Ein Doppelgänger: Novelle (1886)
 9783110342482, 9783110342338

Table of contents :
Ein Doppelgänger
Textstellenerklärungen zu Theodor Storms Novelle „Ein Doppelgänger“
KOMMENTAR I
Rückkehr ohne Heimkehr – Rechtliche Gedanken zu Theodor Storms Novelle „Ein Doppelgänger“
KOMMENTAR II
Skandalöser Sozialkonflikt: Der Fall John Hansen alias John Glückstadt – Arbeiterelend und Bürgerglück in Storms sozial-dramatischer „Doppelgänger“-Novelle
Bildnachweise

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Theodor Storm Ein Doppelgänger

Juristische Zeitgeschichte Abteilung 6, Band 40

Juristische Zeitgeschichte Hrsg. von Prof. Dr. Dr. Thomas Vormbaum (FernUniversität in Hagen)

Abteilung 6: Recht in der Kunst – Kunst im Recht Mithrsg. Prof. Dr. Gunter Reiß (Universität Münster)

Band 40 Redaktion: Zekai Dag˘as¸an

De Gruyter

Theodor Storm

Ein Doppelgänger Novelle (1886)

Mit Kommentaren von Thomas Vormbaum und Walter Zimorski

De Gruyter

Walter Zimorski lehrte, nach dem Studium der Germanistik und Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum, neuere deutsche Sprache und Literatur an Volkshochschulen im Ruhrgebiet. Thomas Vormbaum war bis zu seiner Pensionierung Inhaber des Lehrstuhles für Strafrecht, Strafprozessrecht und Juristische Zeitgeschichte und ist geschäftsführender Direktor des Instituts für Juristische Zeitgeschichte an der FernUniversität in Hagen.

ISBN 978-3-11-034233-8 e-ISBN 978-3-11-034248-2

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Textvorlage: Theodor Storm, Ein Doppelgänger, in: Theodor Storm, Sämtliche Werke in vier Bänden. Herausgegeben von Peter Goldammer. 6. Auflage. Berlin und Weimar (Aufbau-Verlag) 1986. Band 4: Novellen. Kleine Prosa, S. 134–196. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlages. Erstdruck: Ein Doppelgänger. Novelle von Theodor Storm, in: Deutsche Dichtung. Herausgegeben von Karl Emil Franzos. Bd. 1, Heft 1–6 (1. Oktober bis 15. Dezember 1886), Stuttgart: Bonz 1886, S. 2–9, 34 f., 58–63, 82–87, 106–111, 130–139. Abbildung Schutzumschlag und Frontispiz: Theodor Storm (1817–1888) 1884. Ölgemalde von Marie von Wartenberg. Original: Storm-Haus, Husum. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Storm-Archivs. Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis Theodor Storm: Ein Doppelgänger ............................................................................................. 1

Walter Zimorski: Textstellenerklärungen zu Theodor Storms Novelle „Ein Doppelgänger“ ...........................................................................55

KOMMENTAR I Thomas Vormbaum: Rückkehr ohne Heimkehr – Rechtliche Gedanken zu Theodor Storms Novelle „Ein Doppelgänger“ ............................................69

KOMMENTAR II Walter Zimorski: Skandalöser Sozialkonflikt: Der Fall John Hansen alias John Glückstadt – Arbeiterelend und Bürgerglück in Storms sozial-dramatischer „Doppelgänger“-Novelle .................................................91

Bildnachweise ................................................................................................129

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Meiner lieben Tochter

Gertrud gewidmet.

Vor einigen Jahren im Hochsommer war es, und alle Tage echtes Sonnenwetter; ich hatte mich in Jena, wie einst Dr. Martinus, in der alten Gastwirtschaft zum Bären einquartiert, hatte mit dem Wirt schon mehr als einmal über Land und Leute geredet und mich mit Namen, Stand und Wohnort, welcher derzeit zugleich mein Geburtsort war, in das Fremdenbuch eingeschrieben. Am Tage nach meiner Ankunft war ich nach Besteigung des Fuchsturms und nach manchem andern Auf- und Absteigen spätnachmittags in das geräumige, aber leere Gastzimmer zurückgekehrt und hatte mich sommermüde vor einer Flasche Ingelheimer hinter dem kühlen Ofen in einen tiefen Lehnstuhl gesetzt; eine Uhr pickte, die Fliegen summten am Fensterglas, und mir wurde die Gnade, davon in den Schlaf gewiegt zu werden, und zwar recht tief. Das erste, was vom Außenleben wieder an mich herankam, war eine sonore milde Männerstimme, welche, wie zum Abschied, gute Lehren gebend, zu einem andern zu reden schien. Ich öffnete ein wenig die Augen: am Tische, unfern von meinem Lehnstuhl, saß ein ältlicher Herr, den ich nach seiner Kleidung als einen Oberförster zu erkennen meinte; ihm gegenüber ein noch junger Mann, gleichfalls im grünen Rock, zu dem er redete; ein rötlicher Abendschein lag schon auf den Wänden. „Und dessen gedenke auch noch“, hörte ich den Alten sagen, „du bist ein Stück von einem Träumer, Fritz; du hast sogar schon einmal ein Gedicht gemacht; laß dir so was bei dem Alten nimmer beikommen! Und nun geh und grüß deinen neuen Herrn von mir; zur Herbstjagd werd ich mich nach dir erkundigen!“ Als dann der Junge sich entfernt hatte, rüttelte ich mich völlig auf; der Alte stand am Fenster und drückte die Stirn gegen eine Scheibe, wie um dem Fortgehenden noch einmal nachzuschauen. Ich trank den Rest meines Ingelheimers, und als der Oberförster sich in das Zimmer zurückwandte, begrüßten wir uns wie nach abgetanen Werken, und bald, da niemand außer uns im Zimmer war, saßen wir plaudernd nebeneinander. Es war ein stattlicher Mann von etwa fünfzig Jahren, mit kurzgeschorenem, schon ergrautem Haupthaar; über dem Vollbart schauten ein Paar freundliche Augen, und ein leichter Humor, der bald in seinen Worten spielte, zeugte von der Behaglichkeit seines inneren Menschen. Er hatte eine kurze Jagdpfeife angebrannt und erzählte mir von dem jungen Burschen, welchen er einige Jahre in seinem Hause gehabt und nun zur weiteren Ausbildung an einen älteren Freund und Amtsbruder empfohlen habe. Als ich ihn, seiner Vorhaltung an den Jungen gedenkend, frug, was für Leides ihm die Poeten denn getan hätten, schüttelte er lachend den Kopf.

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„Gar keines, lieber Herr“, sagte er, „im Gegenteil! Ich bin ein Landpastorensohn, und mein Vater war selber so ein Stück von einem Poeten; wenigstens wird ein Kirchenlied von ihm, das er einmal als fliegendes Blatt hatte drucken lassen noch heutigen Tages nach ‘Befiehl du deine Wege’ in meinem Heimatdorf gesungen; und ich selber – als junger Gelbschnabel wußte ich sogar den halben Uhland auswendig, zumal in jenem Sommer“ – er strich sich plötzlich mit der Hand über sein leicht errötend Antlitz und sagte dann, wie im stillen seine vorgehabte Rede ändernd – , „wo am Waldesrand das Geißblatt wie zuvor in keinem andern Jahre duftete! Aber ein Rehbock, ein andermal – und das war schwer verzeihlich – die seltene Jagdbeute, eine Trappe, sind mir darüber aus dem Schuß gekommen! – Nun, mit dem Jungen ist es nicht so schlimm; nur der Alte drüben wird schon fuchswild, wenn wir gelegentlich einmal anstimmen: ‘Es lebe, was auf Erden stolziert in grüner Tracht’; Sie kennen wohl das schöne Lied?“ Ich kannte zwar das Lied – hatte nicht auch Freiligrath seinen patriotischen Zorn an dem harmlosen Dinge ausgelassen? – Aber mir lag die plötzliche Erregung des alten Herrn im Sinne. „Hat das Geißblatt auch in späteren Jahren wieder so geduftet?“ frug ich leise. Ich fühlte meine Hand ergriffen und einen Druck, daß ich einen Schrei ersticken mußte. „Das war ja nicht von dieser Welt“, raunte der Mann mir zu, „der Duft ist unvergänglich – – solang sie lebt!“ setzte er zögernd hinzu und schenkte sich sein Glas voll hellen Weines und trank es in einem Zuge leer. Wir hatten noch eine Weile weitergeplaudert, und manche anziehende Mitteilung aus seinem Forst- und Jagdleben hatte ich von ihm gehört, manches Wort, das auf einen ruhigen Lebensernst in diesem Manne schließen ließ. Es war fast völlig dunkel geworden; die Stube füllte sich mit andern Gästen, und die Lichter wurden angezündet; da stand der Oberförster auf. „Ich säße noch gern ein Weilchen“, sagte er, „aber meine Frau würde nach mir aussehen; wir beide bilden jetzt allein die Familie, denn unser Sohn ist auf dem Forstinstitut zu Ruhla.“ Er steckte seine Pfeife in die Tasche, rief einem braunen Hühnerhund, der, mir unbemerkt, in einem Winkel gelegen hatte, und reichte mir die Hand. „Wann denken Sie wieder fort von hier?“ frug er. „Ich dachte, morgen!“ Er sah ein paar Augenblicke vor sich hin. „Meinen Sie nicht“, frug er dann, ohne mich anzublicken, „wir könnten unsere neue Bekanntschaft noch ein wenig älter werden lassen?“ Seine Worte trafen meine eigene Empfindung; denn auf meiner nun zweiwöchentlichen Reise hatte ich heute zum erstenmal ein herzlich Wort mit einem

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Begegnenden gewechselt; aber ich antwortete nicht gleich; ich sann nach, wohin er zielen möge. Und schon fuhr er fort: „Lassen Sie mich es offen gestehen: zu dem Eindruck Ihrer Persönlichkeit kommt noch ein anderes dazu: es ist Ihre Stimme, oder richtiger die Art Ihres Sprechens, was diesen Wunsch in mir erregt; mir ist, als gehe es mich ganz nahe an, und doch...“ Statt des verständigenden Wortes aber ergriff er plötzlich meine beiden Hände. „Tun Sie es mir zulieb“, sagte er dabei, „meine Försterei liegt nur so reichlich eine Stunde von hier, zwischen Eichen und Tannen – darf ich Sie bei meiner lieben Alten als unsern Gast auf ein paar Tage anmelden?“ Der alte Herr sah mich so treuherzig an, daß ich gern und schon auf morgen zusagte. Er schüttelte mir lachend die Hände: „Abgemacht! Prächtig! Prächtig!“, pfiff seinem Hunde, und nachdem er noch einmal seine Kappe mit der Falkenfeder gegen mich geschwenkt hatte, bestieg er seinen Rappen und ritt in freudigem Galopp davon. Als er fort war, trat der Wirt zu mir: „Ein braver Herr, der Herr Oberförster; dacht schon, Sie würden Bekanntschaft machen!“ „Und warum dachten Sie das?“ frug ich entgegen. Der Wirt lachte. „Ei, da wissen’s der Herr wohl selber noch gar nicht?“ „So sagen Sie es mir! Was soll ich wissen?“ „Ei, Sie und die Frau Oberförster sind doch gar Stadtkinder miteinander!“ „Ich und die Frau Oberförster? Davon weiß ich nichts; Sie sagen es mir zuerst; ich hab dem Herrn auch meine Heimat nicht genannt.“ „Nun“, sagte der Wirt, „da ging’s freilich nicht; denn ‘s Fremdenbuch hat er nicht gelesen; das ist grade keine Zeitung!“ Ich aber dachte: ‘Das war es also! Liegt der Heimatklang so tief und darum auch so unverwüstlich?’ Aber ich kannte daheim alle jungen Mädchen unseres Schlages innerhalb der letzten dreißig Jahre; ich wußte keine, die so weit gen Süden geheiratet hätte. „Sie irren sich vielleicht“, sagte ich zu dem Wirt, „wie ist denn der Jungfernname der Frau Oberförster?“ „Kann nicht damit dienen, Herr“, entgegnete er, „aber mir ist’s noch just wie heute, als die seligen Eltern des Herrn Oberförsters, die alten Pfarrersleute, mit dem derzeit kaum achtjährigen Dirnlein hier vorgefahren kamen.“

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– – Ich wollte nicht weiterfragen und ließ es für itzt dabei bewenden; nur den Weg zur Oberförsterei ließ ich mir noch einmal, wie zuvor schon von dem Besitzer derselben, eingehend berichten. Und schon in der Frühe des andern Morgens, als noch die Tautropfen auf den Blättern lagen und die ersten Vogelstimmen am Wege aus den Büschen riefen, befand ich mich auf der Wanderung. Nachdem ich etwa eine Stunde, zuletzt an einem Eichwald entlang, gegangen war, bog ich gemäß der empfangenen Weisung in einen breiten Fahrweg ein, der zur Linken unter die schattigen Wipfel durchführte. Bald mußte ich den Weg sich öffnen und das Heimwesen meines neuen Freundes vor mir liegen sehen! Dann, kaum eine Viertelstunde weiter, kam aus der großen Waldesstille ein Geräusch wie von wirtschaftlichem Leben mir entgegen; die Schatten um mich hörten auf, und ein blinkender Teich und jenseit desselben ein altes, stattliches Gebäu mit mächtigem Hirschgeweih über dem offenen, auf einer Treppenplatte befindlichen Tore lagen in der lichten Morgensonne vor mir; ein wütendes Gebell von wenigstens einem halben Dutzend großer und kleiner Jagdhunde erhob sich und verstummte plötzlich auf einen gellenden Pfiff. „Grüß Gott und tausendmal willkommen!“ rief statt dessen die mir schon bekannte Männerstimme; und da kam er selbst aus dem Hause, die Stiege herab und um den kleinen Teich herum; aber nicht allein: eine zarte Frau, fast mädchenhaft, ging an seinem Arm; doch sah ich im Näherkommen wohl, daß sie den Vierzig nahe sein müsse. Sie begrüßte mich, indem sie fast nur die Worte ihres Mannes wiederholte; aber ein Zug von Güte um den halbgeöffneten Mund, der noch ein Weilchen in dem stillen Angesicht verblieb, ließ keinen Zweifel an ihrer Echtheit aufkommen. Während wir dann miteinander dem Hause zugingen, fiel es mir auf, wie sie mitunter ihren Arm auf seinem ruhen ließ, als wollte sie ihm sagen: ‘Du trägst mein Leben, und du trägst es gern; dein Glück und meines sind dasselbe!’ Als wir dann drinnen in dem bürgerlich schlichten Zimmer beim Morgenkaffee saßen, den man für mich aufgeschoben hatte, legte der Oberförster sich behaglich in seinen Lehnsessel zurück. „Christinchen“, sagte er, mich und seine Frau mit einem schelmischen Blicke streifend, „ich habe dir einen lieben Gast gebracht, von dem ich gleichwohl weder Namen noch Stand weiß; er mag uns beides sagen, wenn er uns verläßt, damit wir ihn doch wiederfinden können: es ist so tröstlich, auch einmal mit einem Menschen und nicht eben mit einem Herrn Geheimen Oberregierungsrat oder einem Leutnant zu verkehren.“

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„Nun“, sagte ich lachend, „Qualitäten habe ich nicht zu verhehlen“; als ich dann aber mit dem Hinzufügen, daß ich ein schlichter Advokat sei, meinen Namen nannte, wandte sich die Frau wie überrascht mir zu, und ich fühlte, wie ihre Augen flüchtig auf meinem Antlitz weilten. „Was hast du, Frau“, rief der Oberförster; „mir ist der Advokat schon recht!“ „Mir auch“, sagte sie und reichte mir eine Tasse Kaffee, dessen Duft mich mit allem einverstanden sein ließ. Sie war noch einmal aufgestanden, kehrte aber, nachdem sie eine Handvoll Brosamen aus dem offenen Fenster geworfen hatte, auf ihren Platz zurück. Draußen stürzte sich, einem Platzregen gleich, eine Flucht von Tauben von dem Dache auf den Boden herab; aus den Linden vor dem Hause kamen die Sperlinge dazu, und ein lustiger Tumult erhob sich. „Die haben’s gut!“ sagte lachend der Oberförster, mit dem Kopfe nach dem Fenster winkend; „seit unser Paul in Ruhla ist! Sie kann es nicht lassen, den allzeit Hungerigen Brosamen auszustreuen; sei es nun der Bub, oder seien es nur unseres Herrgotts Krippenfresser!“ Aber die Frau setzte ruhig ihre Tasse von dem Munde: „Der Bub allein? Ich dächte, der Vater wär auch wohl dabei!“ „Komm, Alte“, rief der Oberförster, „ich merke doch, du bist mir zu gescheit; wir wollen Frieden machen!“ Wir plauderten weiter; und wenn das liebe Frauenantlitz sich zu mir wandte, konnte ich es mir nicht versagen, nach bekannten Zügen darin zu suchen; allein obgleich ein paarmal, wie im Fluge, als wolle es mir helfen, das frühere Kinderangesicht mich daraus anzublicken schien, ich mußte mir dennoch sagen: ‘Die kennst du nicht; du hast sie nie gesehen!’ Ich lauschte dann auch ihrer Sprache, aber weder die uns heimische Verwechslung verwandter Vokale noch die von solchen Konsonanten kam zum Vorschein; nur ein paarmal meinte ich das scharfe S vor einem andern Konsonanten zu vernehmen, dessen ich selbst freilich mich längst entwöhnt glaubte. Am Vormittag ging ich mit dem Oberförster in den umliegenden Wald; er wies mir seine Hauptschläge, die mit uralten und mit kaum fingerhohen Eichen, und entwickelte mir eindringlich sein System der Waldkultur; wir sahen einen Hirsch mit sechzehn Enden und ein paar Rehe; aus einem schlammigen Sumpfe schielte sogar der schwarzbraune Borstenkopf eines Keilers aus seinen enggeschlitzten Augen nach uns hinüber. Wir gingen ohne Hunde. „Nur ruhig weiter“ mahnte mein Geleitsmann; „und wir kommen ungefährdet wieder nach Hause.“

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Nach dem Mittagessen führte mein Wirt mich eine Treppe hoch nach hinten zu in das mir angewiesene Zimmer. „Sie wollten noch Briefe schreiben“, sagte er; „hier finden Sie alles, was dazu nötig ist! Unser Junge hat hier vordem gewohnt; aber es ist kühl und still!“ Er zog mich an eines der offenstehenden Fenster. „Hier unten sehen Sie ein Stück von unserm Garten, dahinter zieht sich der Teich herum; dann dort die grüne Wiese und dann der hohe dunkle Wald – der schützt Sie vor allem Weltgeräusch! – Nun ruhen Sie vorerst sanft nach Ihren Wanderstrapazen!“ sagte er und drückte mir die Hand. Er ging, und ich tat nach seinen Worten; und die Stimmen der Grasmücken aus dem Garten und des Pirols und der Falken aus dem nahen Walde und über seinen Wipfeln aus der blauen Luft kamen wie aus immer größerer Ferne durch die offenen Fenster, dann hörte alles auf. Ich erwachte endlich; ich hatte lang geschlafen; der Weiser meiner Taschenuhr zeigte schon nach fünf; gleichwohl mußte der Brief geschrieben werden, denn ein Knecht sollte ihn um sechs Uhr mit zur Stadt nehmen. So kam ich erst spät wieder in das Haus hinab. Die Frau fand ich vor demselben im Lindenschatten auf der Bank mit einer Flickarbeit beschäftigt. „Das ist für unsern Paul“, sagte sie wie entschuldigend und schob die Sachen an die Seite; „er schleißt, er ist noch jung und wild; aber noch mehr gut als wild! – Und Sie haben fest geschlafen: die Sonne will schon zur Neige gehn!“ Ich frug nach ihrem Mann. „Er hat eine Weile geschäftshalber fortmüssen; aber er läßt Sie grüßen; wir sollten nähere Bekanntschaft machen – so hat er mir gesagt – und dort die Schneise durch die Tannen hinaufspazieren; nach der andern Seite, als wo Sie heute vormittag mit ihm hinaus waren; er würd uns dort bald finden!“ Wir plauderten aber noch eine Weile, nachdem sie auf meine Bitte ihre mütterliche Arbeit wiederaufgenommen hatte; dann, da er nicht kam, erhob sie sich. „Es wird wohl Zeit!“ sagte sie, und ein flüchtig Rot ging über ihr Antlitz. So wanderten wir denn nebeneinander auf dem Wege zwischen den hohen Tannen, dessen eine Seite noch von der Sonne angeschienen war. Unser Gespräch schien ganz erloschen; nur hin und wieder prüfte ich mit einem Blicke ihr Profil; aber es machte mich nicht klüger. „Gestatten Sie, verehrte Frau“, sprach ich endlich, „daß ich die Waldstille unterbreche; es drängt mich, Ihnen eins zu sagen und Ihnen eine Frage vorzulegen; Sie wissen wohl, daß man in der Fremde doch immer heimlich nach der Heimat sucht!“

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Sie nickte. „Sprechen Sie nur!“ sagte sie. „Ich glaubte nicht zu irren“, begann ich, „Sie schienen überrascht, als ich heute morgen meinen Namen nannte. Hatten Sie ihn früher schon gehört? Mein Vater war, wenigstens im Lande, ein bekannter Mann.“ Sie nickte wieder ein paarmal: „Ja, ich erinnere mich Ihres Namens aus meiner Kinderzeit.“ Als ich dann aber meine Vaterstadt ihr nannte, wurden ihre Augen plötzlich starr und blieben unbeweglich auf den meinen ruhen; nur ein paar vorquellende Tränen verdunkelten jetzt beide. Ich erschrak fast. „Es war nicht mein Gedanke, Ihnen weh zu tun“, sagte ich; „aber der Wirt zum Bären, der meine Heimat aus dem Fremdenbuch erfahren hatte, behauptete, wir beide seien Stadtkinder miteinander!“ Sie tat einen tiefen Atemzug. „Wenn Sie daher stammen“, sagte sie, „so sind wir es.“ „Und doch“, fuhr ich etwas zögernd fort, „ich glaube alle damaligen Familien unserer Stadt zu kennen und wüßte nicht, in welche ich Sie hineinbringen sollte.“ „Die meine werden Sie nicht gekannt haben“, erwiderte die Frau. „Das wäre seltsam! Wann haben Sie denn die Stadt verlassen?“ „Das mag fast dreißig Jahre her sein.“ „Oh, damals war ich noch in unsrer Heimat, bevor wir, so viele, in die Fremde mußten.“ Sie schüttelte den Kopf. „Die Ursache liegt woanders; meine Wiege“ – sie zögerte ein wenig und sagte dann: „Ich hatte wohl nicht einmal eine; aber die Kate, in der ich geboren wurde, war nur die Mietwohnung eines armen Arbeiters, und ich war seine Tochter.“ Sie blickte mit ihren klaren Augen zu mir auf. „Mein Vater hieß John Hansen“, sagte sie. Ich suchte mich zurechtzufinden, aber es gelang mir nicht; der Name Hansen war bei uns wie Sand am Meer. „Ich kannte manchen Arbeiter“, erwiderte ich; „unter dem Dache des einen war ich als Knabe sogar ein wöchentlicher Gast, und für manches, was ich noch zu meinem Besten rechne, fühle ich mich ihm und seiner braven Frau verpflichtet. Aber Sie mögen recht haben, der Name Ihres Vaters ist mir unbekannt.“

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Sie schien aufmerksam zuzuhören, und mir war es, als würden ihre kindlichen Augen wieder feucht. „Sie hätten ihn kennen müssen“, rief sie, „Sie würden die, welche die kleinen Leute genannt werden, noch tiefer in Ihr Herz geschlossen haben! Als meine Mutter, da ich kaum drei Jahre alt war, starb, da hatte ich nur ihn; aber schon in meinem achten Jahre ist er plötzlich mir entrissen worden.“ Wir gingen eine Zeitlang, ohne ein Wort zu wechseln, und ließen die Spitzen der Tannenzweige, die in den Weg hingen, durch unsere Finger gleiten; dann hob sie den Kopf, als ob sie sprechen wolle, und sagte zögernd: „Ich möchte nun auch Ihnen, meinem Landsmann, etwas Weiteres vertrauen; es ist seltsam, aber es kommt mir immer wieder: mir ist oftmals, als hätt ich vorher, bei Lebzeiten meiner Mutter, einen andern Vater gehabt – den ich fürchtete, vor dem ich mich verkroch, der mich anschrie und mich und meine Mutter schlug – , und das ist doch unmöglich! Ich habe selbst das Kirchenbuch aufschlagen lassen; meine Mutter hat nur diesen einen Mann gehabt. Wir haben zusammen Not gelitten, gefroren und gehungert; aber an Liebe war niemals Mangel. Eines Winterabends entsinne ich mich noch deutlich; es war an einem Sonntag, und ich mochte etwa sechs Jahre alt sein. Wir hatten leidlich zu Mittag gegessen; doch zum Abend wollte es nicht mehr reichen; mich hungerte noch recht, und der Ofen war fast kalt geworden. Da sah mein Vater mich mit seinen schönen dunkeln Augen an, und ich streckte meine Ärmchen ihm entgegen; und bald lag ich, in ein altes Tuch gewickelt, an der warmen Brust des mächtigen Mannes. Wir gingen durch die dunkeln Straßen, immer in eine neue; aber über uns waren alle Sterne angezündet, und meine Augen gingen von dem einen zu dem andern. ‘Wer wohnt da oben?’ frug ich endlich, und mein Vater antwortete: ‘Der liebe Gott, der wird dich nicht vergessen!’ Ich sah wieder in die Sterne, und alle blinkten so still und freundlich auf mich nieder. ‘Vater’, sagte ich, ‘bitte ihn doch noch um ein kleines Stückchen Brot für heute abend!’ Ich fühlte einen warmen Tropfen auf mein Angesicht fallen; ich meinte, er käme von dem lieben Gott. – Ich weiß, mich hungerte nachher noch in meinem Bettchen; aber ich schlief doch ruhig ein.“ Sie schwieg einen Augenblick, während wir langsam auf dem Waldweg weiterschritten. „Aus der Zeit aber, wo ich mit meiner Mutter lebte“, sagte sie dann noch, „vermag ich keine feste Erinnerung an meinen Vater zu gewinnen; ich muß mich mit dem wüsten Schreckbild begnügen, das mein Verstand vergebens zu fassen sucht.“

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Sie kniete plötzlich nieder, um eine Handvoll jener kleinen rötlichen Immortellen zu pflücken, die sich gern auf magerem Sandboden ansiedeln; da wir dann weitergingen, begannen ihre Finger einen Kranz daraus zu flechten. Ich war noch mit ihren letzten Worten beschäftigt: mir ging im Kopf ein wüster junger Kerl herum; er war bekannt genug gewesen, aber sein Name war ein anderer. „Auch Kinder“, sagte ich endlich, während meine Augen ihren geschickten Händen folgten, „mag wohl einmal der Gedanke an den unsichtbar umhergeistenden Tod wie ein Schauder überfallen, daß sie voll Angst die Arme um ihr Liebstes klammern; dazu – Sie kannten gewiß schon von den Vätern, mit denen die Kommunen die Kinder der Armen zu beschenken pflegen – was Wunder, daß Ihre Phantasie das Schreckbild in jene von Erinnerung leere Zeit hinabschob!“ Aber die edle Frau schüttelte lächelnd ihren Kopf. „Schön ausgerechnet“, sagte sie; „aber ich habe niemals an solchen Gespensterphantasien gelitten; und die Menschen, die mich dann nach meines lieben Vaters Tode zu sich nahmen – bessere konnte kein Kind sich wünschen: es waren die Eltern meines Mannes, die auf einer Badereise ein paar Tage in unserer Vaterstadt verweilen mußten.“ In diesem Augenblicke glaubte ich in dem Staubwege Schritte hinter uns zu hören, und als ich umblickte, sah ich den Oberförster schon in der Nähe. „Sehen Sie wohl“, rief er mir zu, „da habe ich Sie schon! Und du, Christine“ – und er ergriff die Hand seiner Frau und neigte den Kopf, um ihr in die Augen zu blicken – , „du schaust ja so nachdenklich; was ist denn?“ Sie lehnte sich lächelnd an seine Schulter: „Ja, Franz Adolf, wir sprachen von unserer Vaterstadt – denn es hat sich herausgestellt, daß wir dieselbe haben – , aber wir haben uns dort nicht finden können.“ „So ist es um so schöner“, erwiderte er und reichte mir die Hand, „daß wir ihn heute bei uns haben; das Damals wäre ja doch schon längst vorüber!“ Sie nickte nachdenklich und schob ihren Arm in seinen. So gingen wir ein paar hundert Schritte weiter bis an einen Waldteich, an dessen Ufern die gelben Iris in für mich nie gesehener Fülle blühten. „Da ist deine Lieblingsblume!“ rief der Förster; „aber du würdest dir die Schuhe überwaten; sollen wir Männer dir einen braven Strauß holen?“ „Ich verzichte diesmal auf Ritterdienste“, erwiderte sie, sich anmutig gegen uns verneigend; „ich bin heute bei den Kleinen und weiß hier eine Stelle, wo ich mein Kränzlein vervollständigen kann!“

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„So erwarten wir dich hier“, rief ihr der Oberförster nach, sie mit ernsten, liebevollen Blicken verfolgend, bis sie in der nahe liegenden Lichtung verschwand. Dann wandte er sich plötzlich zu mir. „Sie werden mir nicht zürnen“, sagte er, „wenn ich Sie bitte, mit meiner Frau nicht weiter über ihren Vater zu sprechen. Ich ging im weichen Wegestaub schon länger hinter Ihnen, und der leichte Sommerwind trug mir genügende Brocken Ihres Gespräches zu, um das übrige zu erraten. Hätte ich von Ihrer beider so genauen Landsmannschaft gewußt – verzeihen Sie mir dies Geständnis – , ich hätte mir die Freude Ihres Besuches versagt; die Freude, sag ich; doch es ist so besser, wir kennen uns nun schon.“ „Aber“, entgegnete ich etwas bestürzt, „ich kann Sie versichern, es ist von einem Arbeiter John Hansen keine Spur in meiner Erinnerung.“ „Sie könnte Ihnen dennoch plötzlich kommen!“ „Ich denke nicht; jedenfalls, obgleich ich nicht die Ursache kenne, seien Sie meines Schweigens sicher!“ „Die Ursache“, erwiderte er, „will ich Ihnen mit einem Worte geben: der Vater meiner Frau hieß freilich John Hansen; von den Leuten aber wurde er John Glückstadt genannt, nach dem Orte, wo er als junger Mensch eine Zuchthausstrafe verbüßt hatte. Meine Frau weiß weder von diesem Übernamen noch von der Strafe, auf welcher er beruht; und – ich denke, Sie stimmen mir bei – ich möchte nicht, daß sie das je erführe; ihr Vater, den sie kindlich verehrt, würde mit jenem Schreckbild zusammenfallen, das ihre Phantasie ihr immer wieder vorbringt und das leider keine bloße Phantasie war.“ Fast mechanisch reichte ich ihm die Hand, und bald waren wir wieder auf dem Heimwege; die Frau ging, längst wieder an ihrem Kranze flechtend, neben mir, als ich aus andrängenden und sich ineinanderfügenden Erinnerungen wieder aufschaute. „Verzeihen Sie“, sagte ich, „es kommt mir mitunter, von einem plötzlichen Gedanken bis zur Vergessenheit der Gegenwart hingenommen zu werden. Im Elternhause sagte dann mein Bruder, des alten Volksglaubens gedenkend: ‘Stört ihn nicht, seine Maus ist ihm aus dem Mund gesprungen!’ Aber ich verspreche, sie in Zukunft besser zu überwachen.“ Aus den Augen des Oberförsters traf mich ein verständnisvoller Blick. „Auch wir haben hier den Glauben“, sagte er; „aber Sie sind bei Freunden, wenn auch nur bei neuen!“ So kamen wir wieder in Gespräch, und während die Tannenriesen schon tiefe Schatten über den Weg warfen und die Luft mit schwülem Abendduft erfüllten, gelangten wir allmählich an die Oberförsterei zurück; die Hunde, ohne zu

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bellen, sprangen uns entgegen, und aus der dampfenden Wiese, die hinter dem Teiche lag, scholl hin und wieder der schnarrende Laut des Wachtelkönigs; ein heimatlicher Frieden war überall. Die Frau war uns voran ins Haus gegangen, mein Wirt und ich setzten uns auf die Seitenbänke der Haustreppe; aber seine Leute kamen einer nach dem andern, um zu berichten oder sich Anweisung für den folgenden Tag zu holen; dazwischen drängten sich die Hunde, Teckel und Hühnerhunde, voran das Prachtexemplar eines lohbraunen Schweißhundes; zu Erörterungen zwischen uns blieb keine Zeit. Dann erschien meine Landsmännin in der offenen Haustür und lud zum Abendessen; und als wir im behaglichen Zimmer bei einer guten Flasche alten Hardtweins saßen, er zählte der Oberförster die Geschichte seines Lieblings, des Lohbraunen, den er als junges Tier von einem ruinierten Spieler gekauft hatte, und von den Heldentaten, welche er schon jetzt gegen die hier insonders kühnen Wilderer verübt habe. So gerieten wir in die Jagdgeschichten, von denen eine immer die andere nach sich zog; nur einmal, in einer Pause des Gespräches, sagte Frau Christine wie aus langem Sinnen: „Ob wohl noch die Kate da ist, am Ende der Straße, und das Astloch in der Haustüre, durch das ich abends hinaussah, ob nicht mein Vater von der Arbeit komme? – Ich möcht doch einmal wieder hin!“ Sie sah mich an, und ich erwiderte nur: „Sie würden viel verändert finden!“ Der Oberförster aber faßte ihre beiden Hände und schüttelte sie ein wenig. „Wach auf, Christel!“ rief er. „Was wolltest du dort? Selbst unser Gastfreund hat sich ausgebaut! Bleib bei mir, wo du zu Haus bist – und um acht Tage kommt dein Junge in die Sommerferien!“ Sie sah mit glücklichen Augen zu ihm auf. „Es war ja nicht so ernst gemeint, Franz Adolf!“ sagte sie leise. Als es auf der Hausuhr vom Flur aus zehn schlug, brachen wir auf; der Oberförster zündete eine Kerze an und begleitete mich, wie am Nachmittage, die Treppe hinauf nach meinem Gastzimmer. „Nun“, sagte er, nachdem er das Licht auf den Tisch gesetzt hatte, „nicht wahr, wir sind jetzt einig? Sie verstehen mich?“ Ich nickte. „Gewiß; ich weiß nun freilich, wer John Hansen ist.“ „Ja, ja“, rief er, „aus dem Staube des Weges haben meine lieben Eltern dies Kind für mich aufgesammelt; ich dank es ihnen jeden Morgen, wenn ich beim Aufstehen dies friedliche Antlitz noch neben mir im Schlummer sehe oder wenn sie mir vom Kissen ihren Morgengruß zunickt. Doch – gute Nacht! Auch die Vergangenheit soll schlafen!“

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Wir reichten uns die Hände, und ich hörte ihn den Korridor entlang- und die Treppe hinabgehen. Aber bei mir wollte die Vergangenheit nicht schlafen; ich trat an das offene Fenster und sah auf den Teich und auf die Wasserlilien, die wie Mondflimmer auf seinem dunkeln Spiegel lagen; die Linden am Ufer hatten zu blühen begonnen, und ihr Duft wehte im Nachthauch zu mir herüber; eine mir unbekannte Vogelstimme scholl in Pausen vom Wald herüber. Aber die reiche Sommernacht nahm mich nicht gefangen; vor mein inneres Auge drängten abwechselnd sich zwei öde Orte: ein verlassener Brunnen mit vermorschtem Plankwerk, der in der Nähe meiner Vaterstadt auf einem weiten Felde lag, wo vorzeiten ein Haus, eine Schinderkate, sollte gestanden haben; als Knabe, auf einer einsamen Schmetterlingsjagd, hatte ich einst erschrocken vor ihm haltgemacht; – was damit wechselte, war das äußerste der kleinen Stadthäuser am Ende der Norderstraße, mit einem Strohdach, auf dem allzeit ein großer Hauslauch wuchs, so niedrig, daß man’s mit der Hand erreichen konnte; das Ganze zum Einstürzen verfallen und so winzig, daß kaum mehr als eine Kammer und der engste Küchenherd darin Platz haben konnten. Als Junge hatte ich manchmal, von Feldstreifereien heimkehrend, davor stillgestanden und mir vorphantasiert, wie hübsch es sich in diesem Liliputer – Hause ohne Eltern und ohne Lehrer würde wohnen lassen. Später, als ich schon Sekundaner war, kam noch ein anderes hinzu; es gab oft einen Lärm in diesen engen Räumen, der die Vorübergehenden davor haltmachen ließ, und zu diesen gehörte auch ich ein paarmal. Eine kräftige Männerstimme fluchte und schalt in sich überstürzenden Worten; dröhnende Schläge, das Zerschellen von Gefäßen wurde hörbar; dazwischen, kaum vernehmbar, das Wimmern einer Frauenstimme, doch nie ein Hülferuf. Eines Abends trat danach ein junger, wilder Kerl aus dem Innern in die offene Haustür, mit erhitztem Antlitz, über das ein paar dunkle Haarlocken ihm in die Stirn hingen. Er warf den Kopf mit der starken Adlernase zurück und musterte schweigend die Umstehenden; mich blitzte er mit ein Paar Augen an, mir war, als hörte ich ihn schreien: „Mach, daß du fort kommst, du mit dem feinen Rock! Was geht’s dich an, wenn ich mein Weib zerhaue!“ Das war John Glückstadt, der Vater meiner edlen Wirtin, von dem ich heute erfahren hatte, daß er eigentlich John Hansen geheißen habe. – – John Hansen war von einem Nachbarsdorfe und hatte seine Militärzeit als tüchtiger Soldat bestanden, wenn auch zu Anfang nur der kräftigere Arm eines Kameraden schuld gewesen war, daß er den dänischen Kapitän, der ihn „tyske Hund“ geheißen hatte, nicht mit dem kurzen Seitengewehre niederstach. Als aber die Dienstzeit aus und er entlassen war, da wollte die müßige, aber wilde

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Kraft in ihm etwas zu schaffen haben; ein Dienst als Knecht war nicht sogleich zur Hand, so ging er in die Stadt und gab sich vorerst bei einem Kellerwirte in die Kost. Aber dort verkehrte allerlei fremdes und hergelaufenes Volk; eine Menge Arbeiter, die bei einem Schleusenbau beschäftigt waren, hatten dort ihre Schlafstelle. Einer davon, der wegen Trunkfälligkeit aus der Arbeit gejagt war, blieb trotzdem und verzehrte und vertrank seine letzten Schillinge. Er und John hatten beide nichts zu tun; so waren sie stets zusammen, lagen draußen am Deich oder saßen allein in der dämmerigen Kellerstube, und der Fremde erzählte allerlei lustige Spitzbuben- und Gewaltsgeschichten; er wußte genug davon, und bei den meisten war er selber mit dabeigewesen; aber alles war immer lustig ausgegangen. Bei solcher Gelegenheit, da sie wieder einmal weit draußen am Haffdeich miteinander im Grase lagen, wo nur der Westwind pfiff und die Möwen schrien, überfiel den jungen Burschen die Lust, auch seinerseits einmal den Hals zu wagen; er streckte seine straffen Arme aus und schüttelte die Fäuste, ein wüstes Feuer brach aus seinen Augen. „Zum Satan!“ rief er, „hätt man so was auch nur zu schaffen, da ehrliche Arbeit nicht zu haben ist!“ Der alte Halunke, der neben ihm lag und beim Erzählen nur über sich die Wolken hatte ziehen sehn, blickte ihn von der Seite an. „Meinst du?“ sagte er heimlich – „nun, Spaß würd schon dabeisein!“ John antwortete nicht; ein Trupp Arbeiter kam von draußen auf dem Deich daher. Der Fremde stand auf und sagte: „Komm, John, die kennen uns; wir wollen mit ihnen heimgehn!“ – – Am andern Nachmittage, da sich für John abermals die Aussicht auf einen Dienst zerschlagen hatte, lagen die beiden wieder an derselben Stelle. Der Fremde sprach nicht; John riß Grasbüschel aus dem Boden und warf damit nach vorbeistreichenden Schwalben. „Du ruinierst doch den Deich, da du sonst nichts zu tun hast!“ sagte der andere lachend. John stieß einen Fluch aus. „Du wolltest mir gestern was erzählen, Wenzel!“ sagte er. Wenzel sah wie abwesend auf die See, wo draußen eben ein Segel vorbeizog. „Ich?“ sagte er. „Was sollte das gewesen sein?“ – „Das mußt du selber wissen; aber Spaß sollte dabeisein. So sagtest du.“ „Ja so! Ich weiß schon; aber es ist noch mehr Gefahr als Spaß dabei.“

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John lachte. „Was lachst du!“ sagte Wenzel; „es kann um Kopf und Kragen gehn!“ „Ich meinte nur, es sei das just der Spaß!“ Der andere richtete sich auf: „Ist dir dein Kopf so wohlfeil?“ „Nein, Wenzel; aber ich denk, er sitzt mir ziemlich fest. Erzähl nur, es ist profitabler!“ Sie rückten näher zusammen; ihr Reden wurde ein Flüstern; mitunter lief der eine auf den Deich und blickte scheu umher, aber keine Menschenseele ließ sich sehen. Die Dämmerung fiel herab, in tiefem Dunkel kamen die beiden zurück und stiegen in den Keller hinab, wo noch halbtrunkenes Volk an den Tischen lärmte. – – Drei Tage nachher wurde unsere Stadt durch das Gerücht eines unerhört frechen Einbruchdiebstahls aufgeschreckt, und was an Polizei vorhanden war, hatte mit Arm und Beinen zu tun. Das Erkerhaus am großen Markt, das der Exsenator Quanzberger allein mit seinem alten Diener bewohnte, war der Schauplatz gewesen. Der alte hagere Herr, den man gebunden, mit einem Knebel in seinem zahnlosen Munde neben seinem Bett gefunden hatte, konnte viele Wochen nachher nicht seinen pünktlichen Spaziergang durch die Gassen machen, und viele Jungen wußten deshalb nicht mehr, was die Uhr sei, und kamen viel zu spät oder zu früh in die Schule; und als er ihn wieder antrat, fehlte unter seinem Arm der rotseidene Regenschirm, und sein hoher Filzhut zitterte auf der fuchsfarbenen Perücke. Am schlimmsten aber war es, daß bei seinem alten Nikolaus, der durch einen Schlag über den Schädel betäubt war, nur mit genauer Not noch Leib und Seele beieinander geblieben. Das war es gewesen, was dem braven Soldaten John Hansen eine sechsjährige Zuchthausstrafe und den Namen John Glückstadt eingetragen hatte. Seltsam war es, daß nach Publizierung des Urteils auch unter den städtischen Honoratioren von mancher Seite für den Verurteilten Partei ergriffen wurde; man hob hervor, daß er die goldene Uhr des Exsenators, die ihm als Beuteanteil zugefallen war, schon am Tage nach der Tat einem jungen Vetter auf dem Lande als Konfrmationsgeschenk gegeben habe, was freilich dann zuerst der Anlaß zu seiner Verhaftung geworden war. „Schad um den Burschen“, sagten die einen, „daß er ein Spitzbube geworden! Sieht er nicht aus, als hätte er General werden müssen?“ Und die andern erwiderten: „Freilich, doch mehr noch wie jene vornehmen Räuber, denen es weniger um den Gewinn als um den Sport dabei zu tun war.“

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Aber John mußte desungeachtet in das Zuchthaus und war vorläufig dann vergessen. Auch sechs Jahre im Zuchthaus vergehen endlich; aber voll hatte er sie absitzen müssen, denn es war in währender Zeit im Lande weder ein König gekrönt noch einer geboren worden. Als er, wie beim Soldatendienst, mit guten Zeugnissen entlassen war, kam er abermals in unsere Stadt, um sich nach Arbeit umzutun, aber man wollte den Zuchthäusler nicht; mehr noch war es um den Grimm und Trotz, der jetzt aus seinen dunkeln Augen brach. „Der Mensch sieht gefährlich aus“, hieß es, „ich möchte in der Nacht ihm nicht allein begegnen!“ Endlich war es ihm gelungen. Zur Seite der erwähnten Norderstraße strecken sich nordwärts, wo vor ein paar hundert Jahren der dreibeinige Galgen neben Bürgermeister Luthens Fischteich stand, große uneingezäunte Felder weit von der Stadt hinauf. Sie dienten damals einem vielgeschäftigen Bürger zum Zichorienbau, und die dazu gedungenen fünfzig oder sechzig Weiber und jungen Dirnen begannen eben auf der ungeheuren Fläche das Unkraut zwischen den Pflanzen auszujäten; vom Wege aus, der an der Stadt entlanglief, hörte man schon von weitem das Schwatzen der Weiber wie einen Mühlbach rauschen; mitunter auch stieg daraus ein silberhelles Lachen in die Luft empor; dann wieder ward es plötzlich still: der Aufseher, der sich bei einem Trupp von Arbeiterinnen irgendwo am andern Ende des Feldes aufgehalten hatte, war wieder zwischen sie getreten; er sprach nicht, er übersah nur einmal mit seinen finstern Augen die ganze Schar. Der Aufsichtsmann war John Glückstadt; man hatte ihn zu diesem Posten besonders tauglich gehalten, und da draußen auf dem Felde konnt’s auch nicht gefährlich sein; überdies zeigte die Rechnung sich als richtig, denn noch niemals war das Unkraut so gründlich und so rasch verschwunden. – Unter den Dirnen hatte ich eine, dieselbe, deren Lachen aus der Schar so hell hervorschlug, oft genug auf dem Hausflur meiner Eltern als Bettelmädchen an der Kellertreppe stehen sehen; sie schaute mich, wenn ich zufällig aus dem Zimmer trat, nur stumm mit ihren verlangenden braunen Augen an, und hatte ich einen Schilling in der Tasche, so zog ich ihn gewiß heraus und legte ihn in ihre Hand. Ich entsinne mich noch wohl, wie süß mir die Berührung dieser schmalen Hand tat, auch daß ich nachher noch eine Weile stehenblieb und wie gebannt auf die Stelle die Treppe hinabsah, von der das Mädchen sich ebenso schweigend wieder entfernt hatte.

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Dem finstern Aufsichtsmann, unter dem sie jetzt in ehrlicher Arbeit stand, mochte etwas Ähnliches mitspielen; er ertappte sich darauf, daß er mitunter, statt den faulen Weibern auf die Finger zu passen, das jetzt siebzehnjährige Mädchen mit seinen Blicken verschlang. Sie mochte ihn dann wohl still mit ihren heißen Augen anschauen, denn sie war die einzigste, welche die seinen nicht fürchtete, und der Mann, in dessen Antlitz ein Zug von Seelenleiden spielte, war vielleicht für solche Weiber der gefährlichste. Aber eines mußte noch hinzukommen. An der weiter von der Stadt liegenden Ostseite des Ackers, wo die Arbeit schon vollendet war, befand sich jener verlassene Brunnen, neben dem schon seit undenkbaren Jahren das Schinderhaus verschwunden war; um drei Pfähle hingen noch ein paar vermorschte Bretter, die keinen Widerstand zu leisten vermochten. John Glückstadt kannte ihn wohl: der Brunnen war eng und an den Seiten mit Moos und einzelnen Pflanzenbüscheln bewachsen, durch die er vergebens mit seinen Blicken den Boden zu erreichen gesucht hatte; aber tief mußte er sein, denn als John eines Abends über das leere Feld ging und im Vorbeigehen einen Stein hinabwarf, dauerte es eine ganze Weile, bevor ein Ton wie ein harter Aufschlag sein Ohr erreichte. „Gott mag wissen, was da unten liegt“, murmelte der Mann; „Wasser nicht, vielleicht nur Kröten und Unzeug!“ Und er rührte unwillkürlich seine Beine, um rascher nach Hause zu gelangen. Als er jetzt eines Morgens auf das Feld kam, wo gegenüber schon die Mehrzahl der Arbeiterinnen versammelt war, störte ihn eine Krähe aus seinem Brüten auf, das er heute vom Bette mit ins Freie genommen hatte; der Vogel war bei seiner Annäherung mit Gekrächz von der verfallenen Brunnenplanke aufgeflogen; als John aber auf- und dann weiter hinausblickte, sah er die braune schmächtige Dirne wie in blinder Angst mit erhobenen Armen auf den Brunnen zustürzen; ein anderes, breitschulteriges Weib, das sich schon drei Jungfernkinder aufgeladen hatte, lief hinter ihr darein. Es hatte das Mädchen geneckt, daß sie dem schmucken Aufsichtsmann ihre Augen hinhalte, er solle wohl hineinfallen; die andern Frauenzimmer hatten gelacht: „Frisch, Wieb, vertreib dem Fratz seine Katzenkünste!“ Da war die Dirne zornig geworden und hatte dem Weibe so gründliche Wahrheiten zugeworfen, daß es mit der Unkrauthacke in der Faust wie toll hinter der Leichtfüßigen herlief. Der düstere John sah die wilde Flucht gerade auf das Brunnenloch zufahren und sprang rasch vor die verfallene Umzäunung. „Sie will mich totschlagen!“ schrie die junge Dirne und stürzte mit solcher Gewalt in seine Arme, daß ihm selbst die Füße auf dem Boden wankten.

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„Nun, Dirne“, rief er, „sollten wir hier beide in den Brunnen? Es wär vielleicht das beste!“ und hielt sie fest an seiner Brust. Sie wollte sich von ihm losringen. „Laßt mich!“ rief sie. „Was wollt Ihr von mir?“ Er sah sich um, sie waren ganz allein: das große Frauenzimmer hatte vor dem Aufseher sogleich die Flucht ergriffen, die andern Weiber arbeiteten fern am Westrande des Ackers; er wandte seine Augen wieder auf das Kind in seinen Armen. Sie hatte mit ihren kleinen Fäusten ihm ins Gesicht geschlagen. „Laß mich“, rief sie, „ich schreie; glaub nicht, daß du mir Leides antun kannst!“ Er schwieg eine Weile, und die dunkeln Augen beider sahen regungslos ineinander. „Was ich von dir will?“ sagte er dann; „Leids will ich dir nicht tun – aber ich will dich heiraten, wenn du es willst!“ Sie antwortete nicht, ein paar Augenblicke lag sie wie tot an seiner Brust; er fühlte nur, das Widerstreben ihrer Glieder hatte nachgelassen. „Willst du nicht sprechen?“ frug er sanft. Da griff sie jäh mit beiden Händen um seinen Hals, daß sie den starken Mann fast würgte. „Ja, ich will“, rief sie. „Du bist der Schönste! Komm weg vom Brunnen! Du sollst nicht drunten liegen, in meinen Armen ist’s besser!“ Und sie küßte ihn, bis sie den Atem verloren hatte. „Weißt du“, sagte sie dann, „du ziehst zu uns, zu mir und meiner Mutter in das kleine Haus; du zahlst die halbe Miete!“ Sie sah ihn wieder an, sie küßte ihn nochmals; dann warf sie den Kopf mit dem dunkeln Haar in den Nacken, und ihr helles Lachen stieg jetzt fast zu übermütig aus den roten Lippen. „So!“ rief sie, „nun lauf ich voraus; komm aber bald mir nach und sieh zu, ob ich nicht auch die schönste von all den Weibern bin!“ Sie stürmte dem Arbeitsplatze zu, und er folgte ihr, taumelnd vor Entzücken. Wer ihn jetzt gesehen und einen Freund bedurft hätte, der würde ohn Bedenken in seine Arme gestürzt sein; der gefährliche Mensch war wie ein Kind geworden; er öffnete die Arme und schloß sie langsam wieder über seiner Brust, als müsse er das Glück umfassen, das ihm die junge Dirne zugebracht hatte, die wie ein fliegend Vöglein dort vor ihm das Feld hinanlief. „Und Arbeit“, rief er und streckte die starken Fäuste in die Luft, „die soll für uns nicht fehlen!“ Als er den Arbeitsplatz erreicht hatte, suchte die große Dirne sich vor ihm zu verbergen; aber, was sonst niemand noch gesehen hatte, seine Augen lachten

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nur, wenn sie auf ihr grobes Angesicht trafen. ‘Lauf nur, was schierst du mich!’ sprach er zu sich selber, ‘du warst der Hund, der unversehens mir das Glück in meine Arme jagte!’ Die junge Braune aber wußte ihrem stillen Liebsten stets aufs neue zu begegnen. „Lach doch! Warum lachst du nicht?“ raunte sie ihm zu und hielt ihm, selber lächelnd, ihre dunkeln Augen hin. „Ich weiß nicht“, sagte er; „– der Brunnen!“ „Was soll der?“ frug sie. „Ich wollt, er wäre aus der Welt!“ Und nach einer Weile: „Du könntst mir einmal da hineinfallen, du bist so wild, Hanna – er darf nicht offen bleiben.“ „Du bist ein Narr, John“, raunte ihm die Dirne zu, „wie sollt ich von heut an noch in den Brunnen fallen! Wenn nur die dummen Weiber nicht so nahe wären, ich fiel dir lieber an den Hals!“ Aber er ging sinnend von ihr, und als er später bei Ende der Tagesarbeit über den einsamen Acker ging, konnte er an dem Brunnen nicht vorbei; er blieb stehen und warf wieder kleine Steine in die Tiefe; er kniete dabei nieder und bog sich über den Rand und lauschte, als ob die Tiefe ein furchtbares Geheimnis berge, von dem er einen Laut erhorchen müsse. Als auch das Abendrot am fernen Horizont verschwunden war, ging er langsam in die Stadt zurück und nach der Großstraße in das Haus seines Arbeitgebers. – Am andern Morgen erschien zur Verwunderung der Arbeiterinnen ein Zimmermann auf dem Acker und schlug ein rohes, aber derbes Brettergerüst um den alten Brunnen. Im September, gegen Abend, wurde auf dem ersten Packboden des ungeheueren Speichers das „Zichorienbier“ gefeiert, das schon am Nachmittag begonnen hatte; was in der Fabrik in Arbeit stand, der Fuhrmann, der Heizer, der Brenner und wie sie alle genannt wurden, alle waren da, es war wimmelnd voll; Gewinde von Astern und Buchsbaum und von sonstigen Herbstblumen und Blättern hingen überall an den Balken. An großen Tischen, an über Tonnen gelegten Brettern hatten sie gesessen; nun aber war der Kaffee ausgetrunken; die Lampen und Laternen, die zwischen den Kränzen hingen, wurden angezündet, und in dem dämmerigen Gemunkel wurden eine Klarinette und ein paar Geigen laut, wonach die jungen Dirnen längst die Hälse gestreckt hatten.

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John tanzte schon mit seiner jungen Frau, die heiß in seinen Armen lag; er sah voll Lust über die dunkle Menschenmenge hin; aber was ging sie ihn an? – Da wurde er mit seiner Tänzerin gegen das Ende eines schweren Eichentisches gestoßen, der unter die Tanzenden hineinragte, und sie tat einen jähen Aufschrei. Es hatte nichts auf sich, aber John rief den jungen kräftigen Heizer an: „Hilf mir den Tisch fort setzen, Franz!“ Er schien es nicht zu hören; da faßte John ihn an dem Ärmel. „Was soll’s?“ rief der Heizer und wandte halb den Kopf. „Nicht viel“, entgegnete John, „der Tisch muß fort, dort in die Ecke!“ „Ja, trag ihn nur dahin!“ sagte der junge Mensch und drängte sich zu den andern Arbeitern, von denen ein Teil zusammenstand. „Was wollte er von dir?“ frug einer von ihnen. „Ich weiß nicht; ich sollt ihm helfen! Mag er sich selber helfen! Man hat nur keine andere Arbeit, sonst müßt man von hier fort!“ Die andern lachten und gingen auseinander, um sich Tänzerinnen zu suchen. John aber, der aus halbgehörten Worten sich genug heraushörte, klemmte die Lippen zusammen und tanzte weiter mit seinem jungen Weibe, und immer nur mit ihr. Inmitten der Fröhlichkeit kam auch die Herrschaft mit einigen Freunden auf den Boden; auch der Bürgermeister war dabei, einer von denen, deren Teilnahme damals den Verurteilten in das Zuchthaus begleitet hatte. Jetzt folgte sein Blick dem hübschen jungen Paare. Eine ältliche, unverheiratete Schwester der Hausfrau stand neben ihm. „Nun sehen Sie“, flüsterte die Dame und zeigte mit dem Finger nach dem Paare, „vor zehn Monaten noch am Wollspinnen im Zuchthaus, und nun tanzt er mit dem Glück im Arm!“ Der Bürgermeister nickte: „Ja, ja – Sie haben recht ... aber er selbst ist doch nicht glücklich und wird es nimmer werden.“ Die alte Jungfer sah ihn an. „Das versteh ich doch nicht ganz“, sagte sie, „solche Leute fühlen anders als unsereins. Aber freilich, Sie sind ein unverbesserlicher Junggesell!“ „Ich scherze nicht, liebes Fräulein“, erwiderte der Bürgermeister; „es tut mir leid um diesen Menschen: das Glück in seinem Arm mag echt genug sein, ihm wird es nichts nützen; denn in seinem tiefsten Innern brütet er über einem Rätsel, zu dessen Lösung ihm weder sein Glück, wie Sie das junge Kind in

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seinen Armen zu nennen belieben, noch irgendein anderer Mensch auf Erden verhelfen kann.“ Das alte Fräulein sah recht dumm zu dem Redenden auf. „So möge er das Brüten lassen!“ sagte sie endlich. „Das kann er nicht.“ „Weshalb nicht? Er sieht doch herrisch genug aus.“ „Das tut er“, entgegnete der Bürgermeister nachdenklich, „er könnte sogar wohl toll darüber werden, vielleicht noch einmal ein Verbrecher; denn das Rätsel heißt: Wie find ich meine verspielte Ehre wieder? – – Er wird es niemals lösen.“ „Hm!“ meinte die Dame, „Herr Bürgermeister, Sie haben allzeit so besondere Gedanken; aber ich denke, wir haben jetzt genug davon; die Laubkränze verbreiten so strengen Duft, und die Lampen qualmen auch, man trägt’s noch tagelang in Haar und Kleidern.“ Sie gingen alle und überließen die Armen ihrer Lustbarkeit; nur der Bürgermeister zögerte noch ein paar Minuten, da wieder das junge Paar vorübertanzte. Das siebzehnjährige Weib hing mit lachenden Augen an denen ihres Mannes, die sich, wie um alles zu vergessen, in die ihren zu bohren schienen. „Wie lange noch wird’s dauern?“ murmelte der Bürgermeister, dann folgte er den andern. Es dauerte doch noch ziemlich lange; denn das Weib war, obgleich in Lumpen aufgewachsen, jung und unschuldig. Sie wohnten in der Kate am Ende der ins Feld hinaus laufenden Norderstraße; das Kämmerlein vorn war das ihre, die Mutter hatte sich ein Lager in der engen Küche einzurichten verstanden. Sein alter Arbeitgeber wußte nun schon, daß John ein halbmal mehr als andere arbeite, und deshalb, und da auch der Bürgermeister ihm zusprach, hielt er den Mann fest, sooft ihm auch geraten wurde, den Zuchthäusler vor die Tür zu setzen. So war allzeit Arbeit da, für ihn und oftmals auch für die Frau, und die Nahrungssorge klopfte nicht an die kleine Tür. Ein Gärtlein war auch am Hause, und darin, hinten nach dem Weg hinaus, eine dichte Ligusterlaube. Hier saß die Frau meist an den Sommerabenden und harrte seiner, bis er von der Arbeit kam; dann flog sie auf ihn zu und zwang ihn, sich auf die Bank zu setzen; er aber litt sie nicht neben sich, er setzte sie auf seinen Schoß und hielt sie wie ein Kind an seiner Brust. „Komm nur“, sagte er, „so müde bin ich nicht; ich hab nicht viel, ich muß es alles in meinen Armen haben.“ So sprach

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er eines Abends; da sah sie ihn an und strich ihm, als wollte sie etwas fortwischen, mit ihren Fingern über die Stirn. „Das da wird immer tiefer!“ sagte sie. „Was denn, Hanna?“ „Die Falte – nein, sprich nicht, John; ich kann’s schon denken, die Brückenarbeiter haben heut ihr Fest, die andern sind da, sie haben dich nicht eingeladen.“ Die Falte wurde noch tiefer. „Laß das!“ sagte er. „Sprich nicht davon; ich wär ja doch nicht hingegangen.“ Und er klammerte die Arme fester um sein Weib. „Am besten“, sagte er, „nur wir zwei allein.“ – – Nach einigen Monaten sollte ein Kind geboren werden. Die gutmütige Alte lief mit wirrem Kopf umher; bald stellte sie ein Töpfchen für die Wöchnerin ans Feuer, bald wieder wickelte sie die dürftigen Hemdchen auseinander, die sie für ihr erwartetes Enkelkind aus alter Leinwand in vielen Wochen genäht hatte. Das junge Weib war im Bette liegengeblieben; der Mann saß bei ihr; er hatte Arbeit Arbeit sein lassen und hörte nur auf das Stöhnen seines Weibes, die fest ihre Hand um seine preßte. „John!“ rief sie, „John! Geschwind, du mußt zur Mutter Grieten laufen, aber komm gleich wieder, bleib nicht fort!“ John hatte in dumpfem Sinnen gesessen. Nur wenige Augenblicke noch, dann sollte er Vater werden; ihn schauderte; er sah sich plötzlich wieder in der Züchtlingsjacke. „Ja, ja“, rief er, „ich bin gleich wieder da!“ Es war am Morgen, und die Hebamme wohnte in derselben Straße; er lief und riß die Haustür auf, und als er in die kleine Stube trat, saß die dicke Alte an ihrem Morgenkaffee. „Na, Er ist’s!“ rief sie unwirsch, „ich dacht zum mindesten, es sei der Amtmann!“ „Ich hab nicht weniger ein Weib als der!“ „Was ist mit Seinem Weibe?“ frug die Alte. „Frag Sie nicht! Komm Sie mit mir; mein Weib liegt in Kindesnöten; wir bedürfen Ihrer Hülfe.“ Die Alte musterte den erregten Mann, als zähle sie im Geist die wenigen Schillinge, die dieser Dienst ihr abwerfen werde, wenn sie nicht gar verlorengingen. „Geh Er nur vorab!“ sagte sie. „Ich muß erst meinen Kaffee trinken.“ John stand wie unentschlossen an der Stubentür. „Geh Er nur!“ wiederholte sie, „Sein Kind kommt früh genug!“ Er hätte das Weib erdrosseln mögen; aber er biß nur die Zähne aufeinander; sein Weib bedurfte ihrer. „So bitt ich nur, Frau Grieten, trinket nicht zu langsam!“

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„Ja, ja“, sagte die Alte, „ich trinke, wie ich Lust hab.“ Er ging; er sah, daß jedes seiner Worte sie nur noch widerwilliger machte. Sein Weib fand er wimmernd auf dem heißen Bette. „Bist du es, John? Hast du sie bei dir?“ „Noch nicht; sie kommt wohl gleich.“ Das „gleich“ wurde zu einer halben Stunde, während John reglos neben der jammernden Wöchnerin saß und die Alte draußen noch einmal Kaffee für Mutter Grieten kochte. ‘Die können allzeit Kaffee trinken’, sprach sie zu sich selber, ‘man muß sie sich zu Freunden halten!’ „John!“ rief in der Kammer das junge Weib, „sie kommt noch immer nicht!“ „Nein“, sagte er, „sie muß erst Kaffee trinken.“ Er knirschte mit den Zähnen, und seine düsteren Brauen zogen sich zusammen. „Du hättest nur des Amtmanns Weib sein sollen!“ „John, ach John, ich sterbe!“ schrie sie plötzlich. Da sprang er auf und rannte aus dem Hause. Auf der Straße begegnete er der dicken Hebamme. „Nun“, rief sie, „ist das Kind schon da? Wohin will Er denn?“ „Zu Ihr, Frau Grieten, damit mir meine Frau nicht sterbe.“ Die Alte lachte. „Tröst Er sich, an so etwas stirbt Euresgleichen nicht!“ Sie zog ihn mit nach seiner kleinen Wohnung. Als sie in die Kammer trat, sah sie auf die Wöchnerin. „Wo ist die Alte?“ frug sie. „Habt Ihr denn nichts bedacht?“ Und sie zählte auf, was man bei solcher Gelegenheit für sie bereitzuhalten pflegte, und sie brachten ihr, was sie hatten. John stand zitternd am Ende des Bettes, und endlich wurde das Kind geboren. Die Hebamme wandte den Kopf nach ihm. „Da hat Er eine Dirne, die braucht nicht Soldat zu werden!“ „Eine Züchtlingstochter!“ murmelte er; dann fiel er vor dem Bette auf die Knie: „Möcht Gott sie wieder zu sich nehmen!“ Immer feindlicher stand ihm die Welt entgegen; wo er ihrer bedurfte, wo er sie ansprach, immer hörte er den Vorwurf seiner jungen Schande als die Antwort; und bald hörte er es auch, wo kein anderer es hätte hören können. Man hätte fragen mögen: „Du mit den starken Armen, mit deiner mächtigen Faust, warum duldest du das, warum bringst du sie nicht zum Schweigen?“ Hatte er

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doch einmal, da von einem maulfrechen Matrosen sein Weib eine Betteldirne war gescholten worden, den Menschen hingeworfen und ihm fast den Schädel eingeschlagen; und nur mit Not hatte im Sühnetermin der ihm günstige Bürgermeister die Sache unter beiden ausgeglichen! Doch das war ein anderes; wo aber eine Hand erbarmungslos an jene offene Wunde seines Lebens rührte, wo er’s nur glaubte, da fielen die starken Arme ihm an seinem Leib herunter, da war nichts mehr zu schützen oder gar zu rächen. Und dennoch, mit ihm in seinem armen Hause wohnte noch immer das Glück. Zwar, wenn seine Stirn zu finster, sein Wort zu knapp und trocken wurde, dann flog es wohl erschreckt davon, aber es kehrte doch allzeit zurück und saß mit den jungen Eltern an dem Bettchen ihres Kindes und lächelte sie an und fügte ihre Hände unvermerkt zusammen. Das Glück war noch nicht ganz gewichen; die Alte nahm sich mehr und mehr der Wartung des Kindes an, je weiter es heranwuchs, und Hanna ging wieder dann und wann auf Arbeit und half erwerben. Wer trug denn die Schuld, daß immer öfter das Glück davon flog und sie immer länger ohne die holde Genossin zwischen ihren kahlen Wänden saßen? War es der Eigenwille der Weiber oder der so lang in Schlaf versenkte Jähzorn in ihnen beiden, der nach der großen Liebesfreude allmählich aus der Tiefe immer ungebändigter hervorbrach? Oder war es in dem Manne die unsühnbare Schuld, die den bitteren Unmut in ihm aufjagte? Hatte es doch, da vor geraumer Zeit sein alter Arbeitgeber durch jähen Tod gestorben war, nur kaum unter Not und Kummer gelingen wollen, daß er jetzt endlich am Wege saß und Steine klopfte. Da war’s, an einem Herbstabend, das Kind mochte ein Jahr alt sein; es lag in seinem Bettchen, das bald nach der Geburt der Vater ihm gezimmert hatte, und schlief, daß die heißen Tropfen auf der kleinen Stirne perlten. Aber Hanna saß verdrossen dabei, die kleinen Füße ausgestreckt, den einen Arm über die Stuhllehne herabhängend: das Kind hatte immer noch nicht schlafen wollen, und die alte Mutter, die ihr sonst die Last abnahm, war von einem Gichtanfall ins Bett getrieben worden. „Du hättest auch eine Wiege zimmern können!“ rief sie ihrem Manne zu, der eben müde von der Arbeit kam und sein Werkzeug in eine Ecke stellte. „Was ist denn?“ frug er, „das Kind schläft nun ein Jahr schon in dem Bettchen; du freutest dich doch selbst, als ich’s gemacht hatte!“ „Nun will es aber nicht mehr“, gab sie zur Antwort. „Es schläft ja doch!“

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„Ja – über eine Stund hab ich damit herumgearbeitet!“ „Da haben wir beid gearbeitet“, sagte er kurz. Aber sie schwieg nicht; Red um Rede ward wechselsweise schärfer und unbedachter. „Es wird schon morgen besser schlafen oder übermorgen“, sprach noch der Mann. „Wenn’s gar nicht geht – wir kriegen dann wohl eine Wiege!“ „Woher?“ frug sie. „Damals, als du das gute Holz hattest, hättst du die Wiege machen sollen!“ „Ei, so säg ich die Beine ab“, sagte John, „und schlag ein paar Gängel darunter; dann hast du deine Wiege!“ Aber dem jungen Weibe war ja die Wiege nur ein Spielwerk für ihren Unmut gewesen; ein häßlich Lachen fuhr aus dem hübschen Munde: „Soll ich das Ungeheuer denn allein regieren?“ Er riß den Kopf empor: „Willst du mich höhnen, Weib?“ „Warum nicht!“ rief sie und verzog den Mund, daß ihre weißen Zähne ihm in die Augen blitzten. „So helf dir Gott!“ schrie John und hob die Faust. Sie sah es und sah erst jetzt den Jähzorn in seinen Augen flimmern. Ein plötzliches Entsetzen fiel sie an; sie flog in eine Ecke des Zimmers und stürzte dort zusammen. „Schlag nicht, John!“ schrie sie. „Um deinetwillen, schlag mich nicht!“ Aber seine stets so rasche Hand war in der Leidenschaft zu rasch gewesen. Die Hände an den Schläfen in das dunkle Haar gedrückt, mit scheuen Augen sah das Weib ihn an; seine Hand hatte ihr die Stirn nur leicht gestreift; sie selber sprach kein Wort; aber dennoch hörte er es in seinen Ohren gellen: ‘Weh dir, du hast dein Glück zerschlagen!’ Er fiel zu ihr nieder; er sprach, er wußte selbst nicht, was; er bat sie; er riß ihr die Hände vom Gesicht und küßte sie. Aber sein Weib antwortete ihm nicht; wie mit der List des Wahnsinnes blickte sie heimlich nach der offenen Stubentür, und plötzlich war sie unter seinen Armen fort; er hörte, wie sie hinter sich die Hoftür zuschlug. Und als er dann sich wandte, sah er sein Kind aufrecht in dem Bettchen sitzen; es hatte mit beiden kleinen Fäusten sich das Bettuch in den Mund gestopft und sah mit großen Augen auf ihn hin; doch als er unwillkürlich näher kam, schlug es Kopf und Ärmchen rückwärts, und die Kinderstimme gellte durch das

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kleine Haus, als ob sie untragbar Unglück auszuschreien habe. Er erschrak, aber er hatte keine Zeit; was kümmerte ihn jetzt das Kind! Er rannte aus der Hoftür durch den dunklen Garten. „Hanna!“ rief er, und laut und immer lauter: „Hanna!“ Aber nur die Baumwipfel der vielen Gärten, die hier aneinanderliegen, rauschten von den Tropfen, die jetzt vom Himmel fielen, und aus der hinterliegenden Stadt kam das Geräusch von allerlei Fuhrwerk. Mit Entsetzen fiel ihm der Brunnen ein: ‘Wenn sie sich ein Leids angetan hätte!’ Er lief den Weg hinauf, wo der Eingang zu den Feldern war; da stolperte sein Fuß; ein Menschenlaut vom Boden wurde hörbar. „Hanna!“ schrie er, „Hanna, du lebst? Gott sei Dank, du bist es!“ Ein lautes Jauchzen hätte er in die Nacht geschrien, aber sein Herz, das zum zerspringen klopfte, machte es ihm unmöglich. Er hob sie wie ein Kind auf seine Arme, und da der Regen stärker fiel, zog er seinen Rock vom Leibe und hüllte sie darein; dann hielt er sie sanft an seine Brust und ging langsam, als sei er zum ersten Mal allein mit seinem jungen Weibe, in dem strömenden Regen ihrem Hause zu. Sie hatte alles, ohne ein Zeichen des Lebens, sich gefallen lassen; erst als aus ihres Mannes Augen ein warmer Tränenschauer auf ihr Antlitz fiel, streckte sie die Hand empor und strich damit ihm sanft über seine Wange. „Hanna, liebe Hanna!“ rief der Mann. Da kam auch ihre andre Hand hervor, und beide schlossen sich um seinen Hals. Und das Glück ging wieder leis an ihrer Seite; er hatte es noch nicht verjagt. Wer wüßte nicht, wie oft es denen, die wir „Arbeiter“ nennen, zum Verhängnis wird, daß ihre Hand allein ihr Leben machen muß! Wo in der Leidenschaft das ungeübte Wort nicht reichen will, da fährt sie, als ob’s auch hier von ihr zu schaffen wäre, wie von selbst dazwischen, und was ein Nichts, ein Hauch war, wird ein schweres Unheil. Und geschah es einmal, so geschieht’s auch ferner; denn die meisten dieser Leute, just nicht die schlechtesten, sie leben ihre Zeit dahin und haben ihre Augen nur auf heut und morgen; was gewesen und vergangen ist, gibt ihnen keine Lehre. So war es auch mit John. Wenn an arbeits- und verdienstlosen Tagen die Not, oder was es immer sein mochte, seine Nerven zucken machte, so faßte auch ferner seine böse Hand nach seinem Weibe, deren Blut nicht kälter rollte als das seine. Und Buben und junge Leute blieben auf der Gasse vor ihrem Häuschen stehen und ergötzten sich an dem, was von dem Elend drinnen an ihr Ohr hinausdrang. Nur einer, der alte Nachbar Tischler, kam mit gutem Willen, er ging ins Haus und sprach mitunter die Streitenden zur Ruhe, oder er trat, mit einem hübschen, leise schluchzenden Kinde auf den Armen, wieder aus der

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Tür; „das ist nichts für dich, du kleiner Engel“, sagte der alte Mann, „komm du mit mir!“ Und er ging mit ihr in seine Wohnung, wo eine ebenso alte Frau das Kind ihm zärtlich aus den Armen nahm. Wenn aber in dem kleinen Hause Jähzorn und Kräfte sich erschöpft hatten, dann – wovon die draußen nichts gewahrten – fielen Mann und Weib sich in die Arme und preßten und küßten sich, als ob sie so sich töten wollten. „O Hanna, sterben!“ rief einmal der wilde Mann; „nun mit dir sterben!“ Und aus den roten Lippen des Weibes stieg ein Seufzer; sie warf ihre trunkenen Augen auf den erregten Mann und zog das Mieder, das er vorhin über ihrer weißen Brust zerrissen hatte, noch weiter von der Schulter. „Ja, John“, rief sie, „nimm nur dein Messer und stoß es dahinein!“ Aber während er sie anstarrte, ob denn das Furchtbare ihr auch Ernst sei, rief sie plötzlich: „Nein, nein! Tu’s nicht, das nicht! – unser Kind, John! – das wär Todsünde!“, und sie bedeckte hastig ihre preisgegebene Brust. Er sagte langsam: „Ich weiß es nun, ich tauge nicht, ich bin doch wieder schlecht gegen dich!“ „Du nicht! du nicht, John!“ rief sie; „ich bin die Böse, ich reiz dich, ich zerr an dir herum!“ Aber er zog sie fester an sich und verschloß ihren Mund mit Küssen. „John!“ flüsterte sie, als sie wieder frei war und wieder ihren Atem hatte, „schlag mich nur, John! Es tut wohl weh, am meisten in meinem Herzen; aber dann küß mich, küß mich tot, wenn du es kannst! Das tut noch süßer, als das Schlagen weh tut!“ Er sah sie an, und er zitterte, als er sie so in ihrer Schönheit sah: sein Weib, die keines andern war als nur die seine. „Ich will dich nicht mehr schlagen“, sprach er; „zerr mich nur, soviel du kannst!“, und mit zärtlichen, unterwürfigen Augen blickte er auf sie hinab. „Nein, John“, bat sie, und ihre tiefe Stimme klang so weich, „du wirst es doch tun! Aber nur eines: du tatst es gestern, aber tu’s nicht wieder! Schlag nicht unser armes Kind! Ich hasse dich dann, und das, John, tut am allerwehesten!“ „Nein, Hanna, auch das Kind nicht“, sprach er wie träumend. Und sie bückte sich und küßte seine Hand, mit der er sie vorhin geschlagen hatte. – Das sah kein Mensch; und doch, nach ihrer beider Tode ist davon erzählt worden.

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Trotz Not und Schuld war die enge Kate noch immer sein Heim und seine Burg; denn von den beiden Frauen dort rührte keine an seiner Wunde, nur dort noch war er davor sicher. Es war das eben kein Erbarmen; sie dachten nur nicht daran, und taten sie es je, so war des Mannes Jugendschuld ihnen mehr ein Unglück als ein Verbrechen; denn in ihrem eigenen Leben lagen Recht und Unrecht oft nur kaum unterscheidbar nebeneinander. War doch auch in des Weibes Kinderzeit ein sehr alter Mann ihr guter Freund gewesen, der wegen gleichen Vergehens in der „Sklaverei“ gewesen war und manches Jahr in Ketten die Karre geschoben hatte. Harmlos, wie andere von den Abenteuern ihrer Jugend plaudern, hatte er dem Kinde das erzählt. Nun wohnte er in einem nahen Dorfe und fuhr mit seiner mageren Kracke weißen Sand zur Stadt und schnitzte, wenn er daheim war, Holzschuhe und Sensenstiele. Er hatte oftmals im Vorbeifahren mit dem munteren, auf der Haustürschwelle sitzenden Kinde ein paar großväterliche Worte geredet, so daß sie allmählich aufpaßte, wenn der weißhaarige Greis mit seinem kümmerlichen Fuhrwerk von der Landstraße in die Stadt kam. Die Holzschühchen, die er ihr einmal mitgebracht hatte, standen noch auf dem kleinen Boden; sie hatte sie neulich für ihr eigen Kind hervorgesucht. – ‘Wo der alte Mann wohl abgeblieben ist?’ hatte sie bei sich selber gesprochen, indem sie den Staub von den Schühchen wischte und sie dann sorgsam nebeneinanderstellte, ‘auf einmal kam er nimmer wieder.’ Daß der Greis, der in so friedlichem Alter dahingegangen war, auch zu den Züchtlingen gehört hatte, das hatte weder ihn noch sie beunruhigt. Dennoch kam eines und machte allem ein jähes Ende. – – Es war eine Zeit leidlichen Verdienstes gewesen; aber Hannas Mutter war nach kurzem Krankenbett gestorben. Hanna hatte die alte Frau leidenschaftlich beweint; John hatte gerechnet und tat es noch; denn das verdiente Geld war dabei fortgegangen, und kleine Schulden waren noch dazu aufgelaufen. – Am Häuschen, an der Gartenseite, hatte lange Jahre ein starker Eschenbaum gestanden, in dessen Schatten die jungen Eheleute früher am Sonntagmorgen oft gesessen hatten, aber schon vor Jahr und Tag, in einer Zeit des Notstandes, hatte John ihn umgehauen; er hatte Geld aus dem schönen Stamm zu lösen gedacht, den, wie die Alte versicherte, ihr Mann einst selbst dorthin gepflanzt hatte; allein der Baum lag noch immer auf dem Hofe, und nur der erquickliche Schattensitz war verloren. Jetzt kam er doch zu Nutzen: der Nachbar Tischler nahm ihn und machte dafür der Alten einen Sarg mit hohem Deckel; so kam sie, was ihre letzte Sorge gewesen war, doch anständig in die Grube.

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Aber die Totengebühren waren meist noch unbezahlt, und manches andre drückte auch noch; es bot sich wieder einmal kaum je am andern Tage eine Arbeit. Ein Sonntagmorgen war es; Hanna hatte eben das jetzt schon dreijährige Kind in seinen dürftigen Sonntagsstaat gekleidet; John saß mit aufgestütztem Ellenbogen am Tisch vor seinem Morgenkaffee, wühlte mit der Hand in seinen dunklen Locken und schrieb mit einem Stückchen Kreide Zahlen auf die Platte. Bald aber zerbrach und zermalmte er die Kreide zwischen seinen Fingern und starrte wie gedankenlos auf Weib und Kind. „Was hast du jetzt zu tun, Hanna?“ frug er endlich. Sie warf den Kopf herum; die Worte klangen ihr so trocken. „Nichts!“ sagte sie ebenso, „das Kind ist angezogen.“ „Was tatest du denn, als du mit deiner Mutter noch allein warst und nicht einmal ein Kind zum Anziehn da war?“ „Ich ging betteln in der Stadt!“ antwortete sie, und ein höhnischer Trotz klang aus den Worten; „das ging noch besser, als es jetzt geht! Du wußtest ja, daß du eine Betteldirne freitest!“ „Und schämtest du dich nicht?“ fuhr es aus ihm heraus. „Nein“, sagte sie hart und sah ihm mit starren Augen ins Gesicht. „Warum lerntest du nicht mit feiner Wäsche umgehn? Deine Mutter konnte es doch; sie hatte bei Herrschaften gedient. Das hätte uns jetzt Geld gebracht und wär besser gewesen als das faule Umherlungern.“ Sie schwieg; es war nie daran gedacht worden. Aber in ihrem hübschen Kopfe fing es an zu kochen, als sie nichts erwidern konnte. Dazu, die Augen ihres Mannes lagen auf ihr, als wolle er sie ganz ins Nichts hinunterdrücken. Da kam ihr ein Gedanke; er versetzte ihr den Atem, aber sie konnte es nicht verhalten. „Es gibt ja noch andern Verdienst!“ sagte sie, und als er schwieg: „Wir können Wolle spinnen; das hast du ja sechs Jahre lang getrieben und kannst es mich selber lehren!“ Ihm war, als hätte er einen Schlag in sein Gehirn bekommen, und sein Gesicht verwandelte sich so furchtbar, daß sich das Kind mit beiden Ärmchen an die Mutter klammerte. „Weib! Hanna!“ schrie er. „Das sagst du mir? – du?“

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Und als sie jetzt wie ohne Leben ihm ihr Gesicht entgegenhielt, faßte er sie an beiden Schultern, zog sie an sich, als müsse er sich überzeugen, ob sie’s auch selber wäre, und stieß sie dann gewaltsam von sich. Der Stuhl, an welchem sie gestanden hatte, fiel zurück, und das Kind stieß einen gellenden Schrei aus; das Weib aber stürzte gegen den Ofen; dann glitt sie mit einem schwachen Wehlaut auf den Boden. Als wären die Gedanken ihm abhanden gekommen, sah John darauf hin; als er ein wenig seine Augen hob, da sah er an einem hervorstehenden Schraubenstift des Ofens, von dem das Kind den Messingknopf zum Spielen abgenommen hatte, einen Tropfen roten Blutes hängen. Er kniete nieder und fuhr suchend mit den Händen durch das volle Haar seines Weibes; plötzlich wurden ihm die Finger feucht; er zog sie hervor. „Blut!“ schrie er und betrachtete mit Entsetzen seine Hand; dann fuhr er fort zu suchen, hastig, mit fliegendem Atem, und – nun hatte er es gefühlt, ein Stöhnen brach aus seinem Munde: da, da quoll es hervor, da war der Stift hineingedrungen; tief – er wußte nicht, wie tief. „Hanna!“ flüsterte er, indem er sich zu ihrem Ohre beugte, und noch einmal stärker: „Hanna!“ Da kam es endlich. „John!“ kam es von ihren Lippen; doch wie aus weiter Ferne. „Hanna!“ flüsterte er wieder; „bleib, o stirb nicht, Hanna! Ich hol einen Doktor; gleich, gleich bin ich wieder da!“ „Es kommt doch keiner.“ „Ja, Hanna, er soll kommen!“ Eine Hand griff tastend nach der seinen, wie um ihn zurückzuhalten. „Nein, John – kein Doktor – du bist nicht schuld – aber – sie setzen dich ins Gefängnis!“ Sie warf sich plötzlich gewaltsam herum. „Küß mich, John!“ rief sie laut wie in Todesangst; doch als er seine Lippen auf die ihren drückte, küßte er nur noch eine Tote. Scheu schlich das Kind zu ihm heran. „Ist Mutter tot?“ frug es nach einer Weile, und als der Vater nickte: „Warum weinest du denn nicht?“ Da ergriff er das erschrockene Kind mit beiden Händen und drückte es an sich. „Ich kann nicht!“ stammelte er heiser; „ich habe sie – – ermordet“, wollte er sagen, aber es wurde an die Tür geklopft. Er wandte den Kopf und sah den Nachbar Tischler eintreten. Der alte Mann hatte durch die dünnen Wände den Lärm gehört, das Mitleid mit der Frau, die

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dessen nicht mehr bedurfte, hatte ihn hergetrieben; nun sah er erschrocken auf die Tote. „Was ist das! Was habt Ihr hier?“ frug er verwirrt. John richtete sich auf und setzte die Kleine auf den Fußboden. „Es ist nur wieder ein Sarg zu machen“, sagte er tonlos, „und ich habe keine Eschenstämme mehr. Ich bin ein armer Lump, Nachbar!“ Der Alte sah ihn eine Weile schweigend durch seine runden Brillengläser an. „Ich weiß wohl“, sagte er dann, „daß du dies Weib nicht verdientest; du brauchst just nicht davon zu reden – wie ist denn das Unglück hier zu Platz gekommen?“ Und John berichtete, was geschehen war; ohne Auslaß, trocken, als sei es eines Dritten Sache; dann aber warf er sich wieder zu der Toten und betrachtete mit Scheu ihr Antlitz, das wie schlafend vor ihm lag; leise, als gelte es, ein Verbot zu übertreten, streckte seine große Hand sich aus und strich zitternd über die leblosen Züge. „Wie schön, o wie schön!“ murmelte er; „und sie werden ein glattes Brett darübernageln, wie sie es den armen Menschen tun!“ Der Alte kannte seinen Mann; er glaubte seinem Berichte: er wußte, er brauchte nicht weiter darüber zu reden; dennoch trug er ihm mehr Groll als Mitleid. „Sei ruhig, John“, sagte er fast mürrisch; „ich mache deinem Weibe ihren Sarg wie damals ihrer Mutter; wenn wieder Arbeit kommt, so magst du zahlen, wenn du es kannst!“ Da richtete der elende Mann sich auf. „Dank, Nachbar; aber gewiß, ich bezahl’s Euch, jeden Sechsling, jeden Pfennig, denn ich muß sie selbst begraben. Sonst soll mich Gott verdammen!“ Das Kind erschrak und ließ den Zipfel seines Rockes los, den es bisher gefaßt hielt. „Soll meine Frau Euch“, frug der Tischler, „die Kleine für die nächsten Tage abnehmen? Ihr habt hier niemand mehr.“ „Nein, niemand mehr“; und aus seinen Augen flog ein Blick, wie um Erbarmen flehend, zu dem Angesicht des neben ihm stehenden Kindes. „Fragt sie selbst, Nachbar!“ sagte er und ließ den Kopf auf seine Brust sinken. Aber er fühlte plötzlich die kleinen Arme zu sich emporstreben, und als er dann sein Kind emporhob, drückte er das Köpfchen fest an seine Wange; wie einen Strom von Lebensmut fühlte er es an sein Herz zurückfluten. „Nein, Nachbar“,

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sprach er, „seid bedankt! Aber mein Kind will doch nicht von mir; sie weiß, es ist nicht gut, so ganz allein zu sein.“ Dann, als der Alte fortgegangen war, brach ein Strom von Tränen aus seinen Augen. Er kniete nieder zu der Toten. „Hilf mir, mein Kind; es wird mir schwer, zu leben!“ rief er, und die Kleine sah mit großen Augen zu ihm auf. Vom Begräbnisse war John allein zurückgekommen, niemand hatte ihn begleitet; der alte Nachbar hatte der Toten ihren Sarg gemacht und war den letzten Weg mit ihr gegangen, dann war er in sein Haus zurückgekehrt. John stand in seinem Zimmer und sah sich schweigend in den leeren Wänden um; hier war nun Ruhe, aber wo war das Glück? – Auf der kleinen Schatulle standen neben anderem Geschirre die zwei Tassen mit den grob gemalten Rosen, die er vor ein paar Jahren am Hochzeitsmorgen gekauft hatte. Seine Augen streiften darüber hin, er sah noch den Herbstsonnenschein, der damals über der breiten Straße gelegen hatte; er schüttelte sich, der war ja längst vergangen. Draußen auf der Gasse war wie immer das gewerbliche Getöse, aber hier in der kleinen Kammer war es furchtbar still; auch der kattunene Vorhang dort in der Ecke hing so unbeweglich, als ob nun alles aus sei. Er konnte es nicht ertragen, er trat hinzu und zog ihn zurück; da fiel ein Mieder Hannas, das sie noch selbst dahin gehangen hatte, auf den Boden. Ein wilder Schmerz durchfuhr ihn, als er es aufhob; er taumelte auf einen Stuhl und schlug die Hände vors Gesicht. Da knarrte die nur angelehnte Kammertür; sein Töchterchen drängte sich hindurch und hielt ihm triumphierend ein Püppchen unter die Augen, ein Geschenk der Tischlerfrau, die das Kind während des Begräbnisses an sich genommen hatte. Nun aber hatte es nicht länger Ruhe gehabt; es war durch die Gärten und zur Hintertür hereingelaufen, um auch dem Vater seinen Reichtum zu zeigen. Der sah sie mit wirren Augen an; als sie aber erwartend vor ihm stehenblieb, hob er sie auf seinen Schoß und suchte sich zu fassen. „Was hast du da, Christinchen? Wer hat dir das geschenkt?“ Aber bevor noch die Antwort des Kindes kam, wurde mit einem Stecken an die Tür geklopft, und ein alter, grauhaariger Weiberkopf guckte in die Stube; der zahnlose Mund blieb offenstehen, während der Kopf mit den kleinen munteren Augen Vater und Tochter zunickte. John kannte das Gesicht: es gehörte der alten „Küster-Mariken“, einer jener sauberen Bettlerinnen, wie wir manche bei uns zu Hause haben. Sie war eine

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Schullehrertochter vom Lande, hatte in ihrer Jugend in der Stadt gedient und dort einen kleinen Handwerksmann geheiratet. Nach dessen Tode hatte sie jahrelang mit ehrlicher Arbeit sich um die Lebensnotdurft abgemüht, dann war sie früh gealtert und verarmt; nur das schwer ersparte Geld zu einem guten Leichenbegängnis trug sie unantastbar in einem Lederbeutelchen an ihrem Leibe; was sie zu ihrer Nahrung noch bedurfte, holte sie sich nun Tag für Tag bei den Leuten, wo sie einst gedient hatte, oder bei deren Kindern oder solchen, die es ihr geboten hatten. John war ihr oft auf ihren „Suppengängen“, wie sie das selber nannte, begegnet und hatte der Alten freundlich guten Weg geboten. Auch jetzt nickte er ihr freundlich zu. „So kommt doch arm zu arm!“ sagte er. „Was will Sie von mir, Mariken?“ Aber von der Alten war noch immer nur der Kopf und die Krücke ihres Steckens in dem Zimmer. „John“, sagte sie, „kannst du ein altes Weib gebrauchen? Ich möchte in eins von deinen leeren Betten kriechen!“ „Das Bettzeug ist schon verkauft, Mariken“, sagte John. „Nein, John, das Bettzeug hab ich selber, da brauchst du nicht zu sorgen!“ „Was will Sie denn mit dem leeren Bett?“ „Ei“, erwiderte die Alte, „so will ich’s nach der Ordnung sagen: du weißt doch, ich hab ein Kämmerchen bei dem Schlachter Nissen, nur sechs Fuß hin und her, doch schmuck und sauber, und jeder kann auf meine Dielen treten!“ „Nun“, unterbrach sie John, „hat der Sie jetzt hinausgeworfen?“ Die Alte war einen Schritt in die Stube getreten und drohte schmunzelnd mit der Krücke: „Beileibe nicht! Aber das alte faule Gebäu muß eingerissen werden, und in dem neuen, da passet unsereins nicht mehr hinein. So hab ich an dich gedacht, John! Sie trauen dir zwar nicht; aber ich kenn dich besser! Du gibst mir Unterschlupf; ich halte dir deine Kammer hier so schmuck wie jetzund die meine und hüte dir dein Christinchen, wenn du auf Arbeit bist.“ Sie machte mit ihren Fingern ein Häschen und nickte der Kleinen freundlich zu, die unverwandt der Alten ins Gesicht starrte. „Nur“, fügte sie hinzu, „wo ich meinen alten Kopf zur Ruhe legen kann, weiter braucht’s nicht; du weißt ja, mein bißchen Essen hol ich mir schon selber!“ John nickte: „Ja, ich weiß, Sie bettelt.“ – Und in sich selber sprach er leis und traurig: ‘Mein Weib tat dies in ihrer Kindheit auch!’ Aber die Alte rief: „Was sagst du, John?“ und stieß mit ihrem Stecken auf den Boden. „Das ist kein Betteln! Das geben mir meine früheren Herrschaften und

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ihre Freunde, das gehört sich so; ich bin ein alter Dienstbot’, den dürfen sie nicht verhungern lassen!“ John sah sinnend auf das Weib; die Kleine war von seinem Schoß herabgeglitten und hielt der Alten ihre Puppe vor. „Sieh!“ sagte sie, „die ist mein!“ und nickte zur Bestätigung ein paarmal mit ihrem hübschen Köpfchen. Küster-Mariken hatte sich an ihrem Stock herniedergleiten lassen und hockte vor dem Kinde auf dem Fußboden. „Ei der Tausend!“ sagte sie, „das ist wohl die Prinzessin Pumphia! Ja, die kenn ich; als ich so klein war wie du, ist ihre Großmutter bei mir gewesen; von der könnt ich dir Geschichten erzählen! Wenn nur dein Vater das alte Weib nicht aus dem Hause wirft!“ „Nein, du sollst bleiben!“ rief das Kind, und die Puppe wäre fast zu Fall gekommen, als sie mit ihren Händchen nach den dürren Fingern der Alten langte. John nickte seinem Kinde zu: „Willst du sie behalten, Christine, so sag ihr, daß sie morgen kommen mag!“ Und so war es abgemacht. „Das liebe Dirnlein!“ murmelte die Alte immer wieder, als sie aus dem Hause und durch die lange Straße ihrer Wohnung zu an ihrem Stecken ging. So waren nun wieder drei Bewohner in der Kate; und doch war es darin so still, daß die Buben und Pflastertreter, welche daran vorbeigingen, vergebens einen Zeitvertreib von dort erwarteten. Nur etwas Hübsches, das sie jedoch nicht zum Stillstehn brachte, gab es im Sommer bisweilen dort zu sehn. Das war ein dürftig, aber allzeit sauber gekleidetes Dirnlein, das mit einer Puppe oder einem andern Spielwerk auf der Haustürschwelle saß, wo die Sonne auf ihrem braunen Scheitel glänzte. Wenn aber von drunten aus der Stadt die Turmuhr Mittag schlug, dann legte sie hastig ihre Puppe auf die Schwelle und ging mit vorgestrecktem Köpfchen einige Häuser, so weit Alt-Mariken es ihr erlaubt hatte, in die Stadt hinab; auch wohl, bedächtig und immer das Köpfchen rückwärts drehend, ging sie wiederum nach ihrer Haustür und nahm wie gedankenlos die Puppe in die Hand; bald aber trieb es sie aufs neue auf, und endlich, mit jenem Aufschrei vollsten Kinderglückes, flog sie dem von der Arbeit zu kurzer Ruhe heimkehrenden Vater in die ausgebreiteten Arme. Dann trug er seinen kleinen Trost die paar Häuser weit nach seiner Wohnung, wo schon die Alte mit ihren munteren Augen an der Türe harrte. „Nur herein, John! Nur herein!“ rief sie; „die Kartoffeln hab ich Euch gekocht; und das Töpfchen Milch vom Nachbar Bäcker steht auch schon auf dem Tisch!“ Dann band sie eine reine Schürze vor und ging mit dem irdenen Henkeltopf auf ihren eigenen Suppengang in die Stadt hinunter.

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John aber und sein Christinchen setzten sich an den Tisch, nachdem er zuvor aus der Schatullenschublade ein derbes Schwarzbrot hervorgeholt hatte. Er schnitt zwei Stücke ab und brockte sie in die Milch, die in zwei Kümmchen verteilt wurde; zuletzt aßen sie mit etwas Salz die dampfenden Kartoffeln. Nachbar Tischlers bunte Katze kam herein und strich dem Kinde um die Beinchen; der warf Christinchen auch noch eine in Salz gestippte Kartoffel zu. Aber die Katze beroch sie nur, leckte einmal daran und begann sie dann mit ihren Pfötchen in der Kammer umherzurollen. Da lachten Vater und Tochter. „Die mag keine Kartoffeln“, sagte John; „das ist ein Leckerzahn! Schmeckt es denn dir, Christinchen?“ Und als die Kleine ihm schmausend zunickte, holte er noch einmal etwas aus der Schublade. „Nun merk auf!“ rief er. „Nun kommt der Nachtisch!“ Es war aber nur eine Messerspitze mit Butter, was er jetzt auf ihren Teller strich. „So“, sagte er, „damit iß nun deine letzte Kartoffel!“ Und des Kindes Augen leuchteten vor Vergnügen. Wenn die kleine Haustürglocke schellte und Mariken mit ihrem Topfe wieder heimkam, dann griff John nach der Mütze und ging wieder auf seine Arbeit. Als Christinchen dann eines Tages in die Küche lief, sah sie die Alte am Herde sitzen und mit besondrem Behagen aus ihrem Topfe löffeln; ein leckerer Duft schwamm ordentlich in der Küche, und nach dem mageren Mittag mochte ein begehrlicher Ausdruck deutlich genug auf dem Kinderantlitz stehen. Die Alte legte den Löffel aus der Hand. „Komm, Kind, und halte mit!“ rief sie, „das wird dir guttun!“ Aber Christine trat zurück und schüttelte das Köpfchen: „Ich hab mit Vater schon gegessen.“ „Doch nicht von Frau Senator ihrer Sonntagssuppe!“ „Ich darf nicht“, sagte das Kind leise. „Was?“ rief die Alte. „Wer hat dir das verboten?“ „Mein Vater“, kam es ebenso von den Lippen des Kindes. Wie Zornesröte flog es in das Gesicht der Alten. „So, so!“ sagte sie und stemmte die Faust mit dem Löffel auf ihr Knie. „Ja, ja, ich glaub’s: du sollst nicht mit mir von meinen Bettelsuppen essen!“ Aber sie drängte die Worte zurück, die noch über ihre Zunge wollten; das Kind durfte das nicht hören. „Komm“, sagte sie und stellte ihren Topf beiseite, „ich bin satt; wir wollen in den Garten, da find ich dir noch ein paar Stachelbeeren. Du bist ein braves Kind! Sei deinem Vater allzeit so gehorsam; da wird’s dir wohl gehn!“

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Und sie wanderten miteinander in den Garten, und so dürftig auch die Ernte ausfiel, die Alte erzählte so alles vergessen machende Geschichten von Prinzessin Pumphias Großmutter, daß der Leckerappetit der Kleinen, sie wußte nicht wie, verging. – – Das war in der Zeit, die sich so unauslöschlich dem Kinderherzen einprägte, daß dagegen alles, was vorher war, in Dämmerung versank, von der die Frau, die einstmals dieses Kind gewesen war, mir heute noch gesagt hatte, daß es in ihrer Kindheit die Rosenzeit gewesen sei. John hatte dem Nachbar Tischler Wort gehalten: der Sarg der jungen Frau war bis auf den letzten Dreier von ihm bezahlt worden; er hatte sein Weib doch selbst begraben. Das anmutige Kind, das so jählings mutterlos geworden, mit dem jetzt wohl nachmittags die Alte durch die Straßen prunkte, hatte das Mitleid der Stadt erweckt; und war auch diese Teilnahme nicht von langer Dauer, es hatte dem Vater doch zu Arbeiten verholfen, die ihm sonst nicht gekommen wären, und da es meist Verdingsarbeiten waren, so half seine geschickte Kraft ihm jetzt zu gutem Verdienst. Und eines Sonnabends – das Kind mochte jetzt schon reichlich seine fünf Jahre alt sein – , da John am Feierabend einen tüchtigen Wochenlohn vor sich auf den Tisch zählte und dann einen Teil davon zum Mietzins abschied, stand auch Alt-Mariken dabei, und auf die vielen Schillinge niederschauend, sprach sie: „Gib mir auch etwas davon!“ Als er verwundert aufsah, fügte sie schmunzelnd bei: „Du glaubst, John, ich will nun auch bei dir betteln!“ „Nein, Mariken; aber was will Sie?“ „Nur acht Schillinge, um eine Tafel und eine Fibel dafür zu kaufen!“ „Will Sie noch schreiben und lesen lernen?“ „Nein, John, das hab ich, Gott und meinem seligen Vater Dank, nicht nötig! Aber mit Christinchen ist es an der Zeit. Und das soll sie schon von dem alten Weibe lernen; ich war einst meines Vaters beste Schülerin.“ John reichte ihr, was sie verlangte. „Sie hat wohl recht, Mariken“, sagte er. – – Und so lernte Christine diese schwierigen Dinge leichter und um ein paar Jahre früher, als es armen Kindern sonst zuteil wird; und jetzt waren es andere Menschen als früher, nachdenkliche Leute, pensionierte Schullehrer, auch wohl alte Großmütter, die manchmal vor der kleinen Kate ihren Schritt hemmten und mit einem Ausdruck von zärtlichem Beifall auf das eifrige Kind dort

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auf der Haustürschwelle sahen, das, ohne umzublicken, unachtend der braunen Löckchen, die von der Stirn ihm in die Augen hingen, den Kopf über eine Fibel neigte und, alles um sich her vergessend, den kleinen Zeigefinger von einem Wort zum andern rückte, sobald das Mündlein die schwarzen Druckzeichen in den hellen Sprachlaut umgesetzt hatte. Wenn aber am Feierabend der Vater da war, wenn sie mit aller Wichtigkeit ihm erst gezeigt hatte, wie weit sie heute auf der Tafel oder im Fibelbuch gekommen sei, und wenn sie dann miteinander ihr kleines Mahl verzehrt hatten, so ging er wohl noch einmal mit ihr hinaus unter den Sternenhimmel, auf die Straßen oder, war es dort zu laut noch, in das Gärtchen und weiter in die Wege, die in das Feld hinausliefen. Dann hob er oft sein Kind auf beide Arme, und was er tags erfahren hatte oder was nur an Gedanken bei der Arbeit ihm gekommen war, was sie verstand oder nicht verstand, das flüsterte er in die kleinen Ohren; er hatte keinen andern Vertrauten, und ein ewig Schweigen soll kein Mensch ertragen können. Wohl bog das Kind bisweilen das Köpfchen zu dem seinen auf und lächelte ihm nickend zu; manchmal aber erschrak es und bat: „Nicht so! Oh, sag das nicht, mein Vater!“ Er wußte nicht, war diese Tochter ihm ein neues Glück, war sie ihm nur ein Trost für ein verlorenes; denn immer wieder nach dem toten Weibe in Reu und Sehnsucht wollte ihm das Herz zerbrechen; noch im Traum betörte ihn der Reiz des längst vergangenen Leibes, daß er, vom Schlafe auffahrend, ihren Namen durch die dunkle Kammer schrie, bis er endlich faßte, was unrettbar der Vergangenheit gehöre. Manchmal in der Nacht hatte auch das Kind nach der Mutter gerufen und die Ärmchen weinend nach ihr ausgestreckt; wenn er dann am Abend darauf sie durch die Einsamkeit der Gassen auf seinen Armen trug, erzählte er ihr, wie Süßes oft im Traume ihm geschehen, wie schrecklich sein Erwachen gewesen sei. Dann frug das Kind wohl zitternd: „War denn Mutter bei dir in der Nacht?“ „Nein, Christine; es war ja nur ein Traum.“ Und das Kind frug weiter: „War denn Mutter so schön?“ Dann drückte er sie heftig an sich: „Für mich das Schönste auf der Erde! Weißt du das nicht mehr? Du warst schon drei Jahre alt, als sie starb!“ Als er das letzte Wort gesprochen hatte, stockte ihm die Rede plötzlich; ein Frösteln rann durch seine Glieder. Konnte er so einfach von ihrem Sterben sprechen? Er wollte sein liebes Kind doch nicht betrügen. – Die Kleine aber, die eine Weile geschwiegen hatte, sagte jetzt traurig: „Mein Vater, ich weiß gar nicht mehr, wie Mutter aussah!“

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„Wir hatten nimmer Geld zu einem Bilde; wir dachten auch nicht an den Tod!“ antwortete John, und seine Stimme bebte; „aber er ist immer bei uns; streck nur den Finger aus, so kommt er schon!“ Die Kleine drückte angstvoll das Köpfchen an seine Brust. „Nein, nein“, sagte er, „so ist’s doch nicht! Du kannst schon deine beiden ganzen Händchen ausstrecken! Der liebe Gott ist doch über ihm; der hat auch versprochen, daß wir die Toten alle wiedersehen sollen; so lange mußt du warten.“ „Ja, Vater“, sagte das Kind, und der kleine Mund drückte sich auf den seinen, „aber du mußt bei mir bleiben.“ „Wie Gott will.“ – – War bei ihrer Nachhausekunft Alt-Mariken noch wach oder hatte die Haustürschelle sie wieder aufgeschreckt, dann schalt sie John, die Nacht sei nicht für Kinder; er trage sie noch in den Tod. Er aber sagte dann wohl halb für sich selber: Besser früher Tod, Als spät die Not. Da kam jener furchtbare Winter in den vierziger Jahren, wo die Vögel tot aus der Luft fielen und die Rehe erfroren im Walde zwischen den von Schnee gebeugten Bäumen lagen, wo die armen Leute mit ihrem leeren Magen, um nicht gleichfalls zu erfrieren, in ihre kargen Betten krochen, die in ungeheizten Kammern standen; denn auch die Arbeit war mit eingefroren. John hatte sein Kind auf dem Schoß; er sann wohl darüber nach, warum in solcher Zeit das Mitleid nicht den Armen Arbeit schaffe; er wußte nicht, daß es an ihm vorbeigegangen war. Die lange nicht gestutzten Haare hingen über seine eingefallenen Wangen; die Arme hielt er um sein Kind geschlungen. Der Mittag war vorüber, wie die zwei leeren irdenen Teller auswiesen, die, mit Kartoffelschale bedeckt, neben einem Salzfaß auf dem Tische standen. Ein kaltes graues Zwielicht war in der Kammer; denn das Tageslicht konnte durch die dick mit Eisblumen überzogenen Scheiben nur kaum hineindringen. „Schlaf ein wenig, Christine!“ sagte John. „Schlaf ist gut; es gibt nichts Besseres; es wird auch wieder Sommer werden!“ „Ja!“ hauchte das Kind.

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„Wart nur!“ Und er nahm ein Wollentuch, das Hanna einst getragen hatte, und bedeckte sie damit. „Das ist Mutters Tuch“, sagte er, „deine kleinen Füße sind so kalt.“ Sie ließ sich das gefallen und schmiegte sich an den Vater, der vergebens hoffte, daß der Schlaf ihr kommen werde. Er hatte die letzten drei Torf so vorsichtig in den kleinen Ofen geheizt, aber es war doch zu kalt geblieben. Da schellte die Haustürglocke, und Alt-Mariken trat nach einer Weile in die Kammer. Sie deckte ihre kleinen Augen mit der Hand, denn das graue Zwielicht da drinnen hatte sie geblendet; dann nickte sie den beiden zu. „Das glaub ich“, sagte sie, „ihr könnt euch aneinander wärmen! So gut hat’s unsereiner nicht; denn sieh, John, das Kinderkriegen hab ich nicht verstanden. Nur einmal war’s ein totes, aber das zählt ja nicht.“ John blickte nicht auf. „Da braucht Sie heute auch nur für sich allein zu frieren“, sagte er und nahm die kalten Füßchen seines Kindes in seine großen Hände. „Nun, nun“, erwiderte die Alte; „ich weiß mir schon zu helfen; sorg nicht um mich, John! Die alte Senatorn hört gar zu gern die Geschichten von Anno damals, vom Kosakenwinter; und da kann ich aushelfen, John! Die haben mir heut drei Tassen heißen Kaffee eingebracht; da kann man’s dann schon wieder aushalten, wo nur der Winter einheizt!“ Sie lachte: „Ihr beiden solltet einmal tanzen! Das hat mir früher oft geholfen; die Tanzbein’ sind mir nur abhanden gekommen.“ Da hob das Kind sein Köpfchen aus den Umhüllungen und sagte: „Vater, morgen ist doch Weihnachten; darf es hier dann nicht ein wenig wärmer sein?“ John sah nur finster auf sie hin; die Alte aber huckte sich neben ihm und der Kleinen zu Boden. „Kind, Gottes Engel!“ rief sie und streichelte mit ihrer warmen Hand Stirn und Wangen der Kleinen; dabei griff sie mit der andern in ihre Tasche und fühlte nach den Schillingen, von denen sie nicht geredet, die sie aber neben dem Kaffee von der Frau Senatorin als Festgeschenk erhalten hatte. „Ja, ja, Christinchen, sorg nur nicht! Unser Herr Christus hat dazumal auch warm in seinem Kripplein gelegen!“ John schwieg noch immer; das Wort seines Kindes war ihm wie ein Schwert durchs Herz gegangen. Aber vor seinem innern Auge stand jetzt plötzlich jener einsame Brunnen draußen auf dem Felde; er sah den Bretterzaun im Froste flimmern. Sein alter Arbeitgeber, von dem er ihn einst selbst erbeten hatte, war jahrelang tot; auch sie, um deren willen es geschah – wen kümmerte das von damals noch? Hatten die Bretter einst sein Weib geschützt, sie konnten nun sein Kind erwärmen! – Das Blut stieg ihm zu Häupten; sein Herz hämmerte heftig.

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Das hörte das Kind, dessen Kopf daran lag. „Vater“, sagte sie, „was klopft so in dir?“ „Das Gewissen!“ – Er war zusammengefahren. Niemand hatte das gesagt, und war ihm doch, als habe er es gehört, deutlich, dicht vor seinem Ohr. „Mich friert!“ sagte die Kleine wieder. Da stieg aufs neu der Brunnen vor ihm auf. „Wärme dich ein Stündchen in meinem Bette!“ sagte er hastig; „dort wirst du schlafen; ich wecke dich dann wieder.“ „Ja, ja, Christinchen“, rief die Alte, „ich setz mich zu dir; schlaf nur, Kind; die Welt ist gar zu kalt!“ John aber stürzte aus der Kammer, dem niedrigen Verschlage zu, der auf dem Hofe war; hier in der Dunkelheit, nach zugeriegelter Tür, schärfte er seine Handsäge und schliff sein Handbeil auf dem dort stehenden Schleifstein. – – In der Nacht, die diesem Tage folgte, fiel das Quecksilber in den Thermometern noch um mehrere Grade tiefer; die schneebedeckten Felder, auf welche die zitternden Sterne herabblinkten, schienen wie eine Öde, die nie ein Menschenfuß betreten. Dennoch vernahmen die Kranken oder in Sorgen Wachenden, welche in der Norderstraße ihre Schlafkammern nach den Gärten hatten, aus der Ferne die Schläge eines Beiles, die in der grenzenlosen Stille nach der Stadt hinüberschollen. Vielleicht mochte auch ihrer einer sich erheben und vom Bett aus, wiewohl vergebens, durch die flimmernden Fensterscheiben hinauszublicken suchen; aber wen kümmerte es weiter, wer draußen noch so geschäftig wach war. Als aber Alt-Mariken am Morgen spät erwachte, da sah sie von ihrem Bett aus, daß in dem Beilegerofen schon ein helles Feuer prasselte und ihre Schillinge nicht mehr nötig waren. In der Kammer stand John neben seinem Töchterlein und sah schweigend zu, wie sie behaglich sich die Kleider überzog und unterweilen mit ihren Händchen an den Ofen klatschte. „Oh“, rief sie fröhlich und zog sie rasch zurück, „er hat mich ordentlich gebrannt!“ Und allmählich schmolz der Schnee; die Sonne kam immer länger auf Besuch; die Schneeglöckchen hatten ausgeblüht, und die Veilchen zeigten dicke Knospen; Vögel und allerlei Wandergäste kamen; darunter auch, die nicht willkommen waren. John hatte eine Gartenarbeit unten in der Stadt und bog eines Spaten auf dem Nacken, aus einer Nebengasse in die breite durch diese und deren Verlängerung nach seiner Wohnung Alle seine Gedanken waren bei seinem Kinde; sie kam ihm

Abends, seinen Straße ein, um hinaufzugehen. ja immer noch

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entgegen, wenn auch nicht so ungestüm wie früher; denn auf den Herbst hatte sie schon ihr siebentes Jahr. Da schlug von rückwärts der Schall eines Fußtrittes an sein Ohr, als ob er ihn einzuholen trachte. Er stutzte. ‘Wer ging doch so?’ – Wie eine unheimliche Erinnerung überkam es ihn; aber er konnte sich nicht entsinnen; ihm war nur, als sei ihm Unheil auf den Fersen. Er sah nicht um; aber er ging jetzt rascher, denn es war ganz hell noch auf den Gassen. Doch auch das hinter ihm ging rascher; er brütete noch: wer kann das sein? – da schob ein magerer Arm sich in den seinen, und ein bleiches bartloses Gesicht mit kurzgeschorenem Schädel sah ihn aus kleinen scharfen Augen an. John erschrak bis in die Fußspitzen. „Wenzel!“ stieß er hervor. „Wo kommst du her?“ „Wo du auch einmal sechs Jahr gewesen bist, John! Ich hatte es noch einmal versucht.“ „Laß mich!“ sagte John; „ich darf nicht mit dir gesehen werden. Das Leben ist schwer genug.“ Er ging noch rascher; aber der andere blieb ihm zur Seite. „Nur die Straße hier hinauf“, sagte er. „Du trägst das Zeichen der Ehrlichkeit da auf den Schultern; das tät mir gut zu meiner Reputation!“ John stand still und trat von ihm zurück: „Du machst linksum, oder ich stoße dich hier zu Boden!“ Der schwache Züchtling mochte den Grimm des Mannes fürchten; er zog grinsend seine alte Mütze: „Auf Wiedersehn, Herr John! Du bist heut just nicht höflich gegen einen alten Kameraden!“ Er steckte die Hände in die Hosentaschen und ging nach links unter den Rathausschwibbögen zur Stadt hinaus. In furchtbarer Bewegung setzte John seinen Weg fort; ihm war, als wäre alles in ihm eingestürzt. Einige Häuser vor dem seinen kam ihm das Kind entgegen und hing sich an seinen Arm. „Du sprichst ja gar nicht, Vater? Fehlt dir was?“ sagte sie nach einigen Schritten. Er schüttelte den Kopf: „Ja, Kind; wenn nur, was einmal dagewesen, nicht immer wieder zu uns kommen wollte!“ Die Kleine sah zärtlich, voll unverstandenen Mitleids, zu ihm auf. „Kann denn der liebe Gott nicht helfen?“ sprach sie zaghaft. „Ich weiß nicht, Stine; aber wir wollen zu ihm beten!“ – – Am folgenden Tage hatte John den Gefürchteten nicht gesehen; er war auch nicht durch die Stadt, er war hinter derselben an den Gärten entlang auf seine Arbeit und wiederum nach Haus gegangen. Am Abend darauf sah er ihn

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hier auf sich zukommen; das bleiche Züchtlingsgesicht, um das jetzt ein Stoppelbart zu wachsen begann, war nicht zu verkennen. „Ei, Freund John“, rief Wenzel ihm entgegen, „ich glaub, du suchst mir auszuweichen; bist du denn noch so mürrisch?“ John blieb stehen. „Dein Gesicht macht mich nicht fröhlicher“, sagte er. „Das denn vielleicht?“ entgegnete Wenzel und zog ein paar Mark Geldes aus der Tasche. „Ich wollt mich auf eine Woche bei dir einmieten, John! Es ist nicht leicht für mich, Quartier zu kriegen!“ „Miet dich beim Teufel ein!“ sagte John. Als er aufblickte, kam aus einem Seitenwege ein Gendarm auf sie zu. John wies auf den Polizeisoldaten; aber Wenzel sagte: „Den fürcht ich nicht; meine Papiere sind in Ordnung.“ Noch bevor dieser sie erreicht hatte, zog er sein Taschenbuch hervor und übergab es ihm, der mit amtlicher Würde den Inhalt durchstudierte. Schon streckte Wenzel seine Hand aus, um seinen Schatz sich wieder auszubitten; aber der Gendarm steckte die Papiere ruhig in seine eigne Tasche. „Er hat sich auf der Polizei noch nicht gemeldet“, sagte er kurz. „Er geht mit mir!“ Und einen raschen Blick auf John werfend, ließ er den Züchtling vorangehen und folgte, die Hand am Säbelgriff. Der Bürgermeister befand sich auf dem Rathause in seinem Arbeitszimmer, als der Gendarm eintrat und den entlassenen Züchtling Wenzel meldete. Er lächelte. „Ein alter Bekannter!“ „Ich traf ihn hinten am Kuhsteig; der John Glückstadt stand bei ihm“, berichtete der Gendarm. Der Beamte sann einen Augenblick: „Ja, ja – John Glückstadt, das läßt sich denken.“ „Freilich, Herr Bürgermeister; das Zusammentreffen schien mir sehr verdächtig, hinter der Stadt und um die Vesperzeit, wo niemand dort zu kommen pflegt.“ „Wie meinen Sie das, Lorenzen?“ frug der Bürgermeister. „Dieser John Hansen ist jetzt ein reputierlicher Mensch, der sich und seine Kleine ehrlich durchzubringen sucht.“ „Sehr wohl, Herr Bürgermeister; aber sie waren vordem zusammen im Zuchthaus; es dürfte nicht ohne Bedeutung sein, daß sie auch hier gleich wiederum zusammenstehen.“

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Aber der Bürgermeister schüttelte den Kopf. Er hatte John im Winter ein kleines Darlehen gegeben und es in diesen Frühlingstagen zurückerhalten. „Nein, Lorenzen“, sprach er, „stören Sie mir den Mann nicht; den kenn ich besser: auch hat er Arbeit jetzt, die er nicht aufs Spiel setzen wird. Und nun lassen Sie den Wenzel kommen!“ „Befehlen“, sagte der Gendarm und drehte sich militärisch nach der Tür. Aber die Zurückweisung seiner so wohl ausgesonnenen Schlüsse auf John Glückstadt hatte heimlich ihn ergrimmt. Drum erzählte er noch am selben Tage Arbeitern und kleinen Handwerkern, mit denen er zusammentraf, und mit noch stärkeren Akzenten, die verdächtige Geschichte; die brachten es an die Dienstboten und diese an die Herrschaften, und so war bald die ganze Stadt voll von den gefährlichen Plänen, welche Wenzel und John Glückstadt in erneuerter Kameradschaft miteinander geschmiedet hätten; und obwohl Wenzel schon am folgenden Tage wieder entlassen und dann von Behörde zu Behörde gewiesen war und hier niemals wieder gesehen wurde, so hatte er doch für John des Teufels Spur zurückgelassen. Dieser hatte gehofft, die Arbeit in dem großen Garten drunten in der Stadt den ganzen Sommer, ja gar für künftige Jahre behalten zu können, denn der Besitzer hatte ihm wiederholt die Sauberkeit und Raschheit seiner Arbeit gelobt; jetzt aber kam die Botschaft von demselben, John brauche nicht wiederzukommen. Bei Anfragen in andern Häusern erhielt er trockenen Abschlag; mit Mühe bekam er endlich in einem nahe belegenen Dorfe eine schlechtbezahlte Feldarbeit; aber auch die ging bald zu Ende. Sein Mut sank; seines Kindes Antlitz drückte ihn noch tiefer, das Elend war schon halb in seiner Kate; nur der Kleinen wußte die kluge Alte unter immer neuen Vorwänden ein Teilchen von ihren Suppengängen zukommen zu lassen. So war das Ende des August herangekommen und ein Abend, wo für den andern Tag kein Mundvoll mehr im Hause war. Er saß am Bette seines Kindes, das schon mit dem Schlafe kämpfte, und sah starr auf das liebliche Gesichtlein; aber so still er saß, er wußte vor Angst nicht, wo er mit seinen Gedanken bleiben sollte. Da, als das Kind die Augen zu ihm aufschlug, brach es aus ihm hervor: „Christine!“, aber er stockte einen Augenblick; „Christine“, sagte er nochmals, „könntest du wohl betteln?“ „Betteln!“ Das Kind erschrak über das Wort. „Betteln, Vater?“ wiederholte sie; „wie meinst du?“ Die Kinderaugen waren plötzlich erregt auf ihn gerichtet. „Ich meine“, sagte er langsam, aber deutlich, „zu fremden Leuten gehen und sie um einen Sechsling oder noch weniger, um einen Dreiling bitten, oder um ein Stück Brot.“

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Dem Kinde stürzten die Tränen aus den Augen: „Vater, warum fragst du so? Du sagtest immer, betteln sei eine Schande!“ „Es kann auch kommen, daß Schande noch nicht das Schlimmste ist. – Nein, nein!“ rief er dann laut und riß sie heftig in seine Arme. „Weine nicht, oh, weine nicht so, mein Kind! Du sollst nicht betteln; nimmer sollet du das! Wir essen nur ein bißchen weniger!“ „Noch weniger, Vater?“ frug die Kleine zögernd. Er antwortete nicht; aber ihr war, als fühlte sie ihn schluchzen, als er seinen Kopf gegen ihren kleinen Körper barg. Da wischte sie sich die Tränen vom Gesicht; und als sie eine Weile wie grübelnd dagelegen, brachte sie ihren kleinen Mund zu seinem Ohr. „Vater!“ flüsterte sie leise. „Ja, mein Kind?“ Und er richtete sich empor. „Vater, ich glaub, ich könnte doch wohl betteln!“ „Nein, nein, Christine; denk nicht mehr daran!“ „Ja, Vater“, und sie schloß ihre Ärmchen fest um seinen Hals, „wenn du krank und hungrig wärest, dann wollte ich es doch!“ „Nun, Kind; du weißt ja, ich bin kerngesund!“ Sie blickte ihn an; er sah nicht sehr gesund aus; aber er lächelte ja doch. „So, schlaf nun!“ sagte er und löste die Ärmchen sanft von seinem Nacken und legte sie in ihr Bett zurück. Und sie tat, wie getröstet, ihre Augen zu und war bald entschlafen; nur ihres Vaters Hand behielt sie noch fest in der ihren, bis auch die kleinen Finger sich lösten und das ruhigere Atmen den festen Schlaf bekundete. Er blieb noch immer sitzen; das erste Viertel des Mondes war heraufgekommen und schimmerte trübe in die Kammer. Der Mann starrte in Verzweiflung auf sein Kind: was sollte er beginnen? Zur Sparkasse? – Aber wer würde für ihn Bürgschaft leisten? Zum Bürgermeister gehen und um ein Darlehn bitten – und das im hohen Sommer? – Im Winter hatte er es getan; er wußte genau die Zeit: die Bretter des Brunnens waren verbrannt und die Kammer wieder kalt gewesen. Der Bürgermeister hatte es ihm damals auch gegeben; aber die scharfen Augen des alten Herrn hatten ihn so seltsam angesehen. „Damit Er nicht wieder in Versuchung komme, John!“ hatte er dabei gesagt; ihm aber hatten plötzlich die Beine unterm Leib gezittert. Ob denn der Bürgermeister von jener Sache wisse oder nur Gedanken habe, frug er sich jetzt; dann fiel’s ihm auf die Brust, er war ein Züchtling, dem wird alles zugerechnet; weshalb war denn seitdem schon immer wieder keine Arbeit für ihn dagewesen? Wie

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eine drückende Wolke fühlte er den Verdacht ob seinem Haupte schweben. Das geliehene Geld zwar hatte er zurückgezahlt; aber, nein – nicht noch einmal zum Bürgermeister! – – Nebenan im Garten des Tischlers standen wohl noch ein paar Reihen Kartoffeln, sie schienen ganz vergessen zu sein – aber John biß die Zähne zusammen: er hatte durch ihn sein totes Weib begraben können. Einen Augenblick entflohen ihm die Gedanken; sie hafteten dort, wo der Ofen stand, wo ein schwacher Mondschimmer auf dem Messingknopfe schimmerte. „Hanna!“ murmelte er, „du bist schon recht gestorben!“ Wie in unausdenkbarem Elend streckte er die Hände mit ausgespreizten Fingern vor sich hin; aber die Bilder in seinem Kopfe wechselten, und die des Hungers waren doch die stärksten. Da plötzlich streckte sich ein weites Kartoffelfeld vor seinen Augen; es war draußen auf dem Felde neben dem von ihm beraubten Brunnen, der jetzt in einem hohen Ährenfeld verborgen stand. Die Kartoffeln waren noch immer nicht aufgenommen; andere Feldarbeit war im Wege gewesen. „Nur ein paar Bülte!“ murmelte er, „nur um einmal satt zu werden!“ Etwas von dem Trotz der Ausgestoßenen kam über ihn. „Es kann ja morgen wieder Arbeit kommen – wenn nicht, so muß ich’s mit dem lieben Gott versuchen!“ Er saß noch lange, noch manche Stunde, bis der Mond schon unter war und er alles schlafend glaubte; da schritt er leise aus der Kammer und aus dem Hause. Die Luft war schwül; nur mitunter fuhr ein Windstoß auf, und fast undurchdringliche Finsternis lag auf der Erde. Aber John war den Weg schon oft gegangen, und endlich, an dem Kraute, das um seine Beine schlug, fühlte er, er war auf dem Kartoffelacker. Er lief noch weiter hinein, denn ihm war, als müsse er überall gesehen werden; mitunter bückte er sich und wühlte unter den Büschen, mitunter zuckte er erschreckt zurück; aber es war nur das Gezücht, das hier gelegen hatte; ein Tausendfuß, eine Kröte waren über seine Hand geschlüpft. Das Säcklein, das er mitgenommen hatte, war halb gefüllt. Er stand und wog es in der Hand: es war genug; aber... Er hatte den Sack schon umgekehrt, um alles wieder auf den Acker auszuschütten, nur unten hielt noch seine eine Hand das Linnen zusammen. Ihm war im Kopfe, als senke eine Waage sich auf und ab; dann sprach er langsam: „Ich kann nicht, lieber Gott! Mein Kind! Es soll ans Kreuz geschlagen werden; laß mich es retten; ich bin ja nur ein Mensch!“ Er stand und horchte, als solle eine Stimme von oben aus der Nacht zu ihm herunterkommen; dann krampfte seine Hand sich um den Sack; er lief nur weiter, immer weiter; kaum fühlte er, daß jetzt hohe Ähren ihm mit ihren rauhen Köpfen ins Gesicht strichen; kein Stern zeigte ihm den Weg; er ging her und hin und kam doch nicht zum Ausgang. Ihn überfiel’s, wie er vor einem Jahrzehnt als Aufsichtsmann so sicher hier geschritten war; es konnte nicht

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weit sein, wo einst sein Weib, ein sechzehnjährig Dirnlein, ihm in die Arme stürzte! In süßem Schauder ging er vorwärts; gleichmäßig rauschten bei seinem Schritt die Ähren; ein Vogel, ein Rebhuhn oder eine Ammer, schwirrte vor ihm auf; er hörte es kaum, er schritt nur weiter, als ob er ewig so zu schreiten habe. Da zuckte fern unten am Horizont ein schwacher Schein; ein Gewitter schien heraufzukommen. Einen Augenblick stand er und besann sich: er hatte die dunkeln Wolken am Abend schon gesehen; er wußte plötzlich, wo Osten und Westen war. Nun wandte er sich und beschleunigte seine Schritte; er wollte rasch nach Haus, zu seinem Kinde. Da war etwas vor seinen Füßen, er kam ins Straucheln, und eh er sich besonnen, tat er einen neuen Schritt; aber sein Fuß fand keinen Boden – – ein gellender Schrei fuhr durch die Finsternis; dann war’s, als ob die Erde ihn verschluckt habe. Ein paar Vögel schreckten in die Luft, dann war alles still; kein Menschenschritt war jetzt noch in dem Korn. Eintönig säuselten die Ähren, und kaum hörbar nagten die Millionen Geziefers an den Wurzeln oder Schaften der Pflanzen, bis die immer drückendere Schwüle in einem starken Wetter sich entlud und in den hallenden Donnern und dem niederstürzenden Regen alle andern Geräusche der Erde verschwanden. In der Kate am Ende der Norderstraße fuhr um diese Zeit ein armes Kind aus seinem Schlafe auf; ihm träumte, es habe ein Brot gefunden, aber es hatte in einen Stein gebissen. Halb im Traum noch griff es in das große Wandbett nach der Hand seines Vaters, doch es erfaßte nur den Zipfel des Kopfkissens und schlief dann ruhig weiter. – – John Glückstadt ist niemals wieder nach Haus und nie zu seinem Kinde zurückgekommen; alle Anstalten der Polizei, eine Spur von ihm zu finden, waren vergebens. Sein Verschwinden wurde einige Tage in der kleinen Stadt besprochen; die einen meinten, er sei entflohen, um nachher mit seinem Kameraden Wenzel zusammenzutreffen und mit ihm übers Meer zu fahren, wo es den Spitzbuben gut zu gehen pflege; das Geld zur Überfahrt würden sie unterwegs nach Hamburg sich schon zu schaffen wissen, und das kleine Dings sei ja in guter Hut bei Küster-Mariken; die andern meinten, am Deich da draußen in der Schleusengrube, neben welcher er und Wenzel ihr Schelmstück einst beraten hätten, habe er den Tod gesucht, und die Ebbe habe ihn ins Meer hinausgetrieben. Diese Meinungen wurden in einer Tischgesellschaft gegeneinander abgewogen. „Nun, und Sie, Herr Bürgermeister“, sagte zu diesem die alte Schwägerin

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des einstigen Zichorienfabrikanten, die er zu Tische geführt hatte, „was meinen Sie dazu?“ Der Bürgermeister, der bisher kein Wort dazu geredet hatte, nahm erst bedächtig eine Prise. „Hm“, sagte er, „was soll ich meinen? – Nachdem dieser John von Rechtes wegen seine Strafe abgebüßt hatte, wurde er, wie gebräuchlich, der lieben Mitwelt zur Hetzjagd überlassen. Und sie hat ihn nun auch zu Tode gehetzt; denn sie ist ohn Erbarmen. Was ist davon zu sagen? Wenn ich was meinen soll, so sollet ihr ihn jetzt in Ruhe lassen, denn er gehört nun einem andern Richter.“ „Wahrhaftig“, sagte die Alte ganz erstaunt, „Sie haben noch immer Ihre sonderbaren Meinungen von diesem John Glückstadt!“ „John Hansen“, berichtigte der Bürgermeister ernsthaft. – – – Mir kam allmählich das Bewußtsein, daß ich weit von meiner Vaterstadt im Oberförsterhause an dem offenen Fenster stehe; der Mond schien von drüben über dem Walde auf das Haus, und aus den Wiesen hörte ich wieder das Schnarren des Wachtelkönigs. Ich zog meine Uhr: es war nach eins! Das Licht auf dem Tische war tief herabgebrannt. In halbvisionärem Zustande – seit meiner Jugend haftete dergleichen an mir – hatte ich ein Menschenleben an mir vorübergehen sehen, dessen Ende, als es derzeit eintrat, auch mir ein Rätsel geblieben war. Jetzt kannte ich es plötzlich; deutlich sah ich die zusammengekauerte Totengestalt des Unglücklichen in der unheimlichen Tiefe. Nachdem ich heute den Namen meiner Wirtin erfahren hatte, wußte ich jetzt auch: noch einmal aus der düsteren Gruft hatte seine lebendige Stimme ein lebendig Menschenohr erreicht; aber es war nur das eines vierzehnjährigen Knaben. Am Abend nach dem Verschwinden des Armen, da ich bei einer befreundeten Familie eingetreten war, kam der Sohn mit seinem Schmetterlingsketscher schreckensbleich ins Zimmer. „Es hat gespukt!“ rief er und sah sich um, als ob er auch hier noch nicht ganz sicher sei; „lacht nur nicht, ich hab es selbst gehört!“ – Zwischen den Kartoffeln auf dem Acker neben dem Schinderbrunnen war er gewesen, um sich den Totenkopf zu fangen, der in der Dämmerung dort fliegen sollte; da hatte es unweit von ihm aus dem Kornfeld seinen Namen „Christian!“ gerufen, hohl und heiser, wie er solche Stimme nie gehört; und da er entsetzt davongelaufen, sei es noch einmal hinter ihm hergekommen, als ob’s ihn habe greifen wollen. Ich wußte jetzt, nach über dreißig Jahren: es hatte nicht gespukt, und nicht „Christian“ hatte er es rufen hören; den Namen seiner Tochter „Christine“ hatte der Mann da drunten in hoffnungsloser Sehnsucht ausgestoßen. Und noch

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eines wußte ich: ein Arbeiter, mein alter Freund aus der Kinderzeit, hatte einige Tage später draußen an dem Brunnen das Korn mähen helfen. „Da hätten wir bald einen Falken fangen können!“ erzählte er mir eines Abends. „Einen großen?“ frug ich. „Das mag der Herr glauben! Er war ein Stück in den alten Schinderbrunnen hinabgestoßen – der Himmel weiß, was drunten liegt – , aber seine Fluchten waren zu weit in der Spanne, er schlug und arbeitete damit in dem engen Brunnen und kam nicht gleich heraus. Wir hatten nur keine Knüppel, ihn zu schlagen; auch wehte ein übler Dunst uns an; es war, als hätte schon vordem die Kreatur an Aas gesessen!“ Ich hatte damals dieser Rede nicht geachtet; mich schauderte, da mich die Erinnerung jetzt befiel; der feuchte Nachtwind, der mich anwehte, tat mir wohl, vor allem, weil er von heut und nicht von damals war; ich wußte, der Brunnen war vor ein paar Jahren zugeschüttet. „Zu Bett!“ sprach ich halblaut zu mir „und, Seele, geh du auch zu Bett!“ Ich löschte das Licht und ließ das Fenster offen, damit alles, was lebendig war, zu mir herein könne; und bälder, als ich gedacht hatte, kam der Schlaf; nur mit einem freundlichen Bilde spielte noch der Traum: ich sah die von der Morgensonne nur noch halb erleuchteten Straßen meiner Vaterstadt; ich hörte einen Wagen heranrasseln, und zwischen zwei lieben alten Leuten auf dem offenen Sitze saß die kleine Christine, und sie nickte mir freundlich zu, als sie bei mir vorbei und über dem Zingel zur Stadt hinausfuhren. Der alten Mariken dachte ich nicht weiter; ich wußte, daß sie vor langen Jahren in St. Jürgens Stift ein ruhiges Sterbekissen gefunden hatte. – – Als ich spät am andern Morgen in das Haus hinunterkam, erhob sich der Lohbraune von der Matte vor der Tür des Wohnzimmers und begrüßte mich wedelnd als einen Gast des Hauses; als ich aber eintrat, war niemand drinnen; nur die Magd öffnete eine Seitentür, guckte herein, als ob sie bestellt sei, meine Ankunft zu berichten, und lief dann rasch von dannen. Ich beschäftigte mich indes damit, die Bilder an den Wänden zu beschauen, aus denen deutlich zwei Generationen zu erkennen waren: auf der einen Jagd- und Tierstücke von Steffeck und dem alten Ridinger; über dem Sofa dagegen fand ich eine Kreuzesabnahme von Rubens und je zur Seite die Bildnisse von Luther und Melanchthon. Am Sofa, auf dem lichtlosen Wandstücke am Fenster, hing, wie im Schatten der Vergangenheit, eine halberloschene Photographie; aber ein Kranz von Immortellen, wie Johns Tochter sie gestern auf unserem Waldgang gepflückt hatte, wohl gar derselbe, umgab den dunkeln Rahmen.

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Mit Scheu fast trat ich näher: es war das Bildnis eines Soldaten in Uniform, wie dergleichen die jungen Landleute während ihrer Dienstzeit anfertigen lassen und nach Hause schicken. Der Kopf war leidlich ausgeprägt erhalten und zeigte mir das kaum mehr als einmal gesehene, aber unvergessene Antlitz des Arbeiters John Glückstadt; nur war in diesen Zügen noch nichts von Kummer oder Schuld; der kleine dunkle Schnurrbart saß unter der kecken Adlernase, und die Augen sahen ernst, doch sicher in die Welt hinaus. Es war John Glückstadt nicht; es war John Hansen, wie er im Herzen seiner Tochter fortlebte, für den sie gestern ihren frischen dauerhaften Kranz gepflückt hatte; mit diesem John hatte der doppelgängerische Schatten noch nichts zu schaffen. Es brannte mich, meiner edlen Wirtin zuzurufen: ‘Laß das Gespenst in deinem Haupte fahren; der Spuk und dein geliebter Vater, sie sind nur eines: er war ein Mensch, er irrte, und er hat gelitten!’ Aber ich hörte die Stimmen meiner Wirtsleute von hinten durch die Gartentüre ins Haus kommen, und ich wandte mich von dem bekränzten Bilde ihnen entgegen, um ihren Morgengruß und ihre Scherze über meine Langschläferei in Empfang zu nehmen. – Wir lebten noch einen schönen Frühlingstag zusammen. Als ich aber spätabends mit dem Oberförster und seinem treuen Hunde noch einen Waldgang machte, da schwieg ich nicht länger; ich erzählte ihm alles, jedes einzelne, was in der vergangenen Nacht mir in Erinnerung und im eigenen Geiste aufgegangen war. „Hm“, machte der besonnene Mann und ließ seine Augen treuherzig auf mir ruhen; „das ist aber Poesie; Sie sind am Ende nicht bloß ein Advokat!“ Ich schüttelte den Kopf: „Nennen Sie es immer Poesie; Sie könnten es auch Liebe oder Anteil nennen, die ich rasch an meinen Wirten genommen hätte.“ Es war zu dunkel, um zu sehen; aber mir war, als ob ein herzlicher Blick von ihm mich streifte. „Ich danke Ihnen, lieber Freund“, sagte er dann; „aber der Vater meiner Frau – ich hatte freilich nur weniges von ihm gehört – ist mir nimmer so erschienen.“ „Und wie denn anders?“ frug ich. Er antwortete nicht mehr, sinnend gingen wir nebeneinander, bis wir das Haus erreicht hatten. „Ihr seid sehr langsam gegangen“, sagte Frau Christine, als sie uns entgegentrat; „ihr habt mich schier vergessen!“ – – Als ich am andern Morgen fortging, begleiteten mich beide, bis wo der Waldweg in die Landstraße ausläuft. „Wir schreiben Ihnen einmal!“ sagte der

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Oberförster. „Ich bin sonst kein Briefsteller; aber gewiß, ich tu’s; wir müssen Sie festzuhalten suchen, damit Sie einmal wieder den Weg zu uns hinaus finden!“ „Ja, kommen Sie wieder!“ rief Frau Christine. „Versprechen Sie es; Ihr Abschied würde uns nicht so traurig machen!“ Ich versprach es gern; dann reichten beide mir die Hand, und ich stand und sah sie fortgehen; sie hatte sich fest an ihren Mann geschlossen; er legte sanft den Arm um ihre Hüfte. Dann kam eine Biegung des Weges, und ich sah sie nicht mehr. „Leb wohl, John Glückstadts Tochter!“ rief ich leise; „nur die erste Silbe, nur das Glück ist dein geblieben; es wird schon treu sein, denn es ist an rechter Stelle!“ – – Schon nach vierzehn Tagen kam der erste Brief des Oberförsters und ließ mich im Aktenlesen eine lange Pause machen. „Ich muß Sie auch noch Ihres Versprechens entbinden“, schrieb er; „gleich am Abend unseres Abschieds habe ich meiner Christine die Geschichte ihres Vaters erzählt, ausführlich, wie ich sie von Ihnen hörte. Sie mögen recht haben, er wird wohl so gewesen sein, und er war dann doch noch ein anderer Kerl, als wie er bisher weichselig im Herzen seiner Tochter ruhte; auch dürfen Mann und Weib nicht solch Geheimnis voreinander haben. Zwar ein leidenschaftlicher Tränensturz war die erste Folge, so daß ich schier erschrak und dachte, es möchte das Temperament des Vaters in meiner sanften Frau erwacht sein. Aber ihr eigenstes Ich erschien bald wieder; und jetzt – mein Freund, das Geißblatt am Waldesrande, das jetzt wieder blüht, so lieblich, dünkt mich, hat es fast niemals noch geduftet; und das Bild des John Glückstadt trägt nun einen vollen Rosenkranz; seine Tochter hat jetzt mehr an ihm; nicht nur den Vater, sondern einen ganzen Menschen. – Den Dank und Gruß, den Frau Christine mit für Sie aufgetragen, versteh ich in der frauenhaften Weise nicht zu Papier zu bringen; ich kann Sie nur bitten, sich das Herzlichste zu denken.“ So schrieb der Oberförster damals; aber, wie es so geht, obgleich Briefe ein paarmal in jedem Jahre zwischen uns hin- und hergegangen sind, ich bin nicht wieder dort gewesen. Aber hier links in der Ecke meiner Schreibstube auf zwei Stühlen steht jetzt mein gepackter Reisekoffer; draußen an den Wallzäunen blüht einmal wieder das Geißblatt, und hier drinnen ist für eine Woche alles sauber weggeordnet; denn gewiß und wahrhaftig – morgen geht es fort zu meinen Freunden, zu John Glückstadts Tochter und zu meinem wackern Oberförster. Sein Brief, der die Antwort auf meine Anmeldung brachte, war ein rechter Jubelbrief. „Wir harren Ihrer mit Freuden“, schrieb er; „Sie kom-

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men just zur rechten Zeit; der Junge ist auch da mit seinem Examenszeugnis in der Tasche; seine Mutter ist schier verliebt in ihn und studiert sein Antlitz, um darin immer einen neuen Zug aus dem ihres Vaters aufzufinden. Kommen Sie also; uns fehlt nur noch der Freund!“ – – Gewiß, wenn Gottes Sonnenschein mich morgen weckt, ich komme!

Anhang

Walter Zimorski

Textstellenerklärungen zu Theodor Storms Novelle „Ein Doppelgänger“ Die detaillierten Wort- und Sacherklärungen des Textstellenkommentars möchten vor allem die sprachliche Historizität der „Doppelgänger“-Novelle überbrücken, insbesondere alte, ungebräuchliche und auf Norddeutschland begrenzte Sprachformen kommentieren sowie literaturwissenschaftliche und (sozial-) historische Grundlagen-Informationen für ein adäquates Textverständnis bieten. (Widmung) „Meiner lieben Tochter Gertrud gewidmet.“: Theodor Storm hat die Novelle Ein Doppelgänger (1886) der jüngsten Tochter Gertrud aus der ersten Ehe mit Constanze für ihre hilfreiche Mitarbeit während der Hademarschener Zeit (1880 bis 1888) dankbar gewidmet, die seine frühe Biografin wurde. (3) In Jena, wie einst Dr. Martinus: Auf seiner Rückkehr von der Wartburg nach Wittenberg war Dr. theol. Martin Luther am 3./4. März 1522 im 1498 gegründeten Gasthof „Zum Schwarzen Baeren“ inkognito abgestiegen, wo er übrigens auch in den Jahren 1524, 1529, 1530 und 1537 logiert hat. (3) Besteigung des Fuchsturms: 23 Meter hoher Bergfried auf dem südöstlich von Jena gelegenen Hausberg. (3) Ingelheimer: Weinmarke aus dem Weinanbaugebiet bei Ingelheim in Rheinhessen. (3) pickte: Im zeitgenössischen Sprachgebrauch wurden die Zeitwörter „picken“ und „ticken“ noch synonym verwendet. (4) „Befiehl du deine Wege“: Biblischer Gesang unter dem Tenor ‘Angst und Vertrauen’ des Kirchenliederdichters Paul Gerhardt von 1653 nach Psalm 37: „Befiehl dem Herrn deine Wege / und hoffe auf ihn, er wird’s wohl machen.“ Paul Gerhardt (geboren 1607 in Gräfenhainichen in Sachsen), 1651 Propst in Mittenwalde (Mark Brandenburg), 1657 Pfarrer an St. Nikolai in Berlin; 1667 seines Amtes enthoben, nachdem er das Toleranzedikt des reformierten Kur-

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fürsten von Brandenburg abgelehnt hatte; 1669 Diakon in Lübben, wo er 1676 starb. (4) Uhland: Ludwig Uhland (26.4.1787–13.11.1862 in Tübingen): Lyriker der „Schwäbischen Schule“: Gedichte (1815); 1819–1829 Tübinger Abgeordneter der Württembergischen Ständekammer; Professur für altdeutsche Literatur an der Universität Tübingen; Geschichte der altdeutschen Poesie (1831); 1832– 1838 Mitglied des Württembergischen Landtags als Vertreter Stuttgarts; 1848– 1849 Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung. – Storm hat die „frühlingsklare Lyrik“ Uhlands geschätzt und 22 Gedichte Uhlands in seine LyrikAnthologie Hausbuch aus deutschen Dichtern seit Claudius (Hamburg 1872) aufgenommen. – Gd 4, 527, 489, 538; – Hartmut Vinçon: Theodor Storm in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, S. 20 f., 162, Anm. 32. (4) Geißblatt: Das Geißblatt wurde schon in der Bilderwelt der deutschen Literatur des Barock als Symbol für ‘eheliche Liebe’ dargestellt, die sich besonders an der Liebesdichtung Petrarcas orientierte. „Aber mir lag die plötzliche Erregung des alten Herrn im Sinne: „Hat das Geißblatt auch in späteren Jahren wieder so geduftet?“ frug ich leise.“ Mit diesem Gespräch korrespondiert der erste Brief des Försters als intentionales Kommunikationsmedium freundschaftlicher Kontaktpflege, der den Husumer Juristen insbesondere an das Geißblatt erinnert: „und jetzt – mein Freund, das Geißblatt am Waldesrande, das jetzt wieder blüht, so lieblich, dünkt mich, hat es fast niemals noch geduftet“ (51) Das Wilde Geißblatt am Waldesrand: Das Wilde Geißblatt (Lonicera periclymenum) gehört zur strauchigen Gattung der Geißblattgewächse mit röhrigfünfzipfligen Blättern, oft zweilippigen Blüten und einer ungenießbaren, korallenroten Beerenfrucht. Die von links unten nach rechts oben windenden Stengel der Schlingsträucher umschlingen dünnere Bäume, herabhängende Äste und Zweige bis zu fünf Meter spiralig hinauf. Durch die enge Verschlingung wird der gleichmäßige Zuwach der Jahresringe der Bäume gestört, so dass die Geißblattlianen, die etwa fünfzig Jahre alt werden können, tiefe spiralige Schnürfurchen im Baumstamm hinterlassen. Die Verbreitung des Wilden Geißblattes ist auf West- und Mitteleuropa begrenzt. Bevorzugt wächst das Wilde Geißblatt auf fruchtbarem Boden in lichten Laubholzbeständen und Gebüschen, meist an Waldrändern. Die gegenständigen, ganzrandigen, ovalen Blätter sind beim Wilden Geißblatt stets getrennt und nie paarweise zusammengewachsen wie die unterhalb der Blüten stehenden Hochblätter des Echten Geißblattes (Lonicera caprifolium).

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Wie bei allen Geißblattgewächsen sind die Blüten in Kelch, Krone und Staubblätter fünfzählig. Vier Zipfel der gelbweißen, manchmal purpurn überlaufenen Krone sind nach oben aufgebogen, doch einer ist nach unten gerichtet. Fünf lange, herausragende Staubfäden und der wenig längere Griffel füllen die fast 3 cm lange Kronröhre aus, deren Schlund so viel Honig absondert, dass die Kronröhre oft bis zur Hälfte angefüllt wird. Die köpfchenartig in Büscheln angeordneten Blüten bilden einen kugelig gehäuften Blütenbestand während der Blütezeit von Ende Juni bis August. In der Dämmerung des Abends leuchten die Geißblattblüten und verströmen einen süßen, lockenden Duft. Ohne sich auf der Blüte niederzulassen, im Fluge schwebend, führen Nachtfalter ihren langen Rüssel in die Blütenkrone ein, um aus dem Schlund der tiefen Kronröhre den Honig zu saugen. Nur Nachtschmetterlinge mit ihrem langen Rüssel können den tief geborgenen Honig erreichen, denn nur während ihrer Blütezeit öffnen sich die süßen Duft verströmenden Geißblattblüten in drei bis vier aufeinander folgenden Nächten. Im Herbst wachsen am Geißblattstrauch korallenrote, glänzende, kugelig zusammenstehende Beeren, die von einem einfächerigen Kelchsaum umwachsen sind. Der Stamm des Wilden Geißblattes kann bis zu 10 m hoch wachsen. Basisinformationen: Hans-Heinrich Fickler, Karl Eberhard Haller: Waldbäume, Sträucher und Zwergholzgewächse. Heidelberg: Carl Winter 1955, S. 227; Tafel 90. – Walter Nölder: Aus Wald und Flur. Pflanzen unserer Heimat. Hamburg 1937, S. 34–35; Abb. S. 35. (4) Trappe: Als Zugvögel sind Trappen (lat. Otis tarda) in Süd- und Mitteleuropa verbreitet; ihre Brutgebiete konnten auch in Thüringen und Schlesien beobachtet werden und liegen vor allem in den Steppengebieten der Slowakei, wo großflächige Nistplätze zu finden sind. Trappen kennzeichnet ein schneller und leichter Gang; auch ihr Flug, den sie durch einen fördernden Absprung einleiten, ist auffallend leicht und schnell; die Spannweite der Flügel beträgt etwa 95 cm. Die auf den weiten Brutfeldern von den bis zu 100 cm langen Trappenhähnen umkämpften Hennen werden etwa 80 cm lang. Das aus drei bis fünf, meist braun, blaugrün gefleckten Eiern bestehende Gelege wird von der Henne in einer in den Erdboden gescharrten, mit Blättern und Stengeln ausgelegten Bodenmulde untergebracht und während der Brutzeit von April bis Oktober von ihr allein etwa 30 Tage lang ausgebrütet. Trappen nähren sich von Insekten, kleineren Wirbeltieren, auch von Samen und Pflanzenteilen. Basisinformationen: Hans von der Nordmark/Ludwig Zukowsky: Deutschlands Vogelwelt. Altona-Bahrenfeld 1936, S. 107 (Abb.). – J. Felix, J. Toman,

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K. Hisek: Der Große Naturführer. Unsere Tier- und Plfanzenwelt. Stuttgart 1984, S. 376 (Abb., S. 377). (4) Lied: Jägers Lust (1822) des Lyrikers Wilhelm Müller (1794–1827). – In seine Lyrik-Anthologie Hausbuch aus deutschen Dichtern seit Claudius (Hamburg 1872) hat Storm acht Gedichte von Wilhelm Müller aufgenommen. – In der letzten Strophe seines Gedichts Vom Harze (1844) zitiert Ferdinand Freiligrath ironisch dieses Gedicht von Wilhelm Müller: „Es lebe, was auf Erden / Stolziert in grüner Tracht / Die Wälder und die Felder / Der Jäger und die Jagd.“ (4) Freiligrath: Ferdinand Freiligrath (17.6.1810–18.3.1876): Lyriker des Vormärz: Gedichte (1838). 1842 verlieh ihm der preußische König Friedrich Wilhelm IV. ein Ehrengehalt. In freundschaftlicher Verbindung mit Friedrich Engels und Karl Marx und ihrer Zusammenarbeit an der „Neuen Rheinischen Zeitung“ publizierte er eine (von H. Heine als „Tendenzpoesie“ kritisierte) politisch und sozial engagierte Lyrik: Ein Glaubensbekenntnis (1844). Der im Schweizer Exil 1845–1846 entstandene Lyrik-Zyklus thematisiert seine Überzeugung von der Notwendigkeit einer proletarischen Revolution. Im Revolutionsjahr 1848 kehrte Freiligrath von London nach Deutschland zurück und publizierte 1849 die Sammlung Neuere politische und soziale Gedichte (Bd. 2, 1851). Wegen seines Gedichts „Die Toten an die Lebenden“ 1851 verhaftet, jedoch freigesprochen, flüchtete er vor erneuter politischer Verfolgung nach seiner Freilassung wieder nach England; 1868 nach Deutschland zurückgekehrt, übersetzte Freiligrath Victor Hugo und englische Lyrik, verfaßte 1870 aber auch vaterländische Kriegslieder. (4) Ruhla: Stadt im nordwestlichen Thüringer Wald, die im Bezirk Erfurt bei Eisenach liegt, dem Standort einer Forstakademie. (4) Hühnerhund: Dressierter Jagdhund, der vor allem auf der Jagd von Rebhühnern als „Vorstehhund“ gebraucht wird. (5) die Art Ihres Sprechens: Über Theodor Storms niederdeutsche Mundart informieren die Erinnerungen des Literaturhistorikers Erich Schmidt nach der Begegnung mit Storm in Würzburg im Februar und März 1877: „Sanfte Stimme, langsame Sprache. Scharfe schleswigsche s (‘so sanft’)“. – Theodor Storm – Erich Schmidt. Briefwechsel. Kritische Ausgabe. Herausgegeben von K.E. Laage. Berlin 1972, Bd. I, S. 15–19. – K.E. Laage: Theodor Storm. Leben und Werk. Husum 1979, S. 49, 68–70, bes. S. 69 f. (5) Jungfername: Geburtsname einer (nicht verheirateten) Frau.

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(6) Gebäu: Derivat in niederdeutscher Mundart von Gebäude. (7) nur unseres Herrgotts Krippenfresser: Aufgrund des ihm anscheinend vorliegenden Manuskripts berichtet Karl Emil Franzos über mehrere Varianten dieser Textpassage: K.E. Franzos: Zur Erinnerung an Theodor Storm. In: Deutsche Dichtung, Bd. 5, 1. Oktober 1888, S. 90–95, bes. S. 93–94: „Sie kann es nicht lassen“, sagt der Oberförster von seiner Frau, „den allzeit Hungrigen Brosamen auszustreuen, sei es nun der Bub oder seien es nur unseres Herrgotts Krippenfresser!“ Statt der letzten drei Worte stand im Manuskript ursprünglich „die Sperlinge“, dann „die Spatzen“, dann „Spatz und Taube“, endlich die obige Wendung.“ (7) Hauptschläge: In der Terminologie der Berufsgruppensprache der Förster bezeichnen Hauptschläge ausgedehnte Waldflächen, auf denen Baumbestände gefällt und junge Bäume angepflanzt wurden. (8) Weiser: Im Norddeutschen eine zeitgenössische Umnennung und Ersetzung von Uhrzeiger. (9) In die Fremde mußten: Biografisch-historische Allusion auf das problematische Jahr 1852, als Theodor Storm mit seiner Familie in der „Fremde“, in der Emigration im preußischen Potsdam als Gerichtsassessor (1853–1856) und im preußischen Staatsdienst als Amtsrichter am Kreisgericht im thüringischen Heiligenstadt auf dem Eichsfeld (1856–1864) arbeitete und lebte. (9) Kate: Niedriges, gemietetes Wohnhaus eines Kleinbauern. Mietwohnung des Arbeiters John Hansen am Stadtrand. (10) Kirchenbuch: Seit dem 16. Jahrhundert von Pfarrämtern beider Kirchen geführte Personenregister, in denen Taufen, Konfirmationen, Firmungen, Trauungen und Todesfälle eingetragen wurden. (11) Immortellen: (lat.-franz. immortel, unsterblich). Für Sträuße und Kränze geeignete Strohblumen. (11) die Schuhe überwaten: Zeitgenössischer niederdeutscher Sprachgebrauch: Wasser in die Schuhe und dadurch nasse Füße bekommen. (12) Übernamen: Wegen seiner sechsjährigen Strafverbüßung im Zuchthaus in Glückstadt am nördlichen Ufer der Elbe wird John Hansen durch den „Übernamen“ John Glückstadt umbenannt; diese diffamierende Umnennung und Ersetzung des Eigennamens erfolgt durch den Ortsnamen, mit dem der Namensträger in (zufälligem) Bezug gebracht wird. – Diese Antomasie erweist sich polemische Variante der Synekdoche. (Adolf Bach: Deutsche Namenskunde. Die deutschen Personennamen. Heidelberg 1952–1956, Bd. I/1,

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§§ 250–257, S. 284 ff., bes. § 251, Abs. 3, S. 286). – Glückstadt wurde 1616 durch König Christian IV. von Dänemark als Festungs- und Hafenstadt angelegt und bereits 1649 Sitz der dänischen Verwaltung. Seit 1866 gehörte Glückstadt zum preußischen Staatsgebiet. – Als Landvogt und Amtsrichter im preußischen Staatsdienst war Storm verpflichtet, rechtskräftig verurteilte Straftäter in das „Zucht-, Werk- und Tollhaus“ in Glückstadt, dem regionalen Zentrum der Strafanstalten, zur Strafverbüßung einzuweisen. (12) seine Maus ist ihm aus dem Mund gesprungen: Nach altem mythischen Volksaberglauben verläßt die Seele den Körper eines Schlafenden in der Gestalt einer Maus. „Wird ihr die Rückkehr irgendwie unmöglich gemacht, so bedeutet dies den Tod des Menschen.“ (Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Herausgegeben von Hanns Bächtold-Stäubli unter Mitwirkung von Eduard Hoffmann-Krayer. 1927–1942. Nachdruckausgabe mit einem Vorwort von Christoph Daxelmüller. Berlin: de Gruyter 1986, Bd. 6, Spalte 41: Maus. – Heinz-Peter Niewerth: Theodor Storm. In: Karl Konrad Polheim (Hrsg.): Handbuch der deutschen Erzählung. Düsseldorf 1981, S. 318: „Die ‘Maus, die aus dem Mund gesprungen ist’, hat bei ihrer Rückkehr ein neues Verständnis vom Leben des John Hansen mitgebracht, das sich symbolisch in der Wandlung des Blumenschmuckes zeigt: Statt des Immortellenkranzes [...] ziert bald ein Kranz von Rosen die Photographie.“). (13) Wachtelkönig: Der Wachtelkönig in Risch und Rohr: Der Wachtelkönig (Crex crex) ist ein in Europa verbreiteter Rallenvogel. Im Spätherbst zieht der Brut- und Zugvogel aus Europa nach Nord- und Südafrika und kehrt Ende April, Anfang Mai nach Europa zurück. Als Lebensraum bevorzugt er dicht bewachsene, feuchte Wiesen, die er nach der Mahd verlässt, um gewöhnlich in angrenzende Felder überzuwechseln. Den Wachtelkönig kennzeichnet sein schwarzbraunes Gefieder auf der Rückseite und seine braunen Flügel. Seine Körperlänge beträgt etwa 27 cm, die Spannweite der Flügel etwa 43 cm. Sehr scheu, ist er wegen seines schnarrenden, lauten Rufs öfter zu hören als zu sehen und wird wegen seiner gutturalen Kehllaute auch als Wiesenschnarrer bezeichnet. Das ausgescharrte Nest liegt unauffällig auf dichtem Wiesengelände; in diese Mulde legt das Weibchen meist gelbweiße, mit violettgrauen Flecken und mit rotbraunen Punkten gesprenkelte Eier (Größe: 3525 mm), die es während der Brutzeit im Juni in etwa drei Wochen allein ausbrütet. Die jungen Nestflüchter tarnt ein schwarzer Wollflaum. Die Nahrung des Rallenvogels besteht vor allem aus Insekten, Würmern, kleinen Schnecken; er nährt sich auch von verschiedenen Samen und Trieben.

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Basisinformationen: J. Felix, J. Toman, K. Hisek: Der Große Naturführer. Unsere Tier- und Pflanzenwelt. Stuttgart: Franckh’sche Verlagshandlung, 7. Auflage, 1984, S. 376. (13) bei einer guten Flasche alten Hardtweins: Wein aus dem Hardtgebirge in der Pfalz. (13) „Selbst unser Gastfreund hat sich ausgebaut!“: Allusion auf Theodor Storms Übersiedlung mit seiner Familie von seinem Geburtsort Husum nach Hademarschen in das neu gebaute, „große steinerne Haus“, Storms Villa, im April 1881. (14) Plankwerk: (nd. Plank) Brett; Abdeckung aus Brettern; ein Holzverschlag zur Absicherung vor Unfällen. (14) Schinderkate: Niedriges Wohnhaus eines Schinders, Abdeckers, Scharfrichters, deren Berufsarbeit damals als unsauber und ansteckend galt; wegen ihrer als „unehrlich“ verachteten Arbeiten sozial deklassiert, mussten sie außerhalb des Stadtgebietes wohnen. – Von „unehrlichen Leuten“ erzählt Storm in der kulturhistorischen Skizze Wie den alten Husumern der Teufel und der Henker zu schaffen gemacht (1871). – (mhd.) schinten; schinden: enthäuten; bis auf die Haut berauben; ausplündern; bis aufs Blut peinigen, misshandeln. – (mhd.) schinder: Schlächter; Abdecker; (Straßen-) Räuber. (14) Hauslauch: Dachwurz (lat. Sempervivum – Gattung der Dickblattgewächse) wächst auf (flachen) Dächern und galt früher als Schutzmittel gegen Unwetter (z.B. als sogenanntes „Donnerkraut“ gegen Blitzschlag); Dachwurz wurde auch als Arzneimittel (z.B. zur Behandlung von Brandwunden) verwendet. (14) Liliputer-Hause: Lilliput heißt das sagenhafte Land der Zwerge in Jonathan Swifts (1667–1745) utopisch-satirischem Reiseroman Gullivers Reisen in verschiedene ferne Länder der Erde (1726). (14) Sekundaner: Schüler der Sekunda des Gymnasiums. (14) „tyske Hund“: (dän. tysk; – mhd. Adjektiv diutisk = deutsch; mhd. Substantiv diota = Volk = zum deutschen Volk gehörend). – Der Hund gilt bei vielen Völkern als negatives Sinnbild der Niedrigkeit und des Lasters; als pejorative Tiermetapher bedeutet er eine erniedrigende Beschimpfung und ehrverletzende Beleidigung. (14) Seitengewehre: Waffe eines Soldaten, die seitlich am Koppelriemen getragen wurde.

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(15) Kellerwirte: Früher meist urige Gastschänken, die im Keller eines Hauses betrieben wurden, zu deren Eingang oft eine Treppe von der Straße hinunter führte. (15) Haffdeich: Außendeich am Meer; ein am Meerufer angelegter, standfester und wehrfähiger Schutzdamm, der Land und Leute vor Überflutung schützen soll. (15) Wenzel: Die frühere Verbreitung des Vornamens Wenzel (Koseform von slaw. Wenzeslav = Ruhm durch den Siegeskranz) zeigt sich sogar im sogenannten „deutschen Kartenspiel“, in dem der „Bube“ auch „Wenzel“ heißt. Basisinformationen: Das große Buch der Vornamen. Herkunft, Ableitungen, Verbreitung, Koseformen, Berühmte Namensträger, Gedenk- und Namenstage. München: Südwest Verlag o. J., S. 206. Storms poetische Namensgebung kann möglicherweise als verborgene Anspielung auf das „Bubenstück“ erneut geplanter Straftaten des ehemaligen Komplizen interpretiert werden, zu denen er John Hansen überreden und anstiften will. (16) Erkerhaus am großen Markt: Storm hat möglicherweise das markante Eckhaus am allseits beliebten Marktplatz und der Krämerstraße als kontrastiven Schauplatz des Husumer Stadtprospektes, als stattliches bürgerliches Wohnhaus im auffälligen Unterschied zur niedrigen Kate des Arbeiters und Tagelöhners John Hansen, dargestellt. (17) weder ein König gekrönt, noch einer geboren: Die politischen Ereignisse der Krönung eines Königs oder der Geburt eines Thronfolgers waren humanitäre Anlässe für Amnestien, für einen Straferlass von rechtskräftigen (Gefängnis-) Strafen. – König Christian VIII. von Dänemark regierte von 1839 bis 1848; Storm war bis 1853 Bürger des dänischen Staates. (17) der dreibeinige Galgen neben Bürgermeister Luthens Fischteich: Den lokalhistorischen Recherchen von K.E. Laage zufolge, kann der ehemalige Galgen nördlich von Husum, außerhalb des Stadtgebietes, lokalisiert werden: J. Laß, Husumische Nachrichten, Bd. 1, S. 63, Bd. 2, S. 26, 37 (Zitiert nach: LL 3, 1021). (17) Zichorienbau: Die Zichorie (lat. Cichorium intybus) wächst in der Ebene bis zum Gebirgsvorland häufig auf Weiden und an Rainen sowie an Wegrändern, deshalb auch als „Gemeine Wegwarte“ bezeichnet, und wird wegen der bitteren Pfahlwurzel feldmäßig angebaut. Sie blüht von Juli, August bis Oktober, wobei ihre hellblauen, selten weißlichen, zungenförmigen Blüten auffallen, die sich nach Sonnenaufgang öffnen, aber schon am frühen Nachmittag

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wieder schließen und verwelken. Die bis 150 cm hohe, milchige Korbblüterstaude hat verzweigte Grundblätter in einer Rosette, die unterseits borstig behaart, während die Stängelblätter spießförmig wachsen. Die zähe Pflanze entwickelt aus einer dicken, tiefgehenden Pfahlwurzel über einen Meter hohe Stängel mit rutenförmigen Zweigen. Die länglichen Grundblätter sind schrotsägeförmig gezähnt und in den Blattstiel verengt. Die kleinen, lanzettlichen und ungeteilten Stempelblätter sind am Grundstempel ohne Blattstiel. In einer veredelten Krautform wurde aus der Zichorienwurzel durch Trocknen und Rösten der gemahlene Zichorie-Kaffee hergestellt, der als „KontinentalKaffee“ vermarktet wurde, weshalb Wilhelm Raabe kritisierte: „Jawohl, es sagt mancher Kaffee, der sich mit Zichorie begnügen muß.“ Basisinformationen: Walter Nölder: Aus Wald und Flur. Pflanzen unserer Heimat. Hamburg-Bahrenfeld 1937, S. 108; Abb. S. 108. – J. Felix, J. Toman, K. Hisek: Der Große Naturführer. Unsere Tier- und Pflanzenwelt. Stuttgart 1984, S. 150; Abb. S. 151. (17) Dirnen: Im mundartlichen Niederdeutsch bedeutet Deern: junges Mädchen, ohne verächtliche, ehrverletzende Konnotation. (18) jener verlassene Brunnen: Zum novellistisch zentralen ‘Brunnen’-Motiv: Ursula Wiegers: Der Brunnen in der deutschen Dichtung. Eine motivgeschichtliche Untersuchung (Diss.), Bonn 1957, III, 295 S. (18) Unzeug: Ungeziefer, das Menschen, Nutz- und Haustieren, Pflanzen und Vorräte schädigt. (mhd.) ungezibel: unreine Tiere. (18) Jungfernkinder: Uneheliche Kinder; erzählter Kommentar mit eindeutig negativer Assoziation und Konnotation. (19) „die schönste von all den Weibern“: ‘Weib’ wurde im Sprachgebrauch der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts generell, ohne geringschätzige, verächtliche oder ehrverletzende Assoziation und Konnotation, als Appellativ verwendet. – K.E. Laage hat in seinem Kommentar auf eine möglicherweise verborgene, umschreibende kulturgeschichtliche Andeutung eines rekurrenten Motivs des ‘Frauen’-Bildes im Alten Testament hingewiesen (LL 3, 1022): Das Hohelied. Das Lied der Lieder. Von Salomo: Der Chor: „du Schönste der Frauen“, 1. und 4. Lied; 1, 8; 5, 9; 6, 1. (20) Großstraße: Hauptstraße mit bevorzugtem Geschäfts- und Wohnbereich gutsituierter Bürger im Stadtkern der Hafen- und Handelsstadt Husum. (20) „Zichorienbier“: Erntefest der Feldarbeiterinnen und Arbeiter der Zichorienfabriken, das nach der Einfuhr der (als Kaffeesurrogat verwendeten) Zichorienwurzeln gefeiert wurde.

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(21) Wollspinnen: Zuchthäuser waren als Strafanstalten zur Vollstreckung und Verbüßung der Zuchthausstrafe, der schwersten Strafart des deutschen Strafrechts, zugleich Werkhäuser, denn im Strafvollzug war der Arbeitszwang, z.B. das Wollespinnen, vorgeschrieben. (23) Züchtlingsjacke: Arbeitsjacke, die Werksarbeiter eines Zuchthauses wegen des vorgeschriebenen Arbeitszwangs tragen mussten. (23) Amtmann: In der damaligen Beamtenhierarchie der oberste Verwaltungsbeamte der Ämter Husum und Bredstedt (LL 3, 1022). (25) Sühnetermin: Anhörungs- und Spruchtermin, wodurch ein privatrechtlicher Streit durch einen ehrenamtlich zur gütlichen Schlichtung bestellten Schiedsmann entschieden wird. Der Schiedsmann kann bei gescheiterten Sühneversuchen nicht entscheiden; sein Schiedsspruch hat für die streitenden Parteien die Verbindlichkeit eines rechtskräftigen Urteils eines staatlichen Gerichts. (26) Gängel: Gebogene Bretter, auf denen eine Wiege geschaukelt werden kann. (mhd.) gengel: bewegen; leicht gehend. (29) Kracke: In niederdeutscher Mundart ein geringschätziges Werturteil über ein abgemagertes, elendes Pferd. (29) Grube: Historischer Sprachgebrauch: Grab. (mhd.) gruoben: graben; eine Grube graben. (31) Beilegerofen: Der Beilegerofen (fries. Bilegger), schon seit dem 17. Jahrhundert als einheitlicher Bestandteil bürgerlicher Wohnkultur in Friesland verbreitet, war ein kastenförmiger, gusseisener Ofen in der Wohnstube des Friesenhauses (fries. Kööv), der durch eine Öffnung in der Wand vom Herd in der benachbarten Küche (fries. Kööken) geheizt wurde; als Brennmaterial wurde gewöhnlich Torf beigelegt. Zur Wohnstube hatte er keine Befeuerungsöffnung, um Feuergefahr und Schmutz zu vermeiden. Da die hintere Ofenplatte an der Zimmerwand lehnte, stand der Beilegerofen auf nur zwei, meist gusseisernen Beinen. Die drei Seitenplatten des Ofens waren oft mit Motiven aus der (biblischen) Geschichte oder mit Blumenmotiven verziert, die oberen Ecken mit abschraubbaren Messingknöpfen bestückt. Die obere Ofenplatte, meistens mit dünnem Messingblech belegt, diente zum Warmhalten von Speisen und Getränken; in reichen Friesenhäusern stand auch eine Stülpe aus Messing auf der Ofenplatte. Nach dem Muster holländischer Wohnkultur war besonders in reichen Friesenhäusern die den Beilegerofen umrahmende Wand mit Kacheln ausgelegt, nicht nur als dekorative Wandzierde der Wohnstube,

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sondern vor allem wegen der nicht isolierten Wände des Friesenhauses, weshalb Tapeten ungeeignet waren. Textquelle: Otto Mensing (Hg.): Schleswig-Holsteinisches Wörterbuch. Neumünster 1927–1935. (32) Sechsling: In den Herzogtümern Schleswig und Holstein eine Kupfermünze im Wert eines halben Schilling = sechs Pfennige = drei Cent. (33) Schatulle: (lat. scatula, Behälter); nd. Schatull. Kommode mit schrägem, aufklappbarem und abschließbarem Aufsatz und Schubfächern. (33) der kattunene Vorhang: Vorhang aus Baumwollgewebe. (35) Prinzessin Pumphia: Seinem Freund und Schriftstellerkollegen Gottfried Keller in Zürich berichtete Theodor Storm am 13.3.1883 über ein Theaterspiel mit Kartoffeln aus Spielfiguren, das sein Neffe, Kasimir Storm (1865–1918), Sohn des Arztes Dr. med. Aemil Storm, von Husum mitgebracht und in seiner Hademarschener Villa aufgeführt hat: „Aufgenblicklich ist ein Neffe, ein netter Realprimaner, bei uns auf Winterfrische, und wir haben die fünfactige Tragödie „Kasimir und Jaromir“, eine Kartoffelkomödie, weil nemlich weder Menschen, noch Puppen, sondern Kartoffeln die Schauspieler sind, schon 3 mal, jedes Mal mit größerem Erfolge aufgeführt.“. In dieser grotesken Komödie spielte die Prinzessin „Pumfia“ eine lebendige Rolle. – Auch seinem Freund Wilhelm Petersen hat Theodor Storm über diese Komödie am 14.3.1883 brieflich mitgeteilt: „Die Schauspieler sind Kartoffeln u. lassen Alles, was Menschen oder Puppen vermögen an grotesker Lebendigkeit weit hinter sich.“ (36) Kümmchen: nd. Kumme. Kleine Holzschüssel. (36) Leckerzahn: nd. Leckertähn. Genuss kleiner Leckerbissen. (37) Verdingsarbeiten: Gelegentliche, befristete Akkordarbeiten. (40) Kosakenwinter: Im Winter von 1812 bis 1813 durchstreiften Kosaken, ukrainische Reiterverbände, russische Soldaten Schleswig-Holstein. (42) Reputation: (lat.-franz.) Guter, gesellschaftlich respektierter Ruf. (42) Rathaus-Schwibbögen: Schwebebogen; ein zwischen zwei Mauerteilen schwebender Rundbogen am Tordurchgang des alten Husumer Rathauses. (42) Gendarm: (franz. „gens d’ames“; historische Schreibweise: „Gensdarm“). Polizist. (43) Kuhsteig: Im damaligen Husum von der Norderstraße auf die nördlich gelegenen Felder führende Gasse.

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(43) ein reputierlicher Mensch: (lat.-franz.) mdal. ehrenwerte, gesellschaftlich respektierte Person. (46) Bülte: (nd. Bült; Kantüffelbult) Kartoffelstauden. (46) Gezücht: (mhd. gezühte) Brut, verächtlich für Geziefer. (46) Tausendfuß: Die raupenähnlichen Gliederfüßer atmen durch Röhrentracheen und tragen als vorderste Kopfgliedmaßen ein Paar von Fühlern (Antennen). Der Körper der Tausendfüßer ist langgestreckt und abgeplattet; die Glieder des Rumpfes tragen etwa 200 Beinpaare. Sie sind lichtscheu und nähren sich meist von pflanzlichen und modernden tierischen Stoffen. – Gruppen: Bandfüßer (18–28 mm); Steinläufer (20–32 mm); Spinnenläufer (25 mm). (47) übers Meer: Auswanderungsbewegungen entstanden in Deutschland nach der Aufhebung der Leibeigenschaft, die zu Frondiensten und zur Erbuntertänigkeit führte, nach der Hungersnot in den Jahren 1816 bis 1817, in den Jahren 1865 bis 1866 sowie in den Jahren 1870, 1872 bis 1873 und 1881 bis 1885. Mit so genannten ‘Auswanderungsschiffen’ fuhren die Auswanderer zur geplanten ständigen Niederlassung, meistens wegen vager Aussicht auf bessere Berufs- und Erwerbschancen, nach Amerika, in die „Neue Welt“. Ausschiffungshafen war gewöhnlich Hamburg, Bremen oder Bremerhaven. (47) Schleusengrube: Ausgehobene Baugrube, um das Fundament für einen Schleusenbau zu legen. (48) Schmetterlingsketscher: Ketscher, Kescher, Käscher: Fangnetz an einem Rahmen mit (langem) Stiel zum Insektenfang (Otto Mensing [Hrsg.]: Schleswig-Holsteinisches Wörterbuch. Neumünster 1927–1935). (48) Totenkopf: Der Totenkopf am Kartoffelkraut. Zu den Schwärmern gehörender Nachtfalter mit totenschädelähnlicher Zeichnung auf der Oberseite, zählt der Totenkopf (Acherontia atropos) zu den bekanntesten Wanderfaltern, die in den Mittelmeerländern und in Südeuropa verbreitet sind. In der Zugzeit im frühen Sommer fliegt er aus seinem Winterquartier in den Mittelmeerländern weit nach Mittel- und Nordeuropa. Im Herbst kehrt er in die wärmeren Gefilde zurück. Bevorzugte Zugrouten und Zugzeiten belegen seine ausgezeichneten Flugleistungen; das Mittelmeer und die Alpen überfliegt er mühelos nach Norden, wo er besonders am Kartoffelkraut lebt; mit einer Spannweite bis etwa 110 mm fliegt er spät abends und nachts. Das Weibchen legt in Mitteleuropa die Eier häufig auf Kartoffelkulturen. Bis zum Sommerende wachsen die Raupen zu einer Länge von bis zu 10 cm heran. Ihr Körper ist gelbgrün, mit schwarzen, blauen und gelben Streifen und Flecken; an seinem

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Ende befindet sich ein auffälliges Horn. Die Puppe liegt im Boden von Kartoffelkulturen in einer harten Lehmkapsel. Basisinformationen: J. Felix, J. Toman, K. Hisek: Der Große Naturführer. Unsere Tier- und Pflanzenwelt. Stuttgart: Franckh’sche Verlagshandlung, 7. Auflage, 1984, S. 276 f., Abb. 1. (49) Fluchten: (nd.) Schwungflügel. (mhd.) vlucken: fliegen. flattern, sich schwingen. (49) Zingel: Straße am Hafen in Husum. (mhd.) zingel: äußere Verschanzung einer Stadt, eines Stadtgebiets. (49) „St. Jürgens Stift“: Das Gasthaus zum Ritter St. Jürgen in Husum (Osterende) ist ein nach dem Ritter St. Georg (nd. St. Jürgen) benanntes Altenstift, das auf Beschluss von Herzog Adolf im Jahr 1571 am Osterende errichtet wurde. In seiner Grundstruktur bis heute erhalten, wurde die Fassade von 1878 bis 1879 im märkischen Stil erneuert, doch blieb das Wohnhaus unverändert. Ein Torbogen in der Mitte der Fassade von 1878/1879 mit ihrem Schmuck im Stil der märkischen Gotik öffnet den Eingang in einen gepflegten Innenhof. In der Mitte des „langen weißen Hauses“ befindet sich die St. Jürgen-Kirche. Auf zwei schwarzen Wandtafeln im Wohngebäude sind seit 1643 mit jeweiliger Jahreszahl die Namen der Inspektoren und Speisemeister des Gasthauses verzeichnet, beispielsweise 1908 Ernst Storm (1851–1913), Rechtsanwalt und Notar in Husum, zweitältester Sohn von Constanze und Theodor Storm. (49) Steffeck: Karl Steffeck (1818–1890) malte vor allem Tier- und Jagdbilder; einige seiner Bilder erschienen in der Zeitschrift „Argo“, dem (seit 1854 publizierten) Jahrbuch der von G. M. Saphir 1827 gegründeten Literarischen Gesellschaft „Tunnel über der Spree“ und der Zeitschrift des Literaturvereins „Rütli“ (H. Vinçon: Theodor Storm in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, S. 62, 66. – K.E. Laage: Theodor Storm. Leben und Werk, S. 30, 39 f., 51, 68, 73). (49) Ridinger: Johann Elias Ridinger (1698–1767) Maler und Radierer; berühmt durch seine zahlreichen (etwa 1300) Tier- und Jagdbilder. (49) Kreuzesabnahme von Rubens: Peter Paul Rubens (1577–1640): Die Bilder „Keuzesaufrichtung“ und „Kreuzesabnahme“ der Kathedrale Zu Unserer Lieben Frau in Antwerpen hat der flämische Maler von 1610 bis 1614 gemalt. (49) Bildnisse von Luther und Melanchthon: Martin Luther, geboren 1483 in Eisleben, Augustinereremit und Priester im Augustinerkloster in Erfurt, 1517 Professor für Bibelexegese in Wittenberg, Übersetzung der neutestamentlichen Schriften auf der Wartburg, 1525 Heirat mit Katharina von Bora, Kleiner

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Walter Zimorski

Katechismus 1529, Bibelübersetzung 1534; gestorben 1546 in Eisleben. – Kirchenliederdichter: Psalmlieder, lateinische Hymnen, Fest- und Katechismuslieder, liturgische Gesänge und reformatorische Gesangbücher (1523– 1524; 1529; 1545). Philipp Melanchthon, geboren 1497 in Bretten (in Baden), seit 1518 Professor für griechische Sprache in Wittenberg, Universitätsreformer, Humanist, seit 1521 Mitarbeiter Martin Luthers: „Reformator wider Willen“. Autor der ‘Augsburger Konfession’ 1530; dichtete in humanistischer Tradition lateinische Lieder; gestorben 1560 in Wittenberg. Seit dem Marburger Religionsgespräch (1529) war Melanchthon an allen wichtigen Religionskonferenzen beteiligt; seine Konzessionsbereitschaft gegenüber der römisch-katholischen Konfession auf dem Reichstag von Augsburg (1530) entsprach seinem Willen, die Reformation als christliche Glaubensbewegung friedlich zu realisieren.

KOMMENTAR I

Thomas Vormbaum

Rückkehr ohne Heimkehr Rechtliche Gedanken zu Theodor Storms Novelle „Ein Doppelgänger“ I. Vorüberlegungen Eugen Wohlhaupter hat ihn nicht in seine umfangreiche, dreibändige Sammlung über „Dichter-Juristen“1 aufgenommen. Dafür mögen zufällige, nicht in der Sache liegende Gründe ausschlaggebend gewesen sein. Erstaunlich immerhin, dass Wohlhaupter, der zur Zeit der Abfassung seines Werkes (während der NS-Zeit) in Kiel lehrte2, den Schleswig-Holsteiner Storm nicht zum engeren Kanon der Dichterjuristen gezählt zu haben scheint; erstaunlich auch deshalb, weil Theodor Storm zum engeren Kreis jener Dichterjuristen gehört, die nicht nur eine juristische Ausbildung durchlaufen, sondern auch einen juristischen Beruf ausgeübt haben – Storm während des größten Teils seines Lebens den des Advokaten, des Landvogts und des Richters3. Dass Erfahrungen der forensischen und administrativen Tätigkeit in das dichterische Werk Storms eingeflossen sind, unterliegt keinem Zweifel4. Ob auch inhaltlich juristische bzw. rechtliche Probleme in den Novellen verarbei1 2

3

4

Eugen Wohlhaupter, Dichterjuristen. 3 Bde. Hrsg. von H.G. Seifert. Tübingen 1955. Die Biographie des Rechtshistorikers Eugen Wohlhaupter (1900–1946, seit 1934 Lehrstuhlinhaber in Kiel) liegt jenseits des Interesses dieses Beitrages; s. dazu Hans Hattenhauer, Rechtswissenschaft im NS-Staat. Der Fall Eugen Wohlhaupter. Heidelberg 1967. Näher Heiner Mückenberger, Theodor Storm – Dichter und Richter. Eine rechtsgeschichtliche Lebensbeschreibung. (Juristische Zeitgeschichte. Abt. 6. Band 8). BadenBaden 2001; Antje Erdmann Degenhardt, Juristen und Dichter – Theodor Storm und Timm Kröger, in: Hermann Weber (Hrsg.), Dichter als Juristen. (Juristische Zeitgeschichte. Abt. 6. Band 18). Berlin 2004, S. 117 ff. Überlegungen aus kriminologischer Sicht zur gleichnamigen Storm-Novelle b. Micheal Walter, Theodor Storms „Draußen im Heidedorf“; Anmerkungen zum Verständnis von Beziehung- und Integrationskonflikten in der bäuerlichen Welt Nord-Friedlands, in: Jahrbuch der juristischen Zeitgeschichte 11 (2010), 307 ff.

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tet sind, ist umstritten5. Gänzlich zu verneinen ist die Frage jedoch nicht, wie gerade die hier betrachtete Novelle zeigt6. Dass jedoch auch Werke, in denen solche Elemente auftauchen, in die Struktur des Storm‘schen Erzählens organisch eingebunden sind, zeigt sich an dem bei Storm häufig zu findenden Motiv der Rückkehr7.

II. Das Rückkehr-Motiv Natürlich ist dieses Motiv nicht isoliert und trifft sich und überschneidet sich mit anderen Motiven wie beispielsweise dem des verlorenen Sohnes, des Vater-SohnKonflikts, des Abschiednehmens, des Verzichts etc. In der Novelle Hans und Heinz Kirch kehrt der verlorene Sohn nach Jahren zurück und wird (letztlich) nicht wiedererkannt bzw. anerkannt; eine Rückkehr erlebt auch der Puppenspieler Tendler in Pole Poppenspäler. In Böttjer Basch kehrt der Sohn Fritz nach jahrelangem Aufenthalt in Amerika nach Hause zurück und rettet die Werkstatt des Vaters vor dem Bankrott und diesen vor dem Tod.

Drei Novellen sind es vor allem, in denen das Rückkehrmotiv sich in die – in einem weiten Sinne verstandene – rechtliche Sphäre hinein verlängert. In der Novelle Waldwinkel8 hat zwar nicht in der eigentlichen Erzählung, jedoch in der Vor-Erzählzeit, der demokratische Protagonist Richard wegen seiner Beteiligung an einer „großen Studentenverschwörung“9 jahrelang in preußischer Festungshaft gesessen, und dort – so wird jedenfalls berichtet – „hatte man ihn jahrelang in einem dunklen Kerkerloch gehalten; weder die Sonne noch die Sterne der Nacht hatte er dort gesehen, nur der qualmige Schein einer Tranlampe war ihm vergönnt gewesen; dabei hatte er ohne Kunde, ob Morgen oder Mitternacht, tagaus, tagein gesessen und viele dicke Bücher durchstudiert“ (796). 5 6 7

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Verneinend im Ergebnis z.B. Mückenberger, a.a.O., S. 235 ff., 247. In der Novelle Das Bekenntnis wird das – auch rechtlich relevante – Problem der Sterbehilfe thematisiert. Das Motiv „Heimkehr“, das hier als species gegenüber der „Rückkehr“ verstanden wird, ist freilich nicht nur bei Storm zu finden, sondern ein in der Weltliteratur häufig anzutreffendes Motiv; s. Elisabeth Frenzel, Motive der Weltliteratur, 5. Auflage. Stuttgart 1999, S. 328 ff. (Eintrag „Heimkehrer“), wo Storm allerdings nicht erwähnt wird, wie überhaupt die drei im Text angesprochenen Novellen lt. Register keine Erwähnung finden. In: Theodor Storm, Werke in zwei Bänden. 7. Aufl. München 1982 (danach auch im Folgenden zitiert), S. 228 ff. Zur Interpretation der Novelle s. Hartmut Vinçon, Theodor Storm. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. 15. Aufl. Reinbek b. Hamburg 1999, S. 136 f.; Peter Goldammer, Theodor Strom. Eine Einführung in Leben und Werk. 4. Aufl. Leipzig 1990, S. 167 ff. Ob damit das Wartburgfest von 1817 gemeint ist, erscheint nicht sicher. Zwar ist auf derselben Seite von diesem die Rede, doch wird die Teilnahme daran auf eine andere Person bezogen.

Kommentar I

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Aus der Haft zurückgekehrt, hat er seine Gattin in den Armen eines Barons wiedergefunden. Er hat sich scheiden lassen, den Baron – wahrscheinlich im Duell – „totgeschossen, und dann ist er in die weite Welt gegangen, um sich all den Verdruß an den Füßen wieder abzulaufen“ (797). Nun kehrt er als 48Jähriger erneut zurück und sucht die Waldeinsamkeit und dort die Lebensgemeinschaft mit einem 18jährigen Mädchen, dem er sogar sein halbes Vermögen überträgt, das ihn aber nach einiger Zeit verlässt, um – nicht ohne Mitnahme der ihr überlassenen Wertpapiere – einem Jüngeren zu folgen10. Zwar nicht um die Rückkehr aus dem Strafvollzug, aber um eine solche aus der Psychiatrie geht es in der Novelle Schweigen11. Während jedoch in Waldwinkel die Hauptperson an den sozialen, körperlichen12 und psychischen Folgen der Festungshaft zerbricht und zu spät den Entschluss fasst, ins „normale“ Leben zurückzukehren (829 ff.), kommt es hier zu einem glücklichen Ende. Rudolf, der als Förster bei einem Grafen beschäftigt ist und dort harten beruflichen Anforderungen ausgesetzt wird, muss sich zur Behandlung in eine psychiatrische Anstalt begeben. Nach seiner Entlassung gelangt seine Mutter – eine Witwe, die ihre Liebe auf erdrückende Weise auf ihren Sohn konzentriert – nach Konsultation des ehemals behandelnden Arztes widerstrebend zu der Auffassung, dass eine Heirat den Sohn stabilisieren könnte. Dem Arrangement einer Hochzeit mit Anna, der Tochter eines Pastors, kommt der Sohn gleichsam zuvor, indem er sich in Anna verliebt und sie heiratet (237). Rudolf weiht seine Braut (und später seine Frau) nicht in seine psychiatrische Vorgeschichte ein; mit der Zeit steigert er sich immer mehr in eine Mischung aus Schuldgefühl und Angst vor einem Rückfall, letzteres vor allem, nachdem er eine Zeitungsmeldung über einen mehr als dreizehn Jahre nach dem Hundebiss erfolgten Ausbruch der Tollwut bei einem Hufschmied gelesen und später vom vermeintlichen Rückfall eines 10

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Sein ehemaliger Studienkollege, den wir zu Beginn der Novelle kurz kennen lernen, da Richard, der Protagonist, ihm vor seiner „Weltflucht“ einen Besuch abstattet, ist inzwischen Bürgermeister und Richter der Gemeinde geworden und zieht Richard sogar als Protokollanten in einem Strafverfahren heran, in dem er das Mädchen, mit dem er dann in die Waldeinsamkeit flieht, als Opferzeugin kennen lernt; offenbar ist Richard zur Protokollführung befähigt, denn er ist zwar hauptsächlich Botaniker, hat aber in der Studentenzeit „alle Fakultäten abgeweidet“ (790). Theodor Storm, Schweigen, in: Werke in zwei Bänden (wie Fußn. 8), S. 228 ff. Ausdrücklich ist von einem „Körperleiden aus den Jahren seiner Kerkerhaft“ die Rede, das sich „wie eine lähmende Hand auf ihn gelegt“ hatte (825); und wir erfahren weiter, dass dieses „Unwohlsein […] in einigen Wochen so zugenommen [hatte], daß er das Zimmer nicht verlassen konnte. Ein Arzt wurde nicht zugezogen, da ihm aus früheren Zufällen die Behandlung selbst geläufig war“ (827 f.).

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aus der Heilanstalt heimgekehrten jungen Holzschlägers gehört hat, die beide – der eine wirklich, der andere vermeintlich – ihre Ehefrauen gefährdet haben. Auch ein Besuch bei seinem ehemals behandelnden Arzt, der ihm seine völlige Heilung bestätigt, kann ihn zunächst nicht aufhellen; seine berufliche Leistungsfähigkeit lässt nach, was sein gräflicher Arbeitgeber auch bemerkt. Erst als er nach Abfassung eines Abschiedsbriefes – der von seiner Frau und seiner Mutter gefunden wird – in den Wald hinausgeht, um seinem Leben ein Ende zu setzen, gelingt es ihm, sich selbst aus der dumpfen Abwärtsspirale zu befreien. Die beiden Frauen, welche ihm zu Hilfe eilen, brauchen nicht mehr tätig zu werden. Gewiss verflechten sich in dieser Novelle mehrere gleichstarke Motivstränge – die überstrenge und verhärtete Mutter, die Schuldgefühle des Protagonisten wegen der versäumten Information der Gattin, die (oben nicht erwähnte) Sorge um einen Nebenbuhler, dessen Heiratsantrag Rudolf (unbewusst) knapp zuvor gekommen war, und die Angst vor einem möglichen Rückfall. Dem Kriminologen wird der Zusammenhang zwischen der überstrengen Mutter und den Schuldgefühlen des Protagonisten als ein häufiges Motiv für kompensatorische schädliche Aktivität präsent sein – deren entlastende Funktion sich hier freilich nicht als kriminelle nach außen, sondern als Suizid gegen den Protagonisten selbst richten soll. Die Novelle zeigt aber auch die Konfliktsituation, in welche die Rückkehr in die Gesellschaft aus der – sei es psychiatrischen oder karzerarischen – Internierung führt; es sind Konfliktsituationen sozialer und/oder individueller Art. Fremd- und Selbststigmatisierung als „Krimineller“ bzw. als „Irrer“ prägen die Situation und erschweren die „Heimkehr“. Während im Schweigen die Selbststigmatisierung im Vordergrund steht13 und die Fremdstigmatisierung allenfalls angedeutet wird14, spielt letztere im dritten Beispielsfall eine prominente Rolle; und dieser Beispielsfall ist eben die hier zu betrachtende Novelle, die überdies auch noch weitere rechtliche Fragen aufwirft: Ein verurteilter Strafgefangener kehrt aus dem Strafvollzug zurück und scheitert an der gesellschaftlichen Wirklichkeit (und an sich selbst). 13

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Rudolf dringt freilich zu der tiefsten Ursache vor: „Nein, nein; nicht eine Krankheit, aber eine Schuld war es, die seine Kraft gelähmt und ihn vor Schatten hatte zittern lassen“; doch lässt sich das Motivbündel kaum entflechten, denn das seiner Frau gegenüber bewahrte Schweigen bezog sich ja auf seine „Vorgeschichte“ und das bewusste Vehikel seines schlechten Gewissens war die Angst vor dem Rückfall. Storm zeigt – vielleicht unbewusst – die Parallele auf: „ein reuiger Verbrecher mußte er auf die Schwelle seines Hauses treten“ (283). In Gesprächen des Grafen mit seinem Vater und mit Rudolfs Schwiegervater (263 f.).

Kommentar I

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III. Normen Eine Betrachtung aus juristischer Sicht – auch eine solche, die sich der begrenzten Eignung juristischer Kategorien zur Erfassung eines literarischen Kunstwerkes bewusst ist – muss sich fragen, auf welcher positivrechtlichen Grundlage gegebenenfalls rechtliche Erörterungen anzustellen sind; dies gilt umso mehr, wenn der Autor selber Jurist ist. Fragen wir uns also kurz, bezogen auf unsere Novelle, nach dieser Grundlage. Aus den Zeitangaben der Novelle ergibt sich folgendes: Von der zeitlichen Position des Erzählers (1886/87) ausgehend können wir die Rahmenhandlung15 „einige Jahre“ (11) rückwärts datieren. In dieser Handlung erinnert sich der Wirt, bei dem der Erzähler eingekehrt ist und bei dem er den Oberförster (also den posthumen Schwiegersohn John Hansens) kennenlernt, an die Zeit, „als die seligen Eltern des Herrn Oberförsters […] mit dem derzeit kaum achtjährigen Dirnlein hier vorgefahren kamen“ (14); schließlich erfahren wir, dass Christine, die Frau des Oberförsters, das damalige „Dirnlein“, jetzt „den Vierzigern nahe sein müsse“ (14). Setzt man die Differenz zwischen der Erzählerzeit und der Erzählzeit in der Weise ein, dass Christine, die Frau des Oberförsters inzwischen die Vierzig überschritten hat, so kommen wir auf einen Abstand von über 30 Jahren. Wollen wir die Zuchthauszeit Hansens errechnen, so müssen wir weitere ca. 10 Jahre hinzurechnen (die Zeit zwischen der Entlassung und der Hochzeit, die Zeit der Schwangerschaft Hannas und die knapp acht Lebensjahre Christines bis zum Tod des Vaters und zur Aufnahme in die Pfarrersfamilie), so gelangt man in die zweite Hälfte der 40er Jahre des 19. Jahrhunderts. Zu dieser Zeit stand Schleswig-Holstein unter dänischer Herrschaft, und es galt dänisches Recht vermischt mit regionalen Besonderheiten. Streng genommen liegt also der Verurteilung Hansens – die weitere sechs Jahre zurückliegt – das unter der dänischen Herrschaft geltende Straf- und Strafprozessrecht zugrunde, denn erst 1864 geriet Schleswig unter preußische, Holstein unter österreichische Verwaltung; 1866 fielen beide (statt ihrem Wunsch gemäß unabhängig zu werden) endgültig an Preußen und gehörten damit zum Norddeutschen Bund und seit 1871 zum Deutschen Reich. Und erst seither galten zunächst für kurze Zeit das preußische Strafgesetzbuch von 1851, seit 1871 das Norddeutsche, dann Reichsstrafgesetzbuch und seit 1879 die Reichsstrafprozessordnung auch in Schleswig Holstein.

Dies zum Anlass zu nehmen, nähere Recherchen zum dänischen Recht anzustellen, ist aber m.E. nicht geboten. Storm war seit 1853 Richter im preußischen Exil, er hat als Gerichtsassessor in Potsdam16 und als Kreisrichter in Heiligenstadt17 mehr als zehn Jahre lang preußisches Recht, darunter 15

16 17

Es handelt sich um eine „uneigentliche“ Rahmenhandlung, denn wir haben es nicht mit dem Standardfall zu tun, in dem in der Rahmenhandlung ein Erzähler eine frühere Begebenheit berichtet, sondern es ist der Erzähler der Rahmenhandlung selbst, in dessen Erinnerung (und Phantasie!) sich auch die Kernhandlung abspielt. Dazu Mückenberger (wie Fußn. 3), S. 87 ff. Dazu Mückenberger, a.a.O., S. 116 ff.

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auch das 1851 in Kraft getretene preußische Strafgesetzbuch, angewandt, und er hat nach seiner Rückkehr aus dem preußischen Exil im Jahre 1864 (und nach einer Zwischenperiode als Landvogt von 1864 bis 1867) noch die Einführung des preußischen Strafrechts in Schleswig-Holstein erlebt und dieses bis 1870 angewendet, danach bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand im Jahre 1880 das Reichsstrafgesetzbuch, das weitgehend auf dem preußischen Strafgesetzbuch beruhte18. Seine Kritik (auch) am Justizsystem, die gerade in der Novelle Der Doppelgänger zutage tritt, ist nicht rückwärts bezogen, sondern zweifellos durch das geltende Recht inspiriert19. Wir können daher weiteren Betrachtungen, soweit sie das positive Recht einbeziehen, das Straf- und Strafprozessrecht des Reiches zugrunde legen – dies umso mehr, als Storm des Öfteren heftige – oft auch unberechtigte – Kritik an preußischen Zuständen geübt hat, die ihr Motiv wohl auch darin besaßen, dass die erhoffte Selbständigkeit SchleswigHolsteins nicht eingetreten war.

IV. Rechtliche Probleme 1. Das „Rässonnement“ Storm bedauert in seinem Schreiben an K.L. Franzos, den Herausgeber des Erstdrucks, vom 4. September 188620, dass aufgrund der besonderen Arbeitsbedingungen beim Abfassen des „Doppelgängers“ ihm zu viel „Raissonnement“ in die Novelle eingeflossen sei – womit wohl gemeint sein soll, dass die „Botschaft“ des Werkes nicht expliziert werden sollte, sondern sich aus Reden 18

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Ob er auch noch die 1879 in Kraft getretene Reichsstrafprozessordnung anzuwenden hatte, lässt sich nicht sicher feststellen, ist aber eher unwahrscheinlich, denn die wenigen vorhandenen Zeugnisse deuten darauf hin, dass er in seinen letzten Jahren als Amtsrichter sich ausschließlich mit Fällen der freiwilligen Gerichtsbarkeit befasst hat; s. Mückenberger, Theodor Storm (wie Fußn. 3), S. 199 ff. Hinzu kommt, dass er gerade dem preußischen Recht gegenüber eine (mitunter freilich vom Ressentiment diktierte) kritische Haltung einnahm; s. Mückenberger, a.a.O., S. 208 u.ö.; sie fand ihren markanten Ausdruck in der Äußerung, dass sich im preußischen Strafgesetzbuch „eine Reihe von Paragraphen“ finde, die „ehrlichen Leuten gefährlicher sind als den Spitzbuben, die sie angeblich treffen sollen“ (Brief an Friedrich Eggers vom 16.8.1867, zitiert nach Harro Segeberg, Theodor Storm als „DichterJurist“. Zum Verhältnis von juristischer, moralischer und poetischer Gerechtigkeit in den Erzählungen „Draußen im Heidedorf“ und „Ein Doppelgänger“, in: Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft 41 (1992), S. 69 ff., 71; s. auch Karl Ernst Laage, Theodor Storm. Biographie. Heide/Holst. 1999, S. 187. Hier zitiert nach W. Zimorski, Wort- und Sachkommentar, in: Ders. (Hrsg.), Theodor Storm, Ein Doppelgänger. Studienausgabe. Heide in Holstein 1986, S. 70.

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und Handeln der Protagonisten oder aus dem Bericht des Erzählers erschließen sollte. Der juristische Leser wird Storm nicht gram sein, dass er Goethes Grundsatz „Bilde Künstler! Rede nicht!“21, da und dort vernachlässigt haben mag, denn wie die Thematik der Novelle es nahe legt, wird es sich bei diesen „Botschaften“ um rechts- bzw. kriminalpolitische oder justizkritische „Rässonements“ handeln, was ihm die Möglichkeit gibt, solche Botschaften auch aus juristischer Sicht zu betrachten und zu bewerten. Storm hat allerdings in späteren Fassungen der Novelle die Fälle solchen Räsonierens reduziert22. Einiges ist aber geblieben. Hierher hat man beispielsweise die Äußerung des Bürgermeisters am Ende der Kernhandlung zu zählen: Nachdem dieser John von Rechtes wegen seine Strafe abgebüßt hatte, wurde er, wie gebräuchlich, der lieben Mitwelt zur Hetzjagd überlassen. Und sie hat ihn nun auch zu Tode gehetzt; denn sie ist ohn Erbarmen. (48)

Im Storm-Schrifttum wird freilich bestritten, dass die Novelle Justizkritik (und damit Gesellschaftskritik) enthalte. Es wird darauf hingewiesen, dass das zentrale Motiv das verletzte Ehrempfinden des Protagonisten sei23 und dass die Rahmenhandlung mit ihrem happy end gleichsam alles wieder ins Lot bringe24. Dabei wird aber zum einen übersehen, dass das verletzte Ehrempfinden Hansens durch den Strafvollzug induziert ist, und dass das glückliche Ende des Rahmenhandlung nur der Tochter, nicht aber dem Vater zugutekommt. Im Übrigen wäre ein schwaches literarisches Werk jenes, das sich in einer einzigen Botschaft oder einem einzigen Motiv erschöpft.

2. Das Urteil Beginnen wir also am Anfang der Novelle. John Hansen, schon immer ein cholerischer Typ, begibt sich nach ordnungsgemäß abgeleistetem Militärdienst auf der Suche nach Arbeit in die nahe gelegene Stadt, gerät dort in die Gesellschaft eines „alten Halunken“ (15), der „wegen Trunkfälligkeit aus der Arbeit gejagt war“ (15), und begeht mit ihm gemeinsam zur Nachtzeit einen Raub25 21 22 23 24

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„Bilde, Künstler! Rede nicht! / Nur ein Hauch sei dein Gedicht“: Goethes Werke. Sophien-Ausgabe. 2. Band. Weimar 1888, S. 167. Dazu Zimorski (wie Fußn. 20), S. 73. Mückenberger, Theodor Storm (wie Fußn. 3), S. 244. Goldammer, Storm (wie Fußn. 8), S. 172: „Storm bleibt auch unverändert auf dem Standpunkt einer bürgerlich-patriarchalischen Ordnung. Nicht unter gesellschaftlichen, sondern allein [sic!] unter ethischen Aspekten betrachtet er das Problem“. Storm selbst spricht von einem „Einbruchdiebstahl“ (16); § 243 Abs. 1 Nr. 2 (Einbruchdiebstahl) RStGB trat jedoch damals wie heute gegenüber den hier einschlägigen Raubvorschriften zurück; dasselbe gilt für die Nötigung (§ 240 RStGB/StGB).

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im Hause des Ex-Senators Quanzberger, bei dem der letztere gebunden und geknebelt wurde und noch wochenlang traumatisiert war und seinem Diener Nikolaus durch einen Schlag über den Schädel „nur mit genauer Not noch Leib und Seele beieinander geblieben“ waren (16). Das Gericht verurteilt John Hansen zu sechs Jahren Zuchthaus. Nach § 249 des Reichsstrafgesetzbuches (RStGB) handelte es sich bei der Tat um einen Raub, denn John und sein Mittäter Wenzel hatten „mit Gewalt gegen […] Person[en] eine fremde bewegliche Sache einem anderen in der Absicht“ weggenommen, „sich dieselbe rechtswidrig zuzueignen“26. An dieser Absicht rechtswidriger (Selbst-) Zueignung besteht auch nicht etwa deshalb Zweifel, weil Hansen die bei dem Raub erbeutete goldene Uhr des Ex-Senators „schon am Tage nach der Tat einem jungen Vetter auf dem Lande als Konfirmationsgeschenk gegeben hatte“, denn die im Verschenken der Sache liegende Anmaßung einer eigentümergleichen Stellung schloss (und schließt bis heute)27 ein „Sichzueignen“ nicht aus; überdies muss nach allgemeiner Auffassung in Rechtsprechung und juristischem Schrifttum nur die Enteignung des Berechtigten als dauernde gewollt sein, während es für die Aneignung genügt, dass sie vorübergehend beabsichtigt ist28. Da die beiden Täter den Raub „zur Nachtzeit in einem bewohnten Gebäude“ begangen haben, ist auch noch § 250 Abs. 1 Nr. 4 RStGB zu berücksichtigen29. Aufgrund dieses Qualifikationsgrundes verschiebt sich der Strafrahmen, der beim einfachen Raub von einem Jahr bis zu 15 Jahren Zuchthaus reicht (§ 249 Abs. 1 in Verb. mit § 14 RStGB), auf Zuchthausstrafe von fünf Jahren bis zu 15 Jahren (§ 250 Abs. 1 Nr. 4 in Verb. mit § 14 RStGB). Der Strafrahmen für den Fall des Vorliegens mildernder Umstände verschiebt sich von Gefängnisstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren auf Gefängnisstrafe von einem

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Der heutige § 249 StGB ist gegenüber dieser ursprünglichen Fassung weitgehend unverändert; allerdings ist 1998 der Anwendungsbereich auf die Fälle ausgedehnt worden, in denen der Täter in der Absicht handelt, die Sache einem Dritten zuzueignen; zu diesem Problem sogleich. Vgl. statt vieler Kindhäuser, in: Nomos-Kommentar zum StGB. 3. Aufl. Baden-Baden 2010, § 242 Rdnr. 105. Wegen der inzwischen erfassten Drittzueignung (s. vorige Fußn.) ist das Abgrenzungsproblem zwischen Selbst- und Drittzueignung freilich von geringer Bedeutung. S. statt aller Kindhäuser, a.a.O., § 242 Rdnr. 123. Die Vorschrift verlangt zusätzlich, dass der Täter sich zur Begehung eines Raubes oder Diebstahl in das Haus eingeschlichen oder sich gewaltsam Eingang verschafft hat oder sich in ihm verborgen hat. Eine dieser Varianten ist mit Sicherheit erfüllt, so dass es insoweit keiner weiteren Erörterung bedarf.

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Jahr bis zu fünf Jahren (§ 249 Abs. 2 bzw. § 250 Abs. 2 in Verb. m. § 16 RStGB). Wenn das Gericht John Hansen und seinen Mittäter zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt hat, so hat es sich damit im untersten Bereich der positivrechtlichen Strafskala gehalten, falls keine mildernden Umstände vorgelegen haben. Ob letzteres der Fall war, ist ohne weitere Detailangaben schwierig zu beurteilen. Dass „nach der Publizierung des Urteils auch unter den städtischen Honoratioren von mancher Seite für den Verurteilten Partei ergriffen wurde“ (16), ist für sich allein noch kein mildernder Umstand; er mag jedoch auf das Vorliegen solcher schließen lassen. Hansens Arbeitslosigkeit und sein vergebliches Bemühen um Arbeit zur Tatzeit hätte vielleicht eine Rolle spielen können. Sollte dem Gericht bekannt gewesen sein, dass ihn sein Jähzorn während des Militärdienstes fast zu einer schweren Gewalttat gegenüber einem Vorgesetzten hingerissen hätte (14), wäre dies vielleicht erschwerend berücksichtigt worden; gegen die Annahme mildernder Umstände sprach auch die lebensgefährliche Verletzung des Dieners30. Sollte Hansen bei Begehung der Tat noch nicht volljährig gewesen sein, so käme nach heutiger Rechtslage Jugendstrafrecht mit seinen teils anderen, teils milderen Sanktionen zur Anwendung. Ein solches gab es nach dem Reichsstrafgesetzbuch nur in recht rudimentärer Form. Nach § 56 RStGB war ein Jugendlicher, der bei Begehung der Tat das zwölfte, aber nicht das achtzehnte Lebensjahr vollendet hatte, freizusprechen, wenn er „die zur Erkenntniß ihrer Strafbarkeit erforderliche Einsicht nicht besaß“. Nach § 57 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 RStGB war, wenn er diese Einsicht besaß, in Fällen wie dem vorliegenden „die Strafe zwischen dem gesetzlichen Mindestbetrage der angedrohten Strafart und der Hälfte des Höchstbetrages der angedrohten Strafe zu bestimmen“; außerdem trat an die Stelle der Zuchthausstrafe „Gefängnißstrafe von gleicher Dauer“ (§ 57 Abs. 1 S. 2). Demnach hätte der Strafrahmen von 6 Monaten bis zu 7 Jahren und sechs Monaten Gefängnis gereicht. Dass in der Novelle keinerlei Hinweis in dieser Richtung auftaucht, spricht dafür, dass Hansen nicht mehr unter die Regelung der §§ 56, 57 fiel.

Da keine weiteren Details mitgeteilt werden, kann man dem Gericht keinen Rechtsfehler attestieren; vielmehr deutet sich sogar als Möglichkeit an, dass die gute Meinung der Honoratioren, zu denen ja auch die Richter zählen, sich in dem (verhältnismäßig) niedrigen Strafmaß niedergeschlagen hat. Eine 30

Nicht anwendbar war § 251 RStGB, der die Mindeststrafe auf 10 Jahre anhob, wenn die gegen einen Menschen angewendete Gewalt eine „schwere Körperverletzung“ verursacht hat, denn damit waren nur die in § 224 RStGB enumerativ aufgeführten Folgen in Bezug genommen. Der Fall, dass der Betroffene „in die Gefahr des Todes“ gebracht wird, ist als Qualifikationsgrund erst durch das Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch vom 2. März 1974 ergänzt worden. Auch hier ist also – gleichsam in der Gegenrichtung – dem Gericht kein Rechtsfehler anzukreiden.

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Strafaussetzung zur Bewährung wäre im Übrigen bei diesem Strafmaß auch nach heutiger Rechtslage nicht möglich31.

3. Die Haft Hansen hat seine Zuchthausstrafe voll verbüßt: Auch sechs Jahre im Zuchthaus vergehen endlich; voll hatte er sie absitzen müssen, denn es war in währender Zeit im Lande weder ein König gekrönt, noch einer geboren worden. (17)

Dies entspricht nun freilich nicht ganz der deutschen Rechtslage. Zwar gaben in der Tat die im Text erwähnten Feierlichkeiten häufig Anlass für Amnestien und Begnadigungen32. Und richtig ist auch, dass es Einrichtungen wie den offenen oder halboffenen Vollzug damals noch nicht gab. Das Reichsstrafgesetzbuch eröffnete in § 23 aber auch die rechtliche Möglichkeit der vorzeitigen Entlassung: Die zu einer längeren Zuchthaus- oder Gefängnißstrafe Verurtheilten können, wenn sie drei Viertheile, mindestens aber Ein Jahr der ihnen auferlegten Strafe verbüßt, sich auch während dieser Zeit gut geführt haben, mit ihrer Zustimmung vorläufig entlassen werden.

Zuständig für die Entscheidung über die vorläufige Entlassung war nach § 25 Abs. 1 RStGB die oberste Justiz-Aufsichtsbehörde, in unserem Fall also das preußische Justizministerium, das zuvor „die Gefängnißverwaltung zu hören“ hatte. Setzt man voraus, dass Hansen mit einer vorläufigen Entlassung einverstanden gewesen wäre, sodass seine Zustimmung kein Problem aufwarf, so kam es auf die weitere Voraussetzung der guten Führung. Da Hansen „mit guten Zeugnissen entlassen war“ (17), kann auch diese Voraussetzung jedenfalls nach der Papierform als gegeben angesehen werden. Warum er dann doch die sechs Jahre voll hat absitzen müssen, wird nicht klar. Die Entscheidung über die Entlassung lag freilich beim Justizministerium. Da es sich um eine Kann-Vorschrift handelte, musste die Bewilligung der vorläufigen Entlassung, nicht ihre Versagung begründet werden. Zu denken ist auch daran, dass die Gefängnisverwaltung trotz der äußerlich guten Führung des Delinquenten bei diesem – ebenso nach der Entlassung 31

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Stark vereinfacht gesagt ist sie nach heutiger Rechtslage bei Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr auszusprechen, falls keine Gründe dagegen sprechen, bei Freiheitsstrafe von über einem Jahr bis zu zwei Jahren kann sie ausgesprochen werden, wenn besondere Umstände dafür sprechen (§ 56 Abs. 1 und 2 StGB). S. dazu zuletzt Sylvia Kesper-Biermann, Gerechtigkeit, Politik und Güte. Gnade im Deutschland des 19. Jahrhunderts, in: Jahrbuch der jur. Zeitgeschichte 13 (2012), S. 21 ff.

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seine Umgebung – „den Grimm und Trotz“ bemerkt hatte, „der […] aus seinen dunklen Augen brach“. Der Handlungs- und Motivführung der Novelle würde dies entsprechen, denn Hansens Jähzorn zieht sich als einer der roten Fäden durch die gesamte Handlung, beginnend mit dem Wutausbruch gegen den Kapitän während seiner Militärdienstzeit und endend mit der Tötung seiner Frau. Im heutigen Strafvollzug wäre dieser Jähzorn, wenn er aufgefallen wäre, wohl Anlass zu einem Gesprächs- und eventuell zu einem Therapieangebot geworden. Es wäre wohl auch das Leiden Hansens an seiner verletzten Ehre zu Sprache gekommen, denn dieses Leiden steht offenkundig – und sei es als Katalysator – im Zusammenhang mit seinem Jähzorn. Ein solches Eingehen auf Bedürfnisse des Strafgefangenen entsprach jedoch nicht den damaligen Auffassungen von den Aufgaben des Strafvollzuges. Zwar war in der Zeit der Abfassung der Novelle die Gefängnisreform ein weit verbreitetes Schlagwort; es kamen Reformvorschläge aus Amerika und England, und auch in Deutschland gab es Experimente in dieser Richtung33. 1883 forderte der Strafrechtswissenschaftler Franz von Liszt in seinem folgenreichen „Marburger Programm“ Der Zweckgedanke im Strafrecht neben der Abschreckung der nicht Besserungsbedürftigen und der Unschädlichmachung der Unverbesserlichen die Besserung der Besserungsfähigen34. Vorherrschend war aber immer noch die Auffassung, dass der Strafvollzug nur der Verwahrung des Verurteilten als Ausgleich für Unrecht und Schuld der Straftat dienen sollte; begründet wurde dies mit der Autonomie der Persönlichkeit des Verwahrten, die es nicht zulasse, ihn zum Objekt erzieherischer Einwirkung zu machen. Dafür berief man sich – nicht unbedingt mit Recht – auf die Strafrechtslehre Immanuel Kants35. Auch für Hansen wird 33 34

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Näher Eberhard Schmidt, Zuchthäuser und Gefängnisse, Göttingen o.J.; Th. Vormbaum, Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte. 2. Aufl. 2011, S. 111 ff. Franz von Liszt, Der Zweckgedanke im Strafrecht, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 3 (1883), S. 1 ff.; Neuausgabe mit einer Einführung von Michael Köhler in der Schriftenreihe „Juristische Zeitgeschichte – Kleine Schriften“ Bd. 6. Berlin 2002. Für den Nichtjuristen sei darauf hingewiesen, dass Franz von Liszt der Vetter des Komponisten Franz Liszt war; dieser hatte nach dem Empfang der niederen Weihen den vom Kaiser empfangenen Adelstitel auf seinen Onkel, den Vater des Kriminalisten, übertragen lassen. Hier nur anzudeuten ist, dass mancher Anlass besteht, das Werk Franz von Liszt (das zweifellos folgenreich für die Entwicklung des deutschen Strafrechts war) insgesamt skeptisch zu betrachten (was allerdings wohl nicht der überwiegenden Auffassung in der Strafrechtswissenschaft entspricht); näher zu diesem Aspekt: Vormbaum, Einführung, (wie Fußn. 33) S. 133 ff. Zu dieser Lehre s. Vormbaum, Einführung, S. 38 ff.; zu einer Interpretation der Kant‘schen Strafrechtslehre, die Autonomie und Erziehung verbindet, indem sie Erzie-

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daher im Strafvollzug im Zweifel die Arbeit36 die hauptsächliche Betätigung gewesen sein.

4. Die Rückkehr „Resozialisierung“ erfasst aber nicht nur die Behandlung im Strafvollzug, sondern auch die Begleitung auf dem Rückweg in die Gesellschaft. Auch in dieser Hinsicht war das Recht in der Erzählzeit zurückhaltend. Die Rückkehr wurde als Polizeiproblem angesehen. Das Misstrauen der Polizei, in der Novelle durch den „Polizeisoldaten“ (43) Lorenzen repräsentiert, mischt sich mit demjenigen der Gesellschaft, die „den Zuchthäusler nicht will“ (17). Die oben in anderem Zusammenhang schon erwähnte Selbststigmatisierung kommt hinzu. Auch als John Hansen dann doch eine Arbeitsstelle findet, öffnet sich gleich neben ihr jener verlassene Brunnen, dessen Erwähnung die Novelle hartnäckig durchzieht und der schließlich sein Grab wird – Symbol für die Gefahren des modernen Strafrechtssystems, das an die Stelle des alten Systems mit seinem dreibeinigen Galgen (17)37 und dem Schinderhaus (18) getreten ist; der Weg, auf dem die Rückkehr in die Gesellschaft stattfindet, verläuft an der Fallgrube entlang; auf der verfallenen Brunnenplanke sitzt immer noch eine Krähe – ein Rabenvogel also, der seit alters als Galgenvogel bekannt ist und hochgelegenen Hinrichtungsstätten den Namen „Rabenstein“ verliehen hat38.

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hung im Strafvollzug (nur) als Angebot vorsieht, s. Sandra Müller-Steinhauer, Autonomie und Besserung im Strafvollzug. Resozialisierung auf Grundlage der Rechtsphilosophie Immanuel Kants. Münster u.a. 2001. Nach § 15 Abs. 1 RStGB sind „die zur Zuchthausstrafe Verurtheilten in der Strafanstalt zu den eingeführten Arbeiten anzuhalten“. Absatz 2 ließ die Beschäftigung außerhalb der Anstalt zu; doch mussten die Gefangenen „dabei von anderen freien Arbeitern getrennt gehalten werden“. Die Todesstrafe war freilich nach langem und heftigem Ringen – wenn auch mit reduziertem Anwendungsbereich – im Reichsstrafgesetzbuch beibehalten worden; s. dazu in Kürze Markus Hirte, Die Todesstrafe in der Entstehung des Reichsstrafgesetzbuchs. Münster, Berlin 2013. Die öffentliche Hinrichtung war in Preußen 1851 durch die intramurane Hinrichtung ersetzt worden, allerdings sollte gemäß § 8 des preußischen Strafgesetzbuchs „die Vollstreckung des Todesurtheils […] durch das Läuten einer Glocke angekündigt [werden], welches bis zum Schlusse der Hinrichtung andauert“; s. zum Ganzen: Nicola Willenberg, Das Ende des „Theater des Schreckens“. Zum Wandel der Inszenierung der Todesstrafe in Preußen im 19. Jahrhundert, in: Reiner Schulze / Thomas Vormbaum / Christine D. Schmidt / Nicola Willenberg (Hrsg.), Strafzweck und Strafform zwischen religiöser und weltlicher Wertevermittlung. Münster 2008, S. 265 ff. Zum Rabenstein s. Hans von Hentig, Der Rabenstein, in: Ders., Studien zur Kriminalgeschichte. Bern 1962, S. 9 ff.; vgl. auch J. W. Goethe, Faust I. Szene „Nacht. Offenes Feld“: „Was weben die dort um den Rabenstein? […]“.

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Man versteht, dass Storm der Novelle ursprünglich den Titel „Der Brunnen“ geben wollte39. Dafür, dass aus der Rückkehr in die Gesellschaft eine Heimkehr wird, gab und gibt es damals wie heute zwei Faktoren, die in den Augen von Justiz und Polizei für eine positive Sozialprognose bei der Entlassung (und heute auch als Faktoren für eine positive Sozialprognose bei der Strafaussetzung zur Bewährung) besondere Bedeutung besitzen: das Finden einer Arbeitsstelle und eine feste (Liebes-) Beziehung. John Hansen hat in beiderlei Hinsicht Glück: Er findet eine Anstellung als Aufsichtsmann auf einer Zichorien-Plantage und dort auch eine Frau, die er heiratet. Er selbst bewahrt sie vor dem Fall in den Brunnen; und sie sagt zu ihm „Komm weg vom Brunnen! Du sollst nicht drunten liegen“ (19). Der Brunnen lässt ihm keine Ruhe, und er sorgt dafür, dass sein Arbeitgeber einen Zimmermann damit beauftragt, „ein rohes, aber derbes Brettergerüst um den alten Brunnen [zu schlagen]“ (20). Damit scheinen die äußerlichen Bedingungen dafür, dass aus der Rückkehr eine Heimkehr wird, günstig. Es bleibt aber der der persönliche Faktor. Aus Hansens „dunklen Augen“ brach „Grimm und Trotz“; als „finsterer Aufsichtsmann“ (17 f.) hält er die Feldarbeiterinnen „mit seinen finsteren Augen“ zur Arbeit an (17). Aber auch hier bahnt sich eine positive Entwicklung an; mit der Erwiderung seiner Liebe durch Hanna war „der gefährliche Mensch […] wie ein Kind geworden“ (19). Die beiden positiven Faktoren treffen also zusammen; Hansen weiß dies, denn gleich nach der Erwiderung der Liebeserklärung durch Hanna ruft er aus: „[…] und Arbeit […], die soll für uns nicht fehlen“ (19).

5. Rückkehr ohne Heimkehr Aber schon bei der ersten öffentlichen Lustbarkeit, der Betriebsfeier zum Anstich des „Zichorienbiers“, zeigt sich, dass die Gesellschaft den Zuchthäusler schneidet. John bemerkt es und er „klemmte die Lippen zusammen“ (21). Nicht alle verhalten sich so; vor allem der Bürgermeister, „einer von denen, deren Teilnahme damals den Verurteilten in das Zuchthaus begleitet hatte“, der auch später zu ihm halten wird und der am Ende mit den bereits zitierten Worten den Anteil der Gesellschaft am unglücklichen Ende Hansens formulieren wird, durchschaut im Gespräch mit der Schwägerin des Arbeitgebers die

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Brief vom 5. Juli 1886 an K.F. Franzos, hier zitiert nach Zimorski, Wort- und Sachkommentar (wie Fußn. 20), S. 67.

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Dialektik zwischen der Stigmatisierung und der Aktualisierung der „grimmigen“ Veranlagung Hansens: er […] ist nicht glücklich und wird es nimmer werden. […] Es tut mir leid um diesen Menschen: das Glück in seinem Arm mag echt genug sein, ihm wird es nichts nützen; denn in seinem tiefsten Innern brütet er über einem Rätsel, zu dessen Lösung ihm weder sein Glück, wie Sie das junge Kind in seinen Armen zu nennen belieben, noch irgend ein anderer Mensch auf Erden verhelfen kann. […] Das Rätsel heißt: „Wie find ich meine verspielte Ehre wieder?“ – – Er wird es niemals lösen.

Und er fragt sich: „Wie lange noch wird’s dauern“ (22). Der Erzähler beruhigt den Leser zunächst: „Es dauerte doch noch ziemlich lange“. Sein Arbeitgeber hält zu ihm, obwohl „ihm geraten wurde, den Zuchthäusler vor die Tür zu setzen“ (ebd.); seine Frau ist seine Zuflucht und hilft ihm über die fortdauernden Äußerungen gesellschaftlicher Missachtung hinweg: Er wird nicht zum Fest der Brückenarbeiter eingeladen, die Hebamme hat es mit dem Erscheinen am Bett der Gebärenden nicht eilig („an so etwas stirbt Euresgleichen nicht“) (24). Und die Geburt des Kindes macht ihm seine Lage klar: „‘Eine Züchtlingstochter!’ murmelte er; dann fiel er auf die Knie: ‘Möchte Gott sie wieder zu sich nehmen’“ (24). Und es wird nicht besser. Je feindlicher „ihm die Welt entgegen“ steht (24), umso mehr stigmatisiert er sich selbst: Wo […] eine Hand erbarmungslos an jene offene Wunde seines Lebens rührte, wo er’s nur glaubte, da fielen die starken Arme ihm an seinem Leib herunter, da war nichts mehr zu schützen oder gar zu rächen. (25)

Auch das Glück verlässt ihn allmählich. Mit dem Tod seines Arbeitgebers verliert er seine Arbeitsstelle und muss am Wege sitzen und Steine klopfen (25). Sein Missmut nimmt wieder zu, da auch seine Frau immer öfter abwesend ist, weil sie durch eigene Arbeit die Familienkasse aufbessert. Ehestreitigkeiten häufen sich; sein Jähzorn kehrt zurück und zum ersten Mal schlägt er nach seiner Frau (26). Solche Szenen mit anschließender Reue und Versöhnung wiederholen sich; einmal schlägt er sogar das Kind; die Umwelt nimmt nur den Streit, aber nicht die Versöhnung wahr (28).

6. Hannas Tod Die Katastrophe beginnt, als seine Frau, die seine Zuchthauszeit bis dahin niemals erwähnt hat – nicht aus Schonung, sondern weil sie „des Mannes Jugendschuld […] mehr [als] ein Unglück als ein Verbrechen“ ansah (29) – ihn während einer Auseinandersetzung an seine dortige Tätigkeit des WolleSpinnens erinnert (30).

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[Er] fasste […] sie an beiden Schultern, zog sie an sich […] und stieß sie gewaltsam von sich. Der Stuhl, auf welchem sie gestanden hatte, fiel zurück […] das Weib […] stürzte gegen den Ofen; dann glitt sie mit einem schwachen Wehlaut auf den Boden. […] Als er ein wenig seine Augen hob, sah er an einem hervorstehenden Schraubenstift des Ofens, von dem das Kind den Messingknopf zum Spielen abgenommen hatte, einen Tropfen roten Blutes hängen. Er kniete nieder und fuhr suchend mit den Händen durch das volle Haar seines Weibes; plötzlich wurden seine Finger feucht; er zog sie hervor. „Blut!“ schrie er […]; dann fuhr er fort zu suchen, hastig mit fliegendem Atem, und – nun hatte er es gefühlt […]; da, da quoll es hervor, da war der Stift hineingedrungen; tief – er wußte nicht, wie tief […]. (31)

Fragt man nach der strafrechtlichen Bewertung des Vorgangs, so scheidet ein vorsätzliches Tötungsdelikt (Mord, § 211 RStGB; Totschlag, § 212 RStGB) von vornherein aus, denn selbst die schwächste Vorsatzform, der sog. dolus eventualis (für möglich halten und bewusst in Kauf nehmen), liegt offenkundig nicht vor. Vorsätzlich begangen hat Hansen freilich eine Körperverletzung (§ 223 RStGB). Seit einer Änderung des Reichsstrafgesetzbuches im Jahre 187640 gab es außerdem den Tatbestand der gefährlichen Körperverletzung nach § 223a RStGB, die mit höherer Strafe bedroht war. Geht man von der Entstehungszeit der Novelle (1886) aus, so galt dieser Tatbestand bereits. In Betracht kämen zwei Varianten des § 223a RStGB (heute in den hier interessierenden Passagen unverändert § 224 StGB): die Körperverletzung mit einem gefährlichen Werkzeug, sowie die Körperverletzung mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung. Nach der Rechtslehre ist ein gefährliches Werkzeug ein Gegenstand, der bei der konkreten Art seiner Anwendung erhebliche Verletzungen herbeizuführen geeignet ist. Dies dürfte bei einem Eisenofen in aller Regel zu bejahen sein; jedoch wird überwiegend angenommen, der Wortsinn von „Werkzeug“ verlange, dass es sich um einen beweglichen Gegenstand handelt41. Es reicht danach nicht aus, dass das Opfer gegen einen unbeweglichen Gegenstand bewegt worden ist; insoweit ist der in der Novelle geschilderte Sachverhalt geradezu ein Schulfall für diese Fallkonstellation. Was die das Leben gefährdende Behandlung angeht, so ist diese, wie der Erfolg zeigt, zu bejahen; jedoch muss dieser Umstand vom Vorsatz des Täters umfasst sein; dies ist, wie die Erzählung zeigt, ersichtlich nicht der Fall. Eine Strafbarkeit wegen gefährlicher Körperverletzung nach § 223a StGB scheidet daher aus.

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Gesetz betreffend die Abänderung von Bestimmungen des Strafgesetzbuchs für das Deutsche Reich vom 15. Mai 1871, vom 6. Februar 1876, sowie Neubekanntmachung vom selben Tag (abgedruckt in: Thomas Vormbaum / Jürgen Welp, Das Strafgesetzbuch. Sammlung der Änderungsgesetze und Neubekanntmachungen. Bd. 1 [1870 bis 1953]). Baden-Baden 1999, Nr. 3 und 4, in Kraft getreten am 20. März 1876. Nachweise b. Paeffgen, Nomos-Kommentar zum StGB. 3. Aufl. Baden-Baden 2010, Rdn. 14 (mit Fußn. 56) zu § 224 StGB.

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In Betracht kommt eine Körperverletzung mit Todesfolge nach § 226 RStGB. Dieser Tatbestand verlangt eine vorsätzliche Körperverletzung, die für den Tod des Opfers ursächlich geworden ist, ohne dass diese Todesfolge vom Vorsatz erfasst sein muss. Der Grund für die verhältnismäßig hohe Strafdrohung (§ 226 RStGB: Zuchthaus- oder Gefängnisstrafe nicht unter drei Jahren) erklärt sich aus dem vorsätzlichen Charakter der zugrunde liegenden Körperverletzung; der Täter hat also nicht, wie im Falle der fahrlässigen Tötung (§ 222 RStGB), gänzlich unvorsätzlich gehandelt, sondern hat die zum Tode führende Kausalkette mit Körperverletzungsvorsatz in Gang gesetzt. Allerdings muss hier zwischen der heutigen und der damaligen Rechtslage unterschieden werden. Nach heutiger Rechtslage, die sich aus § 18 StGB ergibt42, muss in solchen Fällen der Täter im Hinblick auf die schwere Folge „mindestens fahrlässig“ gehandelt haben. Darüber hinaus verlangt die ganz überwiegende Auffassung in der Rechtslehre, dass zwischen der vorsätzlichen Grundhandlung (hier also der Körperverletzung) und der schweren Folge (hier also dem Todeseintritt) ein spezifischer Zusammenhang in der Weise besteht, dass sich in der schweren Folge gerade die in der Grundhandlung liegende Gefährlichkeit realisiert haben muss. Letzteres erscheint hier nicht unproblematisch, wenn man bedenkt, dass der Schraubenstift des Ofens erst dadurch seine Gefährlichkeit gewonnen hat, dass das Kind „den Messingknopf zum Spielen abgenommen hatte“. Wäre also nach heutiger Rechtslage der erschwerte Fall der Körperverletzung mit Todesfolge (heute § 227 StGB) möglicherweise nicht zu bejahen, so kann dies vorliegend dahinstehen, denn nach der damaligen Gesetzeslage und Rechtsauffassung genügte der objektive Eintritt der schweren Folge, um die höhere Strafdrohung zu aktualisieren. Demnach hat Hansen eine Körperverletzung mit Todesfolge nach § 226 RStGB begangen. Damit erübrigen sich – anders als dies nach heutigem Recht der Fall wäre – Erörterungen zur fahrlässigen Tötung nach § 222 RStGB43.

7. Das Schweigen des Nachbarn Der Nachbar Tischler, der die dem Tod Hannas vorausgehende Streitigkeit gehört hat, kommt hinzu, als sich das tragische Geschehen gerade vollendet hat; er glaubt Hansens wahrheitsgetreuem Bericht sogleich: Er „kannte seinen 42 43

§ 18 StGB ist inhaltsgleich mit dem 1953 in das Strafgesetzbuch eingefügten § 56 StGB. Würde man auf der Grundlage des heutigen Rechts die Anwendbarkeit des § 227 StGB (Körperverletzung mit Todesfolge) verneinen, so müsste der Tatbestand der fahrlässigen Tötung (§ 222 StGB) schon deshalb genau geprüft werden, weil nur bei seiner Bejahung der Umstand des Todeseintritts strafrechtlich zum Ausdruck gebracht würde.

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Mann; er glaubte seinem Berichte: er wußte, er brauchte nicht weiter darüber zu reden“ (32); und er zimmert der Toten sogar einen anständigen Sarg auf Kredit Hansens (der später alles auf Heller und Pfennig bezahlt). Er begleitet die Tote als einziger neben Hansen auf ihrem letzten Weg; „dann war er in sein Haus zurückgekehrt“ (33). Eine Meldung hat er offenbar nicht erstattet. Wie die Bestattung erfolgen konnte, ohne dass eine ärztliche Todesbescheinigung ausgestellt wurde, die höchstwahrscheinlich zur Entdeckung des „nicht natürlichen Todes“44 und damit zur Kenntnisnahme der Anklagebehörde geführt hätte, wird in der Novelle nicht mitgeteilt. Das bloße Unterlassen der Anzeige der begangenen Straftat ist als solches nicht strafbar: § 139 RStGB (weitgehend inhaltsgleich heute § 138 StGB) stellt nur die Nichtanzeige des Vorhabens bestimmter schwerer Straftaten unter Strafe, nicht aber die Nichtanzeige begangener Straftaten. Eine persönliche Begünstigung (§ 257 RStGB)45, die voraussetzt, dass der Täter nach Begehung einer Straftat „dem Thäter oder Theilnehmer wissentlich Beistand leistet, um denselben der Bestrafung zu entziehen“, könnte hier allenfalls in der Form des Unterlassens in Betracht kommen, denn das Herstellen des Sarges wird man den Umstände nach nicht als ein „Beistand-leisten“ bezeichnen können, und subjektiv erfolgte es nicht „um“ Hansen „der Bestrafung zu entziehen“. Um für ein Unterlassen bestraft zu werden bedarf es – außer in den Fällen, in denen das Gesetz das Untätig-bleiben ausdrücklich unter Strafe stellt (wie z.B. im Falle der Unterlassenen Hilfeleistung) – einer besonderen Rechtspflicht zum Handeln („Garantenstellung“); an dieser fehlt es dem Nachbarn Tischler jedoch.

8. Ein kurzes Glück Noch einmal meint es das Schicksal gut mit Hansen. Die alte Mariken tritt in seinen Haushalt ein und kann sich um die kleine Halbwaise kümmern (35), sodass Hansen zur Arbeit gehen kann – eine Zeit, die sich dem Kind, der Förstersgattin der Rahmenhandlung, als eine glückliche eingeprägt hat (37); das vorübergehende Mitleid der Stadt mit der Kleinen verhilft Hansen sogar zu Arbeitsstellen, „die ihm sonst nicht gekommen wären“ (37). Er kann dem Kind Tafel und Fibel bezahlen, damit ihm die alte Mariken Lesen und Schreiben beibringen kann (37). Ein Glück – aber nur ein kurzes. 44

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§ 159 StPO (= § 157 RStPO): „(1) Sind Anhaltspunkte dafür vorhanden, dass jemand eines nicht natürlichen Todes gestorben ist […], so sind die Polizei- und Gemeindebehörden zur sofortigen Anzeige an die Staatsanwaltschaft oder an das Amtsgericht verpflichtet. (2) Zur Bestattung ist die schriftliche Genehmigung der Staatsanwaltschaft erforderlich“. Heute unter dem Namen „Strafvereitelung“ geregelt in § 258 StGB.

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9. Die Katastrophe Ein kalter Winter raubt Hansen die Arbeit. Es fehlt an allem, auch an Heizmaterial. In Hansens Vorstellung taucht der Bretterverschlag am Brunnen draußen auf dem Felde auf. „Hatten die Bretter einst sein Weib geschützt, sie konnten nun sein Kind erwärmen“ (40). Die Kette Arbeitslosigkeit – Armut – Kälte mündet in den Holzdiebstahl. Der Täter bleibt unentdeckt; Hansen entgeht einer Strafe, die erst ab einer Gesetzesänderung im Jahre 1912 unter dem Gesichtspunkt des „Notdiebstahls“ eine Milderung hätte erfahren können46. Doch er hat sich schon sein Grab bereitet (42). Zunächst scheint alles noch einmal gut zu gehen, denn nach dem Ende des Winters findet er wieder Arbeit. Die endgültige Katastrophe setzt damit ein, dass sein ehemaliger Mittäter Wenzel, der zwischenzeitlich eine weitere Freiheitsstrafe abgesessen hat, ihm über den Weg läuft und sich – ungeachtet der Abwehr Hansens – an seine Fersen heftet. Diese Kontaktierungsversuche werden vom „Polizeisoldaten“ beobachtet, der nunmehr den geradezu klassischen kriminalistischen Fehler, nämlich den der verfrühten Hypothesenbildung, begeht. Die Hypothese der Unverbesserlichkeit des entlassenen Zuchthäuslers findet – und dies ist die bekannte Gefahr vorschneller kriminalistischer Hypothesen – leicht Bestätigung: die Beobachtung eines Gesprächs mit dem ehemaligen Komplizen reicht dafür bereits aus. Sie waren vordem zusammen im Zuchthaus; es dürfte nicht ohne Bedeutung sein, daß sie auch hier gleich wiederum zusammenstehen. (43)

Der Bürgermeister weist Lorenzen darauf hin, dass gegen Hansen nichts vorliege; der Gendarm ist ergrimmt „über die Zurückweisung seiner so wohl ausgesonnenen Schlüsse“ (44) (Hervorhebung von mir – T.V.). Und er sorgt für die Verbreitung diese „Schlüsse“ mit der Folge, dass Hansen nirgendwo mehr Arbeit findet. Vor die Alternative gestellt, sein Kind zum Betteln auszuschicken oder Nahrung zu stehlen, entschließt er sich zum Felddiebstahl; auf dem Heimweg mit dem gefüllten Kartoffelsack „strauchelt“ er und fällt in den Brunnen, wo er ebenso langsam verschmachtet und verwest, wie ehemals die Geräderten auf dem Rabenstein47. Gewiss nicht zufällig wird auch hier berich46

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§ 248a RStGB in der Fassung des Gesetzes, betreffend Änderungen des Strafgesetzbuchs vom 19. Juni 1912 (abgedruckt bei Vormbaum / Welp, Das StGB (wie Fußn. 40) unter Nr. 18: „(1) Wer aus Not geringwertige Gegenstände entwendet oder unterschlägt, wird mit Geldstrafe bis zu dreihundert Mark oder mit Gefängnis bis zu drei Monaten bestraft. (2) Die Verfolgung tritt nur auf Antrag ein. Die Zurücknahme des Antrags ist zulässig. […]“. Auf den Zusammenhang zwischen Schinderbrunnen und der Hinrichtung der Opfer der alten Justiz verweist auch Segeberg, Theodor Storm als „Dichter-Jurist“ (wie Fußn. 19), S. 78.

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tet, dass bei seinem Absturz „ein paar Vögel [..] in die Luft [schreckten]“ (47) und dass kurz darauf ein Falke „in den alten Schinderbrunnen hinabgestoßen“ war (48).

V. Die „Evaluation“ des Bürgermeisters Die Binnenhandlung endet mit dem bereits zitierten „Raissonnement“ des Bürgermeisters, der die „Hetzjagd“ der erbarmungslosen „lieben Mitwelt“ als Ursache von Hansens Ende diagnostiziert. Lesen wir diesen Satz isoliert, so könnte er uns als eine rein sozialkritische Evaluation der Ereignisse erscheinen. So leicht können wir es uns aber nicht machen, haben wir doch vom selben Bürgermeister bereits eine weitere Äußerung kennen gelernt, nämlich jene gegenüber der Schwägerin des Arbeitgebers, Hansen brüte „in seinem tiefsten Innern […] über einem Rätsel, zu dessen Lösung ihm [kein] […] Mensch auf Erden verhelfen kann. […] ‘Wie find ich meine verspielte Ehre wieder?‘ – – Er wird es niemals lösen“. Mit dieser Äußerung will er unmittelbar zwar nur erklären, warum Hansen niemals glücklich werden werde; doch sind das Gefühl des Unglücklich-Seins und das dann tatsächlich eintretende Unglück zu eng miteinander verbunden, um diese Unterscheidung für wesentlich zu halten. Der Bürgermeister ist ja auch kein Strafrechtstheoretiker oder Kriminalist, sondern tritt – obwohl oder gerade weil wahrscheinlich Jurist – als Mensch mit unverstelltem Rechtsempfinden und als Menschenkenner mit unbefangenem Blick auf die Gesellschaft auf. Er nimmt beide Aspekte wahr, welche den Protagonisten der Novelle ins Unglück stürzen – die gesellschaftlichen Blockaden gegenüber einer „Heimkehr“ des Vorbestraften, welche bestimmte Dispositionen bei diesem verstärken und damit wiederum deren Verarbeitung durch ihn behindern. Der Bürgermeister ist zugleich der Einzige, der effektiv so etwas wie einen Beitrag zur „Resozialisierung“ Hansens leistet, indem er ihm mit einem Kredit aushilft, den dieser auf Heller und Pfennig zurückzahlt (46). Der Bürgermeister ist es auch, der darauf besteht, ihn „John Hansen“ zu nennen, ihm also den unauffälligen Namen zu geben, der „bei uns so ist wie Sand am Meer“ (9), nicht den des „John Glückstadt“, jenen stigmatisierenden Namen der Strafanstalt, der als „doppelgängerischer Schatten“ (50) seinen Träger gleichsam zu einem Gegenbild des Schlemihl macht. Die Frage ist, ob man den Bürgermeister als einen Repräsentanten zukunftsweisender Vorstellungen oder eher als Überlebenden einer aufklärerischliberalen Tradition, die inzwischen in die Defensive geraten ist, ansehen soll. Im letzteren Fall wäre er dem alten Buck in Heinrich Manns Untertan ver-

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gleichbar, jenem „Achtundvierziger“, der – jedenfalls für den heutigen Leser – auf sympathische Weise aus der Welt gefallen zu sein scheint. Aber selbst wenn der Bürgermeister den zuerst genannten Typus repräsentiert, bleibt seine Haltung – und auch seine finanzielle Unterstützung für Hansen – Privatsache; als Amtsperson wird er nur insoweit tätig, als er den Polizisten Lorenzen anweist, Hansen in Ruhe zu lassen, und ihn – erfolglos – ermahnt, nicht Vorurteilen nachzuhängen. Nun ist der Bürgermeister als örtlicher Polizeichef (43 f.) immerhin Teil der Staatsgewalt; er könnte also auch in Amtseigenschaft versuchen, seinen Vorstellungen über den Umgang mit entlassenen Zuchthäuslern Geltung zu verschaffen. Der Grund dafür, dass er diesen Versuch nicht oder nur halbherzig unternimmt, könnte in seinem bereits mehrfach angesprochenen Satz sichtbar werden, dass John Hansen der „lieben Mitwelt zur Hetzjagd überlassen“ worden sei, die ihn nun „zu Tode gehetzt“ habe. Genau betrachtet enthält dieser Satz zwei miteinander im Zusammenhang stehende Aussagen: zum einen den Ausdruck einer pessimistischen Anthropologie, welche die gesellschaftlichen Vorurteile gegenüber Strafentlassenen für eine zeitlose Konstante hält. Betrachtet man die bis heute anhaltenden Widerstände gegen die Errichtung von Justizvollzugsanstalten und forensischen Einrichtungen in deren Umgebung und die nach wie vor bestehenden Vorurteile und Phobien gegenüber entlassenen Strafgefangenen (nicht etwa nur in Deutschland), so ist man versucht, dieser Auffassung zuzustimmen.

Eine Parallele zur Reaktion der „zu Tode hetzenden“ Umwelt in Storms Novelle ist die auch heute noch bestehende Bereitschaft der Politik, auf diese kollektiven Forderungen und Haltungen einzugehen bzw. vor ihnen zu resignieren und den Delinquenten „zur Hetzjagd zu überlassen“. Mit diesem Hinweis ist zugleich die Zeitlosigkeit der Haltung der „anderen Seite“ angesprochen. Die neue Zeit mit ihren Zuchthäusern anstelle von Galgen und Schindergrube hat nur einen dünnen Firnis über die alten Zustände gezogen. Die modernen Ausstoßungsrituale sind andere, aber sie sind immer noch solche. Auch hier gilt: „Tief ist der Brunnen der Vergangenheit“48. Und dass der Ausgestoßene am Ende in diesen Brunnen stürzt, von dem er früher, durch die Not getrieben, den schützenden Verhau selbst entfernt hat, steht für einen subtileren Mechanismus der Vernichtung als der direkte Zugriff auf den Körper des Delinquenten, wie ihn das vormoderne System kannte. 48

Thomas Mann, Joseph und seine Brüder. Vorspiel: Höllenfahrt, in: Ders., Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Taschenbuchausgabe. Band IV. Frankfurt am Main 1990, S. 9.

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VI. Die „Botschaft“ der Rahmenhandlung Sowenig Storm bzw. der Erzähler unserer Novelle ein Nostalgiker der alten Strafrechtsverhältnisse ist, sowenig ist er ein Enthusiast moderner Strafrechtsvorstellungen. Seine Kritik geht über diese Alternative hinaus. Gäbe es die Strafvollzugsanstalt „Glückstadt“ nicht wirklich, so hätte man deren Denomination in der Novelle als ingeniöses Sprachspiel des Erzählers mit dem Zynismus moderner Sprachmelioration verstehen können49, der eine Haltung verdeckt, die den Schicksalen der Delinquenten während und nach der Haft in bürokratischer Gefühllosigkeit zuschaut und nur auf den Augenblick wartet, in dem es Anlass zu erneutem polizeilichen Einschreiten gibt. Gerade diese Gleichgültigkeit aber könnte den Ansatz zur Deutung einer weiteren hier interessierenden50 „Botschaft“ der Novelle liefern. Und wie es nicht nur der Aufbau der Novelle, sondern auch der Inhalt der Botschaft nahe legt, ist diese nicht in der Binnenhandlung, sondern in der Rahmenhandlung zu suchen. Diese Rahmenhandlung ist verschiedentlich dahin interpretiert worden, dass sie den Ansatz zur Sozial- und Justizkritik, den die Binnenhandlung liefert, wieder aufhebe und auf die Idylle der bürgerlichen Familie als Lösung bzw. Überwindung sozialer Probleme verweise51. Diese Deutung hat zweifellos manches für sich. Sie schließt aber eine Deutung auf einer anderen, eben der hier interessierenden Ebene nicht aus; und diese Deutung reicht, wie auch der Jurist Storm sieht, über die rechtliche Dimension hinaus: Eben weil das Recht einerseits tief sitzenden gesellschaftlichen Vorurteilen52 nur bedingt Wider49

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Immerhin spielt der Erzähler im abschließenden Teil der Rahmenhandlung wirklich mit diesem Namen, allerdings bezieht er das „Glück“ nunmehr (nur) auf die Tochter John Hansens (51). Es geht also nicht um das Auffinden einer monistischen „Botschaft“, sondern nur um die Suche nach Antworten auf Fragen, welche aus der hier eingenommenen juristischen Perspektive gestellt werden. So. z.B. Goldammer (Zitat in Fußn. 24); tendenziell auch Dimitra Dimitropoulou, Bürgerliches Erziehungsverhalten und Persönlichkeitsformung im Spätwerk Theodor Storms (Diss. Kiel) 2003, S. 169, sowie Hartmut Vinçon, Theodor Storm in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. 15. Auflage. Reinbek b. Hamburg 1999, S. 152: „Für Storm liegt sie [sc. die Hoffnung auf eine erlösende Wendung] freilich nicht in der Befreiung der Arbeiterklasse, sondern in deren Verbürgerlichung. John Glückstadts Tochter gelingt dieser Aufstieg ins Bürgertum“. Ob diese tatsächlich eine anthropologische Konstante bilden oder auch von gesellschaftlichen Zuständen abhängen und mit deren Veränderung auch abgebaut werden könnten, ist eine weitere Frage. Immerhin kann man der Novelle entnehmen, dass mit der Sicherung von Arbeit und von Nahrung – Heines Lösung der „großen Suppenfrage“ – die Ereignisse möglicherweise einen weniger katastrophalen Verlauf genommen hätten.

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stand entgegensetzen kann, ist es andererseits auf eine Dimension angewiesen, die nicht nur über die rechtliche Vernunft hinausgeht; will man sie nicht sogleich als „Liebe“ bezeichnen53, so ist sie mit „Humanität“ doch annähernd beschrieben. Und weil in Storms Zeiten Humanität der Abstützung durch Religion zu bedürfen scheint, ist es denn ein Pfarrer-Ehepaar – das Elternpaar des Försters – das sich der kleinen Christine annimmt, das Zuchthäusler-Kind, von dem sein eigener Vater annahm, es wäre ihm besser gewesen nicht geboren zu sein oder bald zu sterben (24)54, ohne Vorurteile zur Pflege annimmt und es später als seine Schwiegertochter akzeptiert. Der schonende Umgang des Oberförsters mit seiner Frau, was deren Vergangenheit angeht und die einfühlsame Art, wie er ihr gegenüber mit der Wahrheit über ihren Vater umgeht, setzt diese Haltung der Eltern fort55. Mag sein, dass diese Schilderung der Rahmenhandlung eine bürgerliche Idylle oder gar bloß eine rein persönliche Attitüde charakterlich vorbildlicher Menschen56 malt – doch wenn schon nicht als soziale Lösungsbeschreibung, so taugt sie doch als ein „Tagtraum“ (Ernst Bloch), also als Eutopie eines humaneren menschlichen Zusammenlebens.

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Storm selbst bestätigt seinem Neffen Esmarch gegenüber, dass „[…] im Doppelgänger […] das Evangelium der Liebe“ stecke; zit. nach Vinçon, Storm, a.a.O., S. 152. „Eine Züchtlingstochter! […] Möcht Gott sie wieder zu sich nehmen!“ „Aus dem Staube des Weges haben meine lieben Eltern dieses Kind für mich aufgesammelt; ich dank es ihnen jeden Morgen […]“ (13). Es kommt in der Beschreibung des Oberförsters einiges zusammen: „leichter Humor“, der von der „Behaglichkeit des inneren Menschen“ zeugte (3; s. auch 6); „ruhiger Lebensernst“ (4); „Treuherzigkeit“ (5).

KOMMENTAR II

Walter Zimorski

Skandalöser Sozialkonflikt: Der Fall John Hansen alias John Glückstadt Arbeiterelend und Bürgerglück in Storms sozialdramatischer „Doppergänger“-Novelle

„... und Frühling war’s ja und die schönste Gegend Deutschlands“ – Weimar als kulturelles Reiseziel. Theodor Storm und Ferdinand Tönnies zu Besuch in Weimar im Mai 1886 „Mit dem alten Storm will ich Weimar und die Versammlung der GoetheGesellschaft besuchen, fahre dazu am Oster-Dienstag nach Hademarschen, mit ihm zusammen und einer Tochter [Elsabe], welche er dorthin zu längerem Aufenthalt und Musik-Studium bringen will“1

Gemeinsam mit seiner Tochter Elsabe und dem Soziologen Ferdinand Tönnies reiste Theodor Storm am 29. April 1886 von Hademarschen in Holstein nach Weimar. Über die geplante Reiseroute hatte Storm den langjährigen Freund seiner Familie brieflich am 20. April informiert. Die Reisegemeinschaft übernachtete in Hamburg, fuhr über Ülzen und Lehrte nach Braunschweig, fuhr über Börsum nach Herzberg und erreichte über Nordhausen und Erfurt am dritten Tag, am 1. Mai ihr Reiseziel. Mit seinem 31-jährigen Begleiter logierte der 69-jährige, erkrankte Storm während des 16-tägigen Aufenthalts drei Tage im erstklassigen Hotel Russischer Hof am Karlsplatz (heute Goetheplatz). Ein entscheidender Anlass für die strapaziöse Reise nach Weimar war der hoffnungsvolle Beginn des Musikstudiums der 23-jährigen Elsabe Storm, das sie bis 1889 absolviert hat, um ihr Klavierspiel auszubilden2. 1

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Ferdinand Tönnies brieflich am „Osterabend 1886“ an Friedrich Paulsen in Berlin, in: Ferdinand Tönnies – Friedrich Paulsen. Briefwechsel 1876–1908. Herausgegeben von Olaf Klose, Eduard Georg Jacoby, Irma Fischer. Kiel 1961, S. 223–224. Stuckert, Theodor Storm. Der Dichter in seinem Werk (= Handbücherei der Deutschkunde. Hg. v. H. Arntz und W. Rasch, Bd. 5), Tübingen: Niemeyer 1./1940, 2./1952, 3./1966, S. 26. Ders., Theodor Storm. Sein Leben und seine Welt. Bremen: Schünemann 1955, S. 109. Vinçon, Theodor Storm in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek: Rowohlt 1972, S. 148 f. Laage, Theodor Storm. Leben und Werk. Husum

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Storm und Tönnies interessierte auf ihrer Kulturreise, an der ersten Generalversammlung der neu gegründeten Goethe-Gesellschaft am 2. Mai teilzunehmen, der Storm am 17. Oktober 1885 als Mitglied beigetreten war3. Sie interessierte Weimar als kulturelles Reiseziel, die Goethe-Gesellschaft als neues Forum des berühmten Dichters der klassischen deutschen Literatur, ihre Forschungs- und Gedenkstätten. Erwartungsvoll begegnete Storm seinem famosen Freund und Briefpartner, dem Literaturhistoriker Erich Schmidt, den er in seinem Lessing-Kolleg als 24jährigen Dozenten im Februar 1877 an der Universität Würzburg kennen gelernt hatte. Im Herbst 1885 zum Direktor des Goethe-Archivs ernannt, ermöglichte er dem alten Schriftsteller den Besuch des noch nicht als Museum eröffneten Goethehauses am Frauenplan. Im Goethe-Archiv, das sich damals im Großherzoglichen Residenzschloß befand, erhielt Storm Gelegenheit zur Lektüre von Goethes Briefen an seine Frau Christiane, deren Portrait – „von allergrößtem Zauber“ – ihn fasziniert hat – vor allem im Kontrast zu verbreiteten Reproduktionen in Literatur-Zeitschriften. Vermutlich erfreute Storm die (noch heute im Goethe-Museum ausgestellte) Kreidezeichnung aus dem Jahr 1800 von Friedrich Bury (1763–1823). An der „Göthe-Feier“ hat Storm nur an „dem großen Diner von ca. 140 Personen“ teilgenommen, „ohne es übrigens zu genießen“. Auf Einladung des Großherzogs Carl Alexander von Sachsen-Weimar-Eisenach erschien Storm im Residenzschloß dreimal als Gast einer Mittag- und Abendgesellschaft demonstrativ mit dem Schlapphut der Achtundvierziger, um sein demokratisches Bekenntnis zu signalisieren4. Die Gelegenheit zu einer Novellenlesung

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1979, S. 75 f. Laage, Theodor Storm in Weimar, in: Mitteilungen aus dem Storm-Haus 4/1991. Herausgegeben von der Theodor-Storm-Gesellschaft, Husum. Heide, Boyens Verlag 1991, S. 7–9. – Goldammer, Theodor Storm in Weimar. Aus Anlaß seines 175. Geburtstags am 14. September 1992, in: Weimar. Kultur-Journal 6/1992, Weimar 1992, S. 26–27. Laage, Unterwegs mit Theodor Storm. Ein literarischer Reiseführer. Heide: Boyens Verlag 2002, S. 11, 13–15, 17, 119–121. Stuckert, Theodor Storm (1955), S. 109. Laage, Theodor Storm. Ebd., S. 75 f. Tönnies, Gedenkblätter. Theodor Storm zum 14. September 1917. Berlin 1917, S. 63. Zu Ferdinand Tönnies unterhält Storm einen besonders freundschaftlichen Kontakt, denn er zählt ihn zu den „bedeutendsten jungen Menschen“ (so im Brief vom 8. Mai 1881 an Gottfried Keller), die ihm begegneten. Seine Untersuchung „Gemeinschaft und Gesellschaft Abhandlung des Communismus und des Sozialismus als empirischer Culturformen“ (1880/81 begonnen, 1887 erschienen) ist oft Gesprächsthema gewesen, wie Tönnies in seinen „Gedenkblättern“ berichtet: „Auch den sozialen Fragen wandte Storm gern seine Aufmerksamkeit zu. [...] Storm war Demokrat [...] mehr im ethischen als im politischen Verstande, und das bedeutet auch, daß ihm weniger an der Staatsform als am Staatsinhalt gelegen war, d.h. an volkstümlicher Gesinnung der Regieren-

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„bei Hofe“ hat Storm zur Imagepflege als zeitkritischer Schriftsteller wahrgenommen; einmal war er auch zu Gast „bei der Erbgroßherzogin“. An sozialen Zeitfragen aufmerksam interessiert, hat Storm mit dem Soziologen Ferdinand Tönnies (1855 bis 1931) über das Verhältnis von „Demokratie und Sozialismus“ oft diskutiert „mit der Sympathie eines Menschenfreundes, der kein Politiker sein wollte“: Da Storm „wußte, daß ich, wenn auch kein Genosse, so doch ein Verteidiger der vielgeschmähten Partei [der Sozialdemokratischen Partei] war, so hat er, schon früher zuweilen, und auch bei dieser Gelegenheit [aus Anlass der Gesellschafts- und Sozialkritik der Doppelgänger-Novelle] eingehend mit mir über Demokratie und Sozialismus gesprochen“5. Während seines Besuchs in Weimar begegnete Storm auch namhaften Personen des Kulturlebens der „Großherzoglichen Haupt- und Residenzstadt“, nämlich dem Verlagsbuchhändler Hermann Böhlau, dem Generalintendanten des Hoftheaters August Friedrich von Loen sowie Heinrich von Eggeling, dem Kurator der Universität Jena. Ihn trafen Storm und Tönnies auch auf ihrer Rückreise in Jena und wanderten gemeinsam zum idyllisch gelegenen Forsthaus. Nach einem Aufenthalt in Gotha vom 18. bis zum 20. Mai 1886, besuchten die Reisenden vom 21. bis zum 23. Mai Erfurt, besonders auch Schloß Molsdorf. In Kassel hielten sie sich vom 24. bis 25. Mai auf, um vom 26. bis zum 29. Mai in Heiligenstadt auf dem Eichsfeld zu verweilen, wo Storm von 1856 bis 1864 als Amtsrichter am Kreisgericht im preußischen Staatsdienst gearbeitet hat. Nach einer Übernachtung in Hamburg kehrte Storm, nach einmonatiger Reise, am 30. Mai 1886 wieder nach Hause zurück. Seinem Bruder, dem in Husum praktizierenden Arzt Dr. Aemil Storm hat der während seines Weimar-Besuchs auf vielfältige Weise geehrte Schriftsteller aus Heiligenstadt am 28. Mai 1886 geheimnisvoll angedeutet: „Auf meiner ganzen Reise habe ich, von Fürsten u. Volk, so viel, ich kann wohl sagen, Liebe u. Verehrung empfangen, daß ich Euch davon Pfingsten erzählen, aber nicht davon schreiben kann.“6

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den und an volkstümlich wirksamer Gesetzgebung. Man wird in den letzten Werken des Dichters manche Spuren dieser Gedanken und Stimmungen [...] wiederfinden.“ (Tönnies, Gedenkblätter. Ebd., S. 61.) Tönnies, Gedenkblätter. Ebd., S. 70. Nordfriesisches Museum, Husum. – Signatur: IV A 14a.

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Wieder zu Hause, im dörflichen Hademarschen-Hanerau, hat sich Storm im Brief vom 4. Juni 1886 an seinen Freund Paul Heyse mit zwiespältiger Sympathie an seine Reise nach Weimar erinnert: „Wenn ich nicht körperlich – abgesehen von dem anfänglichen Uebel/Durchfall, in Weimar, das ich unterwegs bekam – wegen meiner Verdauungsschwäche trotz leichtester Nahrung Nachmittags immer ein paar Stunden dem Teufel zu geben hätte, würde ich sagen, daß mich auf dieser Reise eigentlich alles hätte erfreuen müssen; denn überall, selbst von den serenissimis, bin ich freundlich, fast liebevoll aufgenommen worden, und Frühling war’s ja und die schönste Gegend 7 Deutschlands.“ „Uebrigens einmal und nie wieder Manuscript drucken lassen, ohne völlig fertig zu sein!“

Daten und Fakten zur Entstehung und Edition Im Juni 1886 erhält Storm einen programmatischen „Prospect“8 über die von Karl Emil Franzos (1848–1904) gegründete und herausgegebene Halbmonatszeitschrift Deutsche Dichtung und zugleich ein Angebot, für das zum 1. Oktober 1886 erscheinende erste Heft eine Novelle zu schreiben: ,,[...] Sie, hochverehrter Herr, sind nicht bloß einer unserer bedeutendsten und wohl unser feinfühligster Dichter, sondern Sie haben auch ein warmes Herz für unsere Dichtung. In diesem Sinne erbitte ich Ihre Gunst für die neue Zeitschrift. Können und wollen Sie ihr das werthvolle Pathengeschenk eines Beitrags von Ih7

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Theodor Storm – Paul Heyse. Briefwechsel. Kritische Ausgabe. 111. Band: 1882–1888. In Verbindung mit der Theodor-Storm-Gesellschaft herausgegeben von Clifford Albrecht Bernd. Berlin: Erich Schmidt Verlag 1974, S. 136, 137; Anmerkungen, S. 346– 347; bes. Nr. 5, 11. Nach Feststellung von Peter Goldammer ist der „Prospect“ identisch mit dem „Programm“ vom 18. Mai 1886, das Franzos am 2. Juli (möglicherweise erneut) an Storm geschickt hat. Die betreffende Stelle des gedruckten Textes lautet (Unterstreichungen von Franzos hier kursiv): „Die ‘Deutsche Dichtung’ wird vom Oktober ab am 1. und 15. jedes Monats in der Stärke von 3 Bogen größten Lexicon-Octavs und in elegantester Ausstattung erscheinen. Jede Nummer wird das Porträt eines zeitgenössischen Autors, dann eine Gedicht-Illustration von einem hervorragenden Zeichner enthalten. Dieser künstlerische Schmuck soll in jeder Beziehung auch strengen Anforderungen genügen. Ferner wird jede Nummer auch eine Lied-Composition von einem bedeutenden Tondichter bringen, endlich einige kürzere Beiträge, also namentlich lyrische Dichtungen, in autographischer Nachbildung nach der Handschrift des Verfassers.“ Zitiert nach Goldammer, Theodor Storm und Karl Emil Franzos. Ein unbekannter Briefwechsel, in: STSG 18/1969, S. 9–40, hier S. 38, Anm. 8 u. 17. Einführende Information über Karl Emil Franzos bieten: Goldammer, Theodor Storm und Karl Emil Franzos. Ebd., S. 9–11, 37–38; Glaser (Hrsg.), Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. Bd. 7. Vom Nachmärz zur Gründerzeit: Realismus 1848–1880. Reinbek: Rowohlt 1982, S. 242.

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rer Hand zuwenden, sondern [Schreibirrtum für: so; sc. W.Z.] werden Sie hiedurch nicht blos mich zu innigstem Danke verbinden, sondern auch der guten Sache, in deren Namen ich spreche die erfolgreichste Förderung erweisen. Vielleicht ist mir das Glück hold und Sie verfügen gerade über eine Novelle [...] Das erste Heft bringt u.A. Beiträge von Konrad Ferd. Meyer, Heyse, Lingg, Hamerling, den Beginn einer hinterlassenen (vollendeten) epischen Dichtung von Scheffel – könnte an der Spitze eine Novelle von Ihnen hinzutreten, so darf ich wohl sagen, daß bisher selten eine Zeitschrift unter künstlerisch gleich guten Auspicien in’s Leben getreten. [...]“9.

Der Neunundsechzigjährige weist in seinem Antwortschreiben vom 25. Juni 1886 auf seinen bedrückenden Gesundheitszustand hin und schildert seine durch andere Novellenprojekte10 beanspruchte Schreibsituation: ,,Es ist ja wohlthuend, wenigstens am Ende seines Schaffens einem Vertrauen zu begegnen, wie Sie es mir entgegenbringen; schmerzlich nur, daß ich so weit ins Leben schon hinein bin. Ein Magenleiden, daß mich seit Jahr und Tag quält, hat meine Arbeitsfähigkeit herabgedrückt; ob es noch einmal vor dem Ende anders wird – ich weiß es nicht. Zur Zeit lauert jeder meiner Verleger auf eine Arbeit, Westermann und Paetel, von denen eine freilich begonnen ist; aber wegen meines körperlichen Hindernisses nicht vorwärts will. Dennoch hoffe ich bis zum Frühjahr mit beiden fertig zu werden; können Sie mich dann noch brauchen, so verspreche ich Ihrem Unternehmen meine danach entstehende Arbeit. Mehr kann ich Ihnen leider nicht bieten, so sehr ich’s wünschte.“11

Storms reservierte Antwort, die „so viel Freude und so viel Schmerz in einem Briefe“ mache12, veranlasst Franzos, seine Anfrage am 2. Juli 1886 erneut vorzutragen: ,,[...] Sehen Sie, hochverehrter Herr, ich treibe auch mein Handwerk als Redacteur so, wie’s einem Dichter zusteht, ich suche Niemand durch Vorspiegelungen zu ködern, und wenn ich Sie versichere: die ‘Deutsche Dichtung’ erfreut sich thatsächlich der Mitarbeit unserer vornehmsten Dichter – so ist dies keine Vorspiegelung, sondern es ist thatsächlich so. Es fehlt mir also weder an Namen, 9 10

11 12

Goldammer, Theodor Storm und Karl Emil Franzos. Ebd., S. 12. Storm ist zu diesem Zeitpunkt beansprucht durch seine Arbeit an der „Schimmelreiter“Novelle, die er dem Verlag Gebr. Paetel in Berlin zunächst für die von Julius Rodenberg (1831–1914) gegründete und herausgegebene ‘Deutsche Rundschau’ zugesagt hatte; die Novelle wurde erst im Februar 1888 beendet und erschien im April- und MaiHeft der ‘Deutschen Rundschau’ und in demselben Jahr als Buch im Verlag Gebr. Paetel. Mit der zweiten Arbeit ist die Novelle „Ein Bekenntnis“ gemeint, konzipiert im Herbst 1885, niedergeschrieben von März bis Mai 1887, zuerst gedruckt in ‘Westermanns Illustrierte Deutsche Monatshefte für das gesamte geistige Leben der Gegenwart’ (Oktober 1887), dann als Buch 1888 im Verlag Gebr. Paetel. Vgl. Goldammer, Theodor Storm und Karl Emil Franzos. Ebd., S. 38, Anm. 9. Goldammer: Theodor Storm und Karl Emil Franzos. Ebd., S. 13. Ders., ebd., S. 13.

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Walter Zimorski noch an Arbeiten, aber daß Sie mir fehlen sollten, wäre meiner Sache ein herber Schade und mir ein wahrhaftes Leid. Daß Westermann und Paetel auf jede Zeile von Ihnen ‘lauern’, wußte und weiß ich ja [...] Sie haben die ungemeine Güte, mir jene dritte Arbeit zuzusagen, welche nach den beiden, welche Sie jetzt beschäftigen, entstehen wird; ich nehme dies Versprechen mit innigstem Danke entgegen, ich rechne und baue darauf, aber verzeihen Sie Einem, der sonst wahrlich nicht zudringlich ist, die Frage: Wär’s nicht möglich, mir die erste zu geben und Einem von jenen die dritte?!“13

Im übrigen skizziert Franzos einen genauen Termin- und Publikationsplan, der jedoch Storms Bedenken gegen die Auftrags- und Terminarbeit verstärkt: ,,Dank für alles Freundliche, was Ihr Brief enthält; leider bin ich nicht jung genug mehr, um Ihnen so recht beizustehen. [...] Für den zu hoffenden Fall, daß ich Ihnen Novellistisches senden kann, bemerke ich, damit Sie mich besser übersehen können und auch Ihr Verleger nicht im Dunkeln bleibe, Nachstehendes. [...] Nur ein einziges Mal (‘Pole Poppenspäler’ in den ersten Heften der ‘Deutschen Jugend’) ist eine Novelle von mir getheilt erschienen; die übrigen stets ganz. Ich sehe es fast immer für den Leser als eine Vernichtung der Dichtung an, wenn sie ihm in Portionen vorgesetzt wird; ich möchte das auch in Ihrem Blatt vermieden sehen, und Sie werden dem Wunsch der meisten Leser entgege[n]kommen, wenn Sie lieber in einer Nummer ein Ganzes, als von Vielen etwas geben. [...]“14

Storms Skepsis gilt besonders dem Termin- und Publikationsplan, die Novelle in Fortsetzungen veröffentlichen zu lassen, ohne das gesamte, fertige Manuskript überblicken zu können15, wie es seiner realistischen Novellenkonzeption entsprach; seine präzise „Organisation“ der Sujets erforderte in der Regel einen Zeitaufwand von vier bis sechs Monaten für eine Novelle16, denn er wusste „aus Erfahrung, wie sehr poetische Produktion durch ganz davon geund verschiedene Arbeit getragen und gefördert wird“17. Allerdings beobachtet Storm, auch wegen der volkspädagogischen Wirkungsintention seiner Novellistik, die aktuelle Situation des Literaturmarkts und registriert kritisch 13 14 15

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Ders., ebd., S. 14. Ders., ebd., S. 15. Storm an Franzos, Brief vom 5. Juli 1886. Ebd., S. 15–16. Franzos an Storm, Brief vom 9. Juli 1886. Ebd., S. 17. Storm an Franzos, Brief vom 22. September 1886. Ebd., S. 26; hier billigt Storm den Publikationsplan von Franzos, die Novelle in Fortsetzungen zu veröffentlichen. Goldammer, Theodor Storm und Karl Emil Franzos. Ebd., S. 15; Storm an Franzos, Brief vom 5. Juli 1886. Storm an Heinrich Seidel, Brief vom 22. August 1883, in: Seidel (Hrsg.), Theodor Storm und Heinrich Seidel im Briefwechsel, in: Deutsche Rundschau 188/1921, H. 3, S. 201, Nr. 15. Zitiert nach: Grimm, Theodor Storm: Ein Doppelgänger (1886). Soziales Stigma als „modernes Schicksal“, in: Denkler (Hrsg.), Romane und Erzählungen des Bürgerlichen Realismus. Neue Interpretationen. Stuttgart: Reclam 1980, S. 325– 346, hier S. 326, Anm. 11.

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die veränderten Marktbedingungen: „Täglich mehren sich diese Novellenschreie.“ Er nutzt aber das zunehmende Interesse des sich etablierenden Leserpublikums an erzählender Prosa, um seine Novellen nicht nur durch Buchverleger18, sondern auch durch Verleger von Zeitschriften und durch Leihbibliotheken zu propagieren, „wo ja jedenfalls die wesentlichste Absatzquelle für deutsche Novellisten ist“19. Storm wusste auch, dass absatzsteigernde Popularität in beträchtlichem Maße von periodischen Publikationen in Zeitschriften abhing. Als Storm durch seine Schwägerin Charlotte von einem erschütternden Todesfall erfährt, der ihn motivieren könnte, ein neues Novellensujet zu erarbeiten, ist er bereit (so im Brief vom 5. Juli 1886 an K.E. Franzos), begonnene Projekte zurückzustellen und eine neue Novelle zu planen, mit einem „Stoff, den mir die Mittheilung einer Verwandten vor einigen Tagen erst an die Hand gab. Ich schreibe schon, und zwar für Ihr Blatt, seit mehreren Tagen und habe die andern Arbeiten bei Seite gelegt. Ich hoffe, daß es was wird, und so würde ich denn doch noch erträglich früh bei Ihnen mitkommen. ‘Der Brunnen’ wird es vermuthlich heißen.“20 In seinem Antwortschreiben auf Storms Zusage bittet Franzos den Autor, der unvermeidlichen Verteilung der Novelle auf mehrere Hefte zuzustimmen: „Freilich! – ohne die Vertheilung auf mehrere Hefte wird es – es sei denn, daß ‘Der Brunnen’ ganz kurz wird – nicht abgehen. Ich fühl’s Ihnen nach, daß Ihnen das Gegentheil lieber wäre, mir wahrhaftig auch, aber das läßt sich nun einmal nicht ändern. So schlimm ist übrigens die Sache nicht, daß es eine ‘Vernichtung’ der Dichtung wäre; in vielen Fällen ist’s nach meinen Erfahrungen nicht einmal eine leise Schädigung. Indeß haben Sie ja bereits zwei Male eine Ausnahme gemacht, lassen Sie es auch darin aller ‘guten Dinge drei’ sein! Ich bitte sehr, sehr 21 darum!“

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Seinen Verlegern Georg Westermann und Elwin Paetel gegenüber bemerkte Storm gelegentlich, sie kämen nicht umhin, sich damit abzufinden, daß er mit zwei Verlegern Kontakt halte, was „wahrlich nicht Ausfluß seines Willens, vielleicht wohl der Eigenart seiner dichterischen Persönlichkeit sei, die Leser und Buchhändler erst langsam zu ihm Vertrauen fassen ließe“. Zitiert nach Vinçon, Theodor Storm. Ebd., S. 148, Anm. 319. Theodor Storm. Briefe. Hrsg. v. Peter Goldammer. 2 Bde. Berlin: Aufbau 2./1984, Bd. 1: 1837–1869, S. 514–516, hier S. 515 (an Paul Heyse, 21. November 1867). Goldammer, Theodor Storm und Karl Emil Franzos. Ebd., S. 16. Ders., ebd., S. 17 (Franzos an Storm, Brief vom 9. Juli 1886).

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Abbildung 1: Karl Emil Franzos (1848–1904). Herausgeber der Zeitschrift Deutsche Dichtung. Porträtfoto (1891).

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Storm war anfangs noch zuversichtlich, die Novelle in etwa sechs Wochen (bis Ende Juli 1886) fertigstellen zu können; die problematische „Organisation“ des neuen Sujets erforderte aber einen längeren Schreibprozess, den Storm im Brief vom 12. Juli 1886 rechtfertigt: „ich muß die Arbeit, die nicht lang wird [...], erst vollständig fertig vor mir haben, um zu beurtheilen, wo es etwa noch fehlt und ob das Ganze überhaupt zum Druck gelangen kann. Versprechen kann ich Ihnen nur, daß ich jetzt unausgesetzt dabei bleibe; es rückt aber trotzdem langsam weiter.“22

In einer Nachschrift vom 14. Juli gesteht Storm seine Bedenken gegen die strapaziöse „Gewaltsarbeit“: „Ich habe unterdessen weiter geschrieben, sehe daß die Arbeit kürzer wird, als ich dachte und halte es für möglich, daß ich [am] 28 Juli so weit bin, das Ganze völlig zu übersehen, und Ihnen senden zu könne[n]. Ob aber diese Gewaltsarbeit genügen wird, deß bin ich noch keineswegs sicher.“23

Den angekündigten Termin der Manuskripteinlieferung muss Storm wegen einer „kleinen Reise“, auf der sich sein Gesundheitszustand verschlechtert, im Brief vom 22. Juli 1886 als „voreilig“ bedauern: „Und so hat mein Wunsch, dem Ihrigen zu entsprechen, leider eine voreilige Äußerung in meinem letzten Brief veranlaßt. Ich werde zwar gleich nach meiner Rückkunft unsre Sache kräftig wieder anfassen; aber zum ersten Heft, namentlich da eine biographisch-kritische Skizze dabei sein soll, ist es nicht möglich, es wäre [Schreibirrtum: würde; sc. W.Z.] eine Hetzjagd werden und nichts ordentliches dabei herauskommen. [...] Aber wollen wir uns, mit Maaßen, Zeit zu allem lassen, damit nichts Uebereiltes zu Papier komme.“24

Das neue Novellensujet konnte Storms Interesse so intensivieren, dass er vorbereitete Novellenpläne zurückstellt und K.E. Franzos am 10. August 1886 zusagt, den ersten Teil seines Manuskripts abzuschicken – trotz seiner Bedenken gegen die Fortsetzungsreihe einer im Manuskript noch nicht fertigen Novelle: „das Uebrige ist nur noch in meinem Kopfe; doch glaube ich fest, es in Zwischenräumen von 14 Tagen [...] an Sie einsenden zu können. Uebrigens einmal und nie wieder Manuscript drucken lassen, ohne völlig fertig zu sein! Ich fürchte auch, daß die Sache Ihnen kaum genügen wird, und bitte dann, mir ohne Anstand das M.S. [Manuskript] zurückzusenden. [...] Nochmals – ich fühle mich mit dieser Arbeit keineswegs kräftig genug, um das erste Heft der ‘Deutsch. Dichtg.’ zu vertreten.

22 23 24

Ders., ebd., S. 18. Ders., ebd., S. 19. Ders., ebd., S. 19.

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Walter Zimorski Senden Sie es mir bei dem leisesten Bedenken zurück. Ihr ergebner Th Storm. Den Titel, der gar nicht einzufangen ist, sende ich morgen mit dem Manuscript ab.“25

Am 11. August 1886 schickt Storm ein 48-seitiges Manuskript an den Redakteur und Herausgeber der „Deutschen Dichtung“ und nennt in seinem Begleitbrief auch den von Franzos am 7. August erbetenen definitiven Novellentitel, den Storm ungeändert beibehält: „Der Titel ist fast unfindbar; ich nenne es bis auf Weiter: Ein Doppelgänger.“26

Damit nimmt die „Doppelgänger“-Novelle insofern eine Sonderstellung in Storms Novellistik ein, als er zum ersten (und einzigen!) Male, der wiederholten Anfrage von Franzos nachgebend, den Anfang einer Novelle publizieren lässt, während er noch mit ihrer Niederschrift befasst ist. Im Hinblick auf diese ihn aufregende Tatsache klagt Storm über die ungünstige Schreibsituation: Er liefert am 4. September 1886 einen weiteren Manuskriptteil an Franzos, kritisiert allerdings in seinem Begleitschreiben das sonst vermiedene „Raissonnement“, das sich infolge ungewohnter Arbeitsbedingungen in die Novelle eingeschlichen habe: „Bei dieser etwas unheimlichen Art zu arbeiten bin ich nicht ganz ohne Raissonnement davon gekommen, dem ich sonst in der epischen Poesie nur den allerkleinsten Raum gönne.“27 Den letzten Teil seines Novellenmanuskripts (das Gesamtmanuskript gilt nach dem von K.E. Laage erstellten Handschriftenkatalog als verschollen28), liefert Storm am 21. September 1886 mit einem Begleitbrief an Franzos, in dem er nicht nur einige erzähllogische und -funktionale Details richtigstellt, sondern darüber hinaus die novellistische „Organisation“ des ‘Doppelgänger’-Motivs problematisiert: „Anbei denn der Schluß meines ‘Doppelgänger’; die Arbeit hat mich länger beschäftigt und ist länger geworden, als ich dachte; aber wenn ich die verschiedenen Motive einigermaaßen erledigen wollte, so mußte ich Ihnen schon so lange zur Last fallen. Ob das Ganze so berechtigt, ist mir noch nicht ganz klar. Einige Fehler sind bei dieser ungünstigen Art zu arbeiten, welche die Revision des Ganzen ausschließt, eingeschlichen: der Erzähler hat sich zu Unrecht als junger Advokat aufgeführt; auch die Zweitheilung der Person des John im Gedächtniß der Tochter hätte wohl etwas beunruhigender noch für sie betont werden müssen.“29

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Ders., ebd., S. 20–21. Ders., ebd., S. 21. Ders., ebd., S. 24. Laage, Theodor Storm. Studien zu seinem Leben und Werk mit einem Handschriftenkatalog. Berlin: Schmidt 1985, S. 170. Goldammer, Theodor Storm und Karl Emil Franzos. Ebd., S. 25.

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Abbildung 2: Theodor Storm brieflich am 11. August 1886 aus Hademarschen-Hanerau an Karl Emil Franzos. Faksimile des ganzen Briefes.

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Abbildung 4: Ein Doppelgänger. Novelle von Theodor Storm. Verlag von Gebrüder Paetel Berlin 1887. Titelblatt der ersten Buchausgabe.

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Seine Zweifel in Bezug auf die novellistische Konzeption des ‘Doppelgänger’Motivs als ein poetisches „Wagstück“ hat Storm seinem Freund Erich Schmidt im Brief vom 16. September 1886 anvertraut: „Meine Arbeit, die morgen zu Ende geht, ‘Ein Doppelgänger’ heißt sie, war ein Wagstück. K.E. Franzos wollte für seine neue Zeitschrift ‘Deutsche Dichtung’, die viel zu bunt und breit angelegt ist, für die ersten Hefte etwas Lyrisches und Poetisches haben; auch mein Porträt. Er erhielt letzteres und zwei vor zwanzig Jahren geschriebene Elegien; das Novellistische lehnte ich ab. Da erzählt mir Tante Lotte, meines Bruder Doktors Frau, die just hier war, den etwas unheimlichen Tod eines Husumer Menschen, und wie ich andern Morgens aufsteh, ist die Geschichte fertig in meinem Kopf, und ich schrieb an Franzos, daß ich ihm einen ‘Doppelgänger‘ schreiben werde. So ist gekommen, was bei mir nie geschah, daß schon gedruckt wird, während ich noch daran schreibe. Doch ist’s nun zu Ende. Ich bin neugierig, wie es Ihnen gefallen wird; ich bin über die Berechtigung des Ganzen etwas in Zweifel geraten.“30

Auffällig ist, dass Storm in diesem Brief von einem definitiven Novellentitel ausgeht und seine erst vom 11. August 1886 datierende Formulierung sogar in die Verhandlungen mit Franzos zurückverlegt31, die schließlich ergeben, dass er am 22. September dem Plan zustimmt, die Novelle in Fortsetzungen zu publizieren: „Beim Weiterdruck bitte ich Sie, meine Novelle nach Ihrem Ermessen auf einzelne Hefte zu vertheilen.“32 Unter dem Titel Ein Doppelgänger erschien Storms Novelle in sechs Fortsetzungen in der von K.E. Franzos herausgegebenen Deutschen Dichtung33. 1887 folgte eine überarbeitete Buchausgabe im Verlag von Gebrüder Paetel, Berlin, mit der Widmung: „Meiner lieben Tochter Gertrud gewidmet“; im selben Verlag und Jahr erschien auch die dritte überarbeitete Fassung in dem Novellenband „Bei kleinen Leuten“, zusammen mit der „Geschwisternovelle“ Bötjer Basch 34.

30 31 32 33 34

Theodor Storm – Erich Schmidt, Briefwechsel. Kritische Ausgabe. Hrsg. v. Karl Ernst Laage. Berlin: Schmidt 1976, Bd. 2, S. 129–132, hier S. 130. Vgl. Storm an Franzos, Briefe vom 5. Juli 1886 u. 11. August 1886, in: Goldammer, Theodor Storm und Karl Emil Franzos. Ebd., S. 16, 21. Ders., ebd., S. 26. Franzos (Hrsg.), Deutsche Dichtung, Bd. 1, H. 1–6, 1. Oktober bis 15. Dezember 1886, Stuttgart: Bonz 1886, S. 2–9, 34 f., 58–63, 82–87, 106–111, 130–139 (Vgl. K 8, 286). Storm, „Bei kleinen Leuten“. Zwei Novellen („Bötjer Basch“, „Ein Doppelgänger“), Berlin: Paetel 1887, S. 101–208. Vgl. Esmarch, Aus Briefen Theodor Storms, in: Monatsblätter für deutsche Literatur 7, 1902/03, S. 70 (Brief vom 19. Mai 1887). Vgl. Vinçon, Theodor Storm (1972), S. 152.

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Das Honorar für die Publikation der Novelle Ein Doppelgänger in der Halbmonatsschrift Deutsche Dichtung betrug, einer Eintragung Storms im „Braunen Taschenbuch“ zufolge, 2446 Mark (LL 4, 553). Der Blick in Storms Schriftsteller-Werkstatt ist für den interessierten Leser nicht nur reizvoll und aufschlussreich, er ist zugleich eine der wichtigsten Voraussetzungen für die historisch-kritische Textpräsentation – und zwar besonders beim Novellisten Storm, dessen Arbeitsweise auch in modifizierenden Korrekturen von Details – in präziser Textprüfung und Textkritik besteht. So interessant es im einzelnen sein mag, Storms Korrekturarbeit zu beobachten, hier kann sie nur insofern wichtig sein, als sie nahelegt, den letzten überarbeiteten Text als Grundlage dieser Novellenedition zu akzeptieren. Einen deutlichen Einblick in Storms Arbeitsweise vermittelt ein Bericht von K.E. Franzos, der Storms realistische Methode beschreibt: „Die Arbeit gehört, trotz ihrer relativ raschen Entstehung, zu seinen besten, und daß dem so sei, konnte ich mir schon auf Grund des ersten Teils sagen. Daß er mir keine Abschrift, sondern das Original eingesendet, erleichterte freilich die Lektüre nicht, gewährte mir aber einen deutlichen Einblick in seine Arbeitsweise. Er schrieb mit schwerer, langsamer, gleichmäßiger Schrift, und die Sätze, die stehenblieben, wiesen kaum stilistische Korrekturen auf, aber es blieben nicht viele stehen. Er kürzte und kondensierte hinterdrein unablässig, vielleicht öfter und mehr als nötig, und sein Eifer, das bezeichnendste Wort zu finden, scheute auch da, wo es sich um Kleines und Unwichtiges handelte, keine Mühe. Hier ein Beispiel: ‘Sie kann es nicht lassen’, sagt der Oberförster von seiner Frau, ‘den allzeit Hungrigen’ Brosamen auszustreuen; sei es nun der Bub, oder seien es nur unseres Herrgotts Krippenfresser!’ Statt der letzten drei Worte stand im Manuskript ursprünglich ‘die Sperlinge’, dann ‘die Spatzen’, dann ‘Spatz und Taube’, endlich die obige Wendung. Eine seitenlange, mühsam ausgefeilte, in ihrer Art wunderschöne Beschreibung des Gartens am Forsthause war im letzten Augenblicke ganz durchstrichen, weil dem Dichter sein feines Gefühl sagen mochte, daß sie die Entwicklung aufhalte, ebenso fand sich das ohnehin spärlich eingeflochtene Räsonnement später fast überall unerbittlich getilgt, und das Wenige, was stehengeblieben, reute ihn obendrein.“35

Bei der folgenden Gegenüberstellung der drei Fassungen der „Doppelgänger“Novelle ist der Schreibprozess insofern aufschlussreich, als seine Analyse es ermöglicht, Fragen nach der erzähllogischen und -funktionalen Korrekturform, der Textplantation und -modifikation zu beantworten (Vgl. K 8, 286). Siglen: E = Erster Druck in der Deutschen Dichtung, Bd. 1, Heft 1–6, 1. Oktober bis 15. Dezember 1886, Stuttgart: Bonz 1886, S. 2–9, 34 f., 58–63, 82–87, 106–111, 130– 139. B = Buchausgabe, Berlin: Verlag von Gebr. Paetel 1887. Bk = Bei kleinen Leuten. 35

Franzos, Zur Erinnerung an Theodor Storm, in: „Deutsche Dichtung“, Bd. 5 (1. Oktober 1888), H. 1, 90–95, bes. S. 93 f.

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Zwei Novellen (Bötjer Basch, Ein Doppelgänger), Berlin: Verlag von Gebr. Paetel 1887, S. 101–208 (Textgrundlage). schlichter/junger (E): Storms unprätentiöse Selbstcharakteristik als Richter (und Dichter). Franz Adolf/Hans Adolf (E): Hans ist eine abgeleitete Kurzform von Johannes – hebr. „Jahwe hat Mitleid“ (theophorer Dankname; vgl. Adolf Bach: Deutsche Namenkunde. Die Personennamen. Bd. 1/1, § 188, S. 206 f.). Franz ist eine Kurzform von Franziskus = der kleine Franzose (Vgl. Adolf Bach, ebd. § 222 f.). Statt der Stelle von „Ich bin ein armer Lump“ bis „wenn du es kannst!“ (in E): „Aber macht Ihr ihn, Nachbar! Ich bin ein armer Lump; aber sie ist so jung noch, ich kann sie doch nicht wie ein Vieh in die Grube werfen!“ Der Alte frug, wie denn das Unglück hier zu Platz gekommen sei, und John verschwieg ihm nichts; der Nachbar, der die Leute kannte, glaubte ihm und war kein Schwätzer. „Ich weiß wohl“, sagte er und sah ihn grollend durch seine runde Brille an, „daß du das Weib nicht verdientest, das hier liegt, du brauchst das gar nicht laut zu sagen, aber sorge nicht, ihr letzter Weg soll ohne Schimpf und Schande sein.“ – Neu ist der Bericht von John Hansen über die (grob-)fahrlässige Körperverletzung gegen seine Ehefrau Hanna und ihren unbeabsichtigten tödlichen Fall. Neu ist auch der Zusatz über die Verzweiflung John Hansens beim Anblick von Hannas Leiche. Gestrichen ist die naturalistische Stelle „wie ein Vieh in die Grube werfen!“ aus sozial motivierter Textentschärfung, die auch die Streichung einer negativen Verhaltensweise des hilfsbereiten Nachbarn Tischler bestimmt. Neu ist die psychologische Differenzierung des grollenden, aber mitleidempfindenden Nachbarn; sein Mitleid motiviert ihn zur Nachbarschaftshilfe, wodurch Hannas Beerdigung, unter Neuverschuldung und ohne Seelsorger, möglich wird. aus seinen Augen/aus den Augen des gebrochenen Mannes (E): Streichung aus Zweifel an der Wirksamkeit des Sprachbildes. Nach der Stelle „Nicht so! O, sag das nicht, mein Vater!“ in E und B: „Meist hielt es seine Händchen nur sanft um des Vaters Hals gestrickt.“ – Streichung aus Zweifel an der Wirksamkeit des gezierten Sprachbildes. Die Stelle von „Manchmal in der Nacht“ bis „wie schrecklich sein Erwachen gewesen sei.“ lautet in E und B: „Manchmal war auch das Kind erwacht und rief ihn an und weinte und streckte die Arme nach seinem Bette. Wenn er dann am Abend darauf sie in der Einsamkeit der Nacht auf seinen Armen trug, erzählte er ihr, wie Süßes ihm im Traum geschehen, wie schrecklich sein Erwachen gewesen sei.“ Die Textvariante signalisiert das psychologisch intensivierte Verlassenheitsgefühl von Christine und John Hansen nach dem plötzlichen Tod der Mutter und Ehefrau. scharfen Augen/hellen Augen (E): Textplantation zur körpersprachlichen Darstellung psychologischer Vorgänge. Statt „so hatte er doch für John des Teufels Spur zurückgelassen“ in E: Ranke. – Minimale Textplantation zugunsten eines mythischen Sprachbildes. Die Stelle „Die Kartoffeln waren noch immer nicht aufgenommen; andere Feldarbeit war im Wege gewesen.“ fehlt in E: Realistische Information des Novellisten über die erzähllogische Voraussetzung für die Handlungsentwicklung.

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Die Gegenüberstellung der drei Textfassungen lässt sich nach Gründen der Änderungen zusammenfassen: Änderungen aus Gründen a) der Erzähl- und Handlungslogik; b) der psychologischen Präzisierung und Differenzierung; c) der Orientierung am realistischen Stil, der Pathos meidet; d) der Ökonomie im Sinne novellistischer Konzentration – ein Prinzip der auktorialen Erzählerperspektive und der Novellistik Storms. Zunächst trug die Novelle den auf das tragische Ende der Binnenhandlung vorausdeutenden Arbeitstitel „Der Brunnen“. Als rekurrentes Dingsymbol ist der Brunnen leitmotivisch bedeutsam36. Gerade das Problem, einen passenden Novellentitel zu finden, hat Storm zögern lassen, so dass Franzos am 7. August 1886 wegen einer definitiven Formulierung anfragte37. Dass der schließlich beibehaltene Titel Ein Doppelgänger Storm auch im Rückblick nicht ganz zufriedenstellte, gesteht der Autor im Brief vom 19. Mai 1886 an seinen Neffen Ernst Esmarch, Pfarrer in Süderstapel: „Es freut mich, daß mein ‘Doppelgänger’, dessen Titel freilich etwas geschraubt ist, den ich aber nicht mehr ändern kann, so auf Euch gewirkt hat; daß in beiden, dieser und der Geschwisternovelle ‘Bötjer Basch’, das Evangelium der Liebe stecke, ist mir wohl bewußt gewesen. Auf alle Seelsorger wird aber die Wirkung nicht eine solche sein.“38

Der definitive Novellentitel ist insofern bedeutsam, als seine rezeptionssteuernde Signalfunktion in der einhundertjährigen Rezeptionsgeschichte (bis 1986) nur von wenigen Interpreten beachtet wurde39: Bei dem in episodischen Bildsequenzen präsentierten ‘Doppelgänger’-Motiv handelt es sich nicht um die gleichzeitige Existenz zweier zum Verwechseln ähnlicher oder identischer 36 37 38

39

Zum Brunnen-Motiv siehe: Grimm, Theodor Storm: „Ein Doppelgänger“ (1886). Soziales Stigma als „modernes Schicksal“. Ebd., S. 336 f. Goldammer, Theodor Storm und Karl Emil Franzos. Ebd., S. 20. Esmarch, Aus Briefen Theodor Storms, in: Monatshefte für deutsche Literatur 7, 1902/03, S. 70 (Storm an Ernst Esmarch, Brief vom 19. Mai 1887); vgl. Gd. 4, 643. Dieselbe Kritik am Novellentitel formuliert Storm in seinem Brief vom 24. Mai 1887 an Erich Schmidt; Theodor Storm – Erich Schmidt, Briefwechsel. Kritische Ausgabe. Hrsg. v. K.E. Laage. Berlin: Schmidt 1976, Bd. 2, S. 141. Bereits Karl Emil Franzos kritisiert den von Storm geänderten Novellentitel: „der erste ‘Der Brunnen’ wäre zutreffender gewesen.“ (Franzos [Anm. 32], S. 93); vgl. K 8, 287; H 4, 185; Stuckert (1955), S. 394; Schuster, Theodor Storm. Die zeitkritische Dimension seiner Novellen. Bonn: Bouvier 2./1985, S. 166; Grimm, Theodor Storm: „Ein Doppelgänger“ (1886). Soziales Stigma als „modernes Schicksal“. Ebd., S. 332 f. Ders., Rezeptionsgeschichte. Grundlegung einer Theorie. Mit Analysen und einer Bibliographie. München 1977, S. 32, 241 f.

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Menschen; insofern signalisiert der das zeitgenössische Leserpublikum irritierende Novellentitel, der an E.T.A. Hoffmanns Die Doppeltgänger (1822)40 erinnert, einen realistischen Kontrast zu einem spezifisch romantischen Motiv: Storms Doppelgänger-Novelle inszeniert zwei Erinnerungsbilder einunddesselben Mannes, John Hansen und John Glückstadt, und den Widerstreit der beiden unvereinbar scheinenden Bilder in der Erinnerung seiner (inzwischen glücklich verheirateten) Tochter Christine. Zum Doppelgänger wird John Hansen auch dadurch, dass sein soziales Ich durch Inhumanität und Intoleranz der Bürger- und Arbeiterschaft im Elend zugrunde geht und sein personales Ich die erstrebte Identität mit den stillschweigend akzeptierten sozialen Normen nicht wiedergewinnen kann, weil seine Energie und seine Affekte immer wieder außer Selbstkontrolle geraten. Erst die erzählfunktionale Einheit von Rahmen- und Binnenerzählung lassen den Leser den „ganzen Menschen“ John Hansen verstehen. John Hansen, alias John Glückstadt, wird von seiner Ehefrau leidenschaftlich geliebt, aber von mitleidlosen Kleinbürgern und der ihn ausgrenzenden Arbeiterschaft diskriminiert, sozial deklassiert und ins Elend getrieben – nonkonformistisch verhalten sich nur der dem John Hansen stets günstig gesonnene Bürgermeister, der sozialethisch handelnde Nachbar Tischler und die ohne Altersversorgung um Obdach verlegene, aber selbstlos gütige „Küster-Mariken“. Daher zeichnet sich die Doppelgänger-Novelle besonders durch ihre sozial- und gesellschaftkritische Signatur aus, weil sie die destruktiven Tendenzen des streng patriarchalisch organisierten Kleinbürgertums ebenso kritisiert wie die der Arbeiterschaft, die sich den herrschenden sozialen Normen unkritisch anpasst. Im Kontrast zur konsequent realistischen Konzeption des ‘Doppelgänger’Motivs kommt traditionell im Doppelgängertum der Zwiespalt „eines Ichs mit seinem Spiegelbild“ als dem „asynchronen Auseinanderfall eines Ich in zwei Individuationen“41 zum Vorschein. Das ‘Doppelgänger’-Motiv habe Storm, lngrid Schuster zufolge42, der Novelle Die Judenbuche von Annette von Droste-Hülshoff entnommen43; allerdings behauptet Storm gegenüber Emil 40

41 42 43

E.T.A. Hoffmann, „Die Doppeltgänger“. Erzählung (1822), in: Feierstunden. Hg. v. Ferdinand Freiherr von Biedenfeld und Christoph Kuffner. Bd. 2, Brünn 1822. Auch in: Die letzten Erzählungen. Vollständig gesammelt und mit Nachträgen zu dem Werke: Aus Hoffmann’s Leben und Nachlaß. Hg. v. dessen Verfasser [Julius Eduard Hitzig], 1. Abth., Berlin: Dümmler 1825. Grimm, Theodor Storm: Ein Doppelgänger. Ebd., S. 334. Schuster, Theodor Storm. Ebd., S. 169. Dass Storm „Die Judenbuche“ von Annette von Droste-Hülshoff geschätzt hat, dokumentiert sein Brief vom 30. Januar 1870 an Ada Christen: „Trotzdem trete ich, was die ‘Judenbuche’ betrifft, wohl auf die Seite des kleinen bescheidenen Mannes. Die Droste-

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Kuh (so im Brief vom 21. August 1873): „Poetische Muster, nach denen ich absichtlich gearbeitet, habe ich nie gekannt; es ist dies alles unwillkürlich bei mir gewesen.“44

Storms Novellenkonzept – „ein Wagstück“: Projektskizzen eines skeptischen Schriftstellers Den für Storms Novellistik ungewöhnlichen Entstehungsprozess der Doppelgänger-Novelle hat Karl Ernst Laage aufgrund glücklicherweise wiederentdeckter Projektskizzen des Novellisten dokumentiert, die „einen Blick in das frühe Arbeitsstadium“, Einblick in das noch umrisshafte Novellenkonzept ermöglichen. Die lange vermisste Konzeptkladde kann als schriftstellerisches Selbstzeugnis der kreativen Schreibsituation der späteren Hademarschener Novellistik kaum überschätzt werden (LL 3, 1000–1002). Laages instruktiver Forschungsbericht lässt nicht nur den produktiven Entstehungsprozess der Doppelgänger-Novelle als „Wagstück“, sondern zugleich auch Storms kreative, fast experimentelle Arbeitsweise erkennen. Aufgrund der Mitteilung seiner Schwägerin Charlotte Storm über „den etwas unheimlichen Tod eines Husumer Menschen“ hat der Novellist – seine intensiven Studien zur Schimmelreiter-Novelle unterbrechend – zuerst die Zuchthäuslergeschichte als provisorisches Novellenkonzept skizziert (LL 3, 1000 f.). In weiteren Projektskizzen schildert Storm die Begegnung des fiktiven Erzählers mit dem Förster und seiner in Husum geborenen Ehefrau im Forsthaus der waldreichen Umgebung von Jena. Diese Begegnung mit der Tochter John Hansens alias John Glückstadt formulierte der versierte Novellist vergleichsweise ähnlich, an vielen Stellen seines Konzepts sogar wörtlich wie im publizierten Novellentext (LL 3, 1002). Laages Kommentar zufolge lassen Storms Projektskizzen erkennen, dass der Novellist sein ursprüngliches Novellenkonzept dem skeptisch als „Wagstück“ bezeichneten Novellentext tendenziell angenähert hat (LL 3, 1000 f.). Die in gebotener Kürze erwähnten Skizzen der Zuchthäuslergeschichte und der Begegnung des Erzählers mit dem Förster und seiner Ehefrau notierte Storm in

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Hülshoff ist für mich von allen dichtenden Frauen die respektabelste poetische Kraft. Freilich es fehlt auch hier die letzte Vollendung; aber der poetische ‘Instinkt’ ist enorm und doch auch vieles trefflich durchgeführt. Ihre beste Prosa ist (ein Bruchstück) in der Lebensskizze von Schücking mitgeteilt. Das ist ersten Ranges.“ (Goldammer, Theodor Storm. Briefe: 1870–1888, Berlin: Aufbau 2./1984, Bd. 2, S. 10). Goldammer, Theodor Storm. Briefe. Ebd. Bd. 2., S. 70.

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der Konzeptkladde noch als einzelne Entwürfe, die seine poetische Organisationskraft als Motivgeflecht miteinander verwoben hat (LL 3, 1002). Erst Storms kreative Erzählkunst hat die Szenen im Forsthaus als Rahmenerzählung und die dramatische Lebensgeschichte des ehemaligen Zuchthäuslers John Hansen als Binnenerzählung strukturiert. Die glücklicherweise wiederentdeckten Projektskizzen erweisen sich also als blickerweiterndes Dokument von Storms kreativer poetischer Einbildungs- und Organisationskraft, die erzählte Sinnbilder erfindet und stiftet. Storms Selbstzeugnisse zur späteren Hademarschener Novellistik kennzeichnet eine charakteristische Skepsis, die der Novellist auch im Blick auf das novellistische Konzept des ‘Doppelgänger’-Motivs als „ein Wagstück“ seinem Freund Erich Schmidt im Brief vom 16. September 1886 anvertraut hat, weil ihn sein literarisches Werturteil besonders interessierte: „und ich schrieb an Franzos, daß ich ihm einen ‘Doppelgänger’ schreiben werde. So ist gekommen, was bei mir nie geschah, daß schon gedruckt wird, während ich noch daran schreibe. Doch ist’s nun zu Ende. Ich bin neugierig, wie es Ihnen gefallen wird; ich bin über die Berechtigung des Ganzen etwas in Zweifel geraten.“

Tatsächlich hat die Doppelgänger-Novelle bei Storms Freunden kaum Resonanz gefunden; nur Erich Schmidt hat dem skeptischen Novellisten im Brief vom 13. September 1887 andeutend mitgeteilt: „Der Doppelgänger ist mir ein wundervolles Amalgam von Zartheit und Wüstheit, höchst ergreifend durch die Spaltung der Figur in der Erinnerung der Frau“.

Quellenforschung Wirklichkeitselemente als novellistische Materialquelle Storm hat den renommierten Literaturhistoriker Erich Schmidt, seinen verständnisvollen Freund und Briefpartner, am 16. September 1886 andeutungsweise über das inspirierende Motiv seines neuen Novellenprojekts informiert, das ihm seine Schwägerin in gesellschaftlicher Unterhaltung in seiner Hademarschener Villa mitteilte. Seine Schwägerin Charlotte Storm (geborene Esmarch; 1834 bis 1910), Ehefrau des in Husum niedergelassenen Arztes Dr. med. Aemil Storm, seinem jüngsten Bruder, habe ihm den „etwas unheimlichen Tod eines Husumer Menschen“ berichtet. Dieser Zeitzeugenbericht lieferte dem interessierten Novellisten – seine Studien zum SchimmelreiterProjekt unterbrechend – den „Federansatzpunkt“ zu Entwurfsskizzen eines inspirierenden Novellenkonzepts, so dass die „sich ereignete, unerhörte Begebenheit“ erste, umrisshafte Strukturelemente erhielt und letztlich als leitendes

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Motiv der Binnenerzählung der Doppergänger-Novelle durch dramatische Szenenbilder erschüttern sollte. Im „schönen Jena“ und in seiner waldreichen Umgebung hat Storm während seines eintägigen Aufenthalts am 16. Mai 1886 auf der Rückreise von Weimar nach Hademarschen motivliche Anregungen für die realistisch-poetische Darstellung der lokalen Szenerie der einleitenden Rahmenerzählung erhalten; der Novellist hatte schon im Brief vom 13. August 1873 dem österreichischen Literaturhistoriker Emil Kuh bekannt, „durch Örtlichkeiten starke Eindrücke zu empfangen“. In einem biografisch-historischen Bericht zur Quellenforschung hat Karl Ernst Laage – Ehrenpräsident der Theodor-Storm-Gesellschaft in Husum und international als profunder Storm-Kenner geschätzt – auf die bislang unbeachtet gebliebene Reisereportage des Soziologen Ferdinand Tönnies in seinem Erinnerungsessay Gedenkblätter (1917) hingewiesen, der den 69-jährigen, kranken Schriftsteller nach Weimar und Jena begleitete: „Wir trafen uns dann wieder im ‘mythologischen’ Jena, bei dem damaligen Universitätskurator Eggeling speisten wir mit dem trefflichen Professor Berthold Delbrück und seinen klugen Töchtern zusammen. Storm war wieder bei frischen Kräften, so daß er am Abend noch mit uns den Weg zum lieblichen Aussichtspunkte des Forsthauses, der doch eine Stunde Aufstiegs in Anspruch nimmt, wohlgemut machen konnte.“45

Storm hat im traditionsreichen Gasthof „Zum Schwarzen Baeren“ in Jena auf seiner Rückreise von Weimar am 16. Mai 1886 übernachtet und in der Gaststube das Gemälde von Otto Schwerdtgeburth aus dem Jahr 1861 interessiert betrachtet, das Martin Luther im Gespräch mit angeblichen Studenten darstellt, als er auf seiner Rückkehr von der Wartburg nach Wittenberg am 3./4. März 1522 im 1498 gegründeten Gasthof „Zum Schwarzen Baeren“ inkognito abstieg und unter dem Pseudonym ‘Junker Jörg’ bewirtet wurde. Dieses Gemälde – lebendiges Zeugnis der sich in ganz Europa verbreitenden Historienmalerei des 19. Jahrhunderts – dokumentiert einen kulturhistorisch brisanten Aspekt des inkognito reisenden Reformators, denn der Disput mit seinen Gegnern in diesem Gasthof, die sich als Schweizer Studenten tarnten, verbreitete die Glaubensbewegung der Reformation in Jena. Martin Luther hat übrigens auch in den Jahren 1524, 1529, 1530 und 1537 in diesem Gasthof logiert.

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Ferdinand Tönnies, Theodor Storm. Gedenkblätter. Berlin 1917, S. 46–72; bes. S. 63. – Karl Ernst Laage, Theodor Storm, Jena und seine Novelle Ein Doppelgänger, in: Mitteilungen aus dem Storm-Haus. Heide: Boyens 1999, S. 12–14; bes. S. 12.

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Im Gasthof „Zum Schwarzen Baeren“ begegnet der Erzähler einem freundlichen Förster und erhält unverhofft eine reizvolle Einladung: „meine Försterei liegt nur so reichlich eine Stunde von hier zwischen Eichen und Tannen“. Am nächsten Morgen wandert der Erzähler, „zuletzt an einem Eichwald entlang“, zum idyllisch gelegenen Forsthaus, das sich etwa eine Stunde westlich von Jena, zwischen der Schweizerhöhe und dem Johannisberg, befand. Im Stadtarchiv Jena dokumentieren historische Abbildungen von 1895 und 1898 das idyllische Forsthaus im Landhausstil (z.B. vom Verlag der Doebereinerschen Verlagsbuchhandlung. Nachfolger Rassmann; Signatur: 310/1895). Einen brisanten sozialhistorischen Kontext, zugleich eine politisch-soziale Dimension der Doppelgänger-Novelle, hat Storm durch den Zichorienanbau auf den weiten sandigen Feldern im Norden und Nordosten von Husum dargestellt. Lokalhistorischen Recherchen von K.E. Laage zufolge, wurde der feldmäßige Zichorienanbau und die Verarbeitung der Zichoriewurzel zu Kaffee-Ersatz in Husum von drei Zichorienfabrikanten zwischen 1825 und 1855 gewerblich betrieben. In der Sommersaison waren etwa 150 Frauen und auch schulpflichtige Kinder mit dem vom Novellisten geschilderten Jäten der Zichorienfelder beschäftigt, die als zeitweiliger Arbeitsplatz John Hansens durch eindruckvolle Szenenbilder dargestellt werden, beispielsweise seine dramatisch inszenierte erste Begegnung mit der erotisch attraktiven Feldarbeiterin Hanna. Vor diesem sozialhistorischen Hintergrund erscheint auch die politisch-soziale Dimension als Zeitkritik bemerkenswert: Als militärische Reaktion auf eine britische Seeblockade der französischen Küste befahl Kaiser Napoleon I. am 21. November 1806 eine Wirtschaftsblockade über die britischen Inseln, um Großbritannien vom europäischen Markt zu drängen. Der daraufhin verbreitete feldmäßige Zichorienanbau ermöglichte die gewerbsmäßige Verarbeitung der Zichoriewurzel durch Rösten zu Kaffee-Ersatz, der als „Kontinentalkaffee“ vermarktet wurde.

Textquelleninformationen Begegnungen mit „Junker Jörg“ (1522), in: Martin Luther. Dargestellt von seinen Freunden und Zeitgenossen Johannes Mathesius, Philipp Melanchthon, Lucas Cranach d.Ä., Hans Sachs u. a. Mit einer Einleitung von August Ferdinand Cohrs. Herausgegeben und mit Photos der Lutherstätten versehen von Martin Hürlimann. Berlin: Atlantis Verlag o.J., S. 93–97. Karl Ernst Laage, Theodor Storm, Jena und seine Novelle Ein Doppelgänger, in: Mitteilungen aus dem Storm-Haus 12 (1999). Herausgegeben von der Theodor-StormGesellschaft, Husum. Heide: Boyens Verlag 1999, S. 12–14.

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Das Zuchthaus in Glückstadt an der Elbe – „He hett in Glückstadt studeert.“ – John Hansen alias John Glückstadt Stadtgeschichtlichen Studien von Gerhard Köhn und Hans-Reimer Möller zufolge, hat der Magistrat der Stadt Glückstadt im Jahr 1735 die Festungs- und Hafenstadt an der Elbe als Standort für ein „Zucht-, Werk- und Tollhaus“46 empfohlen, zumal ein geeigneter Platz auf dem Rethövel, nahe der „wohlbesetzten Neutorwache“47, von Hedwig Gräfin von Castell-Rüdenhausen „gratis offeriert“ wurde48. Das Zuchthaus in Glückstadt, durch Gräfin von CastellRüdenhausen mitfinanziert, wurde in drei Bauphasen in den Jahren 1738 bis 1739, 1744 und 1755 als Neubau errichtet49. Das während der ersten Bauphase auf dem Rethövel entstandene, zur Stadtseite gelegene Gebäude erhielt einen markanten Dachreiter mit geschweifter Haube, der als offene Laterne genutzt wurde, und mit einer Schlaguhr und einer Glocke ausgestattet war50. Interessanterweise berichtet H.-R. Möller auch über das sozialhistorisch bemerkenswerte Detail der „Armesünderglocke“: „Auf einer alten Darstellung ist ein Hebel mit einern Seilzug zu erkennen. Damit wurde die Glocke bei Hinrichtungen als Armesünderglocke geläutet.“51

Mit dem detailrealistischen Titel Die Armesünderglocke überschrieb Theodor Storm sein Fragment gebliebenes Novellenprojekt, das ihn noch kurz vor seinem Tode am 4. Juli 1888 beschäftigte und erstmals 1913 von seiner Tochter Gertrud Storm in ihrer Storm-Biografie publiziert wurde52. Während des 19. Jahrhunderts entstand in Glückstadt ein regionales Zentrum der Strafanstalten: „Zum Alten Zuchthaus, Am Rethövel 9, waren hinzugekommen das Frauenzuchthaus, vorher im Bechtolsheimschen Haus, Am Rethövel 12, und das Neue Zuchthaus im ehemaligen Gießhaus, Königstraße 41.“53 Landesweit bekannt als Ort der Strafanstalt, wurden im Zuchthaus in Glückstadt nicht nur Freiheitsstrafen vollzogen, sondern auch „die schwerste 46 47 48 49 50 51 52 53

Möller, Glückstadt. Ein Führer durch das Stadtdenkmal und seine Geschichte. Gückstadt: Verlag J.J. Augustin, 2. Auflage 1996, S. 110. Ebenda, S. 111. Ebenda, S. 111. Ebenda, S. 111. Ebenda, S. 111. Ebenda, S. 111. Storm, Theodor Storm. Ein Bild seines Lebens. Berlin 1912–1913, Bd. 2, S. 241; 248– 260. Möller, Glückstadt. Ebd., S. 111.

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Abbildung 5: Das „Zucht-, Werk- und Tollhaus“ in Glücksstadt (1850).

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Form der Bestrafung“, die Todesstrafe, vollstreckt, „zuletzt im Jahre 1868 an Timm Thode, dem achtfachen Mörder seiner Eltern, Geschwister und des Dienstmädchens auf dem Hof der Familie in Großkampen.“54 Ein durch Gerichtsurteil bestrafter Verbrecher, der nach verbüßter Zuchthausstrafe „auf freien Fuß“ entlassen wurde, wie in Theodor Storms Novelle Ein Doppelgänger (1886) John Hansen alias John Glückstadt, der im Zuchthaus in Glückstadt eine sechsjährige Freiheitsstrafe verbüßte, blieb gesellschaftlich geächtet und blieb durch sarkastische Nachrede „He hett in Glückstadt studeert.“55 stigmatisiert, wodurch eine humane Resozialisierung und eine soziale Reintegration in die Arbeits- und Lebenswelt des Arbeitermilieus erschwert, oft verhindert wurden.

Kontrastive Schauplätze stiften erzählte Sinnbilder „Man muß nicht immer wissen wollen, wo die Novellen meines Vaters spielen – es sind Dichtungen“56, versicherte Ernst Storm, Rechtsanwalt und Notar in Husum, dem Journalisten Felix Schmeißer. Gleichwohl kennzeichnen Theodor Storms realistische Erzählkunst sehenswerte lokale und regionale Erzählräume, die der Novellist aus eigenen Erfahrungen und Erlebnissen kannte und daher als poetisch bedeutsame Schauplätze präzise darstellen konnte57. Schon in seinen Entwurfsskizzen zur Doppelgänger-Novelle hat Storm reale, poetisch relevante Erzählorte notiert; doch erst seine konsequente realistische Erzählkunst stiftet durch kontrastive Schauplätze symbolische Sinnbilder. Als 54 55

56

57

Ebenda, S. 111–112. Ebenda, S. 112. Köhn, Das königliche Schloß Glücksburg und die Adelspalais in der Residenzstadt Glücksstadt. Kapitel: Die Rantzauschen Palais auf dem Rethövel. Von der Steinburg zum Zuchthaus, in: Steinburger Jahrbuch 1985, Heimatverband für den Kreis Steinburg 1984, Anhang: S. 1–27, bes. S. 12–17. Schmeißer, Der Schauplatz des Schimmelreiters. Überraschende Feststellung zu Theodor Storms Meisternovelle, in: Husumer Tageszeitung, 18. September 1952. Vgl. Schmeißer, Ein Gedenkblatt zu Ernst Storms 100. Geburtstag. Eines Dichters Sohn als Ebenbild und „literarisches Gewissen“ seines Vaters, in: Husumer Tageszeitung, 31. Januar 1951. – Zitiert nach: Holander, Theodor Storm. Der Schimmelreiter. Kommentar und Dokumentation (Dichtung und Wirklichkeit, 34, Frankfurt am Main, Berlin, Wien: Ullstein 1976, S. 53–59, hier S. 53, 121, Anm. 1). – Neue, verbesserte und aktualisierte Ausgabe. Bredstedt: Nordfriesisches Institut 2003. Vgl. Laage, Theodor Storms Dichter-Welt. – Kapitel: Die Wirklichkeit als „Perpendikelanstoß“ und Stoffquelle. Heide: Boyens Verlag 1995, S. 51–53. Plan der Stadt Husum, in: Momsen, Die Bevölkerung der Stadt Husum von 1769 bis 1860. Kiel 1969; Abb. S. 58. – Laage, Unterwegs mit Theodor Storm. Ein literarischer Reiseführer. Heide: Boyens Verlag 2002, S. 13, 31, 104, 105.

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Erzählort der Rahmenhandlung schildert Storm die waldreiche Umgebung des „schönen Jena“, eine idyllische Provinz, die „vor allem Weltgeräusch“ schützen soll. Bezeichnenderweise besteht die bürgerliche Idylle des Forsthauses nur abseits von der sozialen Welt; dennoch scheint sie nicht ungefährdet – ein „doppelgängerischer Schatten“ der Vergangenheit, die nicht vergessen sein will, bedroht sie: John Hansen alias John Glückstadt, ein „Zuchthäusler“. Mit bemerkenswertem Raffinement novellistischer Andeutungskunst erwähnt Storm die ehemalige Festungs- und Hafenstadt Glückstadt an der Elbe, die der Magistrat im Jahr 1735 als Standort für ein „Zucht-, Werk- und Tollhaus“ offerierte; erst im 19. Jahrhundert entstand in Glückstadt ein regionales Zentrum der Strafanstalten. Als Landvogt und Amtsrichter im preußischen Staatsdienst war Storm verpflichtet, rechtskräftig verurteilte Delinquenten ins Glückstädter Zuchthaus einzuweisen. Die Binnenerzählung lässt durch präzise Angaben von Straßennamen (Norderstraße, Großstraße, Kuhsteig, Zingel, Markt) und Institutionen (z.B. „Gasthaus zum Ritter St. Jürgen“) das kleinstädtische Husum und seine ländliche Umgebung (z.B. die weiten Zichorienfelder im Norden und Nordosten) als lokale Schauplätze, als novellistischen Stadtprospekt mit sinnbildlicher Bedeutung erkennen. Die Binnenhandlung der Doppelgänger-Novelle konzentrierte Storm auf die im Entwurfskonzept genannte Kleinstadt Husum und ihre ländliche Umgebung als lokale Kulisse, sodass die Lokalisierung der erzählten Sozialräume als poetisierte Realität interpretiert werden kann: Das novellistisch präsente Husum und seine topografische Realität ist daher als Kleinstadt-Symbol ästhetisch bedeutsam; zugleich ist so die intendierte Ästhetisierung von sozialer Empirie gewahrt, die Poetizität erst ermöglicht – ein poeto-logisches Postulat von Gottfried Keller im Briefgespräch vom 25. Juni 1878 mit seinem Kollegen und Konkurrenten in Husum. Die Darstellung der Binnenhandlung im Milieu einer Provinzstadt mit traditionsverbundener Mentalität und rigiden sozialen Normen entsprach der dramatischen gesellschafts- und sozialkritischen Tendenz, die im Milieu des Industrieproletariats kaum so plastisch vor Augen geführt werden könnte: Der Landarbeiter John Hansen verrichtet notgedrungen befristete Gelegenheitsarbeiten in der Stadt, an deren Randzone sich seine kümmerliche Kate befindet. Nur im Milieu einer Kleinstadt und ihrer Sozialstruktur lässt sich die Unmöglichkeit totaler Anonymität zeigen; andererseits lässt sich auch die Intensivierung aller sozialen Urteilsformen darstellen, insbesondere die sozialpsychologisch deprimierende Diffamierung und Diskriminierung durch hermetische

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Gruppenbildung, beispielsweise der Brückenarbeiter, die sich den starren sozialen Normen des inhumanen Stadtbürgertums unkritisch anpassen. Nur im kleinstädtischen Milieu konnte Strom die zeittypische Auflösung des patrizisch-patriarchalischen Fürsorgeverhältnisses als desillusionistische Zeitkritik in novellistischer Szenensequenzen darstellen. Das paradigmatisch inszenierte sozialethische Handeln des verstehend-helfenden Nachbarn Tischler ist daher als mahnendes Kontrastbild interpretierbar. Der im Lebensgeschick von John Hansen figurierte Skandal des Arbeiterelends bleibt nicht nur erzähltes Darstellungsobjekt gesellschaftlicher und sozialer Kritik, sondern wirkt darüber hinaus als öffentliche Anklage wegen Unfähigkeit zu gesellschaftlicher Toleranz und Humanität – das kleinstädtische Bürgertum58 verhält sich ebenso skrupellos wie jene (gelernten?) Brückenbauarbeiter, die John Hansen als immer öfter unverschuldet arbeitslosen und deshalb in Armut und Not geratenen (Gelegenheits-) Arbeiter ausgrenzen. Auf dem historischen Hintergrund der während des 19. Jahrhunderts in Deutschland immer noch bestehenden ständischen Gesellschaftsstruktur repräsentiert der Bürgermeister vornehmlich den stadtbürgerlichen Magistrat. Als Repräsentant der regierenden „Herrschaft“ artikuliert in der Binnenerzählung der Doppelgänger-Novelle nur der Bürgermeister berechtigte Kritik an vehementer Intoleranz und Inhumanität bornierter Kleinbürger und Arbeiter. Dennoch bleibt seine couragierte Rolle als sozial motivierter Anwalt des arbeitssuchenden Arbeiters John Hansen einfluss- und folgenlos, denn notwendige soziale Konsequenzen kann seine liberale Rhetorik nicht bewirken. Auf diesem Hintergrund der ständischen Gesellschaftsstruktur einer von überlieferten sozialen Konventionen und Normen geprägten Kleinstadt konnte Storm das in dramatischen Novellenszenen erzählte Arbeiterelend sozialkritisch inszenieren: Arbeitslos in Armut und unverschuldet in Not geraten, wird John Hansen alias John Glückstadt ins Elend getrieben und letztlich „zu Tode gehetzt“. Durch kontrastive Schauplätze stiftet Storms realistische Erzählkunst symbolische Sinnbilder: Während Hansens etablierter Arbeitgeber nahe am allseits beliebten Marktplatz, in der Großstraße wohnt, liegt die gemietete, niedrige Kate der Arbeiterfamilie Hansen „am Ende der uns Feld hinauslaufenden Norderstraße“. Sozial deklassiert, wird die ärmliche Kate zum Sinnbild für das unlösbare ‘soziale Rätsel’ des stigmatisierten „Zuchthäuslers“ John Glück58

Laage, Theodor Storm und seine Vaterstadt. Ein Beitrag zum Neuverständnis des Dichters, in: STSG 17/l967, S. 22. – Laage, Theodor Storms öffentliches Wirken. Eine politische Biografie. Heide: Boyens Verlag 2008, S. 127–131.

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stadt. Sozialhistorisch und sozialpsychologisch deutet die verfemte „Schinderkate“ auf den asozialen Status der beleidigten, erniedrigten und ausgestoßenen Arbeiterfamilie Hansen. Das als Schreckbild gemiedene Miethäuschen provoziert den Abstand der Brückenbauarbeiter als unüberbrückbar, die durch das Stigma des „Zuchthäuslers“ ihr Arbeitsethos bedroht sehen, während biedere Bürger um ihre Reputation fürchten. Das durch den unglücklichen Lebenslauf John Hansens alias John Glückstadt figurierte Arbeiterelend kann als radikale Gesellschafts- und Sozialkritik der Binnenerzählung der Doppelgänger-Novelle interpretiert werden, die zugleich Storms politisch engagierte Kulturkritik an depravierter Stadtkultur andeutet. Als zentrales Thema der Binnenerzählung der Doppelgänger-Novelle gibt sich Storms radikale Kritik an einer inhumanen Gesellschaft einer Kleinstadt mit rigiden sozialen Normen einer ständischen Gesellschaftsstruktur während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu erkennen. In diesem Kontext steht Storms politisches Engagement für den „sozialen Kampf“, den „unausbleiblichen Kampf zwischen der alten und neuen Zeit“, an dem er als „Tyrtäus der Demokratie“59 mitwirkte: „Wenn Storm aber in stärkerem Maße als bisher vermutet wurde, Kritik geübt hat an den politischen und sozialen Verhältnissen, die ihn umgaben, an der Herrschaftsform und an den Mißständen der bürgerlichen Ordnung, wie sie in dieser kleinen Stadt sichtbar werden, dann kann man sein Werk nicht mit dem (so oft falsch verstandenen und falsch gebrauchten) fontanischen Wort von der ‘Husumerei’ abtun.“60 Seiner Vaterstadt Husum blieb Storm – nach glücklicher Jugend und Schulzeit sowie erfolgreicher Berufsarbeit als Rechtsanwalt, Landvogt und Richter – zeitlebens in dankbarer Erinnerung verbunden; gleichwohl hat er auch seine charakteristisch kritische Distanz gewahrt61. Er ist sich auch den Nachteilen, 59

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Theodor Storms Briefe in die Heimat aus den Jahren 1853–1864. Herausgegeben von G. Storm. Berlin: Verlag von Karl Curtius 1907, S. 183 f. (Brief vom 10. Mai 1862), S. 209–210 (Brief vom 21. Dezember 1863). – Theodor Storm brieflich am 18. Januar 1864 an Hartmuth Brinkmann, in: Theodor Storm – Hartmuth und Laura Brinkmann. Briefwechsel. Kritische Ausgabe. Herausgegeben von August Stahl. Berlin: Erich Schmidt Verlag 1986, S. 132–136, bes. S. 134–135. – Theodor Storm brieflich im Mai 1868 an Hans Storm, in: Theodor Storm. Briefe an die Kinder. Herausgegeben von Gertrud Storm. Berlin, Braunschweig, Hamburg: Verlag von Georg Westermann 1916, S. 51–52. Goldammer, Storms Werk und Persönlichkeit im Urteil Theodor Fontanes, in: Fontane Blätter, Bd. 1, Heft 6, Potsdam 1968, S. 247–264. Laage, Theodor Storm und seine Vaterstadt (Anm. 58), S. 19, 21 f. – Laage, Unterwegs mit Theodor Storm (Anm. 57), S. 8–9, 11–13, 17, 24, 29, 40–51, 71, 76. – Laage, Mit

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mit denen er als Mitbürger der betriebsamen Handels- und Hafenstadt konfrontiert wurde, aus eigenen Erlebnissen und Erfahrungen bewußt gewesen und schließlich im Mai 1880 nach Hademarschen in Holtstein übergesiedelt, um als „Poet noch eine neue Periode zu erleben“62, um mit kritischer Distanz eine neue Phase seiner konsequent realistischen Novellistik zu beginnen.

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127

WICHT, Heinrich: Das Unheimliche bei Theodor Storm (Diss.), Breslau 1921. WOLF, Wilhelm: Landschaft, Tier- und Pflanzenwelt im Werk Theodor Storms, in: STSG 9/1959, S. 33–43. ZUBER, Wolfgang: Natur und Landschaft in der späten Novellistik Theodor Storms. Zur epischen Integration der Naturdarstellung in der Entwicklungsgeschichte der deutschen Novelle (Diss.), Tübingen 1969.

Literatur zum Kinofilm „John Glückstadt“ MIEHE, Ulf (Regie): John Glückstadt. München: Filmverlag der Autoren 1975. BOLL, Karl-Friedrich: Über die Verfilmung von Werken Fontanes und Storms, in: STSG 25/1976, S. 61–74, bes. S. 71–73. HOPPE, Almut: John Glückstadt. Theodor Storms Novelle „Ein Doppelgänger“ in der Verfilmung von Ulf Miehe. Modellversuch. Bausteine für eine Schulische Medienerziehung, Baustein 2. Landesinstitut Schleswig-Holstein für Praxis und Theorie der Schule (IPTS), Kiel 1993. SPURGAT, Günter (Hrsg.): Theodor Storm im Film. Die Kino- und Fernsehverfilmungen seiner Werke. Eine Dokumentation (Veröffentlichungen des Senats der Hansestadt Lübeck Amt für Kultur – Reihe B, Heft 11. Herausgegeben von Hans Gerd Kästner), Lübeck 1987, S. 9–17, 39–40, 70. SPURGAT, Günter: Vom grauen Strand ins grelle Licht. Theodor Storm als „Stofflieferant“ für den Film, in: Spurgat, Günter (Hrsg.), Theodor Storm im Film. Die Kino- und Fernsehverfilmungen seiner Werke. Eine Dokumentation. Lübeck 1987, S. 9–17.

Siglen K

Theodor Storms sämtliche Werke in acht Bänden. Herausgegeben von Albert Köster. Leipzig: Insel=Verlag 1923.

H

Storms Werke. Herausgegeben von Theodor Hertel. Kritisch durchgesehene und erläuterte Ausgabe in sechs Bänden. Leipzig: Bibliographisches Institut o.J. [1919–1920].

Gd

Theodor Storm. Sämtliche Werke in vier Bänden. Herausgegeben von Peter Goldammer. 8. Auflage. Berlin, Weimar: Aufbau-Verlag 1995.

LL

Theodor Storm. Sämtliche Werke in vier Bänden. Herausgegeben von Karl Ernst Laage und Dieter Lohmeier. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 1987–1988.

STSG

Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft. Heide: Westholsteinische Verlagsanstalt Boyens 1952 ff.

Bildnachweise Schutzumschlag und Frontispiz: Theodor Storm (1817–1888) 1884. Ölgemalde von Marie von Wartenberg. Original: Storm-Haus, Husum. Abbildung 1: Karl Emil Franzos (1848–1904). Schriftsteller; Herausgeber der Zeitschrift „Deutsche Dichtung“. Porträtfoto (1891). Bildquelle: Könnecke, Gustav: Bilderatlas zur Geschichte der deutschen Nationalliteratur. Marburg 1895, S. 417. Abbildung 2: Theodor Storm brieflich am 11. August 1886 aus Hademarschen-Hanerau an Karl Emil Franzos. Faksimile des ganzen Briefes. Bildquelle: Goldammer, Peter (Hrsg.): Theodor Storm und Karl Emil Franzos. Ein unbekannter Briefwechsel, in: STSG 18/1969, S. 22. Abbildung 3: Titelblatt der Zeitschrift „Deutsche Dichtung“. I. Band, Heft 6, 15. Dezember 1886. Herausgeber: Karl Emil Franzos. Stuttgart: Bonz 1886. Bildquelle: Storm-Archiv der Theodor-Storm-Gesellschaft, Husum. Das sechste Heft der Deutschen Dichtung war ein Storm-Heft: Es brachte auf der Titelseite das Foto des Dichters mit dessen faksimiliertem Namenszug, den Schlußteil der „Doppelgänger“-Novelle, dazwischen die Zeichnung von W. Steinhausen zu den ersten der beiden „Constanze“-Gedichten (Vgl. Gd SW I, 299, 747) und das Gedicht im Faksimile der Handschrift (S. 129–139), schließlich den biographischen Essay „Theodor Storm“ von Wilhelm Jensen (S. 155, 158–160). Vgl. Goldammer, Theodor Storm und Karl Emil Franzos. Ein unbekannter Briefwechsel, in: STSG 18/1969, S. 39, Anm. 42. Abbildung 4: Ein Doppelgänger. Novelle von Theodor Storm. Verlag von Gebrüder Paetel Berlin 1887. Titelblatt der ersten Buchausgabe. Exemplar und Foto: Privatbesitz. Abbildung 5: Das „Zucht-, Werk- und Tollhaus“ in Glückstadt (1850). Original: Detlefsen-Museum in Glückstadt. Foto: Kaufholz, Heinz; Glückstadt.

Juristische Zeitgeschichte Herausgeber: Prof. Dr. Dr. Thomas Vormbaum, FernUniversität in Hagen Abteilung 1: Allgemeine Reihe 1 Thomas Vormbaum (Hrsg.): Die Sozialdemokratie und die Entstehung des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Quellen aus der sozialdemokratischen Partei und Presse (1997) 2 Heiko Ahlbrecht: Geschichte der völkerrechtlichen Strafgerichtsbarkeit im 20. Jahrhundert (1999) 3 Dominik Westerkamp: Pressefreiheit und Zensur im Sachsen des Vormärz (1999) 4 Wolfgang Naucke: Über die Zerbrechlichkeit des rechtsstaatlichen Strafrechts. Gesammelte Aufsätze zur Strafrechtsgeschichte (2000) 5 Jörg Ernst August Waldow: Der strafrechtliche Ehrenschutz in der NS-Zeit (2000) 6 Bernhard Diestelkamp: Rechtsgeschichte als Zeitgeschichte. Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts (2001) 7 Michael Damnitz: Bürgerliches Recht zwischen Staat und Kirche. Mitwirkung der Zentrumspartei am Bürgerlichen Gesetzbuch (2001) 8 Massimo Nobili: Die freie richterliche Überzeugungsbildung. Reformdiskussion und Gesetzgebung in Italien, Frankreich und Deutschland seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts (2001) 9 Diemut Majer: Nationalsozialismus im Lichte der Juristischen Zeitgeschichte (2002) 10 Bianca Vieregge: Die Gerichtsbarkeit einer „Elite“. Nationalsozialistische Rechtsprechung am Beispiel der SS- und Polizeigerichtsbarkeit (2002) 11 Norbert Berthold Wagner: Die deutschen Schutzgebiete (2002) 12 Milosˇ Vec: Die Spur des Täters. Methoden der Identifikation in der Kriminalistik (1879–1933), (2002) 13 Christian Amann: Ordentliche Jugendgerichtsbarkeit und Justizalltag im OLG-Bezirk Hamm von 1939 bis 1945 (2003) 14 Günter Gribbohm: Das Reichskriegsgericht (2004) 15 Martin M. Arnold: Pressefreiheit und Zensur im Baden des Vormärz. Im Spannungsfeld zwischen Bundestreue und Liberalismus (2003) 16 Ettore Dezza: Beiträge zur Geschichte des modernen italienischen Strafrechts (2004) 17 Thomas Vormbaum (Hrsg.): „Euthanasie“ vor Gericht. Die Anklageschrift des Generalstaatsanwalts beim OLG Frankfurt/M. gegen Werner Heyde u. a. vom 22. Mai 1962 (2005) 18 Kai Cornelius: Vom spurlosen Verschwindenlassen zur Benachrichtigungspflicht bei Festnahmen (2006) 19 Kristina Brümmer-Pauly: Desertion im Recht des Nationalsozialismus (2006) 20 Hanns-Jürgen Wiegand: Direktdemokratische Elemente in der deutschen Verfassungsgeschichte (2006) 21 Hans-Peter Marutschke (Hrsg.): Beiträge zur modernen japanischen Rechtsgeschichte (2006)

22 Katrin Stoll: Die Herstellung der Wahrheit (2011) 23 Thorsten Kurtz: Das Oberste Rückerstattungsgericht in Herford (2013) 24 Sebastian Schermaul: Die Umsetzung der Karlsbader Beschlüsse an der Universität Leipzig 1819–1848 (2013)

Abteilung 2: Forum Juristische Zeitgeschichte 1 Franz-Josef Düwell / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Themen juristischer Zeitgeschichte (1) – Schwerpunktthema: Recht und Nationalsozialismus (1998) 2 Karl-Heinz Keldungs: Das Sondergericht Duisburg 1943–1945 (1998) 3 Franz-Josef Düwell / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Themen juristischer Zeitgeschichte (2) – Schwerpunktthema: Recht und Juristen in der Revolution von 1848/49 (1998) 4 Thomas Vormbaum: Beiträge zur juristischen Zeitgeschichte (1999) 5 Franz-Josef Düwell / Thomas Vormbaum: Themen juristischer Zeitgeschichte (3), (1999) 6 Thomas Vormbaum (Hrsg.): Themen juristischer Zeitgeschichte (4), (2000) 7 Frank Roeser: Das Sondergericht Essen 1942–1945 (2000) 8 Heinz Müller-Dietz: Recht und Nationalsozialismus – Gesammelte Beiträge (2000) 9 Franz-Josef Düwell (Hrsg.): Licht und Schatten. Der 9. November in der deutschen Geschichte und Rechtsgeschichte – Symposium der Arnold-Freymuth-Gesellschaft, Hamm (2000) 10 Bernd-Rüdiger Kern / Klaus-Peter Schroeder (Hrsg.): Eduard von Simson (1810–1899). „Chorführer der Deutschen“ und erster Präsident des Reichsgerichts (2001) 11 Norbert Haase / Bert Pampel (Hrsg.): Die Waldheimer „Prozesse“ – fünfzig Jahre danach. Dokumentation der Tagung der Stiftung Sächsische Gedenkstätten am 28. und 29. September in Waldheim (2001) 12 Wolfgang Form (Hrsg.): Literatur- und Urteilsverzeichnis zum politischen NS-Strafrecht (2001) 13 Sabine Hain: Die Individualverfassungsbeschwerde nach Bundesrecht (2002) 14 Gerhard Pauli / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Justiz und Nationalsozialismus – Kontinuität und Diskontinuität. Fachtagung in der Justizakademie des Landes NRW, Recklinghausen, am 19. und 20. November 2001 (2003) 15 Mario Da Passano (Hrsg.): Europäische Strafkolonien im 19. Jahrhundert. Internationaler Kongreß des Dipartimento di Storia der Universität Sassari und des Parco nazionale di Asinara, Porto Torres, 25. Mai 2001 (2006) 16 Sylvia Kesper-Biermann / Petra Overath (Hrsg.): Die Internationalisierung von Strafrechtswissenschaft und Kriminalpolitik (1870–1930). Deutschland im Vergleich (2007) 17 Hermann Weber (Hrsg.): Literatur, Recht und Musik. Tagung im Nordkolleg Rendsburg vom 16. bis 18. September 2005 (2007) 18 Hermann Weber (Hrsg.): Literatur, Recht und (bildende) Kunst. Tagung im Nordkolleg Rendsburg vom 21. bis 23. September 2007 (2008) 19 Francisco Muñoz Conde / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Transformation von Diktaturen in Demokratien und Aufarbeitung der Vergangenheit (2010)

Abteilung 3: Beiträge zur modernen deutschen Strafgesetzgebung. Materialien zu einem historischen Kommentar 1 Thomas Vormbaum / Jürgen Welp (Hrsg.): Das Strafgesetzbuch seit 1870. Sammlung der Änderungen und Neubekanntmachungen; Vier Textbände (1999–2002) und drei Supplementbände (2005, 2006) 2 Christian Müller: Das Gewohnheitsverbrechergesetz vom 24. November 1933. Kriminalpolitik als Rassenpolitik (1998) 3 Maria Meyer-Höger: Der Jugendarrest. Entstehung und Weiterentwicklung einer Sanktion (1998) 4 Kirsten Gieseler: Unterlassene Hilfeleistung – § 323c StGB. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870. (1999) 5 Robert Weber: Die Entwicklung des Nebenstrafrechts 1871–1914 (1999) 6 Frank Nobis: Die Strafprozeßgesetzgebung der späten Weimarer Republik (2000) 7 Karsten Felske: Kriminelle und terroristische Vereinigungen – §§ 129, 129a StGB (2002) 8 Ralf Baumgarten: Zweikampf – §§ 201–210 a.F. StGB (2003) 9 Felix Prinz: Diebstahl – §§ 242 ff. StGB (2003) 10 Werner Schubert / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Entstehung des Strafgesetzbuchs. Kommissionsprotokolle und Entwürfe. Band 1: 1869 (2002); Band 2: 1870 (2004) 11 Lars Bernhard: Falsche Verdächtigung (§§ 164, 165 StGB) und Vortäuschen einer Straftat (§ 145d StGB), (2003) 12 Frank Korn: Körperverletzungsdelikte – §§ 223 ff., 340 StGB. Reformdiskussion und Gesetzgebung von 1870 bis 1933 (2003) 13 Christian Gröning: Körperverletzungsdelikte – §§ 223 ff., 340 StGB. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1933 (2004) 14 Sabine Putzke: Die Strafbarkeit der Abtreibung in der Kaiserzeit und in der Weimarer Zeit. Eine Analyse der Reformdiskussion und der Straftatbestände in den Reformentwürfen (1908–1931), (2003) 15 Eckard Voßiek: Strafbare Veröffentlichung amtlicher Schriftstücke (§ 353d Nr. 3 StGB). Gesetzgebung und Rechtsanwendung seit 1851 (2004) 16 Stefan Lindenberg: Brandstiftungsdelikte – §§ 306 ff. StGB. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2004) 17 Ninette Barreneche†: Materialien zu einer Strafrechtsgeschichte der Münchener Räterepublik 1918/1919 (2004) 18 Carsten Thiel: Rechtsbeugung – § 339 StGB. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2005) 19 Vera Große-Vehne: Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB), „Euthanasie“ und Sterbehilfe. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2005) 20 Thomas Vormbaum / Kathrin Rentrop (Hrsg.): Reform des Strafgesetzbuchs. Sammlung der Reformentwürfe. Band 1: 1909 bis 1919. Band 2: 1922 bis 1939. Band 3: 1959 bis 1996 (2008) 21 Dietmar Prechtel: Urkundendelikte (§§ 267 ff. StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2005) 22 Ilya Hartmann: Prostitution, Kuppelei, Zuhälterei. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2006)

23 Ralf Seemann: Strafbare Vereitelung von Gläubigerrechten (§§ 283 ff., 288 StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2006) 24 Andrea Hartmann: Majestätsbeleidigung (§§ 94 ff. StGB a.F.) und Verunglimpfung des Staatsoberhauptes (§ 90 StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit dem 19. Jahrhundert (2006) 25 Christina Rampf: Hausfriedensbruch (§ 123 StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2006) 26 Christian Schäfer: „Widernatürliche Unzucht“ (§§ 175, 175a, 175b, 182, a.F. StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1945 (2006) 27 Kathrin Rentrop: Untreue und Unterschlagung (§§ 266 und 246 StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit dem 19. Jahrhundert (2007) 28 Martin Asholt: Straßenverkehrsstrafrecht. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts (2007) 29 Katharina Linka: Mord und Totschlag (§§ 211–213 StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2008) 30 Juliane Sophia Dettmar: Legalität und Opportunität im Strafprozess. Reformdiskussion und Gesetzgebung von 1877 bis 1933 (2008) 31 Jürgen Durynek: Korruptionsdelikte (§§ 331 ff. StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit dem 19. Jahrhundert (2008) 32 Judith Weber: Das sächsische Strafrecht im 19. Jahrhundert bis zum Reichsstrafgesetzbuch (2009) 33 Denis Matthies: Exemplifikationen und Regelbeispiele. Eine Untersuchung zum 100-jährigen Beitrag von Adolf Wach zur „Legislativen Technik“ (2009) 34 Benedikt Rohrßen: Von der „Anreizung zum Klassenkampf“ zur „Volksverhetzung“ (§ 130 StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit dem 19. Jahrhundert (2009) 35 Friederike Goltsche: Der Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches von 1922 (Entwurf Radbruch) (2010) 36 Tarig Elobied: Die Entwicklung des Strafbefehlsverfahrens von 1846 bis in die Gegenwart (2010) 37 Christina Müting: Sexuelle Nötigung; Vergewaltigung (§ 177 StGB) (2010) 38 Nadeschda Wilkitzki: Entstehung des Gesetzes über Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) (2010) 39 André Brambring: Kindestötung (§ 217 a.F. StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2010) 40 Wilhelm Rettler: Der strafrechtliche Schutz des sozialistischen Eigentums in der DDR (2010) 41 Yvonne Hötzel: Debatten um die Todesstrafe in der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis 1990 (2010) 42 Dagmar Kolbe: Strafbarkeit im Vorfeld und im Umfeld der Teilnahme (§§ 88a, 110, 111, 130a und 140 StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit dem 19. Jahrhundert (2011)

Abteilung 4: Leben und Werk. Biographien und Werkanalysen 1 Mario A. Cattaneo: Karl Grolmans strafrechtlicher Humanismus (1998) 2 Gerit Thulfaut: Kriminalpolitik und Strafrechtstheorie bei Edmund Mezger (2000) 3 Adolf Laufs: Persönlichkeit und Recht. Gesammelte Aufsätze (2001) 4 Hanno Durth: Der Kampf gegen das Unrecht. Gustav Radbruchs Theorie eines Kulturverfassungsrechts (2001) 5 Volker Tausch: Max Güde (1902–1984). Generalbundesanwalt und Rechtspolitiker (2002) 6 Bernd Schmalhausen: Josef Neuberger (1902–1977). Ein Leben für eine menschliche Justiz (2002) 7 Wolf Christian von Arnswald: Savigny als Strafrechtspraktiker. Ministerium für die Gesetzesrevision (1842–1848), (2003) 8 Thilo Ramm: Ferdinand Lassalle. Der Revolutionär und das Recht (2004) 9 Martin D. Klein: Demokratisches Denken bei Gustav Radbruch (2007) 10 Francisco Muñoz Conde: Edmund Mezger – Beiträge zu einem Juristenleben (2007) 11 Whitney R. Harris: Tyrannen vor Gericht. Das Verfahren gegen die deutschen Hauptkriegsverbrecher nach dem Zweiten Weltkrieg in Nürnberg 1945–1946 (2008) 12 Eric Hilgendorf (Hrsg.): Die deutschsprachige Strafrechtswissenschaft in Selbstdarstellungen (2010) 13 Tamara Cipolla: Friedrich Karl von Strombeck. Leben und Werk – Unter besonderer Berücksichtigung des Entwurfes eines Strafgesetzbuches für ein Norddeutsches Staatsgebiet (2010) 14 Karoline Peters: J. D. H. Temme und das preußische Strafverfahren in der Mitte des 19. Jahrhunderts (2010)

Abteilung 5: Juristisches Zeitgeschehen Rechtspolitik und Justiz aus zeitgenössischer Perspektive Mitherausgegeben von Gisela Friedrichsen („Der Spiegel“) und RA Prof. Dr. Franz Salditt 1 Diether Posser: Anwalt im Kalten Krieg. Ein Stück deutscher Geschichte in politischen Prozessen 1951–1968. 3. Auflage (1999) 2 Jörg Arnold (Hrsg.): Strafrechtliche Auseinandersetzung mit Systemvergangenheit am Beispiel der DDR (2000) 3 Thomas Vormbaum (Hrsg.): Vichy vor Gericht: Der Papon-Prozeß (2000) 4 Heiko Ahlbrecht / Kai Ambos (Hrsg.): Der Fall Pinochet(s). Auslieferung wegen staatsverstärkter Kriminalität? (1999) 5 Oliver Franz: Ausgehverbot für Jugendliche („Juvenile Curfew“) in den USA. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit dem 19. Jahrhundert (2000) 6 Gabriele Zwiehoff (Hrsg.): „Großer Lauschangriff“. Die Entstehung des Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes vom 26. März 1998 und des Gesetzes zur Änderung der Strafprozeßordnung vom 4. Mai 1998 in der Presseberichterstattung 1997/98 (2000)

7 Mario A. Cattaneo: Strafrechtstotalitarismus. Terrorismus und Willkür (2001) 8 Gisela Friedrichsen / Gerhard Mauz: Er oder sie? Der Strafprozeß Böttcher/ Weimar. Prozeßberichte 1987 bis 1999 (2001) 9 Heribert Prantl / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Juristisches Zeitgeschehen 2000 in der Süddeutschen Zeitung (2001) 10 Helmut Kreicker: Art. 7 EMRK und die Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze (2002) 11 Heribert Prantl / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Juristisches Zeitgeschehen 2001 in der Süddeutschen Zeitung (2002) 12 Henning Floto: Der Rechtsstatus des Johanniterordens. Eine rechtsgeschichtliche und rechtsdogmatische Untersuchung zum Rechtsstatus der Balley Brandenburg des ritterlichen Ordens St. Johannis vom Spital zu Jerusalem (2003) 13 Heribert Prantl / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Juristisches Zeitgeschehen 2002 in der Süddeutschen Zeitung (2003) 14 Kai Ambos / Jörg Arnold (Hrsg.): Der Irak-Krieg und das Völkerrecht (2004) 15 Heribert Prantl / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Juristisches Zeitgeschehen 2003 in der Süddeutschen Zeitung (2004) 16 Sascha Rolf Lüder: Völkerrechtliche Verantwortlichkeit bei Teilnahme an „Peace-keeping“-Missionen der Vereinten Nationen (2004) 17 Heribert Prantl / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Juristisches Zeitgeschehen 2004 in der Süddeutschen Zeitung (2005) 18 Christian Haumann: Die „gewichtende Arbeitsweise“ der Finanzverwaltung. Eine Untersuchung über die Aufgabenerfüllung der Finanzverwaltung bei der Festsetzung der Veranlagungssteuern (2008) 19 Asmerom Ogbamichael: Das neue deutsche Geldwäscherecht (2011) 20 Lars Chr. Barnewitz: Die Entschädigung der Freimaurerlogen nach 1945 und nach 1989 (2011) 21 Ralf Gnüchtel: Jugendschutztatbestände im 13. Abschnitt des StGB (2013)

Abteilung 6: Recht in der Kunst Mitherausgegeben von Prof. Dr. Gunter Reiß 1 Heinz Müller-Dietz: Recht und Kriminalität im literarischen Widerschein. Gesammelte Aufsätze (1999) 2 Klaus Lüderssen (Hrsg.): »Die wahre Liberalität ist Anerkennung«. Goethe und die Juris prudenz (1999) 3 Bertolt Brecht: Die Dreigroschenoper (1928) / Dreigroschenroman (1934). Mit Kommentaren von Iring Fetscher und Bodo Plachta (2001) 4 Annette von Droste-Hülshoff: Die Judenbuche (1842) / Die Vergeltung (1841). Mit Kommentaren von Heinz Holzhauer und Winfried Woesler (2000) 5 Theodor Fontane: Unterm Birnbaum (1885). Mit Kommentaren von Hugo Aust und Klaus Lüderssen (2001) 6 Heinrich von Kleist: Michael Kohlhaas (1810). Mit Kommentaren von Wolfgang Naucke und Joachim Linder (2000) 7 Anja Sya: Literatur und juristisches Erkenntnisinteresse. Joachim Maass’ Roman „Der Fall Gouffé“ und sein Verhältnis zu der historischen Vorlage (2001)

8 Heiner Mückenberger: Theodor Storm – Dichter und Richter. Eine rechtsgeschichtliche Lebensbeschreibung (2001) 9 Hermann Weber (Hrsg.): Annäherung an das Thema „Recht und Literatur“. Recht, Literatur und Kunst in der NJW (1), (2002) 10 Hermann Weber (Hrsg.): Juristen als Dichter. Recht, Literatur und Kunst in der NJW (2), (2002) 11 Hermann Weber (Hrsg.): Prozesse und Rechtsstreitigkeiten um Recht, Literatur und Kunst. Recht, Literatur und Kunst in der NJW (3), (2002) 12 Klaus Lüderssen: Produktive Spiegelungen. 2., erweiterte Auflage (2002) 13 Lion Feuchtwanger: Erfolg. Drei Jahre Geschichte einer Provinz. Roman (1929). Mit Kommentaren von Theo Rasehorn und Ernst Ribbat (2002) 14 Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius. Roman (1928). Mit Kommentaren von Thomas Vormbaum und Regina Schäfer (2003) 15 Hermann Weber (Hrsg.): Recht, Staat und Politik im Bild der Dichtung. Recht, Literatur und Kunst in der Neuen Juristischen Wochenschrift (4), (2003) 16 Hermann Weber (Hrsg.): Reale und fiktive Kriminalfälle als Gegenstand der Literatur. Recht, Literatur und Kunst in der Neuen Juristischen Wochenschrift (5), (2003) 17 Karl Kraus: Sittlichkeit und Kriminalität. (1908). Mit Kommentaren von Helmut Arntzen und Heinz Müller-Dietz (2004) 18 Hermann Weber (Hrsg.): Dichter als Juristen. Recht, Literatur und Kunst in der Neuen Juristischen Wochenschrift (6), (2004) 19 Hermann Weber (Hrsg.): Recht und Juristen im Bild der Literatur. Recht, Literatur und Kunst in der Neuen Juristischen Wochenschrift (7), (2005) 20 Heinrich von Kleist: Der zerbrochne Krug. Ein Lustspiel (1811). Mit Kommentaren von Michael Walter und Regina Schäfer (2005) 21 Francisco Muñoz Conde / Marta Muñoz Aunión: „Das Urteil von Nürnberg“. Juristischer und filmwissenschaftlicher Kommentar zum Film von Stanley Kramer (1961), (2006) 22 Fjodor Dostojewski: Aufzeichnungen aus einem Totenhaus (1860). Mit Kommentaren von Heinz Müller-Dietz und Dunja Brötz (2005) 23 Thomas Vormbaum (Hrsg.): Anton Matthias Sprickmann. Dichter und Jurist. Mit Kommentaren von Walter Gödden, Jörg Löffler und Thomas Vormbaum (2006) 24 Friedrich Schiller: Verbrecher aus Infamie (1786). Mit Kommentaren von Heinz Müller-Dietz und Martin Huber (2006) 25 Franz Kafka: Der Proceß. Roman (1925). Mit Kommentaren von Detlef Kremer und Jörg Tenckhoff (2006) 26 Heinrich Heine: Deutschland. Ein Wintermährchen. Geschrieben im Januar 1844. Mit Kommentaren von Winfried Woesler und Thomas Vormbaum (2006) 27 Thomas Vormbaum (Hrsg.): Recht, Rechtswissenschaft und Juristen im Werk Heinrich Heines (2006) 28 Heinz Müller-Dietz: Recht und Kriminalität in literarischen Spiegelungen (2007) 29 Alexander Puschkin: Pique Dame (1834). Mit Kommentaren von Barbara Aufschnaiter/Dunja Brötz und Friedrich-Christian Schroeder (2007)

30 Georg Büchner: Danton’s Tod. Dramatische Bilder aus Frankreichs Schreckensherrschaft. Mit Kommentaren von Sven Kramer und Bodo Pieroth (2007) 31 Daniel Halft: Die Szene wird zum Tribunal! Eine Studie zu den Beziehungen von Recht und Literatur am Beispiel des Schauspiels „Cyankali“ von Friedrich Wolf (2007) 32 Erich Wulffen: Kriminalpsychologie und Psychopathologie in Schillers Räubern (1907). Herausgegeben von Jürgen Seul (2007) 33 Klaus Lüderssen: Produktive Spiegelungen: Recht in Literatur, Theater und Film. Band II (2007) 34 Albert Camus: Der Fall. Roman (1956). Mit Kommentaren von Brigitte Sändig und Sven Grotendiek (2008) 35 Thomas Vormbaum (Hrsg.): Pest, Folter und Schandsäule. Der Mailänder Prozess wegen „Pestschmierereien“ in Rechtskritik und Literatur. Mit Kommentaren von Ezequiel Malarino und Helmut C. Jacobs (2008) 36 E.T.A. Hoffmann: Das Fräulein von Scuderi – Erzählung aus dem Zeitalter Ludwigs des Vierzehnten (1819). Mit Kommentaren von Heinz Müller-Dietz und Marion Bönnighausen (2010) 37 Leonardo Sciascia: Der Tag der Eule. Mit Kommentaren von Gisela Schlüter und Daniele Negri (2010) 38 Franz Werfel: Eine blaßblaue Frauenschrift. Novelle (1941). Mit Kommentaren von Matthias Pape und Wilhelm Brauneder (2011) 39 Thomas Mann: Das Gesetz. Novelle (1944). Mit Kommentaren von Volker Ladenthin und Thomas Vormbaum (2013)

Abteilung 7: Beiträge zur Anwaltsgeschichte Mitherausgegeben von Gerhard Jungfer, Dr. Tilmann Krach und Prof. Dr. Hinrich Rüping 1 Babette Tondorf: Strafverteidigung in der Frühphase des reformierten Strafprozesses. Das Hochverratsverfahren gegen die badischen Aufständischen Gustav Struve und Karl Blind (1848/49), (2006) 2 Hinrich Rüping: Rechtsanwälte im Bezirk Celle während des Nationalsozialismus (2007)

Abteilung 8: Judaica 1 Hannes Ludyga: Philipp Auerbach (1906–1952). „Staatskommissar für rassisch, religiös und politisch Verfolgte“ (2005) 2 Thomas Vormbaum: Der Judeneid im 19. Jahrhundert, vornehmlich in Preußen. Ein Beitrag zur juristischen Zeitgeschichte (2006) 3 Hannes Ludyga: Die Rechtsstellung der Juden in Bayern von 1819 bis 1918. Studie im Spiegel der Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten des bayerischen Landtags (2007)