, als ursprüngliche Zukunft, Vorausentwurf und Ubernahme von Möglichkeiten ist dann im wesentlichen die Grundselbstverantwortung als das „Sich-vorholen"", das „sich-voraus-sein", wie sie das „Selbstsein" gleichsam aus den vorausgesetzten Intuitionen heraus entwickelt (ebd. 83). Diese Reflexionsweise und Entschließung ist also das Kennzeichen der Verantwortlichkeit, insofern, als ich mich frei dazu entscheiden muß, mich selbst als verantwortliches Wesen auffassen zu wollen. Deswegen ist diese Grundselbstverantwortung eine „Freiheit als Vermögen" (ebd. 89), eine Freiheit des Selbst-seins und des (Selbst-) Entscheidens, und zwar die entscheidende, radikale Freiheitsmöglich-

keit des Menschen.

Ich möchte nun im einzelnen nicht kritisch auf diese Ausführungen eingehen, was durchaus nötig wäre, sondern das Referierte nur als einen Gegenentwurf zu der radikal sozialen Verantwortungsauffassung von Lévinas sehen (s.u.). Die existenzphilosophische Deutung ist ähnlich radikal („an die Wurzel gehend"), sie führt das Soziale und den Anruf des Anderen an mich zurück auf die Selbstbestimmung bzw. auf das „Selbstsein" und auf den Anspruch mir selber gegenüber, also letztlich auf die Selbstverantwortung oder Selbstverantwortlichkeit. Die Selbstverantwortlichkeit wäre also gleichsam die oberste und letzte Instanz, insbesondere diejenige Verantwortlichkeit, die an

meine Existenz selbst gebunden ist, die Weischedel die „Grundselbstverantwortung" („Grundselbstverantwortlichkeit" wäre besser'9 nennt. Man kann sich fragen, ob es notwendig so sein muß, daß wir eine einzige oberste Instanz haben müssen oder auf die letzte Instanz zurückzugehen haben, und ob es nötig ist, daß wir jegliche Verantwortlichkeit auf das Ich, das Selbst, die Selbstverantwortung (definitorisch oder axioma-

tisch) zurückführen, und dann - wie Weischedel das im extremen Gegensatz zu

Lévinas macht - das Soziale, den Anspruch des Anderen an mich als verantwortungskonstituierendes Moment ganz außer acht lassen können. Das scheint geradezu ein Fallen von einem Extrem ins andere, ein Fall von unangemessener Entweder-OderRadikalisierung zu sein." Dieses Entweder-oder-Denken ist bei beiden Autoren zu finden, sowohl bei der „Sozialverantwortung" nach Lévinas (wenn man die soziale Fundierung der Verantwortung verkürzend so nennen darf, wobei eben nicht Verantwortung für soziale, humanitäre Aufgaben gemeint ist, sondern die tiefe Sozialität der Begründung der Verantwortlichkeit in der Begegnungssituation mit dem Anderen), als auch bei diesem Rückgriff auf die ausschließliche Selbstverantwortlichkeit im

10 „Verantwortlichkeit" ist hier immer als der Begriff der allgemeineren Disposition verstanden,

während „Verantwortung" meistens in einer spezifischen Situation entsteht, gesehen wird, gebildet wird, übernommen wird. " Interessanterweise stammen beide Ansätze aus derselben Zeit: Auch Lévinas hat seine Theorie im wesentlichen schon Anfang der dreißiger Jahre begonnen, obwohl er sie wohl erst später - unter der traumatischen Erfahrung des Nationalsozialismus und des schwersten Schicksals, daß seine ganze Familie im KZ ermordet wurde -, weiterentwickelt, dramatisiert und weiter zugespitzt hat.

50

Sinne Weischedels. Existenzphilosophie gegen tiefe Sozialität - ist das ein unüberwindlicher Gegensatz? Eigentlich nicht; denn es gibt ja gerade auch Varianten des existenzphilosophischen Denkens, die stark von sozialen Erfahrungen geprägt sind. Lévinas hat seine Familie im KZ verloren, und deswegen mag seine radikale Philosophie der dramatischen Aktualisierung von Verantwortlichkeit angesichts des inständigen Flehens des hilflosen und verwundbaren „Anderen" auch mindestens eine Wurzel in der traumatischen Schicksalserfahrung haben. Es findet sich aber auch eine merklich christliche Ausrichtung in seiner Philosophie, obwohl dieses Christliche natürlich nicht spezifisch theologisch zu deuten ist, sondern allenfalls sozial-anthropo-

logisch und zumal ethisch, eben philosophisch in bezug auf die konkrete Existenz. Lévinas sagt: „Der Mensch ist das einzige Seiende, dem ich nicht begegnen kann, ohne ihm diese Begegnung selbst auszudrücken. Genau dadurch unterscheidet sich die Begegnung von der Erkenntnis. Jede Haltung gegenüber Menschlichem impliziert das Grüßen - sei es auch als Verweigerung eines Grußes. Hier entwirft sich Wahrnehmung nicht hin auf einen Horizont - Feld meiner Freiheit, meines Vermögens, meines Eigentums -, um sich vor diesem vertrauten Hintergrund mit dem Individuum zu befassen. Sie bezieht sich auf das bloße Individuum, auf das Seiende als solches" (1983, 112). Einige der terminologischen Bestimmungen hierin leben noch von der Existenzphilosophie. Besonders seine Formulierungen über den „Blick" (das „Antlitz") und den „Anderen" sind wohl von Sartres Das Sein und das Nichts beein ußt. (Oder ist

Sartres Entwurf von der belegten Kenntnis der früheren Werke von Lévinas geprägt?) Diese Art des Philosophierens ist jedenfalls selbst auch eine Art Existenzphilosophie im radikalisierten Sinne, eine Existenzphänomenologie, die sich eben nur gänzlich vom

anderen Menschen her bestimmt. Das einzige Wesen also, dem wir überhaupt nur begegnen können, ist der Mensch. (Viele, die an einen Gott glauben, könn(t)en auch sagen, daß man Gott begegnen kann, und gerade deswegen ihn nicht erkennen kann.) Ich will darüber jetzt nicht weiter reflektieren; das Entscheidende scheint mir zu sein, daß mitmenschliche Begegnung etwas anderes ist als Erkenntnis im traditionellen, quasi wissenschaftlichen Sinne. Begegnung ist nicht Einordnung in Kategorien. Begegnung ist nicht „Schubladenisierung" (s. o. S. 43ff.). Begegnung ist eben tiefes, radikales Erleben und Betroffensein, mit dem man konfrontiert wird - und das ist auch der Ausgangspunkt für die Philosophie konkreter Humanität oder für den konkreten Humanismus, den Lévinas im Auge hat. Der „Humanismus des Anderen" bedeutet eine Art von konkreter Humanität, die recht radikal und tief auf den anderen Menschen hin orientiert ist, vom Anderen her bestimmt wird. Die Grundidee ist eigentlich, daß die menschliche Begegnung mit dem Anderen das Entscheidende für die eigene Existenz, für das eigene bewußte(re) Leben, sogar für die Bildung von Bewußtsein selbst, für eine Art dialogischer Konstitution des Ich ist - und erst recht natürlich für den Umgang mit anderen. Eigentliches Leben entsteht erst in der konkreten Begegnung mit dem Anderen.' Ich werde mit einem Anderen konfrontiert, der meiner Hilfe bedürftig ist, der verwundbar ist, der, wie wir alle, sterblich ist, der Unbeholfenheit zeigt, der in diesem

Sinne „nackt" ist, ungeschützt und nun mich „anruft", mich in der konkreten Situation geradezu „heimsucht" in Form von inständigem Flehen um Hilfe oder um

12 Wir sehen, Lévinas redet in traditionellen abstrakten Termini und verleugnet zugleich die Zu-

gangsweise der traditionell abstrakten Philosophie, er möchte durch Verwendung von abstrakten Ausdrücken dennoch erreichen, daß so etwas wie eine Konkretheit lebendig wird und er nicht dem oben erwähnten Dilemma der Philosophie anheimfällt.

fl

51

Berücksichtigung oder um Solidarität unter dem Gesichtspunkt: „Töte mich nicht, laB mich nicht im Elend" - man könnte vielleicht sinngemäß hinzufügen: „Laß mich vor allem nicht allein". Diese Art von „Nacktheit" des Anderen wird nicht durch Rede oder durch Erklärung oder durch Beschreibung vermittelt, sondern durch die Konfrontation mit der Antlitzhaftigkeit des Anderen, wobei mit „Antlitz" keineswegs nur etwa das äußere Gesicht gemeint ist; das Antlitz ist für Lévinas im Grunde nicht nur die Erscheinung des Anderen, sondern Ausdruck der Hilfosigkeit des Anderen. Der Andere ist auch nicht dadurch fixiert und festgelegt, sondern „unendlich" als Ziel der Annäherung oder Bitte gesehen, doch er begegnet uns unmittelbar, er „bedeutet durch sich selbst" (1983, 321): Er gewinnt eine Bedeutung für uns sogar in dem tiefen Sinne, daß wir unser Ich als verantwortliches Ich erst dadurch bilden, konstituieren können, indem wir uns auf andere, auf den Anderen hin orientieren. „Der Andere, der sich im Antlitz manifestiert, durchstößt" diese Sphäre des eigenen Sinnlichen, das „eigene plastische Wesen", und ist dennoch entfernt (ebd. 221) und schwer zu begreifen, zu erfassen; er ist und bleibt der Andere, aber er ist eine Herausforderung, eben in diesem Sinne eine „Heimsuchung" für uns. Das äußere Gesicht vermittelt in der Begegnung im wesentlichen den Anderen als den Anderen und somit die Herausforderung an uns. Die Beziehung, die sich in der Begegnung herstellt, ist im wesentlichen gekennzeichnet durch den Wunsch nach Nähe, innerer und äußerer Nähe, nach Berührung, ja, in gewissem Sinne nach Liebe, wobei er unter Liebe nicht die erotische Liebe versteht, sondern Verantwortlichkeit. Kurz und gut: „Das Bedürfnis nach dem Anderen als Mitmensch(en)" ist zu unterscheiden von unserem allgemeinen Begehren, und „das Begehren des Anderen, das unser soziales Sein selbst ist, ist nicht eine einfache Beziehung zum Sein" (1983, 219), ist nicht auf Kategorien zu beziehen, sondern es „fällt ins Leben ein". So wie Gott ins Leben einfällt, so ist auch das Erlebnis der Transzendenz und der Gegenwärtigkeit des Anderen für uns wichtig. Und nicht nur in dem üblichen Sinne wichtig, sondern wichtig für unsere Existenz als Person, unsere Ausbildung des

Selbst. Lévinas spricht sogar von dem „Absoluten" und der „Epiphanie" (der geoffen-

barten Gegenwärtigkeit) „des Anderen", was beides letztlich nicht im Denken geschehen kann, sondern nur in dieser Begegnung, in der unmittelbaren Gegenwärtigkeit: In der Sinnlichkeit vollzieht sich „die Transzendenz", und „die Liebkosung transzendiert

das Sinnliche" (1980', 235). D.h., der Andere wird für mich im Grunde zu einem

wichtigen Wesen, einem wirklichen Wesen, ohne auf Sinnlichkeit in irgendeiner Form reduziert zu werden. Dadurch wird natürlich auch die unersetzliche Einzigkeit des

Anderen der Grund dafür, daß ich selber einzigartig bin, und zwar in folgendem Zusammenhang - und jetzt kommt der zweite entscheidende Begriff zum Tragen,

nämlich der Begriff der radikalen, auf den Anderen hin orientierten Verantwortlichkeit. Durch

die Anrufung durch den Anderen in dieser Begegnungssituation entsteht unmittelbar eine Verantwortung: Ich bin in die Verantwortung gerufen, und diese Verantwortlichkeit ist mir auferlegt schon durch die (Begegnungs-)Situation. Ich wähle sie - die Verantwortung - nicht, ich kann sie gar nicht wählen, sondern ich werde durch den

Anspruch des Anderen geradezu „zur Geisel" genommen (1983, 317, 320f.); das freilich ist ein sehr extremes Wort, aber der Andere bezieht sich auf mich, und dadurch werde ich in eine Lage versetzt, in der ich mich seiner (Nähe) in der Konfrontation

nicht entziehen kann. Ich kann mich der Verwundbarkeit des Anderen nicht ver-

schließen - und ich darf es auch nicht. Die radikale „Anrufung" oder „Heimsuchung" (1983, 221) ist etwas, das automatisch eine Verantwortung gegenüber dem Anderen und

damit auch, wie Lévinas sagt, eine Verantwortung für den Anderen in der Situation erzeugt, und zwar in gewissem Sinne gegen meinen eigenen Willen oder zunächst ohne meinen eigenen Willen: Möglicherweise gegen meine eigene Neigung werde ich

52

zu der Verantwortungsübernahme gedrängt, in die Verantwortung genommen.

Lévinas meint, daß diese Verantwortlichkeit für andere, für den Anderen der Grund ist für die Einzigartigkeit des Ich, für die Bildung der ethischen Persönlichkeit, überhaupt für das Ich. Das Ich ist das verantwortliche Wesen. „Ichsein bedeutet..., sich der Ver-

antwortung nicht entziehen zu können" (1989, 43, s. a. 1983, 224), und zwar der Verantwortung in diesem radikalen Sinne. Diese Verantwortlichkeit setzt mich gleichsam in eine Unvertretbarkeit, weil kraft der Verantwortung für den Anderen das Ich unvertretbar geworden ist, es ist das Einzige, das den Anderen jetzt und an dieser Stelle antworten kann. „Die Verantwortung bestätigt die Einzigkeit des Ich" (1983, 43). Verantwortung wird nicht gewählt, sondern „fällt ein". Das Ich wird von ihr, also von dieser Verantwortlichkeit in der Situation bzw. von der Verantwortung „gewählt" obwohl das ein schlechter Ausdruck ist; dieser ist allenfalls metaphorisch zu verstehen. Das Ich selbst ist hier radikal und zutiefst passiv, es wird allenfalls von außen zur Verantwortungsübernahme veranlaßt. Verantwortungsübernahme ist selbst wiederum auch ein Begriff, der eigentlich das Gesagte irgendwie verzerrt, weil er das Konfrontationsgeschehen bereits als Aktivität mißdeutet, welche erst später durch das Anneh-

men der Verantwortung entsteht oder in diesem Übernehmen besteht. Deswegen meine ich, „durch die Situation in die Verantwortung gestellt" wäre terminologisch besser. Das In-die-Verantwortung-Gestelltsein geschieht nach Lévinas schon mit dem Anspruch und dem Anruf des Anderen an mich. Die Verantwortung wird in diesem Sinne immer unmittelbar erlebt oder erfahren, sie muß dann sekundär übernommen werden: Erst sekundär können wir zustimmen, aber die Verantwortlichkeit selber ist früher als alle übliche Freiheit, früher als Autonomie, ist vor jedem eigenen Engagement gegeben. Mit anderen Worten: die Verantwortlichkeit setzt das Subjekt auf seine Einzigartigkeit und bringt es zu seiner Unvertretbarkeit. Die Einzigkeit des Ich ist darin gegeben, daß niemand an meiner Stelle antworten kann, und daß damit ich das antwortende Wesen bin. Ich antworte oder werde zur Antwort herausgefordert und geradezu zur Verantwortlichkeit gezwungen, die ich dann anzunehmen, zu übernehmen habe: Ich bin verantwortlich, also bin ich - könnte man fast sagen: Respondeo ergo sum! Responsabilis sum, ergo sum (als ethisches Wesen) - kurz: responsabilis sum; oder: Erst

als für andere verantwortliches Wesen bin ich ethisches Ich. Die Einzigartigkeit, die Identität des Ich besteht in dieser unersetzbaren, unverwechselbaren Beziehung der Verantwortung für den Anderen und wird uns in der Begegnung aufgedrängt. Wir sind dabei gar nicht aktiv, sondern passiv, so meint jedenfalls Lévinas; wir können uns dieser Verantwortlichkeit nicht entziehen, und das Ichsein selbst besteht gerade darin, daß wir uns dieser Verantwortlichkeit nicht entziehen können. Wir sind nur als verantwortliche Wesen im wahren Sinne existent, und daher können wir uns im Grunde nur als von dieser Situation des Herausgefordertseins, des Gestelltseins durch den An-

deren, selbst verstehen. „Der Mensch kommt zu sich selbst erst vom Anderen her" (Wenzler in Lévinas 1989, XX). Lévinas meint, daß dies eine andere Weise des Sub-

jekts, des Ich, ja, selbst der Bewußtseinsbildung sei, indem nämlich aus der Verantwortungsübernahme oder zunächst dem Erleben der Verantwortung und der nach-

folgenden entsprechenden Zustimmung, erst das sittliche Ich entsteht. Ich und

Sittlichkeit werden in der Verantwortung geradezu identifiziert, sie sind dasselbe, das Ich konstituiert sich in der Verantwortlichkeit. Ichsein ist Verantwortlichsein. „Das Ethische beginnt", wie Lévinas (1981, 81) sagt, „im Ich-Du-Dialog ohne Rückgrift auf ein

allgemeines Frinzip". Man hat zunächst nicht die Kategorien oder das Sittengesetz, sondern die moralische Herausforderung besteht in der existentiellen unmittelbaren Betroffenheit, in der Begegnung mit dem Anderen und der daraus erwachsenden mitmenschlichen Verantwortlichkeit. Das ist in der Tat ein Programm des konkreten

53

ethischen Philosophierens. Die Konstitution des Ich ist allein durch dessen Verantwortlichkeit zu verstehen, Ich ist Verantwortlichsein, in diesem ethischen Sinne verstanden, und nichts sonst. Das ist ein tragender Gesichtspunkt, der von Lévinas zu einer Umdrehung der üblichen Auffassungen der philosophischen Disziplinen ausgeweitet wird: Die Erkenntnistheorie oder die Metaphysik oder die Ontologie oder was immer ist nicht mehr die Erste Philosophie, sondern die Ethik. Philosophie erwächst

aus der Ethik. Die ethische Herausforderung in diesem Sinne ist gleichsam das aus-

lösende Moment, der Grundstock, das Fundament der Philosophie.

Diese Ethik ist allerdings in gewissem Sinne asymmetrisch: Man muß sich zwar um den Nächsten kümmern, weil er uns durch seinen Anruf in die Verantwortung ruft, aber es ereignet sich kein Wechselspiel des Hin-und-Her, sondern die Verantwortung ist uns auferlegt, ganz gleich, wie der Andere antwortet. Ähnlich wie zunächst in der Nähe und der Berührung, die für Lévinas die Ausgangspunkte waren, das Begehren, das befriedigt wird, nun nicht etwa aufhört, sondern immer wieder und weiter vertieft wird, und dann für ihn „die Güte" bedeutet, so erkennt Lévinas ein grundlegendes Paradoxon des Verantwortlichseins: „Ein Anwachsen der Verantwortung" ist nach diesem Verständnis in „dem Maße" gegeben, „in dem sie übernommen wird", und sie erweitert sich, bzw. die Pflichten erweitern sich in dem Maße, in dem sie erfüllt werden (Totalität und Unendlichkeit, 1987, 360). D.h., Verantwortung wächst mit den größeren Aufgaben und

nimmt nicht ab; man kann sie nicht abbüßen, nicht abdienen, nicht abarbeiten, sondern sie ist die Grundlage einer solchen „dissymmetrischen Ethik", die das Ich als verantwortliches Wesen eben aus der grundsätzlichen Beziehung auf den Anderen versteht und diese nicht etwa durch wechselseitige Erwartungen begründet. Das notwendige Sichkümmern um den Nächsten, das uns in dieser Weise auferlegt ist, beruht auf der Verwundbarkeit des Anderen und ist insofern besonders radikal. Lévinas nennt nun die Bewegung des Ich zum Anderen ein „Werk" (1983, 215ff.); das ist ein eigenwilliger technischer Ausdruck und meint, daß dieses „Werk ohne Rückkehr" sei, d.h., nicht auf den Handelnden, auf das Ich zurückgelenkt wird, denn dann wäre es im Grunde kategorisierend, dann wäre es eben wiederum abstrakt. Die Bewegung des Selbst zum Anderen sei ohne Rückkehr, und darin bestehe die ethische Asymmetrie. Die einzige Möglichkeit, die wir haben, dem Anderen in seinen Bedürfnissen und seiner Herausforderung zu begegnen, ist das Einstehen für den Anderen, die „Substitution" durch „Einstehen für die Anderen" (1983, 317), wodurch die ursprüngliche Passivität überformt wird. Das ist dann nichts anderes als das Annehmen, die Zustimmung zu dieser Verantwortlichkeit.

Dieses Ethos des Unersetzbaren, der Nichtaustauschbarkeit, der Einmaligkeit oder Jeeinzigkeit in dieser Dialogsituation zeigt, daß das Sich-selbst-Verstehen und -Finden unablässig an die Verantwortung gebunden ist und daß hier in einem ganz radikalen Sinne alles auf diese Situation der Verantwortung zurückgeführt wird. Die Unabweis-

barkeit der Verantwortung und Identitätsstiftung als Erwähltwerden ist das Grund-

moment dieser humanistischen Philosophie des Anderen, die gleichsam für uns zu einer Ersten Philosophie wird in Gestalt einer uns aufgedrängten, für uns gleichsam unausweichlich gemachten ethischen Beziehung zum Anderen.

Diese tiefe Sozialbestimmung des Ich bedeutet natürlich weitgehend eine radikale Umkehr des traditionellen Philosophierens, das ja ursprünglich von dem Selbstverständnis, dem „Ich denke, also bin ich", dem Selbstbewußtsein, ausging, während hier alles gleichsam aus der Situation des konkreten, praktischen Lebens mit dem Anderen

54

in der Begegnung abgesteckt und entwickelt oder nachgezeichnet wird, vielleicht nicht im eigentlichen Sinne „erklärt" wird, um nicht in das erwähnte Abstraktheitsdilemma

der Philosophie zu verfallen; aber jedenfalls ist die Philosophie im Sinne dieses

konkreten Philosophierens des Humanismus des Anderen in der Tat von einer tiefen sozialen Geprägtheit gekennzeichnet: Der Mensch ist das Wesen, das sich selber erst vom Anderen her konstituiert, bildet, verstehen kann. Das ist seine tiefste existentielle und zugleich immer konkrete Herausforderung; sie soll nicht etwa eine allgemeine Erkenntnis sein.

Läßt sich das nun grundsätzlich so verstehen und konsequent durchführen? Lévinas meint, ja. Die Verantwortung, die sich nicht meiner Freiheit verdankt, ist meine Verantwortung für die anderen, die Freiheit der anderen; denn ich bin verantwortlich, und zwar schon allein deswegen, weil ich da, wo ich hätte Zuschauer bleiben können, gefordert bin, zu antworten: „Da, wo ich hätte Zuschauer bleiben können, bin ich verantwortlich ... das Drama ist kein Spiel mehr, alles ist Ernst" (1989, 78). Ich bin also in

der Situation der Betroffenheit in der Begegnung mit dem Anderen unausweichlich schon deswegen in dieser Verantwortlichkeit, weil ich mich auch hätte zurückziehen und Zuschauer bleiben können 3. Insofern als ich diese Wahl der Handlung hätte, bin ich eben bereits verantwortlich gegenüber dem (Hilfe-)Anspruch des Anderen. Lévinas drückt das gelegentlich auch positiv aus, indem er sich mit Husserl auseinandersetzt, seinem Lehrer, der den Philosophen als den „Funktionär der Humanität" bezeichnet hat; so sei das sicherlich nicht, sondern „ich würde ganz platt sagen", meint Lévinas, »das gültig Menschliche ist - aber befürchten Sie dieses Wort nicht - die Liebe. Ich meine, mit all dem, was sie belastet. Liebe - ich werde besser sagen: Verantwortlichkeit. Und Verantwortlichkeit ist eigentlich die Liebe, wie es Pascal sagte: 'sans concupiscence'. Es ist vor allem der Zugang zum Einzigen. Ich sage immer: In einer lo-

gischen Operation, vom Genus zum Species, zum Individuum, da kommt man

durch das Wissen nicht zur Einzigkeit! Liebe oder Verantwortlichkeit sind aber Sinngebung der Einzigkeit. Das Verhältnis ist immer nicht-reziprok; Liebe besteht ohne Sorge für das Geliebt-Sein. Das ist mein Begriff der Dyssymmetrie. In diesem Moment ist der Andere, der Geliebte, einzig. Und ich bin einzig in einem anderen Sinne; als erwählt, als zur Verantwortlichkeit erwählt. Wenn ich diese Verantwortung einem anderen zuschreibe oder delegiere, bin ich aus der Ethik raus. Und Philosophie ist

davon ein Bewußtsein, ein Darüber-Sprechen, um gerade zu diesem Diskurs zu

kommen" (Gespräch E. Lévinas - Ch.v. Wolzogen in Lévinas 1989, 134).

Dieses In-die-Verantwortlichkeit-Gestelltsein ist das zentrale Moment, das durch die Begegnung mit dem anderen aktiviert wird und uns gleichsam überkommt, überfallt,

in unser Leben einfällt. Hier sind durchaus Fragen der konkreten Existenz ange-

sprochen; es ist eine Art Fortsetzung der Existenzphilosophie mit anderen Mitteln, auf

andere Felder, eben auf das Feld des Anderen und der tiefen Sozialgebundenheit, ja, sozialen Konstituiertheit. Es ist richtig, daß andererseits die traditionelle Phänomenologie, von der Lévinas ausgeht, angewendet wird auf etwas, was gegenüber 13 Man denke jedoch an die bekannten Fälle der unbeteiligt bleibenden Zuschauer beim Mord an Kitty Genovese in der Bronx (New York) 1964 und beim Ertrinken von drei Jungen unter dem brüchigen Eis des Sees im Olympiapark von München 1989. Man muß daher wohl auch ergänzen: Gerade, wo ich nur Zuschauer geblieben bin, aber hätte tätig werden sollen, bin ich (mit)verantwortlich

55

dem eigenen Empfinden und Erleben, dem geistigen „Wahrnehmen" transzendent ist - insofern, als der Andere etwas an sich Seiendes, unendlich Fremdes, Fernes ist, das

in unser Leben aber einbricht, „einfallt" und als solches die Verantwortlichkeit erzeugt.

Hat nun Lévinas, so muß man sich kritisch fragen, das Dilemma der Philosophie, nämlich einseitig abstrakt zu formulieren oder gar dogmatisch zu denken, ganz und gar vermieden? Ist der „Humanismus des Anderen" im Grunde eine Philosophie der konkreten Offenheit, so wie der Autor sich das vorstellt? Oder ist nicht auch hier in gewisser Weise doch eine Art von bevormundendem Anspruchsdenken involviert, wenn auch jetzt bezogen auf die Erkenntnis, daß wir auf den Anderen zu achten haben, jeweils und durch den Anderen in diese unsere Situation gestellt und zu unserer Reaktion gedrängt werden? Schon die Metapher der in der Verantwortlichkeit gegebenen, durch die Konfrontation erzeugten „Geiselnahme" durch den Anderen zeigt, daß hier eine sehr extreme Zuspitzung gegenüber der traditionellen Auffassung der Existenzphilosophen des radikalen Verwiesenseins auf sich selbst zu finden ist. In gewissem Sinne kann man sagen, trotz aller Bekenntnisse zum konkreten lebendigen Leben sind beide Entwürfe, der des radikalen Selbstseins in der Existenzphilosophie und der des radikalen Verantwortlichseins für den Anderen in der Konfrontation doch wiederum - zumindest tendenziell und in der Terminologie - einseitig, abstrakt und somit auch in gewisser Weise dogmatisch. Man muß wohl beides verbinden. Es ist notwendig, eine Philosophie des konkreten Selbstseins mit der fundamentalen Angewiesenheit auf andere, also mit dieser fundamentalen sozialen Verankerung des Menschen und seiner Selbstauffassung und insbesondere seiner Verantwortlichkeit zu verbinden. Eine gewisse Offenheit für beide Ansätze ist wichtig.

Abgesehen von der generell-abstrakten Terminologie, die ich schon kritisch erwähnt habe, ist zu fragen: Warum redet Lévinas nur von „dem Anderen"? Er diskutiert zwar beiläufig, daß es Dritte gibt oder daß diese Konfrontation u.U. unter der Beobachtung durch Dritte stattfindet, aber systematisch spielt das keine Rolle. Und es ist noch nicht einmal klar, wie er „den Anderen" versteht: Bezieht sich der Ausdruck auf den Einen oder die Eine, den einzigartigen Partner in einer jeweiligen Situation oder Begegnung, oder bezieht er sich auf die Gattung: den anderen jeweils, jeden anderen? Im ersten Fall hat man natürlich die Einzigkeit übertrieben und schon dadurch im Grunde das (vielfältige, viele Sozialpartner umfassende) lebendige Leben verlassen, daß man in dieser Einzigartigkeitsbeziehung zwar möglicherweise eine Einzigartigkeit des Selbst, eine Unvertretbarkeit des Selbst für den Anderen und umgekehrt begründet, aber man hat doch das stilisierte Erfahren der Verantwortlichkeit gegenüber dem echten sozialen Leben so eingeschränkt, daß es abstrakt bleibt oder geradezu die übliche Begegnungssituation „vergewaltigt". Es kann offensichtlich nicht gemeint sein, daß nur der eine Partner, die eine Partnerin in der konkreten Existenz gemeint ist, die mir die Einzigartigkeit und Verantwortlichkeit meiner Person vergewissert. Deswegen müßte man auf den Gattungsbegriff ausweichen, aber dann verläßt man schon wieder die wirkliche singuläre Begegnungssituation und hat kategorisierend allgemein beschrieben. Man ist also gefangen im Dilemma der Philosophie des allgemeinen Redens über das Konkrete, das nicht bevormundend beredet werden kann. Insofern verwickelt sich auch diese Philosophie in eine Art von Dilemma oder in ein Paradox; es ist eben so, daß die mitmenschliche Betroffenheit in der Begegnung durch den Anderen und diese radikalisiert aufgefaßte tiefe existentielle Verantwortlichkeit und die soziale Fundamentierung des Ich durch die Situation der Begegnung nicht verallgemeinert, durch

56

allgemeine Begriffe oder Kategorien beschrieben, sondern allenfalls umschrieben werden kann, in gewisser Weise in einer Art von Bild entworfen werden mag, das man nachzeichnen kann. Und diese Philosophie des konkreten mitmenschlichen Sichbegegnens ist insofern tatsächlich Ausdruck einer konkreten Lebenswirklichkeit, als unsere Lebenszusammenhänge, in denen wir uns immer verstehen müssen und nur verstehen können, zutiefst stets von anderen geprägt sind. Insofern ist es in der Tat sinnvoll zu sagen, daß das Philosophieren der Humanität oder dieser Humanismus des Anderen in einer Philosophie der konkreten Mitmenschlichkeit gründet und daß man in der Tat den Menschen und sein eigenes Selbst im wesentlichen tief vom anderen und in Beziehungen zu anderen verstehen muß (obwohl auch dieses Wort „Beziehungen" viel zu abstrakt und „leer" ist und übrigens auch von Lévinas emphatisch abgelehnt wird). Das Philosophieren der konkreten Humanität ist also ein Philosophieren der konkreten Cohumanität, der konkreten tiefen und radikalen, fundierenden Mitmenschlichkeit, und insofern ist man sicherlich im Gegenentwurf zu der traditionell zu sehr egologischen oder zu sehr auf die im emphatischen Sinne auf das Selbstsein ausgerichtete Existenzphilosophie dankbar für eine solche Öffnung des Philosophierens für andere und für das Moment der Mitmenschlichkeit. Der Mensch konstituiert sich in der Tat als Mitmensch und als für Mitmenschen Engagierter, als für den Mitmenschen Verantwortlicher. Lévinas hat das insbesondere im Zusammenhang mit der sogenannten Studentenrebellion um 1970 auch auf den Begriff der Authentizität, der Aufrichtigkeit, der Echtheit des Lebens bezogen. Folgendes Zitat ist aus der Zeit zu verstehen, auf die Zeit bezogen, aber nach wie vor sinnvoll und insbesondere auch gegenüber dem Pessimismus der Existenzphilosophie à la Sartre, Camus, aber auch Heidegger und ihrem Heroismus ein durchaus beherzigenswertes Wort: „Die Jugend ist Authentizität. Aber [nur] Jugend, die durch Aufrichtigkeit bestimmt ist, durch die Aufrichtigkeit, die nicht die Brutalität des Bekenntnisses in die Gewalt der Tat ist, sondern Annäherung an den Anderen, Sich-Kümmern um den Nächsten, das aus der menschlichen Verwundbarkeit kommt. Fähig, die Verantwortlichkeiten wiederzufinden unter der dichten Decke der Literaturen, die von ihnen entbinden, war die Jugend ... nicht mehr das Alter des Übergangs und des Vergehens ..., sondern zeigte sich als Menschlichkeit des Menschen" (1989, 104).

57

4. Selbstverantwortung und Sozialverantwortung

Wie wir gesehen haben, ist die soziale Theorie der Verantwortlichkeit von Lévinas, in der das Ich sich gleichsam in der Begegnung mit dem Anderen in die Verantwortung gestellt sieht, ja, als ethisches Selbst sich erst in dieser Situation des Gezwungenseins

zur Ubernahme von Verantwortung bilden kann, sehr radikal und extrem. Dieser Extremstandpunkt ist schon kritisiert worden. In der Tat ist aber auch etwas Richtiges

daran: Wir uns insowein ve Sintworthichel wit dien begegned der hilfesdirfin, ist, wir von seinem Anspruch von Hilfe an uns betroffen sind: In dem Maße, in dem „wir hätten Zuschauer bleiben" können, sind wir verantwortlich, so sagt Lévinas; aber das gilt auch umgekehrt - und vielleicht hier sogar noch dramatischer, man denke an den Fall im Olympiapark, als eine Reihe von dabeistehenden Zuschauern nicht eingriff, als drei Jungen ertranken. In dem Maße, in dem wir bloß Zuschauer geblieben sind, sind wir erst recht verantwortlich, wenn wir hätten handeln können und sollen.

Die Grundidee bei Lévinas besagt, daß die Betroffenheit durch die Hilfebedürftigkeit, die Existenz des anderen in der Begegnungssituation mich unvermeidlich verantwort-

lich macht und daß ich grundsätzlich erst als Verantwortlicher bin: Ich bin verantwortlich, also bin ich. Man müßte das auch umgekehrt verstehen können: Als mensch-

liches existierendes Wesen bin ich in Begegnungen und Handlungssituationen

involviert und insofern übernehme ich in Bereichen des mir möglichen und mir zugemuteten wie zumutbaren Handelns und bei mir widerfahrenden Begegnungen und Erfahrungen mitmenschliche Verantwortung: Ich bin somit persönlich engagiert und betroffen. Man vermag natürlich diese Art von Betroffenheitsverantwortung oder Betroffenheitsverantwortlichkeit in gewisser Weise nachzuvollziehen, und trotzdem kann man in der Sozial- und Rechtspraxis damit oft nicht sehr viel anfangen, weil im

üblichen Verständnis Verantwortlichkeit sich auf die eigenen Handlungen und die Folgen des Handelns bezieht, die ich selber durch mein Handeln oder Tun verur-

sach(t)e oder bewirk(t)e. Auch ist die radikale Ausrichtung à la Lévinas auf die soziale

Situation derart, daß der andere gleichsam direkt das Ich erst ethisch konstituiert, zwar in gewisser Weise plausibel, aber einseitig und extrem. Das haben wir auch insofern schon gesehen, daß man etwa das Eigensein, das Selbstsein im Sinne der Existenzphilosophen anders auffassen kann - und auch dort wird von der Entscheidung, von der Verantwortungsübernahme für das Selbst und für sich selbst gesprochen. Man kann also, wenn man den Menschen schon als das verantwortliche Wesen bestimmt, als das zur Verantwortungsübernahme fähige Wesen auffaßt, dieses Charakteristikum auch durchaus anders verstehen: Man muß dieses Merkmal natürlich nicht bloß in dieser radikalen Sozialität verstehen, obwohl die soziale Verantwortung und die Struktur der sozialen Verantwortung in diesem Sinne gar nicht geleugnet werden soll. Daher sollte man versuchen, diesen radikalen Ansatz ein wenig dadurch zu überwin-

58

den, daß man ihm einen anderen zumindest an die Seite stellt oder beide zu integrieren versucht. Das Subjekt bei Lévinas konstituiert sich nur aus der Verantwortlichkeit

in der Begegnung mit dem Anderen und bleibt passiv; es wird angerufen, es wird in die

Verantwortung gerufen, gestellt, gezwungen oder gedrängt, es hat dabei selber von vornherein wenig Aktivität entwickelt.

Ein zweiter Punkt ist, daß natürlich das Handelnkönnen berücksichtigt werden muß,

also auch die handlungstheoretisch bekannte notwendige Bedingung, daß man hätte auch anders handeln können. Und daß man sein eigenes Handelnkönnen auch akzeptieren muß, das gehört notwendig nicht nur zum verantwortlichen Wesen, sondern überhaupt zum Aufbau einer sinnvollen Ethik. Insofern könnte man sagen: Vielleicht ist tatsächlich die Ethik bei Lévinas zu sehr an das Ontische, an das Sein, an das Vorgefundensein in dieser Begegnungssituation gebunden und zu wenig handlungsorientiert. Dennoch kann man auch den Satz: „Wo ich hätte Zuschauer bleiben können, bin ich verantwortlich", oder die Variante: „Wo ich bloß Zuschauer geblieben bin, bin ich auch verantwortlich", anders wenden, nämlich handlungsorientiert: „Ich hätte

handeln können und hätte handeln sollen und deswegen bin ich in einer solchen Situation der Begegnung mit Hilfebedürftigkeit verantwortlich".

Die zwischenmenschliche Verantwortungsbegründung nach Lévinas schließt also keineswegs die Handlungsorientierung aus: Der Anruf des anderen an mich fordert geradezu dazu auf, tätig zu werden und nicht nur gleichsam passiv die (Mit-) Verantwortung zu übernehmen, aber dem nichts folgen zu lassen, wie dies häufig, ja, schon üblicherweise in den Abschiebungsstrategien der Politiker der Fall ist. Präsident Reagan übernahm die „volle Verantwortung" für „Irangate" und die Contra-Affäre, aber es passierte - nichts! Es ist auch im deutschen demokratischen Leben nicht unüblich, daß der Minister die unteren Verantwortlichen bis hin zum Staatssekretär in die (beim letzteren äußerst wohldotierte) Frühpension schickt, bevor er eventuell selber die Konsequenzen zieht und gar zurücktreten würde: Das geschieht nur als wirklich aller-allerletzte Reaktion, - nur dann, wenn der „Schwarze Peter" nun nicht mehr woanders hingeschoben werden kann. Schadensbegrenzung und eine personale St. Florians-Taktik der Selbstschonung also ist das übliche strategische Mittel, das man hier gerne einsetzt. Aber das Vorgehen ist natürlich nach außen orientiert; es ist eben der „Schwarze Peter", der herumgeschoben wird. Das Verantwortungsspiel in der Öffentlichkeit folgt offenbar eigen(artig)en Regeln: Irgend jemand muß die Verantwortung übernehmen, öffentlich „geradestehen" - das ist eine Idee dabei. Diese ist nicht nur in der westlichen Demokratie gültig, sondern auch im Fernen Osten, in Japan zum Beispiel, wo der spezielle Begriff der Verantwortlichkeit („Giri") gerade diese Form hat - auch im persönlichen und privaten Leben -, daß das Gesicht nach außen gewahrt werden muß und jemand die Verantwortlichkeit übernehmen muß: Ob er nun selber an der zu verantwortenden Tat schuld oder der Urheber gewesen ist,

spielt nur sekundär eine Rolle. Auch diese Variante ist eine Ausformung, die nicht gemeint sein kann, wenn wir im tieferen ethischen Sinne den Verantwortungsbegriff analysieren wollen und um den Ansatz zu einer normativ tragfähigen Konzeption der persönlichen Verantwortung ringen. Ich sagte schon, daß die total sozial gebundene Verantwortlichkeit von Lévinas zu extrem gefaßt worden ist. Es handelt sich bei der tiefen personalen Verantwortlichkeit im Grunde nicht um ein Entweder-Oder zwischen der fundamentalen Orientierung am Anderen oder am Selbst, sondern um Sozialgebundenheit der Verantwor-

59

tung und ebenso um Selbstgebundenheit, verstanden als individuelle, persönliche Verantwortung im Sinne dessen, was ich für mich verantworte, wofür ich als Person einstehe. Man muß also die tiefe Sozialität der Situation der Verantwortlichkeit, die gar nicht bestritten werden soll, schon und gerade auch bei der Begründung von ihrer extremen Einseitigkeit befreien. Das erreichen wir am leichtesten, wenn wir sie um die entsprechende individualistische Verantwortungskonzeption ergänzen: um die Verantwortlichkeit, die ich mir selber zuschreibe und vor mir selber übernehme. Diese Selbstverantwortlichkeit umfaßt natürlich sowohl die Handlungsverantwortung, meine Verantwortung für die jeweils relevanten vergangenen wie auch für die zukünftigen eigenen Handlungen, als auch die Aktivierung von Betroffenheitsverantwortung in der Situation der Begegnung mit des Anderen Hilfebedüftigkeit. Diese gerade läßt es als „unverantwortlich" erscheinen, in der Verantwortungsbetroffenheit bei der Lévinasschen „Passivität" des Verantwortungssubjekts zu verharren, sondern aktiviert den moralischen Anspruch an helfendes Engagement. Betroffenheitsverantwortung erzeugt „Handlungsbedarf"", ein moralisches Handelnsollen. Betroffenheitsverantwortung und Eigenhandlungsverantwortung lassen sich nur analytisch voneinander trennen - ebenso die „tief" sozial begründete und die selbstfundierte.

deren mich in eine bestimie ication vers dat, von Sartre ubernom An. Der , Bick des Anderen" konstituiert bei Sartre eine sehr wesentliche Grundstruktur in der Beziehung des Ich, des Selbst, der Existenz über sich hinaus. Das ist zum Teil fast wört-

lich von Lévinas übernommen, wenn auch in einer ganz anderen Färbung. Bei

Lévinas freilich ist es radikalisiert, es wird eben der Andere zum eigentlichen Funda-

ment, zum Fundament meiner eigenen Verantwortlichkeit und Ichbildung - und

somit die Ethik zur Ersten Philosophie -, während es bei Sartre umgekehrt ist: Da ist das Ich als Grundexistenz gewertet und als Aufgabe der Konstitution oder Selbstentscheidung (= Selbstwerdung) gegeben. Der Andere ist - übrigens ähnlich wie bei Lévinas - überhaupt nicht erreichbar, ist nur der Gegenpol, an dem ich - nun anders als bei Lévinas - gleichsam immer auflaufe. „Die Hölle, das sind die anderen", heißt es ja bei Sartre; er bedauert oftenbar zutiefst, daß man immer wieder auf andere stößt und in seiner Existenz durch andere behindert wird. Dagegen konstituiert, erzeugt sich für Lévinas umgekehrt gerade das Ich durch die konkrete Beziehung zu anderen, erst in der Begegnungssituation. Das erste (Sartre) führt natürlich eher zu einer pessimistischen und tief mißtrauischen Partner- und Weltsicht, während das zweite (Lévinas) im Grunde zu einem verzweifelten Anklammern am Anderen, zu einer rettungssuchenden Bildung einer Insel der Solidarität und Sozialität führt. Und an dieser Sicht ist viel Wahres. Wenn wir tiefer nachdenken: Was bleibt uns Menschen denn anderes übrig in der Welt, als uns zusammenzuschließen, uns mit anderen solidarisch zu sehen, zu verhalten und zu fühlen und auch uns selbst immer wieder versuchsweise im Lichte der Reaktionen des guten Willens beim Anderen mitaufzufassen? Die Alternative (der strengsten Existenzialisten) wäre radikale Einsamkeit, Sinnlosigkeit, Absurdität - und die heroistische Münchhausen-Bemühung, sich selber am eigenen Schopfe aus dem

Sumpf des Sinnvakuums zu ziehen. Sinn läßt sich überzeugend(er) solidarisch, gemeinsam erzeugen und begründen. Zumindest drängt uns unser Suchen immer wieder dazu, das zu versuchen. Das letztere kann natürlich immer wieder enttäuscht werden.

Kurz und gut: das Entweder-Oder, entweder tief-soziale Konstitution des Ich oder radikale Ichbezüglichkeit, entweder Sozialverantwortung oder Selbstverantwortlichkeit,

60

das ist letztlich keine zufriedenstellende Alternative. Die Möglichkeiten sind auch nicht durch die Alternative erschöpft. Warum sollte die Sozialverantwortlichkeit, gerade auch die tiefe Gebundenheit an die soziale Situation und an die jeweils anderen, unvereinbar sein mit einer tiefen Selbstverantwortlichkeit? Beides kann und sollte man - und das ist wohl gerade ein Gebot der konkreten Humanität - durchaus verbinden.

Man kann die tiefe soziale Verortung und die tiefe Selbstbindung, Selbstfindung systematisch miteinander verknüpfen. Das, was die beiden besprochenen Denker

jeweils als einziges Fundament in den Vordergrund stellen, kann gleichsam je als eine von zwei oder mehreren Varianten, die nebeneinander stehen (können), ja, sogar in gewisser Weise systematisch aufeinander bezogen sind, verstanden werden. Das ist

sehr viel realistischer und konkreter und auch dem, was wir im normalen Leben

finden, angemessener als die je einseitige Radikalität. Der Mensch ist in Wirklichkeit zutiefst das zugleich „sozial"-verantwortliche und das selbstverantwortliche Wesen. Wenn wir vom Menschen als dem verantwortlichen Wesen sprechen - und das ist in der Tat dasjenige, was den Menschen wesentlich gegenüber anderen höheren Lebewesen auszeichnet -, dann ist beides gemeint. Man müßte natürlich insbesondere die Betroffenheitsverantwortung in der sozialen Situation noch weiter begriffsanalytisch und sozial- wie handlungstheoretisch untersuchen, indem man auf die viel tiefere soziale Einbettung und Verankerung des Menschen eingeht, die bis in die Entwicklung des Bewußtseins und der Sprache geht. (Sprache ist ja etwas zutiefst Soziales. Das eröffnet eine Diskussion, die in den letzten Jahrzehnten im wesentlichen in der Er-

kenntnistheorie und auch zum Teil in der analytischen Philosophie geführt worden ist - im Anschluß an den späten Wittgenstein. Die tiefe, konstitutive Sozialgebundenheit des Menschen ist es, die dazu führt, daß wir alle Äußerungen, Kulturleistungen usw., ja, den Menschen als Gattungswesen und je als Einzelwesen nicht unabhängig von

dieser tief-sozialen Situiertheit sehen können. Und das betrifft gerade auch die ethische Konstitution, die Bildung der moralischen Persönlichkeit.)

Jedenfalls glaube ich, daß erst die Verbindung der Sozialver antwortlichkeit und der Selbstverantwortlichkeit zu einer personalisierten Humanverantwortlichkeit führt.

Zunächst ist das Problem der Verantwortlichkeit analytisch ein Problem der Zu-

schreibung von Verantwortlichkeit. Wir schreiben jemandem Verantwortung zu oder auch uns selber, und zwar durchaus in doppelter Möglichkeit: Entweder wir stellen deskmptw, beschreibend nach irgendwelchen Kriterien, jest, dals jemand gegenüber jemandem für etwas verantwortlich ist, oder wir halten jemanden oder uns selbst jur verantwortlich, d.h., wir machen uns verantwortlich oder wir werden zur Verantwortung gezogen oder wir übernehmen Verantwortung, ziehen uns selber zur Verantwortung, wir verpflichten uns, binden uns im normativen Sinne. Alle Zuschreibungen von Verantwortlichkeit und Verantwortung können prinzipiell entweder beschreibend oder normatz benutzt werden. Oft wird beides zugleich getan und manchmal auch verwechselt. Das Deskriptive und das Normative müssen allerdings sehr sorgfältig unterschieden werden. Die Trennung ist aber analytisch. Sie gilt es auch in dem besonders intrikaten Fall anzuwenden, wenn ich mich selbst verantwortlich fühle oder mich selbst für verantwortlich halte. In diesem Falle verstehe ich mich nicht nur theoretischkognitiv als jemand, auf den das Prädikat 'verantwortlich' zutrifft, sondern ich mache mich normativ verantwortlich, ich verpflichte mich sozusagen selbst, bin bereit, für diese Verpflichtung einzustehen. Freilich benutze ich bei der Erfassung jeder normativen Selbstbindung auch beschreibende Kategorien, ich beschreibe mich auch als „verantwortlich". So wird also durchaus in der Selbstzuschreibung von Verantwor-

61

tung auch beides - das beschreibende wie das (selbst)vorschreibende Moment - vorkommen, und das gilt erst recht bei der Fremdzuschreibung. Charakteristisch ist jedenfalls, daß sich das Ich als ein moralisch-ethisches Subjekt in gewisser Weise sowohl als sozialverantwortlich als auch als selbstverantwortlich auffassen muß, wenn es sich denn überhaupt als verantwortlich verstehen will. Ob man nun wie Weischedel sagt, die soziale Verantwortlichkeit lasse sich auf die Selbstverantwortlichkeit reduzieren, oder ob man im Sinne von Lévinas meint, die Selbstverantwortlichkeit werde letztlich erst durch die Bildung des Ich als ethischem Wesen in

der sozialen Grundsituation, also erst durch Konfrontation mit dem Anderen und

seiner Hilfebedürftigkeit, erzeugt, spielt dabei keine primäre Rolle.

Es gibt beide Verantwortlichkeiten: die Verantwortlichkeit, in die ich gestellt werde, die ich mir nicht wählen kann, und ebenfalls die Verantwortlichkeit, die ich mir selber gebe, wobei ich mich der Verantwortlichkeit stelle, mich in die Verantwortung stelle oder mir die

Verantwortung als Aufgabe stelle und akzeptiere. In der Tat scheint diese Umschreibung eine Art von Gegenüberstellung zu sein, die vielleicht sogar für diese beiden Sichtweisen und Varianten der Verantwortlichkeit charakteristisch ist. Man könnte beide als Subtypen ansehen: In der sozialen Verantwortlichkeitssituation, in der Betroffenheitsverantwortung, bin ich in eine Verantwortungssituation gestellt, werde als zunächst Passiver gleichsam überwältigt von der Begegnung und der Anrufung des Ande-

ren, die Empathie, Sympathie, Mitleid bei mir auslösen kann und auch sollte; im

anderen Fall, bei der Selbstverantwortung, erhebe ich als aktiv Entscheidender selbst den Anspruch an mich oder soll das tun - zumindest nach dem Gesichtspunkt einer Selbstverpflichtung unter einem gewissen Vorbild der Anständigkeit oder Menschlichkeit oder Humanität. Ich „mache" im zweiten Fall meine Verantwortung selber,

ich „stilisiere" mittels der Verantwortungsbildung mein Selbst oder konzipiere und konstituiere es unter dem Anspruch, den ich an mich selber stelle 4+. Das Selbstbild, die Selbstbestimmung spielt dabei natürlich eine große Rolle und auch die Freiheit zur Selbstbestimmung: die Selbstbestimmung als Autonomie, als Freiheit der eigenen Persönlichkeitsbildung, als etwas, das ich als verbindlich für mich ansehe und wofür ich mich entscheide. Man sieht, daß sich hier zwei verschiedene Typen gegenüberstehen, die aber beide beim verantwortlichen Wesen eine Hauptrolle spielen - und spielen müssen. Man kann das eine nicht ohne das andere haben wollen. Vielleicht sollte man sogar sagen - ich glaube das jedenfalls aus der gegenwärtigen Diskussion der tiefen Sozialgebundenheit à la Wittgenstein-Kripke einerseits (vgl. Verf. 1995) und der Existenzphilosophie nach Weischedel andererseits herleiten zu können -, daß keine dieser beiden Varianten nun wirklich tiefer ist als die andere - jede wäre dann ja nach Analyse und Perspektive grundlegender als die andere -, sondern daß beide gleich fundamentale Verbindlichkeiten für den Menschen darstellen. Es gibt kein Entweder-Oder zwischen

diesen beiden Fundierungskandidaten, sondern es ist viel sinnvoller, von einem Sowohl-als-auch zu reden. Es läßt sich weder von der tiefen Sozialbindung noch von

1 Im ersten Falle erlebe ich die Verantwortlichkeit als „Widerfahrnis" (als etwas, was mir schicksalhaft widerfährt) und soll es dann auch aktiv akzeptieren: Hier ist erst die Verantwortungsübernahme ein Handeln.

62

der Selbst ndung und -bindung abstrahieren. Es handelt sich um zwei - analytisch

sehr wohl zu unterscheidende - Seiten derselben Medaille. Die sozialen Anlässe können als Herausforderung für die Selbstbewährung, Selbstbildung im Sinne des Sichvorgebens eines Vorbildes, eines eigenen Anspruchs gesehen werden, vielleicht sogar als grundlegend für die Bildung von einem selbstdistanzierenden dialogischen Be-

wußtsein 15

Mit tiefer Sozialverantwortlichkeit kann sich aber auch die moralisch-ethische IchBildung, die Bildung des Verantwortlichseins in einer Betroffenheitssituation und somit die Selbstverantwortlichkeit ergeben. Beide Konstitutionen greifen ineinander, wirken aufeinander: Die Unterscheidungen geraten zu bloß analytischen. Im Grunde kann man sagen, daß der Begriff „Verantwortlichkeit" generell eine Verbindung zwischen tiefer Sozialität und tiefer Selbstheit herstellen kann, gleichsam ein Dach für diese beiden Komponenten darstellt: Verantwortlich bin ich ja stets oder oft, jedenfalls prototypisch, in einer Situation für etwas, was in bezug auf andere meine Aufgabe ist. Die Selbstverantwortlichkeit ist ein Sonderfall im unterstellten dialogischen Selbstverhältnis. „Verantwortlichkeit" ist also ein Begriff, der zwischen der tiefen Sozialität auf der einen Seite und dem personalen Selbstengagement auf der anderen Seite geradezu idealerweise eine Verbindung herzustellen vermag, eine Brücke bauen oder eine gemeinsame, übergreifende Kern(be)deutung abgeben kann. Das gilt für die Verbindung auch von der Sorge-für jemanden, der ein anderer ist, und der Sorge-für-mich oder -um-mich im Sinne der Selbstverantwortlichkeit oder der Verantwortlichkeit nach der existenzphilosophischen Richtung. In beiden Fällen ist das verantwortliche Wesen genötigt einzustehen - etwa für andere, z. B. in der Situation der Hilfebedürftigkeit, wenn der Anruf des anderen an mich erfolgt, wie durchaus auch in der Situation, wo ich vor mir und für mich (im doppelten Sinne) „einstehe" verantwortlich bin, wo ich also den Anspruch an mich erhebe, mich nach Maßgabe eines Selbstkonzepts zu bewähren. Diese Grundstruktur des „Einstehens für ...." kann für beide Seiten Gültigkeit beanspruchen. In der Tat sind, wie noch im einzelnen darzulegen ist, Verantwortungsbegriffe Beziehungsbegriffe, die immer in mehrerlei Weise die Beziehungen typischerweise zwischen der verantwortlichen Person, dem Ich, dem Selbst, das verantwortlich ist, und anderen Instanzen, Adressaten herstellen, aber dies auch nach spezifischen Merkmalen, Kriterien, Schichten usw. Das eröffnet eine ziemlich komplexe Konfiguration, aber durchaus eine übersichtliche Struktur für die Ordnung von Verantwortungsbegriffen, die man in elementarer Weise ohne allzu großen Ballast an traditioneller Ethik oder Geschichte der Ethik darstellen kann. Jedenfalls gestattet allgemein Verantwortlichkeit als Dachkonstruktion oder Kernkonzept, idealerweise die Selbstbezogenheit einerseits und die Sozialbezogenheit andererseits zu verbinden, und zwar dadurch, daß Verantwortung immer - auf beiden Seiten irgendwie gegenüber bestimmten Adressaten, vor bestimmten Instanzen (eine solche kann wie erwähnt auch ich selber sein) „realisiert" wird, indem sie mit gewissem Ver-

bindlichkeitsanspruch zugeschrieben wird. Verantwortung ist ja ein Konstruktbegriff,

und zwar ein relationaler, ein Beziehungskonstruktbegriff; es handelt sich um 15 Die Ethologen meinen ja, daß die großen Menschenaffen deswegen ein auch symbolisierendes Bewußtsein und auch ein Selbstbewußtsein entwickeln können, weil sie nicht nur ähnlich wie Menschen sehr erfolgreich und geschickt lügen und täuschen können, sondern weil sie sich mit Ausnahme des Gorillas auch selbst - etwa im Spiegel - wiedererkennen können.

fi

63

einen Begriff, der zur Deutung einer bestimmten Aufgabe und Verpflichtung in einer Situation geeignet ist, also um ein Interpretationskonstrukt relativ formaler Art, das aber (ebenfalls - etwa sozial - konstruierte) Relationen darstellt. Die Relationenglieder können unterschiedlich sein: Das kann das Ich sein, als prototypisches Beispiel der Selbstverantwortlichkeit. Aber das Konzept kann sich auch auf Verantwortlichkeit von Gruppen beziehen, sogar u.U. von Korporationen u.ä. Es ist derzeit ein heißes Thema, ob es so etwas gibt wie eine moralische Gruppenverantwortlichkeit, eine kollektive oder korporative ethische Verantwortlichkeit, und nicht nur individuelle

Verantwortlichkeit. (Ein Folgeproblem ist dann die spannende Frage, wie der Zusam-

menhang von moralischer Gemeinschaftsverantwortlichkeit und personaler Verantwortung zu beschreiben ist.)

Sicherlich ist der prototypische Begriff, wie wir ihn gewohnt sind, jener der individuellen persönlichen Verantwortlichkeit im moralischen oder im rechtlichen Sinne oder als eine Verpflichtung, die ich durch einen Vertrag, durch eine Aufgabe, Rolle usw. übernommen habe und erfüllen muß. Ebenso prototypisch ist die Situation, die dadurch abstrakt schematisch charakterisiert ist, daß ich immer für meine eigenen Handlungen und die Folgen verantwortlich bin, die aus diesen Handlungen sichtbar entstehen.

Offensichtlich werden auch dort Zurechnungsprobleme auftauchen. Ich muß ja eine Handlung erst als meine Handlung zugerechnet bekommen oder mir selber zurechnen; sodann müssen die zu verantwortenden Folgen der Handlung dieser als Konsequenzen zugerechnet, als Folgen im wesentlichen dieser Handlung aufgefaßt werden können; und dann erst kommt die eigentliche moralische oder rechtliche Zuschrei-

bung von Verantwortung, z.B. etwa als Schuld. Das sind durchaus verschiedene

Schritte, die beachtet und auseinandergehalten werden müssen, die aber jetzt noch nicht abzuhandeln sind. Das Wichtige in diesem Zusammenhang ist zunächst, daß Verantwortlichkeit einerseits als Selbstverantwortlichkeit und andererseits als Fremdverantwortlichkeit, als vom anderen her angestoßene Verantwortlichkeit, aufgefaßt wird und das beide praktisch und fundamental-konstitutiv eine gleichwertige Rolle spielen und daß man allenfalls in abstracto diese beiden einander ausschließend gegenüber stellen kann. Beide Formen der Verantwortlichkeit kommen normalerweise in jeder konkreten Situation des verantwortlichen Handelns oder des „widerfahrenden" Verantwortlichseins vor, so daß man sagen kann, daß konkrete Humanität in der Tat an die „Wahrnehmung" (im doppelten Wortsinne) von Verantwortlichkeit gebunden ist. Verantwortlichkeit ist umgekehrt ein Begriff, der zur Erläuterung und Bestimmung dessen dienen kann, was man konkrete Humanität oder Ethik der konkreten Humanität nennen könnte. Konkrete Humanität zeigt, bildet oder konstituiert sich im verantwortlichen Umgang, in der Erkennung, Anerkennung, Wahrnehmung der Verantwortung im Umgang mit anderen und mit uns selber. Die Momente, daß jeweils die Situationsangemessenheit und eine Proportioniertheit in bezug auf die persönlichen Probleme und Reaktionen zu berücksichtigen ist, bilden ja das Kennzeichen der konkreten Humanität, genauer: der konkreten Humanitätsphilosophie, gegenüber den abstrakten Forderungen genereller Humanität. Es ist klar, daß sich dies auch im Umgang mit der Verantwortlichkeit zeigt - und zwar gerade prototypisch in Situationen der Verantwortlichkeit. Es ist also nötig, eine Philosophie oder ein Philosophieren des persönlichen Verantwortungsengagements in Verbindung mit - und nicht als Alternative zu - der Entwicklung einer Philosophie einer konkreten Humanität zu fordern,

64

zu fördern, und zwar gerade unter Berücksichtigung des jeweiligen angemessenen humanen Umgangs mit den Erfordernissen der entsprechenden Situation. Man kann geradezu sagen, Humanität in diesem Sinne besteht, bewährt sich darin, daß wir die Verantwortungskonflikte in uns tiefer erleben. Bei Albert Schweitzer war es die Ethik, die uns darin zur „Wahrheit" führt, daß wir die Verantwortungskonflikte „immer tiefer erleben" (1960, 340). Konkrete Humanität besteht darin, daß wir die Konflikte

und die Verantwortungskonflikte wahrnehmen, im Tiefen in uns „er-leben", im

jeweiligen konkreten Lebenszusammenhang „erfahren" und versuchen, uns persönlich dabei zu engagieren - mit dem Blick auf den/die andere(n), aber gerade auch in Selbstverantwortlichkeit.

Es geht also darum, eine integrierende Sicht zu entwickeln, eine kombinierte ethische Philosophie der Selbstverantwortung und der Fremdverantwortlichkeit -, und diese nicht nur zu entwickeln, sondern auch tätig zu leben. Wir sollen uns unserer in diesem Sinne kombinierten Verantwortlichkeit nicht entziehen - und wir dürfen uns dieser nicht entziehen: Wir könnten es zwar, aber wir dürfen es nicht. Man könnte sogar meinen, daß diese Kombination der entsprechenden Fremd- und Selbstverantwortlichkeit

unter den Bedingungen und Erfordernissen der jeweiligen eigenen Lebenssituation, der Proportioniertheit, der Angemessenheit des Handelns, Urteilens und Entscheidens geradezu unsere Eigenart und die Einzigartigkeit des Individuums in der Situation auszudrücken vermag. Damit wären wir bei dem individualistischen Part einer konkreten Humanität. Wenn wir tätig sind und in dieser Weise kombiniert die Sozialansprüche, Selbstansprüche der Verantwortlichkeit tätig (im erwähnten Doppelsinne) „wahrnehmen" und situationsangemessen, insbesondere unter dem Gesichtspunkt einer persönlichen Auffassung, vertreten, dann können wir sagen, daß das konkret-

humane verantwortliche Handeln einen besonderen moralischen Wert hat. Dieser

Kombination, die uns dann in gewisser Weise als einzig kennzeichnet, sollen wir nicht ausweichen. Wir könnten uns ihr vielleicht entziehen, aber wir sollen und dürfen das nicht tun; vor allen Dingen müssen wir jederzeit verantwortlich diese Art von kombinierter Verantwortlichkeit wahrnehmen, in die wir uns z. T. gestellt finden, in die wir uns z. T. selber stellen. Wir müssen uns verantwortlich entscheiden dafür, eine Verantwortungskonstruktion komplexerer Art zu übernehmen. Man könnte hier geradezu von einer „Metaverantwortung" oder „Hyperverantwortung" sprechen, die eine Stufe höher als die übliche Handlungsverantwortung ist, weil sie die Verantwortung für das Entwickeln eines Verantwortungsbegriffs oder -konzepts und für das Führen

eines verantwortlichen Lebens umfaßt: Verantwortung für die Entwicklung und

Bewahrung sowie Erfüllung von Verantwortlichkeit als genereller Handlungsdispodistion oder als „Charakter". Kurt Bayertz hat einmal von der Metaverantwortung der Philosophen gesprochen, die für die Weiterentwicklung der Ethik und insbesondere der Verantwortungstheorie eine spezielle übergeordnete, sozusagen metatheoretische Verantwortung über (die Verwaltung von) Verantwortungskonzepte(n) tragen, also eine höherstufige Metaverantwortung. Ähnlich kann man das in bezug auf das in-

dividuelle Leben sehen, wenn man überhaupt eine Einheit der Verantwortlichkeit sehen will, die nur durch abstrakte Konstruktbildung zu beschreiben ist. Aber auch hier ist ganz wichtig - und eine Forderung des Konkretheitsgebots der Humanität -, daß nicht das Predigen der Verantwortlichkeit, sondern das konkret-humane verantwortliche Handeln besonderen moralischen Wert hat. Die Einzigartigkeit und Einzigkeit, die wir vielleicht in dieser Kombination der situationsangemessen wahrzunehmenden Verantwortlichkeit zwischen Selbst- und Fremd-

65

verantwortlichkeit verwirklichen sollten, kann als Kennzeichnung für das Individuum im Sinne von individueller Persönlichkeit aufgefaßt werden. Man hat gemeint, das Individuum sei eine Institution in einem Fall, eine Institution, die auf eine Person sich beschränkt, die aber (in ähnlicher Weise wie normale soziale Institutionen) Regeln, regelhaftes Verhalten, Formen, Ordnung, Strukturen und Erwartungen, also Normen - und vielleicht sogar Sanktionsformen aufweist: Man kann sich ja auch selber loben oder strafen. In diesem Sinne kann man vielleicht sogar sagen, daß ein Individuum zu sein in gewissem Sinne eine Verantwortungsinstitutionalisierung im Persönlichen ist, im Kreuzungspunkt sozialer Handlungsverantwortung und Handlungserwartungen, also von normativen Ansprüchen, die wir als geregelte und institutionalisierte Verhaltenserwartungen auffassen oder als wertende Imperative, gerade auch in den notorischen Verantwortungskonflikten. Das Individuum bildet sich also selbst als eine Art von Regelpersönlichkeit, als eine Art von Selbstinstitutionalisierung oder Selbstinszenierung unter diesem Gesichtspunkt der Selbstkonstitution unter Verantwortlichkeitsaspekten. So jedenfalls kann man eine Art von übergreifender Verbindung zwischen Selbstverantwortlichkeit und der fremdbedingten Sozialverantwortlichkeit sehen. In der Tat haben auch manche Sozialpsychologen das so verstanden, z.B. Erving Goffmann, der 1959 das Buch über die Selbstdarstellung im alltäglichen Leben (The Presentation of Self in Everyday Life) geschrieben hat, das unter dem bezeichnenden Titel Wir alle spielen Theater auf Deutsch erschienen ist. Er faßt das Sich-selbst-Darstellen in sozialpsychologisch raffinierter Weise als äußere Verbindung auf. Aber ist das für

diesen Anspruch der moralischen Verantwortlichkeit ausreichend? Das scheint mir nicht so zu sein. Was die Konzeption des Menschen als des verantwortlichen Wesens dazu beitragen kann, diese Art von Selbststilisierung oder Selbstinstitutionalisierung in einem Fall zu vertiefen, das sollte nunmehr deutlich geworden sein.

66

5. Bhopal: Unverantwortbarkeit und Verantwortungslosigkeit: Eine Fallstudie

Zwischen dem Konzept einer tief sozialen Verankerung der Verantwortung, der Betroffenheitsverantwortung und jenem einer existentiellen Selbstverantwortung, die im wesentlichen die eigenen Handlungen, die Verantwortlichkeit im radikalen Sinne für die eigene Person, die eigene Entwicklung und die eigene Existenz in den Vordergrund stellt, hatten wir versucht, eine Überbrückung in Gestalt der Forderung nach einer Koordination oder Kombination von Verantwortlichkeiten im Zusammenbestehen sowohl der sozialen Fürsorglichkeitsverantwortung als auch der traditionellen Handlungsverantwortung zu gewinnen. Demgegenüber soll im folgenden auf neuere Entwicklungen zur Erweiterung des Verantwortungsbegriffs eingegangen werden; und ich möchte dabei insbesondere auch an einem drastischen realen Beispiel das oben (Kap. 3) erwähnte notorische Defizit an konkreter Humanität in den Zusammenhängen des systemtechnischen Zeitalters und der Gesellschaft der Experten, der Medien, der Organisationen und Institutionen schildern, also etwas, was man vielleicht Systeminhumanitäten nennen kann. Wir hatten schon über die Systeminhumanitäten bei den Medien und in der Öffentlichkeit gesprochen. Wir haben dabei gesehen, wie häufig, gleichsam

schleichend, Inhumanität zum Vorschein kommt. Zumal wirtschaftliche Interessen und Ziele überspielen oft die Belange der Humanität - besonders angesichts der Sicherheitsprobleme. Aus besonderem Grunde möchte ich auf ein Beispiel eingehen: Genau vor zehn Jahren geschah der größte industrielle Katastrophenfall in der Geschichte der Menschheit: Am 3. Dezember 1984 ereignete sich in Bhopal in Indien der

schwerste Industrieunfall aller Zeiten. Eine sog. „Verpuffung" aus einem Tank mit Methylisocyanat der Firma Union Carbide, einer amerikanischen Firma, die eine Tochterfirma in Indien hatte, verursachte den Tod von mindestens 3.000 Personen

unmittelbar - derzeit liegt die „offizielle" Zahl von Toten bei 4.500; man schätzt sogar bis zu 10.000 Tote, weil die Dunkelziffer sehr groß ist. Schätzungen gingen damals von etwa 100.000 bis 300.000 Schwerverletzten aus; ca. 500.000 Personen sollten dem Gas ausgesetzt gewesen sein. (Auch das scheint eine zu kleine Zahl gewesen zu sein; denn inzwischen stellt sich heraus, daß es 600.000 Aktenfälle mit Personenschäden gibt; diese Zahl bezeichnet somit eine untere Grenze oder Schranke.) Diese Katastrophe hat natürlich nicht nur Menschen betroffen, sondern auch viele Tiere. Die Frage nach der Verantwortung stellt sich rechtlich und moralisch. Juristisch ist der Fall inzwischen wohl durch einen Vergleich abgeschlossen worden, obwohl gewisse Revisionen noch anhängig sind. Es waren ursprünglich etwa zwischen 3 und 6 Milliarden Dollar Entschädigungsausgleichszahlung für die überlebenden Opfer gefordert worden, inzwischen hat man sich in einem sehr umstrittenen Vergleich auf 470 Millionen Dollar ge-

einigt, dafür auf strafrechtliche Verfolgung verzichtet. Den Verantwortlichen der

Firma, wer immer das nun gewesen sein mag, wurde - das sei nochmals betont - Verzicht auf strafrechtliche Verfolgung zugesichert. Das letztere wurde vom Obersten Gerichtshof Indiens freilich für rechtswidrig erklärt, doch noch keine Anklage gegen die

67

Firma erhoben. Es besteht jedoch offensichtlich, nach Presseberichten, noch ein Antrag auf Auslieferung gegen den früheren amerikanischen Vorstandsvorsitzenden von Union Carbide, Anderson. Dieser hat allerdings selber festgestellt, daß die Amerikaner überhaupt keinerlei Verantwortlichkeit hätten, denn es sei kein Amerikaner mehr in dem Werk vor Ort tätig gewesen, und ferner hätte man alles zur Sicherung getan, was nach den indischen Rechtsregeln erforderlich gewesen wäre, und die Sicherheitsmängel seien nur auf mangelhafte Wartung zurückzuführen. Inzwischen aber hat Union Carbide das Werk verkauft, der Verkaufserlös soll etwa bei 93 Millionen Dollar gelegen haben - ein Betrag, der per Gerichtsbeschluß den überlebenden Opfern und den Hinterbliebenen zugute kommen soll. Auch ist in der Presse gerade berichtet worden, daß inzwischen auf Konten der Regierung eine Entschädigungssumme in Höhe von 516 Millionen Dollar liege, die nicht verteilt werden könnte. Hinterbliebene von Todesopfern erhielten, (nur) wenn sie in Bhopal wohnten, eine Summe von 10.000 Rupien pauschal (ca. DM 550), und die überlebenden Opfer erhalten 200 Rupien monatlich, also etwa DM 11 (in Worten: elf!). Wer sich hingegen nur zufällig zu Zeit der Katastrophe in diesem Gebiet aufhielt, bekam bzw. bekommt nichts. Nun zum Unglück selbst. Es war faktisch so, daß in dieser Nacht Arbeiter die Rohre der Anlage zur Herstellung des Methylisocyanat reinigen sollten. Höchstwahrscheinlich hat ein unerfahrener Arbeiter, dem dies auch nicht mitgeteilt worden ist, Wasser in ein Rohr geleitet, das mit dem entsprechenden Tank verbunden war, und unterließ es dabei, eben weil er das nicht wußte, eine zusätzliche Sicherheitsklappe einzuklinken, so daß Wasser in den Tank eindringen konnte, der in diesem Moment mit etwa 50.000 Litern Methylisozyanat gefüllt war. Dieses MIC reagiert mit Wasser sehr heftig; Chloroform und Eisen sind daran beteiligt, und es entsteht eine exotherme Reaktion, eine Art von Explosion, genauer: eine Verpuffung. Man bemerkte schon bald an dem scharfen Geruch, daß der Tank ein Leck haben mußte; die Arbeiter merkten das, aber der Aufseher - es war um Mitternacht - beschloß, sich erst nach der Teepause mit der Sache zu befassen. Das heißt, die Leute hatten offenbar keine Ahnung, was für eine Gefahr drohte. Um halb eins war der Druck im Tank bereits so groß, daß dieser vibrierte und die Ummantelung zu bersten drohte. Ein großer Strahl weißen Gases entwich, und nun endlich begriffen die Arbeiter und Angestellten, welche Gefahr drohte. Sie versuchten noch - zu spät! -, einen Wasserstrahl auf den Tank zu richten, aber der reichte nicht hoch genug und wirkte überhaupt nicht mehr; die Gefahr der Explosion war so groß, daß die Männer dann schließlich ihre Gasmasken aufsetzten und in der „richtigen" Richtung, d.h. gegen den Wind, davonrannten, und den Tank sich selbst überließen. Aus diesem trat in einer Verpuffung eine ganze Menge von Giftgas aus: 27 Tonnen hochgiftigen Gases werden geschätzt. Die vorhandene Anlage zur Neutralisierung von MIC war abgeschaltet, funktionierte also nicht. Man warnte nicht die Offentlichkeit bzw. die Slumsiedlung um das Werk herum, die sich in den letzten Jahren dort aufgebaut hatte. 6 Jedenfalls kam es ungewarnt zu dieser Katastrophe. Die Bevölkerung war in keiner Weise vorbereitet. Die Sicherheits- und Kata-

16 Es wurde häufig der Firma der Vorwurf gemacht, daß sie eine Anlage in der Nähe einer dichtbesiedelten Stadt eingerichtet hätte, aber das war eigentlich ein unberechtigter Vorwurf; denn die Stadt hatte sich erst nach Gründung der Firma um diese herum auf dem freien Feld entwickelt, in durchaus typischer Weise, wie in Indien Slumsiedlungen entstehen. Das Entstehen

von Slumsiedlungen, sog. shanty towns, läßt sich in Indien nicht übersehen, nicht steuern, nicht lenken.

68

strophenmaßnahmen waren unzureichend. Diese absolute Katastrophe lief ohne jede Aktivierung eines Warnsystems, ohne Evakuierungsplan, ohne entsprechende Möglichkeiten, wirksam einzugreifen, ab und hat daher so viele Opfer gefordert. Offensichtlich waren Sicherheitsvorkehrungen in jeder Hinsicht nicht genügend ausgelegt und funktionsfähig, sowohl was die Anlagen angeht, als auch was die Vorbereitung der Leute angeht, die mit der Wartung beschäftigt waren. Es gab einfach keine Vorbereitungen für Notfalle, keine Evakuierungspläne, kein geschultes Personal, keine Sauerstoffmasken in ausreichender Zahl. Eine Warnsirene wurde nicht eingestellt; die Polizei wurde nicht informiert. Die Betriebspolitik war es ohnehin gewesen, kleine Lecks nicht zu melden; die Bevölkerung war nicht rechtzeitig gewarnt, überhaupt nicht gewarnt worden. Deswegen sind so ungeheuer viele Tote zu beklagen, von denen man viele bei rechtzeitiger Warnung vielleicht hätte noch retten können. Die Mängel beim Bedienungspersonal sowie bei den Managern der unteren Ränge waren besonders schwerwiegend. Offensichtlich handelt es sich darum, daß eine solche riskante Technologie nicht genügend abgesichert war und daß Sicherheit einen geringen Stellenwert hatte. Man könnte sogar vermuten, daß in gewisser Weise die billigeren Kosten der Sicherung die Firma dazu veranlaßt hatten, dieses Werk gerade in Bhopal zu bauen, denn in Institute (West-Virginia/USA) befanden sich vergleichbare Herstellungsanlagen, allerdings nicht mit so großen Tanks; man hat in Industrieländern nur sehr viel kleinere Tanks und speichert daher nicht so viel von einem solch hochgefährlichen Stoff an einer Stelle. In einem anderen Fall, dem Pinto-Fall, sagte der damalige Leiter von Ford, laccoca: „Safety doesn't pay": Sicherheit zahlt sich nicht aus. Das ist etwas, das die Katastrophe nun besonders in moralischer Hinsicht prägt, daß bei der Überlegung von Standortentscheidungen, von ökonomischen Bewertungen die Sicherheit nur eine untergeordnete Rolle spielt - jedenfalls in Ländern der Dritten Welt.

Der Moralphilosoph John Ladd hat diese Katastrophe, wie auch manche andere entsprechende Katastrophen im Zusammenhang mit fehlerhaften Computerentscheidungen, untersucht, und er hat mit mehreren Experten diskutiert, mancher Experte reagierte dann in der Weise, daß er ihm sagte (es handelte sich nach Ladd um einen „äußerst distinguierten Gentleman"): „Schließlich schätzen die Inder den Wert eines Lebens nicht so hoch ein wie wir". Ein indisches Leben ist also offenbar weniger wert als ein amerikanisches? Es war eine solche Menge von Kombinationen, ein Zusammentreffen von Mängeln, daß man das Verantwortungsgeflecht überhaupt nicht

aufdröseln konnte. Selbstverständlich, und das scheint allzumenschlich zu sein, schoben die entsprechenden Gruppen den Schwarzen Peter immer weiter herum: Verantwortlich ist immer der andere.

Die Verantwortlichkeitsfrage ist zumal deswegen in ganz prekärer Form zu stellen, weil natürlich keinem der Beteiligten irgendwie eine schuldhafte Absicht vorgeworfen werden konnte. Auch der Vizepräsident von Union Carbide damals hat das gesagt, man sei überhaupt nicht verantwortlich, man hätte nichts getan oder unterlassen, was irgendwie ursachlich für diese Katastrophe verantwortlich zu machen wäre, insofern sel man nicht

diree ver ausortich, aber mere Ables, der insert der ischen ng, leichsai sein

Verpflichtungen zu berücksichtigen" („our intent to honour our moral and humanitarian commitments"), und insofern erklärte man sich bereit, eine Art von Ausgleichszahlung zu leisten. Es ergab sich, daß diese ungeheure Katastrophe ein derart großes

69

Maß an Menschenleben und Leiden gefordert hat, daß dieses jenseits jeglicher Beschreibung oder Behandelbarkeit durch irgendeine menschliche Maßnahme liegt, im Grunde auch gar nicht durch eine Art von Verantwortung getragen werden kann oder gar wieder gut gemacht werden kann. Daß diese Art von Katastrophe dennoch möglich war und daß derartige Risiken in der hochtechnologischen Gesellschaft von heute vorkommen, ist sicherlich nicht zu bezweifeln. Man müßte also schon versuchen, im vorhinein Sicherheitsmaßnahmen zu treffen, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit solche Katastrophen ausschließen und deren Eintrittswahrscheinlichkeit bzw. die Schadensgröße zu minimieren gestatten. Die amerikanische Firma war sogar der Meinung, daß es sich möglicherweise um eine Art von Sabotageakt gehandelt habe, und hatte diese Theorie eine längere Zeit vertreten, aber diese konnte nicht aufrecht erhalten werden. Die Diskussion eskalierte dann: Ich hatte schon erwähnt, daß von einer Sabotage geredet wurde, aber das hat sich nicht bestätigt. Es wurde eine Mitverantwortlichkeit der Firma festgestellt, weil die Sicherheitsvorkehrungen nicht funktionierten. Die Amerikaner neigten dazu, das Verschulden auf die indische Tochtergesellschaft zu schieben, die Amerikaner hatten gerade noch 50.9% der Anteile.

Offensichtlich ist es in der Tat so, daß man dem einzelnen Beteiligten, insbesondere auch vor Ort, nicht eine schuldhafte Absicht unterstellen konnte, sondern daß es in

gewisser Weise eine Art Inhumanität im System war, ein Schlendrian oder eine ungenügende Sicherheitsvorbereitung, die vielfach in Ländern der Dritten Welt üblich ist und die dann zu einer solchen Risikogefährdung führte. Man kann also allenfalls von einer indirekten moralischen Schuld sprechen, nicht von einem schuldhaften Versagen der unmittelbar Beteiligten, insbesondere nicht in dem Sinne, daß man ihnen nun, wie etwa bei rechtlichen Fällen, ein schuldhaftes Versagen direkt vorwerfen konnte. Aber Defizite an Sicherheitsvorkehrungen fast aller Arten waren vorhanden, insbesondere nicht nur apparatemäßiger Art, sondern auch organisatorischer Art. Deswegen stellt sich die Frage, ob hier nicht so etwas wie eine Verantwortlichkeit vom ganzen System wahrgenommen werden müßte oder ob nicht in das System eine Art von Versagenswahrscheinlichkeit geradezu eingebaut war.

Ein befreundeter Chemiker hat mir zu diesem Uberlegungen einige Bemerkungen geschrieben, und gerade bei der Stelle über den GAU schrieb er, der GAU sei noch nicht einmal der schlimmste Unfall, das sei das Paradoxe an dieser Situation. In der Tat, Bhopal war wohl so etwas wie ein Super-GAU. Die Toxizität des Giftes war nicht genau untersucht. Da wird dann gesagt, auch von meinem Chemikerfreund, die Giftigkeit von Zwischenprodukten werde in der chemischen Industrie normalerweise nicht untersucht, denn das sind sozusagen Durchgangsstadien. Man kannte also die hochgiftige Wirkungsweise gar nicht genug und konnte gar keine hinreichenden Sicherheitsvorkehrungen treffen. Es waren zwar Sicherheitsanlagen zum Neutralisieren gebaut worden, aber die waren zum Teil nicht funktionsfähig, zum Teil abgeschaltet. Warum sind solche vorsorgenden Sicherheiten immer erst dann entwickelt worden, wenn die Katastrophen eingetreten sind? Das scheint ein allzumenschliches Gesetz zu sein, so daß ich diese Formulierung, die der Chemiker gebraucht hat, ich will seinen Namen nicht nennen, gerne als das „Chemikergesetz des Herrn M." bezeichne: Es ist nun einmal so in unserer Gesellschaft, „die Katastrophen, die nicht geschehen, stehen nicht in der Zeitung". Das ist richtig. Man ist nicht genügend von vornherein vorbereitet, um das alles entsprechend behandeln zu können. In gewissem

70

Sinne versagen alle Möglichkeiten, die Verantwortung im vorhinein auszulegen, so daß solche Katastrophen nicht vorkommen können. Man war natürlich in der Chemie nach langen Untersuchungen der Meinung, daß es im wesentlichen die mangelhafte Wartung gewesen sei, vielleicht auch die mangelhafte Schulung des Bedienungspersonals, aber auch, wie man dann zugeben mußte, die mangelhafte Bereitstellung oder Funktionsfähigkeit der Sicherheitseinrichtungen. Die Kühleinheit war seit Monaten nicht in Betrieb, die Gasreinigung enthielt nicht genug Ätznatron, um das MIC zu neutralisieren, die Kapazität war zu gering; der Reservetank war nicht leer, die Abfackelungsanlage für entweichendes Gas war zu klein usw. Das Bedienungspersonal

war nicht nur nicht genügend geschult, sondern auch nicht in der Lage, die unmittelbare kritische Situation in irgendeiner sinnvollen Weise einzuschätzen. (Das ergibt sich ja schon aus den Beschlüssen des Aufsichtsverantwortlichen, zunächst einmal die Tee-

pause durchzuführen und sich dann erst um die Warnsignale zu kümmern.) Daß es nicht genügend Vorbereitungen für Notfalle, Evakuierung und Ausrüstung gab, ist in der Tat der allgemeinen mangelhaften Vorsorge der Firma anzulasten; und es gibt noch viele andere Verhaltensweisen, die in der bürokratischen Behandlung von Vorbereitungen zu einer Art von eingebauter Unverantwortlichkeit führten. Man kann nicht von einer Schuldvoraussetzung in jedem Einzelfall reden, muß aber wohl in vielen Fällen von hochgradiger Fahrlässigkeit (die z.B. im deutschen Recht auch eine Schuldform ist) in diesen Zusammenhängen sprechen - und zwar auf allen Ebenen, und das ist wohl das Entscheidende. Das gesamte System war offensichtlich so schlecht ausgelegt, so schlecht gesichert und die Wartung und Wahrung der Aufgaben war so unzureichend, daß eine Art von kombinierter Verantwortlichkeit, insbesondere auf Seiten der Firma, der Planer, der Organisatoren, des Managements erzeugt wird, aber in diesem Sinne auch der Gesetzgeber, es gab damals keine Auflagen irgendeiner Art zur Erhöhung der Sicherheit. Es haben viele Umstände dazu beigetragen, so daß die amerikanische Firma sagte, das ganze Katastrophengeschehen sei eine Kombination

von allzu vielen ungünstigen Umständen, Zufällen - und das sei eben der Grund

gewesen. Es war offensichtlich auch so, daß ein Engagement und eine Einsicht in die Notwendigkeit, sich den schlimmsten Fall vorzustellen und entsprechend dafür vorzusorgen, nicht hinreichend gegeben war. Schließlich, als es dann zur Katastrophe kam, handelte man im wesentlichen nach dem Schwarzen-Peter-Prinzip. Das ist nun leider allzu menschlich und allgemein menschlich, die Probleme herumzureichen, schrieb mir mein Chemikerfreund. Und in der Tat ist es eine große Getahr, dab man im Grunde die Verantwortlichkeit hin und her schiebt und u.U. Sicherheitsrisiken in Kauf nimmt, welche die Öffentlichkeit tragen muß: Die Ökonomen sprechen hier von Externalisierung oder Sozialisierung der Kosten, die in der Erfolgsbilanz der eigenen Firma nicht zu Buche schlagen: Privatisierung der Gewinne, Sozialisierung der Kosten

- das ist (auch heute noch) ein Prinzip, das nicht nur in Ländern der Dritten Welt

Gültigkeit hat. „Safety doesn't pay" (lacocca). Gilt auch: morality doesn't pay? Das scheint

insbesondere in bürokratischen Großorganisationen, in Systemzusammenhängen, bei Großprojekten und Großanlagen eine große Gefahr zu sein, weil man zu sehr geneigt ist, alles auf die Regeln zu schieben und auf andere (und gerade nicht auf sich selbst!) - und man kann das ja auch nicht kontrollieren, man kann allenfalls appellieren - sich an das konkrete eigene Engagement im Sinne der von uns schon diskutierten konkreten Humanität zu halten. Es scheint so zu sein, daß alle traditionellen Dimensionen und Auffassungen der Verantwortlichkeit hier versagten. Es ist auch klar, daß man Verantwortlichkeit in diesem Zusammenhang einer solchen Großkatastrophe nicht mehr im traditionellen Sinne auffassen kann. Die Zurechnung

71

einer schuldhaften Absicht - oder wie die Juristen das nennen - einer „mens rea", also eine Absicht, die man dem entsprechenden Handelnden vorwerfen könnte, ist hier, wie erwähnt, nicht gegeben. Sie scheint generell für Technokatastrophen und Risikozumutungen im systemtechnologischen Zeitalter nicht mehr ausreichend zu sein, um eine Verantwortlichkeitsrelation zu begründen, denn subjektive schuldhafte Absicht hat zumeist keiner der Beteiligten an Großkatastrophen. Also muß irgend etwas zugrunde liegen: Unsere gesamten Überzeugungen von der Verantwortlichkeit scheinen irgendwie abgeändert oder differenziert werden zu müssen. Wir sollten nicht allein auf die traditionelle nachträgliche Zuweisung von Schuld an einzelne pochen; dies nützt nicht viel im Vorfeld der Katastrophenvermeidung und Risikobewertungen, insbesondere nicht im Umgang mit neuen brisanten, hochkomplexen Technologien, die solche Katastrophen hervorrufen können. Die traditionellen Vorstellungen von Verantwortlichkeit haben hier in gewissem Sinne versagt oder sich wenigstens als zu eng erwiesen; man kommt nicht mehr durch damit, daß man moralisch in rechtsanaloger Weise oder sogar rein rechtlich und bloß juristisch den entsprechenden Akteuren im nachhinein die Schuld zuweist, obwohl das Verantworten ex post nach wie vor

unbedingt nötig ist. Aber damit kann man das Problem einer Vorausverhinderung nicht hinreichend erfassen - und nicht einmal entstandene Schäden wesentlich mildern, wie das Beispiel der Entschädigung im Fall Bhopal ja pointiert zeigt. Es handelt sich im Grunde um ein Problem, das letztlich über alle rechtlich erfaßbaren und kodifizierbaren Dimensionen hinausgeht. Man kann also sagen, daß unsere traditionelle Standardvoraussetzung der Verantwortlichkeit zu sehr an diesem schuldorientierten rechtlichen oder legalistischen Modell orientiert ist. Man setzt meist voraus, daß es eine eindeutige Schuldzurechnung gibt, durch die einem Handelnden das Verschulden zugeordnet wird: Der einzelne Akteur habe allein oder als Auslöser entscheidend den Schaden oder die entsprechende Schädigung verursacht. Ferner wird unterstellt, daß eine einlinige kausale Verbindung zwischen seinem Handeln und dem Ergebnis besteht, wobei „schuldhafte Absicht" oder wenigstens ein schwacher Wille in dieser Hinsicht unterstellt wird, nämlich Pflichtversäumnis, passives Fehlverhalten, Leichtsinnigkeit oder Fahrlässigkeit. Wie gesagt, das erste war im Bhopalfalle nicht gegeben. Allenfalls kann man hier sagen, daß generell eine in vielen Projekten - zumal in der Dritten Welt - eingerissene oder eher schleichend etablierte Fahrlässigkeit herrschte, weil eben ungenügende

Sicherheitsvorkehrungen getroffen worden waren, die den Risikodimensionen in keiner Weise angemessen waren. Man kann also weniger auf die Schuldvoraussetzung im Sinne des Versagens einzelner allein eingehen, obwohl der Arbeiter, der wohl das

Wasser in das Tankrohr ließ, sicherlich „ursächlich" war (oder er wußte eben nicht welches Risiko er heraufbeschwor): Sondern es war das gesamte System, das im argen

lag. Komplexe Groß-Technosysteme mit Hoch-Risikotechniken zeigen besondere Auffälligkeiten, zumal im Vergleich mit den potentiellen Auswirkungsdimensionen ihrer „Störfalle" oder Katastrophen. Es scheint zudem so etwas wie eine „Neigung"

komplexer technologischer Systeme zu bestehen, daß eine Art von moralischer Unzulänglichkeit sich ausprägt: „moral deficiency", wie Ladd sagt. Später in einem an-

deren Zusammenhang nennt er das sogar eine Art von schleichender moralischer

„Korruption", die darin besteht, daß man insbesondere das Wohlergehen anderer und deren Interessen nicht genügend berücksichtigt und daß in industriellen und technischen Kontexten (zumal der angewandten EDV-Systeme) konkrete Humanitätsgesinnung fehlt, daß die Humanitätsbereitschaft mangelhaft ist. Er stellt fest, daß in einem komplexen System, insbesondere in einem großtechnologischen oder bürokratisch-

72

organisatorischen, sich gleichsam eine „mens deficiens humanitatis" ausprägt, ja, aus ope-

rationaler Notwendigkeit ausbilden muß, also eine Haltung oder Einstellung, die mit einer mangelhaften Berücksichtigung der Humanität charakterisiert werden kann. (Ich bin nicht so sicher, ob man hier überhaupt von „mens" oder „Geisteshaltung" sprechen kann, sondern es ist eine Art von sich quasi von selbst einspielender, einschleichender Wirkung, die entsteht.)

Es scheint hier jedenfalls eine besondere oder potentiell zumindest besonders dramatische Problematik jeglicher Hoch- oder Großtechnologie zu entstehen, die Anlaß geben muß, die Verantwortlichkeitsfrage differenzierter zu überdenken. Das Uberdenken kann nun nicht darin bestehen, daß man sagt, wir müssen die Schuldverantwortung letztlich bloß durch eine andere Konzeption ersetzen. Ladd geht ein wenig in diese Richtung, aber das halte ich nicht für richtig. Sondern man muß zusätzliche Dimensionen, eine erweiterte Verantwortlichkeit einführen, und insbesondere muß in dieser neu konzipierten „Verantwortlichkeit" auch generell und jeweils bezogen auf die Einzelsituationen, die Anteilnahme am Wohlergehen anderer, also die Grundidee der Humanität, wieder mehr verbreitet werden - und dies nicht nur durch Appelle, sondern auch durch konkret greifbare und greifende sowie praktisch sinnvolle Maßnahmen. Insbesondere darf es nicht mehr so sein, daß derjenige, der sich an die konkrete Humanität hält, der „Dumme" ist und bleibt und daß - wie in unserer Ellenbogen- und Anspruchsgesellschaft des „Rechthabens" üblich - derjenige, der sich nicht um Humanität und Humanisierung schert, stets privilegiert ist.

Ladds Versuch, diese Probleme zu lösen, besteht darin, daß er eine neue Art von positiver moralischer Verantwortlichkeit einführen möchte''. Die Tendenz zur Vernachlässigung humanitärer oder konkret humaner und ethischer Maßstäbe scheint in die großen technisch, vernetzt informationell und großorganisatorisch gelenkten Systeme geradezu „einprogrammiert" zu sein. Das hängt sicherlich mit den systematischen Vernetzungen zusammen, die dem einzelnen immer unübersichtlicher werden; der einzelne ist kaum noch in der Lage, das Ganze zu übersehen, obwohl er mitwirkt. Das ist insbesondere auch die Problematik bei Computerversagen oder -fehlern, die Menschenleben kosten können - man denke nur an die mehrfach vorgekommenen Flugzeugabschüsse aufgrund von falschen Identifikationen: Die Zivilmaschinen, die

von den Sowjets bzw. von den Amerikanern fälschlich als Militärjets eingeschätzt und abgeschossen wurden, bis hin zu dem Verlust von zwei englischen Schiffen im Falkland-Krieg durch eine Exorcet-Rakete, die allein deswegen nicht vom Abwehrsystem abgefangen werden konnte, weil dieses natürlich auf solche Raketen nicht spezifiziert war. Eigene Raketen konnte man nicht abwehren: Daß die Argentinier solche Raketen gegen die Engländer einsetzen würden, war in der Computerprogrammierung

17 Wie bereits angedeutet, hat er die neuartige Sicht aufgrund einer Diskussion mit mir entwickelt, denn ursprünglich war er der Meinung, es gäbe nur moralische Verantwortung von einzelnen Personen, Gruppen könnten gar nicht moralisch verantwortlich genannt werden, insbesondere auch nicht irgendwelche Systeme und deren Zustände. Doch jetzt ist er der Meinung, daß durchaus eine allgemeine moralische Verantwortlichkeit oder das Fehlen einer sol-

chen in Gestalt einer „moralischen Unzulänglichkeit" oder einer gar „moralischen

Korruption" eines Systems gesehen werden muß.

73

nicht generell vorgesehen und im einzelnen eben nicht beachtet bzw. später gesondert berücksichtigt worden. Solche Unachtsamkeiten und Fehler von Programmanpassungen gab es und gibt es immer wieder in den letzten Jahren. Es scheint sich also eine „blinde" oder leichtfertige (verläßlichkeitsselige) Beachtung von Programmen, Regeln, Strategien ohne Rücksicht auf die konkrete Situationsangemessenheit ausgebreitet zu haben, was insbesondere faktisch, wenn auch unbeabsichtigt, das Schicksal der Betroffenen beeinflußt oder gar besiegelt.

Man kann generell sagen, daß in unserer Gesellschaft eine Dominanz des eigenen Vorteils, des eigenen Interesses, der formalen Regeln, der formellen bürokratischen Schematisierungen vorhanden ist, die freilich keineswegs nur in hochtechnologischen Zusammenhängen zu finden ist, sondern gleichsam in unsere gesamte Zivilisation(sorganisation) eingebaut ist. Das führt dazu, daß die Anteilnahme, das Engagement, das eigene Betroffensein, das stellvertretende mitfühlende Betroffensein für die Sicherheit und das Wohlergehen anderer heruntergespielt oder ignoriert wird, daß sich in der Tat diese „moralische Unzulänglichkeit," von der Ladd redet, oder eine Art von verfahrensseliger Blindheit einschleicht. Man gerät sozusagen auf eine schiefe Ebene der durch Formalitäten erzeugten und sich durch blindes Vertrauen auf technische und organisatorische Verfahren und institutionelle Maßnahmen verstärkenden Unachtsamkeit, also in einen moralischen Schlendrian - insbesondere und gera-

de dann, wenn man alles so schön bürokratisch geregelt hat, an abstrakten

Konzepten und operationalen Modellen bzw. formellen Prozeduren festhält, ohne im jeweils konkreten Zusammenhang richtig und angemessen zu entscheiden bzw. die entsprechende konkret-humane Einstellung dazu zu finden. Es ist leicht, allzu leicht, sich auf formale Verfahren zu verlassen - zumal diese allgemein in der Massengesellschaft unverzichtbar geworden sind. Es ist in der Tat so, daß solche bequemen Verläßlichkeitsprojektionen immer häufiger dazu führen, daß man die Verantwortlichkeit auf die Systeme selber abschiebt. Weizenbaum hat in seinem frühen Buch Macht und Ohnmacht der Computer davon berichtet, daß ein amerikanischer General angesichts der vielen Falschalarme bei den NATO-Sicherheitssystemen (es kamen Hun-

derte von Fehlalarmen vor) gefordert hat, man müsse eben die Systeme „vertrauens-

würdiger"machen, denn die Systeme tragen ja heute die Verantwortung! Das hat so auch ein deutscher Informatikpädagoge, Klaus Haefner, in einigen Büchern geschrieben: Die Systeme tragen heute die Verantwortung. Denn der einzelne ist gar

nicht mehr in der Lage, die Anwendung der Informationssysteme detailliert zu übersehen und die Situation in allen Verästelungen verläßlich einzuschätzen oder überhaupt schnell genug zu reagieren. Insbesondere gilt das bei den automatischen Warnsystemen, die in der NATO auch zunehmend perfektioniert werden sollen, allerdings immer noch letztlich abhängig waren von den entsprechenden „menschlichen" Beurteilungen des Admirals, Generals oder Präsidenten. So ähnlich, meinte Ladd, ergebe sich geradezu eine systemerzeugte moralische „Defizienz" oder „Korruption", insofern als man (allzu leicht) dazu neigt, sich von der Verantwortung entlastet zu

fühlen, indem man die auf die Systeme zu schieben sich angewöhnt (hat). Der Mensch ist überfordert, also muß er die Systeme verläßlich machen, „vertrauenswürdig" (dieses - rein moralische - Prädikat macht freilich nur im zwischenmenschlichen Zusammenhang Sinn). Aber faktisch ist etwas Richtiges daran: Wir sind ja in der Tat in vielfacher Hinsicht abhängig geworden vom nahezu perfekten Funktionieren der Systeme und müssen uns in unserem alltäglichen Leben ebenso wie in bereichsübergreifenden Zusammenhängen oder in extremen Situationen auf sie „ver-

lassen". Handelt es sich nun bei den Programmierern und Betreibern solcher 74

Informations- und formalisierter Entscheidungssysteme um schlimme Menschen, bösartige Verbrecher oder Schurken? Nein, sagt Ladd, es sind ganz normale Leute. Er übernimmt von Hannah Arendt den Ausdruck, den sie im Zusammenhang mit dem Eichmann-Prozeß entwickelt hat, nämlich jenen von der „Banalität des Bösen" und wandelt ihn um in eine Behauptung von der Banalität der moralischen Unzulänglich-

keit (1992, 298): Man könnte das nach ihm auch anders wenden und von der „systemerzeugten moralischen Korruption", die allgegenwärtig und insofern „banal" ist, reden. Überall dort, wo ein Interesse für das Wohlergehen anderer immer auf den zweiten Platz gesetzt wird - gegenüber dem eigenen Vorteil, dem eigenen sozialen oder beruflichen Aufstieg, der eigenen Karriere, dem Gewinn, der Marktbeherrschung, der Verfahrensuniversalität, -leichtigkeit, der Kostenminimierung usw., ist eine solche „banale" „moralische Unzulänglichkeit" gegeben - und sie wird auch ausführlich und pflichtbewußt von Mitarbeitern und Angestellten befolgt, die dazu geradezu verpflichtet sind. Zur Systeminhumanität, zur moralischen Systemunzulänglichkeit oder gar „antihumanen Korruption"verpflichtet? Die Ausführenden dürfen gar nicht irgendwelche humanitären Interessen in ihre Überlegungen und Entscheidungen mit hineinnehmen; die Fälle müssen - aus Gründen der Gerechtigkeit! - gleich behandelt werden. Man denke an die Probleme, die sich beispielsweise bei einem zu starken persönlichen Engagement eines Arztes auf der Intensivstation stellen. Ein solcher Effekt der „banalen moralischen Unzulänglichkeit" erzeugt offensichtlich gewisse Erscheinungen der Systeminhumanität oder der in hochtechnologischen organisatorischen Systemen geradezu unvermeidlich eingebauten Inhumanitäten oder mindestens die genannten moralischen Unzulänglichkeiten, einer Art von Defizienz oder gar von schleichender „moralischer Korruption" '. Alles das wird natürlich dadurch besonders verstärkt, daß die technischen Eingriffsmöglichkeiten, die Großtechnologien und die Anwendung von Systemtechnologien irgendwie alle

dazu führen, daß die Effekte von Auswirkungen, Versagen, Kombinationen von

ungünstigen Umständen viel größer, viel drastischer geworden sind und immer noch werden. Ein übriges veranlaßt das ansonsten unvermeidliche und insofern auch generell humanitär „segensreiche" und gerechtigkeitsfördernde Wirken von bürokratischen Entscheidungen, Mechanismen, Verordnungen. Das Segmentieren, das Abziehen von allem Amtshandeln auf Rollenfunktionen ist aber eine Gefahr für die konkrete Humanität. Ferner besteht die Tendenz, daß man durch ein generelles nutzenorientiertes Denken, das durch die Maximierung des eigenen Nutzens auf den eigenen Vorteil gerichtet ist - „Safety doesn't pay!" (s.o.) -, Sicherheitsinteressen anderer ungebührlich außer acht läßt.

Mit anderen Worten: man muß wohl allgemein sagen, daß die traditionelle Auffassung der Verantwortung durch Schuldzuweisung zu eng ist, um solche komplexen Situationen der extrem verflochtenen potentiellen Gefährdungen erfassen zu können - insbesondere im vorhinein zureichend berücksichtigen zu können. Deswegen versucht Ladd nun zwei Konzepte der Verantwortlichkeit einander gegenüberzustellen - und dabei im wesentlichen seinen „neuen" Begriff einer „perspektiven moralischen Verantwortlichkeit"', die nun humanistisch, human oder humanitär orientiert ist, in den Vordergrund zu rücken. Er meint, daß man nicht mehr von der traditionellen Standardkonzeption der Verantwortung ausgehen könne, die eben „Schuldverantwortung" oder „Rechenschaftsverantwortung" genannt werden könnte und die eigentlich die moralische Idee enthält, daß jemand für ein schuldhaftes Verhalten oder Versagen verantwortlich gemacht wird, getadelt wird und im seltener vorkommenden, positiven Fall gelobt wird. Deswegen spricht Ladd explizit von „blame responsibility" oder

75

„Tadelns(würdigkeits)verantwortung" 18 Die stelle die klassische Auffassung dar, das überholte Standardmodell. Diese Rechenschaftsverantwortlichkeit äußert sich als das traditionelle Schuldzuweisen, das an der legalen oder rechtlichen Zuweisung von Schuld, an der Haftbarkeit, orientiert ist. Dieses für unsere traditionelle Auffassung der Verantwortlichkeit charakteristische Modell sei darin zu sehen, daß man eben immer einen Schuldigen zu finden versucht, einen Sündenbock auszeichnen will. Ladd glaubt nun, daß diese Art von exklusiver Sündenbockstigmatisierung und die einen Verantwortlichen heraushebende Tendenz der Verantwortungszuschreibung ein (zu) mechanistisches Modell der „alten Ethik" ist. Er sagt in einer neueren Arbeit (1992a): »Die alte Ethik und der verwandte Begriff der Verantwortung nehmen ein veraltetes

Vorbild der Handlung und der Kausalität an, nämlich ein mechanisches Modell." Man stellt das Handeln wie eine Ursache-Wirkungs-Beziehung einlinear dar und kommt dann gleichsam zu einem Kettenbegriff der Verantwortungsrelation, während in den heute eher kennzeichnenden komplexen Systemzusammenhängen viel stärker Vernetzung, Vielfältigkeit und Vielschichtigkeit auch der kausalen Beziehungen er-

kennbar sind, die sehr viel schwieriger auf eine solche einlinige oder gar monokausale Verantwortlichkeit nach der Kettenvorstellung zu reduzieren sind. Die traditionelle Tadelnsverantwortlichkeit neigt dazu, exklusiv, „geschlossen" zu sein, sie ist auf einen Sündenbock, auf ein Individuum ausgerichtet. Demgegenüber müsse hinfort eine andere Verantwortlichkeit im Vordergrund stehen, die eher und mehr auf das künftig zu Tuende und auf das „Not-wendige" ausgerichtet ist, im Sinne einer Vorsorgeverantwortung oder Vorausverantwortung, Fürsorglichkeitsverantwortung offen sei für Mitbeteiligung, für viele an der Verantwortung Beteiligte oder zu Beteiligende, die entsprechend ihrer Mitverantwortlichkeit dann auch zu handeln haben. Der Unterschied sei, daß die erste Verantwortlichkeitskonzeption exklusiv ist in bezug auf Individuen, die zweite aber inklusiv ist, also die Mitbeteiligung vieler Mithandelnder einschließt.

Ladd meint zudem, die Schuldverantwortlichkeit sei in erster Linie vergangenheitsorientiert (ex post), sie sei eine Nachverantwortlichkeit, während die Vorsorgeverantwortlichkeit zukunftsorientiert (ex ante) ist. Sie ist in diesem Sinne auch eher positio handlungs-

gerichtet, während die traditionelle negativ an Schäden und Unterlassungen orientiert

Der letzte Unterschied, der allerdings bei Ladd nicht so ganz klar wird, ist, daß die "blame responsibility" sich direkt auf Handlungen des einzelnen bezieht, sie ist direkt handlungsorientiert, an einen Handelnden geknüpft, während bei der Vorsorgeverantwortung eine indirekte Verantwortlichkeit in der Weise bestehen kann, daß dritte Beteiligte entweder betroffen sein können oder ein entsprechendes moralisches Beurteilungsvermögen wahrnehmen, d.h. in der Lage des moralischen Richters oder Urteilenden sein können. Hier scheint mir Ladd nicht ganz klar zwischen der Orientierung am direkten Handeln und der Orientierung an der moralischen Metaverantwortung getrennt zu haben. Der Gesichtspunkt des Indirekten, in bezug auf die indi-

rekten Folgen von Handlungen, die über den Folgen der Aktionen des oder der

18 Der blame responsibility können wir eine Vorsorgeverantwortlichkeit gegenüberstellen; diese umfaßt so etwas wie eine caring mentality, eine Art Einstellung der Fürsorglichkeit und der Berücksichtigung des Interesses am Wohlergehen anderer, also Humanität, konkrete Huma-

nität.

76

unmittelbar Handelnden hinaus gehen, z.B. dritte Betroffene angehen, ist etwas anderes als die Indirektheit, die sich durch das moralische Urteil in bezug auf einen ganzen Zusammenhang ergibt. Diese Gegenüberstellung von „direkt" und „indirekt" von - wie Ladd sagt - „mikroethisch" und "makroethisch", ist von dieser Metabeurteilung zu trennen; es sind mindestens zwei analytisch zu unterscheidende Gesichtspunkte.

Jedenfalls ist generell klar, daß für Ladds neues Verantwortungskonzept Gesichtspunkte des zu Tuenden eine entscheidene Rolle spielen - gerade auch für die Einstellung der an konkreten Situationen orientierten humanen Wahrnehmung der Verantwortlichkeit gegenüber der traditionellen Zuweisung der Tadelnswürdigkeit im Sinne des Schuldvorwurfs. In diesem neuen Entwurf kann berücksichtigt werden, daß insbesondere in Zusammenhängen wie bei dem Bhopal-Katastrophenfall oder beim Computerversagen in der Praxis kein Schuldvorwurf an den einzelnen erhoben werden kann, sondern allenfalls so etwas wie eine Defizienz des gesamten Systems, das durch diese Art von Verantwortungsproblematik überfordert ist, festgestellt werden muß. Deswegen meint Ladd, daß die zukunftsorientierte (prospektive) Verantwortlichkeit, die sich positiv auf das zu Tuende, auch indirekt auf moralische Urteile bezieht, die viele Beteiligte tendenziell einbezieht, im Grunde die traditionelle Standardauffassung der schuldzuweisenden Verantwortlichkeit ablösen müßte.

Hierzu ist sicherlich kritisch zweierlei einzuwenden: Einerseits handelt es sich um keine Ablösung. 19 Es ist natürlich kein Ersetzungsprozeß, sondern eine Erweiterung, Er-

gänzung, vielleicht sogar Verschärfung. Es gibt also neben der traditionellen Schuldoder Kausalverantwortung eine „neue Art" von Verantwortlichkeit, die abhängig ist von der gewachsenen und insbesondere technisch multiplizierten oder durch technische Entwicklung gewachsenen Eingriffsmacht des Menschen. 2 Je größer die Macht, je größer die Aktionsmöglichkeiten, je größer insbesondere die Aktionsweite, desto größer auch die Verantwortlichkeit desjenigen (oder derjenigen), der (die) die Macht

oder die Instrumente in der Hand hat (haben). Das ist übrigens auch schon lange

bekannt, und ich habe das auch schon vor Jonas festgestellt (Verf. 1979, 69ff.), aber es

ersetzt in keiner Weise nun die traditionelle, auch retrospektive Schuldverantwort-

lichkeit, sondern ergänzt diese. Es handelt sich (sowohl bei Ladd wie schon bei Jonas) also um einen zusätzlich erweiterten Begriff (oder gar zwei Begriffe) von Verantwortlichkeit, die aber heute in unserer komplexen Gesellschaft mit ihrer Verbindung der

verschiedenen Bereiche und der Systematizität der Wirkungszusammenhänge viel wichtiger geworden ist. Das gilt insbesondere bei der Handhabung von Risikosituationen und komplexen Systemen. Die zweite Kritik, die ich erheben würde, ist die methodische Bemerkung, daß Ladd dieses Konzept allzu sehr über einen Leisten schlägt. Er variiert die Zuschreibung nicht

19 Das ist eine parallele Kritik, wie ich sie auch Hans Jonas gegenüber erhoben habe, der ja auch meinte, die traditionelle Kausalhandlungsverantwortung müsse ersetzt werden durch die übrigens gar nicht so neuartige allgemeine Fürsorgeverantwortung, die jemand hat für von ihm

und seiner Macht abhängige Wesen. 20 Im Gegensatz zu Jonas' Fürsorglichkeitsverantwortung ist die erweiterte Versorglichkeitsverantwortung in vernetzten soziotechnischen Systemen in der Tat „neuartig" oder wenigstens heute in vormals unbekannter Schärfe und Reichweite aktualisiert.

77

entsprechend der Merkmale unabhängig voneinander, sondern zieht alles auf zwei Dimensionen ab. Die Schuldzuweisung ist immer im nachhinein, sie ist stets gerichtet auf einen einzelnen, sie ist bloß negativ, sie ist ausnahmslos direkt nur auf den Handelnden bezogen, sie funktioniert „mikroethisch". Die Vorsorge- oder Fürsorglichkeitsverantwortung ist dagegen immer zukunftsorientiert, sie ist stets einschließend (sie bezieht sich nicht exklusiv auf den einzelnen), sie ist positiv, sie ist aber auch indirekt. 21

Ladd macht also im Grunde einen Fehler, den man in der Psychologie und in der Soziologie den „Vier-Felder-Tafel-Fehler" nennt und der darin besteht, daß man, wenn man zwei Kategorien oben in der Zeile einer Matrix und zwei Kategorien auch in einer Spalte einander gegenüberstellt, Merkmalserfüllungen nicht unabhängig variiert. Natürlich findet sich auch schuldhaftes Verhalten, das in die Zukunft wirkt; klarerweise gibt es auch Möglichkeiten, im vorhinein Sündenböcke auszuzeichnen. Perspektivität und Exklusivität, aber auch Retrospektivität und Inklusivität können sich kombinieren. Ebenso alle diese Merkmale wieder mit handlungsgebundener Direktheit oder moralisch urteilender Indirektheit bzw. mit der Betroffenheit von Dritten. - Man kann sich also überlegen, daß die Flexibilität dieser an sich sehr sinnvollen Merkmale sehr viel größer ist als diese einfache Gegenüberstellung in zwei einander ausschließende Arten oder Klassen von Verantwortlichkeit. Diese zweite tritt also zu der ersten Kritik hinzu, daß nur noch die zweite prospektive, indirekte, positive, inklusive Verantwortungsart für die hochtechnologische Gesellschaft wichtig sei, und die erste das traditionelle überlebte, überholte Modell der alten Verantwortung sei, die heute keine Rolle mehr spiele. Das eben Gesagte mag vielleicht etwas übertrieben ausgedrückt, zum Zwecke der klaren Darlegung ein wenig verschärft oder pointiert sein, aber tendenziell ist das bei Ladd enthalten - ganz ähnlich wie in der entsprechenden, auch sehr drastischen Zweiergegenüberstellung bei Hans Jonas. Es ist offensichtlich so, daß die Verantwortungsprobleme differenzierter sind und flexibler wahrgenommen und auch diskutiert werden müssen, als man sich das mit allzu einfachen (Zweier-)Kategorien und Dichotomien vorstellt. Aber immerhin ist eines wichtig

- und das ist sicherlich auch ein Verdienst von Ladd - nämlich einzusehen, daß

Gesichtspunkte der Schuldverantwortlichkeit und der Sündenbockorientierung, der Rechenschaftslegung allein nicht ausreichen, um die intrikaten und differenzierten Verantwortungsprobleme in der hochkomplexen soziotechnologischen Massengesellschaft zu erfassen. Natürlich ist das formale Konzept einer nur nach vorne gerichteten Verantwortlichkeit nicht ausreichend. Das ist ein Punkt, den Ladd durchaus betont, indem er sagt, daß eine subjektive Haltung, eine persönliche Einstellung der Vorsorge- und Fürsorgebereitschaft hinzukommen muß, also das, was wir Humanität genannt haben, damit die prospektive moralische Verantwortlichkeit überhaupt wirksam werden kann. Ladd hofft im Grunde, daß allein die Humanität(sgesinnung) in der Lage sein wird, die Probleme praktischer Konkretisierung unter dem Gesichtspunkt dieser neuen Verantwortlichkeit mit erfassen zu können. Die Annahme eines solchen weiteren und umfassenden Begriffs der moralischen Verantwortlichkeit im Sinne der Vorsorge- oder Vorverantwortlichkeit oder Fürsorglichkeitsverantwortlichkeit ist vielleicht, sagt Ladd, unsere einzige Hoffnung. (Ähnlich hatte ja Albert Schweitzer allein von der Huma21 Das ist im gewissen Sinne eine Aufweichung der Striktheit der dichotomen Zuordnung: Sie bezieht sich auf den einzelnen, aber immer auch auf die Sollensvoraussetzungen, die Sollenserfordernisse desjenigen, der beurteilt.

78

nia gesinnung er einemen die ethische an: erhalt. ebesuser sagt hadd müsse man sich gegen die sich einschleichende „moralische Unzulänglichkeit" ', „Korruption" oder Unverantwortlichkeit wenden. Man habe also moralische Verantwort-

lichkeit als eine Art von humanitärer, humaner und humanitätsorientierter Tugend aufzufassen, die nicht gesetzlich-rechtlich verordnet werden kann, die aber als einziges Mittel, das ihm vorschwebt, überhaupt greifen könnte, um die mehr oder weniger organisierte, sytsemerzeugte oder schleichend implizierte oder gar einprogrammierte Unverantwortlichkeit im öffentlichen Leben, insbesondere im übermäßigen Sichverlassen auf Computerentscheidungen zu überwinden. Das letzte sei geradezu eine Art von öffentlichem Laster geworden, das darin bestehe, daß man alles bürokratisch, technokratisch organisiere und auf diese Weise im Grunde die eigentlichen Prioritäten umdrehe.

Die Reichweite und die Auswirkung dieser moralischen zukunftsorientierten Verantwortlichkeit sieht Ladd als entscheidend für die Zukunft unserer Gesellschaft an. Man muß also eine Art von positiver, weiterer, offener Verantwortlichkeit im Sinne dieser genannten Merkmale entwickeln und fördern sowie verbreiten. Diese Tugend könne als eine generelle Leitorientierung verstanden werden, als ein Bündel von regulativen heuristischen Prinzipien, die uns dann auch als einzelne (an)leiten müßten - und die insbesondere dazu geeignet sind, unsere kritischen Urteile über Systemzusammenhänge unverantwortlicher Art und über systemerzeugte Inhumanitäten zu ermöglichen und zu formen. Natürlich - und das ist auch ein Gesichtspunkt, der in der Diskussion, die ich mit ihm geführt habe, herausgekommen ist - ist Verantwortlichkeit in vielerlei Hinsicht auch abhängig von Graden, Perspektiven, Abstufungen und insbesondere von der Art und Weise und dem Umfang, wie man Macht ausüben kann oder welche Eingriftsmöglichkeiten man hat. Je größer die Einwirkungsmöglichkeiten eines einzelnen innerhalb eines Systems und auf ein System, desto größer und zentraler ist auch seine Verantwortlichkeit. Das ist klar. Mit anderen Worten: man kann nicht die Verantwortlichkeit nur einem einzelnen als dem obersten Repräsentanten eines Systems allein zuschieben

oder er sich selber zuschreiben - solche Versuche hat es freilich immer gegeben -, sondern entsprechend der Einwirkungs- und Mitwirkungsmöglichkeit des einzelnen übernimmt dieser innerhalb eines Systems oder in bezug auf ein System, daß er auch u.U. von außen sehr stören, gar schädigen oder vernichten kann, eine entsprechende Verantwortlichkeit, die von seinen Einwirkungsmöglichkeiten und auch von den Herausforderungen und Anforderungen der Situation abhängen.

Ladd sagt, daß die einzige Möglichkeit, der moralischen Unzulänglichkeit zu wehren, „die gute Eigenschaft" ist, welche die „westliche philosophische Tradition (z.B. in den Arbeiten von Hume und Kant) üblicherweise als 'Humanität'" bezeichnet hat (1992, 296). Die Humanität oder das Fehlen derselben ist ihm in gewisser Weise Anlaß, das Prinzip der „mens deficiens humanitatis" zu einer Grundlage der Verantwortlichkeit zu

machen: Humanit en eiten ure e stachtung iher die Rolle der Veraen Wortung

(ebd. 297) - umso mehr, je mehr wir in Systemzusammenhängen operieren - oder sollen wir sagen: funktionieren ... Wir dürfen eben nicht nur funktionieren. Wir können nicht unsere Humanität generell und zumal auch nicht unsere konkrete Humanität und die Einschätzung der jeweiligen Situation an der Garderobe abgeben, wenn

79

wir in unsere beruflichen Rollen eintreten. Die Tugend der Verantwortung oder der Verantwortlichkeit ist in diesem Sinne eine humane oder der Humanität verpflichte-

te. Sie hat Anteil am „Wohlergehen" der anderen zu nehmen; das ist geradezu das wesentliche definitorische Merkmal der moralischen Humanität und insbesondere der

konkreten Humanität in konkreten Zusammenhängen. Uberall in unserer Gesellschaft

können wir beobachten, daß, wo das Wohlergehen anderer und deren Sicherheit

betroffen ist, dieser Appell an Humanität vernachlässigt wird: Man ignoriert ihn

dadurch, daß das Humane und die Humanität in unseren üblicherweise reüssierenden Kriterien der Beurteilung von Erfolg, Leistung, Gewinn, Sicherheit, Marktanteil u.ä. kaum eine Rolle zu spielen scheinen. Wir sind also in einer Gesellschaft, die tendenziell den Inhumanitäten Vorschub leistet, und zwar aufgrund von allgemeinen Regelungen, die an und für sich im Interesse der Humanität erfunden worden sind und insbesondere zur humanen oder humanitätsfordernden Organisation großer Systeme Anlaß geben sollten. Aber das allzu starke, geradezu technokratische Sichverlassen auf

solche generellen Verfahren, Organisationsroutinen, Systemzusammenhänge, Regeln, Gesetze, Normen und die entsprechenden segmentierten, auf bestimmte Aufgaben und Bereiche und Rollen zugeschnittenen Erwartungen kann u.U. die konkrete Humanität geradezu verhindern.

„Dieser Effekt wird"', so sagt Ladd (ebd. 298f.), „verstärkt durch die gefährlichen Tech-

nologien, mit denen wir uns gedankenlos abgefunden haben, und durch die bürokratische Maschinerie, die organisiert, wie wir die Technologien anwenden, und die bestimmt, wie wir einander behandeln. Diesen Institutionen liegt die vorherrschende Ideologie zugrunde, die zutreffend 'utilitaristischer Individualismus'genannt wurde. Diese Ideologie legitimiert die Priorität, die man sich selber gegenüber anderen einräumt, und die der materiellen sozialen Werte wie jenen, selbst voranzukommen. Sie lehrt uns auch, daß das Engagement und das Interesse für andere supererogatorisch ist (über die zu verlangende Pflicht hinausgeht), d.h., es ist selbst eine Angelegenheit einer individuellen Präferenz ... Gemäß dieser Ideologie ist Tugend beliebig und jedem freigestellt; sie ist 'Heiligen und Helden' vorbehalten. Unsere Einstellung gegenüber dem Whistle-blowing (dem öffentlichen Aufdecken moralischer Übelstände bzw. Verfehlungen) illustriert, wie weit wir gekommen sind, indem wir unsere Wer-

te von unten nach oben verkehrt haben: Das Interesse an Sicherheit, das uns alle motivieren sollte, wurde in die Privatsphäre von Helden, 'troublemakers' und Ver-

rückten abgeschoben. Unsere Gesellschaft nimmt an, daß es bloß eine Angelegenheit individueller Wahl (und des persönlichen Risikos) ist, zu entscheiden, ob wir unsere

Aufmerksamkeit auf Gefährdungen und Risiken lenken oder nicht, statt, wie es eigentlich sein sollte, dies für eine Pflicht zu halten, die allen Bürgern als verantwortlichen Mitgliedern einer Gesellschaft obliegt."

Mit anderen Worten: wir haben so etwas wie eine schleichende Negierung der konkreten Humanität in Kauf genommen, eine Art von mehr oder minder bewußter, oft aber eben auch schleichend wirkender Abschiebung von konkreter Ubernahme von Verantwortung in entsprechenden Situationen oder auch schon bei Gefähr-

dungen, die eintreten könnten. Ladd sagt, wir brauchten eine neue Orientierung an „Bürgertugend", an Zivilcourage:

»Bürgertugend ist eine Tugend, die von allen Bürgern als Bürgern gefordert wird. Sie ist nicht etwas Beliebiges - nicht etwas nur für Heilige und Helden. Ein tugendhafter Bürger, und das sollte jeder sein, sollte ein Engagement für das Allgemeinwohl zeigen

80

und für das langfristige Wohlergehen anderer Personen in der Gesellschaft, selbst

wenn dieses individuelle Engagement Opfer der einen oder anderen Art erfordert oder

den eigenen privaten Interessen oder gar dem Vorankommen auf der Leiter zum

materiellen Erfolg geringere Priorität einräumt" (ebd. 299).

Das ist alles ein Appell an konkrete Humanität und für eine entsprechende Einstellung. Aber wie immer, gilt auch hier, daß dies zu fordern leichter gesagt als getan ist. Insbesondere kann man durch bloße individualistische Appelle an einzelne und an deren Gesinnung offenbar die gesamtgesellschaftliche Rettung nicht erreichen. Es gibt auch hier kein Wundermittel, kein Allheilmittel. Man muß versuchen, nach Möglichkeit die konkrete Humanität, wenigstens was deren Chance auf Verwirklichung angeht, in eine bessere Situation zu bringen. Da reicht nicht die Besinnung auf traditionelle Werte allein, sondern man muß das Ideal der Humanität und Moralität in der Diskussion gerade auch mit neueren Herausforderungen, Chancen und Risiken zu verwirklichen und gegebenenfalls gegenwartsnah anzuwenden, differenziert neu zu formulieren versuchen, ohne die traditionelle Intuition dabei aufzugeben oder zu verraten! Ich denke, dabei ist es hilfreich, die verschiedenen Dimensionen und Schichten der Verantwortlichkeit im konkreten, pragmatischen Zusammenhang zu analysieren. Die Entscheidung müssen wir jeweils natürlich selber treffen, das kann uns keine Ethik abnehmen, aber dennoch ist die auf die einzelnen beschränkte appellatorische Ethik nicht ausreichend, um diese gesellschaftlichen Probleme zu lösen. In der Tat kann wohl erst eine genauere Diskussion unserer Verantwortlichkeiten in verschiedenen Bereichen, auf verschiedenen Schichten und in verschiedenen Arten der Verantwortlichkeit einen wesentlichen Baustein dazu beitragen, daß wir die Verantwortungskonflikte, in welche wir geraten, besser erkennen, und daß wir dadurch dann - hoffentlich - auch eher in die Lage kommen, in wirklich konkret-humaner Weise, vernünftig und „verantwortlich" die aktuellen Konflikte anhand von bestimmten humanitätsgebundenen Prioritätsregeln zu entscheiden. In dubio pro humanitas concreta!

81

6. Typen und Dimensionen der

Verantwortlichkeit

Im Wörterbuch des Teufels (1911) von Ambrose Bierce wird der Begriff „Verantwortung" wie folgt de niert: „ Eine abnehmbare Last, die sich leicht Gott, dem Schicksal, dem

Glück, dem Zufall oder dem Nächsten aufladen läßt. In den Tagen der Astrologie war es üblich, sie einem Stern aufzubürden." Diese Definition ist natürlich keineswegs so

unzutreffend oder gar bloß ironisch, wie man meinen könnte. Im Umgang mit Verantwortungszuschreibungen - und Verantwortung ist im wesentlichen ein Zuschreibungsbegriff - sind in der Tat Abschiebungsstrategien vielfach zu finden, auf einige

habe ich schon verwiesen. Das Verweigern oder pauschale Vorweg-Abschieben von Verantwortlichkeit findet sich auch heutzutage noch - insbesondere auch in der Wis-

senschaft. So hat zum Beispiel die Studentenzeitschrift der Universität Karlsruhe

Interviews mit drei deutschen Physiknobelpreisträgern veröffentlicht. Besonders

drastisch in dieser Hinsicht ist jenes mit Rudolf Mößbauer, der gefragt wurde von

Ventil (Nr. 94, 1994; vgl. a. u. in diesem Band S. 113ff.): „Es wird oft über die Verantwortung der Naturwissenschaften gesprochen. Was denken Sie darüber?" Antwort: „Das wird vor allem in Deutschland sehr betrieben, auf dem Gebiet der Grundlagenforschung hat man überhaupt keine Verantwortung (Hervorhebung vom Verf.). Wir versuchen zu verstehen, wie die Natur arbeitet. Etwas anderes ist es, wenn man angewandte Physik be-

treibt, aber auch das wird hierzulande maßlos übertrieben." Er verweist dann auf die Reaktortechnologie und insbesondere auf die Diskussion um die Kernkraftwerke und meint: „Deutschland steuert durch die Wissenschaftsfeindlichkeit in eine ganz schwierige Phase". Er scheut sich nicht, große Worte zu machen: Etwas später äußert er, als er gefragt wird, ob er auch philosophisch interessiert sei wie manche anderen Physiker: „Das bin ich nicht, ich bin sehr an ökonomischen Dingen interessiert, aber nicht

philosophisch im engeren Sinne. Ich bin der Meinung, daß die Philosophie den

ganzen Betrieb ziemlich aufgehalten hat. Die meisten Philosophen sind Schwätzer, die die Sprache, aber nicht die Materie beherrschen. Heute kann man nur Philosoph sein, wenn man die ganzen Naturwissenschaften kennt. Aber Sie werden kaum einen finden, der das kann. In der Philosophie wird Meinung vertreten, wir haben keine Meinung. Die Messung sagt uns, daß etwas wahr oder falsch ist. Unsere Meinung spielt dabei keine Rolle." Das Gesagte würde es erfordern, ausführlich dazu Stellung zu nehmen, aber natürlich muß ich mich schon deswegen zurückhalten, weil die Philosophen ja geneigt sind, das vorgebrachte Nichtgeschwätzte ihrerseits leider nur als Schwätzer zu behandeln. Hauptsache: „The science-show must go on". Kann Mößbauer über-

haupt als Tatsachenbehauptung (?) vertreten, daß er in Sachen Wissenschaft keine

Meinung hat? (Sollte er sich in einen Zirkel verwickelt haben - oder in eine unzulässige Verallgemeinerung der Interpretationen von Messungen, die absolut unabhängig von Deutungsvorgaben - und sei es aus der Fehlertheorie - auch nicht sein dürften?)

Ist gar die Ablehnung jeglicher Verantwortung des Naturwissenschaftlers in der Grundlagenforschung meinungslos, meinungsfrei? Ich möchte jetzt allerdings nicht

fi

82

auf diese wissenschaftsethischen oder eher wissenschaftsideologischen Fragen eingehen, die in der Tat ein ganz schwieriges Problem sind. Die Ideologie totaler Ideologieabstinenz bietet immer noch die wirksamste, weil rein sachlich verpackte Ideologisierung. Ich möchte mich aber im folgenden mit dem Begriff oder den Konzepten der Verantwortlichkeit und der Verantwortung befassen. Wir hatten uns schon mit dem Moralphilosophen John Ladd beschäftigt - inbesondere mit seiner Erweiterung des Verantwortungsbegriffes von der „blame responsibility"22, von der Tadelnsverantwortung, für das was man als Schuld auf sich geladen hat, zu einer Verantwortlichkeit für das künftig unter dem Gesichtspunkt der Vorsorge zu Tuende. Wir hatten festgestellt, daß diese Art von beteiligungsoffener, ja, in gewissem Sinne „tugend"-gebundener und zukunftsorientierter moralischer Verantwortlichkeit keineswegs als die einzige moralische Variante angesehen werden kann. Diese kann aber nicht die einzige Verantwortlichkeit sein, es gibt durchaus auch die ex post zugewiesene moralische Schuld, obwohl meistens die Tadelnsverantwortung durch institutionalisierte soziale Kontrolle, z. B. durch rechtliche Kontrolle, erfaßt oder geregelt wird und trägerspezifisch ist, d.h. sich auf einen einzelnen exklusiv zu beschränken neigt, also in diesem Sinne auch enger gefaßt und inhaltlich geschlossen sowie vergangenheitsorientiert ist. Ich möchte das nicht weiter ausführen, sondern stattdessen zu anderen sinnvollen Einteilungen der Verantwortung übergehen. Das Kennzeichen aller Verantwortungstypen sei es, meint Bodenheimer (1980), daß die je Verantwortlichen rechenschaftspflichtig seien, für ihr Handeln und dessen Folgen einstehen müßten, und daß die Verantwortungszuschreibung per se immer Handlungsfolgenzuschreibung impliziere. Das führe in den meisten Fällen zu Sanktionen oder schließe deren Möglichkeit bzw. normative Notwendigkeit ein. Diese Sanktionen seien entweder legaler Natur, also durch Recht oder juristische Verfahren operationalisiert, oder sie seien sozialer Natur, einschließlich der entsprechenden moralischen Beurteilung i. e. S. (Wäre die dann nur als sanktionierend im Idealfall oder als reine Sollbeurteilung zu fassen?) Man sieht schon, daß die Umschreibung der Rechenschaftspflichtigkeit für Handlungsfolgen sich keineswegs nur aut negative Handlungsfolgen beziehen muß.

Die Gleichsetzung von Verantwortlichkeit mit Tadelnswertigkeit oder Tadelbarkeit (s. o. Anm.) ist natürlich zu eng. Man muß offensichtlich verschiedene Zusammenhänge und Perspektiven unterscheiden, die bei der Verantwortlichkeit eine Rolle spielen: Das ist auch zumal in der angelsächsischen analytischen Philosophie schon vor langem entdeckt und seit langem behandelt worden. Insbesondere hatte Herbert L. A. Hart, ein sehr bekannter englischer Rechtsphilosoph, 1968 ein Buch Punishment and Responsibility veröffentlicht und darin vier verschiedene Typen von Verantwortlichkeit

unterschieden: 1. reine Kausalverantwortlichkeit; diese besteht darin, daß ein Ereignis

kausal ursächlich ist für das Zustandekommen eines anderen Ereignisses; 2. die Rol-

lenverantwortung, die mit Aufgaben, Verträgen, Rollen, die man im sozialen Leben übernimmt, eingeht oder spielt, verbunden ist; natürlich ist die berufliche Verant-

22 Ich möchte erwähnen, daß diese Idee der „blame responsibility" von einem Moralphiloso-

phen namens Edgar Bodenheimer stammt, der 1980 ein Buch Philosophy of Responsibility geschrieben hat und dort - freilich wiederum fälschlich - Verantwortlichkeit überhaupt mit Tadelnswürdigkeit oder dem Begriff der Tadelnswertigkeit, Tadelnsnötigkeit, Tadelbarkeit gleichsetzt.

83

wortlichkeit ein Spezialfall dieser Rollenverantwortung. Dann nennt er 3. die Fähigkeitsverantwortlichkeit, d.h., daß jemand, wenn er Verantwortung übernehmen soll, auch in der Lage und fähig sein muß, entsprechend die zu verantwortende Tätigkeit

auszuführen; es handelt sich eigentlich mehr um eine Vorbedingung für die (Zuschreibung von) Handlungsverantwortlichkeit; schließlich unterscheidet er noch 4. die Haftbarkeit (liability responsibility), die auch unabhängig von der eigenen Handlung gegeben sein kann bzw. getragen werden muß: man kann für einen Schaden haftbar gemacht werden, den man nicht selbst verursacht hatte. Das Haften ist ein spezifisch rechtlicher Begriff, wenn auch in einem gewissen Sinn einer mit moralischen Aspekten: Eltern sind ja auch im moralischen Sinne zur Aufsicht ihrer Kinder angehalten und für diese bzw. deren „Lausbuben"-Streiche und „Jugendsünden" im Sinne der Schadensregulierung „verantwortlich", - und zwar nicht nur im rechtlichen Sinne.

Graham Haydon hat zehn Jahre (1978) später versucht, diese unterschiedlichen Bedeutungen der Verantwortungen aufzunehmen und weiterzuführen: Er unterscheidet eine Tugend- bzw. Rechtschaffenheitsverantwortung (er spricht von „virtue responsibility") von einer Fähigkeitsverantwortung (die Voraussetzung anderer Zuschreibungen sei und ja auch bei Hart eine Rolle spielte) und die Haftungsverantwortung23 von der reinen Kausal-

verantwortung (die üblicherweise, wie er sagt, Voraussetzung der anderen (Hand-

lungs-) Verantwortlichkeiten sei). Und schließlich führt er dann noch die Rollenverantwortlichkeit an, die Verantwortung, die jemand in einer Rolle selbst zu übernehmen hat

und deren Beurteilungsmaßstab sich nach den Regeln der Aufgabenerfüllung, der Stellenbeschreibung usw. ergibt.

Über diese Versuche, Verantwortlichkeitstypen zu unterscheiden, hinaus gibt es noch viele andere, die hier nicht erwähnt werden können. Interessant ist, daß in der Tat dabei überall Unterscheidungen gemacht werden, zwischen solchen Varianten mit einer mehr oder minder großen Neutralität, z. B. bei der bloßen Kausalverantwortlichkeit und den im echten Sinne persönlich engagierenden Verantwortlichkeiten. Man könnte ferner Unterscheidungen treffen nach der Art der Verantwortungs-Relation, der Beziehung zwischen dem Träger der Verantwortung und dem zu verantwortenden Gegenstand, und der Art der Tätigkeit, also nach spezifischer Art der Verbindung zwischen Träger und Gegenstand.

Ich denke, daß man in diesem Sinne etwa zehn verschiedene Typen der Ausrichtung an Gegenständen und Tätigkeiten unterscheiden kann: 0. (Bloße) „Kausal"verantwortlichkeit: Es geht hier um die reine oder neutrale Kausalverantwortlichkeit, die für das Zustandekommen von Ereignissen in Anspruch genom-

men wird. „Der Sturm war verantwortlich dafür, daß das Dach abgedeckt wurde"

Dieses „Verantwortungskonzept" ist ein unechtes, auf Ursächlichkeit allein reduziertes; es handelt sich natürlich nicht um einen moralischen Begriff. Dem Ursächlichkeitsdenken am nächsten kommt die

1. audriamin anderlide, die wick devera ariste mit la besi: mier

23 Insbesondere versteht er Haftungsverantwortung im rechtlichen Sinne: Sie allein und an sich

bringe noch keine moralisch-personale Bewertung, kein Lob oder keinen Tadel mit sich, sondern wird als „neutral" gesehen.

84

Folge, einem bestimmten Folgezustand zuwege bringt - und zwar ursächlich. Es handelt sich also um einen auf das Handeln und den Handelnden spezifizierten Sonderfall der ersten Kategorie.

2. könnte man den Veranwortungstyp nach Ladd und Bodenheimer anführen, also Verschuldensverantwortlichkeit (Schuldverantwortung24) - und entsprechend 3. dann auch die positive Variante der Lob(ens) verantwortlichkeit. 4. Wie bei Ladd ist die Vorsorge- oder vorsorgliche Handlungsverantwortlichkeit, die auf das

in der Zukunft zu Tuende ausgerichtet ist, prospektiv und zumal von dem Verschuldensverantwortlichsein für vergangene Taten oder Handlungen zu unterscheiden. 5. könnten wir die Betroffenheitsverantwortung anführen, die wir beim Ansatz von

Lévinas diskutiert haben. Man könnte sie auch Begegnungsverantwortlichkeit nennen,

weil sie in einer bestimmten Begegnungssituation der Hilfsbedürftigkeit aktiviert

wird.

6. Mit ihr hängt natürlich eng zusammen, was Hans Jonas die Seinsverantwortlichkeit

nennt, d.h., daß jemand im Maße seiner Einflußmacht für von dieser Macht

abhängige Wesen und deren Existenz und Wohlergehen verantwortlich ist. Diese nun ist sicherlich schon eine moralische Verantwortlichkeit. Jonas nennt sie „Verantwortlichkeit für das Sein"', man könnte sie aber eher als Hursorgeverantworthchkeit oder Fürsorglichkeits- bzw. Sorgeverantwortlichkeit bezeichnen. 7. Rechtschaffenheits- oder Tugendverantwortlichkeit im Sinne von Haydon, die auch ganz

ähnlich wie die drei vorhergehenden der moralischen Verantwortlichkeit nach Ladd sehr nahe kommen bzw. in sie einbegriffen sind.

8. ist schließlich im Zusammenhang mit der Situationsethik und im Anschluß an Hart die Fähigkeitsverantwortung. Dieser Begriff ist eigentlich mehrdeutig; er bezog sich bei Hart im wesentlichen darauf, daß jemand auch fähig und in der Lage sein muß, eine zu verantwortende Aufgabe auszuführen. Anders wird diese Art aber häufig so verstanden, daß dann, wenn und dadurch, daß man bestimmte Fähigkeiten hat, diese Fähigkeiten auch bereits eine Verantwortlichkeit aktivieren und erzeugen: Man ist verpflichtet, z.B. schon nach Kant, seine eigenen Talente auch nach bestem Wissen und Gewissen zu entwickeln und der Menschheit zur Verfügung zu stellen; das wäre also auch ein - andersartiger - Aspekt einer Fähigkeitsverantwortung.

9. Besonders bekannt ist die Rollen- und Aufgaben- oder Vertragsverantwortlichkeit, wie sie

tatsächlich in jedem Beruf zu finden ist, verbunden mit einer bestimmten mehr oder minder formell spezifizierten Rolle, die man wahrzunehmen hat, und deren Ausfüllung eine verantwortliche Aufgabe ist. Die entsprechende Aufgabe auszuführen ist eine Rollenverantwortung. Natürlich kann auch eine übergeordnete moralische Pflicht mit der Ubernahme verbunden sein, d.h. übernommene Aufgaben und vertragliche Verpflichtungen einzuhalten, das hat durchaus mit - nunmehr höherstufigen - moralischen Gesichtspunkten zu tun. Es gibt also auch

10. einen Verantwortlichkeitstyp, den man eine Metaverantwortlichkeit oder auch Hyperverantwortlichkeit nennen könnte. Diese Variante bezieht sich darauf, daß wir

4. eicht vorflich iad, die dan der Zugen, de und ie gasprechend en tragestei.-

zu Verantwortende nun in verantwortlicher und vernünftiger Weise erfüllt wird -

24 Auch Karl Jaspers setzte Verantwortungsübernahmebereitschaft einfach mit der Bereitschaft gleich, Schuld einzugestehen (1965).

85

also das, was in den entsprechenden inhaltlichen Konzepten der Verantwortlichkeit gemeint ist, sondern man kann auch für die Entwicklung von Verantwortlichkeitskonzepten, also sozusagen für die Verantwortungsethik selbst, für die eigene

Verantwortlichkeit verantwortlich sein, d.h. dafür, dab man selber seine Konzepte und Auflassungen von Verantwortlichkeiten in entsprechend differenzierter Weise (fort-)entwickelt. Das wäre also eine persönliche Hyperverantwortlichkeit oder

metastufige Verantwortlichkeit. Doch man könnte das gestufte Konzept der Verantwortung für Verantwortlichkeit auch auf die Verantwortungsethik selbst oder auf die Philosophie von Verantwortung beziehen, somit auf die Zunft der Ethiker und evtl. auf die einzelnen Philosophen: Diese haben eine spezielle Verantwortlichkeit im Rahmen ihrer professionellen, beruflichen oder von der Berufung her konstituierten Aufgabe, Verantwortungskonzepte verantwortlich weiter entwickeln. Auch dieser Begriff der Meta- oder Hyperverantwortlichkeit ist in gewis-

zu

sem Sinne (wie jener der Fähigkeitsverantwortlichkeit) kein einheitlicher, sondern

umfaßt mehrere Gesichtspunkte. Es liegt sehr wohl im Interesse der bisher betrachteten Auffassung von einer konkreten Humanität (das heißt, es ist im Sinne einer auf Situationseinpassung, auf Kontexte und insbesondere auf die persönliche Wahrnehmung von Verantwortlichkeit ausgerichteten Sichtweise) mit der Unterscheidung von solchen Typen und Perspektiven der Verantwortungsbegriffe eine Art von Übersicht zu verschaffen und eine Art von Integration herzustellen - eine Einheit der Verantwortlichkeit zu fordern und zu erstellen. Man könnte geradezu davon sprechen, daß es Aufgabe einer spezifisch konkret-humanen oder humanitätsorientierten persönlichen, an die Person gebundene und durch die Person zuwege zu bringende Verantwortlichkeit sei, diese unterschiedlichen Gesichtspunkte der Verantwortlichkeit in eine personengebundene Einheit zu bringen, in dann auch jeweils eine an die entsprechende Situation angepaßte Kombination, die „vernünftig", proportioniert, angemessen ist, die also je persönlich eine Art von kon-

kret-humanem Kompromiß zwischen verschiedenen Akzenten bzw. Merkmalen dieser Verantwortlichkeiten darstellt. Denn es handelt sich natürlich auch hier um

analytische Unterscheidungen, also um Gesichtspunkte, wie man sie in der Realität einer Situation, in der Verantwortung gefordert ist oder wo ich mich selber verantwortlich

fühle, oft nur einander überlappend vorkommen, sich oft durchaus nicht aufspalten und trennen lassen, nicht disjunkt sind, sondern gerade häufig zusammen vorkommen, mehr oder minder betont oder nicht. Es kann insbesondere wichtig sein, die entsprechenden besonderen Perspektiven, wie sie in einzelnen dieser Dimensionen eröffnet werden, herauszuheben und dann auch Kombinationstypen der Verantwortlichkeit zu entwickeln. Aber alles das erscheint als eine etwas scholastische Aufgabe, wenig im Sinne einer Idee der konkreten Humanität. Man gerät in Gefahr, einer Einteilungsmanie zu unterliegen, deren Formen Situation dann gar nicht mehr so treffen können und uns nicht in die Lage versetzten, die entsprechende Kombinationsverantwortung auch in persona (als einheitlich-persönlich) praktisch zu tragen. Wichtig scheint jedentalls zu sein, daß für eine konkret-humane Verantwortlichkeit die persönliche Verantwortung betont wird, d.h., damit die entsprechende personale Einheit und auch die persönliche Engagiertheit einhergeht: Verantwortung muß vom einzelnen persönlich getragen werden25. Wir werden auf Fragen der Reduktion oder Nichtreduktion von kollektiver und

Gruppenverantwortlichkeit auf Einzelverantwortlichkeit noch zurückkommen. Es 25 U.U. auch mit anderen zusammen, aber in bezug auf den einzelnen.

86

scheint so zu sein, um das vorgreifend zu sagen, daß man in der Tat auch Gruppen und sogar Unternehmungen, Korporationen moralische Gruppenverantwortlichkeit zuschreiben kann, ohne daß diese moralische Verantwortlichkeit rein in Abhängigkeit von einer Definition zurückgeführt werden kann, sozusagen aufgelöst werden kann in die persönliche Verantwortlichkeit des einzelnen allein, obwohl eine persönliche Verantwortlichkeit der einzelnen, insbesondere von jenen, die an repräsentativer Stelle Verantwortlichkeit mittragen, involviert ist. Gruppenverantwortlichkeit läßt sich normalerweise oder wenigstens institutionell und korporativ nicht total auf Person(en)verantwortlichkeit in diesem Sinne zurückführen, muß aber stets mit dieser in eine konkretisierbare oder operationale Beziehung gebracht werden. Das gilt inter-

essanterweise auch im moralischen Zusammenhang. Hierzu möchte ich ein Beispiel anführen: Am 28. November 1979 prallte eine DC10

der Air New Zealand mit 237 Touristenpassagieren und 20 Besatzungsmitgliedern gegen den Mount Erebus in der Antarktis. Es gab keine Überlebenden. Nachfolgende Untersuchungen ergaben, daß die DC10 unter Sichtflugbedingungen mit einer Sicht-

weite von 23 Meilen flog. Das Flugzeug flog in 2.000 Fuß Höhe, als es gegen den 12.000 Fuß hohen Berg prallte. Eine Untersuchungskommission wurde zur Ermittlung der Unglücksursache eingesetzt, Air New Zealand behauptete, daß ein Pilotenfehler den Absturz verursacht hätte. Captain Collins war 27 Meilen vom Kurs entfernt und flog zu niedrig. Die Kommission entdeckte aber Beweise, die an der Pilotenfehlertheorie Zweifel aufkommen ließen. Eine DC10 wird von einem Computersystem so gesteuert, daß, nachdem der Computer mit einer Anzahl von Breiten- und Längenkoordinaten gefüttert worden ist, das Flugzeug selbstständig zwischen bestimmten Orten in Übereinstimmung mit Anweisungen des Computers fliegen kann. Bei einer Besprechung 19 Tage vor dem Flug wurde Captain Collins gesagt, daß die Koordinaten für die Flugroute die für die Touristenflüge üblichen sein werden. Tatsächlich wurden jedoch danach andere Koordinaten in den Computer eingegeben. Collins folgte dem Computerkurs und ist somit ahnungslos gegen den Berg geflogen. Aber bei einer Sichtweite von 23 Meilen fragt man sich, wie das möglich ist. Hatte das Cockpitpersonal geschlafen? Wohl nicht. Es kann sein, daß der Pilot einen „White-out" gehabt

hatte - ähnlich einem „Black-out" -, daß er von einem atmosphärischen Effekt

getäuscht worden war, der zu einem Verlust der Tiefenwahrnehmung führt und der bergiges Gelände flach erscheinen läßt. Ein solcher entsteht insbesondere, wenn eine Stratoswolkendecke den Horizont überzieht, durch die die Sonnenstrahlen zwar durchgelassen werden, dann aber von der Schneedecke reflektiert und von der Wolkenunterfläche gestreut werden. Dabei entstehen dann überhaupt keine Schatten; Entfernungen sind nicht mehr abzuschätzen. Erde und Himmel bilden gleichsam eine weiße Kugel um den Beobachter, und alle Geländeunebenheiten werden unsichtbar, Flugzeuglandungen geradezu unmöglich. Das ist also ein White-out, der in der Antarktis und in entsprechenden Gegenden durchaus häufiger vorkommt. Warum aber wurden nun die Koordinaten zwischen der Besprechung und dem Flug geändert? Die Änderung wurde vom Gebietsleiter für die DC10-Flüge der Air New Zealand angeordnet. Die Änderung wurde wohl aus „guten Gründen"gemacht: Der Kapitän eines vorherigen Fluges hatte auf Kursdiskrepanzen verwiesen, der Gebietsleiter ordnete darauf hin die Kursänderung an. Doch Collins wurde nicht darüber informiert. Die Informationen wurden normalerweise über Funk gegeben - und das ist ein heikler Punkt. Die „guten Gründe" sind daraus nicht so klar erkennbar, haben aber oftenbar vorgelegen.

87

Ist nun Captain Collins allein verantwortlich zu machen? Sind überhaupt bestimmte einzelne

Personen verantwortlich? Oder ist allein die Air New Zealand in Gesamtheit verantwortlich - wie beispielsweise im rechtlichen Sinne? Es ist in solchen Zusammenhän-

gen, in denen Computerfehler oder auch Verabredungen eingehen, die nicht der schriftlichen Form und Rückbestätigung bedürfen, schwierig zu beurteilen. Wo soll man da überhaupt von der Verantwortung reden, die immer auf einen einzelnen zu-

geordnet würde. Das Schlimme ist natürlich, daß der Flugkapitän über die Änderung des Computertracks nicht informiert worden war. Diese Informationen wurden und werden - wie gesagt - generell nur mündlich über Funk weitergegeben, ganz in Übereinstimmung mit den üblichen Abläufen. Man könnte also mit dem amerikanischen Philosophen Paul Thompson sagen (1986), daß das System eben Fehler hatte und schuld sei und hätte geändert werden müssen: Die Ursache der Kollision liege nicht im Handeln einer einzelnen Person, sondern vielmehr in Interaktionen der beteiligten Personen - und in der Art und Weise, wie die Informationsübermittlung funktionierte. Der Versuch, einen Alleinverantwortlichen herauszugreifen, sei nichts anderes als die Suche nach einem Sündenbock. Die Untersuchungskommissison sah organisatorische Zusammenhänge und Praktiken als Ursache an und führte aus, daß es unfair sei,

einzelne Personen im Unternehmen für die Gesamtstrategie verantwortlich zu machen. Man kann wohl durchaus meinen, daß hier eine Mischung von Gruppenverantwortlichkeit und Einzelverantwortlichkeit gegeben ist, und das ist die These von Peter French in seinem bekannten Buch Collective and Corporate Responsibility (1984), der eben-

falls diesen Fall näher untersucht und ihn insbesondere zum Anlaß dafür genommen hat, zwei Regeln des Zuschreibens von kollektiver bzw. korporativer Verantwortlichkeit einzuführen: Einmal jenes Prinzip, das er das „Erweiterte Prinzip der Verantwortlichkeit" oder Zurechenbarkeit nennt (Extended Principle of Accountability), das letztlich besagt, daß man nicht nur im primären Sinne für die Handlungen verantwortlich ist, die man ausgeführt hat, sondern, wenn es sich um Strategien und um generelle Anleitungen handelt, auch tür die Folgen einer Anweisungspraxis, die man durch eine gefährliche Praxis in Kauf nimmt, oder für das, was jemand in indirektem Sinne oder einfach nebenbei entweder beabsichtigt, mitbeabsichtigt hat oder untergründig will, daß es geschehen würde, es also in Kauf nehmen würde. Diese Erweiterung des üblichen Prinzips der Verantwortlichkeit ist durchaus sinnvoll, wenn es sich um geregelte oder normengesteuerte Handlungen - insbesondere in Sozialzusam-

menhängen - handelt. Das ist eine Sache, die zumal in der Wirtschaftsethik eine Rolle spielte und von French auch untersucht wurde anhand eines anderen Flugzeugabsturzes, des berüchtigten Absturzes der DC 10 1974 über Paris, wo gewisse Vorwarnungen von einem Ingenieur (Applegate) einer Subkontraktorfirma durch diese dann nicht weitergegeben wurden an die eigentliche Flugzeugfirma: Es ging um den Bau einer gefährlichen hinteren Ladungsluke. Es kamen auch Wartungsfehler vor, in

denen ein O.K. gegeben wurde, obwohl der gefährliche Verschluß der hinteren Ladungstür noch nicht in Ordnung gebracht worden war. Diese Tür sprang dann

beim Start in Paris auf, und das führte zum Absturz. Man nahm gewisse Risiken oder Nachlässigkeiten in Kauf, und nach diesem erweiterten Prinzip der Verantwortlichkeit

hätte man das auch mit zu verantworten. Damit hängt natürlich auch das beim Erebus-Fall erwähnte gefährliche Inkaufnehmen zusammen, Informationen über

Computeränderungen für Flugrouten nur mündlich oder fernmündlich oder per Funk ohne Sonderrückkontrolle einzugeben. Da ist dieses erweiterte Prinzip der Verantwortungszurechnung natürlich auch einschlägig.

88

Aber French erweiterte das Prinzip noch - und auch diese Ausdehnung ist plausibel. Es war nämlich von der Untersuchungskommission versucht worden, Air New Zealand davon zu überzeugen, daß diese gefährliche Praxis der mündlichen Weitergabe von Computertrackänderungen abzustellen wäre. Dazu aber war die Company nicht bereit - selbst die Piloten nicht. Sie waren an diese Art von Ubermittlung gewöhnt; man war nicht bereit, diese durchaus in gewissem Sinne für gefährliche Irrtümer offene Gesamtpraxis abzustellen. Deswegen sagt Peter French, man muß auch ein ,Principle of Responsive Adjustment" fordern, ein Prinzip der antwortenden, reagierenden Anpassung, das darin besteht, daß jemand auch dann mitverantwortlich ist oder für verantwortlich gehalten wird für Folgen einer Praxis, die abzustellen er nicht bereit ist. Die Verweigerung einer reaktiven Anpassung in bezug auf eine gefährliche Strategie ist auch ein In-

kaufnehmen, das die Verantwortlichkeit erhöht. Auch hier ist die Frage: Sind die einzelnen oder ist ein einzelner verantwortlich zu machen? Offensichtlich nicht, es waren ja viele oder alle involviert und Mitträger der Entscheidung, die gefährliche Praxis nicht abzustellen. Es waren sogar Umfragen bei den Piloten erhoben worden, und man muß wohl sagen, daß hier eine Art von moralischer Verantwortlichkeit der Gruppe bzw. Firma gegeben ist, die nicht allein einem einzelnen oder den einzelnen zugeschrieben werden kann, obwohl die beteiligten Personen jeweils, wenn sie interagierten und diese Strategie anwendeten, auch persönliche Verantwortlichkeit tragen oder auf sich nehmen. Es ist eine Verantwortlichkeit, die so quasi moralischen Status hat, sekundär ist, aber sich auf die Gruppe der Beteiligten und insbesondere auf diejenigen bezieht, die Verantwortung im traditionellen Sinne tragen. Man kann also durchaus davon reden, daß es so etwas gibt wie morahsche Verantwortlichkeiten von Gruppen.

Es wäre nun im Sinne einer konkreten persönlichen Verantwortung eines jeden, der beteiligt ist, immer zu versuchen, einen einem Situationskontext angemessenen Verant-

wortungs"mix" herbeizuführen, der eben vernünftig „verantwortbar" ist, und zwar persönlich und letztlich dann von ihm jeweils auch getragen werden muß. Aber das

deckt diese Gesamtsituation nicht ab, sondern ist gleichsam immer nur der persönliche Ausschnitt, den jeder einzelne hat. Für den einzelnen ist die personale und moralische Verantwortung, die beispielsweise aus einer entsprechenden Kombination dieser relevanten und aktivierten Verantwortlichkeiten dieser oder anderer Typen sich ergibt, einheitlich. Konkret humane oder persönliche Verantwortung ist - jedenfalls nach unserer Intuition - unteilbar. Letztlich ist die Person als verantwortliche in einem einheitlichen Verantwortungskonzept - so stellen wir uns das wenigstens in unserer traditionellen Auffassung vor. Es kann nicht so sein, daß man die Verantwortlichkeit separiert, aufspaltet und sagt, die einzelnen Verantwortlichkeiten heben sich auf, Befehlsnotstand u.ä. Dinge - man kennt das ja alles. Die persönliche, konkret-moralische Verantwortung ist unserer Intuition nach trotz aller dieser Differenzierungen doch hinsichtlich einer Integration letztlich unteilbar. Man kann von einer Unteilbarkeit der Verantwor-

tung reden, jedenfalls nach unserer Intuition, und das ist auch so etwas wie eine Projektion, die wir „machen", erzeugen. Wir bringen eine künstliche Einheitlichkeit zustan-

de, um die Verantwortung auch jeweils auf die Person beziehen zu können, obwohl wir wissen, daß damit nicht alle verschiedenen Aspekte erfaßt sind, und obwohl wir auch wissen, daß auch der Gesamtkomplex der sozial zu tragenden Verantwortung damit nicht erfaßt werden kann. Die Probleme der Integration der verschiedenen personalen

Verantwortungen oder die Probleme der Bezugnahme, der Beziehung der sozialen Verantwortlichkeit, der Gruppenverantwortlichkeit auf die jeweilige persönliche Verantwortung der Beteiligten ist damit erst gestellt. Wir werden im folgenden sehen, daß man auch noch andere Typeneinteilungen der Verantwortlichkeit durchführen kann.

89

Die Grobsituation der Verantwortlichkeit ist, daß ich in einer bestimmten Situation als Träger der Verantwortung gegenüber einem Adressaten oder einem Betroffenen Verantwortung übernehme für ein Etwas, d.h. ein Ereignis, ein Objekt, ein Ergebnis

meiner Handlung, oder für eine Handlung selber, die ich z.B. dem Adressaten

gegenüber ausführe; dabei bin ich verantwortlich vor einer Instanz, die z.B. die Verantwortlichkeit generell und die konkrete Verantwortung in diesem Fall bewertet, beurteilt. Diese „richtende" oder die Beurteilung zumessende Instanz kann eine reale oder eine ideale Instanz sein; sie mag eine wirkliche Person sein, der gegenüber ich verpflichtet bin zu antworten, mich zu rechtfertigen; sie kann Gott sein, die Gesellschaft, die Menschheit, oder es kann das Recht, z. B. vertreten in Gestalt von Richtern, sein, es kann das eigene Gewissen sein. Mit anderen Worten: Verantwortungsbegriffe sind mehrstellige Beziehungs- oder Relationsbegriffe; sie sind nicht nur Zuschreibungsbegriffe, sondern auch Beziehungsbegriffe, die mindestens fünfstellige Relationen darstellen: Ich bin eben gegenüber jemandem für etwas vor einer Instanz in bezug auf einen Standard verantwortlich (zu machen), und das kann u.U. in verschiedenen Schichten geschehen, z.B. moralisch, religiös, bloß als Kausalverantwortlichkeit (abstrakt - allgemein, schematisch gesehen), oder rollenverantwortlich im Sinne der Rollen- und Aufgabenverantwortlichkeit oder eben rechtlich. Man hat also auch

mindestens fünf verschiedene Schichten oder Ebenen der Verantwortlichkeit zu

unterscheiden. Wenn man das komplexe Gefüge nun im einzelnen differenziert darstellen will, dann gerät man zunächst in analytische und dimensionale Schwierigkeiten.

Der Verantwortungsbegriff ist ein zuschreibungsgebundener mehrstelliger Relations- bzw. Strukturbegriff, ein interpretations- und analysenbedürftiges Schema mit folgenden Elementen: Jemand ist gegenüber jemandem für etwas vor einer Instanz in bezug auf ein Kriterium im Rahmen eines entsprechenden Handlungsbereiches verantwortlich. Man kann natürlich noch zusätzliche Unterscheidungen einfügen, etwa daß Verantwortlichkeit ex post, im nachhinein, zugeschrieben werden kann, z.B. typischerweise bei der Tadelnsverantwortlichkeit, oder ex ante, typischerweise bei der Vorsorgeverantwortlichkeit - oder auch die Unterscheidung zwischen sanktionsbedrohten formellen und den bloß informellen Verantwortlichkeiten, die (allenfalls) durch eine offenere, nicht-institutionalisierte soziale Kontrolle, wie sie z. B. durch moralische Beurteilungen ausgedrückt werden bzw. verinnerlicht sind. Es gibt auch unterschiedliche Grade der Verbindlichkeit bei Normen, die sich dann auch auf die Verbindlichkeit der Verantwortlichkeiten auswirken: Die Soziologen unterscheiden Mußnormen, das sind Gesetze, die man einhalten muß, von Sollnormen, an denen man sich typischerweise orientieren sollte, und bloßen Kannormen, die man - wie Regeln des guten Geschmacks oder Verhaltens - eben eher mehr oder minder beliebig erfüllen kann, die u.U. eher Sitten und Gebräuche darstellen und

keinen Muß- oder Sollcharakter haben. Demnach könnte man nun auch unter-

schiedliche Verantwortungsarten unterscheiden -, genauso, wie man dann entsprechende Verantwortungsarten nach der Instanz unterscheiden könnte: Das Selbst oder das Gewissen, die Gesellschaft, die Menschheit, Gott oder was immer könnte einer eigenen Einteilung von Verantwortungsarten zugrunde gelegt werden. Dies mag im einzelnen für die differenzierte Erfassung eines Falles wichtig sein. Allgemein interessiert jedoch eher die strukturelle Ahnlichkeit der Verantwortungsrelation - gerade auch angesichts unterschiedlicher Verantwortungsinstanzen. Über-

greifende Strukturmerkmale - und seien es eher formale - sind notwendig für eine generelle Analyse.

90

Und es kommt ein weiteres hinzu: Man muß auch stets, wie bei den zehn vorher erwähnten Typen der Verantwortungsssstätigkeiten und - fähigkeiten, immer in entsprechenden Situationen, in denen Verantwortlichkeit überhaupt aktiviert wird, eine proportionierte Integration der jeweiligen Verantwortlichkeiten zustande bringen, letztlich also doch diese Verantwortung irgendwie persönlich kombinieren und tragen und dieses Integrieren bzw. das Kombinationsergebnis wiederum personal verantworten. Die persönliche Verantwortung scheint also in gewisser Weise doch eine Art von Überkonzept

zu sein, obwohl dieses nicht darauf hinauslaufen muß, daß diese Verantwortlichkeit nun die Grundverantwortung ist, aus der alles andere abgeleitet werden kann, wie z. B. Weischedel das gesehen hat (s.o.).

Bei der Verantwortlichkeit in bezug auf die eher formalen Beschreibungen und die erwähnten Schichten kann man zumindest die folgenden Ebenen der Verantwortlichkeit bzw. jeder einzelnen Verantwortung unterscheiden: Einmal läßt sich die schematisch übergreifende allgemeine Handlungsverantwortung hervorheben (vgl. Schema 1).26 Wir können hier verschiedene Typen unter diesem allgemeinen Aspekt

Handlungs(ergebnis)verantwortung

Positive Kausalhandlungsverant-

wortung für bestimmte Handlungen

Negative Kausalhandlungsverantwortung

(zB. für

Unterlassungen)

Aktive Verhinderungs, Präventionsverantwortung

Individuelle Handlungsverantwortung

Mitverantwortung für kollektives, kooperatives, korporatives Handeln

Generelle Verantwortung für langfristige Handlungsdispositionen und -folgen

Verantwortung für institutionelles,

korporatives

Handeln

Repräsentative

und/oder Führungsverantwortung

Mitverantwortung der mithandelnden Gruppenmitglieder

(Gruppen-

Verantwortung von Korperationen

verantwortung)

Schema 1

26 Wir haben die reine neutrale Kausalverantwortung, d. h. die bloße Ereignisverknüpfung durch Ursache-Wirkungs-Beziehungen, als für die Handlungsverantwortung uninteressant ausgeschieden, obwohl sie für die meisten Handlungsverantwortungen (außer bei nichtursächlicher Haftung) notwendig ist.

91

der Handlungsverantwortung unterscheiden: Einmal die prototypische (positive)

Kausalhandlungsverantwortung (1. e. S.), also jene für bestimmte eigene handlungen und deren Folgen. Bei Unterlassungen, die wir auch verantworten müssen, nämlich in den Fällen, in denen eine Handlung erwartet worden war oder erwartet werden mußte oder konnte; man denke an die „unterlassene Hilfeleistung"u.a., kann man von einer negativen Kausalhandlungsverantwortung sprechen. Und es gibt auch Kombinationen davon, in denen wir aktiv handeln, um Störfälle, Katastrophen zu verhindern - also Fälle einer Aktivierung von Verantwortlichkeit, die man Präventions(handlungs)verantwortung nennen könnte. Dies alles ist zunächst bezogen auf einzelne Handlungen von Individuen oder auf Handlungsarten, wird prototypisch meistens

individuell verstanden. Verantwortung kann aber auch von Gruppen bzw. von mehreren getragen werden - etwa als Mitverantwortung bei kollektivem Handeln; und es kann sich auch um eine generelle Verantwortung für langfristige Handlungsdispositionen und -folgen handeln, beispielsweise bei Eltern, die für das Wohlergehen ihrer Kinder allgemein - also in bezug auf (fast) alle Handlungsarten - verantwortlich sind und nicht nur für Einzelhandlungen.

Man muß auch anfügen, daß es so etwas gibt wie eine freilich sekundäre Handlungsverantwortung von Institutionen, weil Institutionen in sekundärem Sinne handeln: Der

Staat handelt, ein Unternehmen handelt, wenn auch jeweils vertreten durch repräsentative Positionsinhaber, durch diejenigen, die im Auftrage, in der entsprechen-

den Position bzw. als Positionsinhaber stellvertretend für die Institution handeln. Diese institutionelle Handlungsverantwortung kann nicht immer auf die persönliche Verant-

wortlichkeit der entsprechenden repräsentierenden Person reduziert, also analytisch definitorisch vollständig zurückgeführt werden, obwohl häufig der oberste Leiter der jeweiligen Institution für hauptsächlich verantwortlich gehalten wird, auch sich selber u.U. für verantwortlich erklärt, und möglicherweise „die volle Verantwortung" übernimmt, obwohl das manchmal ein verbales Alibi bleibt und häutig - etwa im politischen Verantwortlichkeitsaushandeln - nicht viel als Konsequenz daraus folgt. Verantwortung von repräsentativen Persönlichkeiten, Führungsverantwortung kommt als Unterfall der nun person- und positionsgebundenen Beziehung der institutionellen Verantwortung auf einzelne vor. Die Verantwortung von Korporationen schlechthin ist eine Sonderform der institutionellen Handlungsverantwortung. Ähnlich wie es eine Mitverantwortung bei kollektivem Handeln gibt, gibt es erst recht eine Verantwortung bei korporativem Handeln innerhalb eines Unternehmens, jeweils nach der spezifizierten Hierarchie der entsprechenden formellen Verantwortlichkeiten oder auch der entsprechenden formalen Betriebsstruktur oder der inneren Entscheidungsdifferenzie-

rung.

Diese Art von schematischer Übersicht der Strukturen der Kausal(handlungs)verantwortung ist natürlich recht abstrakt; man muß sie inhaltlich füllen, mit Gehalt versehen, indem man die eher formalen Verbindungen auf konkretere Bereiche, Er-

wartungen, Normen, Verträge usw. bezieht. Deswegen kommt das nächste Diagramm (vgl. Schema 2) dem konkreten Verantwortlichsein schon etwas näher: Die einfachste Konkretisierung ist die Rollen- und Aufgabenverantwortung, die man im einzelnen durch Beispiele nicht zu erläutern braucht. Verantwortlichkeit zur Rollenerfüllung oder zur Erfüllung der mit einer bestimmten Rollentätigkeit verbundenen Erwartungen, also der Rollenpflichten, ist natürlich insbesondere in berufsspezifischen Zusammenhängen jedem bekannt. Diese Verantwortlichkeiten können eher formell, formalisiert, durch Anordnung oder Vertrag geregelt sein, sie können u.U. rechtlich fixiert

92

Rollen- und Aufgabenverantwortung

Verantwortung zur Rollen(erwar-

(Berufs-) Spezi sche

tungserfüllung

Aufgaben-

(Rollenp ichten)

verantwortung

formell

informell

Korporative Verantwortung von

Loyalitätsverantwortung

Institutionen (gegenüber Mitgliedern, Gesellschaft)

organisa-

torisch

mora-

lisch

legal

legal Grupenverantwortung

Institutionelle Roilenverantwortung für repräsentative Rolien (z. B. Vorstand)

formell

informell Fürsorge-/

Vorsorgeverantwortung

Haftungs-/ Entschädigungsverantwortung

Schema 2

oder geregelt sein, sie können sich aber auch informell ergeben. Die institutionelle Rollenverantwortung für repräsentative Rollen, z.B. für Vorstandsmitglieder, ist

jeweils ein Unterfall. Aber neben der formellen Rollenverantwortlichkeit gibt es auch so etwas wie eine Loyalitätsverantwortung gegenüber Personen, die in einer bestimmten Institution die Bezugspersonen sind, denen man verbunden und verpflichtet ist, beispielsweise in Parteien dem „elder statesman"

Die korporative Verantwortung von Institutionen gegenüber ihren Mitgliedern, auch gegenüber der Gesellschaft ist ferner ein Punkt, der heute viel diskutiert wird, auch das ist eine - nun institutionelle, sekundäre (s. o.) - Rollen- und Aufgabenverantwortung.

Wir finden schon in diesem Diagramm der Rollenverantwortlichkeit - wie zumal im folgenden Schema 3 - eine Fürsorge- und Vorsorgeverantwortlichkeit; das ist ein Begriff, den im wesentlichen Hans Jonas (in der moralischen Ebene) eingebracht hat,

fi

fl

93

Universalmoralische Verantwortung

Direkte situationsaktivierte moralische Handlungsverantwortung

für die von Handlungen Betroffenen (Partner, Perso-

nen, Lebewesen)

Indirekte moralische Handlungsverantwortung für (evtl. nichtintendierte Folgen von Handlungen und Unterlassungen

Selbstverantwortung

Höherstu ge (individuelle) Verantwortung zur Erfüllung vertraglicher oder formeller P ichten

Moralische

Individuelle Verantwortung

Fürsorge/ Vorsorge

zur Einhaltung von Ethik-

verantwortung

UsW.

Moralische Verantwortung

von

Institutionen/ Korportionen

kodizes von Verbänden

Verantwortung für öffentliche Sicherheit, Gesundheit und

Wohlfahrt

Moralische Mitverantwortung (Gruppenverantwortung) je nach Einwirkungs- und Mitwirkungsmacht

Schema 3

als Seinsverantwortung für (von unserer Macht und Rollentätigkeit) abhängige Wesen.

Diese Vorsorgeverantwortung bezieht sich ähnlich wie bei Ladd i. e. S. auf die künftigen Handlungen. Man könnte und müßte weiter untergliedern.

Haftungs- und Entschädigungsverantwortung kam natürlich nicht bei der schematischen Handlungsverantwortung des vorigen Diagramms vor, weil das Haften von vornherein nicht ein Fall von Haftung für ein eigenes Handlungsergebnis ist, sondern man übernimmt Haftungs- und Entschädigungsverantwortung im Sinne von Haftbarkeit u.U. gerade auch unabhängig vom eigenen Handeln - und zwar in Abhängigkeit von einer bestimmten Rolle. Es handelt sich also um eine vertragliche oder aufgabengebundene Rollenverantwortlichkeit, die zumindest auch rechtlich besteht.

Die dritte und für uns besonders interessante Dimension oder Ebene der Verantwortlichkeit ist die universalmoralische (vgl. Schema 3) oder die ethische, die moralische Ver-

fi

fl

94

antwortlichkeit im engeren Sinne, die das Wohlergehen von Lebewesen, insbesondere anderen, betrifft, aber u.U. auch mich selbst, deswegen gibt es in diesem Sinne auch eine Selbstverantwortung. Normalerweise ist die moralische Verantwortung unmittelbar situationsaktiviert: Man ist in einer konkreten Situation direkt gegenüber den von den eigenen Handlungen Betroffenen und für diese Handlungen bzw. deren Folgen für die Betroffenen verantwortlich. Aber das ist heute in einer komplexen Gesellschaft, in der eben sehr viele u. U. ebenso folgenträchtige indirekte Wirkzusammenhänge international und global auftreten, nicht mehr allein der typische Fall, sondern man muß auch von einer indirekten moralischen Handlungsverantwortung oder (und) einer Verantwortlichkeit für unterlassene Handlungen für solche Menschen sprechen, die abhängig sind von unserem Handeln hier, aber u. U. in anderen Ländern leben.

Die moralische Fürsorge- und Vorsorgeverantwortung ist natürlich auch hier zu finden, z. B. gibt es auch eine moralische Verantwortlichkeit der Eltern für ihre Kinder. Es findet sich neben diesen unmittelbar handlungsgebundenen Verantwortlichkeiten auch jeweils eine höherstufige Verantwortung zur Erfüllung vertraglicher Pflichten oder z.B. zum Einhalten von Gesetzen. Pflichten zu erfüllen und Gesetze einzuhalten, das ist auch eine moralische Verantwortlichkeit und somit eine höherstufige Pflicht zur Pflichterfüllung. Diese höherstufige Verantwortlichkeit zur Erfüllung vertraglicher Pflichten bezieht sich natürlich dann auch auf die sog. Ethikkodizes von Verbänden, beispielsweise von Wissenschaftlervereinigungen, Ingenieurverbänden, die auch heut-

zutage meistens die „Verantwortung für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und die Förderung von öffentlicher Gesundheit und Wohlfahrt" explizit enthalten.

Eine moralische Verantwortung von Institutionen und Korporationen wird wie erwähnt diskutiert - und es scheint so zu sein, daß man in der Tat den Institutionen auch eine Art von Verantwortlichkeit im moralischen oder quasi-moralischen Sinne zusprechen kann, ohne diese Institutionen und Korporationen nun analog zu den sog. juristischen Personen zu „moralischen Personen" machen zu müssen, wie Peter French (1984) das tun möchte. Die Gruppen- und Einzelverantwortlichkeit je nach Mitwirkungs- und Einwirkungsmacht ist natürlich auch in diesem Diagramm der universalmoralischen Verantwortlichkeiten enthalten. Die Sozialpsychologen haben festgestellt, daß faktisch mit der Beteiligung von größeren Gruppen der Eindruck entsteht, daß die eigene Verantwortlichkeit geringer wird. Das mag im Zusammenhang mit entsprechenden Gemeinschaftsentscheidungen richtig sein, aber im strikt moralischen Sinne darf, soll das nicht so sein. Wenn z.B. unser Parlament auch moralische Verantwortung trägt, trägt jeder einzelne Abgeordnete diese Verantwortung immer mit, und zwar im gleichen Maße, er darf und (in gewissem Sinne!) kann sich nicht hinter den breiten Schultern des Parteivorsitzenden verbergen. Im moralischen Sinne ist die Verantwortlichkeit nicht verringerbar, nicht teilbar, nicht delegierbar, nicht subtrahierbar. Das ist die Grundidee, die hier eine Rolle spielt. Dennoch gibt es - leider - die allgegenwärtigen

Phänomene der Verwässerung von Verantwortung in Gruppen und zumal Großgrup-

pen!

Diese Verantwortungsdiagramme sind teilweise von der Kritik mißverstanden worden, weil man z. T. - bei allzu oberflächlicher Betrachtung - glaubte, sie würden un-

95

terschiedliche und disjunkte Verantwortungstypen darstellen. Das aber tun sie nicht, sondern sie umreißen Dimensionen und Verantwortungstypen, die als analytische und idealtypische gemeint sind. Sie sind also nicht notwendig in dem Sinne voneinander zu unterscheiden, daß sie nun je getrennt auftreten, sondern in der Realität überlappen sie sich meist oder sind in einem mehr oder minder hohen Grade einschlägig. Es handelt sich also nicht um einander ausschließende Bestimmungen, sondern um perspektivisch-analytische Charakterisierungen.

Außerdem muß man sagen, daß die Diagramme selbst so etwas wie eine komplexe Zusammenstellung liefern, und nicht nach einem einheitlichen einzigen Kriterium aufgestellt sind. Das allgemein-schematische Handlungsdiagramm setzt nur voraus, daß jemand für Handlungen verantwortlich ist und daß hier Handlungsverantwortlichkeiten in bezug auf das, was er als Handelnder kausal bewirkt hat, realisiert werden. Es geht also nicht um ein durchgängiges Einteilungskriterium, sondern es sind unterschiedliche charakteristische Verbindungen aufgezeichnet. Generell ist der in einem solchen Diagramm auftretende höhere Verantwortungstyp so beschaffen, daß seine Aktualisierung die Realisierung wenigstens einer der Untertypen zur Folge hat, daß also diese speziellen Untertypen auch oder alternativ aktualisiert werden. So kann sich etwa eine Handlungsergebnisverantwortung als positive Kausalverantwortung persönlicher Art spezifischer für einen Kontrollingenieur als aktive Verhinderungsverantwortung bei der Überwachung darstellen, und zugleich ist die Tätigkeit des Kon-

trollingenieurs auch in der Tat ein Fall einer Rollenpflichtwahrnehmung, also der entsprechenden Rollen- und Aufgabenverantwortlichkeit zuzuordnen. Die einander nebengestellten Untertypen sind normalerweise nicht zwingend alternativ oder disjunkt zueinander; denn die untereinander aufgeführten Typen stellen wie angedeutet im allgemeinen eher Folgerelationen hinsichtlich der Realisierung dar. So kann z.B.

die generelle Verantwortung für langfristige Handlungsdispositionen sich durchaus etwa einer positiven Kausalhandlungsverantwortung für eine bestimmte Handlung in einer bestimmten Situation überlagern und auch mit einer institutionellen Handlungsverantwortung einhergehen. - In der jeweils unteren Hälfte der Diagramme sind Unterscheidungen nach Handlungsträgern aufgeführt, individuelle oder gruppenorientierte oder korporative Verantwortlichkeit. Auch das gibt natürlich kein einheitliches Kriterium zur Strukturierung des Gesamtdiagramms her, sondern das ist zur didaktischen Verdeutlichung beigebracht worden.

Die Einteilungen der Diagramme sind also nicht nach einem einzigen einheitlichen Kriterium gestaltet, sondern der Übersichtlichkeit halber und zur Wiedergabe der normalen Relationen zwischen allgemeineren und spezifischeren Verantwortlichkeiten. Wenn man freilich über solche Differenzierungen verfügen kann -, ich werde unten noch eine weitere Profildifferenzierung zwischen Verantwortlichkeiten aufführen -, dann kann man in besserer und klarer Weise Verantwortungskonflikte darstellen, und das ist das Entscheidende. Meistens sind unsere Verantwortungsfragen, wenn sie sich in der Praxis stellen, Konflikte zwischen unterschiedlichen Verantwortlichkeiten. Konflikte kann man auf diese Weise, also in differenzierterer Form erfassen, natürlich damit allein noch nicht besser lösen oder nur mildern oder regeln, dazu benötigt man mehr an theoretischen und vor allem normativen Hilfsmitteln. Dazu braucht man z.B. bestimmte Regeln über Prioritäten: z.B. die generelle Regel, daß moralische Verantwortlichkeit im allgemeinen vor Rollenverantwortlichkeit geht. Auf solche Prioritäten und deren Regeln bzw. mögliche Normierungen muß noch eingegangen werden.

96

Wir hatten uns in diesem Kapitel im wesentlichen mit verschiedenen Diagrammen und Ebenen von Verantwortung befaßt, und zwar mit der Unterscheidung zwischen moralischer, rechtlicher, Handlungs-, Rollen- und Aufgabenverantwortung. Es wurde darauf verwiesen, daß im Grunde die Verantwortlichkeit als einheitlich und unteilbar aufgefaßt werden sollte und müßte und daß unter den Gesichtspunkten einer konkreten Humanität in einer Situation die verschiedenen Verantwortlichkeiten dann eben jeweils situationsspezifisch oder auch in Kompromissen dann abgewogen und entsprechend dem individuellen Gesichtspunkt kombiniert werden müssen. Im folgenden sollen zwei weitere Einteilungsarten für Konzepte der Verantwortung erwähnt werden.

97

Verantwortungspolaritäten und idealtypische Extreme auf Kontinua 1. normativ

deskriptiv

2. institutionalisiert

informell

(sozial normiert)

3. rechtlich

4. rollen- oder aufgabenspezifisch

5. inhaltseng-spezialistisch

6. negativ (retributiv, vergeltend) 7. vergangenheitsorientiert (ex post) 8. sekundär (verbal, urteilend) 9. prinzipienorientiert („Gesinnungsethik") 10. objektsprachlich (direkt handlungsgerichtet) 11. unteilbar (ganzheitlich) 12. exklusiv (geschlossen)

13. individuell 14. extern 15. fremdzugeschrieben 16. Schuldverantwortung

17. sanktioniert 18. formal 19. legalistisch 20. abstrakt-generell 21. formalistisch-"buchstäblich"

22. aufgabenbezogen 23. moralanalog 24. korporativ 25. kollektiv 26. distributiv

(universal)moralisch (universal)moralisch umfassend generell

positiv zukunftsorientiert (ex ante) primär (handlungssteuernd oder -orientiert) folgenorientiert („Verantwortungsethik",

M. Weber)

metasprachlich-metatheoretisch „Metaverantwortung" (ethiktheorie-orientiert) zerlegbar

(gemeinschaftlich tragbar) inklusiv (offen) sozial (gruppengebunden) (zunft-)intern selbstzugeschrieben (gewissensgebunden) erweiterte moralische Vorsorglichkeits(Ladd) und Fürsorgeverantwortung (Jonas)

nicht-sanktioniert inhaltsgebunden loyalistisch situationsspezifisch personal (persönlich engagierend)

personal moralisch i.e.S. individuenbezogen individuenbezogen nicht-distributiv

Es handelt sich um Polaritäten, deren Akzentuierung jeweils auf dem einen oder

dem anderen Pol in der Gesamtheit dieser Polaritäten liegt. Insgesamt sind es 26, die so etwas wie ein Profil ergeben oder ergeben könnten. Es kann sein, daß diese einzel-

nen Polaritäten, die ich jetzt kurz diskutieren werde, zum Teil noch aufeinander reduziert werden können, obwohl ich das nicht glaube; sie hängen sicherlich inhaltlich miteinander zusammen und überlappen sich, aber es scheint in jedem einzelnen Falle wichtig zu sein, solche Unterscheidungen zu machen, und diese werden auch zum Teil in der Literatur gemacht und sollten auch hier typisch zugrunde gelegt werden. Man

98

kann also von Verantwortungspolaritäten und idealtypischen Extremen bzw. Verantwortungsprofilen in der Zusammennahme dieser verschiedenen Polaritäten sprechen. Es handelt sich dann um idealtypische Gliederungen. „Idealtypisch" im Sinne von Max Weber heißt ja, daß man Profile einander gegenüberstellt und nur die extremen Fälle nimmt, aber nicht annimmt, daß in der Welt die Extremfälle so rein vorkommen. Sehr häufig ist es so, daß der reale Fall sich als eine Mischung oder als ein mittlerer oder mehr oder minder zu einem der Pole verschobenen Fall auf dieser jeweiligen Polarität einordnen läßt. Manche dieser Typen sind entgegengesetzt, schließen einander direkt aus, andere sind der Gradabstufung fähig, und schließlich sind einige sogar auf einem Kontinuum zu sehen. Die 1. Unterscheidung ist die zwischen normativer und deskriptiver Verantwortungszuschreibung: Entweder ziehen wir jemanden zur Verantwortung, das ist die urteilende Perspektive. In der Mitte haben wir auch noch eine appellatorische Funktion der Verantwortungszuschreibung, die zum Teil deskriptiv, zum Teil normativ verstanden werden kann: Du bist hier in diesem Fall verantwortlich, das kann jemand sagen, der nicht kompetent ist, jemanden im normativen Sinne zur Verantwortung zu ziehen, aber trotzdem kann er ihn darauf aufmerksam machen, indem er feststellt, daß der andere hier verantwortlich ist - das ist zwischen dem deskriptiven und dem normativen Pol zu verstehen. Man kann und sollte hier durchaus versuchen, Abstufungen zu machen. Natürlich gilt diese normative und deskriptive Auffassung keineswegs nur für Gesetze oder Erlasse, sondern auch für moralische Beurteilungen und entsprechend auch für die Etablierung von moralischen Normen. Normalerweise wird der Gesetzgeber ein Gesetz statuieren, in Kraft setzen, und das ist eine normative Funktion, die höherstufiger ist als die Anwendung des Gesetzes auf einen Einzelfall. Aber bei moralischen Normen oder gar bei Normen des Umgangs, die überhaupt nicht weiter sanktioniert werden, könnte man jemanden als den verstehen, der eine solche Norm erst einführt und diese zur Nachahmung setzt, das ist ebenfalls eine (quasi)normative Funktion. Es ist wichtig, das „Funktionieren" von Aussagen zu beachten: Normativ, das muß man festhalten, sind nicht Gesetze oder Aussagen schlechthin, sondern Vorkommnisse von Aussagen in Situationen, Kontexten, Zusammenhängen. Eine rein beschreibend scheinende Aussage kann in einem bestimmten Kontext auch normativ gemeint sein, dafür gibt es eine Reihe von Beispielen: Man kann jemanden auf eine Geschwindigkeitsübertretung aufmerksam machen, indem man ihm als Beifahrer zuruft „100" und gleichsam ihn aufruft, die 100 einzuhalten. Es ist also wichtig, die verschiedenen Vorkommnisse in bezug auf die Normativität und die Deskriptivität zu unterscheiden, und man muß sich im klaren sein, ob eine Aussage normativ gemeint ist, obwohl sie unter Umständen deskriptive Form haben kann, oder ob sie deskriptiv gemeint ist. Ein sehr einfaches Beispiel eines solchen Satzes ist das berühmte Beispiel aus Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen: Ein Bauarbeiter soll eine Platte brin-

gen, und es wird gesagt: „Platte". Aus dem Zusammenhang ist klar, daß es sich nicht um den Satz „Das ist eine 'Platte', " handelt, sondern um: „Bring mir die Platte!" „Platte" kann normativ gemeint sein, kann aber in einem anderen Zusammenhang auch deskriptiv interpretiert werden. Es hängt also von den Situationen, vom Kontext ab, von den Erwartungen, von den Rollen, die die einzelnen einnehmen (wenn es der Vorarbeiter ist, hat das etwas anderes zu bedeuten, wenn er „Platte" ruft, als wenn es ein Zuschauer oder ein Nichtbeteiligter tut), ob der Ausdruck normativ oder deskriptiv verwendet wird. Dies gilt auch für die Verantwortungsbegriffe bzw. die Ausdrücke, mit denen wir andere auf Verantwortlichkeiten hinweisen, sei es in deskriptiver Weise, sei es in normativer Weise, sei es in appellatorischer Weise.

99

Die 2. Dimension ist eine, die in der Soziologie häu g diskutiert wird - nämlich, ob

eine Verantwortung sozial institutionalisiert oder normiert ist, d.h. mit bestimmten mehr oder minder formellen Erwartungen oder von allen oder vielen geteilten Erwartungen verbunden ist, oder ob sie informell aufzufassen ist. Auch das ist eine Unterscheidung, die recht deutlich ist und keiner großen Erläuterung bedarf. Meistens ist es ja so, wenn Normen und Erwartungen vorliegen, daß eine gewisse Regelung der Situation und eine Art von, jedenfalls zumindest in loser Form, erwarteter Kontrolle oder Feststellbarkeit als Unterfall eines allgemeinen Falles gemeint ist, aber glücklicherweise muß man sagen, daß in unserem Alltag nicht alles normiert und kontrolliert und institutionalisiert ist, sondern daß es auch durchaus Zuschreibungen von Verantwortung im Sinne der Handlungskausalverantwortung in einer offenen Situation, in nichtinstitutionalisierter Weise gibt (man denke an den Fall von Levinas, daß ich in einer Situation mit dem Antlitz des anderen, der hilfebedürftig ist, konfrontiert werde und dieses als einen Anruf an mich und als eine Aktivierung, Aktualisierung meiner mitmenschlichen Verantwortlichkeit erlebe). In solchen Situationen kann man sagen: Das ist eine unbedingte, unmittelbare existentielle Mitverantwortlichkeit oder Verantwortlichkeit für den anderen. Man kann auch wiederum sagen: Es gibt eine moralische Norm, daß wir dem anderen in Situationen der Hilfsbedürftigkeit helfen, aber es muß

nicht so sein, daß ich in einer solchen Situation die allgemeine Regel erst einmal verdeutliche, sondern ich helfe eben schlechthin - aus Mitleid, aus Mitempfinden, Mitmenschlichkeit usw. Eine solche Hilfe muß nicht institutionalisiert sein; die Moral ist im eigentlichen Sinne niemals wirklich derart institutionalisiert, daß die Normen und Regeln sozial kontrolliert würden, sondern das ist nur indirekt so. Moral kann nicht zwingen, sie kann nur zumuten, sie kann Erwartungen wecken, und kann u.U. auch tadeln oder loben. Das ist in gewissem Sinne natürlich auch eine soziale Kontrolle, wenn auch eine sehr milde, sanfte, die zwar appelliert an die Einsicht und das Gewissen und an die Moralität oder Mitmenschlichkeit, aber nicht in dem Sinne zwangsdurchgesetzt werden kann wie etwa die institutionalisierte rechtliche Verantwortung.

Diese rechtliche Verantwortung macht die 3. Dimension aus. Wir hatten schon gesehen, daß es einen Unterschied gibt zwischen der rechtlichen und der moralischen Verantwortungszuschreibung, aber in dem Sinne, daß man häufig etwas als moralisch beurteilen kann, und das gilt auch für die Aktualisierung von Verantwortungserwartungen, ohne daß das nun schon rechtlich geboten wäre. Die Moral geht weiter als das Recht, sie differenziert und urteilt feiner als das Recht, sie geht gleichsam sensitiver auf

die Situationen, Erwartungen, Beziehungen zwischenmenschlicher Art und Hand-

lungssituationen ein. Sie hat entsprechend weniger Sanktionskraft als das Recht, kaum überhaupt eine äußere Sanktionskraft, allenfalls durch einen moralischen Tadel, und man kann u.U. in einer moralischen Gemeinschaft, einem ethischen Gemeinwesen, wie Kant gesagt hat, der allerdings die Moral sehr gesetzesähnlich verstand, so etwas wie Kontrollen, moralische Kontrollen sehen, indem man jemandem etwa moralisch tadelt. Eine Art von moralischer Prangerwirkung kann durchaus gesehen werden, und sie kann Erfolg haben. Das wäre dann eine Sanktion oder eine moralisch-soziale Kontrolle, die schon so etwas wie eine quasi-rechtliche Funktion ausüben würde. Das gibt es natürlich, aber es ist nicht erzwungen, kann nicht wirklich durchgesetzt werden, ist normalerweise nicht fixiert, es sei denn, man beruft sich auf gewisse nichtrechtliche, sonst auch gültige Gebote etwa der Religion, aber dieser traditionelle Unterschied, daß die Moral nicht zwingen, nur appellieren kann, aber das Recht durchsetzen kann, auch gegen den Willen des Angesprochenen. Das Recht ist nicht auf Einsicht und Ein-

fi

100

sichtsfähigkeit angewiesen, es sei denn in dem trivialen Sinne, daß jemand überhaupt einsichtsfähig ist. Jemand der nicht schuldfähig ist, der z.B. „seine fünf Sinne nicht beisammen hat", d. h. geisteskrank ist, der ist nicht für seine Taten verantwortlich. 27 Normalerweise setzt eine Handlung Schuldfähigkeit und Einsichtsfähigkeit voraus. Aber das sind Fälle, die im einzelnen hier nicht zur Debatte stehen. Wichtig ist nur noch zu sagen, daß diese Gegenüberstellung von rechtlich und universalmoralisch oder ethisch nicht bedeutet, daß das ausschließliche Zuordnungen sind, denn dasjenige, was Recht ist, ist in einem Rechtsstaat normalerweise auch moralisch in Ordnung, obwohl es auch da Ausnahmen gibt, daß man z.B. einen Einzelparagraphen zu Tode reitet und moralische Rücksichtnahmen außer acht läßt. Jedenfalls ist es normalerweise nicht der Fall, daß das Recht der Moral widerspricht, es sei denn, man lebt in einem Unrechtsstaat, da kann es vorkommen, daß es von vornherein einen totalen Konflikt zwischen moralischen Erwartungen und rechtlichen Vorschriften gibt, daß man Rechtsnormen im Interesse der Moral brechen muß (etwa den versteckten Juden nicht an die Gestapo ausliefert), obwohl man von Rechts wegen dazu gezwungen war.

Schließlich haben wir dann 4. die Rollen- und Aufgabenverantwortlichkeit, das war ja eine Ebene der Konkretisierung der allgemeinen Handlungsergebnisverantwortlichkeit überhaupt, die auch der universalmoralischen gegenübergestellt ist. Hier finden sich sehr häufig Konflikte. Aber trotzdem ist das normalerweise nicht als Ausschluß zu verstehen. In Betrieben sollte normalerweise nichts Unethisches oder Unmoralisches von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern verlangt werden, und das geschieht wohl auch nicht oft, aber gelegentlich kommt es schon vor, daß jemand seinen Untergebenen anweist, z.B. den Abfall bei Nacht und Nebel in den Rhein zu „entsorgen". Dies ist etwas, das nun nicht im Interesse der Allgemeinheit und unter dem Gesichtspunkt der Wohles der Allgemeinheit und der Offentlichkeit liegt, sondern geradezu unmoralisch ist, sogar rechtlich verboten ist. Insofern treten solche Konflikte zwischen der Rollen- und Aufgabenverantwortung einerseits, insbesondere in abhängiger Situation, und der rechtlichen und moralischen Verantwortlichkeit andererseits auf. - Es können aber auch Konflikte zwischen der Rollenverantwortung und der höherstufigen Verantwortlichkeit, die Rechtslage zu beachten, das Recht nicht zu brechen, auftreten. Solche Konflikte kann man sich leicht im einzelnen vorstellen, und es gibt auch viele Beispiele dafür, denken Sie an den Fall der Tätigkeit der Ärzte, die gegen ihr Gewissen an der Entwicklung eines Medikamentes arbeiten sollten, das, wie sie meinten, auch im militärischen Zusammenhang gebraucht werden sollte. Die rollen- und aufgabenspezifischen Verantwortlichkeiten sind jedem, der in sozialen, institutionellen, beruflichen Zusammenhängen steht, bekannt, und sind normalerweise übereinstimmend mit einer gewissen Institutionalisierung des Zusammenhangs - aber nicht immer. Deswegen muß diese 4. Unterscheidung getrennt werden von der 2.: Es gibt Rollen und Aufgaben, die nicht direkt institutionalisiert sind in dem Sinne, daß sie in einem System stattfinden, das einer fixierten Kontrolle sozialer Art unterliegt oder von irgendwelchen etablierten Regeln gesteuert wird, z.B. tritt das heutzutage häufig ein in einer noch ungeklärten Situation, nämlich der berühmten

Ehe ohne Trauschein, wo keine institutionalisierte Beziehung besteht, aber doch durch die Rollen Verantwortlichkeiten erzeugt werden, die derzeit immer mehr auch

27 Der seine Trunkenheit selbst verschuldende Betrunkene ist für einen von ihm verursachten Schaden „in gleicher Weise verantwortlich, wie wenn ihm Fahrlässigkeit zur Last" gelegt werden kann - so jedenfalls im Recht (§ 827 BGB).

101

vom Recht gesehen und anerkannt bzw. berücksichtigt werden. Es ist sehr schwierig, dies rechtlich zu kanalisieren. Entsprechendes gilt dann auch für die Situationsverant-

wortlichkeit - denken Sie an das berühmte Samariterbeispiel in der Bibel oder an

das Beispiel des Hilfebedürftigen von Levinas: Da ist man durch die Situation in eine Rolle gekommen, die eine Rollenverantwortlichkeit insbesondere auf moralische Weise aktualisiert, ohne daß der Zusammenhang selbst institutionalisiert wäre.

Die 5. Dimension bezieht sich auf eine inhaltseng umschriebene Aufgabe, eine spezialistische Verantwortlichkeit, die für eine ganz bestimmte Aufgabe, etwa als Prüfer in einem bestimmten Zusammenhang bei einer Verfahrensprüfung, gegeben ist. Eine verantwortlich wahrzunehmende Aufgabe, und somit die Verantwortlichkeit, die mit dieser Aufgabe verbunden ist, kann sehr eng umschrieben sein oder sehr präzise, das ist hier gemeint; die Aufgabe kann sich aber auch umfassend und generell auf eine Betreuungsaufgabe beziehen, z.B. bei Pflegepatienten oder bei Kindern. Wir werden später noch, in der 11. Profilgegenüberstellung, auf eine Verantwortung der umfas-

senden und zerlegbaren Verantwortlichkeit zurückkommen, die mit dieser zusammenhängt, aber nicht ganz darauf zurückzuführen ist. Bei der 5. Gegenüberstellung

geht es nur um die enge Umschreibung oder die relativ weite Formulierung der Verantwortlichkeit. Natürlich hängt die spezifische inhaltliche Präzisierung der entspre-

chenden Aufgabenverantwortlichkeit, die aufgabenspezifische Strukturierung der Verantwortung durchaus mit der vorigen Kategorie der Rollen- und Aufgabenverantwortlichkeit zusammen und überlappt sich normalerweise, so daß hier nur in seltenen Fällen eine Unterscheidung eintreten kann, aber die Unterschiede sind durchaus vorhanden und man muß sie berücksichtigen. Die 6. Polarität ist dann die Gegenüberstellung von negativ oder vergeltend wirkender Verantwortung, von Schuldverantwortung, die rückschreitend gleichsam jemanden verantwortlich macht, die retributiv jemanden für seine Untaten verantwortlich

macht, also negativ funktioniert. Meistens wird Verantwortlichkeit so verstanden. Man redet erst dann, wenn irgendwelche Untaten zu verantworten sind, von Verantwortlichkeit. Während demgegenüber die positive Verantwortlichkeit weniger erwähnt wird; diese hat es häufig mit der Zukunftsorientierung zu tun, aber das muß nicht so sein; es kann auch durchaus eine warnende Verantwortlichkeit positiver Art

in bezug auf eine gerade geschehene Tat wichtig sein, und umgekehrt kann auch mahnend eine positive Verantwortlichkeit in bezug auf eine zu tuende Aufgabe gegeben sein. Die Unterscheidung ist letztlich unabhängig von der Vergangenheits- und Zukunftsorientierung, aber häufig damit verbunden. Schuldzuschreibung oder negative Verantwortlichkeit kommt häufig ex post vor, d.h., daß man für Handlungen in der Vergangenheit Schuld zuschreibt, aber es ist nicht immer so. Gerade beim mahnenden Abwenden von möglicher Schuld ist das durchaus zukunftsorientiert möglich, und bei der positiven Verantwortlichkeit ist die Mahnung normalerweise in die Zukunft gerichtet, aber man kann sich durchaus eine positive Verantwortlichkeit in die Vergangenheit vorstellen, z.B. im Sinne des Lobens oder der Anerkennung. Der schon

wiederholt zitierte Moralphilosoph John Ladd legt diese Unterscheidung und die später dann zu diskutierende Unterscheidung zwischen Tadelns- und Lobensverantwortlichkeit seiner neuen umfassenden Theorie moralischer Verantwortlichkeit zugrunde, in der er sagt, daß wir nicht nur auf Schuldverantwortung zurückgreifen sollen, sondern in erster Linie moralisch auf das zu Tuende im positiven Sinne mehr achten müßten, und daß die Verantwortlichkeit gerade im ethischen Zusammenhang in dieser Weise zu erweitern ist. 102

Als nächstes haben wir die 7. Polarität mit der vergangenheitsorientierten Verantwortlichkeitszuschreibung ex post einerseits: man wird zur Verantwortung gezogen für etwas, das schon geschehen ist, was man getan hat, was zu verantworten ist, liegt in der Vergangenheit, und der Ex-ante-Verantwortung andererseits, letztere meistens im Zusammenhang mit dem warnenden oder in die Zukunft mahnenden Gewissen usw. Diese Unterscheidung zwischen Ex-ante-Verantwortung und Ex-post-Verantwortung ist relativ klar und auch nicht unbekannt. Daß die Unterscheidung sinnvoll ist und nicht mit der vorangegangenen Polarität zu vermischen ist, ist klargeworden aus den diskutierten Mischfällen. John Ladd hat eine weitere Unterscheidung vorgeschlagen zwischen einer sekundären beurteilenden Verantwortung aus der Beobachter- oder Richterperspektive, die sich auf andere Personen und deren Verantwortlichkeit bezieht, sei es im deskriptiven, sei es im normativen Sinne, und einer direkt handlungssteuernden, primär handlungsgebundenen Verantwortlichkeit, die sich in erster Linie aus der Selbstdeutung, Selbstperspektive oder der Selbstzuschreibung der Verantwortlichkeit ergibt (8.). Wenn ein

Richter jemanden moralisch verantwortlich macht, und zwar nicht nur der Richter bei Gericht, sondern auch der moralisch urteilende, dann ist das etwas anderes, als wenn ich eine Handlung und Handlungsfolgen selbst unter diesem Gesichtspunkt der primären Verantwortbarkeit sehe. Ladd meint, wenn man moralisch urteilt, insbesondere über Handlungen anderer moralisch urteilt, dann urteilt man eher in diesem sekundären Sinne unter dem Gesichtspunkt einer leitenden Verantwortungsidee. Wenn man einem Handelnden in bezug auf eine bestimmte Situation dann Verantwortung zuschreibt, sowohl deskriptiv als auch normativ, daß man sich dann aber nicht selbst unmittelbar auf die Handlung bezieht. Diese Unterscheidung ist auch wichtig für die höheren Ebenen der moralischen oder metamoralischen Beurteilung von Handlungen anderer oder der eigenen Handlungen, wenn ich z. B. meine eigene Handlungsweise aus höherer Perspektive selbst hinterfrage oder beurteile. Diese sekundäre Verantwortlichkeit in diesem Sinne markiert auch schon den Übergang zu dem, was Hans Jonas, John Ladd u.a., z.B. auch ich früher, erweiterte moralische

Verantwortlichkeit nennen.

An 9. Stelle ist das traditionelle Paar Gesinnungsethik gegenüber Verantwortungsethik nach Max Weber aufgeführt: Gesinnungsethik heißt bei Weber, daß im wesentlichen, wie bei Kant, das innere Motiv, die Absicht, der Antrieb entscheidet über die Beurteilung in moralischer Perspektive und auch unter dem Gesichtspunkt der Verantwortlichkeit, d.h. es handelt sich um die handlungsleitenden Prinzipien, die entscheiden, und deswegen sollte man besser von Prinzipienethik statt von Gesinnungsethik sprechen. Die handlungsleitenden Grundideen, bei Kant das Sittengesetz und die Achtung vor dem Sittengesetz, sind das Entscheidende. Der Ausdruck „Gesinnungsethik" ist mißverständlich und ungeschickt, weil man an die psychisch vorkom-

menden Motive und die empirisch-psychologisch zu analysierenden oder darzustellenden Motive und Gesinnungen denkt, aber diese Motive sind nicht gemeint, sondern die Orientierung an inneren leitenden Prinzipien. Die bei Max Weber ebenso mißverständlich genannte Verantwortungsethik besteht darin, daß ich mich an den Folgen des Handelns orientiere. Verantwortungsethik heißt bei Max Weber ethische Beachtung der Folgen des Handelns, die Folgen entscheiden zumindestens mit darüber, ob eine Handlung nun ethisch gerechtfertigt ist oder nicht. Deswegen sollte man hier besser von einer Folgenethik sprechen, statt von einer Verantwortungsethik im eigentlichen Sinne. Heute spricht man vielfach von konsequentialistischer Ethik und stellt

103

die konsequentialistischen Ethiken, das sind Ethiken des Utilitarismus, der Nützlichkeitsorientierung, des größten Glücks, des geringsten Leids für die größte Zahl, den Prinzipienethiken, die man deontologische Ethiken nennt, gegenüber. Die Kantische Ethikversion ist eine extreme deontologische Ethik, während die Nützlichkeitsethik à la Utilitarismus eine Folgenethik, eine Ethik im Sinne der Folgenorientierung ist. Richtig ist wohl, daß beide Extreme nicht ausreichen, man braucht so etwas wie eine Mischung: Man braucht Prinzipien, aber man braucht auch Orientierungen an den Folgen. Man kann nicht nach dem Satz: „Fiat moralitas pereat mundus" handeln, denn das

erscheint aus höherer Perspektive inhuman, verletzt Gebote der konkreten Humanität, denn - wie der analytische Moralphilosoph Frankena gesagt hat - die Moral ist

für den Menschen gemacht und nicht der Mensch für die Moral. Die Moral hat sich

letztlich an der Forderung der menschlichen Verantwortbarkeit im höheren Sinne, an

den Bedingungen der konkreten Humanität zu orientieren und kann nicht „auf

Teufel komm raus" durchexerziert werden - ganz gleich, wie viele Menschen oder wieviele menschliche Rücksichten dabei auf der Strecke bleiben würden. Eine Ethik der konkreten Humanität kann man nur durch eine sinnvolle Mischung von Prinzipienethik und Folgenethik erreichen. Man kann sich nicht nur auf hehre Prinzipien der Moral oder des Rechts allein versteifen und sagen, alles andere spielt keine Rolle. Kant hatte Neigungen in diese Richtung. Und man kann sich ebenso wenig bloß auf die Folgen hin orientieren und sagen, so schlecht auch der Antrieb gewesen sei, es ist glücklicherweise nichts Böses passiert, also ist derjenige, der diesen bösen Antrieb gehabt hat, von vornherein entschuldigt. Sowohl die Prinzipien als auch die Folgen spielen eine Rolle. Es muß so etwas wie eine abgewogene Mitte gefunden werden oder ein Kompromiß oder eine Proportionierung, die u.U. auch von persönlicher Beurteilung abhängt. Die verschiedenen Ebenen der Verantwortung müssen letztlich zusammengeführt werden in eine konkret humane Kombination von Verantwortlichkeiten, die durch die Person und ihr Gewissen verantwortet oder gestützt wird, zu leisten, zu rechtfertigen und zu vertreten ist.

Die 10. Dimension ist ähnlich wie die 8., sie bezieht sich nur auf eine andere Stufung: Direkt handlungsgerichtet heißt hier in bezug auf die sprachliche Beschreibung oder die Orientierung. Die Verantwortung, die sich direkt auf Handlungen bezieht, wird in einer anderen Sprachebene, etwa in der Objektsprache der Verantwortlichkeiten, ausgedrückt als etwa die Verantwortung, die sich z.B. darin äußert, daß man eine mora-

lische Verantwortung hat, sich an Gesetze zu halten. Das ist eine wesentlich höherstufige Verantwortung, die sich nicht unmittelbar auf die einzelnen Handlungen bezieht, sondern erst sekundär, indirekt, also eine höherstufige Verantwortung ist, die entsprechend auch metasprachlich zu beschreiben wäre. Mit anderen Worten: man hat Stufungen der Verantwortung nach bestimmten Iterationsstufen, man kann ganze Konzepte oder Komplexe von unteren Verantwortlichkeiten, z.B. Einhaltung von Gesetzen, selber wieder der Verantwortungsfrage unterwerfen, und darüber hinaus ist es auch so, daß Gesetzestexte und -corpora bzw. entsprechend Theorien der Moral oder auch Komplexe der moralischen Gebote oder Systeme von Menschen gemacht werden und selbst die Etablierung, auch die Anerkennung, Durchführung und Kontrolle dieser Systeme wiederum Verantwortlichkeitsprobleme höherer Stufe aufwerfen. So kann man wohl sagen, daß auch Ethiker und Philosophen eine spezifische Metaverantwortung haben - eine ethische Metaverantwortung, d. h. eine Verantwortung für die Weiterentwicklung etwa der theoretischen Durchdringung, der Analyse der Moral und auch der entsprechenden Normen. Es gibt u.U. Situationen, in denen ganz neue Anforderungen und Herausforderungen entstehen, die mit der bisherigen 104

Moral gar nicht zu bewältigen sind, z.B. heutzutage in der Anwendung der Genbiologie, der Gentechnik auf menschliches Erbgut. Darf der Mensch das? Ist da überhaupt etwas vorgesehen in den Zehn Geboten? Wir sind da relativ ratlos: Was kann, soll, darf der Mensch? Er darf offensichtlich nicht all das tun, was er kann. Er soll dort Normen setzen? Kann man das durch das Parlament erledigen lassen? International gibt es sehr große Unterschiede, in England ist man sehr viel liberaler als in Deutschland; irgendwann wird die Europäische Union auch zu einer Einigung kommen müssen, durch mehr oder minder faule Kompromisse - wie üblich - in Europa? Es entwickel(te)n sich Probleme der Verantwortlichkeit in bezug auf die Weiterschreibung, die Fortschreibung der Moralgrundintuitionen, die gegeben sind. Hierbei geht es um die Verantwortung für die Entwicklung und auch die Weiterentwicklung der ethischen Ansätze, der moralischen Kodizes, der Rechtsnormen selber und nicht nur

um die Klärung und Anwendung bzw. Kontrolle schon bestehender. Auch unsere

ethischen Intuitionen sind nichts Festgeschriebenes, sondern müssen weiterentwickelt werden angesichts neuer Situationen. Auch dazu gibt es bisher sehr wenig, und diese Fragen würden unter diese Art von Metaverantwortlichkeit fallen. Man kann sehen, daß diese Kategorie Metaverantwortung durchaus mehrstufig zu verstehen ist: einerseits als metasprachliche Beschreibung von Moralnormen oder -kodizes, die sich nicht unmittelbar auf Handlungen beziehen, andererseits auf die metatheoretische Weiterentwicklung ganzer Komplexe, Konzepte oder sogar moralischer Grundintuitionen. Hier ist eine gewisse Möglichkeit der weiteren Unterteilung gegeben.

Bei der 11. Polarität ist die Unteilbarkeit der Verantwortung hinsichtlich des Inhalts der Idee gemeint, und diese kann einer zerlegbaren, teilbaren oder jedenfalls als teilbar vorstellbaren Verantwortung gegenübergestellt werden. Es kann sein, daß eine einheitliche Verantwortung gegeben ist, die überhaupt nicht zerlegt werden kann in

Teilkomponenten. So gibt es eine umfassende Verantwortlichkeit der Eltern für ihre Kinder, die sich nicht in Einzelkomponenten zerlegen läßt, obwohl natürlich Einzelverantwortlichkeiten aus dieser umfassenden Verantwortung in bezug auf einzelne Handlungen der Eltern gegenüber den Kindern oder im Zusammenhang mit den Kindern folgen. Aber die Idee der Gesamtverantwortung ist nicht direkt zerlegbar. Hier wird also hinsichtlich des Inhalts der Ganzheit der Verantwortung unter-

teilt.

Demgegenüber ist die 12. Kategorie eine Verantwortlichkeit hinsichtlich der Träger. Meistens wird ja eine Art Tendenz zur Exklusivität von Veranwortungszuschreibung festgestellt, man braucht möglichst einen Sündenbock. Bei negativer Verantwortungszuschreibung gibt es eine Tendenz, einen und nur einen verantwortlich zu machen, das ist Exklusivität, die besonders kennzeichnend ist für die üblichen rechtlichen Verantwortungszuschreibungen oder für das Zur-Verantwortung-Ziehen im Recht. Hier kann man von exklusiver oder geschlossener Verantwortung sprechen, während man

demgegenüber mit John Ladd der geschlossenera bei der moralischen Verantwortung eher als typisch

sehen sollte, daß diese beteiligungsoffen ist, Beteiligung zuläßt, Mitverantwortlichkeiten geradezu fordert oder als Normalfall erklärt und nicht etwa ausschließt. Deswegen ist sie inklusiv. Eine Verantwortung, die beteiligungsoffen ist, ist eine inklusive Verantwortlichkeit, die dann auf mehrere Träger oder auf eine Trägergemeinschaft, die offen ist, ausgerichtet ist. Das bezieht sich also auf die gemeinschaftliche Tragbarkeit,

es ist ja häufig so, daß bei dem Appell an die moralische Verantwortlichkeit viele Mitverantwortliche angesprochen werden.

105

Diese Gegenüberstellung ist ganz wichtig und hängt zusammen mit der gruppengebundenen Verantwortlichkeit, wie sie in der nächsten Dichotomie (13.) gesehen wird: Eine Verantwortlichkeit kann entweder individuell sein, auf eine einzelne Person zugeschnitten sein, oder sie kann von Gruppen getragen werden, wobei diese Gruppen mehr oder weniger strukturiert sein können, es können ganz lose Gruppen sein wie Zusammenballungen, Massen oder betroffene Gruppen, die in einer Situation erst entstehen, die unstrukturiert sind, es können aber auch Korporationen oder hochstrukturierte formelle Organisationen sein. In jedem Fall sind hier Unterschiede zu machen und diese werden in den Polaritäten 24 und 25 nochmals aufgenommen. Jedenfalls ist es wichtig, zwischen einer prinzipiell von Gruppen zu tragenden Verantwortung zu sprechen im Gegensatz zu der individuellen, auf eine Person bezogenen Verantwortung. Diese Polarität ist nicht die gleiche wie die vorige (12.), bei der vorigen ging es um die Beteiligungsoffenheit, die Erweiterbarkeit, und hier ist das Grund-

muster, ob ein Individuum verantwortlich ist oder eine Gruppe. Das eine solche Unterscheidung sehr sinnvoll ist auch zur Beurteilung von konkreten Verantwortlichkeitsproblemen ist deutlich.

14. Wir haben hier die berühmte, in der Wissenschaftsethik vorkommende Dichotomie von externer und interner Verantwortung. Die interne ist diejenige in einer Zunft, z.B. Standesmoral, Wissenschaftlerethos, die Verantwortlichkeit, die man gegenüber den Kollegen, gegenüber der Idee des eigenen Standes, des Berufs hat, die bestimmte Standesregeln, Berufsethiken, Ethikkodizes usw. umfaßt. Alles das, was man als Standesethos bezeichnen kann, wobei dieses Ethos häufig kodifiziert in Berufsregelungen, Ethikkodizes ist, die meist Verantwortlichkeiten im allgemeinen mit enthalten. Sehr häufig wird die Ethik der Wissenschaft oder der Wissenschaftler verwechselt mit dem Wissenschaftlerethos. Aber das Ethos bezieht sich auf das interne Zunfthandeln, daß z.B. Fairneßregeln eingehalten werden, Quellen angegeben werden, Prioritäten gewahrt werden bei der Forschung, daß nicht betrogen oder getäuscht wird usw. Sie müssen also nicht generell universalmoralisch genannt werden, außer vielleicht in dem

Sinne, daß auch die Nichtwahrung einer entsprechenden Priorität bei einer Ent-

deckung so etwas ist wie Betrug oder Lüge oder Verschweigen, man kann ja auch dadurch lügen, daß man etwas nicht sagt. Das wird meistens als eine geringere Verfehlung angesehen. Demgegenüber ist die externe Verantwortung der Berufsgruppen gegenüber der Allgemeinheit, gegenüber den von ihren Handlungen Betroffenen eher im allgemeinen Sinne universalmoralisch relevant. Das ergibt sich insbesondere bei Technikern, wenn sie bestimmte Entwicklungen machen oder anwenden und Menschen davon betroffen sind. Das gilt auch in den Grauzonen zwischen Naturwissenschaft, grundlagenorientierter technischer Entwicklung und spezieller, zweckgebun-

dener projketorientierter Entwicklung im einzelnen. Das ist heutzutage ja keine differenzierte Polarität mehr zwischen Grundlagenforschung und Anwendung, sondern da sind sehr viele Ubergangsstufen vorhanden, und je stärker die Anwendung involviert und unmittelbar beabsichtigt ist, desto stärker spielt die externe Verantwort-

lichkeit des beteiligten Technikers oder anwendenden Wissenschaftlers auch eine entscheidende Rolle. Ein Wissenschaftler kann sich da nicht einfach herausreden, wie es Mößbauer noch im vorigen Jahr in der Studentenzeitung Ventil gemacht hat, indem er sagte, in der Grundlagenforschung habe man überhaupt keine Verantwortung. Das ist an sich schon unsinnig: Man hat zumindest eine Verantwortung im Sinne des Wissenschaftlerethos, der internen Verantwortlichkeit, das würde er wahrscheinlich auch nicht leugnen, aber er meint, man habe keine externe Verantwortung gegenüber der Gesellschaft, gegenüber den Menschen, die von der Forschung eventuell betroffen

106

werden könnten. Das ist auch nicht so einfach, weil man bei der Forschung oftmals nicht voraussehen kann, was dabei herauskommt und wie das und von wem das Ergebnis verwendet wird, außerdem sind die Möglichkeiten der Verwendung meist ambivalent, sie können für die Menschheit positiv verwendet werden oder negativ, das hängt sehr von Gesichtspunkten ab, denken Sie an die Kernenergiedebatte.

Man muß auch unterscheiden - 15. - zwischen fremdzugeschriebener Verantwortung, also Verantwortlichkeit, die einem anderen zugeschrieben wird, sei es deskriptiv, sei es normativ, und einer selbstzugeschriebenen Verantwortung. In der selbstzugeschriebenen Verantwortung ist weitgehend das Moralische impliziert. Wir hatten davon gesprochen, daß das Gewissen so etwas ist wie die Bewußtheit selbstzugeschriebener moralischer Verantwortlichkeit, und das ist hier einschlägig. Die 16. ist eine ganz besonders interessante Gegenüberstellung, die wir von unseren zehn Kategorien der inhaltlichen Gestaltung her kennen, nämlich die blame responsibility, die Schuldverantwortung oder Tadelnsverantwortlichkeit oder Tadelnswürdigkeit einerseits, und die Lobens- bzw. Anerkennungsverantwortlichkeit andererseits. Wahrscheinlich müßte man hier auch noch genauer unterscheiden: Ich würde statt von erweiterter moralischer Fürsorge- und Vorsorglichkeitsverantwortung lieber von Lobenswürdigkeitsverantwortung oder Anerkennungsverantwortung sprechen. Man könnte die Fürsorge- und Vorsorglichkeitsverantwortung als eine eigene Kategorie

einbringen, die der bloßen retributiven Schuldverantwortung gegenübergestellt wird (Das wäre dann Polarität 16a.) Wir neigen im Moralischen dazu, leider auch ähnlich wie im Rechtlichen, daß wir die Verantwortungsdiskussion auf Schuldzuschreibungen reduzieren oder auf die Tadelnswürdigkeit, also nur negativ verstehen - das ist aber eine extreme Einschränkung des ethischen und moralischen Gesichtspunkts auf das rechtsanaloge, auf das dem Recht Ähnliche, eine Auffassung, die die Moral zu sehr am Beispiel der rechtlichen Zuweisung von Schuld oder der rechtlichen Auszeichnung eines Schuldigen interpretiert und insofern einseitig ist. Man muß hier von einem weiteren Profil der Verantwortlichkeiten ausgehen, und normalerweise wird in einem bestimmten konkreten Verantwortungsproblem auch eher eine Art von Mischung entstehen. Die Offenheit der Verantwortlichkeit in die Zukunft ist hier auf der Seite der Fürsorglichkeit zu sehen, der erweiterten moralischen Verantwortlichkeit in diesem Sinne. John Ladd meint, daß die typische moralische Verantwortlichkeit im wesentlichen in dieser Polarität gesehen wird und daß man praktisch die traditionelle Schuldverantwortung zumindest erweitern sollte, vielleicht sogar aus der Perspektive der moralischen Verantwortlichkeit herausnehmen sollte. Er unterscheidet zwischen „blame responsibility" und der moralischen Verantwortlichkeit, die er in diesem erweiterten, positiven Sinne sieht. Aber auch das ist zu eng gesehen: Natürlich kann man auch moralische Schuld auf sich laden, und die moralische Verantwortlichkeit geht keineswegs unabhängig von Verschulden oder Schuldzuschreibungen vonstatten, d.h. man kann durchaus moralische Schuld haben, ohne rechtliche Schuld zu haben. Die Moral ist differenzierter, sensibler und feiner als das Recht, man kann persönliche Schuld auch auf sich laden, wenn man durchaus gegen das Recht nicht verstößt, sondern u.U.

sogar dann, wenn man dem Recht besonders explizit folgt. Deswegen muß es

einen erweiterten Aspekt geben, Ladd spricht auch von einer „caring responsibility" oder einem „caring aspect". Unsere Macht verurteilt uns zu einer erweiterten Verantwortlichkeit, wir sind verantwortlich für Wesen und deren Wohl und Wehe in einem umfassenden Sinne, in dem Maße, in dem sie von uns und unserer Macht abhängig

sind.

107

Die nächste Gegenüberstellung (17.): sanktionierte Verantwortung gegenüber nicht sanktionierter, schließt an die Schuld- und die Fürsorglichkeitsverantwortung an, könnte aber genauso gut an die 2. Polarität anschließen, denn Sanktionen, also Strafe oder entsprechend auch positive Sanktionen, sind soziale Kontrollen in Institutionen. Normalerweise müssen Institutionen vorausgesetzt werden, damit Sanktionierungen überhaupt stattfinden können, zumindest wenn es sich um allgemeine Sanktionen handelt und nicht nur um persönliche Sanktionen in Beziehungen unmittelbar unter Menschen. Das Beispiel der Möglichkeit von Sanktionen auch zwischen Personen in nichtinstitutionellen Beziehungen zeigt, daß das zwar zusammenhängt mit der Institutionalisierung und mit rechtlichen Sanktionierungen, aber nicht dasselbe ist. Es gibt

also durchaus Möglichkeiten, Sanktionen auszusprechen, die nicht im strikten Sinne institutionalisiert oder gar rechtlich formalisiert sind. Das kann auch für die

Selbstzuschreibung gelten, manchmal hängt das auch mit Gewissensbissen zusammen. Man könnte sagen, Gewissensbisse sind innerpsychische Selbstsanktionen, aber sie sind nicht formell sanktionierend. Denken Sie etwa an den Bericht aus dem Internierungslager der bekannten deutschen Physiker 1945 in England, die abgehört wurden,

denen per Rundfunk mitgeteilt wurde, daß die amerikanische Atombombe über Hiroshima abgeworfen worden sei, und die zunächst ungläubig, aber dann z.T. entsetzt reagierten. Otto Hahn empfand sich ganz besonders mitverantwortlich, obwohl er eigentlich überhaupt nichts damit zu tun haben konnte, denn er war weder an der Bombenplanung beteiligt, noch hatte er überhaupt die Fähigkeit gehabt, die Energiebilanzen zu beurteilen - das konnten eher Lise Meitner und ihr Neffe Otto Frisch. Bohr brachte die Nachricht von der Kernspaltung nach Amerika, und dann lief quasi alles seinen Gang. Die Deutschen waren nicht in der Lage gewesen, solch eine Bombe zu bauen, und sie hatten auch nicht die Absicht. Bethe oder Heisenberg haben sogar, so wird das heute dargestellt, bewußt falsche Schätzungen gemacht und die Fähigkeiten der Physiker heruntergespielt; sie wollten einen Reaktor bauen, aber keine Bombe. Otto Hahn fühlte sich aber dennoch spontan mitverantwortlich und mitschuldig, obwohl er nicht verantwortlich gemacht werden konnte (vgl. a.u. in diesem Band, S. 127f., 133f.)

18.: Die Verantwortlichkeit kann formal sein, etwa wie es im Rechtlichen ist, oder sie kann sich eher auf inhaltliche Dinge beziehen, inhaltlich gebunden sein. Häufig ist es bei der Folgenorientierung so, daß das Inhaltliche im Vordergrund steht, während bei der Prinzipienorientierung eher das Formale betont wird. Die 19. Unterscheidung - legalistisch-loyalistisch - ist in dem Sinne zu verstehen, daß legalistisch eben auch auf das Formale-Rechtliche, auf das generelle Prinzip abhebt, und das kann sich in dem Fall auch auf Inhaltliches beziehen, es muß nicht unbedingt formal verstanden werden, während das Loyalistische sich auf die Verantwortlichkeit gegenüber Personen bezieht, denen man verbunden ist. „Loyal" heißt Treuebindung, -verpflichtung gegenüber einer Person oder einer Gruppe, einer Tradition, es kann auch eine ganze Kultur sein usw. Diese Dimension ist verwandt mit der Gegenüberstellung von rechtlicher und moralischer Verantwortung. Diese Verwandtschaft gilt auch in Abwandlung für das nächste, das 20. Profil, obwohl es analytisch von dem anderen zu unterscheiden ist. Der abstrakt generellen Verantwortlichkeit im Sinne von Prinzipien wird die konkret situative Verantwortlichkeit gegenübergestellt. Natürlich hängt dieses Profil auch mit der 5. Gegenüberstellung zusammen, aber das 20. Profil bezieht sich nicht auf die inhaltliche Gestaltung, son-

108

dern auf die entweder situationsabgehobene abstrakte Generalität oder die konkrete Situation. Entsprechendes gilt auch für das Verhältnis vom 18. und dem 21. Polaritätentyp, also für die formalistisch buchstäbliche Auffassung und die persönlich engagierende Verantwortlichkeit. Die 21. Dimension bezieht sich stärker auf die Träger-

schaft als auf die inhaltliche Gestaltung der Verantwortlichkeit (18.). Die

Engagementform, Handlungsform beim Verantwortungsträger steht hier (21.) im Zentrum: Ich verhalte mich dem Buchstaben des Gesetzes gemäß, reagiere buchstäblich formalistisch, oder ich engagiere mich mit meiner ganzen Person und übernehme die Verantwortung. Häufig ist bei Haftbarkeiten im rechtlichen Zusammenhang das Buchstäbliche gemeint, obwohl sehr häufig von persönlich haftenden Gesellschaftern gesprochen wird, aber hier ist eine eher formalistische Verantwortlichkeit gemeint, die nicht unbedingt zur moralischen Verantwortlichkeit in personaler Auffassung führen muß. Das gilt entsprechend auch für die politische Verantwortung. Die nächste, 22., Polarität bezieht sich dann auf die Aufgabenbezogenheit, die der Rollen- und Aufgabenverantwortlichkeit entspricht, und auf die persönliche Engagiertheit in der Verantwortlichkeit. Der Gegenpart zur Aufgabenbezogenheit muß hier nicht die moralische Verantwortlichkeit sein; ich kann auch persönlich engagiert verantwortlich sein unabhängig von der moralischen Bindung. Das muß nicht im unmittelbar buchstäblichen Sinne aufgefaßt werden, insofern muß man die 22. Gegenüberstellung von der 21. unterscheiden. Moralanalog gegenüber moralisch im engeren Sinne (23. Polarität) bezieht sich u.U. auf moralische oder quasi moralische Verantwortlichkeiten innerhalb bestimmter Bereiche, z.B. innerhalb von Vereinigungen oder auf Verantwortlichkeiten, die nicht sich unmittelbar auf das Wohl und Wehe anderer bezieht, die aber eine quasi moralische Erwartungsstruktur haben.

Die Polaritäten 24, 25, 26 hängen eng miteinander zusammen und mit der Gruppengebundenheit oder Individualität der Verantwortung. Die Distributivität und Nichtdistributivität von Verantwortlichkeit bezieht sich auf die Rückführbarkeit solcher kollektiver oder korporativer Verantwortlichkeit auf Einzelverantwortlichkeiten. Distributiv heißt, daß man die Verantwortlichkeiten auf die einzelnen Individuen verteilen kann. Es gibt Fälle, wie beispielsweise der Olympiapark-Fall, wo zwei Jungen vor den Augen einer großen Menge ertranken, wo Verantwortung distributiv ist, aber

es gibtdes andere nicht-distributive Falle, der Unterscheidung korporativen Verantwortung im Falle Mount-Erebus-Beispiels. Manetwa hattebei diese also zu berücksichtigen.

Wenn man diese 26 Typen von Verantwortlichkeiten jeweils auf ein Verantwortungsproblem oder auf einen Konflikt von Verantwortlichkeiten bezieht, dann kann man viel differenzierter darstellen, um was für eine Art von Verantwortlichkeit es sich handelt. Man könnte bei jedem einzelnen dieser Punkte immer sagen, hier handelt es sich um eine normative oder eher deskriptive oder dazwischen liegende Verantwortlichkeitszuschreibung, die Verantwortung ist mehr oder minder institutionalisiert usw. Man erzeugt dann so eine Art von Zackenprofil, wenn man sich auf die Polaritäten beschränkt. Alles das ist natürlich keine Lösung von Verantwortungskonflikten, sondern muß dann erst in einer übergreifenden personalen Entscheidung und Gesamtverantwortung und in einer Kombinationsverantwortung entschieden oder übernommen werden. Diese Kombinationsverantwortung übersteigt auch teilweise die Ebenen der

109

moralischen, rechtlichen und anderen Verantwortlichkeiten. Sie ist eine, man könnte sagen, hypermoralische Verantwortlichkeit, die der einzelne trägt oder zu der man sich entscheidet. Unter Umständen kann man sogar eine rechtliche Verantwortung durch eine moralische, höherstufige, als dringlicher empfundene überformen oder überrollen oder außer Kraft setzen oder nicht beachten. Das hat natürlich u.U. auch Konsequenzen. Die meisten Verantwortlichkeiten, und das gilt auch für die moralischen, sind im wesentlichen Prima facie-Verantwortlichkeiten, d.h. sie gelten, sie erheben einen Anspruch, aber sie können durch dringlichere außer Geltung gesetzt werden. Es sind wichtige Prioritätsregeln zwischen unterschiedlichen Verantwortlichkeiten aufzustellen (vgl. S. 111f.).

Insgesamt sehen wir, daß das Bild der Profile, Kontinuitäten und Spektren der Verantwortungsunterscheidungen variantenreich und etwas diffus ist. Zweifellos kann

und müßte man sehr viel mehr dazu sagen. Man müßte eigentlich zu einer Art Regelung kommen, um zwischen den Arten, Typen und Polaritäten Verbindungen herzustellen. Das kann hier noch nicht im einzelnen geschehen.

Ansätze freilich zu einer praktischen Ordnung im Rahmen von Anwendungen kann man gewinnen, indem und wenn man sich Prioritätsregeln überlegt, die in der Wirtschaftsethik, besonders in der amerikanischen „business ethic" diskutiert werden. Solchen Vorzugsregeln liegt etwa die folgende Vorstellung zugrunde, daß es fundamentale, nicht der Minderung oder Vor- oder Aufteilung fähige Grundrechte gibt, die zu beachten sind - also Menschenrechte oder Grundrechte, - daß man erst, wenn die Grundrechte gewahrt sind, darüber hinausgehend, etwa im Falle von Konflikten Kompromisse suchen soll, die fair sind, die also Kosten und Nutzen gleich auf alle Betroffenen verteilen. Solche Regeln fordern nur, daß erst nach Schadenabwendung Nutzenerwägungen berechtigt seien und daß auch bei praktisch unlösbaren Konflikten möglichst Fairneßkompromisse gesucht werden und daß im gewissen Sinne die moralische Verantwortlichkeit den nicht-moralischen und beschränkten Verantwortungsformen vorzuordnen ist. So gilt generell, daß die universalmoralische Verantwortung der vertraglich gegebenen Aufgaben- und Rollenverantwortung vorangeht, ferner, daß direkte Handlungsverantwortung in der Situation meistens, aber nicht immer (Samariterbeispiel), einer Fernverantwortlichkeit voransteht, obwohl das natürlich in manchen schwerwiegenden Fällen auch gerade anders sein kann. In solchen Prioritätsregeln fordert die ethische Intuition auch, daß etwa das öffentliche Wohl, das Gemeinwohl, anderen partikulären Interessen vorhergehen soll und daß z. B. (öffentliche) Sicherheit ein ganz besonders wichtiger Wert, beispielsweise auch im technischen Regelwerk ist. Die in der Aufstellung wiedergegebene DIN-Vorschrift ist bekannt, sie hat den Charakter einer Prioritätsregelung im Zusammenhang technischer (eigentlich eher: technoethischer) Normen.

Einen listenartigen Uberblick über den gegenwärtigen Stand der z. T. aus Anregungen der amerikanischen Wirtschaftsethik adaptierten und wiel weiter ausgearbeiteten Prioritätsregeln für die Behandlung, Minderung, Regelung, evtl. manchmal Lösung von Verantwortungskonflikten gibt die nachfolgende Zusammenstellung:

110

Prioritätsregeln Für Verantwortungs- und Rollenkon ikte lassen sich zunächst mindestens die 16 fol-

genden gestuft und prima-facie-geltenden (moralischen) Präferenz- und Prioritätsregeln angeben (vgl. zu den ersten vier Regeln Werhane 1985: 72f.):

1. »Moralische Kechte jedes betroftenen Individuums abwägen"; diese prädistributive (Grund-)Rechte28 gehen vor Nutzenüberlegungen. 2. „Kompromiß suchen, der jeden gleich berücksichtigt" - im Falle eines unlösbaren Konflikts „zwischen gleichwertigen Grundrechten" 3. „Erst nach Abwägung der moralischen Rechte jeder Partei darf und sollte man für die Lösung votieren, die den geringsten Schaden für alle Parteien mit sich bringt" 4. Erst nach 'Anwendung' der Regeln 1, 2 und 3 Nutzen gegen Schaden abwägen. Also: Nichtaufgebbare (prädistributive) moralische Rechte gehen vor Schadensabwendung und -verhinderung und diese vor Nutzenerwägungen. 5. Bei praktisch unlösbaren Konflikten zwischen Parteien und Beteiligten sollte man hinsichtlich Schädigungen und Nutzen für die verschiedenen Parteien faire Kom promisse suchen. (Faire Kompromisse sind z.B. annähernd gleichverteilte oder gerechtfertigt proportionierte Lasten- bzw. Nutzenverteilung.) 6. Universalmoralische und direkte moralische Verantwortung geht vor nichtmoralischen und beschränkten Verpflichtungen. 7. Universalmoralische Verantwortung geht i.d.R. vor Aufgaben- bzw. Rollenverantwortung 8. Direkte primäre moralische Verantwortung ist meistens vorrangig gegenüber indirekter Fern- oder Fernstenverantwortung (wegen der Dringlichkeit u. der beschränkten Verpflichtung; aber: Abstufungen nach Folgenschwere und -nachhaltigkeit). 9. Universalmoralische und direkte moralische Verantwortung gehen vor sekundärer korporativer Verantwortung. 10. Das öffentliche Wohl, das Gemeinwohl soll allen anderen spezifischen und partikularen nichtmoralischen Interessen vorangehen. 11. Auch in technischen Regelwerken sind Prioritätsprinzipien formuliert. Mit DIN 31.000 können wir z.B. folgende Regel aufstellen: „Bei der sicherheitsgerechten Gestaltung ist derjenigen Lösung der Vorzug zu geben, durch die das Schutzziel technisch sinnvoll und wirtschaftlich am besten erreicht wird. Dabei haben im Zweifel die sicherheitstechnischen Erfordernisse den Vorrang vor wirtschaftlichen Überlegungen." Sicherheit geht also vor Wirtschaftlichkeit. 12. Globale, kontinentale, regionale und lokale Umweltverträglichkeit sind zu unterscheiden und zu berücksichtigen. Systemrelevante/-entscheidende Umweltverträglichkeit geht vor - und in diesen Extremtyp die je bereichsweitere (umfassendere).

13. Bei „Dringlichkeit" geht Ökoverträglichkeit vor ökonomischer Nutzanwendung.

28 Moralische Rechte sind bei Werhane (1985: 16ff.): das Recht der gleichen Berücksichtigung,

das Recht auf Sicherheit und auf Lebensunterhalt, das Recht auf Leben, das Recht nicht gequält zu werden, das Recht auf Freiheit (i.S.v. Handlungs- und Wahlfreiheit, Autonomie und Privatheit), das Recht auf Privateigentum.

fl

111

14. Menschen-, Human- und Sozialverträglichkeit gehen im Konfliktfall vor Umwelt,

Arten- und Naturverträglichkeit, sind aber meist zusammen oder in sinnvollen Kompromissen anzustreben. 15. Konkrete Humanität geht vor abstrakten Forderungen und universalen Prinzipien (konkret human- und sozialverträgliche Güterabwägung). 16. Menschengerechtes Handeln (Human- und Sozialzuträglichkeit) geht vor bloß Sachgerechtem. Solche Prioritätsregeln sind förderlich zum Aufspüren und möglicherweise zur Lösung von Konflikten zwischen den verschieden typen der Verantwortung; sie erhalten in einer Konfliktsituation besondere Aktualität. Während die Unterscheidungen der Typen und Ebenen der Verantwortung notwendig zur Entdeckung und Identifizierung von Konflikten sind, können die Prioritätsregeln hilfreich angewendet werden bei der Lösung oder wenigstens Regelung und Bewertung der entsprechenden Konfliktsituation und beim Aufspüren ihrer spezifischen Ursachen. In diesem Bereich muß in der Zukunft noch viel analytische, konzeptionelle und organisatorische sowie soziale und politische Arbeit geleistet werden.

112

7. Zur Verantwortung des Wissenschaftlers

Das Thema „Verantwortung des Wissenschaftlers" enthält insgesamt zwei Teilaspekte: Erstens die Frage nach der wissenschaftsinternen Verantwortung und zweitens

die einer externen Verantwortung der Wissenschaftler. Die interne Verantwortung trägt der Wissenschaftler gegenüber seiner Zunft, gegenüber seinen Kollegen, gegenüber der Gemeinde der Wissenschaftler, neudeutsch: der Scientific Community. Sie umfaßt die Beachtung der Regeln sauberen wissenschaftlichen Arbeitens und fairer Konkurrenz unter dem Höchstwert der bestmöglichen objektiven Wahrheitssuche und -sicherung. Nun, alle diese Regeln betreffen freilich eher das wissenschaftliche Ethos des Wissenschaftlers, seine Verantwortung für die bestmögliche objektive Erkenntnis und beziehen sich durchaus auch auf seine eigenen Interessen und Anerkennungswünsche

und die entsprechende Reputationszuweisung. Sie sind nicht im engeren Sinne ethisch, betreffen nicht die Unversehrtheit anderer, potentieller Betroffener. Ethos

setzt zwar Ethik voraus, aber ist nicht Ethik. Der Normenkodex des Wissenschaftlers ist in diesem Sinne Ethos, Standesethos oder wie immer wir es nennen wollen, nicht eigentlich Ethik des Wissenschaftlers. Das wird leider oft verwechselt und vermischt. Die ideale Norm und das reale Verhalten unterscheiden sich natürlich auch beim Wissenschaftler. Die absolute Norm kann nicht vollkommen verwirklicht, durchgesetzt werden. Dennoch funktioniert das interne System der wissenschaftlichen Verhaltenskontrolle relativ oder einigermaßen gut (vgl. aber Broad - Wade 1984). Die interne

Verantwortung beim Wissenschaftsethos möchte ich hier nicht ausführlicher be-

sprechen, sondern ich werde mich ausführlicher den externen Problemen der Verantwortung des Wissenschaftlers zuwenden.

Der Wissenschaftler trägt also auch externe Verantwortung. Das wollen wir in bezug auf die möglicherweise von seinen Ergebnissen, etwa unmittelbar vom Forschungsprozeß, Betroffenen diskutieren.

Es war 1984, also noch im Prä-Tschernobyl-Zeitalter, als ich in unserer Universitäts-

zeitschrift „Fridericiana" in einem Aufsatz über „Verantwortung und Technik"

schrieb, die Verantwortung für wissenschaftlich-technische Großprojekte könne von einzelnen Personen nicht mehr wirklich getragen werden: „Ein einzelner könnte nur pro forma, der Form nach, öffentlich - gleichsam politisch - die Verantwortung für ein technologisches Großprojekt tragen. Was nützt es aber, wenn er (etwa der Leiter eines Kernkraftwerks) nach einem GAU, nach einem größten anzunehmenden Unfall - zurücktritt? Bloß formalistische Übernahme der Verantwortung scheint nicht mehr auszureichen." Hierauf bekam ich einen wütenden Brief eines Physikers - aus Jülich -, aus dem ich zitieren möchte: „Was der Professor Lenk über die realen Aspekte der Verantwortlichkeit, insbesondere über die des Technikers vermeldet, beispielsweise an der Stelle, wo vom GAU die Rede ist ..., kommt gelinde gesagt miesester Tatsachen-

113

verdrehung gleich ..." Der GAU habe nur (?) „als Auslegungsstörfall... für den Techniker verbindliche Realität; die Verantwortlichkeit des Technikers dafür, daß ein solcher Störfall zuverlässig beherrscht wird", sei „per Ignoranz noch nicht aus der Welt zu schaffen"', sie sei „rechtlich kodifiziert und forensisch belangbar"• „Ganz anders" stehe „es allerdings um die faktischen Seiten der Verantwortlichkeit bei den

Mächtigen des Wortes, z.B. für das, was sie mit dem bloßen Worte GAU treiben, betreiben, suggerieren oder in Gang setzen wollen." Der Briefautor schimpft noch etwas über den traditionellen akademischen Umgang der „Agitpolphilsoz-Gewaltigen" „Wortgewaltigen vom Schlage des Professors Lenk" mit traditionell-akademischer

Ethik und meint, „da gebe es noch erhebliche Mängel zu beseitigen". Er rät mir, ,mich weniger mit den ethischen Problemen der Technik als vielmehr mit den diversen Techniken der Verantwortung auseinanderzusetzen, publizistisch wirksam aufzuarbeiten etwa unter Themen wie diesen: 'Verantwortung und Ignoranz', 'Verant-

wortung und moderner Politbetrieb', 'Verantwortung und Zeilenschinden', 'Verantwortung und akademische Lehrer von heute'." Recht hat er, der Physiker aus dem kühlen Nordwesten mit dem letzteren Rat. Und ich nehme das auch gerne auf. Allerdings hat er den Punkt der Argumentation gar nicht verstanden. Vielleicht sollte man ihm nicht vorhalten, daß er den GAU, „den größten anzunehmenden Unfall" (lediglich?) als „Auslegungsstörfall"', also nicht als realistisch, sondern nur als Modellfiktion ansah (es war noch nicht öffentlich bekannt, daß auch in Harrisburg eine Kernschmelze stattgefunden hatte) - den „Supergau" ', der über das angenommene, anzunehmende Modell hinausgeht, schon gar nicht als realistisch oder realisierbar einschätzte. Wichtiger ist vielleicht, daß politische Strategien der Verantwortlichkeit eines einzelnen (der Kernkraftwerksvorsitzende in Tschernobyl wurde bekanntlich abgesetzt) und

rechtliche Kodifizierung in der Tat als Instrumente der Regelung nicht mehr ausreichen. Das Sündenbocksuchen und -auffassen gleicht eher einem Ritual der Ohn-

mächtigkeit, dem berühmten Zuweisen des „Schwarzen Peters". Einer (und nur einer) müßte doch verantwortlich sein, zur Verantwortung gezogen werden. Wissenschaft und Technik sind offenbar zu mächtig geworden, um von den traditionellen Maß-

nahmen politisch-rechtlicher Regelungen der rein personalen Verantwortlichkeit zumal im Sinne Tadelbarkeit („blameworthiness"", Bodenheimer 1980, Ladd 1990) noch zureichend erfaßt und auch im Extremfall beherrscht werden zu können. Wenn der Kernkraftwerksvorsitzende oder der zuständige Ressortminister seinen Hut zu nehmen hat (oder - realistischer bei uns - seinen Staatssekretär in die nicht allzu schlecht dotierte Frühpension schickt), so zeigt dies eigentlich nur die relative Ohnmacht solcher Regelungen. Ich wiederhole, das Verantwortlichkeitsproblem läßt sich angesichts der Großprojekte der Großmacht Wissenschaft und Technik und ihrer Einwirkungsstärke nicht mehr bloß politisch-formalistisch lösen. Eher scheint die negative Formulierung der strategischen Verhinderungs- und Erhaltungsverantwortung nach Jonas fruchtbar der Verantwortungsbeteiligung zugänglich zu sein, ohne daß die Gesamtverantwortung oder auch jene der einzelnen Beteiligten dabei sich auflöste.

Wem gegenüber sind Wissenschaftler verantwortlich? Ihrem individuellen Gewissen (s.o. S. 12ff.)? Doch ist das Gewissen nicht eher ein Medium, eine „Stimme" der Selbstzuschreibung, der Selbstverantwortlichkeit, - eine Instanz also, die Verantwortlichkeit

114

schätzt, mißt, ein Kriterium anwendet, also schon voraussetzt? Ist die moralisch-praktische Vernunft diese Instanz, wie sie in der Tradition der Philosophie, insbesondere bei Immanuel Kant, immer gesehen wurde? Oder die Idee der Selbstachtung des Menschen, die Idee der Menschheit oder der Gesellschaft? Sind wir der Menschheit oder der Gesellschaft oder dem Gesetz gegenüber ethisch verantwortlich? In gewissem Sinne durchaus. Aber dies alles sind auch abstrakte Begriffe, keine lebendigen persön-

lichen Instanzen, keine Partner, die jemanden direkt zur Verantwortung und zur

Rechenschaft ziehen könnten. Die Verantwortlichkeit gegenüber einem Abstraktum bleibt Metapher, mag sie auch noch so wirksam sein. Soziale Kontrollen oder gesetzliche Kontrollen konkretisieren diese allgemeine ethische Verantwortung, aber sie sind doch schon abkünftig im Verhältnis zur unmittelbaren persönlichen und auch zur allgemeinen ethischen Verantwortung. Insbesondere muß man doch sagen, daß ethische Verantwortung letztlich immer an eine Person gerichtet und ein Appell an eine Idee

bleibt: an eine Idee des Moralischen, des Sittlichen, des Persönlichen, der persönlichen Verantwortung. Ethische Verantwortlichkeit ist mehr als die empirische Gewissensstimme (s. o. S. 35f., 39). Wieder finden wir uns gleichsam auf Kants Ansatz der Ethik

zurückgewiesen, auf den ich aber natürlich hier nicht ausführlich eingehen kann.

Zweifellos hat diese Idee etwas mit der Menschenwürde zu tun. Zur Menschenwürde,

zum Menschsein gehört es, Verantwortung zu übernehmen, sofern man ein handelndes und relativ wirkungsmächtiges freies Wesen ist. Handlungsfreiheit und Ver-

antwortlichkeit bedingen einander. Zur Idee der Menschenwürde gehört die Achtung

vor dem Mitmenschen und der eigenen Person, auch die Idee der Existenz und des

menschenwürdigen Fortbestehens, der Fortentwicklung der Menschheit. Außerdem, denke ich, gehört zur Idee der Menschenwürde, daß wir als einsichtige Wesen, als diejenigen, die in der Natur ausgezeichnet sind, indem wir ihren Zusammenhang wenigstens zum Teil erkennen, entschlüsseln und lenken können, auch für andere Wesen und sogar Natursysteme Mitverantwortung übernehmen können und sollen. Diese Verantwortung wächst mit unserer Einsichtsfähigkeit und unserer Eingriffsfähigkeit, zumal unsere Zerstörungsmacht. Wir können und sollen als einsichtige Wesen für andere Wesen repräsentativ mitdenken, uns auch für sie verantwortlich und mitverantwortlich wissen, falls sie von uns abhängig sind. Man kann sich dann fragen, wie man angesichts der Vielfältigkeit der erwähnten Verantwortungskonzepte dennoch problem- und situationsgemäß zu einer konkreten, jeweils in humaner Abgemessenheit zutreffenden einheitlichen Entscheidung kommen kann; denn unsere Intuition ist ja, daß irgendwie die Verantwortung doch letztlich unteilbar sein muß, zumindest was die persönliche Verantwortung angeht, und daß selbst die Gemeinschaftsverantwortung, die in gewissem Sinne, ich würde nicht sagen: teilbar im Sinne von verteilbar oder dividierbar, sondern eher beteiligungsoffen ist, wie beispielsweise die Verantwortung der Mitglieder des Parlaments, alle gleich betrifft und eben nicht durch die Aufteilung minimiert werden kann. Es darf und soll - zumal im Moralischen, aber auch etwa beim Parlament - nicht nach dem zwar faktisch gültigen sozialpsychologischen Satz gehen, daß, je mehr Leute in einer Gruppe mitarbeiten und eigentlich Verantwortung tragen, desto weniger der einzelne die eigene Verantwortung fühlt bzw. trägt. Es gibt also leider einen Verwässerungseffekt, der auch schon

philosophisch-analytisch untersucht worden ist, ohne daß dabei schon alle Probleme gelöst worden wären.

Natürlich muß man, wenn man in einer bestimmten Konfliktsituation ist, unter Anwendung von Begründungen und von einigen der oben (S. 111f.) genannten oder wei-

115

teren Prioritätsregeln (die man natürlich auch nicht sklavisch oder mechanistisch anwenden kann) versuchen, immer unter der Leitung der eigenen moralischen Urteilskraft eine einheitliche Entscheidung zu finden, also eine einheitliche Lösung im Sinne einer konkreten, auf die Situation bezogenen humanen Orientierung. Jedenfalls ist das

unsere moralische Intuition. Keine Typenanalyse oder Präferenzregel kann die konkrete Entscheidung dem Handelnden abnehmen. Moralisch gesehen, soll er im Sinne konkreter Humanität urteilen und entscheiden (vgl. Verf. 1996).

Die Milgram-Experimente Im folgenden möchte ich nun zunächst einen sozialpsychologischen Versuch diskutieren, bei dem personale Verantwortungskonflikte in höchstem Maße auftreten und der durch die auf ihn folgende wissenschaftsethische Diskussion und die öffentliche Wirksamkeit dieser Versuche dazu geführt hat, daß die Ethik der entsprechenden Wissenschaft sich verändert hat, und zwar drastisch. Es handelt sich um die berühmten sozialpsychologischen Migram-Experimente des amerikanischen Psychologen Stanley Milgram - Versuche, die wissenschaftsethisch sehr umstritten (gewesen) sind, aber dazu geführt haben, daß in der Psychologie eine differenzierte Ethikdiskussion in Gang kam und sehr ins Einzelne gehende Vorschriften und ethische Regelungen entstanden sind, die dann auch weltweit wirksam wurden und schließlich auf andere Wissenschaften übergriffen. Ganz abgesehen davon ist das Thema natürlich auch deswegen von besonderem Interesse, weil es hier in der Tat auch um Fragen geht, welche die Praxis der konkreten Humanität betreffen. Es geht z.B. um das ethische Problem, ob es gerechtfertigt ist, in „getürkten" Versuchssituationen Menschen in die Lage zu bringen, in denen sie

anderen, und sei es nur scheinbar (was sie aber natürlich nicht wußten), Leid und

Schmerz zuzufügen haben. Es ist die Frage, ob hier noch von einer moralisch gerecht-

fertigten Versuchsanordnung gesprochen werden kann oder ob hier gar Regeln der allgemeinen Moral oder der konkreten Humanität verletzt worden sind, wie sie auch Wissenschaftler zum „höheren" Zwecke des wissenschaftlichen Fortschritts nicht verletzen dürften. Das ist also die große Frage. In der Tat handelt es sich bei den Milgram-Ex-

perimenten auch um Grundlagenforschung, darauf komme ich dann später noch

zurück. Diese Versuche der Sozialpsychologie wurden dann später auch in der Bundesrepublik nachvollzogen - übrigens mit ziemlich ähnlichen Ergebnissen wie in den USA.

Worum geht es also? Das Ziel war herauszufinden, wie stark Menschen in experimentellen Situationen auf autoritäre Anordnungen von Wissenschaftlern reagieren, wie weit diese Menschen gehen würden dabei, humane Verhaltenserwartungen und ethische Erfordernisse oder traditionelle moralische Regeln zu übertreten, etwa, indem sie andere Menschen verletzen oder ihnen Schmerz zufügen würden oder sogar bis an die Grenze einer tödlichen Gefährdung gehen oder eine solche in Kauf nehmen würden, wenn dieses von einer wissenschaftlichen Autorität vorgeschrieben wird. Das Milgram-Experiment zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität, oder kurz: zum Autoritätsgehorsam, wurde im wesentlichen so dargestellt: Man hat einen sogenannten Versuchsleiter, der aber natürlich kein echter Experimentator ist, sondern die Versuchsleitung nur vorspielt, und eine Versuchsperson, die eigentlich im Zentrum des Interesses steht, die ihrerseits einem Probanden oder „Schüler" Wortreihenfolgen vorliest und entsprechende Erinnerungsidentifizierungen abfragt und dessen vorkommende Fehler zu „bestrafen" hat. Bei jedem Fehler, so ist die Versuchsperson vom Versuchsleiter angewiesen worden, muß sie dem Schüler einen jeweils spannungs-

116

stärkeren Strafstromstoß versetzen. Die Situation war natürlich möglichst perfekt vor-

getäuscht; so wurde in der Einführungsphase der Versuchsperson selber, die dann

auch mal auf dem Schülersitz sitzen durfte, auch eine kleine Stromspannung appliziert, damit das Vorgehen im Versuch echt wirkte. Das Scheinexperiment lief nun dar-

auf hinaus, daß bei Wiederholung der Fehler die Stromspannung schrittweise erhöht werden sollte und (scheinbar) von der Versuchsperson auch sukzessiv gesteigert wurde, und zwar in dreißig verschiedenen Stufen - bis zu 450 Volt (!). Es gab viele Varianten dieser Versuchsanordnung, die sich dadurch unterschieden, daß sie einerseits die Nähe zum Opfer, also zum Schüler oder Probanden, variierten und auch durch die Art und Weise, wie dieser auf das Programm reagieren konnte usw. Die „fernste" Möglichkeit war die, daß der Schüler im Nebenraum saß und seine Antworten eben auch auf einer Tastatur wiedergab und so die Reaktionen auf die Stromstöße rückmeldete, also per Knopfdruck und Computertastenbedienung der Versuchsperson anzeigte. Eine andere Version zeigt die nächstdrastischere und größere Nähe: akustische Rückmeldung mit Außerungen des Schülers: „Das tut weh",'› „Ich will hier raus", „Laß das sein" usw. „Versuchsleiter, das reicht. Lassen Sie mich hier raus! Ich hab Ihnen doch gesagt, daß ich Herzbeschwerden hab'. Mein Herz fängt jetzt an, mir zu schaffen zu machen"(z.B. Milgram 1974, 74). Dies war z.B. bei 150 Volt. Die Steigerung geht weiter bis hin zu einem konstatierten (gespielten) „qualvollen Schrei": „Hört ihr denn nicht? Laßt mich hier raus" (bei 270 Volt). 285 Volt: „qualvoller Schrei"; ebenfalls dann später bei 300-315 Volt: absolute Weigerung, weiterzumachen und dann abgelöst bzw. erlöst zu werden - und schließlich dann ein „anhaltender qualvoller" und dann erstickender Schrei ab 330 Volt. Danach Schweigen. Das war schon

die fünfte Versuchsvariante, die mit der besonderen Einführung der Bedingung „Herzbeschwerden" beim „Schüler" arbeitete. Die Variationen sind durchaus systematisch abgeändert worden. Man hat die räumliche Nähe noch weiter geändert: Man hat z. B. den „Schüler" sogar mit in den Raum von Leiter und Versuchsperson hineingenommen, als Schauspieler dann direkt neben die Versuchsperson gesetzt, so daß diese sogar dessen Arm anfassen konnten: Der Schauspieler hat die Reaktion und jeweils das Leiden sehr echt gespielt, so daß das „Setting" sehr realistisch wirkte. Und man hat dabei folgendes herausgefunden: Je

näher, je persönlicher, je echter und unmittelbarer diese Rückmeldung oder diese räumliche Beziehung war, desto eher waren die Leute bereit, dann auf den höheren Voltstufen den Versuch abzubrechen. Und darum, um die Grenze des Abbrechens, ging es ja eigentlich, was aber die Versuchsperson natürlich nicht wußte. Immerhin: keiner der vorher, vor der ganzen Versuchsserie, befragten Psychologen und auch der Laien hatte das Ergebnis vorausgesagt. Die Versuchspersonen waren in den ersten beiden Varianten, bei dieser Fernanordnung (Nebenraum, Tastatur) und bei der akustischen Rückmeldung, also bei diesen „fernsten", aber doch recht drastischen Situationen, zu 60-65% der bereit, bis an die Grenze von 450 Volt - also weit über die als „gefährliche" annoncierte, ja über die tödliche Dosis - zu gehen. Ja, sie haben in diesen Situationen die Spannung appliziert - scheinbar. Eine Ausnahme bildete die Situation, in der der „Schüler" direkt neben ihnen saß und sie also eine direkte Berührung

mit ihm hatten, dieser also schon in ihren Armen zu zucken, zu leiden und zu ersterben schien. Es ist also das Ergebnis überhaupt nicht vorausgesehen und vorausgesagt worden. 65 % waren bereit, bis zum Ende der Spannungsskala zu gehen, und zwar bei Männern und Frauen gleich, es gab also keine geschlechtsspezifischen Unterschiede. Es spielten also auch die Bedingungsvariablen jeweils keine besondere Rolle, außer jenen der Nähe und Entfernung.

117

Das Entscheidende war in der Tat die Autorität des Wissenschaftlers, hier: des Versuchsleiters. Die Autoritätsspannung war allein entscheidend (ebd. 125). Das konnte man auch dadurch herausfinden bzw. bestätigen, daß man diese Situation variierte: In dem Moment nämlich, als man durch eine Loswahl vorher die Umstände so „herauskommen" ließ, daß der Versuchsleiter, der eigentlich dem „Schüler" gegenüber als der Planende des ganzen Experiments auftrat, selbst durch Los in die Lage des „Schülers"

kam. Dann brach jede Versuchsperson das Experiment sofort oder sehr bald ab. Dann

gab es also gar nicht diese Bereitschaft, auf höhere Stufen zu gehen. Die Autorität von vorher hat das verhindert.

Im Experiment Nr. 8 z. B., mit einer Krankenschwester als Versuchsperson (ebd. 96

ff.), zeigt sich, daß sie sehr unsicher, nervös war, obwohl sie analogerweise im Krankenhaus öfters die Gelegenheit hatte, bei zu hohen Dosierungen dem verordnenden Arzt gegenüber Einspruch zu erheben. Aber hier war das ganz anders: „Muß

ich jetzt bis zum Ende fortfahren, Sir? Ich hoffe, mit dem Mann dort ist alles in

Ordnung" (ebd. 97). Sie hat dann aber doch weitergemacht - bis zum scheinbar bitteren Ende. Im Nachinterview war sie äußerst zurückhaltend, ihre Antworten kamen sehr langsam. Dabei hatte sie auch gefragt, ob denn die Männer genauso „bis zum Schluß, bis zu 450 Volt weitergemacht, durchgehalten" haben. Der Interviewer antwortete nicht direkt, sondern fragte sie, was denn ihre eigene Ansicht dazu sei. Darauf sagte sie „Nein, ich glaube nicht, daß Männer sich fügen würden"(ebd. 98). Das heißt sie meinte also, daß Frauen weniger Widerstandswillen gegenüber der (wissenschaftlichen) Autorität entwickeln würden als Männer. Das ist ja auch bei uns eine verbreitete Ansicht. Ein anderer Teilnehmer, der das Weitermachen wirklich verweigerte, und zwar definitiv und relativ bald, der den Versuchsleiter für „einen stumpfsinnigen Techniker" und einen „bornierten" Fachidioten hielt, der anscheinend die inhumanen Folgen in bezug auf den Betroffenen überhaupt nicht einsehen könne, protestierte gegen die Anweisungen wie: „Sie müssen weitermachen"; „Sie haben keine andere Wahl, das Experiment muß fortgesetzt werden", indem er sagte: „Wenn wir hier in Rußland wären, vielleicht, aber nicht in Amerika" (ebd. 64f.). Diese Versuchsperson war ein Professor für alttestamentliche Theologie. Er hat dann, als er gefragt wurde, wie er zur Autoritätsabhängigkeit generell stünde, gemeint: „Wenn man als eine höchste Autorität Gott ansieht, dann wird menschliche Autorität zu etwas Nichtssagendem" (ebd. 66). Mit anderen Worten: er sah das Autoritätsgefälle von vornherein gleich unter einem ganz anderen Aspekt.

Milgram zieht aus diesen Versuchen eine Reihe von Schlüssen. Eine allgemeine Hypothese z. B. ist die folgende (ebd. 169): „Die Menschen neigen dazu, jene Definition (Abgrenzung, Bestimmung, d. Verf.) von Handlungen zu akzeptieren, die von einer legrtimen

Autorität gegeben werden." D. h., in solchen strukturierten Situationen stellt man sich irgendwie auf Autoritätsanweisungen ein und paßt sich an diese an. Das geht, wie man übrigens schon vorher herausgefunden hatte, bis zu der Gefahr der Selbstgefährdung.

schlange anzufassen - und sind nur durch die unsichtbare, nicht-spiegelnde Glaswand daran gehindert worden. Auch hier handelte es sich eben um die Anordnungen eines

118

„Halbgottes" in Weiß, der die entsprechende Autorität bei dem betreffenden Experiment innehatte. Bei Milgrams Versuchen ergab es sich nun, daß in der Bundesrepublik, wo sie später

vergleichend durchgeführt wurden - es gibt auch einen Film darüber - die Autoritätshörigkeit noch um etwa 10-15% höher war. Es war Milgrams Ausgangserwartung gewesen, daß die Deutschen als traditionell Autoritätsgläubige besonders obrigkeitshörig seien, daß das aber bei den freiheitsliebenden individualistischen Amerikanern natürlich nicht so sei. Das hatte er erwartet. Aber die erzielten Versuchsergebnisse dann waren in den meisten Fällen fast gleich, bis auf gewisse kleine Prozent-

unterschiede. D. h., offensichtlich ist es so, daß die Versuchspersonen unter der

Wirkung der Autorität in einer Situation des Experiments in einen Zustand (»Agenszustand" bei Milgram) eingetreten sind, wo die Wahrscheinlichkeit, den Befehl zu befolgen, sehr hoch ist und normale Reaktionen der Hemmung und Urteilsmöglichkeit außer Kraft gesetzt werden. Die Sprache, meint Milgram (ebd. 170), bietet zahlreiche Ausdrücke, um diese Art von Autoritätsmoral oder Hörigkeit festzulegen: "Loyalität, Pflicht, Disziplin" usw. Die Ausdrücke „beziehen sich nicht auf die 'Gutheit'

der fraglichen Person selbst, sondern auf das Ausmaß, in dem eine untergeordnete Person eine gesellschaftlich zugeteilte Rolle erfüllt" (ebd.). Entsprechend sind dann auch die „Schutzbehauptungen", wir nennen sie hier in Deutschland in unserer

schrecklichen Tradition „Befehlsnotstandsausreden". Man hätte eben nur seine Pflicht getan, und nur das sei in der Rolle vorgeschrieben: Die Verantwortung hatte der Versuchsleiter, nicht ich. „Damit ein Mensch sich für seine Handlung verantwortlich fühlt", sagt Milgram (ebd.), „muß er spüren, daß sein Verhalten von seinem 'Selbst' entsprungen ist".. In den manipulierten und untersuchten Situationen empfanden die Versuchspersonen das nicht so. Sie hätten, sagten sie meistens, dem Schüler, wenn es nach ihnen gegangen wäre, gar „keine" oder wenigstens nicht so starke „Schocks gegeben", aber das hatte doch der Versuchsleiter verlangt. Es verschiebt sich also sozusagen die Kontrollfunktion des Gewissens oder des Über-Ich von der Bewertung der eigenen Handlungen „auf die Feststellung, wie gut oder wie schlecht man innerhalb eines Autoritätssystems funktioniert" (ebd. 171), und dann ist man allzu leicht bereit, Hemmungen aufzugeben. Man sieht gar nicht mehr, daß man „sich aus eigenem Willen grausam gegen andere verhält"; es setzt eine Art von „Kurzschluß" ein, und die Handlungen werden nicht mehr dem wirklichen Gewissensurteil unterworfen. Soweit dieses Experiment.

Es gab ja auch noch weitere Experimente bei den Psychologen, die z.T. noch viel drastischer waren: Man setzte z.B. Soldaten in ein Flugzeug und ließ es (scheinbar) abstürzen, fing es erst kurz vorm Boden wieder auf und filmte die Reaktionen. Man setzte die Versuchspersonen also unter echte Todesangst (Berkun 1962). Das ist natürlich später von den Ethikkodizes der Amerikanischen Gesellschaft für Psychologie verboten worden. Zum anderen wäre das berühmte Gefängnisexperiment von Zimbardo suchskaninchen", nach Wahl bzw. Los in eine Situation gebracht wurden, wo sie in einem Gefängnis entweder Gefangene oder Aufseher waren. Das Experiment sollte fünf Tage lang laufen, Zimbardo mußte es aber nach zwei Tagen abbrechen, weil die

Studenten - ganz normale, nette Studenten und Studentinnen! - sich wie KZSchergen den Abhängigen gegenüber benahmen. Es dominierte der Zwang der Situation oder der Rolle. Wir sind offenbar viel weniger Charaktermenschen oder

charakterfest, als wir uns das in unserer Tradition der Persönlichkeitsauffassungen ein-

119

bilden. Der Zwang der Rolle und die Umstände der Autoritätsspannung herrschten bei Milgrams Versuchen vor, der Situations- und Rollenzwang bei Zimbardo: Jeder dieser Versuche gibt sehr zu denken. Es fanden sich bei Milgram noch andere wichtige Ergebnisse: Z. B. war es interessant, daß ungehorsame Versuchspersonen, also solche, die die Zivilcourage aufbrachten, sich zu widersetzen und den Versuch abbrachen, wie der genannte Theologieprofessor, hauptsächlich sich selber als für die Schmerzen verantwortlich empfanden, die sie dem Opfer scheinbar zufügten. Das war immerhin zu 48% der Fall, und dem Versuchsleiter gaben sie nur zu 38% die Schuld. Dagegen rechneten „gehorsame" Versuchspersonen, die bis zum Schluß durchgingen, also die tödliche Dosis anzuwenden bereit wa-

ren, sich selber nur zu einem geringeren Teil, nämlich zu 36%, die Verantwortung zu und schrieben ihrerseits auch zu 38%, wie die anderen, dem Versuchsleiter die Verantwortung zu (ebd. 232). Ja, sie haben sogar dem „Schüler"', dem Probanden, Verantwortung zugeschrieben. Das Opfer ist mit schuld. Das ist ja auch in unserer Gesellschaft in gewissem Sinne eine eine traditionelle Auffassung gewesen, die insbesondere bei sexuellen Belästigungen, Vergewaltigungen usw. sogar gerichtsnotorisch war.

Man kann nun fragen: Können wir hier mit unseren Typen der Verantwortlichkeit und mit den besprochenen Profilen und Dimensionen, die hier sicherlich z. T. durchaus einschlägig sind, etwas zur Klärung der Verantwortungsüberlegungen und -konflikte beitragen? Ich glaube ja - und das müßte man jetzt natürlich differenzierter argumentativ durchführen und am Beispiel konkreter ausführen, als das hier in Kür-

ze geschehen kann. Man muß zumindest zwischen der direkten normalen situativen Anfangsverantwortung und der Rollen- und Aufgabenverantwortung des Versuchsleiters als Wissenschaftler unterscheiden oder auch entsprechend bei der Versuchsperson zwischen der Rollenerfüllungspflicht und der normalen moralischen zwischenmenschlichen Handlungsverantwortung. Kann man nicht, kann man überhaupt die Gesamtverantwortung in diesem Zusammenhang einer Person (allein) zuschreiben? Beispielsweise dem Planenden, nämlich Milgram selbst? Haben nicht in der Situation, nach dem sie einmal - freiwillig (für 4$ in der Stunde) - teilgenommen haben, auch diese teilnehmenden Versuchspersonen, indem sie in die Situation einer normalen Handlungsbeziehung eintraten und einem anderen Schmerz und Leid bewußt (wenn auch nur scheinbar) zufügten, sich weitgehend unverantwortlich gezeigt - insbesondere, wenn sie bereit waren, bis an in die oberste Grenze zu gehen und bis zum Ende willfährig nach Befehl zu handeln? Kann man überhaupt exklusiv dem Versuchsleiter allein die Verantwortung zuschreiben - oder gar Milgram? Milgram hat dann schließlich eine - von ihm im Anhang des Buches (ebd. 221) resümierte - lange Diskussion mit einer Kritikerin, Diane Baumrind, geführt. Dabei versuchte er, seine Experimente ethisch zu rechtfertigen. Diese Rechtfertigungsstruktur ist nun psychologisch und auch ethisch recht interessant. Hierauf müßte man im einzelnen genauer eingehen. Es kann hier nur skizzenhaft soviel dargestellt werden: Es sei für die Psychologie und für die Menschheit und natürlich auch für die Individuen ein großer Vorteil gewesen, meinte Milgram, daß man auf diese Weise etwas über den Menschen erfahren hat, was man vorher nicht ahnen oder voraussagen konnte. Zweitelsohne konnte man aus der deutschen Erfahrung heraus auf die Erfahrungen aus den KZs zurückgehen, die ja vielfach dokumentiert sind, aber man hatte solche Reaktionsweisen zuvor eben nicht systematisch studiert. Eine weitere Frage ist, ob es berechtigt ist, die Täuschungen oder Tarnungen und Desinformationen, wie die Sozial-

120

psychologen etwas euphemistisch sagen, so weit zu treiben, daß man Leute dazu bringt, daß sie anderen - und sei es auch nur scheinbar - Schmerz oder sogar Todesrisiken zufügen. Und hier liegt natürlich ein notorisches wissenschaftsethisches Problem vor, weil es bei den Sozialpsychologen geradezu eine methodeninduzierte Notwendigkeit gibt, getarnte Bedingungen anzugeben; sonst würde man nie echte und unverzerrte Daten bekommen. Bevor also diese Experimente ethisch diskutiert und kritisiert wurden, war es gleichsam ein „Sport" unter den Sozialpsychologen, sich gegenseitig dadurch zu übertreffen, wie man auf die trefflichste Weise seine Versuchsobjekte hinters Licht zu führen vermochte.

Ein Jahr nach der Untersuchung wurden vierzig der ausgewählten Teilnehmer medizinisch, psychiatrisch, psychologisch wieder untersucht - und es ergab sich keine Dauertraumareaktion. Milgram rechtfertigte die Versuche mit bzw. aus der späteren, im nachhinein gegebenen Einverständniserklärung (ebd. 225), die in einem Interview von den meisten dann auch gegeben wurde: Immerhin waren 84% der beteiligten/betroftenen Versuchspersonen der Meinung, daß das Experiment berechtigt gewesen sei; 74% behaupteten, dabei viel („persönlich Wichtiges") gelernt zu haben oder Wichtiges gelernt zu haben, und nur 1,3% äußerten definitiv negative Gefühle (aber es tat 15,9% 'leid' oder 'sehr leid', an dem Experiment teilgenommen zu haben!). Daraus meinte Milgram nun die Berechtigung der Versuche ableiten zu können; denn wie die Teilnehmer selber reagier(t)en, das sei die eigentliche Rechtfertigung. Aber: kann man aus der im nachhinein gegebenen Einverständniserklärung, die Milgram immerhin

vorausgeplant hatte, aber natürlich erst nachträglich durchführen konnte, eine Art von Rechtfertigung erstellen? Kann man aufgrund der Tatsache - die er von vornherein ja nicht wissen konnte -, daß kein Dauertrauma eintreten würde, sich gleichsam rückwirkend entschuldigen und sagen, diese Versuche waren gerechtfertigt, weil sie eben nicht später zu einem Trauma geführt hatten? Wenn es nun anders ausgegangen wäre, wenn nun Leute eine Art von Dauertraumaschädigung gehabt hätten, hätte Milgram dann seine Versuche rückgängig machen können? Offensichtlich nicht. Oder hätte er sie dann einfach nicht veröffentlicht, oder hätte er moralische Schuld emp-

funden, vielleicht sogar eingestanden? Ein Proband berichtete später, daß er, nach dem er sein eigenes Willfährigsein beim Schmerzzufügen seiner Frau erzählt hatte, von ihr die Antwort bekam: „Du kannst Dich jetzt Eichmann nennen" (ebd. 72). Das ist ja auch eine vielsagende Reaktion. Es bedeutete kein psychiatrisch-medizinisches Trauma, aber diese Reaktion der Gattin ist doch nicht nichts!

Milgram meinte noch, die Kritikerin hätte den Fehler gemacht, daß sie jeweils die Versuchsperson zu sehr „als passive Kreatur betrachtet hätte, die vom Versuchsleiter völlig beherrscht wird", während er, Milgram, von dem Standpunkt ausgegangen sei: „Ein Mensch, der ins Laboratorium kommt, ist ein aktiver, entscheidungsfähiger Erwachsener, der die an ihn gerichteten Handlungsvorschriften akzeptieren und zurückweisen kann". „Die Kritikerin",', so sagt er (ebd. 226), „sieht als Ergebnis des Experiments die Untergrabung von Vertrauen in die Autorität. Ich sehe als ein Ergebnis eine potentiell wertvolle Erfahrung, weil das Experiment den Menschen das Problem der kritiklosen Unterordnung unter Autorität bewußt macht" (ebd.). Und das ist von Milgram sicherlich ganz allgemein gemeint, aber auch individuell, in bezug auf die jeweilige eigene Reaktionsweise und die Einsicht, die man als Versuchsperson über

sich selber gewinnen kann. Auch hier kann man natürlich im einzelnen durchaus nachfragen, ob das so zu rechtfertigen ist. Dürfen wir anderen eine Erfahrung über

sich ohne deren Wissen einfach oktroyieren?

121

Andererseits ist, wie gesagt, in der Tat dieser Versuch oder diese Serie von Versuchen Anlaß gewesen, daß die amerikanischen Psychologen und die Wissenschaften allgemein, insbesondere die Sozialwissenschaften, in der Folge ihre Uberlegungen hinsichtlich der moralischen Rechtfertigung von Versuchen und Versuchsanordnungen sehr weitgehend überarbeitet haben. Und das ist dann eigentlich im Zusammenhang mit einer entsprechenden Diskussion der Wissenschaftsethik allgemein zu diskutieren.

Denn bisher hatte man ja immer geglaubt, Grundlagenforschung sei moralisch gänz-

lich neutral, und auch solche sozialpsychologische Grundlagenforschung wurde und wird als Grundlagenforschung bezeichnet. Aber hier verfügt man über eine Situation, in der man mit den Menschen selbst in einer Handlungssituation umgeht. Der Fall Milgrams ist trotz des z. T. existentiellen Betroffenseins der Versuchspersonen eher ein „Normalfall", besser: ein Beispiel der direkten moralischen Problematik bei alltäglicher Forschung, Normalforschung. Dieser Fall ist nicht immer gegeben. Die folgenden Beispiele sind demgegenüber Fälle, in denen die Verantwortung von Forschern in extremer Ausnahmesituation - im Kriege - diskutiert wird.

Zur Verantwortungsfrage in den Naturwissenschaften Naturwissenschaftler, insbesondere Physiker, haben es natürlich zumeist leichter als die Sozialpsychologen, weil sie nicht direkt mit Menschen experimentieren. Sie machen es sich allerdings auch oft leichter, manchmal zu leicht. Rudolf Mößbauer hat noch

vor kurzem, in einer Interviewveröffentlichung in Ventil (Nr. 94/1994), der Studentenzeitschrift der Universität Karlsruhe, auf die Frage, was er über die Verantwortung der Naturwissenschaften denke, geantwortet: „Das wird vor allem in Deutschland sehr betrieben. Auf dem Gebiet der Grundlagenforschung hat man überhaupt keine Verantwortung. Wir versuchen zu verstehen, wie die Natur arbeitet. Etwas anderes ist es, wenn man angewandte Physik betreibt. Aber auch das wird hierzulande maßlos übertrieben. Ich denke dabei an die Reaktortechnologie ... Sie können die Wissenschaft einfach nicht verbieten. Und wenn wir hier in Deutschland die Wissenschaft einstellen, geht es eben irgendwo anders weiter. In Deutschland steuert durch die Wissenschaftsfeindlichkeit die ganze Forschungslandschaft in eine sehr kritische Situation". Auch von Klitzing, ebenfalls Nobelpreisträger, meinte, „bei der Anwendung der Forschungsergebnisse" hätte der Naturwissenschaftler eine Verantwortung: „In der Grundlagenforschung ist das nicht so, man kann die Forschung schließlich nicht verbieten." Die Frage der externen Verantwortung in der Grundlagenforschung ist natürlich eine ernste Problematik, die gerade auch in der Physik - und nicht nur in der angewandten Physik - eine Tradition hat. Insbesondere seit dem amerikanischen „ManhattanEngineer"-Projekt, nämlich jenem der Atombombenentwicklung, ist das Problem auch viel diskutiert worden. Doch hatte die Wissenschaft schon sehr viel früher „ihre Unschuld" (Herrmann 1982) verloren. Man müßte zumindest auf die Kampfgasentwicklung von Fritz Haber verweisen, der ja bekanntlich auch den ersten deutschen Giftgaseinsatz im Ersten Weltkrieg geplant und forciert hat und die diesbezügliche Forschung auch noch nach dem Kriege (!) weiterbetrieb, übrigens zusammen mit anderen wohlbekannten Wissenschaftlern: auch Otto Hahn war in dieser Gruppe ebenso Richard Willstätter, A. Geiger, James Franck, der später sogar den Bethe-

122

Franck-Bericht gegen die Anwendung der amerikanischen Atombombe über Zivilbevölkerung entworfen und vorgelegt hat. Durch alle diese Vorhaben und Erfahrungen ist natürlich die externe moralische Verantwortlichkeit der Wissenschaftler in eine brisante Diskussion29geraten, die ich auch in mehreren Aufsätzen, unter anderem auch in dem Bändchen Wissenschaft und Ethik (Hg., 1991) schon diskutiert habe (vgl. a. Verf. Zwischen Wissenschaft und Ethik, 1992). Das ist hier im einzelnen nicht zu wiederholen. Nur soviel in Kürze: Man verwechselt generell allerdings auch gerade unter Wissenschaftlern dabei leicht und zu

sehr die interne und die externe Frage bzw. Form der Verantwortlichkeit. Wissenschaftsethik, genauer: Allgemeinethik oder Universalmoral in den Wissenschaften oder moralische Verantwortung gegenüber dem potentiell Betroffenen einerseits und das zunftinterne Ethos des Wissenschaftlers sollten nicht konfundiert werden, obwohl sie im Wissenschaftsbetrieb kombiniert werden sollen/müssen. Da aber liegt gerade das Problem. Der Wissenschaftler selber neigt dazu, sich auf das Ethos zurückzuziehen und zu sagen,

nur das bestmögliche, effiziente, saubere, wahrhaftige Forschen und ehrliche, faire Behandlung seiner Rivalen sei seine eigene eigentliche Verantwortung. Aber das kann er natürlich dann nicht mehr tun, wenn es um direkte Humanexperimente geht oder um Feldexperimente, in denen unmittelbar Menschen betroffen sind. Und er kann es sich auch dann nicht mehr so einfach vorstellen oder so bzw. zu leicht machen, wenn der Übergang von der Grundlagenforschung zur angewandten Forschung fließend wird. Man denke nur an die heutige Genbiologie, in der beide gar nicht mehr wirklich und sinnvoll zu trennen sind. Zumindest ist die Trennung im Detail sehr schwierig geworden. Natürlich hat Lübbe im gewissen Sinne recht, wenn er glaubt, daß der Wissenschaftler mit der vollen Verantwortung und etwa der Zumutung der Abschätzung aller „Schädlichkeitsnebenfolgen" des wissenschaftlich-technischen Fortschritts überfordert sei. „Nur bodenloser Moralismus" ', sagt er, deren „Verantwortungspathetik das Komplement seiner praktischen Ohnmacht" ist, könne die Verantwortung von Personen über ihre Handlungsmacht hinaus ausdehnen. Aber das ist eigentlich realiter im kaum durchdringlichen Wald der u. U. sehr verzweigten Verantwortlichkeiten nicht mehr durchzuhalten. Der Mensch ist einfach mit seinen Instrumenten, seiner verwissenschaftlichen Technik, seinen Großeingriffen in Ökosysteme (die überwiegend schon „künstliche"„technogene" Kleinwelten mit Restnatur geworden sind) zu mächtig geworden, als daß er sich nicht auch für den Gesamtzusammenhang mitverantwortlich fühlen müßte. Angesichts existierender Gefährdungen reicht es aber nicht, Überforderungseinsichten zum Anlaß zu nehmen, die Hände in den Schoß zu legen. Das gilt grundsätzlich und fallweise auch für einzelne Wissenschaftler an strategischen

Stellen der Entwicklung, Anwendung und Durchführung von experimentellen Forschungsvorhaben. Man muß hier, glaube ich, sehr viel differenzierter vorgehen und die politische und ethische Problematik integriert - auch rechtlich! - angehen.

29 Es soll nicht geleugnet werden, daß die Normalforschung in der Physik und Chemie die extreme Zuspitzung der externen Verantwortlichkeit, wie sie hier an Ausnahmebeispielen diskutiert wird, zumindest nicht zeigt. Gerade zur Profilierung der im Forschungsalltag nur selten und ggfs. andeutungsweise auftretenden Problematik der externen Verantwortung werden die folgenden zugegebenermaßen extremen Beispiele erörtert.

123

Auch die Ambivalenz der positiven und negativen, destruktiven Verwendbarkeit von technischen und angewandt-wissenschaftlichen Ergebnissen kann nicht mehr so glatt und einfach durch einen Gordischen Knotenschwertschlag aufgelöst werden, indem bzw. durch den einfach unverantwortbare Grundlagenforschungen und zu verantwortende angewandte Forschung völlig voneinander getrennt werden könnten. Das alles ist heute sehr viel schwieriger geworden.

Unverantwortbarkeit gerät leicht zur Unverantwortlichkeit. Und wenn Verantwortlichkeit mit der Macht und dem Wissen wächst, dann erweitert sich mit beiden entsprechend auch die Mitverantwortlichkeit des Menschen allgemein und des mächtigen und wissenden einzelnen. Generell gilt: Der Mensch ist das der Verantwortung fähige Wesen. Erst als solches ist er eine ausgereifte, moralische Person. Der Mensch ist das verantwortliche Wesen, und Wissenschaftler sind auch Menschen. Ergo sind auch sie verantwortliche Wesen, so einfach scheint der Schluß. Aber so einfach liegen die Verhältnisse aufgrund des bereits Erläuterten natürlich nicht. Man hielt traditionellerweise die Wissenschaft für moralisch neutral. Man konnte deren Resultate immer zum Guten wie zum Bösen verwenden, und oft war und ist nicht einmal zu bestimmen, was gut und was böse oder unethisch ist. Man hielt die Wissenschaftler herkömmlich für nicht verantwortlich für ihre Entdeckungen, Entwicklungen und deren Verwendung. Albert Einstein war

allerdings nicht dieser Meinung. Er schrieb in einem Brief aus dem Anfang der dreißiger Jahre an seinen Physikerfreund Max von Laue: „Deine Ansicht, daß der wissenschaftliche Mensch in den politischen, d. h. menschlichen, Angelegenheiten im weitesten Sinne schweigen soll, teile ich nicht. Du siehst ja gerade an den Verhältnissen in

Deutschland, wohin solche Selbstbeschränkung führt. Es bedeutet die Führung den Blinden und Verantwortungslosen widerstandslos zu überlassen. Steckt nicht Mangel

an Verantwortungsgefühl dahinter? Wo stünden wir, wenn Leute wie Giordano Bru-

no, Spinoza, Voltaire, Humboldt so gedacht und gehandelt hätten?" Was ist also, worin besteht die externe Verantwortung der Wissenschaftler bzw. des Forschers? Die Problematik wurde besonders deutlich wiederum durch Einstein, durch Einsteins (eigentlich von Szilard geschriebenen) Brief an Präsident Roosevelt, in dem er auf Anraten von Szilard und Wigner schweren Herzens die Entwicklung der amerikanischen Atombombe empfahl. Oder später nach den Bombenabwürfen über Hiroshima und Nagasaki durch die Atomic Scientists of Chicago und durch die 1949 zusammen auch mit Einstein und Victor Paschkis gegründete Gesellschaft für Soziale Verantwortung in der Wissenschaft, deren deutscher Zweig in Gestalt der Gesellschaft für Verantwortung in der Wissenschaft 1965, also sehr viel später, gegründet wurde. Man denke für die Bundesrepublik aber auch an die von der erkannten praktischen Mitverantwortung des Wissenden in strategischer Position getragene, wenngleich eher politisch wirksame Aufrufaktion der Göttinger Atomphysiker, der Achtzehn von Göttingen, als die atomare Aufrüstung der Bundeswehr zur Diskussion stand. Oder etwa an die ersten Pughwash-Konferenzen im selben Jahr 1957, deren noch lebender Mitbegründer Joseph Rotblat erst 1995 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden ist. Dieses in erster Linie moralisch motivierte Engagement der Wissenschaftler institutionalisierte sich dann später auch in der Vereinigung deutscher Wissenschaftler, führte allerdings zu keiner ausgedehnten allgemeinen ethischen Debatte, sondern eher zu konkreten Kritiken und Projektbeurteilungen, manchmal mit einiger politischer Brisanz.

124

Einer der Göttinger Achtzehn, Max Born, äußerte sich extrem pessimistisch: „In unserem technischen Zeitalter hat die Naturwissenschaft soziale, politische und ökonomische Funktionen. Wie weit auch immer die eigene Arbeit von der technischen Anwendung entfernt ist, bedeutet sie doch ein Glied in der Kette von Handlungen und Entscheidungen, die das Schicksal des Menschengeschlechtes bestimmen. Dieser Aspekt von Wissenschaft kam mir in seiner vollen Auswirkung erst nach Hiroshima zum Bewußtsein. Dann aber bekam er überwältigende Bedeutung. Er ließ mich über die Veränderungen nachdenken, welche die Naturwissenschaften in den Angelegenheiten der Menschen in meiner eigenen Zeit verursacht haben, und wohin sie führen mögen. Trotz meiner Liebe zur wissenschaftlichen Arbeit war das Ergebnis meines Nachdenkens entmutigend. Es scheint mir, daß der Versuch der Natur, auf dieser Erde ein denkendes Wesen hervorzubringen, gescheitert ist. Der Grund dafür ist nicht nur die beträchtliche und sogar noch wachsende Wahrscheinlichkeit, daß ein Krieg mit Kernwaffen ausbrechen und alles Leben auf der Erde zerstören kann. Selbst wenn die Katastrophe vermieden werden kann, wage ich für die Menschheit lediglich eine düstere Zukunft zu sehen" (1965). Born meint, die wirkliche Krankheit unseres technischen Zeitalters sei der „Zusammenbruch aller ethischen Grundsätze". Alle Versuche, unseren ethischen Kodex unserer Situation im technischen Zeitalter anzugleichen, seien fehlgeschlagen. Nun, diese total pessimistische Ausmalung eines ethischen Alptraums teile ich nicht. Doch läßt sich dem Grundtenor eine gewisse Berechtigung nicht absprechen. Von einem Zusammenbruch aller ethischen Grundsätze kann man meines Erachtens allerdings nicht sprechen. Eher wohl von einer relativen Wirkungslosigkeit, besonders im internationalen Raum und hinsichtlich gerade der technischen Auswirkungsmöglichkeiten. Woran liegt das? Wie lassen sich neue ethische Orientierungen gewinnen, die für unsere systemtechnologische Welt von heute angemessen sind? Eines ist klar: Wir können es uns heute und künftig nicht mehr leisten, die drängenden ethischen Probleme der Wissenschaft, insbesondere der angewandten Wissenschaft und auch der Technik, zu vernachlässigen. Amerikanische Universitäten haben sich hier wieder einmal als flexibler erwiesen als europäische. Bei ihnen sind schon Kurse zur Ethik der Wissenschaft, Ethik der Medizin, Ethik des Strafrechts, Ethik der Gesetzgebung, Ethik der Verwaltung und Regierung, Ethik der Wirtschaft institutionalisiert. Bioethik und Umweltethik sind geradezu zu Schlagworten geworden. Bei uns ist institutionell noch nicht allzu viel geschehen. „Ethik der Medizin" ist vielerorts bei uns - meist fakultativ - eingeführt. Bei Experimenten mit Menschen, sogenannten Humanexperimenten, werden unmittelbar im Forschungsprozeß Menschen in den Wissenschaftsprozeß hineingenommen, werden sozusagen Objekt der Forschung. Die externe Verantwortung ist auch besonders deutlich bei sogenannter Feldforschung und bei angewandter Forschung. Sie ist aber nicht auf diesen Bereich beschränkt. Die Ansichten über diese externe Verantwortung gehen noch sehr weit auseinander. Man hat gesagt, z. B. der Biochemiker Ernest Chain, daß Wissenschaft als beschreibende Untersuchung der Naturgesetze

keine ethische und moralische Qualität hat, ethisch neutral sei, und daher, meint Chain, könne der Wissenschaftler nicht für eventuell schädigende Wirkungen seiner Erfindungen verantwortlich sein, sondern die Gesellschaft sei verantwortlich, der natürlich jeder Wissenschaftler als Bürger verpflichtet ist. Insbesondere sei der Wissenschaftler nicht für die Anwendung eines von ihm entdeckten fundamentalen Gesetzes durch andere verantwortlich, von dessen Verwendbarkeit er zu Beginn seine Projektes noch gar nichts ahnen konnte. Ihn für seine Entdeckung verantwortlich zu machen, sei gleichbedeutend damit zu fordern, daß er richtig das Ergebnis seiner Untersuchung

125

voraussieht, bevor er sie begonnen hat. Die Entscheidung für eine Anwendung geht eben - und das ist richtig - weit über das beschreibende Wissen hinaus. Es sei daher sinnlos, dem Wissenschaftler eine Verantwortung für die nicht von ihm selbst getätigte Anwendung seiner Entdeckung zuzuschreiben. Diese müßte allein der Politiker oder Entscheidungsträger auf sich nehmen. Chain geht sogar so weit zu sagen, Wissenschaftler und Techniker in der Kriegsforschung bei der Entwicklung neuer Kriegswaffen, seien diese nun ballistisch oder biologisch, hätten keine Verantwortlichkeit für die schrecklichen zerstörerischen Effekte der Waffen, die sie entwickeln. Demgegenüber hat man hervorgehoben, z. B. Belsey, daß bei aller auf den ersten Blick als allgemeines Prinzip gegebenen Freiheit der Forschung dennoch Einschränkungen und besondere Verantwortlichkeiten angesichts gefährlicher Forschungsbereiche bestünden, die zum Beispiel besondere Risiken für die Menschheit einschließen. Lumal dann, wenn der Wissenschaftler gute Gründe hat zu glauben, daß seine Entdeckung in einer Weise verwendet werden kann, die sich schädigend auf die Menschheit auswirkt, und daß beispielsweise eine Regierung wahrscheinlich diese Entwicklung in solch mißbräuchlicher Weise benutzen würde. In diesem Fall sollte er diese Entdeckung nicht in die Hände der Regierung legen. Der Wissenschaftler könne (und das wird wohl besonders brisant in dem Bereich der Biotechnik und der Gentechnologie) nicht einfach seine Hände öffentlich in Unschuld waschen, wenn er etwas entdeckt, das katastrophal für die Menschheit sein könnte. Man könne natürlich nicht verlangen, daß der Wissenschaftler richtig das Ergebnis seiner Untersuchungen schon vor dem Beginn voraussagen könne, aber man kann fordern, daß er wahrscheinliche Ergebnisse in manchen Risikobereichen der Forschung abschätzt und in den Gesamtrahmen ein bettet sowie abwägend beurteilt. Das jedoch gehöre zu seiner normalen menschlichen Verantwortung, meint Belsey. Man brauche keine wissenschaftsethische Sondermoral, aber besonders die anwendenden Wissenschaftler und Techniker stehen gelegentlich an strategischen Schaltstellen der Entscheidung, die außertechnische und übergreifende Zusammenhänge ins Spiel bringen und verlangen, die möglichen Folgen der Entscheidung mitzubedenken, selbst wenn diese Folgen im voraus nur unvollständig zu übersehen sind. Chain und andere schränken aber die Verantwortung des Wissenschaftlers ein auf die Unterstützung überfachlicher Zusammenarbeit und die rechtzeitige und verständliche Information über wissenschaftliche Entdeckungen und über neue technische Möglichkeiten und deren Problematik, auf die Beteiligung bei Pilottestprojekten sowie auf eine verstärkt die brennenden praktischen Probleme erörternde Aufforderung an die Geisteswissenschaften, nun endlich ihrerseits „ihre Mondlandung" vorzunehmen (Grau) und die ethischen Probleme der angewandten Wissenschaften überzeugend zu lösen. Der Wissenschaftstheoretiker Karl R. Popper meinte dagegen, nur Naturwissenschaftler könnten z. B. die Gefahr des Bevölkerungswachstums voraussehen oder die des zunehmenden Verbrauchs von Erdölprodukten oder die Risiken der für friedliche Zwecke verwendeten Atomenergie abschätzen - als ob es sich hier bloß um naturwissenschaftliche Probleme handelte. Nur die Wissenschaftler, sagt er, können die Begleiterscheinungen und Folgen ihrer eigenen Leistungen abschätzen. Nur daher hätten sie mehr Verantwortung als andere. Die Zugänglichkeit von neuem Wissen schafft neue Verpflichtungen, sagt Popper ausdrücklich. Dies aber

sei Teil der besonderen Verantwortung des Wissenschaftlers im Rahmen seiner Rollenverpflichtung. ,Jedermann trägt dort eine besondere Verantwortung, wo er entweder über besondere Macht oder über besonderes Wissen verfügt." Popper möchte die Verantwortlichkeit und deren Bewußtwerdung aktivieren, durch die Einführung eines am hippokratischen Eid der Mediziner orientierten Versprechens für Studenten der angewandten Naturwissenschaften (nach Weltfish 1946). Hermann Lübbe hingegen

126

urteilt, wie bereits erwähnt, der Wissenschaftler sei mit der Verantwortung und

Abschätzung der Schädlichkeitsnebenfolgen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts hoffnungslos überfordert. Angesichts etwa der nicht vorhersehbaren Folgen der erweiterten wissenschaftlich-technischen Handlungsmöglichkeiten werde der Verantwortungsbegriff daher notorisch überstrapaziert. Wissenschaftler und Techniker könnten die Verantwortung gar nicht tragen, weil diese Entscheidungen auf der Ebene unserer öffentlichen bürgerlichen Kultur politisch zu verantworten seien. Es geht wohl nicht um die Zuweisung der Verantwortung an einen Einzelnen allein, sondern um (das Tragen von) Mitverantwortung, um Beteiligung an der Verantwortung. Sind Wissenschaftler also in dieser Hinsicht von jeder mit ihrer besonderen Stellung und jeweiligen Stelle innerhalb des Systems gegebenen Verantwortung freizusprechen? Ist in der Tat für die gesellschaftspolitischen und sozialen Aspekte künftiger Planungen und insbesondere auch hinsichtlich der Verantwortungsbereitschaft von den Wissenschaftlern nicht viel zu erwarten, wie andererseits Gesellschaftskritiker (Ginsburg) argwöhnten? Haben sie gar, wie man las, die Bevölkerung in der kritischen Zeit von Tschernobyl bewußt irregeführt, zum Teil sogar „faustdick belogen" durch beruhigende Erklärungen? Konnten sie die Gefahrensituation gar (nicht) übersehen - im Doppelsinn dieses Ausdrucks? Häfele sah in Tschernobyl keine physische, sondern nur eine „semantische Katastrophe". Kann er das überhaupt nach 10000 Toten (nach 10 Jahren) und viel größeren Zahlen von Dahinsiechenden und strahlengeschädigt aufwachsenden Kindern aufrechterhalten. Von den ökologischen Verseuchungen ganz zu schweigen. 30

Ist die Ausrede des bekannten Biochemikers Delgado generell ausreichend zu jeder Ent-Schuldigung: „Ich bin nicht Ethiker, ich bin Biologe"? In der Tat hatten bereits Werner Heisenberg und Carl Friedrich von Weizsäcker im Anschluß an den Bericht über den Abwurf der Hiroshima-Bombe diese Frage erörtert und vom einzelnen an der Forschung und Entwicklung beteiligten Wissenschaftler die sorgfältige und gewissenhafte Berücksichtigung des großen Zusammenhangs gefordert. Weizsäcker meinte damals zum Beispiel, die amerikanischen Atomphysiker hätten sich vor dem Abwurf der Bombe nicht genug um politischen Einfluß bemüht; sie hätten - als hätten sie dabei große Entscheidungsmöglichkeiten gehabt! - die Entscheidung über die Verwendung der Atombombe zu früh aus der Hand gegeben, zumal nur (?, d. Verf.) die Wissenschaftler in der Lage seien, meinte er, ähnlich wie später Popper, objektiv und sachlich und, was das Wichtigste ist, in großen Zusammenhängen zu denken. Dieser Optimismus über die Urteilskraft, die bessere und besondere Urteilskraft der Wissenschaftler erscheint heute wohl nicht mehr allgemein vertretbar. Dennoch haben sich, wie schon erwähnt, gerade die Wissenschaftlervereinigungen um die

moralischen Probleme der Verantwortbarkeit der Forschung und ihrer Folgen bemüht.

Interessant ist im gegenwärtigen Zusammenhang übrigens noch eine Unterscheidung Weizsäckers zwischen dem Entdecker und dem Erfinder. Er sagt, der Entdecker kön30 Dasselbe gilt für die erst nach der Wende genauer bekannt gewordene Nuklearkatastrophe von Kyschtym (Majak) vom Jahre 1957, bei der etwa 20mal so viel Radioaktivität freigesetzt wurde wie in Tschernobyl!

127

ne schon definitionsgemäß in der Regel vor der Entdeckung nichts über die Anwendungsmöglichkeiten wissen, und auch nachher kann der Weg bis zur praktischen Ausnützung noch so weit sein, daß Voraussagen unmöglich sind. Hahns Experimente über die Spaltung des Atomkerns waren eine Entdeckung, die Herstellung der Bombe eine Erfindung. Ist der Entdecker in diesem Sinne völlig frei von jeglicher Mitverantwortung, der Erfinder aber nicht? Ist also der Wissenschaftler und Entdecker Hahn nicht moralisch verantwortlich, aber Edward Teller als leitender Konstrukteur der Wasserstoffbombe durchaus? Die Unterscheidung scheint auf den ersten Blick plausibel; und sie ist es vielleicht auch - allerdings nur im ideal vereinfachenden Sinne. Sie unterstellt nämlich zu einfache Verhältnisse - wie übrigens jede ideale Unterscheidung. Auch angewandte wissenschaftliche und technische Entwicklungen, zum Beispiel die Entwicklung des Verbrennungsmotors oder die Herstellung von Dynamit oder die Kernenergie haben natürlich die Ambivalenz einer möglichen positiven und destruktiven Verwendbarkeit an sich. Zudem lassen sich Grundlagenforschung und technische Entwicklung heute zumal in Bereichen wie der Gentechnik und Genbiologie (hier sind Grundlagenforschung und Technikfortentwicklung besonders eng verzahnt, gehen geradezu - wie erwähnt - fließend ineinander über) nicht mehr so glatt und einfach trennen, wie es die idealisierte reine Unterscheidung zwischen dem Entdecker und dem Erfinder unterstellt. Edward Teller war diese Rolle jedenfalls später klar, nur zog er sich dennoch stets in die Rolle des neutralen Experten zurück, der von einem technisch so „süßen" Projekt fasziniert war, wie es Robert Oppenheimer, der sogenannte Vater der Atombombe in Manhattan-Engineer-District-Projekt, ausgedrückt hatte. Nicht viel später allerdings, in einem Brief vom 2.7.1945 an Szilard, der erst vor nicht allzu langer Zeit der Öffentlichkeit zugänglich wurde, schrieb Teller, „daß ich mich keiner Hoffnung hingebe, jemals mein Gewissen läutern zu können. So schrecklich sind ja unsere Forschungen, daß unsere Seelen weder durch Proteste noch

durch politische Einmischung noch gerettet werden können. Und ich kann auch nicht behaupten, daß ich lediglich meine Pflicht zu erfüllen suchte. Im Gegenteil: Echtes Pflichtgefühl hätte mich doch von solcher Arbeit abgehalten. Freilich glaube ich auch nicht, daß irgendwelche Hoffnungen berechtigt sind, irgendwelche Waffen je gesetzlich verbieten zu können. Ja, wenn wir überhaupt eine Chance haben, zu überleben, dann liegt sie in der Möglichkeit, Kriege schlechthin abzuschaffen"3)• Er hoffte also nur noch auf die Abschreckungsmöglichkeit und -wirkung. Szilard hingegen vertraute auf die allgemeine weltweite Veröffentlichung der Forschungsergebnisse und eine Art von automatischer Check-and-balance-Lösung des Problems. Ist Tellers Stellungnahme nur ohnmächtiger Zynismus, Abschiebung jeglicher Moral und Rechtfertigung? Hahn hingegen hat sich sein ganzes späteres Leben unter den von ihm absolut nicht voraussehbaren Folgen seiner ersten Urankernspaltung gelitten. War der Entdecker moralisch zu skrupulös, war dagegen der Erfinder-Techniker zu starr uneinsichtig, vielleicht durch eine nachträgliche, eventuell unbewußte Strategie der Selbstrechtfertigung, einer Rationalisierung, wie die Psychologen sagen? Die Briefstelle spricht eher für bewußten moralischen Fatalismus oder Defätismus - als wäre eben nichts mehr zu machen. Sind nun die Wissenschaftler und Techniker heute Träger eines nicht mehr faustischen, sondern geradezu teuflischen Pakts geworden, eines Teufelkreises wenigstens, der sie, wie Robert Oppenheimer meinte, an den Rand des 31 Wiederholt hat Teller später jegliche (Mit-)Verantwortung des Forschers (auch des Wissenschaftlers in der angewandten Forschung) abgelehnt (z. B. FAZ 21.4.1995, Frankfurter Rundschau 3.8.1995).

128

Abgrunds der Vermessenheit geführt habe? Haben sie die Sünde kennengelernt, gar schon gesündigt? Ist Wissenschaft demnach an die Übernahme von Schuld gebunden, wie Heisenberg und von Weizsäcker in dem erwähnten Gespräch fragten und, überraschend, verneinten? Mir scheint, daß viele dieser skizzierten Stellungsnahmen auf beiden Seiten noch zu sehr an den herkömmlichen individualistischen Begriff der Alleinverursacherverantwortung gebunden sind.

Unter dem Gesichtspunkt der erwähnten erweiterten Verantwortlichkeit des Menschen und im Lichte der oben erwähnten Teilbarkeit der Mitverantwortung könnte man differenzierter von Mitverantwortung sprechen, ohne den Wissenschaftlern und zumal dem einzelnen Forscher nun eine totale Alleinverantwortung zuzuschreiben. Die erweiterte Verantwortlichkeit und die angedeutete Beteiligungsoffenheit und Beteiligungsmöglichkeit angesichts des einmal eingegangenen und nicht mehr einfach zu widerrufenden faustischen Paktes beim wissenschaftlich-technischen Fortschritt ist in der Tat wichtiger als eine kaum jemals zuzurechnende rückwirkende moralische Alleinverursacherverantwortung bei Grundlagenforschungsprojekten. Solch eine erweiterte und mitgetragene Verantwortlichkeit gilt es den Wissenschaftlern, insbesondere den jüngeren und den Studenten, bewußt zu machen. Hierfür muß auch schon an den Hochschulen und womöglich in der Schule Vorsorge im Sinne von Informati-

on, Diskussion und möglichst konkreten Fallerörterungen getroffen werden. Dies reicht natürlich nicht aus.

Habers Verwicklung in den (gas)chemischen Krieg »Der Gelehrte gehört im Kriege wie jedermann seinem Vaterland, im Frieden aber gehört er der Menschheit" (zit. n. Stoltzenberg 1994, 223). Diesen Satz hat Haber wahrscheinlich nie wörtlich so gesagt, sinngemäß wurde er erst nach dem Ersten Welt-

krieg von ihm formuliert. 3 Oft wird der Satz kurz auch so zitiert: „Im Frieden für die Menschheit, im Kriege für das Vaterland". Das Wort und dessen thematischer Sinn beziehen sich natürlich auf die Anhörung von 1923, als Haber auf Ersuchen eines Ausschusses des Deutschen Reichstages bezüglich seines Engagements in der Gaskrieg-

Entwicklung gefragt wurde. Haber war in der Tat der Initiator des Gaskrieges in

Deutschland, und er hätte das, wie sein Biograph Stoltzenberg 1994 geschrieben hat, auch „nie abgeleugnet" (ebd. 241), sondern er meinte, daß der Krieg mit chemischen Mitteln eine zusätzliche und besonders wenig „grausame", ja geradezu „humane" (!?) Möglichkeit der Kriegsauseinandersetzung wäre.

32 Gegenüber der von Stoltzenberg zitierten Fassung ist natürlich die Akzentsetzung des kolportierten, aber nicht nachgewiesenen Kurzsatzes viel suggestiv-provokativer - und wurde wohl oft pointierend in ideologischer oder provozierender Absicht zitiert und weiterzitiert. Weitergegebene, fortan sich fortsetzende Zitate ...

129

Es war am 22. April 1915, als in Ypern der erste militärtechnische systematische Großeinsatz von Giftgas stattfand. Der eigentliche Erfolg, den Feind in die Flucht zu jagen, eine Panik zu verursachen, wurde erreicht, aber die deutsche Heeresleitung hatte, so Stoltzenberg (ebd. 249f.), noch nicht genügend Vertrauen in die Wirkung gehabt; daher reichten die Reserven nicht aus, um diesen Erfolg auszunutzen und wirksam nachzustoßen. So ging es also ein Jahr später immer noch bei Ypern um die Auseinandersetzungen im Schützengrabenkrieg; die Deutschen verwendeten dann Granaten aus einem Phosgen-Chlor-Gemisch. Aber die alliierten Truppen waren nun schon so gut darauf eingestellt, daß sie dieses Gemenge sehr schnell analysieren konnten. Und so wurde keine große Wende des Krieges dadurch herbeigeführt.

Haber war in der Tat bewußt der Initiator. Er hatte die Idee, mit 20 kg Chlorgas gefüllte Stahlflaschen an die Schützengräben zu stellen. In diese Flaschen waren Syphonrohre eingesetzt, so daß bei „günstigem" Wind das Chlor abgelassen würde

und sich, weil es ja schwerer als Luft ist, in die gegenüberliegenden Schützgräben hineinwälzen und die feindlichen Truppen dann zum Verlassen der Stellungen zwingen sollte (Stoltzenberg 1994, 243f.). Haber leitete eine große Abteilung in seinem KaiserWilhelm-Institut, die sich mit Entwicklung von Gaswaffen beschäftigte - darin auch als Mitarbeiter der später berühmte Otto Hahn, der Entdecker der Kernspaltung, welcher insbesondere für die Vorbereitung eines Einsatzes von Phosgengranaten aus ca. 900 „Gaswerfern" an der Isonzofront bei Feitsch (23.10.1917) verantwortlich war (zit. n. ebd. 289); ferner James Franck, der später den bekannten Franck-Bethe-Report gegen den Einsatz von Atombomben über Zivilbevölkerung verfaßt hat; schließlich Geiger, der Erfinder des Geigerzählers usw.

Was ist also hier zur Verantwortlichkeit zu sagen? Einerseits wurde mit Sicherheit, obwohl Haber das in der erwähnten Anhörung bestritt, die Haager Landkriegsordnung von 1907 verletzt bzw. übertreten, in der nämlich die Verwendung von Giften und vergifteten Waffen ausdrücklich verboten wurde: Untersagt wurden von dieser Verordnung vom 18.10.1907 ,a) die Verwendung von Giften und vergifteten Waffen; b) die Verwendung von Waffen, Geschossen und Stoffen, die geeignet sind, unnötige Leiden zu verursachen; c) die Verwendung von Geschossen, deren einziger Zweck (es) ist, giftige oder erstickende Gase zu verbreiten. Die Splitterwirkung muß immer die Giftwirkung übertreffen." Haber hat 1923, als er diese Vorgänge, die Wirkung und Verwendung von Gas und Gasgranaten schilderte, gesagt, daß er sich persönlich „mit der völkerrechtlichen Zulässigkeit der Gaswaffen niemals befaßt" hat. „Diese Seite" sei von der Heeresleitung, zumal dem „Generalstabschef, dem Kriegsminister v. Falkenhayn, offenbar selber persönlich geprüft" worden, und er Falkenhayn - hätte Haber „keinen Zweifel gelassen, daß es für ihn völkerrechtliche Grenzen gab, die er streng innegehalten wissen wollte". Unzweifelhaft hätte er Haber - auch geglaubt, der Haager Landkriegsordnung nicht zu widersprechen, denn er hätte ja keine Geschosse verwendet. Aber den Punkt a) hatte Haber offenbar nicht gelesen, sondern anscheinend nur den Punkt c). „Die einzige" in Den Haag „getroffene Festsetzung" ', sagte Haber, „durch welche Geschosse dem alleinigen Zweck der Verbreitung erstickender und giftiger Gase verboten wurden, gab ... zu einer solchen abweichenden Meinung keinerlei Anlaß" (zit. n. ebd. 310). Dies also bezog sich nach Punkt c) auf die Geschoßverwendung von Giftgas. Doch solche Geschosse wurden auch hergestellt und - wie oben bereits erwähnt - 1917/1918 verwendet.

130

Haber meinte noch (zit. n. ebd. 311), zuerst hätten die Franzosen giftige Gase als

Kampfmittel angewendet. Das ist streng genommen auch richtig33; das Einsetzen geschah aber nicht in einem systematischen Strategiekontext und in großem Umfang und auch nicht aufgrund von systematischen Forschungsprojekten. Er äußerte weiter, „der Einsatz der chemischen Kampfstoffe" sei „nicht nutzlos, sondern teilweise mit kampfentscheidend gewesen", und „der chemische Krieg (sei) nicht grausamer als der sonst geführte Krieg"", sondern geradezu „humaner gewesen" (zit. n. ebd.):

„Während des Krieges 1918 waren 20 bis 30% aller amerikanischen Verluste durch Gas verursacht, woraus hervorgeht, daß die Gaskampfstoffe eines der mächtigsten Kriegsmittel bilden. Die Berichte zeigen aber, daß bei der Ausrüstung der Truppen mit Masken und anderen Gasabwehrmitteln nur 3 bis 4% der Gaserkrankungen zum Tode führten. Dies lehrt, daß sich die Gaswaffe nicht nur zu einer der wirksamsten, sondern zugleich zu einer der humansten Waffen ausgestalten läßt" (zit. aus der Anhörung von Haber 1923, zit. n. Stoltzenberg, ebd.).

Ich möchte noch eine andere große Chemiker-Persönlichkeit zitieren, die dem „Gaskrieger" Fritz Haber als Opponent entgegenstand. Die Auseinandersetzung beider ist eigentlich ein Stoff für ein Drama, das freilich bislang nicht geschrieben wurde. Es handelt sich um Hermann Staudinger, der während des Ersten Weltkrieges in Zürich lebte und verzweifelt versuchte - zunächst in einem Aufsatz über „Technik und Krieg" (1917) -, die Weltöffentlichkeit auf die Vernichtungswaffen, die Möglichkeiten der neuen technologischen und chemischen Waffen aufmerksam zu machen und auf die Notwendigkeit der Abschaffung des Krieges zu verweisen: „Ein Zukunftskrieg könnte ungeahnte Vernichtung und Zerstörung bringen", schreibt er, „und bei dieser Situation erscheint die Frage nach einem wirklich dauernden Frieden als eine Aufgabe der gesamten Menschheit, die heute, und gerade heute, gelöst werden muß, wenn nicht die Kulturvölker vom Untergang bedroht sein sollen. Ein Friede, der nur eine Art Waffenstillstand brächte, wäre das Schlimmste, das Europa treffen könnte" (zit. n. Stoltzenberg 1914, 314). Das war 1917. Staudinger hat eine entsprechende Denkschrift auch in abgewandelter

Form an das deutsche Hauptquartier geschickt, aber dort wurde sie natürlich als gefallen" (zit. n. ebd. 317).

Staudinger versuchte, das internationale Rote Kreuz zu mobilisieren, und hat mehrere Vorträge gehalten und insbesondere in Organen des Roten Kreuzes gegen den Gaskrieg protestiert. Er arbeitete dabei auch mit dem Schriftsteller Romain Rolland zu-

33 Der französische General Cavaignac hatte - lange vor der Haager Landkriegsordnung von 1907 - im marokkanischen Kolonialkrieg „giftige Nebel" gegen Araber eingesetzt, und 1845 wurden im französisch-algerischen Krieg über 1000 Kabylen von französischen Truppen beim Ausräuchern eines Berglabyrinths vergiftet und umgebracht. Haber verwies 1915 Otto Hahn gegenüber darauf, daß Cyanidverbindungen bereits im September 1914 von den Franzosen „in kleineren Mengen" als Kampfmittel verwendet worden waren (zit. Stoltzenberg 1994, 247f.).

131

sammen. Aber auch das führte zu nichts; denn sein Vorschlag wurde auch in Frankreich abgelehnt: Namhafte französische Politiker meinten, es gebe „keinen Grund, eine einzige Kriegswaffe zu verbieten; man müsse alle oder keine verbieten" (zit. n. ebd. 316). Wie weit war demgegenüber bereits Jahrhunderte zuvor Leonardo da Vinci vorgeprescht, der seinerzeit das U-Boot entworfen hatte, aber beschloß, er wolle eine solche heimtückische Waffe nicht weiter verfolgen oder gar veröffentlichen bzw. dem Fürsten zur Kenntnis bringen! Staudinger protestierte weiter gegen den Einsatz chemischer Giftstoffe und Gase und hat nach dem Kriege 1919 entsprechende l'exte, insbesondere auch den genannten Autsatz, an Haber selbst geschickt. Es kam zu einem Briefwechsel - wahrlich Stoff des prospektierten Dramas. Haber antwortete, er habe den Brief gelesen und die Schriften „durchgesehen". Man könne darüber jetzt nicht sprechen: „Heute ist der Standpunkt ... ein zu verschiedener." Vielleicht könne man später einmal darüber reden. Staudinger antwortete: „Ich bedaure, daß die l'endenz des Aufsatzes ... Ihnen eine weitere mündliche Diskussion für unangebracht erscheinen läßt. Ich hoffte, daß die dort vertretene Auffassung auch Ihre Zustimmung finden könnte, daß nämlich gerade wir Chemiker in Zukunft die Verpflichtung haben, auf die Gefahren der modernen Technik aufmerksam zu machen, um so für eine friedliche Gestaltung der europäischen Verhältnisse zu wirken, da ein nochmaliger Krieg in seinen Verheerungen unausdenkbar wäre" (zit. n. ebd. 317). Haber antwortete kurz darauf, Staudinger befände sich zu sehr „außerhalb der wirklichen Welt", indem er auf die „Einstellung solcher chemischer Tätigkeit" hinwirken woll(t)e: „Diese Idee ist wenig fruchtbar. Von der technischen Seite her läßt sich der ewige Friede nicht sichern." „Sie sind damit Deutschland in der Zeit der größten Not in den Rücken gefallen" (ebd.). Die „Aufgabe jedes Deutschen" wäre es gewesen, alles zu tun, um die Wehrkraft zu steigern. Staudinger schreibt schließlich noch einmal zurück und meinte (zit. n. ebd. 319), es sei „die Aufgabe und Pflicht jedes Menschen, der nur einen gewissen Einblick in die heutige Technik besitzt, darauf hinzuweisen, daß sowohl die Art der Vernichtungsmittel wie ihre Größe ganz andersartige sind, so daß bei nochmaligem Kampf von Industrievölkern, die ihre technischen Fähigkeiten im Krieg ausnützen können, eine noch nie dagewesene Vernichtung eintreten wird." Und am Schluß schreibt er - an Haber persönlich gerichtet: „Immerhin möchte ich schließlich noch

betonen, welch eine Bedeutung es gehabt hätte, wenn ein Mann von Ihren Kenntnissen, speziell des Auslands und der Möglichkeiten der amerikanischen Technik, zur rechten Zeit auf die Gefahren hingewiesen hätte, die der verhängnisvolle Bruch mit Amerika herbeiführen mußte. Eine klare und deutliche Stellungnahme" Habers hätte dort eindrucksvoll gewirkt. Stoltzenberg urteilt zu Recht (ebd. 319), daß die benutzten Argumente auch noch in die heutige Zeit passen würden.

Haber war ja auch ein recht umstrittener und zwiespältiger Charakter, auch im Persönlichen, doch das steht hier nicht zur Debatte. Er wurde andererseits aber auch sehr von seinen Freunden gelobt, z. B. von Richard Willstätter, der nicht nur die unendliche Arbeitskraft von Haber hervorhob, sondern auch seine Feinfühligkeit, „seinen 'Adel der Gesinnung'"', seine „Herzensgüte"', seinen „Reichtum an Einfallen" usw. hochschätzte (zit. n. ebd. 227). Stoltzenberg (ebd. 320) schreibt noch über Haber: „Es ist leicht, den Stab über einen Menschen zu brechen, viel schwerer ist es, sich ein gerechtes Urteil zu bilden."

Wenn man aus heutiger Zeit die damaligen Auffassungen und die vorherrschende nationale Mentalität (z. B. die Kriegsbegeisterung, mit der 1914 die vielen, vielen Freiwilligen zu den Waffen eilten) sieht und berücksichtigt, dann ist das sicherlich richtig.

132

Man müßte natürlich im einzelnen versuchen, jetzt zu differenzieren - nach den

Typen und verschiedenen Ebenen der Verantwortlichkeit, wie ich das oben zu tun versucht habe. Dann könnte man vielleicht zu einem besseren Verständnis gerade der Konflikte um und in Haber kommen, die ja weitgehend ungeklärt sind. Manche wie Frucht und Zepelin (1995) in einer kürzlichen Veröffentlichung meinten, es sei die

„Tragik der verschmähten Liebe" zum deutschen Vaterland gewesen, weil Haber selber Jude war. Man weiß es natürlich nicht genau, ob es dieser und nur dieser Fak-

tor war. Aber es gibt auch viele weitere Fragen und Dilemmata dabei, übrigens auch

bei Haber selbst. Haber wurde ja später, nach dem Kriege, Reichskommissar für Schädlingsbekämpfung. In einer Abteilung seines Instituts, geleitet von Fury, wurde das Zyklonverfahren er - bzw. überarbeitet, übernommen aus der amerikanischen di-

rekten Blausäurebegasung z. B. von Mehl zur Schädlingsvernichtung. So wurde Blausäure im Haber-Institut „mittels eines Trägers stabilisiert und mit einem Warnstoff kombiniert." Das Verfahren und das Zyklon A wurden schließlich aber als potentielle Giftkampfstoffgewinnung verboten. Statt des so hergestellten Zyklon A

(mit 90% Cyankohlensäuremethylester) wurde dann Zyklon B entwickelt - direkt aus Blausäure und Chlorkohlensäuremethylester zusammengesetzt. Der hauptsächlich vergiftend wirkende Stoff war derselbe wie in dem vorherigen Zyklon, d. h. also, man wählte gleichsam eine Methode wie sie heute bei den Dopingverfahren im Sport üblich ist: Man sucht eben ein neues Mittel, eine neue Kombination, die gerade noch nicht verboten ist. Das Zyklon B sollte später eine absolut tragisch und unüberbietbar unmenschliche Geschichte haben, da es zur Vergasung nicht nur von Schädlingen im Mehl verwendet wurde (dafür war auch dieses Verfahren ja zunächst entwickelt worden), sondern in Auschwitz zur Gastötung von Menschen systematisch und fabrikmäßig grausig mißbraucht wurde. Der für die technische Entwicklung des Zyklonverfahrens Verantwortliche, das ja in Habers Institut seinen Anfang genommen hat, wurde mittelbar in die grausige Tragik einbezogen. Haber hat als der Verantwortliche selber indirekt darunter gelitten: In seinem Verwandtenkreis wurden z. B. die Tochter

seiner Stiefschwester, Hilde Glücksmann, deren Mann und ihre beiden Kinder in Aus-

chwitz mit Zyklon B vergast, das in Habers Institut entwickelt wurde! Stoltzenberg kommentierte (ebd. 467): „Welche entsetzliche Tragik kann aus der Arbeit eines

forschenden Menschen entstehen. Haber konnte nicht im geringsten erahnen, welche Folge seine Tätigkeit auf diesem Gebiet haben würde." Das letztere ist natürlich angesichts der Ypern-Affäre zu bezweifeln. Hatte Haber hier nicht auch selbst initiativ mitgewirkt?

Forderungen eines Physikers von heute Ich möchte das Gesagte auch noch auf ein anderes Beispiel aus der Waffentechnik von

heute beziehen. Dabei greife ich auf einen Vortrag eines anderen34, heutigen Kollegen meiner Universität, einen Physiker zurück, der bis vor kurzem Präsident der Europäi-

34 Auch Haber war Ordinarius der TH Karlsruhe gewesen, als er sein berühmt gewordenes Ha-

ber-Bosch-Verfahren entwarf und entwickelte, das übrigens den Nitrat- und Salpetersäuremangel der Deutschen im Ersten Weltkrieg behob - ein Mangel, der - wäre Habers Erfindung nicht gewesen - schon etwa 1915 oder 1916 zum militärischen Zusammenbruch Deutschlands wegen Munitionsmangels (Pulvermangels) geführt hätte! Deutschland hätte - ohne Haber -

so bald sein Pulver verschossen gehabt ...

133

schen Gesellschaft für Physik war: Der Festkörperphysiker Werner Buckel hat 1995 in Göttingen anläßlich der 50jährigen Wiederkehr der ersten Versuchsatombombenexplosion am Trinity-Site in New Mexico einen Vortrag 35über „Wissenschaft in der Verantwortung" gehalten, in dem er meinte, daß „angesichts der vielen Risiken, die aus wissenschaftlichen Ergebnissen entstehen können" - die Kernforschung sei ja nur ein Beispiel - nicht mehr gesagt werden kann: „'Der Wissenschaftler liefert neue Erkenntnisse. Was damit gemacht wird, ist nicht seine Sache'. Mit dieser Argumentati-

on"', sagt Buckel, „muß endgültig Schluß sein. Diese Behauptung ist auch schon des-

halb nicht haltbar und unehrlich, weil alle Wissenschaftler sehr wohl bereit sind, die Verantwortung für positive Entwicklungen aus ihren Ergebnissen zu übernehmen" Natürlich hätte man nach strengsten Maßstäben, so meint auch Buckel (ich habe das ja ebenfalls schon betont), Otto Hahn nicht als verantwortlich für die Atombombe sehen können. „Man kann nicht wissen, was man finden wird. Also kann Verbieten und Verteufeln der wissenschaftlichen Forschung - von einigen Beispielen abgesehen nicht das Mittel sein, die Menschheit vor vielleicht schlimmen Entwicklungen zu bewahren. Man müßte dann schon jede Forschung einstellen. Dies kann niemand im Ernst wollen, weil sich die Menschheit damit jeder Chance zur Lösung neu auftretender Probleme berauben würde." „Nach meiner festen Überzeugung", sagte Buckel weiter, „gibt es nur einen Weg, den

wir bewußt gehen sollten: Wir müssen versuchen, einen verantwortungsbewußten Umgang mit den Ergebnissen der Wissenschaft zu erreichen. Die Wissenschaftler haben dabei einen große Aufgabe. Sie sind wie niemand anders in der Lage vorauszusehen, welche Konsequenzen aus ihren Forschungsergebnissen entstehen können. Sie müssen sich dieser Aufgabe stellen und sie müssen schonungslos sagen, was sie als Möglichkeit voraussehen können." An anderer Stelle desselben Referates stellte er fest,

daß die „Versuche", eine völlig verantwortungsfreie, verantwortungsneutrale Forschung in „risikobehafteten Gebieten" dem „gebildeten Laien verständlich" machen zu wollen, „oft den Charakter von Verteidigungsreden" haben: „Man möchte den Zuhörer von etwas überzeugen und wählt dazu geeignete Argumente, die sicher alle

richtig, aber nicht die volle Wahrheit sind. Darauf reagiert die Öffentlichkeit sehr sensibel." (Ich erinnere mich da an das Wort des derzeitigen Bundeskanzlers, der einmal einem Journalisten in die Parade gefahren ist: „Das ist zwar richtig, aber nicht die Wahrheit.")

„Was wir brauchen", meint Buckel, „sind Wissenschaftler, die alle denkbaren36 Konsequenzen aufzeigen, ohne Rücksicht darauf, ob dies dem Geldgeber oder irgendwelchen starken Interessengruppen paßt oder nicht." Er würdigt dann auch noch die Göttinger Erklärung der achtzehn deutschen Nuklearwissenschaftler von 1957 und meint, die Verweigerung der Mitarbeit an der Ausrüstung der Bundeswehr mit Kernwaffen sei „im besten Sinne verantwortliches Handeln" gewesen.

35 Es handelt sich um eine Veranstaltung, die am 15. Juli 1995 unter dem Titel „Wissenschaft in

der Verantwortung" anläßlich des fünfzigjährigen Gedenkens an die erste nukleare Ver-

suchsexplosion (vom 15. Juli 1945) von der Deutschen Physikalischen Gesellschaft, der Vereinigung deutscher Wissenschaftler, der Naturwissenschaftler-Initiative 'Verantwortung für den

Frieden' und der Vereinigung Göttinger Wissenschaftler durchgeführt wurde. denkbaren"? Das ist eine unerfüllbare Forderung.

36 „Alle

134

Buckel schließt mit einigen bedenkenswerten Forderungen: 1. » Wissenschaftler dürfen nicht käuflich sein. Sie dürfen ihre wissenschaftlichen Aus-

sagen nicht für oder gegen irgendwelche Interessengruppen abgeben und dafür womöglich noch ein besonders hohes Honorar erhalten." Ein hoher Politiker, berichtete Buckel, hätte ihm einmal öffentlich gesagt: „Es ist doch klar: Ich bekomme für alles ein positives Gutachten. Die Frage ist nur, wieviel ich zu bezahlen bereit bin." Buckels Kommentar: „Das ist ein vernichtendes Urteil über die Moral man-

cher Wissenschaftler." (Nur der Wissenschaftler? Wohl kaum ...)

2. „Wissenschaftler sollten sich darum bemühen, die (möglichen, d. Verf.) Konsequenzen ihrer Arbeit (möglichst, d. Verf.) vorauszusehen. Das kostet Mühe, weil man sich auch außerhalb des Fachbereichs ... kundig machen muß." 3. »Wissenschaftler sollen schonungslos offenlegen, welche negativen Folgen ihre Ergebnisse haben können" - neben den positiven. „Damit würden wir in die Lage versetzt werden, diese Folgen frühzeitig zu erkennen und zu vermeiden. Forschung sollte man nicht verbieten", sondern man sollte „lernen, ihre Ergebnisse zu beherrschen. Forschung ist zur Lösung unserer Zukunftsprobleme entscheidend wichtig." 4. „Dieses Verhalten von Wissenschaftlern setzt einen gewissen Bewußtseinswandel unserer Gesellschaft voraus. Es muß in der Gesellschaft als ein Wert anerkannt werden, wenn Wissenschaftler sich verantwortungsbewußt verhalten, indem sie mögliche Risiken frühzeitig aufzeigen." (Wishful thinking?) 5. Dann fordert er noch, daß, wenn die Wissenschaftler als solche sprechen, sie eben ihre „persönliche Meinung zurückstellen" sollten. Aber sie könnten als Bürger eine Meinung haben", sie solten eine solche nicht nur „haben dürfen", sondern auch „haben sollen" - eine wertende Meinung, die gerade „nicht wissenschaftlich begründet zu sein braucht", ja, nicht wissenschaftlich sein kann. Ich meine etwas

weitergehend, daß die Wissenschaftler durchaus auch im Zusammenhang der Debatte über Anwendungen der Forschung und der öffentlichen Diskussion über Wissenschafen ihre persönliche Meinung sagen sollten, aber eben als solche zu

kennzeichnen hätten.

Man könnte und sollte natürlich in einem Beitrag wie dem vorliegenden detaillierter auf die Probleme der Normalforschung eingehen. Besonders die zuletzt zitierten Beispiele waren ja brisante Extreme aus der angewandten Wissenschaft in Not- und Krisenfällen. Die Normalforschung ist natürlich nicht so spektakulär, aber es ergeben sich doch vielfach ähnliche Problemlagen, lediglich nicht so dramatisch und deutlich. Deswegen wurde hier auch diese Extremzuspitzung gewählt.

Lösen Ethikkomitees die moralischen Dilemmata? Man hat häu g insbesondere auf die Ethikkommissionen verwiesen, die nicht nur in

der Medizin, sondern für alle Wissenschaften eingesetzt werden sollten. Es erscheint mir aber zweifelhaft, ob eine ständige Ethik-Kommission, die sich mit der Untersuchung und Beurteilung der ethischen, sozialen, rechtlichen folgelasten der Grundlagenforschung und des Fortschritts nicht nur in der biomedizinischen Forschung,

sondern in der Technologie und in der Wissenschaft allgemein beschäftigt, die geeignete Institution zur Steuerung der Wissenschaft wäre, selbst wenn diese Kommission fachübergreifend und breit besetzt wäre. Obermeier, der dies vorschlug, meinte, es sei längst Zeit, die Wissenschaft zu reglementieren, bevor uns die permanenten Innovationen und der Fortschritt erdrückten. Dies würde aber auch wohl eine unrealistische

fi

135

Voraussagbarkeit und Voraussehbarkeit wissenschaftlicher Entdeckungen und ihrer Folgelasten unterstellen. Die Superexperten, die Superkommission, würde man so zu institutionalisieren suchen. Sie aber gibt es nicht, kann es gar nicht geben. Sie wäre in der Tat absolut überstrapaziert. Mögen Ethik-Kommissionen in der biomedizinischen und pharmakologischen Forschung sowie bei allen Humanexperimenten zur Kontrolle sinnvoll sein (weil hier unmittelbar und abschätzbar Menschen dem Risiko des recht genau bekannten oder möglichst spezifizierten Experiments unterworfen werden), so dürfte sich eine umfassende Kommission mit der Behandlung aller übergreifenden Probleme der Grundlagenforschung ebenso überfordert sehen wie der Einzelwissenschaftler. Auch bei Einzelfragen, bei konkreten Datenfestlegungen gibt es eine sinnvolle Kommissionsarbeit, eine zweifellos sehr wichtige und detaillierte. Man denke etwa an die Technische Anordnung Luft, die das Ergebnis auch einer sorgfältigen Kommissionsarbeit ist. In Entscheidungskommissionen dieser Art übernehmen die Wissenschaftler durchaus auch quasi-legislative, die Rahmenrichtlinien der Gesetze ausfüllende Funktionen, und das scheint heutzutage ein sehr wichtiges Ubertragungsglied der Gesamtverantwortung zu sein. Manche - so etwa einst der Biologe Hans Mohr - sind offen-

bar der Meinung, daß alles dieses ethisch gesehen überhaupt nichts bewirkt. Die

ethische Kommissionslösung könne deswegen nicht funktionieren, weil Wissenschaft letztlich nur dort, wo keine politischen und gesellschaftlichen Faktoren hineinspielen, moralisch beurteilt und eigentlich kaum jemals wirklich moralisch geregelt werden kann. Nur das Wissenschaftsethos funktioniere zur Regelung, nicht die Wissen-

schaftsethik. Ansonsten ließe sich, schrieb Mohr Ende der 70er Jahre, wie im Leben allgemein, keine ethische Einheitlichkeit unter Wissenschaftlern erzielen, auch kein Eid sei etwa geeignet, die ehrlichen Meinungsunterschiede und den legitimen Pluralismus der Wissenschaftlergemeinschaft bei politischen Themen aus der Welt zu schaffen. Politisch sei die Menschheit keine Einheit und auch nicht zu einer solchen zu

bringen. Doch Ethik ist nicht nur Politik; und ich glaube nicht, daß als Wissenschaftsethiker Mohr hier seine Schuldigkeit getan hat. Ich denke, daß er hier voreilig

ins Extrem sprang, zu schnell die Flinte ins Korn warf. In der Tat muß die Menschheit

zu einem minimalen Überlebenskonsens kommen, dies muß eine Ethik fordern, postulieren: Nur so kann eine Weltkatastrophe vermieden werden. Sie muß vermieden werden. Aber auch ein „Fiat moralitas, pereat mundus" kann nicht in Frage kommen.

Übrigens gibt es auch gewisse Grundüberzeugungen über den Wert menschlichen Lebens und seiner Erhaltenswürdigkeit, die allen Kulturen und Gesellschaften gemeinsam sind und auf die man aufbauen kann.

Zur spezi schen Doppelverantwortung bei Human- und Feldversuchen Viel wissenschaftsnäher lassen sich sogar gemeinsame Grundüberzeugungen etwa bei Humanexperimenten finden und auch rechtfertigen. Es läßt sich hier auch moralisch urteilen. Daß die Nazi-Ärzte in den KZs unethisch gehandelt haben, wenn sie Lager-

insassen sogenannten terminalen Versuchen zwangsaussetzten (obwohl sie diese auch

für „Grundlagenforschung" ausgaben), darüber besteht unter allen verantwortungs-

bewußten Wissenschaftlern Einigkeit. Menschenversuche und vielleicht auch Tierversuche unterliegen einer besonderen externen Verantwortung. Die Diskussion um die ethischen Probleme der Humanexperimente hat das zweifelsfrei ergeben.

fi

136

Das Thema kann hier nicht weiter vertieft werden, so reizvoll dies auch wäre. Manchmal läßt sich auch bei Feldforschungen, z. B. bei DDT-Großversuchen zur Malariabekämpfung, u. U. selbst bei nicht-inter-aktiven, nicht-invasiven, vor allem aber auch bei teilnehmenden reaktiven Beobachtungen in den Sozialwissenschaften die Grundlagenforschung wie z.B. auch in der Genforschung gar nicht mehr klar von der angewandten und gelegentlich auch nicht klar von der Laborforschung abtrennen. Mitverantwortung ist hier gerade auch von den Wissenschaftlern zu tragen in dem Maße, in dem die Betroffenen unmittelbar in den Forschungsprozeß hineingezogen werden

(s.o. die Milgram-Experimente). Mitverantwortung, das war ja die oben erwähnte Leitidee, ist ohne Alleinverantwortung möglich - setzt aber Verantwortungsdifferenzierungsmöglichkeiten, also eine Typenbildung, voraus. Viele Wissenschaftler und wissenschaftlichen Gesellschaften haben dies auch durchaus erkannt und diese ihre Verpflichtung wahrgenommen. (Man denke etwa an die Asilomar-Konferenz von 1975 über befürchtete Risiken in der Genforschung, bei der die Molekularbiologen selbst eine zeitweilige Einschränkung, ein Moratorium, wie sie es nannten, der ihnen zu dem Zeitpunkt ungebührlich gefährlich erscheinenden Genforschung forderten.) Wo der Wissenschaftler eben nicht im Freiraum - ohne direkte Betroffene - Forschung anstellt, übernimmt er durchaus ethische und justitiable, wenn auch meist noch nicht genau gesetzlich festgelegte externe Verantwortung.In dem Falle, wo direkt Betroffene im Experiment involviert sind, ist das klar, aber selbst dort gibt es noch keine wirklich ausführliche Gesetzesregelung. Wesentlich umstrittener als im Humanexperiment ist zweifellos die Frage nach einer ethischen Mitverantwortung des Wissenschaftlers bei der angewandten Forschung mit offensichtlich schädigenden Wirkungen, etwa bei der Waffenentwicklung. Hier hat Hans Mohr natürlich schon

eher recht, wenngleich man doch fallweise eine externe Mitverantwortung des

Wissenschaftlers entdecken kann, wie wir gesehen haben. Z. B. wurde Fieser, der das Napalm entwickelt hatte, mit Bildern von Napalm-verbrannten Kindern in Vietnam konfrontiert, er meinte, das sei nicht sein Problem. Er habe nur seinen Job erfüllt, die Entwicklung des Materials vollzogen, und was damit gemacht worden sei, sei nicht seine Verantwortung. Was aber kann man sonst mit Napalm machen? Auch die Idee des hippokratischen Eides ist natürlich problematisch. 37 Sie ist gut als Idee, hat aber eine geringe Wirksamkeit, eine geringe Kontrollierbarkeit und Durch-

37 Beispiele von vorgeschlagenen Eidesformulierungen für Naturwissenschaftler: Weltfish (1946): „Ich gelobe, daß mein Wissen zum Besten der Menschheit gegen die Zerstörung und die Machtgier der Menschen gebrauchen werde, daß ich ferner mit allen Fachgenossen einer jeden Nation, eines jeden Glaubens und jeder Farbe für diese unsere gemeinsamen Ziele zusammenarbeiten werde." Neueste sind die folgenden Versionen: Buenos Aires (1988 Conference on Scientists, Disarmament and People): „Im Bewußtsein, daß ohne ethische Steuerung die Wissenschaft und ihre Produkte die Gesellschaft und deren Zukunft schädigen oder gar zerstören können, gelobe ich, meine eigenen wissenschaftlichen Fähigkeiten niemals nur

für Entlohnung oder Prestige oder ausschließlich auf Anweisung von Arbeitgebern oder poli-

tischen Führern anzuwenden, sondern nur aufgrund meiner persönlichen Meinung und sozialen Verantwortlichkeit, gestützt auf mein eigenes Wissen und auf Abwägung der Umstände und der möglichen Konsequenzen meiner Arbeit, so daß die wissenschaftliche oder technische Forschung, die ich unternehme, wahrhaft im besten Interesse der Gesellschaft und des Friedens ist." Hippokratischer Eid für Wissenschaftler, Ingenieure und Technologen des Institute for Social Inventions (London): „Ich gelobe, meinen Beruf mit Gewissen und Würde auszuüben; ich will streben, mein erworbenes Können nur mit dem äußersten Respekt für das

137

setzbarkeit. Sie greift zu wenig wirklich politisch, praktisch. Sie ist allenfalls idealtypisch. Das Problem der ethischen und der rechtlichen Kontrolle ist durch den Eid allein nicht zu lösen, insbesondere weil in das Karrieresystem der Wissenschaftler in gewissem Sinne gegenläufige Tendenzen geradezu eingebaut sind, nämlich Anreize zur Verletzung ethischer Normen.

Konkurrenzzwang und Ethikkon ikt So ergab etwa eine Untersuchung von Bernhard Barber (1976) bei amerikanischen

Medizinforschern, die mit Humanexperimenten zu tun hatten, daß insbesondere ehrgeizige aufsteigende und nicht so erfolgreiche Wissenschaftler eher dazu neigen, beim Humanexperiment ethische Rücksichten gänzlich beiseite zu schieben und im Interesse ihrer eigenen wissenschaftlichen Karriere sozusagen aufregende oder aufsehenerregende Experimente und Ergebnisse recht schnell zu produzieren. Das ist natürlich eine gefährliche Entwicklung. 38 Doch die Ethikkommissionen können hier in gewissem Sinne durchaus eine standesrechtliche Regelung einführen, eine Begrenzung von

Wohlergehen der Menschheit, der Erde und all ihrer Arten anzuwenden; ich will nicht zulassen, daß Überlegungen der Nationalität, Politik, des Vorurteils oder materieller Vorteile störend zwischen meine Arbeit und diese Pflicht gegenüber gegenwärtigen und künftigen Generationen treten; ich gelobe diesen Eid feierlich, frei und bei meiner Ehre." - Die Idee des hippokratischen Eides der Wissenschaftler ist bei Humanexperimenten und bei unmittelbar qua Versuchsprozeß menschenbetreffenden Forschungen so unsinnig nicht. Für die Anwendung von Ergebnissen abgeschlossener Forschungen sollten wohl andere Regelungen dienen - übrigens strikt verstanden eher dem hippokratischen Eid ähnlich (auch bei diesem geht es ja in erster Linie um Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnis oder ärztlicher Kunst in der Therapie). Eine gewisse Mitverantwortung des die Verfahren bereitstellenden Wissenschaftlers kann fallweise gegeben sein (besonders ersichtlich im negativen Fall: Der wissenschaftliche Entwickler des Napalm (s.o. i. Text) lehnte freilich wie der sog. Vater der Wasserstoffbombe jede ethische Mitverantwortung ab!). Die Crux des zum hippokratischen analogen Wissenschaftlereides bleibt wohl die geringe Wirksamkeit, Kontrollierbarkeit, Durchsetzbarkeit. Es handelt sich eben um eine zu allgemein-abstrakte, zu wohlfeil annehmbare, zu wenig konkrete greifende Idee, um die ethischen Probleme der Forschung realistisch lösen zu können. Die Idee ist gut, aber nicht wirksam realistisch erfolgversprechend. Sie löst das Dilemma allenfalls rein theoretisch-ideal, nicht gesellschaftlich-praktisch. 38 Die Einberufung von sogenannten Ethikkommissionen zur Vorabprüfung aller möglicherweise mit Schädigungsgefahren verbundenen Humanexperimente ist hierauf zurückzuführen. Diese Idee ist zweifelsohne gut, die Praxis noch umstritten: Manche bezweifeln die Wirksam-

keit und Kontrollierfähigkeit der Kommission, manche fürchten die bürokratischen Einschränkungen und Auflagen für die Forschung. Eine rechtliche - zumindest so etwas wie »standesrechtliche" - Regelung auch zur Sicherung der Unabhängigkeit der Kontrolle scheint im ersteren Interesse unerläßlich, führte aber wahrscheinlich zu gesteigerten bürokratischen Schwerfälligkeiten des Antrags-, Überprüfungs- und Kontrollverfahrens, also zu möglichen

Behinderungen der Forschungen. Aus ethischen Gründen sollten um der betroffenen Menschen willen solche Einschränkungen schon in Kauf genommen werden.

fl

138

ethisch nicht zulässigen Humanexperimenten, die in der Tat vorgekommen sind. Bloße Karriererücksichten sollten jedenfalls nicht das Dilemma der Humanexperimente noch verschärfen. Kontrollen erscheinen in der Tat notwendig. Sie allerdings mit minimaler Behinderung der Forschung wirksam werden zu lassen, ist ebenfalls ein Forschungspostulat - und ein sehr schwieriges ethisches Abgrenzungsproblem. Jedenfalls sollten überflüssige Versuche, auch etwa unnötige Tierexperimente, nicht durchgeführt werden; Humanexperimente sollten so weit wie möglich durch Tierversuche ersetzt werden. Und nur wirklich unerläßliche von solchen mit Beeinträchtigungen sollten durchgeführt werden. Dies ist, glaube ich, eine sinnvolle Idee, die durch solche Ethikkommissionen auch im Detail beurteilt werden könnte. Der Teufel sitzt - wie allerorten, so auch hier - immer im Detail; und es ist sehr schwer zu entscheiden, wann denn nun wirklich ein voraussichtliches wissenschaftlich neues Ergebnis ein Humanexperiment mit gewissen Opfermöglichkeiten erfordert. Der Konflikt zwischen Karriere und Ethik, zwischen Aufstiegs- und Reputationsinteressen und moralischen Rücksichten ist in dem Leistungssystem der Wissenschaftler sozusagen einprogrammiert. Konkurrenzdruck verschärft den Konflikt, erschwert subjektive moralische Entscheidungen. Daher sind Ethikkommissionen hier durchaus sinnvoll als nötige Kontrollinstanzen, die übereilte und unnötige Versuche verhindern oder modifizieren können - jeweils unter moralischen Aspekten. In der Wissenschaft, sagte jedenfalls

Kurt Hübner, ist die Eile des Teufels. Aber die Eile ist heute das Signum des Fortschritts, auch und gerade in der Wissenschaft. Man denke etwa an die Konkurrenz, an das quasi-sportliche Wettforschen zwischen den Forschergruppen beim Knacken des genetischen Codes. Der Konflikt ist gerade in die dynamische Forschung eingebaut, oft scheint er eine unerläßliche Motivationskraft zu sein. Er darf idealerweise nicht zu Lasten der Versuchspersonen gehen, besonders auch nicht der einzelnen. Ethik ist durchaus zunächst Ethik des einzelnen, meist auf mögliche Unversehrtheit der einzelnen Betroffenen gerichtet. Wissenschaft darf aber - im Interesse vieler Betroffener - auch nicht unnötig behindert oder verhindert werden. Patentrezepte für Allround-Lösungen eines solchen Konflikts gibt es bislang nicht. Man muß alles tun, das Konfliktbewußtsein zu heben und den Wissenschaftler instandzusetzen, im Anwendungsfall nicht einseitig zu entscheiden, nicht etwa blind dem eigenen Karriereinteresse zu folgen und ethische Rücksichten zu ver-

drängen und doch überlegt seiner wissenschaftlichen Leistung und dem

Wissenschaftsfortschritt und damit doch wohl indirekt auch dem damit verbundenen

öffentlichen Wohl zu dienen. Unkontrollierte, ungezügelte Konkurrenz eskaliert

leicht; gerade die härteste Konkurrenz muß durch Regeln beschränkt werden, durch Verfahrens- und Spielregeln, die nicht verletzt werden dürfen. Die Regeln müssen greifen, kontrollierbar sein. Es ist in der Spitzenforschung wie im Spitzensport: In beiden Konkurrenzsystemen - zumal an der Spitze der Leistungsentwicklung - gibt es die Verführung zur Unfairness. Unethische Forschung entspricht etwa dem verdeckten Foul oder Doping im Spitzensport. Unfair ist es nicht nur im Wettkampf des Sports, einen Vorteil für sich durch irgendeine Regelverletzung zu verbuchen und zu nutzen (dies wäre ja an sich bei der Forschung von der Wirkung her gesehen nicht problematisch), sondern unfair und unethisch wäre besonders die Beschädigung oder Schädigung anderer, im Sport meist der Wettkampfgegner, in der Forschung der Versuchsperson oder unbeteiligter Betroffener. Vielleicht sollte man gerade die Forschung nicht zu sehr versportlichen. Doch dies bleibt ein müßiger Ruf in einer Zeit verschärfter und sich immer noch verschärfender Konkurrenz um Forschungsstellen - sowie um Forscherreputation und -qualifikation.

139

Mitverantwortlichkeit ohne Alleinverantwortung Die Verantwortung des Forschers in Wissenschaft und Technik ist in der Tat ein Spezialfall der rollenspezifischen und der moralischen Verantwortung in strategi-

scher Position. Die Berücksichtigung der erwähnten treuhänderischen Präventationsund Verhinderungsverantwortung ist geboten, wo immer schädliche Effekte vorausgeschätzt und abgewendet werden können; z. B. bei direkt anwendungsorientierten wissenschaftlichen und technischen Projekten. Eine persönliche Mitverursacherverantwortung kann fallweise gegeben sein, doch eine allgemeine strikte oder gar alleinige Verursacherverantwortung der Wissenschaftler und Techniker in jedem Fall ist angesichts der Ambivalenz und kollektiven Entstehung der Forschungsergebnisse besonders in der Grundlagenforschung nicht gegeben. Das heißt also in der Tat: näher zu differenzierende und zu konkretisierende Mitverantwortung ohne Alleinverantwortung.

Wir müssen eine solche mittlere Lösung finden. Um so wichtiger ist die präventive

Verantwortung, Verantwortung zur vorausschauenden Verhinderung von Zerstörung und Dauerschädigung. Die erwähnte Unterscheidung zwischen dem

Entdeckertyp des Grundlagenwissenschaftlers und dem Erfindertyp des Technikers war wohl nur eine erste Groborientierung. Angesichts der Entwicklungsdynamik und der Orientierungs- und Bewertungsschwierigkeiten in diesem ganzen Problemfeld liegt anscheinend die einzige realistische Möglichkeit, sich den künftigen ethischen Herausforderungen gewachsen zu zeigen, darin, die moralische Bewußtheit in wissenschaftsethischen Fragen möglichst bei allen Wissenschaftlern, zumal auch bei den angehenden Wissenschaftlern, zu fördern und besonders an konkreten Projekten die auf einzelne Forschungsprojekte bezogenen Zusammenhänge zu erörtern. Insofern wäre ein Science-Court, wie er wiederholt vorgeschlagen wurde (Kantrowitz, vgl. a. Wenz, Task Force), eine gute Idee, wenn das eine Ausstrahlung unmittelbar auf die Bewußtseinsbildung der Wissenschaftler selbst haben könnte. Andere Möglichkeiten zur Entdramatisierung des Karrierekonfliktes müssen noch gefunden bzw. entwickelt

werden.

Die Entwicklung einer Wissenschaftsethik ist vordringlich und ebenso die entsprechende Ausbildung. Zu Barbers Zeiten, bei seiner Untersuchung 1976, nahm noch kaum ein Medizinstudent an Kursen in medizinischer Ethik teil, nur einer von dreihundert (!) Wissenschaftlern und Forschern im allgemeinen, insbesondere aber auch Ingenieurwissenschaftler, werden bei uns überhaupt noch nicht offiziell im Studiengang oder -plan auf ethische Probleme ihrer Disziplinen hingewiesen. Nur in der Medizinforschung hat sich ein Wandel angekündigt, besonders natürlich in der Genforschung. In anderen angewandten Wissenschaften hinkt man noch weiter hinterher. Ethik sollte daher nicht nur als Schulfach gefordert und gefördert werden, sondern auch als wissenschaftsethisches Bewußtmachungsfach zur moralischen Gewissensschulung für den Bereich der Forschung, zumal in der auf sie ausgerichtete Ausbildung, entwickelt werden. Die letztere forderte schon vor zwei Jahrzehnten (1974) in Haifa die sogenannte international bekannte Mount-Carmel-Erklärung über Technik und moralische Verantwortlichkeit. Viele international bekannte Wissenschaftler unterschrieben. Man meinte, da den Wissenschaftlern und Technikern eine besondere, aber nicht ausschließliche Verantwortung obliegt, ist die Entwicklung und Ausbreitung der wissenschafts- und technologie-orientierten ethischen und sozialwissenschaftlichen „ Wächterdisziplinen", mit deren Hilfe die wissenschaftlichen und besonders die technischen Neuerungen vor allem in Hinblick auf ihre möglichen moralischen Auswirkungen beobachtet und bewertet werden sollen, dringlich - ohne daß die Vertreter

140

solcher Disziplinen sich als „Oberzensoren" aufspielen dürften, sollten. Dies läßt sich aber, wie erwähnt, gerade bei grundlagenwissenschaftlichen Entwicklungen nicht so einfach und eindeutig durchführen. Um so wichtiger ist die ethische Bewußtseinsschulung der angehenden Wissenschaftler und Techniker. Und nur wenn diese verbreitet angeregt und geübt wird, wird die erweiterte Mitverantwortung, die Aufteilung der Verantwortung ohne Abzug von Verantwortlichkeit und ohne Zuschreibung der Alleinverantwortung bei den Wissenschaftlern selber genauer erkannt und von ihnen auch gehandhabt werden können.

Sieben Thesen zur Verantwortung in der Wissenschaft Zusammenfassend und abschließend möchte ich sieben Thesen zur Verantwortung in der Wissenschaft anführen, die natürlich - wie oben teilweise versucht wurde - differenzierter ausgeführt und ergänzt werden müßten:

1. Verantwortungsprobleme werden desto dringlicher, je mehr wissenschaftliches Wissen und technische Macht wachsen und je mehr die technische Welt geformt wird. Macht und Wissen machen jemanden verantwortlich. 2. Totale Neutralität des Wissenschaftlers und der Wissenschaft als Institution/professionelle Vereinigung ist ebenso unrealistisch, wie eine Alleinverantwortung des Wissenschaftlers und Technikers es wäre. 3. Analytisch sollte man, soweit möglich, weiterhin zwischen den modellhaften Polen

„reine deckung" Grundlagenforschung" und „Entwicklung"", unterscheiden. und „technische Anwendung", zwischen Otto Hahn war nicht für die„EntEnt-

wicklung der Atombombe verantwortlich zu machen, aber Teller hat die H-Bombe mitzuverantworten. Doch die Realität konkretisiert sich heute meist in Zwischenarten, Mischtypen, z. B. in anwendungsorientierter Grundlagenforschung oder grundlagennaher Zweckforschung bzw. in den (z. B. informations-)technologischen Entwicklungen von zweckgerichteten Methoden(grundlagen). 4. Beteiligungsmodelle müssen entwickelt werden, um die externe Mitverantwortlich-

keit der Wissenschaftler und Techniker gegenüber der Gesellschaft und der

Menschheit(sidee) und um Gruppen- und Mitverantwortung verständlicher und operational und greifbarer zu machen. Die Idee der Verantwortungsbeteiligung je nach Zentralität und Einfluß durch Macht und Wissen ist auszuarbeiten. Institutionelle Verfahrensregelungen der Beurteilung und der allfälligen Sanktionen sollten entwickelt werden (Schutz besonders moralisch handelnder Experten, Auszeichnungen, Diskussionsmöglichkeiten für Ausbildungs- und Orientierungszwecke, Hearings usw.), ohne alles einfach der rechtlichen Regelung oder der Ethisierung von allem und jedem durch bürokratische Superkommissionen zu unterwerfen: Moral geht über Rechtsregelungen hinaus, besonders wir Deutschen verdrängen

diese sipht gem. d icher ist abes, wichen saie helber in die aru stuliche

einzubinden.

5. Unterschiedliche Arten und Typen von Verantwortlichkeiten sind analytisch zu unterscheiden. Sie können einander überlappen oder miteinander in Konflikt geraten. Zur klaren Herausarbeitung - und zur Vorbereitung der Lösung - von Verantwortungskonflikten sind sie genauer zu untersuchen.

6. Prioritätenregelungen von Verantwortlichkeiten (z. B.: direkte und moralische

Verantwortung geht vor indirekte und vor Rollenverantwortung) sind zu entwerfen

141

und zu überprüfen durch evtl. öffentliche Diskussion, geisteswissenschaftliche und philosophische Analyse.

7. Was insgesamt die ethische Diskussion angesichts der Herausforderungen von Wissenschaft und Technik angeht, so stehen wir leider immer noch am Beginn. Es

gehört keine prophetische Fähigkeit dazu, die bereits beiläufig erwähnte These aufzustellen: Wir können es uns schon heute und schon gar nicht künftig mehr leisten, die drängenden ethischen Probleme der angewandten Wissenschaften und in der Technik und Wirtschaftswelt wie bisher zu vernachlässigen.

142

Literatur

Barber, B.: The Ethics of Experimentation with Human Subjects. S. 25-31. In: Scientific American 234 (1976). Baumgartner, H. M. - Staudinger, H. (Hg.): Entmoralisierung der Wissenschaften? Physik und Chemie. München-Paderborn 1985. Becker, J. u.a. (Hg.): Ethik in der Wirtschaft. Chancen verantwortlichen Handelns.

Stuttgart 1996. Belsey, A.: The Moral Responsibility of the Scientist. S. 113-118. In: Philosophy 53

(1978).

Belsey, A.: Scientific Research and Morality. Beitrag zum Sechsten Internationalen Kongreß für Logik, Methodologie und Wissenschaftsphilosophie. Hannover 1979, Sektionsvorträge: Sektion 14, S. 211-215. Berkun, M. M.-Bialek, H. M.-Kern, R. P.-Yagi, K. (Hg.): Experimental studies of psychological stress in man. S. 1-8. In: Psychological Monographs 76 (1962). Birnbacher, D. (Hg.): Okologie und Ethik. Stuttgart 1980. Birnbacher, D.: Verantwortung für zukünftige Generationen. Stuttgart 1988. Blühdorn, J. (Hg.): Das Gewissen in der Diskussion. Darmstadt 1976. Bodenheimer, E.: Philosophy of Responsibility. Littleton, CO 1980. Born, M.: Die Zerstörung der Ethik durch die Naturwissenschaften. Uberlegung eines Physikers. S. 179-184. In: Kreuzer, H. (Hg.): Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz. Stuttgart 1969. Boyd, C.: The Responsibility of Individuals for a Company Disaster: The Case of the Zeebrugge Car Ferry. S. 139-148. In: Enderle/Almond/Argandoña 1990. Broad, W. - Wade, N.: Betrug und Täuschung in der Wissenschaft. Basel 1984. Buckel, W.: Wissenschaft in der Verantwortung. Vortrag in Göttingen 15.7.1995 (masch. geschr.).

Chain, E.: Social Responsibility and the Scientist. S. 166-170. In: New Scientist 48 (1970). Cournand, A. F. - Zuckerman, H.: The Code of Science. S. 941-962. In: Studium generale 23 (1970). Cournand, A. - Meyer, M.: The Scientists' Code. S. 79-96. In: Minerva 14 (1976). Cournand, A.: The Code of the Scientist and its Relationship to Ethics. S. 699-705. In: Science 198 (1977). Curtler, H. (Hg.): Shame, Responsibility and the Corporation. New York 1986. Davis, M.: Thinking Like an Engineer: The Place of a Code of Ethics in the Practice of a Profession. S. 150-167. In: Philosophy and Public Affairs 20 (1991). Donaldson, T.: Personalizing Corporate Ontology: The French Way. S. 99-112. In: Curtler 1986.

Enderle, G. - Almond, B. - Argandoña, A. (Hg.): People in Corporation. Ethical Responsibilities and Corporate Effectiveness. (Issues in Business Ethics, Vol. I) Dordrecht 1980. 143

Eser, A. - Schumann, K. F. (Hg.): Forschung im Konflikt mit Recht und Ethik. Stuttgart 1976. Feinberg, J.: Die Rechte der Tiere und künftiger Generationen. S. 140-179. In: Birnbacher 1980.

Fischer-Fabian, S.: Die Macht des Gewissens. Von Sokrates bis Sophie Scholl. München 1987. Frankena, W.K.: Analytische Ethik. München 1981. French, P.A. (Hg.): Individual and Collective Responsibility. Cambridge, MA 1972. French, P.A.: Collective and Corporate Responsibility. New York 1984.

Freud, S.: Das Unbehagen in der Kultur. S. 419-506. In: Freud, S.: Gesammelte

Werke, Bd. 14. Frankfurt a. M. 1960. Frucht, A. H. - Zepelin, J.: 'Die Tragik der verschmähten Liebe'. Die Geschichte des deutsch-jüdischen Physikochemikers und preußischen Patrioten Fritz Haber. S. 63-112 In: Fischer, E. P. (Hg.): Mannheimer Forum 94/95. Boehringer Studienreihe Mannheim. München 1995. Gert, B.: Die moralischen Regeln. Frankfurt a. M. 1983. Ginsburg, T.: Die Verantwortung des Wissenschaftlers heute. S. 90-103. In: Grupp, M. (Hg.): Wissenschaft auf Abwegen? Fellbach-Oeffingen 1980. Goffmann, E.: The Presentation of Self in Everyday Life. New York 1959. Goodin, R.E.: Apportioning Responsibilities. S. 167-185. In: Law and Philosophy 6 (1987).

Griffin, G. R.: Wie Tiere denken. Vorstoß ins Bewußtsein der Tiere. München 1990 (Orig. 1984). Haefner, K.: Mensch und Computer im Jahre 2000. Basel 1984. Hammer, F.: Selbstzensur für Forscher? Zürich-Osnabrück 1983. Hardin, G.: The Tragedy of the Commons. S. 1243-1248. In: Science 162 (1968). Hart, H. L. A.: Punishment and Responsibility. Oxford 1968.

Hart, H. L. A.: The Concept of Law. Oxford 19726. (Dt.: Der Begriff des Rechts. Frankfurt a.M. 1973.)

Haydon, G.: On Being Responsible. S. 46-57. In: Philosophical Quarterly 28

(1978). Heisenberg, W.: Der Teil und das Ganze. München 1969, 1971. Herrmann, A.: Wie die Wissenschaft ihre Unschuld verlor. Stuttgart 1982. Hoffmann, R.: Scientific Research and Moral Rectitude. S. 475-477. In: Philosophy

50 (1975), • Jaspers, K.: Die Schuldfrage. S. 67-149 in K. Jaspers: Hoffnung und Sorge. Schriften zur deutschen Politik 1945-1965. München 1965. Jonas, H.: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt a. M. 1979. Jonas, H.: Technology as a Subject for Ethics. S. 891-898. In: Social Research 49 (1982), dt. S. 81-91. In: Lenk/Ropohl 1987. Jonas, H.: Warum wir heute eine Ethik der Selbstbeschränkung brauchen. S. 75-86. In: Ströker, E. (Hg.): Ethik der Wissenschaften? Philosophische Fragen. (Bd. 1: Ethik der Wissenschaften, hg. v. H. Lenk, H. Staudinger, E. Ströker.) München -

Paderborn 1984. Jung, C. G.: Das Gewissen in psychologischer Sicht: S. 185-207. In: C. G. JungInstitut (Hg.): Das Gewissen. Zürich - Stuttgart 1958. Kant, I.: Gesammelte Schriften. Opus postumum. Erste Hälfte: Convolut I bis IV, Bd. 21 (Hg.: Königlich Preußischer Akademie der Wissenschaften). Berlin - Leipzig 1936.

144

Kant, I.: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. AA Bd. IV. Berlin 1968. Kant, I.: Metaphysik der Sitten. AA Bd. VI. Berlin 1968 Kant, I.: Vorlesung über Ethik. Frankfurt a. M. 1990. Kantrowitz, A.: Proposal for an Institution for Scientific Judgement. S. 763-764. In:

Science 156 (1968).

Kittsteiner, H. D.: Die Entstehung des modernen Gewissens. Frankfurt a.M. - Leipzig 1991. Kroy, M.: The Conscience. A Structural Theory. Jerusalem 1974. Kurtz, P.: The Ethics of Free Inquiry. S. 203-207. In: Hook, S. - Kurtz, P. - Todorovich, N. (Hg.): The Ethics of Teaching in Scientific Research. Buffalo, NY 1977. Kümmel, F.: Zum Problem des Gewissens. S. 441-460. In: Blühdorn 1976. Ladd, J.: Are Science and Ethics compatible? S. 373-402. In: Callahan, D. - Engelhardt, H. T. (Hg.): The Roots of Ethics. New York 1981.

Ladd, J.: Collective and Individual Moral Responsibility in Engineering: Some Questions. Beitrag zur Second National Conference on Ethics in Engineering at the Illinois Institute of Technology, Chicago 1982. S. 3-10. In: Society and

Technology 1982, Juni. Ladd, J.: Philosophical Remarks of Professional Responsibility in Organisations. S. 1-13. In: Applied Philosophy 1 (1982). Ladd, J.: A Comprehensive Theory of Moral Responsibility. Unveröffentl. Ms. 1990. Ladd, J.: Bhopal: Moralische Verantwortung, normale Katastrophen und Bürgertugend. S. 285-300. In: Lenk/Maring 1992. Ladd, J.: Entwurf eines umfassenden Begriffs der moralischen Verantwortung. Unveröffentl. Ms. 1992. Langer, S. K.: Philosophy in an New Key. A Study in the Symbolism of Reason, Rite and Art. Cambridge, MA 19823 (Orig. 1942). Lenk, H.: Handlung als Interpretationskonstrukt. S. 279-350. In: Lenk, H. (Hg.): Handlungstheorien interdisziplinär II. Handlungserklärungen und philosophische Handlungsinterpretation. Erster Halbband. München 1978. Lenk, H.: Pragmatische Vernunft. Philosophie zwischen Wissenschaft und Praxis. Stuttgart 1979.

Lenk, H.: Zu ethischen Fragen des Humanexperiments. S. 50-76. In: Lenk, H.: Pragmatische Vernunft. Stuttgart 1979.

Lenk, H.: Herausforderung der Ethik durch technologische Macht. Zur moralischen Problematik des technischen Fortschritts. S. 5-38. In: Gesellschaft für Rechtspoli-

tik Trier (Hg.): Bitburger Gespräche. Jahrbuch 1981. München 1981. Lenk, H.: Kants soziomorphe Begründung des Gottespostulats. S. 51-64. In: Korff, F. W. (Hg.): Redliches Denken. Stuttgart - Bad Cannstatt 1981(a).

Lenk, H.: Zur Sozialphilosophie der Technik. Frankfurt a. M. 1982.

Lenk, H.: Eigenleistung. Osnabrück - Zürich 1983. Lenk, H.: Wie philosophisch ist die Anthropologie? S. 145-187. In: Frey, G. - Zelger,

J. (Hg.): Der Mensch und die Wissenschaft vom Menschen. Bd. 1. Innsbruck 1983. Lenk, H.: Verantwortung für die Natur. Gibt es moralische Quasirechte von oder moralische Pflichten gegenüber nichtmenschlichen Naturwesen? S. 1-18. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 8 (1983).

Lenk, H.: Erweiterte Verantwortung. Natur und künftige Generationen als ethische

Gegenstände. S. 833-846. In: Mayer-Maly/Simons 1983.

Lenk, H.: Verantwortung in Wissenschaft und Technik. S. 463-487. In: Wendt, H. Loacker, N. (Hg.): Kindlers Enzyklopädie Der Mensch. Bd. VII: Philosophie, Wissenschaft und Technik. Zürich - München 1984. 145

Lenk, H.: Zum Verantwortungsproblem in Wissenschaft und Technik. S. 87-116. In: Ströker, E. (Hg.): Ethik der Wissenschaften? Philosophische Fragen. München Paderborn 1984.

Lenk, H.: Zur Verantwortung des Naturwissenschaftlers. S. 17-23. In: Vorlesung

Schering, Heft 10. Berlin 1984. Lenk, H.: Mitverantwortung ist anteilig zu tragen - auch in der Wissenschaft. S. 102109. In: Baumgartner, H.M. - Staudinger, H. (Hg.): Entmoralisierung der Wissen-

schaften. Ethik der Wissenschaften Bd. II. München - Paderborn 1985.

Lenk, H.: Ethische Probleme der Gentechnik. Königstein: Königsteiner Forum 1985.

Lenk, H. (Hg.): Humane Experimente? Genbiologie und Psychologie. MünchenPaderborn 1985. Lenk, H.: Verantwortung und Gewissen des Forschers. S. 35-55. In: Neumaier, O.

(Hg.): Wissen und Gewissen. Arbeiten zur Verantwortungsproblematik. Conceptus-Studien 4. Wien 1986. Lenk, H.: Zwischen Wissenschaftstheorie und Sozialwissenschaft. Frankfurt a. M. 1986. Lenk, H.: Gewissen und Verantwortung als Zuschreibungen. S. 571-591. In: Zeit-

schrift für philosophische Forschung 41 (1987). Lenk, H.: Zwischen Sozialpsychologie und Sozialphilosophie. Frankfurt a. M. 1987.

Lenk, H.: Über Verantwortungsbegriffe und das Verantwortungsproblem in der

Technik. S. 112-148. In: Lenk/Ropohl 1987. Lenk, H.: Anthropologie nach vorne: Bausteine der philosophischen Anthropologie als einer Interpretations- und Konstruktdisziplin. S. 89-100. In: Bonk, S. - Lazzari, A. (Hg.): Ideen zu einer integralen Anthropologie. (Festschrift Mácha) München 1989. Lenk, H.: Können Informationssysteme moralisch verantwortlich sein? S. 248-255. In: Informatik-Spektrum 12 (1989a). Lenk, H.: Sociomorphic Arguments for a Moral God: Kant's Second and Third Moral Arguments for the Postulate of God's Existence. S. 97-111. In: Man and

World 22 (1989b). Lenk, H. (Hg.): Wissenschaft und Ethik. Stuttgart 1991. Lenk, H.: Zwischen Wissenschaft und Ethik. Frankfurt a.M. 1992. Lenk, H.: Philosophie und Interpretation. Frankfurt a. M. 1993. Lenk, H.: Interpretationskonstrukte. Zur Kritik der interpretatorischen Vernunft. Frankfurt a. M. 1993. Lenk, H.: Macht und Machbarkeit der Technik. Stuttgart 1994. Lenk, H.: Das metainterpretierende Wesen. S. 39-47. In: Allgemeine Zeitschrift für

Philosophie 20.1. (1995). Lenk, H. - Maring, M.: Responsibility for land use and the problem of social traps. S. 31-49. In: Fitch, D. B. S. - Pikalo, A. (Hg.): Soziale und ökonomische Aspekte der Bodennutzung. Frankfurt a.M. 1990. Lenk, H. - Maring, M.: A Pie-Model of Moral Responsibility. S. 483-494. In: Schurz, G. - Dorn, G. J. W. (Hg.): Advances in Scientific Philosophy. Amsterdam - Atlanta, GA 1991 (Festschrift für Paul Weingartner). Lenk, H. - Maring, M. (Hg.): Wirtschaft und Ethik. Stuttgart 1992. Lenk, H. - Pilz, G.: Das Prinzip Fairneß. Osnabrück-Zürich 1989. Lenk, H. - Ropohl, G. (Hg.): Technik und Ethik. Stuttgart 1987 (2., revidierte und erweiterte Auflage 1993). Lévinas, E.: Totalité et infini. Essai sur l'exteriorité. Den Haag (1961) 19807. (Dt.: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität. Freiburg - München 1987.)

146

Lévinas, E.: Dialog. S. 61-85. In: Böckle, F. u. a. (Hg.): Christlicher Glaube in

moderner Gesellschaft. Enzyklopädische Bibliothek in 30 Teilbänden. Bd. I. Freiburg 1981.

Lévinas, E.: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie. Freiburg - München 1983. Lévinas, E.: Humanismus des anderen Menschen. Hamburg 1989. Luck, W. A. P.: Homo investigans. Der soziale Wissenschaftler. Darmstadt 1976. Luhmann, N.: Die Gewissensfreiheit und das Gewissens. S. 275-286. In: Archiv des Öffentlichen Rechts 90 (1965). Mácha, K.: Hundert Thesen zu einer integralen Anthropologie. Essen 1984.

Mäckler, A. - Schäfers, C. (Hg.): Was ist der Mensch? 1111 Zitate geben 1111

Antworten. Köln 1989. Maring, M.: Modelle korporativer Verantwortung. S. 25-41. In: Conceptus 23 (1989).

May, L. - Hoffman (Hg.): Collective Responsibility. Five Decades of Debate in Theoretical and Applied Ethics. Savage, MD 1991. May, L.: The Morality of Groups. Notre Dame, IN 1987. May, L.: Responsibility of Groups? Collective Inaction and Shared Responsibility. S. 269-278. In: Nous (24) 1990. May, L. - Hoffman, S. (Hg.): Collective Responsibility. Five Decades of Debate in Theoretical and Applied Ethics. Savage, MD 1991.

Mayer-Maly, D. - Simons, P.M. (Hg.) (1983): Das Naturrechtsdenken heute und morgen. Gedächtnisschrift für René Marcic. Berlin 1983. Mellema, G.: Shared Responsibility and Ethical Dilutionism. S. 177-187. In: Australian Journal of Philosophy 63 (1985). Mellema, G.: Individuals, Groups, and Shared Moral Responsibility. New York 1988. Mellema, G.: Supererogation and the Fulfillment of Duty. S. 167-175. In: Journal of Value Inquiry 25 (1991). Michalos, A. C.: A Reconsideration of the Idea of a Science Code. S. 10-28. In: Research in Technology and Philosophy 3 (1980). Milgram, S.: Das Milgram-Experiment. Zur Gehorsamkeitsbereitschaft gegenüber Autorität. Reinbek 1974. Neumaier, O. (Hg.): Wissen und Gewissen. Wien 1986 (Conceptus - Studien 4). Nietzsche, F.: Zur Genealogie der Moral. S. 285-412. In: Nietzsche, F.: Kritische Studienausgabe. Bd. 5. München 1887. Obermeier, O.-P.: Darf der Mensch alles machen, was er kann? S. 565-574. In: Politische Studien 30 (1979). Perrow, Ch.: Normale Katastrophen. Frankfurt a. M. 1987. Petrilowitsch, N. (Hg.): Das Gewissen als Problem. Darmstadt 1966. Pirsig, R. (1976): Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten. Frankfurt a. M. 1976 (Orig. New York 1974). Pirsig, R.: Lila: ein Versuch über Moral. Frankfurt a. M. 1992. Popper, K. R.: Die moralische Verantwortlichkeit des Wissenschaftlers. S. 294-304.

In: Eichner, K. - Habermehl, W. (Hg.): Probleme der Erklärung sozialen Ver-

haltens. Meisenheim 1977. Rawls, J.: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a.M. 1975. Reiner, H.: Die Funktionen des Gewissens. S. 467-488. In: Kantstudien 62 (1971). Reiner, H.: Gewissen. S. 467-488 in Ritter, J. u. a. (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 3. Basel - Stuttgart 1974. Reiner, H.: [Nachtrag zu Reiner (1971) zum Wiederabdruck]. S. 314-316. In: Blühdorn 1976.

147

Revers, W. J.: Das Gewissen in der Entfaltung der Persönlichkeit. In: Jahrbuch für Psychologie und Psychotherapie.

Rüdiger, D.: Der Beitrag der Psychologie zur Theorie des Gewissens und der Gewissensbildung. S. 461-488. In: Blühdorn 1976. Sachsse, H.: Handeln im Spannungsfeld zwischen gesellschaftlicher Regelung und

Eigenverantwortung. S. 13-28. In: Kessler, H. (Hg.): Selbstfindung in einer Zeit der Selbstentfremdung. Mannheim: Humboldt-Gesellschaft 1983. Sachsse, H.: Technik und Verantwortung. Freiburg 1972. Schweitzer, A.: Kultur und Ethik. München 1923, 1960. Stelzenberger, J.: Das Gewissen. Paderborn 1961. Stoker, H.G.: Das Gewissen. Bonn 1925. Stoltzenberg, D.: Fritz Haber - Chemiker, Nobelpreisträger, Deutscher, Jude. Weinheim u. a. 1994.

Stoltzenberg, D.: Fritz Haber - der chemische Krieg, das Völkerrecht und die allgemeine öffentliche Verurteilung. MS (17 Seiten). Vortrag im Physikalisch-chemischen Kollegium der Universität Karlsruhe 1995 (masch. geschr.). Task Force of the Presidental Advisory Group on Anticipated Advances in Science and Technology: The Science Court Experiment. S. 653ff. In: Science 193 (1976). Teischel, O.: Selbstsein. Notwendigkeit und Paradox einer Philosophie der Existenz. Frankfurt a. M. 1986. Teutsch, G. M.: Lexikon der Umweltethik. Göttingen - Düsseldorf 1985. Teutsch, G. M.: Mensch und Tier. Lexikon der Tierschutzethik. Göttingen 1987. Trocchio, F.: Der große Schwindel. Betrug und Fälschung in der Wissenschaft. Frankfurt a.M. - New York 1994. Weischedel, W.: Das Wesen der Verantwortung. Frankfurt a. M. 1972 (Orig. 1933). Weischedel, W. Wesen und Ursprung des Gewissens. S. 211-219. In: Weischedel, W.: Wirklichkeit und Wirklichkeiten. Berlin 1960, . Weischedel, W.: Der innere Ruf. Ein Gespräch über Verantwortung und Gewissen. S. 11-30. In: H. Holzhey (Hg.): Gewissen? Basel - Stuttgart 1975. Weizenbaum, J.: Die Macht des Computers und die Ohnmacht der Vernunft. Frankfurt a. M. 1979. Weizsäcker, C. F.: Wahrnehmung der Neuzeit. München 1983. Wenz, E. G.: Wissenschaftsgerichtshöfe. Frankfurt a. M. - New York 1983. Werhane, P.H.: Persons, Rights, and Corporations. Englewood Gliffs, NJ 1985. Werner, H. J.: Das Gewissen im Spiegel der philosophischen Literatur. S. 168-184. In: Philosophisches Jahrbuch (der Görres-Gesellschaft) 90 (1983). Wicke, L.: Umweltökonomie und Umweltpolitik. München 1991 Winkler, E. - Schweikhardt, J.: Expedition Mensch. Wien - Heidelberg 1982. Wörz, M.: System und Dialog. Wirtschaftsethik als Selbstorganisation und Beratung. Stuttgart 1994.

148