Ein traditioneller Gelehrter stellt sich der Moderne: Said Nursi 1876–1960 [1 ed.] 9783737006958, 9783847106951

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Ein traditioneller Gelehrter stellt sich der Moderne: Said Nursi 1876–1960 [1 ed.]
 9783737006958, 9783847106951

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Veröffentlichungen des Instituts für Islamische Theologie der Universität Osnabrück

Band 6

Herausgegeben von Bülent Ucar, Martina Blasberg-Kuhnke, Rauf Ceylan und Andreas Pott

Die ersten vier Bände dieser Reihe sind unter dem alten Reihentitel „Veröffentlichungen des Zentrums für Interkulturelle Islamstudien der Universität Osnabrück“ erschienen.

Martin Riexinger / Bülent Ucar (Hg.)

Ein traditioneller Gelehrter stellt sich der Moderne Said Nursi 1876–1960

V&R unipress Universitätsverlag Osnabrück

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2198-5324 ISBN 978-3-7370-0695-8 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Veröffentlichungen des Universitätsverlags Osnabrück erscheinen im Verlag V&R unipress GmbH. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, des Niedersächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kultur, der Schura Niedersachsen und der Islamischen Gemeinschaft Jama’at un-Nur Hannover e.V. © 2017, V&R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Inhalt

Martin Riexinger / Bülent Ucar Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Kapitel 1: Menschenrechte und Philosophie aus der Sicht von Said Nursi Ismail H. Yavuzcan Said Nursi – Glauben, Kosmos, Scharia

. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

Frederek Musall „Philosophie“ aus der Sicht Said Nursis: Eine Reflexion über das „12.“ und „30. Wort“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

41

Ahmad Milad Karimi Offenbarungsverständnis: Koran und Prophetie bei Said Nursi . . . . . .

51

Kapitel 2: Freiheit und Moderne aus der Sicht von Said Nursi Martin Riexinger Freiheit und Moderne im Denken Said Nursis und seiner Schüler . . . . .

63

Esnaf Begic´ Wie frei ist der Mensch im Handeln und Denken: qadar und igˇtiha¯d bei Said Nursi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

75

Christoph Elsas Menschliche Schwäche und Freiheit in der Moderne aus der Sicht von Said Nursi. Zur Relevanz eines türkischen Islam-Gelehrten für die deutsche „Sarrazin-Debatte“ 2010 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91

6

Inhalt

Kapitel 3: Religion und Wissenschaft bei Said Nursi Egon Spiegel Religion und Wissenschaft bei Said Nursi: Schöpfungstheologie auf der Basis des organischen Ineinanders von Horizontale und Vertikale . . . . 109 Bekim Agai The Religious Significance of Science and Natural Sciences in the Writings of Bediuzzaman Said Nursi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Ahmed Akgündüz Religion, Dialogue, and Politics in the Risale-i Nur of Bediuzzaman Said Nursi 145 Recep S¸entürk Semiotics of Nature: Recharging the World with Meaning . . . . . . . . . 155

Kapitel 4: Religionspädagogik bei Said Nursi Ali Özgür Özdil / Bettina Kruse-Schröder Said Nursi zwischen dem, der er ist, und dem, zu dem er gemacht wird: ein Allround-Gelehrter? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Bülent Ucar Islamische Bildung und Erziehung in den Werken von Said Nursi

. . . . 181

Cemil S¸ahinöz Religionspädagogik bei Said Nursi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195

Kapitel 5: Dialog der Religionen Erna Zonne Dialog der Religionen bei Said Nursi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Thomas Michel, S.J. Said Nursi and the Dialogue of Religions

. . . . . . . . . . . . . . . . . . 223

Lutz Berger Said Nursi und das Christentum – Zur Funktion eines hagiografischen Motivs in der Nurcu-Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Andreas Renz Das Christentum in der Sicht Said Nursis und die Bedeutung seiner Theologie für den christlich-islamischen Dialog – eine katholische Perspektive 243

Inhalt

7

Anhang Avni Altıner Annex – Erneuerung im Islam

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263

Mehmet Nuri Güleç Said Nursi, Begründer der ‚jama′at un-nur‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271

Martin Riexinger / Bülent Ucar

Vorwort

In einem insgesamt äußerst lesenswerten Buch über den Islam in der Türkei von 1968 liest man folgende Sätze:1 The most wide-spread and extremist religious propaganda has since the 1950’s been made by the Nurcus, the followers of Bedı¯ü’z-zeman Saʾı¯d Nu¯rsı¯, called üstad, the Teacher. In his many books and pamphlets, which have not yet been properly studied, Nu¯rsı¯ called for the re-establishment of a truly Islamic state, based on the Qurʾa¯n and the sharı¯ʿa and ruled by a council of ʿulema¯. Polygamy should be permitted again, the religious colleges reopened and all Western innovations abolished. Since his death in 1960 this movement, which in many respects resembles the Muslim Brotherhood in Egypt and the Fida¯ʾı¯ya¯n-i Isla¯m in Iran seems to have lost somewhat momentum. The strong measures taken against them by all Turkish governments as well as the rapid economic, social and cultural development of the masses of the Turkish people, both in towns and villages, make it seem rather improbable that such fanatic religious reaction will have much chance of success. Even if these movements still find some support among the illiterate peasants of Anatolia, the upper class – whatever its political affiliation – is largely opposed to any attempt to turn the clock back and annul the major achievements of the Kemalist revolution.

Abgesehen davon, dass sie eine Reihe sachlicher Fehler enthalten, die darauf zurückzuführen sind, dass sich der Autor an Darstellungen aus dem kemalistischen Lager orientierte, erwecken diese Sätze nicht den Eindruck, als handele es sich bei Said Nursi um einen Gelehrten, der es aus mehr als antiquarischen Interesse verdient, untersucht zu werden. Die Äußerung ist durchaus repräsentativ für das Desinteresse, mit dem westliche Islamwissenschaftler sowie Politologen und Soziologen mit Arbeitsschwerpunkt Türkei, islamischen Bewegungen in diesem Land begegneten. Für die Türkei selbst gilt dies in verstärktem Maße, stellten doch religiöse Bewegungen und Denker im Geschichtsbild der meist kemalistischen Akademiker archaische Relikte dar.

1 Uriel Heyd, Revival of Islam in Modern Turkey, Magnes Press, Jerusalem 1968, S. 19.

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Eben dieses Verdikt mangelnder Relevanz, unter das auch Said Nursi lange fiel, ist dafür verantwortlich, dass bis in die 1990er Jahre kaum wissenschaftliche Publikationen über Said Nursi vorlagen. Doch bevor wir auf den Forschungsstand zurückkommen, ist es jedoch zunächst einmal angebracht darzustellen, wer Said Nursi eigentlich war. Said Nursi wurde Mitte der 1870er Jahre in dem Dorf Nurs in der Provinz im Südosten der heutigen Türkei als Sohn einer kurdischen Familie geboren.2 Als Kind schon begann er religiöse Studien, die er als Heranwachsender fortsetzte, indem er wie damals in dieser Region üblich, von einer medrese (religiösen Lehranstalt) zur anderen reiste, um bei dem Gelehrten, der an der jeweiligen Institution lehrte, Werke des Fachgebietes zu lesen, auf das jener spezialisiert war. Den traditionellen Lehrkanon hat er offenbar auffällig schnell, den hagiografischen Berichten seiner Anhänger zufolge gar mit wundersamer Geschwindigkeit absolviert. Eine der staatlichen Schulen mit säkularen Lehrinhalten, wie sie die osmanische Regierung seit den 1850er Jahren flächendeckend zunächst in den Provinzhauptstädten und dann auch in Unterzentren einrichtete, besuchte Said Nursi jedoch nicht. Kenntnisse über westliche Natur- und Sozialwissenschaften eignete er sich erst an, als er durch Debatten mit anderen Gelehrten zu einer lokalen Berühmtheit geworden, vom Gouverneur der Provinz Van eingeladen wurde, seine Privatbibliothek zu nutzen. Diese Begegnung mit diesen neuen Ideen veranlasste Said Nursi zu Reflexionen über den Zustand des Osmanischen Reiches und der islamischen Welt. Er erkannte einerseits die Notwendigkeit, moderne Wissenschaften und Technik zu übernehmen, um von der Entwicklung Europas nicht abgehängt zu werden. Andererseits sah er die Gefahr, dass ein rein säkulares Bildungswesen die Religiosität junger Muslime aushöhlen könnte, wenn die Naturwissenschaften ohne ständige Erinnerung an Gottes Rolle als Schöpfer unterrichtet werden. Aus dieser Zerrissenheit resultiert sein Vorschlag zur Errichtung einer Universität im Osten des Landes, deren Studenten parallel in weltlichen Fächern und in religiösen Studien unterwiesen werden sollen. Dieses Projekt stieß aber auf kein Interesse beim Sultan, als Said Nursi 1908 in die Hauptstadt reiste, um es dort vorzustellen. Diese Zurückweisung dürfte mit dazu beigetragen haben, dass es Said Nursi wie eine Reihe anderer religiöser Gelehrter, begrüßte, dass 1908 das Komitee für Einheit und Fortschritt (I˙ttihad ve Terakkî Cemiyeti, im Westen meist „Jungtürken“), eine Vereinigung säkularer Intellektueller und Offiziere, der autokratischen Herrschaft von Sultan Abdülhamit II. ein Ende bereiteten. Nichts desto weniger wurde er schon wenige Monate später wegen konterrevolutionärer Umtriebe verhaftet. Wenngleich diese Vorwürfe vor Gericht keinen Bestand 2 Zu den widersprüchlichen Angaben zu seinem Geburtsjahr: S¸ahinöz, „Religionspädagogik bei Said Nursi“ in diesem Band, S. 195–209.

Vorwort

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haben sollten, deutet der Vorfall doch darauf hin, dass sich Said Nursis Verhältnis zu den Säkularisten konfliktvoll entwickeln sollte. Said Nursi kehrte daraufhin in den Osten des Reiches zurück. Während des Ersten Weltkrieges führte er ein Freiwilligenregiment und geriet in russische Gefangenschaft. Nach der Oktoberrevolution kehrte er nach einer Odyssee durch Mitteleuropa ins mittlerweile von den Briten besetzte Istanbul zurück. Das geschlagene Osmanische Reich hatte seine arabischen Provinzen bereits verloren, der Vertrag von Sèvres (1919) sah darüber hinaus vor, dass weite Teile Anatoliens ebenfalls unter die Kontrolle der Siegermächte beziehungsweise Griechenlands fallen sollten. Die Regierung des Sultans erwies sich nicht als fähig, diesen Plänen entgegenzutreten. Stattdessen organisierte Mustafa Kemal (seit 1934 Atatürk), ein General, der mit den Jungtürken sympathisiert hatte, aber bis dahin nie politisch aktiv gewesen war, von Samsun an der Schwarzmeerküste und schließlich von Ankara aus den Widerstand gegen die Besatzung. Said Nursi gab schließlich 1922 die Lehrtätigkeit, die er in Istanbul angenommen hatte, auf, und begab sich nach Ankara. Doch als mit der Gründung der Republik und der Abschaffung des Kalifats (1923/4) deutlich wurde, dass die neue politische Führung nicht danach strebte, eine neue Ordnung auf islamischer Grundlage zu errichten, zog er sich 1923 nach Van im Osten zurück, um sich religiösen Studien zu widmen. Said Nursi selbst beschrieb diesen Wandel als Wandel vom politisch aktiven „Alten Said“ zum kontemplativen „Neuen Said“.3 Als sich 1925 ein Teil der kurdischen Bevölkerung gegen die republikanische Regierung erhob, ließ jene unliebsame Stammesoberhäupter und Gelehrte festnehmen, auch wenn sie an dem Aufstand überhaupt nicht beteiligt waren.4 Unter den unschuldig verhafteten war auch Said Nursi. Er wurde schließlich in das Dorf Barla in der Provinz Isparta (Südwestanatolien) verbannt. Er lebte dort in einem Baumhaus, das wie eine hohe Fichte und eine abgestorbene Eiche, die er oft aufsuchte, für seine Anhänger ikonischen Charakter gewann. Er predigte zunächst zu den Einwohnern von Barla, im Laufe der Zeit strömten junge Männer, 3 Sözler, S. 295, 502; vgl. auch die Gliederung von S¸ükran Vahide: Islam in modern Turkey: an intellectual biography of Bediuzzaman Said Nursi, Albany: State University of New York Press, 2005. 4 Gleichwohl wird er in kemalistischen und pantürkisch-rassistischen Propagandaschriften bis heute mit dem kurdischen Separatismus in Verbindung gebracht, was durch den Umstand begünstigt wird, dass der Führer des Aufstandes ebenfalls Said hieß. Güventürk, Faruk (1964): Din ıs¸ıg˘ı altında Nurculug˘un içyüzü, I˙stanbul: Okat Yayınevi., S. 98, Armaner, Neda (1964): ˙Islâm dininden ayrılan cereyanlar: Nurculuk, Ankara: Millî Eg˘itim Basımevi., S. 31 Çag˘atay, Nes¸et (1972): Türkiye’de gerici eylemler (1923’den bu yana), Ankara: Üniversitesi Basımevi, S. 44–50, Atsız, Nihal (1964: „Nurculuk Denen Sayıklama“ Ötüken, 109 http://www.nihalatsiz.com/yazi/nurculuk-denen-sayiklama-h-nihal-atsiz.html ; „I˙ngiliz ajanı Said- Nursi: Hür adam deg˘il ‚sefil adam‘“ Türk Solu 307 (10. 1. 2011) http://www.turksolu.com.tr/307/sefila dam307.htm.

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denen seine Gelehrsamkeit bekannt war, zu ihm. Die Predigten wurden mitgeschrieben, handschriftlich kopiert und durch ein Botensystem im Lande verbreitet, sodass er in religiösen Kreisen im ganzen Land Anhänger fand. Diese Entwicklung blieb nicht unbemerkt, weil er zudem verbotenerweise auf Arabisch zum Gebet rief,5 wurde er schließlich 1935 verhaftet, ins Gefängnis von Eskis¸ehir gebracht und zusammen mit einigen Mitstreitern zu elf Monaten Haft verurteilt. In Anlehnung an die koranische Josefgeschichte (Sure 12:35–52), nannte er die Haft die „Josefsschule“ (medrese-i yûsufiye).6 Nach der Entlassung wurde Said Nursi nach Kastamonu, einer kleinen Provinzhauptstadt an der westlichen Schwarzmeerküste verbannt, wo er stärkerer Kontrolle durch die Polizei unterworfen war. Nichtsdestotrotz setzte er seine religiösen Unterweisungen fort. 1943 wurde er erneut verhaftet und in Denizli wegen religiöser Propaganda vor Gericht gestellt. Er wurde jedoch freigesprochen, allerdings mit der Begründung, dass seine Schriften so wirr seien, dass an seiner Zurechnungsfähigkeit zu zweifeln sei. Nach der Haft wurde er in die Kleinstadt Emirdag˘, in der Provinz Afyon (westl. Zentralanatolien) verbannt. Hier wurden seine Anhänger erstmals „Nurcus“, in etwa: Anhänger des Lichts, genannt.7 Die Verbreitung seiner weiterhin illegalen Schriften nahm zu, weil sie dazu übergingen, sie zu hektografieren. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Annäherung der Türkei an die USA wurde das Einparteiensystem in der Türkei langsam aufgelöst. Bei den ersten freien Wahlen 1950 gewann die Demokratische Partei von Adnan Menderes, der obgleich selbst wenig religiös, den Unmut der konservativen Bevölkerung über die kemalistischen Säkularisierungsmaßnahmen zu nutzen wusste, eine überwältigende Mehrheit im Parlament. Er ließ nicht nur den arabischen Gebetsruf wieder zu, sondern er gewährte religiösen Bewegungen nun auch mehr Freiräume. Davon profitierten auch Said Nursi und seine Anhänger: 1951 wurde seine Verbannung aufgehoben. Said Nursi wandte sich nun wieder stärker der Politik zu, und unterstützte Menderes aktiv. Neben den genannten innenpolitischen Gründen spielte dabei dessen antikommunistische Außenpolitik eine zentrale Rolle. Daher wird diese Lebensphase als die des „Dritten Said“ bezeichnet. Als 1952 erneut ein Prozess gegen ihn geführt wurde, weil eines seiner 5 Zwischen 1932 und 1950 wurde die durch Atatürk persönlich angeordnete Türkisierung des Gebetsrufs strengstens unter Androhung strafrechtlicher Maßnahmen in der gesamten Türkei durchgesetzt. Nach den ersten freien Wahlen und dem Regierungswechsel war eine der ersten Amtshandlungen der neuen Regierung die Freistellung der Imame in dieser Frage, was de facto durchgehend einer Rückkehr zum arabischen Original gleichkam. Vgl. auch Dücane Cundiog˘lu, Bir siyasi proje olarak türkçe ibadet I, Istanbul 1999. 6 Sözler S. 138, Lem’alar S. 258f., 262–265289,, 407; Tarihçe-i Hayat , S. 503–505, 515f. 7 Emirdag˘ Lâhıkası, S. 116, 118, 265.

Vorwort

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Werke gegen die säkulare Ordnung gerichtet gewesen sein soll, sprangen ihm die führenden islamischen Publizisten zur Seite, wodurch Said Nursis Prestige erheblich stieg. 1956 wurde schließlich der Druck seiner Werke in Lateinschrift gestattet. Said Nursi selbst starb am 23. 3. 1960 auf einer Reise ins südostanatolische Urfa, wo nach dem verbreiteten Volksglauben Abraham begraben liegt. Er wurde im Grabkomplex in der unmittelbaren Nähe zu Abraham bestattet. Nur zwei Monate später putschten junge Offiziere gegen Menderes. Er und zwei seiner Minister wurden im folgenden Jahr hingerichtet, Said Nursis Grab wurde aufgebrochen, sein Leichnam exhumiert und an einem unbekannten Ort bestattet, wohl weil befürchtet wurde, dass sich sein Grab zu einer Pilgerstätte entwickeln könnte. Es ist jedoch nicht allein diese spektakuläre Lebensgeschichte, die Said Nursi interessant macht, sondern auch, dass sein Werk und sein Handeln sich in vielerlei Hinsicht von dem anderer islamischer Denker im 20. Jh. unterscheidet. Dies beginnt bei den Formalia: Die Risale-i Nur („Sendschreiben bzw. Abhandlung des Lichts“), in der die meisten seiner Schriften zusammengefasst sind, ist kein Korankommentar, keine systematische juristische oder theologische Abhandlung, auch keine scharfe Gelehrtenpolemik. Die meisten Teile beruhen erkennbar auf Predigten und Briefen. Bis zu einem gewissen Grad knüpft sie damit an die Verschriftlichung der Unterweisungen von Sufi-Meistern an, auch wenn Said Nursi den Sufis vorsichtig und behutsam vorwarf, sie erzögen die Muslime zur Untätigkeit und sie wüssten auf die Fragen der Zeit keine Antwort. Eigentümlich ist auch Said Nursis Stil. Er zeichnet sich durch überlange Sätze und zahlreiche, oft rhythmische Parallelismen aus. Zudem ist sein Wortschatz noch stark arabisch-persisch geprägt, sodass er für heutige Türken, die mit der vom kemalistischen Purismus geformten, auf türkischen Wurzeln geprägten Sprache aufgewachsen sind, sehr archaisch wirkt. Seine Gegner machen sich hierüber lustig, für seine Anhänger gewinnt seine Sprache dadurch auratischen Charakter. Ohnehin ist zu bedenken, dass seine Schriften keineswegs zur Lektüre im stillen Kämmerlein gedacht sind. Wöchentlich werden Ausschnitte bei den Lehrstunden der örtlichen Nurcu-Zirkel vorgetragen oder in kleineren Runden unter Anleitung eines fortgeschrittenen Anhängers studiert. Sie sind daher für seine Anhängerschaft ein zentrales identitätsstiftendes und gemeinschaftsbildendes Element. Bemerkenswert ist sein Werk aber auch aus inhaltlichen Gründen, die eng mit seiner Biographie verknüpft sind. Vier Aspekte erscheinen hierbei als besonders wichtig:

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1. seine Auseinandersetzung mit der modernen Naturwissenschaft und seine Materialismuskritik, 2. der Vorrang der Internalisierung islamischer Normen anstelle von deren staatlicher Durchsetzung, 3. sein positives Verhältnis zum Christentum und 4. seine ambivalente Einstellung zur Demokratie und zum Pluralismus. Ad 1: Said Nursi war sich darüber im Klaren, dass die auf der modernen Naturwissenschaft beruhende Technik ein wesentlicher Grundpfeiler der wirtschaftlichen Überlegenheit des Westens war. Dies impliziert, dass das Osmanische Reich ohne deren Übernahme nicht imstande sein würde, den Rückstand aufzuholen. Gleichwohl betrachtete er die unhinterfragte Übernahme der modernen Naturwissenschaft als bedrohlich, weil deren Grundannahmen, wie die Eigenkausalität und die Ableitung aller Phänomene aus materiellen Vorgängen mit dem sunnitischen Gottesbild unvereinbar sind. Er akzeptierte daher Vorstellungen, die sich aus seiner Sicht mit der, die von einem harmonischen Universum, das vom Walten des Schöpfergottes zeugt, vereinbaren lassen.8 Dies gilt etwa für die postkopernikanische Astronomie. Er interpretierte darüber hinaus bestimmte Koranverse als Hinweise auf zur Zeit Muhammads noch unbekannte ˙ wissenschaftliche Entdeckungen und technische Erfindungen. Was sich nicht in diesen Rahmen integrieren ließ, wie etwa die Vorstellung von der Selbstorganisation der Materie, bekämpfte er jedoch vehement. Seine Anhänger wandten sich daher entschieden gegen die Evolutionstheorie und formulierten eine islamische Variante des Kreationismus, die sich heute in vielen islamischen Ländern und unter muslimischen Migranten im Westen höchster Popularität erfreut.9 Ad 2: Die Durchsetzung des islamischen Rechtssystems in der republikanischen Türkei genoss für Said Nursi keine Priorität. Dies lag zum einen daran, dass er die Möglichkeit eines solchen Unterfangens skeptisch einschätzte, zum anderen hatte er jedoch bereits vor dem Ersten Weltkrieg betont, dass die Scharia im Wesentlichen der ethischen Orientierung diene, und dass nur ein Bruchteil von ihr Gesetzescharakter besitze. Als Konsequenz hieraus betonen es er und seine Anhänger, islamische Handlungsnormen individuell zu internalisieren. Dies ermöglicht zum einen die Akzeptanz einer pluralistischen Ordnung, zum anderen setzt diese Vorstellung in ihrer konkreten Ausformulierung die Akzeptanz von Gottes Rolle im Universum mit allen unter 1 genannten Implikationen vo8 Agai, „The Religious Significance of Science and Natural Sciences in the Writings of Bediuzzaman Said Nursi“, in diesem Band, S. 121–143; auch: Riexinger, „Muslim Responses to the Darwinian Theory of Evolution“, in: Olav Hammer/James Lewis (ed.), Handbook of Religion and the Authority of Science, Brill, Leiden 2011, S. 483–510. 9 Riexinger, „Freiheit und Moderne im Denken Said Nursis und seiner Schüler“, in diesem Band, S. 63–73.

Vorwort

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raus.10 Gleichzeitig bleibt Said Nursi gegenüber Reformwünschen der zwischenmenschlichen schariarechtlichen normativen Regelungen konsequent, vor allem auch mit Blick auf die kemalistischen Zwangsmaßnahmen, bis zu seinem Lebensende kritisch gegenüber eingestellt.11 Ad 3: Bereits vor dem Ersten Weltkrieg trat Said Nursi anders als manche andere Gelehrte für die Gleichberechtigung der Muslime als osmanische Staatsbürger ein. Dies verlor zunächst an Bedeutung, da in der Türkischen Republik kaum mehr Nichtmuslime lebten. Nach dem Zweiten Weltkrieg griff er diese Idee jedoch wieder auf, als er für ein Bündnis von Christen und Muslimen gegen den Kommunismus warb. Seine Anhänger in Europa knüpfen u. a. hieran an, wenn sie sich im christlich-islamischen Dialog engagieren. Darüber darf jedoch nicht vergessen werden, dass weder für Said Nursi selbst noch für seine Anhänger die Überlegenheit des Islams als letzte unverfälschte göttliche Botschaft zur Diskussion stand. Bei allem Respekt gegenüber Christen als ahl alkita¯b befürwortet er keineswegs eine pluralistische Theologie in Bezug auf die Wahrheitsfrage und jenseitige Heilserwartungen.12 Den traditionellen theologischen Referenzrahmen in diesen Fragen verlässt Said Nursi an keiner Stelle in seinem Werk. Einige im Dialog engagierte liberale Christen stoßen sich wiederum daran, dass die Positionen der Nurcus oft eher jenen konservativer Christen ähneln.13 Ad 4: Said Nursi und seine Anhänger unterstützten den Übergang zum Mehrparteiensystem in der Türkei enthusiastisch. Als in den späten 1960er Jahren in der Türkei eine dezidiert islamistische Partei entstand, blieben die meisten Nurcus auf Abstand zu diesem Projekt, weil sie es als autoritär und antidemokratisch bewerteten. Said Nursi unterstützt ausdrücklich die Demokratie und Idee der Republik als politische Staatsordnung. Gleichwohl ist das Verhältnis zu Demokratie und Pluralismus nach westlichen Maßstäben nicht unproblematisch. So wird die Legitimität religionskritischer Positionen im öffentlichen Raum oftmals dezidiert explizit bestritten, ebenso wird nicht generell akzeptiert, dass beispielsweise die Geschlechterbeziehungen zu den Fragen ge-

10 Riexinger, „Die Pazifizierung des Islams durch seine Entrechtlichung: Said Nursi und Mah˙ mu¯d Ta¯ha¯ im Vergleich“, in Tilman Seidensticker (Hg.), Zeitgenössische islamische Positionen ˙ zu Koexistenz und Gewalt, Harrassowitz, Wiesbaden 2011, S. 81–97. 11 Siehe auch ausführlich Ucar, Recht als Mittel zur Reform von Religion und Gesellschaft. Die türkische Debatte um die Scharia und die Rechtsschulen im 20. Jahrhundert, Würzburg 2005, S. 135–138. 12 Berger, „Said Nursi und das Christentum – Zur Funktion eines hagiografischen Motivs in der Nurcu-Bewegung“, in diesem Band, S. 233–242; Riexinger „Freiheit und Moderne im Denken Said Nursis und seiner Schüler“; Musall, „‚Philosophie‘ aus der Sicht Said Nursis: Eine Reflexion über das ‚12.‘ und ‚30. Wort‘“, S. 41–50. 13 Ebd.

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hören, die im Rahmen einer demokratischen Ordnung verhandelt werden müssen. Zu klären bleibt auch, woher Said Nursis Positionen stammen, und welche Rolle sie im islamischen Diskurs in der Türkei spielen. In den Schriften seiner Anhänger wird sein Wirken oft so präsentiert, als habe er seine Ideen geradezu aus dem Nichts entwickelt. Dies ist zum einen auf eine, in diesem Band in mehreren Beiträgen problematisierte, hagiografische Darstellungsweise zurückzuführen, die ihre Wurzeln im Sufismus hat.14 Said Nursis Hintergrund im spätosmanischen religiösen Denken, insbesondere im Sufismus, ist bisher allerdings von islamwissenschaftlicher Seite bisher ebenso wenig aufgearbeitet worden, wie sein Verhältnis zur Apologetik des islamischen Modernismus. Für seine Anhänger stellen Said Nursis Ausführungen eine autoritative Deutung der islamischen Quellen dar. Im Laufe der Jahrzehnte bildeten sich unter seinen Anhängern unterschiedliche Deutungstraditionen heraus, die nicht zuletzt unterschiedliche Positionen zu politischen Fragen reflektieren.15 Zudem ist in den letzten Jahren zu beobachten, dass die hergebrachten Vermittlungsformen unter seinen Anhängern von neuartigen zunächst einmal ergänzt werden. Neben die Vermittlung in Lesezirkeln treten Bücher über Said Nursi, Romane, welche die von ihm propagierten Normen anschaulich vermitteln sollen, Internetdatenbanken und schließlich sogar Filme. Inwieweit diese die älteren Vermittlungsformen überlagern oder gar verdrängen, bleibt zu untersuchen. Während in literarischen Darstellungen und Filmen ein affirmatives Bild vermittelt wird, erleichtern Datenbanken den individuellen Zugang zu seinem Werk, womit sie zumindest die Möglichkeit zu einer stärker reflektierten Aneignung eröffnen, wie sie nicht zuletzt einige Intellektuelle unter seinen Anhängern einfordern.16 Zusammenfassend kann zu seinem umfangreichen Hauptwerk Risale-i Nur (Abhandlung bzw. Sendschreiben des Lichts) gesagt werden, dass ihm drei Dinge am Herzen lagen: Eine religiös fundierte weltliche Allgemeinbildung, eine vor allem ethisch geprägte Auslegung der Scharia und eine – viele kritische Fragen aufwerfende – ‚Integration‘ der modernen Naturwissenschaft in den Islam.17 Er scheint sich bedingt durch seine Erfahrungen in der repressiven Ära von Abdülhamid II und der noch härteren Gangart der Kemalisten gegenüber allem Religiösen im öffentlichen Raum aus Überzeugung für eine demokratische Grundordnung auszusprechen. Diese Kernpunkte verbindet Nursi mit einem Glaubensverständnis, das mit Freiheit – zweifelsfrei nicht in unserem heutigen 14 Berger „Said Nursi und das Christentum – Zur Funktion eines hagiografischen Motivs in der Nurcu-Bewegung“, S. 233–242. 15 Riexinger, „Freiheit und Moderne im Denken Said Nursis und seiner Schüler“. 16 S¸ahinöz, „Religionspädagogik bei Said Nursi“, S. 195–209. 17 „Wir haben drei Feinde. Es sind Unwissenheit, Armut, Uneinigkeit. Diesen drei Feinden werden wir mit Wissenschaft, Qualifizierung und Einigkeit entgegentreten.“

Vorwort

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Sinne – Hand in Hand geht. Er schreibt: „Für mich ist die Unterdrückung der Wissenschaft das Schlimmste. Ich kann ohne Brot leben – aber nicht ohne Freiheit. Nur in Freiheit kann alles gedeihen. Je mehr sich Glaube entwickelt, desto edler wird die Freiheit.“18 Doch zurück zu Nursi selbst und seinem Wirkungskreis. Schon Atatürk hatte in den 1920er Jahren versucht, Said Nursi für sein politisches Reformvorhaben zu gewinnen. Da Nursi die Umbrüche Atatürks zu radikal und zu weltlich erschienen, verschloss er sich dem und verbrachte infolge dessen viele Jahre in der innertürkischen Verbannung und im Arrest. Heute bezieht sich eine der einflussreichsten türkischen religiösen Strömungen mit weltweiten Ablegern, die plural verfasste(n) Bewegung(en) der Nurculuk, auf Said Nursi.19 Dies unterstreicht seine weitgreifende und dauerhafte Wirkung vielleicht am besten. Seine Werke sind in zahlreiche Sprachen übersetzt und werden enthusiastisch rund um den Globus verlegt. Die Frage, was Nursi singulär in seinem Auftritt und Erfolg macht, ist sicherlich nicht unbegründet, wenn man seinen Einfluss ins Auge fasst. Eine Besonderheit liegt sicherlich darin, dass er trotz enormer Umwälzungen in den 1920er, 1930er Jahren nie zu Gewalt neigte, sich ins innere Exil begab und durch seine verbotenen Werke passiven Widerstand leistete. Nursi widersprach allen Politisierungswünschen der Religion und wehrte sich zugleich gegen moderne politische Religionen seiner Zeit, die als Ideologien in jener Zeit um sich griffen. Rückblickend blieb Nursi in vielerlei Hinsicht ein ambivalenter Mensch. Er ist ein traditioneller Gelehrter, der sich zugleich mit den Sorgen der Menschen seiner Zeit, ohne sich dem Zeitgeist anzubiedern, beschäftigte. In seiner theologischen Verortung zeichnet ihn eine Synthese von Glaube und Spiritualität aus. Said Nursi ist bedingt durch seine Sozialisation – aber auch aus Überzeugung – ein mystisch geprägter Mensch. Andererseits argumentiert er zu hochkomplexen kala¯m-Themen und philosophischen Problemen durch und durch rational. Obwohl Nursi in seinem Lebensstil in den letzten Dekaden seines Lebens sehr asketisch, übersinnlich und weltabgewandt wirkt, ist er dennoch in den Tiefen der Logik gut geschult und befindet sich mit beiden Füßen fest auf dem Boden des Lebens. Gleichzeitig fühlt er sich der sogenannten Orthodoxie in seinem Gesamtwerk eng verbunden. In diesem Konglomerat atmet er unter anderen Vorzeichen dieselbe Luft wie al-G˙aza¯lı¯ und ist ein Vertreter dieser „Theologie der Mitte“.20 18 Emirdag˘ Lahikası, Istanbul Envar Nes¸riyat, S. 19. 19 Ucar, Recht als Mittel zur Reform, S. 135. 20 Gleichwohl wurde er in der Vergangenheit auch mit genuin theologischen Erwägungen kritisiert, die zum einen eher einen rationalistischen, aber auch wahhabitisch-neosalafistisch geprägten Hintergrund haben. Er würde mit schwachen Überlieferungen dem Propheten Wundergeschichten andichten und hierbei maßlos übertreiben, durch die Zuordnung von

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Said Nursi findet nicht nur den Weg in die digitale Welt, das Interesse an ihm wächst auf unterschiedlichsten Ebenen, persönlich, medial, wissenschaftlich. Das Zentrum für Interkulturelle Islamstudien (Vorgänger des 2012 gegründeten Instituts für Islamische Theologie) an der Universität Osnabrück veranstaltete 2010 anlässlich des 50. Todestages von Said Nursi einen zweitägigen Kongress, dessen Ausarbeitungen der einzelnen Vorträge die Basis dieses Bandes bilden. Es gilt die Figur Said Nursis zu beleuchten hinsichtlich seiner Biografie, seiner Einstellungen, Sichtweisen und seiner Bedeutung für heutige Muslime und darüber hinaus für den Dialog der Religionen. So gestaltet sich dieser Band ausgehend von Menschenrechten und Philosophie aus Nursis Sicht über seine Sichtweise bezüglich Freiheit und Moderne und Religion und Wissenschaft bei Said Nursi hin zu Nursis Religionspädagogik und den Dialog der Religionen bei Said Nursi. Kapitel eins ist überschrieben mit „Menschenrechte und Philosophie aus der Sicht von Said Nursi“ und umfasst die Beiträge von Ismail Yavuzcan, Frederik Musall und Ahmad Milad Karimi. Yavuzcan nähert sich in „Said Nursi – Glauben, Kosmos, Scharia“ Nursi über Biografisches, seine Auseinandersetzung mit der Moderne und über Ausschnitte aus seinem Werk. Musall beschreibt in „‚Philosophie‘ aus der Sicht Said Nursis: Eine Reflektion über das 12. und 30. Wort“ Nursis Verhältnis zur Philosophie und beleuchtet dies anhand des 12. und 30. Wortes der Risale-i Nur. Im „12. Wort“ behandelt Nursi den Begriff der „Weisheit“ (hikma) und unternimmt den Versuch die vier Prinzipien einer ˙ „koranischen Weisheit“ mit der „Weisheit der Philosophie“ kontrastiv zu vergleichen. Im 30. Wort führt Nursi seine Philosophiekritik weiter aus, in dem er unter anderem das Wesen und das Ziel des menschlichen „Ichs“ bzw. „Selbstbewusstseins“ (ana¯) erklären will. Karimi wendet sich in „Offenbarungsverständnis: Koran und Prophetie bei Said Nursi“ der Frage zu, wie Unendliches in die Endlichkeit eindringt, also Offenbarung aus der Sicht von Said Nursi geschieht. Diesem geht er in drei Schritten nach. Zuerst fragt er: Was ist der Koran? Anschließend behandelt er die koranischen Dimensionen, um dann den Koran als Wunder zu beschreiben und sich abschließend der Prophetie zuzuwenden. Zahlenwerten an Buchstaben und entsprechenden Ableitungen hätte er esoterische Zugänge in das islamische Denken ermöglicht und dies zeige, wie sehr er vom Geist der Huru¯fiyya und ˙ ¯, Messias, Ba¯tiniyya beeinflusst sei. Sich selbst bzw. sein Werk sehe er hierbei als Mahdı ˙ ˇ Erretter, Wegweiser und Mugaddid. Ebenso werden von einigen Theologen seine mystischen Vorstellungen, schiitische Prägung und seine Behauptung, dass sein Werk durch göttliche Eingebung formuliert worden sei als Anmaßung und Andeutung einer Prophetie interpretiert und entsprechend kritisiert. Freilich hat er sich selbst immer eindeutig ablehnend zu den beiden letzteren Unterstellungen geäußert. Vgl. Kritik von Abdulaziz Bayındır http://www. islamkutuphanesi.com/turkcekitap/online/saidinursi_gercegi/, Kritik von Sadettin Merdin http://19.org/tr/said-nursi/, aber auch allg. https://tr.wikipedia.org/wiki/Said_Nurs%C3%AE abgerufen am 30. 08. 2016.

Vorwort

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Kapitel zwei trägt die Überschrift „Freiheit und Moderne aus der Sicht von Said Nursi“, beinhaltet die Beiträge von Martin Riexinger, Esnaf Begic´ und Christoph Elsas. Riexingers Artikel „Freiheit und Moderne im Denken Said Nursis und seiner Schüler“ teilt sich in zwei Teile, von denen sich der erste dem Kapitelthema bei Nursi selbst und der zweite seinen Anhängern zuwendet. Begic´ schreibt ebenfalls zum Begriff der Freiheit in „Wie frei ist der Mensch im Handeln und Denken: Qadar und igˇtiha¯d bei Said Nursi“. Einer Einführung folgen hier das Problem der Begrifflichkeit, qadar als Pfeiler des islamischen Glaubens, die Frage der Vereinbarkeit der göttlichen Vorhersehung und der menschlichen Willensfreiheit, der Einfluss der göttlichen Vorhersehung auf die menschlichen Entscheidungen und Handlungen, das Verhältnis zwischen Göttlicher Vorhersehung und der menschlichen Willensfreiheit, die Quellen der rechtlichen Ratgebung im Islam, igˇtiha¯d als Prozess der Rechtsfindung und igˇtiha¯d bei Said Nursi. Elsas nähert sich dem Thema aus einer gänzlich anderen Richtung und schreibt zu „Menschliche Schwäche und Freiheit in der Moderne aus der Sicht von Said Nursi. Zur Relevanz eines türkischen Islam-Gelehrten für die deutsche Sarrazin-Debatte 2010“. Dies erfolgt in sechs Paragraphen, die über schrieben sind mit: § 1 Menschliche Schwäche im Sinne allgemeiner gesellschaftlicher Probleme im heutigen Deutschland nach Sarrazin und mögliche religiöse Überlegungen dazu aus der Sicht von Said Nursi, § 2 Zugehörige Freiheit in der Moderne als individuelle Freiheit in Rücksicht auf das Ganze, § 3 Menschliche Schwäche im Sinne von unsozialem Konsumismus im heutigen Deutschland nach Sarrazin und mögliche religiöse Überlegungen dazu aus der Sicht von Said Nursi, § 4 Zugehörige Freiheit in der Moderne als sozialverträglicher Wettbewerb, § 5 Menschliche Schwäche im Sinne von religiös-kultureller Überfremdungsangst im heutigen Deutschland nach Sarrazin und mögliche religiöse Überlegungen dazu aus der Sicht von Said Nursi, § 6 Zugehörige Freiheit in der Moderne als religiös-kulturelle Freiheit im Rahmen des Freiheitsschutzes für alle. Im Kern dieses Bandes befindet sich dann eines der Kernthemen Nursis. Kapitel drei heißt „Religion und Wissenschaft bei Said Nursi“, enthält eine Einleitung von Egon Spiegel und besteht aus den Beiträgen von Bekim Agai, Ahmed Akgündüz und Recep S¸entürk. Entsprechend lautet der Titel von Agais Artikel „The religious significance of science and natural sciences in the writings of Bediuzzaman Said Nursi“ und ist gegliedert in: The historical background against which Nursi developed his views, New scientific concepts – new challenges to religion and Said Nursi’s answer, Said Nursi’s observations of the positive characteristics of science, Said Nursi’s observations of the negative characteristics of science, Towards a synthesis: Nursi’s approach towards science as a source for religious certainty, Two sources for ascertaining certainty in belief: 1. The Qur’an, 2: The Book of the Universe. Akgündüz Beitrag ist überschrieben mit „Religion and Science in the Thinking of Said Nursi“ und beschäftigt sich mit

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Martin Riexinger / Bülent Ucar

Bediuzzaman Said Nursi: The man of dialogue and peace, His works: The Risale-i Nur Collection, His approach to europe and invitation to dialogue. S¸entürks Artikel lautet „Semiotics of Nature: Recharging the World with Meaning“. Er fragt: Is Nature a Text? Anschließend wendet er sich der Semiotik zu mit: Semiotics: Study of Signification, Semiotics of Nature in Ibrahim Hakkı, Semiotics of Nature in Said Nursi, um mit einer Zusammenfassung zu schließen. Kapitel vier ist überschrieben mit „Religionspädagogik bei Said Nursi“ und umfasst die Artikel von Ali Özgür Özdil, Bettina Kruse-Schröder, Bülent Ucar und Cemil S¸ahinöz. Özdil und Kruse-Schröder stellen sich in „Said Nursi zwischen dem, der er ist, und dem, zu dem er gemacht wird: ein Allround-Gelehrter?“ zuerst einmal die Titelfrage: Nursi als Allround-Gelehrter? Im Weiteren geht es um die Mystifizierung Said Nursis, Vorbilder, Role model und reference individual und Idealisierung. Ucar setzt den Fokus auf „Islamische Bildung und Erziehung in den Werken von Said Nursi“, dies unter den Aspekten der Begriffsklärungen der Bildung und Erziehung, Islamischer Bildung und Erziehung, des handlungs- und werteorientierten Bildungs- und Erziehungssystems. Folgend untersucht er den Satz: Jede pädagogische Handlung hat nach Nursi ihren Ursprung in der Liebe, weil der Mensch selbst das Ergebnis von Liebe und Barmherzigkeit sei, um sich anschließend Wissen als îmân, der Bedeutung der Ratio in der Religion und der Relativität der Wahrheitswahrnehmung zuzuwenden. S¸ahinöz schreibt in „Religionspädagogik bei Said Nursi“ über den Bildungsweg Said Nursis, Nursis Idee einer Universität, Nursis Wissenschaftsverständnis und Religion bei Said Nursi. Kapitel fünf „Dialog der Religionen“ wird eingeleitet von Erna Zonne und beinhaltet die Beiträge von Thomas Michel, Lutz Berger und Andreas Renz. Michel baut seinen Artikel „Said Nursi and the Dialogue of Religions“ folgendermaßen auf: Er beginnt mit Elements of goodness in other religions, fährt fort mit The universality of worship of God, Common values and teachings, The possibility of friendship, The two sides of Europe, Dialogue on societal values und endet mit The task of the religions: offer a transcendent perspective. Berger wirft mit „Said Nursi und das Christentum – Zur Funktion eines Motivs hagiografischer Literatur in der Nurcu-Bewegung“ einen perspektivisch anderen Blick auf den Dialog der Religionen. Er beginnt mit hagiografischer Nurcu-Literatur, leitet über zu Begegnungen mit Christen in der Nursi-Hagiografie und zeigt abschließend Parallelen und Funktion auf. Renz schreibt über „Das Christentum in der Sicht Said Nursis und die Bedeutung seiner Theologie für den christlichislamischen Dialog. Eine katholische Perspektive“. Er gliedert seinen Text wie folgt: Said Nursis Sicht des Christentums und Europas, Die Krankheiten der Moderne und die Heilmittel, Geistesverwandtschaft mit Papst Benedikt XVI.?, Dualistisch-apokalyptisches Weltbild?, Kritische Anfragen, Kulturpessimismus, Idealisierung des Islam, Führungsanspruch des Islam, Die Bedeutung von Said

Vorwort

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Nursis Theologie für den christlich-islamischen Dialog, Zum Verhältnis von Glaube und Vernunft, Sakramentalität der Welt und Würde des Menschen, Das Liebesgebot: Universal oder auf die Umma begrenzt?, Das Theodizeeproblem: Woher kommt das Böse und welchen Sinn hat das Leid?, Würdigung und Ausblick. Der Anhang enthält die Kurzbeiträge zu Said Nursi von Avni Altıner und Mehmet Nuri Güleç. Altıner schreibt in „Erneuerung im Islam“ über das Thema Glaube (îmân) bei Said Nursi, Ethik und Moral nach Nursi, Persönliche Ethik nach Nursi und Sozialethik nach Nursi. Güleç, einer der letzten noch lebenden Schüler von Said Nursi beschließt diesen Band quasi mit der Innensicht der Nurcu-Gemeinschaft. Er hebt besonders fünf Prinzipien Nursis hervor, die sich hervorragend eignen, um dieses Vorwort ausklingen zu lassen: Fünf Prinzipien sind wichtig und wesentlich in dieser seltsamen Zeit, um das gesellschaftliche Leben dieses Landes und dieser Nation vor Anarchie zu retten: I. Respekt II. Barmherzigkeit III. Verbotenes (hara¯m) zu meiden ˙ IV. Sicherheit (Öffentliche Ordnung) V. Gesetzlosigkeit aufzugeben und der Autorität zu gehorchen. Das Risale-i-Nur betrifft das Leben der Gesellschaft, es errichtet und stärkt diese fünf Prinzipien in einer kraftvollen und heiligen Weise und es bewahrt den Grundstein der öffentlichen Ordnung.21

Literatur Agai, Bekim, „The Religious Significance of Science and Natural Sciences in the Writings of Bediuzzaman Said Nursi“, in diesem Band, S. 121–143. Berger, Lutz, „Said Nursi und das Christentum – Zur Funktion eines hagiografischen Motivs in der Nurcu-Bewegung“, in diesem Band, S. 233–242. Cündiog˘lu, Dücane, Bir siyasi proje olarak türkçe ibadet I, Istanbul 1999. 21 Die Lichtstrahlen, Sözler Nes¸riyat, Istanbul 2011, „14. Lichtstrahl“, S. 441. Dem ehemaligen Vorsitzenden der Schura Niedersachsen, Avni Altıner, sei an dieser Stelle nochmals ausdrücklich gedankt für die finanzielle und logistische Unterstützung während des Kongresses in Osnabrück. Mir persönlich war die Ausrichtung dieses Kongresses nach der Lektüre des Gesamtwerks von Said Nursi auch ein persönliches Anliegen, vgl. hierzu meine Einführungsrede hrsg. v. I˙stanbul I˙lim ve Kültür Vakfı, Vakıf Bülteni (3) 2011 Nr. 11, S. 7–8. Die Verantwortung für die Verzögerung dieser Publikation liegt aufgrund von persönlichen Umständen ausschließlich in meiner Person, wofür ich mich bei allen Autoren an dieser Stelle entschuldigen möchte. B. U.

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Martin Riexinger / Bülent Ucar

Heyd, Uriel, Revival of Islam in Modern Turkey, Magnes Press, Jerusalem 1968. Musall, Frederek, „‚Philosophie‘ aus der Sicht Said Nursis: Eine Reflexion über das ‚12.‘ und ‚30. Wort‘“, in diesem Band, S. 41–50. Nursi, Said, Die Lichtstrahlen, Sözler Nes¸riyat, Istanbul 2011. Riexinger, Martin, „Die Pazifizierung des Islams durch seine Entrechtlichung: Said Nursi und Mahmu¯d Ta¯ha¯ im Vergleich“, in Tilman Seidensticker (Hg.), Zeitgenössische isla˙ ˙ mische Positionen zu Koexistenz und Gewalt, Harrassowitz, Wiesbaden 2011, S. 81–97. Ders., „Freiheit und Moderne im Denken Said Nursis und seiner Schüler“, in diesem Band, S. 63–73. Ders., „Muslim Responses to the Darwinian Theory of Evolution“, in: Olav Hammer/James Lewis (ed.), Handbook of Religion and the Authority of Science, Brill, Leiden 2011, S. 483–510. S¸ahinöz, Cemil, „Religionspädagogik bei Said Nursi“, in diesem Band, S. 195–209. Ucar, Bülent, Recht als Mittel zur Reform von Religion und Gesellschaft. Die türkische Debatte um die Scharia und die Rechtsschulen im 20. Jahrhundert, Würzburg 2005.

Kapitel 1: Menschenrechte und Philosophie aus der Sicht von Said Nursi

Ismail H. Yavuzcan

Said Nursi – Glauben, Kosmos, Scharia Wissen heißt, sich selbst zu erkennen, wenn du dich nicht selbst erkennst, was nützt all dieses Wissen? (Yunus Emre) 1

1.

Einführung Die Analyse des ‚man stirbt‘ enthüllt unzweideutig die Seinsart des alltäglichen Seins zum Tode. Dieser wird in solcher Rede verstanden als ein unbestimmtes Etwas, das allererst irgendwoher eintreffen muss, zunächst aber für einen selbst noch nicht vorhanden und daher unbedrohlich ist. Das ‚man stirbt‘ verbreitet die Meinung, der Tod treffe gleichsam das Man. Die öffentliche Daseinsauslegung sagt: ‚man stirbt‘, weil damit jeder andere und man selbst sich einreden kann: ja nicht gerade ich; denn dieses Man ist das Niemand.2

Der Mensch, um den sich dieses Buch dreht, ist nicht nur tot, sondern gehört auch zu den Menschen, die über den Tod geschrieben haben und damit den Tod über ihr alltägliches Sein hinaus thematisiert haben und ihm nicht ausgewichen sind.3 Wir wissen nicht, ob Said Nursi sich den Tod herbeigewünscht hat – seine Gegner haben dies offensichtlich, wovon die nachweislichen Versuche, Said Nursi zu vergiften, zeugen.4 Said Nursi bedient sich offenkundig der Symbolik der islamischen Mystik. Es scheint, dass auch er – wie große Sufi-Meister vor ihm – den Tod zu einer Vermählung mit dem Geliebten umgedeutet hat. Als Ansprache an sein eigenes Ich schreibt er: Oh mein Ich – vor allem der Geliebte Gottes (Muhammad) und alle deine Liebsten sind ˙ auf der anderen Seite der Grabstätte. Die ein-zwei die noch hier sind, auch sie werden gehen. Wende dein Haupt nicht ab vom Tod, indem du dich ängstigst vor dem Tod, vor 1 2 3 4

Vgl. Ragıp Güzel (Hg.), Yunus Emre, Divani, o.O. 1998, S. 91. Martin Heidegger, Sein und Zeit, München 2001, S. 253. Vgl. ebd. Vgl. S¸ükran Vahide, Islam in der modernen Türkei. Die intellektuelle Biografie des Bediuzzaman Said Nursi, Münster 2009, S. 267.

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Ismail H. Yavuzcan

dem Grab. Schaue mutig aufs Grab, höre, was er fordert. Lächle dem Angesicht des Todes wie ein Mann zu, schau, was er will.5

An anderer Stelle sagt er: „[D]as Grab ist für den Gläubigen eine Tür für eine Welt, die schöner ist als diese“.6 Wir wissen nicht einmal, wo sich Nursis Leichnam befindet, denn aus Angst vor seinem Charisma über den Tod hinaus hat „man“ ihn an einem unbekannten Ort verscharrt.7 Aber der Tod selbst war unbestritten ein zentrales Thema seiner Arbeiten, denn er suchte nach einer zeitgemäßen Antwort auf die Frage: Was wird danach sein? So handelte das erste Traktat in seiner Ära als „Neuer Said“,8 in der er sich aus dem gesellschaftlichen Miteinander und der Politik zurückgezogen hatte, „von der Wiederauferstehung der Toten“. Über diese Abhandlung schreiben seine Schüler, dass diese „in einer einzigartigen Studie die körperliche Wiederauferstehung rational beweist, wo bislang selbst die größten Gelehrten ihre Unfähigkeit bekennen mussten.“9 „Er beschrieb die Methode, die er dabei anwandte, als dreistufig: Zuerst wird die Existenz Gottes bewiesen sowie seine Namen und Attribute, dann wird darauf die Wiederauferstehung der Toten ‚konstruiert‘ und bewiesen.“10 Im Folgenden wird eine Rekonstruktion dieser Methode versucht. Der Autor ist kein klassischer Schüler der Werke Said Nursis, sondern betrachtet dessen Werke aus der Ambivalenz eines Gläubigen und Akademikers heraus. Deswegen mögen Schüler von Said Nursi einige Hinweise anders sehen. Aus religionssoziologischer Perspektive kann jedoch eines klar festgehalten werden: „[D]ie Religionssoziologie legt […] Wert darauf, dass sie sich nicht selbst auf dem religiösen Feld befindet und dies auch nicht im Sinne der Herstellung eines Konfliktverhältnisses, also im Sinne der Negierung oder Bekämpfung, religiöser Wahrheiten“11 behandelt. Dies ist die Grundlage der folgenden Ausführungen, 5 Said Nursi, Die Worte – Nachdenkliches zum Koran, Istanbul 2006, S. 228; Said Nursi, Sözler, Istanbul 2000, S. 181. 6 Said Nursi, Die Worte, S. 192; Said Nursi, Sözler, S. 153. 7 Vgl. Vahide, Islam in der modernen Türkei, S. 359. 8 Die Einteilungen in „Alter Said“, „Neuer Said“ und „Dritter Said“ wurde von Nursi selbst vorgenommen, siehe Cemil S¸ahinöz, Die Nurculuk Bewegung. Entstehung, Organisation und Vernetzung, Yeni Nesil, Istanbul 2009, S. 61ff. Dabei ist anzumerken, dass der „Dritte Said“ (im Gegensatz zum „Neuen Said“) wieder politisch aktiv wird: „Nursi schrieb und korrespondierte mit Menderes [damaliger Ministerpräsident, der 1961 durch die Militärs hingerichtet wurde] und den Demokraten, um auf einige ‚fundamentale Gesetze‘ des Korans hinzuweisen, die seiner Überzeugung nach ein wirksames Mittel für die Errichtung sozialer Gerechtigkeit und Frieden darstellten“; Vahide, Islam in der modernen Türkei, S. 341. 9 Rüstem Ülker/D. Wolf Aries, III. Bonner Said Nursi Symposion: Gläubige Bürger in der pluralen Gesellschaft – Muslime im Dialog, Münster 2006, S. 21. 10 Ebd. 11 Hartmann Tyrell, „Soziologie: ‚Der Mensch ohne Gott‘“, in: Ülker/Aries (Hg.), III. Bonner Said Nursi Symposion, S. 93–102, hier S. 95.

Said Nursi – Glauben, Kosmos, Scharia

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wenngleich sich türkische Soziologen nicht immer an diesen Prämissen orientieren.12 Die Geschichte des Islam ist geprägt von charismatischen Persönlichkeiten und Gruppen, die sehr stark zur Wiederbelebung (tagˇdı¯d) der islamischen Identität beigetragen haben. Viele dieser Persönlichkeiten, die weniger theologische als vielmehr metaphysische Ansichten vertraten und bis in die Gegenwart wirkten, findet man insbesondere in den tarı¯qas (muslimischen Orden). Dieses ˙ Forschungsfeld ist in der Wissenschaft gut untersucht worden. Wenig erforscht hingegen (auch hinsichtlich der aktuellen Zeitgeschichte) sind Persönlichkeiten – außer einigen Gelehrten der islamischen Geschichte, wie z. B. Imam al-G˙azza¯lı¯ oder Ibn Taymiyya – wie Said Nursi oder Süleyman Hilmi Tunahan für den türkisch-islamischen Raum.13 Man besitzt viele Hinweise und Berichte von Schülern, die durch ein persönliches Treffen in den Bann des Gelehrten gezogen wurden. Dies scheint ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis des Werkes von Said Nursi zu sein. Dieses Charisma und die Empfänglichkeit bestimmter Menschen für Charisma sind im islamischen Raum vor allem bei den erwähnten Sufi-Orden und ihren Meistern zu beobachten, deren Wirkung jedoch in der Regel lokal begrenzt bleibt. Said Nursis Wirken beschränkt sich aber nicht auf einen geografischen oder soziokulturellen Raum. Er ist mittlerweile über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Der Hauptgrund hierfür liegt in seinem Lebenswerk, dem Risale-i Nur. Dies macht auch die Besonderheit seines Wirkens aus: weniger Wundertaten, die traditionell bedeutenden Sufi-Meistern zugeschrieben werden, stehen im Zentrum des Lebenswerkes, sondern die unzähligen Abhandlungen, Schriften, Briefe etc., die von seinen Schülern in der ersten Phase seines Wirkens akribisch abgeschrieben und später auch gedruckt wurden. Es sollte aber einschränkend Folgendes festgehalten werden: Im Gegensatz zum politischen Islam ist Nursis Präsenz im Geistesleben der türkischen Muslime aber weniger vorhanden als mancherorts angenommen. Dies liegt nicht nur daran, dass seine Werke sprachlich schwer verständlich sind, weil sie teilweise in einem umständlichen Osmanisch geschrieben wurden, sondern auch an der Rezeption und Haltung seiner Schüler, die ihn stark vereinnahmen.

12 Eine sehr rühmliche Ausnahme: S¸erif Mardin, Bediuzzaman Said Nursi Olayı, Iletis¸im, Istanbul 2010. 13 Zu seinem Lebenswerk, dem Risale-i Nur, gehören u. a. Sözler (Die Worte), Mektubat (Briefe), Lemalar (Lichtblitze) und S¸ualar (Lichtstrahlen), siehe die Literaturliste dieses Beitrags. Des Weiteren: Barla Lahikası, Kastamonu Lahikası und Emirdag˘ Lahikası – entsprechend den Hauptverbannungsorten Barla, Kastamonu und Emirdag in Anatolien.

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2.

Ismail H. Yavuzcan

Biografisches

Schwierigkeiten entstehen bei der akademischen Beschäftigung mit den Werken Said Nursis in der Türkei dadurch, dass Nursi in säkularen Kreisen immer noch mit Skepsis behandelt wird und auch, weil sein Schreibstil Akademikern, die sich in der „geistlichen“ Sprache und dem Osmanischen nicht auskennen, schwer zugänglich ist. Dies wurde durch die Haltung seiner Schüler, die sich über Jahrzehnte hinweg vehement weigerten, die Sprache zu vereinfachen bzw. in ein zeitgemäßes Türkisch zu übertragen. Sie behandeln den Text quasi als sakrales Refugium, welches durch (göttliche) Inspiration geschrieben worden sei und dessen Ausdrucksweise auratischen Charakter habe. Darum wirkt es für türkischsprachige Forscher wie ein Paradox, dass diese Werke ins Englische, Deutsche, Arabische etc. übersetzt werden können, aber vielen Türken unzugänglich bleiben. Festgehalten werden kann aber, dass die Übersetzungstätigkeit zu einer breiten akademischen Beschäftigung mit Nursis Werk geführt hat und damit zu einer Rehabilitation Said Nursis als einem wichtigen Gelehrten der islamischen Welt wesentlich beigetragen hat – auch in der Türkei. Said Nursi und sein Werk müssen auch im Kontext ihrer Entstehungsgeschichte gelesen und verstanden werden. Nursi wurde unter dem Verdacht festgenommen, dass er in den kurdischen Aufstand von Scheich Said verwickelt gewesen sein sollte. Historisch gesichert kann wohl konstatiert werden, dass Nursi nicht nur unschuldig war, sondern sich auch entschieden gegen den Aufstand gewandt hat.14 Es folgten aber viele Jahre der Verfolgung und Verdächtigung. Nur unter schwierigen Umständen konnte er seine Ideen weitergeben: Bediuzzaman hatte keine Nachschlagwerke, und natürlich war es verboten, religiöse Werke zu schreiben. Deshalb wurden handschriftliche Kopien erstellt, die dann heimlich in den Häusern der ‚Studenten‘, wie sie genannt wurden, und dann von Dorf zu Dorf und von Stadt zu Stadt weitergereicht wurden, bis sie sich in der ganzen Türkei verbreitet hatten.15

Während der Jahre im Exil „wurde das geschrieben, welches sich stillschweigend ausbreitete und Wurzeln schlug“, und „in einer äußerst konstruktiven Weise“ versuchte Nursi Bestrebungen, den Islam zu entwurzeln, zu bekämpfen, genauso wie „den Unglauben und die materialistische Philosophie, die der muslimischen Bevölkerung der Türkei eingeflößt werden sollten.“16 Letzteres hat aber seinem Wirken nicht geschadet. Im Gegenteil: In Anatolien und in den Randbezirken der Großstädte genoss er großes Ansehen. 14 Vgl. Vahide, Islam in der modernen Türkei, S. 196–198. 15 Vgl. Ülker/Aries, III. Bonner Said Nursi Symposion, S. 23. 16 Ebd., S. 20.

Said Nursi – Glauben, Kosmos, Scharia

3.

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Auseinandersetzung mit der Moderne

Gemeinsam ist den meisten islamischen Bewegungen, dass sie „das Problem der scheinbaren Rückständigkeit der muslimischen Völker und ihrer politischen wie kulturellen Unterwürfigkeit gegenüber dem Westen“17 beseitigen wollen. Said Nursi geht es um eine „Erneuerung des Glaubens“, um „seiner Ansicht nach, rationale[n] Beweisen für die Einheit (tawh¯ıd) Gottes.“18 Einschränkend muss ˙ aber bemerkt werden, dass sich Nursi in dem Zeitraum, den er selbst als „Eski Said“ („Alter Said“) bezeichnet, deutlich politisch engagiert hat.19 Als anfänglicher Mitstreiter der Jungtürken hat er sich für die Erneuerung des Osmanischen Reiches auf politischer wie kultureller Ebene engagiert. Ein Mittel sollte dabei die Gründung einer Universität sein, in der moderne (Natur-)Wissenschaften neben islamischen Wissenschaften gelehrt werden sollten, quasi als gegenseitige Ergänzung und zur gegenseitigen Befruchtung. Dieses Projekt wurde jedoch durch den Beginn des Ersten Weltkrieges unterbrochen.20 Für den „Neuen Said“ (Yeni Said) – den Said also, der sich klar von der Politik abgewendet hatte –, ging es um die Erneuerung des Glaubens. „Der Mensch muss sich entscheiden zwischen dem Glauben an die Herrschaft Gottes und an die Herrschaft des Menschen, mit allen Konsequenzen, die eine derartige Entscheidung mit sich bringt.“21 Gerade die enthusiastischen Eliten der modernen Türkei versuchten die türkische Gesellschaft an die Ideale der westlichen Aufklärung heranzuführen – auch an den Positivismus und Materialismus. Der Einfluss der Religion auf Gesellschaft und Kultur wurde vehement bekämpft. Nursi bekam dies zu spüren und beschloss, wie er sagt, sich der Symbolik der Materialisten, Sophisten und Naturphilosophen zu bedienen, um zum einen, diese mit ihren eigenen Mitteln zu schlagen, und zum anderen, die Wahrheit (haqı¯qa) zu beweisen –, auf eine rationale Art ˙ und Weise. Wie er dabei vorging, soll kurz an zwei Bespielen verdeutlicht werden.

3.1

Iman Risalesi/Abhandlung über den Glauben

Nursis Werk ist geprägt vom Kampf gegen den Materialismus und Atheismus. Er versucht vor allem durch Analogieschlüsse, Hinweise und Hilfen für die Jugend zu geben, die nach Einschätzung Nursis orientierungslos geworden sei und nach 17 Colin Turner, „Das Menschenbild im Islam in der Sicht Said Nursis“, in: Wolf D. Aries/Rüstem Ülker (Hg.), Das Bild vom Menschen. IV. Bonner Said Nursi Symposium 2007, Münster 2009, S. 49–83, hier S. 50. 18 Ebd., S. 50 (Hervorhebung: I. Y.). 19 Vgl. Vahide, Islam in der modernen Türkei, S. 53ff. 20 Siehe zu diesem Projekt ebd., S. 123f., S. 58ff. 21 Turner, „Das Menschenbild“, S. 51.

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Ismail H. Yavuzcan

Halt suche. Vor allem sollten sich aus den Naturwissenschaften viele Hinweise und Beweise für die göttliche Ordnung herleiten lassen. Bediuzzaman zeigt, dass die unwiderlegbaren Wahrheiten, so wie die Göttliche Einheit, zu denen man auf diesem Weg gelangt, die einzige rationale und logische Erklärung des Universums sind. Durch Vergleiche mit dem Naturalismus und dem Materialismus, welche die wissenschaftlichen Erkenntnisse über das Universum benutzten, um diese Wahrheiten zu leugnen, beweist er, dass die Konzepte, auf denen sie fußen, wie z. B. Kausalität und Natur, irrational und logisch absurd sind“22,

so die Schüler von Said Nursi. Im Gegenteil – so die Schüler – „vertieft die Wissenschaft sogar das Wissen von den Glaubenswahrheiten, indem sie aufdeckt, welche Ordnung im Universum herrscht und wie sie funktioniert.“23 Der Schlüssel der Welt liegt in der Hand des Menschen. Somit hat der Mensch über sein Ego/Ich die Möglichkeit, den Schöpfer des Kosmos zu erkennen. Denn der Mensch ist dazu veranlagt, Kräfte, die er bei sich vermutet, mit niemanden teilen zu wollen. Wenn er aber die Endlichkeit seiner Kräfte erkennt, gewinnt er bei seinem Schöpfer an Ansehen. Die Welt erscheint geradezu als „eine Welt um des Menschen willen“.24 Nursi glaubt, dass das Ego aber auch zu einem „Drachen“ und zu einem „Teufel“ werden kann, wenn es glaubt, Herr seiner Selbst zu sein. In der Tat, wenn das ‚Ich‘ nicht als das erkannt wird, was es eigentlich ist, nämlich ein bloßes Alif, ein Faden, eine hypothetische Linie, kann es verborgen im Boden sprossen und allmählich anschwellen. Es wird alle Teile eines Menschenwesens durchdringen. Wie ein gigantischer Drache wird es den Menschen verschlingen, und der ganze Mensch mit all seinen Fähigkeiten wird dann, ganz einfach, reines ‚Ich‘ werden. […] Mit der Ichbezogenheit der Menschenrasse stellt das ‚Ich‘ wie Satan die Gebote des Glorreichen Schöpfers in Frage.25

Die Erkenntnis, die das Ego braucht, stammt von den Philosophen und von den Propheten – aber nur, wenn sich die Philosophen in den Dienst der Religion stellen, hat die Menschheit auf vortreffliche Art und Weise Glück [und] ein [erfülltes] gesellschaftliches Leben. Wenn sie aber auseinander gehen, dann versammelt sich das Gute und das Licht (Nur) auf der Seite der Prophetenreihen und der Religion und das Schlechte und Irrungen auf der Seite der Philosophiereihen.26

22 Ülker/Aries, III. Bonner Said Nursi Symposion, S. 22. 23 Ebd. 24 Siehe auch Karl Löwith, Gott, Mensch und Welt in der Metaphysik von Descartes bis zu Nietzsche, Göttingen 1967. 25 Said Nursi, Sözler, „30. Söz“, S. 576; Nursi, Die Worte, S. 688 (Hervorhebung: I. Y.). 26 Nursi, Sözler, „30. Söz“, S. 577f. (eigene Übersetzung; Hervorhebung: I. Y.).

Said Nursi – Glauben, Kosmos, Scharia

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In diesem Kontext verwirft Nursi – wie er ausführt – den Weg der Philosophen, die den Menschen auf die Ebene des notwendigen Seins (wa¯gˇib al-wugˇu¯b) stellen und damit den Pharaonen Ägyptens gleich werden; Nursi zählt hierzu Philosophen wie Platon, Aristoteles, aber auch muslimische Philosophen wie Ibn Sı¯na¯ und al-Fa¯ra¯bı¯.27 Sie schlossen die Türen zu Ohnmacht und Schwäche, Armut und Not, Mangel und Unvollkommenheit, die wesentliche Merkmale der Menschen sind, und versperrten dadurch den Weg der Anbetung. Dadurch, dass sie im Naturalismus versunken und völlig unfähig waren, sich davon frei zu machen, Gott Partner zuzuordnen, waren sie in der Lage, das breite Tor des Dankes zu finden.28

Im Gegenzug soll der Mensch seine Schwäche, Fehlerhaftigkeit etc. erkennen und bei seinem Schöpfer Zuflucht suchen, wie es die Propheten gelehrt haben.29 „Für Nursi besteht der Schlüssel zum Glauben, inter alia, darin, die Zeichen zu entziffern, die ‚im Selbst und an den Horizonten‘ existieren, um den Talisman der Schöpfung zu entriegeln und den wahren Wert des Menschen zu offenbaren, nämlich seine Stellung als Vizeregent Gottes.“30 Auch die winzigsten Bestandteile wie Partikel, Atome etc. erhalten in Nursis System einen bestimmten Sinn. In der fleischlichen oder pflanzlichen Nahrung, die der Mensch einnimmt, gibt es feinste Teilchen, deren Aufgabe es ist, bis in die feinsten Poren, Zellen und Ecken des menschlichen Körpers vorzudringen, um diesen mit Energie und Nahrung zu versorgen. Was jedoch, wenn diese es nicht täten?! Oder wer sagt es ihnen, dass sie es tun sollen?! Dies sei ein Hinweis auf einen Schöpfer – so Nursi.31 Unter der Überschrift „Zweite Ausführung“ fasst Said Nursi die Aufgaben der kleinsten Teile folgendermaßen zusammen: 1) Die feinsten Teilchen haben die Aufgaben, Dinge, die sich ähneln, anders aussehen zu lassen, „aufs Neue einzukleiden“. 2) Sie existieren, damit neue Produkte auf der Erde angebaut werden können und Gott die „zahllosen Wunder Seiner Kraft säe und ernte“. 3) Sie sollen die Unterschiede, z. B. von landwirtschaftlichen Produkten, zeigen, auch wenn sie der gleichen Sorte angehören, wie z. B. die Blätter, Blüten und das Obst von einem Baum, der im letzten wie auch in diesem Jahr die gleichen Produkte hervorgebracht hat. (Sie werden als Zeichen der Gottesnamen immer wieder neu zum Vorschein gebracht.)

27 28 29 30 31

Vgl. Nursi, Die Worte, S. 692. Nursi, Sözler, „30. Söz“, S. 579; Nursi, Die Worte, S. 693. Vgl. ebd. Turner, „Das Menschenbild“, S. 57f. Vgl. Nursi, Sözler, „30. Söz“, S. 589; Nursi, Die Worte, S. 702.

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Ismail H. Yavuzcan

4) Sie sind geistige Vorprodukte für das ewige Leben. „So erzeugt ER in dieser kleinen Welt gewaltige Mengen Ernte, die für jene riesigen Welten angemessen sind.“ 5) Sie zeugen von der Kraft, der Reinheit, der Schönheit und Unvergleichlichkeit Gottes.32 Und da jedes Teilchen in Verbindungen eingebettet ist und mit jeder Facette der Verbindung unterschiedliche nützliche Beziehungen und wohlgeordnete Pflichten eingeht, woraus weise Ergebnisse entstehen, kann es nur ein Wesen sein, das in der Hand jener Macht ist, die das gesamte Universum im Griff hat und die jenes Teilchen so einsetzt, dass es alle Verbindungen und Pflichten in jenen Sphären bewahrt und nicht die klugen Ergebnisse verdirbt.33

Hierin liegt eine bestimmte Methode begründet, die Nursi immer wieder anwendet: Durch einfache Vergleiche, die sich z. B. auf Naturphänomene und kausale Zusammenhänge beziehen, die logisch erfassbar sind, versucht er, den Leser auf die Macht, die hinter diesen Phänomenen liegt, zu führen. Die erweiterte Allegorie des Risale als Gebäudekomplex mag zwar so aussehen, als sei sie wenig mehr als eine schmückende literarische Eitelkeit, dennoch ist sie durchaus nützlich. Sie kommt Nursis ausgiebigem und extravagantem Gebrauch der Allegorie und Metapher entgegen und erinnert uns daran, dass er in erster Linie ein kommunikativer Mensch war, mit dem Gespür des Redners dafür, was sich am besten dazu eignet, das Verständnis der übermittelten Botschaft zu erleichtern.34

Dies wird auch in seiner folgenden Ausführung deutlich.

3.2

Tabiat Risalesi/Abhandlung über die Natur35

In der Abhandlung über die Natur versucht Said Nursi die Thesen derjenigen zu widerlegen, die nicht an die Existenz Gottes glauben. Er präsentiert drei Thesen als Grundaussagen ihrer Weltanschauung: 1) Die Ursachen sind es, die es erschaffen, bzw. die Gründe/Sachen erschaffen dieses Ding (dies). 2) Es entwickelt sich, entsteht und wird von sich aus. (Es bildet sich selbst; es entsteht und hört später auf zu existieren.)

32 33 34 35

Vgl. Nursi, Sözler, S. 591f. Ebd., S. 592; Nursi, Die Worte, S. 708. Turner, „Das Menschenbild“, S. 54. Nursi, Tabiat Risalesi, Istanbul 2008; siehe auch „23. Lichtblitz“ im Werk Lichtblitze (Sualar).

Said Nursi – Glauben, Kosmos, Scharia

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3) „Es erfordert die Natur“, d. h. es ist natürlich; die Natur erfordert es und bringt es zu Stande.36 Zur ersten Hypothese führt er ein Beispiel an: Man solle sich eine Apotheke mit Arzneimitteln vorstellen, in der es viele lebenswichtige Salben und Mixturen gebe: Jedes dieser Gläser enthält eine bestimmte Menge, ein, zwei Gramm von diesem, drei, vier Gramm von jenem, sechs, sieben Gramm von etwas anderem usw. Es wurden verschiedene Mengen unterschiedlicher Arzneimittel verwendet. Hätte man ein Gramm mehr oder weniger entnommen, wäre diese Salbe nicht mehr lebensfähig, könnte ihre Wirkung nicht mehr zeigen.37

Oberflächlich betrachtet müsste man annehmen, dass diese zufällig entstanden sei. Dies wäre absurd; man müsse nach dem Erfinder fragen und dies wäre der Apotheker. In diesem Zusammenhang spricht Said Nursi von der „gigantischen Apotheke des Universums“, das heißt: Es entsteht nichts von selbst.38 Ein weiteres Beispiel bezieht sich auf eine Fliege: Um die Fliege zu erschaffen, müssten alle Akteure der Natur im Wesen der Fliege anwesend sein, um so ein kompliziertes Wesen erschaffen zu können. Denn ihre Teile stehen in einem komplizierten Zusammenhang mit der Natur selbst. Die Geschöpfe werden aus einer Hand geschaffen, so der nächste Hinweis.39 Denn das Wesen der Dinge ist viel komplizierter als ihre Ausführungen bzw. Körper. Wie kann die bewusstlose Natur dies zustande bringen? – So fragt Nursi. Zur zweiten Hypothese führt Nursi aus, dass es eigentlich ausreiche, wenn der Mensch sich selbst beobachten würde. Denn viele kleine Bestandteile, Apparate und Fabriken passten gleichzeitig darauf auf, dass der Organismus funktioniere und es zu keinen Funktionsstörungen komme. Wenn dies nicht so wäre und es eines bewusstlosen Apparates bedürfte, um die Sehkraft zu organisieren, so bräuchte man eventuell für das Auge eine eigene Apparatur, die es koordinieren müsste. Er müsste das Gesicht, die Person, die Vergangenheit, die Zukunft der Person etc. kennen.40 Um den imaginären Atheisten zu überzeugen, führt Nursi das Beispiel eines prächtigen Schlosses an, das ein beschränkter, machthungriger Mensch aufsucht und nach dessen Besitzer und Erbauer sucht. Dabei findet er schließlich ein Heft, in dem die Bestandteile des Schlosses aufgeführt sind, und er kommt zum Schluss, dass das Heft der Erfinder sei: „Was für ein Unsinn und eine Dumm36 37 38 39 40

Vgl. ebd., S. 7 (und Übersetzung: I. Y.). Vgl. ebd., S. 9. Vgl. ebd., S. 9ff. Vgl. ebd., S. 15f. Vgl. ebd., S. 20f.

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heit“, so Nursi. Es folgen mehrere Beispiele, die den Naturphilosophen davon überzeugen sollen, dass nichts von alleine entstehen könne und es einen weisen Schöpfer geben müsse, der alle Dinge beisammen hält.

4.

Die Scharia (sˇarı¯ʿa)

Scharia ist mittlerweile ein Begriff, der über die Medien in fast aller Munde ist. Zum einen sei darauf hingewiesen, dass, wenn von Scharia gesprochen wird, nicht ausschließlich das islamische Strafrecht gemeint ist. Denn im muslimischen Selbstverständnis wird der Begriff viel weiter gefasst. So fallen auch die gottesdienstlichen Handlungen, wie z. B. das Gebet, das Fasten usw. unter die Bestimmungen der Scharia. Den Begriff Scharia benutzt Said Nursi in sehr unterschiedlichen und auch ungewöhnlichen Zusammenhängen. Scharia ist für Nursi das göttliche System, dem man sich zu unterwerfen hat. Er fordert z. B. seine Schüler auf, die Zeichen (genauer die Namen Gottes), die sich in der Scharia und in den Taten des Propheten ausdrücken, im eigenen Ego zum Wirken zu bringen. Denn wenn du deine Taten den Regeln der Scharia unterwirfst, so entsteht daraus eine Art Gottesanbetung und es gibt viele Früchte für das Jenseits. Du hast beispielsweise etwas gekauft. In dem Moment, da du das von der Scharia Akzeptierte und Verlangte anwendest, gewinnt dieser gewöhnliche Akt des Kaufes den Wert der Gottesanbetung. Wenn man an die Vorschriften der Scharia denkt, so denkt man auch an die Offenbarung. Und der Gedanke an den Gesetzgeber lenkt dich zu Gott.41

Er betont, auch die Scharia Muhammads bezeuge, dass das Leben, die Lichter, die ˙ Elektrizität, die aus fließender Materie entstanden sind, geistigen und engelhaften Ursprungs seien. Die Ruhmreiche Scharia Muhammads (Heil und Segen Gottes sei mit ihm) und der ˙ Koran der Wunderhaften Darlegung nennen diese Wesen, die aus Feuer, Licht und sogar aus Elektrizität und anderer feinedler, fließender Materie geschaffen sind, die Engel, die Dschinnen und die Geistwesen.‘42

Hier ist klar eine Wendung in der islamischen Kosmologie zu erkennen, die sich zum einen sufischer Elemente bedient, zum anderen aber Errungenschaften der Moderne in den Dienst des Islam stellen möchte, um die Ambivalenz zwischen Spiritualität und Materie zu überwinden. Eine deutlichere Positionierung für die Scharia erfahren wir aus den Verhandlungen vor dem Kriegsgericht in der Zeit der Jungtürken. 41 Nursi, Die Worte, S. 463; Nursi, Sözler, „24. Söz“, S. 382 (Hervorhebungen: I. Y.). 42 Ebd., S. 346.

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Zu Beginn des Verhörs stellte man Nursi einige Fragen, die allen Angeklagten gestellt wurden, darunter die Frage: ‚Wolltest du die Scharia? Diejenigen, die dafür waren, werden wie die da draußen.‘ Nursi antwortet darauf: ‚Hätte ich tausend Leben, dann wäre ich bereit, alle für eine Wahrheit der Scharia zu opfern, denn sie ist die Quelle von Glück und Wohlstand, reiner Gerechtigkeit und Tugend. Sie ist jedoch nicht so, wie jene es wollten, die rebelliert haben.‘43

Eine interessante Wendung bekommt der Begriff der Scharia, der oft unzulänglich mit „Gesetzgebung“ übersetzt wird, durch die Differenzierung in fitrı¯ ˙ und takwı¯nı¯ Scharia. „Er sagt, es gebe zwei Arten von Scharias (Gesetzen). Einmal die Scharia der Schöpfung (takwı¯nı¯-Scharia), die aus dem Attribut des Willens herrührt, und die zweite Form, die legislative, die aus dem Attribut der Sprache hervorgeht.“44

5.

Risale-i Nur als Korankommentar und ihre Besonderheit

Für den Autor selbst stellt sein Werk Risale-i Nur einen Kommentar zum Koran dar. Es ist aber kein Korankommentar im klassischen Sinne, sondern gehört zur Gruppe der „Isˇa¯rı¯-Kommentare“ (allegorische). Schon seit der frühen islamischen Zeitrechnung gibt es diese Methode, die davon ausgeht, dass die Verse im Koran neben ihrer offensichtlichen auch eine verdeckte, noch zu entdeckende Bedeutung haben.45 Wobei der Koran selbst den Leser auffordert, über die Bedeutung der Verse46 nachzudenken. Es gibt unterschiedliche Kommentare zum Koran, wobei die sog. Isˇa¯rı¯Kommentare bzw. allegorischen Kommentare, die vor allem unter Sufis verbreitet sind und von einem tieferen bzw. verborgenen Sinn der Verse ausgehen, von der Mehrheit der Korankommentatoren skeptisch bewertet werden.47 Dies hat in der Tradition der Koranexegese dazu geführt, dass man sich vor allem auf die Überlieferungen, die auf den Propheten und seine Gefährten zurückgingen (tafsı¯r bi ’r-riwa¯ya) beschränkte, um Fehler auszuschließen. Denn hier ging man von der Grundlage aus, dass nur der Prophet und seine Gefährten den Offenbarungstext am besten verstanden haben könnten. Mit der weiteren Ausarbeitung der islamischen Wissenschaften und den aufkommenden neuen Fragen aufgrund der Erweiterung des islamischen Raumes kamen Erkenntnisse aus den Bereichen fiqh, kala¯m und tasawwuf hinzu, die zu einer Bereicherung ˙ 43 Vahide, Islam in der modernen Türkei, S. 95. 44 Faris Kaya, „Das Risale-i Nur. Eine koranische Antwort auf die globalisierte Welt“, in: Ülker/ Aries, III. Bonner Said Nursi Symposion, S. 210f. (Hervorhebungen: I. Y.). 45 Vgl. Niyazi Beki, Kur’an’ın Yüksek ve Parlak Bir Tefsiri Risale-i Nur, Izmir 2008, S. 310ff. 46 Siehe an-Nisa¯ʾ 4/82; Muhammad 47/24. ˙ Tefsir Tarihi ve Usulü, Eskis¸ehir, 2010, S. 140ff. 47 Vgl. Bahattin Dartma (Hg.),

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des Textverständnisses führten (tafsı¯r bi ’d-dira¯ya). Moderne Kommentatoren wiederum versuchen auf Grundlage der Erkenntnisse der modernen Wissenschaften den Koran auszulegen und den Lesern ihre Interpretation zu vermitteln. Schließlich hat die Bereicherung durch die verschiedenen Disziplinen dazu geführt, dass ein und derselbe Vers sehr unterschiedlich verstanden und ausgelegt werden kann.48 Nach Ima¯m al-G˙azza¯lı¯, so Said Nursi,49 gibt es die wörtlichen und die sinngemäßen Kommentare der Koranverse. Denn viele Verse erlauben keine wortwörtliche Auslegung, sondern bedürfen einer eingehenden Erörterung. Dieser Tradition fühlt sich auch Nursi verpflichtet, wobei vermerkt werden muss, dass er an vielen Stellen seines Werkes davon spricht, dass die Ausarbeitung seiner Abhandlungen nur durch „Eingebung“ (ilha¯m) erklärt werden könne, was letztlich bedeuten soll: Nicht er ist für diese verantwortlich, sondern die „göttliche Inspiration“. Damit akzeptiert er auch nur den Koran als einzigen Wegweiser und Quelle. „Somit ist er der größte Wegweiser und der Heiligste aller Gelehrten.“ Nursi schrieb die Schriften nicht sich selbst zu, sondern sagte, sie gingen direkt aus dem Koran selbst hervor, und sie seien „Strahlen, die aus seinen Wahrheiten heraus leuchteten.“ Er sieht in seinem Kommentar (der Risale-i Nur) einen „spirituellen Kommentar“ (maʿnawı¯), der auf „beispiellose Art und Weise engstirnige Philiosophen zum Schweigen“50 bringe. Die Verse, die am meisten im Risale-i Nur gedeutet werden, sind diejenigen, die sich mit den Wahrheiten des Glaubens beschäftigen, wie z. B. die Göttlichen Namen und Attribute, die Göttliche Aktivität im Universum, die Göttliche Existenz und Einheit, die Wiederauferstehung, das Prophetentum, die Göttliche Vorherbestimmung oder das Schicksal sowie die Pflichten der Menschen und Gottesdienst.51

Said Nursi sieht sich hierbei in der intellektuellen Genealogie von Imam Rabba¯nı¯52 und Imam G˙azza¯lı¯.53 Er geht einen Schritt weiter und schreibt (an einen Schüler), Imam Rabba¯nı¯ habe geschrieben, dass jemand in der Zukunft kommen werde und er (Nursi) eine Vorarbeit für diesen leiste.54

48 Vgl. „Tefsir“, in: Islam Ansiklopedisi, TDV, Istanbul 2010. 49 Nursi, Isaratul Icaz, S. 452. 50 Nursi, S¸ualar, „14. S¸ualar“, S. 329; Nursi, Strahlen. Kommentare zum Qur’an von Bediuzzaman Said Nursi aus dem Gesamtwerk Risale-i Nur, Köln 2009. 51 Ülker/Aries, III. Bonner Said Nursi Symposion, S. 21. 52 Imam Rabba¯nı¯ Sˇayh Ahmad al-Fa¯ru¯qı¯ al-Sirhindı¯ (1564–1624), indischer Sufi, führende ˙ ˘ ˇbandı Persönlichkeit des Naqs ¯-Ordens. 53 Abu¯ Ha¯mid Muhammad b. Muhammad al-G˙aza¯lı¯ (1058–1111), lat. Algazel, persisch-isla˙ Theologe, ˙ Philosoph und˙ Mystiker. Zahlreiche Abhandlungen zur Mystik, Theologie, mischer Philosophie und Jurisprudenz. 54 Vgl. Said Nursi, Barla Lahikası, Yeni Asya, Istanbul 2000, S. 177.

Said Nursi – Glauben, Kosmos, Scharia

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Der Koran ist für Said Nursi das Dokument seines Letztbezuges – so erklärt sich auch die Aussage von Said Nursi, dass er keine weiteren Bücher außer dem Koran bräuchte, weil dieser selbst eine vorzügliche Quelle darstelle: etwa so, als würde nicht er, sondern der Koran selbst ihn zum Schreiben und Nachdenken antreiben. Es geht um die letztendliche Begründung der Gesellschaft, die in der Moderne individualisiert und kommerzialisiert ist, doch keine letztgültigen Antworten liefert und den Seelen, den Suchenden, mehr Fragen als Antworten bietet. Said Nursi möchte, wie eben ausgeführt, mit seinem Werk zu einer Aussöhnung von Wissenschaft und Glaube, genauer: von Spiritualität und Materie, beitragen. Deshalb ging es Said Nursi weniger um die öffentliche Anerkennung seiner Werke als vielmehr um die Begleitung seiner Jünger und den Lesern seiner Werke, die elementaren Fragen, wie denjenigen nach dem Sinn des Lebens, dem Sinn des Leidens oder dem Tod, ausgesetzt sind. Said Nursi wandte sich der letzten Verantwortung zu und bezeugte dies durch sein Werk und seine Leidensgeschichte. Es gehe „um das Verhältnis von Spiritualität und Gesellschaft, in gelebtem Glauben und der Meinung, dass jegliches Verhalten zur transzendentalen Offenheit des Menschen überflüssig geworden sei.“55

6.

Schluss und Ausblick

Nursis Lösung war die Rückbesinnung auf den Koran als Glaubensquelle und die bewusste Entscheidung zum Leben im Glauben. Die Gegenthese dazu hieß, dass der Islam mit der Moderne und insbesondere mit den Errungenschaften der Moderne, wie Elektrizität, Fabriken, Maschinen, Labore etc. nicht vereinbar sei. Daher versuchte Bediuzzaman zu zeigen und zu beweisen, dass diese Anschuldigungen falsch waren, und dass der Koran weit davon entfernt war, mit der Wissenschaft und dem Fortschritt unvereinbar zu sein, sondern sogar die Quelle wahren Fortschritts und der Zivilisation darstellte, und dass der Islam in Zukunft beherrschend sein würde trotz seines verhältnismäßigen Niedergangs und Rückschritts zu jener Zeit.56 55 Wolf D. Aries, „Vorwort“, in: Ülker/Aries, III. Bonner Said Nursi Symposion, S. 7. 56 Vgl. Ülker/Aries, III. Bonner Said Nursi Symposion, S. 19. Diese Sichtweise, die sich durchgehend auch im Werk von Said Nursi nachweisen lässt, verdient eigentlich eine kritische Würdigung. Sie repräsentiert teilweise die Ohnmacht der Gläubigen vor der Aufklärung und der Moderne. Sie kann auch als naive Wissenschaftsgläubigkeit interpretiert werden, ist aber zugleich ein Merkmal dafür, wie Wissenschaft von der politischen Elite (z. B. den Kemalisten der Türkei) instrumentalisiert wird, um eigene weltanschauliche Positionen zu untermauern, siehe u. a. Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. M. 1977.

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Hierzu musste Said Nursi als charismatische Persönlichkeit, die sich klar in der Tradition von Imam al-G˙azza¯lı¯ und Imam Rabba¯nı¯ sah, zum einen die mystische Symbolik in sein Werk einführen, aber auch die Moderne für sich zum Sprechen bringen, indem er Errungenschaften der Moderne, wie z. B. die Elektrizität als Ausdruck der Asma¯ʿ al-husna¯ (schönsten Namen Gottes), umgedeutet oder sich ˙ ihrer bediente, wenn er seinen Lesern und Zuhörern Glaubensinhalte unter Rückgriff auf Analogien vermitteln wollte. Dabei sprach er beispielsweise aus der Perspektive einer Ameise von Fabriken und Maschinen in der Natur, wobei er seine Schüler in der Gewissheit bestärkte, dass die modernen Wissenschaften wie Biologie, Chemie, Medizin etc. nicht zum Unglauben beitrügen, sondern im Gegenteil die Gläubigen im Glauben bestärkten und ihnen dabei behilflich seien, die Namen Gottes in ihnen selbst und in der Natur (die er als mugˇassam Qurʾa¯ni akbar-i ʿa¯lam: als großen, als verkörperlichten, großen Koran bezeichnete) zu verstehen. Die Schüler von Bediuzzaman gehen sogar noch einen Schritt weiter und behaupten, dass erst durch das Risale-i Nur viele Mysterien der Religion gelöst worden seien, wie die körperliche Wiederauferstehung und die Göttliche Vorherbestimmung, der Willen des Menschen, das Rätsel der ständigen Aktivität im Universum sowie die Bewegung der Partikel, wozu der Mensch, der sich auf seinen eigenen Verstand und auf die Philosophie verließ, unfähig war.57

Auch in diesen Bemerkungen wird ein naives Verständnis von Wissenschaft deutlich: Wissenschaftliche Erkenntnis wird als gesetzte Objektivität wahrgenommen und akzeptiert. Dass Wissenschaft auch ideologisch geprägt und als Machtinstrument eingesetzt wird, um Herrschaft zu legitimieren, wird nicht in Betracht gezogen. Zum anderen wird vorausgesetzt, dass der Mensch der Moderne seine Existenz hinterfragt und nach Antworten für elementare Fragen sucht. Offensichtlich ist auch, dass das Politische gänzlich aus dem Blickwinkel fällt, was angesichts der Verfolgung durch staatliche Stellen allerdings verständlicher erscheint. Dies sollte aber Forscher nicht daran hindern, Nursis Werk einer kritischen Beurteilung zu unterziehen. „Wenn nicht, wird Nursis magnum opus zumindest im Westen weiterhin eine zwar faszinierende, doch kaum verstandene Kuriosität bleiben.“58

57 Ebd., S. 22. 58 Turner, „Das Menschenbild“, S. 83.

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Literatur Aries, Wolf D., „Vorwort“, in: Ülker/Aries (Hg.), III. Bonner Said Nursi Symposion: Gläubige Bürger in der pluralen Gesellschaft – Muslime im Dialog, Münster 2006, S. 7–9. Aries, Wolf D./Ülker, Rüstem (Hg.), Dietrich Bonhoeffer, Alfred Delp und Said Nursi: Christentum und Islam im Gegenüber zu den Totalitarismen. Erträge aus dem III. Said Nursi-Symposion (Haus der Geschichte, Bonn 2004), Münster 2004. Beki, Niyazi, Kur’an’ın Yüksek ve Parlak Bir Tefsiri Risale-i Nur, Izmir 2008. Dartma, Bahattin (Hg.), Tefsir Tarihi ve Usulü, Eskis¸ehir, 2010. Foucault Michel, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. M. 1977. Güzel, Ragıp (Hg.), Yunus Emre, Divani, 1998. Heidegger, Martin, Sein und Zeit, München 2001. Islam Ansiklopedisi, Bd. 40, ISAM, Istanbul 2010. Kaya, Faris, „Das Risale-i Nur. Eine koranische Antwort auf die globalisierte Welt“, in: Ülker/Aries (Hg.), III. Bonner Said Nursi Symposion: Gläubige Bürger in der pluralen Gesellschaft – Muslime im Dialog, Münster 2006, S. 203–212. Löwith, Karl, Gott, Mensch und Welt in der Metaphysik von Descartes bis zu Nietzsche, Göttingen 1967. Mardin, Serif, Bediuzzaman Said Nursi Olayı, I˙letis¸im, Istanbul 2010. Nursi, Said, Die Worte – Nachdenkliches zum Koran, Sözler, Istanbul 2006. Ders., Sözler, Zehra Yayıncılık, Istanbul 2000. Ders., Barla Lahikası, Yeni Asya, Istanbul 2000. Ders., ˙I¸saratül ˙Icaz, Yeni Asya, Istanbul 2006. Ders., Lichtblitze, Sözler, Istanbul 2007. Ders., S¸ualar, Yeni Asya, Istanbul 2000. Ders., Tabiat Risalesi, Istanbul 2008. Ders., Strahlen. Kommentare zum Qur’an von Bediuzzaman Said Nursi aus dem Gesamtwerk Risale-i Nur, Köln 2009. S¸ahinöz, Cemil, Die Nurculuk Bewegung. Entstehung, Organisation und Vernetzung, Yeni Nesil, Istanbul 2009. Turner, Colin, „Das Menschenbild im Islam in der Sicht Said Nursis“, in: Aries/Ülker (Hg.), Das Bild vom Menschen. IV. Bonner Said Nursi Symposium 2007, Münster 2009, S. 49–83. Tyrell, Hartmann, „Soziologie: ‚Der Mensch ohne Gott‘“, in: Ülker/Aries (Hg.), III. Bonner Said Nursi Symposion: Gläubige Bürger in der pluralen Gesellschaft – Muslime im Dialog, Münster 2006, S. 93–102. Ülker, Rüstem/Aries, D. Wolf, III. Bonner Said Nursi Symposion: Gläubige Bürger in der pluralen Gesellschaft – Muslime im Dialog, Münster 2006. Vahide, S¸ükran, Islam in der modernen Türkei. Die intellektuelle Biografie des Bediuzzaman Said Nursi, Münster 2009.

Frederek Musall

„Philosophie“ aus der Sicht Said Nursis: Eine Reflexion über das „12.“ und „30. Wort“

Nicht dass hier ein falscher Eindruck entsteht: Der Autor ist kein Fachmann, was das Denken von Bediuzzaman Said Nursi (ca. 1876–1960) angeht. Said Nursi ist ihm zwar durchaus kein Fremder, da er ihm bereits während seines islamwissenschaftlichen Studiums wiederholt begegnete; jedoch liegen die Forschungsinteressen des Autors – aus dem Bereich der jüdischen Philosophie und Geistesgeschichte kommend – eher auf den Denktraditionen islamisch-arabischer Philosophie (arab. falsafa), wie sie durch Abu¯ Nasr Muhammad al-Fa¯ra¯bı¯ (lat. ˙ ˙ Alpharabius, 870–950), Abu¯ ʿAlı¯ al-Husayn b. Sı¯na¯ (lat. Avicenna, 980–1037) und ˙ Abu¯ l-Walı¯d Muhammad b. Rusˇd (lat. Averroes, 1126–1998) verkörpert werden. ˙ Jenen Denkern also, die Said Nursi in seiner Betrachtung der Philosophie einer scharfen Kritik unterzieht. Was dem Autor in diesem Zusammenhang den Zugang zu seinem Denken erleichtert, ist, dass er in seinen Einwänden und Argumenten gegen die Philosophie diverse Berührungspunkte zu anderen, ihm vertrauteren Philosophie-Kritikern auszumachen vermag, wie etwa dem persisch-muslimischen Rechtsgelehrten, Theologen und Mystiker Ima¯m Abu¯ Ha¯mid al-G˙aza¯lı¯ (lat. Algazel, 1058–1111) – der, wie sich zeigt, in Nursis Denken ˙ eine zentrale Rolle spielt – oder dem andalusisch-jüdischen Dichter und Arzt Jehudah ha-Lewi (1075–1141/2), dessen Religionsdialog Kita¯b al-Hazarı¯ (Buch ˘ des Chazaren[königs], eigentlich Kita¯b ar-radd wa-d-dalı¯l fı¯ nusr ad-dı¯n ad-dalı¯l ¯ ¯ ˙ oder Das Buch der Erwiderung und des Beweises zur Verteidigung des verachteten Glaubens) den Konflikt zwischen dem seiner Schöpfung indifferent gegenüberstehenden „Gott des Aristoteles“ und dem „Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs“, der in die Geschichte eingreift, zum Gegenstand hat.1 Ein Beitrag über die Philosophie aus der Sicht Said Nursis ließe sich im Grunde genommen recht kurz abhandeln: Denn dass der spätere Nursi als ein vehe1 Man darf dabei nicht außer Acht lassen, dass trotz der scharfen Vorwürfe, die al-G˙aza¯lı¯ und haLewi in ihren maßgeblichen Kritiken Taha¯fut al-fala¯sifa (Die Widersprüchlichkeit der Philosophen) bzw. Kita¯b al-Hazarı¯ gegen die Philosophen vorbringen, ihre Werke eigentlich phi˘ losophische Auseinandersetzungen mit den Grenzen der Vernunft sind.

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Frederek Musall

menter Kritiker der Philosophie auftritt, ist wohl hinreichend bekannt und braucht nicht extra betont werden. Doch es wäre zu einfach, den Gehalt seiner Kritik allein auf ihre polemische Form und Artikulation zu reduzieren. Indem Nursi immer wieder an verschiedenen Stellen seiner Werke das Spannungsverhältnis zwischen Religion und Philosophie, zwischen Theismus und Atheismus thematisiert, wird deutlich, dass sein bewusster Umgang mit dieser Fragestellung – ähnlich wie bei al-G˙aza¯lı¯ und ha-Lewi – ein im Grunde genommen philosophischer ist. Die hier vorgenommene Darstellung von Nursis Ansichten über die Philosophie fußt im Wesentlichen auf dem „12.“ und „30. Wort“ der Sammlung jener „Worte“, die einen Teil seines umfangreichen Gesamtwerkes Risale-i Nur ausmachen. In ihnen spiegelt sich folglich die Ansicht des „Neuen Said“ wider, der hier von seinen früher vertretenen philosophischen Positionen Abstand nimmt.2 Im „12. Wort“, in welchem Nursi über den Begriff der „Weisheit“ (hikma) ˙ reflektiert, versucht er die vier Prinzipien einer „koranischen Weisheit“ in einem kontrastierenden Vergleich mit der „Weisheit der Philosophie“ herauszuarbeiten. Das erste Prinzip führt er illustrativ durch das folgende Gleichnis ein:3 Einst gab es einen Herrscher, der zugleich auch ein gebildeter Religionsgelehrter und geschickter Kunsthandwerker war. Dieser wollte seinem Wissen und seinem Können dadurch Ausdruck verleihen, indem er einen kunstvoll in goldenen Lettern geschriebenen Koran verfasste, welchen er in einen Einband aus wertvollen Juwelen kleidete. Das ganze aufwendige Zierwerk sollte jedoch nur einem einzigen Zweck dienen, nämlich dem Verweis auf den kostbaren Inhalt des Buches. Nach Abschluss seiner Arbeit lud der Herrscher einen fremden Philosophen und einen muslimischen Gelehrten ein, damit sie sein Werk begutachteten. Da der Philosoph jedoch des Arabischen unkundig war, vermochte er nichts mit dem Inhalt des Buches anzufangen, wohingegen er aufgrund seines umfassenden Wissens über die natürliche Welt dessen materiellen Wert sehr wohl einzuschätzen wusste.4 Den muslimischen Gelehrten dagegen beeindruckten die äußerlichen Verzierungen nicht; er verstand sofort, dass es sich bei dem Buch um einen Koran handelte, und so widmete er sich in seinem Traktat der Entschlüsselung der darin verborgenen Weisheiten. 2 Diesbezüglich möchte der Autor anmerken, dass in diesem Zusammenhang noch andere Aspekte für die hier präsentierte Fragestellung bedeutsam wären, wie etwa Nursis Begriff einer „islamischen Wissenschaft“ oder aber seine Bemühung klassischer kala¯m-Argumentationen gegen das (aristotelisch geprägte) Kausalprinzip. 3 Vgl. Bediuzzaman Said Nursi, „Das zwölfte Wort“, in: ders., Die Worte – Über die Natur des Menschen, seinen Zweck und die Dinge insgesamt, (übers. vom Team), Köln/Istanbul 2002, S. 178f. 4 Das erinnert an ein berühmtes Zitat von Oscar Wilde: „What is a cynic? A man who knows the price of everything and the value of nothing“, Oscar Wilde, „Lady Windermere’s Fan“, in: ders., First Collected Edition of the Works of Oscar Wilde, hrsg. v. Robert Ross, London 1969, S. 134.

„Philosophie“ aus der Sicht Said Nursis

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Als die beiden dem Herrscher ihre jeweiligen Ergebnisse vorlegten, nahm sich dieser zuerst die Abhandlung des Philosophen vor: Jener war zu dem Schluss gekommen, dass das Buch zwar unermesslich wertvoll, aber im Grunde auch völlig sinnlos und unnütz sei, da sein Inhalt nur aus unverständlichem Gekritzel bestehe. Erzürnt über solchen Frevel schlug der Herrscher dem Philosophen sein Traktat über den Kopf und verbannte ihn umgehend von seinem Hof. Nachdem sich sein Gemüt wieder beruhigt hatte, wandte er sich dem muslimischen Gelehrten zu und gelangte nach der Lektüre von dessen Abhandlung zu der Feststellung, dass dieser einen ebenso vorzüglichen wie tiefsinnigen Koran-Kommentar verfasst hatte. Dafür belohnte der Herrscher ihn reichlich, indem er ihm 10 Goldmünzen pro im Koran enthaltenen Buchstaben gab. Wie Nursi nun im Weiteren erläutert, erlaubt das Gleichnis, eine Analogie zwischen dem Koran und der Welt aufzustellen, die der materialistisch orientierte Philosoph in seiner Ignoranz jedoch nicht zu erkennen vermag.5 Er ist fixiert auf den juwelengeschmückten Einband, also die Äußerlichkeiten der Existenz, anhand derer er die Dinge rationalisieren und quantifizieren kann und sich dadurch im Besitz eines objektiven – d. h. wahren – Wissens über die Welt glaubt. Doch anstatt zu verstehen, dass die im Buch der Welt enthaltenen Buchstaben auf die Existenz eines Schreibers hinweisen, der ihnen überhaupt erst eine Bedeutung verleiht, schreibt der Philosoph diesen irrtümlich zu, dass sie ihre Bedeutungen in sich selbst enthalten. Sein hermeneutischer Zugang zur Welt beschränkt sich also auf den Literalsinn; mehr noch, er ist gerade mal fähig einzelne Buchstaben zu entziffern. Der Wortzusammenhang erschließt sich ihm jedoch nicht, denn er betrachtet die Dinge ja als eigenständig und damit losgelöst von ihrem eigentlichen Schöpfungszweck. So gelangt Nursi zu dem Schluss: „Philosophie ohne Religion ist Haarspalterei fern der Realität und eine Beleidigung des Universums.“6 Um die Welt als Buch, das Buch als Welt zu lesen, bedarf es der Entwicklung und Ausbildung einer entsprechenden Sprachkompetenz, die dem Menschen dann einen komplexen hermeneutischen Zugang eröffnen kann. Daraus, wie wir das Universum und die darin enthaltenen Dinge wahrnehmen und entziffern, wie wir mit ihnen verfahren, leitet sich nun unser grundsätzliches moralisches Verständnis ab, wie Nursi anhand des zweiten Prinzips erläutert.7 Auch hier könnten die Perspektiven, welche die Weisheit der Philosophie und die koranische Weisheit eröffnen, kaum gegensätzlicher sein. Den Philosophen setzt Nursi mit dem Pharao gleich, „der die niedrigsten Dinge nur wegen ihres Nutzens anbetet.“8 Um den auch noch so geringsten Profit zur Befriedigung seiner Be5 6 7 8

Bediuzzaman Said Nursi, „Das zwölfte Wort“, S. 179. Ebd. Vgl. ebd., S. 180. Ebd.

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dürfnisse bemüht, ist er bereit sich einem jeden, von dem er sich einen Vorteil verspricht, zu unterwerfen, oder aber den Schwächeren und Untergebenen rücksichtslos auszubeuten. Der Schüler der koranischen Weisheit lässt sich dagegen nicht von dem trügerischen Schein der diesseitigen Genüsse blenden; er versteht, dass der ihm eigentlich zustehende Lohn im Jenseits auf ihn wartet. Hier lässt sich nach Erachten des Autors eine auffällige Parallele zur Intention von alG˙aza¯lı¯s opus magnum Ihya¯ʾ ʿulu¯m ad-dı¯n (Die Wiederbelebung der religiösen ˙ Wissenschaften) ausmachen, das eben dem Schüler eine Orientierung bezüglich jener 40 Schritte geben will, die dieser auf seinem Weg ins Jenseits beschreiten soll.9 Die beiden hier aufgezeigten moralischen Perspektiven haben wiederum unmittelbare Auswirkungen auf das menschliche Sozialleben, wie Nursi durch das dritte Prinzip deutlich macht.10 Da sie stets nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht ist, ist das „Lebensprinzip“ der materialistischen Philosophie der „Konflikt“ und (Klassen-)Kampf. D. h., dass sie aus Eigeninteresse, zur Erreichung ihrer Ziele, bewusst Konflikte unter den Menschen provoziert und entfacht; Gewalt, die sich in Rassismus und „negativem Nationalismus“ (der in Nursis polemischer Zuschreibung immer der der anderen ist) ausdrückt, ist dabei ihr bevorzugtes Mittel. Somit begeht die Philosophie letzten Endes Verrat an sich selbst, da sie ihrem Anspruch nicht gerecht wird, das Glück der Menschheit zum Ziel zu haben, sondern – im Gegenteil – deren Glück bewusst negiert. Die Philosophie missbraucht also ihre Stellung als vermeintlich objektive und moralische Instanz. Das Ziel der koranischen Weisheit ist dagegen die Tugend, womit Nursi die Beherrschung der Triebe meint; denn durch die bewusste Zurücknahme eigener Interessen vermögen Menschen sich gegenseitig Hilfe zu leisten, wodurch sie 9 Ihyaʾʿulu¯m ad-dı¯n, das al-G˙aza¯lı¯ vermutlich einige Jahre nachdem er seinen Stelle als Lehrer ˙ fiqh („islamische Rechtswissenschaft“) an der prestigeträchtigen Niza¯miyya-madrasa in für ˙ Bagdad aufgegeben hatte, um den Weg des Su¯fı¯ einzuschlagen, verfasst hat, ist in vier ˙ Hauptteile untergliedert, von denen jeder wiederum zehn Bücher umfasst: Der erste Teil handelt von ʿiba¯da¯t (d. h. „gottesdienstlichen Ritualpraktiken“), der zweite von ʿa¯da¯t („sozialen Gewohnheiten“), der dritte von muhlika¯t („ins Verderben führenden Dingen“), die man unbedingt vermeiden soll, und der vierte schließlich von mungˇiya¯t („heilbringenden Dingen“), denen man nacheifern soll. Dieser Aufbau orientiert sich an dem Ziel, den Leser ausgehend von den einfachen und grundlegenden Lehren des Islam schließlich an die mystischen Aspekte der Religion und ihre Deutung heranzuführen. In ihrer Struktur – d. h. ihrer Aufteilung in vierzig Bücher – korrespondiert Ihyaʾ ʿulu¯m ad-dı¯n damit mit jenen ˙ einen gläubigen Muslim schließmaqa¯mat al-arbaʿı¯n („vierzig Stufen oder Stationen“), die lich zur Erlösung und Glückseligkeit hinführen sollen (ein Thema, das al-G˙aza¯lı¯ später noch in einem anderen Werk mit dem Titel Kita¯b al-arbaʿı¯n fı¯ usu¯l ad-dı¯n [Die Vierzig (Stufen), die ˙ eine Zusammenfassung von Ihyaʾ die Wurzeln der Religion betreffen] aufgreifen wird, das als ˙ ʿulu¯m ad-dı¯n betrachtet werden kann). Siehe hierzu auch Frank Griffel, Al-Gha¯za¯lı¯’s Philosophical Theology, New York, NY 2009, S. 215f. 10 Vgl. Bediuzzaman Said Nursi, „Das zwölfte Wort“, S. 180–181.

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schrittweise zu einer humanen Vervollkommnung der Menschheit beitragen. Die koranische Weisheit löst also nach Said Nursi das ein, was die Philosophie verspricht. Das vierte Prinzip hat nicht die Philosophie als Gegenfolie koranischer Weisheit zum Gegenstand, sondern betrifft den prinzipiellen Unterschied zwischen Offenbarung und göttlicher Inspiration, wobei Erstere durch Vermittlung eines Engels erfolgt und Letztere unmittelbar.11 Aus dem von Nursi vorgenommenen Vergleich kann man nun ableiten, was er eigentlich unter Philosophie versteht: Nämlich eine naturalistisch-materialistische Philosophie, die sich nicht zuletzt durch eine ebenso pessimistische wie zynische Sicht auf die Welt ausdrückt. Nicht nur existiert der Mensch inmitten einer ihm fremden Umwelt; aufgrund seines Handelns, das durch seinen Selbsterhaltungstrieb gesteuert wird, und das er irrtümlich als Freiheit begreift, entfremdet er sich immer weiter von ihr. Am Ende wird auch er jenem evolutionären Prozess, den die Existenz für ihn darstellt, zum Opfer fallen, was seine eigene Existenz im Ganzen gesehen bedeutungslos macht. Wie hieraus deutlich wird, setzt sich der hier von Nursi eingeführte Philosophiebegriff genau genommen aus den drei klassischen Positionen des Materialismus zusammen: 1.) dem ontologischen Materialismus, den er anhand des 1. Prinzips darstellt; 2.) dem ethischen Materialismus, den er im 2. Prinzip umreißt; sowie 3.) dem historisch-dialektischen Materialismus, der im 3. Prinzip zum Ausdruck kommt. An einer differenzierten Betrachtung dieser drei unterschiedlichen ideologischen Strömungen scheint Nursi nun nicht sonderlich interessiert zu sein; vielmehr ist ihm wichtig, eine Beziehung zwischen diesen drei Ansätzen herzustellen, um dadurch aufzeigen zu können, dass sich Ontologie und Ethik nicht voneinander trennen lassen. Wenn man so will, spiegelt sich hier auf einer intellektuell-spirituellen Ebene die existenzielle Zweiteilung der Welt in den da¯r al-harb – hier verstanden als der „Welt des Konflikts“ – und den da¯r al˙ isla¯m wider. Im „30. Wort“, worin er unter anderem das Wesen und das Ziel des menschlichen „Ich“ bzw. „Selbstbewusstseins“ (ana¯) erklären will, führt Nursi seine Philosophiekritik weiter aus: Die beiden Lebenswege der Philosophie und des Prophetenamtes finden ihre symbolische Entsprechung in dem Höllenbaum Zaqqu¯m, dessen Früchte „Atheismus, Materialismus und Naturalismus“ sind, und dem Paradiesbaum Tu¯ba¯, dessen Wurzeln in den Himmel wachsen. Die beide ˙ Bäume bilden die janusgesichtige Gestalt des „Ich“.12 11 Vgl. ebd., S. 181–184. 12 Vgl. Bediuzzaman Said Nursi, „Das dreißigste Wort“, in: ders., Die Worte – Über die Natur des Menschen, seinen Zweck und die Dinge insgesamt, (übers. vom Team), Köln/Istanbul 2002, S. 690.

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Das „Ich“ des Prophetenamtes, das sich der existenziellen Abhängigkeit von seinem Schöpfer bewusst ist, begreift sich folglich immer in Beziehung zu diesem, d. h. in einem „Ich und DU“, wobei das „Ich“ sich als Diener des „DU“ versteht.13 Das Gesicht, welches die Philosophie zeigt, wendet sich von eben diesem „DU“ ab; es erachtet nur seine eigene Existenz als notwendig und wesentlich und nimmt folglich eine egozentrische Haltung gegenüber seiner Umwelt ein.14 Seine Wesensaufgabe besteht folglich in der eigenen Selbstvervollkommnung. In diesem Zusammenhang macht Nursi nun Philosophen wie Platon, Aristoteles sowie ihren muslimischen Rezipienten al-Fa¯ra¯bı¯ und Ibn Sı¯na¯ zum Vorwurf, sie würden die Möglichkeit einer solchen Selbstvervollkommnung propagieren, indem sie die „Angleichung“ an das „notwendig existierende Wesen“ – also Gott – zum ultimativen Ziel des Menschen erklärt hätten. Dadurch hätten sie jedoch letztlich dem Polytheismus und den Götzendienst den Weg geebnet.15 Dieser Einwand Nursis irritiert – zumindest den Autor, weshalb er an diesem Punkt kurz kritisch ein- bzw. nachhaken möchte. Schließlich gehen eben auch jene Philosophen, die Nursi hier exemplarisch aufführt, im Grunde genommen davon aus, dass die vom Menschen angestrebte Vollkommenheit in Wirklichkeit niemals erreicht werden kann; es geht ihnen also um das teleologische Prinzip einer solchen „Angleichung“ oder „Vervollkommnung“, weniger um deren tatsächliche Konkretisierung. Wie etwa der jüdische faylasu¯f Moshe ben Maimon (arab. Abu¯ ʿImra¯n Mu¯sa¯ b. Maymu¯n, lat. Maimonides, 1138–1204) in Anlehnung an al-Fa¯ra¯bı¯ in seinem philosophischen Hauptwerk Dala¯lat al-ha¯ʾirı¯n (Der ˙ Wegweiser für die Verwirrten) ausführt, müsse die Gotteserkenntnis – womit er die Erkenntnis von Gottes barmherzigem Wirken in der Welt meint (die unsere einzige Möglichkeit darstelle, eine positive Aussage über Gott zu machen) – auch praktische Konsequenzen haben. Imitatio Dei, die Nachahmung des göttlichen Handelns, ist damit die praktische Wesensaufgabe des Menschen in der Schöpfung. Da diese Position im Grunde genommen auch dem Weg des Prophetenamtes entspricht, wie aus Nursis weiteren Ausführungen deutlich wird, möchte man fragen, warum Nursi dann ein solch harsches Pauschalurteil über die Philosophie – insbesondere über die islamisch-arabische falsafa, die durch den Prozess der „Aneignung und Naturalisierung“16 der griechischen Philosophie durchaus religiös rückgebunden ist – fällt. Der Autor hegt den Verdacht, dass Nursi sich aufgrund seines früheren eigenen Studiums dieser Philosophietradition zwar durchaus bewusst ist, dass es hier Gemeinsamkeiten und Berührungspunkte gibt. Aber es hat ganz den Anschein, als wollte er an dieser Stelle 13 14 15 16

Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 691. Vgl. ebd., S. 692. Abdulhamid I. Sabra, „The Appropriation and Subsequent Naturalization of Greek Science in Medieval Islam“, in: History of Science, 25 (1987), S. 223f.

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vielmehr zum Ausdruck bringen, dass das von der neuplatonischen bzw. aristotelischen Tradition geprägte Gottesbild eines al-Fa¯ra¯bı¯, Ibn Sı¯na¯ oder gar Ibn Rusˇd nicht dem islamischen Gottesbild entspricht; die deistischen Positionen der Ersteren seien gerade deshalb problematisch, da sie – wie bereits al-G˙aza¯lı¯ in seiner umfassenden Kritik gegen die Tradition der fala¯sifa deutlich gemacht hat – gegen grundsätzliche Prinzipien des Islam verstießen, wie beispielsweise die Fürsorge Gottes für Seine Schöpfung bis hin zur Auferstehung (arab. qiya¯ma).17 Das „Ich“ der Philosophie nimmt also, wie Nursi es ausdrückt, „die Zügel in die eigene Hand und geht in die Irre.“18 Mehr noch: Sein selbstherrlicher Ritt führt über die Leichenberge der Geschichte, um hier ein Motiv von Walter Benjamin zu bemühen,19 denn: „In der Macht liegt das Recht“ oder „Der Gewinner nimmt alles“.20 Doch dieser gelebte Sozialdarwinismus führt den Menschen in ein gesellschaftliches Nichts. Abermals unternimmt Nursi nun einen kontrastierenden Vergleich, um anhand von vier Beispielen die intakten Fundamente des Prophetenamtes und die verrotteten Fundamente des Weges der Philosophie zu verdeutlichen. Als erstes Beispiel greift er das bereits diskutierte Motiv der (Selbst-)Vervollkommnung auf. Die Philosophen meinten sich dadurch über ihren eigentlichen Platz in der Welt hinwegsetzen zu können, was Nursi jedoch als fatale Selbsttäuschung ent-

17 In Taha¯fut al-fala¯sifa (Die Widersprüchlichkeit der Philosophen) artikuliert al-G˙aza¯lı¯ den Vorwurf, dass falsafa gleichbedeutend mit kufr („Häresie“) sei, im Rahmen des philosophischen Diskursfeldes seiner Zeit. 18 Bediuzzaman Said Nursi, „Das dreißigste Wort“, S. 692. 19 So heißt es in der berühmten These IX von Benjamins Schlüsseltext „Über den Begriff der Geschichte“: „Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“ Walter Benjamin, „Über den Begriff der Geschichte“, in: ders., Gesammelte Werke, hrsg. v. Hermann Schweppenhäuser und Rolf Tiedemann, Bd. I/2, Frankfurt a. M. 1991, S. 690–708, hier S. 697f. Die Tragik des Engels der Geschichte besteht darin, dass er sich nicht aus eigener Kraft gegen den Sturm zu wenden und damit seinen Blick in Richtung Zukunft zu lenken vermag. Er kennt nur das Ergebnis der Geschichte, ist zu passiver Zeugenschaft verdammt; gestaltend auf das eigentliche Ziel, das Zurück zum Ursprung, hinzuwirken ist ihm unmöglich. Der unaufhaltsame Sturm trägt ihn weiter fort, bis er das eine Ziel – den Ursprung – allmählich aus dem Auge zu verlieren droht, während das Andere – die Zukunft – zu erblicken ihm verwehrt bleibt. 20 Bediüzzaman Said Nursi, „Das dreißigste Wort“, S. 692.

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larvt.21 Indem die Prophetenschüler ihre eigene Ohnmacht bewusst anerkennen, vermögen sie demütig aber selbstbewusst und frei als Diener Gottes in der Welt tätig zu werden. Das zweite Beispiel nennt das bereits im „12. Wort“ thematisierte Konfliktpotenzial der Philosophie, dem Nursi das altruistische Ideal des Prophetenamtes gegenüberstellt.22 Von der göttlichen Einheit (arab. tawh¯ıd) handelt ˙ das dritte Beispiel:23 Die Philosophie stellt durch die irrtümliche Zuschreibung 24 von Ursachen Gott Mittlerwesen zur Seite, während die Prophetenschüler Gottes oftmals verborgenen aber unmittelbaren Einfluss auf seine Schöpfung zu erkennen vermögen. Im vierten Beispiel entwickelt Nursi die unterschiedlichen weltanschaulichen Perspektiven des Schöpfungszweckes (d. h. die Verbundenheit aller Dinge, woraus ihr ewiger Bestand folgt) und des Selbstzweckes (nämlich Vergänglichkeit und Entfremdung), wobei er hier insbesondere den Pessimismus islamischer Schriftsteller wie des blinden Dichters Abu¯ l-ʿAla¯ʾ al-Maʿarrı¯ (973– 1057) und des persischen Poeten Omar Hayya¯m (1048–1123) scharf kritisiert.25 ˘ Die im „12.“ und „30. Wort“ vorgebrachten Argumente gegen die Philosophie unterscheiden sich also nur unwesentlich voneinander. Warum scheint es Nursi so wichtig zu sein, sie dann zu wiederholen? Abgesehen von didaktischen Erwägungen und der assoziativen Struktur seiner „Worte“ wird deutlich, dass es Nursi um eine Klärung der folgenden drei Punkte geht, nämlich 1.) das grundsätzliche epistemologische Problem, dass subjektive Standpunkte durch ihren Bezug auf die objektive Welt oftmals fälschlich als „Wahrheit“ gedeutet werden. Dies führt 2.) dazu, dass die vermeintlich „wahren“ Standpunkte nun zum Maßstab menschlichen Handelns erklärt werden. Dadurch wird 3.) deutlich, dass der Mensch folglich immer vor einer existenziellen Wahl steht, wie er seinen subjektiven Standpunkt von Wahrheit schließlich in Beziehung zur Wahrheit der objektiven Welt setzt. Der letztgenannte Punkt erinnert stark an das existenzialistische Denken des amerikanischen Rabbiners Joseph Dov Soloveitchik (1903–1993), einer der zentralen Figuren der modernen Orthodoxie. In seinem 1944 ursprünglich auf Hebräisch verfassten Essay Halakhic Man (hebr. Ish ha-Halakhah, „Der halachische Mensch“) erklärt Soloveitchik dieses Wahlmoment wie folgt: Das Judentum erklärt, dass der Mensch an einem Scheideweg steht und er sich fragt, welchen Pfad er einschlagen soll. [Denn] es eröffnen sich ihm gewaltige Möglichkeiten: Das Ebenbild Gottes [zu sein] oder das Raubtier, die Krone der Schöpfung oder der Schatten der Existenz, die Vorzüglichste aller Kreaturen oder aber eine degenerierte 21 22 23 24

Vgl. ebd., S. 693. Vgl. ebd., S. 693f. Vgl. ebd., S. 694. Dies stellt im Übrigen ein asˇʿarı¯tisches Argument gegen Kausalität dar, das Nursi hier aufgreift, von welchem auch schon sein Vorbild al-G˙aza¯lı¯ in Taha¯fut al-fala¯sifa Gebrauch macht. 25 Vgl. Bediuzzaman Said Nursi, „Das dreißigste Wort“, S. 694f.

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Kreatur, das Abbild des Menschen oder aber Nietzsches Übermensch – es liegt am Menschen [selbst] sich zu entscheiden und eine Wahl zu treffen.26

Doch sowohl für Soloveitchik als auch für Nursi ist der Mensch nicht alleingelassen in seiner Entscheidung, sondern vermag in der bzw. durch die Offenbarung – sei es Thora oder Koran – Orientierung zu finden. Warum ich hier abschließend auf Soloveitchik verweise, hat folgenden Beweggrund: Anders als Nursi, der sich in der jungen Türkischen Republik mit der Popularität materialistischer Positionen konfrontiert sah, griff Soloveitchik in seinem Versuch, dem religiösen Menschen angesichts der Herausforderungen der Moderne eine Perspektive aufzuzeigen, bewusst auf das idealistische Denken Kants zurück, in welchem er Parallelen zu seiner eigenen religiösen Tradition ausmacht. Vielmehr noch: Es erlaubt ihm, sein eigenes traditionelles Denken in moderne philosophische Begriffe zu „übersetzen“ und damit einem breiteren Publikum zu kommunizieren, das seiner eigenen religiösen Denk- und Lebenswelt fremd gegenübersteht.27 Es stellt sich die Frage, inwieweit dies – anstatt auf religiöse Gleichnisse, Motive und Symbole zurückzugreifen – auch für Nursi hätte eine Option sein können, um diskursiv dem Materialismus-Problem zu begegnen. Aber vielleicht unterschätzt der Autor hier einfach auch den geistesgeschichtlichen Kontext der Debatten, mit denen sich der „Neue Said“ ab den 1920er Jahren im Zuge der von Mustafa Kemal Atatürk angestrebten Verwestlichung der Türkei konfrontiert sah. Daran anknüpfend stellt sich die grundsätzliche Frage, inwieweit Nursi ohne Kenntnis westlicher Sprachen überhaupt die Möglichkeit hatte, neuere philosophische Ansätze zu rezipieren; worauf basierte letztlich sein Bild westlicher Philosophie, wodurch bzw. durch wen wurde es vermittelt und gegebenenfalls vorgefiltert? Wie sich anhand dieses skizzenhaften Einblickes mittels des „12.“ und „30. Wortes“ gezeigt hat, ist Said Nursis religionsphilosophisches Denken in seinen Fragen, Wahrnehmungen und Warnungen von erstaunlicher Aktualität: Es setzt sich kritisch mit der Moderne und ihren Phänomenen und Problemen auseinander und vermag sich dabei doch selbst treu zu bleiben, indem es eben die Möglichkeit eines islamischen Weges in die Moderne eröffnen will. Trotz ihrer grundsätzlichen apologetisch-polemischen Momente, die an den Stil einer klassischen radd („Erwiderung“) erinnern, ist Nursis Kritik nicht allein geprägt von der Angst um das Eigene, der Furcht vor dem Fremden, sondern sie ist eben 26 „Judaism declares that man stands at the crossroads and wonders about the path he shall take. Before him is an awesome alternative-the image of God or the beast of prey, the crown of creation or the bogey of existence, the noblest of creatures or a degenerate creature, the image of man or the profile of Nietzsche’s ‚superman‘ – and it is up to man to decide and to choose.“ Joseph B. Soloveitchik, Halakhic Man, Philadelphia/PA 1983, S. 109. 27 Vgl. ebd., S. 3.

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auch bestimmt von der Fürsorge für den Anderen – für das Wohlergehen der Gesellschaft. Vielleicht musste der „Neue Said“ in seiner Kritik der westlichen Philosophie/Ideologie auch provozieren, um sich in einer Zeit Gehör zu verschaffen, die alles Religiöse entschieden als rückständig ablehnte. Eine Provokation ist eine Herausforderung zur Auseinandersetzung mit dem Standpunkt des Anderen, sie verlangt eine Reaktion – und fordert damit gewissermaßen zu einem gemeinsamen Gespräch auf. Und selbst wenn dieses Gespräch zu führen nicht unbedingt in Absicht und Interesse Said Nursis lag, könnte und sollte sein Denken aus heutiger Perspektive und Lesart als eine Einladung hierzu betrachtet werden.

Literatur Benjamin, Walter, „Über den Begriff der Geschichte“, in: ders., Gesammelte Werke, hrsg. v. Hermann Schweppenhäuser und Rolf Tiedemann, Bd. I/2, Frankfurt a. M. 1991, S. 690– 708. Griffel, Frank, Al-Gha¯za¯lı¯’s Philosophical Theology, New York, NY 2009. Nursi, Bediuzzaman Said, „Das zwölfte Wort“, in: ders., Die Worte – Über die Natur des Menschen, seinen Zweck und die Dinge insgesamt, Köln/Istanbul 2002, S. 177–185. Ders., „Das dreißigste Wort“, in: ders., Die Worte – Über die Natur des Menschen, seinen Zweck und die Dinge insgesamt, Köln/Istanbul 2002, S. 685–714. Sabra, Abdulhamid I., „The Appropriation and Subsequent Naturalization of Greek Science in Medieval Islam“, in: History of Science, 25 (1987), S. 223–243. Soloveitchik, Joseph B., Halakhic Man, Philadelphia/PA 1983. Wilde, Oscar, „Lady Windermere’s Fan“, in: ders., First Collected Edition of the Works of Oscar Wilde, hrsg. v. Robert Ross, London 1969.

Ahmad Milad Karimi

Offenbarungsverständnis: Koran und Prophetie bei Said Nursi „Die Schöpfung ist keine Begebenheit, sondern eine Tat.“1 (Schelling)

Wie lässt es sich denken, dass das Unendliche in die Endlichkeit eindringt? Wie ist Offenbarung möglich? Und welche transzendentale Bedingung soll erfüllt sein, sodass Offenbarung überhaupt an Realität gewinnen kann? Welche Bedeutung und welchen Stellenwert hat dabei die Prophetie? Kann der Islam in genuin theologischer Hinsicht auch ohne Muhammad begriffen werden? Wie ist ˙ die Relation von Offenbarung und Prophetie zu denken? Bediuzzaman Said Nursi gilt als einer der herausragenden islamischen Gelehrten, der durch seine zahlreichen Studien, insbesondere bezüglich des Korans, von großer Bedeutung ist. Im Folgenden wird der Versuch unternommen, auf der Basis der Risale-i Nur mit Said Nursi den oben angedeuteten Fragen nachzugehen. Zentral ist dabei nicht eine Wiedergabe der Texte; vielmehr werden jene Gedanken explizit aufgenommen, die sich für den systematischen Charakter der Offenbarung und der Prophetie im Islam als fruchtbar darstellen.

1.

Was ist der Koran?

Die eigentlich bewegende Frage der islamischen Theologie und Geistesgeschichte, der sich auch Said Nursi in seinem Hauptwerk Risale-i Nur, insbesondere im Fünfundzwanzigsten Wort explizit stellt, ist die Frage: „Was ist der Koran?“2 Der Koran ist – um es mit den Worten Said Nursis zu sagen – „das Wasser und das Licht des Islams“.3 Diese zunächst in Mekka, dann in Medina allmählich geoffenbarte Botschaft ist für Muslime das lebendige Wort Gottes. Nicht bloß Wort, sondern ein gesprochenes Wort will es sein, ein Wort, welches vorzutragen ist, wie es auch die Etymologie des Wortes „Qurʾa¯n“ belegt. Wenn 1 F. W. J. Schelling, Über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände, hrsg. v. T. Buchheim, Hamburg 1997, S. 67. 2 Bediuzzaman Said Nursi, Die Worte. Über die Natur des Menschen, seine Zweck und die Dinge insgesamt, Köln/Istanbul 2002, S. 468. 3 Ebd.

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Muslime den Koran vortragen, die koranische Stimme vernehmen, so wird die Offenbarung Gottes in ihrer ersten Regung gleichsam vergegenwärtigt. Neben den Menschen, so Said Nursi, „versammeln sich die Djinn [gˇinn], Engel und die Geistwesen, um ihn zu verehren, so wie Motten das Licht umschwirren, wenn der Koran rezitiert wird.“4 So ist der Koran nach Said Nursi kein bloß lebloses, starres Buch, sondern eine lebendige Quelle, eine leuchtende.5 Ja, der Koran ist die Offenbarung Gottes, des einen Gottes. Die Offenbarung Gottes im Islam ist damit das Wort, das Wort Gottes. Ein Titel, wie Said Nursi bemerkt, „den er zu Recht hat“ und „immer beibehalten wird.“6 Gott offenbart sein Wort derart, dass es nicht zeitigt; vielmehr zeichnet sich der Koran als Offenbarung dadurch aus, dass er stets gegenwärtig ist. Die derart entfaltete Gegenwart, welche die Gegenwart Gottes impliziert, erinnert an den Augenblick der Offenbarung an den Propheten Muhammad. Erinnerung in jedem Sinne des Wortes ist dabei die einheitsstif˙ tende Mitte der Religion des Islams. Der Koran ist, so Said Nursi, „ein Erinnerungsbuch“.7 Nicht äußerlich geschieht die Erinnerung, sondern das zu Erinnernde gewinnt gerade im Akt des Erinnerns selbst an Gestalt, d. h. im Akt der Rezitation des Korans. Den Koran als das Vorzutragende vorzutragen gleicht einer Erinnerung und im gleichen Atemzug einer Veräußerung der Gegenwart Gottes, was genuin die Sehnsucht der Muslime auszeichnet, eben „so wie Motten das Licht [zu] umschwirren.“8 So ist Kermani beizupflichten, wenn er schreibt, dass so „dem Hörer ein sinnliches und emotionales Erleben der kommunizierten Botschaft“ ermöglicht werde; es würden „also die Kommunikationsebenen und damit die Botschaft selbst [erweitert], wohingegen sich die Kommunikation bei einem reinen Mitteilungssatz im Wesentlichen auf die diskursive, praktische Ebene beschränkt.“9 Im Akt der Koranrezitation ist es nämlich Gott, der spricht, ist es Gott, der hört, und Gottes ist die Stimme (genitivus subiectivus und obiectivus). Der Koran ist die Offenbarung Gottes insofern, als Gott stets das logische Subjekt derselben bleibt. Es liegt in der Natur der Offenbarung, dass sie nicht Offenbarung an sich bleiben kann, sondern ihre Realität gerade dadurch findet, dass sie Offenbarung für die Welten, ja für die Menschen ist. So schreibt Said Nursi: „Sein [sc. des Korans] Ziel ist offenkundig das ewige Glück“,10 denn Gott liebt die Menschen und sie lieben ihn, wie der Koran es zur Sprache bringt.11 4 5 6 7 8 9 10 11

Ebd., S. 568. Vgl. ebd. Ebd., S. 469. Ebd., S. 468. Ebd., S. 568. Navid Kermani, „Der Sinn, den nur die Sinne erfassen“, in: NZZ, 10. 08. 2002. Nursi, Die Worte, S. 469. Vgl. Sure 5/55; Der Koran, vollständig und neu übersetzt von Ahmad Milad Karimi, Freiburg i. Br. 2009.

Offenbarungsverständnis: Koran und Prophetie bei Said Nursi

2.

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Die koranischen Dimensionen

So ist der Koran eben kein Strafgesetzbuch, sondern in aller Entschiedenheit, ein affirmatives Buch für das Leben, dessen „Frucht“, wie Said Nursi bemerkt, „die Gnade des Höchst Gnädigen und das Reich des Paradieses“12 ist. Was der Koran in seiner ontologischen Verfasstheit sei, könne allein aus dem Horizont der Offenbarung verständlich werden. Betrachtet man den Koran nämlich allein als Buch im heutigen Sinne, d. h. als einen abgeschlossenen Textkorpus, so ist der Sinn dieser Offenbarungsreligion verfehlt. Dass der Koran sprachlich und mithin als Buch vermittelt ist, steht außer Diskussion; jedoch transzendiert der Koran das bloße Buchsein in dem Augenblick, in dem er als Offenbarung gedacht wird. Anders gewendet, kann man sagen, dass es nicht hinreicht, den Koran als Buch zu begreifen und dabei den Islam als Offenbarungsreligion zu explizieren. Die Philosophie der Offenbarung im Islam ist nämlich keineswegs mit der des Christentums zu verwechseln. Im Unterschied zum Christentum ist die Offenbarung im Islam nicht als Selbstoffenbarung Gottes in der Gestalt der zweiten göttlichen Person qua Jesus Christus, ja überhaupt nicht als Selbstoffenbarung zu begreifen; fern von der Inkarnation ist der Gott im Islam nicht einmal Buch geworden, also die Rede von der Inlibration wäre mit keiner Zeile zu rechtfertigen.13 Überspitzt und mit einer vereinfachten islamischen Formel kann man sagen: Gott wurde und wird nicht, Gott ist. Wie nun diese gleichsam aristotelische Ontotheologie14 gefasst werden kann, ist die bewegende Frage im Islam. Den Umstand, dass der Koran nicht mit einem Wort erklärbar und schon gar nicht definierbar ist, zeigen die ersten Ausführungen Said Nursis im Fünfundzwanzigsten Wort, in denen er gleichsam eine Liste an Explikationen für den Koran vorträgt: Der Koran ist „die wahre Weisheit der Menschheit, und er ist der wahre Lehrer und Wegweiser, der die Menschheit zu Wohlstand und Glück drängt. Der Koran ist ein Gesetzbuch, ein Gebetbuch, ein Weisheitsbuch und ein Buch der Gottesanbetung und ein Buch der Gebote und Ermahnungen. Er ist ein Buch der Gottesrühmungen, ein Buch des Denkens, er ist ein einzigartiges, umfassendes Heiliges Buch, das viele Bücher beinhaltet, die einen Zufluchtshafen für alle geistigen Bedürfnisse der Menschheit darstellen.“15 Zunächst ist zu konstatieren, dass Said Nursi den Koran nicht eindimensional begreift. Die Fülle der Bedeutungen und hermeneutischen Ebenen, die den Koran auszeichnen, spiegeln nämlich jene Wirklichkeit wider, der sich der Koran öffnet. Den Koran kann man eben nicht verbrennen, wenn man ihn als Offenbarung begreift und 12 Nursi, Die Worte, S. 469. 13 Dass man sich mit dieser Behauptung inmitten der Trinitätstheologie befindet, könnte dann als List der Vernunft gelten. 14 Vgl. hierzu Aristoteles, Metaphysik IV 1, 1003 a 21–28. 15 Nursi, Die Worte, S. 468.

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nicht als Papier und Tinte. In diesem grundlegenden Verständnis des Korans ist die Aktualität eines Denkers wie Said Nursi nicht hoch genug einzuschätzen. Werden Versuche, den Koran monokausal für politische Machtinteressen zu instrumentalisieren, vereitelt, begreift man ihn nach Said Nursi in seiner notwendig umfassenden Fülle als Offenbarung. Des Weiteren differenziert und unterscheidet Said Nursi den Koran hinsichtlich mehrerer Gesichtspunkte; der innere Aspekt des Korans ist nach Said Nursi die „innere Leitung“, der obere Aspekt „das Licht des Glaubens“, der untere Aspekt „Beweis und Beleg“, der Aspekt zu seiner rechten Seite „die Hingabe des Herzens und des Gewissens“ und der Aspekt zu seiner linken Seite ist „die Unterwerfung von Verstand und Intellekt“.16 Ist der Umgang mit dem Koran in diesen Hinsichten differenziert – obgleich der Koran selbst an jeder beliebigen Stelle alle Gesichtspunkte unmittelbar repräsentiert – so ist es unmöglich, den Koran allein auf einen Aspekt zu reduzieren.

3.

Der Koran als Wunder

Said Nursis hermeneutischer Zugang zum Koran ist insofern eigentümlich, als er dem Koran als Koran derart begegnet, dass es ihn de facto gibt, aber ihn eigentlich nicht geben kann. Sein Koranverständnis ist vor dem Horizont zu verstehen, dass er die Existenz des Korans zunächst und zuletzt, d. h. wesentlich als „Wunder“ begreift; ja, es ist ein Wunder, dass es ihn gibt. Ganz im Sinne des theologischen Dogmas der stilistischen Wunderhaftigkeit des Korans, das sich zwischen dem 9. und 10. Jahrhundert entwickelt hat, gilt der Koran für Said Nursi als – um es mit den Worten von Navid Kermani zu sagen – „eine Art ästhetischer Gottesbeweis“.17 Der „einzigartige Stil des Korans“,18 so Said Nursi, sei auf jeder Ebene anzutreffen: „[E]ine wunderschöne Geschmeidigkeit des Stils, eine anmutige Harmonie, eine angenehme Ausgewogenheit, eine einzigartige Beredsamkeit“19 seien beispielhaft als Charakteristika genannt, die Said Nursi hervorhebt. Diesen eigentümlichen Charakter des Korans sieht Said Nursi nicht nur im koranischen Inhalt, sondern in der Form, in der Beredsamkeit des Korans, ja genauer: in der Spannung zwischen Form und Inhalt desselben. Auch für Said Nursi ist der Koran in seinem arabischen Original unnachahmlich, sein Grundcharakter wird erst in seiner Gesamtkomposition erfahrbar. Der Koran ist 16 17 18 19

Vgl. ebd., S. 469. Navid Kermani, Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran, München 2000, S. 241. Nursi, Die Worte, S. 528. Ebd., S. 528.

Offenbarungsverständnis: Koran und Prophetie bei Said Nursi

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ein rhythmischer Text voller Klang und Musikalität, ja eine „progressive Universalpoesie“20, wie sie der Romantiker Friedrich Schlegel in seinem 116. Athenäums-Fragment entfaltet. So besticht der Koran durch seine Ein- und Mehrdeutigkeit, durch seine vollkommene Gedankenführung und seine fragmentarische Natur, durch seine Klarheit und sein Geheimnis, durch seine wörtliche und bildliche Sprache. Unterschiedliche literarische Figuren wie Alliteration, Euphonie, Onomatopoesie, Kontraktion und Extraktion, Reim, Rhythmus, Klang, aber auch sprachliche Spannung, Gedankensprünge, Paradoxa, Wiederholungen und Brüche unterstreichen die Eigenart und mithin die Unnachahmlichkeit, nach Said Nursi, den Wundercharakter des Korans. Somit gewinnt der Koran in den Augen Said Nursis einen unbestreitbaren Status, da er in seiner Originalität auf mehrfacher Ebene Besonderheiten aufweise, die ihn unnachahmlich und unübertrefflich machten. Dabei spielt eine Vielzahl an literarischen Figuren eine wichtige Rolle. Said Nursi ist der Auffassung, dass der Koran weder übersetzt noch in Prosa nacherzählt werden könne; vielmehr zeichne sich der Koran dadurch aus, dass er inkommensurabel sei. Kein Buchstabe des Korans könne mit einem anderen ausgetauscht werden, ohne dabei die innere Komposition des Ganzen, die Prägnanz der Aussage und die Harmonie der Diktion zu zerstören. Wunder ist somit der Titel des „UnfähigMachens“ (iʿgˇa¯z), die grundlegende Absage des Versuches, sich mit dem Koran zu messen.21 Kurz: Nach Said Nursi ist der Koran „allen anderen Büchern überlegen“.22 In seinem prägnanten und zugleich offenen Charakter spreche der Koran alle Menschen an: nicht nur Muslime, Christen, Juden, Polytheisten, Antitheisten und Atheisten, sondern auch innerhalb der muslimischen Gemeinschaften, so Said Nursi, besitze der Koran eine Polyphonie, die es ermögliche, unterschiedliche Bedürfnisse des Menschen anzusprechen. Said Nursi schreibt: „Der Koran 20 „Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennten Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie will und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen, den Witz poetisieren und die Formen der Kunst mit gediegenem Bildungsstoff jeder Art anfüllen und sättigen und durch die Schwingungen des Humors beseelen. Sie umfaßt alles, was nur poetisch ist, vom größten wieder mehrere Systeme in sich enthaltenden System der Kunst bis zu dem Seufzer, dem Kuß, den das dichtende Kind aushaucht in kunstlosem Gesang.“ Ernst Behler u. a. (Hg.), Friedrich Schlegel. Kritische Ausgabe seiner Werke, Bd. 2, Paderborn u. a. 1967, S. 182f. 21 Vgl. zum Begriff iʿgˇa¯z: Martin Schreiner, „Zur Geschichte der Polemik zwischen Juden und Muslimen“, in: ZDMG, 42 (1888), S. 663–675; Tor Andrae, Die Person Muhammads in Lehre und Glauben seiner Gemeinde, Stockholm 1918, S. 92–123; Angelika Neuwirth, „Das islamische Dogma der ‚Unnachahmlichkeit des Korans‘ in literaturwissenschaftlicher Sicht“, in: Der Islam, 60 (1983), S. 166–183. 22 Nursi, Die Worte, S. 471.

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lässt Dinge ungesagt, so dass viele Bedeutungen ausgedrückt werden können. Der Koran fasst sich kurz, damit jedermann seinen Anteil finden kann.“23 Nursi verweist zudem auf die Konstellation und Architektur der Worte, die Satzkonstruktion, Wortwahl, Anordnung der Worte, die ihm eigenen Ausdrücke und schließlich den Stil und die Sprachgestaltung, ja, die eigene koranische Grammatologie, welche unmöglich zu verändern sei; all diese stilistischen Merkmale belegten doch die Göttlichkeit des Korans.24 Etwas verhaltener darf man mit Rückert sagen: Wol eine Zauberkraft muß sein in dem, woran Bezaubert eine Welt so hängt wie am Koran.25

4.

Die Prophetie

Den Koran als die Offenbarung Gottes versteht Said Nursi nicht als ein Diktat und Ausdruck eines blinden Glaubens, im Gegenteil: Den Koran versteht er als die Offenbarung Gottes, weil er unendlich schön, ja wunderhaft ist; der Koran ist demnach nicht unendlich schön, weil er die Offenbarung Gottes darstellt. So heißt es in einer viel zitierten Koranstelle zu dem herausragenden Stellenwert des Korans: Sag: ‚Vereinigten sich die Menschen und die Dschinn, um Gleiches hervorzubringen wie diesen Koran, sie brächten nichts ihm Gleiches hervor, selbst wenn sie einander beistünden.‘26

Es liegt in der Natur der Offenbarung selbst, dass sie vermittelt ist, dass sie der Ausdruck der Mitteilung Gottes ist, dass Gott damit seinen Willen äußert. So war auch der Koran nicht plötzlich da, er hat sich nicht selbst geboren. Der Koran ist zunächst die Offenbarung Gottes an den Propheten Muhammad. Bekanntlich ˙ heißt es in einem Hadith des Propheten: „Es gibt keinen Propheten, dem nicht

23 Vgl. ebd., S. 502. 24 „Es gibt eine wunderbare Beredtheit und Reinheit des Stils in der Wortordnung des Koran. Vom Anfang bis zum Ende demonstrieren isˇa¯rat al-iʿgˇa¯z (Zeichen der Wunderhaftigkeit) diese Beredtheit und Kürze in der Wortordnung. So wie die Zeiger einer Uhr für Sekunde, Minute und Stunde sich ergänzen, so auch erläutert das gesamte Werk des all-weisen Koran die Ordnung in jedem Satz und in jeder Textpassage und in jedem seiner Worte und in der Beziehung zwischen den Sätzen.“ Nursi, Die Worte, S. 472 (Hervorhebung: A. M. K.). 25 Friedrich Rückert, Die Weisheit des Brahmanen. Ein Lehrgedicht in Bruchstücken. Viertes Bändchen, Leipzig 1838, S. 120. 26 Der Koran, Sure 17/88.

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Zeichen gegeben waren, damit die Menschen an ihn glauben. Was mir gegeben wurde, sind nichts als die Worte, die mir Gott offenbart hat […].“27 Den Koran allein als Wunder zu begreifen bedeutet zugleich, dass der Koran ein Wunder des Propheten Muhammad ist und im gleichen Atemzug ist der ˙ Prophet Muhammad selbst ein Wunder des Korans.28 Diese Wechselwirkung ˙ entnimmt Said Nursi nicht nur der Lebenswirklichkeit des Propheten Muhammad, dem Umstand, dass er in einer Zeit, in der Literatur besonders ange˙ sehen war, des Schreibens und Lesens nicht mächtig war, aber dennoch plötzlich das sprachmächtigste Werk der arabischen Literatur hervorgebracht habe, sondern der Auffassung, dass der Koran für den Propheten selbst ein Wunder gewesen sei, worüber er selbst nicht verfügte. Und dementsprechend sei Muhammad ein Wunder des Korans insofern, als das Wissen, die Weltanschauung ˙ und die Moral, die er repräsentierte und die damit einhergehende Verantwortung, kurz: die Taten Muhammads eben den Koran widerspiegeln würden.29 ˙ Muhammad lebe den Koran.30 Jener sei der Gesandte und dieser Seine Sendung. ˙ Said Nursi bemerkt: „So wie der Koran mit all seinen Wahrheiten, die ein Hinweis auf seine Wunderhaftigkeit sind, ein Wunder Muhammads ist, (Gottesheil sei mit ˙ ihm), so ebenfalls ist mit all seinen Wundern und den Hinweisen auf seine Prophetenschaft und die Vollkommenheit seines Wissens Muhammad (Heil ˙ Gottes sei auf ihm) ein Wunder des Korans, und ein entscheidender Beweis dafür, 31 dass der Koran Gotteswort ist.“ Für Said Nursi sind Koranverständnis und Prophetie, insbesondere die Prophetie Muhammads, innigst miteinander verwoben. Muhammad spreche mit ˙ ˙ dem Koran „von den Ereignissen der Vergangenheit“, wie Said Nursi konstatiert, „als hätte er sie tatsächlich gesehen.“32 In diesem Sinne sei Muhammad Prophet, ˙ weil ihm sein Wissen nicht vermittelt worden sei, sondern durch Offenbarung, d. h. unmittelbar zuteil geworden wäre. Said Nursi schreibt: „Vermitteltes Wissen ist nämlich gebildeten Menschen vorbehalten, während die übermittelten Ereignisse jemandem offenbart wurden, der weder lesen noch schreiben konnte.“33 Mit anderen Worten: Es gäbe keinen Koran (als Offenbarung!) ohne Muhammad, und es gäbe keinen Muhammad (als Propheten) ohne den Koran. ˙ ˙ Offenbarung heißt mithin, dass in Muhammad das Feuer Gottes entfacht wird, ˙ sodass ihm nachzueifern, eben nicht Ausdruck eines blinden Glaubens wäre,

27 28 29 30 31 32 33

Sah¯ıh al-Buha¯rı¯, XCVII/1 (Nr. 7274); zit. nach Navid Kermani, Gott ist schön, S. 239. ˙ ˙Nursi, Die ˘ Worte, S. 562. Vgl. Vgl. ebd., S. 580f. Vgl. ebd., S. 564. Ebd. Ebd., S. 515. Ebd.

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drückt er doch die Offenbarung Gottes aus. So wird Muhammad im Koran direkt ˙ angesprochen: Und Wir haben dir herab gesandt die Schrift mit der Wahrheit, um zu bestätigen, was vor ihm war von der Schrift, und darüber Gewissheit zu geben.34

In diesem Sinne ist der Koran nach Said Nursi keine starre und einseitige Weisung, vielmehr hat die Zuwendung des Herrn aller Welten im Islam, vor dessen Antlitz alles untergehend ist,35 einen ungemein lebensnahen, literarischen und zugleich transliterarischen Charakter. Der Koran hat nämlich den Anspruch, auch vom Unsichtbaren und Ungesehenen zu berichten. Überhaupt ist der Koran nach Said Nursi nicht ahistorisch; der Koran wurde nicht im Vakuum offenbart. Im Gegenteil: Said Nursi weiß die literarischen und inhaltlichen Differenzen im Koran hinsichtlich unterschiedlicher Situationen und Räume der Offenbarung an den Propheten Muhammad zu betrachten. So untersucht er beispielsweise das ˙ Spezifische sowohl der mekkanischen als auch der medinensischen Suren.36 Dabei erklärt er den Koran nicht zu einem bloß historischen Werk, sodass der notwendige Offenbarungscharakter verloren ginge und der Koran zu einem Leichnam degradiert werde; vielmehr bestehe die Einzigartigkeit des Korans gerade darin, dass er immerfort „frisch und jugendlich“, d. h. als ewiges Wort Gottes in die jeweilige Zeit hineinwirke, ohne dabei veraltet zu sein. Said Nursi schreibt: „Der Koran bewahrt seine Frische und Jugend in jedem Zeitalter, als ob er eben neu offenbart wäre. Ja, es ist notwendig für den Koran, ewige Jugend zu haben, da er eine vor-ewige Ansprache ist und da er zugleich alle Arten von Menschen in jedem Zeitalter anredet.“37 Auf der einen Seite führt Said Nursi die Historizität der koranischen Offenbarung auf, insbesondere in Relation zur Prophetie Muhammads, und auf der an˙ deren Seite betont er mit aller Entschiedenheit den ewigen Charakter derselben. Der nun daraus notwendig entspringende Widerspruch ist dem Begriff der Offenbarung wesentlich; aber es handelt sich nicht um einen Widerspruch, der sich selbst verzehrt, im Gegenteil: Zeitlichkeit und Ewigkeit, Endlichkeit und Unendlichkeit zusammenzudenken, ist der Anspruch des Korans selbst. Der Koran muss historisch sein mit allen Implikationen, welche für die Koranexegese notwendig sind, d. h. Kontextualisierung und andere Kriterien, die Said Nursi konsequent verfolgt. Aber im gleichen Atemzug muss der Koran aller Historie enthoben sein, hat er doch den Anspruch als Offenbarung für alle Zeiten in Wahrheit gültig zu sein – „frisch und jugendlich“, wie Said Nursi bildlich konstatiert. In diesem Wider34 35 36 37

Der Koran 5/48. Vgl. ebd., 28/88. Vgl. Nursi, Die Worte, S. 575. Ebd., S. 518.

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spruch ist das koranische Geheimnis verborgen, lebendig zu sein. Richtet man sich nach der Auffassung Wilhelm Friedrich Hegels, so ist der Widerspruch „die Wurzel aller Bewegung und Lebendigkeit; insofern etwas in sich selbst einen Widerspruch hat, bewegt es sich, hat Trieb und Tätigkeit.“38 Dies systematisch zu entwickeln, wird eine zentrale Aufgabe einer Philosophie der Offenbarung im Islam sein, wofür die Gedanken und Studien von Said Nursi sehr fruchtbar sein können. Nursis Koran- und sein Prophetieverständnis sind nämlich insofern für die moderne Koranforschung bedeutend, als er den Koran keineswegs ein-, sondern gerade mehrdimensional begreift. Aus dem Verständnis, dass der Koran als Offenbarung eine Fülle von Bedeutungsebenen hat, öffnen sich für die Koranforschung unterschiedliche Zugänge, die natürlich erst in ihrer Gesamtkomposition den notwendigen Stellenwert und die adäquate Bedeutung des Korans würdigen können. So zeichnet sich der Koran gerade durch seine Polyphonie als ein Gleichnis für eine Lebenswirklichkeit aus, die ebenso polyphon konzipiert ist.

Literatur Andrae, Tor, Die Person Muhammads in Lehre und Glauben seiner Gemeinde, Stockholm 1918. Aristoteles, Metaphysik, Oldenburg 2003. Der Koran, vollständig und neu übersetzt von Ahmad Milad Karimi, Freiburg i. Br. 2009. Hegel, G. W. F., Werke. In 20 Bänden. Auf der Grundlage der Werke von 1832–1845, Bd. 6, neu hrsg. v. E. Moldenhauer und K. H. Michel, Frankfurt a. M. 1969–71. Kermani, Navid, Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran, München 2000. Ders., „Der Sinn, den nur die Sinne erfassen“, in: NZZ, 10. 08. 2002, URL: http://www.nzz.ch/ 2002/08/10/li/article7YXT6.html (letzter Zugriff: 10. 08. 2011). Neuwirth, Angelika, „Das islamische Dogma der ‚Unnachahmlichkeit des Korans‘ in literaturwissenschaftlicher Sicht“, in: Der Islam, 60 (1983), S. 166–183. Nursi, Bediuzzaman Said, Die Worte. Über die Natur des Menschen, seine Zweck und die Dinge insgesamt, Köln/Istanbul 2002. Rückert, Friedrich, Die Weisheit des Brahmanen. Ein Lehrgedicht in Bruchstücken. Viertes Bändchen, Leipzig 1838. Schelling, F. W. J., Über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände, hrsg. v. T. Buchheim, Hamburg 1997. Schlegel, F., Kritische Ausgabe seiner Werke, Bd. 2, hrsg. v. E. Behler u. a., Paderborn u. a. 1967. Schreiner, Martin, „Zur Geschichte der Polemik zwischen Juden und Muslimen“, in: ZDMG, 42 (1888), S. 663–675.

38 G. W. F. Hegel, Werke. In 20 Bänden. Auf der Grundlage der Werke von 1832–1845, Bd. 6, neu hrsg. v. E. Moldenhauer und K. H. Michel, Frankfurt a. M. 1969–71, S. 75.

Kapitel 2: Freiheit und Moderne aus der Sicht von Said Nursi

Martin Riexinger

Freiheit und Moderne im Denken Said Nursis und seiner Schüler

Die Aufgabe, über Freiheit und Moderne im Werk Said Nursis zu schreiben, gibt zunächst Anlass zu ein wenig Verunsicherung. Da dem Autor beide Begriffe nicht unbedingt als die zentralen Themen seines Denkens erscheinen, hat der dessen Schüler in die Fragestellung einbezogen.1 Im Zuge der Auseinandersetzung mit den einschlägigen Stellungnahmen ist der Autor jedoch von seiner skeptischen Haltung etwas abgerückt. Zwar erscheint ihm der Begriff der Freiheit immer noch nicht als zentrales Element im Denken Said Nursis, doch lassen sich an seinem Beispiel Wandlungen im Denken und Selbstverständnis Said Nursis aufzeigen. Der Begriff der Moderne spielt bei Said Nursi allerdings nahezu keine Rolle, doch mit Blick auf seine Schüler lässt sich zeigen, dass deren ambivalenter Freiheitsbegriff nicht zuletzt durch eine Ablehnung eines individualisierungszentrierten Modernebegriffs bestimmt wird. Zugleich kann nicht übersehen werden, dass verschiedene Strömungen unter seiner Anhängerschaft sehr unterschiedliche Schwerpunkte setzten. Gibt man in den Risale-i Nur Arama Motoru, eine der Suchmaschinen, welche die gesamte Risale-i Nur erfassen, das Wort „hürriyet“ ein, erhält man 352 Treffer.2 Die Verwendung lässt sich dabei grob in drei Varianten aufteilen. 1. Freiheit erscheint als ein ausgesprochen negativ konnotierter Begriff, der mit moralischer, nicht zuletzt sexueller Anomie assoziiert ist. 2. Freiheit wird aber auch positiv bewertet, speziell als Gedanken- und Gewissensfreiheit. 3. Schließlich verwendet Said Nursi den Begriff zur Periodisierung, nämlich als Synonym für die „jungtürkische“ Revolution 1908/09.

1 Von der Bedeutung des Freiheitsbegriffs für Teile von ihnen zeugt, dass der Anfang 2011 in die Kinos gekommene biografische Spielfilm über Said Nursi den Titel Hür Adam – Der freie Mensch trägt. 2 Suchmaschine Risale-i Nur Arama Motoru, URL: http://www.risaleara.com/ara.asp?a=h% FCrriyet&t=2&b=2&k=0 (letzter Zugriff: 16. 12. 2010).

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Martin Riexinger

Zur Erläuterung einige Beispiele: Wenn Said Nursi Freiheit mit Anomie assoziiert,3 knüpft er dabei an die in der pessimistischen Anthropologie des vormodernen Islam verankerte Idee an, dass der Mensch beständig Gefahr läuft, von seiner Triebseele (an-nafs al-amma¯ra) beherrscht zu werden.4 Von daher liegt es nahe, Freiheit mit Eigenmächtigkeit (heva, ar. hawa¯) 5 und Launen (hevesat) zu assoziieren,6 oder sie gar mit einer Despotie (istibda¯d) 7 Satans oder der apokalyptischen Figur des Dagˇgˇa¯l gleichzusetzen.8 Solch ein negativ besetzter Freiheitsbegriff hat selbstredend politische Folgen, weil er z. B. bestimmte geschlechterpolitische Positionen impliziert: Die Freiheit der Frauen entzünde deren Lüsternheit, sodass sie danach trachten, die Männer zu überwältigen.9 Mithin sei sie abzulehnen. Aber auch die Gedankenfreiheit wird nicht positiv bewertet, da sie der Anarchie den Weg bahne.10 Als fragwürdig erscheint ihm der Begriff Freiheit zudem, weil er zum propagandistischen Vokabular der Sozialisten gehöre, die einer Ideologie anhingen, welche auf den Freiheitskult (hürriyetperverlik) der französischen Revolution zurückgehe.11 Des Weiteren verleite Freiheit die Materialisten zu ihrer hochmütigen Kritiksucht, die sie in die Irre führe. Denn die Freiheit stünde der Jenseitsorientierung entgegen und untergrabe somit die Grundlage verantwortlichen Handelns: „Wenn man den Glauben verlässt, erweisen sich die gewonnenen Freiheiten als Schlangen.“12 Dass Freiheit im westlichen Selbstverständnis einen positiven Wert darstellt, führt Said Nursi auf die tyrannische Herrschaft des Priestertums zurück, weshalb sie für die islamische Welt mit ihren völlig verschiedenen Verhältnissen völlig irrelevant sei. Der letzte Punkt ist ein in der islamischen Apologetik seit dem späten 19. Jahrhundert gängiger apologetischer Topos.13 Während sich solche negativen Bewertungen von Freiheit in Werken Said Nursis aus allen Schaffensperioden finden, finden sich Aussagen, die einen positiven Freiheitsbegriff beinhalten, nur in seiner ersten und seiner letzten Schaffensphase.

3 Vgl. Said Nursi, Sözler, Istanbul 2002, S. 38. 4 Vgl. ebd., S. 434; Nursi, Lemeat, Istanbul 2003, S. 84: hier der vegetativen und der animalischen Seele zugeordnet; vgl. E. E. Calverley,„Nafs“, in: EI2, Vol. VII, S. 880f. 5 Vgl. Nursi, Sözler, S. 653, 655. 6 Vgl. Nursi, S¸ualar, Istanbul 2001, S. 512. 7 Vgl. Nursi, Sözler, S. 647. 8 Vgl. Nursi, S¸ualar, S. 513. 9 Vgl. ebd., S. 505. 10 Vgl. Nursi, Emirdag˘ Lâhıkası, Istanbul 2000, S. 375; ähnlich ders., S¸ualar, S. 239. 11 Vgl. Nursi, Lemeat, S. 174; ders., S¸ualar, S. 508, 513. 12 Nursi, Münazarat, URL: http://www.risaleara.com/icindekiler.asp?kid=13 (letzter Zugriff: 09. 08. 2011), S. 78; ders., Sözler, S. 670. 13 Vgl. Nursi, Mektubat, Istanbul 2002, S. 422.

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Vor der Phase der Verbannung betrachtete er freies Denken und Freiheit vom Geiste der Parteilichkeit als eine der Voraussetzungen für ein Mitglied jener Kommission, die er für eine Neuinterpretation des Korans vorsah.14 Diese Auffassung steht damit im Zusammenhang, dass Said Nursi von den rechtstheoretischen Reformdiskussionen jener Zeit beeinflusst war und in diesem Sinne eigenständige Rechtsfindung (igˇtiha¯d) und Nützlichkeitserwägungen (maslaha) ˙ ˙ befürwortete. In den 1920er Jahren gab er solche Positionen auf, weil er nun die Absicht vertrat, dass diese Konzepte der menschlichen Eigenmächtigkeit und mithin verderblichen Neuerungen Vorschub geleistet hätten. Deshalb sollten die Muslime strikt die Lehren der Rechtsschulen befolgen anstatt sie infrage zu stellen (taqlı¯d).15 Die Tatsache, dass Said Nursi in seiner letzten Schaffensphase den Begriff Freiheit wieder in positivem Sinne verwendete, reflektiert den Einfluss der Rhetorik der Demokratischen Partei unter Menderes, die mit einem positiv verstandenen Freiheitsbegriff gegen die autoritäre Herrschaft des kemalistischen Einparteienstaates, nicht zuletzt die Restriktionen religiöser Aktivitäten, zu Felde zog. Said Nursi bezeichnete sie dementsprechend als Liberale (ahra¯r) und pries ˙ sie als freiheitsliebend (hürriyetperver).16 Freiheit erscheint in diesem Zusammenhang daher meist als Kompositum, als Glaubens- oder Gewissensfreiheit.17 Said Nursi nimmt diese Freiheit für sich und seine Anhänger als Recht in Anspruch,18 das ihnen nicht zuletzt gemäß § 163, der die Gründung religiöser Organisationen verbietet, verwehrt wird.19 Er legitimiert diesen Anspruch gegenüber dem Staat nicht allein aus sich heraus, sondern auch mit der Behauptung, die Möglichkeit, gerade seine Auslegung des Islams verbreiten zu dürfen, würde asayis¸, in etwa dem inneren Frieden oder der politischen Stabilität, Vorschub leisten.20 Gleichzeitig verweist er darauf, dass die Aktivitäten jener, die mit ihren Lehren eben diese gesellschaftliche Harmonie zu zerstören drohen, keineswegs eingeschränkt würden. Dieser diffuse Anwurf ist 14 Vgl. Nursi, ˙I¸sâratü l-I˙‘câz, Istanbul 2001, S. 13. 15 Vgl. Riexinger, Die verinnerlichte Schöpfungsordnung. Weltbild und normative Konzepte in den Werken Said Nursis (gest. 1960) und der Nur Cemaati, Habilitationsschrift, Göttingen 2010, 4.3.1. (zitiert nach Kapitelnummer); Bülent Uçar, Recht als Mittel zur Reform von Religion und Gesellschaft. Die türkische Debatte um die Scharia und die Rechtsschulen im 20. Jh., Würzburg 2005, S. 135–138. 16 Vgl. Nursi, Emirdag˘ Lâhıkası, S. 267, 270, 276, 296, 394, 396, 408; ders., Kastamonu Lâhıkası, Istanbul 2000, S. 206; vgl. Tanıl Bora, „Adnan Menderes“, in: Murat Yılmaz (Hg.), Liberalizm (Modern Türkiye’de siyasi düs¸ünce; 7), Istanbul 2005, S. 482–507. 17 Vgl. Nursi, Mektubat, S. 417; ders., S¸ualar, S. 483. 18 Vgl. ebd., S. 392; ders., Emirdag˘ Lâhıkası, S. 27f., 170. 19 Vgl. Nursi, S¸ualar, S. 250; ders., Lemeat, S. 175: Zeitalter der Auslöschung der Freiheit; ders., Emirdag˘ Lâhıkası, S. 203; ders., Mektubat, S. 418. 20 Vgl. Nursi, S¸ualar, S. 252, 307, 311f., 318: Wahrer Laizismus ist das Gewähren von Gewissensfreiheit, S. 320, 333, 374, 384, 392, 483; ders., Emirdag˘ Lâhıkası, S. 27f., 110, 170.

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offenkundig gegen Kemalisten oder gar Sozialisten gerichtet.21 Letztlich bleibt jedoch unklar, inwieweit Said Nursis Verwendung des Begriffs Freiheit impliziert, dass er seinerseits seinen Gegnern Gedankenfreiheit zugesteht, da sich sehr widersprüchliche Aussagen zu dieser Frage finden. Während er zuweilen versucht seine Gegner mit dem Verweis auf deren unislamischen Lebenswandel (Alkoholkonsum bei Tage im Ramadan) zu diskreditieren,22 betont er in anderen Zusammenhängen, seine Auffassung niemandem aufzwingen zu wollen,23 ja, er erklärt sogar, dass kein bewaffneter gˇiha¯d mehr geführt werden dürfe, weil die Regierungen der Gegenwart die mit ihm unvereinbare Gewissensfreiheit zu ihrem „Grundgesetz“ erhoben hätten.24 In den beiden Schaffensphasen, während der Freiheit für Said Nursi eine positive Bedeutung hatte, zeigt sich wieder, wie sehr Said Nursi von der zu seiner Zeit gängigen Apologetik beeinflusst wurde. So projizierte er ahistorische dem modernen Verfassungsdenken entstammende Freiheitsbegriffe in die Epoche der vier ersten Kalifen zurück.25 Said Nursis Gebrauch des Begriffs Freiheit zur Datierung als Synonym für die Beendigung der Autokratie von Abdülhamit II. beinhaltet in den meisten Fällen keine Wertung und dient allein als zeitlicher Bezugspunkt z. B. für biografische Angaben.26 Zuweilen klingt dabei jedoch mal der positive, mal der negative Aspekt seiner sehr ambivalenten Haltung zur jungtürkischen Revolution an. So erklärte er um 1950 im Rückblick, dass er in den Jahren „nach der Freiheit“ selbst den kurdischen Stämmen um Van die Verfassung erklärt habe.27 In anderen Zusammenhängen erscheinen die hürriyetçiler hingegen als diejenigen, welche die Nation moralisch ruiniert hätten.28 Einen Begriff von Moderne vertritt Said Nursi nicht, es wäre vielleicht auch etwas viel von einer Persönlichkeit des frühen 20. Jahrhunderts zu erwarten, dass er sich nach den Befindlichkeiten von einem Menschenalter später lebender 21 Vgl. Nursi, S¸ualar, S. 322, 343, 386; ders., Emirdag˘ Lâhıkası, S. 365, 382: Dozy und dergleichen zu lesen fällt unter Gedankenfreiheit und Freiheit der Wissenschaft, die Koranlektüre wird hingegen kriminalisiert. 22 Vgl. Nursi, S¸ualar, S. 388. 23 Vgl. ebd., S. 484. 24 Vgl. ebd., S. 243. 25 Vgl. Nursi, ˙I¸saratü l-I˙‘câz, S. 164f.: Im asr-ı saadet, der Zeit der rechtgeleiteten Kalifen, wurde Redefreiheit gewährt (sowie andere Formen der Unterdrückung abgeschafft wurden). Zusammen mit Brüderlichkeit, nationaler Solidarität, Liebe; Nursi, S¸ualar, S. 317: Die rechtgeleiteten Kalifen vertraten die schariagemäße Freiheit. 26 Vgl. Nursi, Mektubat, S. 70; ders., Lemeat, S. 48, 53, 56, 178; ders., S¸ualar, S. 312, 394, 403, 425f., 488; ders., Kastamonu Lâhıkası, S. 24; ders., Emirdag˘ Lâhıkası, S. 51, 181. 27 Vgl. Nursi, Emirdag˘ Lâhıkası, S. 434. 28 Vgl. Nursi, Barla Lâhıkası, Istanbul 2000, S. 189; ders., Kastamonu Lâhıkası, S. 50: Der Einsatz für die Ziele der Jungtürken sei ein Fehler, da er noch größerer Tyrannei den Weg bereite, S. 157, 333; ders., Emirdag˘ Lâhıkası, S. 20, 139, 181.

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Akademiker ausrichtet. Das heißt selbstredend nicht, dass Said Nursi entgangen war, dass sich in der gesellschaftlichen Organisation und im Geistesleben in Europa fundamentale Veränderungen ergeben hatten, die nun auch seine Lebenswelt im spätosmanischen Reich bzw. in der frührepublikanischen Türkei zu affizieren begannen. Daher lassen sich Begriffe für „modern“ in seinen Ausführungen nachweisen, doch erscheinen sie fast nie absolut, sondern meist in Verbindung mit konkreten Erscheinungen. Der Begriff cedid, arabisch neu, heute nicht mehr gebräuchlich, in spätosmanischer Zeit jedoch das übliche Wort zur Übersetzung von „modern“, wird von Said Nursi im Sinne von „modern“ vor allem zur Abgrenzung der neuzeitlichen Philosophie und Naturwissenschaften verwendet (wobei er beides unter hikmet zusammenfasst; auf eine nähere Begriffsanalyse soll an dieser Stelle jedoch verzichtet werden).29 Nursi ist dabei per se wertneutral, wobei allerdings in den konkreten Fällen Teilaspekte der modernen Naturwissenschaften und Philosophie als akzeptabel oder inakzeptabel bezeichnet respektive geohrfeigt werden, wie Said Nursi einmal sagt. Die Ableitung teceddüd (und das Synonym asrilik), zu verstehen als „Erneuerung“, im betreffenden Kontext vielleicht auch mit „Modernismus“ wiederzugeben, verwendet Said Nursi einmal, um die Musa Begov zu diskreditieren.30

Freiheit in der Moderne bei den Anhängern Said Nursis Im ersten Jahrzehnt nach dem Tode Said Nursis kümmerten seine Anhänger sich zunächst vor allem um die Weitergabe seiner Lehren. Gegen Ende der 1960er Jahre wuchs jedoch offenkundig das Bedürfnis, sein Denken mit den Herausforderungen in Beziehung zu setzen, mit denen sie nun konfrontiert waren. Deshalb begannen einige Nurcus sich verstärkt der Publizistik zuzuwenden. Dies wiederum führte zu einer Politisierung, die von einigen Nurcus sehr skeptisch betrachtet wurde. Die Nurcus schlossen sich jedoch nicht der islamistischen Milli Görüs¸-Bewegung an, sondern unterstützten die Gerechtigkeitspartei (Adalet Partisi) von Süleyman Demirel, deren Anspruch, die legitime Nachfolge der Demokrat Parti zu repräsentieren, sie anerkannten.31 Der Militärputsch von 1980 führte dazu, dass bereits länger unter den Nurcus schlummernde Konflikte offen ausbrachen. Grund hierfür war der Sachverhalt, dass die Junta unter Evren nicht wie mit dem Coup von 1960 und dem Memorandum von 1971 den reinen Kemalismus zur Staatsdoktrin erheben wollte und 29 Nursi, ˙I¸sâratü l-I˙’câz, S. 171, 237–239; ders., S¸özler, S. 709; ders., Lemeat, S. 70; ders., Emirdag˘ Lâhıkası, S. 158, 403. 30 Vgl. Nursi, Lemeat, S. 273. 31 Vgl. Riexinger, Schöpfungsordnung, 2.2.2.2.f., 4.1.4.2.

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stattdessen versuchte, mithilfe eines vermeintlich systemkonform-quietistischen Islamverständnisses ihre Herrschaft und die Durchsetzung wirtschaftlicher Reformen zu unterstützen. Zu diesem Zwecke suchte sie, und mehr noch die ihr zunächst in dieser Hinsicht folgende Regierung Özal, gerade islamische Gruppen, die bis dato nicht mit einer eigenen politischen Agenda, sondern nur als Unterstützer der Mitterechtsparteien hervorgetreten waren, zu stärken. Da die Nurcus in diese Kategorie gehörten, wurden auch sie umworben.32 Die damals dominierende Untergruppe der Nurcus war die Yeni AsyaGruppe, benannt nach der von ihr herausgegebenen Zeitung und der mit ihr verbundenen Stiftung (Neues Asien), die sich jedoch diesem Ansinnen verweigerte, da sie den Putsch als einen weiteren Versuch der militärisch-bürokratischen Elite zur Sicherung ihrer privilegierten Stellung betrachtete. Andere Nurcus, vor allem die Anhänger des in Erzurum agierenden Mehmed Kırkıncı (in der Folge Kırkıncı-Gruppe) wie auch der in I˙zmir bereits seit Längerem unabhängig tätige Fethullah Gülen, folgten den Avancen der Generäle und Özals bereitwillig.33 Dieses sehr unterschiedliche Verhalten spiegelt wider, dass die Exponenten dieser Gruppen schon länger aus dem Werk und Wirken Said Nursis recht unterschiedliche Schlüsse hinsichtlich ihrer gesellschaftspolitischen Vorstellungen zogen. Die Anhänger der Yeni Asya-Gruppe hielten Süleyman Demirel weiterhin die Treue. Mit ihm verband dieser Zweig der Nurcus ein ausgeprägter Antietatismus. In Köprü (Brücke), ihrem Debattenmagazin, gab die Yeni Asya-Gruppe Demirel die Gelegenheit, seine Auffassungen ausführlich darzulegen. Demirel rekurriert in den entsprechenden Interviews auf Klassiker des angelsächsischen politischen Denkens, um die Freiheit des Individuums gegen staatliche Eingriffe, zumal demokratisch nicht legitimierte, zu verteidigen. Dabei bemüht er sich erkennbar, dieses Politikverständnis der angestrebten Zielgruppe schmackhaft zu machen, ohne sich völlig vereinnahmen zu lassen. So legt er ausführlich dar, dass die Autonomie des Einzelnen impliziere, dass religiöse Aktivitäten nicht beschränkt werden dürften, zugleich betont er jedoch die Autonomie der Politik als gesetzgebende Instanz, wenn er mit Rückgriff auf die Position der Religionsbehörde betont, dass in der islamischen Offenbarung vier Aspekte behandelt würden, nämlich Glauben, Ritual, Handlungen und Strafen. Zu den beiden letzten seien nur allgemeine Prinzipien festgelegt worden. In diesem Sinne

32 Vgl. ebd., 2.2.2.2.4., 4.1.3. 33 In den 1990er Jahren wurde Yeni Asya mehrfach verboten. Die Zeitung erschien daraufhin unter dem Titel Yeni Nesil (Neue Generation).

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spricht sich Demirel beispielsweise dagegen aus, das Tragen des Kopftuches zur Pflicht zu erklären.34 Dieser kleine Exkurs zu einem Politiker, der nicht zu den Nurcus gehört, erscheint deswegen angebracht, weil seine Ausführungen, die durchaus mit liberal-konservativem Politikverständnis westeuropäischen Zuschnitts kompatibel sind, verdeutlichen, dass der Yeni Asya-Zweig der Nurcus den Begriff Freiheit in nicht unproblematischer Weise in Beschlag genommen hat. So wird in Berichten über Westeuropa durchweg hervorgehoben, dass die Freiheit der Religionsausübung dort eines der zentralen Elemente des Grundrechtsverständnisses darstelle, während in Darstellungen Osteuropas die Einschränkung der Religionsfreiheit als wesentliches Element der kommunistischen Herrschaftspraxis hervorgehoben wird. Dabei wird die Ähnlichkeit zum Kemalismus teils implizit suggeriert, teils explizit hervorgehoben. In ganz ähnlicher Weise wie diese Nurcus Kemalismuskritik via politisch unanstößiger Kommunismuskritik betrieben, verurteilten sie die Rolle des Militärs in der türkischen Politik durch negative Darstellungen anderer Militärregimes unterschiedlicher Provenienz (sowohl „rechte“ in Lateinamerika, als auch linke, speziell arabischsozialistische).35 Speziell im türkischen Kontext wird dabei aber stets eine wahre Turquie profonde einer vermeintlichen Elite gegenübergestellt. Dies impliziert, dass in ihrer politischen Vorstellungswelt die Sicht vorherrscht, dass demokratische Prozesse primär dazu dienen, dem als unveränderlich vorgestellten Willen der Bevölkerung Geltung zu verschaffen. Ihr Verständnis von Demokratie und politischer Freiheit ist also keineswegs ergebnisoffen, sondern letztlich instrumentell. Dass die Nurcus die sehr zaghaften Lockerungen von Restriktionen gegen die Linke Mitte/Ende der 1980er Jahre verurteilten (Möglichkeit kommunistischer Aktivisten aus dem Exil zurückzukehren, Aufhebung des Verbots von Werken des Dichters Nâzım Hikmet und des Filmregisseurs Yılmaz Güney), ist ein deutlicher Beleg hierfür.36 Diese inkonsistente Haltung ist vor dem Hintergrund zu betrachten, dass auch die Vertreter der Yeni Asya-Gruppe Pluralismus und Individualisierung durchweg negativ beurteilen. Dies gilt primär für den Aspekt der Geschlechterbeziehungen. Sie beschränken sich nicht allein darauf, patriarchalische Rollenmodelle 34 Vgl. „Demirel Demokrasi anlatıyor“, in: Köprü, 91, Ekim 1985, S. 8–20; „Demirel’le irticayı konus¸tuk“, in: Köprü, 92, Kasım 1985, S. 3–8; seine Beiträge wurden auch als Buch herausgegeben: Süleyman Demirel, ˙Islâm, Demokrasi, laiklik, Yeni Asya Gazetesi Nes¸riyat, I˙stanbul 1991. Siehe auch: Riexinger, Schöpfungsordnung, 4.1.3.1.2. 35 Vgl. Riexinger, Schöpfungsordnung, 4.1.2.2.1., 4.1.3.1.1. 36 Vgl. Mustafa Kaplan, „TKP taktig˘i“, in: Yeni Nesil, 26. 12. 1986; „Özal, Nazım Hikmet’in ¸siirine alkıs¸ tuttu“, in: Yeni Nesil, 05. 10. 1987; „Yılmaz Güney’in filmleri için kampanya açıldı“, in: Yeni Nesil, 28. 05. 1988.

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zu propagieren, sondern fordern ganz explizit, dass der Staat im öffentlichen Raum und den Medien die Wahrung einer restriktiven Sexualmoral sicherstellen solle. Wie Gesetze beschaffen zu sein hätten, sei letztlich durch unverrückbare göttliche Setzung festgelegt.37 In ähnlicher Weise werden Bildung und Wissenschaft primär in ihrer Funktion zur Normvermittlung vorgestellt. Dies mündet in der impliziten Forderung nach Islamisierung beispielsweise der Naturwissenschaften, also einem Eingriff in die Freiheit der Wissenschaft. Da das endgültige Erkenntnisziel ohnehin bekannt sei, habe die Wissenschaft lediglich die Aufgabe, die passenden Fußnoten zu liefern. Die Fußnoten, die wie die Evolutionstheorie nicht zum Narrativ der harmonisch geordneten Schöpfung passen wollen, verfallen daher dem Verdikt des Materialismus.38 Stellt sich die Haltung der Yeni Asya-Gruppe zum Begriff Freiheit als sehr ambivalent dar, spielt er für die politischen Vorstellungen Kırkıncıs keine Rolle. Im biografischen Rückblick erscheint bei Kırkıncı die Anarchie – das Schlagwort für die bürgerkriegsähnlichen Zustände in den 1970er Jahren – als die für ihn und seine Anhänger prägende Erfahrung. Er berichtet, wie er kurz vor dem Putsch den damaligen Ministerpräsident Demirel aufsuchte, um ihn aufzufordern, den Zuständen ein Ende zu bereiten. Demirel habe ihm erwidert, dass er gerne würde, würde ihm nicht die „linke Verfassung“ (mit ihren Garantien von Freiheiten und Grundrechten) von 1960 die Hände binden.39 Dieser Bericht verdeutlicht, dass in seinem Denken die Freiheit des Individuums von untergeordneter Bedeutung ist, und stattdessen Stabilität absoluten Vorrang genießt. Kırkıncı hat Evren daher nach 1980 erwartungsgemäß nicht nur devot gehuldigt. Der ihm nahestehende Cânan, einer der wenigen Nurcus, der einen theologischen Studiengang an einer Universität absolviert hat, legitimierte in einem umfangreichen Aufsatz über „Ursachen und Gegenmittel der Anarchie im Lichte des Islams“ die Herrschaft des Militärs mit Rückgriff auf die klassische islamische Staatsrechtslehre, indem er aus dem Verbot, gegen den igˇma¯ʿ der umma zu verstoßen, folgert, dass nicht gegen einen muslimischen Führer (lider) opponiert werden dürfe, auf den man sich geeinigt habe.40 Hekimog˘lu I˙smail, der ebenfalls den Putsch unterstützte und heute in Gülen-nahen Medien publiziert, erklärte gar den Pluralismus für problematisch, da den Gelehrten zufolge die Einheit der islamischen Gemeinde als vorrangiges Gut zu betrachten sei. Particilik (ein abfälliger Begriff für Parteienpluralismus) sei hingegen ein europäi37 38 39 40

Vgl. Riexinger, Schöpfungsordnung, 4.4.1.2. Vgl. ebd., 3.3., 3.5–7, 3.13. Vgl. Kırkıncı, Hayatım – Hatıralarım, Istanbul 2004, S. 269f. Vgl. I˙brahim Cânan, ˙Islâm ıs¸ıg˘ında anars¸i: sebebler, tedbirler, çareler, CihanYayınları, Istanbul 1984, S. 244f. Kırkıncı hat für dieses Buch eine Widmung verfasst, in der er die Armee und ihr Eingreifen preist.

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scher Import. Gleichwohl hält er die Existenz diverser cemaatler innerhalb der islamischen Gemeinschaft für akzeptabel, wenn sie den Fakultäten einer Universität vergleichbar seien, die sich verschiedenen Bereichen widmen, aber dennoch ergänzen.41 Für den starken Staat und gegen das Recht auf Opposition sprach sich auch Gülen bis in die 1990er Jahre aus.42 Wenn Kırkıncı von Freiheit redet, meint er damit allein, dass es keine Beschränkung der religiösen Praxis geben dürfe. So solle Freiheit aber dergestalt definiert werden, dass sie ihre Grenze nicht allein bei den Rechten des Mitmenschen, sondern auch bei denen Gottes finde. Daraus folgt, dass „negative Ideologien“ bekämpft werden sollen. In dieser Hinsicht besteht kein Unterschied zu den Positionen der Yeni Asya-Gruppe. Denn zu den Dingen, die am allermeisten zur Auflösung der gesellschaftlichen Moral beigetragen haben sollen, gehörten eben jener Schmutz und Schund in den Medien und verderblicher Materialismus in den Lehrplänen, wie sie auch von Yeni Asya beklagt würden.43 Solche Äußerungen mögen islamistischen Ideologen nahe kommen, gleichwohl ist nicht zu verkennen, dass sich Kırkıncı keinerlei Illusionen über die Möglichkeit machte, dass Özal oder Evren ein tief greifendes Islamisierungsprogramm durchsetzen, und er selbst erhebt keinen Anspruch auf politische Macht. Insofern knüpft er eher an die traditionelle Haltung islamischer Gelehrter an, die dem Herrscher, so er die Ordnung garantiere, seine nicht ganz islamkonforme Lebensweise durchgehen lässt.44 Die Wirkung der von diesem Zweig der Nurcus betriebenen Lobbyarbeit zur Durchsetzung ihrer Positionen in Teilbereichen sollte durchaus nicht unterschätzt werden. Ein herausragendes Beispiel hierfür ist der Einfluss den Anhänger Kırkıncıs, namentlich des Botaniker Âdem Tatlı, auf die Ausgestaltung von Biologie-Lehrplänen gewannen (es gelang zwar nicht, die Evolutionstheorie ganz aus den Lehrplänen zu streichen, jedoch die anstößigsten Teilaspekte zu entfernen).45 Es ist allerdings hervorzuheben, dass beide hier dargestellten Strömungen der Nurcus dahingehend übereinstimmen, dass sie den politischen Konzepten der Islamisten eine klare Absage erteilen, eben gerade weil jene ihrerseits ihre Konzepte durch die Übernahme des Staatsapparates und die Anmaßung gewaltsam durchzusetzender diktatorischer Vollmachten verwirklichen wollen.46

41 Vgl. Hekimog˘lu I˙smail, 100 Soruda Bediüzzaman Said Nursi, Risale-i Nur Külliyatı ve Risale-i Nur Talebeleri, Timas¸ Yayınları, Istanbul 1994, S. 61–63. 42 Vgl. Filiz Bas¸kan, „The Fethullah Gülen community: Contribution or barrier to the consolidation of democracy in Turkey?“ , in: Middle Eastern Studies, 41 (2005), S. 849–861, dort S. 855. 43 Vgl. Kırkıncı, Hayatım, S. 470–481. 44 Vgl. Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft, Zürich 1981. 45 Vgl. Riexinger, Schöpfungsordnung, 3.3.5. 46 Vgl. ebd., 4.1.4.1.

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Der Begriff der Freiheit im Werk Said Nursis ist allerdings nicht allein unter den Gesichtspunkten interessant, wie er und seine geistigen Erben Freiheit verstehen und welche Bedeutung sie ihr zumessen. Dieses Beispiel verdeutlicht auch die Problematik (oder auch Chancen), die Said Nursis Werk offenlegt, und es wirft ein Licht auf die Rezeption seiner Lehren durch seine Anhänger. Said Nursi war alles andere als ein um Stringenz bemühter Theoretiker. Gerade wenn es um gesellschaftspolitische Konzepte geht, erweist sich vieles als widersprüchlich. Dieser Sachverhalt dürfte die Zerrissenheit zwischen der Verwurzelung in hergebrachten islamischen Vorstellungen und der Einsicht in die Dysfunktionalität vieler von ihnen ebenso widerspiegeln wie die Tatsache, dass der liberale Verfassungsstaat Freiheit gewährt, die Durchsetzung öffentlicher Moral jedoch erheblich erschwert. Viele Äußerungen Said Nursis sind zudem aus dem jeweiligen Lebenskontext heraus zu erklären. Im Gegensatz zu rechtstheoretischen und theologischen Werken, die versuchen das heterogene Material in Koran und Prophetentradition zu systematisieren, handelt es sich bei der Risale-i Nur um eine Sammlung, die selbst in starkem Maße interpretiert und „auf Linie“ gebracht werden muss. Dass diese Sammlung dabei mit Blick auf die praktische Bedeutung de facto an die Stelle von Koran und Sunna getreten ist, stellt ein Charakteristikum der Nurcu-Bewegung dar. Mit Anspielung auf Said Nursis Äußerung, die Risale-i Nur sei der Mond der Erkenntnis (kamer-i marifet), den das Licht des Korans zum Leuchten bringe, brachte Hamid Algar dieses Phänomen mit den Worten „it sometimes seems as if, for his followers, the moon has become brighter than the sun“47 auf den Punkt.

Literatur Algar, Hamid, „Said Nursi and the Risala-i Nur: an aspect of Islam in contemporary Turkey“, in: Ahmad, Khurshid/Ansari, Zafar Ishaq (Hg.), Islamic Perspectives: Studies in honour of Mawla¯na¯ Sayyid Abul Aʿla¯ Mawdu¯dı¯, Leicester & Jeddah 1979, S. 313–334. Bas¸kan, Filiz, „The Fethullah Gülen community: Contribution or barrier to the consolidation of democracy in Turkey?“ , in: Middle Eastern Studies, 41 (2005), S. 849–861. Bora, Tanıl, „Adnan Menderes“, in: Yılmaz, Murat (Hg.), Liberalizm (Modern Türkiye’de siyasi düs¸ünce; 7), Istanbul 2005, S. 482–507. Calverley, E. E., „Nafs“, in: Encyclopaedia of Islam, 2nd edition, Vol. VII, S. 880f. Cânan, I˙brahim, ˙Islâm ıs¸ıg˘ında anars¸i: sebebler, tedbirler, çareler, CihanYayınları, Istanbul 1984. 47 Hamid Algar, „Said Nursi and the Risala-i Nur: an aspect of Islam in contemporary Turkey“, in: Khurshid Ahmad/Zafar Ishaq Ansari (Hg.), Islamic Perspectives: Studies in honour of Mawla¯na¯ Sayyid Abul Aʿla¯ Mawdu¯dı¯, Leicester & Jeddah 1979, S. 313–334, dort S. 330.

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„Demirel Demokrasi anlatıyor“, in: Köprü, 91, Ekim 1985, S. 8–20. „Demirel’le irticayı konus¸tuk“, in: Köprü, 92, Kasım 1985, S. 3–8. Demirel, Süleyman, ˙Islâm, Demokrasi, laiklik, Yeni Asya Gazetesi Nes¸riyat, Istanbul 1991. Hekimog˘lu, I˙smail, 100 Soruda Bediüzzaman Said Nursi, Risale-i Nur Külliyatı ve Risale-i Nur Talebeleri, Timas¸ Yayınları, Istanbul 1994. Kaplan, Mustafa, „TKP taktig˘i“, in: Yeni Nesil, 26. 12. 1986. Kırkıncı, Mehmet, Hayatım – Hatıralarım, Istanbul 2004. Nagel, Tilman, Staat und Glaubensgemeinschaft, Zürich 1981. Nursi, Said, Barla Lâhıkası, Istanbul 2000. Ders., Emirdag˘ Lâhıkası, Istanbul 2000. Ders., ˙I¸sâratü l-I˙‘câz, Istanbul 2001. Ders., Kastamonu Lâhıkası, Istanbul 2000. Ders., Lemeat, Istanbul 2003. Ders., Mektubat, Istanbul 2002. Ders., Münazarat, URL: http://www.risaleara.com/icindekiler.asp?kid=13 (letzter Zugriff: 09. 08. 2011). Ders., Sözler, Istanbul 2002. Ders., S¸ualar, Istanbul 2001. „Özal, Nazım Hikmet’in ¸siirine alkıs¸ tuttu“, in: Yeni Nesil, 05. 10. 1987. Riexinger, Martin, Die verinnerlichte Schöpfungsordnung. Weltbild und normative Konzepte in den Werken Said Nursis (gest. 1960) und der Nur Cemaati, unveröffentlichte Habilitationsschrift, Göttingen 2010. Suchmaschine Risale-i Nur Arama Motoru, URL: http://www.risaleara.com/ara.asp?a=h% FCrriyet&t=2&b=2&k=0 (letzter Zugriff: 16. 12. 2010). Uçar, Bülent, Recht als Mittel zur Reform von Religion und Gesellschaft. Die türkische Debatte um die Scharia und die Rechtsschulen im 20. Jh., Würzburg 2005. „Yılmaz Güney’in filmleri için kampanya açıldı“, in: Yeni Nesil, 28. 05. 1988.

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Wie frei ist der Mensch im Handeln und Denken: qadar und igˇtiha¯d bei Said Nursi

Einführung Die Frage der menschlichen Freiheit im Handeln und Denken, mit welcher sich Said Nursi in seinem wohl wichtigsten Werk Risale-i Nur unter anderem auch beschäftigt, ist eine jener Fragen, mit welcher sich die islamischen Gelehrten schon in der Frühzeit des Islam beschäftigten1 und anhand der ersten und grundlegenden Quellen der islamischen Gelehrsamkeit, des Korans als der göttlichen Offenbarung sowie der sunna bzw. des Hadith als der prophetischen Tradition, versuchten, entsprechende Antworten auf diese und andere Fragen, wie etwa die Fragen der Eigenschaften Gottes, der Natur des Glaubens und Unglaubens, der Eschatologie usw., zu geben. Über die Frage der menschlichen Freiheit hinaus umfasst dieser Beitrag auch Schwerpunkte, die – zumindest auf den ersten Blick und rein formell betrachtet – in unterschiedlichen Bereichen der islamischen Gelehrsamkeit angesiedelt sind. Während der Begriff qadar in den Bereich der islamischen Dogmatik – ʿaqı¯da bzw. der islamischen Theologie – kala¯m gehört, ist der Begriff igˇtiha¯d ein für das islamische Recht, fiqh, und die Theorie des islamischen Rechts, usu¯l al-fiqh, charakteristischer Begriff. Vor dem ˙ Hintergrund des Themas dieses Beitrags wird es daher interessant auf die jeweiligen Konzepte, die hinter den genannten Begriffen stehen und über die scheinbar formellen Grenzen beider genannten islamischen Wissenschaften hinaus auch auf die eventuellen Gemeinsamkeiten und Einflüsse aber auch Trennlinien zu schauen. Ein weiteres Problem, welches sich in diesem Zusammenhang stellt, ist im Hinblick auf die Konzepte von qadar und igˇtiha¯d die inhaltliche Verortung der im Titel dieses Beitrags enthaltenen Begriffe des Handelns und Denkens. In 1 Muhammad Abdel Haleem, „Rani Kelam. Definicija i historijski razvoj“, in: Adnan Silajdzˇic´ (Ed.), Rane ˇskole kelama. Uvod u islamsko klasicˇno misˇljenje, Fakultet islamskih nauka u Sarajevu, Sarajevo 2004, S. 24–25. Derselbe Beitrag ist in englischer Sprache mit dem Titel „Islamic Theology“ abrufbar, URL: http://www.muslimphilosophy.com/ip/rep/H009 (letzter Zugriff: 23. 12. 2010).

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diesem Beitrag wird – in erster Linie anhand der Thesen von Said Nursi – auch den Fragen der gegenseitigen Beziehungen und Bezüge zwischen den genannten Begriffen nachgegangen. In diesem Zusammenhang wäre also wichtig darzulegen, worauf sich der Begriff qadar genau bezieht, auf das Handeln oder doch das Denken. In derselben Fragestellung verhält sich ebenso mit dem Begriff igˇtiha¯d. Auch hier müsste eine konzeptionell klare Trennlinie gezogen und bestimmt werden, worauf sich der Begriff igˇtiha¯d bezieht. Aus diesem Grund soll sich zunächst mit dieser Problematik beschäftigt werden. Die entsprechende Klärung dieser Problematik soll in letzter Konsequenz zum notwendigen Verständnis des Themas im Allgemeinen und bei Said Nursi im Speziellen beitragen.

Das Problem der Begrifflichkeit Eines der Probleme, welches sich für eine strukturelle Behandlung des Themas der menschlichen Freiheit anhand der Ausführungen von Said Nursi ergibt, ist die hier zu verwendende Begrifflichkeit. Das Begrifflichkeitsproblem scheint sich in erster Linie nur in einem formellen Bereich zu widerspiegeln, da die Fachbegriffe qadar und igˇtiha¯d sich, wie erwähnt, auf unterschiedliche islamische wissenschaftliche Disziplinen beziehen. Doch das Problem der Begrifflichkeit umfasst viel mehr als es zunächst erscheint. Denn die theologischen Begriffe oder Termini – im Rahmen dieses Beitrags insbesondere der Begriff qadar – sind nicht nur von einer gegenseitigen Beziehung abhängig, sondern viel mehr von den Wirklichkeiten, welche sie als solche darstellen sollen.2 In diesem Zusammenhang stellt sich beispielsweise die logische Frage, ob und wie es überhaupt möglich ist, in einer konzeptionellen Dimension der absoluten göttlichen Transzendenz überhaupt von einem solchen transzendenten Gott zu sprechen. Diese Frage wird an dieser Stelle besonders hervorgehoben, da sich die Frühzeit des Islam speziell und im Islam grundsätzlich durch die Betonung des Konzepts der Einzigkeit Gottes (tawh¯ıd) kennzeichnen lässt. Die ersten theologischen ˙ Diskussionen kreisten um dieses Konzept, die frühen islamischen theologischen Schulen beschäftigten sich mit diesen auf Gott bezogenen Wirklichkeiten: Gott als Einer, Einziger, Erschaffer, Allmächtiger, Allbarmherziger usw.3 Aus einem insbesondere in islamischen mystischen Kreisen oft verwendeten prophetischen Hadith lässt sich heraushören, dass das Wesen Gottes bzw. Seine Wesenswirklichkeit mit menschlichen Erfahrungsmöglichkeiten nicht erfahrbar 2 Adnan Silajdzˇic´, „Uvod“, in: Ders. (Ed), Rane ˇskole kelama, S. 8. 3 Ebd.

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ist,4 daher sollen sich Menschen mit ihr auch nicht beschäftigen. Vielmehr – und das wird, wie später noch dargelegt wird, auch in Said Nursis Ausführungen über qadar allzu deutlich – soll sich der Mensch Gedanken über die Attribute Gottes und Seine Geschöpfe, als das Ergebnis bzw. Wirklichkeit Seines Attributs des Erschaffens, machen, als über Sein Wesen nachzudenken. Dieses Dilemma kann noch weiter, unabhängig von den menschlichen Erfahrungsmöglichkeiten, zugespitzt werden. Denn selbst wenn der Mensch solche Möglichkeiten besitzen würde, die Wirklichkeit des göttlichen Wesens zu erfassen, würde sich ihm zwangsläufig ein weiteres und nicht weniger bedeutendes Problem stellen. Es handelt sich hierbei um ein rein sprachliches Problem, welches in der folgenden Frage enthalten ist: wie über Gott in eingeschränkter menschlicher Sprache sprechen und würde eine tatsächliche Erfahrung der göttlichen Wesenswirklichkeit seitens des Menschen in der menschlichen Sprache überhaupt wiedergegeben und sprachlich adäquat benannt werden können? Die islamischen Gelehrten der Frühzeit des Islam scheinen die dargestellten Dilemmata in einer strukturell differenzierten Weise gelöst zu haben. Inhaltlich betrachtet beschäftigten sie sich mit den grundlegenden und unumstrittenen Grundsätzen des Glaubens im Islam, wie etwa mit der Frage nach der Existenz Gottes, fast gar nicht. Wenn sie dies doch taten, geschah das eher aus apologetischen und nicht aus innerislamisch konzeptionellen Gründen. Sie gingen – je nach Bedarf – vielmehr von den göttlichen Attributen aus, etwa von der göttlichen Beziehung zur erschaffenen Welt und zu den Geschöpfen.5 In der methodologischen Hinsicht auf der anderen Seite ist die Bedienung eines Prozesses, welcher speziell im Bereich der islamischen normativen Praxis fiqh bzw. ihrer Theorie usu¯l al-fiqh verortet ist, unübersehbar. An diesem Punkt wird auch eine ˙ Schnittstelle zwischen rein theologischen und normativen Inhalten deutlich. Für die Beantwortung der theologischen Fragen wandten sie im Grundsatz den Prozess der Interpretation an, eine Art theologischen igˇtiha¯d, in welchem Analogien, Symbole und Bilder, jenes was durch menschliche Fähigkeiten erfassbar ist, eine ausschlaggebende Rolle spielten.6 Am Ende dieses Abschnitts soll nun im Hinblick auf die Risale-i Nur von Said Nursi schließlich auf ein weiteres, sprachverwandtes Problem hingewiesen werden. Durch die Lektüre dieses Werkes offenbart sich das vorhin ausführlich dargestellte Problem der sprachlichen Benennung der theologischen Begriffe deutlich. Die Eingeschränktheit der sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten der 4 „Denkt nicht über das Wesen Allahs, sondern vertieft eure Gedanken in der von Ihm erschaffenen Schöpfung.“ Diesen Hadith überlieferte Ibn Abbas und er wurde von der Web-Seite der Internationalen Mevlana Stiftung in der Schweiz übernommen: URL: http://www.mevlana.ch/con tent/index.php?option=com_content&task=view&id=66&Itemid=56 (Stand 25. 12. 2010). 5 Adnan Silajdzˇic´, „Uvod“, S. 9. 6 Ebd. S. 9–10.

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vorhin dargestellten theologischen Überlegungen werden besonders in der Übersetzung deutlich, in der das Problem der angemessenen Anwendung dieser Begriffe und dementsprechend des adäquaten Verständnisses – nicht nur in ihrem semantischen Sinn – sondern und vielmehr der inhaltlichen Konzepte, welche dahinter stehen, allzu sichtbar wird. Als Beispiel sei hier etwa erwähnt, dass die Risale-i Nur – zumindest in der deutschen Übersetzung – weitestgehend von der göttlichen Vorhersehung bzw. Vorsehung spricht.7 Auch im übrigen islamologischen Kontext in der deutschen Sprache wird der Begriff qadar als Schicksal, Verhängnis und Fatalismus verstanden und angewandt.8 Schließlich sind in diesem Bereich auch die Begriffe göttliche Vorherbestimmung, Prädestination, höhere Gewalt anzutreffen.9 Aus der Sicht des Autors entspricht keiner dieser Begriffe dem eigentlichen Sinn- und Konzeptionsinhalt des Begriffs qadar.10 Es ist es daher weder möglich, die formellen Grenzen beider islamischer wissenschaftlicher Disziplinen und ihre gegenseitigen Beziehungen zu verstehen, noch die adäquate sprachliche Anwendung vorzunehmen, solange eine inhaltliche Konzeption des Begriffs nicht berücksichtigt wird. Die islamwissenschaftliche und islamtheologische Fachliteratur spricht zwar überwiegend von der göttlichen Prädestination etwa, im alltäglichen Sprachgebrauch scheint sich der Begriff Schicksal durchgesetzt zu haben. Dies kann aber als Versuch, das Konzept, welches der Begriff qadar in sich trägt, an Ausdrucksmöglichkeiten der jeweiligen Sprache anzupassen, verstanden werden. Auf der anderen Seite – und Said Nursi bestätigt dies im Grunde genommen in seinen Ausführungen – stellen all die genannten Begriffe als vermeintliche Übersetzungssynonyme nur Unterbereiche dessen dar, was der ursprüngliche arabische Begriff qadar in sich birgt.11 Teilweise haben sie sogar eine völlig andere Bedeutung oder werden mit Glaubensinhalten, die außerhalb des Islam angesiedelt sind, verbunden.12 Der Autor wird zwar in diesem Beitrag die Begrifflichkeit des Said Nursi ebenfalls verwenden, er plädiert jedoch aus den dargestellten Gründen dafür, den Begriff qadar grundsätzlich und über das Thema dieses Beitrags hinaus in seiner ursprünglichen arabischsprachigen Form zu verwenden, wobei der Autor die – zumindest grundlegende – Kenntnis der in den Debatten islamischer Gelehrten und theologischer Schulen etablierten 7 Siehe als Beispiel Said Nursi, Risale-i Nur, übers. v. Team, Sözler Publication, Köln/Istanbul 2002, S. 588. 8 Amir M.A. Zaidan, Al-′Aqida. Einführung in die Iman-Inhalte, Offenbach 21999, S. 215. 9 Hans Wehr, Arabisches Wörterbuch für die Schriftsprache der Gegenwart, Arabisch-Deutsch, Wiesbaden 51990, S. 1004–1005. 10 Siehe hierzu eine Abhandlung über qadar in: Muhammed El Gazali, Vjerovanje jednog muslimana, Behrambegova medresa u Tuzli, Tuzla 1995, S. 123–146. 11 Said Nursi, Risale-i Nur, S. 587–595. 12 Amir M.A. Zaidan, Al-′Aqida, S. 215.

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Konzepte dieses Begriffs voraussetzt. Dafür sprechen mehrere Gründe, auf welche teilweise und unter Berücksichtigung der Thesen von Said Nursi im Weiteren eingegangen wird. Einer davon wäre beispielsweise Said Nursis Betrachtung des qadar als Pfeiler des islamischen Glaubens.

Qadar als Pfeiler des islamischen Glaubens Unter den Muslimen herrscht Konsens darüber, dass der islamische Glaube sich auf sechs Pfeilern stützt: Glaube an Gott, Engel, Propheten, Offenbarungen, Jüngstes Gericht und an qadar. Diesen letzten Glaubenspfeiler beschreibt Said Nursi als äußerste Grenze des Islam. Damit ist die – wie er es ausdrückt – die göttliche Vorhersehung und menschliche Willensfreiheit zu verstehen.13 Auf das gegenseitige Verhältnis zwischen der göttlichen Vorhersehung und der menschlichen Freiheit als Unterbereiche von qadar wird im späteren Verlauf noch eingegangen. An dieser Stelle ist es jedoch wichtig, einen weiteren Aspekt im Bereich des qadar anzusprechen, der in einer – auf den ersten Blick unauffälligen – Aussage von Said Nursi enthalten ist. Alles geschieht mit der Würdigung des Allmächtigen Gottes, sagt er.14 Hiermit stellt Said Nursi eine grundsätzliche Verbindung zwischen dem sechsten Glaubenspfeiler qadar und dem ersten, dem Glauben an Gott dar. Spezifiziert betrachtet, geht es hierbei um den Glauben an die göttlichen Attribute. Es scheint, dass in seinem Konzept des qadar in erster Linie die göttlichen Attribute des Allwissens sowie der Allmacht und des Willens eine zentrale Rolle spielen. Folgt man dieser Überlegung, wäre die göttliche Würdigung aller Geschehnisse, von welcher Said Nursi spricht, das konkrete Ergebnis des göttlichen Attributs des Allwissens. Gott besitzt demnach ein Vorauswissen, welches alle Existenz und Nichtexistenz umfasst. Gott weiß dementsprechend – und das ist entscheidend – im Voraus, schon in und aus der anfangslosen Vor-Ewigkeit, wie sich die Geschehnisse in der Zukunft, wenn sie aus der. Nichtexistenz in die Existenz übergehen, also in der Realität, verwirklichen werden. Dies bezieht sich gleichermaßen auf die gesamte göttliche Schöpfung und ihre Handlungen, die – nach Said Nursi – das von Gott Gewusste darstellen.15 Durch die Verwirklichung dieses Gewussten in der Realität stellt sich eine äußere – für den Menschen nachvollziehbare – Existenz und Verbindung zum göttlichen Wissen her, was sich in der Frage der inhaltlichen Vereinbarkeit der göttlichen Vorhersehung und der menschlichen Freiheit ausdrückt. 13 Said Nursi, Risale-i Nur, S. 587–588. 14 Ebd., S. 595. 15 Ebd., S. 592–593.

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Die Frage der Vereinbarkeit von göttlicher Vorhersehung und menschlicher Willensfreiheit Die Frage der Vereinbarkeit der göttlichen Vorhersehung und der menschlichen Freiheit begründet Said Nursi folgendermaßen: Aus dem göttlichen Attribut des Allwissens resultiert göttliche Vorhersehung und das göttliche Attribut des Willens resultiert wiederum in der menschliche Willensfreiheit. Göttliche Vorhersehung und menschliche Willensfreiheit sind auf diese Weise miteinander verbunden. Beide stehen demnach in keinem Widerspruch zueinander, weil – wie gesagt – die göttliche Vorhersehung an sich zum göttlichen Wissen gehört.16 Das menschliche Wissen auf der anderen Seite ist selbst nicht imstande das Wesen der menschlichen Willensfreiheit zu erfassen, weil sie dem Menschen seinem Wesen entsprechend unbekannt ist. Aus dem Verhältnis zwischen menschlichem Wissen und menschlicher Willensfreiheit ergibt sich im Gegensatz zum Verhältnis zwischen der göttlichen Vorhersehung als Teil des göttlichen Wissens und der menschlichen Willensfreiheit ein ganz anderes Modell. Da das menschliche Wissen das Wesen der Willensfreiheit nicht (er)kennt, bedeutet dies nicht, dass es die Willensfreiheit überhaupt nicht gibt. Es sind zwei vollkommen unterschiedliche Sachverhalte, die Natur der Dinge zu erkennen oder über ihre Existenz Bescheid zu wissen. Denn es gibt viele Dinge, deren Existenz für den Menschen eindeutig ist und über die er sich darüber bewusst ist, während deren Wesen für ihn weiterhin unbekannt bleibt. Wörtlich sagt er: „Unser Nichtwissen von etwas beweist nicht seine Nichtexistenz.“17

Der Einfluss der göttlichen Vorhersehung auf die menschlichen Entscheidungen und Handlungen Vor dem Hintergrund des göttlichen Attributs des Allwissens und des daraus resultierenden Gewussten stellt sich die Frage des Einflusses der göttlichen Vorhersehung auf menschliche Entscheidungen und Handlungen. Said Nursi weist in diesem Zusammenhang auf die Tatsache hin, dass alles Existierende, bevor es existiert und nachdem es die Existenz verlassen hat, von Gott in seinem All- und Vorauswissen nicht nur gewusst, sondern auch auf der Wohlbewahrten Tafel (al-lawh al-mahfu¯z) aufgeschrieben ist.18 Nach ihm ist dies ebenfalls ein Teil ˙ ˙ ˙ des qadar-Konzepts, an welchen geglaubt werden muss und das ein Ausdruck der göttlichen Ordnung und Gesetzmäßigkeit im ganzen Universum ist. Alle Existenz 16 Ebd., S. 592. 17 Ebd. 18 Ebd., S. 592, Koran 85:22.

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und ihre Lebensgeschichte in der Wirklichkeit, sei es materiell oder immateriell, groß oder klein, gut oder böse, in welcher Form oder Proportion auch immer, ist im göttlichen Allwissen verankert.19 Diese Frage ist auch vor dem Hintergrund der islamisch-rechtlichen Normierung der menschlichen Taten und Handlungen wichtig. Somit zeigt sich, dass die Konzepte von qadar – so sehr sie sich auf einer metaphysischen Ebene befinden und diese berühren – in einem unmittelbaren Zusammenhang zu den gänzlich realen und konkreten Bestimmungen des islamischen Rechts und seiner praktischen Ausübung und Anwendung stehen. Dessen ist sich auch Said Nursi bewusst und er greift in seinen Ausführungen zum sechsten Glaubenspfeiler des Islams schon vor, indem er einen hypothetischen und mit der menschlichen Logik nachvollziehbaren Einwand aufstellt, womit er im Grunde genommen das Verhältnis der göttlichen Vorhersehung und der menschlichen Willensfreiheit anspricht. Dies umfasst im Übrigen ein Thema, welches schon in der Frühzeit des Islam sehr heftig diskutiert wurde.

Verhältnis zwischen göttlicher Vorhersehung und menschlicher Willensfreiheit So kann jemand etwa sagen: „Die göttliche Vorhersehung hat uns auf diese Weise gefesselt. Sie hat uns unsere Freiheit genommen!“20 Diesem Vorwurf tritt Said Nursi entschieden entgegen und betont die dem Menschen von Gott gegebene Willensfreiheit. Gerade im Bereich des qadar spiegelt sie sich wieder, da Gott durch den qadar dem Menschen die Möglichkeiten und Freiheiten gewährt, seine Entscheidungen selbst, eigenständig und unabhängig zu treffen und ihnen entsprechend zu handeln. Dies erfolgt ebenfalls aus den göttlichen Attributen. Die göttliche Allmacht und der Wille sind dafür entscheidend. Denn die menschliche Willensfreiheit stellt – wie vorhin dargestellt – einen Teil des allumfassenden und universalen göttlichen Willens dar. Durch seine Allmacht erschafft Gott den Menschen und den menschlichen Willen. Die menschliche Willensfreiheit resultiert daher aus dem göttlichen Willen und bildet die Basis für die Wahlfreiheit, für die Entscheidungen und Verrichtung der Taten und ihre Verwirklichung in der Realität. Im Mittelpunkt des Verhältnisses zwischen göttlicher Vorhersehung und menschlicher Willensfreiheit steht die menschliche Seele, von Said Nursi im Einklang mit der islamischen Tradition als Triebseele – al-nafs al-amma¯ra bi ssu¯ʾ genannt. Sie ist jenes Element des Menschen als Geschöpf Gottes, welches das 19 Ebd. 20 Ebd., S. 598.

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Böse möchte und sich zum Bösen hingezogen fühlt. Die Aufgabe der göttlichen Vorhersehung ist, die Seele vor Stolz zu retten, jener Eigenschaft, die zum Bösen führt, während die menschliche Willensfreiheit verhindert bzw. verhindern kann, dass die Seele verantwortungslos wird.21 Aus diesem Verhältnis resultiert, dass die Existenz des Bösen nicht der göttlichen Vorhersehung in seinem Wesen und an sich dem Bösen zugerechnet werden kann. Die Existenz des Bösen ist vielmehr – so paradox dies erscheinen mag – Ausdruck der göttlichen Gnade, die sich in Seinem Attribut des Erschaffens widerspiegelt. Gottes Gnade besteht in der Tatsache, dass Er durch die Erschaffung des Bösen den Raum für die Verwirklichung der menschlichen Willensfreiheit ermöglicht und seiner Seele, die ohnehin – wie Said Nursi dies betont – das Böse bzw. schlechte Taten möchte, die Möglichkeit der Wahl gewährt. Nicht Gott und Seine Erschaffung ist an sich Ursache und Ursprung des Bösen, weil Gott die Existenz des Bösen durch sein Erschaffen ermöglicht, sondern der Mensch und seine Seele, die durch die Willensfreiheit des Menschen, die das Böse möchte und dies auch verwirklicht, verursachen seine Existenz. Denn in der göttlichen Erschaffung gibt es kein Übel und keine Hässlichkeit. Vielmehr ist in seinem Wesen das Begehen des Bösen böse. Wörtlich sagt er: „Es ist die menschliche Seele, die bösen Taten will; entweder durch innere Veranlagung oder durch die Wahl.“22 Dementsprechend trägt sie auch die Verantwortung. Daher akzeptiert ein glaubender Mensch, dass die menschliche Willensfreiheit die Quelle des Bösen ist und verkündet zugleich, dass der Schöpfer ohne Fehler ist. Umgekehrt verhält es sich bei einem Ungläubigen: die Sünden und das Böse schiebt er auf die göttliche Vorhersehung ab und übernimmt keine Verantwortung für seine schlechte Taten. Die bisherigen Ausführungen führen in einen Bereich, der die Lebens- und Glaubenspraxis der Menschen betrifft und ihre Handlungen aus der normativen Sicht islamischen Rechts qualifiziert. Auch Said Nursi widmet sich diesem Thema, zwar nicht so ausführlich wie im Falle der göttlichen Vorhersehung und der menschlichen Freiheit, dennoch so ausführlich, dass man seine Position hierzu kurz vorstellen kann. Vor der Beschäftigung mit seinen Ansichten zur Frage der Rechtsfindung – igˇtiha¯d – im Islam sollen einige einführende Anmerkungen zu diesem Prozess innerhalb des islamischen Rechts aufgeführt werden.

21 Ebd., S. 588. 22 Ebd.

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Die Quellen der rechtlichen Ratgebung im Islam In der Tradition wird überliefert, dass Muhammad, der Prophet des Islams, bevor er im Jahre 632 verstarb, während der Abschiedswallfahrt, als eine Art des Vermächtnisses Folgendes gesagt hat: „Ich lasse Euch zwei Dinge zurück. Solltet ihr an ihnen festhalten, werdet ihr vom rechten Wege nicht abkommen: Allahs Buch und meine Lebensweise.“23 In diesem Moment fasste er in seiner Abschiedsrede jenes zusammen, was für ein, nach islamischem Verständnis, geordnetes, erfolgreiches und glückliches Leben auf der Erde notwendig ist. Hier konnte Muhammad voller Stolz feststellen, dass er „seinen Anhängern nicht nur den ‚Glauben‘ als Mittel für die Beziehung eines Menschen zu seinem Schöpfer gegeben hat, sondern auch eine Ansammlung der Gesetze, die für alle Notwendigkeiten des alltäglichen Lebens, in allen Zeiten, in allen Erdteilen anwendbar sind.“24 Der obigen Aussage des Propheten kann man entnehmen, dass die ersten und bedeutendsten Quellen des ganzen islamischen Glaubens der Koran und die „Lebensweise“ (Sunna) des Propheten sind. Beide Quellen enthalten, unter anderem, islamische Rechtsnormen und stellen somit eine Grundlage für die Entwicklung und Vervollständigung des islamischen Rechtssystems. Denn in ihnen wurde, wie später gezeigt wird, eine Grundlage des späteren Rechtssystems im Islam gelegt, das in den Zeiten nach dem Tod des Propheten auf der schon vorhandenen Basis aufgebaut, weiterentwickelt, zusammengefasst, systematisiert und institutionalisiert wurde. Diese Prozesse waren notwendig, da sich die neue Religion mit all ihren Elementen sehr rasch verbreitete und somit mit anderen Religionen, Kulturen und Traditionen in Berührung kam. Es galt also für die Rechtsgelehrten dieser Zeit, wird vom Bereich des islamischen Rechts gesprochen, über die neuen Begebenheiten, aus der Sicht der Rechtsprinzipien des Islam Positionen zu beziehen. Dies erforderte auch die Entwicklung von Methodologien in der Findung und Gestaltung des islamischen Rechts. Nicht nur die Verbreitung des Islam und damit verbundene neue Umstände haben zu diesen Prozessen beigetragen. Schon zu Lebzeiten des Propheten finden wir, sowohl im Koran als auch in seiner Sunna, solche Beispiele.25

23 Jakub Memic′, Izbor poslanikovih hadisa, Islamska zajednica u Njemacˇkoj, Duisburg 1995, S. 151. 24 Muhammed Hamidullah, Muhammed a.s., Knjiga II, Djelo, Zagreb 1977, S. 267. 25 Mit Verweis auf einige koranische Verse, die mit der Fragekonstruktion yasʾalu¯naka (sie fragen dich) oder yastaftu¯naka (sie bitten dich um Auskunft) beginnen und als Belege für den Prozess der Rechtsfindung und -formulierung schon zu Lebzeiten des Propheten bzw. in der Zeit der Koranoffenbarung angeführt werden können, sei hier ein Artikel empfohlen, der sich mit dieser Thematik ausführlich beschäftigt: Harald Motzki, „Religiöse Ratgebung im Islam: Entstehung, Bedeutung und Praxis des mufti und der fatwa“, in: Zeitschrift für Religionswissenschaft (ZfR). 1994, S. 3–21.

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Igˇtiha¯d als Prozess der Rechtsfindung Die Muslime besaßen zu Lebzeiten des Propheten immer eine Möglichkeit, sich bei Fragen an den ihn zu wenden. Er war die erste Anlaufstelle, wenn es um nicht ganz klare Fälle und Situationen ging, die im Bereich der religiösen Praxis der Deutung und näherer Erklärung bedurften. Die Fragenden erhielten in solchen Fällen entweder durch die Offenbarung oder durch die Erklärung des Propheten Antworten auf ihre Fragen. Sie konnten sich also sicher sein, dass auf diese Weise all ihre Bedürfnisse im Sinne der islamischen Lehre richtig gelöst werden konnten. Die Schwierigkeiten in der religiös-rechtlichen Ratgebung entstanden aber nach seinem Tod. Es stellte sich nämlich die Frage, wer hier die Funktion des Ratgebers übernehmen sollte und wer jetzt im Stande war, die religiös-rechtlichen Probleme zu lösen? Nach dem Tod Muhammads gingen die Muslime einen besonderen Weg in der Deutung des Korans und der Sunna als den ersten Quellen des islamischen Rechts. Sich ständig ändernde Verhältnisse der muslimischen Gemeinschaft in Mekka, später in Medina, kriegerische Auseinandersetzungen mit den Mekkanern und Juden nach der Auswanderung, inner-gesellschaftliche Beziehungen zwischen den Auswanderern – muha¯gˇiru¯n und Helfern – ansa¯r, Annahme des ˙ Islams seitens der arabischen Stämme und seine Verbreitung, dies sind nur einige Umstände, die ständig neuer religiös-rechtlicher Lösungen bedurften. Demnach ist das islamische Recht, vor allem im Hinblick auf das Ende der Offenbarung und des Zeitpunkts des Todes des Propheten, nicht in einer abgeschlossenen Gestalt gegeben worden, sondern es muss anhand der anerkannten Quellen konstruiert werden,26 nachdem man sich auf seine Quellen und Methoden geeinigt hat. Sowohl die Ratgebung als auch das ganze Rechtssystem des Islam sind also das Ergebnis und eine Folge der Deutung und Auslegung der Hauptquellen. Wessen Aufgabe war es also und vor allem, wie waren die Quellen des islamischen Rechts zu deuten und das rechtliche Normensystem aufzustellen? Nach dem Tod des Propheten wandten sich die Muslime bei ihren Problemen logischerweise an seine Gefährten. Ihre Meinungen versuchten die Gefährten aus dem Koran und der Sunna des Propheten herzuleiten. Dieser Weg ist in der islamischen Rechtswissenschaft unter dem Begriff Hadith bekannt und wird unter anderem als „Bemühung des islamischen Rechtsgelehrten aufgrund zuverlässiger Rechtsquellen selbstständig zur rechtlichen Lösung zu gelangen“, definiert.27 Mit dem Bestreiten des Hadith-Weges war also für die Muslime auch nach dem Tode des Propheten weiterhin die Möglichkeit gegeben, religiöse

26 Fikret Karcˇic´, Drusˇtveno-pravni aspekt islamskog reformizma, Sarajevo 1990, S. 15. 27 Mustafa Susˇic´, Usulu-l-fikh, El-Kalem, Sarajevo 2000, S. 82.

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Ratgebung zu betreiben und sich mit Fragen und Problemen an die Persönlichkeiten, die sich damit beschäftigten, zu wenden. In ihren Bemühungen entwickelten die frühen Rechtsgelehrten des Islam besondere Methoden, um zu den Ergebnissen ihrer Bemühungen zu kommen. Infolge dieses Prozesses entstanden zahlreiche und unterschiedliche Rechtsschulen. Einige dieser Methoden stiegen in der islamischen Rechtwissenschaft, nicht immer ganz nachvollziehbar, in den Rang zusätzlicher Rechtsquellen auf, wie beispielsweise die Analogie, qiya¯s, oder der Konsensus der Rechtsgelehrten, igˇma¯ʿ. Man könnte aber auch sagen, dass es im Falle der Analogie eher um eine Methode oder ein Mittel zur Rechtsfindung als um eine Quelle geht. Es scheint weiterhin, dass der Konsensus der Gelehrten vielmehr als Legitimierung der Analogie und nicht unbedingt als Rechtsquelle, wie im Falle des Korans und der Sunna, angesehen werden kann. Diese Ausführungen über die Quellen und Methoden zur Rechtsfindung weisen, neben schon behandelten, auf weitere Charaktereigenschaften des islamischen Rechts und seiner Quellen hin. Es ist an dieser Stelle noch einmal festzuhalten, dass das System des islamischen Rechts nicht in einer abgeschlossenen Form gegeben wurde, sondern, von vielen Faktoren abhängig, aus den primären Quellen, d. h. Koran und Hadith, mittels Hadith-Methoden, immer wieder neu konstruiert werden konnte und musste. Doch interessant wird es zu schauen, welche Ansichten Said Nursi hierzu vertritt.

Igˇtiha¯d bei Said Nursi Der Frage des igˇtiha¯d, des Prozesses der Rechtfindung im Islam, widmet Said Nursi ein ganzes Kapitel in seinem Werk Risale-i Nur. Dieses Kapitel, das 27. Wort, beginnt er im Geiste eines Modernisten, indem er – im Gegensatz zu vielen anderen traditionellen islamischen Gelehrten – die Ansicht vertritt, dass das Tor des igˇtiha¯d offen sei.28 Hiermit widerspricht er der innerhalb des sunnitischen Islam durch die vielen traditionellen islamischen Rechtsgelehrten etablierten Meinung, wonach der Prozess der Rechtsfindung für beendet erklärt und das Tor des igˇtiha¯d schon im 10. Jh. geschlossen wurde.29 Doch dies scheint nur eine grundsätzliche Haltung Said Nursis bezüglich des igˇtiha¯d zu sein. Er hält zwar an der Notwendigkeit des igˇtiha¯d als dem etablierten und erprobten Prozess der Rechtsfindung im Islam fest, fügt jedoch direkt hinzu, dass es zum gegenwärtigen Zeitpunkt sechs Hindernisse gibt, die ein Eintreten in das Tor des igˇtiha¯d ver28 Said Nursi, Risale-i Nur, S. 611. 29 Diese Ansicht etablierte sich im sunnitischen Islam schon im 10. Jh.; vgl. Nerkez Smailagic´, „Reformizam“, in: Leksikon Islama, Svjetlost, Sarajevo 1990, S. 503.

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hindern.30 Aus dieser Position, die er vertritt, ist aber herauszulesen, dass nicht der Prozess des igˇtiha¯ds an sich problematisch ist, sondern unterschiedliche Umstände, die den igˇtiha¯d – aus der Sicht von Said Nursi – infrage stellen und letztendlich unvernünftig erscheinen lassen. So argumentiert er beispielsweise, dass die allgemeine Lage, in welcher sich der Islam als Religion befindet, instabil ist, und es unvernünftig wäre, das Tor des igˇtiha¯d aufzumachen. Ein solcher Prozess wäre seiner Ansicht nach ein Verbrechen am Islam und würde nur die Möglichkeiten eröffnen, dass unter dem Deckmantel des igˇtiha¯d Erneuerungen und Irrlehren in den Islam einfließen. Dies lehnt er wiederum im Geiste eines Traditionalisten strikt ab.31 Beispielhaft an dieser Stelle ist seine Argumentationslinie: durch die Anwendung der Logik und unter Bezugnahme auf die Vernunft führt er das Beispiel an, dass es unvernünftig wäre, während einer Überschwemmung in den Mauern eines Hauses neue Tore zu öffnen, um kleine Löcher zu stopfen und zu reparieren.32 Demnach wäre es ebenso unvernünftig, in einer – aus seiner Sicht – instabilen Zeitlage Möglichkeiten zu eröffnen, die auf den Islam zerstörerisch wirken würden. Auf ähnliche Weise versucht er weitere Hindernisse für die Anwendung des ˇ igtiha¯ds darzulegen. Auch hier führt er Beispiele an, die ihn in seiner Argumentation bei der Ablehnung des igˇtiha¯d bestätigen sollen. Dabei ist nicht zu verkennen – und das scheint ein Charakteristikum für seine Art der Argumentation zu sein –, dass er immer wieder versucht, sich der Logik zu bedienen und sich immer wieder in die Gedankenwelt seiner Leser hineinzuversetzen. Das gelingt ihm offensichtlich sehr gut und die Vielfalt der Beispiele, die er in seiner Argumentationsweise anführt, ist an sich sehr beeindruckend. Unmissverständlich stellt er dabei die Rolle und Urteilskraft der Vernunft in den Vordergrund, womit er sich wieder auf das Terrain eines modernen Gelehrten bewegt. In diesem Zusammenhang und inhaltlich darüber hinaus betrachtet ist ein weiteres Merkmal der Argumentation für seine Ablehnung des igˇtiha¯d kennzeichnend. Nicht nur, dass sich bei der Anführung unterschiedlicher, bildhafter Beispiele in der Argumentation sein ganzer Einfallsreichtum widerspiegelt, seine Scharfsinnigkeit ist vor allem in der Vielfalt der detektierten Hindernisse für die Anwendung des igˇtiha¯d enthalten. Neben der schon genannten instabilen Lage der Zeit, führt er die Argumente an, dass die Hauptquellen des islamischen Rechts, der Koran und die Sunna des Propheten endgültig und unabänderlich seien. Diesen beiden fügt er direkt auch die Lehrmeinungen der Rechtsgelehrten aus der Frühzeit des Islam hinzu, die aus seiner Sicht einen überzeitlichen Charakter haben. Er sieht somit keinen Raum und keine Notwendigkeit den 30 Said Nursi, Risale-i Nur, S. 611. 31 Ebd., S. 612. 32 Said Nursi, Risale-i Nur, S. 612.

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Prozess des igˇtiha¯d neu aufzumachen: dies wäre eine Häresie und Verrat am Islam.33 Daran schließt er als weiteres, drittes Hindernis an, das es in der heutigen Zeit überhaupt keine solchen Persönlichkeiten gibt, wie sie in der Frühzeit des Islam gelebt haben, die sich mit dem igˇtiha¯d beschäftigen könnten. Seiner Meinung nach, besitzen die heutigen Rechtsgelehrten keine natürliche Fähigkeit den igˇtiha¯d zu betreiben, wie sie den Rechtsgelehrten der frühislamischen Periode eigen war.34 Dies begründet er damit, dass heutige Gelehrten sich mit Sachen beschäftigen – Philosophie, Politik, moderne Wissenschaften und irdisches Leben etwa – wodurch sie sich vom Wesen des igˇtiha¯d entfernen. Inwiefern diese Argumentation stichhaltig ist, wäre sicherlich interessant anderswo zu behandeln, dies zeigt jedoch, dass Said Nursi in bestimmten und aus seiner Sicht wichtigen Fragen, wie etwa der Deutung und Anwendung der Scharia, der Tradition den Vorrang gibt. In der Anführung der Hindernisse für die Beschäftigung mit dem igˇtiha¯d, bleibt er darüber hinaus aber seiner Linie der Logik und vernunftorientierten Argumentation treu und führt als viertes Hindernis die Meinung an, dass die Gelehrten der heutigen Zeit sich nicht nur vom Wesen des igˇtiha¯d entfernt haben, sondern auch weder fachliche Kompetenzen besitzen noch in ihrer persönlichen Lebensführung einer Beschäftigung mit dem igˇtiha¯d würdig sind.35 An diese Argumentation schließen sich im Grunde genommen die letzten zwei Hindernisse für eine Beschäftigung mit dem igˇtiha¯d an. Einerseits spezifiziert er das schon genannte Wesen des igˇtiha¯d und stellt seine Grundkonstanten in den Vordergrund. Dabei hebt er die himmlische Verankerung der Scharia hervor, wobei die Weisheit hinter einer jeden Rechtvorschrift ein Rechtsgelehrter bei seinem igˇtiha¯d berücksichtigen und damit den himmlischen Charakter der Scharia bewahren muss. Doch nicht nur wegen ihrer – aus der Sicht von Said Nursi – mangelnden Fachkompetenzen und unvollkommen Lebensführung, sondern auch aufgrund der zeitlichen Entfernung zu den ersten Generationen der Rechtsgelehrten sind die heutigen Gelehrten nicht fähig die Weisheiten der Rechtvorschriften zu erkennen. Auch die gesellschaftliche Situation trägt aus seiner Sicht dazu bei, dass die Prioritäten der Scharia verwechselt werden. So führt er das Beispiel an, dass die Argumente in den Reformversuchen zur Loslösung der Freitagspredigt aus der arabischen Sprache etwa, nicht der Natur der Scharia entsprechen und eine Verwechslung der Prioritäten der Scharia darstellen.36

33 34 35 36

Ebd. Ebd., S. 613. Ebd., S. 614. Ebd., S. 615.

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Zusammenfassung Entsprechend der vorherigen Darstellung sind die menschlichen Handlungen aufgeschrieben und Gott weiß zwar, wie sich die Menschen entscheiden und wie sie aufgrund dieser Entscheidungen handeln werden, aufgrund des menschlichen Willens jedoch nimmt Gott den Menschen die Entscheidungen nicht ab und zwingt sie dementsprechend zu keinen selbst gewollten Handlungen. Gott fungiert – nach Said Nursi – in diesem Falle als Begleiter des Menschen und räumt ihm die Möglichkeit des Willens und der Entscheidung bzw. der Wahl ein. Aufgrund der getroffenen Entscheidungen und der daraus resultierenden Handlungen tragen die Menschen alleinige Verantwortung für ihre Taten und können dadurch – womit wieder der Bereich des islamischen Rechts angesprochen wird – zur Rechenschaft gezogen werden. Die Frage der menschlichen Willensfreiheit ist daher nicht nur eine Frage, mit welcher sich allein die islamische Dogmatik und Philosophie beschäftigen, es ist eine Frage, die auch das islamische Recht und die rechtliche Normierung der menschlichen Handlungen betrifft. Diese Frage hat also einen ganz konkreten und weltlichen Bezug. Denn wenn es keine menschliche Willensfreiheit gibt, so kann der Mensch weder im Diesseits noch im Jenseits für seine Handlungen verantwortlich gemacht werden. Ansonsten wäre Gott nicht gerecht, was dann wiederum weiteren göttlichen Attributen und Namen widersprechen würde. Said Nursi schafft es, die Freiheit im menschlichen Willen, seinen Entscheidungen und Handlungen hervorzuheben und entsprechend nachvollziehbar zu erklären. Dabei gewährt er – wohl im Bewusstsein über göttliche Vollkommenheit einerseits und menschliche Eingeschränktheit andrerseits – dem Menschen ein sehr hohes und dennoch ausgewogenes Maß an Selbstachtung und Selbstaktion. Er unterstreicht die menschliche Verantwortung für seine Taten und versucht ihn dadurch zum – im Leben – allgemein Positiven zu bewegen. Dabei betritt er schon das Gebiet des ahla¯q, der islamischen Moral, und bleibt seinen in diesem Zu˘ sammenhang Thesen und Lehren auf der ganzen Linie treu. Auf der anderen Seite, in der Frage des igˇtiha¯d, erweist sich Said Nursi als ein tiefgründiger Traditionalist. Er bestreitet zwar die Notwendigkeit des igˇtiha¯ds nicht und befürwortet ihn als solchen, sieht jedoch unüberwindbare Hindernisse dabei, die ihn dazu verleiten, den igˇtiha¯d letztendlich abzulehnen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass er die Meinung vertritt, die religiösen Gesetze sind zwar der Wandlung unterworfen, allerdings nur in bisher nicht geklärten Fragen und zweitrangingen Angelegenheiten. Das würde heißen, dass der igˇtiha¯d nicht in den wesentlichen und grundlegenden Fragen der Religion betrieben werden darf. Den Grund dafür sieht er vor allem in der Tatsache, dass die heutige Gelehrten – im Gegensatz zu der ersten Generation der Muslime – nicht imstande sind, die Botschaften der göttlichen Gesetze und die Weisheiten der göttlichen

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Urteile zu erschließen und folglich besitzen sie kein entsprechendes Wissen, um dies überhaupt erschließen zu können. Vor diesem Hintergrund erscheint Said Nursi als ein eifriger Hüter der Tradition.

Literatur Abdel Haleem, Muhammad, „Rani Kelam. Definicija i historijski razvoj.“, in: Silajdzˇic´, Adnan (Ed.), Rane ˇskole kelama. Uvod u islamsko klasicˇno misˇljenje, Fakultet islamskih nauka u Sarajevu, Sarajevo 2004. El Gazali, Muhammed, Vjerovanje jednog muslimana, Behrambegova medresa u Tuzli, Tuzla 1995. Hamidullah, Muhammed, Muhammed a.s., Knjiga II. Djelo, Zagreb 1977. Internationale Mevlana Stiftung (Schweiz), URL: http://www.mevlana.ch/content/index.php? option=com_content&task=view&id=66&Itemid=56 (letzter Zugriff: 25. 12. 2010). „Islamic Theology“, auf: Muslim Philosophy, :URL: http://www.muslimphilosophy.com/ip/ rep/H009 (letzter Zugriff: 23. 12. 2010). Karcˇic´, Fikret, Drusˇtveno-pravni aspekt islamskog reformizma, Sarajevo 1990. Memic´, Jakub, Izbor poslanikovih hadisa, Islamska zajednica u Njemacˇkoj, Duisburg 1995. Motzki, Harald, „Religiöse Ratgebung im Islam: Entstehung, Bedeutung und Praxis des Mufti und der Fatwa“, In: Zeitschrift für Religionswissenschaft (ZfR), 1994, S. 3–21. Nursi, Said, Risale-i Nur, übers. v. Team, Sözler Publication, Köln/Istanbul 2002. Silajdzˇic´, Adnan (Ed.), „Rane ˇskole kelama. Uvod u islamsko klasicˇno misˇljenje“, Fakultet islamskih nauka u Sarajevu, Sarajevo 2004. Smailagic´, Nerkez, Leksikon Islama, Svjetlost, Sarajevo 1990. Susˇic´, Mustafa, Usulu-l-fikh, El-Kalem, Sarajevo 2000. Zaidan, Amir M.A., Al-′Aqida. Einführung in die Iman-Inhalte, Offenbach1999.

Christoph Elsas

Menschliche Schwäche und Freiheit in der Moderne aus der Sicht von Said Nursi. Zur Relevanz eines türkischen Islam-Gelehrten für die deutsche „Sarrazin-Debatte“ 2010

20 Jahre nach dem Tod von Said Nursi lernte der Autor 1980 seinen Schüler Abdul-Muhsin Alkonavi kennen. Er studierte an der Freien Universität Berlin und war einer seiner ersten und wichtigsten Partner in der Vermittlung zwischen Christen, Muslimen und Säkularstaat.1 Seit 30 Jahren hat er sich so, mal mehr, mal weniger intensiv, mit Gedanken Said Nursis befasst und immer wieder die von seinem Schüler betonte Maxime zu beherzigen versucht: Ein halb gefülltes Glas Lebenselixier ist nicht als halb leer, sondern als halb voll zu betrachten! Bei der Sarrazin-Debatte soll dementsprechend nicht heiße Luft und Zeitbedingtes zum Thema gemacht, sondern mich an einem konstruktiven Beitrag versucht werden, der an der Sichtweise von Said Nursi orientiert ist. Ausgelöst durch den derzeitigen Bestseller Deutschland schafft sich ab von Thilo Sarrazin2 werden in Deutschland menschliche Schwäche, Freiheit in der Moderne und Islam zunehmend in politischen Polemiken zusammen thematisiert. Das soll hier nicht geschehen. Denn der Autor ist weder Politiker noch Sozialwissenschaftler, sondern ein um wissenschaftliche Offenheit bemühter Religionshistoriker in einem evangelisch-theologischen Fachbereich. Und wenn sich Bediuzzaman Said Nursi der Moderne stellte, tat er das als traditioneller Gelehrter, nachdem er sich ausdrücklich aus der Politik zurückgezogen hatte. So schreibt er in einem Brief,3 der als 16. in sein Gesamtwerk Risale-i Nur (Sendschreiben des Lichts) aufgenommen wurde, von seinen Versuchen als der „Alte Said“, von dem er sich als

1 Vgl. Christoph Elsas, Einflüsse der islamischen Religion auf die Integrationsfähigkeit der ausländischen Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, Senatskanzlei/Planungsleitstelle des Regierenden Bürgermeisters, Ausländerintegration 1, Berlin 1980; ders., Ausländerarbeit, Praktische Wissenschaft Kirchengemeinde, Stuttgart 1982; ders. (Hg.), Identität. Veränderungen kultureller Eigenarten im Zusammenleben von Türken und Deutschen, HamburgRissen 1983. 2 Thilo Sarrazin, Deutschland schafft sich ab: Wie wir unser Land aufs Spiel setzen, Stuttgart 2010. 3 Vgl. die deutsche Ausgabe Bediuzzaman Said Nursi, Aus dem Risale-i Nur Gesamtwerk, hrsg. v. VFJH e.V., übers. v. Davut Korkmaz, Berlin 2007, Briefe, S. 104.

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„Neuer Said“ deutlich distanziert (Nursi schreibt über sich in der dritten Person Singular): „Der Dienst, den er dem Glauben und der Wissenschaft mit der Politik hatte erweisen wollen, erwies sich als eine vergebliche Mühe, und so musste er einsehen, dass dieser Weg […] für seine wichtigsten Aufgaben ein Hindernis und ein gefährlicher Weg ist.“

Seine wichtigsten Aufgaben waren 130 Abhandlungen über den Koran. Manches, was Sarrazin aggressiv formuliert, erscheint mir eher als ein provokatives Fragen und damit kann man vielleicht am ehesten mithilfe der religiösen Sicht von Nursi in ein förderliches Gespräch kommen. Indem der Autor ihre Überlegungen aufeinander bezieht, werden sowohl Sarrazin als auch Nursi unkonventionell interpretiert, aber dies geschieht aus der Bemühung darum, Gedanken aus ihren Schriften hervorzuheben, ohne sie ihrem Zusammenhang zu entfremden. Der Autor nennt von beiden thematisierte Aspekte in sechs Paragrafen.

§ 1 Menschliche Schwäche im Sinne allgemeiner gesellschaftlicher Probleme im heutigen Deutschland nach Sarrazin und mögliche religiöse Überlegungen dazu aus der Sicht von Said Nursi Sarrazin verweist auf sinkende Vollbeschäftigung seit der Ölkrise von 1973, Alterung der deutschen Bevölkerung, Wechselwirkungen zwischen Arbeitslosigkeit und Sucht, sinkendes Leseinteresse. Er beklagt an der Schule, dass dort emotionale Bedürfnisse, zu gefallen und wertgeschätzt zu werden, oft missachtet würden und dass Schüler nicht folgen könnten. Er bedauert, dass es nicht nur von Heranwachsenden oft als Schwäche ausgelegt würde, wenn nicht sofort gestraft wird.4 Für Nursi relativiert sich die Sorge um die nötige geistig-spirituelle Nahrung durch die Anerkennung des göttlichen Schöpfers, Erhalters und Richters, der für die voraussetzungslose Würde des Menschen steht. Deshalb sollte der Mensch seine letzte Ohnmacht und Vergänglichkeit zu Grunde legen, das letzte Vertrauen auf Gott allein setzen und ihm danken – um aus einer Seelenruhe heraus tätig zu werden.5

4 Vgl. Sarrazin, Deutschland, Vollbeschäftigung, S. 15; Alterung, S. 35; Arbeitslosigkeit und Sucht, S. 113; Leseinteresse, S. 196; Schule, S. 199f.; Schüler, S. 205; Strafe, S. 303. 5 Vgl. Christoph Elsas, „Gelassenheit. Ein multireligiöser und interreligiöser Konfliktlösungsansatz“, in: Zeitschrift für Missionswissenschaft und Religionswissenschaft, 96/2012.

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Der Erste Weltkrieg, sein Jahr der Flucht aus russischer Gefangenschaft und die Verfolgungen aufgrund seiner religiösen Tätigkeit6 haben Nursis natur- und koranwissenschaftliche Einsichten existenziell fundiert: Für ihn geschieht „die Beschaffung der nötigen Nahrung nicht durch Kraft und Wille, vielmehr durch Ohnmacht und Schwäche“, und es sei freigestellt, den Weg des Islams zu wählen, der durch Befolgung seiner Gesetze Sicherheit verheiße.7 Hier zeigen sich Gesprächsmöglichkeiten mit dem für alle Menschenrechte westlicher Tradition grundlegenden Begriff der voraussetzungslosen Würde der Person. In seinem „Ersten Wort“ ruft Nursi seine Leserschaft auf: „O du unglücklicher Mensch, der du mit unendlicher Schwäche und großer Armut kämpfst!“8 Und doch geben – wie er betont – „Ohnmacht und Schwäche, […] Armut und Bedürftigkeit“ gerade auch die Möglichkeit, die menschliche Situation zu reflektieren,9 in der Erkenntnis, „dass der Mensch ein Gast ist, der hier einige Verpflichtungen hat, dass alles vergänglich ist.“10 Nursi charakterisiert die verständigen Menschen, die sich an der Fürsorge Gottes für alle orientieren: „Sie verbeugen sich huldigend in ihrer Ohnmacht, und sie werfen sich demütig nieder in Liebe und Bewunderung. Dann bekennen sie ihre Armut und Bedürftigkeit, und sie antworten mit Flehgebeten und Bittgesuchen […], und sie verkünden: ‚Von Dir allein erwarten wir Hilfe!‘“11 „Er wird seine Aufgabe schon erfüllen. Du aber bist arm und kraftlos.“ „Verbundenheit mit ihm bedeutet Sicherheit. […] Er ist es, der das Leben […] erschafft. Er ist es, der das Leben bewahrt. Niemand außer ihm! Du möchtest Beweise? Die schwächsten und unbeholfensten Tiere wie […] Würmer werden am besten versorgt.“12 Und „in Dankbarkeit für den endlosen Segen […] ist wahrer Trost. Man findet Seelenruhe […].“13

§ 2 Zugehörige Freiheit in der Moderne als individuelle Freiheit unter Rücksichtnahme auf das Ganze Sarrazin betont die aus dem Individuum abgeleitete Freiheit, die Emanzipation aus religiöser und staatlicher Bevormundung und das dann für alle gleiche Recht, nach Glück zu streben. Er setzt auf die menschliche Erfindungskraft und zunehmende Wissenswirtschaft: Menschen seien als freie Subjekte verschieden; zugleich lebe die Gesellschaft von ihren produktiven Beiträgen und der Bil6 Vgl. Nursi, Aus dem Risale-i Nur Gesamtwerk, „Zehnter Blitz“; „Fünfzehnter Blitz“, S. 204f.; „Sechsundzwanzigster Blitz“, S. 464ff., S. 511f. 7 Vgl. Bediuzzaman Said Nursi, Worte. Über die Natur des Menschen, seinen Zweck und die Dinge insgesamt, 1. vollständige Auflage der Übersetzung aus der türkischen Ausgabe Sözler, Köln/Istanbul 2002, hier: „Das Fünfte Wort“, S. 49; vgl. auch Nursi, Aus dem Risale-i Nur Gesamtwerk. 8 Nursi, „Das Fünfte Wort“, in: ders., Worte, S. 39. 9 So etwa ebd., „Das Elfte Wort“, S. 174. 10 Ebd., „Das Neunte Wort“, S. 69. 11 Ebd., „Das Elfte Wort“, S. 170f. 12 Ebd., „Das Fünfte Wort“, S. 48f. 13 Ebd., „Das Neunte Wort“, S. 68: rahat-ı ruh = ruh rahatlıg˘ı, nach Said Nursi, Sözler. Risale-i Nur Külliyatından, Istanbul 2004, S. 75.

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dungserfolg teile individuelle Lebenschancen zu.14 Deshalb müssten den Kindern soweit wie möglich auch unabhängig vom Elternhaus optimale Entwicklungsmöglichkeiten geboten werden. Arbeitsmigranten, auch muslimische, gehörten nicht zur Problembevölkerung. Doch den Burka-Trägerinnen werde etwa in Holland die Sozialhilfe entzogen, weil sie am Arbeitsmarkt so nicht vermittlungsfähig seien. Für die Mobilen könne und solle es auch in Zukunft Migration geben. Aber die Freiheit der Bevölkerungsmehrheit erfordere, dass der Staat das Recht hat, „darüber zu entscheiden, wer in das Staatsgebiet zuziehen darf und wer nicht.“15 Für Nursi wird der Wert des Menschen im Glauben offenkundig.16 Daraus resultiert sein Tätig-Werden als Statthalter und Treuhänder Gottes in einer Gastrolle zu Lebzeiten auf Erden. Das lässt ihn Ursachen anpacken im Vertrauen auf Gottes Wirken und auf gegenseitige Unterstützung in seiner Schöpfung: Nursi betont im „23. Wort“: „Der Glaube bindet den Menschen an den glorreichen Schöpfer; das ist eine Beziehung. So erwirbt der Mensch Wert kraft der göttlichen Kunst und der Inschriften der fürstlichen Namen (Gottes), die durch den Glauben in ihm offenkundig werden.“17 Die Menschen „werden vertrauenswürdige Statthalter Gottes auf Erden durch die Gunst des Glaubens und durch die Treuhänderschaft (ama¯na).“18 Im „23. Wort“ drückt Nursi diese Verwirklichung der von Gott geschenkten besonderen Würde des Menschen aus: „In dieser Hinsicht wird der unbedeutende Mensch Gottes Ansprechpartner. Er wird zum Gast des Herrgottes, würdig des Paradieses.“19 Nursi ruft zur Beschäftigung mit Koran und Natur auf: „Kommt her, schreitet voran, hängt euch an jeden der Namen und […] studiert sorgfältig Meine wunderschönen Namen, und macht so eure Naturwissenschaft und euren Fortschritt zu Stufen, auf denen ihr zu jenen Himmeln aufsteigt.“20

Folgendes lässt Nursi (im „20. Wort“) ausrufen:

14 Vgl. Sarrazin, Deutschland, Freiheit, S. 18; Bevormundung, S. 29; Recht auf Glück, S. 29f.; Erfindungskraft, S. 35; Wissenswirtschaft, S. 65; Bildungserfolg und Lebenschancen, S. 190f. 15 Ebd.: Entwicklungsmöglichkeiten, S. 246; Arbeitsmigranten, S. 300; Burka-Trägerinnen, S. 302; Migration in Zukunft, S. 393; Bevölkerungsmehrheit, S. 391. 16 Zu seiner Verwurzelung in der Tradition vgl. Bilal Kus¸pınar, „Nursis Analyse der Freiheit der Gläubigen im Islam“, in: Wolf D. Aries/Rüstem Ülker (Hg.), Dietrich Bonhoeffer, Alfred Delp und Said Nursi: Christentum und Islam im Gegenüber zu den Totalitarismen, Münster 2004, S. 55–65. 17 Nursi, Worte, S. 397. 18 Ebd., „Das Elfte Wort“, S. 171. 19 Ebd., S. 398. 20 Ebd., S. 337.

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„Schau auf das große Buch des Universums. Du wirst sehen, dass auf ihm als Ganzes ein Stempel der Einheit (Gottes) zu lesen ist […], so stützen die Dinge des Universums einander, strecken ihre Hände zum gegenseitigen Beistand aus […].“21

Die universale Perspektive lässt Nursi auf alle natürlichen Ursachen achten und sie doch immer wieder bei dem einen Gott enden: „Vertrauen in Gott heißt nicht, die Ursachen insgesamt zurückzuweisen. Vielmehr bedeutet es, dass Ursachen ein Schleier für die Hand der Kraft (Gottes) sind und von ihr abhängen. Zu wissen, dass Ursachen-Anpacken ein aktives Gebet ist, heißt die Wirkungen nur vom allmächtigen Gott zu begehren.“

Als Resultat aus diesen Überlegungen22 nennt er – neben „Fürbittgebet mit Zunge und Herz“ – auch „ein Feld zu pflügen“, eine „Art von aktivem Bittgebet an Namen und Titel des absolut großzügigen Einen (Gottes)“. Dabei gelingt es ihm durch die Parallelisierung der Namen Gottes, die im Koran und im Universum aufzufinden sind, traditionelle Koranwissenschaft und westlich bestimmte Naturwissenschaft positiv aufeinander zu beziehen.

§ 3 Menschliche Schwäche im Sinne von unsozialem Konsumismus im heutigen Deutschland nach Sarrazin und mögliche religiöse Überlegungen dazu aus der Sicht von Said Nursi Sarrazin weist darauf hin, dass Nachteile für Heranwachsende oft weniger von materieller Versorgung abhängig seien als von Verhaltensweisen. Als Beispiele nennt er unversorgte Zähne, die Existenz eines eigenen Fernsehers im Kinderzimmer, Übergewicht, Mängel bei der Motorik, auffällige Sprachentwicklung und den Nichterhalt von Frühstück durch die Eltern.23 Für Sarrazin ist mit Amartya Sen Armut der „Mangel an elementaren Verwirklichungschancen“.24 Anderseits sei für materielle Wünsche weithin das soziale Niveau der sozialen Bezugsgruppe entscheidend. Doch Unterstützung menschlicher Schwächen helfe weniger als Verhaltenstraining, da es eigentlich „gar nicht um materielle Werte geht, sondern um sozialen Rang und […] soziale Wertschätzung.“ Wenn nicht „jeder Mensch nach seinen Kräften einen Beitrag leistet“, drohe „die eigentlich schlimme Exklusion aus den realen Lebenszusammenhängen“ – nämlich „Verzicht auf Quellen berechtigten Stolzes“ zu21 22 23 24

Ebd., S. 386. Vgl. ebd., „Das Dreiundzwanzigste Wort“, S. 401–406. Vgl. Sarrazin, Deutschland, S. 78f., 101. Ebd., S. 88 zu Amartya Sen, Die Idee der Gerechtigkeit, aus dem Englischen von Christa Krüger, Schriftenreihe Band 1092, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2010, S. 282– 285.

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gunsten kurzfristiger Befriedigung: „Alkohol, Zigaretten, Medienkonsum und fast food.“25 Aber auch wenn Menschen nicht „abgeneigt sind, jede Gelegenheit zu nutzen, die Leistung ohne Gegenleistung verspricht“, könne Konsum doch „das Gefühl der Demütigung nur betäuben.“ Allerdings neige der Mensch dazu, „das Haben über das Sein zu stellen“ und „die glückstiftende Wirkung […] des passiven Komforts zu überschätzen.“ Wer Menschen „mehr Unterstützung zukommen lässt, als sie durch Arbeit jemals verdienen könnten“, korrumpiere sie. Er korrumpiere sie noch mehr, wenn sie „dazu verführt werden, diese Unterstützung durch Kinder zu erhöhen“26, nämlich durch den Bezug von viel Kindergeld. Nursi warnte in den Anfängen der modernen Türkei vor drohender Überfremdung durch den materialistisch korrumpierten Teil der Traditionen des neuzeitlichen Europas. Aber er hob den christlich inspirierten Teil europäischer Kultur davon ab. Dieser interessierte ihn für eine christlich-islamische Allianz wahrer Religion gegen einen aggressiven Atheismus, der aus rein materialistischer Orientierung erwachse: Die Risale-i-Nur geht unter Berufung auf authentische Hadithe, d. h. weise Aussagen des Propheten, von einer christlich-islamischen Allianz aus, in der „sich dereinst die wahrhaft Frommen unter den Christen mit den Leuten des Korans (Muslimen) vereinigen und ihren gemeinsamen Gegner, den Unglauben, (geistig) bekämpfen werden […], den aggressiven Atheismus.“27 Nursi sprach 1933/34 von „zwei Europas. Das eine Europa ist durch die wahre christliche Religion beeinflusst.“ Doch „das zweite, korrupte Europa“ habe durch „die einäugige Genialität“ des Naturalismus „die Menschheit zur Tyrannei und in die Irre geführt“ und drohe die Muslime wie die Christen von ihren Quellen und voneinander zu entfremden.28

25 Vgl. Sarrazin, Deutschland, S. 110; materielle Wünsche, S. 111; Verhaltenstraining, S. 121ff.; soziale Wertschätzung, S. 125; Exklusion, S. 143; kurzfristige Befriedigung, S. 149. 26 Ebd., Gelegenheit, S. 152; Konsum, S. 155; Haben, S. 169; Unterstützung, S. 324; erhöhte Unterstützung, S. 386. 27 „Islamische Aufforderung zum Dialog am Beispiel Bediüzzaman Said Nursi“, Einführung des Redaktionsteams zu: Thomas Michel, Christlich-Islamischer Dialog und die Zusammenarbeit nach Bediüzzaman Said Nursi, Istanbul 2004, S. 7–11, hier S. 9, mit Bezugnahme auf Koran 29/46 und Nursi, Flashes Collection, translated from the Turkish Lem’alar by S¸ükran Vahide, from the Risale-i Nur Collection 3, Istanbul ³2000, S. 203f.: „The Twentieth Flash, Second Cause, footnote 8“ (Lem’alar, S. 146); vgl. Nursi, Aus dem Risale-i Nur Gesamtwerk, „Zwanzigster Blitz“, S. 300f.; Michel, Christlich-Islamischer Dialog, S. 28–33 zu Nursi, Letters 1928– 1932, translated from the Turkish Mektubat by S¸ükran Vahide, from the Risale-i Nur Collection 2, Istanbul 1994 (Mektubat); vgl. URL: http://www.lichtstr.de, „Briefe“. 28 Nursi, Flashes Collection, S. 160: „The Seventeenth Flash, Fifth Note“ (Lem’alar, S. 111); vgl. Michel, Christlich-Islamischer Dialog, S. 19 und insgesamt Nursi, Aus dem Risale-i Nur Gesamtwerk, „Siebzehnter Blitz“, S. 224–230.

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§ 4 Zugehörige Freiheit in der Moderne als sozialverträglicher Wettbewerb Sarrazin hofft, dass die soziale Marktwirtschaft, welche die Bundesrepublik Deutschland nach dem Krieg ausgezeichnet hat, fortgesetzt werden kann. Dazu hält er den an Bildungsabschlüssen und Einkommen gemessenen Lebenserfolg und den Antrieb durch „die Wertschätzung von außen“ für nötig. Dieser entstehe einerseits aus Statuskonsum und andererseits aus Arbeit für den Lebensunterhalt, ohne den persönlichen Rang aus dem Einkommensniveau herzuleiten.29 Dabei gehe es um die Entwicklung der actual capability, die in Amartya Sens Armutsdefinition im Sinne der individuellen Fähigkeiten hervorgehoben werde. Deshalb werde Menschen durch Förderung ihrer Anstrengungsbereitschaft ermöglicht, „Freiheit als echte Unabhängigkeit“ zu erleben. Dazu gehörten Überwindung durch Willenskraft, Vorteil durch Arbeiten – auch für nicht marktfähige, aber erwerbsfähige Empfänger von Grundsicherung. Aber für Heranwachsende gehöre neben Leistung auch dazu, Gemeinschaft zu erleben und die Stärken Anderer zu akzeptieren. So solle jedem das abgefordert werden, was seinem Leistungsvermögen entspricht, damit er seinen Lebensunterhalt selbst erwerben könne.30 Nursi ist bekannt für sein unbeirrbares gewaltfreies Eintreten für Religionsfreiheit im Säkularstaat – bei einer nach Zeit und Raum variablen Interpretation des Korans in Kontinuität zur guten Tradition. Danach beziehen sich Menschenrechte auf Menschenpflichten, um keinem außer Gott zur Last zu fallen – und für ihn ist die Fürsorge keine Last. Die von der Religion gewährte innere Freiheit solle frei gewählt werden nach einem Vorschlag zum Wettbewerb. Dabei gehöre zur Freiheit der Muslime, auch für die Freiheit christlicher Gemeinschaften einzutreten, in einer sie verbindenden gesellschaftlichen Situation. Nursi trat in der Republik Türkei primär für Religionsfreiheit auf islamischer Grundlage ein. Es verdient Respekt, dass er dafür Jahrzehnte seines Lebens in äußerer Unfreiheit verbrachte. Er verstand sein Werk Risale-i Nur als einen wahrheitsgetreuen Kommentar zu den Bedeutungen des Korans (manevi tefsir), der die „signifikative Bedeutung“ (mana-yi harfi) des „Großen Buchs des Universums“ zugrunde lege. Deshalb gilt die Interpretation der Offenbarungsschriften auch als nach Zeit und Raum variabel auslegbar und so ist auch die Bedeutung des Korans als wandelbar und durch wissenschaftliche Entdeckungen 29 Vgl. Sarrazin, Deutschland, soziale Marktwirtschaft, S. 14; Lebenserfolg, S. 99; Wertschätzung von außen, S. 111, 126f. 30 Vgl. ebd., individuelle Fähigkeiten, S. 131; Anstrengungsbereitschaft, S. 133; echte Unabhängigkeit, S. 144f.; Überwindung, S. 154; Vorteil, S. 162; Empfänger von Grundsicherung, S. 184; Gemeinschaft erleben, S. 189; Leistungsvermögen, S. 202; Lebensunterhalt, S. 244, 292.

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tiefgründiger zu verstehen. Darin findet Nursis Anhängerschaft die Anleitung, die Wahrheiten des Glaubens in einem gˇiha¯d der Worte (cihad-i manevi) zu verbreiten und die öffentliche Ordnung in konstruktivem Dienst zu bewahren.31 Bei diesem Ansatz wird eine säkulare Republik bejaht, in der die Religiösen genauso wie die Nichtreligiösen behandelt werden sollten, die Gewissensfreiheit ein grundlegendes Recht darstellt und die religiösen Wahrheiten von keiner Seite weltlichen Interessen unterworfen werden.32 Unter Muslimen gibt es einen breiten Konsens darüber, an erster Stelle von Menschenpflichten und erst dann, an zweiter Stelle, von Menschenrechten sprechen zu müssen. Nursi geht in Korrespondenz zur Verpflichtung des Schöpfers für „das Geschenk des Lebens wie dessen Versorgung“ von der Pflicht des Menschen zum Gebet aus, „um den Schöpfer […] zu verehren und um Gnade zu bitten“; so brauche er „keinem andern zur Last zu fallen“, denn letztlich versorge Gott, und „Verbundenheit mit ihm bedeutet Sicherheit.“33 Damit ergibt sich aus der inneren Pflicht zur Religion eine von der Religion gewährte innere Freiheit. Der Weg des Islams, der solche Sicherheit verheißt, verpflichte aber auch zur Beachtung der islamischen Gesetze und Vorschriften und sollte als solcher frei und bewusst gewählt werden.34 Die fünf täglichen Pflichtgebete des Islams könnten dabei „wie eine Art Himmelfahrt“ und „als ein Beispiel der reinen Gnade“35 und die Religion als „ein Ansporn zum Wettbewerb“ angesehen werden: „Hätte der Koran explizit gesprochen, so wäre das Geheimnis des Vorschlags zerstört worden. […] Dann müßte jedermann dem zustimmen, ob er nun wollte oder nicht.“36 So könne der gläubige Mensch den ungläubigen nur darauf ansprechen, die Einheit der Welt als Hinweis auf den einen Schöpfer und Herrn anzuerkennen: „Aber jedes Ding zeigt auf ihn, deutet auf ihn, bezeugt ihn. Wie

31 Vgl. S¸ükran Vahide, Ein Beitrag zu einer „Intellektuellen Biographie“ Said Nursis, Istanbul 2004, S. 33, 50f. Zu Said Nursi, The Rays Collection, translated from the Turkish S¸uâlar by S¸ükran Vahide, from the Risale-i Nur Collection 4, Istanbul 1989, S. 512f.; Said Nursi, Flashes Collection, S. 156; ders., Kastamonu Lahikası, Istanbul 1960, S. 117–128, 145f.; M. Hakan Yavuz, Islamic Political Identity in Turkey, Oxford 2003, S. 159f., 163, 171 zu Said Nursi, Letters (Mektubat 1, S. 362, 485f., 520f.); ders./John L. Esposito (eds.), Turkish Islam and the Secular State. The Gülen Movement, New York 2003. 32 Vgl. Vahide, Beitrag, S. 52 zu Nursi, Rays Collection, S. 290; dies., „Die Verteidigungsrede Said Nursis vor dem Eskis¸ehir-Gerichtshof 1935“, in: Nur – Das Licht, Spezialausgabe 19–20, Köln 1997, S. 30 (= dies., Islam in der modernen Türkei. Die intellektuelle Biographie des Bediüzzaman Said Nursi, Berlin 2009, S. 237 bzw. Bediuzzaman Said Nursi. The Author of the Risale-i Nur, Istanbul ³2000, S. 238) zu Said Nursi, Tarihce-i Hayati, Istanbul 1987, S. 194f. 33 Nursi, „Das Fünfte Wort“, in: ders., Worte, S. 48f.; Yavuz, Islamic Political Identity, S. 160f. 34 Vgl. Nursi, „Das Achte Wort“, in: ders., Worte, S. 59ff. 35 Ebd., „Das Sechzehnte Wort“, S. 269. 36 Ebd., „Das Zwanzigste Wort“, S. 342.

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kannst Du das Zeugnis all dieser Dinge verleugnen?“37 Der Religiöse selbst „kann, gemäß der Stärke seines Glaubens, vom Druck der Ereignisse befreit bleiben.“38 Nursi urteilt, dass ein Säkularstaat falsch verstanden wird, wenn er loyalen religiös engagierten Bürgern weniger Freiheit gibt als anderen. Nursis Denkanstoß für Religionsfreiheit wurde wichtig, obwohl oder gerade weil er immer wieder betonen konnte, er habe sich „weder in die Politik eingemischt, noch die Behörden provoziert, und auch nicht die öffentliche Ordnung gestört.“39 Dem entspricht Nursis Eintreten für die Freiheit der christlichen Volksgruppen der Griechen und Armenier in Ostanatolien in den Spannungen vor der gewalttätigen Auseinandersetzung während des Ersten Weltkrieges: „Ihre Freiheit besteht darin, sie in Ruhe zu lassen und nicht zu unterdrücken, da dies ein Gebot der Scharia ist“ – das ist damit für ihn definitiv göttlicher Wille, zumal der wirkliche Feind nicht eine christliche Gemeinschaft sei: „Unser Feind, der uns zerstört, ist erstens die Ignoranz, zweitens die daraus folgende Armut, und drittens die davon abgeleitete Feindseligkeit. […] Die Freiheit der NichtMuslime ist ein Zweig unserer eigenen Freiheit“40, d. h. gehöre dazu.

§ 5 Menschliche Schwäche im Sinne von religiös-kultureller Überfremdungsangst im heutigen Deutschland nach Sarrazin und mögliche religiöse Überlegungen dazu aus der Sicht von Said Nursi Sarrazin verweist auf „große Unterschiede in der Mentalität der Völker und Gesellschaften“ und auf damit verbundenes Konfliktpotenzial. Die mit Vielfalt „verbundenen Reibungen erhöhen nicht zwangsläufig die Leistungsfähigkeit in der Gesellschaft.“ Deshalb machten mangelnde Sprachkenntnisse und mangelnde Vertrautheit mit gesellschaftlichen Verhaltensweisen bei Immigranten Hilfe zur Selbsthilfe seitens des Staates notwendig.41 Aber besonders viele Türkischstämmige blieben zurzeit ohne Bildungsabschluss – weil sie schwer lernen würden, für Neues zu alt seien oder durch Gruppendruck gehindert würden. In deutschen Schulen hätten auffallend viele Schüler aus muslimischen Ländern Sprachprobleme. Gleichzeitig falle aggressi37 Ebd., „Das Zweiundzwanzigste Wort“, S. 366. 38 Ebd., „Das Dreiundzwanzigste Wort“, S. 401. 39 Michel, Christlich-Islamischer Dialog, S. 67 zu Nursi, Rays Collection, S. 417: „The Fourteenth Ray“. 40 Said Nursi, Debates (Münazarat), Istanbul 1997, S. 20f., nach Michel, Christlich-Islamischer Dialog, S. 21–23; vgl. Redaktion, ebd., S. 96ff.; vgl. Yavuz, Islamic Political Identity, S. 154; Vahide, Islam, S. 106f. 41 Sarrazin, Deutschland, Unterschiede, S. 32; Konfliktpotenzial, S. 57; Hilfe zur Selbsthilfe, S. 59f.

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ves Potenzial durch betont männliche Geschlechterstereotype auf; darüber hinaus auch, dass zuhause fast ununterbrochen TV-Sendungen aus der fernen Heimat liefen und der soziale Druck auf Mädchen und Frauen ansteige. Letztere sollten sich von der Mehrheitsbevölkerung durch Kopftuch optisch abgrenzen, was als Zeichen wirke, westliche Freiheiten allgemein infrage zu stellen.42 Man sei gegen den Westen, habe kaum Interesse am Abendland, könne aus dem Koran auch die schlechteste Behandlung der Ungläubigen ableiten, sei narzisstisch gekränkt durch das zivilisatorische Zurückfallen der islamischen Welt. Insgesamt scheine das Verhalten „weniger auf den individuellen Erfolg als auf das Wohl des Familienverbandes ausgerichtet“ zu sein. Dabei verhindere es den Bildungsaufstieg durch patriarchal-autoritäre Strukturen mit übersteigerten Vorstellungen von „Ehre“, Zusammenhalt des Clans und Unterstützung auch der Familien in der Heimat. So bleibe ihnen das Land, in dem sie leben, fremd. Doch seien sie finanziell von ihm abhängig und deshalb bald „weder richtige Türken noch richtige Deutsche“, da auch Ehen mehrheitlich mit Partnern aus der Türkei geschlossen würden.43 Umgekehrt hat Nursi in den Anfängen der modernen Türkei davor gewarnt, sich durch blinde Nachahmung des Westens überfremden zu lassen. In den Umbrüchen war festzuhalten, dass die türkische Nation mit einer islamischen Geschichte verbunden ist. Deshalb bestand Nursi auf die Scharia als Schutz ethischer Art entsprechend der gesellschaftlichen Situation, die den Schutz des Islams und den Schutz der Frauen und Kinder durch einen Mann gegen andere Männer erfordere. Nach Verständnis des Autors ermöglicht dieser Ansatz Flexibilität, wenn säkularstaatliche Sicherheiten gegen Bedrohungen der Religion und der Frauen gegeben sind. Obwohl Nursi türkischer Staatsbürger kurdischer Herkunft war, hat er sich zu einer Warnung veranlasst gesehen, weil er Gefahren einer Überfremdung durch falsche Vergleiche mit dem Westen und dem Christentum sah: „Türkische Brüder, ihr müsst vorsichtig sein. Eure Nationalität hat sich mit dem Islam vermischt, beide sind voneinander untrennbar, werdet ihr getrennt, so werdet ihr unweigerlich vernichtet. Eure gesamte ruhmreiche Vergangenheit ist als islamische Geschichte festgehalten.“44 42 Vgl. ebd., ohne Bildungsabschluss, S. 62; schweres Lernen, S. 161; Hinderung durch Gruppendruck, S. 233; Sprachprobleme, S. 235; Geschlechterstereotype, S. 236; Druck auf Mädchen und Frauen, S. 265; westliche Freiheiten infrage stellen, S. 266. 43 Vgl. ebd., antiwestlich, S. 269; kaum Interesse, S. 270; Ableitung aus dem Koran, S. 272; narzisstische Kränkung, S. 280; Hinderung am Bildungsaufstieg, S. 293; Ehre, S. 296; ClanZusammenhang, S. 303; Familienunterstützung, S. 305; fremd, S. 306; weder Türken noch Deutsche, S. 313; Ehen, S. 316. 44 Said Nursi, „Nationalismus aus der Sicht des Islam“, in: Risale-i Nur Institute of America (Hg.), Lichter für die Nacht, die Zukunft heißt. Textproben aus den Schriften des Bediuzzaman Said Nursi, Berkeley 1977, S. 91–107, hier S. 100; bzw. Letters, „The Twenty-Sixth Letter, Third

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Nursi widmete dem zeitbedingten Konflikt um die islamische Lebensordnung, die Scharia, angesichts der Kapitulation des Osmanischen Reiches und des Übergangs zur modernen Republik Türkei – als „27. Wort“ – sein „Traktat über unabhängige Rechtsentscheidungen (igˇtiha¯d)“. Er beginnt es: „Das Tor des igˇtiha¯d über das Gesetz ist offen, aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt gibt es sechs Hindernisse“ – „in dieser Zeit der Glaubensverleugnung, des Hereinbrechens europäischer Sitten, der Unzahl von Neuerungen und der zerstörerischen Irreleitung […].“

Weil er überzeugt war von der menschlichen Aufgabe, die Namen Gottes im Leben umzusetzen, hat Nursi sich in seinem Traktat gegen nur vermeintlich notwendige Neuerungen gewandt: „Die Scharia ist himmlisch, wurde offenbart, und da ihre Auslegungen die verborgenen Vorschriften bekannt gemacht haben, so sind diese ebenfalls himmlisch.“45 Nursi betont dabei die innere, ethische Bedeutung der Scharia: „Die einfachen Leute brauchen nicht in allen Vorschriften unterwiesen zu werden. Aber sie sollen durch Ermunterung und Warnung an diese heiligen Dekrete erinnert werden.“46 Und: „Dadurch, dass die Scharia eine Barriere gegen die Angriffe der Natur bildet, verändert die Scharia sie […].“47 Am Ende des Traktats deutet Nursi einen Ansatz zur Konfliktlösung damit an, dass sich in Abhängigkeit von verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten bereits die anerkannten islamischen Rechtsschulen in der Interpretation der Vorschriften der Scharia, die menschliche Umstände – und damit zweitrangige Sachverhalte – betreffen, nach den jeweiligen Umständen richteten, um wie Medizin wirken zu können.48 Dies betreffe etwa das von den gesellschaftlichen Gegebenheiten abhängige Verhalten zwischen Männern und Frauen.49 Entsprechend finden wir in Nursis Traktat „Über islamische Kleidung für Frauen“ und dessen späterer Erweiterung die Anerkennung kultureller Verschiebungen: Er akzeptierte, dass Frauen teilweise unverhüllt in der Öffentlichkeit ihrer Arbeit nachgehen, wenn das für ihren Lebensunterhalt wichtig sei und sie bei Männern nicht sexuelle Begierde provozierten. Er wollte dies allerdings

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Topic“, S. 382; vgl. allg. Nursi, Aus dem Risale-i Nur Gesamtwerk, „Sechsundzwanzigster Brief“, S. 599–602; „Neunundzwanzigster Brief“, S. 781f., S. 788f., S. 806–816 und „Siebzehnter Blitz“, S. 235. Nursi, „Das Siebenundzwanzigste Wort“, in: ders., Worte, S. 614. Ebd., S. 616. Ebd., S. 619. Vgl. ebd., S. 617–620. Ebd., S. 619f., vgl. Christoph Elsas, „Religionsfreiheit. Denkanstöße aus dem Risale-i Nur für das Zusammenleben in einer multikulturellen Welt“, in: Aries/Ülker, Bonhoeffer, S. 45–54, hier bes. S. 53 zu Nursis Traktat „Über islamische Kleidung für Frauen“ und seine Erweiterung. Die Zitate sind entnommen aus: Nursi, Worte.

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nicht zur allgemeinen Regel gemacht wissen und betonte mit Blick auf drohende Überfremdung islamischer Werte, dass sich die hoch zu achtenden Wesenszüge der Frauen in einer solchen Zeit nur im Schutze der Scharia entfalten könnten.50 Nursi bezieht sich in seinen Ausführungen „Über islamische Kleidung für Frauen“ bzw. „Über die Verhüllung“ auf Koran 33/59: „Oh Prophet, sprich zu Deinen Gattinnen und zu Deinen Töchtern und den Frauen der Gläubigen, daß sie sich in ihren Überwurf verhüllen.“ Er entnimmt daraus als Weisheit: „Die Verhüllung ist für die Frau natürlich […]. Denn weil die Frauen von Natur aus schwach und zart sind, brauchen sie Schutz und Hilfe durch einen Mann, der sie und ihre Kinder, die sie mehr als ihr Leben lieben, zu schätzen vermag […]. Auch fürchten sie sich davor, vergewaltigt zu werden, vor Anschuldigungen und Verdächtigungen […]. Doch durch die Verhüllung ist für die fremden Männer eine Verlockung nicht gegeben und für Ausschreitungen kein Platz […]. So erweist sie sich als ein Schutzwall und eine Festung.“51 Nursi argumentiert hier für den Schutz der Frauen – wie in seinem Traktat „Über unabhängige Rechtsentscheidungen (igˇtiha¯d)“ für den Schutz des Islams – von der gesellschaftlichen Situation her.52 Diese Argumentation Nursis würde umgekehrt implizieren, dass es angesichts gesicherter Freiheit der Religion und auch der Annahme einer körperlich schwächeren Verfasstheit der Frauen angebracht wäre, die zur Abwehr glaubensfeindlicher und sexueller Bedrohung geschlossenen Positionen islamischer Rechtsprechung für neue Gelehrtendiskussion zu öffnen. Im Sinne einer dynamischen Scharia, mit der Nursi in seinem Traktat „Über unabhängige Rechtsentscheidungen (igˇtiha¯d)“ argumentiert, „wandeln sich auch die heiligen Gesetze mit den Zeitaltern, und ihre Vorschriften verändern sich in Abhängigkeit von den Fähigkeiten der Nationen, denn die zweitrangigen Sachverhalte der Vorschriften der Scharia betreffen die menschlichen Umstände, sie richten sich nach diesen Umständen und sind wie Medizin.“53

Nursi geht davon aus, dass „dadurch, dass die Scharia eine Barriere gegen die Angriffe der Natur bildet“, die Scharia die Natur verändere und dass sich umgekehrt auch die zweitrangigen Vorschriften der Scharia veränderten, wenn sich „der Stadtmensch, vorausgesetzt, er ist wirklich ehrbar“, „in einem sozial hohen und sehr kultivierten und gesitteten Milieu“54 bewege. Die Ehre einer Familie ist

50 Vgl. Nursi, Flashes Collection: „The Twenty-Fourth Flash: On Islamic Dress for Women“, S. 255–265 und Nursi, Aus dem Risale-i Nur Gesamtwerk, „Vierundzwanzigster Blitz“, S. 391– 408. 51 Ebd., S. 392f. 52 Vgl. Nursi, „Das Siebenundzwanzigste Wort“, in: ders., Worte, S. 611–621. 53 Ebd., S. 617f. 54 Ebd., S. 619.

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in muslimischer Tradition eng an die Ehrbarkeit der Frau gebunden. Doch im Koran wird sie in 24/30 zunächst bei den Männern und dann im folgenden Vers 24/31 bei den Frauen angesprochen: „Sprich zu den gläubigen Männern, daß sie ihre Blicke zu Boden schlagen und ihre Keuschheit wahren sollen.“ Die allgemeinen Bedingungen der Bedeckung der Menschen nach Gottes Willen nennt Koran 7/26: „Oh Kinder Adams, wir gaben Euch Kleidung, Eure Scham zu bedecken, und zum Schmuck; doch das Kleid der Frömmigkeit – das ist das beste.“

§ 6 Zugehörige Freiheit in der Moderne als religiös-kulturelle Freiheit im Rahmen des Freiheitsschutzes für alle Sarrazin geht davon aus, dass mit der industriellen Moderne die sozialen Beziehungen weniger von der Tradition bestimmt und stärker gestaltbar seien, und betont: „Liberale Muslime wehren sich dagegen, ‚dem Islam‘ als solchem bestimmte Eigenschaften zuzuschreiben“ – zu Recht. Denn mit der Säkularisierung rückten die historischen Kontexte in den Blick und es reiche für den Staat aus, dass Muslime seine Gesetze beachten. Um die allen gleich weit geöffnete Tür in die Gesellschaft zu durchschreiten, sei aber „die klare Unterstützung aus den Elternhäusern“55 notwendig. Andererseits gehöre es bei der bisherigen Bevölkerung zur Freiheit, Vorsorge zu treffen; „zum Deutschland und Europa der Zukunft [gehöre] selbstverständlich Religionsfreiheit“, und zugleich sollten die anderen „westlichen und europäischen Werte und die jeweilige kulturelle Eigenart der Völker“56 bewahrt werden können. Für Nursi ging es in der Umbruchzeit der Anfänge der modernen Türkei um Freiheit für die nationale Tradition und die ihr gemäße Religion, weil Glaube lebenslang möglich bleibe – selbst wenn Nursi damit rechnete, dass es zu absolutem Unglauben und gesellschaftlichem Schaden führe, wenn man dem Islam den Rücken zuwende. Im Hintergrund steht dabei, dass für Muslime Religion und Ordnung zusammenhängen und sich die islamischen Rechte der Person nach ihren islamischen Pflichten bestimmen lassen, die zu Schutz und Erhalt der Gruppe beitragen sollen. Hier ergibt sich für das Verständnis des Autors aus Nursis Ansatz eine Flexibilität, nämlich dass kulturelle Verschiebungen wie im Verhältnis der Religionen auch im Verhältnis von Männern und Frauen zu berücksichtigen sind. Die Freiheit dafür gibt die Orientierung am Ewigen. Die säkulare türkische Gerichtsbarkeit beanstandete zwei Seiten Nursis zur Auslegung von Koranversen über Erbrecht und Verschleierung von Frauen, weil 55 Sarrazin, Deutschland, soziale Beziehungen, S. 170; „der“ Islam, S. 268; historische Kontexte, S. 275; Gesetze beachten, S. 291; Unterstützung der Elternhäuser, S. 307. 56 Ebd., Religionsfreiheit, S. 308; Bewahrung der Werte, S. 391.

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sie mit dem türkischen Zivilrecht nicht konform waren. Daraufhin bestand Nursi auf Freigabe des 400-Seiten-Bandes ohne die beiden Seiten und wies auf die Bedeutung von Religion für jede Nation hin: „Wenn, Gott bewahre, ein Muslim seine Religion verlässt, fällt er in absoluten Unglauben; er kann nicht in einem Zustand ‚zweifelnden Unglaubens‘ verbleiben, der ihn in gewissem Maße am Leben erhält.“57 Das hört sich zunächst nach einer Argumentation an, für die nach Scharia-Tradition Abfall vom Islam nur durch Vollzug der Todesstrafe oder durch sozialen Tod innerhalb aller muslimischen Kontexte beantwortet werden könne. Doch zuvor heißt es: „Keine Nation kann ohne Religion Bestand haben“.58 Und die Fortsetzung der Argumentation Nursis geht vielmehr dahin, bis zum Lebensende einen neuen wahren Glauben für möglich zu halten, wofür er mit seiner Koraninterpretation wirbt. „Wenn Glaube in sein Herz eintritt“, zeige sich, dass die guten Anlagen des Menschen nicht ausgelöscht worden seien. Nursi erklärt es deshalb für unmöglich, diesen Glaubensdienst und die den Koran erläuternde Risale-i Nur aufzugeben.59 Er warnt allerdings – mit Verweis auf die im islamischen Staat traditionelle Todesstrafe für den Abfall vom Islam – die Repräsentanten der Gesellschaft vor dem „Gift für das gesellschaftliche Leben“, wenn man Muslime „einer ausländischen Industrialisierung mit ihrem Fortschritt zutreibt“ und „jemandem auf eine so dumme Weise seine Bindungen an den Glauben […] zerbrochen worden sind.“60 Doch im Islam ist der Beitrag zum Schutz und Erhalt der Gruppe das entscheidende Kriterium. Das würdigte Nursi beim bereits behandelten Thema Religionsfreiheit aufgrund des gemeinsamen Kampfes für Freiheit gegen gemeinsame äußere Feinde und in Erwartung gemeinsamer Überwindung aggressiver Religionsfeindlichkeit.61 Eine vergleichbare Würdigung kultureller Verschiebungen scheint sich auch in der Erweiterung seines Traktats „Über islamische Kleidung der Frauen“62 anzudeuten. Der primäre Konflikt bleibt derjenige zwischen Leben und Tod, für den Nursi den Lösungsansatz allein im Glauben an die Auferstehung findet, gestützt auf den Aufruf zum Gotteslob im Koran: „Er bringt das Lebendige aus dem Toten, und er bringt das Tote aus dem

57 Nach Nursi, Rays Collection, S. 374: „The Fourteenth Ray“: „If, God forbid, a Muslim apostasizes, he falls into absolute disbelief; he cannot remain in a state of ‚doubting unbelief‘, which keeps him alive to an extent.“ 58 Ebd.: „No nation can continue in existence without religion“. 59 Ebd.: „If belief enters his heart“. 60 Nursi, Aus dem Risale-i Nur Gesamtwerk, „Siebzehnter Blitz“, S. 238f. 61 Vgl. dazu auch S¸ükran Vahide, „Der Dialog und seine Voraussetzungen im Denken und Handeln von Bediuzzaman Said Nursi“, in: Aries/Ülker, Bonhoeffer, S. 67–75. 62 Nursi, Aus dem Risale-i Nur Gesamtwerk, „Vierundzwanzigster Blitz“, bes. S. 397f.; vgl. Anm. 49f.

Menschliche Schwäche und Freiheit in der Moderne aus der Sicht von Said Nursi

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Lebendigen hervor. Und er belebt die Erde erneut nach ihrem Absterben. Und so werdet auch ihr einst wieder aus dem Grab steigen.“63 Der Auferstehungsglaube des Korans wird auch das entscheidende Kriterium für das vom Äußeren unabhängige Verhalten zwischen Mann und Frau. Zur Ausmalung der Verheißungen für das Paradies gehört im Koran bekanntlich das Zusammensein mit wunderschönen Paradiesjungfrauen. Nursi korrigiert hier volkstümliche Erwartungen der Männerwelt mit Sätzen, die natürlich aus der Perspektive beider Ehepartner gelten: „Beispielsweise mag jemand sagen: ‚Diese meine Frau soll meine dauernde Gefährtin sein in einer ewigen Welt und in einem ewigen Leben. Wenn sie nun alt und hässlich geworden ist, macht das nichts, denn sie hat eine ewige Schönheit […].‘ So wird er sein betagtes Eheweib mit so viel Liebe, Leidenschaft und Fürsorge behandeln, als wäre sie eine wunderschöne Paradiesfrau.“64

Literatur Elsas, Christoph, Einflüsse der islamischen Religion auf die Integrationsfähigkeit der ausländischen Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, Senatskanzlei/Planungsleitstelle des Regierenden Bürgermeisters, Ausländerintegration 1, Berlin 1980. Ders., Ausländerarbeit, Praktische Wissenschaft Kirchengemeinde, Stuttgart 1982. Ders., Identität. Veränderungen kultureller Eigenarten im Zusammenleben von Türken und Deutschen, Hamburg/Rissen 1983. Ders., „Gelassenheit. Ein multireligiöser und interreligiöser Konfliktlösungsansatz“, in: Zeitschrift für Missionswissenschaft und Religionswissenschaft 1/2012, S. 108–124. Kus¸pınar, Bilal, „Nursis Analyse der Freiheit der Gläubigen im Islam“, in: Aries, Wolf D./ Ülker, Rüstem (Hg.), Dietrich Bonhoeffer, Alfred Delp und Said Nursi: Christentum und Islam im Gegenüber zu den Totalitarismen, Münster 2004, S. 55–65. Nursi, Said, Aus dem Risale-i Nur Gesamtwerk, hrsg. v. VFJH e.V., übers. v. Davut Korkmaz, Berlin 2007, Briefe. Ders., Worte. Über die Natur des Menschen, seinen Zweck und die Dinge insgesamt, 1. vollständige Auflage der Übersetzung aus der türkischen Ausgabe Sözler, Köln/ Istanbul 2002. Ders., Flashes Collection, translated from the Turkish Lem’alar by S¸ükran Vahide, from the Risale-i Nur Collection 3, Istanbul ³2000. Ders., The Rays Collection, translated from the Turkish S¸uâlar by S¸ükran Vahide, from the Risale-i Nur Collection 4, Istanbul 1989. Ders., Sözler. Risale-i Nur Külliyatından, Istanbul 2004. Ders., Kastamonu Lahikası, Istanbul 1960. Ders., Tarihçe-i Hayat, Istanbul 1987. Ders., Debates (Münazarat), Istanbul 1997. 63 Sure 30/19; vgl. Nursi, „Ergänzung zum Zehnten Wort“, in: ders., Worte, S. 134ff. 64 Ebd., S. 137.

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Ders., „Nationalismus aus der Sicht des Islam“, in: Risale-i Nur Institute of America (Hg.), Lichter für die Nacht, die Zukunft heißt. Textproben aus den Schriften des Bediuzzaman Said Nursi, Berkeley 1977. Michel, Thomas, Christlich-Islamischer Dialog und die Zusammenarbeit nach Bediüzzaman Said Nursi, Istanbul 2004. Vahide, S¸ükran, Ein Beitrag zu einer „Intellektuellen Biographie“ Said Nursis, Istanbul 2004. Dies., „Die Verteidigungsrede Said Nursis vor dem Eskis¸ehir-Gerichtshof 1935“, in: Nur – Das Licht, Spezialausgabe 19–20, Köln 1997. Dies., Islam in der modernen Türkei. Die intellektuelle Biographie des Bediüzzaman Said Nursi, Berlin 2009. Dies, Bediuzzaman Said Nursi. The Author of the Risale-i Nur, Istanbul ³2000. Yavuz, M. Hakan, Islamic Political Identity in Turkey, Oxford 2003. Ders./Esposito, John L. (eds.), Turkish Islam and the Secular State. The Gülen Movement, New York 2003.

Kapitel 3: Religion und Wissenschaft bei Said Nursi

Egon Spiegel

Religion und Wissenschaft bei Said Nursi: Schöpfungstheologie auf der Basis des organischen Ineinanders von Horizontale und Vertikale

1 Bediuzzaman Said Nursi (1876/7–1960) 1 hat bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Verhältnis von Religion und Wissenschaft in einer so beachtlichen Komplexität und Differenziertheit reflektiert, dass sein Werk auch im Hinblick auf den gegenwärtigen, das Verhältnis von Religion und Wissenschaft betreffenden Diskurs als wegweisend angesehen werden kann und studiert werden muss. Die Beschäftigung mit Said Nursis theologischer bzw. spiritueller Hinterlassenschaft eröffnet einen beeindruckenden Rahmen substanzieller Gemeinsamkeiten zwischen islamischer und christlicher Theologie, zwischen einem christlichen Sprechen von Gott und einem muslimischen – nicht nur im Hinblick auf die hier vorgegebene spezielle Fragestellung.2

1 Vgl. Mehmed Paksu (Hg.), Said Nursi. Die Biographie eines modernen Helden, Nesil Yayınları, Istanbul 2008; Sükran Vahide, Islam in der modernen Türkei. Die intellektuelle Biografie des Bediüzzaman Said Nursi, Berlin 2009; Ian S. Markham/Suendam Birinci Pirim, An Introduction to Said Nursi. Life, Thought and Writings, Burlington/USA 2011. Vgl. darüber hinaus auch Cäcilia Schmitt (Hg.), Islamische Theologie im 21. Jahrhundert. Der aufgeklärte Islam. Aufkommen – Ideen – Niederschlag. Das Paradigma des Said Nursi, Stuttgart 2006, sowie Cemil S¸ahinöz, Die Nurculuk Bewegung. Entstehung, Organisation und Vernetzung, Nesil Yay., Istanbul 2009. 2 Versuche zur Verhältnisbestimmung von Naturwissenschaft und christlichem Glauben bzw. Naturwissenschaft und Theologie (siehe Hinweise auf entsprechende Projekte, Publikationen und Vereine im Internet) haben in der christlichen Tradition, in innerkirchlichen Auseinandersetzungen, im theologisch-philosophischen Diskurs des „christlichen Abendlandes“ einen festen Platz. Aus der Fülle an Literatur sei hier nur auf folgende neuere Publikationen verwiesen: Ian G. Barbour, Naturwissenschaft trifft Religion. Gegner, Fremde, Partner? Göttingen 2010; Georg Baudler, Der freigelassene Kosmos. Naturwissenschaft und Schöpfung, Ostfildern 2011; Marcus Knaup/Tobias Müller/Patrick Spät (Hg.), Post-Physikalismus, Freiburg i. Br. 2011; Hans-Dieter Mutschler, Physik und Religion. Perspektiven und Grenzen eines Dialogs, Darmstadt 2005; Georg Souvignier/Ulrich Lüke/Jürgen Schnackenburg/Hubert Meisinger (Hg.), Gottesbilder an der Grenze zwischen Naturwissenschaft und Theologie, Darmstadt 2009; Hans-Rudolf Stadelmann, Im Herzen der Materie. Glaube im Zeitalter der Naturwissenschaft,

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Geradezu faszinierend ist die empirische Theologie, die Said Nursi in einer Zeit gewaltiger Umbrüche entwickelt hat. Empirisch meint hier, einem weiten Verständnis folgend: weltzugewandt und von Welt her, auf Welt hin und für die Welt. Nursi begnügt sich dabei nicht mit der Annahme von Transzendenz neben Immanenz, sondern fragt nach der Transzendenz in der Immanenz, nach der (göttlichen) Vertikalen in der (gegenständlichen) Horizontalen und entdeckt so in der Welt, in der Evidenz, den Creator ex nihilo, erschließt so an und in der Wirklichkeit Gott, ohne diese damit einer davon unabhängigen, eigenständigen wissenschaftlichen Untersuchung und Reflexion entziehen zu wollen. Drei ausgewiesene Kenner der Materie – Recep S¸entürk (Istanbul), Ahmed Akgündüz (Rotterdam) und Bekim Agai (Frankfurt) – verstehen die Komplexität des Ineinanders von Religion und Wissenschaft bei Said Nursi kompetent zu erschließen und ihre bahnbrechende Bedeutung herauszustellen: S¸entürk mit einem Beitrag über „Semiotics of Nature: Recharging the World with Meaning“, Akgündüz mit einem Beitrag über „Religion and Science in the Thinking of Said Nursi“ und Agai mit einem Beitrag über „The Religious Significance of Science and Natural Sciences in the Writings of Bediuzzaman Said Nursi“. Während sich Recep S¸entürks Vortrag auf Nursis semiotische Exegese der Natur (Natur als ein von Gott geschriebenes Buch) konzentriert und diese – beispielsweise im Rückgriff auf I˙brahim Hakkı – akribisch zu erklären und dabei historisch zu verorten versucht, und während Ahmed Akgündüz in einer pointierten Einlassung die dialogisch vermittelnde und damit friedensstiftende Leistung von Nursi im Rahmen seiner Verhältnisbestimmung von Wissenschaft und Religion herausstellt, erschließt Bekim Agai umfassend und sorgfältig das Werk Nursis systematisch bezogen auf sein Verhältnis zur Wissenschaft als eines ambivalenten im Kontext seiner Entstehungszeit und der sie prägenden gesellschaftlichen Einflüsse. Als Vertreter der Praktischen Theologie (Inhaber des Lehrstuhls „Praktische Theologie: Religionspädagogik und Pastoraltheologie“ am Institut für Katholische Theologie der Universität Vechta) sieht der Autor sich durch das Werk des Bediuzzaman Said Nursi deshalb besonders angesprochen, weil es sich – frei von allen interdisziplinären Berührungsängsten – nicht nur der Aktualität und ihrer Deutung verpflichtet weiß, sondern über die Jahrzehnte hinweg nicht das Geringste weder an theologischer Aktualität noch entsprechender Relevanz eingebüßt hat. Theologie, in welchem religiösen Lager auch immer, kann nicht ohne die intensive Beschäftigung mit Said Nursi und seinem Lebenswerk betrieben werden. Im Hinblick auf die Beiträge der oben genannten Nursi-Spezialisten

Darmstadt 52010; Joachim Weinhardt (Hg.), Naturwissenschaften und Theologie. Methodische Ansätze und Grundlagenwissen zum interdisziplinären Dialog, Stuttgart 2010.

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sollen im Folgenden die – nicht zuletzt auch für den interreligiösen Dialog interessante – Fragestellung skizziert werden.

2 Ein Feuer ist mehr als nur ein Feuer. Es ist ein Ort der Wärme und des Lichts, an diesem und um diesen herum sich Menschen versammeln, miteinander kommunizieren, speisen, feiern und tanzen. Es ist – so gesehen – ein Brennpunkt des Miteinanderseins. Eine rein physikalische Beschreibung kann diesen Aspekt nicht berücksichtigen. Ebenso verhält es sich mit einem Baum. Dieser ist mehr als nur ein Baum im Sinne seiner engen biologischen Existenz. Im Baum, auf dem Baum und unter dem Baum haben wir gelebt und leben wir auch heute noch. Unter ihm wird Gericht gehalten, in seinem Schatten suchen die Menschen Schutz vor sengender Sonne, unter seinen Zweigen entfliehen sie dem Regenguss. Unter ihm verbergen sich die Liebespaare und frönen dem „hierosgamos“, der heiligen Hochzeit. Und auch der Berg ist nicht nur Berg als eine geologische Wirklichkeit. Er wird erst zur Welt-Himmels-Achse dadurch, dass er den Menschen in der ihn umgebenden Weite Orientierungspunkt ist. An seinem Fuße treffen sie sich, um sich periodisch ihrer Gemeinschaft zu vergewissern. Zu ihm pilgern sie, auf seiner Spitze feiern sie. Deshalb geht von ihm Heil aus. Wir können die Reihe fortsetzen und das Mehr, das – gemessen an einer naturwissenschaftlich gegenständlichen Beschreibung – Überschüssige an etwa einem Haus, einer Hand, Brot, Wasser und Sonne, nicht zuletzt, sondern zuerst am Menschen, insbesondere dem interagierenden Menschen und damit am Zwischen von Ich und Du, herausstellen und darin ein Drittes, eine (in theologischer Terminologie) göttliche Wirkmacht (Gott) ausmachen. Die wenigen Beispiele deuten es an: Die Welt ist weit mehr als nur das, was die Naturwissenschaft in ihr und an ihr zu erkennen vermag – jedenfalls soziologisch. Das Feuer (in seiner rudimentären Form: die Kerze), der Berg (in seiner rudimentären Form: der aufgeschichtete Steinhügel oder die Stele am Wegesrand) und vieles andere mehr repräsentieren eine hochkomplexe, mehrschichtige Wirklichkeit. Sie ist empirisch beileibe nicht hinreichend erfasst, wenn sie nur (natur)wissenschaftlich beschrieben und reflektiert wird. Und selbstverständlich ist sie auch dann noch nicht empirisch ausgelotet, wenn sie einer expliziten soziologischen Betrachtung unterzogen wurde. Auch dann noch, in ihrer soziologischen Deutung, weist sie über sich selbst hinaus und spannt dabei auf eine Dimension, die – so in theologischer Betrachtung und Deutung – über allem, hinter allem und in allem existiert. Es ist ein Verständnis von Empirie, das alle Religionen teilen. Allen Religionen eignet dieses Bemühen,

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in der sowohl naturwissenschaftlich als auch soziologisch angenäherten Wirklichkeit (Praxis), in der Horizontalen eine Vertikale zu entdecken, diese als eine geheimnisvolle Mitte zu beschreiben und von ihr her Welt zu verstehen und zu gestalten. Es sind die Religionen der Welt, die in der Immanenz die Transzendenz ausmachen, reflektieren, benennen und feiern und vor dem Hintergrund dieser Transzendenz Maximen ethischen Handelns ausformulieren und hochzuhalten versuchen. So gesehen sind Religionen Ausdruck einer empirischen Weltsicht: Sie sind das Produkt einer hintergründigen Auseinandersetzung mit Welt. In dieser widersprechen sie nicht nur nicht den unzähligen Versuchen, Welt zu verstehen, sondern reihen sich ein in das breite Spektrum humanwissenschaftlicher bzw. sozialwissenschaftlicher, naturwissenschaftlicher oder auch mythologischer Annäherungen. Indem sie Welt ausdrücklich als Symbol (von symballein = zusammenwerfen) wahrnehmen und dieses tiefendimensional zu erschließen versuchen und ihnen dabei die Entdeckung eines Jenseits im Diesseits gelingt, bereichern sie alle übrigen Versuche der Weltdeutung um einen wesentlichen, möglicherweise sogar um den entscheidenden. Im Hinblick auf eine in aller Interesse liegenden – optimalen – Welterschließung wäre es nicht nur widersinnig, religiöse Deutungsmuster aus dem Diskurs zu verbannen, sondern hinsichtlich einer aktiven Gestaltung von Welt geradezu gefährlich, das religiöse Interpretationsangebot auszuschlagen. Bediuzzaman Said Nursi hat das Ineinander von Horizontale und Vertikale früh erkannt und in einer bahnbrechenden Weise für eine mehrschichtige Weltsicht plädiert. Während anderen die Kirschen sauer sind, weil sie ihnen zu hoch hängen, während diesen die Naturwissenschaften gefährlich erscheinen, weil sie nichts oder nur wenig von ihnen verstehen, sprach Said Nursi ihnen – mit ihnen durchaus vertraut – nicht nur nicht das Recht der Mitsprache im Konzert der vielfältigen Versuche einer Weltdeutung ab, sondern suchte Kongruenzen der (natur)wissenschaftlichen Weltsicht auf der einen und religiöser Weltanschauungen auf der anderen Seite. In seiner Risale-i Nur – und nicht nur darin – suchte Nursi positivistisches und muslimisches Weltverstehen auf eine für alle Seiten akzeptierbare Weise miteinander zu verknüpfen, indem er diese in einen produktiven Austausch brachte. Das war nicht nur zu seiner Zeit und in seinen Lebenskontexten eine (bisweilen gefährliche) Gratwanderung. Es war dies und ist dies auch gegenwärtig noch in der christlichen Religion und innerhalb ihrer Konfessionen eine solche. Viele – fromme Christen wie fromme Muslime – quälen sich bis heute, weil sie in beidem einen Gegensatz sehen. Said Nursi suchte ihn – richtungsweisend – zu überwinden. Auch und gerade im Hinblick auf die weitere Entwicklung des Islam in der Welt. Er tat dies nicht, um den Islam geschickt und wendig in die moderne Welt hineinzumanövrieren, sondern aus einer Spiritualität von Welt, die es ihm nicht nur erlaubte, das naturwissen-

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schaftliche Weltbild in das durch den Koran vorgegebene zu integrieren, sondern die ihm solches sogar gebot. Nursi hat damit Tradition einerseits und Aktualität andererseits in einer Weise zusammengebracht, ja ineinandergefügt, die in der katholischen und evangelischen Religionspädagogik – dank wegweisender Arbeiten von Paul Tillich (1886–1965) und Edward Schillebeeckx (1914–2009) – unter den Aspekten einer Korrelationsdidaktik und Symboldidaktik seit den 1970er Jahren die vorherrschende ist. In korrelationsdidaktischer Absicht werden dabei tradierte Wirklichkeit und aktuelle so zusammengeführt, dass sie sich gegenseitig erschließen. Der korrelationsdidaktisch intendierte Austausch zielt schließlich – symboldidaktisch – auf die Erschließung der tradierten wie aktuellen Gegenstands- oder Beziehungserfahrungen hinsichtlich ihrer gemeinsamen Tiefendimension: eines Anderen, eines Dritten.3 Welt, in welcher Deutung auch immer, verdankt sich – dieser Perspektive nach – einer einzigen, weder durch Raum noch durch Zeit begrenzten göttlichen Wirkmacht.

3 Die Semiotik der Welt – die Welt als Buch, als Symbol (symbolon) – zu verstehen und damit das naturwissenschaftliche Weltverständnis als zu eng und eindimensional zu relativieren, das ist ein zentrales Anliegen des Vortrags von Recep Sentürk. Für ihn sind in Anlehnung an Arbeiten des Pragmatismus und Strukturalismus, aber auch bereits I˙brahim Hakkı von Erzurum oder auch Sˇa¯h Waliyulla¯h ad-Dihlawı¯ (beide 18. Jhd.), Natur wie Gesellschaft einem Text vergleichbar, der als ein „interrelated system with multiple relations“ studiert werden müsse.4 So wie Gesellschaft semiotisch verstanden werden müsse, so müsste dies auch – die (Natur-)Wissenschaften können dem in der Regel nicht folgen – mit der Natur geschehen. Die Natur, so schon Ibrahim Hakki, sei ein Buch, und jede Kreatur sei ein Buchstabe in diesem Buch. Dieses weise über sich selbst hinaus auf Gott bzw. offenbare einen tieferen Sinn (meaning). In diesem Sinn könnten Natur und Versuche der Erklärung ihrer Existenz nicht im Wi3 Vgl. Egon Spiegel, „Induktive Gott-Rede. Skizze einer korrelativen Symboldidaktik“, in: KERYKS, Internationale religionspädagogisch-katechetische Rundschau, Olsztyn/Wien, VI (2005), S. 165–189; Egon Spiegel, „Korelacyjnadydaktyka symboliczna“, in: Cyprian Rogowski (Red.), Leksykon Pedagogiki Religii. Podstawy – Koncepcje – Perspektywy, Verbinum, Warszawa 2007, S. 328–334; Egon Spiegel, „Soziotheologie“, in: Tobias Kläden/Judith Könemann/Dagmar Stoltmann (Hg.), Kommunikation des Evangeliums. Festschrift für Udo F. Schmälzle, Münster 2008, S. 183–193. 4 Vgl. auch Recep S¸entürk, Narrative social structure. Anatomy of the Hadith transmission network, Stanford 2005.

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derspruch stehen zu einer religiösen Weltdeutung. Nach Ansicht von Said Nursi, der sich stärker noch als I˙brahim Hakkı durch den in seiner Zeit besonders heftig aufbrechenden Gegensatz von Glaube und Wissenschaft herausgefordert fühlte, verweist die in einem Objekt liegende Bedeutung (signification) auf dessen Schöpfer (creator). Sentürk spricht in diesem Zusammenhang von „Semiotics of Nature“. Nursi, der von einer Vielschichtigkeit (multiplexity) eines Objektes ausgeht, sieht in jedem Objekt, selbst im kleinsten, ein Zeichen Gottes, ohne darauf verzichten zu müssen, das Objekt auf einer anderen Ebene einer rationalen Betrachtung zuzuführen und Kausalitäten infolge der prima causa, die nicht auf ein unmittelbares Einwirken Gottes zurückzuführen sind, anzuerkennen. Für Nursi verweist die Welt allerdings nicht nur auf die Existenz ihres Schöpfers, sondern spiegelt die Eigenschaften Gottes wider. Besonders fromme Menschen, Zeugen Gottes, verstehen sich auf diese Linguistik bzw. Semiotik der Natur. Bezüglich des Korans gilt für Nursi, dass dieser die ewig gültige Übersetzung des von Gott verfassten Buches der Natur sei. Während die Positivisten davon ausgehen, dass das wissenschaftliche Weltbild in keiner Weise mit einem religiösen zu vereinbaren sei und deshalb eine materialistische Weltsicht vertreten, kann Nursi die modernen wissenschaftlichen Erkenntnisse ohne Weiteres in sein schöpfungstheologisches Gesamtkonzept integrieren. Allein dieser Integrationsversuch – theologische Wissenschaft und nichttheologische Wissenschaft miteinander in Einklang zu bringen – zeigt, dass Bediuzzaman Said Nursi nach Konfliktlösungen Ausschau hält, die durch das Zusammenführen von Gegensätzen geprägt sind. Nursis Herz ist weit, seine breite Bildung (er studierte neben Physik und Mathematik auch Philosophie) unterstützt seine nicht zuletzt die profane Wissenschaft mit einschließende Offenheit. Mit Recht bezeichnet Ahmed Akgündüz ihn deshalb als einen Mann des Dialogs und Friedens.5 Um nur ein Beispiel zu nennen: Bereits ein halbes Jahrhundert, bevor es die katholische Kirche infolge des Zweiten Vatikanischen Konzils tat,6 stieß Said Nursi (1911) den interreligiösen Dialog zwischen Muslimen und Christen an. Bemerkenswert ist auch seine Interpretation des Dschihad (gˇiha¯d) als nichtphysikalische positive Aktion durch das Wort. Ahmed Akgündüz: „Bediuzzaman insisted that his students avoided any use of force and disruptive action.“ Klar stellte Nursi die muslimische Welt bezüglich ihres Ver5 Vgl. auch Wolf D. Aries/Rüstem Ülker (Hg.), Dietrich Bonhoeffer, Alfred Delp und Said Nursi. Christentum und Islam im Gegenüber zu den Totalitarismen, Münster 2004. 6 Vgl. Zweites Vatikanische Konzil, „Nostra aetate. Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen vom 28. Oktober 1965“, in: Peter Hünermann (Hg.), Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil. Band 1: Die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils. Konstitutionen, Dekrete, Erklärungen. Lateinisch-deutsche Studienausgabe, Freiburg/Basel/Wien 2004, S. 355–362. Vgl. jetzt auch Vöcking (Hg.), Nostra aetate und die Muslime. Eine Dokumentation, Freiburg/Basel/Wien 2010.

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hältnisses zu Europa vor die Alternative, sich auf ein Europa einzulassen, das durch Wissenschaft den Menschen dient, oder ein Europa, das dem Laster verfallen ist, und er plädierte dafür, sich in einer Allianz mit Christen einem internationalen, aggressiven Atheismus und Anarchismus (als einem gemeinsamen Feind) entgegenzustellen und für Frieden und Sicherheit einzutreten. Mit den Worten von Bediuzzaman: At this time, the people of religion and truth will also need to unite sincerely not only with their own brothers and fellow believers, but also with the truly pious and spiritual ones among the Christians, temporarily refraining from the discussion and debate concerning points of difference in order to combat their joint enemy, aggressive atheism and immorality.7

Das in Europa vorherrschende Wissenschaftsverständnis ist aus der Sicht Nursis deshalb so problematisch, weil es in Positivismus und Materialismus gründet. Das von Nursi vertretene Wissenschaftsverständnis ankert dagegen in der Anerkenntnis einer von Gott geschaffenen Welt. Aus diesem Blickwinkel dient Wissenschaft der Erklärung von Natur und sie ist ein bedeutender Gegenstand des Studierens, ja ihr Studium geradezu eine religiöse Pflicht. In diesem Sinne hat Nursi, so Bekim Agai in seinem profunden Beitrag, das Bildungsverständnis in der Türkei, das im Zuge der Auflösung des Osmanischen Reiches weitgehend durch das säkulare Wissenschaftsverständnis in Europa geprägt ist, nachhaltig beeinflusst. Dabei ist der Kreis der Adressatinnen und Adressaten nach seiner Einschätzung von Wissenschaft auffallend disparat. Während von den einen die in der Tradition des Islam liegende Wissenschaftsfeindlichkeit als Grund für die Rückschrittlichkeit in der Türkei ausgemacht und deshalb ein affirmatives Verhältnis zur Wissenschaft (auch im Sinne der im Westen vertretenen) gefordert wird, betonen andere die Unvereinbarkeit von Religion und Wissenschaft. Said Nursi hingegen versucht nicht nur Wissenschaft und Islam zu vereinen, „his position can also be seen as an attempt to unify science and religion in general“ (so Agai resümierend). Ist so schon der „alte Said“ (bis 1923) von der Bedeutung der Wissenschaft für die Gesellschaft überzeugt, so auch (wenngleich zunehmend kritisch) noch der „neue Said“, der in ihr eine Möglichkeit sieht, sich gegen ein – insbesondere dank Bildung und Industrie – starkes Europa zu behaupten. Letztlich tut allerdings das seiner negativen Einschätzung einer Weltanschauung, die allein auf einer wissenschaftlichen Betrachtung der Welt aufruht, keinen Abbruch. Die alles entscheidende Basis seines Wissenschaftsverständnisses ist der Glaube an einen Schöpfergott. Das wird an keiner Stelle besser veranschaulicht als im nachfolgenden Diktum Nursis:

7 Ahmed Akgündüz in diesem Band, S. 145–154.

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Nature is not the printer, it is the press; it is not the inscriber, but the inscription; it is not the doer, it is the recipient; it is not the source, but the pattern; it is not the orderer, it is the order; it is not the power, but the law; it is a code of laws proceeding from the attribute of will; it has no external reality.8

Bekim Agai folgert daraus, dass Said Nursi „believed that scientists observe the same phenomena as religious observers, but they make different attributions.“ Entschieden positioniert sich Nursi gegen den im darwinistischen Menschenbild vom „survival of the fittest“ bzw. „struggle for life“ zum Ausdruck kommenden anthropologischen Reduktionismus und macht einen gravierenden Unterschied zwischen der in der westlichen Philosophie und Wissenschaft vorherrschenden Annahme, dass das Leben wesentlich durch „force“ (türkisch: kuvvet) bestimmt sei und einer Lebens- und Weltgestaltung auf der Basis eines Vertrauens auf „Divine truth“ (türkisch: hakikat) in der Perspektive des Islam. In diesem Zusammenhang verweist Agai auf Realisierungen durch die Gülen-Bewegung.9 Nursi, der sich zwischen den Polen eines naturalistisch fehlgeleiteten Europa auf der einen Seite und einem allein auf das individuelle Seelenheil konzentrierten Sufismus auf der anderen Seite bewegt, sieht den Königsweg der Integration der Wissenschaft in die Religion in einer expliziten Aufnahme der Wissenschaft in die Bildungsarbeit auf der Basis der Anerkennung ihrer Bedeutung für Religiosität und Religion. „Science“, so fasst Agai zusammen, „should stimulate religion and religion should stimulate science.“ In der Flucht dieser Gegenseitigkeit können denn auch die deduktive (abstiegstheologische) Behauptung eines allmächtigen Schöpfers im Koran auf der einen und seine induktive (aufstiegstheologische) Entdeckung in der Natur (im „Book of the Universe“) auf der anderen Seite als sich gegenseitig erhellend und das Eine und Selbe erschließend wahrgenommen und – so die religionspädagogische Folgerung des Autors – im korrelationsdidaktischen Austausch theologisch konstruktiv genutzt werden. Es ist das besondere Verdienst Nursis, dass er neben dem Versuch, alle technologischen Entwicklungen nicht nur grundsätzlich, sondern durchaus bezogen auf einzelne Erscheinungsweisen (vom Schiff über die Eisenbahn bis hin zum Flugzeug) im Koran antizipiert und goutiert zu sehen, in einzigartiger Weise als „vestigia Dei“ (Fußspuren Gottes), „clear signs“ des Schöpfers, Gottes Handschrift im Buch der Natur annimmt, ohne damit behaupten zu wollen, dass damit Gott direkt zu erkennen sei. Nursi geht dabei soweit, zu sagen, dass es allein bereits das wissenschaftliche Studium, unabhängig davon, ob sich der Dozent als 8 Bekim Agai in diesem Band, S. 121–143. 9 Zur Gülen-Bewegung vgl. beispielsweise Walter Homolka/Johann Hafner/Admiel Kosman/ Ercan Karakoyun (Hg.), Muslime zwischen Tradition und Moderne. Die Gülen-Bewegung als Brücke zwischen den Kulturen, Freiburg/Basel/Wien 2010, sowie Bekim Agai, Zwischen Netzwerk und Diskurs. Das Bildungsnetzwerk um Fethullah Gülen (geb. 1938). Die flexible Umsetzung modernen islamischen Gedankenguts, Berlin 2004.

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gläubig bezeichnen würde oder nicht, ermögliche, Gott auf dem Weg der Beschäftigung mit der Wissenschaft zu entdecken: Nursi replied paradigmatically that each of the sciences they were studying continuously spoke about God. God was implicitly present in science, even when the teacher was not making direct reference to Him.10

4 Formulierungen wie „Religion und Wissenschaft“ oder auch „Glaube und Vernunft“ suggerieren ein Nebeneinander der durch das Wörtchen „und“ verbundenen Wirklichkeiten. Die spirituelle Sicht des Said Nursi könnte Anlass geben, in dem durch die Formulierung vorgegebenen Nebeneinander bzw. Gegeneinander einen Kategorienfehler auszumachen: Religion und Wissenschaft würden danach nicht nur relativ Anderes, sondern absolut Anderes bezeichnen, als Wissenschaft nämlich – siehe oben – die Horizontale und Religion die Vertikale in der Horizontalen darstelle und deshalb beide sprachlich eigentlich nur in der folgenden Zuordnung begegnen dürften: Religion in der Wissenschaft (bezogen auf Glauben und Vernunft: Glaube in Vernunft). Der scheinbar einer Quadratur des Kreises gleichkommende Versuch des Bediuzzaman, Welt als ein Symbol göttlichen Schöpfungshandelns wahrzunehmen (in der und durch Welt scheint der Schöpfer auf, erschließt sich, offenbart sich dieser), kann dem modernen Wissenschaftsverständnis nicht auch nur im Geringsten abträglich sein. Die Existenz der durch Nursi in der Horizontalen erschlossenen Vertikale tut jener nicht nur keinen Abbruch, sondern verschafft und garantiert ihr eine einzigartige Dignität. Der Adelung der Horizontalen durch Erkenntnis und Anerkenntnis einer Vertikalen tragen alle Religionen dadurch Rechnung, dass sie Welt immer wieder nicht nur auf ihre Tiefendimension hin reflektieren und meditieren, sondern in dieser eine Grundlage und den Ausgangspunkt von Ethos und Ethik sehen. Gefährlich könnte die Annahme eines Ineinanders der kategorial völlig unterschiedlichen Dimensionen der Wirklichkeit sein, wenn es sich dabei um eine gegenstandslose „religiöse Überhöhung“ handeln sollte: Es also keinen Grund dafür gäbe, in der Wissenschaft und aus dieser heraus eine (göttliche) Mitte zu entdecken (discover), solches aber prinzipiell postuliert oder – etwa im Falle eines offensichtlich destruktiven, nekrophilen Wissenschaftsbetriebes – bezogen auf konkrete Reflexions- und Gestaltungsprozesse reklamiert werden würde. Nicht nur der 50. Todestag des Bediuzzaman Said Nursi (1960/2010) sollte Anlass sein, die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Wissenschaft (besser: Religion 10 Bekim Agai in diesem Band, S. 121–143.

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Egon Spiegel

in Wissenschaft) immer wieder neu zu reflektieren und – nicht zuletzt im Hinblick auf ethische Implikationen – zu diskutieren. Mit ihren einschlägigen Einlassungen leisten Recep Sentürk, Ahmed Akgündüz und Bekim Agai wertvolle Beiträge.

Literatur Agai, Bekim, Zwischen Netzwerk und Diskurs. Das Bildungsnetzwerk um Fethullah Gülen (geb. 1938). Die flexible Umsetzung modernen islamischen Gedankenguts, Berlin 2004. Ders., „The Religious Significance of Science and Natural Sciences in the Writings of Bediuzzaman Said Nursi“, in diesem Band, S. 121–143. Akgündüz, Ahmed, „Relgion, Dialogue, and Politics in the Risale-i Nur of Bediuzzaman Said Nursi“, in diesem Band, S. 145–154. Aries, Wolf D./Ülker, Rüstem (Hg.), Dietrich Bonhoeffer, Alfred Delp und Said Nursi. Christentum und Islam im Gegenüber zu den Totalitarismen, Münster 2004. Barbour, Ian G., Naturwissenschaft trifft Religion. Gegner, Fremde, Partner? Göttingen 2010. Baudler, Georg, Der freigelassene Kosmos. Naturwissenschaft und Schöpfung, Ostfildern 2011. Homolka, Walter/Hafner, Johann/Kosman, Admiel/Karakoyun, Ercan (Hg.), Muslime zwischen Tradition und Moderne. Die Gülen-Bewegung als Brücke zwischen den Kulturen, Freiburg/Basel/Wien 2010. Knaup, Marcus/Müller, Tobias/Spät, Patrick (Hg.), Post-Physikalismus, Freiburg i. Br. 2011. Markham, Ian S./Pirim, Suendam Birinci, An Introduction to Said Nursi. Life, Thought and Writings, Ashgate Publishing Company, Burlington/USA 2011. Mutschler, Hans-Dieter, Physik und Religion. Perspektiven und Grenzen eines Dialogs, Darmstadt 2005. Paksu, Mehmed (Hg.), Said Nursi. Die Biographie eines modernen Helden, Nesil Yayınları, Istanbul 2008. S¸ahinöz, Cemil, Die Nurculuk Bewegung. Entstehung, Organisation und Vernetzung, Nesil Yayınları, Istanbul 2009. S¸entürk, Recep, „Semiotics of Nature: Recharging the World with Meaning“, in diesem Band, S. 155–169. Schmitt, Cäcilia (Hg.), Islamische Theologie im 21. Jahrhundert. Der aufgeklärte Islam. Aufkommen – Ideen – Niederschlag. Das Paradigma des Said Nursi, Stuttgart 2006. S¸entürk, Recep, Narrative social structure. Anatomy of the Hadith transmission network, Stanford University Press, Stanford 2005. Souvignier, Georg/Lüke, Ulrich/Schnackenburg, Jürgen/Meisinger, Hubert (Hg.), Gottesbilder an der Grenze zwischen Naturwissenschaft und Theologie, Darmstadt 2009. Spiegel, Egon, „Induktive Gott-Rede. Skizze einer korrelativen Symboldidaktik“, in: KERYKS, Internationale religionspädagogisch-katechetische Rundschau, Olsztyn/Wien, VI (2005), S. 165–189.

Religion und Wissenschaft bei Said Nursi

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Bekim Agai

The Religious Significance of Science and Natural Sciences in the Writings of Bediuzzaman Said Nursi

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Introduction

A cursory glance at the Turkish media and educational landscape reveals the influence of Said Nursi and his followers on these elements of Turkish society. Whilst the followers of Fethullah Gülen, who is himself very much influenced by Said Nursi’s thought, have had an especially large impact on shaping these sections of society in particular, and have influenced perceptions on the role science should play for the Islamic religion,1 other adherents of Said Nursi and his thought have also helped to shape these societal sections. Science, which in the case of Nursi and his followers means predominately the natural sciences, plays a particularly important role in a line of religious discourse that can be traced back to him. A more detailed examination of the numerous books and articles which examine 1) the importance of science in cementing Islamic belief and 2) the religious wisdom within scientific knowledge show the distinctive nature of Nursi’s beliefs. This literature reveals that Nursi and his followers’ understanding of science in general and of science’s influence on the surrounding world differs in their own understanding greatly from the understanding of modern science. They constantly criticize it as being based on the ideas of positivism and materialism that run against religion.2 Their discourse adds a religious, Islamic connotation to science which observes the world and the universe from the micro- to the macro-level.3 1 Bekim Agai, Zwischen Netzwerk und Diskurs – Das Bildungsnetzwerk um Fethullah Gülen (geb. 1938): Die flexible Umsetzung modernen islamischen Gedankengutes, Schenefeld 2004, pp. 195–211. 2 This argument was part of the religious discourse since the late 19th century and is dealt with as an opinion that can of cause be questioned on the level of the philosophy and history of science. 3 A look at the content of the home page of the journal Sızıntı illustrates the application of this in a popular science discourse in fields such as biology, physics and astronomy. See: URL: http:// www.sizinti.com.tr (English version: http://www.fountainmagazine.com; German version: http://www.fontaene.de [last access: 4 September 2012]).

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This Islamic take on science stresses that the discipline is not an end in itself. According to Nursi and his adherents, science should serve religion, whereas the conviction that science should be studied merely for science’s sake is rejected. Science should hence be conducted with a religious motivation, i. e. it should be regarded as a kind of religious duty or obligation. Science is used as a means to explain the natural world surrounding all men, which, from this religious point of view, denotes creation. If this line of thought is followed further, humans can obtain knowledge about the Creator Himself and strengthen their own religious beliefs by acquiring knowledge of the Creator through the study of his creation. The need to gain knowledge about the natural world thus is presented as a religious obligation. This understanding of science was formed and formulated by Said Nursi and has had a considerable impact on Muslims both in Turkey and in other parts of the world. In order to make Nursi’s opinions on science and natural science comprehensible, the text first briefly examines the historical background against which Said Nursi developed his views. In Turkey, Nursi’s views on science have greatly influenced many pious Muslims’ decision to study science. Following a brief description of the dominant perceptions of the relationship between science and religion of his time and the theoretical concepts implicitly contained in these positions, it is important to examine the ambiguous understanding of modern science contained in Nursi’s writings. Nursi’s views on the negative influence of positivist sciences have engendered a new interpretation of science, as a discipline strongly connected to religion and even justified religiously. From his new position, Said Nursi uses modern science to understand the Qurʾa¯n and hidden aspects of the revelation. He tries to merge the scientific observation of the world with his (and his followers’) religious beliefs, and makes use of the former to strengthen the latter, thus “objectifying” belief in religion. In the final part of the text, the author will discuss the consequences of Said Nursi’s thoughts. The article thus describes Said Nursi’s thoughts together with the ideas that were inspired by the work of Nursi. It also aims to show how Said Nursi’s ideas have influenced pious Muslims’ opinions on science in Turkey. This should form a basis for a general understanding of his ideas and stimulate a more critical discussion about the limits of this discourse.

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The historical background against which Nursi developed his views

Said Nursi’s attitudes towards and his views on the relationship between science and religion are closely tied to the epoch in which he lived and to its cognitive patterns, as well as to the historical changes that challenged the Muslim world during his lifetime. A major change was the establishment of legislative systems governing Muslims, based on secular world views and on the premise that Islam with its educational institutions and legal legislations represented an obstacle on the road to progress. This change occurred via the establishment of direct imperial control of Muslim countries or via the new western-style, proto-national state systems being promoted by elites which were largely based on European, modern, i. e. secular ideas. Any attempt to analyze the understanding of science as contained in his writings must therefore start with an analysis of the different ideologies and world views that prevailed during his lifetime and their position towards sciences and natural sciences. Three main positions were taken towards religion and science in the final period of the Ottoman Empire and the early Republican period. The first position was taken by parts of the Young Ottoman movement and sections of the bureaucratic elite of the Ottoman Empire. They advocated reforms in order to save the Empire. In this context discussions about the importance of ideas and institutions from Europe/the West played a crucial role. They considered the West as being well advanced in all forms of science which they regarded as being the basis of powerful, flourishing states. Scientific findings were employed in the military for new weaponry and formed the basis of industrial progress which was needed to raise the material wealth of the nation and to reduce of imports, which were one of the main reasons why the Ottoman Empire had become dependent on the West and western loans. The solution was seen in the partial adoption of western principles, an approach that had been gradually adopted since the tanz¯ıma¯t period which had begun in 1839.4 With regard to the question about the ˙ role which should be attributed to religion in science, the protagonists of this first position held the view that science and religion were two different domains, which were not necessarily linked to each other. The young Ottomans thus followed the West in terms of science, while believing that adopting western scientific views had no impact on the cultural and religious orientation of the nation, which should remain Islamic. This position resulted in the establishment of the mekteps, schools to educate children in order to later become officers in the army or high-ranking civil servants.5 Although they later would serve a state with 4 Erik J. Zürcher, Turkey. A Modern History, London 1993, pp. 52ff. 5 Hasan Ali Koçer, Türkiye′de Modern Eg˘itim Dog˘us¸u ve Gelis¸imi (1773–1923), Istanbul 1991,

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a religious legitimization, they received a secular education, based on western, positivistic science.6 The second position was shared and promoted by radical Westernizers among the Young Turks and the founders of the Turkish Republic, who were largely a product of the secular schools introduced by the first group.7 When their opinions and attitudes are considered, it becomes clear that these people were greatly influenced by the European ideas promoted in the mekteps and by their studies in European countries, especially in France, the country in which the leading politicians and academics of the Third republic radically advocated a strictly secular and positivist view of the world. Like their Ottoman predecessors, the Young Turks considered the absence of technology based on modern science in the country as being one of the major factors for Turkey’s inferiority and material backwardness towards the West. However, their views on the relationship between science and religion were different from those which had been held by Ottoman Turks in the past. They believed that science and religion did not exist independently from one other, but were instead inseparably related to each other. For them the cognitive patterns that were shaped by religion were a) the cause of the material gap between the Ottoman Empire and Europe, b) the backwardness in social life and c) they represented the main obstacles to a modern, scientific way of thinking that in their view formed the basis for an independent and powerful nation. They were not indifferent, but rather hostile to religion.8 They claimed that as long as religion and its institutions dominated society, superstition would triumph over reason and any form of societal advancement would consequently be impossible.9 Convinced that science was connected to culture, they argued that Westernization could not be restricted to the realm of science, but had to be implemented in all fields of society, including culture and daily life. During the early years of the Turkish Republic religion’s role in the formation of society and daily life was drastically reduced.10 The new republican elite believed that the only way in which western scientific thinking

6 7 8 9

10

pp. 43ff.; Elizabeth Özdalga, Modern Türkiye’ de Örtunme Sorunu Resmi Laiklik ve Popüler ˙Islam, Istanbul 1998, pp. 32f.; J. M. Landau, “Maktab”, in: EI, Vol. VI, Leiden 21990, pp. 196f. S¸erif Mardin, Religion and Social Change in Modern Turkey, Albany 1989, pp. 205. On the scientism of the Young Turks see: S¸ükrü Haniog˘lu, Atatürk: an intellectual biography, Princeton 2011, pp. 48–67. For a detailed description of this intellectual line of thought see: S¸ükrü Haniog˘lu, “Blueprints for a Future Society. Late Ottoman Materialists on Science, Religion, and Art”, in: Elizabeth Özdalga (ed.), Late Ottoman Society. The Intellectual Legacy, London 2005, pp. 28–116. Binnaz Toprak, “Islamist Intellectuals: Revolt against Industry and Technology”, in: Metin Heper et al. (eds.), Turkey and the West. Changing Political and Cultural Identities, London 1993, pp. 237–257, here pp. 238ff.; Binnaz Toprak, Islam and Political Development in Turkey, Leiden 1981, p. 38. Binnaz Toprak, “The Religious Right”, in: Irvin C. Schick (ed.), Turkey in Transition, Oxford 1987, pp. 218–235, here pp. 223ff.

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could be introduced, and the state thus modernized, consisted in radically cutting-off the country from its religious past and in restricting the ability of religious authorities to form cognitive patterns. The new paradigms that prevailed in the perception of the world were materialism and positivism. A paradigmatic story about Atatürk, which the author heard a couple of times in this context, helps to show the (narrated) spirit of this time: One day Atatürk is said to have visited a dervish convent, a tekke. Inside the tekke, a lamp was burning. To show the superiority of materialism over spiritualism, Atatürk asked the dervishes to extinguish the lamp with their dikr. The dervishes started to ¯ perform the dikr, but the lamp was not extinguished. At the end he took his rifle and ¯ shot the lamp, thus extinguishing it.

These types of sayings, secular version of kara¯ma¯t, do not necessarily need to be based on a true story, as, when taken as historical sources of oral history, they help to reveal the attitudes of those telling the story. This one highlights the arguments used against religion and the backwardness of its adherents. One of the arguments critics frequently used was that religion was unable to produce a tangible effect on the country’s material progress and for the benefit of the citizens, something which science could surely do. If the two positions are briefly summarized, it can be said that both share the belief in the West’s superiority in military, industrial and economic matters and acknowledge the backwardness of the Ottoman society in these fields. The West’s superiority was mainly attributed to western advances in the field of technology, advances that the West’s superior scientific knowledge had first facilitated. The promotion of secular sciences at the cost of religious education as a means of modernizing the state, society in general and its institutions was seen as a necessary step in order to maintain independence from the imperial powers and to retain national independence. The third position, which had developed during the tanz¯ıma¯t period, gained ˙ significance, was adopted and promoted by some pious Muslims after Atatürk had come to power. They claimed that Turkey’s relative decline compared to the West had not ceased with the adoption of western principles – including science – and that the young Turkish state’s decision not to longer promote Islamic values and morals was resulting in a decline in the societal cohesion of Turkey. They did not regard religion, but rather the lack of religiosity as responsible for this decline. This group was highly critical of the Republican reforms, which they believed had nothing but negative consequences for the country. This group thought that the adoption of a new, non-religious cognitive pattern in society was diminishing the importance attached to religious Muslims’ knowledge of Islam in society, as well as challenging their beliefs and undermining their social

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status.11 The new regime did not need them and their knowledge. Whilst on the one hand the new Republican elite argued that the cognitive pattern necessary to form and understand life was science, and not religion, these religious Muslims, on the other hand, argued in favour of religion and rejected western science. They denounced western science as such as anti-religious because it was based on materialism and positivism.12 This is the main reason why the old religious elite was highly sceptical of the Republican educational system, participation in which was the key to making a career inside the new nation.

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New scientific concepts – new challenges to religion and Said Nursi’s answer

As concepts of materialism and positivism have traditionally played an important role in the discussion concerning the relationship between science and religion in Turkey, they will be briefly explained in the next section of the text. Whilst for time and space reasons we are unfortunately unable to engage in a deeper discussion on the history of ideas of materialism and positivism here, the terms are briefly explained below. According to The Routledge Encyclopedia of Philosophy [m]aterialism is a set of related theories which hold that all entities and processes are composed of – or are reducible to – matter, material forces or physical processes. All events and facts are explainable, actually or in principle, in terms of body, material objects or dynamic material changes or movements. In general, the metaphysical theory of materialism entails the denial of the reality of spiritual beings, consciousness and mental or psychic states or processes, as ontologically distinct from, or independent of, material changes or processes.13

Positivism on the other hand is originated from separate movements in nineteenth-century social science and early twentieth-century philosophy. Key positivists ideas were that philosophy should be scientific, that metaphysical speculations are meaningless, that there is a universal and a priori scientific method, that a main function of philosophy is to analyse that method, that this basic scientific method is the same in both the natural and social sciences, that

11 Feroz Ahmad, The Making of Modern Turkey, London 1994, p. 92. 12 Binnaz Toprak, “Islamist Intellectuals: Revolt against Industry and Technology”, in: Metin Heper et al. (eds.), Turkey and the West, pp. 237–257, here p. 254. 13 Georg J. Stack, “Materialism”, in: The Routledge Encyclopedia of Philosophy, Vol. VI, London 1998, pp. 171–173, here p. 171.

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the various sciences should be reducible to physics, and that the theoretical parts of good science must be translatable into statements about observations.14

Together with the theory of Darwinism, which was also a dominant paradigm during Said Nursi’s lifetime, the above-described principles formed the basis of modern science as it was taught during Nursi’s lifetime.15 At this stage, it must be mentioned that Said Nursi was not aware of the highly heterogeneous and differentiated discourse in what he perceived as “the West” – or at least he did not discuss this discourse with his followers. When he talks of the West, he actually means the West and western ideas as they were being presented by the modernizers of Turkey. In reality, the views disseminated by Said Nursi were only one section of a much more complicated debate, but as the aim of this text is to present an overview of Nursi’s specific views on sciences and natural sciences, it will not enter into the discussion about whether his assertions about Western concepts are true or not. However, the above-mentioned imported western ideas and their reception were also the main reason why pious Muslims opposed these sciences. Some radical Westernizers taught these ideas as absolute truths and arguments against religious belief. Hence for pious people, they denied the influence of God on Creation and His role as the master of all actions in the universe. For large numbers of pious Muslims, modern science contradicted religion, and hence both could not be reconciled. The different positions outlined above provided the historical background against which a fourth approach towards the relationship between science and religion, represented by the person of Said Nursi, was able to be developed. Nursi shared both the positive aspirations of the first two groups and the fears of the third. His position represents an attempt to develop an alternative vision that combined science and religion.

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Said Nursi’s appreciation of science

Said Nursi – although himself a pious Muslim – was neither an adherent of the third position; nor did he support either of the first two positions. He can be described as the protagonist of a position that, in the first instance, unified science with Islam. Although his ideas can be found – as will be shown – within a 14 Herold Kincaid, “Positivism”, in: The Routledge Encyclopedia of Philosophy, Vol. VII, London 1998, pp. 559–561, here p. 559. 15 Regarding Nursi’s rejection of Darwinism see: Martin Riexinger, “Islamic Opposition to the Darwinian Theory of Evolution”, in: Olav Hammer/James R. Lewis (eds.), Handbook of Religion and the Authority of Science, Leiden 2011, pp. 484–509, here pp. 488ff.

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theological tradition in history and of his time he was the one who transformed a peculiar way to read the Qurʾa¯n into a religious practice among his followers. His understanding of sciences was ambiguous. When reading his works, it becomes clear that while Said Nursi understood the importance of natural sciences for the future of the country, he was living in and for all Muslims, he also considered a purely scientific/secular world view to be dangerous for the Islamic faith. The ‘Old Said’ (up to 1923) 16 was more enthusiastic towards the future role of science; the ‘New Said’ was more critical towards it, but remained convinced that it was important that his supporters promoted the studies of natural sciences. He writes: At the end of time, mankind will spill into science and learning [ulûm ve fünûn]. It will obtain all its strength from science [ilim]. Power and rule will pass to the hand of science [Hüküm ve kuvvet ise, ilmin eline geçecektir].17

He regarded science as the only way in which Muslims could stand up against the imperial powers exploiting the Ottoman Empire materially and spiritually. He argues: For the Europeans are crushing us under their tyranny with their weapons of science and industry. We shall therefore wage jihad with the weapons of science and industry on ignorance, poverty, and conflicting ideas, the worst enemies of upholding the Words of God.18

Here we see similarities between the importance of science as understood by Said Nursi and the importance attributed to science by modernizers. Nursi was greatly influenced by both the potential benefits that science and technology might have for the progress of a backward society and for Islam. This can be seen in the style of language used in the Risale i-Nur Külliyatı (The Epistles of Light Collection). He very frequently made comparisons to telegraphs, gramophones, machines etc.,19 as metaphors showing firstly the importance of technological development for him, and secondly the importance of this vocabulary for the general discourse of this time.

16 For the distinctions between the “Old Said” and the “New Said” see: S¸ükran Vahide, The Author of the Risale-i Nur Bediuzzaman Said Nursi, Istanbul 1992, pp. 169–187. 17 Bediuzzaman Said Nursi, The Words, translated by S¸ükran Vahide, Istanbul 1998, p. 272 (Turkish text: http://www.risaleara.com/oku.asp?id=229 [last access: 4 September 2012]). If not mentioned separately all English quotes from the Risale-i Nur are taken from the translation of S¸ükran Vahide and have been aligned with the Turkish Version of the text as to be found on the webpage: http://www.risaleara.com/ (last access: 4 September 2012). 18 Volkan, No. 70, 11. 03. 1909, quoted in: Bediuzzaman Said Nursi, The Damascus Sermon, translated by S¸ükran Vahide, Istanbul 1996. 19 The Words, pp. 265, 267.

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Said Nursi’s observations on the negative characteristics of science

While on the one hand highly enthusiastic about the positive role which science could play in the future of the Muslim world, Said Nursi adopted on the other hand a distinctive and very critical standpoint towards science as understood in the West in this time. In this respect he differed from the first two of the three positions previously outlined in this text. He firmly believed that science and philosophy were never superior to religion and could under no circumstances replace it. In his view, they could at best coexist with and complement religion. For Said Nursi, only religion can give people knowledge that is useful for the afterlife. He writes: Science, philosophy, and art are worth nothing on that road. Their light reaches only as far as the door of the grave.20

With this sentence, he clearly rejects the idea that positivist thinking is superior to religion and that in a world of science there will be no longer a need for religion. Materialism is a spiritual plague which has infected man with a fearsome fever, causing him to be visited by Divine wrath. The more the ability to inculcate and criticize expands, so does that plague spread.21

He warns that the end of time is near when [a] tyrannical current born of Naturalist and Materialist philosophy will gradually become strong and spread at the end of time by means of materialist philosophy, reaching such a degree that it denies God.22

As Turkey was greatly influenced by the French understandings of materialism and positivism, both of which contained strong anti-religious connotations, Nursi’s argument can be seen as an attempt to refute an assumption implicit in this understanding of science – that there is no creation and therefore no Creator. He argues that despite claims that it is superior to religion, modern science is unable to fulfil the basic attribute of God, i. e. that He is the Creator (al-ha¯liq). A ˘ Positivist understanding of science does not reflect science’s impotence, i. e. its inability to create life despite its inherent scope of knowledge. Nursi argues against people holding positivist views: Those on whom you call besides God cannot create [even] a fly, if they all met together for the purpose, if all material causes were to gather together and if they possessed will, they

20 Ibid., p. 44. 21 Nursi, The Damascus Sermon, translated by S¸ükran Vahide, Istanbul 1996, p. 108. 22 Nursi, The Letters, translated by S¸ükran Vahide, Istanbul 1997, p. 79.

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could not gather together the being of a single fly and its systems and organs with their particular balance.23

In this paragraph, Nursi elaborates and employs the example of a fly which is to be found in the Qurʾa¯n. While the fly is considered to be a simple form of life, no human being has the ability to create it. For Nursi the consequence is clear, the fly has a Creator, who is God. The example of the fly and the wisdom of its creation can also be found in other parts of the Risale, and it is always a strong argument against those who claim that there is no creator, or that man can fulfil this attribute.24 Nursi sees this attitude as a kind of idolatry (sˇirk) 25 because it ignores the Creator of things and ascribes His attributes (Creator, Sustainer) to causes other than Him. When writing under the title “Nature is Divine Art” (Tabiat bir san’at ˙Ilâhiyedir) he describes this as a misunderstanding within positivistic sciences: Nature is not the printer, it is the press; It is not the inscriber, but the inscription; It is not the doer, it is the recipient; It is not the source, but the pattern. It is not the orderer, it is the order; It is not the power, but the law; It is a code of laws proceeding from the attribute of will; It has no external reality.26

These sentences show that Nursi with an Ashʿarite line of arguments27 regarded scientists’ positivistic interpretations of their observations, and not their observations per se. He believed that scientists observe the same phenomena as religious observers, but they make different attributions. Nursi, who witnessed wars against the Ottoman Empire, and was a contemporary witness of the First and the Second World War, considers the positivist interpretations of science and the implicit rejection of God as responsible for these 23 Nursi, The Flashes, translated by S¸ükran Vahide, Istanbul 1995, p. 308; The text in italics is a part of su¯ra 22/73, 74. 24 Just in the The Words the example of a fly is cited many times as evidence for the sort of power which only God possesses; see The Words, pp. 183, 187, 273, 274, 290, 303, 400, 438, 441, 549, 591, 626, 627, 712, 715, 733. For the line of argumentation see Riexinger, “Islamic opposition”, pp. 490f. 25 The Words, pp. 730, 169. 26 Ibid., p. 733. In Turkish: “Deg˘il tâbi’ tabiat, belki matba’. Deg˘il nakkâs¸, o belki bir nakıs¸tır. Deg˘il fâil, o kabildir. Deg˘il masdar, o mistardır. Deg˘il nâzım, o nizamdır. Deg˘il kudret, o kanundur. I˙radî bir s¸eriattir, deg˘il haric-i hakikattar.” http://www.risaleara.com/oku.asp? id=631 (last access: 4 September 2012). 27 Tilman Nagel, The History of Islamic Theology from Muhammad to the Present, translated from the German by Thomas Thornton, Princeton/N.J. 2000, p. 159; Frank Griffel, Al-Ghaza¯lı¯’s Philosophical Theology, Oxford 2009, p. 124ff.

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wars and for destruction, and passes over the role that religion has played as a tool to promote war in the past.28 For Said Nursi, this positivist understanding of science as an end in itself (science for the sake of science) ignored the destructive powers their scientific findings can produce. Nursi argues that western philosophy and science saw in force/power (turk. kuvvet) the source that should regulate life, whereas Islam saw this source in the Divine truth (turk. hakikat).29 Here he refers to the concept of the “survival of the fittest”, and omits well present criticism from different ideological positions, both religious and non-religious, which were directed against these social-Darwinist theories. He strongly opposes the social Darwinist interpretation of life as a struggle for life.30 It has to be stressed that the concept of social Darwism carried a specific meaning within the Turkish context, as did materialism and positivism.31 Nursi’s perception and description of science have had considerable impact on the understanding of science in the modernist Islamic discourse.32 His views have also strongly influenced the writings of his disciple Fethullah Gülen33 and are spread worldwide through his educational network. Nursi believed that science and philosophy are dangerous when they are not carried out in strict accordance with Islamic (and also, for that matter, Christian) principles. He is highly critical of science and scientific ideas which are merely imported from the West without necessarily being in harmony with Islamic principles, as he regards these ideas as a danger for the Islamic faith. According to him, science can only be studied and used without harm and for the benefit of mankind in combination with Islam.34 From Nursi’s perspective, science should be related to a higher aim, i. e. it should be employed for the benefit of humanity in a material and spiritual sense. In addition, he believed that science should take responsibility for the consequences of its results.

28 29 30 31

See The Words, p. 167. Ibid., p. 146. The Letters, p. 162. On the complex interplay between social Darwinism, Positivism and Materialism in the Ottoman Empire see: Atila Dog˘an, Osmanlı aydınları ve sosyal darwinizm, I˙stanbul 2006; Haniog˘lu, Blueprints for a Future Society, pp. 28–116; idem, Atatürk, pp. 48–67. 32 Riexinger, “Islamic Opposition”, p. 502. 33 Ibid., p. 489. 34 Flashes, pp. 143ff.

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Towards a synthesis: Nursi’s approach towards science as a source for religious certainty

As we have already seen, Said Nursi, and especially the New Said, is highly critical of western science whilst being at the same time convinced that it is very important for the future of the Muslims and of humanity in general. A concluding remark made by Said Nursi helps to explain the dual position which he took towards science. Having first criticized the way science is, in his view, practised in Europe, Nursi asserts that Europe consists of two parts, the first of which “follows the sciences which serve justice and right and the industries beneficial for the life of society through the inspiration it has received from true Christianity”.35 Nursi thus acknowledges that a form of science, predominately employed in Europe, exists which is beneficial for humanity and is inspired by the Divine. His criticism is instead aimed at the second, corrupt Europe which, through the darkness of the philosophy of Naturalism, supposing the evils of civilization to be its virtues, has driven mankind to vice and misguidance.36

Nursi leaves us in no doubt about the fatal consequences which this second understanding of science would have for the future of the world and humankind. In his view, this understanding leads to absolute disbelief and misguidance,37 both of which Said Nursi witnessed spreading during his lifetime. However, he does not believe that the Sufi approach of merely concentrating on religion provides a cure to the fading importance of religion in modern society. In his view, the Sufis paid too much attention to the religious path followed by each individual believer, and neglected the needs of society at large. He argues that the tekke, as a place of Sufi training, can help to save the soul of an individual disciple/murı¯d, but is not sufficient to save the soul of others, not to speak of society as a whole. Religion can only hope to survive in modern society if individual belief can be combined with modern education as being promoted in mekteps, where science is taught.38 But how might this be achieved? The answer can be found in Said Nursi’s opinions on the religious impact of science. Nursi believed that the classical forms of Islamic learning were not able to play the role they had traditionally played in guiding people towards the right path and creating pious Muslim individuals. In this context, he developed a view that unites religion with science and uses scientific findings to give certainty to belief, thereby serving religion. Science should stimulate religion and religion should 35 36 37 38

Flashes, p. 158. Ibid., pp. 158ff. The Damascus Sermon, p. 23. Flashes, p. 361.

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stimulate science. In Nursi’s view, the Qurʾa¯n makes it clear that a) man was created by God and b) God created man in order that the latter might gain knowledge of his Creator. Said Nursi took efforts developing a concept aimed at showing how man could serve God outside the sphere of religious practice. In doing this, Nursi refers to Qurʾa¯n 51/56: “I have only created jinns and men, that they may serve Me.”39 Nursi interprets this verse in the following fashion: According to the meaning of this mighty verse, the purpose of the sending of man to this world and the wisdom implicit in it, consists of recognizing the Creator of all beings and believing in Him and worshipping Him. The primordial duty of man and the obligation incumbent upon him are to know God and believe in Him, to affirm His existence and unity in submission and perfect certainty.40

But how can the human being know God, how can he believe in Him and affirm His existence and unity in perfect certainty, how can he perform this quasireligious duty and what role can science play in this process? For Nursi, knowledge of the Almighty Creator can be obtained from two sources: 1) the Qurʾa¯n and 2) the Book of the Universe. With regard to both ”books” reflective thought has to be used.41

7

Two sources for ascertaining certainty in belief

7.1

The Qurʾa¯n

For Nursi, the Qurʾa¯n encourages man to obtain knowledge and certainty about God in three main ways: firstly, by following the examples set by the prophets, secondly by anticipating scientific discoveries and technological advances, es39 Quotations from the Qurʾa¯n that are not included in the English version of the Risale-i Nur are taken from the Qurʾa¯n translation of A. Yusuf Ali, The Interpretation of the Holy Qur’an with full Arabic text, Lahore 1975. 40 Nursi, S¸ualar, Celut Matbaası 1960, p. 84, quoted in Ali Mermer, “The Ways to Knowledge of God in the Risale-i Nur”, in: Nesil Foundation (ed.), The Third International Symposium on Bediuzzaman Said Nursi. The Reconstruction of Islamic Thought in the Twentieth Century and Bediuzzaman Said Nursi, Istanbul 1997, pp. 54–66, here p. 54 (italics: the author). 41 Yamina Bouguenaya Mermer, “The Hermeneutical Dimension of Science. A Critical Analysis Based on the Risale-i Nur”, in: Nesil Foundation (ed.), The Fourth International Symposium on Bediuzzaman Said Nursi. A Contemporary Approach to Understanding the Qur’an: The Example of the Risale-i Nur, Istanbul 2000, p. 438. The author labels this method the “Method followed in the Risale-i Nur” which after the revelation “God is the Creator of all things” (13/ 16) follows the Qurʾa¯n, which invites humankind to reflect upon the creation, to read its signs, e. g. to obtain knowledge of God, and to confirm the truth of Revelation. Mermer underscores her views by citing several examples from the Qurʾa¯n proving her position.

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pecially those which were to later take place in the technological field, and thirdly by encouraging man to attain material progress.42 Nursi gives several Qurʾa¯nic examples for this view. For instance the verses: And a Sign for them is that We bore their race (through the Flood) in a loaded Ark; And We have created for them similar [vessels] on which they ride.43

Said Nursi interprets this verse as a clue from God that humans will eventually be able to build alternative means of transportation, like large ships or railways. His approach of reading the Qurʾa¯n this way can be traced back to the tafsı¯r ʿilmı¯ which was practiced in Egypt at the end of the 19th century.44 This means for Nursi and his followers that God anticipated technical developments such as the railway in the Qurʾa¯n. This has two implications. The first is that by anticipating developments in the future, the Qurʾa¯n shows God’s wisdom and eternal truth. The second is that in this reading of the Qurʾa¯n, God is the creator of this technological progress (“We have created […]”) and therefore technological progress is desired by God. Therefore, science and scientific developments cannot be contrary to Islam, but are integral parts of it and should be studied in order to obtain knowledge about God. “The Niche of light” (Misˇka¯t al-anwa¯r) is read in a similar way. The verse states: Allah is the Light of the heavens and the earth. The parable of His Light is as if there were a Niche, and within it a Lamp: the Lamp enclosed in Glass: the glass as it were a brilliant star. Lit from a blessed Tree, an Olive, neither of the East nor of the West, whose oil is well-nigh luminous, though the fire scarce touched it: Light upon Light! 45

In the reading of Nursi, the verse describes electric light. For Nursi this is a hint at the invention of electricity, an invention which will allow a lamp to be lit in this specific fashion. The verse: “To Solomon (We made) the wind (obedient): its early morning (stride) was a month’s ( journey), and its evening (stride) was a month’s ( journey)”46 is interpreted as indicating that God had anticipated the development of modern aircraft. This is explained by Nursi in the following fashion: Solomon traversed the distance of two months in one day by flying through the air. It is thus suggesting that the road is open for man to cover such a distance in the air. In which case, O man! Since the road is open to you, reach this level! And in meaning Almighty 42 Musa al-Basit, “Said Nursi’s Approach to the Stories of the Qur’an”, in: Nesil Foundation (ed.), A Contemporary Approach to Understanding the Qur’an, pp. 159–181, here p. 159. He writes about the Qurʾa¯n: “Its wonders cannot be nullified; nothing similar to it can be written; it contains knowledge about those who came before us and those who will come after us; it comprises numerous sciences, endless knowledge; in it are light and guidance.” 43 Qurʾa¯n 36/41–42. 44 J. J. G. Jansen, The interpretation of the Koran in modern Egypt, Leiden 1974, pp. 35–54. 45 Qurʾa¯n 24/35. 46 Qurʾa¯n 34/12.

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God is saying through the tongue of this verse: ‘O man! I mounted one of my servants on the air because he gave up the desires of his soul. If you too give up laziness, which comes from the soul, and benefit thoroughly from certain of My laws in the cosmos, you too may mount it […].’47

Nursi cites these and other passages from the Qurʾa¯n in order to bolster his view that technology is a gift of God to humanity, and as such cannot be regarded as incompatible with Islam. It neither belongs to the West nor is it the antithesis of Islam – it is instead an integral part of the religion. The list of this muʿgˇiza¯t alqurʾa¯n could be prolonged and has remained part of the Islamic discourse right up until the present day in the tafsı¯rʿilmı¯. For this reason, Nursi argues that the Qurʾa¯n is becoming ever younger, whereas the world is growing older, i. e. that with time and in the wake of scientific and technological developments, the Qurʾa¯n is increasingly showing its truth in an ever clearer light.48 However, humans can only hope to understand this wisdom by studying the aforementioned technological developments and by actively taking part in material progress. In addition to anticipating events in the technological field, the Qurʾa¯n encourages – again according to Nursi – humans to engage in scientific studies by following the examples of the prophets, who he depicted as being moral and scientific guides. Nursi writes: Just as the All-Wise Qur’an sends the Prophets to man’s communities as leaders and vanguards in respect of spiritual and moral progress, so too it gives each of them some wonders and makes them the masters and foremen in regard to mankind’s material progress. […] [I]n discussing their miracles it is hinting encouragement to attain to things similar to them and to imitate them.49

In the paragraph the quotation is taken from, Nursi shows furthermore how Moses encouraged man to find water, Jesus to cure people, Salomon to work with iron (which is the basis for industrialization), Noah to build ships, Joseph to build a clock.50 About Jesus, who is mentioned in 3/49 of the Qurʾa¯n,51 he writes: Just as the Qur’an explicitly urges man to follow Jesus’ (Peace be upon him) high morals, so it allusively encourages him towards the elevated art and dominical medicine of which Jesus was the master. The verse indicates the following: ‘Remedies may be found for even the most chronic ills. In which case, O man!, O calamity-afflicted sons of Adam! Don’t despair! Whatever the ill, its cure is possible. Search for it and you will find it. It is 47 48 49 50 51

The Words, p. 263. Ibid., p. 768. Ibid., p. 261. Ibid., pp. 261ff. This verse lets Jesus speak in the following way: “I have come to you with a Sign from your Lord, in that I make for you out of a clay, as it were, the figure of a bird, and breathe into it, and it becomes a bird by Allah’s leave; and I heal those born blind, and the lepers, and I quicken the dead, by Allah’s leave […]”, Qurʾa¯n 3/49.

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even possible to give a temporary tinge of life to death […].’ Thus, this verse traces the limit which is far ahead of man’s present progress in medicine. It hints at it, and urges him towards it.52

In this paragraph, Nursi gives numerous other examples justifying his position. They all show that, for Nursi, all branches of natural science are mentioned in the Qurʾa¯n. In addition, Nursi defends the view that, as the Prophets engaged themselves with science, man should follow the Prophets’ example and also engage themselves with science.

7.2

The Book of the Universe

For Said Nursi, there exists alongside the Qurʾa¯n a second way of achieving religious knowledge by making use of reflective thought and science.53 This consists in reading what Nursi labelled the Book of the Universe.54 Reading the Book of the Universe means for Nursi reflecting upon everything that can be observed either solely with the eyes or by scientific means and by interpreting these observations as a type of ‘book’ which has been written by the Creator. As for Said Nursi, man has the obligation to obtain knowledge about his Creator, man should study the Creation in order to get to know the Creator better. As we will see Nursi stands in a specific line of Islamic thought with his idea to read creation as an inscription of the Creator. Nursi sees the concept of the Book of the Universe as being rooted in the Qurʾa¯n itself. Nursi makes reference to Prophet Muhammad’s numerous appeals ˙ to those who did not believe his message to observe the perfection of the natural world and to ask themselves how such perfectness could have been achieved without a single Creator. Nursi often refers to passages of the Qurʾa¯n which discuss the visibility of God’s attributes in nature and the attitude of the deniers, who in his view ignore these “clear signs”.55 For Nursi, the world is a book full of inscriptions written by the Creator.56 He writes: 52 The Words, p. 264. 53 The metaphor of creation as a form of revelation is traced back by Tilman Nagel to the 14th ¯ sˇiq. Tilman Nagel, Timur der Eroberer, München 1994, pp. 358– century Turkish poet ʿAlı¯ ʿA 371. The Maʿrifetna¯me of Erzurumlu I˙brahim Hakkı might be a possible and likely inspiration for him in this regard as it is shown by the contribution of S¸entürk in this volume. 54 Sami ʿAfifi Hijazi, “Bediuzzaman Said Nursi’s Ideas on the Qur’an and the Book of the Universe”, in: Nesil Foundation (ed.), A Contemporary Approach to Understanding the Qur’an, pp. 439–452, here p. 439. He calls the Qurʾa¯n the “recited book” and the Book of the Universe the “Observed Book”. 55 For example in The Letters (p. 396) Nursi quotes the Qurʾa¯n 50/6–9: “Do they not look at the sky above them? – How we have made it and adored it, and there are no flaws in it. And the earth – we have spread it out, and set thereon mountains standing firm, and produced therein

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One of Power and Majesty, Who, alternates night and day like two threads, one white and one black, writes his signs of the page of the universe; One to Whose command the sun, moon, and stars are subjugated.57

Whilst other Islamic thinkers like Fahruddı¯n ar-Ra¯zı¯ had similar thoughts,58 this ˘ was the first successful attempt to make this “reading” of the book of the universe a fundament of a concept of Islamic belief and practice. The idea that God and his attributes may be understood by observing what He has created resembles at first sight the theory of wahdatu l-wugˇu¯d (the unity of existence), the most well˙ known proponent of which was Ibn ʿArabı¯. However, Nursi stresses that he is in no way an adherent of this school. Referring to the verse 42/11 (“[…] there is nothing whatever like onto him”) he distances himself from Ibn ʿArabı¯ and positions himself within to the concept of wahdatu ˇs-sˇuhu¯d of Ahmad Sirhindı¯.59 ˙ ˙ Nursi does not believe that God manifests Himself within nature, instead suggesting that we observe the manifestation of the Divine Names of God.60 We thus cannot directly observe Him, but we can gain knowledge of Him by studying this work.61 In this understanding it is clear how the idea of “intelligent design” fits into his pattern. Nursi for sure was not the first person to develop the theory that creation should be read and interpreted as an inscription of the Creator (i. e. reading what he called the Book of the Universe). However, Nursi’s theory has a special importance as he elaborated a full concept and spread it under the conditions of the Turkish Republic. He personally attributed this theory to an earlier writer, Hoca Tahsin (d. 1881). S¸ükran Vahide thus describes Nursi not as being the innovator, but the renovator of this concept.62 What seems to be clear from a historical perspective is that in times in which it was considered normal to believe in God and His presence did not have to be proven, the need for such a theory was limited. If it was indeed the case that Nursi took the primary thoughts of Hoca Tahsin and further elaborated on his ideas, his decision to do so can hence be

56 57 58 59 60 61 62

every kind of beautiful growth (in pairs) – to be observed and commemorated my every devotee turning (to Allah). And we send down from the sky Rand charged with blessing, and we produce therewith gardens and Grain for harvest”. Yamina Bouguenaya Mermer, “Cause and Effect of the Risale-i Nur”, in: Nesil Foundation (ed.), The Reconstruction of Islamic thought in the twentieth century and Bediuzzaman Said Nursi, pp. 40–53, here p. 41; The Words, p. 451. Ibid., p. 136. Hijazi, “Bediuzzaman Said Nursi’s Ideas on the Qur’an”, p. 449. W.C. Chittik, “Wahdat al-Shuhu¯d”, in: E.I., Vol. XI. Leiden 22002, pp. 37–39. ˙ Social Change in Modern Turkey, pp. 208f.; in The Flashes (p. 65), and Mardin, Religion and The Letters (p. 104) Nursi describes why he rejects the theory of Ibn ʿArabı¯. The Letters, p. 107. S¸ükran Vahide, “The Book of the Universe: Its Place and Development in Bediuzzaman’s Thought”, in: Nesil Foundation (ed.), A Contemporary Approach to Understanding the Qur’an, pp. 466–483, here p. 483.

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regarded in many ways as a direct response to the positivistic criticism of religion with which both men were confronted. Nursi attempted to develop an answer, which was directed to the positivist discourse. However, in order to be able to read both the Qurʾa¯n and the Book of the Universe, Nursi believed that man required scientific knowledge. Referring to Said Nursi al-Hamid describes the relationship between the Qurʾa¯n, the Book of the Universe and science in the following way: “For this method reads together with the Qur’an, the cosmic verses in the great mosque of the universe. […] However, there is need for the fruits of science in order to read the Book of the Universe comprehensively, closely, and deeply. For it is science that discovers the secrets of existence, draws the map of the world, offers to man’s faculties the world’s mysterious order with its millions of different aspects, and in its own particular tongue searches out the Creator.”63

Seen from this perspective, secular knowledge acquires a religious meaning, whereas without secular knowledge the Book of the Universe cannot be understood. An analysis of an event, which is said to have taken place in Kastamonu, serves to illustrate his position. It is a canonical story found in the writings of Nursi himself, a brief summary of which helps to illustrate the extent to which the theory developed by Nursi influenced the behavior of Muslims, especially as regards their views on Turkey’s secular education system. The story is told in the following fashion: During Said Nursi’s banishment in Kastamonu, a group of high school students came to him, and asked him to tell them about their Creator, because they complained that their teacher did not teach them about God in the secular state school which they attended. Nursi replied paradigmatically that each of the sciences they were studying continuously spoke about God. God was implicitly present in science, even when the teacher was not making direct reference to Him. Nursi advised the students not to listen to the teacher, but to ‘listen’ to science itself.64 When considered from this point of view, it can be seen that students learn of God when studying sciences, even when the teacher does not believe in God. However, how can science provide students with this information? Nursi argues that the object of scientific research is God himself, who is the final cause of all things that can be seen in the world. For example, a well-equipped pharmacy with life-giving potions and cures in every jar weighed out in precise and wondrous measures doubtless shows an extremely skilful, practiced, and wise pharmacist. In the same way, to the extent that it is bigger and more perfect and better equipped than the pharmacy in the market-place, the pharmacy of the globe of the earth with its living potions and medicaments in the jars which are the four 63 Muhsin Abd al-Hamid, “The Theory of Knowledge in the Qur’an”, in: Nesil Foundation (ed.), A Contemporary Approach to Understanding the Qur’an, pp. 403–411, here p. 405. 64 The Words, p. 169.

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hundred thousand species of plants and animals shows and makes known to eyes that are blind even by means of the measure or scale of the science of medicine that you study – the All-Wise One of Glory, Who is the Pharmacist of the mighty pharmacy of the earth.65

Nursi continues to elaborate on this view by citing an array of other examples from the above-mentioned passage. The content of these examples is similar to the one of the pharmacy. For Said Nursi, it is clear that only a Creator is capable of establishing the perfect order in the world which he observes all around himself.66 Given the fact that God is the Creator of everything that can be seen in this world, scientific knowledge about the world helps man to solidify and deepen his religious beliefs. Said Nursi is in this way convinced that even unbelievers can become believers by reading what he regards as being these “clear signs” provided by God. Nursi stresses that man’s ability to reflect on the world and hence gain knowledge of God is something which distinguishes humans from animals. He further adds that, as man is capable of observing the manifestation of God’s Divine Names and thus become certain of God’s eternal presence, he is even superior to angels.67 Nursi regards acquiring knowledge about God by critically reflecting on all things present in the world as being a religious duty.68 Man has to study the world to be able to carry out this duty, as God’s Divine Names are implicit in nature: “And the same way that all the sciences are based on and come to an end in a Name, the realities of all arts and science, and all human attainments are based on the Divine Names.”69 Therefore, science becomes a means of gaining certainty to beliefs and cannot stand outside the religious system. It is a vital part of it. By using Said Nursi’s method to observe the Book of the Universe, man’s physical knowledge becomes transformed into metaphysical knowledge, and men is thus able to fulfil his obligation of getting to know his Creator.70 For Nursi, man can only gain knowledge of God on a micro-level; and can thus never see and understand Him in a direct way. However, the observation of God’s manifestations on the micro level, understood as reading the manifestation of one of his Divine Names in the Book of the Universe, enables people to obtain 65 The Words, p. 169; Riexinger, “Islamic Opposition”, p. 489. 66 Ziyad Khalil Muhammad al-Daghamin, “The Aims of the Qur’an in the View of Said Nursi. An Analytical and Comparative Study”, in: Nesil Foundation (ed.), A Contemporary Approach to Understanding the Qur’an, pp. 353–379. On page 368 he refers to 22/11: “If there were, in the heavens and the earth, other gods besides God, there would have been confusion in both.” 67 Ümit S¸ims¸ek, “The Style of Reflective Thought in the Risale-i Nur”, in: Nesil Foundation (ed.), The Reconstruction of Islamic thought in the twentieth century and Bediuzzaman Said Nursi, pp. 27–39, p. 29. 68 The Words, p. 338. 69 Ibid., p. 655. 70 Vahide, “The Book of the Universe”, p. 476.

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knowledge of God himself. Considered from this point of view, it can be seen that scientific methods can be employed in order to prove God’s attributes. A general theme of the Risale is that the order of things that can be observed is something which refers to the attribute of God as being the Only: al-Ahad. For Nursi, the ˙ order that can be observed in nature is evidence of the singularity of the Divinity, as such an order would be impossible with numerous commanders.71 In everything, there is a sign that God is one.72 Yes, all flowers and fruits, and plants and trees, and animals and stones, and even particles and clods, in all valleys and on all mountains, and deserts and wildernesses, are seals between the inscriptions and the works. To those who look with care, they show that whoever made the work, is He who wrote the inscription, which comprises the place. He is also the Inscriber of the face of the earth and beneath the seas. He inscribed too the sun and the moon on the face of the heavens, which contains many such missives. May the glory of their Inscriber be exalted, God is Most Great! The world and all in it recite together ‘There is no God but He!’.73

8

Conclusion

This brief analysis of Said Nursi’s writings on the role of science and natural sciences and their connection to religious knowledge reveals that Nursi clearly understood the importance of natural science and technology. In his position, he is a child of his time. He shared many views with the modernizers of Turkey. In his categorical opposition to materialism and positivism, he was very much influenced by the materialist discourse of his time. This is demonstrated by the fact that, while he clearly eschewed materialism, he engaged himself with (and described his opposition to) the materialistic discourse of this period in his writings. Where positivism is not used as an argument against religion, it is more difficult to follow his line of thought. This may be one reason why these ideas have attracted relatively little attention outside of Turkey, and why even the followers of Fethullah Gülen do not emphasize this aspect of Nursi’s teachings in public beyond their own core group. Nursi saw an acute danger in following a purely positivist understanding of science. He believed that if religion was unable to include science, it ran the risk of not surviving in the contemporary ‘age of science’. This is why the creationist discourse and arguments from design of have been so important for Nursi’s discourse and why the debate on “intelligent design” from North America is 71 The Words, p. 192. 72 Vahide, “The Book of the Universe”, p. 470. 73 The Flashes, p. 343 (This part is written in Arabic in the Risale-i Nur: see: http://www.risaleara. com/oku.asp?id=1513 [last access: 4 September 2012]).

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taken up by the movement in Turkey. A fierce rejection of positivism and materialism plays a central role in his concept of Islam. It is also why the Nurcus have actively promoted the theory of creationism and have continued to spread news about the wonders of the Qurʾa¯n and how scientific findings support Qurʾa¯nic verses right up until the present day in their publications. The question about the role which critical thinking plays in the Nursian discourse remains an open one. This form of thinking questions religious beliefs and authorities, and consequently does not provide one single answer. Instead, it generates doubts and actively challenges established thoughts and ways of thinking. It is obvious that Nursi’s followers are much less engaged in contemporary debates in social sciences and in intellectual debates than they are in issues connected to natural science. Said Nursi’s critical comments on philosophical issues, a subject which he regarded as a source of unbelief, fostered this tendency. Nursi’s followers believe that he integrated the study of natural science into religion, and clearly rejected the view that Islam is the antithesis of science or that science is the antithesis of Islam. Nursi believed that people should engage in science a) in order to become steadfast in their beliefs, b) so as to turn unbelievers to believers by proving God’s existence and c) in order to improve the material situation of mankind. While the natural sciences were seen as beneficial for the religious belief, other branches of science were unable to perform this function and were consequently less prestigious for Nursi. His position thus enabled religious Muslims to take part in modern education without fearing that this might damage their religious beliefs, under the proviso that they studied the “right subjects” and adopted the right attitudes towards life. In addition, while his understanding of science also initially contributed to emancipating believers from established religious authorities, the movement produced with time its own authorities, the ag˘abeys, who largely institutionalized Nursi’s critical and individualist way of thinking dogmatizing his ideas that was directed against the dogmatism of his time. However, Nursi himself encourages Muslims to question assumptions promoted by authorities, and to look for proof in everything they see: We Muslims, who are students of the Qur’an, follow proof; we approach the truths of belief through reason, thought, and our hearts. We do not abandon proof in favor of blind obedience and imitation of the clergy like some adherents of other religions. Therefore, in the future, when reason, science and technology prevail, that will surely be the time that the Qur’an will gain ascendancy, which relies on rational proofs and invites the reason to confirm its pronouncements.74

74 The Damascus Sermon, p. 32.

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This potential for individual and critical thinking must be renewed and transferred to other fields of knowledge as well. Nursi’s followers have to decide for themselves which role social sciences and philosophy should play in the world. A critical appraisal of this issue will enable his adherents to consider the influence which materialism has had on their conception of religion. If some of Said Nursi’s followers reread and discuss Nursi’s own attitudes to established authorities, a number of the developments within the movement may themselves become reevaluated and new pathways for the future development of the movement may be opened.

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Ahmed Akgündüz

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Bediuzzaman was a great innovator, mufassir (interpreter of the Qurʾa¯n and expert about Islamic pillars of faith; kala¯m, usu¯l ad-dı¯n). Some facts about Be˙ diuzzaman and his works should be presented concisely.

1.

Bediuzzaman Said Nursi: The man of dialogue and peace

Bediuzzaman Said Nursi was born in 1876 in eastern Turkey and died in 1960 in Urfa in Turkey. You may refer to his biography for details of his long and exemplary life, which spanned the last decades of the Ottoman Empire, its collapse after the First World War and the setting up of the Republic, then the 25 years of Republican Peoples’ Party rule. Bediuzzaman displayed an extraordinary intelligence and ability to learn from an early age, completing the normal course of madrasa (religious school) education at the early age of 14, when he obtained his diploma. Another characteristic Bediuzzaman displayed from an early age was an instinctive dissatisfaction with the existing education system, which when older he formulated into comprehensive proposals for its reform. The heart of these proposals was the bringing together and joint teaching of the traditional religious sciences and the modern sciences, together with the founding of a university in the Eastern Provinces of the Empire, the Medresetü’z-Zehra, where this and his other proposals would be put into practice. In any study of the development of Christian-Muslim dialogue in the 20th century, special attention has been given to the writings and preaching of Bediuzzaman Said Nursi. As one of the first religious thinkers in the course of this century to propose and promote dialogue between Muslims and Christians, Said Nursi’s advocacy of this dialogue dates back to 1911, a full half-century before the Catholic Church’s Second Vatican Council urged Christians and Muslims to resolve their differences, to move beyond the conflicts of the past and to build relations of respect and cooperation.

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Contrary to the practice of religious scholars at that time, Bediuzzaman himself studied and mastered almost all the physical and mathematical sciences, and later studied philosophy, for he believed that it was only in this way that Islamic theology (kala¯m) could be renewed and successfully answer the attacks to which the Qurʾa¯n and Islam were then subject. The years up to the end of the First World War were the final decades of the Ottoman Empire and were, in the words of Bediuzzaman, the period of the ‘Old Said’. In addition to his endeavours in the field of learning, he served the cause of the Empire and Islam through active involvement in social life and the public domain. In the war, he commanded the militia forces on the Caucasian front against the invading Russians, for which he later awarded a war medal. To maintain the morale of his men he himself disdained to enter the trenches in spite of the constant shelling, and it was while withstanding the overwhelming assaults of the enemy that he wrote his celebrated Qurʾa¯nic commentary, Signs of Miraculousness, dictating to a scribe while on horseback. Bediuzzaman was taken prisoner in March 1916 and held in Russia for two years before escaping in early 1918, and returning to Istanbul via Warsaw, Berlin, and Vienna. The defeat of the Ottomans saw the end of the Empire and its dismemberment, and the occupation of Istanbul and parts of Turkey by foreign forces. These bitter years saw also the transformation of the ‘Old Said’ into the ‘New Said’, the second main period of Bediuzzaman’s life. Despite the acclaim he received and services he performed as a member of the Dâru’l-Hikmeti’l-I˙slâmiye, a learned body attached to the Sˇayhu l-Isla¯ms’s Office, and combating the British, Be˘ diuzzaman underwent a profound mental and spiritual change in the process of which he turned his back on the world. Realizing the inadequacy of the ‘human’ science and philosophy he had studied as a means of reaching the truth, he took the revealed Qurʾa¯n as his ‘sole guide’. In recognition of his services to the struggle for independence, Bediuzzaman was invited to Ankara by Mustafa Kemal, but on arrival there, found that at the very time of the victory of the Turks and Islam, atheistic ideas were being propagated among the deputies and officials, and many were lax in performing their religious duties. He published various works which successfully countered this.

2.

His works: The Risale-i Nur collection

As the ‘New Said’, Bediuzzaman had immersed himself in the Qurʾa¯n, searching for a way to relate its truths to modern man. He has dedicated his life completely to write treatises explaining and proving these truths, for now the Qurʾa¯n itself. The first of these was on the resurrection of the dead, which in a unique style, proves bodily resurrection rationally, where even the greatest scholars previously

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had confessed their impotence. With these writings, Bediuzzaman opened up a new, direct way to reality (haqı¯qah) and knowledge of God which he described as ˙ the highway of the Qurʾa¯n and way of the companions of the Prophet through the ‘legacy of Prophethood’. Bediuzzaman solved many mysteries of religion, such as bodily resurrection and divine determining and man’s will, and the riddle of the constant activity in the universe and the motion of particles, before which man relying on his own intellect and philosophy had been impotent. The way the Risale-i Nur was written and disseminated was unique, like the work itself. Bediuzzaman would dictate at speed to a scribe, who would write down the piece in question with equal speed; the actual writing was very quick. We should mention here another feature of Bediuzzaman in the success of his efforts that may be summarized with two phrases: ‘maʿnawı¯ gˇiha¯d’, i. e. ‘gˇiha¯d of the word’ or ‘nonphysical gˇiha¯d’, and ‘positive action’. Bediuzzaman insisted that his students avoided any use of force and disruptive action. Through ‘positive action’, and the maintenance of public order and security, the damage caused by the radical forces could be ‘repaired’ by the healing truths of the Qurʾa¯n. And this is the way they have adhered to.

3.

Radicalism, politics and Bediuzzaman

There is not a historian or a statesman that could mention that one deed by Bediuzzaman and his students has been against public order and public security. This is a fact. In recent years, a great deal of attention in the media has been given to the threat of “Islamic Fundamentalism”. Unfortunately, due to a twisted mixture of biased reporting in the Western media and the actions of some ignorant Muslims, the word “Islam” has become almost synonymous with “terrorism”. However, when one analyses the situation, the question that should come to mind is: Do the teachings of Islam encourage terrorism? The answer: Certainly not! Islam totally forbids the terrorist acts that are carried out by some misguided people. It should be remembered that all religions have cults and misguided followers, so it is their teachings that should be looked at, not the actions of a few individuals. Islamic approach can be summarized by a Hadı¯t: “If ˙ ¯ anyone harms (others), God will harm him, and if anyone shows hostility to others, God will show hostility to him.”1 We have learned from Bediuzzaman that violence is not a wise strategy for facing the world’s polarization due to the great upshot of modernity. Islam has many thoughtful frameworks for actualizing peace in the world. But exploration over the meaning of peace in Islam is con1 Abu¯ Da¯wu¯d, Sunan, Hadı¯t 1625, Arabic and Turkish quotes have been translated into English ˙ ¯ by A. A.

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taminated by several violent attitudes by reasons which we have summarized. The task of Muslims is to find a solution to this violence, since violence is not an Islamic teaching. Solutions suggested by Bediuzzaman in facing religious radicalism are: Firstly, demonstrate Islam as the universal teaching giving direction toward the creation of peace on the earth.2 Secondly, there must be positive action to reject violence and terrorism. This action involves all groups within religions which do not desire violence. Terrorism and violence are a form of despising the name of religion and humanity.3 Thirdly, unfortunately, intolerance is on the increase in the world today, causing death, genocide, violence, religious persecution as well as confrontations on different levels. Sometimes it is racial and ethnic, sometimes it is religious and ideological, other times it is political and social. In every situation it is evil and painful.4 Bediuzzaman considers the whole humanity as one family. All have common ground in being the worshippers of Alla¯h and the sons of Adam. That is why the Prophet has put it clear in front of the Muslim congregation at the Farewell Pilgrimage saying: “O people, Your Lord is One and your father is one. All of you are traced back to Adam, and Adam was created from dust. No privileges of a certain person over the other save by righteous deeds.”5 For just as one of man’s hands cannot compete with the other, neither can one of his eyes criticize the other, nor his tongue object to his ear, nor his heart see his spirit’s faults. Each of his members completes the deficiencies of the others, veils their faults, assists their needs, and helps them out in their duties. Otherwise man’s life would be extinguished, his spirit flee, and his body be dispersed. Nursi says: “O members of World Family! You and I are members of a collective personality such as that, worthy of the title of ‘perfect man’. We are like the components of a factory’s machinery. We should work to bring people together; otherwise the world factory demolish entirely and mankind body be dispersed.”6 About politics and Bediuzzaman, we could say that Bediuzzaman hasn’t involved in politics at all. Although 40 years Turkish governments have accused him involving into politics he has refused those claims and nowadays everything is clear about his thoughts through archival documents. Nursi told: 2 Bediuzzaman Said Nursi, Münazarat, Risale-i Nur Kulliyati, Istanbul 2002, p. 1944. 3 Nursi, Emirdag˘ Lahikası, Risale-i Nur Kulliyati, Istanbul 2002, pp. 1912f. 4 Nursi, Letters / Seeds of Reality, translated from the Turkish by S¸ükran Vahide, Istanbul 2004, p. 552. 5 Muhammad Hamı¯dulla¯h, al-Wata¯ʾiq as-siya¯siyya li l-ʿahd an-nabawı¯ wa-l-hila¯fa, Beirut 1985, ¯ ˙ ˙ 1, pp. 360ff. ˘ Document No. 6 Nursi, Flashes / The Treatise of Sincerity, translated from the Turkish by S¸ükran Vahide, Istanbul 2004, p. 214.

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There are three matters: one is life, another is the sharı¯ʿa, and the other is belief. In the view of reality, the most important and the greatest is the question of belief. But in the view of most people at this time, compelled by the world situation, the most important appear to be life and the sˇarı¯ʿa. And so, even if he was to come now, since to change these three matters altogether throughout the world is not keeping with the Divine laws in force in human kind, he would surely take the greatest matter as the basis, and not the others, so that the service of belief would not lose its purity in the general view and so that he would not let that service be the tool for other aims in the minds of ordinary people, who are easily deceived.7

Bediuzzaman considered serving Islam by means of politics to be in tenth place after serving belief, and gave both theoretical and practical justifications for his point of view: And the aspect of Divine Determining’s justice is this: by ascribing to its wretched interpreter a large part of the extraordinary service to belief which is manifested through the truth of the Risale-i Nur and the collective personality of its students; and by the worldly, the politicians, and the ordinary people giving priority to Islamic politics and service of the social life, which in the view of reality is only in tenth place after belief, over working for the truths of belief, which is the most important question, duty, and service in the universe; there is a strong possibility that in so far as the excessively good opinions of his companions for that interpreter give the politicians the idea of revolutionary Islamic politics, it will cause them to form a front against the Risale-i Nur from the point of view of social life and form an obstacle to its conquests. Both the danger in this, and the damage, would be great.8

The reason Bediuzzaman avoided politics is that the principles on which political life was based did not conform to his moral beliefs. “Yes, politics at this time corrupts hearts and causes torment to nervous spirits. Those who want sound hearts and peaceful spirits should give up politics.”9

4.

Risale-i Nur is not a political organization or association – Bediuzzaman is not the head of any religious or political organization

Unfortunately, Turkish governments in the 1930s, 1940s and 1950s have accused Bediuzzaman that he is head of a hidden religious organization; but investigations which lasted 30 years could not find any proof about these claims. Bediuzzaman has criticized some movements in the Islamic world (like the Wahhabi movement), compared his religious services with those of al-ihwa¯n al˘ 7 Nursi, Kastamonu Lahikası, Istanbul 1993, p. 61. 8 Nursi, Kastamonu Lahikası, p. 139. 9 Nursi, Tarihçe-i Hayat, Istanbul 2004, p. 401.

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muslimu¯n (Muslim Brotherhood Organization in Arab World) whose political methodology and form of organization he refused. When a judge has insisted in court and asked him if he was a head of a hidden organization, Nursi replied: I haven’t established a political or religious organization at all. My biography shows I haven’t involved in politics at all. But If you insist on me being a member of an organization, I could say (intending Muslim society): Yes, we are a society (cemiyet), and we are a society that every century has three hundred and fifty million [nowadays one and a half billion] members. Every day through the five obligatory prayers, they demonstrate with complete veneration their attachment to the principles of that sacred society. Through the sacred programme, indeed, the believers are brothers; they hasten to assist one another with their prayers and spiritual gains. We are members of that sacred, vast society, and our particular duty is to teach the believers in a certain, verified fashion the Qurʾa¯nic truths of belief, and save them and ourselves from eternal extinction and everlasting solitary confinement in the Intermediate Realm. We have absolutely no connection with any worldly, political, or intriguing society or clandestine group, or the baseless, meaningless secret societies concerning which we have been charged; we do not condescend to such things.10

He was accused at period of Ottoman state, too; but his answer for this question was like below: It is a circle bound with a luminous chain stretching from east to west, and from north to south. Those within it number more than three hundred million at this time. The point of unity of this society and what binds it is Divine Unity. Its oath and its promise is belief in God. Its members are all believers, belonging from the time of God’s covenant with man. Its register is the Preserved Tablet. The society’s means of communication are all Islamic books. Its daily newspapers, all religious newspapers whose aim is ‘upholding the Word of God’. Its clubs and councils are the mosques, religious schools. Its centre is the two sacred cities [Mecca and Medina]. Its head, the Glory of the World [the Prophet Muhammad]. Its way is the struggle of each person with his own soul; that is, to assume ˙ the morality of the Prophet Muhammad, to give new vigour to his practices, and to ˙ cultivate love for others and, if it is not harmful, offer them advice. The regulations of this society are the practices of the Prophet, and its code of laws, the injunctions and prohibitions of the Islam. Its swords are clear proofs, for the civilized are to be conquered through persuasion, not compulsion. Investigating the truth is with love, while enmity is for savagery and bigotry. Its aim and purpose is ‘Upholding the Word of God’. And 99 per cent of the Islam is concerned with morality, worship, the Hereafter, and virtue. One per cent is concerned with politics; let our rulers think of that.11

Bediuzzaman and his works cannot be described as a new religion or sufi order or a new sect or a hidden organization. Everything is clear in his works. There is no relation between Risale-i Nur and politics including Turkish and American 10 Ibid., pp. 401ff. 11 Nursi, Tarihçe-i Hayat, pp. 405ff.

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politics; there is no relation between Risale-i Nur and any secret intelligent service including MIT and CIA.

5.

Bediuzzaman and integration, humanity as a big family, and dialogue with other religions

Bediuzzaman had at all times a lot of hopes from the future of humanity. He explained that who want to reform the world must first reform themselves. In order to bring others to the path of travelling to a better world, they must purify their inner worlds of hatred, rancour, and jealousy, and adorn their outer worlds with all kinds of virtues. Those who are far removed from self-control and selfdiscipline, who have failed to refine their feelings, may seem attractive and insightful at first. However, they will not be able to inspire others in any permanent way, and the sentiments they arouse will soon disappear. Goodness, beauty, truthfulness, and being virtuous are the essence of the world and humanity. Whatever happens, the world will one day find this essence. No one can prevent this. Nursi says about dialogue with other religions and especially with Christianity: A tyrannical current born of naturalist and materialist philosophy will gradually become strong and spreads at the end of time by means of materialist philosophy, reaching such a degree that it denies God. At that point when the bad things appear to be very strong, the religion of true Christianity, which comprises the collective personality of Jesus (upon whom be peace), will emerge. Present Christianity will be purified in the face of that reality; it will unite with the truths of Islam. Then the religion will become a mighty force as a result of its joining it. Although defeated before the atheistic current while separate, Christianity and Islam will have the capability to defeat and rout it as a result of their union.12

In a Hadı¯t related to this, it says: “In the future you will conclude a peace with the ˙ ¯ Greek-Romans that will ensure security, and together you will fight enemy.”13 This Hadı¯t which has been mentioned in The Book of Mala¯him (news about the ˙ ¯ ˙ end of the world) predicts the Muslim-Christian alliance against international irreligion and anarchy. Religion in general and Islam in particular can play a positive role in uniting people for justice and equality, particularly the weaker sections, as globalization is driving humanity towards conflicts. According to Bediuzzaman, the peoples of the world should interact with each other much more than at present. There should be cultural exchanges and greater understanding of other cultures and people. Within each cultural and national 12 Nursi, “Fifteenth Letter”, in: Nursi, The Letters, Istanbul 2004, p. 78. ˇ iha¯d 156; Mala¯him 2, 2767. 13 Ibn Ma¯gˇa 4089; Abu¯ Da¯wu¯d, G ˙

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tradition there should be universal attempt to address problems of social inequalities, gender inequalities and human rights. We must work for global solidarity, and struggle against injustice and for the protection of human rights. Global solidarity is necessary for the protection of the environment, to respond to natural calamities and to tackle poverty. For all these concerns, one needs an international perspective and outlook, which overcomes the narrow nationalist outlooks which are inadequate to address global environmental concerns, concerns for human rights and gender inequalities. Addressing issues of violations of human rights, gender inequalities and environment goes beyond boundaries and overrides nationalist concerns.

6.

Bediuzzaman’s complete works Risale-i Nur are free in European countries and they are real means of dialogue and integration

First of all, the author should remind that Bediuzzaman’s approach to European civilization is like it follows: It should not be misunderstood; Europe is of two kinds. One follows the sciences which serve justice and right and the industries beneficial for the life of society through the inspiration it has received from true Christianity and Islam; this first Europe is the alliance. But the second, corrupt Europe which, through the darkness of the philosophy of naturalism supposing the evils of civilization to be its virtues, has driven mankind to vice and misguidance.14 For this reason, The Islamic University of Rotterdam has started to translate all collections of Risale-i Nur into the Dutch language. Muslims and Christians are happy with this academic activity. As it is known, Russian court’s verdict about banning the publication of Said Nursi’s 14-volume work Risale-i Nur attracted widespread attention and astonishment, particularly since the work has been positively received by hundreds of scholars and institutions such as the Organization of the Islamic Conference (OIC), the Turkish Directorate of Religious Affairs, the Turkish interior ministry, the Vatican and Egypt’s worldfamous Islamic university, Al-Azhar. There is no one governmental ban for the Risale-i Nur Collection in any European or Asian state (except Uzbekistan in Asia); rather there are many academic institutions about Bediuzzaman and his works like the Risale-i Nur Institute of America and the Risale-i Nur Institute of Philippines. In order to comprehend the quality and main characteristic of the Risale-i Nur, the following

14 Nursi, Flashes, p. 160.

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experience of Dr Turner of the Durham University, UK, is worth quoting at length: As someone born and raised in Britain I am often asked what we as Muslims have to offer to the West. But before I answer, I should like to ask a question myself: ‘Are we Muslims because we believe in God Almighty, or do we believe in God because we are Muslims?’ The question occurred to me during a march through the streets of London, over a decade ago, to protest against the Russian occupation of Afghanistan. I’d made a formal conversion to Islam several years prior to this, and it wasn’t my first demonstration. There were banners and placards and much shouting and chanting. Towards the end of the demonstration I was approached by a young man who introduced himself as someone interested in Islam. ‘Excuse me’, he said, ‘but what is the meaning of la¯ ila¯ha illa¯ ʾlla¯hu?’ Without a moment’s hesitation I answered: ‘There is no God but Alla¯h.’ ‘I’m not asking you to translate it’, he said. ‘I’m asking you to tell me what it really means.’ There was a long awkward silence as it dawned on me that I was unable to answer him. You are no doubt thinking. ‘What kind of Muslim is it that does not know the real meaning of la¯ ila¯ha illa¯ ʾlla¯hu?’ To this I would have to say: a typical one. That evening I pondered my ignorance: being in the majority didn’t help, it simply made me more depressed. Islam simply made sense, in a way that nothing else ever had. It had rules of government, it had an economic system, it had regulations concerning every facet of day-to-day existence. It was egalitarian and addressed to all races, and it was clear and easy to understand. Oh, and it has a God, One God, in whom I had always vaguely believed. That was that. I said ‘la¯ ila¯ha illa¯ ʾlla¯hu’, and I was part of the community. For the first time in my life I belonged. New converts are invariably enthusiastic to know as much as possible about their religion in the shortest possible time. In the few years that followed, my library grew rapidly. There was so much to learn, and so many books ready to teach. Books on the history of Islam, the economic system of Islam, the concept of government in Islam: countless manuals of Islamic jurisprudence, and best of all, hooks on Islam and revolution, on how Muslims were to rise tip and establish Islamic governments, Islamic republics. When I returned to Britain in early ‘79 from my trip to the Middle East to learn the meaning of la¯ ila¯ha illa¯ ʾlla¯hu I was ready to introduce Islam to the West. It was to these books that I turned for an answer to the question ‘What is the meaning of la¯ ila¯ha illa¯ ʾlla¯hu?’ Again I was disappointed. The books were about Islam, not about Alla¯h. They covered every subject you could possibly imagine except for the one which really mattered. I put the question to the imam at the university mosque. He made an excuse and left. Then a brother who had overheard my impertinent question to the imam came over and said: I have a tafsı¯r of la¯ ila¯ha illa¯ ʾlla¯hu. If you like we could read it together. I imagined that it would be ten or twenty pages at the most. It turned out to have over 5000 pages, in several books. It was the Risale-i Nur by Bediuzzaman Said Nursi.15

15 Colin Turner, “The Risale-i Nur: A Revolution of Belief”, Symposium 1, Istanbul 1991.

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Recep S¸entürk1

Semiotics of Nature: Recharging the World with Meaning The world is built with two letters: “ka¯f” and “nu¯n”. Chief Architect Sinan (1498–1588) Tezkiretu’l-Bünyan

Can the efforts to discover causal relations in nature be combined with the efforts to understand its meaning? 2 Are these two efforts compatible or mutually exclusive? Some answer this question positively while others answer it negatively. For those who answer this question negatively, exploring causal relations to reach an explanation is the only way to study nature. Positivism holds that the issue should be approached in this fashion; this is also a view that prevails in present day academia. Positivists are convinced that there is no meaning in nature. Thus, they believe that any interest in the meaning of nature constitutes heresy in science. The author will challenge this view in this article and argue the opposite: Exploring causal relations and deciphering the meaning inherent in nature are complimentary to each other. The author will use the examples of I˙brahim Hakkı (1703–1780) and Said Nursi (1873–1960), both of whom tried to demonstrate in their works that causal and interpretive study of nature should be carried together. Their works reflect the clash between the positivist and the traditional view of nature and science. It would be wrong to see I˙brahim Hakkı and Said Nursi as opponents of science per se, rather they were opponents of the positivist explanation and interpretation of nature. However, the positivist view has dominated scientific culture and academia, something which has resulted in the rejection of the traditional view of nature as a meaningful book. This has resulted in the relationship between humankind and the natural world changing from one of stewardship to one characterized by the 1 R.S¸. thanks S¸erif Mardin for his encouragement and valuable comments while writing this paper. 2 In this article, the author uses “nature” interchangeably with “creation” because, in his understanding, both concepts overlap in the final analysis. R.S¸. is aware that “nature” and “creation” are generally used in the literature with different connotations. However, here, he uses them synonymously.

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wish to control and exploit nature. The outcome has been catastrophic, as mankind faces environmental problems all over the world. Man now needs to restructure his relationship with nature, and return to one of stewardship. This requires him to reconfigure his view of science and nature. The author argues that humankind needs to recharge nature with meaning so that a meaningful relationship with it can be established. This may lay the foundation of a new environmental ethics based on a meaningful relationship with nature. I˙brahim Hakkı and Said Nursi are significant in this context because they tried to show how this could be done without compromising or sacrificing serious scientific research for causal explanation of natural phenomena.

1.

Is nature a text?

What is a rose? The answer offered by natural sciences will not satisfy anyone. Something botanic is missing: It is the symbolic side that is charged, almost universally, to the plant called rose. The rose is a sign3 of beauty and love; it is the symbolic queen of all flowers. Its looks and smells touche something inside of us. This is what botanic plants exude. Human, says I˙brahim Hakkı, is the scent of the rose garden called universe. Who is a human? Again, our natural sciences will miss the symbolic dimension when trying to answer this question. This brings to mind a more general question: Are things to ordinary humans more than what they are to objective scientists? If so, why is this the case? How did a gap emerge between the ordinary and scientific view of things? Or, in other words, how did modern science pre-empt/vacate the symbolic meaning of nature? This is a recent phenomenon in human history, and one that has not prevailed without first overcoming the traditional view of nature as something more than its material and observable qualities and relations. One of the greatest Sufis and scholars of the 18th century, I˙brahim Hakkı of Erzurum dedicated his magnum opus, the Marifetname,4 to convincing his 3 Charles Sanders Pierce (1839–1914) wrote: “A sign is an object which stands for another to some mind”; James Hoopes (ed.), Pierce on Signs, Chapel Hill 1991, p. 141. Pierce is a logician who challenged the conventional models of human thought. He approached them as “signs”, external to the self and without meaning unless they were interpreted by subsequent thoughts. Pierce talked about the “demonstrative application” of objects mediated by human mind. He wrote: “[…] an idea is an object and it represents an object. The idea itself has its material quality which is the feeling which there is in thinking. Thus the red and blue are different in the mere sensation. Thus our mere sensations are only the material quality of our ideas considered as signs”, ibid., p. 143. 4 I˙brahim Hakkı, who is well-known as a Sufi poet and philosopher, wrote 15 works on a variety of subjects: Divan, Marifetname, ˙Irfaniyye: Mecmuatu’l-irfaniyye fi Marifet-i Nefsi’r-Rabbaniyye, ˙Insaniyye: Mecmuatu’l-insaniyye fi Marifet-i’l-Vahdaniyye, Mecmuatu’l-Meani, Mes¸a-

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readers that the world is a text symbolically authored by God and addressed exclusively to humanity. Why did I˙brahim Hakkı undertake such a task at this particular time? The author argues that it is plausible to believe that this endeavor was prompted by the arrival of the modern view of nature to the Ottoman world. After the first encounter with the modern science, I˙brahim Hakkı tried to vindicate and revive the traditional semiotics of nature from an Islamic-Sufi perspective by showing that the two are not mutually exclusive, as each one belongs to a certain level of existence. I˙brahim Hakkı thus advocated that reading nature as a book, from the perspective of the comprehensive theory of “indication” (dala¯la), would not necessarily contradict attempts to analyze nature in a scientific fashion. He also argued that rival paradigms in science should not be evaluated from a religious perspective, and should instead be judged on their own merit.5 Prior to listening to the arguments of I˙brahim Hakkı to prove so, one has to ask what was a text for him? Unless one is familiar with the concept of text that I˙brahim Hakkı shared with his readers in the Ottoman cultural milieu during his lifetime, one will not be able to make full sense of his concept of nature. Yet he makes no effort to explain his understanding of ‘text’ since he assumes that it is already known to his readers. However, we are now living in a period long after I˙brahim Hakkı’s death and therefore need to make an extra effort to familiarize ourselves with the concept of ‘text’ as it was understood by the Ottoman public at that time. Therefore, first a brief comparison between semiotics in the West and Islam will be given in order to clarify what is understood by ‘text’, ‘reading’ and ‘meaning’ in the Marifetname. The author will then present the multiplex structure of the world and, in accordance with it, the multiplex structure of sciences from the perspective of I˙brahim Hakkı. Due to space constrictions, a broad picture has to be painted. The author would thus like to be excused for leaving many important details untouched in this article.

rıku’l-Ruh, Sefinetu’r-Ruh min Varidati’l-Futuh, Kenzu’l-Futuh, Definetü’r-Ruh, Ruhu’s¸S¸uruh, Urvetü’l-I˙slam, Heyetü’l-I˙slam, Tuhfetu’l-Kiram, Nuhbetü’l-Kelam, Ülfetü’l-Enam. Mustafa Çag˘ırıcı, “I˙brahim Hakkı Erzurumî”, in: TDV ˙Islam Ansiklopedisi, Vol. 21, pp. 309– 311. 5 See for instance, I˙brahim Hakkı, Marifetname, Matbaa-i Ahmed Kamil, Istanbul 1330 AH/ 1911–12 CE, p. 24. He mentions that the view of Muslim philosophers on the world is based on rational argument (burhân-ı aqlî). This statement makes it explicit that he follows the methodology of earlier Muslim philosophers such as G˙aza¯lı¯ regarding the study of the world from a scientific and rational perspective.

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2.

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Semiotics: Study of signification

The process through which signs are interpreted by the minds to which they are addressed is called signification in English and dala¯la in Arabic and Ottoman Turkish. The emergence of the former concept (signification) is quite recent compared to the latter (dala¯la) which originated during the first century of higˇra or the seventh century AD. The theory of was applied at first to the text of the Koran and hadı¯t by the jurists who deduced norms from them, and then later to ˙ ¯ nature and human actions. In the Marifetname, I˙brahim Hakkı also searches for the dala¯la (symbolic indication) of the external nature and the body. In the West, the theory of the relationship between sign and object can be traced back to the work of Pierce (1839–1914). William James (d. 1910) revered him as the inventor of the word ‘pragmatism’. Pierce defined pragmatism as “a method of ascertaining the meaning of hard words and abstract conceptions.”6 The doctrine of thought-signs first originated from his works. He wrote, “Consider what effects, that might conceivably have practical bearings, we conceive the object of our conception to have. Then our conception of these effects is the whole of our conception of the object.”7 Structuralism has applied a relational approach to text and society during the last century. It first emerged in the work of a linguist, Saussure (1857–1913),8 who claimed that the relationship between the sign and the object is arbitrary. Four decades later it brought about a reconstruction of the concept of society based on a relational model in the work of a prominent anthropologist, Claude LéviStrauss (1908–2009). This signified a revolutionary movement from essentialist to relational approach in the linguistic, literary and social theory. Semiotics, as the work of Roland Barthes9 illustrates very well, later assumed the task of interpreting social phenomena with the same methods employed to interpret the text. In The Content of the Form, Hayden White claimed that the form or genre has a content.10

6 Collected Papers of Charles Sanders Peirce, Vol. V, p. 464; cited by W. B. Gallie, Pierce and Pragmatism, Harmondsworth 1952, p. 11 [italics: R. S¸.]. 7 Ibid., p. 12. 8 Ferdinand de Saussure, Course in General Linguistics, tr. Roy Harris, La Salle/Illinois 1994, pp. 110–120. 9 Roland Barthes, Semiotic Challenge, tr. Richard Howard, Berkeley 1994. 10 He writes, “It is this complex multilayeredness of discourse and it is consequent capacity to bear a wide variety of interpretations of its meaning that performance model of discourse seeks to illuminate. From this perspective provided by this model, a discourse is regarded as an apparatus for the production of meaning rather than as only a vehicle for transmission of information about an extrinsic referent”; Hayden White, The Content of the Form: Narrative Discourse and Historical Representation, Baltimore 1987, p. 42.

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The parallelism between the concept of society and text can also be observed during the second century of higˇra in the works of Sı¯bawayh (177/798) 11 and Abu¯ Hanı¯fa (80–150/699–767), both of whom adopted a relational approach to their ˙ subject matters, language and society respectively. Later, the fuqaha¯ʾ, doctors of Islamic law, made linguistic study and interpretive analysis a part of their discipline. Yet the primary focus of the fuqaha¯ʾ has always been “action” (ʿamal) as it bears on the rights and duties in social relations. Abu¯ Hanı¯fa defined fiqh as the ˙ study of rights and duties by individuals. It is evident that rights and duties are relational concepts which can exist only in a society. Based on these two observations, we can safely conclude that our image of text is connected to our image of society, even if we are not aware of it. In Europe, the study of solitary words by using philological methods characterized the prestructural period in Linguistics. In a similar way, the study of individual action characterized the study of society during the same period. The pieces began to be perceived as a part of a general system initially in language and then in society with the rise of structuralism and systems theory during the 20th century. The great linguist Sı¯bawayh postulated that text must be studied as an interrelated system with multiple relations. Abu¯ Hanı¯fa also perceived social actors as being ˙ part of a social system, and not as isolated individuals. Yet the issue aimed to be explored in this paper is the relationship between our concept of text and nature. Does one project his concept of text onto nature as one does for society as a whole? Does the changing concept of text also change the concept of nature as it does for society? Was there a period during which nature was perceived as a text? If so, why did this concept not last into the modern era? The Muslim thinkers perceived the world as ʿa¯lam, which literally means “sign”.12 Theʿa¯lam is defined as everything other than God, and thus stands as a sign for His existence, providence, knowledge and power. When looked at from this perspective, there is no difference between nature and society. Even the word ʿa¯lam is used to denote nature and society, while the word gˇumla is used to indicate both a sentence and a society. As each verse in the Koran is considered a sign (a¯ya) so are things in nature. This view of nature was inevitably going to clash with the modern scientific view of nature, which assumed that scientific and semiotic study of nature are implicitly mutually exclusive.

11 For Sı¯bawayh as the founder of Arabic Linguistics, see G. Bohas/J.-P. Guillaume/D. E. Kouloughli, The Arabic Linguistic Tradition, New York 1990, pp. 31–48; Kees Versteegh, Landmarks in Linguistic Thought, III, New York 1997, pp. 36–51. 12 On the concept of ʿalam (world) and the way it is used in Islamic theology as a sign for the existence of the Creator, see for instance, al-Nasafî, Abi al-Barakât ‘Abdullah, Tafsîr al-Nasafî: Madârik al-Tanzîl wa Haqâiq al-Ta’wîl, ed. Yusûf ‘Alî Badîvî, Dâr al-Kalim al-Tayyib, Damascus and Beirut 1426 AH, p. 30.

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The author will argue that while society in general has been linguistified/ textualized by semiotics, modern science has continued to delinguistify/detextualize nature. The early modern scientific view of the world as hard facts was thus at least partially surpassed as regards society as whole but not as regards nature. The change in mankind’s concept of nature can be summarized as detextualization or delinguistification of nature. In other words, the rise and spread of modern science silenced what Ru¯mı¯ called the “mute eloquence” of nature by emptying it from the symbolic meanings which traditional cultures all over the world have, to a greater or lesser extent, traditionally attributed to it.13 Early in this century, Weber observed this process, which progressed parallel to processes of modernization. For him, this supposed the disenchantment of humanity from the world. Weber proposed no solution to the destruction of the meaning inherent in structures by modern rational scientific view. However, Habermas, who also observed a similar process in social life as the systems colonized the “life world” (Lebenswelt), undertook a project which he calls “linguistification” of social theory. Other sociologists are also becoming more and more aware that the hard facts are no longer enough for an authentic understanding of social processes.14 I˙brahim Hakkı provides us with an interesting example of the encounter between two concepts of nature, one charged with meaning, while the other is charged with no meaning at all, one is mute while the other is speaking. He attempted to obliterate the new approach by internalizing it in the older one and thus rebuild the world for the Turkish speaking Muslim public of the 18th century. It may be seen as an attempt to retextualize nature, which was threatened with losing its textuality or more simply put its meaning. He was recharging nature with meaning and showing people how nature’s speech could be understood in this new, more turbulent period. He did not see modern science as a threat to the traditional concept of nature but rather a new unfolding of nature’s meaning which had previously been hidden far from view in the book of nature. The influence of modern science on the concept of nature was also felt among Indian Muslims in the Eastern part of the Islamic world. An 18th century Indian Muslim scholar, Sˇa¯h Waliyyulla¯h ad-Dihlawı¯15 (1176/1762), attempted in a sim˙ ilar effort, in his magnum opus Hugˇgˇat Allah al-ba¯lig˙ah, to revive the traditional view of the world. Sˇa¯h Waliyyulla¯h ad-Dihlawı¯ does not make explicit reference to modern science but his life project within this particular conjecture to revive the 13 See the works of Eliade and Campbell, in particular, Mircea Eliade, A History of Religious Ideas, I–III, tr. Willard R. Trask, Chicago 1978; Joseph Campbell, The Masks of God, I–IV, London 1969. 14 Robert Hodge/Gunther Kress, Social Semiotics, Oxford 1988. 15 Abu¯ ʿAbdalʿazı¯z Sˇa¯h Waliyyulla¯h Ahmad b. ʿAbdurrah¯ım ad-Dihlawı¯, Hugˇgˇatulla¯h al-ba¯lig˙a, ˙ ya¯ʾ al-ʿUlum, Beirut ˙ ˙ ed. Muhammed Sˇarı¯f Suqqar, Dar Ih 1990. ˙ ¯ ˙ ˙

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traditional Islamic cosmology can be attributed to an awareness about the new world view promoted by modern science. There are other works on the Islamic ontology or mara¯tib al-wugˇu¯d16 during the 18th century which may also have been prompted by the arrival of modern science.

3.

Semiotics of nature in I˙brahim Hakkı’s work

The dominant imagery used by I˙brahim Hakkı to represent the nature is a book. It is intentionally written by God to manifest His existence, providence, omnipotence and omniscience. For him, creating is writing. I˙brahim Hakkı interprets the verse “By the letter N17! And by the Pen and that which they write (therewith)!”18 as follows: “The angels write the concrete objects of the World of Objects and the abstract objects of the World of Heavenly Kingdom.”19 God used the divine breath to create the world. The breath is also used to produce speech. Every creature is a letter in this book. The universe has twenty-nine layers, and each layer represents a letter. Natural things produce meaning in much the same way as the letters, which do so due to the relationship with they have with each other and combinations among themselves. The solitary (mufrad) letters and meanings become complex (murakkab) through these combinations. We have to remember what the word ‘text’ meant during the time of I˙brahim Hakkı. Briefly put, Ottomans regarded the text as a multiple network of shifting relations. The text is both one and many. They saw the text as being interactively constructed by relations within and between two levels: the utterances (lafz) and ˙ meaning (maʿna¯). The level of utterances is constituted by visible and non-visible (muqaddar, assumed) elements. Causal relations characterize it. The second layer which constituted the text, the layer of meaning, has itself many layers, and is characterized by non-causal or interpretive (hermeneutic) relations. The methods used to analyze the level of utterances included the causal explanation (ʿilliyya) provided by Syntax (nahw) while the level of meaning is studied by ˙ interpretive methods provided by Rhetorical Sciences (ʿilm al-bala¯g˙a).20 16 See Semih Ceyhan, Abdullah Salahi Us¸¸saki’nin Vücud risaleleri, unpublished master thesis, Marmara Üniversitesi Sosyal Bilimler Enstitüsü, 1998. 17 The letter ‘N’ (“nun”) in Arabic has the shape of an ink pot, and it is probable that this is the meaning it symbolically indicates here. 18 “Nun! Wa-l-qalam wa-ma¯ yasturu¯n!”, The Qurʾa¯n, Surah al-Qalam, 68/1–2. 19 I˙brahim Hakkı, Marifetname,˙ Matbaa-i Ahmed Kamil, Istanbul 1330 AH/1911–12 CE, p. 221. 20 For further details, please see my paper “Toward Open Science and Society: Multiplex Relations in Language, Religion and Society – Revisiting Ottoman Culture”, in: Turkish Journal for Islamic Research, ISAM, 2001. For an earlier work see “Towards an Open Science: Causality and Beyond – Learning from Ottoman Experience”, in: The Humanities on the Birth of the Third Millennium, Fatih University and Binghamton University, New York, forthcoming.

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God, the author of the book of nature, has charged it with the meaning He intended to convey to humanity. The task of the readers, that is humans, consists in describing nature but not ascribing a meaning to it. In other words, the meaning of the universe is found but not founded, discovered but not attributed to it. The book already carries the meaning with it, something initially intended by the author. However, a sign carries multiple meanings: The educational level of the reader is important when understanding the meaning that can be derived from the signs. The theory of meaning must be briefly taken into consideration here. ‘Meaning’ has two layers that are not mutually exclusive: the apparent (za¯hir) and the latent ˙ ˇ urgˇa¯nı¯ (ba¯tin). There is also the “meaning of the meaning”, as Abdulqa¯hir al-G ˙ argued, because sometimes a meaning is used as an object to indicate yet another meaning. The imagery of text is applied for both nature and humans. In a similar way to the text, the world is also both one and many. The existence is like a string. The stronger it is pulled, the more layers become observable. This is true for the text, external and human nature. I˙brahim Hakkı is after symmetries among different domains, each of which has layers. The domains include God, humanity, the external world and text. God is the author of everything. He made things in such a way that their basic structure is symmetrical or, put less strongly, mirror each other. Each domain belongs to a different level of existence: The external world exists in the objects (wugˇu¯d fı¯ laʿya¯n), human society exists in the minds (wugˇu¯d fı¯ l-adha¯n), the text exits in ˙¯ writing (wugˇu¯d fı¯ l-kita¯ba), and speech exists in the utterances (wugˇu¯d fı¯ l-alfa¯z). ˙ Studying nature has long been an issue in Islamic theology and law. It was a part of philosophy during the Middle Ages, at which time the debate centered on the question as to whether philosophy was accepted by Muslims. Al-G˙aza¯lı¯ (505/ 1111) developed a balanced view between opposing perspectives on rational philosophy. His main objection was against metaphysics because he argued that philosophers could not rationally know how the world works. Consequently, in al-G˙aza¯lı¯’s view philosophers need to rely on revelation when studying metaphysics. In addition, al-G˙aza¯lı¯ argued that theories about nature should be judged on their own merit and by way of rational and empirical analysis, as he regarded nature as not being a religious issue.21 Later, orthodox scholars also followed al-G˙aza¯lı¯ as to this issue. Ka¯tib Çelebı¯ (1067/1657), al-Birgiwı¯ (981/1573) 21 For his views on these issues see two of his most relevant books, al-Ghazali, Abu Hamid Muhammad (d. 505/1111), The Incoherence of the Philosophers: A parallel English-Arabic text translated, introduced and annotated by Michael E. Marmura; editor-in-chief Parviz Morewedge) Brigham Young University Press, Provo 1997; and also al-G˙aza¯lı¯, Abu¯ Ha¯mid Mu˙ hammad (d. 505/1111), al-Munqid min al-dala¯l, Muʾassasat al-Kutub at-taqa¯fiyya, Beirut ¯ ¯¯ ˙1987. ˙

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and his commentators such as Muhammad al-Ha¯dimı¯ (1176/1762) and Abdul˙ ˘ g˙anı¯ al-Nablu¯sı¯ (1143/1731) and Tasˇkubriza¯da (968/1561) were of the same opinion. Birgiwı¯ stated, “The part of natural sciences (tabı¯ʿiyya¯t) which contradicts religion is that which is derived from metaphysics, the status of which you already know, and the part which does not contradict religion is not refused.”22 Birgiwı¯ advocates the orthodox view of the theologians. This held that the belief in the causal relationship between the movement of stars and natural events contradicts religion. Yet, unlike some of his orthodox predecessors, I˙brahim Hakkı argues that even it was accepted that the power of stars influences natural events, this would not contradict Islamic faith, because God is the one who bestowed such a power on them. I˙brahim Hakkı also believed that the same is true about the causation attributed to the “nature” (tabʿ or tabʿiya¯t) of things which is considered against ˙ ˙ Islamic faith by theologians. I˙brahim Hakkı argues that “nature” receives such a power from God. As long as one accepts that God gave nature such powers to influence events, the causal relationship between the nature of a creature and an event does not contradict religion and religious teaching. I˙brahim Hakkı explains this conflict by making use of an analogy of two ants on a sheet of paper. The two ants watch someone writing on the paper. One claims that writing does not occur by itself, and that the pen is the agent. The other ant, which observes the event of writing on the paper at a distance, objects and claims that the fingers command the pen, and that they are the cause of the writing. By putting different theories on nature at a perspective in this fashion, I˙brahim Hakkı thus finds a peaceful solution to the conflict between theologians and munagˇgˇimu¯n (astronomers and astrologists). At that time, astrology was not completely separated from astronomy in the Islamic world. He also uses the famous example of blind people describing an elephant. Blind people make erroneous statements about the elephant because they generalize their limited knowledge to the whole.23 Each explanation is true but only at the level at which it operates.24 22 One of the most popular Ottoman scholars, Zainuddı¯n Muhammad b. Muhammad b. ʿAlı¯ ˙ Muhyiddı¯n al-Birgiwı¯ (929–981 AH), at-Tarı¯qa al-Muhammadiyya wa as-Sı¯ra˙ al-Ahmadiyya, ˙ ˙ ˙ ˙ ˙ a¯dimı¯, al-Halabı¯, Cairo 1379/1960, p. 28. For the view of his commentators see Abu¯ Saʿı¯d al-H ˙ ˘ baʿat Barı˙¯qa Mahmu¯diyya fı¯ ˇsarh tarı¯qat-i muhammadiyya wa-sˇ- ˇs arı¯‘a an-nabawiyya, Mat ˙ ˙ ˙ ˙ as ¯ Da¯r al-Hila¯fatu l-ʿAliya, Istanbul 1326 H., I, p. 336. Ha¯dimı¯ states that what is considered ˘ contradictory to religion is the claim that some of the˘ natural beings (taba¯yiʿ) have an impact ˙ on other things. According to the orthodox theology, the changes in nature are a work of God but not the stars. See also Abdulg˙anı¯ al-Nablu¯sı¯, Kita¯b al-hadı¯qa al-na¯diyya ˇsarh al-tarı¯qa al˙ ˙ ˙ muhammadiyya, Matbaa-ı Amire, Istanbul 1290, I, pp. 335–340. ˙ 23 I˙brahim Hakkı, Marifetname, p. 85. 24 This reminds the author of two principles commonly applied in Ottoman humanities. One is “Kelamın i’mâli ihmalinden evladır”. The principle states that it is preferable to activate or

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I˙brahim Hakkı sees nature as a compassionate mother and writes, “This world is educating us like a compassionate mother.”25 He takes this further and describes nature as a womb for humanity. I˙brahim Hakkı adds, “We are still in the womb of a mother.”26 When looked at from this perspective, death can be seen as the real birth, as it results in entry into the eternal world. For I˙brahim Hakkı, nature is a rose garden in which humanity enjoys beauty. In the introduction to Marifetname, the same author uses the image of a “rose garden” in which the scent belongs to humans, for nature as a whole.27 The demise of humanity leaves the world without scent. However, nature (tabʿ) can turn into a prison for human beings. Occasionally, I˙brahim Hakkı uses the image of cage for nature (sigˇgˇin-i tabʿ).28 People can be ˙ liberated from nature by acquiring good qualities (sıfat-ı kemal). In this context, ˙ he writes, “the cage of nature is the example of Hellfire.”29 The first three images of nature reflect God’s providence over the external nature. Human beings should live in harmony with nature. However, the relationship between human beings and their animal nature is characterized by conflict. One should note that the first three images refer to nature and the natural world while the last (the cage of nature) is more about humans themselves. In the latter image, humans must fight against their nature and ascend it. In the first three images, nature is seen in a positive light whereas it is seen in a negative light in the final image.

4.

Semiotics of nature in Said Nursi’s thinking

One can find striking similarities between the concept of nature in I˙brahim Hakkı’s work and in that of Said Nursi. Both of them studied in the traditional seminaries in the town of Tillo, now located in the North East of Turkey. They both inherited a similar concept of nature and science. I˙brahim Hakkı, an Ot-

25 26 27 28 29

make use of a word, if possible, instead of ignoring or refusing it. The second is “Kelamda asl olan, mahmili sahihine haml etmektir”. This principle suggests that, as a rule, in discourse speech should be attributed to the correct subject, and should not be generalized in an arbitrary fashion. Due to their crucial place in Ottoman culture, these principles eventually became the general rules of fiqh – these are cited in the introductory chapter of Mecelle, see Ahmed Cevdet Pas¸a, Açıklamalı Mecelle: Mecelle-i ahkam-ı adliye, ed. Ali Himmet Berki, Hikmet Yayınları, I˙stanbul 1982, pp. 1–20. These principles can be seen as important strategies for reducing intellectual and thus social conflict, as they grant different possible voices a place in discourse, instead of refusing to hear these voices and therefore suppressing them. I˙brahim Hakkı, Marifetname, p. 163. Ibid. Ibid., p. 1. Ibid., p. 500. Ibid., p. 222.

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toman thinker and scholar, lived earlier than Said Nursi. The clash with the modern positivist science and its concept of nature is as a result less evident than in the works of Said Nursi. In fact, Said Nursi’s intellectual biography reflects the features of a transitional figure from the Ottoman state to modern secularist Turkey. Said Nursi’s approach to his life mission shifted throughout this period and increasingly focused on issues raised by the conflict between faith and science. It is obvious why Said Nursi could not accept the concept of nature adopted by positivist science. He sees that nature is composed of many objects, each of which has a particular type of intelligence peculiar to them, and that these objects speak for their Creator through signification, something which I call ‘Semiotics of Nature’. He repeatedly reminds his readers that the world is calledʿa¯lam, which literally means a sign for its Creator. This view of a living and speaking nature, shared by Nursi and other Muslim thinkers of that time, was challenged by the new positivist concept of nature which was officially adopted by the Turkish educational institutions as part of modernization and westernization in science at the turn of the last century. Another large difference exists between the traditional Islamic and the positivist understanding of nature. Nursi’s semiotics of nature has multiple layers and is similar to that of I˙brahim Hakkı: There are several levels of analysis and interpretation. Every small object in nature is a world in itself.30 For Nursi, the world as a whole at the macro level and the small objects at the micro level are signs of God. In other words, for Nursi, the macrocosmos and the microcosmos stand for their Creator. This view is similar to that held by I˙brahim Hakkı and other Muslim thinkers and scholars. This ‘multiplexity’ in the concept of nature allows scholars to continue to study causes and meanings simultaneously, whilst at the same time working at different levels. Consequently, for Nursi, the world is a network of causal relations but at the same time a book containing endless small books, sentences, words and letters, which produce a network and meta-network of meanings together. From his perspective, the world is a book consisting of words but each word contains many books in it. A tree is a word and a fruit is a letter, whilst at the same time a seed can be interpreted as a letter containing the program of a complete tree. God is not part of nature because He is its Creator, and there is in addition a semiotic relationship between the created world and the Creator: The creature is the sign of the Creator. Not only the existence of the Creator, but also, in the view of Nursi and that of many other Muslim thinkers, the divine attributes are manifested in nature. When looked at from this perspective, natural events should be interpreted as the unveiling of God’s attributes through His actions, 30 Bediuzzaman Said Nursi, Isˇa¯ra¯t al-iʿgˇa¯z, Istanbul 1959, p. 18.

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which usually take place within the framework of causality. However, God’s power is not limited to the realm of causality and to natural laws, something reflected in the miracles God gave to Prophets.31 For Nursi, the “witnesses” (ahl asˇ-sˇuhu¯d) observe God’s signs in the world. They see God behind every living thing. In other words, the group of people Nursi labels “the witnesses” reflects constant awareness about semiotic functions of nature. However, these are a highly educated and pious people, who are strong believers in God. Therefore, ordinary people, including common Muslims, who do not have trained eyes and minds, may not possess such a high level of awareness about semiotics of nature. Nursi’s concept of nature also differs from that of naturalists and modern positivists. For him, nature is not a self-running machine and is instead operated by God. However, in the Middle Ages Muslim philosophers and scientists vigorously disputed the relationship between God and nature. According to Muslim philosophers like Avicenna and al-Fa¯ra¯bı¯, Nursi explains, God bestowed upon objects their ‘nature’ through the medium with which the very same objects influence other objects and serve as causes of natural phenomena. From this perspective, God is the one who gave things their nature, as He is their Creator. However, this view was not acceptable to al-G˙aza¯lı¯, who argued that each causal relationship is created by God. From this angle, God is constantly active in nature and every natural phenomenon is His manifestation. In any case, both perspectives regard God as being the prima causa, i. e. the cause of causes. Nursi does not explicitly take a side in this debate although, given his education, it is more probable that he would have adopted the view of al-G˙aza¯lı¯. However, he openly opposes the materialist and positivist concept of nature as a self-operating system which does not receive any directions from God. For Nursi, a Muslim cannot accept that natural phenomena are caused by nature because nature is not a rational actor and is unable to decide what to do. Nursi believes that Nature is created by God and that all sections of the natural world are a result of His will. Nursi does not reject the materialist concept of nature commonly adopted by modern positivist science because he is against science or does not agree with the causal explanation of natural phenomena. He does not agree with views rejecting God as the ultimate or the prima causa. This is obviously a metaphysical discussion which does not have any practical implications on the way scientific research is conducted. Another major difference exists between Nursi’s concept of nature and the one used by modern positivist science which is more relevant for our discussion: 31 This is another major difference between the traditional Islamic and positivist approaches to nature. While for positivists, natural laws are permanent and unchangeable, Muslim scholars believe that God’s power is not bound by the laws He himself gave nature.

Semiotics of Nature: Recharging the World with Meaning

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While Nursi sees nature as a book, the author of which is God, modern positivist sciences considers it to be void of meaning and as consisting entirely of causal relations. The positivist view of nature is completely opposed to the Islamic view of nature as a book. Here we can easily conclude that Nursi has inherited from Islamic tradition the multiple concept of nature which regards causality and meaning as constituting two interconnected layers of nature. Therefore the two layers, causality and meaning, constitute two inseparable layers of analysis and research which complement each other. There is yet another striking dimension to the semiotics of nature in Nursi’s understanding. The Qurʾa¯n and nature are interlocked: They are mirrors of each other. The Qurʾa¯n is an eternal translation of the book of nature. Nursi establishes many parallelisms between the Qurʾa¯n and the book of nature. Nevertheless, for Nursi, primacy belongs to the book of nature.32 The positivist approach to science strictly separated causal analysis from studying the meaning of nature and exclusively focused on the former, based on the conviction that the two are incompatible. This was completely new for Nursi and other Muslim thinkers of that time. Consequently, they had to devise an intelligent strategy of resistance to the positivist view of nature without rejecting causal explanations to which the positivist view of the world arrived. They tried to demonstrate that causal explanations afforded by modern science do not logically require a materialist view of nature. Instead, they believed that modern scientific discoveries demonstrated God’s greatness and the depth of the meaning contained in nature. While positivists tried to introduce a materialist concept of nature that is void of meaning, the Turkish academia and youth living during Nursi’s lifetime thought that the main aim of Nursi’s project was to resist to this trend by recharging nature with meaning. He argued that analyses of causality and meaning should be carried out together, in the same way as it had been done throughout Islamic history. This view contradicted the positivist understanding of science and nature which were officially adopted by the newly established Turkish Republic.33

32 Bediuzzaman Said Nursi, Sözler, Sözler Yayınevi, Istanbul 1990, p. 339; Bediuzzaman Said Nursi, Isˇa¯ra¯t al-iʿgˇa¯z, p. 98. 33 For a more detailed discussion on this issue, see: S¸erif Mardin, Religion and Social Change in Modern Turkey: the Case of Bediüzzaman Said Nursi, Albany/NY 1989.

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Recep S¸entürk

Conclusion The advocates of what is commonly called modern science constructs a conflicting relationship between external nature and humanity: It preaches that nature should be overcome and controlled by human rationality. Modern science presents controlling the powers of nature as a challenge for human intelligence. From this perspective, nature is an enemy, and not a compassionate mother. However, the demands of humankind are usually seen positively, and instead of being made subject to subjugation and control, they are unleashed and satisfied. For modern science, humankind sets the norms; it is the paradise, and not the cage from which people should be liberated. “The nature or essence of man was now identified tout court with the possession of reason, and natural law was held to be whatever is found acceptable by recta ratio or santa ratio.”34 In addition, from the perspective of modern ontology, there is nowhere to ascend above and descend beyond physical nature. Modern ontology conflates the spiritual and the physical level instead of viewing them as two separate levels. This view not only completely excludes any effort to study the meaning of nature but also makes it ontologically impossible. In contrast, as the examples of Erzurumlu I˙brahim Hakkı and Said Nursi demonstrate, causes and meaning can be studied simultaneously without hindering one another by adopting a more flexible, multi-polar concept of nature. The current materialist view of nature should therefore be replaced with a multiplex one to enable the possibility to charge nature with meaning and, through the medium of it, establish new environmental ethics based on a meaningful relationship with it.

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Semiotics of Nature: Recharging the World with Meaning

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Kapitel 4: Religionspädagogik bei Said Nursi

Ali Özgür Özdil / Bettina Kruse-Schröder

Said Nursi zwischen dem, der er ist, und dem, zu dem er gemacht wird: ein Allround-Gelehrter?

Der Titel dieses Artikels entstand auf einer Veranstaltung in Bielefeld, auf der der Autor über Said Nursi als Religionspädagogen sprechen sollte. Neben ihm saß ein Zuhörer, der ihm sehr emotional und mit Tränen in den Augen sagte: „Für mich ist Said Nursi der beste aller Menschen nach dem Propheten. Er vergab sogar seinen Feinden.“ Auf der einen Seite verursacht eine solche Aussage ausgehend von den tiefen Emotionen, die Nursi auch lange nach seinem Tode noch hervorrufen kann, Rührung, andererseits stellen sich die Verfasser die Frage, wie weit Volksfrömmigkeit gehen kann und ob sie der verehrten Person und ihren Intentionen eher dienlich ist oder schadet. Wie groß mag die Diskrepanz zwischen dem historischen und de, mystifizierten Said Nursi sein und welche Bedeutung ist ihr inhärent? Und ab welchem Punkt schlägt Lernen und Wachsen am Vorbild in unreflektierten und nicht mehr kritisierbaren Personenkult um oder wird gar für denjenigen, der sich mit diesem großen Vorbild vergleicht, ernüchternd und frustrierend, weil das Vorbild so groß und brillant zu sein scheint, dass man es nie auch nur annähernd erreichen wird? Biografien1 über und Schriften von Said Nursi2 offenbaren einen Menschen, der ohne Zweifel den Titel eines Gelehrten tragen darf. Im Weiteren geht es nun einerseits um die Frage, ob und inwiefern Nursi als „Allround-Gelehrter“ bezeichnet werden kann. Anschließend wenden sich die Autoren der Frage nach dem Umgang mit einer Volksfrömmigkeit zu, die aus seiner Person mehr macht, als er eigentlich ist.

1 Vgl. Said Nursi, Tarıhçe-i Hayatı, Envar Nes¸riyat, Istanbul 1987 und Abdurrahman Nursi, Bediüzzaman’ın Hayatı, Istanbul 1993. 2 Sein Gesamtwerk mit dem Titel Risale-i Nur Külliyatı besteht aus 14 Bänden und umfasst ca. 6.000 Seiten.

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1

Ali Özgür Özdil / Bettina Kruse-Schröder

Nursi als Allround-Gelehrter?

Zur Beantwortung der ersten Frage gibt Said Nursi selbst, bzw. geben dessen Werke, die unter dem Titel Risale-i Nur zusammengefasst sind, folgenden Hinweis: Risale-i Nur; hem s¸eriat, hem dua, hem hikmet, hem ibadet, hem emir ve davet, hem zikir, hem fikir, hem hakikat, hem tasavvuf, hem mantık, hem kelâm bilgisi, hem ilahiyat bilgisi, hem sanata özendirme, hem belâgat, hem de vahdaniyeti ispat kitabıdır. O, kars¸ıtlarını etkisiz hale getirir ve susturur.3

Vereinfacht übersetzt schreibt er Folgendes: Das Risale-i Nur (Sendschreiben des Lichts) sei sowohl Koraninterpretation, Scharia, Bittgebet, Weisheit, Gottesdienst, Aufforderung und Einladung, Gotteslob, Denken, Wahrheit, Erkenntnis, Logik, Theologie, Anregung zur Kunst und Erklärung wie auch ein Werk, das die Einheit Gottes beweist. Es mache seine Gegner wirkungslos und bringe sie zum Schweigen. Somit befasste sich Said Nursi mit der Koranwissenschaft, mit Recht, Mystik und Theologie und lässt sich daher schwerlich in eine bestimmte wissenschaftliche Disziplin einordnen. Am bemerkenswertesten scheint jedoch die Tatsache zu sein, dass er sich – anders als vergleichsweise die meisten religiösen Gelehrten seiner Zeit – mit Religion und Naturwissenschaften gleichermaßen beschäftigte, und zwar nicht als nebeneinander existierende, sondern als zwei unzertrennlich miteinander verbundene Bereiche: Im Gegensatz zu anderen Religionsgelehrten der damaligen Zeit studierte und beherrschte Bediüzzaman fast alle Wissenschaften der Physik und Mathematik und studierte später sogar Philosophie, denn er glaubte, dass nur dadurch die islamische Theologie (kala¯m) erneuert werden konnte und erfolgreich auf die Angriffe antworten könnte, denen der Koran und der Islam damals ausgesetzt waren.4

Diese Angriffe resultierten daraus, dass man die bessere wirtschaftliche Entwicklung des Westens an dessen Wissensvorsprung in den (Natur-)Wissenschaften und der damit einhergehenden Säkularisierung festmachte. In der Übertragung auf die

3 Said Nursi, Emirdag˘ Lahikası I, Bd. II, Istanbul 2004, S. 1719; im Original: „Risale-i Nur S¸ems-i Kur’an-ı Mu’cizül Beyan’ın elvan-ı seb’as-ı, Risale-i Nur’un mens¸ur-u hakikatında tam tecelli ettig˘inden, hem bir kitab-ı ¸seriat, hem bir kitab-ı dua, hem bir kitab-ı hikmet, hem bir kitab-ı ubudiyet, hem bir kitab-ı emr-ü davet, hem bir kitab-ı zikir, hem bir kitab-ı fikir, hem bir kitab-ı hakikat, hem bir kitab-ı tasavvuf, hem bir kitab-ı mantık, hem bir kitab-ı ˙Ilmi Kelâm, hem bir kitab-ı ˙Ilmi ˙Ilahiyat, hem bir kitabı tes¸viki san’at, hem bir kitabı belâgat, hem bir kitabı isbat-ı vahdaniyet; muarızlarına bir kitab-ı ilzam ve iskâttır.“ 4 Rüstem Ülker/Wolf D. Aries, „Die Chronologie des Lebens von Said Nursi“, in: dies. (Hg.), III. Bonner Said Nursi Symposium: Gläubige Bürger in der pluralen Gesellschaft – Muslime im Dialog, Berlin 2006, S. 14–24, hier S. 18.

Said Nursi zwischen dem, der er ist, und dem, zu dem er gemacht wird

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Türkei bedeutete dies, dass Koran und Islam nicht mit Wissenschaft und Zivilisation vereinbar seien.5 Diesem widersprach Nursi heftig. Daher versuchte Bediüzzaman zu zeigen und zu beweisen, dass diese Anschuldigungen falsch waren, und dass der Koran weit davon entfernt war, mit der Wissenschaft und dem Fortschritt unvereinbar zu sein, sondern sogar die Quelle wahren Fortschritts und Zivilisation darstellte, und dass der Islam in Zukunft beherrschend sein würde, trotz seines verhältnismäßigen Niedergangs und Rückschritts zu jener Zeit.6

Sein unermüdlicher Wissensdurst, das daraus resultierende Wissen auf verschiedenen Gebieten und schließlich die Verbindung unterschiedlichster Wissenschaften, deren Grenzen untereinander Nursi quasi aufweichte und die er in Einklang miteinander brachte, unterstreichen nach Erachten der Autoren deutlich, dass man ihn in seiner Interdisziplinarität als Allround-Gelehrten betrachten darf.

2

Die Mystifizierung Said Nursis

Zur zweiten Frage und somit dem Umgang mit einer das historische Original verändernden Volksfrömmigkeit. Dass die Biografien des historischen Said Nursi, ebenso wie die anderer bedeutender geschichtlicher Persönlichkeiten, von Legenden und Mythen umrahmt wurden, steht außer Frage und ist auch seinen eigenen Schülern bekannt.7 Beispielsweise heißt es über ihn: „Laut Said Nursi ist ihm Risale-i Nur von Gott herabgesandt worden.“8 Folglich stoßen wir auf Diskussionsforen,9 in denen die Frage gestellt wird, ob Said Nursi ein „Heiliger“ sei, ob er das Verborgene, mit anderen Worten, die Zukunft gekannt habe, bis hin zu der Frage, ob er ein Prophet sei. Hier gilt es, aufmerksam zu sein und Mythologie und Historie voneinander zu trennen – eine Notwendigkeit, die die Wissenschaft fordert, denn mit der Aufgabe, Mythologie und Historie voneinander zu trennen, wird der Mann/die Frau auf der Straße überfordert sein. Durch Volksfrömmigkeit entstandene Ungereimtheiten gilt es wissenschaftlich zu korrigieren. Biografien schlicht mit dem Hinweis „nicht authentisch“ zu eliminieren und in den Papierkorb zu werfen, 5 Vgl. ebd., S. 19. 6 Vgl. ebd. 7 Siehe z. B. Bediüzzaman Said-i Nursi, „Atılan ˙Iftiralar Ve Cevapları“ („Verleumdungen gegen Bediüzzaman Said Nursi und Antworten darauf“), URL: http://www.frmtr.com/turkiyeyesahip-cik/4264601-bediuzzaman-said-i-nursi-atilan-iftiralar-ve-cevaplari-2.html (letzter Zugriff: 17. 01. 2012). 8 URL: http://islamanalyse.wordpress.com/said-nursi/ (letzter Zugriff: 21. 09. 2011). 9 Vgl. beispielsweise URL: http://www.kuranformu.com/forum/index.php?topic=281.0 (letzter Zugriff: 17. 01. 2012).

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beseitigt vielleicht historisch unkorrekte Texte, aber nicht die Probleme, die durch die Verbreitung dieser Texte entstanden sind. Zu fragen wäre hier: Welche Probleme erwachsen aus diesem mythologisierten Bild Said Nursis? Diesbezüglich geht es einerseits um die Glaubwürdigkeit auf wissenschaftlicher Ebene. Viele Texte Nursis stellen eine gute Basis für weitere Forschungen und Überlegungen dar, beispielsweise in Bezug auf die Verbindung und den Zusammenhang von Glauben und Wissenschaft. Doch kann ein Wissenschaftler noch unbefangen mit Texten arbeiten, deren Verfasser er als Heiligen betrachtet? Wird es ihm noch gelingen, mit Mehrdeutigkeiten, veralteten Sichtweisen, kritikwürdigen Aspekten angemessen umzugehen? Wahrscheinlich nicht. Wissenschaftliche Analyse bedarf einer gesunden Distanz. Andererseits ist es sicherlich gleichermaßen schwierig, einen Menschen klar zu sehen, dessen Bild in der Literatur mystifizierend verklärt wird.

2.1

Vorbilder

Bereits Kinder lernen am Vorbild, ahmen das, was sie sehen, hören, erleben anfangs unreflektiert und mit zunehmendem Alter selektiv nach. Jugendliche integrieren Vorgelebtes, das ihnen entspricht, immer weniger an den Eltern orientiert; andere Personen(-gruppen) werden die Vorbildlieferanten für Sprache, Verhaltensweisen und Denkmuster etc. Sigmund Freud bezeichnete die Funktion von Vorbildern als einen psychodynamischen Prozess, als Identifizierung mit einem Vorbild mit dem Ziel der Angleichung des eigenen Ich an das zum Vorbild genommenen Ich.10 Freud zufolge kann ein kleines Kind durch die Identifizierung mit den Bezugspersonen innerpsychische Konflikte lösen, z. B. die Angst vor dem Alleinsein, indem es sich ein inneres Bild der Bezugsperson schafft und dann die Verhaltensweisen der Bezugsperson übernimmt;11 während in der Pubertät mit wachsender Selbstaufmerksamkeit und kritischer Urteilsfähigkeit sowie mehr Erfahrungen und Einsichten in andere soziale Kontexte die Eltern realistischer wahrgenommen werden. Nun wählt der Jugendliche seine Vorbilder oder ideale Ähnlichkeiten, Einstellungen, Zielen o.Ä. entsprechend selbst.12

10 Vgl. Sigmund Freud, „Die Identifizierung“, in: ders., Massenpsychologie und Ich-Analyse, Frankfurt a. M. 1967, S. 66–77. 11 Vgl. ebd., S. 76; Sigmund Freud, „Das Ich und das Über-Ich (Ichideal)“, in: ders., Das Ich und das Es, Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Leipzig 1923, S. 17–23. 12 Vgl. ebd.

Said Nursi zwischen dem, der er ist, und dem, zu dem er gemacht wird

2.2

177

Role model und reference individual

Einen etwas anderen Blick auf Vorbildfunktionen entwickelte in den 1950er Jahren der amerikanische Soziologe Robert K. Merton, als er die Motivation von Medizinstudenten an der Columbia University studierte. Er prägte den Begriff role model, der in der Soziologie seither Verwendung findet und unter dem Vorbilder verstanden werden, die als Muster für spezifische Rollen Nachahmung finden, in Abgrenzung von reference individuals, die als Vorbild für die generelle Lebensweise dienen.13 Anders als bei Freud besteht hier nicht das Ziel darin, das eigene Ich an das gesamte Ich des Anderen anzugleichen, vielmehr geht es um einzelne Aspekte, Rollen. Schon hier wäre in Bezug auf die Vorbildfunktion Nursis zu klären, ob dieser als role model oder reference individual dient. Beim eingangs erwähnten Zuhörer, der Said Nursi in seiner Reihe bewundernswerter Menschen direkt hinter den Propheten setzt, wird deutlich, dass der ganze Mensch bewundert und ihm nachgeeifert wird. Gern würden die Autoren in die Situation zurückgehen und eine kritische Frage zu Nursi stellen, um so auszumachen, ob Said Nursi hier lediglich eine besondere Vorbildfunktion innehat oder sich bereits auf dem Weg zum Personenkult befindet und ob sich die Bewunderung auf den historischen oder den legendären Nursi bezieht.

2.3

Idealisierung

„Im Vorgang der Idealisierung wird ein Objekt, soll heißen ein Mensch, eine Idee oder eine Sache, vergrößert und psychisch erhöht, ohne daß eine Änderung seiner tatsächlichen Natur stattgefunden hat.“14 Im Jugendalter geht der Umgang mit Vorbildern stark mit Idealisierung einher, die zum Vorbild genommenen Personen werden im Ganzen vergöttert, nichts, was sie tun, kann falsch sein, allein eine kritische Hinterfragung kommt überhaupt nicht infrage. Als Erwachsener sollte man vor dieser kritiklosen Hingabe, die für den Jugendlichen auf dem Weg zu sich selbst durchaus sinnvoll ist, gefeit sein. Mitscherlich schreibt hierzu: Idealisierung kann […] oft als Rückzug von Beziehungen zu Menschen der Wirklichkeit und als Ausdruck einer narzißstischen Entwicklung angesehen werden, sie kann aber auch als notwendiges Stimulans dienen, um neue mitmenschliche Beziehungen ein-

13 Vgl. Robert K. Merton, Soziologische Theorie und soziale Struktur, Berlin 1995, S. 217–268. 14 Margarete Mitscherlich, Das Ende der Vorbilder. Vom Nutzen und Nachteil der Idealisierung, München 1980, S. 14.

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zugehen, sich für eine gerechte Sache einzusetzen und Gefühle für das Elend anderer zu entwickeln.15

Folglich besteht die Schwierigkeit nicht in der Idealisierung an sich, sondern in ihren Auswirkungen; bewirkt sie Rückzug aus der Wirklichkeit, ist es erforderlich, ihr kritisch gegenüberzustehen. Doch auch allgemein sollte man Idealisierung im Erwachsenenalter hinterfragen. „Wenn ein Erwachsener an der Neigung zu idealisieren festhält, wird das vom Psychoanalytiker als Fixierung an infantile Bedürfnisse oder als Abwehrverhalten gegen angsterregende oder das Selbstwertgefühl kränkende Impulse angesehen.“16 Dies könnte nun zu der Schlussfolgerung führen, dass Vorbilder und Ideale ins Kinder- und Jugendalter gehören, sie Erwachsenen eher schaden und Erwachsene mit einem Hang zur Idealisierung unreif seien. Das kann natürlich nicht der Fall sein, wenn – wie oben benannt – auch viel Gutes aus der Ausrichtung an Vorbildern erwächst. „Es ist klar, wir alle brauchen Ideale, Vorbilder, Ziele, an denen wir uns orientieren, nach deren Verwirklichung wir streben können. Ohne sie sind wir einem Gefühl der Leere ausgesetzt, und das lebendige Interesse an den Dingen der Welt und an unseren Mitmenschen geht verloren.“17 So gilt es mit dem Vorbild und Ideal Said Nursis umzugehen, es zu hinterfragen, ob es mit Isolation oder lebendigem Interesse an den Dingen der Welt und den Mitmenschen einhergeht. Diese Frage wird sich jeder selbst stellen und beantworten müssen, der ihn als Vorbild für das eigene Ich gewählt hat. Als Orientierung im Leben bietet Nursi, der sich für seinen Glauben in intensivem Maße ein- und mit ihm auseinandergesetzt hat, sicherlich nachahmungswürdige Vorgaben.

3

Schlussgedanken

Um den historischen Said Nursi von dem legendären Said Nursi unterscheiden zu können, ist die Wissenschaft gefordert, sich mit viel Präzision zunächst mit seinen Methoden und seinen Werken zu befassen und diese dann mit den Aussagen jener zu vergleichen, die ihn als einen die Grenzen der humanen Natur übersteigenden Menschen glorifizieren. Nicht mit Verboten, sondern durch rational-wissenschaftliche Aufklärung der Menschen kann Missbrauch und Instrumentalisierung der Religion verhindert werden. Bediuzzamans ganzheitliche Betrachtungen unter Einbeziehung von Verstand, Herz und Emotionen folgen der koranischen Art der Darlegung der Glaubenswahrheiten. Sein ganzheitliches 15 Ebd., S. 23. 16 Ebd., S. 13. 17 Ebd., S. 14.

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Denken vereint Geistes- und Naturwissenschaften. Sein Vorgehen beruht auf Reform, Aufklärung und Richtigstellung. Auf Hass, Feindseligkeiten, Streit und Zerstörung beruhende bzw. an diesen Dimensionen orientierte Auseinandersetzungen hat er nicht geduldet. Begriffe wie „zerstören“, „vernichten“, „verbieten“ kommen in seinem Wortschatz der Auseinandersetzung nicht vor. Zu schätzen ist jene Volksfrömmigkeit, die sich durch Einfachheit und Reinheit auszeichnet, Vorbildhaftes liebevoll integriert – zum Wohle aller. Wissenschaftler sollten jedoch das Ansehen der Gelehrten mittels sachgemäßer Auseinandersetzung vor Mythen und Legenden schützen, die aus Menschen gleichsam gottähnliche Wesen machen, sie Propheten gleichstellen oder sogar über diese erheben. Es ist daher die Aufgabe der Wissenschaft, das Sachgemäße vom Unsachgemäßen zu trennen, oder mit anderen Worten: Historie und Mythos zu entwirren, um die Person, um die es hier geht, zu schützen. Said Nursi selbst schreibt: „Ich bin gegen jede Art von Unterdrückung. Wo ich sie sehe, erhält sie von mir einen Schlag. Für mich ist die schlimmste Unterdrückung die Unterdrückung der Wissenschaft. Ich kann ohne Brot leben, aber nicht ohne Freiheit. Nur in Freiheit kann alles gedeihen.“18

Literatur Alco, Kemal, „Bediüzzaman Said Nursi und sein Werk Risale-i Nur“, URL: http://islam analyse.wordpress.com/said-nursi/ (letzter Zugriff: 21. 09. 2011). Bediüzzaman Said-i Nursi, „Atılan ˙Iftiralar Ve Cevapları“ („Verleumdungen gegen Bediüzzaman Said Nursi und Antworten darauf“), URL: http://www.frmtr.com/turkiyeyesahip-cik/4264601-bediuzzaman-said-i-nursi-atilan-iftiralar-ve-cevaplari-2.html (letzter Zugriff: 17. 01. 2012). „Das Leben von Bediüzzaman“, URL: http://saidnursi-institut.org/ (letzter Zugriff: 21. 09. 2011). Freud, Sigmund, „Die Identifizierung“, in: ders., Massenpsychologie und Ich-Analyse, Frankfurt a. M. 1967, S. 66–77. Ders., „Das Ich und das Über-Ich (Ichideal)“, in: ders., Das Ich und das Es, Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Leipzig 1923, S. 17–23. Koranforum, URL: http://www.kuranformu.com/forum/index.php?topic=281.0 (letzter Zugriff: 17. 01. 2012). Merton, Robert K., Soziologische Theorie und soziale Struktur, Berlin 1995, S. 217–268. Mitscherlich, Margarete, Das Ende der Vorbilder. Vom Nutzen und Nachteil der Idealisierung, München 21980. Nursi, Said, Emirdag˘ Lahikası I, Bd. II, Istanbul 2004. Ders., Tarıhçe-i Hayatı, Envar Nes¸riyat, Istanbul 1987. 18 Vgl. URL: http://www.said-nursi.de/ueberbli.htm (letzter Zugriff: 15. 07. 2011).

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Ali Özgür Özdil / Bettina Kruse-Schröder

Nursi, Abdurrahman, Bediüzzaman’ın Hayatı, Istanbul 1993. „Said Nursi – Impulse und Ideen – Erster Überblick“, URL: http://www.said-nursi.de/ ueberbli.htm (letzter Zugriff: 15. 07. 2011). Ülker, Rüstem/Aries, Wolf D., „Die Chronologie des Lebens von Said Nursi“, in: dies. (Hg.), III. Bonner Said Nursi Symposium: Gläubige Bürger in der pluralen Gesellschaft – Muslime im Dialog, Berlin 2006, S. 14–24.

Bülent Ucar

Islamische Bildung und Erziehung in den Werken von Said Nursi

1.

Einführung

Said Nursi setzte sich intensiv mit der Vermittlung von Wissen auseinander, seine Einsichten zu objektivem und subjektivem Wissen – stets verbunden mit Glaube und Gott – können als wegweisend für den modernen Wissenschaftler betrachtet werden, der seine Sichtweise, seine Wahrheit vielleicht für die einzig richtige und die Errungenschaften seines Verstandes für exzeptionell halten mag. Dass Wahrheit jedoch unterschiedlich wahrgenommen und weitergegeben werden kann und eine große Demut darin liegt, anzuerkennen, dass der Verstand eines Einzelnen niemals ausreichen wird, um die großen Wahr- und Weisheiten – besonders die des Glaubens – völlig zu erfassen, bietet die Grundlage zu einer Pädagogik, der Selbstüberschätzung und Allwissen fernliegen, die menschlich und individuell bleibt. Zur Annäherung an das Thema „Islamische Bildung und Erziehung in den Werken von Said Nursi“1 erscheint es dem Autor zunächst notwendig, eine allgemeine inhaltliche Präzisierung der Termini Bildung und Erziehung vorzunehmen, um diese dann aus islamischer Perspektive zu betrachten. Anschließend folgt eine Erläuterung der pädagogischen Sichtweise Nursis.

1 Siehe zur Auseinandersetzung mit Nursis Ansichten zur religiösen Bildung und Erziehung Halit Ertug˘rul, Eg˘itimde Bediüzzaman Modeli, Nesil Yayınları, Istanbul 2007; Adem Tatlı, „Bediüzzamanın Eg˘itim Modeli“, in: Mehmet Paksu, ˙Islam Düs¸üncesinin 20. Asırda Yeniden Yapılanması ve Bediüzzaman Said Nursi – Milletlerarası Sempozyum, Yeni Asya Yayınları, I˙stanbul 1992, S. 108–124. S¸ener Dilek, „Risale-i Nurun Metod ve Gayesi“, in: ebd., S. 126–155; Muhammed Rüs¸di Ubeyd, „Risale-i Nurda Eg˘itim Metodları“, in: ebd., S. 286–295.

182

2.

Bülent Ucar

Definition von Bildung und Erziehung

Bildung gilt in religionspädagogischer Sicht heute gegenüber dem Lernen, der Erziehung oder Sozialisation als derjenige Zentralbegriff, mit dessen Hilfe sich die religiösen Implikationen des Prozesses menschlicher Subjektwerdung am besten zum Ausdruck bringen lassen.2 Bereits hier deutet sich an, dass sich sowohl der Prozess als auch das Ziel für die verschiedenen Individuen nicht gleichförmig und einheitlich gestalten, sondern angesichts der Vielfalt und Menge der Wissens- und Bildungsfelder jeweils unterschiedliche Schwerpunkte und Ausrichtungen gesetzt werden müssen. Diese Mannigfaltigkeit spiegelt sich auch in den vielen Bildungstheorien wider, deren Kern sich folgendermaßen zusammenfassen lässt: Es wird ein reflektiertes Verhältnis zu sich, zu anderen und zur Welt angestrebt; schon nach platonischem Verständnis meint Bildung die Umkehr von „einer alltäglich-zufälligen zu einer philosophisch begründeten Weltsicht“.3 In der Moderne wird der Bildungsbegriff dynamisch und ganzheitlich verstanden und umfasst einen lebensbegleitenden Entwicklungsprozess des Menschen. Dieser dient der Erweiterung und Vertiefung seiner geistigen, kulturellen und lebenspraktischen Fähigkeiten und der Förderung seiner personalen und sozialen Kompetenzen. Jedoch unterliegt die Verwirklichung eines Bildungsideals auch immer Grenzen, da es keinen vollkommenen Menschen geben kann und der Mensch seinen individuellen Anlagen sowie zeitlichen, räumlichen und sozialen Bedingungen unterliegt. Erziehung unterscheidet sich insofern von Bildung als sie ausschließlich im sozialen Kontext, im Umgang mit anderen Individuen stattfinden kann und somit – anders als Bildung – ausschließlich der Orientierung im sozialen Umfeld dient. Bei der Erziehung geht es um die zielgerichtete und absichtsvolle Etablierung erwünschter Verhaltensweisen, die Vermittlung von Werten und Normen an Kinder und Jugendliche. Darüber hinaus liegt das Ziel von Erziehung jedoch nicht nur in der positiven Sozialisation, der Eingliederung des Zöglings in soziale Gruppen (wie z. B. in die Familie) und in der Heranführung an das Leben bzw. der Ausrüstung mit dem notwendigen „Marschgepäck“ für das Überleben innerhalb der Gesellschaft. Ein weiterer wichtiger Bestandteil erzieherischer Tätigkeit sollte auch die Erziehung zur Mündigkeit und zur Selbstbestimmung sein.

2 Vgl. Rudolf Englert, Artikel „Bildung. IV Religionspäd.“, in: Walter Kasper u. a. (Hg.), Lexikon für Theologie und Kirche, Freiburg i. Br. 1993, S. 454. 3 Ursula Frost, „Bildung. I. Begriffs. u. Geistesgeschichte“, in: Walter Kasper u. a. (Hg.), Lexikon für Theologie und Kirche, S. 451.

Islamische Bildung und Erziehung in den Werken von Said Nursi

183

Eine klare und eindeutige Abgrenzung zwischen Bildung und Erziehung scheint nicht immer möglich und sinnvoll zu sein, da Bildungsinhalte oftmals in den gesellschaftlichen Kontext rücken, sodass sie zunächst wiederum Teil der Erziehung werden; zu nennen wäre hier beispielsweise das Händewaschen nach dem Toilettengang. In vielen Sprachen gibt es folglich auch nur ein Wort für beide Begriffe, wie das englische Wort education exemplarisch zeigt.

3.

Islamische Bildung und Erziehung

Die Frage nach der religiösen Bildung und Erziehung im Allgemeinen, die im Konkreten im Zusammenhang mit der Religion reflektiert werden und natürlich auch die religiöse Bildung und Erziehung der Kinder und Jugendlichen im Spezifischen fokussieren muss, scheint sich theoretisch aus gleichen (meta)kontextuellen Bedingungen zu konstituieren, macht jedoch die separate Betrachtung von pädagogischen Kontexten einerseits und theologischen andererseits notwendig.4 Im Folgenden sollen die Kerngedanken hierzu zunächst aus den islamischen Primärquellen in gebührender Kürze zusammengetragen werden, um im Anschluss daran die Haltungen von Said Nursi damit zu vergleichen. Kinder gelten nach dem Koran als eine Prüfung (fitna),5 und dennoch ist der Nachwuchs im koranischen Text positiv besetzt und der Mensch hat sich für dieses Geschenk bei Gott zu bedanken.6 Gerade deshalb wird am Beispiel von Luqma¯n (ʿalayhi s-sala¯m) dargelegt, dass Kinder und Heranwachsende auf eine ihren Bedürfnissen angemessene und freundliche Weise angesprochen werden sollten.7 Nach dem Islam gelten Kinder vor der Pubertät in religiösen Angelegenheiten als unmündig und unterliegen somit nicht dem Normengefüge des Islam. Der Prophet hat häufig betont, dass Kinder für ihr Tun und Unterlassen nicht verantwortlich seien.8 Gleichzeitig sei darauf zu achten, dass bei der Vermittlung der Religion ein erleichternder Weg einzuschlagen ist: „Lehret! Und erleichtert, erschwert nicht!“9 Ibn Hazm (gest. 1064) betont im allgemeinen ˙ Umgang die Freiwilligkeit und den Empfehlungscharakter eines Ratschlags; alles andere sei inakzeptabel, da schließlich auch der Empfehlende selbst irren könne.10 In diesem Kontext wird immer wieder auch auf die göttliche Nachsicht, 4 Vgl. Rauf Ceylan, Islamische Religionspädagogik in Moscheen und Schulen, Hamburg 2008, S. 37ff. 5 Vgl. Koran 8/28. 6 Vgl. Koran 14/39; 7/15. 7 Vgl. Koran 31/13–19. 8 Vgl. Ibn Hanbal, al-Musnad, Ägypten 1313, 6 Bde., Bd. 1, S. 116. ˙ vgl. auch Ibn Hazm, al-Ahla¯q wa s-siyar fi muda¯wa¯t an-nufu¯s, Beirut 1961, S. 62. 9 Ebd., S. 239; ˙ fı¯˘muda¯wa¯t an-nufu¯s, Beirut 1961, S. 48. 10 Vgl. Ibn Hazm, al-Ahla¯q wa-s-siyar ˙ ˘

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Bülent Ucar

Geduld, Liebe und Barmherzigkeit hingewiesen. Selbst Ibn Taymiyya (gest. 1328) betont, dass alles von der göttlichen Liebe (mahabbat Alla¯h) herrühre und hierin ˙ seinen Grund habe. Ja, jede Bewegung auf der Welt gehe hierauf zurück.11

3.1

Handlungs- und werteorientiertes Bildungs- und Erziehungssystem

„Die Handlungen [bemessen sich] nur nach den Intentionen, und jedem kommt nur das zu, was seiner Intention entspricht“12, heißt es in einem bekannten ha¯dı¯t. ˙ ¯ Der Glaube und die Absicht sind letztlich Ausgangspunkt und Basis für weitere praxisbezogene Normen, die von dieser Grundlage abgeleitet werden. Noch anschaulicher wird dieser Aspekt der Aufrichtigkeit in dem berühmten Gabrielˇ ibrı¯l-) ha¯dı¯t zum Ausdruck gebracht. Als Gabriel den Propheten nach dem (G ˙ ¯ „rechten Tun“ (ihsa¯n) fragte, antwortete dieser: „Ihsa¯n bedeutet, dass du Gott ˙ ˙ dienst, als ob du ihn sehen könntest, denn obwohl du ihn nicht sehen kannst, 13 sieht er dich.“ Das islamische a¯da¯b bzw. ahla¯q (Verhaltensweise und Ethik) wird ˘ vom Propheten mehrfach als Ziel seiner Botschaft verkündet: „Ich wurde zur Vervollständigung der guten Moral geschickt.“14 Auch in seinen persönlichen Gebeten hat er sich in diese Richtung geäußert: „Mein Gott, so wie du meine Erschaffung wohl gestaltet hast, so mache auch meine Moral schön.“15 Neben der genannten Selbstdarstellung des Propheten werden auch im Koran die hervorragende Eigenschaft des Propheten bezüglich seiner Auserwählung und seine besondere Beispiel- und Vorbildfunktion im Zusammenhang mit der Moral angeführt: „[…], weil du über eine hervorragende Moral verfügst“.16 Diese religiösen Textstellen sind vor dem Hintergrund einer auf Nachahmung basierenden Wahrnehmung und Praxis der Religion im Alltag vieler religiöser Muslime, wonach zwar großen Wert auf die Einhaltung der täglichen Gebete gelegt wird, die damit verbundenen moralischen Eigenschaften jedoch ausgeblendet werden, bemerkenswert.17 Jede religiöse Bildung und Erziehung muss diese Kernbotschaft des Islam in den Blick nehmen und bei der Entwicklung von entsprechenden didaktischen Konzepten beachten. Dass Wissen und Kenntnisse allein einen Menschen nicht gebildet und erst recht nicht zu einer gut erzogenen und gläubigen Person machen, ist nicht nur 11 Vgl. Ibn Taymiya, at-Tuhfa al-ʿira¯qiyya, ed. v. Dr. Yahya¯ b. Muhammad b. ʿAbdalla¯h al˙ ˙ ˙ Hunaydı¯, Riad o. J., S. 373. ˙ ¯ 12 Al-Buha¯rı¯, Ima¯n, 54. ˘ 13 Ibn Hanbal, al-Musnad, Bd. 1, S. 51f.; al-Buha¯rı¯, ¯Ima¯n, 50. ˘ taʾ; Ibn Hanbal, al-Musnad, Bd. 2, S. 381. 14 Ma¯lik˙ b. Anas, „Husn al-huluq 8“, in: ders., al-Muwat ˙ ˙ ˙˙ auch Koran ˘Bd. 1, Kairo 1313, S. 403; vgl. 15 Ibn Hanbal, al-Musnad, 17/70 und 95/4. ˙ 68/4. 16 Koran 17 Siehe nur Sure 107.

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eine Erkenntnis der islamischen Primärquellen und Gelehrtenkultur, sondern auch in der modernen Pädagogik Konsens. Anderenfalls wäre kein Gelehrter gebildeter als Imam Google oder eine beliebig andere Person, der umfangreiches Wissen in seinem Gedächnis durch das Memorieren abgelegt hat, aber es nicht zu verwenden weiß, und niemand so gläubig, wie die Autoren der mehrbändigen und umfangreichen Encyclopaedia of Islam, die fast ausschließlich von NichtMuslimen verfasst wurde. Ebenso gehören Urteilsvermögen und kritische Distanz gegenüber dem Informationsangebot zu den elementaren Prämissen von Bildung, genauso wie die Hingabe, das Sich-Einlassen und ein selbstverständliches Ur-Vertrauen zu den Voraussetzungen von ¯ıma¯n. Informationen und Kenntnisse und im Grunde jede Art von Bildung, Erziehung und Werten haben nach dem islamischen Glaubensverständnis ihre Basis und Ableitung im absoluten Sein und im Schöpfer, dem einen Gott. Gott ist mithin als Ausgangspunkt des ontologischen Gesamtgeschehens der Dreh- und Angelpunkt von Existenz und Wissen. Der Koran zeigt am Beispiel von Adam, als dem Ur-Menschen, exemplarisch, dass alles Sein und Wissen von Gott kommt und letztlich auf ihn zurückgeht. Der Mensch hat sein Wissen und die Fähigkeit, weiteres Wissen über Gott, die Welt und sich selbst zu erlangen, von Gott erhalten und steht somit in Beziehung zu Ihm. Jede Art von Wissen bezieht sich damit immer auf Gott und hat nur eine normative positive Bedeutung, wenn sie zu Ihm in Verbindung steht. „Und sag: ‚Mein Herr, mehre mein Wissen.‘“18 In solchen und anderen Textstellen im Koran bezieht sich das Wort ʿilm nicht auf allgemeines Wissen über die Welt, Religion und den Menschen, sondern ist immer bezogen auf Gott und ist Wissen über Gott, es bekommt weiterhin erst durch das Verhältnis des Seins und seines Seins zu Gott einen Wert. Darüber hinaus besteht zwischen dem Wissen und Handeln eine unmittelbare Wechselwirkung, die ebenfalls elementar ist. „Wahrlich, am ehesten haben vor Gott von Seinen Dienern die Wissenden Ehrfurcht. Wahrlich, Gott ist erhaben und verzeihend.“19 Jene, die also zwar wissen, aber nicht entsprechend handeln, etwa morden, vergewaltigen und ohne Scheu lügen, haben entweder ein einfaches Faktenwissen und nicht das glaubensbezogene Wissen über Gott erlangt, oder ihr Anspruch auf ¯ıma¯n wird durch die eigenen Taten infrage gestellt. Ausgesprochener ¯ıma¯n aus dem Munde eines Menschen ist ein Bekenntnis, eine These und Aussage, die eines Nachweises bedarf. Jede Behauptung gilt als widerlegt, die nicht belegt bzw. begründet ist. Das Glaubwürdigkeitsproblem wird anderenfalls evident auftreten und die Überzeugungskraft entsprechend schwinden. „Ist etwa jener, der zu Allah in den Nachtstunden – sich 18 Koran 20/114. 19 Koran 35/28.

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niederwerfend und stehend – betet, der sich vor dem Jenseits fürchtet und auf die Barmherzigkeit seines Herrn hofft, … [einem Ungehorsamen gleich?] Sprich: ‚Sind solche, die wissen, denen gleich, die nicht wissen? Allein nur diejenigen lassen sich warnen, die verständig sind.‘“20 Das Lehren und Predigen, ohne dieses selbst verinnerlicht und praktiziert zu haben, ist im Islam verpönt.21 Andererseits wird in zahlreichen Prophetenaussprüchen der Gelehrte über den Betenden gestellt: „Der Wissende (ʿa¯lim) ist gegenüber dem Betenden (ʿa¯bid) so hochgestellt, wie der Mond gegenüber den Sternen. Die Wissenden sind die Erben der Propheten. Sie haben kein Geld hinterlassen, nur das Wissen (ʿilm) […].“22 Zugleich ist der gelehrte Muslim dem oben dargestellten Ideal entsprechend nicht nur ein Intellektueller, sondern immer auch ein vertrauenswürdiger, praktizierender und moralisch einwandfreier Mensch. In einem Hadith heißt es: „Neid ist nur bei zwei Personen gestattet: […] [D]er andere ist jener, dem Gott Weisheit (hikma) gibt und der diese selbst ˙ praktiziert und sie auch anderen Menschen lehrt.“23 Als der Prophet etwa von einer Gruppe aus dem Jemen nach einem Lehrer gefragt wurde, empfahl er ihnen Abu¯ ʿUbayda und sagte, dass dieser der amı¯n (die zuverlässig(st)e und vertrauenswürdig(st)e Person) dieser Gemeinde sei,24 und dokumentierte damit, wie wichtig das Vertrauensverhältnis im Zusammenhang mit der islamischen Lehre ist. Ein ebenso großer Wert wird auf die Tradierung von religiösem Wissen gelegt und die Bedeutung der Gelehrtenkultur hervorgehoben: „Gott nimmt das Wissen von den Menschen nicht einfach weg, sondern mindert die Zahl der Gelehrten, sodass kein Gelehrter mehr besteht und die Menschen Unwissende zu ihren Köpfen machen. Und diese geben auf Anfragen fata¯wa¯ ohne Wissen zu haben. Sie irren und lassen irren.“25 Zahlreiche Koranverse und Hadithe heben die Rolle der Vernunft hervor und machen deutlich, dass ohne den richtigen Einsatz dieses menschlichen Ermessensorgans (ʿaql und qalb) eine Einsicht in religiöse Fragen gar nicht möglich ist.26 Die Diskussion darüber, dassʿaql hier sicherlich nicht im kantschen Sinne 20 Koran 39/9. 21 „Wollt ihr den Menschen Aufrichtigkeit gebieten und euch selbst vergessen, wo ihr doch das Buch lest! Habt ihr denn keinen Verstand?“ (2/44); „Und helft euch durch Geduld und Gebet; dies ist wahrlich schwer, außer für Demütige, [2/45] welche es ahnen, daß sie ihrem Herrn begegnen und daß sie zu Ihm heimkehren werden“; siehe auch Koran 62/5. 22 Ibn Hanbal, al-Musnad, Ägypten 1313, 6 Bde., Bd. 5, S. 196. 23 Ebd.,˙ Bd. 1, S. 385. 24 Ebd., Bd. 3, S. 146. 25 Ebd., Bd. 2, S. 162. 26 Vgl. Koran 42/52; 6/74–79; siehe auch Ali Bulaҫ, ˙Islam düs¸üncesinde din-felsefe, vahiy-akıl ilis¸kisi, I˙z yay, I˙stanbul 2000, S. 364f., 376ff.; Fazlur Rahman, Islamic Methology in History, Karachi 1965, S. 151–157; Navid Kermani, „Appelliert Gott an den Verstand? Eine Randbemerkung zum koranischen Begriffʿaql und seiner Paret’schen Übersetzung“, in: L. Edzard/C.

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verstanden werden kann, erübrigt sich an dieser Stelle. Auf die Ein- und Weitsicht eines Muslims wird in diversen Hadithen hingewiesen. Damit wird ein positives Grundverhältnis zur Urteilsfähigkeit eines glaubenden Menschen dokumentiert: „Hütet euch vor der Einsicht (fira¯sa) eines Glaubenden, denn er schaut mit dem Licht Gottes.“27

4.

Pädagogische Sichtweisen von Said Nursi

4.1

Liebe als Urquelle pädagogischer Handlungen

Jede pädagogische Handlung hat nach Nursi ihren Ursprung in der Liebe, weil der Mensch selbst das Ergebnis von Liebe und Barmherzigkeit sei. Liebe sei der Ausgangspunkt jeder Handlung im Universum. „Deswegen sagten die erhabenen und maßgeblichen Heiligen, welche den Gottesnamen ‚Der Liebende al-Wadu¯d‘ manifestierten: Liebe ist der eigentliche Sauerteig des Universums. Durch die Liebe sind alle Wesen in Bewegung.“28 Ohne Liebe sei kein pädagogisches Handeln möglich, da in dieser Liebe und Barmherzigkeit die Offenbarung ihren Grund habe. Denn hierdurch werde die pädagogische Aufwertung des Menschen beabsichtigt. Nursi selbst verwendet in seinen Werken Risale-i Nur, welche er als eine Auslegung des Korans versteht, dieselbe Methode, didaktische Grundkonzeption und Zielsetzung, die er auch an verschiedenen Stellen seines Lebenswerks weiter empfiehlt. Hierbei ist ihm wichtig, dass bei der Vermittlung von Kenntnissen, Werten und auch bei der Reflexion die Didaktik des Korans verwendet werden muss. Denn der Koran sei als Werk und Ansprache des Schöpfers der größte Lehrer.

Scyska (eds.), Encounters of Words and Texts – Intellectual Studies in Honor of Stefan Wild on the Occasion of his 60th Birthday, March 2, 1997, Hildesheim 1997, S. 56–68. 27 Al-Buha¯rı¯, at-Taʾrı¯h al-kabı¯r, Bd. 7, o.O., o. J., S. 354; at-Tirmid¯ı, Sunan at-Tirmid¯ı, Bd. 5, ¯ ¯ ˘ abara¯nı¯, Muʿgˇam al-awsat, Bd. 3, Kairo 1415, Beirut˘o. J., S. 298; at-T S. 312; ders., Muʿgˇam alkabı¯r, Bd. 8, al-Mawsil˙ 1404, S. 102; al-Muna¯wı¯, ˙Fayd al-qadı¯r, Bd. 1, Beirut 1996, S. 185; Abu ˙ Hanı¯fa, Musnad, ed.˙Safwat as-Saqqa¯, Misr 1337, S. 225f., Nr. 504. Siehe zum Ganzen auch B. ˙ ˙ Islamic Religious˙Education“, in: Hikma, Jg. 1, H. 1, Freiburg i. Br., Ucar, „Principles of an Oktober 2010, S. 71–81. 28 Said Nursi, Die Worte. Über die Natur des Menschen, seinen Zweck und die Dinge insgesamt, aus dem Gesamtwerk Risale-i Nur) übers. v. Team, Sözler Publication, Köln/Istanbul 2002, S. 801; ders., Sözler. Risale-i Nur Külliyatından, Yeni Asya Nes¸r, I˙stanbul 2001, S. 570.

188 4.2

Bülent Ucar

Wissen als ¯ıma¯n

Said Nursi geht es in seinem Wirken weder um Kenntnisse noch um Weisheit, sondern allein das Bekenntnis zu Gott ist für ihn in der Zielsetzung entscheidend. „Das Wissen wurde zur Illusion, ich sah in der Weisheit tausend Gebrechen.“29 Für Nursi besteht die Grundlage aus dem Ausgangspunkt und dem Ziel von Wissen sowie aus jeder Art von religiöser Bildung und Erziehung die Gottes(er)kenntnis und das Bekenntnis zu Ihm. „Dies bedeutet, dass der Mensch in diese Welt kam, um mittels Wissen und Bittgebet vervollkommnet zu werden. Hinsichtlich seiner Natur und seiner Fähigkeit ist alles an Wissen gebunden. Und Fundament, Quelle, Licht und Geist aller wahren Erkenntnisse ist das Wissen über Gott, und seine Essenz und Basis ist der Glaube an Gott.“30 „Willst du die Wirklichkeit und wahre Weisheit erkennen, so gewinne Wissen über den Allmächtigen Gott. Denn die wahre Wirklichkeit aller Dinge sind die Lichtstrahlen des Allmächtigen Gottes und die Erscheinungen Seiner Namen und Eigenschaften.“31 Schließlich fordert er in seinem Denken und Wirken in der Phase nach 1950 seine Anhänger konsequent dazu auf, Risale-i Nur-Medresen (mada¯ris) zu errichten, deren Hauptziel die Gotteserkenntnis und die Vermittlung des Gefühls der Gegenwart Gottes sein solle.32 Schließlich führe reines Faktenwissen zu Arroganz und Selbstüberschätzung. Man fange an, sich Gott gegenüber undankbar zu verhalten und sage sogar: „Dieses habe ich erhalten aufgrund meines Wissens33 (Koran al-Qasas 78)“. ˙ ˙ Besserwisserei und Selbstüberschätzung seien Folge dieser Akkumulation von einfachen, unbearbeiteten Kenntnissen über Religion; ein wahrer Gelehrter hingegen würde dieses Wissen auf das Niveau seiner Ansprechpartner hinunterbrechen, d. h. es ihnen angleichen. Nursi verwendet ein schönes Beispiel, um dies zu verdeutlichen. Ein wahrer Gelehrter würde seine Schützlinge füttern wie ein Schaf dies mit gereinigter Milch tut, und diese nicht, wie einem Adler ähnlich, mit rohem Fleisch konfrontieren.34 Nur wer Liebe, Kenntnisse und ¯ıma¯n als eine Einheit sehe, könne auch die Herzen der Menschen öffnen und sie entsprechend bewegen. Siebter Tropfen Erwäge nun, wie Muhammed in kurzer Zeit die bösen und wilden Sitten und Gebräuche der Araber aufhob, woran sie fanatisch festhielten. Diesen wilden, hartgesottenen 29 Nursi, Die Worte, S. 289; ders., Sözler, S. 199. 30 Nursi, Die Worte, S. 403; ders., Sözler, S. 286. 31 Nursi, Die Worte, S. 602; ders, Sözler, S. 436. Nursi geht es in seinem Wirken immer primär um den Schutz bzw. die Stärkung des ¯ıma¯n; vgl. Nursi, Die Worte, S. 631. 32 Vgl. Nursi, Die Worte, S. 210; ders., Sözler, S. 141. 33 Nursi, Die Worte, S. 296. 34 Vgl. Nursi, Die Worte, S. 646.

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Stämmen der Arabischen Halbinsel flößte er die edelsten Tugenden ein und machte sie zu Lehrern der gesamten Welt und zu Meistern der zivilisierten Nationen. Nun beachte, dass das keine äußerliche Herrschaft war; er besiegte und unterjochte ihre Gemüter, ihre Herzen und Seelen. Er wurde der Geliebte der Herzen, der Lehrer der Weisheit, der Erzieher der Seelen, der Herr der Menschengeister. Achter Tropfen Du weißt, dass eine Angewohnheit wie das Rauchen selbst von einem mächtigen Herrscher nur unter großer Anstrengung bleibend verhindert werden kann. Aber schau! Muhammed beseitigte in kurzer Zeit und mit wenig äußerer Anstrengung zahlreiche eingefleischte Angewohnheiten von unzugänglichen, fanatischen, großen Stämmen, und an deren Stelle setzte er erhabene Qualitäten, die so fest verankert wurden, als wären sie allen in Fleisch und Blut übergegangen. Er bewerkstelligte sehr viele solcher außergewöhnlicher Umwälzungen. So können wir die Arabische Halbinsel als eine Herausforderung für jene bezeichnen, die das Zeugnis der gesegneten Zeitepoche des Propheten nicht sehen wollen. Der Widerspenstige soll hundert Philosophen mitnehmen und sich mit ihnen zur Arabischen Halbinsel begeben, und er soll dort hundert Jahre arbeiten. Und ich würde mich wundern, wenn sie in 100 Jahren ein Hundertstel dessen schaffen würden, was Muhammed in einem einzigen Jahr geleistet hat.35

4.3

Zur Bedeutung der Ratio in der Religion

Nursi zufolge können die überwältigenden Wahrheiten nicht auf der Basis der menschlichen Wahrnehmungskompetenzen, insbesondere des Verstandes, begriffen werden: „Dieser winzige Verstand kann die wahren Bedeutungen nicht erfassen. Denn diese Waage kann solch ein Gewicht nicht tragen.“36 Bereits dieses Zitat zeigt, dass Nursi – ähnlich wie al-G˙aza¯lı¯ – eine skeptische Einschätzung der Vernunft als alleiniges Instrument für die Erkenntnisgewinnung vornimmt.37 Andererseits ist die Freiheit im Denken für Nursi von größter Bedeutung; zugleich möchte er verhindern, dass durch dauerhafte negative Konzentrationen schädliche Einflüsse bestehen bleiben. „Gerade wie das Sich-Vorstellen von Unglaube nicht Unglaube selber ist, so ist auch das Erwägen von Unglaube noch kein Unglaube. Und gerade wie es keine Irreleitung ist, 35 Nursi, Die Worte, S. 306; ders., Sözler, S. 216. 36 Nursi, Die Worte, S. 640; ders., Sözler, S. 463. 37 „Anlamak yok ҫocug˘um, anlar gibi olmak var; Akıl iҫin son tavır, saҫlarını yolmak var […]“ (Es gibt kein Verstehen, nur ein So-tun-als-Ob, mein Kind! Die letzte Haltung für den Verstand ist sich die Haare auszureißen.) Gedicht aus dem Jahr 1983, in: Necip Fazıl Kısakürek, Çile, Istanbul 1995, S. 75; „Gözüm, aklım, fikrim var deme hepsini öldür! Sana ҫöl gibi gelen, O, göl diyorsa göldür.“ (Sag nicht: ‚Ich habe Augen, Verstand und eine Meinung‘; töte sie [Auge, Verstand etc.] alle; das, was dir als Wüste erscheint, ist ein See, wenn Er es dir sagt.) Gedicht aus dem Jahr 1977, ebd., S. 82.

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sich die Irreleitung vorzustellen, so ist Nachsinnen über die Irreleitung keine Irreleitung. Denn Sich-Vorstellen, Erwägen, Vermuten, Nachsinnen sind nicht die Bestätigung mit der Vernunft und unterscheiden sich von der Hingabe des Herzens. Sie sind also etwas anderes. Sie sind bis zu einem Grade frei. Sie hören nicht auf die Fähigkeit des Wollens. Sie fallen nicht unter die Verpflichtung der Religion. Aber Bestätigung und Hingabe sind nicht dergleichen; sie hängen von einer Balance ab. Und gerade wie SichVorstellen, Erwägen, Vermuten und Nachsinnen keine Bestätigung und Hingabe sind, so können sie ebenfalls nicht als Zweifeln und Zögern definiert werden. Aber wenn sie unnötigerweise wiederholt werden und sich festsetzen, dann kann aus ihnen ein wirklicher Zweifel entstehen. Ständig Partei für die Gegenseite zu ergreifen und dies unvoreingenommenes logisches Denken zu nennen, kann einen Punkt erreichen, dass solch ein Mensch unfreiwillig die Gegenseite begünstigt. Seine Parteinahme für die Wahrheit, was er sollte, wird zerschlagen. Auch er gerät in Gefahr. Und es setzt sich in seinem Hirn fest, wodurch er ein Agent Satans oder des Feindes wird.38

Nursi macht in seinen Werken immer wieder auch auf die Grenzen der Ratio aufmerksam; selbst große Philosophen wie Avicenna sollen verstanden haben, dass die Offenbarung beispielsweise in Bezug auf die Auferstehung nicht durch die Vernunft, wohl aber mittels der Offenbarung akzeptiert und verstanden werden könne.39

4.4

Relativität der Wahrheitswahrnehmung

Gleichzeitig hebt Nursi die Bedeutung der Relativität der Wahrheit im Zugang zu den Menschen hervor. Das einfache Volk würde zwar religiöse Symbole und Metaphern für Wahrheit erachten, die bildliche Sprache religiöser Primärquellen aber nicht begreifen. Dies wiederum führe zu Irreleitung und Aberglaube. So habe Nursi als kleiner Junge selbst erlebt, wie die Menschen die Mondfinsternis unter Rückgriff auf einen Hadith des Propheten völlig falsch verstanden hätten. Sie glaubten, dass die Schlangen den Mond verschlungen hätten, dabei sei dies nur eine Metapher.40 Ein weiteres Beispiel, das diesen Aspekt hervorhebt, ist folgendes: Lasst uns beispielweise annehmen, es gäbe auf dem Meeresgrund einen Schatz voller Juwelen verschiedener Arten. Taucher tauchen hinab zum Meeresgrund, um die Juwelen des Schatzes zu suchen. Da ihre Augen geschlossen sind, ertasten sie die Gegenstände mit den Händen. Ein länglicher Diamant gerät in die Hand des einen Tauchers. Wenn er von seinen Gefährten hört, sie hätten andere Juwelen gefunden, so glaubt er, diese wären nur Beigaben zum Diamanten, den er gefunden hat, und die Beigaben 38 Nursi, Die Worte, S. 357; ders., Sözler, S. 251. 39 Vgl. Nursi, Die Worte, S. 132; ders., Sözler, S. 89. 40 Vgl. Nursi, Die Worte, S. 656.

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wären Facetten und Zierden des Diamanten. In die Hand eines anderen Tauchers gerät ein runder Rubin, und ein anderer Taucher findet einen Würfel Bernstein, und so weiter. Und jeder Finder glaubt, dass das Juwelenstück, das er mit der tastenden Hand fühlt, das Wesentliche ist, der Hauptteil des Schatzes ist. Und er meint, dass die Dinge, von denen er hört, nur Zubehör sind. Und so ist das Gleichgewicht der Wahrheiten zerstört und die gegenseitige Verhältnismäßigkeit ist ebenfalls verdorben.41

Hier wird betont, dass sich die Wahrheit objektiv unterschiedlich zeige und zugleich subjektiv vielseitig wahrgenommen werden könne. Dies habe zur Folge, dass in Bezug auf die Vielfalt Nachsicht gelten müsse. In pädagogischer Hinsicht zieht diese Nachsicht keine Laisser-faire-Mentalität nach sich, sondern führt zu einer gewissen Ruhe und Gelassenheit im Umgang mit der religiösen Vielfalt im Islam innerhalb der allgemein anerkannten Grenzen. Nursi betont immer wieder die Unterscheidung von Wahrheit auf der Ebene des Empfängers und macht damit eine wichtige pädagogische Grundentscheidung: „Ja, alles ist im Koran, aber nicht jedermann kann alles im Koran finden, denn die Wahrheit muss auf verschiedenen Ebenen gefunden werden.“42

5.

Schlussbetrachtung

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Nursi eine Sprache gefunden hat, die den Anspruch hat, eng am Koran orientiert zu sein. Pädagogik wie auch Theologie und Religion überhaupt haben das Ziel, Menschen zu Gott zu führen. An dieser Zielsetzung bemisst sich nach Nursi der Wert jeder pädagogischen und theologischen Handlung. Nursi unterscheidet zwischen vier Arten von Wegweisung in der Religion: Der mystische Weg sei stark erfahrungsorientiert und wolle durch innere Läuterung die Menschen zu Gott führen; die Philosophen versuchten durch die Betonung der Vernunft einen Weg zu Gott zu finden und die Theologen schließlich wollten durch eine Synthese von rationalen Argumentationen auf der Basis von religiösen Quellen Menschen zu überzeugen versuchen. Den goldenen Weg aber zeige der Koran auf, an diesem müsste man sich schließlich orientieren.43 Die religiöse Lehre muss nach Nursi immer den Koran in ihrem Zentrum behalten.44 Er unterstreicht immer wieder, dass der Koran sein persönlicher Lehrer, Führer 41 Nursi, Die Worte, S. 559; ders., Sözler, S. 404. 42 Nursi, Die Worte, S. 325; ders., Sözler, S. 229. 43 Vgl. Ahmed Akgündüz, Bilinmeyen bir dahi. Bediüzzaman Said Nursi, Hayat Yayın Grubu, I˙stanbul 2010, S. 53ff.; Nes¸et Toku, Risale-i Nurda Felsefe Eles¸tirisi, Nesil yay, I˙stanbul 2009, S. 49. 44 Vgl. Halit Ertug˘rul, Eg˘itimde Bediüzzaman Modeli, Nesil yay, Istanbul 2007, S. 99f., 148f.

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und Wegweiser sei.45 Folgende methodische Zugänge der Erziehung bietet Nursi an: Aufklärung, Überzeugung durch Argumente, Zurede und Ratschlag, Erziehung durch gelebte Vorbildfunktion, Befragung und Diskussion, Wiederholung sowie das Erzählen von Geschichten.46 In der Geschichte haben nach Nursi immer zwei Traditionen Bestand gehabt: Die Prophetie und die religiöse Schule gegenüber der Weisheit und philosophischen Schule.47 Er will diese Dichotomie jedoch auflösen. Religion und allgemeine Wissenschaften müssten zusammen gelehrt werden.48 Das Gewissen brauche die Religion und die Vernunft die Wissenschaft. Wenn beides zusammengeführt werde, entstehe Wahrheit. Beim Auseinanderklaffen würde dies im ersten Fall zu Fanatismus, im zweiten Fall zu Betrug führen. Folglich sei bei einem evidenten Widerspruch zwischen Vernunft und religiöser Quelle, die Aussage der Vernunft prioritär zu behandeln und die religiöse Quelle entsprechend auszulegen. Nur in der Hand der ungebildeten Massen würden sich Symbole und Metaphern zu Wahrheiten entwickeln. Allerdings müsse man sehr behutsam mit diesem Prinzip umgehen. Schließlich könne sich die Vernunft täuschen und das, was heute bloße theoretische Aussage sei, könne schon morgen gelebte, bewiesene Praxis werden.49 Nursi hebt die Rolle der Erziehung hervor und verknüpft sie eng mit dem Glauben. Nur wenn die Erziehung auf dem Fundament des Glaubens basiere und den Ewigkeitswunsch des Menschen sowie den Beständigkeitsgedanken der Religion zum Ausgangspunkt nehme, könne die Erziehung erfolgreich sein.50 Die Vorbildfunktion der Lehrenden und Erziehenden ist für Nursi folglich selbstverständlich,51 ebenso die schülerorientierte und adressatengerechte Vermittlung von Haltungen, Handlungen, Wissen und Werten.52 Die Schwächen der Menschen sollten nicht negiert, sondern umgeleitet werden. Erst durch diese Kanalisierung sei eine realistische Erziehung möglich.53 Nursi ist in seiner Beurteilung des Menschen als ein erziehungsfähiges Wesen optimistisch, jedoch nie utopisch, euphorisch und bleibt immer fest auf dem Boden der Realität. Der Koran ist als göttliches Werk nicht nur inhaltlich bestimmend für sein Wirken, sondern auch methodisch und didaktisch orientiert Nursi seinen Wirkungsbereich hierauf. Denn niemand könne die Menschen besser bilden, erziehen und 45 46 47 48 49 50 51 52 53

Vgl. I˙hsan Is¸ık, Bediüzzaman Said Nursi ve Nurculuk, Beyan yay, I˙stanbul 1995, S. 91. Vgl. Halit Ertug˘rul, Eg˘itimde Bediüzzaman Modeli, Nesil yay, I˙stanbul 2007, S. 172–182. Vgl. Nes¸et Toku, Risale-i Nurda Felsefe, S. 78ff. Vgl. Halit Ertug˘rul, Eg˘itimde Bediüzzaman, S. 98. Vgl. Nes¸et Toku, Risale-i Nurda Felsefe, S. 148f. Vgl. Halit Ertug˘rul, Eg˘itimde Bediüzzaman, S. 124ff. Vgl. ebd., S. 153. Vgl. ebd., S. 158. Vgl. ebd., S. 154.

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zum Glauben führen, als es der Koran tut. In diesem Sinne bleibt Nursi bis zum Schluss immer konsequent.

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Cemil S¸ahinöz

Religionspädagogik bei Said Nursi

Wenn man Religionspädagogik aus der Sicht Said Nursis betrachten will, muss man zuerst festhalten, dass Said Nursi weder ein Pädagoge war noch eine Anleitung für eine Religionspädagogik verfasste. Jedoch lebte Nursi in Zeiten von Umwälzungen und Veränderungen. Er erlebte das Osmanische Reich, dessen Untergang und die Gründung der Türkischen Republik. In diesem Kontext agierte er jedoch wie ein Pädagoge und entwickelte seine Ideen, wie religiöse Unterweisung, Bildung, funktionieren sollte. Gerade aus diesem Blickwinkel heraus scheint es wichtig, die Ansichten Nursis im Hinblick auf Religionspädagogik zu durchleuchten. Um seine Ansichten zu verstehen, ist es nötig den Bildungsweg Said Nursis genauestens unter die Lupe zu nehmen, was im Rahmen dieses Beitrages nur ansatzweise erfolgen kann. Sein Bildungsweg prägte ihn sehr und führte ihn letztendlich zu seinen Ideen. Seine Sozialisation war folglich mit ausschlaggebend für seine Gedanken.

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Der Bildungsweg Said Nursis1

Zunächst soll der Blick auf die demografische Situation zu Nursis Zeiten gerichtet werden. Said Nursi2 wurde in den 1870er Jahren3 als Sohn einer kinderreichen Familie4 im ostanatolischen Dorf Nurs5 in Bitlis geboren. Zu dieser Zeit 1 Für eine ausführliche Sicht des Lebens von Said Nursi und der Entstehung seiner Bewegung siehe S¸ahinöz, Die Nurculuk Bewegung. Entstehung, Organisation und Vernetzung, Istanbul 2009. 2 Der Name Nursis in seinem Pass lautet „Muhammed Said Okur“. 3 Es gibt einige Unklarheiten das Geburtsjahr Nursis betreffend. In seiner Autobiografie Tarihçe-i Hayat (Nursi, Tarihçe-i Hayat, Istanbul 2001, S. 29) wird das Jahr 1873 angegeben. Die renommierte Said-Nursi-Biografin S¸ükran Vahide (S¸. Vahide, Islam in Modern Turkey. An intellectual Biography of Bediuzzaman Said Nursi, Albany 2005, S. 3) schreibt 1877. Amtlich ist sein Geburtsjahr allerdings 1876, vgl. M. Ergin, Nurculuk Gerçeg˘i, Istanbul 2001, S. 35. Mehrheitlich wird Letzteres akzeptiert.

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lebten ca. 397.044 Einwohner in der Provinz Bitlis. 63,97 % der Bevölkerung waren Muslime, 32,74 % waren Armenier, 1,51 % syrische Jakobiten und 0,655 % Katholiken. Der Anteil der Yeziden betrug 0,97 %. Der römisch katholischen Kirche gehörten 0,05 % der Bevölkerung an. Verschwindend gering war der Anteil der Bewohner, die zum Stamm der Kopten (0,09 %) gehörten.6 Henri Binder, der im Jahre 1887 vom französischen Bildungsministerium beauftragt wurde, das gesellschaftliche Leben in Bitlis zu untersuchen, schrieb, dass die verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen, trotz ihrer Unterschiede, hinsichtlich von Diskriminierungen keine Probleme miteinander gehabt hätten.7 Jedoch kennzeichneten andere Probleme das soziale Umfeld. Unruhen und Konflikte beherrschten den Alltag. Wie Nursi später selbst schreibt, spielte er in seiner Jugend des Öfteren die Rolle des Streitschlichters und war selbst an Debatten mit Klanführern beteiligt.8 Mit acht Jahren begann Nursi auf Empfehlungen des örtlichen Imams seine Ausbildung. Die Ausbildung fand damals in den mada¯ris und in säkularen Schulen (osmanisch: ibtidaiyye) statt. In den mada¯ris erlernte er u. a. Koran- und Hadith-Wissenschaften, Logik und Arabisch. Da er noch zu jung war und wie er später schreibt, „zu kindlich“9 behandelt wurde, wechselte er immer wieder die mada¯ris und zog somit in noch jungem Alter von Ort zu Ort, was dem üblichen Gang der Dinge entsprach, da viele Lehrer auf einem bestimmten Gebiet einen 4 Geschwisterreihenfolge vom Ältesten zum Jüngsten: Dürriyye (w), Hanım (w), Abdullah (m), Said (m), Muhammed (m), Abdulmecid (m), Mercan (w). 5 Said Nursi maß der Tatsache, dass in seinem Leben Wörter, in denen „Nur“ (Licht) vorkommt, eine zentrale Rolle spielen, große Bedeutung bei:1.) Sein Geburtsort heißt Nurs. 2.) Sein Name lautet Said Nursi. 3.) Seine Werke nennt er Risale-i Nur. „In meinem ganzen Leben trat mir das Wort Licht überall entgegen. Beispielsweise, mein Geburtsort war Nurs, der Name meiner verstorbenen Mutter war Nuriye, mein naqsˇbandiyya-Meister war Sayyid Nu¯r Muhammad, einer meiner qa¯diriyya-Meister war Nureddin, einer meiner Koran-Meister war Nuri,˙ und von meinen Schülern trugen jene, die am engsten an mich gebunden waren, ein Nur in ihrem Namen. […] Und was meine Bücher am meisten erhellt und beleuchtet, sind die Vergleiche vom Licht. Und der leuchtende Name Nur unter den Schönsten Namen Gottes löste am besten meine Schwierigkeiten im Zusammenhang mit den Göttlichen Wahrheiten. Und mein besonderer Führer bei meiner leidenschaftlichen Begeisterung für den Koran und bei meinem alleinigen Dienst am Koran ist Osman Du l-Nu¯rayn (Gottes Wohlgefallen sei mit ihm)“; Nursi, Die Lichtstrahlen, Istanbul 2004, S. 479ff.; ders., Barla Lahikası, Istanbul 2000, S. 104, 156; ders., S¸ualar, Istanbul 2000, S. 378. Mit „Nur“ ist nicht das elektrische oder das natürliche, sondern das göttliche Licht gemeint. 6 V. Cuinet, La Turquie d’Asie: Geographie Administrative, Statistique Descriptive et Raisionnée de Chaque Province de l’Asie Mineure, Bd. 2, Paris 1891, S. 526; zitiert nach S¸. Mardin, Bediüzzaman Said Nursi Olayı, Istanbul 2003, S. 75. 7 H. Binder, Au Kurdistan: En Mesopotamie et en Perse, Paris 1887, S. 152; zitiert nach S¸. Mardin, Bediüzzaman Said Nursi Olayı, S. 76. 8 Nursi, Münazarat, Istanbul 1999. 9 Nursi, Tarihçe-i Hayat, S. 35; vgl. Ergin, Nurculuk Gerçeg˘i, S.41; I˙. Yas¸ar, Zamanın Sesi, Istanbul 1993, S. 120ff.

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besonderen Ruf genossen. Zudem war Nursi bereits als Kind eine Person, die nur ungern Anweisungen von anderen annahm. Er hasste Hierarchien. Diese Eigenschaften und der Neid seiner Altersgenossen gegenüber der Intelligenz, die Nursi besaß, führten wiederholt zu Streitigkeiten. Die meisten seiner Lehrer gehörten zum naqsˇbandiyya-Orden, wie z. B. Sayyid Sibg˙atulla¯h. So erkennt man in Nursis Schriften, dass er von bedeutenden naqsˇbandı¯yya-Führern, wie z. B. Ahmad Sirhindı¯ (auch als Imam Rabba¯nı¯ be˙ kannt; 1691–1754) 10 oder Ahmad D¯ıya¯ʾuddı¯n aus Gümüs¸hane (1813–1893) 11 ˙ ˙ ˇ ayla¯nı¯, auf den der beeinflusst wurde. Zudem zitiert er oft ʿAbdulqa¯dir al-G qa¯diriyya-Orden zurückgeht. Obwohl der größte Teil seiner Verwandtschaft und der Bewohner in der Umgebung dem naqsˇbandiyya-Orden angehörten, fühlte sich Nursi, wie er später schreibt, vom qa¯diriyya-Orden sehr angezogen. Doch das ständige Streben nach noch mehr Wissen habe ihn zeitlich davon abgehalten, sich einem Orden anzuschließen.12 Seine Wanderung hatte nach fünf Jahren ein vorläufiges Ende, als er auf Scheich Mehmet Celali traf. Bei ihm erhielt er eine strenge und harte Ausbildung und erhielt eine igˇa¯za, das heißt, die Erlaubnis, das vom Lehrer gelehrte Werk nun ebenfalls zu lehren, bereits nach drei Monaten. Anschließend nahm er des Öfteren an wissenschaftlichen Disputen mit Gelehrten seiner Heimatprovinz teil und erwies sich als überlegener Diskutant. Solche Diskussionen waren in Anatolien verbreitet. Auch Nursi hatte Gefallen an diesen „Begegnungen“. Später schreibt er, dass Angeberei und Protz in seinem Dorf sehr verbreitet waren und in diesen Disputen Hierarchien bestimmt wurden.13 Man kann davon ausgehen, dass diese Diskussionen eine Plattform waren, von der aus man Status und Berühmtheit erlangen konnte. Mit 14 Jahren hatte Said Nursi einen Traum, der einen wichtigen Wendepunkt in seinem Leben darstellt. Im Traum sah er, wie die Welt untergegangen war. In dieser Situation wollte er unbedingt den Propheten besuchen. Er dachte sich, dass der Prophet bestimmt die sira¯t-Brücke (eine Brücke im Jenseits) 14 über˙ ˙ queren würde und so entschied er, vor dieser Brücke auf ihn zu warten. Said bemerkte, dass alle Propheten nach und nach begannen, die Brücke zu überqueren. Er küsste jedem Einzelnen die Hand. Zum Schluss kam der Prophet Muhammad. Said warf sich vor dem Propheten nieder und bat ihn: ‚Oh, du Gottes ˙ Gesandter, ich will Wissen von Dir.‘ Der Prophet antwortete: ‚Wenn du meiner 10 Sowohl Sirhindı¯ als auch Nursi haben ein Werk mit dem Titel Mektubat (Die Briefe) verfasst. Said Nursi steht hier in einer sufischen Tradition. 11 Vgl. H. Yavuz, „Die Renaissance des religiösen Bewusstseins in der Türkei: Nur-Studienzirkel“, in: N. Göle/L. Ammann (Hg.), Islam in Sicht. Der Auftritt von Muslimen im öffentlichen Raum, Bielefeld 2004, S. 121–146, hier S. 137. 12 Vgl. Nursi, Sikke-i Tasdik-i Gaybi, Istanbul 2000, S. 128. 13 Vgl. Nursi, Tarihçe-i Hayat, S. 49. 14 Eine säbelscharfe Brücke über der Hölle, über welche die Geretteten ins Paradies gelangen.

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Religionsgemeinschaft (umma) keine Fragen stellst, so bekommst du das Wissen des Korans.‘ Voller Freude stand Said auf.15 Dieser Traum ist als für den Wissensdurst Nursis ausschlaggebend zu betrachten. Seine nächste Ausbildungsstätte war Bitlis, wo er wieder von madrasa zu madrasa wechselte und auf diese Weise viele Gelehrte kennenlernte. Einer der Gelehrten, die mit ihm diskutierten, war Molla Fathulla¯h aus Siirt, der ihn in ˙ besonderer Weise prüfte. Als Nursi die Prüfung außerordentlich gut bestand, verlieh Molla Fathulla¯h ihm 1892 den Titel „Bediüzzaman“,16 was so viel bedeutet ˙ wie „Mann der Epoche“. Unter diesem Namen wurde er später berühmt. 1894 reiste er nach Mardin und beteiligte sich nun in dieser größeren Stadt an Diskussionen mit Gelehrten. Nachdem er auch hier seine Überlegenheit bewiesen hatte und die älteren Gelehrten mit seinen „neuen“ Ideen nicht einverstanden waren, kam es zu kleineren Streitigkeiten. Daraufhin verbannte ihn der Gouverneur Nadir Bey nach Bitlis. Sein Aufenthalt in Bitlis dauerte zwei Jahre. 1896 reiste er auf Einladung des Gouverneurs nach Van, wo er in der Privatbibliothek des Gouverneurs Werke der damals modernen Natur- und Ingenieurwissenschaften17 studierte. Diese Kenntnisse, die er erlangte, sollten ihn noch ein Leben lang beschäftigen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er vor allem Arabisch und seine kurdische Muttersprache verwendet. Im Haushalt des Gouverneurs sprach er Türkisch, sodass Nursi sich in der türkischen Sprache verbessern konnte.18 In der Stadt Van verblieb er die nächsten zehn Jahre. Als er im Jahre 1906 in der Zeitung las, dass der britische Premierminister William Ewart Gladstone (1809–1898) über den Koran gesagt habe: „Wir können die Muslime, solange sie diesen Koran haben, nicht beherrschen. Entweder müssen wir diesen vernichten oder sie von ihm abbringen“, ließ Nursi wiederum verlauten: „Ich werde der Welt verkünden und beweisen, dass der Koran eine unauslöschliche Sonne ist.“19 Auch dieses Ereignis markiert einen Wendepunkt 15 Vgl. ebd., S. 30. 16 Die Information, Said Nursi hätte sich den Namen selbst gegeben, ist nicht richtig, siehe M. v. Bruinessen, Agha, Scheich und Staat. Politik und Gesellschaft Kurdistans, Rieden 1989, S. 354. 17 Im Übrigen auch Sozialwissenschaftlern, so exemplifiziert er die Arbeitsteilung wie Adam Smith am Beispiel der Herstellung von Nadeln, bekannt durch ein ins Osmanische übersetztes frz. nationalökonomisches Einführungswerk: Heidemarie Dog˘analp-Votzi, „Aspekte der Rezeptionsgeschichte der Theorien der Moderne im Osmanischen. Das erste osmanische Werk zur Nationalökonomie: Sehak Abrus Übersetzung des Catéchisme d’économie politique von Jean Baptiste Say“ in: Gerhard Neweklowsky (Hg.), Herrschaft, Staat und Gesellschaft in Südosteuropa aus sprach- und kulturhistorischer Sicht. Erneuerung des Zivilisationswortschatzes im 19. Jahrhundert. Akten des Internationalen Symposium 2.–3. März 2006, Schriften der BalkanKommission; 48, Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 2007, S. 239–256. 18 Dies ist eine Vermutung des Autors, da in den Biografien nicht wirklich ersichtlich wird, wann Said Nursi Türkisch lernte. 19 Nursi, Tarihçe-i Hayat, S. 44.

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im Leben von Said Nursi. Aus diesen Worten und dieser Aufgabe wird später die Nurculuk Bewegung entstehen.

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Idee einer Universität

Während seiner Zeit in Van entwarf Nursi die Idee einer Universität, die ihn sein Leben lang beschäftigen sollte. Er ging davon aus, dass der Rückzug aus den Wissenschaften zum Untergang des Bildungssystems im Osmanischen Reich geführt hatte. So hatte er die Idee einer Universität (namentlich: Medresetüz Zehra; eine Analogie zur Al-Azhar-Universität in Kairo) in Van, in der religiöse und naturwissenschaftliche Studien parallel gelehrt werden sollten. Damit wollte er, neben der angestrebten Verbesserung der materiellen Lage, zeigen, dass Wissenschaft und Religion, Freiheit und Glauben sowie Moderne und Tradition miteinander zu vereinbaren seien.20 Später schreibt er hierzu: „Die Wissenschaft von der Religion ist das Licht (d¯ıya¯ʾ) des Gewissens. Die Natur˙ wissenschaft spiegelt das Licht (nu¯r) der Vernunft wider. Die Wahrheit wird offenbar durch die Vereinigung der beiden. Wenn sie getrennt sind, kommt es zu Fanatismus in der Religion. Und es entstehen Argwohn und Zweifel in der Wissenschaft.“21

Somit wollte er die weltliche Bildung vor dem Unglauben und die religiöse Bildung vor dem Fanatismus bewahren.22 Wichtig ist an dieser Stelle, dass Nursi die Ausbildung in den mada¯ris unzureichend fand. Er sah die Befreiung aus der Unwissenheit und die Lösung für den gesellschaftlichen Abstieg darin, Religion mit den modernen Wissenschaften, die er in der Bibliothek in Van kennengelernt hatte, zu verknüpfen: „Meine muslimischen Zeitgenossen sind Andenken aus dem Mittelalter. Sie haben versäumt, mit dem Fortschritt im modernen Denken der Menschen Schritt zu halten.“23 Dies ist auch der Grund für seine ständigen Auseinandersetzungen mit verschiedenen Gelehrten, deren Erziehungsmethoden er anzweifelte. Nursi war der Meinung, dass diese Methoden von Grund auf 20 Vgl. Yavuz, „Die Renaissance des religiösen Bewusstseins in der Türkei: Nur-Studienzirkel“, S. 122. 21 Nursi, Münazarat, S. 80; zum Unterschied zwischen d¯ıya¯ʾund nu¯r: „Dhiya (Ziya) is the light of ˙ Sun. Nur is a light emanating from an the source of light itself, for example, the light of the indirect source, for example, the light of the Moon. The Qur’anic verse (10:5) ascribing Dhiya (Ziya) to the Sun, and Nur to the Moon well exemplifies this point. The light of the Sun that comes directly to us is Dhiya (Ziya), and the light reflected on the world through the Moon is Nur“; M. Karabas¸og˘lu, „Text and Community: An Analysis of the Risale-i Nur Movement“, in: I. Abu-Rabi (ed.), Islam at the Crossroads. On the Life and Thought of Bediüzzaman Said Nursi, New York 2003, S. 263–296, hier S. 291. 22 Vgl. Yavuz, „Die Renaissance des religiösen Bewusstseins in der Türkei: Nur-Studienzirkel“, S. 124. 23 Nursi, Sayqal al-Islam, Istanbul 1998, S. 24.

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erneuert werden müssten. Das dreiteilige Bildungssystem (madrasa, tekke,24 ibtidaiyye) wäre die Quelle der Unwissenschaftlichkeit im Osmanischen Reich.25 Die einzige Möglichkeit, für den Aufstieg des Osmanischen Reiches wäre es, wenn wieder in den Volksschulen Religion, in den mada¯ris moderne Wissenschaften gelehrt und Lehrer und Akademiker in den tekkes lehren würden.26 Mit dieser Idee reiste er 1907 nach Istanbul, in die Hauptstadt des Osmanischen Reiches. Das soziale Leben der Menschen in Istanbul beschrieb der ungarische Orientalist und Turkologe Arminius Vámbéry, der sich auch mit Sultan Abdülhamid II. traf, als faul, unsensibel und unentschieden.27 Nursi empfand es gleichermaßen. Unwissenheit, Armut und Uneinigkeit betrachtete er als die größten Feinde des Osmanischen Reiches und schlug als Mittel gegen sie Wissenschaft und Technologie, Arbeit und Solidarität sowie die Einheit der Nation vor.28 Der Gouverneur Tahir Pas¸a unterstützte ihn bei seinem Vorhaben, eine Universität zu gründen, und schrieb ein Empfehlungsschreiben an Sultan Abdülhamid II. In Istanbul stellte Nursi seine Idee einzelnen Regierungsmitgliedern vor. Während er auf die Entscheidung der Regierung wartete, beteiligte er sich auch in Istanbul – wie gewohnt – an religiösen und wissenschaftlichen Diskussionen. So unternahm er etwas, was ihn in kürzester Zeit in ganz Istanbul berühmt machte: An seine Haustür klebte er einen Zettel mit der Aufschrift „Hier werden alle Fragen beantwortet, aber von mir werden keine Fragen gestellt!“29 Diese freche und selbstbewusste Geste machte ihn allerdings sehr schnell bekannt. Viele Intellektuelle besuchten Nursi, um ihm auf die Probe zu stellen oder ihn vielmehr bloßzustellen. Durch seine Intelligenz aber schaffte es Nursi immer wieder, sich durchzusetzen und sich zu beweisen. So besuchte ihn eines Tages Scheich Bahit, ein Wissenschaftler der Al-Azhar-Universität in Kairo. Dieser fragte ihn, was er über Europa und das Osmanische Reich denke. Nursi antwortete ihm: „Europa ist schwanger und wird einen islamischen Staat gebären. Das Osmanisch Reich ist auch schwanger und wird eines Tages einen europäischen Staat gebären.“ Auf diese Antwort erwiderte der Scheich: „Mit diesem Herrn kann man nicht diskutieren. Auch ich bin seiner Meinung. Doch so schön, kurz und knapp kann es nur ein Bediüzzaman formulieren.“30 24 25 26 27

Eine Tekke ist ein Zentrum eines sufistischen Ordens. Vgl. N. S¸ahiner, Bilinmeyen Taraflarıyla Bediüzzaman Said Nursi, Istanbul 1979, S. 93. Vgl. Mardin, Bediüzzaman Said Nursi Olayı, S. 133. A. Vámbéry, La Turquie d’Aujourd’hui et d’Avant Quarante Ans, Paris 1898, S. 10f; h.z.n. Mardin, Bediüzzaman Said Nursi Olayı, S. 211. 28 Nursi, Divan-ı Harb-i Örfi, Istanbul 1978, S. 14. 29 Dass er keine Fragen stellt, ist auf den Traum zurückzuführen, in dem ihm der Prophet dieses verbietet. 30 Nursi, Tarihçe-i Hayat, S. 45ff.

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Von der Berühmtheit Said Nursis erfuhr auch der Sultan, sodass Nursi von Sultan Abdülhamid II. persönlich eingeladen wurde, um sein Projekt vorzustellen. Doch zur Enttäuschung Nursis wurde Letzteres nicht ernst genommen. Stattdessen hielt man ihn für verrückt, da er, ungewöhnlich für diese Zeit, den Sultan für seine Art zu regieren scharf kritisierte. Im Islam gäbe es, laut Nursi, keine Unterdrückung. Gestützt auf Bespitzelung, anonyme Anzeigen und unter Ausschluss der Öffentlichkeit dürfe niemand abgeurteilt werden. Das Amt des Kalifen bestehe nicht aus Freitagsgebetszeremonien, sondern es verpflichte zum materiellen und geistigen Engagement für die Belange der Muslime auf der ganzen Welt. Würde sich der Kalif an den Propheten halten, würde man ihn akzeptieren. Eine Person aber, die ungerecht, gewalttätig, grausam und unterdrückend ist, sei ein Bandit, auch wenn sie ein Kalif ist.31 Daraufhin wurde Said Nursi in eine Irrenanstalt eingewiesen. Die Regierung erhoffte sich so, den „frei redenden“ und seine freie Meinungsäußerung „nicht scheuenden“ Nursi zum Schweigen zu bringen, da er durch seine Reden in Istanbul „der Regierung schade“. Doch wurde er schnell wieder entlassen, denn der Arzt attestierte: „Wenn es an Bediüzzaman die winzigste Spur von Verwirrtheit geben sollte, dann dürfte in der ganzen Welt kein einziger geistig gesunder Mensch existieren.“32 Als Entschädigung bot ihm der Sultan eine sehr hohe Geldsumme an und versprach ihm, die Universitätsidee noch einmal zu besprechen. Doch Nursi lehnte ab, da er dies als Bestechungsgeld ansah.

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Nursis Wissenschaftsverständnis

Die Universität wurde nie gebaut, allerdings entstand als ungeplante Alternative die Nurculuk Bewegung, die die Ziele dieser Universität repräsentiert. Die Nurculuk Bewegung ist sozusagen die Umsetzung des Traumes von Nursi, eine Universität zu gründen, in der moderne Wissenschaften und Religion zusammen gelehrt werden. Ein entscheidendes Gespräch, welches dieses Gedankengut und sein Verständnis für Religionspädagogik reflektiert, führte Nursi 1936, als er nach Kastamonu verbannt wurde: In Kastamonu kam eine Schar von Gymnasiasten zu mir, und sie sagten: ‚Erzähle uns von unserem Schöpfer, unsere Lehrer sprechen nicht über Gott.‘ Da sagte ich zu ihnen: ‚Alle Wissenschaften, die ihr studiert, sprechen beständig von Gott und machen den

31 Vgl. Nursi, Divan-ı Harb-i Örfi, S. 14; ders., Tarihçe-i Hayat, S. 57. 32 Yas¸ar, Zamanın Sesi, S. 293.

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Schöpfer bekannt, jede Wissenschaft mit der ihr eigenen besonderen Zunge. Hört nicht auf eure Lehrer, hört auf die Wissenschaften.‘33

Said Nursis Annahme, dass jede Wissenschaft die Existenz Gottes zeige und dass u. a. die Naturgesetze die Gewohnheit Gottes (sunnatu l-lla¯h) seien, lieferte eine moderne Interpretation des Korans, die dem Wissenschaftszeitalter entsprach. Der Alltagsmuslim konnte also Physiker und gleichzeitig auch Imam (Prediger) werden. Sie bot eine Alternative zur damaligen Republik, die indirekt forderte, ‚entweder Physiker oder Imam‘ zu sein. Die präsenten islamischen Gruppen, Sufiorden, die Süleymanci-Bewegung und allgemein die islamische Community forderten das Gleiche. Mithilfe von Nursi konnte dies nun aufgebrochen werden. Der israelische Religionswissenschaftler Yehezkel Landau beschreibt diesen Zustand in einem Interview folgendermaßen: „Ein Wissenschaftler sagt: ‚Ich brauche die Religion nicht.‘ Einige Geistliche sagen: ‚Alles, was ich wissen muss, steht in meinem heiligen Buch.‘ Nursi sagt: ‚Nein, das stimmt nicht. Sowohl das heilige Buch, als auch die Wissenschaft sind von Gott gesandte Offenbarungen. Beides sind Wege, um den Schöpfer zu verstehen.‘“34 So versuchte Nursi den Bruch zwischen den esoterisch-subjektiven Mystikern und den intellektuellobjektiven Philosophen, der sich in der Gründungszeit der Türkischen Republik entwickelt hatte, zu beenden.35 Ähnlich wie der Heilige Augustinus, Paracelsus, Ibn ʿArabı¯ oder R. Boyle bezeichnet Nursi den Kosmos als „Heiliges Buch Gottes“, das erforscht werden müsse. Die Natur sei, neben Koran und dem Propheten Muhammad, die dritte ˙ Offenbarungsquelle Gottes.36 Die Welt ist in Nursis Augen ein Koran, der gelesen und verstanden werden müsse. Die Wissenschaft sei die Brille, mit der die Verse des Welt-Korans zu verstehen seien. Somit würden das Forschen und die Aneignung von Wissen selbst zum ʿiba¯da (Gottesdienst).37 Je mehr man die Welt verstehe, desto gläubiger werde man laut Nursi. Wissen ist demnach im religiösen Weltbild immer verbunden mit der Erkenntnis des Göttlichen.38 Daher legte Nursi viel Wert auf die Erforschung der Naturgesetze, die er als Konventionen Gottes bezeichnet.39 Die Natur und die Ordnung im Kosmos beschreibt Nursi als Beweise für die Existenz eines Schöpfers. Er schreibt über Bäume, Pflanzen, 33 Nursi, Die Früchte des Glaubens, Istanbul 2002, S. 96; ders., Asa-yı Musa, Istanbul 2000, S. 23. 34 N. Akman, „Interview mit dem israelischen Religionswissenschaftler Yehezkel Landau“, in: Zaman vom 31. 10. 2004. 35 Vgl. Karabas¸og˘lu, „Text and Community: An Analysis of the Risale-i Nur Movement“, S. 269. 36 Vgl. Nursi, Mesnevi-i Nuriye, Istanbul 2000, S. 21. 37 Dies ist nicht erst seit Nursi so. Jedoch hat dies erst wieder durch Nursi an Leben gewonnen. 38 Vgl. G. Seufert, Politischer Islam in der Türkei, Istanbul 1997, S. 384. 39 Vgl. Nursi, Lem′alar, Istanbul 2000, S. 176; ders., Mesnevi-i Nuriye, S. 138, 211; ders., Mektubat, Istanbul 2001, S. 463; ders., Die Briefe, Istanbul 2004, S. 622; ders., Die Lichtblitze, Istanbul 2007, S. 142.

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Blumen, Tiere, Fliegen und Käfer, die ihm zufolge alle Kunstwerke eines Schöpfers seien. Laut Mehmet Kutlular, dem Herausgeber der Zeitung Yeni Asya, welche zu einer der Nurcu Gruppierungen gehört, wird die Tatsache, dass Nursi von Fliegen und Käfern schreibt, spöttisch belächelt: „Ein paar Ex-Kommunisten, die jetzt elhamdülillah [Gott sei Dank; C. S¸.] Nurcus sind, haben mir einmal folgendes erzählt: In den 70ern sagten ihnen ihre Lokalführer: ‚Diskutiert nicht mit den Nurcus‘. Diese fragten zurück: ‚Woher sollen wir denn wissen, wer ein Nurcu ist?‘ Daraufhin kam die Antwort: ‚Das sind die, die ständig über Bienen, Käfer und Fliegen reden!‘“40 Zudem wehrte sich Nursi gegen die Instrumentalisierung des Positivismus für den Atheismus. Er selbst wandte die Methodik des Positivismus an, um die Existenz Gottes zu beweisen. So strebte er nach einer Synthese zwischen Glauben und Vernunft, indem er die Naturgesetze dafür heranzog, um die Allmacht eines Schöpfers zu erklären.41 Er war davon überzeugt, dass der auf unhinterfragter Befolgung beruhende Glaube (osmanisch: iman-ı taklit) durch den auf Prüfung beruhenden Glauben (iman-ı tahkik) ersetzt werden musste. Blinden Gehorsam oder einen unwissenden Glauben lehnte er ab. Erst die Verbindung zwischen Wissen und Glauben führe zum iman-ı tahkik. Dabei muss angemerkt werden, dass Nursi die Koranverse nicht auf wissenschaftliche Erkenntnisse reduzierte oder die Wissenschaft auf einer Ebene mit dem Koran sah, sondern die Wissenschaft als Mittel dafür benutzte, um Koranverse zu bestätigen. Er bot also eine alternative und aktualisierte Koraninterpretation an, ohne deren Fundamente zu verändern. Sein Spruch „Wenn die Zeit älter wird, wird der Koran jünger. Seine Zeichen werden offenbar“42 und derjenige seines engsten Schülers Zübeyir Gündüzalp (1920–1971): „Eins der größten Wunder des Korans ist es, dass er immer jung und frisch bleibt. Und er ist jedes Jahrhundert so, als wäre er gerade offenbart worden, da er genau die Probleme des jeweiligen Jahrhunderts löst“43 implizieren die These, dass je weiter die Wissenschaft voranschreitet, desto besser auch die Wahrheiten der Offenbarung bestätigt und verstanden werden. Dies konstatiert Nursi an folgender Stelle: Was den Islam kontinuierlich manifest werden lässt und dafür sorgt, dass er sich gemäß den Fortschritten des Denkens weiterentwickelt, ist die Tatsache, dass er auf die Realität gegründet ist und mit den Grundlagen der Weisheit konform geht, die von Ewigkeit zu Ewigkeit aneinander gebunden sind.44 40 S¸ahinöz, Die Nurculuk Bewegung. Entstehung, Organisation und Vernetzung, S. 213. 41 Vgl. Yavuz, „Die Renaissance des religiösen Bewusstseins in der Türkei: Nur-Studienzirkel“, S. 124ff. 42 Nursi, Hutbe-i S¸amiye, Istanbul 1995, S. 132; ders., Die Briefe, Istanbul 2004, S. 618; ders., Mektubat, S. 460. 43 Nursi, Sözler, Istanbul 2001, S. 706. 44 Nursi, Muhakemat, Istanbul 2000, S. 43.

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Wissenschaft ist demnach Mittel, um zu bestätigen, dass der Koran eine Offenbarung Gottes ist. Deshalb rufen die Nurcus die Muslime dazu auf, „den Koran im Lichte der Vernunft zu interpretieren und die Wissenschaft ernst zu nehmen.“45 Man kann dies auch als ‚Islamisierung der Wissenschaft‘ sehen, so wie es Mehmet Kutlular im Interview beschrieb: „Wenn man mich fragen würde, was die Risale-i Nur ist, würde ich antworten: ‚Es ist die Muslimisierung [so die wortwörtliche Übersetzung von „müslümanlas¸tırmak“; C. S¸.] der Wissenschaft.‘“46 Der Wortschatz und die Metaphorik Nursis sind zudem auffällig von den Naturwissenschaften, besonders von der Elektrizität und ihrer technischen Anwendung, beeinflusst. Jedoch bietet er eine andere Lesart dieser Wissenschaften an. Er „islamisiert“ sie, indem er Begriffe wie Atom, Kosmos, Universum, Licht, Strom oder Zelle dazu benutzt, um Koranverse zu interpretieren. Oftmals dienen ihm die Theorien der Naturwissenschaften als Beispiele für seine Erläuterungen. Mit diesem intellektuellen Rüstzeug liest er wiederum den Koran. Nursi war aber kein reiner Rationalist. Er sprach auch die Emotionen – die Herzen – der Leser an. In seinen Briefen betont er selbst, dass in der Risale sowohl das Herz als auch der Verstand angesprochen würden.47 Auch die Sprache der Philosophen war ihm ein Instrument: He argued that he established Islamic truths on rational proof in the method of philosophers debating with his opponents and with the opponents of Islam. Nursi resorted to explaining Islamic ideas by way of philosophical concepts as, for example, he did with the concept of ‚justice‘ using Plato’s theory of the four virtues – chastity, courage, wisdom, and justice – and also using Aristotle’s theory on the concept of ‚virtue‘ as a means between excess and permissiveness.48

Nursi bediente sich in exzellenter Weise der drei Prinzipien der Philosophie: Beobachtung, Hinterfragen und Beweis. Die Beweisführung bezeichnete er als ein Grundprinzip der Risale.49 Dominant waren bei ihm Sinnfragen, die ebenfalls im Zentrum der Philosophie stehen. Während er in jüngeren Jahren versuchte, Weisheit und Philosophie zu vereinen, trennte er sie später, indem er die Philosophie der Weisheit unterordnete und sie in den Dienst Letzterer stellte.50

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Yavuz, „Die Renaissance des religiösen Bewusstseins in der Türkei: Nur-Studienzirkel“, S. 130. S¸ahinöz, Die Nurculuk Bewegung, S. 214. Vgl. Nursi, Kastamonu Lahikası, Istanbul 2000, S. 13. T. Abdel Rahman, „The Separation of Human Philosophy from the Wisdom of the Qur’an in Said Nursi’s Work“, in: I. Abu-Rabi (ed.), Islam at the Crossroads. On the Life and Thought of Bediüzzaman Said Nursi, New York 2003, S. 199–213, hier S. 200. 49 Vgl. Nursi, Emirdag˘ Lahikası, Istanbul 2001, S. 80. 50 Vgl. Abdel Rahman, „The Separation of Human Philosophy“, S. 201, 208ff.

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Die Werke sind zudem in starkem Maße von Analogien und Vergleichen gekennzeichnet. Wenn Nursi etwas verständlich machen möchte, führt er einen Vergleich aus dem Alltag an. Dies begründet er folgendermaßen: Die Gründe, weswegen ich die Erzählungen in diesen Abhandlungen in der Form von Metaphern und Parabeln schreibe, sind, die Auffassungskraft zu steigern und zu zeigen, wie vernünftig, angemessen, gut begründet und zusammenhängend die Wahrheiten des Islam sind. Die Bedeutungen der Erzählungen führen zu ihren schlussfolgernden Wahrheiten. Die Erzählungen deuten in ihrer Anspielung auf die innewohnenden Wahrheiten. Daher sind sie nicht allein bloße Phantasieerzählungen, sondern wirkliche Wahrheiten.51

Nursi schmückte seine Ausführungen also mit alltäglichen Beispielen aus, um sie verständlicher zu machen. So machen es auch seine Anhänger, die immer wieder in den Lesungen Beispiele aus ihrem eigenen Leben anführen, um das Gelesene verständlicher zu machen. Auch unterschied Nursi deutlich zwischen verschiedenen Zielgruppen unter seinen Lesern. So schreibt er manchmal nur für „die Jugendlichen“; manchmal besteht seine Zielgruppe aus „den Älteren“. „Die Frauen“ oder „die Kranken“ gehören ebenfalls zu seinen Ansprechpartnern. Das heißt, er versuchte, seine Texte dem lesenden Publikum anzupassen. An einer Stelle schreibt er: „Gebe dem Pferd Heu und dem Löwen Fleisch und nicht anders herum.“52 An diesem ‚pädagogischen Stilmittel‘ orientierte sich Nursi häufig. Auch in der Tradition des Propheten Muhammad finden wir dies wieder. Wenn der Prophet gefragt ˙ wurde, was der beste Gottesdienst sei, antwortete er immer anders. Seine Gefährten fragten ihn, warum er immer unterschiedlich antworte. Der Prophet antwortete daraufhin, dass er jedem genau die Antwort gebe, die er am nötigsten habe. Die Antwort richtet sich also jeweils nach dem Fragenden; die Ebene des Empfängers ist also wichtig. Nursi selbst war von neuen Technologien begeistert. So lobt er in seinen Schriften die Erfindung des Radios, sieht es als Geschenk Gottes53 und meint, dass es hizmet (Dienst) im Namen des Islams leisten werde.54 Der Audiorekorder sei ein schöner Risale-i Nur-Leser, der die kompletten Werke auswendig gelernt hätte.55 Als Nursi einmal ein Flugzeug fliegen sah, sagte er seinen Schülern, dass er auf die Menschheit stolz sei.56 Er würde für die Piloten beten.57 An anderer Stelle ernennt er die Druckmaschine, mit der die Risale gedruckt wird, zu einem 51 52 53 54 55 56 57

Nursi, Die Auferstehung und das Jenseits, Istanbul 2002, S. 10; ders., Sözler, S. 52. Nursi, Kastamonu Lahikası, S. 198. Vgl. S¸ahiner, Bilinmeyen Taraflarıyla Bediüzzaman Said Nursi, Bd. 3, S. 92. Vgl. Nursi, Kastamonu Lahikası, S. 46. Vgl. S¸ahiner, Bilinmeyen Taraflarıyla Bediüzzaman Said Nursi, Bd. 3, S. 73. Vgl. ebd., Bd. 4, S. 48; vgl. S. Cebeci, „I˙zmir′de iki gün“, in: Yeni Asya vom 07. 12. 2006. Vgl. S¸ahiner, Bilinmeyen Taraflarıyla Bediüzzaman Said Nursi, Bd. 3, S. 259.

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„Risale-i Nur-Schüler“, also zu einem Nurcu.58 Jegliche Art von Kommunikationsmittel und Technik war für Nursi ein Instrument, um die Risale-i Nur zu verbreiten. Kutlular kommentiert: „Said Nursi benutzte die Technologie mit dem Ziel den Glauben zu beweisen.“59 Die heutigen Nurcus führen Nursis Tradition, Wissenschaft und Religion zu verbinden, weiter. Mitte der 1970er Jahre wurde von der Yeni Asya eine Serie von Büchern mit dem Übertitel „Wissenschaft und Technologie“ publiziert. Diese Veröffentlichungen waren wissenschaftlich inspiriert. Zudem wurden Zeitschriften gegründet, wie z. B. Köprü, Zafer oder Sızıntı60 (die deutsche Version heißt Fontäne), die entsprechende Arbeiten abdruckten. Hinzu kamen die Errichtung eines Forschungszentrums in Istanbul, eines Instituts in den Vereinigten Staaten, die Publikation eines englischsprachigen Magazins mit dem Titel Nur – the Light (die deutsche Ausgabe hieß Nur – Das Licht), die Übersetzung der Risale ins Englische und Deutsche und die Herstellung von Kontakten zu Akademikern und Denkern. Durch diese Arbeiten erreichte die Bewegung nun ein neues, breiteres und vor allem jüngeres Publikum. Laut Karabas¸og˘lu haben besonders Mehmet Fırıncı, Mehmet Kutlular und Fethullah Gülen das Bedürfnis nach wissenschaftlichen inspirierten Arbeiten gestillt, da sie deren Fehlen erkannten und die Bewegung in diese Richtung lenkten.61 Allerdings muss an dieser Stelle vermerkt werden, dass bei Nursi ein höchst eingeschränkter Wissenschaftsbegriff vertrieben wird, da allein die Ingenieurund Naturwissenschaften als Wissenschaften gesehen wurden. Über dieses Defizit herrscht heutzutage Konsens bzw. es wird beanstandet. Mehmet Fırıncı, einer der Schüler Said Nursis zu dessen Lebzeiten, sagte hierzu: „Was wir Nurcus und die islamische Welt dringend brauchen sind Soziologen.“62

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Religion bei Said Nursi

Die Lehre der Religion und damit die der Religionspädagogik selbst nimmt bei Said Nursi eine gewichtige Rolle ein. In einem seiner früheren Werke schreibt er: „Dass die meisten Propheten aus dem Osten und die meisten Philosophen aus dem Westen kamen, ist Gottes Schicksal, das uns zeigen soll, dass es die Religion und das Gewissen sind, die den Osten wieder stärken werden.“63 Hier versucht er Vgl. Nursi, Emirdag˘ Lahikası, S. 155. S¸ahinöz, Die Nurculuk Bewegung, S. 216. Köprü (Brücke), Zafer (Sieg), Sızıntı (Auslaufen). Vgl. Karabas¸og˘lu, „Text and Community: An Analysis of the Risale-i Nur Movement“, S. 284, 294. 62 S¸ahinöz, Die Nurculuk Bewegung, S. 217. 63 Nursi, Tarihçe-i Hayat, S. 125.

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noch einmal deutlich zu machen, dass die Lehre der Religion den Osten wieder stärken soll. An einer anderen Stelle schreibt er, dass die Herzenskrankheit der Menschen in seinem Volke die Vernachlässigung der Religion sei und man nur wieder gesund werden könne, wenn man wieder mehr Wert auf die Religion legen würde,64 denn laut Nursi könne ein Volk ohne die Religion nicht überleben.65 Religion sei das Leben des Lebens, schreibt er. Es sei Licht und die Wirklichkeit an sich. Und die „Auferstehung“ des Volkes sei nur durch die Wiederbelebung der Religion möglich.66 Jedoch spricht Nursi in seinen Werken nicht von einem blinden, sondern von einem bewussten Glauben. Denn Nursis Verständnis von Religionspädagogik weist nicht nur theologische Aspekte auf, sondern er sieht das Wissenschaftsverständnis ebenfalls als einen Faktor der Religion. Wie ersichtlich wurde, war für Nursi die Kombination von Religion und Wissenschaft wichtig. Demnach strebte er eine Religionspädagogik an, die wissenschaftlich fundiert ist und dementsprechend begleitet wird. Laut Nursi ist es nicht zufriedenstellend, wenn das bloße Auswendiglernen des Korans und das Erlernen von Bittgebeten als Religionspädagogik bezeichnet werden. Nur eine wissenschaftlich begleitete Religionsausbildung würde, laut Nursi, zu einer bewussten Religionsauslebung führen. Nursi war der Meinung, dass eine bewusst gelebte Religion die Brüderlichkeit stärken würde. Türken, Kurden und Araber könnten vereint und das Land damit gestärkt werden. Um aber eine gesunde Religionsausbildung zu genießen, fügte er dieser den Faktor der modernen Naturwissenschaften hinzu. Erst diese Kombination mache es Nursi zufolge möglich, sowohl das eine als auch das andere zu verstehen. Nursi interpretierte den Koran und den Islam für das Jahrhundert, in dem er lebte, quasi neu. Auf der Grundlage seiner Forschungen war er zu der Auffassung gelangt, dass Missverständnisse in der Religion nur behoben werden könnten, wenn Religion als Fach in der Universität und in den Schulen gelehrt würde. Man kann davon ausgehen, dass sich die Basis dieser Ideen in Van, als er in der Bibliothek die westliche und moderne Literatur studierte, entwickelte. Betrachtet man die aktuellen Debatten in Deutschland, seien es z. B. diejenigen über den islamischen Religionsunterricht an den Schulen oder die Ausbildung von Imamen, wird deutlich, dass an vielen Ideen Said Nursis angeknüpft werden kann.

64 Vgl. ebd., S. 51. 65 Vgl. ebd., S. 481. 66 Vgl. Nursi, Sözler, S. 657.

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Religionspädagogik bei Said Nursi

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Kapitel 5: Dialog der Religionen

Erna Zonne

Dialog der Religionen bei Said Nursi

Die Diskussion um einen möglichen Beitrag Nursis zum Dialog der Religionen wird im folgenden Kapitel begonnen mit diesbezüglichen Gedanken des Jesuitenpaters Prof. Dr. Thomas Michel. Er nimmt mit seinem Artikel „Said Nursi and the Dialogue of Religion“ eindeutig eine bejahende Position ein. Die aufbauende Haltung Michels ist vergleichbar mit seiner Stellungnahme in Vorlesungen in New York, Yogyakarta, in der Türkei, Malaysia und auf den Philippinen, wo er an katholischen Fakultäten in Islamische Studien und an islamischen Instituten in christliche Theologie einführte. Auch im vorliegenden Band ist Michels Artikel darauf ausgerichtet, den positiven Beitrag des in einer Religion verorteten Theologen, in diesem Fall Said Nursi, für andere Religionen, in diesem Fall das Christentum, hervorzuheben. Er versucht deswegen aufzuzeigen, was Nursi in den anderen Religionen als Wahrheitselemente aufleuchten sieht. Andere Religionen enthielten Elemente der Heiligkeit, Wahrheit und Güte. Sie würden die Grundlagen für einen „echten“ Dialog und eine Kooperation zwischen den Gläubigen aller drei Religionen bilden. Michel geht jedoch nicht auf kritische Bemerkungen Nursis hinsichtlich des Christentums1 ein. Er betont, dass durch das Versammeln mit Gläubigen anderer Religionen das persönliche religiöse Leben sowie der jeweilige Glauben vertieft würden2 und

1 Nursi nimmt nach Erachten der Autorin andernorts durchaus einen kritischen Standpunkt bezüglich dessen, was die Religionen mit anderen wahrhaften Elementen seiner Meinung nach falsch zusammengestellt bzw. gedeutet haben, ein. So heißt es beispielsweise in Nursis Kommentar zu Sure 112, Vers 1: „Sprich: ‚Er ist Gott, der der Einmalige von absoluter Einheit ist‘“, lautet es: „Dieser Satz weist in aller Deutlichkeit sämtliche Glaubensvorstellungen zurück, die Gott Söhne oder Töchter zuschreiben. Weder sind die Engel Gottes Töchter, wie manche Heiden meinen, noch ist Jesus Gottes Sohn, wovon die Christen ausgehen. Die Religion Gottes, die den Propheten verschiedener Völker offenbart wurde, hat zu allen Zeiten die gleiche Essenz besessen. Im Laufe der Geschichte wurden ihre Botschaften jedoch oft fehlinterpretiert“; A. Ünal, Der Koran und seine Übersetzung mit Kommentar und Anmerkungen, Offenbach 2009. 2 Vgl. Thomas Michel, „Said Nursi and the Dialogue of Religion“, im vorliegenden Band, Punkt 3.

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unterstreicht unter Rückgriff auf ein Zitat Nursis3, dass der Kontakt mit anderen Religionen die „Qualitäten“ der Zivilisation stärken könne.4 Er argumentiert, dass dieser Ansatz eine Basis einer islamischen Religionstheologie sein könne: eine islamische Sichtweise auf die Weltreligionen.5 Direkt am Anfang des zweiten Abschnitts seines Beitrags erweitert Michel diesen wohl in der religionstheologischen Dimension der Wesensgleichheit wurzelnden Gedanken. Der „echte Dialog“, den Michel befürwortet, hat als Anfangspunkt, dass die Wahrheit eine Art ‚Schnittmenge‘ aus allen religiösen Traditionen ist. Das, worüber alle drei Religionen sich einig sind, zeige der Offenbarungsgehalt dieser Wahrheiten.6 Michel sieht sich in dieser Meinung bestärkt durch ein Zitat von Nursi.7 Die Religionen hätten zudem ähnliche Heils- und ethische Orientierungsfunktionen,8 wenngleich sich die Formen, in denen diese zur Geltung kommen, den jeweiligen kulturellen Gegebenheiten angepasst hätten. Wie auch während Michels Tätigkeiten als Amtsleiter für die Beziehungen mit Muslimen, im Päpstlichem Rat für den Interreligiösen Dialog und als Secretary for Interreligious Dialogue for the Jesuits (Rome) deutlich wurde, plädiert Michel anstatt einer ‚Mission‘ für eine Zusammenarbeit mit Muslimen, einen gemeinsamen Dialog. Der gegenseitige Austausch von Informationen soll, so argumentiert Michel unter Verweis auf ein weiteres Zitat Nursis9, vor allem auch ein Bündnis der Opposition gegenüber dem Atheismus und Materialismus ermöglichen.10 Im Dialog sollten Unterschiede diskutiert werden.11 Michel hat die Risale-i Nur zur Inspiration für eine gemeinsame Konfrontation des materialistischen Wertesystems gelesen.12 Damit lag der Schwerpunkt auf den gemeinsamen ethischen Werten. Unterschiede werden eher vernachlässigt. Auch im Beitrag von Dr. Andreas Renz wird auf die von Nursi befürwortete Kooperation zwischen Muslimen und Christen eingegangen, die es ermögliche, den gemeinsamen Feind, „[d]ie Krankheiten der Moderne“13, zu besiegen. We-

3 Vgl. Said Nursi,„The Twenty-fifth Word“, First Light, Third Ray, in: Blitze. Kommentare zum Qur’an, Ulm o. J., S. 421. 4 Vgl. Michel, „Said Nursi“, 5. 5 Vgl. ebd., 2. 6 Vgl. ebd., 3. 7 Nursi, The Word, „The Twenty-Ninth Word“, First Aim, S. 530. 8 Michel, „Said Nursi“, 2. 9 Said Nursi, Emirdag˘ Lahikası, I/270. 10 Vgl. Michel, „Said Nursi“, 5. 11 Vgl. ebd., 6. 12 Vgl. ebd., 7. 13 Vgl. Andreas Renz, „Das Christentum in der Sicht Said Nursis und die Bedeutung seiner Theologie für den christlich-islamischen Dialog – eine katholische Perspektive“, im vorliegenden Band, 1.1.

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sentliche Grundlage bilden jedoch andere Zitate Nursis.14 Da Michel kaum auf konstitutive Unterschiede der weltanschaulich-religiösen Pluralität eingeht, wird zwischen seinem und Renz’ Beitrag ein starker Kontrast offenbar. Dies zeigt sich bereits in der Überschrift des Beitrags von Renz: „Das Christentum in der Sicht Said Nursis und die Bedeutung seiner Theologie für den christlich-islamischen Dialog – eine katholische Perspektive“. In seinem Artikel macht Renz seine normative Verortung in der katholischen Theologie deutlich; von Letzterer ausgehend nähert sich der Autor dem Gedankengut Nursis. So vergleicht Renz die Ratschläge für die Bildung von Gläubigen im Risale-i Nur (Sendschreiben des Lichts) mit pastoralen Dienstleistungen.15 Er vergleicht die Kritik Nursis hinsichtlich des Atheismus und des Unglaubens mit den kritischen Bemerkungen Kardinal Joseph Ratzingers bezüglich der in der Gesellschaft herrschenden „Diktatur des Relativismus“16. Nursi und Benedikt XVI. seien durchaus Geistesverwandte, jedoch gebe es eindeutig Unterschiede hinsichtlich der Heilsmittel: „Nursi sieht den Heilsweg allein im Koran und im islamischen Glauben, Papst Benedikt in der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus“17. Renz setzt sich zum Ziel, der Frage nachzugehen, „wie Nursi das Christentum und die Christen gesehen hat“.18 Wie auch in seiner Dissertation (2002) nimmt Renz dabei eine Beurteilung auf der Grundlage von gegenwärtigen katholischtheologischen Standpunkten ein. Der Fachreferent für Ökumene und Interreligiösen Dialog im Erzbischöflichen Ordinariat München betont die Unterschiede und gemeinsamen Grundlagen der christlichen und islamischen Theologie: sein Forschungsschwerpunkt überhaupt.19 Er zitiert bei der Diskussion der Unterschiede die Überlegungen Nursis20 zur Endzeit. Darin werde deutlich, dass Nursi der Meinung sei, dass dann das gegenwärtige Christentum „gereinigt“ werde vom Aberglauben sowie von Verfälschungen und sich mit den Wahrheiten des Islams vereinige.21 Nursi22 betrachtet die Mitglieder der christlichen Gemeinschaft als „muslimische Christen“. 14 Said Nursi Nursi, The Damascus Sermon, Istanbul 1996, S. 224, 227, 301. 15 Vgl. Renz, „Das Christentum in der Sicht Said Nursis“, Einleitung. 16 J. Ratzinger, „Predigt zur Missa Pro Eligendo Romano Pontifico am 18. April 2005“, URL: http://www.vatican.va/gpII/documents/homily-pro-eligendo-pontifice_20050418_ge.html (letzter Zugriff: 02. 06. 2011). 17 Vgl. Renz, „Das Christentum“, 1.1. 18 Vgl. ebd., Einleitung. 19 Vgl. A. Renz/S. Leimgruber, Christen und Muslime. Was sie verbindet – was sie unterscheidet, München 2004; A. Renz/H. Schmid/J. Sperber/D. Terzi, Identität durch Differenz? Wechselseitige Abgrenzungen in Christentum und Islam, Regensburg 2007. 20 Said Nursi, Die Briefe. Über Natur und Ziel des Menschen, des Lebens und aller Dinge, Köln 2004, S. 99f. 21 Vgl. Renz, „Das Christentum“, 1.2. 22 Nursi, Die Briefe, S. 580.

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Am Ende des ersten Abschnitts stellt Renz – nicht unerwartet – kritische Fragen.23 Das dualistische Weltbild Nursis erscheint Renz als zu „einseitig, apologetisch oder naiv.“24 Nursi idealisiere die islamische Geschichte, weil er die „Realitäten der anderen Religion mit dem Ideal der eigenen“25 vergleiche. Auch den Führungsanspruch des Islam bei Nursi kritisiert Renz.26 „Letztlich beschleicht den Christen ein ungutes Gefühl, wenn Nursi vorschlägt, erst einmal die Unterschiede zwischen Christen und Muslimen auszuklammern, bis der ‚gemeinsame Feind‘ [der Atheismus, E. Z.] besiegt ist.“ Renz fragt zu Recht, was dann geschehen werde. Die Damaskuspredigt Nursis27 zeige nämlich eindeutig, dass die Unterschiede zwischen Christentum und Islam dann keine Existenzberechtigung mehr haben und das Christentum dem Islam einverleibt werden solle.28 Renz stellt sich die Frage, „wozu ein Dialog noch dienen soll, wenn beim anderen nur das anerkannt wird, was mit dem eigenen Glauben übereinstimmt und vom anderen letztlich doch die Konversion erwartet wird.“29 Auch hinsichtlich des Verhältnisses von Glauben und Vernunft30 gebe es Ähnlichkeiten. Sowohl Nursi als auch Papst Benedikt hielten die moderne westliche Philosophie, die sich positivistisch auf das naturwissenschaftlich Beweisbare zurückzieht, für destruktiv.31 Des Weiteren ähnele die Überzeugung von der natürlichen Gotteserkenntnis des katholischen Lehramts am Ende des 19. Jahrhunderts der Aussage Nursis, dass das kosmologische Argument ein überzeugender Gottesbeweis sei.32 Es gebe jedoch auch Differenzen, die im weiteren Dialog vertieft und geklärt werden könnten. Renz argumentiert aus Sicht der heutigen christlichen Theologie, dass die ‚Gottesbeweise‘ lediglich als zusätzliche Argumente für die Plausibilität und Vernünftigkeit des Gottesglaubens dienten. Der Autor kritisiert Nursis Überzeugung, dass die göttliche Offenbarung das einzige Kriterium für die Wahrheit sei.33 „Dies aber würde bedeuten, einem reinen Fideismus zu verfallen und die rationale Plausibilität des Glaubens preiszugeben.“34

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Vgl. Renz, „Das Christentum“, 1.3. Ebd., 1.3.1. Ebd., 1.3.2. Vgl. ebd., 1.3.3. Nursi, The Damascus Sermon, Istanbul 1996, S. 27. Vgl. Renz, „Das Christentum“, 1.3.3. Ebd. Vgl. ebd., 2.1. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl S. Vahide, „An Outline of Bediuzzaman Said Nursi’s Views on Christianity and the West“, in: I. Markham/I. Ozedemir, Globalization, Ethics and Islam. The Case of Bediuzzaman Said Nursi, Aldershot/Burlington 2005, S. 109–118, hier S. 68. 34 Renz, „Das Christentum“, 2.1.

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Renz ist der Meinung, dass es auch bezüglich der Sakramentalität der Welt und der Würde des Menschen Gemeinsamkeiten zwischen katholischer Theologie und dem Gedankengut Nursis gebe.35 Beide gehen davon aus, dass wenn Gott in der Schöpfung zu erkennen, Gott logischerweise auch im Menschen zu erkennen ist. Beide vertreten folglich die Ansicht, dass sich in den Menschen die Eigenschaften Gottes widerspiegeln. Der Autor setzt sich ferner (2.3.) mit dem christlichen Gebot der Nächstenliebe auseinander und findet dieses im Zentrum von Said Nursis religiöser Ethik ‚Brüderlichkeit und Liebe‘. Kritisch fragt Renz jedoch, „ob sich Liebe bzw. Mitgefühl bei Nursi nur auf muslimische ‚Brüder‘ beziehen, oder ob diese [wie im Christentum, E. Z.] als universales Gebot verstanden werden.“36 In erster Linie gehe es Nursi tatsächlich um die Stärkung der umma. Anhängern Nursis zufolge gebe es hinsichtlich des Liebesgebotes „so etwas wie konzentrische Kreise, eine Art ‚Zwiebelschalenmodell‘ in Bezug auf die Adressaten der Barmherzigkeit.“37 Im Abschnitt 3.4. geht Renz der Frage nach, welche Auffassungen Nursis mit gegenwärtiger christlicher Theologie bezüglich des Theodizeeproblems übereinstimmen. Er zeigt auf, dass beide „in der von Gott geschenkten Freiheit und Verantwortung des Menschen den entscheidenden Schlüssel zur Erklärung des Bösen und des Übels“38 sähen. Renz sieht bei Nursi die Gefahr, dass „menschliches Leid grundsätzlich als Prüfung des Gläubigen gesehen und pädagogisch verzweckt wird“39. „Die Gefahr der Vertröstung auf das Jenseits, statt Trost und Hilfe im Diesseits zu geben, liegt hier nicht fern.“40 Aus christlicher Sicht sei auch Klage legitim. „Wenn Nursi einen Hadith zitiert, wonach die in Leid verbrachte Zeit ohne Klage als Gebet gilt, so ist aus biblisch-christlicher Sicht dazu zu sagen: Auch die Klage kann zum Gebet werden, wie die Klagepsalmen zeigen.“41 Renz hält es für sehr problematisch, „wenn einer von Nursi zitierten Überlieferung zufolge Krankheiten eine Buße für die Sünden sind. Diesen ‚Tun-Ergehen-Zusammenhang‘ hat Jesus mehrmals kritisiert und zurückgewiesen.“42 Die Herangehensweise beim Verfassen dieses differenzierten Beitrages sind für die religionspädagogische Lehre relevant. In seiner Vorlesung „Interreligiöse Lernprozesse am Beispiel von Christentum und Islam“ geht Renz davon aus, dass „der Beitrag von Christen und Muslimen zu einem konstruktiven Zusammenleben […] eine fundierte Kenntnis der eigenen wie der anderen Religion sowie 35 36 37 38 39 40 41 42

Vgl. ebd., 2.2. Ebd., 2.3. Ebd. Ebd., 3.4. Ebd. Ebd. Ebd. Renz, „Das Christentum“, 3.4; vgl. Lk 13,2–5; Joh 9,1–3.

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der Wechselwirkungen“43 voraussetze. Dies bedeutet: Brücken bauen zu Aspekten bei Said Nursi, die deutlich mit dem Christentum vereinbar sind, und konstruktive Kritik äußern, wo sich Elemente aufzeigen, die eher mit der katholischen Theologie unvereinbar sind. Vergleichbar mit Dr. Andreas Renz nimmt auch Prof. Dr. Lutz Berger einen eher kritisch-konstruktiven Standpunkt zum Gedankengut Nursis ein. Seinem Beitrag „Said Nursi und das Christentum – Zur Funktion eines Motivs hagiographischer Literatur in der Nurcu-Bewegung“ liegt eine islamwissenschaftliche und turkologische Perspektive zugrunde. Berger konzentriert sich dabei auf die wenigen Zeugnisse über Begegnungen Nursis mit Christen in den Biografien Nursis, sowohl in geschriebener Form als auch in Zeichentrick-Darstellung, die teils fiktionale Elemente enthalten. Das hagiographische Bild Nursis, das in diesen Quellen entstehe, umfasse Beglaubigungswunder, Zuschreibungen von Talenten und Gaben.44 Berger möchte nun untersuchen, „worin die Funktion der Schilderung von Nursis Begegnungen mit Christen in den hier in Augenschein genommenen Texten liegt.“45 Berger fand heraus,46 dass Biografen Nursis sogar behaupteten, dass die Abfassung der Sammlung Risale-i Nur auf eine intensive Beschäftigung mit den Aussagen eines Christen zurückzuführen sei. Zwar bezöge sich diese Auseinandersetzung nicht auf eine direkte persönliche Begegnung, sondern auf das Lesen eines Zeitungsartikels im Jahr 1898, in dem ein britischer Kolonialminister dazu aufgerufen haben soll, den Muslimen ihre Liebe zum Koran zu nehmen, um sie auf diese Weise leichter beherrschen zu können.47 Laut seiner Biografen hätte Nursi während des Ersten Weltkrieges als Führer eines Freiwilligenverbandes an der Ostfront dafür gesorgt, dass seine Soldaten keine armenischen Kinder töteten, obwohl die Armenier angeblich grässliche Massaker an der muslimischen Bevölkerung, auch Kindern, verübt hätten.48 Folglich hätten die armenischen Freischärler die Gewohnheit aufgegeben, muslimische Kinder abzuschlachten. Berger ist der Meinung, dass es den Biografen Nursis vor allem darum gegangen sei, Nursi als geistreich darzustellen: Nursis „Klugheit im Angesicht eines unbarmherzigen Feindes“49 stehe im Zentrum dieser Erzählung. 43 A. Renz, „Interreligiöse Lernprozesse am Beispiel von Christentum und Islam“, in: Vorlesungsverzeichnis der Universität, WS 2010/2011, München 2010. 44 Vgl. Lutz Berger, „Said Nursi und das Christentum – Zur Funktion eines Motivs hagiographischer Literatur in der Nurcu-Bewegung“, im vorliegenden Band, Punkt 1. 45 Ebd. 46 Vgl. ebd., 2. 47 Vgl. z. B. N. S¸ahiner, Bediüzzaman Said Nursî, Istanbul 2008, S. 18. 48 Vgl. T.Tola/S. Özdemir, Bediüzzaman Saîd Nursî. Tarihçe-i Hayatı, Eserleri Meslek ve Mes¸rebi, Ankara 1958, S. 68. 49 Berger, „Said Nursi“, 2.

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Biografen berichten über die Kriegsgefangenschaft, dass sich Nursi zu dieser Zeit geweigert haben soll, für den christlichen Großfürsten Nikolas Nikolayewitsch aufzustehen. Nursi erklärte dem Großfürsten: ‚Eine gläubige Person steht über jemandem, der Gott nicht kennt. Folglich stehe ich vor dir nicht auf!‘50 Berger ist der Meinung, dass diese Haltung nicht gerade von Respekt gegenüber dem Christentum zeuge.51 Weiterhin habe Nursi dem Erzbischof von Canterbury eine schriftliche Aufklärung über sechs Fragen zum Islam verweigert: „Solange britische Truppen Istanbul besetzt halten, sei an einen Dialog mit einem der ihren nicht zu denken.“52 Während des Unabhängigkeitskrieges habe sich Nursi von der religiös indifferenten Atmosphäre in Mustafa Kemals Ankara enttäuscht gezeigt. Kemal hätte zwar versucht, den damals populären Said Nursi für sein Vorhaben zu gewinnen, doch Nursi seien die Ideen Atatürks als zu weltlich erschienen. Nursi „verfasst daraufhin eine Erklärung, in der er den Kampf religiös deutet.“53 Briten und Griechen seien Feinde des Islam, Widerstand könne nur auf der Grundlage eines neu belebten Islam eine Chance haben.54 Der Biograf S¸ahiner55 berichtet weiterhin von einem Besuch Nursis beim Patriarchen von Konstantinopel Athenagoras im Jahr 1953. Nursi soll den Patriarchen davon überzeugt haben, gleichzeitig das Christentum als wahre Religion und Muhammad als Propheten und den Koran als Wort Gottes anzunehmen.56 ˙ Darüber hinaus berichtet der S¸ahiner,57 dass Nursi seine Werke dem Vatikan geschickt habe.58 Berger konkludiert am Ende des zweiten Abschnitts, dass das Verhältnis beider Religionen ein antagonistisches sei. In dem Konflikt zwischen Christen und Muslimen sei es bei Nursi selbstverständlich der Islam, „der zu guter Letzt immer wieder triumphiert.“ In Abschnitt drei zeigt sich Bergers eigener Schwerpunkt in Forschung und Lehre. Er interessiert sich für die Bedeutung des Religionserneuerers Said Nursi im Hinblick auf die Geistesgeschichte der zeitgenössischen Türkei. Das Leben der damaligen und gegenwärtigen Anhänger der Erweckungsbewegung Nurculuk – einer der einflussreichsten religiösen Strömungen in der Türkei – ist für Berger 50 51 52 53 54 55 56 57 58

Tola/Özdemir, Bediüzzaman Saîd Nursî, S. 71. Vgl. Berger, „Said Nursi“, 2. Ebd. Ebd. Vgl. Tola/Özdemir, Bediüzzaman Saîd Nursî, S. 90f. Vgl. S¸ahiner, Bediüzzaman Said Nursî, S. 117. Vgl. Berger, „Said Nursi“, 2. Vgl. S¸ahiner, Bediüzzaman Said Nursî, S. 394. Vgl. Berger, „Said Nursi“, 2.

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von großem Interesse. So weist er darauf hin, dass „in den 50er Jahren, als die Nursi-Biografie ihre feste, bis heute praktisch unveränderte Form gewann […] die wenigsten der Anhänger mit Christen je Kontakt gehabt haben.“59 Die wenigen Zeugnisse über Begegnungen Nursis mit Christen in den Biografien Nursis vergleicht Berger deswegen mit den vielen Berichten über Begegnungen Nursis mit zumindest formal-muslimischen Gegenübern (z. B. Emir Mustafa Pas¸a; Sultan Abdülhamit II; kemalistischen Beamten).60 Berger weist auf die Parallelität des Umgangs Nursis mit obengenannten Christen im Vergleich mit muslimischen Gegnern hin. Das Auftreten Nursis in diesen Fällen sei selbstbewusst gewesen, mutig, aber auf friedlichem Wege und mit dem Ziel, das Gegenüber von der Richtigkeit des Islam, so wie ihn Nursi verstehe, zu überzeugen.61 Die von Christen handelnden Geschichten in der Nursi-Biografik dienten nicht dazu, Handlungsanweisungen zum Umgang mit Christen zu bieten, da diese vor der Massenauswanderung von Muslimen aus der Türkei nach Westeuropa in der Alltagserfahrung der Nurcus keinerlei Rolle gespielt hätten. Das Christentum nehme die Rolle des Islamgegners überhaupt ein und könne damit mit dem vermeintlich religionsfeindlichen Vertreter des kemalistischen Staates ausgetauscht werden.62 Laut Berger träten „in neueren Nurcu-Texten […] europäische Atheisten an die Stelle der Christen“63. Letztendlich bleibe das Ziel das gleiche: Europa soll „früher oder später islamisch werden.“64 „Europa und Amerika sind mit dem Islam schwanger.“65 Damit ist die Frage von Renz eindeutig beantwortet worden.

Literatur Bahadırog˘lu, Y., Bediüzzaman Said Nursî. Hayatı-Tefekkürü-Mücadelesi, Istanbul ca. 2008. Nursi, Said, Blitze. Kommentare zum Qur’an, Ulm o. J. Ders., The Damascus Sermon, Istanbul 1996. Ders., Die Briefe. Über Natur und Ziel des Menschen, des Lebens und aller Dinge, Köln 2004. Ratzinger, J., „Predigt zur Missa Pro Eligendo Romano Pontifico am 18. April 2005“, URL: http://www.vatican.va/gpII/documents/homily-pro-eligendo-pontifice_20050418_ge. html (letzter Zugriff: 02. 06. 2011). 59 60 61 62 63

Ebd., 3. Vgl. ebd. Vgl. ebd., 4. Vgl. ebd. Ebd., genannt ist hier als neuerer Nurcu-Text: Bahadırog˘lu, Bediüzzaman Said Nursî. HayatıTefekkürü-Mücadelesi, Istanbul ca. 2008, S. 209f. 64 Ebd. 65 Tola/Özdemir, Bediüzzaman Saîd Nursî, S. 53.

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Renz, A., Der Mensch unter dem An-Spruch Gottes. Offenbarungsverständnis und Menschenbild des Islam im Urteil gegenwärtiger christlicher Theologie, Würzburg 2002. Ders./Leimgruber, S., Christen und Muslime. Was sie verbindet – was sie unterscheidet, München 2004. Ders./Schmid, H./Sperber, J./Terzi, D., Identität durch Differenz? Wechselseitige Abgrenzungen in Christentum und Islam, Regensburg 2007. Ders., „Interreligiöse Lernprozesse am Beispiel von Christentum und Islam“, in: Vorlesungsverzeichnis der Universität, WS 2010/2011, München 2010. S¸ahiner, N., Bediüzzaman Said Nursî, Istanbul 2008. Tola, T./Özdemir, S., Bediüzzaman Saîd Nursî. Tarihçe-i Hayatı, Eserleri Meslek ve Mes¸rebi, Ankara 1958. Ünal, A., Der Koran und seine Übersetzung mit Kommentar und Anmerkungen, Offenbach 2009. Vahide, S., „An Outline of Bediuzzaman Said Nursi’s Views on Christianity and the West“, in: Markham, I./Ozdemir, I., Globalization, Ethics and Islam. The Case of Bediuzzaman Said Nursi, Aldershot/Burlington 2005, S. 109–118.

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Said Nursi and the Dialogue of Religions

1.

Elements of Goodness in Other Religions

In a sense, the title of this paper is somewhat anachronistic. One would look in vain through the Risale-i Nur for any reference to a ‘dialogue’ among the various religions. The term ‘dialogue of religions’ did not come into current usage until after Said Nursi’s death in 1960. So it is not the precise term that should be looked for in the Risale-i Nur; rather, one must try to discover whether Said Nursi believed that Jews, Christians, and Muslims had anything positive to say to one another and whether he felt that there was any basis for their cooperating in the world. If Nursi’s notion had been simply that Jews and Christians were irreconcilable enemies of Muslims, to be opposed by pen and sword, there of course could be no possibility of real dialogue among them. Similarly, if he believed that the teachings of the three “heavenly religions”, as he called them, were so different and contradictory that no meaningful encounter was possible, if he considered the earlier religions as being wholly corrupt and devoid of any holiness, truth, and goodness, he could not be said to advocate a dialogue of religions. However, as the author hopes to show in this paper, Nursi does regard the other religions as possessing elements of holiness, truth, and goodness, which are the bases for a real conversation and cooperation among the followers of all three religions. In this paper the author is limiting himself to Said Nursi’s views about the possibility of dialogue with Christians and Jews. In the Risale-i Nur, Nursi was not writing a theoretical treatise on whether Muslims should be involved in dialogue with Buddhists, Hindus and the followers of other religions; the Risale is written as practical information and advice aimed at forming devout Muslims and answering the questions of the day. The non-Muslims encountered by the students of the Risale-i Nur were Jews and Christians, so it is the relationship of Muslims to these that is addressed.

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2.

Thomas Michel, S.J.

The Universality of Worship of God

The followers of other religions worship God, each in their own way. The fact that not only does the inanimate world worship the one God by performing its various natural functions, but also that the various religious groups seek to do God’s will as they understand it, is an argument, according to Nursi, for the existence of the One God. If there is ‘a kind of ’ real worship found among the followers of the various religions, it follows that there is a kind of spirituality and holiness present in them. Nursi explains: The involvement of each group of men in a mode of worship dictated by their innate dispositions, the species of worship engaged in by other animate beings, as well as inanimate beings, through the performance of their essential functions, the way in which all material and immaterial bounties and gifts in the cosmos become means inciting men to worship and thanks, to praise and gratitude; the fashion in which all the manifestations of the unseen and epiphanies of the spirit, revelation and inspiration, unanimously proclaim the exclusive fitness of one God to receive worship – all of this in most evidential fashion, proves the reality and dominance of a single and absolute Divinity.1

In noting “the fashion in which all the manifestations of the unseen and epiphanies of the spirit, revelation and inspiration unanimously proclaim the exclusive fitness of one God to receive worship”,2 Nursi invites Muslims to explore the ways in which the One God might be active also in other religions. Such theological investigations could form the basis of an ‘Islamic theology of religions’.

3.

Common Values and Teachings

Nursi holds that the points of commonality held among the followers of the heavenly religions are an argument in favor of the truth of those jointly-shared teachings. In this way, the beliefs of the various religions reinforce and confirm one another. In the Risale-i Nur, he speaks of a “general belief” (itikad-ı umumî) made up of those elements of faith shared by Jews, Christians, and Muslims and argues that this general belief must come from the revelation of one and the same God. An example of this general belief is the common acceptance of spiritual beings by the followers of all three religions. Regarding the reality of angels and spiritual beings, Nursi notes:

1 Said Nursi, The Rays, p. 172. 2 Ibid.: “vahy ve ilhamlar gibi bütün teres¸s¸uhat-ı gaybiye ve tezahürat-ı maneviyenin birtek I˙lahın mabudiyetini ilân etmeleri […].”

Said Nursi and the Dialogue of Religions

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Have you not seen and heard that all the scholars of the revealed religions throughout the ages from the time of Adam until now have agreed on the existence of angels and the reality of spiritual beings? The different groups of mankind [Jews, Christians, Muslims] have concurred in having seen and conversed with angels; in their narrations concerning them, it is as though they were discussing and narrating events about one another. Do you think that if not a single angel had ever been seen, and the existence of one or more not established through observation and their existence clearly perceived, that it would have been possible for such agreement and consensus to continue persistently and unanimously, based on observation, in such an affirmative and positive manner? 3

Nursi goes on to point out that the source of these common beliefs can only come from God. The very agreement among Jews, Christians, and Muslims on specific articles of faith is itself an argument in favor of the revealed nature of these truths. Could all three religions be wrong on points on which they all agree? In this insight of Nursi’s, can we not see a valid purpose of interreligious dialogue, one of confirming one another’s faith by recognizing the elements professed by all three religions? Nursi makes his point as follows: Is it possible that a baseless delusion should persist and become permanent in all the beliefs of mankind throughout all the revolutions it has undergone? And is it possible that the basis of the assertion of these scholars of the religions, of this mighty consensus, should not bear a certain intuition and empirical certainty? And is it at all possible that the intuition and empirical certainty which result from innumerable signs, and those signs which have been observed on numerous occasions, and those numerous observations should not all, without doubt or hesitation, be founded on necessary principles? In which case, the cause and the basis of the assertion of the universal belief held by these scholars are the necessary and categorical principles resulting from the great number of times the angels and spirit beings have been observed and seen, all of which demonstrates the strength of the consensus.4

4.

The Possibility of Friendship

On the basis that there are genuine elements of holiness and goodness in the other religions, Nursi holds that it is proper for Muslims to befriend and love their neighbors of the Peoples of the Book. Challenged that this was against the teaching of the Qurʾa¯n, Nursi showed that the Qurʾa¯n presumes that Muslims can love Christians and Jews, and gives as example that of a Muslim man married to a

3 Nursi, The Words, “The Twenty-Ninth Word”, First Aim, p. 530. 4 Ibid.

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woman from one of these communities. “Of course he should love her”,5 states Nursi. Nursi lived according to his word and admits that he had Christian friends, even in the most tragic of circumstances. When Nursi visited Van (Turkey) after the destruction of the city in the Russian invasion, he wept without distinction for both the Christian and Muslim victims, who had been his “friends and acquaintances”. “Most of the people of those houses had been my friends and acquaintances. The majority of them had died in the migrations – may God have mercy on them, or had done into wretched exile. Apart from the Armenian quarter, all the Muslim houses of Van had been leveled.”6

5.

The Two Sides of Europe

If Nursi accepts that there are elements of goodness and truth in the earlier heavenly religions, and that Muslims can have friends with those of the other communities, what is it in modern life that should drive Muslims and People of the Book into dialogue and cooperation? Nursi acknowledges that modern civilization is not all bad. He states that there are many good qualities to be found in modern Western civilization that derive “from the guidance of the Qurʾa¯n, especially, and from the preceding revealed religions.”7 However, in Nursi’s view, these positive virtues that are beneficial for humankind are outweighed by a number of negative values that modern civilization has adopted from non-religious and anti-religious philosophies. He says that European civilization has two sides. One current has worked to establish justice and to develop scientific thought for the benefit of society. In this it has been inspired by the teachings of true Christianity. The second current, rejecting Europe’s Christian heritage, has pursued various atheistic and materialistic philosophies to produce a selfish, impoverished, self-destructive civilization. Nursi states that he has no argument with the first, current of a Europe of faith. It is the second Europe that he considers a danger, not only to Islam, but to all the revealed religions.8 In opposing themselves to “the bases of all heavenly laws”,

5 Nursi, Münâzarat, pp. 26f. 6 Nursi, The Twenty-sixth Flash, “For the Elderly”, p. 315. 7 Nursi, “The Twenty-fifth Word”, First Light, Third Ray, p. 421. “I˙s¸te medeniyet-i hazıra, edyan-ı sâbıka-i semaviyeden, bahusus Kur’anın irs¸adatından aldıg˘ı mehasinle beraber, Kur’ana kars¸ı böyle hakikat nazarında mag˘lub düs¸müs¸tür”, Risale-i Nur Külliyatı Basım ve Dag˘ıtım, Istanbul 1994, p. 408. 8 Nursi, Emirdag˘ Lahikası, Vol. I, p. 270.

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those promoting the atheistic current of European civilization produce more harm than good and actually give false guidance to humanity.9 Since the divine and humane values beneficial to humanity are taught not only by the Qurʾa¯n, but also by “the preceding revealed religions”, such values form the basis for dialogue and cooperation between the followers of the “revealed religions” of Judaism, Christianity, and Islam. Taking Nursi’s lead in the Risale-i Nur, one can conclude that dialogue among Jews, Christians, and Muslims is both a legitimate activity and an important tool for the religions to carry out their reason for existence in today’s world.

6.

Dialogue on Societal Values

In proposing constructive relations between the followers of the revealed religions, Nursi is not content to state a general principle; instead, he gives concrete examples of societal values on which dialogue is needed. Noting that many of the standards taught by the heavenly religions challenge the assumptions of modern societies, he tries to point out specific contrasts between divinely revealed values and those devised by human caprice. According to Nursi, there is a need for the various adherents to religious faith today to share their views and insights on these and similar topics, so that together they can offer to secular society the wisdom contained in revealed truth. In suggesting that there be a correspondence and cooperation among the followers of the “heavenly religions”, Nursi was proposing, long before other religious leaders were speaking about interfaith dialogue, a platform on which interreligious encounter needs to take place. Dialogue among the true followers of the various religions should focus on questions of the values by which societies are to be guided. Nursi holds that human philosophy proposes a set of values that should characterize modern societies, and to these he contrasts the “divine values” learned from revelation and taught by the religions. He thus lays the groundwork for dialogue, not only among the religions, but also between religious believers and those whose value systems derive from human philosophy. The contrasts he suggests are: – force vs. truth, – self-interest vs. virtue, God’s pleasure, – conflict vs. mutual assistance, – racism, nationalism vs. the bonds of unity created by religion, class, nation. 9 Ibid., Vol. II, pp. 99f.

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1) Force vs. truth. According to Nursi, there is an innate tendency in modern societies for people to resort to force to obtain what they want and to make their will prevail over their opponents. This willingness to regard human life as expendable and to consider it acceptable to force others to accept one’s beliefs and preferences is what is often called a ‘culture of violence’. A basic characteristic of such societies is aggression. One does not have to be a very acute observer of modern life to recognize that a culture of violence is an apt description of many of the attitudes that lie behind personal, national, and geopolitical decisions today. To the endemic acceptance of the use of force to attain one’s objectives, Nursi counters with the Qurʾa¯nic emphasis on “truth”. According to Nursi, the Qurʾa¯n takes truth as its starting point. Rather than trying to force others to follow one’s point of view, the Qurʾa¯n invites people to engage in a study of the truth. People are invited to “consider, reflect together” on the truth of reality, and the Qurʾa¯n specifically invites the Jews and Christians – “People of the Book” – to “come together on a common word” (Qur’an 3/64). Since this divine value of truth against the use of force is taught not only by the Qurʾa¯n but also by the “preceding revealed religions”, it follows that alternatives to violence and the use of force would appear to be fruitful areas for dialogue among the spiritual children of Abraham. Nursi is aware of the sad facts of history that the followers of Judaism, Christianity and Islam, while professing to worship and obey the God of love and compassion, have often resorted to violence and use of force to impose their will on others. What Nursi is calling for is, in light of the present tendency, both in international relations and in the microcosms of societal and family life, to accept and perpetuate a culture of violence, that the believers of all three revealed religions should engage in a dialogue of truth regarding the way that God wants people to live and act and together seek realistic alternatives to the use of force to achieve one’s aims. 2) Self-interest vs. serving God. A second characteristic of modern societies is what Nursi describes as people using personal benefit or self-interest as the ultimate goal of their actions. This is what can be called a ‘what’s in it for me?’ mentality. Personal benefit dictates and directs what people do. ‘I have the right to do what I want and no one has a right to stop me.’ In its most selfish expression it can lead to an individualistic social and political philosophy that holds: ‘If I want to amass wealth, to lead a wholly selfish existence, and to ignore the suffering of others, that is my inalienable right, which cannot be restricted or limited either by government legislation or by the moral teaching of the religions.’ In the business world, this attitude is expressed as a single-minded focus on ‘the bottom line’, a concern with maximizing profit without attention to the human cost and negative results.

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Nursi is correct in understanding the characteristic of self-interest as a product of Enlightenment philosophy, particularly with its emphasis on selffulfillment. From learned tomes to popular novels, songs, and films, self-fulfillment has been promoted and encouraged as both the goal of human striving and the measure of social achievement. This is succinctly expressed in the publisher’s introduction to a work by Alan Gewirth:10 “Cultures around the world have regarded self-fulfillment as the ultimate goal of human striving and as the fundamental test of the goodness of a human life. The ideal has also been criticized, however, as egotistical or as so value-neutral that it fails to distinguish between, for example, self-fulfilled sinners and self-fulfilled saints.”11 It is precisely this distinction between “self-fulfilled sinners” and “self-fulfilled saints” that, according to Nursi, needs to be addressed. In what does true self-fulfillment consist? What should humans be striving for? What should be the motivation that propels and directs one’s activities? To self-interest or personal benefit Nursi opposes the attainment of virtue; as motivation for acts great or small, he proposes that everything be done for “God’s pleasure”. This is a basic distinction and, depending on which set of values is accepted and followed in practice, will profoundly influence the shape and character of society. When a person studies, works, marries, and raises children, does he do this for purposes of fulfilling himself and making his life a satisfying whole, or because he wants to act according to God’s will, to do something pleasing for God? So long as the activity in which a person is engaged continues to appear worthwhile and pleasing, there is no problem in regard to which set of motivations are being followed. However, when one’s work or relationship or marriage becomes tedious or burdensome, the choices one makes concerning the future will be determined largely by how one regards the competing claims of selffulfillment and moral obligation. 3) Conflict vs. solidarity. A third characteristic of modern societies is that of conflict as a natural and inevitable trait of social relations. Whether this is expressed as society being governed by ‘the law of the jungle’, with a ‘dog eat dog’ mentality of aggressive domination being accepted as unavoidable in commercial and political relations, or whether society is regarded as being inescapably subject to a recurrence of class warfare and alienation due to the conflict of interest in a capitalist system, conflict is held by many to be a normal and necessary element of human life. The late Samuel Huntington’s thesis of a “clash 10 Alan Gewirth (1912–2004) was an American philosopher who taught at the university of Chicago and was best known for his ethical rationalism. 11 Publisher’s introduction to Alan Gewirth (ed.), Self-Fulfillment, Princeton 2009; URL: http:// press.princeton.edu/titles/6413.html (inactive link).

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of civilizations” was held up by many as a paradigm of international relations that provided an acceptable base for foreign policy decisions. From the point of view of the Qurʾa¯n and “the earlier revelations”, Nursi challenges this understanding of conflict as both inevitable and acceptable. To it he opposes the “principle of mutual assistance”. The way that God intends that people live on earth is by supporting and helping one another, bearing one another’s burdens, and lifting the yoke of oppression from the shoulders of those who are mistreated and oppressed. Certainly, anyone with even a passing knowledge of the teaching of the Jewish prophets, of Jesus, and of Muhammad will find a consistent call for people to have an effective concern for others, particularly for the troubled and the vulnerable. The religions do not teach that “man is enemy to man”, but that God has created people as brothers and sisters whose lives will be judged on the way they obeyed God and treated one another. It is a sad fact of history that religious believers have not always acted in accord with the teaching of those sent to them by God, but Nursi’s point remains valid that Judaism, Christianity, and Islam all teach that solidarity and mutual assistance are values by which society should be governed, rather than “aggression and thriving on devouring others.”12 4) Nationalism vs. unity. Similarly, Nursi regards the type of racist and nationalist ideologies that caused such warfare and destruction in the 19th and 20th centuries as factors that divide humanity into competing and mutually aggressive adversaries. Judgments about others based solely on their race, ethnic group, religious adherence, or nationality may be a universal feature of modern life, but Nursi holds that these tendencies need to be countered by the bonds of fellowship uniting people of various nations and backgrounds. Near the end of his life, Nursi supported the Baghdad Pact on the grounds that by joining the Pact Turks would not only be united with 400 million brothers and sisters among Muslim peoples, but that the international accord would also gain for Muslim Turks “the friendship of 800 million Christians”13 and be a step toward a much-needed peace and general reconciliation between the two communities of faith. When Bayram Yüksel, one of Nursi’s closest disciples, wanted to go to Korea to take part with the Turkish army as ally of the American forces during the Korean War, Nursi encouraged him, noting that the Americans were ahl al-kita¯b (people of the Book) and fighting the atheistic communists. The concern that society be marked by bonds of unity rather than torn asunder by racist attitudes and nationalist ideologies fits in with Nursi’s priorities 12 Nursi, Risale-i Nur, “Twenty-Fifth Word”, First Light, Third Ray, p. 420. 13 Nursi, Emirdag˘ Lahikası, II, p. 24, 56, cited in: S¸ükran Vahide, Bediuzzaman Said Nursi, Istanbul 1992, p. 354.

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for modern societies. According to Nursi, the enemies of Muslims are not one or another non-Muslim community but rather the general obstacles to human happiness and solidarity that must be faced together by all religious communities. He identifies the most important of these enemies to human happiness as “ignorance, poverty, and disunity”.14 That one of the marks of Islamic societies should be unity and fellowship, based on common human bonds, is a key to Nursi’s understanding of the need for interreligious dialogue and cooperation.

7.

The Task of the Religions: Offer a Transcendent Perspective

Instead of fostering fellowship and mutual aid among nations, social values are too often oriented toward providing the populace with amusements, distractions, and opportunities, for instant gratification. People easily become unfocussed regarding the needs and sufferings of others. The result, as Nursi notes, is “a superficial happiness for 20 % of humankind, while casting 80 % into distress and poverty.”15 It is here that the teaching of Islam and the previous revelations, according to Nursi, must offer a transcendent perspective. The Sacred Books of Jews, Christians, and Muslims teach that rugged individualism is not the way that God intended people to behave; God’s will is that people must seek and establish bonds of unity and cooperation that go beyond those of strategic alliances and narrow self-interest. In setting forth these dichotomies of force vs. truth, self-interest vs. service of God, conflict vs. solidarity, and nationalism vs. unity, Nursi is offering the followers of Judaism, Christianity, and Islam a platform for dialogue. These are, even today, the issues on which religious adherents must communicate with one another and confront together materialist value systems. In calling for this kind of encounter and cooperation, Nursi was ahead of his time, but his conviction of the importance of this interreligious dialogue is still valid a half-century after his death.

14 Münâzarat, (Ott. ed.), p. 433, cited in: S¸ükran Vahide, Islam In Modern Turkey: An Intellectual Biography Of Bediuzzaman Said Nursi, New York 2005, p. 95. 15 Nursi, “Twenty-Fifth Word”, p. 420.

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Thomas Michel, S.J.

Literature Gewirth, Alan (ed.), Self-Fulfillment, Princeton: Princeton UP 2009, publisher’s introduction, URL: http://press.princeton.edu/titles/6413.html (last retrieval: 23. 11. 2011, link inactive now). Nursi, Said, The Rays, Konak-Izmir: Kaynak 1998. Nursi, Said, The Words, Konak-Izmir: Kaynak 1992. Nursi, Said, The Flashes, Konak-Izmir: Kaynak 1995. Nursi, Said, Münâzarat, Risale-i Nur Külliyatı, Istanbul: Yeni Asya Yayınları 1996. Nursi, Said, Emirdag˘ Lahikası, (Vol. I–II), Risale-i Nur Külliyatı, Istanbul: Yeni Asya Yayınları 1996. Nursi, Said. Risale-i Nur Külliyatı, Istanbul: Yeni Asya Yayınları 1996. Nursi, Said, Sözler, Risale-i Nur Külliyatı Basım ve Dag˘ıtım, Istanbul: Envar Nes¸riyat 1994. Vahide, S¸ükran, Islam In Modern Turkey: An Intellectual Biography Of Bediuzzaman Said Nursi, New York: SUNY Press 2005.

Lutz Berger

Said Nursi und das Christentum – Zur Funktion eines hagiografischen Motivs in der Nurcu-Bewegung

1

Hagiografische Nurcu-Literatur

Said Nursi ist auch 50 Jahre nach seinem Tod für seine Anhänger noch präsent. In regelmäßigen Studienzirkeln lesen und deuten sie die Risale-i Nur, die Sammlung seiner Schriften. Neben die Lektüre der Risale tritt die Erinnerung an Nursis Lebensgeschichte, die noch zu Lebzeiten Nursis eine weitgehend kanonisierte Form gefunden hat und seitdem von Autoren aus dem Nurcu-Milieu sowohl in Schriftform als auch seit einigen Jahren als Film verbreitet wird. Der älteste diesbezügliche Text ist das von Nursis Schülern Tahsin Tola und Said Özdemir 1958, noch zu Lebzeiten des Meisters und sicher mit seiner Zustimmung, herausgegebene Tarihçe-i Hayatı.1 Der größte Teil der Nursi-Anekdoten, die bis heute die Erinnerung an ihn unter seinen Anhängern prägen und die auch im Folgenden diskutiert werden, finden sich bereits hier. Verbreiteter als das Werk Tolas und Özdemirs sind heute die Nursi-Biografien des 1943 geborenen Necmettin S¸ahiner, der zunächst zur Yeni Asya-, später zur Nesil-Gruppe der Nurcus gehört. Die wichtigste Biografie hat inzwischen 52 Auflagen erlebt.2 Ebenfalls zur Nesil-Gruppe zu zählen ist der 1945 geborene Yavuz Bahadırog˘lu, der sich durch weitverbreitete historische Romane einen Namen gemacht hat. Die von ihm verfasste, mittlerweile in 23. Auflage erschienene Nursi-Biografie streut, wenn auch recht sparsam, bewusst fiktionale Elemente in den hagiografischen Text ein. In allen wesentlichen Punkten folgt Bahadırog˘lu allerdings den Vorgaben seiner Hauptquellen, den bereits zitierten 1 Tahsin Tola/Said Özdemir (Hg.), Bediüzzaman Saîd Nursî. Tarihçe-i Hayatı, Eserleri Meslek ve Mes¸rebi, Ankara 1958. 2 Necmettin S¸ahiner, Bilinmeyen Taraflarıyla Bediüzzaman Said Nursî, Istanbul 522006. Eine kürzere Version seiner Nursî-Biografie erschien 2008 (Necmeddin S¸ahiner, Bediüzzaman Said Nursî, Istanbul 2008). Die Nesil-Gruppe betreibt ein gleichnamiges Verlagshaus und hat sich von der ebenfalls einflussreichen Yeni Asya-Gruppe wegen der ihrer Meinung nach zu unkritischen Haltung Letzterer gegenüber der Politik Süleyman Demirels und seiner politischen Erben abgespalten.

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Werken von Tola/Özdemir und S¸ahiner.3 Ähnliches kann man auch über einen über das Internet verbreiteten Zeichentrickfilm zum Leben Nursis sagen, auf den hier nur am Rande verwiesen sei.4 Das Bild Nursis, das in diesen Quellen gezeichnet wird, enthält eine große Zahl von Topoi islamischer Hagiografie. So erscheint Nursi als Wunderkind, ferner wird ihm die Gabe der Bilokation, des gleichzeitigen Aufenthaltes an zwei verschiedenen Orten, zugeschrieben und dergleichen mehr.5 In unserem Zusammenhang ist von besonderem Interesse, dass von Nursi eine Reihe von Beglaubigungswundern berichtet wird. Derartige Wunder, welche die numinose Macht einer Person sinnfällig machen, stehen im Islam eigentlich nur den Propheten zu (muʿgˇiza¯t), die auf diese Weise ihre Funktion als Gottesgesandte erweisen. Anderen mit numinoser Macht begabten Figuren, Gottesfreunden (arab. awliya¯ʾ),6 werden lediglich sogenannte Huldwunder (kara¯ma¯t) zuteil. Anders als die Beglaubigungswunder der Propheten darf die Macht zum Vollführen von Huldwundern von den Betroffenen nicht ausdrücklich in Anspruch genommen werden. In der Praxis freilich dient der Umstand, dass einer Figur Huldwunder zuteilwerden, ganz wie im Falle der muʿgˇiza¯t der Propheten der Beglaubigung der Gottesnähe der entsprechenden Person gegenüber Zweiflern.7 Dies ist auch in den Nursi-Erzählungen zu beobachten. Ein typisches Beispiel ist die Erzählung, in der Nursi dem als sündig und tyrannisch beschriebenen kurdischen Stammesführer Mustafa Pas¸a den Tod voraussagt, der dann auch prompt eintritt.8 Ein genauerer Vergleich der Nursi-Hagiografie mit klassischen Biografien muslimischer Gottesfreunde steht nach Erachten des Autors noch aus, ist aber nicht Gegenstand des vorliegenden Aufsatzes. Dieser möchte vielmehr allein untersuchen, worin die Funktion der Schilderung von Nursis Begegnungen mit Christen in den hier in Augenschein genommenen Texten liegt.9

3 Yavuz Bahadırog˘lu, Bediüzzaman Said Nursî. Hayatı-Tefekkürü-Mücadelesi, Istanbul 23o.J. (ca. 2008). 4 URL: http://video.google.com/videoplay?docid=4344064336211979689# (letzter Zugriff: 27. 11. 2010). Der Film ist von vielen Benutzern an zahlreichen Stellen im Netz hochgeladen worden. 5 Bilokation bei Tola/Özdemir (Hg.), Tarihçe-i Hayatı, S. 152. 6 Diese sogenannten Gottesfreunde sind insbesondere im Sufismus Gegenstand der Verehrung ihrer Anhänger. Dieser islamische „Heiligenkult“ ist unter Muslimen umstritten, die Existenz solcher Gottesfreunde zumindest im vormodernen sunnitischen Islam allerdings weitgehend Konsens. 7 Vgl. Richard Gramlich, Die Wunder der Freunde Gottes, Stuttgart 1987, zur Bilokation S. 207ff., zur Bestrafung von Ungläubigen S. 405ff. 8 Vgl. Tola/Özdemir (Hg.), Tarihçe-i Hayatı, S. 9ff., der Tod des Mustafa S. 17. 9 Näheres zum Verhältnis der Nurcus zu den Christen wird man demnächst der das NurcuSchrifttum umfassend auswertenden Habilitationsschrift von Martin Riexinger entnehmen können.

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Begegnungen mit Christen in der Nursi-Hagiografie

Said Nursi wurde um das Jahr 1878 im Dorf Nurs in der Provinz Bitlis geboren und hat die Zeit bis zum Ersten Weltkrieg, von Reisen nach Istanbul, auf den Balkan und nach Syrien abgesehen, in Anatolien verbracht. Man könnte annehmen, dass sich die bunte religiöse Landschaft des spätosmanischen Anatolien auch in der Biografie Nursis widerspiegelt.10 Das ist aber nicht der Fall. Nursi hat, wenn wir seinen Biografen folgen, bis zum Ersten Weltkrieg in einer geschlossenen muslimischen Welt gelebt, einer Welt, bevölkert von Gelehrten, kurdischen Lokalfürsten, osmanischen Gouverneuren und schließlich dem Sultan Abdülhamid II. Christen spielten hingegen keine Rolle. Die einzige bedeutende Ausnahme11 ereignete sich 1898. Bei der Lektüre einer Zeitung, zu der er im Haus des Gouverneurs von Van, Tahir Pas¸a, Zugang hatte, stieß er auf die Äußerung eines britischen Kolonialministers,12 der dazu aufgerufen hätte, den Muslimen ihre Liebe zum Koran zu nehmen, um sie auf diese Weise leichter beherrschen zu können.13 Diese Drohung sei für Nursi der Anlass gewesen, die als Risale-i Nur bekannten Schriften zu verfassen. Eine zeitgemäße Ausdeutung des Korans habe jene die Muslime bedrohenden imperialistischen Pläne zunichtemachen sollen. Weitere relevante Begegnungen mit Christen schildern die Biografen erst im Kontext des Ersten Weltkrieges: Nursi kämpfte als Führer eines Freiwilligenverbandes an der Ostfront. Die Armenier verübten grässliche Massaker an der muslimischen Bevölkerung. In der Darstellung Tolas und Özdemirs, die auch die anderen Autoren übernehmen, heißt es dazu: In diesen Schlachten haben die armenischen Freischärler mancherorts sogar Kinder abgeschlachtet. Im Gegenzug wurden zuweilen auch armenische Kinder getötet. In der Gegend, in der Bediüzzaman sich aufhielt, hatte man Tausende armenische Kinder zusammengebracht. Molla Said (Nursi) befahl den Soldaten: ‚Tut ihnen nichts!‘ Später ließ er die armenischen Kinder frei. Sie kehrten zu ihren auf russischem Gebiet lebenden Familien zurück. Dieses Vorgehen war den Armeniern eine große Lehre und sie waren tief beeindruckt von der Moralität der Muslime. In der Folge gaben bei russischen Angriffen die Führer der Freischärler ihre Gewohnheit auf, muslimische Kinder abzuschlachten. Sie schworen sich: ‚Molla Said hat unsere Kinder nicht abgeschlachtet, sondern uns zurückgegeben. Wir werden die muslimischen Kinder in Zukunft auch 10 Zur religiösen Gemengelage in seiner Heimat und Nursi im Allgemeinen vgl. S¸erif Mardin, Bediüzzaman Said Nursi olayı. Modern Türkiye’de din ve toplumsal deg˘is¸im, Istanbul 112006 (engl. Orig. 1989). 11 Zu erwähnen ist ferner eine Begegnung mit einem russischen Grenzpolizisten, dem er 1910 die große Zukunft des Islam vorhergesagt haben soll, S¸ahiner, Bediüzzaman, S. 69. In Tiflis werde eine madrasa entstehen. Seine Anhänger haben das nach dem Fall der UdSSR wahr gemacht. 12 S¸ahiner setzt diesen mit Gladstone gleich, der aber im fraglichen Jahr 1898 bereits tot war. 13 S¸ahiner, Bediüzzaman, S. 57, Tola/Özdemir (Hg.), Tarihçe-i Hayatı, S. 18.

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nicht mehr abschlachten.‘ Auf diese Weise hat Molla Said erreicht, dass Tausende Unschuldiger in dieser Gegend gerettet wurden.14

Es geht bei der Rettung der Kinder aus der Sicht der Biografen nicht nur um Menschlichkeit, sondern auch um Klugheit im Angesicht eines unbarmherzigen Feindes. Nicht allein durch solche Klugheit zeichnet sich Nursi in diesem Krieg, der in der Sichtweise der Biografien weniger ein Krieg von Nationalstaaten, als vielmehr ein cihad (gˇiha¯d) im Dienste des Islams ist, aus.15 Er und seine Leute hätten mit äußerster, sogar vom Feind anerkannter Tapferkeit gekämpft und die muslimische Bevölkerung selbst da geschützt, wo sich die regulären Truppen zurückgezogen hätten.16 Schließlich sei Nursi nach heldenhaftem Widerstand verletzt in russische Gefangenschaft geraten. Im Gefangenenlager von Kostroma (in der Nurcuüberlieferung auch Kosturma) habe die nach der Rettung der armenischen Kinder zweite paradigmatische Begegnung Nursis mit Angehörigen des Christentums stattgefunden. Das Gefangenenlager sei vom Großfürsten Nikolaj Nikolayewitsch, einem Onkel des Zaren, inspiziert worden. Einzig Nursi habe sich nicht erhoben, als der Großfürst die Reihen der Kriegsgefangenen abgeschritten sei. Vom Großfürsten mit Hilfe eines Übersetzers darauf angesprochen, ob er nicht wisse, wen er vor sich habe und sich womöglich deshalb nicht erhoben habe, entgegnete Nursi [zum Übersetzer gewandt, L. B.]: ‚Ich erkenne ihn wohl. Es ist Nikolaj Nikolayewitsch.‘ Der Kommandant antwortete [zu seinem Übersetzer gewandt, L. B.]: ‚Dann hat er die russische Armee und damit den russischen Zaren beleidigt.‘ Bediüzzaman entgegnete: ‚Ich habe ihn nicht beleidigt. Ich bin ein islamischer Gelehrter. Eine gläubige Person steht über jemandem, der Gott nicht kennt. Folglich stehe ich vor dir nicht auf!‘17

Diese nicht gerade von Respekt vor dem Christentum und dem Großfürsten zeugende Antwort führte zu einem Kriegsgerichtsverfahren, in dem Nursi erwartungsgemäß zum Tode verurteilt wurde. Nursi habe das Urteil gelassen hingenommen: Den Tod im Interesse der Religion zu erleiden, bedeute die Eintrittskarte in das Paradies zu lösen. Der Großfürst, der die Standhaftigkeit des sich zu einem letzten Gebet rüstenden Nursi im Angesicht des Erschießungskommandos beobachtet habe, habe eingesehen, dass er falsch gehandelt habe, habe Nursi begnadigt und ihn wortreich um Vergebung gebeten: Er habe nicht ahnen können, dass Nursi allein aus aufrichtiger Glaubensstärke gehandelt habe.18 14 Ebd., S. 68. 15 Zum religiösen Charakter des Ersten Weltkrieges Tola/Özdemir (Hg.), Tarihçe-i Hayatı, S. 65, S¸ahiner, Bediüzzaman, S. 77. 16 Vgl. ebd., S. 65ff. 17 Ebd., S. 71. 18 Vgl. ebd.

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Dieselbe stolze Glaubensstärke, die Nursi hier gegenüber dem Großfürsten unter Beweis stellte, zeigte er auch, als nach seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft im Jahr 1918 ein Brief des Erzbischofs von Canterbury in Istanbul eintraf. Der Primas von England habe darin die Gelehrten der von den EntenteMächten besetzten osmanischen Hauptstadt um Aufklärung über sechs Fragen zum Islam gebeten. Die Istanbuler Gelehrten hätten sich daraufhin, was im Kontext der hier untersuchten Texte nicht weiter überrascht,19 Hilfe suchend an Nursi gewendet. Dieser habe jedoch die Antwort verweigert: Solange britische Truppen Istanbul besetzt hielten, sei an einen Dialog mit einem der ihren nicht zu denken. Nursi verfasst gegen die Briten seine Schrift „Hutuvat-i sitte“ (sic) und beantwortete die Fragen „nicht gegenüber den Briten, sondern um der Wahrheit willen“20 knapp und überzeugend. Nursi meinte, er habe mit dieser treffenden Replik dem geistlichen Oberhaupt der Anglikaner symbolisch ins Gesicht gespuckt und damit die Ehre der osmanischen Muslime wiederhergestellt. Nach Beginn des Unabhängigkeitskrieges wurde Nursi von Mustafa Kemal nachdrücklich nach Ankara gebeten, um seine Unterstützung für den Unabhängigkeitskampf zu erhalten. Er sei in Ankara begeistert empfangen worden, sei von der religiös indifferenten Atmosphäre dort aber enttäuscht gewesen und habe daraufhin eine Erklärung verfasst, in der er den Kampf religiös deutete: Briten und Griechen seien Feinde des Islams, Widerstand könne nur auf der Grundlage eines neubelebten Islam eine Chance haben.21 In den folgenden 30 Jahren spielten Begegnungen mit Christen und dem Christentum keine Rolle mehr. Die Biografien handeln vielmehr ausführlich vom Leiden Nursis unter den antireligiösen Verfolgungsmaßnahmen der Kemalisten, von den Prozessen, in denen er mutig seine Position verteidigt hätte. Immer wieder sei er angeklagt worden und hätte einen großen Teil seines Lebens im 19 Dass seine Gelehrsamkeit alle anderenʿulama¯ʾ weit in den Schatten stellte und dies von den übrigen Gelehrten stets anerkannt wurde (oder nach einer Prüfung anerkannt werden musste), ist ein häufiges Thema der Nursi-Biografien, z. B. bei S¸ahiner, Bediüzzaman, S. 36f. 20 In Necmettin S¸ahiner, Bilinmeyen Taraflarıyla, S. 234ff. lesen wir, dass die Engländer wegen Nursis furchtloser Schrift eine Hinrichtung Nursis ins Auge gefasst hätten. Sie sei nur unterblieben, weil man gewusst hätte, dass seine Hinrichtung ganz Anatolien in ewiger Feindschaft gegen England aufgebracht hätte; vgl. auch Tola/Özdemir (Hg.), Tarihçe-i Hayatı, S. 88f. und Bahadırog˘lu, Bediüzzaman, S. 164f. Die Antworten finden sich in den Lemaʿa¯t: „Frage: Was ist Muhammads Religion? Antwort: Das ist der Koran. Frage: Was hat er dem ˙ Denken und dem Leben gegeben? Antwort: Dem Denken das Einheitsbekenntnis, dem Leben die rechte Führung (istikamet) […] Wie behandelt er die sozialen Probleme? Antwort: Durch das Zinsverbot und die Verpflichtung zur Almosenspende. Frage: Wie beurteilt er menschliche Revolutionen (oder die Unordnung im Leben der Menschen, ihtilal-i bes¸er)? Antwort: Grundlage ist die Arbeit. Tyrannen dürfen den Reichtum der Menschen nicht an sich bringen und in ihren Händen konzentrieren“; URL: http://www.risale-inur.org/yenisite/moduller/ risale/index.php?tid=291 (letzter Zugriff: 27. 11. 2010). 21 Vgl. Tola/Özdemir (Hg.), Tarihçe-i Hayatı, S. 90f.

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Gefängnis verbracht, das er in Anlehnung an Sure Zwölf des Korans, in der die biblische Josephsgeschichte erzählt wird, medrese-i yusufiye – Josephs-Schule – genannt habe. In der Darstellung S¸ahiners sei es in den 1950er Jahren dann zu zwei weiteren für die Nursi-Legende wichtigen Begegnungen mit Vertretern des Christentums gekommen. Im Jahr 1953 habe Nursi den ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel Athenagoras besucht und ihn nach seiner Haltung zum Propheten Muhammad befragt: ˙

Die Eroberung Istanbuls wurde 1953 mit einer großen Feier begangen. Auch Bediüzzaman nahm an dieser Feier teil. Dabei ging er zusammen mit einem Anhänger zum Sitz des Patriarchen. Im Verlaufe des dortigen Treffens sagte Bediüzzaman zum Patriarchen: ‚Unter der Bedingung, dass Sie das Christentum als wahre Religion annehmen und gleichzeitig Muhammad als Propheten und den Koran als Wort Gottes ˙ annehmen, werden Sie dereinst zu ehl-i necat, das heißt: zu den in der ewigen Welt Geretteten, gehören.‘ Als der Patriarch entgegnete: ‚Ich nehme das an‘, fragte Bediüzzaman: ‚Gut. Sagen sie es denn auch den anderen geistlichen Führern der Welt?‘ Da sagte der Patriarch: ‚Das tue ich. Sie wollen es aber nicht akzeptieren.‘22

Der zweite relevante Kontakt mit Christen sei erfolgt, indem Nursi dem Papst seine Werke zugesendet, worauf sich der Vatikan nach einiger Zeit mit einem Formschreiben höflich bedankt hätte. Letzteres wird von S¸ahiner im Faksimile wiedergegeben.23 Davon, dass der Papst gleichzeitig zum Islam übergetreten sei, berichten die Biografen nicht. Das hier durchscheinende kooperative Verhältnis von Islam und Christentum spiegelt sich auch in der positiven Haltung Nursis und seiner Anhänger zur Eingliederung der Türkei und anderer muslimischer Länder in das westliche Bündnissystem wider. Im gemeinsamen Kampf gegen den gottlosen Kommunismus erschien der zuvor unüberbrückbare Gegensatz zwischen Islam und Christentum heilbar.24 Sehen wir von diesen späten Begegnungen Nursis mit dem Christentum ab, die im Kontext der Erzählungen freilich deutlich weniger prominent erscheinen, ist das Verhältnis beider Religionen den hier untersuchten Texten zufolge ein antagonistisches: Christen und Muslime erscheinen als Gegner in einem Konflikt, der nur durch die Unterwerfung der einen oder anderen Seite zu einem Ende kommen kann.25 Es ist selbstverständlich, dass es der Islam ist, der zu guter Letzt immer wieder triumphiert.

22 23 24 25

S¸ahiner, Bediüzzaman, S. 117. Vgl. S¸ahiner, Bilinmeyen Taraflarıyla, S. 394. Vgl. etwa ebd., S. 421f. In einem islamischen Staat könnten die Christen dann, wenn schon nicht die gleiche Ehre, so doch die gleichen Rechte haben; Tola/Özdemir (Hg.), Tarihçe-i Hayatı, S. 44.

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Parallelen

In den 1950er Jahren, als die Nursi-Biografie ihre feste, bis heute praktisch unveränderte Form gewann, werden die wenigsten der Anhänger mit Christen je Kontakt gehabt haben. Darum stellt sich die Frage, was unter diesen Umständen der „Sitz im Leben“ solcher Geschichten sein konnte. Um dies zu untersuchen, erscheint es angebracht, die Begegnungen Nursis mit Christen mit anderen Textpassagen, in denen er mit einem fehlgeleiteten Gegenüber in Kontakt kommt, zu vergleichen. Es war oben bereits davon die Rede, dass Nursi immer wieder den sündigen Mustafa Pas¸a dazu aufgefordert hat, sein unfrommes Tun zu unterlassen und auf den rechten Pfad zurückzukehren. Auch Drohungen und Mordversuche vonseiten des Gewalttäters hätten Nursi nicht davon abgebracht, sich stets aufs Neue zu bemühen, den kurdischen Emir zu überzeugen, bis dieser schließlich zur Strafe für seinen Ungehorsam gegen Gott und seine Weigerung, auf den heiligen Mann zu hören, Opfer einer verfeindeten Stammesgruppe geworden sei.26 Nursi zeigte denselben Mut aber nicht nur vor lokalen Potentaten, sondern auch gegenüber Sultan Abdülhamid II. Diesen habe er versucht von seinem Projekt einer Universität in Ostanatolien zu überzeugen. Nursi habe mit seinen Vorstellungen jedoch keinen Erfolg gehabt. Vielmehr sei er wegen eines mutigen Artikels, in dem er das Regime des Sultans kritisiert hätte, ins Irrenhaus verfrachtet worden. Rasch sei jedoch für die Ärzte seine vollkommene geistige Gesundheit offenkundig gewesen, woraufhin er wieder entlassen worden sei.27 Die Erinnerung an das Leben Nursis erscheint bereits in der Zeit des politisch handelnden „Alten Said“ der Osmanenzeit immer wieder als eine Geschichte der Verfolgungen, nicht so sehr durch Christen, als vielmehr durch andere Muslime. In der Zeit der Republik konzentriert sich die Darstellung der Biografen dann stark auf das Martyrium, das der Held immer wieder durch kemalistische Behörden erleidet. Ein ums andere Mal wird Nursi vor Gericht gestellt, wo er mutig und ohne falsche Rücksichten seine Sache und die des Islams verteidigt und wo jedes Mal, ganz wie in der oben referierten Episode mit dem russischen Großfürsten, seine Unschuld erwiesen wird. Genauso wenig, wie er dem Großfürsten gegenüber aus Selbstüberheblichkeit gehandelt hat, handelt er jetzt aus egoistischen politischen Motiven. Es geht ihm allein um die Sache Gottes, die letztlich auch die Sache der Menschen in der Türkei ist. Nursi ist dabei nie feige, er möchte aber auch nicht Ursache von Gewalt oder Zwietracht unter den Muslimen in der 26 Vgl. S¸ahiner, Bilinmeyen Taraflarıyla, S. 64ff. und 78f. 27 Vgl. ebd., S. 91ff. Die Person Abdülhamids, für viele im konservativ-religiösen Spektrum der Türkei sakrosankt, wird in einem Teil der Nurcu-Überlieferung insofern ein wenig aus der Schusslinie genommen, als er zwar als autoritär, aber doch wohlmeinend (Bahdirog˘lu, Bediüzzaman, S. 66) oder als unter dem Einfluss schlechter Berater stehend entschuldigt wird.

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Türkei sein. Die Regierung dürfe aber den Islam auch nicht in einer Weise verfolgen, wie das nicht einmal die ungläubigen Engländer in den Gebieten unter ihrer Herrschaft täten.28

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Funktionen

Die Parallelität der Berichte über Nursis Umgang mit Christen mit denen über sein Verhalten in Situationen, in denen er es mit einem – zumindest formal – muslimischen Gegenüber zu tun hat, ist frappierend. Nursi tritt in allen geschilderten Kontexten ausgesprochen selbstbewusst auf und verteidigt mutig und ohne Rücksicht auf mögliche negative Konsequenzen für seine Person die Position des Islams. Dies geschieht jedoch – sehen wir vom Sonderfall des Krieges ab – stets auf friedlichem Wege. Der Gegner wird mit Worten herausgefordert; zur Anwendung von Gewalt lässt Nursi sich, anders als die jeweiligen Gegenüber, die ihm immer wieder sogar nach dem Leben trachten, nie hinreißen. Nursi gibt damit ein Beispiel dafür, wie die Gläubigen den Islam gegen seine Feinde verteidigen und letztlich die Feinde für den Islam gewinnen sollen. Hierin scheint die Lehre zu liegen, welche die Anhänger aus den referierten Geschichten gewinnen sollen. Die Hauptfunktion der von Christen handelnden Geschichten in der NursiBiografik läge demnach nicht darin, Handlungsanweisungen für den Umgang mit Christen zu bieten, die ja vor der Massenauswanderung von Muslimen aus der Türkei nach Westeuropa in der Alltagserfahrung der Nurcus keinerlei Rolle spielten. Das Christentum steht vielmehr für die Gegner des Islams, die den Anhängern Nursis insbesondere in Gestalt der als religionsfeindlich wahrgenommenen Vertreter des kemalistischen Staates begegnen. Wenn nun die Christen, d. h. die europäischen Vorbilder der Kemalisten von der Richtigkeit des Islams, so wie ihn die Nurcus verstehen, überzeugt sind, wie viel mehr müssten dann die formal muslimischen Kemalisten die Position der Nurcus übernehmen? Während in den Begegnungen Nursis mit Europäern diese noch stets Christen sind, ist das in jüngerer Zeit nicht mehr selbstverständlich. Die Erklärung für diesen Bedeutungsverlust der Religion in Europa im Nurcu-Milieu entspricht dabei den seit dem späten 19. Jhd. gängigen und auch von Nursi selbst vertretenen Stereotypen des apologetischen islamischen Modernismus.29 Das Chris28 Vgl. Tola, Tarihçe-i Hayatı, S. 531ff. (Verteidigungsrede Bediüzzamans vor Gericht in Istanbul im Jahr 1952). Die lange Leidensgeschichte Nursis unter dem Kemalismus, die große Teile der hier untersuchten Nursi-Biografien umfasst, wird einzig gemildert durch die Hochachtung, welche die führenden Vertreter der in den 1950er Jahren regierenden Demokratischen Partei für ihn empfunden hätten. Ein Beispiel sei dabei Adnan Menderes selbst, S¸ahiner, Bilinmeyen Taraflarıyla, S. 431. 29 Lutz Berger: Islamische Theologie, Wien 2009, S. 120ff.

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tentum ist im Unterschied zum Islam eine irrationale, wissenschaftsfeindliche Religion. Während Muslime durch ihre Religion gerade dazu angehalten werden, sich mit den Naturwissenschaften zu beschäftigen, hätten sich die Europäer vom Christentum lösen müssen, um die wissenschaftliche Zivilisation der Moderne schaffen zu können. Der Prozess der Säkularisierung hat in Europa, da er mit einer Erosion der religiös-moralischen Grundwerte einherging, zu Unmoral, Sozialdarwinismus und Imperialismus geführt. Europäische Eroberer hätten daher im Unterschied zu muslimischen Eroberern aus selbstsüchtigen Motiven gehandelt und die Unterworfenen geknechtet.30 Angesichts dessen passt es in das oben beschriebene Schema, wenn in neueren Nurcu-Texten europäische Atheisten an die Stelle der Christen treten. Ein in der einschlägigen Literatur oft zitierter Kronzeuge der Richtigkeit der Lehre der Nurcus in der Gegenwart ist der zum Islam übergetretene britische Islamwissenschaftler Dr. Colin Turner. Bahadırog˘lu lässt ihn nicht mehr, wie Nursi, christliche Gegenüber von der Richtigkeit des Islams überzeugen; Turner beweist die Wahrheit des Islams vielmehr gegenüber Atheisten: Er vollzieht das islamische Ritualgebet vor einem ebensolchen niederländischen Maschinenbauingenieur, dem Vertreter eines Berufsstandes, der unter türkischen Muslimen höchst angesehen ist und mehr als jeder andere mit der Idee des Fortschritts verbunden wird. Als Turner das Gebet beendet hat, sagt der ungläubige Ingenieur: „Wenn es einen Gott gibt, muss man ihn genauso anbeten.“ Im weiteren Gespräch wird dann klar, dass es die aus muslimischer Sicht irrationale Trinitätsvorstellung der Christen ist, die ihn bislang von der Religion ferngehalten hat. Für den rationalen Eingottglauben der Muslime hingegen könnte man ihn genauso wie viele andere Europäer leichthin gewinnen. Man müsste ihn und seine Landsleute nur mit dem wahren Islam bekannt machen, dann würden sie ihn in großer Zahl annehmen.31 Anders als das Verhältnis von Islam und Christentum ist das Verhältnis von modernem Europa und Islam also kein prinzipiell antagonistisches. Im Gegenteil! – Europa wird früher oder später islamisch werden. Die Bewahrung einer islamischen Identität ist nicht wie in der Sicht der Kemalisten ein Hindernis auf dem Weg zum europäischen Fortschritt. Sie ist in der hier untersuchten Literatur vielmehr eine Voraussetzung dafür, dass die Muslime dauerhaft mit einem nach wie vor als maßstäblich angesehenen Europa werden mithalten können. Islamische Identität und Moderne (freilich ein besonderes Verständnis von Mo30 Vgl. Bahadırog˘lu, Bediüzzaman, S. 37ff., zu entsprechenden Belegen aus Nursis Schriften vgl. auch ebd., S. 204. Zu diesem in der Türkei weit verbreiteten Topos vgl. auch Lutz Berger, „Religionsbehörde und Milli Görüs¸. Zwei Varianten eines traditionalistischen Islam in der Türkei“, in: Rüdiger Lohlker (Hg.), Hadithstudien. Die Überlieferungen des Propheten im Gespräch. Festschrift für Tilman Nagel, Hamburg 2009, S. 41–76. 31 Turners Geschichte wird, leider ohne Quellenangabe, wiedergegeben in Bahadırog˘lu, Bediüzzaman, S. 209f.

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derne) schließen sich nicht aus, wie das die radikalen Kemalisten glauben, sie gehören aus der Sicht der Nurcus zusammen. Dass es zu einer solchen Synthese aus osmanischem Islam und europäischer Moderne kommen werde, sagte bereits Nursi vor dem Ersten Weltkrieg in einem berühmten Wort, auf das sich die Nurcus in diesem Kontext immer wieder beziehen: „Europa und Amerika sind mit dem Islam schwanger. Eines Tages wird (dort) ein islamischer Staat geboren werden. Genauso ist das Osmanische Reich mit Europa schwanger und wird einen europäischen Staat gebären.“32 Aus dieser Sicht wäre es falsch, den „europäischen“ kemalistischen Staat konfrontativ zu bekämpfen. Genauso irrig sei es, den Islam – wie die Kemalisten – aufzugeben. Das hieße, sich um die Früchte des „europäischen“ Fortschritts bringen, der in seinem Wesenskern islamisch sei.

Literatur Bahadırog˘lu, Yavuz, Bediüzzaman Said Nursî. Hayatı-Tefekkürü-Mücadelesi, Istanbul 23 o.J. (ca. 2008). „Bediüzzaman Said Nursi Çizgi Film“, URL: http://video.google.com/videoplay?docid= 4344064336211979689# (letzter Zugriff: 27. 11. 2010). Berger, Lutz: Islamische Theologie, Wien 2009. Ders., „Religionsbehörde und Milli Görüs¸. Zwei Varianten eines traditionalistischen Islam in der Türkei“, in: Lohlker, Rüdiger (Hg.), Hadithstudien. Die Überlieferungen des Propheten im Gespräch. Festschrift für Tilman Nagel, Hamburg 2009, S. 41–76. Gramlich, Richard, Die Wunder der Freunde Gottes, Stuttgart 1987. Mardin, S¸erif, Bediüzzaman Said Nursi olayı. Modern Türkiye’de din ve toplumsal deg˘is¸im, Istanbul 2006 (engl. Orig. 1989). S¸ahiner, Necmeddin, Bediüzzaman Said Nursî, Istanbul 2008. Ders., Bilinmeyen Taraflarıyla Bediüzzaman Said Nursî, Istanbul 522006. Tola, Tahsin/Özdemir, Said (Hg.), Bediüzzaman Saîd Nursî. Tarihçe-i Hayatı, Eserleri Meslek ve Mes¸rebi, Ankara 1958. URL: http://www.risale-inur.org/yenisite/moduller/risale/index.php?tid=291 (letzter Zugriff: 27. 11. 2010).

32 Nursi zit. nach Tola/Özdemir, Tarihçe-i Hayatı, S. 53. Die Richtigkeit dieser Prophezeiung Nursis wird nach Bahadırog˘lus Ansicht nicht allein durch den modernen türkischen Staat, durch die leeren Kirchen und vollen Moscheen in Europa bewiesen, sondern auch durch so prominente Konvertiten wie Maurice Bucaille und Yusuf Islam, vormals Cat Stevens.

Andreas Renz

Das Christentum in der Sicht Said Nursis und die Bedeutung seiner Theologie für den christlich-islamischen Dialog – eine katholische Perspektive

Einleitung Das Hauptwerk Said Nursis stammt aus einer Zeit, in welcher der interreligiöse Dialog im heutigen Sinn weder im Islam noch in den anderen Religionen praktiziert, thematisiert und reflektiert wurde. Es darf daher nicht verwundern, dass man in seinen Schriften, im Risale-i Nur, explizit nicht sehr viel über den Dialog der Religionen findet. Erst in der letzten Phase seines Lebens suchte Nursi das direkte Gespräch besonders mit Christen.1 Dazu kommt, dass Nursis Schriften keine systematisch-theologischen Abhandlungen sind, sondern den einfachen Gläubigen im Predigtstil praktische Hilfestellung für ihren Glauben im Alltag geben wollten. In diesem Sinne war Nursi – christlich gesprochen – geradezu „pastoral“, d. h. wie ein „Hirte“, der sich liebevoll um seine Schäfchen sorgt. Dieser Beitrag will zum einen danach fragen, wie Nursi das Christentum und die Christen gesehen hat, zum anderen, welche Bedeutung sein Werk und seine Bewegung für den christlich-islamischen Dialog heute hat oder haben könnte. Bei den folgenden Ausführungen handelt es sich um erste Annäherungen eines katholischen Theologen und Religionswissenschaftlers an die Denkwelt Nursis.2 Die nachfolgenden Überlegungen nehmen sich dabei als ziemlich bescheiden aus – bescheiden angesichts des nahezu unüberschaubaren Werkes Nursis und bescheiden angesichts der tiefen Weisheit und Frömmigkeit dieses großen musli-

1 So besuchte er 1953 den ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel Athenagoras, vgl. S¸ükran Vahide, „An Outline of Bediuzzaman Said Nursi’s Views on Christianity and the West“, in: Ian Markham/Ibrahim Ozdemir (Hg.), Globalization, Ethics and Islam. The Case of Bediuzzaman Said Nursi, Aldershot/Burlington 2005, S. 109–118, S. 115. Die wenigen Zeugnisse über Begegnungen Nursis mit Christen stellt Lutz Berger in seinem Beitrag im vorliegenden Band zusammen, siehe Berger, „Said Nursi und das Christentum – Zur Funktion eines Motivs hagiographischer Literatur in der Nurcu-Bewegung“, S. 233–242. 2 Es versteht sich von selbst, dass in diesem Rahmen keine Berücksichtigung des gesamten Schrifttums Nursis möglich ist. Der Autor muss sich auf ausgewählte Teile der Primärquellen beschränken, die ihm in (deutscher oder englischer) Übersetzung leicht zugänglich sind.

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misch-kurdischen Gelehrten und Predigers aus dem ostanatolischen Nurs, der den Ehrentitel „Bediuzzaman“ erhielt.

1.

Said Nursis Sicht des Christentums und Europas

1.1

Die Krankheiten der Moderne und die Heilmittel

In Nursis Schriften wird relativ wenig über das Verhältnis zum Christentum reflektiert, wohl aber über die europäische Moderne und deren Krankheiten und Fehlentwicklungen. Bereits in seiner berühmt gewordenen Predigt von Damaskus, die er 1911 in der Umayyaden-Moschee auf Arabisch hielt, bald danach ins Türkische übersetzte und in den 1950er Jahren in überarbeiteter Form erneut veröffentlichte, benennt er sechs schlimme Krankheiten, die er mit der modernen europäischen Philosophie und Gesellschaft in Zusammenhang bringt: Die erste Krankheit ist Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung im sozialen Leben, die zweite Unwahrhaftigkeit in den sozialen und politischen Beziehungen, die dritte ist Feindseligkeit, die vierte ist Uneinigkeit unter den Gläubigen, die fünfte ist der Despotismus, die sechste der Egoismus. Die genannten Krankheiten haben in seiner Sicht ihre gemeinsame Wurzel im Materialismus und im Individualismus der europäischen Moderne.3 Gegen all diese Krankheiten hilft nach Nursi nur eine Medizin, ein Heilmittel: der Koran und der wahre Glaube. So hilft gegen die Verzweiflung die Hoffnung auf die Barmherzigkeit Gottes und auf diese Aspekte legt Nursi mehr Augenmerk als auf alle anderen Krankheiten und Heilmittel, weil sie die Wurzel für alle anderen sind. An keiner Stelle freilich identifiziert Nursi die europäische Moderne einfach mit dem Christentum oder Europa schlechthin mit Atheismus. Vielmehr spricht er an vielen Stellen vom „wahren Christentum“ und vom „ersten Europa“, das vom Christentum geprägt ist und in dem er einen natürlichen Verbündeten gegen die materialistische Philosophie und Gesellschaft sieht: Europa ist zweierlei. Ersteres folgt den Segnungen jener Geisteswissenschaften, die aus seiner wahren christlichen Religion gespeist werden, welche dem Handwerk, das das menschliche Gemeinschaftsleben fördert und dem Recht und der Gerechtigkeit dienen. Es ist nicht dieses Europa, das hier zur Diskussion steht. Ich möchte vielmehr jenes zweite, verdorbene, Europa ansprechen, das den Menschen in der Finsternis seines naturalistischen Denkens, durch das es den Fluch der Zivilisation für deren Segen hält, zu Ausschweifungen verleitet und auf Irrwege geführt hat.4 3 Vgl. Said Nursi, The Damascus Sermon, Istanbul 1996. 4 Said Nursi, „Siebzehnter Blitz“, in: ders., Blitze. Kommentare zum Qur’an, Ulm o. J., S. 224f.

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Seine Hoffnung ist, dass die wahrhaft frommen Christen sich am Ende der Zeit mit den Leuten des Qu’ran vereinigen und, so wie sie sich gegen ihren gemeinsamen Feind, den Atheismus, wenden werden, dann sich nicht nur die Gefolgsleute des Glaubens und des rechten Weges in wahrer Brüderlichkeit vereinigen werden, sondern auch die Christen mit einer echten Frömmigkeit und Spiritualität, dabei zunächst einmal alles, was eine Quelle von Streitigkeiten sein könnte, nicht zum Anlass für weitere Debatten und Disputationen zu machen, sondern stattdessen sich lieber ihrem gemeinsamen Gegner, dem kämpferischen Atheismus, gemeinsam entgegenstellen müssen.5

1.2

Geistesverwandtschaft mit Papst Benedikt XVI.?

Der damaligen Analyse Nursis einer von Materialismus und Atheismus geprägten Gesellschaft in Europa entspricht nicht nur die Sicht der damaligen katholischen Kirche mit ihrer Verurteilung der modernen Irrtümer, nicht wenige Christen würden auch heute dieselbe Klage anstimmen. Wie verunsichert gläubige Menschen auch noch Anfang des 21. Jahrhunderts angesichts des weltanschaulichen Pluralismus sein können, beschrieb der damalige Kardinal Joseph Ratzinger in seiner Predigt zur Messe anlässlich der bevorstehenden Papstwahl am 18. April 2005 im Petersdom. Die Predigt war programmatisch und nicht wenige Beobachter sahen darin eine Art Kursbestimmung für das folgende Pontifikat: Wie viele Glaubensmeinungen haben wir in diesen letzten Jahrzehnten kennengelernt, wie viele ideologische Strömungen, wie viele Denkweisen… Das kleine Boot des Denkens vieler Christen ist nicht selten von diesen Wogen zum Schwanken gebracht, von einem Extrem ins andere geworfen worden: vom Marxismus zum Liberalismus bis hin zum Libertinismus; vom Kollektivismus zum radikalen Individualismus; vom Atheismus zu einem vagen religiösen Mystizismus; vom Agnostizismus zum Synkretismus, und so weiter. Jeden Tag entstehen neue Sekten, und dabei tritt ein, was der hl. Paulus über den Betrug unter den Menschen und über die irreführende Verschlagenheit gesagt hat (vgl. Eph 4,14). Einen klaren Glauben nach dem Credo der Kirche zu haben, wird oft als Fundamentalismus abgestempelt, wohingegen der Relativismus, das sich ‚vom Windstoß irgendeiner Lehrmeinung Hin-und-hertreiben-lassen‘, als die heutzutage einzige zeitgemäße Haltung erscheint. Es entsteht eine Diktatur des Relativismus, die nichts als endgültig anerkennt und als letztes Maß nur das eigene Ich und seine Gelüste gelten läßt.6

Und weiter: „Oh Europa, verdorben durch Ausschweifung und Irreleitung und weit entfernt von der Religion Jesu!“; ebd., S. 227. 5 Nursi, „Zwanzigster Blitz“, in: ders., Blitze, S. 301. 6 Predigt von Kardinal Joseph Ratzinger zur Missa Pro Eligendo Romano Pontifico am

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Was Said Nursi also Anfang des 20. Jhd. beschreibt, trifft nach Benedikt XVI. auch noch Anfang des 21. Jhd. zu. Said Nursi und Benedikt XVI. sind also zumindest in dieser Hinsicht durchaus Geistesverwandte. Wenn sie sich auch in der Analyse gleichen, so unterscheiden sie sich doch hinsichtlich der Heilsmittel: Nursi sieht den Heilsweg allein im Koran und im islamischen Glauben, Papst Benedikt in der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus: „Wir haben jedoch ein anderes Maß: den Sohn Gottes, den wahren Menschen. Er ist das Maß des wahren Humanismus.“7 Gemeinsam ist beiden aber wieder allein in Gott gründende Hoffnung.

1.3

Dualistisch-apokalyptisches Weltbild?

Nursi ist ganz sicher kein antimoderner Traditionalist8 und vom „Feindbild Westen“ islamistischer Couleur weit entfernt, aber seine Sicht der modernen westlichen Philosophie und Gesellschaft nimmt gelegentlich doch Züge eines dualistisch-apokalyptischen Weltbildes an: „Eine Strömung, die wie Nimrod Tyrannei verkörpert, geboren aus Naturalismus und materialistischer Philosophie, wird schrittweise erstarken und sich in der Endzeit mittels materialistischer Philosophie ausbreiten. Diese Strömung wird solch einen Grad erreichen, dass sie Gott leugnen wird.“9 Der Atheismus ist der Dagˇgˇa¯l, der endzeitliche AntiChrist, den Nursi als kollektive Persönlichkeit deutet und mit dem Materialismus identifiziert.10 Nursi verbindet mit diesem endzeitlichen Kampf eine messianische Erwartung: An diesem Punkt, wenn die Strömung als sehr stark erscheint, wird die Religion des wahren Christentums erscheinen, welche die ideellen Eigenschaften von Jesus (Friede sei mit ihm) verkörpert. Das heißt, sie wird vom Himmel der göttlichen Gnade hinabsteigen. Das gegenwärtige Christentum wird gereinigt werden angesichts jener Wahrheit; wird sich vom Aberglauben und den Verfälschungen in den heiligen Schriften lösen, es wird sich mit den Wahrheiten des Islams vereinigen. Der Bedeutung nach wird sich das Christentum in eine Art Islam verwandeln. Entsprechend dem Koran wird die

7 8 9 10

18. April 2005, URL: http://www.vatican.va/gpII/documents/homily-pro-eligendo-pontifi ce_20050418_ge.html (letzter Zugriff: 29. 06. 2011). Ebd. So auch die Einschätzung von Thomas Michel, Reflections on Said Nursi’s Views on MuslimChristian Understanding, Istanbul 2003, S. 8. Said Nursi, Die Briefe. Über Natur und Ziel des Menschen, des Lebens und aller Dinge, Köln u. a. 2004, S. 99. Vgl. S¸ükran Vahide, „Outline“, S. 113; dies., „Der Dialog und seine Voraussetzungen im Denken und Handeln von Bediuzzaman Said Nursi“, in: Wolf D. Aries/Rüstem Ülker (Hg.), Dietrich Bonhoeffer, Alfred Delp und Said Nursi: Christentum und Islam im Gegenüber zu den Totalitarismen. Erträge aus dem II. Said Nursi-Symposium, Münster 2004, S. 67–75, S. 69.

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ideelle Eigenschaft des Christentums der Rang eines Gefolgschaftsmannes sein, während der Islam den Rang des Führers einnehmen wird. Durch dieses Bündnis wird die wahre Religion zu großer Kraft finden. Obgleich beide getrennt von der atheistischen Strömung besiegt wurden, werden Christentum und Islam gemeinsam die Fähigkeit besitzen, die atheistische Strömung zu besiegen und auszurotten.11

In seiner Schrift Wegweiser für die Jugend spricht er vom „Versöhnungsprozess der zwei großen Religionen“,12 womit er wohl Islam und Christentum meint. Im „Neunundzwanzigsten Brief“ wird deutlicher, wie er sich diese „Versöhnung“ vorstellt: Eine eifrige und aufopferungsvolle Gemeinschaft, die als eine christliche Gemeinschaft bekannt ist, die es jedoch wert ist, als ‚muslimische Christen‘ bezeichnet zu werden, wird daran arbeiten, die wahre Religion von Jesus (Frieden sei mit ihm) mit der Wirklichkeit des Islams zu vereinigen, sie wird unter der Führung Jesu (Gottes Heil sei mit ihm) die Gesellschaft des Dagˇgˇa¯l vertreiben und töten und so die Menschheit vor dem Atheismus retten.13

1.4

Kritische Anfragen

An die von Nursi gemachte Gesellschaftsanalyse jedoch lassen sich einige kritische Anfragen stellen: 1.4.1 Kulturpessimismus Erstens: Ist es nicht eine allzu kulturpessimistische Sicht auf die europäische Moderne, die nicht auch die wertvollen und notwendigen Errungenschaften zum einen hinsichtlich der Entwicklung der modernen Natur- und Geisteswissenschaften, zum anderen hinsichtlich der emanzipatorischen Wirkungen berücksichtigt und würdigt? Natürlich bedarf die Moderne einer Kritik und permanenten Selbstkritik, aber zugleich darf die moderne europäische Geistes-, Kultur- und Wissenschaftsgeschichte nicht nur mit Materialismus und Atheismus identifiziert werden. Nursi tut dies zwar nicht pauschal,14 aber die Rede von einem „guten“ und „schlechten“ oder „ersten“ und „zweiten Europa“,15 von einem „wahren“ und „falschen Christentum“ kann doch schnell zu einem moralistisch aufgeladenen dualistischen Weltbild führen. Man kann Nursis Darstellung und

11 12 13 14 15

Nursi, Briefe, S. 99f. Said Nursi, Wegweiser für die Jugend. Kommentare zum Qur’an, Berlin 2007, S. 35. Nursi, Briefe, S. 580. Vgl. S¸ükran Vahide, „Outline“, S. 112. Vgl. Michel, Reflections, S. 9.

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Bewertung Europas schon fast als stereotype Projektion bezeichnen, als eine Form des „Okzidentalismus“.16 Biografisch und zeitgeschichtlich ist die negative Bewertung der europäischen Moderne durch Nursi – und zum Teil auch durch Benedikt – leicht nachzuvollziehen: Beide haben sie verheerende Weltkriege erlebt, die in Europa ihren Ausgang nahmen, und sämtliche moderne menschenverachtende Ideologien, die gegen die Religion gerichtet waren – wie Nationalismus, Nationalsozialismus, Kommunismus, Marxismus. Nursi musste außerdem den Zerfall des Osmanischen Reiches und einen aggressiven religionsfeindlichen Säkularismus erfahren.17 Aber Europa pauschal eine „dubiose Vergangenheit“ zuzuschreiben und dem Islam uneingeschränkt eine „brillante Zukunft“18 vorherzusagen – wie Nursi dies tut –, ist einseitig, apologetisch und naiv. 1.4.2 Idealisierung des Islam Zweitens: Während Nursis Sicht auf Europa trotz aller Differenzierung doch eher negativ ausfällt, idealisiert er die islamische Geschichte. Im „Sechsundzwanzigsten Brief“ schreibt er, dass „Europa ein Geschäft, eine Kaserne, Asien wie ein Feld, eine Moschee“19 sei. Als Europa religiös war (!), sei es fanatisch gewesen und habe 300 Jahre Bürgerkrieg hervorgebracht, während es sich erst zivilisierte, nachdem es den religiösen Eifer aufgab. Im Islam dagegen habe es nur einen Bürgerkrieg gegeben. Nach der Damaskus-Predigt „ist die europäische Zivilisation nicht auf Tugend und Rechtleitung gegründet, sondern auf Begierde und Leidenschaft, Rivalität und Unterdrückung“.20 Weil das Christentum mit dem Gedanken der Menschwerdung Gottes und der Heiligenverehrung Mittler zwischen Gott und Mensch kenne, könne es den Egoismus und die Selbstüberschätzung des Menschen nicht brechen: Normalerweise schreibt es die Erscheinung des Göttlichen den Heiligen und den Großen zu. Dies bezeugt der Vers: ‚Sie nahmen sich ihre Gelehrten und ihre Mönche zu Herren neben Gott‘ [Sure 9/31]. Darum geschieht es, dass, wie im Falle des früheren amerikanische[n] Präsident[en] Wilson, unter den Christen diejenigen den höchsten Rang in weltlichen Dingen einnehmen, die ihre Arroganz und ihren Egoismus bewahren und ihren religiösen Fanatismus ausüben. Im Islam, der Religion der wahren Einheit 16 Ähnlich Patrice C. Brodeur, „The Ethics of Bediuzzaman Said Nursi’s Dialogue with the West in Light of His Concept of ‚Europe‘“, in: Markham/Ozdemir (Hg.), Globalization, Ethics and Islam, S. 89–98, S. 96f. 17 Vgl. Ian Markham, „Welche Grundlagen sind sicherer für die Ethik – die säkularen oder die religiösen? Eine Fallstudie über Bediuzzaman Said Nursi“, in: Aries/Ülker (Hg.), Bonhoeffer, S. 27–43, S. 32. 18 Nursi, Damascus Sermon, S. 27, vgl. ebd., S. 32f. 19 Nursi, „Sechsundzwanzigster Brief“, in: ders., Briefe, S. 448. 20 Ders., Damascus Sermon, S. 38.

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Gottes hingegen, lassen diejenigen, die in weltlichen Dingen den höchsten Rang einnehmen, entweder ihren Egoismus und ihre Arroganz hinter sich oder ihre Religiosität.“21

Dies heißt nichts anderes als: Im Christentum paaren sich Arroganz und religiöser Eifer, im Islam schließen sich Arroganz und wahre Religiosität aus. Nursi verstößt hier gegen eine Grundregel des Religionsvergleichs und des interreligiösen Dialogs: Er vergleicht Realitäten der anderen Religion mit dem Ideal der eigenen. Das christliche Selbstverständnis ist bei dieser Beschreibung nicht erfasst. 1.4.3 Führungsanspruch des Islam Drittens schließlich: Es ist natürlich begrüßenswert, wenn Said Nursi im „wahren Christentum“ einen Verbündeten sieht im Kampf gegen den Materialismus und die Gottlosigkeit. Doch dieser gemeinsame „Kampf“ sollte sich nicht auf andere Menschen beziehen, sondern auf den Wettstreit von Ideen und Argumenten. Die Würde von Andersdenkenden und Nichtglaubenden ist stets zu wahren und anzuerkennen. Das Zweite Vatikanische Konzil hat keine Fronten gegenüber irgendjemandem aufgemacht, sondern suchte den Dialog „mit den anderen Menschen guten Willens“.22 Zu den Menschen guten Willens können selbst Atheisten zählen, wenn sie sich etwa für Frieden oder Gerechtigkeit oder die Freiheit des Menschen einsetzen. Letztlich beschleicht den Christen ein ungutes Gefühl, wenn Nursi vorschlägt, erst einmal die Unterschiede zwischen Christen und Muslimen auszuklammern bis der „gemeinsame Feind“ besiegt ist. Was aber geschieht dann, sollte es einmal soweit sein? Haben dann die Unterschiede zwischen Christentum und Islam noch eine Existenzberechtigung oder wird dann das Christentum dem Islam einverleibt oder überwunden? So heißt es etwa in der berühmten Damaskus-Predigt: „Die Zukunft soll die des Islams sein und nur des Islams. Und ihr Führer sollen die Wahrheiten des Korans und der Glaube sein.“23 Nursi hat die Vision, dass Europa und Amerika eines Tages islamische Staaten werden und dass am Ende alle wahrhaft Gläubigen, auch die echten Christen – vom Aberglauben und verfälschten Glauben gereinigt –, den Islam annehmen werden.24 Religiös gesehen ist dieser Wunsch natürlich legitim – auch das Christentum erhebt nach wie vor den Anspruch, die höchste Form von Religion zu sein, den besseren Weg zum Heil zu weisen. 21 Ders., „Sechsundzwanzigster Brief“, in: ders., Briefe, S. 449f. 22 Zweites Vatikanisches Konzil, „Gaudium et Spes“: Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute, Nr. 52, in: Karl Rahner/Herbert Vorgrimler, Kleines Konzilskompendium, Freiburg/Basel/Wien 302003, S. 449–552, S. 505. 23 Nursi, Damascus Sermon, S. 27. 24 Vgl. ders., Damascus Sermon, S. 35f.

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Problematisch wird es jedoch, wenn der theologische Anspruch zum politischen Programm wird, was bei Nursi sicher nicht der Fall ist, im Gegenteil: Als 1908 eine neue Verfassung im Osmanischen Reich in Kraft trat, verteidigte er die rechtliche Gleichstellung der griechischen und armenischen Christen mit den Worten: „Ihre Freiheit besteht darin, sie in Frieden zu lassen und nicht zu unterdrücken und das ist, was die Scharia will.“25 Dennoch besteht stets die Gefahr, einen religiösen Überlegenheitsanspruch politisch zu instrumentalisieren und demgegenüber müssen Christen wie Muslime wachsam sein. Abgesehen davon stellt sich an beide Religionen die Frage, wozu ein Dialog noch dienen soll, wenn beim anderen nur das anerkannt wird, was mit dem eigenen Glauben übereinstimmt, und vom anderen letztlich doch die Konversion erwartet wird.

2.

Die Bedeutung von Said Nursis Theologie für den christlich-islamischen Dialog

2.1

Zum Verhältnis von Glaube und Vernunft

Said Nursis Theologie ist bereits mehrfach mit Ansätzen einzelner christlicher Theologen des 20. Jhd. verglichen worden: etwa mit der Theologie Paul Tillichs,26 Dietrich Bonhoeffers27 oder Papst Johannes Pauls II.28 Man kann beim Lesen der Werke Said Nursis aber immer wieder auch – bei allen Differenzen natürlich – Ähnlichkeiten mit der Theologie Joseph Ratzingers feststellen. Als Theologe, als Universitätsprofessor – weniger in seinem Amt als Papst – sprach dieser bei seinem Deutschlandbesuch an der Universität Regensburg im Jahr 2006. Seiner berühmt-berüchtigt gewordene Regensburger Vorlesung, die in mancherlei Hinsicht missglückt war und eine ambivalente Nachgeschichte für die christlichislamischen Beziehungen hatte,29 lag im Kern die Überzeugung zugrunde, dass Glaube ohne Vernunft gewalttätig werde, Vernunft ohne Glauben das eigentliche 25 Zit. nach Vahide, „Outline“, S. 110. 26 Vgl. Kelton Cobb, „Offenbarung, Vernunft und Wahrheit bei Said Nursi und Paul Tillich“, in: Cäcilia Schmitt (Hg.), Islamische Theologie des 21. Jahrhunderts. Der aufgeklärte Islam. Das Paradigma des Said Nursi, Stuttgart 2007, S. 167–198. 27 Vgl. Aries/Ülker (Hg.), Bonhoeffer. 28 Thomas Michel, „The Ethics of Pardon and Peace: A Dialogue of Ideas between the Thought of Pope John Paul II and the Risale-i Nur“, in: Marham (Hg.), Globalization, Ethics and Islam, S. 37–47. 29 Vgl. dazu Andreas Renz, „Glaube und Vernunft. Reaktionen muslimischer Theologen auf die Regensburger Papstrede. Eine kritische Sichtung“, in: Wolfgang W. Müller (Hg.), Christentum und Islam. Plädoyer für den Dialog, Zürich 2009, S. 165–194.

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Wesen des Menschen verfehle.30 Beide Leitgedanken nun begegnen immer wieder auch bei Said Nursi, so etwa in folgender Aussage: Die Wissenschaft der Religion ist das Licht des Gewissens. Die (Natur-)Wissenschaften der Zivilisation sind das Licht des Intellekts. Die Wahrheit wird offenbar durch die Vereinigung der beiden, was Ansporn und Initiative erweckt. Wenn sie getrennt sind, erscheinen Ignoranz und Fanatismus in der Religion und Fehlschlüsse und Skeptizismus in der Wissenschaft.31

In der Damaskus-Predigt fordert Nursi die Muslime auf, „die Wahrheiten des Glaubens durch Vernunft, Denken und unsere Herzen zu erschließen“ ,32 nicht durch blinden Gehorsam oder Nachahmung der Geistlichen. In der Vorbemerkung zum „Zehnten Wort“ („Die Auferstehung“) formuliert er seine Überzeugung, „wie sehr die Wahrheiten des Islam der Logik des Verstandes entsprechen“,33 und dies versucht er in seinem Werk immer wieder zu beweisen. Der geistige Kampf gegen die moderne westliche Philosophie, welche die klassische Metaphysik ablehne und sich positivistisch auf das naturwissenschaftlich Beweisbare zurückziehe, ist für Nursi – ähnlich wie für Papst Benedikt – von zentraler Bedeutung für das Überleben der Religion, des Glaubens in der Moderne. Die neuzeitliche europäische Form der Philosophie ist für ihn gleichbedeutend mit Atheismus: „Der furchtbare Irrtum der Adepten der Philosophie, der Leute des Unglaubens und der triebverhafteten Seele besteht darin, dass sie Gott den Gerechten nicht anerkennen wollen.“34 Dabei ist für Nursi die Existenz eines Schöpfergottes unabweisbar, ja lässt sich aus der Existenz der Schöpfung und ihrer sinnvollen Ordnung geradezu „beweisen“. Es sei „eine unvorstellbare Unmöglichkeit, dass diese Schöpfung ohne Designer sein sollte.“35 Nursi greift dabei auf den koranischen Diskurs mit den ungläubigen Mekkanern zurück, der permanent darauf verweist, dass man den gütigen und weisen Schöpfergott erkennen müsse, wenn man nur mit offenen Augen und wachen Verstand die Welt betrachte. Nursi ist – wie viele muslimische Theologen bis

30 Vgl. Benedikt XVI., „Glaube, Vernunft und Universität. Erinnerungen und Reflexionen“, in: ders., Glaube und Vernunft. Die Regensburger Vorlesung. Vollständige Ausgabe, kommentiert von Gesine Schwan, Adel Theodor Khoury, Karl Kardinal Lehmann, Freiburg/Basel/Wien 2006, S. 11–32. 31 Zit. nach Schmitt, Islamische Theologie des 21. Jahrhunderts, S. 37–54, S. 39f. 32 Nursi, Damascus Sermon, S. 32. 33 Said Nursi, Worte. Kommentare zum Qur’an, Köln o. J., S. 84. An anderer Stelle sieht Nursi „die Naturwissenschaftler und Philosophen, alle diejenigen, die in die Irre gehen, […] in den Sumpf des Naturalismus“ stürzen; Said Nursi, Die Auferstehung. Kommentare zum Qur’an, Berlin 2007, S. 73. 34 Nursi, Die Auferstehung, S. 23. 35 Ebd. Die Rede von Gott als „Designer“ (in der dt. Übers.!) erinnert doch sehr an die pseudowissenschaftliche Theorie des „Intelligent Design“ nordamerikanischer Neokreationisten.

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heute – überzeugt, dass das kosmologische Argument ein wirklicher Gottesbeweis ist. Den katholischen Theologen erinnert diese Argumentation an die alte Überzeugung von der „natürlichen Gotteserkenntnis“, die ihre Wurzel in der altkirchlichen Rezeption griechischer Philosophie hat. Signifikanterweise dogmatisiert das katholische Lehramt die Rede von der natürlichen Gotteserkenntnis Ende des 19. Jhd. in der Auseinandersetzung mit der Moderne (Erstes Vatikanisches Konzil). Nursi befindet sich wenige Jahre später in derselben geistigen Auseinandersetzung. Demgegenüber muss jedoch klargestellt werden, dass nach der Offenbarungskritik der Aufklärung die klassischen „Gottesbeweise“ keine wirklichen Beweise im mathematisch-naturwissenschaftlichen Sinn sind.36 Könnte Gott bewiesen werden, wären die Freiheit und der Glaubensakt des Menschen sinnlos. Aus Sicht der heutigen christlichen Theologie dienen die „Gottesbeweise“ lediglich als zusätzliche Argumente für die Plausibilität und Vernünftigkeit des Gottesglaubens. Die Gotteserfahrung des Glaubenden ist für Nursi der unmittelbare „Gottesbeweis“. Nursi betont immer wieder die Bedeutung der Vernunft, aber ihre Eigenständigkeit scheint bei ihm doch nicht gewahrt, vielmehr scheint sie allein der Bestätigung der Offenbarung zu dienen. Nach Vahide geht Nursi schließlich sogar so weit, „die göttliche Offenbarung als einziges Kriterium für die Wahrheit“37 zu sehen. Dies aber würde bedeuten, einem reinen Fideismus zu verfallen und die rationale Plausibilität des Glaubens preiszugeben. Dies hätte zugleich fatale Konsequenzen für den interreligiösen Dialog, als insofern keine gemeinsame Basis der Argumentation mehr gegeben wäre. Die Frage nach dem Verhältnis von Glaube und Vernunft muss somit im weiteren Dialog vertieft und geklärt werden.

36 Vgl. dazu Alexander Loichinger, Frage nach Gott, Paderborn 2003, bes. S. 41–68. Dasselbe gilt im Hinblick auf die sog. „Wunder“ (vgl. Said Nursi, Wunder Mohammeds. Kommentare zum Qur’an, Ulm o. J.): In der atomistisch-okkasionalistischen Weltsicht der klassischen islamischen Theologie, die auch Nursi vertritt (vgl. dazu Colin Turner/Hasan Horkuc, Said Nursi, London/New York 2009, S. 72), sind „Wunder“ im Sinne unmittelbaren Eingreifens Gottes in die vermeintliche Kausalität irdischer Vorgänge selbstverständlich. Eine solche Sicht freilich stellt die Freiheit des Menschen wie die Naturgesetze infrage und macht aus Gott einen „Deus es machina“. 37 Vahide, „Der Dialog und seine Voraussetzungen“, S. 68.

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2.2

253

Sakramentalität der Welt und Würde des Menschen

Wenn Gott in der Schöpfung zu erkennen ist, dann logischerweise auch im Menschen. Die katholische Theologie spricht in diesem Zusammenhang von der Sakramentalität der Schöpfung und des Menschen, und in der Tat sind ganz ähnliche Gedanken bei Nursi zu finden, etwa wenn er schreibt, dass „man in diesem so winzig kleinen Körper eines Menschen das Inhaltsverzeichnis des ganzen Universums, die Schlüssel zu den Schatzkammern der Barmherzigkeit und die Spiegel aller göttlichen Namen“38 finden könne. Im Menschen spiegeln sich also die Eigenschaften Gottes wider. Eben darin liegt die besondere, einzigartige Würde des Menschen, der den „hohen Vorzug besitzt, ein Mensch sein zu dürfen, den Rang eines Groß-Kalifen zu bekleiden, betraut mit der großen Aufgabe, ein hohes Pfand zu verwalten.“39 Der Mensch als Treuhänder und als Gottes „Partner im Dialog“40 – dies entspricht exakt dem biblisch-christlichen Verständnis von der Gottebenbildlichkeit des Menschen, in der die moderne christliche Theologie die unverlierbare und unverdiente Würde jedes Menschen und darin wiederum die universal geltenden Freiheits- und Gleichheitsrechte begründet sieht. „Gottebenbildlichkeit“ ist nach heutiger christlicher Auslegung von Gen 1,27 keine Wesens-, sondern eine Funktionsaussage: Es geht dabei nicht um eine Vermischung von Schöpfer und Geschöpf, nicht um eine Vergöttlichung des Menschen, sondern sie bezieht sich auf den dem Menschen von Gott gegebenen Auftrag, verantwortlich für die Mitgeschöpfe und vor Gott, d. h. im Sinne Gottes, zu leben.41 Nach verbreiteter islamischer Auslegung von Sure 2/30 hat Gott den Menschen als seinen Statthalter oder Stellvertreter auf Erden eingesetzt, damit dieser nach dem Willen Gottes in der Welt handelt. Said Nursi steht in dieser Auslegungstradition, mit der eine grundlegende Gemeinsamkeit mit der christlichen Anthropologie gegeben ist. Der christlich-islamische Dialog sollte auf dieser gemeinsamen Basis aufbauen und über die aus der besonderen Würde des Menschen folgenden Gleichheits- und Freiheitsrechte weiter reflektieren.

38 Nursi, Die Auferstehung, S. 36; vgl. auch ders., Briefe, S. 79. Zum Thema Sakramentalität vgl. ¯ ya¯t Alla¯h). Sakramentalität im Islam und ihre auch Andreas Renz, „Die Zeichen Gottes (A Bedeutung für das christlich-islamische Verhältnis“, in: Theologische Zeitschrift, 61 (2005), S. 239–257. 39 Nursi, Die Auferstehung, S. 56; vgl. ders., Damascus Sermon, S. 41f. 40 Nursi, Die Auferstehung, S. 62. 41 Vgl. dazu Andreas Renz, Der Mensch unter dem An-Spruch Gottes. Offenbarungsverständnis und Menschenbild des Islam im Urteil gegenwärtiger christlicher Theologie, Würzburg 2002, bes. S. 358–378.

254 2.3

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Das Liebesgebot: Universal oder auf die umma begrenzt?

Ob es im Islam ein dem christlichen Gebot der Nächstenliebe entsprechendes Gebot gibt, wurde in den letzten Jahren im Gefolge des Briefes „A Common Word“ von 138 muslimischen Gelehrten an die Christenheit aus dem Jahr 2007 intensiv diskutiert.42 Brüderlichkeit und Liebe stehen ohne Zweifel im Zentrum von Said Nursis religiöser Ethik. In seiner Auslegung von Sure 49/10, 41/34 und 3/134 bezeichnet er den Islam als „höchste Menschlichkeit“, die Hass und Feindschaft durch Liebe überwinden will: „Wenn die Liebe im Herzen eines Menschen hinsichtlich ihrer Beweggründe wirkliche Liebe ist, dann wird Hass unwirklich und verwandelt sich in Mitgefühl. In der Tat liebt ein Gläubiger seinen Bruder und muss ihn auch lieben.“43 Im „Achten Brief“ erläutert Nursi den Unterschied zwischen Liebe und Mitgefühl: Das starke und helle Gefühl, das der Prophet Jakob (Friede sei mit ihm) für Josef (Friede sei mit ihm) empfand, war nicht Liebe oder Leidenschaft, sondern Mitleid. Denn Mitleid ist viel intensiver, reiner, erhabener und vornehmer, dem Rang eines Propheten angemessener, als Liebe und Leidenschaft.

Mitleid sei also höher als Liebe, weil diese mit Leidenschaft verbunden sei und auf den geliebten Menschen beschränkt bleibe: „Ja, da sie den geliebten Menschen preist und erhöht, erniedrigt sie andere, und tatsächlich beleidigt sie diese und schmäht deren Ehre.“44 Liebe verlange nach Gegenliebe, Mitleid aber sei selbstlos. Der nichtmuslimische Leser fragt sich an dieser Stelle natürlich, ob sich Liebe bzw. Mitgefühl bei Nursi nur auf muslimische „Brüder“ beziehen, oder ob diese als universales Gebot verstanden werden. In der Schrift Bruderschaft und Wahrhaftigkeit im Islam ist von der „Bruderschaft des Islam“ die Rede und aus dem Kontext wird deutlich, dass es Nursi in erster Linie tatsächlich um den inneren Zusammenhalt, die Stärkung der umma geht (an dieser Stelle ist gar von der „Festung des Islam“ die Rede).45 In persönlichen Gesprächen des Autors mit Anhängern der Nurculuk-Bewegung wurde deutlich, dass das Liebesgebot prinzipiell durchaus universal verstanden wird, dass es faktisch aber doch so etwas wie konzentrische Kreise gibt, eine Art „Zwiebelschalenmodell“ in Bezug 42 Vgl. dazu Andreas Renz, „Ein ‚neuer Geist‘ des christlich-islamischen Dialogs? Eine kritische Sichtung der beiden ‚Offenen Briefe‘ islamischer Gelehrter“, in: CIBEDO-Beiträge, 4 (2008), S. 14–23; ders., „Vom gemeinsamen Wort zum gemeinsamen Handeln. Reaktionen aus der christlichen Ökumene auf den Brief der 138 muslimischen Gelehrten“, in: KNA-ÖKI, Nr. 41 vom 6. Oktober 2009 (Thema der Woche), S. 1–11. 43 Said Nursi, Bruderschaft und Wahrhaftigkeit im Islam. Kommentare zum Qur’an, Ulm o. J., S. 9. 44 Nursi, Briefe, S. 65. 45 Nursi, Bruderschaft, S. 22; vgl. auch ders., „Zweiundzwanzigster Brief“, in: Briefe, S. 365f.

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auf die Adressaten der Barmherzigkeit. Auf die Frage, ob ein Muslim auch einen Christen oder Juden lieben kann oder darf, antwortet Nursi mit dem Verweis auf die Erlaubnis des Korans, wonach ein Muslim eine Angehörige der Buchreligionen heiraten und damit natürlich lieben dürfe.46 Aus christlicher Sicht kann man nun fragen, ob es bei Nursi auch so etwas wie das Gebot zur Feindesliebe gibt. Folgende Aussage spricht eher dagegen: „Willst du hassen, so gibt es viele Ungläubige und Gottlose. Ihnen bringe deine Feindschaft entgegen!“ In Spannung dazu steht jedoch einige Zeilen später eine indirekte Wiedergabe von Sure 41/34, wenn Nursi schreibt: „Willst du deinen Gegner besiegen, so erwidere seine Schlechtigkeit mit Gutem! Denn erwiderst du sie mit Bosheit, so vermehrt sich das Übel.“47 Hier ist tatsächlich das jesuanische Prinzip der „Entfeindungsliebe“ aufgegriffen.48 Im „Zweiundzwanzigsten Brief“ empfiehlt Nursi: Wenn du eine Feindschaft pflegen willst, so hege Feindschaft gegen die Feindschaft in deinem Herzen. Bemühe dich, sie aufzuheben. Und hege Feindschaft gegen deine Triebseele, welche dir am meisten schadet, bemühe dich, sie zu bessern. Wegen der Fehler dieser Seele hege keine Feindschaft gegen deine Glaubensbrüder. Ja, so wie die Eigenschaft der Liebe der Liebe angemessen ist, so ist die Eigenschaft der Feindschaft zu aller erst sich selbst, der Feindschaft, angemessen. Wenn du deinen Gegner besiegen möchtest, so begegne seiner Schlechtigkeit mit Güte […], wenn du ihm mit Güte begegnest, so wird er bereuen und dir ein Freund werden.49

Wenn der Muslim ein schlechtes Verhalten seines Glaubensgenossen wahrnimmt, soll er sich drei Dinge bewusst machen: Erstens, die göttliche Bestimmung hat daran einen Anteil; zweitens, die Triebseele und der Teufel haben daran einen Anteil und schließlich soll sich der Gläubige seiner eigenen Fehler bewusst sein; dem verbleibenden Rest am schlechten Handeln des anderen soll er dann mit großzügigem Verzeihen begegnen. Nursi zitiert in diesem Zusammenhang auch den persischen Dichter Hafis mit den Worten: „Der Frieden in beiden Welten liegt im Verstehen dieser beiden Worte: Großzügigkeit gegenüber den Freunden und friedfertiger Umgang mit den Feinden.“50

46 Vgl. Michel, Reflections, S. 16. 47 Nursi, Bruderschaft, S. 13. 48 Nursi war allerdings kein Pazifist: So begrüßte er die Teilnahme der Türkei am Koreakrieg als Kampf gegen den Atheismus, vgl. Vahide, „Outline“, S. 115. 49 Nursi, Briefe, S. 369; vgl. auch Nursi, Damascus Sermon, S. 50f. 50 Nursi, Briefe, S. 371.

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Andreas Renz

Das Theodizeeproblem: Woher kommt das Böse und welchen Sinn hat das Leid?

Ein wichtiges Thema im interreligiösen Dialog ist auch die Frage nach dem Ursprung des Bösen und dem Sinn des Leidens.51 Nursis Ansicht nach schuf Gott auch „den Satan und die bösen Geister“.52 Dies entspricht durchaus dem biblischen Schöpfungsglauben: Da es keine Schöpfermacht neben dem guten Schöpfergott gibt, kommt alles von Gott. Die entscheidende Frage ist, ob Gott den Satan bereits als böses Wesen erschaffen hat, oder dieser sich in Freiheit für das Böse entschieden hat. Nursi optiert offensichtlich für erstere Lösung, will Gott aber dennoch freisprechen: „[D]ie Erschaffung des Bösen ist nicht böse. Vielmehr ist es böse, das Böse zu erwerben.“53 Er steht damit deutlich in der klassischen asˇʿarı¯tischen Tradition. Nursi sieht in der Welt und im Leben des Menschen einen „Ort der Erprobung, der Prüfung, des Djihads und des Wettbewerbs“54; hier liege das „Geheimnis der Verantwortung des Menschen“55: „Die Übel und die Fälle des Schlechten, die durch Missbrauch und aus individueller Neigung und eigenem Verhalten entstehen, gehören zur menschlichen Willensfreiheit und nicht zum Schöpfungswerke Gottes.“56 Diese Sicht entspricht durchaus auch der gegenwärtigen christlichen Theologie, die in der von Gott geschenkten Freiheit und Verantwortung des Menschen den entscheidenden Schlüssel zur Erklärung des Bösen und des Übels sieht. Problematisch allerdings wird es, wenn menschliches Leid grundsätzlich als Prüfung des Gläubigen gesehen und pädagogisch verzweckt wird, wenn es etwa heißt: „Das Leben erlangt Vollkommenheit durch die Bewegung; durch Leiden und Schicksalsschläge schreitet es voran.“57 Im „Seelenführer für die Kranken“ versucht Nursi zu trösten: „Deine Krankheit dient dir nicht zu Kummer und Sorge, sondern zum Heil.“58 Dies stimmt nur, wenn man „Heil“ rein jenseitig, nicht aber ganzheitlich betrachtet. Die Gefahr der Vertröstung auf das Jenseits, statt Trost und Hilfe im Diesseits zu geben, liegt hier nicht fern. Nursi freilich ist dieser Vorwurf nicht zu machen, wenn er vom mitmenschlichen Erbarmen und Mitleid gegenüber den Kranken und Leidenden als wichtigem Charakterzug des Islams spricht.59 Man

51 Vgl. Andreas Renz/Hansjörg Schmid/Jutta Sperber/Abdullah Takım (Hg.), Prüfung oder Preis der Freiheit? Leid und Leidbewältigung in Christentum und Islam, Regensburg 2008. 52 Nursi, Briefe, S. 80. 53 Ebd. 54 Ebd., S. 80f. 55 Ebd., S. 83. 56 Ebd., S. 82. 57 Ebd., S. 84. 58 Nursi, „Fünfundzwanzigster Blitz“, in: ders., Blitze, S. 410. 59 Vgl. ebd., S. 426f.

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könnte sogar eine Art „praktische Theologie der Krankenpastoral“ bei Nursi finden, wenn er vom „Dienst“ an den Kranken als einem „Gottesdienst“ spricht: „Das Herz der Kranken zufriedenzustellen, ihnen Tröstung zu bringen, ist wie ein bedeutsames Almosen.“60 Natürlich können Krankheit und Leid manchmal auch zu tieferer Dankbarkeit gegenüber dem Schöpfer, zu bewussterem Leben, zu intensiverem Gebet, zum Mitleid für den anderen usw. führen und in diesem Sinne sinnvolle Wirkungen entfalten. Doch damit Krankheit und Leid selbst als sinnhaft zu bezeichnen, scheint fragwürdig. Geradezu zynisch gegenüber den Leidenden ist es, jede Form des Leids positiv zu verklären: Es gibt jede Menge sinnloses Leid in dieser Welt, Leid, das keine positiven Wirkungen entfaltet – freilich auch, weil der Mensch zu schwach ist, aber ihm diese Schwäche in Form einer moralischen Keule in seiner Situation auch noch vorzuwerfen, ist wenig „pastoral“. Und deshalb ist aus christlicher Sicht auch Klage legitim. Wenn Nursi einen Hadith zitiert, wonach die ohne Klage in Leid verbrachte Zeit als Gebet gilt,61 so ist aus biblisch-christlicher Sicht dazu zu sagen: Auch die Klage kann zum Gebet werden, wie die Klagepsalmen zeigen.62 Noch problematischer ist, wenn einer von Nursi zitierten Überlieferung zufolge „Krankheiten eine Buße für die Sünden sind“.63 Diesen „Tun-ErgehensZusammenhang“ hat Jesus mehrmals kritisiert und zurückgewiesen,64 nicht zuletzt aufgrund der Gefahr einer moralischen Stigmatisierung der Kranken. Christen und Muslime sind gemeinsam aufgerufen, den Kranken und Leidenden mit Trost und Hilfe beizustehen. Die Frage nach dem „Warum?“ muss dabei ebenso einen Raum haben wie die Klage, und vorschnelle theologische Antworten verbieten sich in der konkreten Situation.

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Fazit: Würdigung und Ausblick

Nursis Theologie muss auf dem gesellschaftlichen und religiösen Hintergrund seiner Zeit interpretiert werden. Sie ohne diese kontextuelle Einordnung und Relativierung einfach in gegenwärtige Kontexte zu übertragen, wäre fahrlässig und nicht förderlich. Nötig ist stattdessen eine kreative, kritisch-konstruktive Weiterentwicklung seiner theologischen und ethischen Ansätze für die Gegenwart und die Zukunft. Nach vielen kritischen Anfragen an Nursis Theologie will 60 Ebd., S. 427. 61 Vgl. ebd., S. 411. 62 Vgl. dazu Georg Steins (Hg.), Schweigen wäre gotteslästerlich. Die heilende Kraft der Klage, Würzburg 2000. 63 Nursi, „Fünfundzwanzigster Blitz“, in: ders., Blitze, S. 417. 64 Vgl. Lk 13, 2–5; Joh 9,1–3.

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Andreas Renz

der Autor mit einigen Überlegungen zu Aspekten bei Said Nursi schließen, die seines Erachtens eine Brücke zum Christentum wie auch zu den anderen Religionen darstellen könnten: 1) Nursi will den Glauben der Muslime stärken durch persönliche Überzeugung und eigene religiöse Erfahrung, weg von der bloßen Nachahmung anderer. Nursi erhofft sich dadurch eine geistig-spirituelle Erneuerung der ganzen Gesellschaft, ohne – wie etwa seine Zeitgenossen al-Mawdu¯dı¯, Sayyid Qutb ˙ oder Hasan al-Banna¯ – der fundamentalistischen Versuchung zu verfallen, die Gesellschaft und den Staat von oben religiös umzugestalten. Letztlich deckt sich dieser Anspruch mit dem modernen christlichen Verständnis, die Trennung von Religion und Staat anzuerkennen, aber zugleich als gläubiger Mensch und verfasste Glaubensgemeinschaft die Gesellschaft aktiv mitzugestalten und vor allem dort sich einzumischen, wo Ungerechtigkeit herrscht. Die große Leistung Nursis ist darin zu sehen, dass er in einer Zeit großer Bedrohungen der Religion und der Menschen durch menschenverachtende Ideologien und Kriege die Gratwanderung sucht und findet zwischen einem rückwärtsgewandten religiösen Fundamentalismus einerseits und einer gottlosen neuzeitlichen Ideologie wie dem Nationalismus oder Kommunismus andererseits. Vor dieser Herausforderung stehen Muslime wie Christen und alle gottgläubigen Menschen auch heute noch und immer wieder. 2) Eine zweite grundlegende Gemeinsamkeit ist die Theozentrik und die quasisakramentale Weltsicht.65 Die Welt wird zur Hierophanie, zum Spiegel oder Abbild des Göttlichen, des Schöpfers. Gott ist nicht nur der völlig Unvergleichliche, Transzendente und Unnahbare, sondern zugleich auch der Immanente, stets Gegenwärtige. Der Mensch ist dazu fähig und beauftragt, in Gottes Namen zu handeln und ihn dadurch zu offenbaren.66 Darin liegt die besondere und einzigartige Würde des Menschen. Die gemeinsame Aufgabe von Christen und Muslimen ist, diese Würde des Menschen und die daraus resultierenden Gleichheits- und Freiheitsrechte anzuerkennen und zu verteidigen. 3) Gemeinsam können sich Christen und Muslime – zusammen mit allen Menschen guten Willens – auf folgende Tugenden und Werte besinnen und indem sie diese leben, können sie gemeinsam einen wichtigen Beitrag zum Frieden in der Welt leisten: Hoffnung statt Verzweiflung, Aufrichtigkeit statt Betrug, Liebe statt Feindseligkeit, Einheit statt Uneinigkeit, Anerkennung der menschlichen Würde statt Unterdrückung, Sorge um andere statt Egoismus. In dieser Hinsicht hat die berühmte Damaskus-Predigt von Said Nursi vor fast 100 Jahren heute im 21. Jhd. nichts von ihrer Aktualität und Bedeutung verloren. 65 Vgl. Turner/Horkuc, Nursi, S. 53ff. 66 Vgl. ebd., S. 92.

Das Christentum in der Sicht Said Nursis

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Literatur Benedikt XVI., „Glaube, Vernunft und Universität. Erinnerungen und Reflexionen“, in: ders., Glaube und Vernunft. Die Regensburger Vorlesung. Vollständige Ausgabe, kommentiert von Gesine Schwan, Adel Theodor Khoury, Karl Kardinal Lehmann, Freiburg/ Basel/Wien 2006, S. 11–32. Berger, Lutz, „Said Nursi und das Christentum – Zur Funktion eines Motivs hagiographischer Literatur in der Nurcu-Bewegung“, im vorliegenden Band, S. 233–242. Brodeur, Patrice C., „The Ethics of Bediuzzaman Said Nursi’s Dialogue with the West in Light of His Concept of ‚Europe‘“, in: Markham/Ozdemir (Hg.), Globalization, Ethics and Islam. The Case of Bediuzzaman Said Nursi, Aldershot/Burlington 2005, S. 89–98. Cobb, Kelton, „Offenbarung, Vernunft und Wahrheit bei Said Nursi und Paul Tillich“, in: Schmitt, Cäcilia (Hg.), Islamische Theologie des 21. Jahrhunderts. Der aufgeklärte Islam. Das Paradigma des Said Nursi, Stuttgart 2007, S. 167–198. Loichinger, Alexander, Frage nach Gott, Paderborn 2003. Markham, Ian, „Welche Grundlagen sind sicherer für die Ethik – die säkularen oder die religiösen? Eine Fallstudie über Bediuzzaman Said Nursi“, in: Aries/Ülker (Hg.), Dietrich Bonhoeffer, Alfred Delp und Said Nursi: Christentum und Islam im Gegenüber zu den Totalitarismen. Erträge aus dem II. Said Nursi-Symposium, Münster 2004, S. 27–43. Michel, Thomas, Reflections on Said Nursi’s Views on Muslim-Christian Understanding, Istanbul 2003. Ders., „The Ethics of Pardon and Peace: A Dialogue of Ideas between the Thought of Pope John Paul II and the Risale-i-Nur“, in: Markham/Ozdemir (Hg.), Globalization, Ethics and Islam. The Case of Bediuzzaman Said Nursi, Aldershot/Burlington 2005, S. 37–47. Nursi, Said, Blitze. Kommentare zum Qur’an, Ulm o. J. Ders., Bruderschaft und Wahrhaftigkeit im Islam. Kommentare zum Qur’an, Ulm o. J. Ders., Die Auferstehung. Kommentare zum Qur’an, Berlin 2007. Ders., Die Briefe. Über Natur und Ziel des Menschen, des Lebens und aller Dinge, Köln u. a. 2004. Ders., The Damascus Sermon, Istanbul 21996. Ders., Wegweiser für die Jugend. Kommentare zum Qur’an, Berlin 2007. Ders., Worte. Kommentare zum Qur’an, Köln o. J. Ders., Wunder Mohammeds. Kommentare zum Qur’an, Ulm o. J. Ratzinger, Joseph, „Papstmesse. Missa Pro Eligendo Romano Pontifice. Predigt von Kardinal Joseph Ratzinger“, vom 18. 04. 2005, URL: http://www.vatican.va/gpII/documents/ homily-pro-eligendo-pontifice_20050418_ge.html (letzter Zugriff: 29. 06. 2011). Renz, Andreas, „Glaube und Vernunft. Reaktionen muslimischer Theologen auf die Regensburger Papstrede. Eine kritische Sichtung“, in: Müller, Wolfgang W. (Hg.), Christentum und Islam, Plädoyer für den Dialog, Zürich 2009, S. 165–194. ¯ ya¯t Alla¯h). Sakramentalität im Islam und ihre Bedeutung für Ders., „Die Zeichen Gottes (A das christlich-islamische Verhältnis“, in: Theologische Zeitschrift, 61 (2005), S. 239–257. Ders., Der Mensch unter dem An-Spruch Gottes. Offenbarungsverständnis und Menschenbild des Islam im Urteil gegenwärtiger christlicher Theologie, Würzburg 2002. Ders., „Ein ‚neuer Geist‘ des christlich-islamischen Dialogs? Eine kritische Sichtung der beiden ‚Offenen Briefe‘ islamischer Gelehrter“, in: CIBEDO-Beiträge, 4 (2008), S. 14–23.

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Andreas Renz

Ders., „Vom gemeinsamen Wort zum gemeinsamen Handeln. Reaktionen aus der christlichen Ökumene auf den Brief der 138 muslimischen Gelehrten“, in: KNA-ÖKI, Nr. 41 vom 6. Oktober 2009 (Thema der Woche), S. 1–11. Ders./Schmid, Hansjörg/Sperber, Jutta/Takım, Abdullah (Hg.), Prüfung oder Preis der Freiheit? Leid und Leidbewältigung in Christentum und Islam, Regensburg 2008. Steins, Georg (Hg.), Schweigen wäre gotteslästerlich. Die heilende Kraft der Klage, Würzburg 2000. Turner, Colin/Horkuc, Hasan, Said Nursi, London/New York 2009. Vahide, S¸ükran, „An Outline of Bediuzzaman Said Nursi’s Views on Christianity and the West“, in: Markham, Ian/Ozdemir, Ibrahim (Hg.), Globalization, Ethics and Islam. The Case of Bediuzzaman Said Nursi, Aldershot/Burlington 2005, S. 109–118. Dies., „Der Dialog und seine Voraussetzungen im Denken und Handeln von Bediuzzaman Said Nursi“, in: Aries, Wolf D./Ülker, Rüstem (Hg.), Dietrich Bonhoeffer, Alfred Delp und Said Nursi: Christentum und Islam im Gegenüber zu den Totalitarismen. Erträge aus dem II. Said Nursi-Symposium, Münster 2004, S. 67–75. Zweites Vatikanisches Konzil, „Gaudium et Spes“: Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute, in: Rahner, Karl/Vorgrimler, Herbert, Kleines Konzilskompendium, Freiburg/Basel/Wien 302003, S. 449–552.

Anhang

Avni Altıner

Annex – Erneuerung im Islam

In der langen islamischen Geschichte sind permanent Mahner und Aufklärer aufgetreten, die zeitgemäß und problemorientiert die religiös-theologischen Schwerpunkte des Glaubens herausgearbeitet und erörtert haben. Übergreifende nachhaltige Antworten auf die Fragen der Zeit haben nur wenige gegeben. Der Islamgelehrte und Denker Said Nursi bildet eine Ausnahme. Mit seinen originellen Ideen hat er gänzlich neue Wege eingeschlagen. Seine Abhandlungen über Islam vermitteln den Inhalt des Glaubens. Das Essentielle, Gott, wird greifbar. Dem Stellenwert der Religion, dem Glauben an einen Schöpfer, der Besinnung auf das Wesentliche, was das Leben lebenswert macht, verleiht er neues Gewicht. Said Nursi ist ein Naturbeobachter, der die Spiritualität in den Dingen offen legt. Die Aspekte, die Said Nursi eingebracht hat, haben viele Enthusiasten gefunden. Endlich einer, der über die Klerikale und Theokratie klare Worte findet und infolge einer Entpolitisierung des Glaubens Religiosität bestärkt. Positive Errungenschaften der Moderne sieht er als Teil islamischer Eigenschaften. Seine Werke, Ideen und zeitkritischen Stellungnahmen kennen, heißt den Islam kennen. Said Nursi wird Mitglied des Darül’Hikmetil-Islamiye, des höchsten theologischen Rates der islamischen Welt, auf Vorschlag der Armee. Er bekommt die höchste Auszeichnung als Islamgelehrter von Sultan Vahidüddin verliehen. Er widmet sich verstärkt seinen Publikationsarbeiten. Engagierter Kampf gegen die Besatzung durch die Briten und Alliierten (1920), Einsatz gegen die nationalistischen Bewegungen und Veröffentlichung diesbezüglicher Schriften, Mitbegründer des Grünen Halbmondes (Aufklärung über Suchtgefahren und gegen Verwahrlosung). „Zu Beginn eines jeden Jahrhunderts wird Gott jemand in dieser Gemeinschaft berufen, der aufklärend die Religion vergegenwärtigen und regenerieren wird.“ (Hadith bei Abu¯ Da¯ʾu¯d)

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Avni Altıner

Zum Thema Glaube (Iman) von Said Nursi Zum wesentlichen Unterschied zwischen Glaube (Iman) und Hingabe (Islam) und ihrer Wechselbeziehung als Mittel zur Erlösung des Menschen: Nursis generellem Diskurs über die islamische Orthopraxie (Streben nach rechter Lehre) liegt die Vorstellung zugrunde, dass äußere Unterwerfung unter den Willen Gottes nur dann Aussagekraft besitzt, wenn ein wahrer, dauerhafter und beständiger betreuter Glaube existiert und dass die äußeren „Erscheinungsformen“ des islamischen Glaubens – das Gebet, das Fasten etc. – ohne diesen Glauben bedeutungslos sind. Der Glaube muss wiederum auf Nachforschungen und Selbstprüfung beruhen, auf Erwägung und Kontemplation: denn ohne Wissen kann der Glaube nicht gelten, und ohne Glauben ist die Hingabe nichts wert. Da der Mensch und die Welt, in der er lebt, ständig erneuert werden, muss er seinen Glauben ständig erneuern. Denn in Wahrheit besteht jedes einzelne menschliche Wesen aus vielen Einzelwesen. Man kann in Menschen so viele unterschiedliche Personen erkennen, wie er Jahre zählt oder Tage oder sogar Stunden seines Lebens. Denn da ein einzelner Mensch der Zeit unterworfen ist, ist er wie ein Modell und mit jedem Tag, der vergeht, erhält er das Gewand eines anderen Menschen.1 Nursi drückt ebenso unmissverständlich aus, dass beide Bestandteile – Glaube und Unterwerfung – als Kriterien für die Erlösung vorhanden sein müssen. Weder führt Islam ohne den Glauben zur Erlösung, noch der Glaube ohne Islam.2 Glaube ohne äußere Unterwerfung ist Nursi ein Dorn im Auge, denn „Der Islam nimmt die Rolle der Wahrheit an und erfordert, sich ihr zu unterwerfen und zu gehorchen.3 In gleicher Weise wendet sich Nursi gegen jene, die blind folgen, und spricht sich zu jeder Zeit für den „Glauben durch Nachforschung“ (Tahkiki Iman) anstelle von „Glauben durch Nachahmung“ (Taklidi Iman) aus.

Ethik und Moral nach Nursi Praktiziert die Brüderlichkeit, Liebe und Zusammenarbeit, die von hunderten Versen des Korans und den Traditionen des Propheten beharrlich gefordert wird! Versucht mit all eurer Macht, eine Einheit mit euren Glaubensgenossen herzustellen, die stärker ist als die Einheit der Weltlichen!

1 Said Nursi, Die Briefe. Über Natur und Ziel des Menschen, des Lebens und aller Dinge, Köln u. a. 2004, S. 391. 2 Ebd., S. 53. 3 Ebd.

Annex – Erneuerung im Islam

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So erklärt Nursi in der Damaskuspredigt: Was wir jetzt wollen, ist das Erwachen und die Aufmerksamkeit der Gläubigen, denn die Wirkung der öffentlichen Aufmerksamkeit kann nicht geleugnet werden. Der Sinn und Zweck der Einheit ist es, das Wort Gottes hochzuhalten, und ihre Methode ist es, den ‚größeren Jihad‘ mit der eigenen Seele zu führen und andere zu leiten. 99 % der Bemühungen dieser gesegneten Gesellschaft sind nicht politisch. Vielmehr zielen sie auf gute Ethik und Mäßigung, die das Gegenteil von Politik und anderen rechtmäßigen Zielen darstellen.4

Persönliche Ethik nach Nursi Bezüglich der persönlichen Ethik zwei Beispiele: Das erste findet sich in seiner Kritik der ‚Gier‘. Seine Diskussion wird angeregt durch die koranische Verfügung ‚esst und trinkt, doch verschwendet nicht durch Übermaß‘ (Koran 7/31). Daraus entwickelt er sieben Punkte, von denen der letzte die tragische Konsequenz der Gier hervorhebt. Die Gier, so Nursi, führt zu Unzufriedenheit, Enttäuschung und Verlust sowie zu einem Mangel an religiöser Treue. Daraus schließt er: Übermaß und Verschwendung führen zu Unzufriedenheit. Die Unzufriedenheit zerstört den Arbeitseifer. Sie verursacht Faulheit und öffnet die Tür dazu, sich über das Leben zu beschweren, und so beschwert sich der unzufriedene Mensch ständig. Sie zerstört auch die Aufrichtigkeit und öffnet der Heuchelei die Tür. Und sie zerstört die Selbstachtung und weist den Weg zur Bettelei.5

Ein zweites Beispiel findet sich in seinem Nachdenken über die Krankheit. Das erste Beispiel ist eine ethische Argumentation, die sich auf bestimmte Handlungen konzentriert. Dieses zweite Beispiel platziert das Problem der Krankheit fest im Kontext von Gottesdienst und Glaube. Durch die Augen des Glaubens sehend, muss man die Not in einen Akt des Gottesdienstes verwandeln. Nursi erklärt folgendermaßen: Oh, du Kranke ohne Geduld! Wahrlich, sei geduldig und bedanke dich! Deine Krankheit wird vielleicht jeder Minute deines Lebens entsprechend einer Stunde des Gottesdienstes machen. Denn der Gottesdienst ist zweierlei Art. Eine ist positiv, wie der bekannte, der aus Anflehen und fünfmaligem täglichen Gebet besteht. Die andere Form des Gottesdienstes ist negativ, wie Krankheiten und Unglück. Durch diese erkennen die Betroffenen ihre Unfähigkeit und Schwäche. Sie flehen ihren allbarmherzigen Schöpfer an und suchen Zuflucht bei ihm. Sie zeigen einen Gottesdienst, der aufrichtig und ohne Heuchelei ist.6 4 Said Nursi, The Damascus Sermon, Istanbul 1996, S. 84. 5 Said Nursi, „19. Lichtblitz“, in: ders., Blitze. Kommentare zum Qur’an, Ulm o. J. 6 Said Nursi, „25. Blitz“ , in: ders., Blitze. Kommentare zum Qur’an, Ulm o. J.

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Avni Altıner

Sozialethik nach Nursi Am Ende von Band zwei des Risale-i Nur werden 111 Aphorismen bezüglich der Sozialethik nach Nursi aufgezählt. In der Schrift „Samenkörner der Realität“ stellt Aspekt Nr. 42 eine gute Zusammenfassung seiner sozialen Lehren dar: Der Ursprung aller Revolutionen und Korruptionen, der Antrieb und die Quelle aller niedrigen Moral sind nur zwei Redewendungen: Die Erste lautet ‚Solange ich satt bin, was kümmert es mich, wenn andere Hungers sterben.‘ Die zweite Redewendung ist: ‚Du leidest, damit ich sorgenfrei leben kann; du arbeitest damit ich leben kann.‘ Es gibt nur ein Heilmittel, die erste Redewendung auszumerzen, und zwar die obligatorische Zahlung des Zekat. Das Heilmittel für die zweite Redensart ist das Verbot von Wucher und Zinsen. Die Gerechtigkeit des Korans steht an der Tür der Welt und sagt: ‚Eintritt verboten! Ihr habt kein Recht hier einzutreten.‘ Die Menschheit missachtet den Befehl und erhält einen schweren Schlag. Somit sollte sie ihn befolgen, damit sie keinen noch schwereren Schlag erhält.7

Literatur Nursi, Said, Blitze. Kommentare zum Qur’an, Ulm o. J. Ders., The Damascus Sermon, Istanbul 1996. Ders., Die Briefe. Über Natur und Ziel des Menschen, des Lebens und aller Dinge, Köln u. a. 2004.

7 Aus: Said Nursi, Die Briefe.

Mehmet Nuri Güleç1

Said Nursi, Begründer der ‚jama′at un-nur‘

Gegen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelte Europa neue Ideologien, deren totalitäre Ansprüche bisher unbekannt gewesen waren. Ihre Entwicklungen in Russland, Deutschland, Italien und in anderen Teilen der Erde – aber auch in der Türkei – versuchten eine neue Weltordnung, eine neue Zivilisation entstehen zu lassen. Gleichzeitig erlebten wir im Osmanischen Reich umwälzende Entwicklungen und Veränderungen. Der Begründer unserer Gemeinschaft, Said Nursi, wurde mitten in diese Umwälzungen hineingeboren und musste inmitten dieser Welt sein Leben gestalten. Er fragte, was der Islam bzw. die islamische Zivilisation zu diesen Entwicklungen beitragen könne und analysierte die damals bekannten Projekte und Ideen als gläubiger Mensch. Dabei fragte er, ob es einen Weg gäbe, auf dem die Menschheit das irdische wie das jenseitige Glück erreichen könne. Dieser Aufgabe ging er in seinen Reden, Schriften, Artikeln, Abhandlungen und nach 1925 in seinem Gesamtwerk, dem Risale-i Nur, nach. Nursi prüfte die neuen Ideologien und Zivilisationsmodelle, die im Westen entwickelt worden waren. Er verglich deren Prinzipien mit den im Islam begründeten Gedanken, die er in seinem umfangreichen Werk entfaltet hatte. Im ersten Band des achtbändigen Risale, der den Titel „Die Worte“ (Sözler) trägt, fasst Nursi seine Gedanken einer Zivilisation, die auf der Vernunft und der Weisheit des Korans aufbaut, in folgenden Worten zusammen: „Gestützt auf ihre Philosophie akzeptiert die heutige Zivilisation die „Gewalt“ als Grundlage des menschlichen sozialen Lebens. Sie nimmt als Ziel den „Nutzen“ und betrachtet den „Konflikt“ als Prinzip ihres Lebens. Sie betrachtet „Rassismus und negativen Nationalismus“ als Band zwischen den Gemeinschaften. Das Ziel ist es, „Vergnügungen“ zu liefern, um die Gelüste der Seele zu befriedigen und die Bedürfnisse der Menschen zu steigern. Doch das Kennzeichen der Gewalt ist die Aggression. Und da die Vorzüge nicht für alle ausreichen, streiten sich alle um sie. Das Kennzeichen des Konflikts 1 Einer der noch lebenden Schüler von Said Nursi, Jahrgang 1928.

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Mehmet Nuri Güleç

ist der Streit, und das Kennzeichen des Rassismus ist die Aggression, da er die Völker antreibt, sich gegenseitig zu verschlingen. In Anbetracht dieser Tatsache ist das Glück der Menschheit zerstört. Aber die Weisheit des Korans nimmt als Grundlage die „Wahrheit“ statt der „Gewalt“, und statt des Nutzens setzt sich der Koran die Ziele „Tugend und Gottes Wohlgefallen“. Er hält „das Prinzip der gegenseitigen Hilfe“ für grundlegend im Leben und weniger das Prinzip des Konflikts. Und als Zusammenhalt der Gemeinschaften akzeptiert er „Religion, Klasse und Heimat“ und nicht Rassismus und Nationalismus. Der Koran will den unerlaubten Angriffen der niedrigen Gelüste der Seele Einhalt gebieten, und er drängt den Menschengeist zu edlen Dingen, damit die erhabenen Gefühle befriedigt werden, und ermuntert ihn zu menschlicher Vollkommenheit. Das Kennzeichen der Wahrheit ist Eintracht, das Kennzeichen der Tugend ist gegenseitige Hilfe, und das Kennzeichen des gegenseitigen Beistandes ist es, einander rasch zur Hilfe zu eilen. Das Kennzeichen der Religion ist Brüderlichkeit und Zuneigung. Und wenn die Seele, die Böses will, gezähmt und gezügelt wird, und wenn der Geist dadurch frei wird und wenn er zur Vollkommenheit gedrängt wird, so ist das Ergebnis das Glück in dieser […] und […] der nächsten Welt.“2

In seinem Werk Lichtstrahlen (S¸ualar) nennt Nursi fünf Prinzipien, die den Frieden einer Gesellschaft und die öffentliche Ordnung gewährleisten: Fünf Prinzipien sind wichtig und wesentlich in dieser seltsamen Zeit, um das gesellschaftliche Leben dieses Landes und dieser Nation vor Anarchie zu retten: 1) 2) 3) 4) 5)

Respekt Barmherzigkeit Verbotenes (Haram) zu meiden Sicherheit (Öffentliche Ordnung) Gesetzlosigkeit aufzugeben und der Autorität zu gehorchen.

Das Risale-i-Nur betrifft das Leben der Gesellschaft, es errichtet und stärkt diese fünf Prinzipien in einer kraftvollen und heiligen Weise und es bewahrt den Grundstein der öffentlichen Ordnung.3

So wird die Erde zu einem Ort, wo der Mensch in Frieden und Glück leben kann. Die Verinnerlichung dieser Prinzipien hängt nur vom wahren Glauben an Gott und die Wiederauferstehung ab. Nursi liefert dafür Beweise in seinem Werk Risale-i Nur. Durch diese Erkenntnis wird dem Menschen bewusst, dass er je2 Die Worte, Sözler Nes¸riyat, 2002, „12. Wort, 3. Aspekt“. 3 Die Lichtstrahlen, Sözler Nes¸riyat, o.O. 2011, „14. Lichtstrahl“, S. 441.

Said Nursi, Begründer der ‚jama′at un-nur‘

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derzeit an allen Orten unter dem Antlitz eines machtvollen und allwissenden Schöpfers lebt. Dieser Glaube wiederum bewahrt den Menschen vor falschen Handlungen und vor Bösem und davor den Anderen und sich selbst Schaden zuzufügen. Mit der Tugend eines solchen Glaubens wird jedes Individuum diszipliniert, bewahrt sich vor Ziellosigkeit und überlässt sich nicht der eigenen Willkür. So ist er sich bewusst, dass er nicht nur nicht allein gelassen ist, sondern es einen Herrn gibt. Auf diese Weise wird dem einzelnen klar, was das wahre Ziel der Menschlichkeit ist. So wird der Mensch auf einen Weg geleitet, auf dem die Gegebenheiten der beiden Welten einfach und leicht bewältigt werden können. Auf diese Weise gewinnt der Mensch die innere Ruhe für das irdische und jenseitige Glück – sowohl für sich selbst als auch als nützliches Bindeglied für die Menschheit. Zweifellos hat Nursis Zivilisationsprojekt viele Details. Da in allen Zivilisationsprojekten der Faktor Mensch im Grunde genommen im Zentrum steht, kommt es darauf an, den Menschen vorrangig zu thematisieren. Said Nursi wendet sich in seinem Werk vielen Aspekten zu, auf die ich in meiner kurzen Einführung nur ungenügend eingehen konnte, sodass ich mich mit diesen knappen Ausführungen begnügen möchte. Wa-llahu a′lam (Allah weiß es am besten).

Literatur Nursi, Bediuzzaman Said, Die Worte, Sözler Nes¸riyat, 2002, „12. Wort, 3. Aspekt“. Ders., Die Lichtstrahlen, Sözler Nes¸riyat, o.O. 2011, „14. Lichtstrahl“, S. 441.

Personenverzeichnis

Avni Altıner war zwischen 2002 und 2016 Vorsitzender der Schura Niedersachsen, Hannover. Bekim Agai, Prof. Dr., ist Direktor des Instituts für Studien der Kultur und Religion des Islam an der Universität Frankfurt. Ahmed Akgündüz, Prof. Dr., ist Rektor der Islamischen Universität Rotterdam. Esnaf Begic´, M.A., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Promovend im Bereich der Islamischen Theologie am Institut für Islamische Theologie (IIT) an der Universität Osnabrück. Lutz Berger, Prof. Dr., ist Islamwissenschaftler an der Universität Kiel. Bacem Dziri, M.A., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am IIT an der Universität Osnabrück. Christoph Elsas, Prof. Dr., ist Religionshistoriker an der Universität Marburg. Mehmet Nuri Güleç, einer der letzten lebenden Schüler von Said Nursi, bekannt als Fırıncı Abi. Ahmad Milad Karimi, Prof. Dr., ist Religionsphilosoph und lehrt Kala¯m, islamische Philosophie und Mystik in Münster. Bettina Kruse-Schröder, M.A., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am IIT an der Universität Osnabrück. Thomas Michel, Prof. Dr., lehrt an der Georgetown University Washington.

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Personenverzeichnis

Frederik Musall, Prof. Dr., ist Jüdischer Philosoph und lehrt an der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg. Ali Özgür Özdil, Dr., ist Islamwissenschaftler und lehrt an der Universität Hamburg. Andreas Renz, Dr., ist Katholischer Theologe an der Universität München. Martin Riexinger, Ass. Prof. Dr., ist Islamwissenschaftler an der Universität Aarhus. Cemil S¸ahinöz, M.A., ist Soziologe und Autor in Gütersloh. Recep S¸entürk, Prof. Dr., ist Islamischer Theologe an der Fatih Sultan Mehmet Vakıf Universität Istanbul. Egon Spiegel, Prof. Dr., ist Katholischer Theologe an der Universität Vechta. Bülent Ucar, Prof. Dr., ist Islamwissenschaftler und Direktor des Instituts für Islamische Theologie (IIT) an der Universität Osnabrück. Ismail Yavuzcan, Dr., war wissenschaftlicher Mitarbeiter in Osnabrück und Tübingen und ist Lehrer gegenwärtig in Baden Württemberg. Erna Zonne-Gaetjens, Prof. Dr. theol., lehrt Soziale Arbeit in interkultureller Perspektive an der Fachhochschule für Interkulturelle Theologie Hermannsburg.