Ein englisches Bestiar des zwölften Jahrhunderts [Reprint 2022 ed.] 9783112638163

111 57 6MB

German Pages 19 [37] Year 2022

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Ein englisches Bestiar des zwölften Jahrhunderts [Reprint 2022 ed.]
 9783112638163

Citation preview

KUNSTWISSENSCHAFTLICHE S T U D I E N / B A N D IV

ALEXANDRA KONSTANTINOWA

EIN E N G L I S C H E S

BESTIAR

DES ZWÖLFTEN JAHRHUNDERTS

MIT EINEM V O R W O R T VON

ADOLPH

DEUTSCHER

GOLDSCHMIDT

KUNSTVERLAG

B E R L I N W8 / 1 9 2 9

KUNSTWISSENSCHAFTLICHE: STUDIEN BAND IV

1. ADAM DEN TIEREN NAMEN GEBEND

ALEXANDRA KONSTANTINOWA

EIN E N G L I S C H E S

BESTIAR

DES ZWÖLFTEN JAHRHUNDERTS IN DER STAATSBIBLIOTHEK ZU LENINGRAD MIT EINEM

ADOLPH

VORWORT

VON

GOLDSCHMIDT

BERLIN /

MCMXXIX

DEUTSCHER KUNSTVERLAG

SÄMTLICHE BILDER SIND IN ORIGINALGRÖSSE NACH AUFNAHMEN DER STAATSBIBLIOTHEK LENINGRAD WIEDERGEGEBEN

DAS VORLIEGENDE WERK WURDE IM FILMLICHTDRUCK BEI DER FIRMA ERNST HEDRICH NACHF., LEIPZIG, HERGESTELLT

VORWORT

E

S ist ein Verdienst der Verfasserin, daß sie die Illustrationen der Leningrader Bestiarius-Handschrift einem größeren Kreis bekannt macht, denn dieselben scheinen, mit Ausnahme einiger Erwähnungen in der russischen Literatur, ziemlich unbeachtet geblieben zu sein. Aus dem richtigen Gefühl heraus, daß die Qualität der Bilder eine hervorragende Stellung unter den gleichartigen Handschriften verlangt, hat sie es unternommen, eine Anzahl der Darstellungen zu reproduzieren, ohne in der Lage zu sein, die einschlägige Literatur und ähnliche Bestiarien im Original oder in Faksimilen zu konsultieren. Es scheint deshalb angebracht, dem Text einige Ergänzungen und Berichtigungen hinzuzufügen. Die Herstellung von illustrierten Bestiarien erfreute sich im 12. und 13. Jahrhundert einer großen Beliebtheit, und zwar in einer Fassung, die an Umfang weit über den alten Physiologus hinausging, indem zu dessen ursprünglich griechischen und dann ins Lateinische übersetzten Text neue Bestandteile aus anderen Schriften, wie den Origines des Isidoras Hispalensis, hinzugefügt wurden. Offenbar gab es nun ebenso wie im Text auch in den Illustrationen eine ganz bestimmte Filiation, die auf einige grundlegende Urheber des 12. Jahrhunderts zurückgeht. Die vorliegende Handschrift gehört zu einer Gruppe, die offenbar englischer Herkunft ist und ihren Hauptstücken nach dem Ende des 12. Jahrhunderts zuzuweisen ist. Sie ist trotz des späteren französischen Besitzers nicht französischen Ursprungs und trotz der auf der letzten Seite angebrachten arabischen Zahl 1232, die vermutlich eine Bibliotheksnummer bedeutet, nicht ein Werk des 13. Jahrhunderts. Die englischen Bestiarien sind kürzlich durch Montague R. James bei Gelegenheit der Faksimile-Reproduktion der Cambridger Handschrift (University Library Ii. 4.26) für den Roxburghe Club zusammengestellt, wobei sich dem Text nach hauptsächlich zwei englische Gruppen herausstellten. Auf einen Zusammenhang der Illustrationen geht James nicht ein, doch werden vermutlich auch ursprünglich zwei entsprechende Bilderzyklen den weiteren Illustrierungen zugrunde gelegen haben. Eine Vergleichung der Bilder der Leningrader Handschrift, die James unbekannt gebheben zu sein scheint, ergibt, daß sie sowohl im Stil als auch im Gegenständlichen am nächsten dem Bestiar in der Bibliothek Pierpont Morgans in New York steht. (Catalogue of Manuscripts and Early Printed Books of the Library of J . Pierpont Morgan, 1906, No. 107, 5

p. 165.) Diese Handschrift aber wurde schon im Jahre 1187 der Augustinerabtei von Radford, jetzt Worksop, geschenkt, muß also schon vorher angefertigt sein. Sie gehört derselben Textgruppe an wie das Bestiar des British Museums (Royal 12 C. XIX), das auch in seinen Bildern eine so enge Verwandtschaft mit dem Leningrader zeigt, daß eine Unabhängigkeit beider ausgeschlossen ist. Sie müssen unbedingt auf ein gemeinsames Vorbild zurückgehen. Allerdings ist das Londoner Manuskript in der Ausführung viel schwächer als das Leningrader, und das letztere überragt sogar das Morgan'sche an Lebhaftigkeit der Linienführung. Der Morganschen Gruppe steht nach James' Darlegung die zweite Textgruppe gegenüber, deren schönstes Exemplar das Cambridger Manuskript ist. Die Bilder dieser Handschrift wie der verwandten Londoner Harleian 4751 unterscheiden sich hauptsächlich dadurch von denen der ersten Gruppe, daß sie vielfach in Rundfelder hineinkomponiert und auch in der Erfindung anders artig sind. D och hat auch mit ihnen die Leningrader Handschrift manches gemein, so das Bild des großen Walfisches (Abb. 26) mit dem reichbesetzten Schiff auf seinem Rücken. Die genaueste Übereinstimmung herrscht zwischen ihm und dem Cambridger Manuskript, das noch feiner und realistischer gezeichnet ist als das Leningrader, aber eben nur mit Tusche gezeichnet, während das Leningrader koloriert ist und unter den farbigen die erste Stelle einnimmt. Auch unterscheidet es sich von dem Cambridger dadurch, daß zwar die menschlichen Figuren in den letzteren besser und naturwahrer ausgeführt sind, dafür aber die Tiere eben in ihrer mehr realistischen Gestaltung gegenüber den stärker stilisierten der Leningrader weniger reizvoll wirken. Gerade die sichere und schwungvolle Ornamentalisierung der Leningrader Bilder verleiht ihnen ihren besonderen Vorzug und stellt sie auch darin der Morganschen Handschrift am nächsten an die Seite. Der Umstand, daß sich in der Leningrader Handschrift Bilder aus beiden Redaktionen finden, läßt darauf schließen, daß ihr mehrere Handschriften bekannt waren; jedenfalls muß man gegenüber der Schilderung durch die Verfasserin bemerken, daß die Bilder keine eigenen Erfindungen des Malers sind, sondern nur in der Stilisierung und in kompositionellen Abweichungen ihren eigenen Charakter empfangen. Berlin

6

Adolph Goldschmidt

D

EIN ENGLISCHES BESTIAR DES ZWÖLFTEN JAHRHUNDERTS

E omnium animantium descriptio sive historia naturalis" lautet der später geschriebene Titel einer Handschrift, die sich mit der Signatur Qu. Y. I in der Staatsbibliothek zu Leningrad befindet. Sie ist dorthin mit der Sammlung Petri Dubrowsky gekommen1, und von ihren wahrscheinlichen Vorbesitzern kann man nur einen Franciscus de Moiliere nennen, der sich auf der letzten Seite eingetragen hat (Abb. 2). Seine Schrift gehört, dem Charakter nach, dem 17. bis 18. Jahrhundert an. Andere Eigentumsvermerke, die an der gleichen Stelle standen, wurden, mit Ausnahme der Zahl 1232 (?), bis zur Unleserlichkeit ausgetilgt. Bemerkungen in französischer Sprache, die sich an den Rändern und auf manchen Miniaturen finden, bezeugen, daß die Handschrift längere Zeit in Frankreich gewesen ist. Sie hat das kleine Format von 15 x21 cm, ist in lateinischer Sprache auf Pergament geschrieben und in Pergament gebunden. Auf umuu

tuzaii.ui

tuf-ttaibomjtir

2. EIGENTUMSVERMERK AUF DER LETZTEN SEITE DES BESTIARS 1 Imperatorskaja Publicnaja Biblioteka Sa sto let. 1814—1914. S. Petersburg 1914 S. 22—23.

3. CHRISTUS SEGNET VÖGEL UND FISCHE

ihren 98 Blättern enthält sie 114 künstlerisch hochwertige Miniaturen. Trotzdem die Handschrift schon mehrfach Gegenstand •wissenschaftlicher Abhandlungen war, fehlte dennoch bisher eine Würdigung ihrer kunstgeschichtlichen Bedeutung. Im Jahre 1904 wurden drei von ihren Miniaturen für den Aufsatz „Srednewekowaya Poesia" von Nikolaew in „Mir Iskusstwa" aufgenommen und 1914 eine Photographie für den Aufsatz „Miniaturi sapadnoewropejskich rukopissej X I I I - X V I . w." in „Stari Godi" angefertigt. Als Literaturdenkmal wurde sie von N. Garelin erforscht und im „Sbornik rossijskoj publitschnoj Biblioteki, T. II, Petrograd," beschrieben. Er bezeichnet sie als Codex petropolitanus lat. Qu. V. No. 1 und bringt sie mit den lateinisch geschriebenen englischen und französischen Bestiarien des 12.-13. Jahrhunderts in Zusammenhang. Innerhalb dieser Gruppe mißt er ihr eine große Bedeutung bei, da er kein wirklich analoges Stück findet, und lediglich der illustrierte Münchner Psalter Cod. Monac. Gall. 16 besitzt in der Anordnung des literarischen Inhaltes und der Ikonographie der Miniaturen einige Ähnlichkeit mit ihr. Ein Vergleich ist aber - unserer Meinung nach - für die Leningrader Handschrift ohne Bedeutung, da sie dem Texte und dem 8

4. ERSCHAFFUNG EVAS

Stile der Miniaturen nach dem Ende des 12. Jahrhunderts angehört, während der Münchner Psalter erst im 14. Jahrhundert entstanden ist. In der vorliegenden Untersuchung des Codex petr. Qu. V. No. 1 soll ausschließlich vom künstlerischen Werte der Miniaturen die Rede sein und der literarische Inhalt nur insoweit herangezogen werden, als er auf sie Bezug nimmt. Um unsere Handschrift richtig beurteilen zu können, muß man sich zuvor über den Wert der anderen bisher erforschten Handschriften dieser Gattung Klarheit verschaffen, besonders über die Zahl der zoologischen Beschreibungen und die Miniaturen, die zu ihrer Illustration dienen. Als Resultat dieses Studiums ergab sich: 1. Die Zahl der beschriebenen Tiere schwankt zwischen 121 und 53 2 . 2. In der Regel ist die Zahl der Miniaturen kleiner als die der Beschreibungen. 3. Nicht alle Physiologien und Bestiarien sind illustriert. 4. Nur in ganz wenigen Bestiarien des 12.-14. Jahrhunderts hat jede Beschreibung eine Miniatur3. 1 2 3

Heider. Der Physiologus, Arch. f. Kunde ost-röm. Gesch.-Quellen, Bd. V. S. 45. Strzygowsky, Der Bilderkreis des illustrierten griechischen Physiologus, 1903. Cahier, Mélangés d'archéologie, T. II. 1850, p. 91.

9

6. WOLF

Das Leningrader Bestiar hat 114 Beschreibungen, die sich nur auf die belebte Natur - Menschen, Tiere, Vögel, Fische, Reptilien - beziehen und, da zu jeder Beschreibung ein Bild gehört, 114 Miniaturen. Alle sind, mit Ausnahme von drei bis vier, vorzüglich erhalten. Diese Zahl an sich, diese Fülle des malerischen Materials stellt die Handschrift an hervorragende Stelle inner-

10

7. BÄR

8. KROKODIL UND HYDRUS

halb ihrer Gattung. Die meisten Bilder sind von hohem künstlerischen Werte, einige aber auch ärmer an Erfindung und stilistisch schwächer. Der Text folgt den Anfangsworten der Bibel nur ungenau und beginnt mit den Worten: Dixit deus, congregentur aque que sub celo 11

sunt inlocum unum et appareat arida." Die Miniaturen entsprechen diesem Texte, und wir sehen die Erschaffung der Pflanzen, Gestirne, Fische und Yögel, die Geburt Evas und wie Adam alle erschaffenen Kreaturen benennt (Abb. 1). In den ersten Bildern ist Christus der Schöpfer. Er steht entweder in der Mitte oder ganz dicht am Rande des Bildes, läßt mit ruhiger Handbewegung zapfenartige, schief wachsende Bäumchen erstehen und befestigt mit beiden ausgestreckten Armen Gestirne am Firmamente; umgeben von großen und kleinen Tieren erschafft er Eva und hält sie am Handgelenk fest (Abb. 4). - Die Miniaturen sind von weißgemusterten hell- und dunkelbraunen Rahmen umgeben; die Gründe bestehen aus grünen, roten, goldenen und blauen Streifen. Man spürt in diesen Miniaturen die Erinnerung an den romanischen Stil in der altertümlichen Gestalt Christi, in der Gebundenheit der Komposition mit ihrer Schichtengruppierung der Tiere, in der Bedeckung des Grundes mit farbigen Streifen usw. Es folgt dann das eigentliche Bestiar, von dessen Miniaturen 32 als Beispiele hier abgebildet sind. Der stilistischen Analyse der meisten Miniaturen fügen wir eine kurze bildinhaltliche Beschreibung hinzu. Lupus, der Wolf, wird ungefähr so charakterisiert: Sein Name stammt aus dem Griechischen, dort heißt er licos. Aus Habsucht wirft er sich auf die, denen er begegnet, und beißt sie. Die Kraft seiner Beine macht ihn dem Löwen ähnlich, er hat eine kräftige Brust und einen mächtigen Rachen. Er begibt sich auf Raub, gleich einem Hunde schleicht er sich vorsichtig zum Schafstall heran, und hört er einen Zweig unter seiner Pfote knistern, so beißt er diese. Seine Augen glänzen wie zwei Lichter; sein Blick hat folgende Eigenschaft: wenn er den Menschen als erster sieht, so verliert dieser die Fähigkeit, zu schreien. Wird er aber vom Menschen zuerst erkannt, so nimmt er eine sanfte Miene an und kann nicht fortlaufen. - Die Miniatur (Abb. 6) zeigt uns eine kleine Schafherde. Äußerlich ruhig hegen die Tiere in ihrem Stalle, aber mit gespannten Augen und geheimer Angst sehen sie, wie mit langsamen fürchterlichen Schritten der Wolf - der Teufel - naht; den Schwanz zwischen die Beine klemmend, berührt er mit seinem gesenkten Kopfe fast die Erde. Völlig überzeugend ist die Darstellung der naiven Sanftmut und großen Spannung bei den Schafen und der überwältigenden Kraft beim Wolfe. Der Maler erreicht diese Wirkung nur mit Hilfe einer großen, die Haupt12

konturen der Figur zusammenfassenden Linie. Mit wenigen Strichen zeichnet er Kopf und Pfoten, wodurch die Sicherheit des schleichenden Schrittes, die Elastizität der Bewegung und der allgemeine Ausdruck der Raubsucht und Bosheit erreicht wird. Die Einfachheit der Linien, die in ihrer Zusammenwirkung das höchst künstlerische Bild der Tiere schafft, wird von der Einzelform auf die bis zum äußersten vereinfachte Komposition übertragen, in der nichts Zufälliges, sondern nur die Grundmotive des Themas gegeben sind. Wolf und Schafe scheinen auch Bedeutungen zu besitzen, die nur wenig mit Zoologie zu tun haben und bei denen man vielleicht von Mystik sprechen könnte. - Die Farbwirkung dieser Miniatur ist sehr stark: Die Rahmenstreifen sind rot und grün, die Mitte golden, der Wolf bläulich, die Schafe weiß, mit leichten blauen Strichen auf dem Rücken. Um das Wesen der Ziege (Abb. 5) zu erklären, wird ein Wort des Propheten Arnos herangezogen: „Ich war weder ein Prophet, noch des Propheten Sohn, ich war ein Ziegenhirt". Nicht vom Propheten, sondern von sich selbst spricht Christus durch den Propheten: Ich war nicht ein, Prophet, sondern der Erstgeborene Gottes im Gotte. So spricht auch Isaias: Aus Gottes Schoß geschickt, nahm er menschliche Gestalt an und wurde ein Hirt der Ziegen und des ganzen menschlichen Geschlechtes." - Dieser Text gibt kein eigentliches materielles Thema, sondern nur ein Bild vom Hirten und den Ziegen, das mit der Symbolik des Erlösungsopfers umgeben wird. Zur Darstellung kommt es in einer Komposition, deren Schlichtheit für die Größe des Meisters zeugt, der das mystische Geheimnis des Themas durchschaut hat und dessen künstlerische Sprache Klarheit und Inhaltsreichtum besitzt. Links sitzt der Hirte, eine ehrwürdige Gestalt, ganz ruhig und bequem. Seine Rechte ist wie zur Bestätigung der Rede erhoben, und in der Linken hält er den Hirtenstab. Vor ihm stehen drei schlanke Ziegen mit kleinen Köpfen und schönen, langen Hörnern. Mit großen, alles verstehenden Augen schauen sie ihren Hirten an. Ihre Formen sind in ausdrucksvollen Konturen wiedergegeben und die Köpfe detailliert ausgearbeitet. Die Tiere stehen so, daß ihre Körper und Köpfe schräg hintereinander liegen und die Hörner über die Bildfläche hinausgreifen. Die Komposition harmoniert ausgezeichnet mit der Zierlichkeit der Gestalten und der mystischen Poesie des Inhalts, die hier etwas anderer Natur ist als im vorhergehenden Bilde. - Die Farben sind: Das Gewand des Propheten grün und braun, die Ziegen weiß 14

W^S

ttWOpiâ ìfìMXITfeffifclt M f t ì

néwíi^tmìiim:iv pftnwMtf pamïulïà

ïpàmfâàfttiî 4ffiMt?r.ii!

"mmi u m t * i m à û m k m ^ m

ad

i&pmgnimim-inst ûu) iäxo umili fki

S U E

12. u. 13. PARANDREN

15

14. ADLER

mit blauen und hellblauen Wollstreifen auf dem Rücken. Die Umrahmung, die mit dem Grunde zusammenfällt, ist grau, rot und golden. Der Bär (Abb. 7) wird uns als das Tier vorgestellt, das seine Jungen beleckt; diese werden ungestaltet geboren und nehmen erst nach 30 Tagen durch die Wärme der Beleckung tierische Formen an. - Die physische Kraft und die Bewegungen des Bären sind mit außerordentlicher Naturtreue geschildert. Die Sicherheit der Zeichnung und die Linienenergie erreichen hier eine Stärke des Ausdruckes, die man weniger in der Miniaturmalerei suchen möchte, als in der großen Kunst. Allegorisches fehlt im Texte, und dementsprechend hat auch das Bild nur einen zoologischen Inhalt. Der Hydrus (Abb. 8) lebt am Nilflusse, und der Physiologus erzählt von diesem Tier, daß es beim Herauskommen sich im Schlamme einwühle, damit sein Feind, das Krokodil, das mit offenem Rachen am Ufer schläft, es leichter verschlingen könne. Wenn das geschehen ist, zerreißt der Hydrus die Eingeweide des Krokodils und verläßt dessen Inneres wieder. Das Krokodil soll die Hölle bedeuten, die von Christus wieder verlassen wurde, nachdem er sie überwunden hatte. - Die Beschreibung der Hydra (Abb. 9 u. 10) schließt sich an. Dieses vielköpfige Unge-

16

15. KRANICHE

heuer ist ein Drachen, der jenem ähnelt, der in Arkadien lebte. Es wird erzählt, daß, wenn ihm ein Kopf abgehauen worden war, an der Stelle des abgeschlagenen immer wieder drei neue wuchsen. Der Schreiber des 12. Jahrhunderts meint aber, das sei eine Fabel. Die Geschicklichkeit und Vorstellungskraft des Malers ist groß genug, jedes der im Wesen verwandten Tiere originell darzustellen, daß es individuelle Züge besitzt und dabei in einer phantastischen Realität in seiner Weise furchtbar und schrecklich erscheint. Das erste Bild (9) ist vielleicht am besten gelungen, besonders die Bewegung des Krokodilrachens und die Art, wie die listige Hydra zusammenschrumpft und hineinspringt. Ausgezeichnet ist die lernäische Hydra (10) charakterisiert durch einen in der Mitte verdickten Körper mit kurzen Beinen, den sehr langen, geringelten Schwanz und die ausdrucksvollen Köpfe. Diese sind Hundsköpfen ähnlich und weisen die für alle Reptilienköpfe in unserem Bestiar üblichen Züge auf: eine ganz eigenartige Augenform mit sehr langer, stets in die Augenwinkel gerückter Pupille, die den Tieren den Ausdruck der Melancholie, manchmal den der Bosheit verleiht. Für die Reptilien sind auch die geringelten Schwänze bezeichnend. Der Körper auf dem Bilde 9 scheint von oben betrachtet zu sein, man sieht alle vier Beine, zugleich aber auch die Wirbelsäule. Diese Art der Wiedergabe ist vielen Reptilien des Bestiars eigen. 2

17

Die Farbgebung in den Miniaturen der Hydren ist: das Krokodil rot und hellgelb, der Hydrus und die erste Hydra hellbraun, am Bauch fast weiß, am Rücken etwas dunkler; die zweite Hydra ist grün und gelb. Die Farben gehen bei dem Krokodil und der zweiten Hydra ineinander über, bei der ersten sind sie gut nuanciert und von beinahe plastischer Erscheinung. Die Hyäne (Abb. 11) wird uns als ein entsetzliches, unreines Tier geschildert, das in Höhlen und Gräbern haust und Leichen frißt. Das hastige Zubeißen, die fürchterliche Größe und die schwere Bewegung der Hinterbeine geben dem Ungeheuer ein erschreckendes Aussehen. Die zwei Parandren (Abb. 12, 13) gehören zu jenen Tieren, bei denen eine lyrische Empfindung sich durchsetzen konnte. Der Parandrus lebt in Äthiopien, hat die Größe eines Ochsen und besitzt grüne, verzweigte Hörner, sein Kopf ist dem Hirsche ähnlich und mit dicker Wolle bedeckt. Es wird erzählt, daß er vor Angst sein Äußeres verändere. Der Miniaturist folgt hier dem Texte nicht, indem er statt der einen Form des Tieres zwei verschiedene darstellt. Das erste bewegt sich in galoppartigem Rhythmus und ist bis zu den Hörnern smaragdgrün, das andere ist weiß, mit grünen Hörnern und hat eine rasche, ausschreitende Bewegung. Die Miniaturkunst ist hier in das Monumentale gesteigert. Technisch sind die beiden Parandren verschieden behandelt: der erste mit feinen Farbennuancen, der zweite mehr zeichnerisch. Aquila, der Adler (Abb. 14), verdankt seinen Namen seiner Blickschärfe (acumen). Wenn er so hoch in der Luft schwebt, daß er vom Menschen kaum bemerkt werden kann, erkennt er doch die kleinsten Fische im Meere. Wenn sein Blick dunkel und sein Körper schwer wird, begibt er sich zur Quelle, fliegt wieder zur Sonne empor, trocknet seine Flügel und verbrennt die Finsternis seiner Augen; kommt dann hernieder, taucht dreimal in der Quelle unter und erhält Augenglanz und Flügelkraft wieder. Die Miniatur zeigt zwei Adler in fast symmetrischer Darstellung. Sie scheinen mit halb geöffneten Flügeln in der Luft zu stehen, die Köpfe zur Sonne gerichtet. Einer hält in seinen Klauen einen Fisch. Von einem dritten, in den Quell tauchenden Adler sieht man die Flügel, und dies belebt die lakonische Strenge ebenso wie das Fischmotiv, während die Größe des Stils durch den ornamentalen Charakter der Vögel und durch ihre mystische Kraft gesteigert wird. Wir spüren deutlich, daß es nicht gewöhn18

liehe Vögel sind, sondern königliche Adler, die Symbole Christi. Alles an ihnen ist streng, bis zu den festgeschlossenen Schnäbeln und der festen Richtung der aufwärts blickenden Augen; aber wenn sie auch nicht naturalistisch dargestellt sind, so sind sie doch durchdrungen von lebendiger Kraft und erscheinen uns daher durchaus glaubhaft. Das kleine Bild enthält ganz große Kunst. Die Farben sind: die Körper der Vögel grau, ihre Flügel grün, der Grund rot, grün und golden. Die Kraniche (Abb. 15) haben ihren Namen „Grues" von dem Laute, den sie während des Fluges ausstoßen. Sie fliegen zielsicher der Stelle ihrer Bestimmung entgegen, kommen ins Tal herab, verschlingen Sand, nehmen in ihre Klauen Steine als Baiast und steigen wieder in die Höhe. Der Zug wird von einem Vogel geführt, der mit seinem Geschrei die anderen sammelt. Wenn seine Stimme heiser wird, übernimmt ein anderer seine Aufgabe. Auf unserem Bilde sind fünf Kraniche im Profil dargestellt. Einer steht den vier anderen gegenüber und hält in seiner erhobenen Klaue einen Stein. Die anderen stehen so, daß ihre Rücken mit den langen Schwanzfedern und ihre kleinen Köpfe mit den langen Schnäbeln schräg hintereinander hervortreten. Die Komposition ist mit der ganzen Freiheit einer Kunst durchgeführt, die sich ihrer Mittel voll bewußt ist. Die Höhe der Meisterschaft zeigt sich besonders darin, daß in der Gruppierung ein einzelner Vogel vier anderen das Gleichgewicht hält. In den Details erscheint der Meister fein und schlicht; bei Rückenkurven und Beinstellungen bevorzugt er einen Parallelismus, weiß ihn aber durch die Behandlung der Köpfe und Gefieder zu beleben und verfügt immer über eine große Schönheit der Formensprache. Die Farben der Kraniche sind: hellbraun, blau und dunkelbraun, der Grund ist rot, grün und golden. Dem Reiher (Abb. 16) ist im Texte nur eine kurze zoologische Beschreibung gewidmet. Mit seinem ungeschickten Gange ist er fein realistisch dargestellt, ganz weiß, auf goldenem Grunde. Die Natürlichkeit der Komposition und die Meisterschaft des Stiles, die hier noch freier als bei den Kranichen hervortritt, lassen diese Miniatur zu den besten unseres Bestiars zählen. Der Ibis (Abb. 17) ist ein Vogel, der sich von Leichen nährt. Tag und Nacht schweift er an den See- und Flußufern umher und sucht tote Fische und andere Kadaver; er kann nicht schwimmen und hat Angst vor dem Wasser; er steigt nie in die Höhe 20

Arnum vqntix q t t o M m u i :

frr. ventre m a n

leutr

p l u r a u r b

m i r f a t o u i i i H m Sttam

h^rnmi dur.l qtte Wmtteiw

bear

fti

^ H ä u f i p