Ein deutscher Chansonnier: Aus dem Schaffen Adolf Lepps [Reprint 2021 ed.]
 9783112545164, 9783112545157

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EIN DEUTSCHER CHANSONNIER

TEXTAUSGABEN ZUR FRÜHEN SOZIALISTISCHEN LITERATUR IN DEUTSCHLAND Herausgegeben vom Zentralinstitut für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR durch Dr. URSULA MÜNCHOW

BAND XVI

EIN DEUTSCHER CHANSONNIER Aus dem Schaffen Adolf

Herausgegeben

Lepps

von

URSULA MÜNCHOW und KURT L A U B E

AKADEMIE-VERLAG • BERLIN 1976

Erschienen im Akademie-Verlag 108 Berlin, Leipziger Straße 3—4 © Akademie-Verlag Berlin 1976 Lizenznummer: 202 • 100/252/76 Gesamtherstellung: IV/2/14 V E B Druckerei »Gottfried Wilhelm Leibniz«, 445 Gräfenhainichen/DDR • 4751 Bestellnummer: 752 720 5 ( 2 1 1 9 / X V I ) • L S V 7109 Printed in G D R D D R 19 - M

INHALT

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EINLEITUNG

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TEXTE

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Lyrik

3 5 8 9 11 13 13 15 16 17 18 20 22 22 23 24 25 26 27 30 31 32 33 34 35 37 37 38 39

W o wohnt Lepp ? Männertränen Abendseufzer Gruß an den Parteikongreß 1874 U n d sie bewegt sich doch! Der bescheidene Maler Frühlingshohn A n die Literatur Prokne Der deutsche Chansonnier Nimmermehr! O komm zu mir! Der N a t u r Herr Bodenstedt, ein Gärtner Der rote Zapfenstreich W e s B r o t ich ess', des Lied ich sing Schablone Wenn ich König w ä r ! Elegie eines Zeitungsbogens Der Leiermann Einer Farbigen ins Stammbuch Ich Meine Herren, ich danke schön Letzter Wille Der Erbfeind Wilhelm Hasenclevers Nekrolog August Geibs Totenfeier Beim Drechsler Die Gespensterscheuche V

40 41 41 41 42

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Das Dichterhirn Unvermögen An R. Nachtgenossen Mein Dünkel Lavant, mein Liebling Der Pastor Der jüngste Tag Die wilden Franzosen Ein Traum Lied der Liberalen Der erste Mai Gespenster Gesellschaftsdank Die freisinnige Zeitung Und doch! Eine Idee Hin Gezähmte Wölfe Der Bauer Schiefe Moral Zur Abwehr Armer Leute Lust Indirektes Mahnverfahren Der Schmarotzer Kriegsknecht in Tätigkeit Grober Unfug Das vaterlandslose Gesindel Die schwarze Liste Blasierte Löwenherzen zu umspinnen Die Standesehre Auf den Tod Jakob Audorfs Veränderter Kurs Zweites Aufgebot Zur Reimkunst Sturm Stimmen der Freiheit Alarm Bettler Aufgepaßt! Das Buchverbot Militärfromm Das Risiko der Bergarbeit Der Reichstag Maiglöckchen

io6 109 110 111 112 113 114 119 119 120 122 122 187 187 187 191 194 196 199 201 206 224

Krieg § 181 Das Klatsch-Trifolium Rauhbein Militärische Taxen Das Lied v o m Ersten Mai Z u m Feldzug gegen die Herero Zur Providenz Zum Sterben Letzter Trost Prosa Der Spottvogel im K ä f i g Autobiographische Erzählung Briefe L e p p an Lautenbach Motteier an L e p p Grunow an L e p p L a v a n t an L e p p L e p p an L a v a n t ANHANG Biographischer Überblick Anmerkungen Bibliographie

EINLEITUNG

Der Vater Adolf Lepps, Zigarrenarbeiter wie er selber, hatte als Arbeiter 1848 auf den Barrikaden für ein demokratisches Deutschland gekämpft und seiner Familie bis zu seinem frühen Tode viel Erregendes darüber zu berichten gewußt. Der Sohn wuchs also als Kind in der Tradition der Revolution auf, die zwar von der jungen Bourgeoisie aus Furcht vor den nach Lösung der sozialen Frage drängenden Arbeitermassen an die Reaktion verraten wurde, deren Ideen aber weiterwirkten. Es wurde zur Aufgabe des Proletariats, das, was 1848/49 versäumt worden war, gegen die Bourgeoisie und über sie hinaus weiterzuführen und zu vollenden. Dies war eine große und schwierige Mission für die unterdrückte, ihre ersten politischen Erfahrungen sammelnde, aufstrebende Klasse. Die Gesetzmäßigkeit der Geschichte stand ihr zur Seite. Mit der in den 50er und 60er Jahren des 19. Jahrhunderts rapide voranschreitenden Industrialisierung wuchs das Proletariat zahlenmäßig an, Ausbeutung und Not nahmen so zu, daß die Massen notwendig zur Solidarisierung und Organisierung gedrängt wurden. Der Emanzipationskampf wurde auf politischem und kulturellem Gebiet zugleich geführt. So gehörte der 1847 geborene Adolf Lepp zur ersten Generation klassenbewußter Arbeiter, die, getragen vom Aufschwung der Arbeiterbewegung der 60er Jahre, zu schreiben begannen und damit die zweite Phase der sozialistischen Literatur einleiteten. Lepp ist im Harz geboren und hat fast sein ganzes Leben dort verbracht. Nachdem er wegen seiner Gesinnung vom Fabrikanten nicht mehr als Zigarrenarbeiter beschäftigt wurde, wanderte er jahrelang als Hausierer. XI

Es zeugt von seiner Qualität, daß er im Gegensatz etwa zu dem Harzer Arbeiterdichter Fritz Gille1, mit dessen Lebenslauf ihn einiges verbindet — beide wuchsen in ärmlichsten Verhältnissen auf, beide hatten später als Sozialdemokraten Schwierigkeiten mit der örtlichen Parteiorganisation — nicht in die die Schönheit des Harzes verherrlichende Heimatdichtung flüchtete. Lepp war und blieb ein politisch denkender Lyriker. Das ist ihm um so höher anzurechnen, als er im Unterschied zu den meisten proletarischen Schriftstellern seiner Generation nicht in Zentren der damaligen Arbeiterbewegung als Redakteur oder Parteifunktionär wirken konnte und so wenig unmittelbaren Kontakt zur proletarischen Leserschaft hatte, für die er schrieb. Als Lyriker knüpfte er u. a. an die erste Phase der sozialistischen Literatur, an Herwegh und Freiligrath, auch an Heine an. In seiner autobiographischen Skizze2 bekannte er sich zu so unterschiedlichen deutschen Schriftstellern wie Schiller und Fritz Reuter. Besonders wichtig zu wissen ist jedoch, daß er die zeitgenössischen sozialistischen Lyriker genau studiert und sich im politischen Engagement mit ihnen solidarisiert hat. Gerade dies und nichts anderes — keinerlei differenzierte Auseinandersetzung mit ihrem Werk — drücken die Jakob Audorf, Wilhelm Hasenclever, August Geib und Rudolf Lavant gewidmeten Gedichte aus. Ein besonders enges Verhältnis und sogar persönlichen Kontakt hat er zu Lavant gehabt, der in seinen Gedichten so unpathetisch die reiche Gefühlswelt proletarischer Menschen zu gestalten vermochte und den Lepp ganz emotionell als seinen „Lieblingslyriker" 3 bezeichnete. Mit dem Selbstbewußtsein des klassenverbundenen Proleten und schöpferischen Menschen reihte sich Adolf Lepp, um seine Besonderheit wissend und um die seiner individuellen Art entsprechende lyrische Form ringend, unter die aus der Arbeiterbewegung hervorgegangenen Schriftsteller seiner Zeit ein. Zahlreiche Gedichte sowie eine autobiographische Erzählung dienten der Selbstverständigung des „Deutschen Chansonniers", des „kleinsten aller Chansonniere", des „Dichter-Proletars", wie er sich nannte, und der Auseinandersetzung mit XII

seinen Lesern. Als armer, sehr schlecht lebender und nie gesunder Zigarrenmacher und Hausierer hat er sich außerordentlich intensiv mit der Tatsache beschäftigt, daß es ihn mit einem unlöschbaren, niemals zu hemmenden Begehren tagtäglich und auch in der Nacht dazu drängte, Gedichte zu schreiben, und welche Aufgabe er sich zu stellen hatte. Immer ist er dabei von seiner Klassenlage ausgegangen. Und er veranschaulicht dem heutigen Leser auf besonders originelle Weise, wie ein lyrisches Ich zum Schöpfer seiner selbst wird, indem es für die Emanzipation seiner Klasse spricht. Lepps Gedichte, die sich mit der literarischen Sendung des Proletariats befassen und sich indirekt bereits mit dem bürgerlichen Literaturbegriff auseinandersetzen und so z. T. schon im sozialistischen Sinne literaturkritisch wirken, sind für uns über ihren literarischen Wert hinaus wichtige und in ihrer Art einzigartige historische Dokumente der Entstehung und Entwicklung sozialistischer Lyrik. Mit der Vielfalt solcher Bekenntnislyrik ist er ein Phänomen der frühen sozialistischen Literatur seiner Zeit.

Welche Position nimmt Lepp unter den sozialistischen Lyrikern der zweiten Hälfte des i g . Jahrhunderts ein? Lepp gehört neben Max Kegel, Leopold Jacoby, August Geib und Rudolf Lavant zu den Lyrikern der Eisenacher Partei. Wie viele ist er als junger Mensch durch Lassalle zur Arbeiterbewegung gestoßen. Aber in seiner Lyrik hat er von Anfang an in entscheidenden Fragen die Position der marxistischen Partei bezogen und, der Entwicklung der deutschen Arbeiterbewegung entsprechend, von 1869 bis zum Erfurter Parteitag immer mehr Spuren des Lassalleanismus abgebaut. Audorf hatte Lassalle noch in seinem Gedicht „ A n Deutschlands Arbeiter" (1863) als denjenigen gepriesen, „Dem dankbar unsre Herzen schlagen, Der hoch vom Stuhl der Wissenschaft Herniederstieg in unsre Reihen, XIII

Um all sein Wissen, alle Kraft Dem Proletariat zu weihen.4 Für Hasenclever war Lassalle „der Arbeit erster Held", der sterbend dem Arbeitsmann sein Schwert gereicht, „des Wissens hellen Strahl". 5 Den Lassalleanern ging es vorwiegend um geistige Waffen, um Hineinwachsen in den Sozialismus, im Schöße der herrschenden Klasse, mit ihrer Billigung. So heißt es bei Hasenclever: Zerstieben muß der finstre Freiheitsbann! J a , Recht und Gleichheit a u c h dem Arbeitsmann.6 Lepp hat solche Töne nicht angeschlagen. In seinem Gedicht zum 25. Sterbetag des Begründers des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins lobt er diesen im Stil des respektvollen Nekrologs, aber preist ihn keineswegs als den einzigen Großen. Wir lesen Formulierungen wie „hast der Pflicht genügt" und „hast das Fundament gelegt". Und Zeilen wie Das Werk gedeiht, der Bau wächst unentwegt: Wir, die Gehilfen, schreiten ohne Rast und Ruh Stets vorwärts, dieses Werks Vollendung zu. Und immer dichter wird das Freiheitsheer, In jede Lücke treten hundert her drücken das Anwachsen der Arbeiterbewegung und die revolutionäre Rolle der Massen aus. Für Lepp gab es eine neue Gesellschaftsordnung nur im Kampf gegen die Bourgeoisie und durch ihren Sturz. In seinem Gedicht „Wilhelm Hasenclevers Nekrolog" (1889) schrieb er: „er hat uns geeint", womit er historisch richtig die Verdienste des ADAV, dessen Sekretär und späterer Präsident Hasenclever war, um die schnellere Loslösung der Arbeiterklasse von der liberalen Bourgeoisie bezeichnete. In seiner „Autobiographischen Skizze" bekennt Lepp: „. . . und ich war einer der ersten, welcher Audorfs „Lied der Petroleure" der lästerzüngigen reaktionären Masse in die verdutzten Ohren donnerte, so daß ihr der Spott auf der Zunge erstarb." 7 Dieses 1877, also nach dem Gothaer Vereinigungsparteitag der Eisenacher und Lassalleaner, veröffentlichte zündende Lied war nicht nur gegen die Verleumdung der Kommunarden durch XIV

die Pariser Großbourgeoisie gerichtet, sondern auch gegen die Beschimpfung, der die deutsche Sozialdemokratie ausgesetzt war. Daß Audorf auch in diesem Gedicht das Wahlrecht als Allheilmittel pries, war nicht im Sinne Lepps. Aber ihm kam es vermutlich in der Hauptsache auf den trotzigen Kampfgeist an, mit dem er sich identifizierte, und auf den revolutionären Rhythmus, den er liebte. Wenn wir indessen die politische Lyrik Lepps mit der Audorfs vergleichen, so fällt die vorgeschrittenere Ideologie des „kleinsten aller Chansonniere" klar ins Auge. So schrieb Audorf z. B. ein Gedicht „Frühlingsgedanken eines Arbeiters",8 das in der Thematik Lepps „Frühlingshohn" (1876) ähnlich ist. Während Audorf sich damit begnügte, neben der Freude über die erwachende Natur im Proletarier die bittere Erkenntnis zu wecken, daß fast alles, was die Natur nun hervorbringen wird, für ihn unerreichbar ist, geht Lepp mit dem revolutionären Schluß seines Gedichtes darüber hinaus, indem er von den Frühlingsstürmen auf die notwendige Veränderung der Verhältnisse durch die Arbeiterklasse hinweist. Noch weiter geht er mit „Die Auferstehung" (1889). In diesem Zusammenhang ist es aufschlußreich, die Verwendung der Heineschen Maxime vom „Himmelreich auf Erden" aus „Deutschland ein Wintermärchen" bei Audorf und Lepp zu betrachten. Audorf schrieb 1856 in seinem Gedicht „Heinrich Heine" 9 : Wie? uns nur auf den Himmel weisen, Wo wir dereinst in Seligkeit Gott sollen loben noch und preisen Für alles bittre Erdenleid? Befreien wollte er (Heine- U. Mü.) die Gemüter Von solchem Wahn, der sie betört: E i n g l e i c h e s R e c h t an alle G ü t e r Das ist es, was er uns gelehrt. In „Unsere feste Burg" (1865)10 bezeichnete Audorf das freie Wahlrecht als das Mittel, mit dessen Hilfe der „Himmel hier auf Erden" errichtet und „ewger Friede" erreicht wird. Der Leser unseres Auswahlbandes kann jedoch feststellen, daß Lepp das gleiche Thema in dem Spottgedicht „Wo blieb mein Wein?" (1889) und in dem großartigen Gedicht „Der Pastor" (1890) auf außerXV

ordentlich aggressive Weise, nicht nur über Audorf, sondern auch über Heine hinausgehend, eben in der Art des kämpferischen Proletariats behandelt hat. Audorf war zu seiner Zeit als politischer Lyriker in der deutschen Arbeiterbewegung wesentlich bekannter und einflußreicher als der 12 Jahre jüngere Lepp. Dazu hat u. a. beigetragen, daß Audorf, dessen Vater übrigens ebenso wie der Lepps ein Achtundvierziger war, aus der sehr aktiven Hamburger Arbeiterbewegung hervorgegangen ist und zu den Agitatoren der ersten Stunde gehörte. Sein Lied, vor allem die „Arbeitermarseillaise", feuerte trotz ihrer lassalleanischen Züge mit ihrem revolutionären Rhythmus jahrzehntelang das Proletariat in seinem ökonomischen und politischen Kampf an. Und Lepp unterstreicht dies noch gewissermaßen dokumentarisch, wenn er sein wenige Tage nach dem Tode Audorfs im „Sächsischen Volksblatt" mit „Deutscher Chansonnier" unterzeichnetes Gedicht „Auf den Tod des Arbeiterdichters Jakob Audorf" 1 1 mit den Zeilen schließt: Doch Audorf ist nicht tot: es lebt der Hehre Im Herzen fort des Proletariats, Er lebt im Liede fort der Petroleure Und in der Marseillaise des Zukunftsstaats. Vom Standpunkt der Geschichte und dem der Entwicklung der sozialistischen Literatur stehen sich in Audorf und Lepp zwei klassenbewußte Lyriker mit natürlichem poetischem Talent gegenüber, deren Schaffen vom Verlauf der deutschen Arbeiterbewegung geprägt wurde. Audorf konnte sich nicht von der Illusion trennen, daß Lassalle ein Revolutionär war und wurde dadurch in seiner künstlerischen Entfaltung gehemmt. Lepps Weg führte über Lassalle schon in den 60er Jahren ganz klar zu Bebel und später auch zu Liebknecht. Im Jahr 1874 veröffentlichte er in der literarischen Beilage des Zentralorgans der Eisenacher einen Gruß an den Parteitag in Coburg, auf dem Liebknecht die Forderung nach einer sozialistischen Literatur erhob. 12 Er bekannte sich zum proletarischen Internationalismus und weihte bald nach Inkrafttreten des Sozialistengesetzes den französischen proletarischen Chansonniers ein Lied. 13 XVI

Lepp war ein erbitterter Gegner Bismarcks und hat ihn immer wieder in seinen satirischen Gedichten angegriffen. Noch vor Bismarcks Sturz schrieb er das „Lied der Liberalen" mit dem ironisch gemeinten Refrain: Wie hat sich doch alles so herrlich erfüllt. Es zeugt von klarer historischer Erkenntnis: Die Bourgeoisie als Klasse trat 1848 gegen den Staat der Junker auf, jetzt aber im Kaiserreich hat sie sich Bismarck untergeordnet und beherrscht nun gemeinsam mit den Junkern einen Staat, der von schrankenlosem chauvinistischen Dünkel erfüllt ist und in der Militarisierung des öffentlichen Lebens das ideale Mittel sieht, dasVolk zu unterdrücken und seine Macht auszubreiten. Lepp teilt diese Fakten nicht direkt mit, sondern hat mit dem Mittel der satirischen Überhöhung gearbeitet. Der Sachverhalt erwächst aus den prahlerischen Worten der Liberalen selbst und vermag so verstärkt den Ingrimm des proletarischen Lesers zu wecken. Fast alle sozialistischen Lyriker der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts haben die Liberalen angegriffen, doch taten Hasenclever und Audorf dies mehr moralisierend.14 Im Gehalt steht Lepps Gedicht auf einer Höhe mit Max Kegels Gedicht „Liberal" (1893)15. Doch ist in diesem Falle die Form, die Lepp wählte, künstlerisch wirkungsvoller. Dieses Lied sowie die nach dem Erfurter Parteitag entstandenen Gedichte „Der Pastor", „Der Bauer" und „Abwehr" gehören überhaupt zum Besten, was Lepp auf dem Gebiet der politischen Lyrik geleistet hat. Sie sind wichtige Beiträge zur Weiterentwicklung der sozialistischen Literatur, wie sie sich aus dem Anfang der 90er Jahre, nach ihrer Legalisierung, durchaus noch kämpferischen Charakter der Arbeiterpartei ergab. Wesentliche Thesen des sozialdemokratischen Programms sind in diesen Gedichten enthalten: Kampf gegen den preußisch-deutschen Militärstaat, Verwandlung des kapitalistischen Privateigentums an Produktionsmitteln in gesellschaftliches Eigentum als Werk der Arbeiterklasse (Gedicht „Abwehr"). Und als einer der ersten sozialistischen Schriftsteller fordert Lepp auch den unter den Folgen der wachsenden Monopolisierung des Kapitals leidenden Bauer auf, sich mit dem Proletariat gegen das Junker2

Adolf Lepp

XVII

tum und die Bourgeoisie zu verbünden („Der Bauer"). Das Problem des berühmten „Büttnerbauern" aus dem Roman von Wilhelm von Polentz (1895) ist von L e p p 1892 auf sozialistische Art gestaltet worden. Nicht als Kampflied wie der „Landagitationsmarsch" Hunolds 16 , sondern auf volksliedhafte, sehr schlichte und anschauliche Weise, mit überzeugender, eine Tatsache aus der anderen entwickelnden Didaktik. Ein Problem, das sich aus dem Studium der Leppschen Lyrik ergibt, ist seine Behandlung des Themas der Armut und der Armen. Da er selbst unvorstellbar arm war, ist es naheliegend, daß er dieses Thema oft subjektiv behandelte. Doch ist das Problem, das sich hier ergibt, ein prinzipielles. E s gab, besonders zu Anfang, in der frühen sozialistischen Literatur bloße Elendsschilderungen, in allen Genres, auch in der Lyrik. Die 1886 von Lavant herausgegebene Anthologie „Vorwärts! Eine Sammlung von Gedichten für das arbeitende Volk" legt noch Zeugnis davon ab. 17 Selbst August Geib, der ein Führer der Eisenacher war, begnügte sich in seinem Gedicht „Im Winter" 1 8 mit sozialer Anklage. Audorfs „Ein Armenbegräbnis" 1 9 und Karl Franz Egon Frohmes „Unter der Erde" 2 0 wirken in der Hauptsache deprimierend. Den Proletarier, der sich nicht mit Selbstbemitleidung begnügt, mußten solche und ähnliche Gedichte letztlich abstoßen und den Wunsch nach einer anderen, kämpferischen Literatur erwecken. Die Eisenacher Partei hat dementsprechend bereits 1869 in ihrem Zentralorgan, dem „Volksstaat", die Nutzlosigkeit bloßer Anklagedichtung herausgestellt. A m besten hat es Max Kegel verstanden, das Aufzeigen sozialen Elends mit dem revolutionären Ruf nach Veränderung zu verbinden. Ein besonders populäres Beispiel dafür ist seine „Weihnachtsmarseillaise" aus dem Jahre 1876 21 , denn gerade zu Weihnachten fiel die Not proletarischer Familien doppelt ins Gewicht. Lepp hat immer wieder die Dürftigkeit seiner Lebensverhältnisse beschrieben und die Verzweiflung, der er manchmal nahe war. Man kann ohne Übertreibung sagen, daß er von allen frühen proletarischen Schriftstellern am schlimmsten von der Not betroffen war. Aber er setzte dem Elend ein trotziges XVIII

„Nimmermehr" (Gedicht von 1880) entgegen. E r sah sein Ziel darin, seine in Armut lebenden Klassengenossen zum Kampf gegen die Ursachen der Armut zu führen. Dennoch gibt es auch bei ihm Armutsgedichte, die den Klassenkampf verwischen, so z. B. „Die Kinder der Ärmsten lachen nicht. Warm aus dem Leben" (1889) oder „Apostel der Armen" (1891) mit der Strophe Den Reichen als Menschen veracht ich ja nicht, Wenn, treu seiner Pflicht, E r menschlich verfährt und fühlt, was er spricht. Noch in seinen letzten Lebensjahren hat er Gedichte geschrieben, in denen er sich als der „Sänger der Armen" bezeichnet, dessen Aufgabe es ist, „der Armen Herzen Tröstung zu verkünden". Man könnte das als Widerspruch zu dem bereits Gesagten auffassen. Doch ist das Problem komplizierter. Einmal hatte Lepp Chamisso gelesen, den Begründer der sozialen Anklagedichtung im Vormärz, und fühlte sich vermutlich berechtigt, als „Dichter-Proletar" diese Traditionslinie fortzusetzen. Zum andern ist es ein Unterschied, ob ein bürgerlicher Schriftsteller fremdes Leid im Gedicht gestaltet oder ein Proletarier seine eigenen Erfahrungen und Erlebnisse mitteilt, nicht um Mitleid zu erregen, sondern um sich mit seinen Leidensgenossen zu solidarisieren und die Untragbarkeit der bestehenden Verhältnisse anzuprangern. Schließlich muß an dieser Stelle auch darauf hingewiesen werden, daß die Qualität der Gedichte Lepps — er hat über zweitausend geschrieben — nicht immer gleich ist. Man kann das auf die Art ihrer Entstehung zurückführen, aber auch auf weltanschauliche Schwankungen, von denen er trotz seiner prinzipiell revolutionären Einstellung keineswegs verschont war.

2*

Eine proletarische Schriftstellerwerkstatt Lepp berichtete 1899 in seinem Lebensabriß22 über seine literarische Produktion: „Meine Muse äußerte sich anfänglich bei Familienfesten des Proletariats, in Hunderten von Stuben hängen meine Gelegenheitsgedichte. Auch verfaßte ich Prologe, Dialoge, Duetts und Couplets für Vereine und Sängerverbände. 1889 gab ich meine erste größere Liedersammlung, die „Wilden Blumen", heraus. Kurz darauf nahm mich J. H. W. Dietz in seine .Arbeiterdichtung' auf. Mein Beitrag zu den .Stimmen der Freiheit' wird nach menschlichem Ermessen meine letzte Leistung sein. Lebe wohl, lieber Leser, ich empfehle mich." Aus diesem Dokument sticht dreierlei hervor: Der objektive Ausgangspunkt von Lepps Schaffen sind die Bedürfnisse und Belange seiner Klasse; Heimstatt seiner Lyrik ist der proletarische Kommunikationskreis; es besteht eine enge Verbundenheit zwischen proletarischem Autor und Leser. Die Einsicht in den handschriftlichen Nachlaß Lepps, seine Gepflogenheit, jedes Manuskript zu datieren, oft auf Tag und Stunde genau, gibt uns die Möglichkeit, seine Schaffensweise, zumindestens die Geschichte der Entstehung seiner Gedichte zu studieren und Schlußfolgerungen daraus zu ziehen.23 Interessant ist es, diese Untersuchungen anhand des Materials aus dem produktiven Jahr 1889 anzustellen und zum Vergleich und zur Ergänzung einige Beispiele aus dem Jahre 1890 heranzuziehen. 1889 ist das Jahr, in dem Lepp sich anschickte, seine ersten Gedichte zusammenzustellen und zu einem Band zu komplettieren. Das Jahr 1890 gab ihm nach Erscheinen der „Wilden Blumen", nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes und dem Sturz Bismarcks Möglichkeiten zu erneutem Aufschwung und zur politischen Pointiertheit seiner Lyrik. Lepp hat 1889 gegen hundert Gedichte verfaßt. Das ist viel im Verhältnis zu den vorhergehenden Jahren, in denen er schwer belastet war durch den Tod seiner ersten Frau und durch besonders großes Elend in der Familie. Nach dem Bund mit seiner zweiten Frau, mit der er erst zusammenlebte, ehe er sie, nach seinen eigenen XX

Angaben 24 , 1890 heiratete, scheinen sich seine Lebensverhältnisse soweit gebessert zu haben, daß er sich wenigstens abends, nachts oder gegen Morgen, vor Arbeitsbeginn auf sein lyrisches Schaffen konzentrieren konnte. Die Gedichte des Januar 1889 sind noch elegisch, voll ergreifender Trauer wie „Fort" (17. 1. 89). Die sieben Februargedichte werden schon als „launige Lieder" bezeichnet. In „Guter Rat" (1. 2. 89) ist der Refrain satirisch - ironisch. „Frauendienst" (20. 2. 89) und „Die Ida" (22. 2. 89) zeigen bereits übermütige, ja burleske, derb sinnliche Merkmale. Parallel dazu entstanden in der zweiten Februarhälfte Spottgedichte wie „Das goldene Ei" (18. 2. 89) und „Tierkultus" (21. 2. 89), in denen zunächst gleichnishaft aggressive Gesellschaftskritik geübt und im letzteren Gedicht darüber hinausgehend konkret ausgesagt wird, daß der augenblicklichen Macht der „christlichen Gesellschaft" einmal ein Ende gesetzt wird von einer Gesellschaftsordnung, in der es „Menschen mit Verstand und Selbstvertrauen" gibt, Menschen, die nicht mehr versklavt und gedrillt sind. Einen Tag später hat er „An die Pharisäer und Schriftgelehrten" (22. 2. 89) geschrieben, ein Gedicht, das man wohl als den Höhepunkt im Schaffen der ersten Hälfte des Jahres 1889 bezeichnen kann. Hier bekennt er sich zum Klassencharakter der Kunst und zu seiner eigenen Mission, als Sänger des Proletariats eine neue, proletarische Literatur entwickeln zu helfen. Es hat sich in dieser Zeit also ein interessanter Prozeß im Schaffen Lepps vollzogen. Er dringt in seiner Auseinandersetzung mit der Welt beim Gedichteschreiben von der Gestaltung sinnlich wahrnehmbarer Umweltseindrücke vor zur allgemeinen Gesellschaftskritik, von da zur Darstellung des Klassengegensatzes und schließlich zur Auseinandersetzung mit sich selbst, mit dem Sinn und Wert seines Schreibens. Danach gibt es wieder eine kurze Zeit des Rückfalls, in der ihn Schmerz, Trauer, Gram übermannt zu haben scheinen. Das an seinem 42. Geburtstag, am 21. Juni 1889 geschriebene Gedicht „Verwelkt" zeugt davon. In rührenden, volksliedhaften Tönen gedenkt er seiner XXI

verstorbenen ersten Frau, die ihn freudlos zurückgelassen hat. Der Umschwung zur höchsten Leistung fand im Sommer statt. Das Gedicht vom 22. Februar war gewissermaßen erst ein Vorgefecht dessen, was er aus sich herauszuholen imstande war. Wenn man nur die rechnet, die in die „Wilden Blumen" aufgenommen wurden, so sind von Juli bis September 1889 dreiunddreißig Gedichte entstanden. Vom 21. bis zum 27. August hat er z. B. neun Gedichte geschrieben, und zwar immer nur nachts. Am 9. und 10. August sind, vielleicht an einem Wochenende, drei Gedichte, tagsüber oder am Abend entstanden. Auch im September sind wieder mehrere Gedichte in der Nacht geschrieben worden. Danach hat Lepp wohl die „Wilden Blumen" zum Druck vorbereitet, denn das Vorwort „An das Volk" und das Schlußwort sind mit dem 21. November datiert. Dennoch sind auch noch aus dem Monat Oktober vierzehn Gedichte in den Band aufgenommen worden, darunter das schöne „Wo bleibt mein Wein". Der Dichter-Proletar hat also buchstäblich noch bis kurz vor der Drucklegung produziert. Das unseren Band einleitende Gedicht hat Lepp im Alter von neunzehn Jahren geschrieben. Der Zweiundvierzigjährige hat dann offensichtlich den Entschluß gefaßt, mit seinen Liedern vor die Öffentlichkeit zu treten. Es war ein großes Unterfangen für einen armen, sozialdemokratischen Zigarrenmacher, noch dazu zur Zeit des Sozialistengesetzes, ein Buch zu veröffentlichen. Ein Verlag fand sich damals selbstverständlich nicht. Auch nicht in Zürich, wo sozialdemokratische Literatur während der Illegalität gedruckt wurde. Dafür war Lepp in der deutschen Sozialdemokratie vor 1890 noch zu unbekannt. In der sächsischen Parteipresse und in Flugblättern, die er selbst in Halberstadt und Umgebung vertrieben hatte, sowie in der örtlichen Arbeiterbewegung waren zwar einige seiner Gedichte bekannt geworden. Aber er wollte mehr, er wollte zum Durchbruch kommen. Daß er sein Büchlein von 212 Seiten im Selbstverlag zum Unkostenpreis von 2 Mark in einer Buchhandlung Haiberstadts erscheinen ließ, war gewiß kein sehr glänzender Ausgangspunkt, aber es war doch eine Möglichkeit für ihn, auch über seine Heimat hinaus XXII

bekannt zu werden. Wie sehr das ganze Unternehmen ein Affront gegen die bürgerliche Buchproduktion und gegen den bürgerlichen Literaturbetrieb war, beweist eine Vorbemerkung des Autors. Sie wirft gleichzeitig ein Licht auf das, was ihn bewegte, als er, vermutlich seit August 1889, das Buch bewußt zusammenzustellen begann und neue Gedichte dafür schrieb. „Der Preis ist so niedrig gestellt, als er nur möglich war", betont er, „denn das Buch ist auf die Kaufkraft des Volkes berechnet. Und wäre ich des Erfolges sicher gewesen, so hätte ich den Preis noch niedriger gestellt. Da ich aber arm bin, so sehe ich mich genötigt, die Unkosten ins Auge zu fassen. Ein gleiches Bändchen gedrechselter Professorengedichte kostet gewöhnlich das Vier- bis Sechsfache! Sie werden ja auch nur von den Monopolisten der Bildung gekauft. Jeder bleibt bei seinesgleichen! Ich, als Proletar, habe nur fürs Volk geschrieben und würde mich freu'n, den rechten Ton getroffen zu haben: Aus dem Herzen für das Herz." 25 Die Vermutung, daß Lepp im August begonnen hat, sich ernsthaft auf eine Buchproduktion vorzubereiten, ergibt ein weiterer Blick in die Schriftstellerwerkstatt, in die Entstehungsgeschichte der „Wilden Blumen". Eine große Hilfe bei dieser Rekonstruktion ist uns seine rückhaltlose Ehrlichkeit. Die neuen Gedichte, die er im August 1889 schrieb, zeigen, welch großer Mut und welche Energie bei allem Selbstvertrauen und aller Gereiftheit von ihm aufgebracht werden mußten, mit einem Buch in die Öffentlichkeit zu treten. Wenn er auch betonte, •daß er nur für das arbeitende Volk schrieb, so konnte er sich selbstverständlich nicht einfach von der herrschenden bürgerlichen Literatur isolieren und von den Maßstäben, die sie setzte. Er mußte sich mit ihr auseinandersetzen, sich mit ihr messen und neue Maßstäbe gewinnen. Sein Hinweis auf die Professorengedichte ist kein Zufall. Man sollte nicht darüber lächeln, wie gewissenhaft er dabei vorgegangen ist, sondern bedenken, daß Lepp die großen Schwierigkeiten des Anfangs •der sozialistischen Literatur wegen seiner besonderen Lebensumstände ganz für sich allein, ohne jede Hilfe durchstehen mußte. XXIII

Er hat immer viel gelesen, nächtelang, obwohl er sein Leben lang kranke Augen hatte. So hat er auch im August wieder manches Buch zur Hand genommen, u. a. Friedrich von Bodenstedts „Lieder des Mirza Schaffy" (1851), die damals schon in über hundert Auflagen verbreitet waren. Lavant hatte sogar ein Lied dieses Buches in die Sammlung „Vorwärts" aufgenommen. Beißwangers Anthologie „Stimmen der Freiheit" brachte später sogar vier Proben seiner Dichtkunst. Lepps Gedichte waren also ab 1899 vereint mit denen Bodenstedts in einer „Blütenlese der besten Schöpfungen unserer Arbeiter- und Volksdichter", wie Beißwanger sein Buch im Untertitel nannte. Bodenstedt war ein vielseitiger, vielgereister Mann, auch wegen der glatten und wohlgefälligen Form seiner Lyrik bekannt und Mitglied des „Münchener Dichterkreises"26. Unter dem Deckmantel eines Übersetzers aus dem Persischen hatte er sich in den „Liedern des Mirza Schaffy" manche Freisinnigkeiten erlaubt, denen er wohl seine Popularität verdankte. Lepp kannte seine Lieder schon länger. Ein älteres Gedicht aus dem Jahre 1883 „Herr Bodenstedt, ein Gärtner" zeugt davon. Auf originelle Weise erzählt er hier, wie Bodenstedt orientalische Blumen in deutsche Töpfe verpflanzte, sie gar sehr „knipp und stutzte", daß sie sich dem deutschen Boden anpaßten. In der letzten Strophe konstatierte er: Betritt man Bodenstedts Garten, So ist man vom Duft berauscht; Da glüht es so zaubrisch, da klingt es so fremd, Als wäre die Welt vertauscht. Am 1. August 1889 hat er sich nochmal mit Bodenstedt beschäftigt und ein Gedicht „Mirza Schaffy" geschrieben in Tönen, die man sonst nicht von ihm gewöhnt ist. Verse wie Prächtig braust die Kaskade, Freundlich rieselt der Quell, Und die feuchte Najade hüpft über Moos und Geröll. XXIV

Rein wie Quellengeriesel, Klar, wie funkelnder Tau, Schimmern die Perlen und Kiesel Im Rinnsal, auf lichter Au hätten auch die Anerkennung der Münchener Formkünstler gefunden. Lepp hat die „schönen" Klänge zunächst bewundert und sie offenbar nachzuahmen versucht, wie um zu beweisen, daß er auch so könnte, wenn er wollte. Aber nicht zufällig ist das nächste Gedicht, das entstand, „BeimDrechsler" (9. 8. 89). Hier vergleicht er den Drechsler mit einem Dichter, der Formvollendung erzwingen kann, aber nur aus weichem, gefügigen Holz. Das Holz, das Lepp ihm bringt, ist dagegen „ein Naturerzeugnis gar eigentümlicher Art" und läßt sich nicht drechseln. Damit will Lepp sagen, daß seine Muse sich nicht für gedrechselte Formkunst eignet. Er erteilt also der formvollendeten Professorenlyrik, die er dann in seinen Vorbemerkungen zu den „Wilden Blumen" direkt als Gegenbeispiel nennt, eine Absage. Diese Aussage verstärkt er noch, indem er sein Gedicht „Lavant, mein Liebling" (8. 9. 89) zwischen die Gedichte über Bodenstedt und das „Beim Drechsler" einordnet. Lavant wurde von Franz Mehring als formvollendetster sozialistischer Lyriker seiner Zeit bezeichnet. Auch Lepp schätzt diese Qualität an ihm und vergleicht ihn wegen seiner Beherrschung von Rhythmus und Form mit den griechischen Musenschützlingen. Doch fügt er hinzu: So kämpft er für die Freiheit, Doch, er verläßt sie nicht! So hat des Sängers Stimme Sich auch im Sturm erprobt. Und nicht nur, daß der Sänger Die Meisterschaft bewährt — Sein Lied bezeugt Gesinnung, Die manch ein Lied entbehrt! — XXV

Damit hat er in der Zeit des Sozialistengesetzes klar genug ausgedrückt, welche Ansprüche er an ein Gedicht stellt. Als weiteres Beispiel für das Ringen um Erkenntnis im Gedicht, sollen die Lieder herangezogen werden, die er zwischen dem 23. und dem 27. August Nacht für Nacht geschrieben hat. „Lob des Schnapses" (23. 8. morgens 2 Uhr) und „Die Gespensterscheuche" (24. 8. mitternachts) sind Spießerkritik, die hart treffen sollte. In „Das Dichterhirn" (25. 8. mitternachts), „An R." (25. 8. vier Uhr morgens) und „Unvermögen" (25. 8. vier Uhr morgens) rechtfertigt er sich dafür. Im „Dichterhirn" richtet er den Spott auf grotesk komische Art gegen sich selber, gegen das unentwegte, nicht tot zu kriegende poetische Keimvermögen seines Gehirns. In den beiden anderen Gedichten dieser Nacht wendet er sich an Kritiker, die bemängelt haben, seine Muse sei zu frei. Jetzt bekennt er fest, daß er es als Hauptanliegen seines Dichtens betrachtet, die Dinge beim Namen zu nennen und der Wahrheit auf den Grund zu kommen. „Drum Durch! bis daß der Säbel bricht" ist ein Kampfruf, der nicht nur seiner augenblicklichen Situation gilt, sondern der Mission, die er in sich fühlt und die dem armen Lepp das Leben lebenswert macht. Trotz aller Schwierigkeiten! Solche Trotzgedichte im Leppschen Sinne — jedes Pathos war ihm fremd, er verstand es auch, auf freundliche und spöttische Weise zu trotzen — sind auch „Nachtgenossen" (27. 8. ein Uhr morgens) und das spätere „Kleingeisterei" (7. 9. elf Uhr nachts), das noch einmal die Gedankengänge des August aufnimmt. Beide zuletzt genannten Gedichte haben autobiographischen Gehalt Wir erfahren auch einiges über seine Arbeitsweise und Arbeitsumstände. Die erste Strophe von „Nachtgenossen" enthält den Schlüssel dafür, warum „Lavant, mein Liebling" so angefüllt ist mit Reminiszenzen aus der griechischen Mythologie. Lepp hat sich offenbar Ende August wieder einmal mit der griechischen Sage beschäftigt, allerlei gelesen und sich Notizen gemacht. Er beginnt sein Gedicht ganz unvermittelt und ohne direkten Zusammenhang zum Folgenden mit der Bemerkung: XXVI

Bei der Arbeit liegt ein Zettel Und ich kritzle drauf herum Ach! ist das ein Lumpenbettel, Handarbeit und Griechentum. Solch spontaner Start, durch den er sich gewissermaßen erst in Schwung bringen will, kennzeichnet viele Leppsche Gedichte. Auch „Kleingeisterei", das ganz salopp, im Plauderton anfängt: Da wollt ich grad etwas sagen, Das mich unsterblich macht, Nun weiß ich nicht recht mehr — was war es doch gleich? Du hast mich darum gebracht. Das sind Beispiele seiner unkonventionellen Schreibweise, die er aber niemals funktionslos verwendet, weil ihm nichts anderes einfällt, sondern die den Leser, der ihm ja immer beim Schreiben gegenwärtig ist, einstimmen sollen, daß er im Ton einer zwanglosen Unterhaltung, im Plauderton, ernsthafte Dinge zur Sprache bringen wird. Aber auf diese Weise erfahren wir, wie er dazu kam, eine Woche später seinen Liebling Lavant mit griechischen Heroen und Musengünstlingen zu umgeben. Das Stichwort: Handarbeit und Griechentum! wird indessen in „Kleingeisterei" wieder aufgenommen. Wenn er hier seine schlechten Arbeitsumstände schildert und die „Handarbeit" genau bezeichnet, die in so diametralem Gegensatz zum Dichtertum zu stehen scheint, so darf er nicht so mißverstanden werden, daß er sich darüber beklagen will. Es kommt ihm darauf an, bestimmte Tatsachen und Wahrheiten herauszuarbeiten. Er, Lepp, sitzt „vierzehn Stunden und oft noch länger am Brett", um Zigarren zu wickeln. Er teilt sein Stübchen „mit einer belfernden Frau", und seine „drei Lümmel" lärmen darin herum. Selbst wenn er gegen Mitternacht zum Dichten kommt, hört er seine Familie in der Kammer nebenan „schnarchen und schnauben"! Er muß am Tage Handarbeit leisten, um den Lebensunterhalt zu verdienen. Und auch die nächtliche Geistesarbeit dient mit dem Lebensunterhalt, weil, wie er in „Nachtgenossen" formuliert, es ihm „doch an Geld XXVII

gebricht". E r konfrontiert sich mit den deutschen „Dichtern und Denkern", die lieber am Hunger starben als Handarbeit zu leisten. Eine der Trotzformulierungen von „Kleingeisterei" heißt: Ich habe nicht können studieren Und habe drum nicht studiert, Und wer nicht studiert hat, der hat nicht studiert. Er drückt aber deutlich aus, daß er sich seiner Handarbeit nicht schämt. Und — das ist der Bekenntnisgehalt von „Nachtgenossen" — wenn er dichtet, ist er Herrscher über alles, vor dem Forum seiner Feder muß ihm jeder gehorchen, bis ein neues Lied vollendet ist. E s macht ihm nichts aus, wenn einer seine Gedichte „simpel" findet. In der Nacht, wenn er beim Schein der Lampe schreibt, muß dennoch alles nach seiner Pfeife tanzen, seinem Wink gehorchen. Die Rigorosität, mit der Lepp in sein Inneres blicken läßt — das meinte er auch, als er in der Vorbemerkung zu den „Wilden Blumen" formulierte, er habe „Aus dem Herzen für das Herz" geschrieben — ist bewundernswert. Das sind ganz neue Töne, die es selbst in der frühen sozialistischen Lyrik Deutschlands sonst nicht gab. Besonders in dieser Hinsicht ist er ein Phänomen unter den Arbeiterdichtern seiner Periode. Sein Arbeitsstil, das ständige unmittelbare Umsetzen von Ereignissen, Erlebnissen, Eindrücken, Erkenntnissen, Empfindungen und Gedanken, die — auch das zeigt der Einblick in die proletarische Schriftstellerwerkstatt — auf der Rückseite von Abfallpapieren, alter Rechnungen, irgendwelcher Zettel notiert wurden —, bewährte sich auch 1890. Seine relative Abgeschiedenheit allerdings bewirkte, daß er manche wichtige Ereignisse aus der Arbeiterbewegung, mit denen er nicht unmittelbar in Berührung kam, nicht verarbeitete. So finden wir z. B. kein Streikgedicht bei ihm, obwohl gerade das Jahr 1889 eine Hochflut der Streikbewegungen war. Im Jahre 1890 schrieb Lepp einhundertdreizehn noch heute greifbarer Gedichte. Wir wollen nur einige herausgreifen, die von seiner Weiterentwicklung Zeugnis ablegen. Die „Wilden BluXXVIII

men" waren, den Umständen entsprechend, kein rauschender Erfolg, aber der Autor hatte doch Anerkennung und für ihn wichtige Kontakte gefunden, u. a. den zu Julius Motteier oder auch den zu Lavant, den er im Laufe der Jahre mit „Kollege" anzureden begann. Die Parteiverlage, die sich nach der Legalisierung der deutschen Sozialdemokratie neu entfalten konnten, wurden auf ihn aufmerksam. Dies bewirkte, daß er in den 90er Jahren seine Gedichte sorgfältiger überarbeitete, diese und jene Formulierung, die er noch früher unbesorgt hätte stehen lassen, vor der Drucklegung in den beiden schon genannten großen sozialdemokratischen Anthologien korrigierte, alte Strophen durch neue ersetzte. Manchmal mußte er auch auf Wunsch der Redaktion ganze Teile seines Textes streichen, wie z. B. in „Der Pastor" (1890). Lepp hat niemals Wahlkampfgedichte geschrieben, wie überhaupt die agitatorische Operativität kein Charakteristikum seiner Lyrik ist. Dennoch zeigen die vier Gedichte aus dem Februar 1890, daß ihn die bevorstehenden Reichstagswahlen vom 20. Februar, die dann zu einem großen Sieg der Sozialdemokratie wurden und einen Monat später zum Sturz Bismarcks führten, beschäftigten und daß er sich auf seine Weise engagierte. „Der Pastor" und das „Lied der Liberalen" sind politische Gedichte. „Der jüngste Tag" und „Ein Traum" haben subjektiv politischen Gehalt, weil er in ihnen ein politisches Bekenntnis ablegt. Das Erste knüpft an den Ideengehalt von „Der Pastor" an. Lepp träumt, wie er am jüngsten Tag von den Engeln, „des Herrgotts Polizei", in den Himmel verwiesen wird, aber absolut in die Hölle will, weil er die schon auf Erden gut kennengelernt hat. Der himmlische Polizist tadelt ihn, er sei vielleicht „ein Anarchist wie Most" und will ihm seinen Wunsch nicht erfüllen. Als er aber bekennt, er sei Sozialist „aus Marxens großem Lager", wird er sofort mit einem militärischen : Vorwärts! Marsch! in die Hölle getrieben. Das Sozialistengesetz lief im September 1890 ab und wurde nicht mehr erneuert. Aber schon mit dem Sturz Bismarcks am 20. März begann eine neue Phase der Entwicklung der deutschen Arbeiterbewegung, die bei XXIX

Lepp bewirkte, daß er sich stärker als vorher allgemeinen politischen Themen zuwandte. Zum erstenmal taucht in seiner Lyrik das Wort „Parteigenosse" auf (in „Der Erste Mai"). Die Anzahl der in der Ichform geschriebenen Gedichte nimmt ab. Lepp ist glücklich, „Genossen" und „wir" sagen zu können. Er nimmt konkret bezug auf die gewonnene Wahlschlacht, auf den Pariser Kongreß der II. Internationale und die Programmpunkte des Beschlusses, den ersten Mai als internationalen Kampftag zu feiern. Lepps handschriftlicher Nachlaß ergibt, daß er den ersten Mai 1890 auf seine Art gefeiert hat. In der Zeit vom 1. bis zum 6. Mai sind zwölf Gedichte entstanden, davon am ersten Mai, am Tage und in der Nacht, allein sieben. Er hat nicht nur die geschichtliche Bedeutung dieses Mai für seine Klasse erkannt, sondern auch viel für die weitere Gestaltung seines eigenen Lebens erhofft. Die Verszeilen Wir stehen nicht vereinzelt da: es streitet Geschlossen dicht das Proletariat! haben auch für ihn persönlich Gültigkeit. Und wir ermessen, wie schwer für ihn die zwölf Jahre des Sozialistengesetzes waren, in denen er keine Beschäftigung mehr als Fabrikarbeiter fand, den Kontakt zu einem Kollektiv verlor und als junger aufstrebender proletarischer Schriftsteller — er war 1878 gerade einunddreißig Jahre alt — in einer kleinen Harzstadt die Möglichkeit einer seiner Entwicklung dienenden adäquaten politischen Tätigkeit verlor.

Lepp als Naturtalent und proletarischer Laienkabarettist Lepp war ein Naturtalent im Sinne Goethes. Er bezeichnete seine Gedichte in „An die Pharisäer und Schriftgelehrten" (1889) selbst als „wilde Blumen", die im Gegensatz stehen zur „Pracht der Treibhauszucht" der hohen Literatur, und gab seinem 184 Titel umfassenden Lyrikband den Namen „Wilde Blumen". „An XXX

die Pharisäer und Schriftgelehrten" ist gewissermaßen das Programmgedicht der Sammlung. Hierin ist alles enthalten: Die ihm bewußte Naturwüchsigkeit seiner Dichtung, ihre Volksverbundenheit, ihre Gegnerschaft zur sogenannten hohen Literatur, die zur Ware geworden ist, und das Bekenntnis zum Klassencharakter seiner eigenen Lyrik. Es gibt in seinen Äußerungen noch die verschiedensten Varianten solcher Gedankengänge. So vergleicht er sein Lied z. B. oft mit dem eines Vogels, manchmal nennt er sich einen Spottvogel oder auch einen Spottvogel im Käfig wie in seiner gleichnamigen autobiographischen Erzählung aus den 70er Jahren. In diesem Prosastück stehen die Zeilen: „Meine Seele gehört dem leidenden Volk an, mein Interesse geht in der Gesamtheit auf. Ich habe festen Fuß gefaßt in der Überzeugung, daß das Volk die Kraft repräsentiert, vermittels welcher es sich selbst erlösen und die Zukunft erobern wird." Und etwas ungezwungener — jede Form von Pathos, auch im Programmatischen liegt ihm nicht — heißt es im Schlußwort zu den „Wilden Blumen": „So wäre nun der verhängnisvolle Schritt gewagt, und zwar mit leichtem, unbeklommenem Herzen. Wenn das Volk meine Lieder ablehnt, so habe ich mich geirrt. So ist es weder ein Beinbruch, noch ein Verbrechen und ich werde lustig weiterdudeln, stillvergnügt für mich." Die Formulierung „dudeln" hat einen ernsthaften Kern. Lepp hatte so etwas wie eine Fiedel in sich, eine natürliche rhythmische Befähigung, die ihn auch zwang, seine Verse zu sprechen oder sie sangbar zu machen. Lepp war kein Zeitungslyriker wie Audorf, Geib, Hasenclever, auch nicht wie Kegel und kein Weltanschauungslyriker von der Art Lavants oder Leopold Jacobys, die ihre Gedichte in erster Linie für den Druck schrieben. Lepp tendierte sofort, nachdem er angefangen hatte zu schreiben, zum Sprechdichter. Als kleiner Tabakarbeitervereinsfunktionär der 70er Jahre hatte er das starke Bedürfnis und viel Spaß daran, in Arbeiterversammlungen seine eigenen Gedichte und Lieder und die anderer Schriftsteller vorzutragen oder zur Gitarre zu singen. Erinnern wir uns daran, wie er Audorfs „Lied derPetroleure" überall „schmetterte". Lepp hat in diesen Jahren XXXI

unermüdlich, oft aus eigener Initiative Arbeiterversammlungen einberufen und durchgeführt, in denen er sprach, Gedichte vortrug oder Lieder, zu denen ihn seine erste Frau auf der Gitarre begleitete. Der große Schwung der 70er Jahre, in denen das kämpferische Proletariat sich sammelte, solidarisierte und sein Geschick in die eigenen Hände zu nehmen begann, hat Lepp emporgetragen und zum Volkssänger gemacht. Lepp fühlte sich in dieser Hinsicht besonders dem französischen Dichter und Liedsänger Pierre de Béranger verbunden, dessen Chansons er in der Übersetzung Chamissos kennengelernt hatte. Goethe sagte über den großen französischen Chansonnier: „Seine Lieder haben jahraus, jahrein Millionen froher Menschen gemacht; sie sind durchaus mundgerecht und auch für die arbeitende Klasse." 27 Er schrieb in seiner kräftigen, allen verständlichen Sprache und setzte das politische Chanson der Französischen Revolution fort. Sein Lied hatte deshalb großen Einfluß auf die Dichtung der Kommunarden, besonders auf Eugène Poittier. Lepp hatte in Chamissos „Vorrede zu Bérangers Liedern" gelesen: „. . . er tröstet und ermutigt das Unglück, rächt den Gekränkten und überschüttet mit Spott die Anmaßung derer, die zu ernten eilen, wo sie nicht gesät." 28 Und: „Mes chansons, c'est moi. — Le peuple c'est ma muse. Meine Lieder sing ich selbst, das Volk ist meine Muse; diesem schlichten Zeugnis, welches er von sich selber ablegt, ist nichts hinzuzufügen." 29 Das hat Lepp angesprochen, und im gleichen Sinne formulierte er in seiner Autobiographie, daß er als „Deutscher Volkssänger" anstrebe, an „Freuden und Leiden, Befürchtungen und Erwartungen, Leben und Streben" der Enterbten teilzunehmen.30 Vor allem gefielen ihm an den Liedern Bérangers der Witz, die gesunde Sinnlichkeit und Volksverbundenheit, die sangbaren Strophenformen und einprägsamen Refrains. Ohne sich mit dem Franzosen vergleichen zu wollen, fand er bei ihm doch Verwandtes. Béranger half ihm, sich selbst und seine Eigenart zu erkennen und auf dem eingeschlagenen Wege voranzuschreiten, so gut es ihm möglich war. XXXII

Historisch richtig hat sich Lepp auch nicht als direkten Fortsetzer des plebejischen französischen Chansonniers gesehen, sondern über die Dichtung der Kommune indirekt an ihn angeknüpft. Er spricht es im Gedicht „Ein deutscher Chansonnier" deutlich aus, ohne bestimmte Namen zu nennen. Seit' 1871 erschienen in deutscher Sprache einzelne Lieder von Kommunarden in der sozialdemokratischen Presse. Lepp wird sie gekannt haben, obwohl er sich in seiner Autobiographie nur auf B6ranger und auf die von Adolf Strodtmann herausgegebene Anthologie „Die Arbeiterdichtung in Frankreich. Ausgewählte Lieder französischer Proletarier" bezieht. 31 Strodtmann hatte formuliert: Ein Chansonnier ist ein dichtender Proletarier oder mit anderen Worten, ein Arbeiter, der, neben seiner Erwerbsbeschäftigung seine Empfindungen, Wünsche und Erwartungen in Versform kleidet, um so in spielender Weise auf die verbitterten Gemüter seiner Leidensgefährten befruchtend einzuwirken. Lepp macht sich diese Auslegung auf etwas radikale Weise zu eigen: „Auch ich bin ein Chansonnier, ich verschmähe den ziemlich anrüchigen Titel „Dichter" und bin stolz, ein Volkssänger zu sein." 32 Lepp zeigt sich hier noch auf dem Stand der 70er Jahre, als die Sozialdemokratie die zeitgenössische bürgerliche Dichtung ziemlich undifferenziert ablehnte. Zwar definiert er an anderer Stelle, daß ihn „die modernen, höfischen Dichter höchst antipathisch berührten". Aber auch das bezieht sich nur auf seine Anfangszeit, auf die apologetische Literatur der 70er Jahre. 1893, als die „Autobiographische Skizze" entstand, war die literarische Situation schon etwas anders. Eine junge bürgerliche Schriftstellergeneration versuchte, gerade auch unter dem Einfluß der Arbeiterbewegung, neue Wege zu gehen, in Opposition zu der von Lepp beanstandeten „Professorenliteratur". Doch offenbar hatte sich der deutsche Chansonnier ein für alle mal von der bürgerlichen Dichtung seines Jahrhunderts abgewandt, sie interessierte ihn nicht mehr, er war genug damit beschäftigt, eine proletarische Literatur mit aufbauen zu helfen. Lepp hat als politischer Liedersänger seine bescheidene 3

Adolf Lepp

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Position innerhalb der Entwicklungslinie, die von Béranger über Poittier zur deutschen proletarischrevolutionären Lyrik des 20. Jahrhunderts, zu Erich Weinert führt und von dort zu den politischen Chansons des Sozialismus, zu den Chansons, die auf den Festivals der Weltjugend und der Friedensbewegung gesungen werden. Viele der „Launigen Lieder" und „Spottgedichte" der Sammlung „Wilde Blumen" 3 3 haben kabarettistischen Charakter und sind geschrieben, um vor proletarischem Publikum, vorgetragen zu werden. E s ist jedoch nur eine kleine Auswahl der in Wirklichkeit entstandenen Texte. Wir möchten auf einige Lieder, die in unseren Band aufgenommen sind, das Augenmerk richten: auf das lustige „Teufels-Couplet", auf die Selbstdarstellung Lepps, wo er sich mit einem kleinen Zeisig vergleicht,, der auf der Flur tiroliert; auf das gegen Schönfärberei gerichtete „Handschuhlied" mit dem hohnlachenden Refrain: Hihihi !-Hahahaha-hohohohu —/Glacéehandschuh? ! ; das 1871 im Gefängnis zu Waldheim entstandene beziehungsreiche „Sängers Los". Auch das Streitgedicht „ A n die Literatur" aus dem Jahre 1878 hat kabarettistischen chansonaxtigen Charakter. Die Tatsache, daß die hohe Literatur auf einem „unseligen Zerwürfnis" zwischen Dichtung und arbeitendem Volk beruht, das beseitigt werden muß, wird in einer kräftigen, witzigen, auf augenblickliche Wirkung und Applaus bedachten Sprache, in vierzeiliger Knittelversstrophe vorgetragen. Der Witz zeigt sich oft in der Wahl des Endreimworts. Von der bildhaften Vorstellung ausgehend, daß die Literatur die Menschen mit Nahrungsstoff versorgt, heißt es in einer Strophe : Trauernd grollen meine Brüder Dir, der Reichen Küchenfee! Kehre um ! erscheine wieder In der Wahrheit Négligée. Lepp ist hier ganz er selbst. Wir führten oben ein Beispiel an, wo er sich in leichter Selbstironie bemühte, es der Goldschnittlyrik eines Bodenstedt gleichzutun. Aber ansonsten hat gerade Lepp, auch innerhalb der frühen XXXIV

sozialistischen Literatur, dazu beigetragen, daß der kräftige, unmißverständliche, proletarisch-umgangssprachliche Ausdruck in die Lyrik Eingang fand. Dafür gibt es viele Beispiele, Lepps Lyrik ist in dieser Beziehung geradezu eine Fundgrube für sprachkundliche Untersuchungen. So sei hier auch noch die letzte Strophe angeführt, die er im Namen seiner Klassenbrüder der herrschenden Literatur, der „Marmorfrau" zuruft: Wirst du dich nicht mehr verhimmeln, Noch von Fürst zu Doktor gehn, Wirst du auch nicht mehr verschimmeln. Nicht mehr Staubparade stehn. Diese Textprobe zeigt übrigens in der ersten Verszeile auch eine jener stilistischen Unregelmäßigkeiten, die wir manchmal in den frühen Gedichten Lepps finden und die z. T. auf die schnelle Art und die Umstände ihrer Entstehung zurückzuführen ist. In den in die „Arbeiterdichtung" und in „Stimmen der Freiheit" aufgenommenen Texten finden wir das nicht mehr. Aber auch bei diesen späteren sind dem Wesen nach sangbare und für politisches Kabarett brauchbare Gedichte, auch wenn sie nicht mehr direkt zum Vortragen geschrieben wurden. Das „Lied der Liberalen" mit dem Refrain: Wie hat sich doch alles so herrlich erfüllt würde sich ebenso gut eignen wie „Gezähmte Wölfe". Und besonders hervorzuheben ist das Chanson „Der Reichstag", in dem die erste und letzte Zeile jeder Strophe den sangbaren Charakter bewußt unterstreicht und mit seinem fidelen „Hopsasa, bumsfidera" den spöttischen Grundton, dieses Sanges auf diese Institution des deutschen Kaiserreiches verstärkt. Lepp konnte sein Naturtalent nicht voll entfalten. Als er das zuletzt zitierte Gedicht 1900 schrieb, war er schon todkrank. Wir empfinden die Größe seiner Leistung angesichts der Tatsache, daß er sie sich als Autodidakt, der nicht mehr als ein Jahr regelmäßigen Schulbesuchs nachweisen konnte, im harten Daseinskampf um die Ernährung einer großen Familie und stets bettelarm abzuzwingen verstand. Wir sehen die Tragik dieses Dichter-Proletars in einer Ecke des Kaiserreichs, in Halberstadt, ohne Kontakt zu einer 3'

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ihn stützenden Parteiorganisation, sogar in wachsendem Konflikt mit ihren örtlichen opportunistischen und verständnislosen Vertretern, dessen Ursachen heute nicht mehr aufzudecken sind. Und wir erkennen seinen Schmerz, wenn wir in seiner autobiographischen Skizze lesen: „Geliebtes Proletariat! Ich, dein Sänger, habe keine Noten studiert, bin daher auch nicht imstande, kunstgerecht zu musizieren. Es sind nur Naturlaute, die ich dir bieten kann. Es ist mir ergangen, wie es fast allen deinen Kindern ergeht. Man hat auch mich enterbt zur Strafe dafür, daß ich so unpraktisch war, mir einen braven Proletar statt eines Millionärs zum Vater zu wählen. Du aber, dessen Kind ich bin und bleiben werde, bis an mein unchristliches Ende, du wirst mit meinen natürlichen Schwächen Nachsicht üben und nicht mehr von mir fordern, als was ich wirklich selbst empfangen habe. . . Aber freuen würde es mich, wenn ich für mein schüchternes Klopfen an der Tür meiner Leidensgefährten ein herzhaftes .Herein!' empfinge." 34 Zum Schluß noch ein Wort zu den Auswahlprinzipien des vorliegenden Bandes. Wie aus der Einleitung hervorgeht, ist Lepp vorwiegend und aus Leidenschaft Lyriker gewesen und hat nur sehr wenig Prosaarbeiten geschrieben, die heute ebenso wenig interessant sind wie die dramatischen Versuche, die sich in seinem Nachlaß gefunden haben. Den Prosatext „Der Spottvogel im Käfig" haben wir wegen seines autobiographischen Gehaltes aufgenommen. Die Briefe des roten Feldpostmeisters Julius Motteier sind zusätzliche Beweisstücke für Lepps Bemühungen um Kontakte mit führenden sozialdemokratischen Journalisten und Schriftstellern. Der Schwerpunkt der Textauswahl wird also berechtigterweise von den Gedichten bestimmt, die sowohl die Entwicklung Lepps veranschaulichen als auch für die Entfaltung der frühen sozialistischen Lyrik von Bedeutung sind. Ursula Münchow

TEXTE

LYRIK

Wo wohnt Lepp?

1866 So frug ein Mann im blau'n Ornat Allenthalben in Halberstadt. Er kam zum Pfarrer, frug auch dort. Der schickt ihn mit der Weisung fort: „Ich glaub, er wohnt am breiten Tor, So sprechen Sie dann dorten vor." Was will der Mann? Was geht ihn Lepp der Dichter an? Wo wohnt Lepp? Er führte mit sich einen Schein, Der mich zur Stammroll' ladet ein. Und lange sucht er, eh er fand Mich, denn die Rolle offen stand. Da endlich, endlich findet er Den, so man braucht im Militär. Das kann nicht sein. Ich bin zum Offizier zu klein. Wo wohnt Lepp? Die Frag' erscheinet unnütz wohl, Wenn Steuern ich bezahlen soll. Der dürre, grauberockte Mann Mit blankem Brustschild kommt sodann Geraden Wegs in unser Haus Und bittet sich die Steuern aus: „Herr Lepp, Sie sehn, Daß hier 3 Monat resto stehn." Wo wohnt Lepp? Und rückt heran das neue Jahr, 3

Erscheint auch gleich ein Schein, und gar Verdoppelt sind die Steuern dann. Ach, Adolf Lepp, du armer Mann, Wo nimmst du all die Steuern her? Herr Magistrat, ich bitte sehr: Laßt mich in Ruh, Sonst hau ich mit dem Beutel zu. Wo wohnt Lepp? Nun höre, wer es noch nicht weiß, Ich wohn' im deutschen Paradeis Und labe mich am Waffenglanz Und zahle Entree auch zum Tanz. Hier hat die Arbeit keinen Wert, Der Mensch ist billiger als das Pferd. Hier wohne ich Und gräme meines Lebens mich! Wo wohnt Lepp? Wer fragt noch? Es ist eine Schand, Doch habe ich kein Vaterland. Der Cäsar braucht der Sklaven viel Und treibt mit ihnen Hasardspiel. Doch solls auch bringen Zinsen ein, Drum müssen Steuerzahler sein. Ein freies Wort, Der Spieler wirft die Puppen fort. Wo wohnt Lepp? Er wohnt an keinem Trottoir, Im engen Gäßchen wohnt der Narr. Kommt hier der Magistrat hinein, Er bricht am Pflaster Hals und Bein. Die Armut haust hier wohlgemut, Ihr ist die Straße lange gut. Ein nobles Kleid Macht sich in diesem Schmutz nicht breit. Wo wohnt Lepp? Kommt endlich mit mir in mein Haus Und sucht euch einen Sitzplatz aus. 4

Hier ist der Podex längstens quitt, Drum bringt euch selber Stühle mit. Hier fruchtet Ex'kution nicht mehr, Der Magistrat find't alles leer. Ein einzig Bett Ist einer Familie Ruhestätt. Wo wohnt Lepp? Hier sucht vergebens man nach Brot, Hier weiß man nichts von einem Gott, Der seine Kinder hungern läßt Und seiner Erben Auswurf mäst'. Hier sieht man Wanzen hohl und blaß. Hier lernt man Menschenlieb und -haß. Die ruß'ge Hand Erhält den säubern Lenzerstand. Wo wohnt Lepp? In einem feuchten Kämmerlein Und macht hier seine Kritzelei'n. Das Federbett ist dürftig nur, Von Möbeln ist hier kaum die Spur. Doch dieses ihn nicht kränken kann, Ihn greift der Brüder Elend an. Versteckt, gering: Hier wohnt Lepp der Sonderling.

Männertränen 1871 Tränen ziemen wohl dem Mann! Wenn sich weiche Frauenseelen Wild zerknirschen und zerquälen, Rinnt der Tau und löst den Bann; Da erleichtert sich das Herz. Und der Mann verschweigt sein Sehnen, Hüllt in Trauerflor den Schmerz, Denn er schämet sich der Tränen!

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Jenes Jünglings Schattenbild Wankt zu der Geliebten Leiche; Bleicher denn der Toten Bleiche E r mein Aug mit Schreck erfüllt. Dieses Opfer ist zu groß, Es bedeutet all sein Wähnen! Die Verzweiflung ist sein Los, Und er findet keine Tränen! Freunde stürzen in die Schlacht Und erscheinen unzertrennlich, Kämpfen löwenkühn und männlich, Jeder hält des andern Acht. Plötzlich fällt der eine Freund Und vollendet mit Gestöhne; Und der andre wirft den Feind, Todesfroh, doch ohne Träne. Zweier Leute einzig Kind, Gleich des Baches flinker Schmerle, Mutters Krone, Vaters Perle, Stirbt. Der Mutter Zähre rinnt. In des Vaters Herzen wühlt Leichenschändrisch die Hyäne; Seine heißen Wunden kühlt Keine Träne! keine Träne. Mensch! wenn du es redlich meinst, Wirst du schwerlich Liebe finden, Aber Haß wirst du dir zünden, Dem du nicht gewachsen scheinst! Dann vereinsamt stehst du da! Alles scheint dich zu verhöhnen! Wehe! ist kein Tröster nah, Wehe! schämst du dich der Tränen. Hattest du ein freundlich Glück Und du hast zu laut gesprochen, Wird die Zunge dir zerstochen, Und kastriert wird dein Geschick. Von der Welt sperrt man dich ab; 6

Magst du nun dem Rechte fröhnen, Das dir eine Rüge gab! Weine! heimlich sind die Tränen! Oder hast du einen Freund Und du hältst ihn hoch und teuer, Scheust nicht Sturmflut drum, nicht Feiier, Weil er deiner würdig scheint, Plötzlich kennt er dich nicht mehr, Und es läßt ihn kalt dein Sehnen, Weil du ärmer bliebst als er! Laß sie rinnen, deine Tränen! Hast vielleicht ein Bräutchen gar! Liebst sie glühend heiß, die Beste! Baust auf ihrer Treu Paläste! Träumst dich schon am Traualtar! Armer Knabe! und sie bricht, Deine gleisnerische Schöne? Ach! du bist der einzge nicht! Wehre nicht der Reuetränen! Starben dir die Eltern früh Und du kamst in fremde Hände, Deren Barbarei ohn Ende, Trotz des Pfleglings Liebesmüh; Und du siehst als junger Mann Dir die Herzen sich entwöhnen, Auf der Eltern Grabe dann Feuchte Blumen an mit Tränen. Was verschweigst du, Männerherz! In der Würde deiner Größe Deiner Menschenschwäche Blöße! Tränen lindern jeden Schmerz! Zügle nicht des Trostes Flut! Willst du dich mit dir versöhnen, Kühle deiner Wunden Glut In der Quelle stiller Tränen.

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Abendseufzer 1874 Stille - stille! Ruhe dich, geliebtes Weib, nun aus Von des Lebens Ekel, Harm und Sorgen. Zieh mir nicht die Stirn verdrossen kraus. Bist in meiner treuen Hut geborgen. Stille! Leise — leise! Leise, Töne, daß sie nicht erwacht. Störet nicht der Müdgehetzten Schlummer. Freud und Frieden schlürft sie in der Nacht, Und am Tage teilt sie meinen Kummer. Leise! Lächle! - lächle! Es betrüge dich ein schöner Traum. Eine Täuschung birgt das ganze Leben. Gib der Zuversicht vermehrten Raum, Und des Herzens Kränkung sei vergeben. Lächle! Träume! träume! Traum ist Glück und Wirklichkeit ist Not, Deine Jugend durftest du verscherzen? Und du birgst - noch ist für drei nicht Brot! Unsrer Liebe Kleinod unterm Herzen. Träume. Stille! stille! Laß es kommen, laß es leben auf. Mögen mich die Sorgen drum bestürmen. Will erringen, was ich für euch brauch, Diese Arme werden euch beschirmen. Stille!

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Gruß an den Parteikongreß 1874

1874 Empfanget meinen Bürgergruß, ihr ernsten Männer unsrer Zeit! Die ihr, für unsrer Kinder Wohl beratend, nun versammelt seid. Ihr habt nur Qual für eure Müh', Verkennung und Verfolgung viel: Doch habt ihr hinter euch das Volk und vor euch ein unschätzbar Ziel. J a , hinter euch stehn dicht gedrängt die Millionen all zu Häuf, Die alles schaffen, alles sind und alles büßen ein im Kauf. Wohl sind noch viele wider uns, für die wir gleichfalls stehn im Streit, Sie wissen's nicht, wess' reift die Frucht, zu der wir Samen ausgestreut. Sie irren noch in Nacht umher, nicht ahnend, wie man sie belog. Nicht wissend, daß man ihnen frech, zu binden sie, das Licht entzog. Doch dringt das Licht gewaltig vor, und allenthalben wird es Tag. Und ihr, die ihr die Leuchte tragt, ihr rüttelt sie aus trägem Schlaf. Kaum ist der Mensch aus Geistestod an diesem Lichtstrahl auferwacht So streckt es sich und strebt's empor und wächst und schwillt zu unsrer Macht. Welch seltnen Zauber wirft das Licht ? was will das Volk ? was wollen wir? An welch ein Ziel führt uns der Weg? was, Fackelträger, wollet ihr? 9

Das Licht zeigt uns die tiefe Schmach, in die man uns getreten hat, Es zeigt, wie man dem Tiere gleich den Menschen lang gehalten hat. Das Volk will sie verwirklicht sehn, die hohe Menschlichkeitsidee, Die bisher eine Phrase war und nur verhüllte Volkes Weh. Der grade Weg, der beste Weg, der uns zum freien Volksstaat führt, Worin der M e n s c h zu Throne sitzt, worin nicht mehr das Geld regiert. Zwar werfen sie sich in den Weg, die finstern Rückschrittsmächte all. Hoch überschreiten wir den Damm, hoch übersteigt die Flut den Wall. Ihr sucht den Pfad zu ebenen, ihr, die wir wählten in den Rat, Ihr bringt den Zug in ein System, ihr richtet ein den Zukunftsstaat. Kein Wunder drum, wenn wild erbost der Feind euch nimmt zuerst aufs Korn, Wenn ihr zuerst empfinden müßt der Gegner Macht, der Gegner Zorn. Doch Mut! Wir stehen hinter euch: fällt einer, tritt ein andrer vor. Fast stündlich wächst und schwillt das Heer, wir dringen kühn ans Ziel empor. Drum an die Arbeit Pionier'! und grabt und schanzt ein tiefes Grab. Und seid ihr fertig, senken wir die faule Gegenwart hinab. Dann singt das Volk ein wahres Lied, denn Knauf und Knebel sind nicht mehr, 10

Dann wird die Menschheit glücklich sein: dann herrscht der Unterschied nicht mehr. Zwar werden wohl der Mängel noch beständig zu bekämpfen sein. Das Übel selbst beseitgen wir, dann muß die Wohlfahrt auch gedeihn. Drum hoch der Volksstaat allezeit, trotz Feind und Feinden allzumall Empfanget meinen Bürgergruß, ihr Männer aus der freien Wahl!

Und sie bewegt sich doch! 1874 Galileo Galilei Sprach einst das große Wort, Das drohend an Palais, Durch Hütten toset fort. Die Sonn lief um die Erde, So lehrte das Papsttum noch; Die Erde stehe stille. „Und sie bewegt sich doch." Das sah der Galilei: Und lehrte es öffentlich. Da ward er eingekerkert, Weil er vom Dogma wich. Wohl mußte er widerrufen, Doch er ermannte sich noch, Sprach hoch von des Altars Stufen! „Und sie bewegt sich doch!" Jetzt lernen es die Kinder, Was damals man verwarf! Einst lernen sie's nicht minder. Was heut man kaum denken darf. Trotz allen Volksbeglückern Wächst doch die Sturmflut hoch, 11

Trotz allen Unterdrückern! „Und sie bewegt sich doch!" Als Gracchus Babeuf die Sache Des vierten Standes vertrat, Da schrien die Mächtigen: Rache! Da griff das Volk zur Tat. Es sank. Auf seinen Grüften Erstand ein Banner hoch. Es flattert in den Lüften: „Und sie bewegt sich doch!" Da, 1830, Erfocht das Volk den Sieg; Es ließ ihn sich entreißen, Und wieder gab es Krieg. Und auf der Arbeiter Leichen Stand wild der Geldmoloch; Was sahn wir ihn erbleichen? „Und sie bewegt sich doch!" Wenn acht- und neunundvierzig Die Arbeit unterlag, So siegten die Ideen Und dämmerten zum Tag; Was dort man glaubte begraben, Wir halten's mutig hoch, Weil wir es begriffen haben: „Und sie bewegt sich doch!" Noch eine Frist des Elends, Dann nehmen wir uns Brot. Arbeitend leben Oder kämpfend tot! Will man die Luft erpressen, So sucht sie sich ein Loch. Man hat die Kraft vergessen, „Und sie bewegt sich doch!" Wie Georg III. In England unterlag 12

Und feige sich zurückzog, Dem Fortschritt gebend nach; Trotz Kaiser, Reich und Reisig Geht die Bewegung hoch, Trotz Paragraph 130: „Und sie bewegt sich doch!" Wie Rußlands grimme Knute Den Freisinn nicht anficht, So schadet die deutsche Rute Auch unserm Fortschritt nicht! Trotz Bismarck und Kaliber Schwillt unsre Strömung noch; Trotz Tessendorf, trotz Stieber, „Und sie bewegt sich doch!"

Der bescheidene Maler

1876 Dieser malt famose Bilder, Jener zeichnet Warenschilder. Dieser rechnet mit Reflexen, Jener bleibt beim Farbenklecksen. Ich kann, ohne viel zu prahlen, Rosenrote Laune malen.

Frühlingshohn

1876 Lasse, o Volk, deine Klagen verstummen! Stimme dem Lenze ein Jubellied an! Siehe die Fülle der Blüten und Blumen! Schließ dich den zwitschernden Vögeln an Blumenkohl, Spargel, Radieschen, Salate, Saftige Erstlinge neigen zur Frucht. 4

Adolf Lepp

Schon sitzt der Koster beim Schmecker im Rate, Proben und schnalzen in fürstlicher Zucht. Jubelt denn alle! Es reifen ja Früchte. Weidet das Auge und sehet euch satt! Übrigens bleibt's bei der alten Geschichte: Ernten findet für wenige statt. Säen und Jäten ist unsere Sache! Unser die Mühe und jenen der Lohn! Vögel und Jagdwild, Forellen im Bache, Nahm in Besitz des Glückes Sohn. Glaubt ihr, ich fasele? Oh, ich bin nüchtern! Wasser nur trink ich, das klärt den Verstand! Droht mir nur, Schelme! Ihr macht mich nicht schüchtern,. Fest folgt der Griffel der sicheren Hand. Wahrheit nur zeichn' ich mit glühenden Farben! Mögt ihr auch wüten und toben wie toll. Laßt ihr das Volk der Arbeit nicht darben? Nährt ihr mit Abhub nicht unseren Groll? Habt ihr uns nicht den Heimstet, ihr Hamster, Habt ihr uns nicht den Ließt ihr uns nicht den

Frühling entwendet? die Ernte nicht ein? Sommer gepfändet? Winter allein?

Und auch der Winter ward uns verbittert, Seine Freuden genießet nur ihr! Seht, wie das Volk in Lumpen erzittert! Arbeit und Dürftigkeit! Kaltes Quartier! Juble, wer mag, dem Frühling entgegen. Jauchze, verbildeter, fühlloser Mann! Endlich wird u n s e r Frühling sich regen, Und der Schmarotzer Winter bricht an.

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An die Literatur

1878 Steig hernieder vom Cothurnus, Auf dem lange du stolziert ! Streife ab den scheckigen Burnus, Der dich über die Wolken führt ! Steig vom Piedestal hernieder, Königliche Marmorfrau! Wandle unter Menschen wieder : Trage Fleisch und Blut zur Schau. Bist und bleibst ein Kind des Volkes, Hast du gleich dich abgewandt ! Bist und bleibst der Arbeit Schwester, Leugnet's gleich dein Flittertand. Weshalb prunkst du mit Juwelen? Deine Schwester trägt sie nicht ! Blumen lehrt sie dich zu wählen, Kleiden einfach sich und schlicht. Wie sie stets den Riesenkörper Volk mit Nahrungsstoff versieht, So sollst du den Geist des Riesen Nähren, daß er grünt und blüht! Das unselige Zerwürfnis, Schlicht' es mit dem hellsten Strahl! Dann wirst du dem Volk Bedürfnis, Das bisher nur Brocken stahl. Trauernd grollen meine Brüder Dir, der Reichen Küchenfee ! Kehre um ! erscheine wieder In der Wahrheit Negligé. Aber näher mußt du treten ! Deutlichkeit sei dein Panier!

Liefre kräftige Geisterspeise, Und die Menschheit dankt es dir. Wirst du dich nicht mehr verhimmeln, Noch von Fürst zu Doktor gehn, Wirst du auch nicht mehr verschimmeln, Nicht mehr Staubparade stehn.

Prokne 1881 Mir zum offnen Erkerfenster Eine Schwalbe schwirrt herein; Mächtig regt sie ihre Schwingen, Und das Tier ist doch nur klein! Vor der Brust das blut'ge Zeichen Deutet sonderbare Mähr: Was ein schwaches Weib vermochte, Rächend die verletzte Ehr'. Prokne, Philomelens Schwester, Schlachtete den eigenen Sohn, Weil ihr Gatte seiner Schwäg'rin Reiz zertrat, im Liebeshohn. Da ward Prokne flugs zur Schwalbe, Philomel' zur Nachtigall Und zum Wiedehopf der Gatte Tereus, für den Sündenfall. Auf der Irrfahrt kommt nun Prokne Zu mir morgens auf Besuch; Fürchte nichts von mir, Verirrte! Ich bewundre deinen Flug. Wie das rauschet! Wie das flattert! Wie es schaukelt hin und her! 16

Jetzt durchsteuert sie die Öffnung, Tauchend sich ins Äthermeer. Über azurblauen Wogen Wiegt sie sich mit Sicherheit, Rüstig klimmt sie in die Höhe Rudernd mit Geschicklichkeit. Höchst gespannt folgt ich der Flücht'gen, Bis sie meinem Blick entschwand. Hat sie mir der Götterkönig Als ein Vorbild zugesandt? Kleine Botin, kamst mir künden, Ob ich klein auch sei und schwach. Daß ich könne, wenn ich wolle! Schön, schon klimme ich dir nach.

Der deutsche Chansonnier 1879 Ich grüß euch, Sangsgenossen, Der Seine Strand entsprossen, Gesäugt von Leid und Weh! Ich laß die Dichter gleißen Und will bescheiden heißen: Der deutsche Chansonnier. Seitdem ich manche Dichter Und ähnliches Gelichter Im wahren Lichte seh, Da hab ich sie verachten Gelernt und mit euch trachten Als deutscher Chansonnier. Ich sah die „Dichterfürsten" Nach Fürstenneigung dürsten Und fror in ihrem Schnee;

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Da wärmten eure Lieder, Franzosenbrüder! wieder Den deutschen Chansonnier. Und ob auch die Gelehrten Euch stolz den Rücken kehrten, Ich dennoch zu euch steh. Es wird in allen Fällen Sich froh zu euch gesellen Der deutsche Chansonnier. Noch wüßt ich nicht, daß drüben Enterbte Lieder schrieben Von Völkerwohl und Weh — Doch schritt in eurem Gleise Und sang dieselbe Weise Der deutsche Chansonnier. Da lauscht ich, schier begeistert. Als mich eu'r Lied bemeistert Mit seiner Kraftidee! So blicket nun bewußter Auf euch als seine Muster Der deutsche Chansonnier. Euch, welsche Sangesbrüder, Begrüßen meine Lieder Im grünen Hoffnungsklee! Es will mit euch zusammen Das Volk zur Tat entflammen Der deutsche Chansonnier!

Nimmermehr! 1880 Hör ich's grollen? Das ist der Lawine Rollen! Leis vom Firne stäubt es los, Um im Fallen Sich zu ballen, 18

"Und so wird es rund und groß. Niederwärts, von fern erflimmernd, Rast das Unheil, nur zertrümmernd, Schreckerregend, braust's einher! Gibt es ein Dawiderstemmen? Läßt sich das Verderben hemmen? Nimmermehr! "Wie die Quelle Wirft von oben Well' auf Welle Aus dem Felsen in die Schlucht, Unaufhaltsam, Sturzgewaltsam Schleudernd sich in steter Flucht — So die Flüsse talwärts fließen, Ströme sich ins Meer ergießen, Aufzugehn im Weltenmeer; Scheint die Woge gleich gehoben, Lenkt sie das Gebot nach oben. Nimmermehr! Wenn am Himmel Die Gewalten ihr Getümmel Hüllen in des Schreckens Nacht, Knatternd, brausend Niedersausend Der Empörung grause Pracht. Jähe Blitze leuchtend züngeln, Feur'ge Schlangen niederringeln, Und der Donner brüllt einher — Kannst du den Naturgesetzen Eine feste Schranke setzen? Nimmermehr! Mag es blitzen! Hier zertrümmern, dorten nützen! Ohne Opfer keine Schlacht. Ob zum Leben Fug gegeben, Du nur zeigst es, wilde Jagd. Wird am Weg ein Wurm zertreten, 19

Drüber hin, ohn Schamerröten! Oh, der Würmer gibt's ein Heer! Nach des Halberwürgten Klage, Um gekränkte Rechte frage Nimmermehr! Wenn die Kleinen Krümmen sich zu dürfen meinen, Achte, Großer, nicht darauf! Diese Leben Sind gegeben, Daß du regelst ihren Lauf! Soll ich in die Kleinen, Schwachen Zürnend meine Donner krachen? Oder soll ich — mein Gewehr Von mir werfend — weiterjagen, Statt den Widerspruch zu wagen? Nimmermehr! Auf der Stelle! Vorwärts! Wider Sturm und Welle! Des Gedankens Schwert gezückt! Halt, ihr Knechte! Raum dem Rechte, Das ihr eisern eingestrickt! Kämpfend will ich unterliegen! Noch im Sterben will ich siegen! Wehr erfordert Gegenwehr! Unrecht dulden, um zu schweigen, Für den Fußtritt mich verneigen Nimmermehr!

O komm zu mir!

1881 O komm zu mir, Enterbter, komm zu mir! Du wirst ein Herz, dem deinen gleichend, finden. Wir werden uns zu Schutz und Trutz verbünden. In des Enterbten Arme stürze dich Und glaub' an mich! 20

O komm zu mir, Gefallner, komm zu mir! Auch ich bin oft gestrauchelt hier im Leben. Nur Selbstvertraun, so wirst du dich erheben! Auf helf ich dir mit meiner armen Kraft: Drum aufgerafft! O komm zu mir, Verirrter, komm zu mir! Du wagst dich aus dem Labyrinth von Schlünden Nicht auf die Lichtung mehr herauszuwinden? Reich mir die Rechte, ich geleite dich: Aus kenn ich mich. O komm zu mir, Verratner, komm zu mir! Auch mich hat einst Ischariot verraten. Ich tu dir nicht, wie deine Feinde taten! Du bist hier sicher vor Verräterei, Hier walte frei! O komm zu mir, Geächteter, zu mir! Ich weiß es wohl, die Dummen und die Schlechten Sind stets bestrebt, den Wissenden zu ächten, Laß dir die Schmähung nicht zu Herzen gehn: Du bleibst bestehn! O komm zu mir, Verstoßner, komm zu mir! Auch ich muß meine Anverwandten meiden. Hier finde drum ein Ende deiner Leiden! Die neue Heimat, die Willkommen spricht, Verstößt dich nicht! O komm zu mir. Verzweifelnder, zu mir! Auch mich zerknirschte oftmals die Verzweiflung. Drum spend ich dir des Trostes milde Träuflung, O glaub, es wird, was immer dir geschehn, Vorübergehn! O komm zu mir, Entblößter, komm zu mir! Ein Stücklein Brot ich hab, das laß uns teilen. Versuchen wir's, ob deine Wunden heilen! Du brauchst nur wenig, um beglückt zu sein: Was mein, sei dein! 21

O komm zu mir, Gesunkne, komm zu mir! Dich hat die Not gestürzt — was willst du beichten? Es steht im Aug' geschrieben dir, im feuchten! Versuch's einmal — noch ist es nicht zu spät — Ob's anders geht! O komm zu mir, Verleumdeter, zu mir! Du hast mich oft und tief gekränkt im Leben. Ich bin kein Christ, allein ich kann vergeben; Doch laß es gut nun sein für immer, Freund, Wir sind vereint! O komm zu mir, Todmüder, komm zu mir! Und ob dich gleich die Menschenbrüder meiden, Du sollst nicht einsam aus dem Leben scheiden! Ich drücke dir die müden Augen zu, Zur ew'gen Ruh.

Der Natur

1883 Braut der Himmel, Königin der Erden, Lieb- und Lebensspenderin: Natur! Nimmer will ich dir abtrünnig werden! Denn in dir besteh ich nur.

Herr Bodenstedt, ein Gärtner

1883 Herr Bodenstedt spazierte Einst weit in den Morgen hinein; Da fand er in persischem Wiesengrün Exotische Blümelein. Herr Bodenstedt grub ein'ge Davon mit der Wurzel aus, 22

Und trug sie behutsam in hohler Hand Gen Abend ins deutsche Haus. Das ist ein Gärtner, mein ich! Was keinem andern gelingt, Verpflanzung der Rosen von Schelminha, Herr Bodenstedt fertig bringt. Und nicht, daß Irans Töchter Am Heimweh zugrunde gehn. Sie gleichen den Säulen Persepolis, Die ewige Zeiten stehn. Zwar nahm er deutsche Töpfe Mit heimischer Erde her, Und zwängte die fremden Gäste hinein, Und knipp und stutzte sie sehr; Doch gingen sie veredelt Hervor aus des Künstlers Hand Und paßten sich unserem Klima an, Als wäre es im Morgenland. Betritt man Bodenstedts Garten, So ist man vom Duft berauscht; Da glüht es so zaubrisch, da klingt es so fremd, Als wäre die Welt vertauscht.

D e r rote Zapfenstreich 1884 Ringsum die Welt in starren Banden, Das Volk zerknirscht, ingrimmig stumm; Doch eine kleine Schar vorhanden, Die wühlt und wälzt den Boden um. Der Freiheit hat die Schar geschworen Und Recht und Wahrheit sich erkoren. Hallo, hallo! Du Häuflein Streiter, Auf Feinde triffst allüberall! 23

Doch vorwärts, mutbeseelt und heiter, Hinüber, über Schanz und Wall! Der Freiheit hast du laut geschworen Und Recht und Wahrheit dir erkoren. Und wo sie zieht, die Schar der Freien, Da wächst und doppelt sich das Heer. Und lichten sich auch oft die Reihen, Die Woge trost und schwillt zum Meer. Der Freiheit haben wir geschworen Und Recht und Wahrheit uns erkoren. Hurrah, hurrah, mit sicherm Schritte Dringt unser Heer beständig vor. Und Zuversicht und beßre Sitte Erschließen uns der Zukunft Tor. Der Freiheit hat das Heer geschworen, Das Heil der Menschheit sich erkoren.

Wes Brot ich ess', des Lied ich sing 1884 Von garst'gen Sprüchen in der Welt So sehr kein einz'ger mir mißfällt, Als der mit seinem Wortgekling: Wes Brot ich ess', des Lied ich sing. Denn frecher stimmt so leicht kein Spruch, Als dieser da für Lug und Trug, Für Vormundschaft und Nasenring: Wes Brot ich ess', des Lied ich sing. Wer ihn als Losung sich erkor, Verschloß der Wahrheit Tür und Tor; Er knüpft das Recht an den Beding: Wes Brot ich ess', des Lied ich sing. In feigem Knechtessinne muß Er opfern Lust und Liebeskuß. 24

Muß schätzen Weib und Kind gering: Wes Brot ich ess', des Lied ich sing. Ihm glühet nicht der Sonne Gold; Kein silbern Sternlein dünkt ihm hold; Er rechnet bei des Monds Geblink: Wes Brot ich ess', des Lied ich sing. Wer dieses Wort im Ernste sagt, Hat feiger Selbstsucht sich verklagt; Wir schätzen ihn mit Recht gering: Wes Brot ich ess', des Lied ich sing.

Schablone 1886 „Wer nur was Tüchtges leisten tut, Dem geht es schon auf Erden gut" — Singt jemand mir zum Hohne. Ich aber sing: Es ist nicht wahr! Den Ausschlag gibt - und das ist klar: Schablone. Was gut und tüchtig ist allein, Kann heutgen Tages nicht gedeihn, Ihm wird die Dornenkrone! Denn der Erfolg klebt an der Form Und Unterwerfung heißt die Norm Schablone! Die edle Dichtkunst schreitet auch, Die Brust heraus, herein den Bauch, Im Schritt der Bataillone. Es patscht die edle Malerei Durch Sklavenblut und Bratwurstbrei Schablone! Es ist ein Zeichen unsrer Zeit: Die Lüge sich der Gunst erfreut 25

Und steht in hohem Lohne; Die Wahrheit gilt als Antichrist, Weil sie aus Fürstenhand nicht frißt — Schablone! Ein Alligator „Freiheit!" kreischt, Ja, Freiheit, die Gewalt erheischt, Humanem Recht zum Hohne; Die Krokodile nicken stumm Und sehen sich nach Opfern um — Schablone! Am besten auf der schönen Welt, Dem Tagediebe es gefällt. Am Rhein und an der Rhone; Die Früchte reifen ihm zum Schmaus, Und gibt er die Parole aus Schablone! Ob ich mit meinem Morgenlied Mich nicht um den Verlag bemüht ? Du fragst im Lauertone — O ja! der frei'sten Druckerei War meine Muse noch zu frei. Schablone!

Wenn ich König war! 1886 Wenn ich König wär — wenn ich K ö n i g wär. Des Rechtes ich mich befleißte; So aber bin ich nur Untertan Und hebe machtlos die Fäuste! Wenn ich König wär — wenn ich K ö n i g wär. Ich wies dem Gesindel die Zähne! So aber bin ich ein zahmer Leu Und*schüttle wild die Mähne. 26

Wenn ich König wär - wenn ich K ö n i g wär, Die W a h r h e i t wollt ich nur hören! S o aber bin ich ein denkender Mensch Und lasse mich n i c h t betören! Wenn ich König wär - wenn ich K ö n i g wär, Die F r e i h e i t würd ich befördern! S o aber nur bin ich ein trotz'ger Rebell Und fluche der Freiheit Mördern! Wenn ich König wär - wenn ich K ö n i g wär. Was b r a u c h t e ich Schranzen und Schergen? So aber nur bin ich ein Proletar Und kann meinen Groll nicht verbergen. Wenn ich König wär — wenn ich K ö n i g wär, Ich w o l l t e die Heuchler schon fassen! So aber bin ich ein weißer Sklav Und kann nur g l ü h e n d hassen! Wenn ich König wär — wenn ich K ö n i g wär, Und hätt im Reich nichts zu sagen, So stieg ich vom T h r o n e , kutschiert' in die Welt, Die F r e i h e i t mir zu erjagen. Wenn ich König wär — wenn ich K ö n i g wär. Ich stünde wie Ludwig im Garten ; Doch weil ich nun einmal nicht König bin, So will ich den Ausgang erwarten.

Elegie eines Zeitungsbogens 1887 Ich war einst nur ein Lumpen, ganz zerfetzt Und schmutzig unter Moderknochen. Verachtet stets und stets zurückgesetzt, So modert' ich im Winkel viele Wochen. Da zog man mich hervor aus Schutt und Kot, Um auch aus mir noch einen Deut zu schlagen: 27

Zu den Geschwistern ward ich von Frau Not Auf einen wirren Lappenberg getragen. In ihre Kiepe stopfte uns die Frau — Hei! wie wir Lumpen uns zusammenfanden! Wir grüßten uns und schmunzelten gar schlau Und lächelten vergnügt, daß wir vorhanden. Frau Not trug uns zu Meister Lumpenhund, Der kaufte uns für einen schmutz'gen Dreier. Dann wusch er uns und wog uns, Pfund für Pfund, Und wir begrüßten ihn als den Befreier. Drauf sind wir noch durch manche Hand spaziert: Es kamen finstre Männer, blasse Frauen. Nach Stoff und Ursprung wurden wir sortiert,,, Um dann zu Brei zu brodeln und zu brauen. Mit Lilientugend ward der Brei gefärbt Und dann in dünnen Kuchen ausgegossen; Und dünner ausgezogen und gegerbt Und abermals mit Jungfernweiß durchschossen. Dann ward die Form geglättet und gewalzt, Und drauf zu gleichem Schnitt herausgezogen Geprüft von Kinderhänden und gefalzt, Und siehe da, ich war ein weißer Bogen. Kein Wort mehr von verschwundnem Lumpentum! Doch was ich bin und was ich nun bedeute, Den neuen Glanz, der Reinheit höchsten Ruhm, Verdanke ich dem Fleiß der Arbeitsleute. Herr Lumpenhund ließ mich und andre mehr Zu Buch aufschichten und zu Ries und Ballen. Dann stellt' er uns in hohen Säulen her Und läßt uns stehn und träumen, nach Gefallen. Doch wie erstaunt' ich, als ich links und rechts Die Schwestern bunt und farbenreich erblickte! Ich blähte mich des edleren Geschlechts, Das sich mit keinem fremden Blut verquickte. 28

Mein Hochmut kam jedoch vor meinem Fall Und tiefer als die Schwestern sollt ich sinken! Ich war erkoren, vor den andern all Das schwarze Gift der Heuchelei zu trinken. War ich doch nie zu Glanz und Schein gelangt! War ich doch unentdeckt im Kot geblieben! Dem Schimmer hab ich diesen Schimpf verdankt, Daß mich ein Lump mit Lug und Trug beschrieben. Mein Herr verkaufte mich dem Redakteur Der „Lügenpost" mit vielen der Genossen: So kam ich rein und unbesudelt her. Und rasch ward ich mit Stinkstoff Übergossen. Das Brandmal hat mich fürchterlich erschreckt! Und wie man auch die Hieroglyphen drechselt, Ich bin zum Lump gestempelt und befleckt, Nur der Artikel an mir hat gewechselt. An meiner Stirn wird Lumpenhund gelobt, Weil er's versteht, das Arbeitsvolk zu hetzen, Und weil er wie ein Sklavenzüchter tobt Und stets versteht, den Lohn herabzusetzen. Das ist zu schwarz für meinen reinen Sinn! Nun hat die Schmach des Daseins erst begonnen I Soll ich beschimpfen, weil ich wehrlos bin, Die fleiß'gen Menschen, die ich liebgewonnen? Erhielt ich drum das blütenfarbne Kleid, Es preiszugeben niederer Gemeinheit? Bin ich erkoren, der Verworfenheit Des Redakteurs zu opfern meine Reinheit? O daß ich doch geblieben, was ich war! Daß ich vermodern durfte in der Ecke! Jetzt biet ich mich dem Krötenzwange dar, Nachdem ich auferstanden aus dem Drecke! Und du, mein Setzer, schaust betrübt mich an? Und du mußt deine eigne Schande drucken? 5 Adoli Lepp

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Bist du ein Kind, und bist du nicht ein Mann? Und mußt du dir ins eigne Antlitz spucken? Für dieses karg bemeßne Hundebrot Entwürdigst du das Selbstgefühl der Brüder? Macht dich die Selbsterniedrigung nicht rot, Und senkst du nicht voll Scham die Augenlider? Wirf hin die Peitsche, die du über dein Und deiner Brüder Fleisch bisher geschwungen! Ruf deinem Dränger zu ein donnernd: Nein! Ich hab mich nicht zu Lug und Trug verdungen! Die Wahrheit will ich setzen oder nichts! Und eh ich lüge, will ich Hungers sterben! Ich bin ein Kind der Freiheit und des Lichts Und will nicht in der Sklaverei verderben!

Der Leiermann

1887 Heut hab ich eine gute Tat vollbracht, •Und hat sie mir keinen Schaden gemacht. Es kam ein Krüppel auf einem Bein Und leierte Jammermelodein. Er humpelte, leiernd, die Straße entlang Mit seinem Vaterlandsbetteldank. Die Kinder umstanden ihn, folgten ihm, Die Weiber wisperten ungeziem: Der Tag war so sonnenfreundlich mild, Das Menschenherz stak hinter Panzer und Schild. Doch niemand, der ihm ein Almosen bot. Da lockte ich meinen Knaben heran, Der trug einen Nickel zum Leiermann, Vor aller Augen — ich tat's nicht gern! Die Nachbarn bemerkten's von nah und fern. Die Blicke erglommen in düsterem Haß: „Da schenkt ein Lump dem andern etwas!" 30

Jetzt griff der erste ins Portemonnaie, Hob zögernd den schwersten Pfennig zur Höh, Und zögernd folgten die andern sodann Und trugen Münzen zum Leiermann: Auf einmal wurden die Ottern warm Und spien Almosen — daß Gott erbarm! Von den Fenstern herab auf den Bürgersteig Erklirrten die Kupfer, so bang und weich; Die Kinder berief man zur Türe zurück, Sie brachten dem Leiermann manch ein Stück; Der Spießer da drüben gab auch eins her, Das glaubte ich nun - und nimmermehr! Zwar sprachen die Augen gar deutlich im Groll „Der Lump uns beschämen! es wäre zu toll!" Zwar wüßt ich's genau: sie gaben zur Schau Und ärgerten heimlich sich scheckig und grau; Der Leiermann aber hat herzlich gelacht Über die reiche Ernte, die er gemacht.

Einer Farbigen ins Stammbuch 1887 Schwarze Dirne, wilde Dliwa! Zeigst mir Wad und Fuß. Weißt du nicht, daß eine Jungfrau Drob erröten muß ? Schwarze Dirne, wilde Dliwa! Wie so bloß die Brust? Meiner Schwestern Wespentaillen Sind dir nicht bewußt? Schwarze Dirne, wilde Dliwa! Zeigst mir Elfenbein — Unsre klugen Frauen fügen Silberzinken ein.

Schwarze Dirne, wilde Dliwa! Bleib dir stets getreu! Deine dunklen Reize trotzen Unsrer Heuchelei. Schwarze Dirne, wilde Dliwa! Oh, wie stolz bist du! Unsre Mondscheinfräulein decken Falsche Wünsche zu.

Ich 1887

Ich bin ein Ich Und bin kein Wir: Es äußert sich Ein Geist in mir. Und weil ich bin. Drum will ich sein; Das heißt: ich bin Für mich allein. Das heißt: ich bin Mir eine Welt, Die Stoff und Sinn Zusammenhält. Und bin doch nur Ein kleines Ding In der Natur Geschloßnem Ring. Bin zwanglos nie: Ein einzeln Glied Der Kette, die Das All umzieht. Mein Wert ist echt: Ich finde statt

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Und hab ein Recht, Das jeder hat. Und hab als Teil Gebundne Pflicht: Des Ganzen Heil Versäum' ich nicht.

Meine Herren, ich danke schön 1887 Kam Herrn Klunker etwas vor, Was ihm über den Jordan ging, Hob er ernst sein Haupt empor Und die Antwort klang gering: „ Solch ein Wunder möcht ich sehn! Meine Herrn, ich danke schön!" Von dem Manne hört ich dies Faselwort ohn Unterlaß, So, daß es mich nie verließ, Bis es wohlgebunden saß; Öfters wo noch hört ich wen: „Meine Herrn, ich danke schön!" Klagt der Bauer seine Not: „Heuer wird die Ernte schwach, Wir bekommen teures Brot, Weil am Hals nichts wachsen mag." Bin ich blind und kann nicht sehn? Meine Herrn, ich danke schön! Wälzt ein Fleischkoloß sich her, Keucht vor Fett und wispert bang: „Luft! das Atmen wird mir schwer, Bin g'wiß an der Schwindsucht krank!" An der Fettsucht oder am Spleen? Meine Herrn, ich danke schön! Eine junge Hexe fuhr Abends auf dem Karussell, 33

Als beinah zu End die Tour, Warf das Pferd sie ab, blitzschnell; Puh, was kriegt ich da zu sehn? Meine Herrn — ich danke schön! J a , die Volksvertreter sind Auf des Volkes Wohl bedacht! Aufgeschoben wird geschwind, Daß die Steuerschraube kracht. Soll das ewig fort so gehn? Meine Herrn, ich danke schön! Tritt der Putz in mein Gemach, Bringt ein Magistratsdekret; Nimmt ein Buch, das offen lag, Forschend, was darinnen steht; Wie wir in der Aufsicht stehn! Meine Herrn, ich danke schön! Ist mein Liedel nun zu End, Wohl Ihr Beifall mich entzückt; Doch, wie ichs auch dreh und wend; Will man mein Textbuch sehn. Meine Herrn, ich danke schön! Da capo! Nur Geduld, ich bin schon da! Auch die Damen applaudiern? Schonen Sie die Händchen ja! Es kann mich zu Tränen rührn Finde keinen Reim als den: Meine — Damen, ich danke schön!

Letzter Wille

1888 Ich weiß es, daß ich herzkrank bin, Und meine Lunge schwindet hin. Bald ist's um mich geschehn; Dann will der Kerl begraben sein, 34

Ich soll in einen Sarg hinein, Doch, woher nehm ich den? Ihr meine Lieben, hört mich an! Tut mir das letzte Leid nicht an Und hungert für den Sarg! Werft mich ins erste beste Loch Und deckt mich zu, drei Ellen hoch, Und zwar ohn Zag und Arg! Hier ruh ich friedbeseligt aus Von jeder Angst, von allem Graus, Und ihr vergeßt mich nicht! Die Sorge um den Sarg sei euch Erlassen! Oh, ich liege weich In meiner schwarzen Schicht. Verbrennen hätt ich wohl gemocht, Wie ein entölter Lampendocht; Zu teuer ist der Spaß! Wenn ich der Menschheit nützen muß, So senkt mich in den nächsten Fluß, Dem Fischgetüm zum Fraß. Wie wird sich baß der Fischer freun, Ob all der feisten Fischelein, Die sich an mir geletzt! Die Damen ahnen nicht den Trug, Und schmecken fein und loben klug, Wenn mich ihr Zahn zerfetzt.

Der Erbfeind

1888 Ach, wenn ich ihn vergiften könnte, Die Sünde wär mir nicht zu groß; Ach, wenn ich ihn erschlagen könnte, Ich ginge mutig auf ihn los; 35

Ich möchte ihm zu trinken geben Denaturierten Spiritus; Ich möchte auf dem Scheiterhaufen Ihn brennen sehn wie Johann Hus. Denn an dem Unglück, an dem Elend, Das uns so tiefe Wunden schlägt, An allem Schlimmen, allem Bösen Die Schuld allein der Erbfeind trägt. Er hat's verschuldet, daß die Steuern Gewachsen sind von Jahr zu Jahr; Die gute Presse hat's verkündet, Da ist es ganz gewißlich wahr. Wie lebten wir so froh, so friedlich, Wenn nicht der böse Erbfeind wär. Wir brauchten keine Panzerflotte, Wir brauchten auch kein Militär, Wir könnten von dem vielen Gelde, Das unsre Soldateska frißt, Ein gar gemütlich Leben führen, Wie es des Menschen würdig ist. So aber müssen wir uns rüsten Und müssen opfern unser Blut Und müssen Hypotheken nehmen Auf unser Feld und unser Gut. Denn Krieg will er mit uns beginnen Und will verwüsten unser Land, Drum ist es besser, mit dem Gelde Als mit dem Hofe abgebrannt. Ja, die verkommenen Franzosen, Die schänden Tochter uns und Weib, Die letzte Kuh in unserm Stalle Entführen sie zum Zeitvertreib. Wer ihren Gelddurst nicht befriedigt, Den machen sie gleich kalt und still. Drum ist es besser, wir berappen. Wenn die Regierung Steuern will. 36

Wilhelm Hasenclevers Nekrolog W. H. starb am 3. Juli 1889 zu Charlottenburg

1889 Freund Hasenclever, nun bist du tot! Beendigt ist deines Geistes Not: Man hat dich gedrangsalt, verfolgt und gehetzt, Bis du den Verstand verloren zuletzt. Das nimmt mich nicht Wunder! bei uns zu Land Verliert man gar leicht den Menschenverstand! Denn, was unsereins für unmöglich hält, Es lacht uns ins Antlitz vor aller Welt. Du hast deine Schuldigkeit auch getan Und mannhaft durchschritten die Lebensbahn. Das Volk wird deiner gedenken, Freund, Und dankbar sagen: „Er hat uns geeint!"

August Geibs Totenfeier

188g Mein August Geib! heut Sind's halt zehn Jahre, Daß du die treuen Augen geschlossen; Trauernd umstanden Sinnungsgenossen Deines Martyriums Friedliche Bahre. Treuer wohl hat noch Keiner gerungen Für der Enterbten Heilige Rechte! Immer voran im Heißen Gefechte, Ist auch zu mir dein Weckruf gedrungen. 37

Aber erstarrt sind Die Feuerlippen, Die uns Erlösung Donnernd verkündet! Ist des Piloten Iris erblindet An der Schikane Riffen und Klippen. Nimmer nun läßt du Rhythmisch erdröhnen, Der du die Schlacht bei Hemmingstedt sangest, Die Werbetrommel, Die du einst schwangest! Nimmer des Zornes Donner ertönen. Dir sei, o Vorbild, Ewiger Friede! Um uns im Herzen Ewig zu leben, Uns zu ermut'gen Zum Vorwärtsstreben! Lebe im Volke! Lebe im Liede!

Beim Drechsler 1889 Die Drehbank surrt — ich trete Beim Drechslermeister ein: „Ach Nachbar, lieber Nachbar! Willst du mir gefällig sein? Ich hörte deines Rades Eintönigen Surregesang; Du bist wohl auch ein Dichter, Der Formvollendung erzwang.

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Hier ist ein Holzklotz; habe Bereits dran rumgeschnitzt! Doch knorrig ist er geblieben, Es hat mir nicht viel genützt. Dein unwiderstehlich Messer Schafft Rundung, wie man sieht; Ach Nachbar, lieber Nachbar, O drechsle mir doch ein Lied!" Der Meister besieht den Kloben: „Hm! ästig, spröde und hart: Das ist ein Naturerzeugnis Gar eigentümlicher Art. Ich will dir ein Lied wohl drechseln, Allein aus gefügigem! Stoff Hieran zerstoß ich mein Messer, Der Kloben ist mir zu schroff!"

Die Gespensterscheuche 1889 In unserem Hause geht's spuken! Das ist mir nun ganz gewiß: Da rüttelt es an den Luken Und seufzet in Fis und Cis. Da poltert und holpert es droben Und schlürft fremdartig und schleicht. Und doch ist niemand da oben, Dem dies Getrippel gleicht. Du wunderst dich, Weib, vergebens, Daß nie du Gespenster gesehn, Und machst gar viel des Erhebens, Daß sie aus dem Wege dir gehn? 39

Du bringst mich, Inster, zum Gähnen, Mag's dich befremden - allein Es gibt Gespenster, vor denen Sich die Gespenster scheun.

Das Dichterhirn 1889 Oh! wie oft hab ich mir selbst versprochen, Reimen nicht zu wollen mehr. Immer hab ich mir das Wort gebrochen, Denn, es fällt mir gar zu schwer, Wieder geht mein Hirn mit Jamben schwanger, Mag ich's wollen oder nicht! Und sie reihn sich im Gedankenanger Ganz von selbst zum Spottgedicht. Ruft mir drum nicht zu: stell ein das Dichten! Die ihr diesen Drang nicht kennt! Eher könnt ich mein Gehirn vernichten, Als ich es entfruchten könnt. Reicht mir das Pistol: ich will mich töten — Da! ihr Hunde, nehmt sie hin, Die zersprengte Schale! Habt's vonnöten: Freßt! es ist mein Hirn darin. Wundert euch dann aber nicht, wenn plötzlich Lauch euch aus dem A — 1 — wächst! Dieses Keimvermögen ist entsetzlich, Und mein Hirn ist schier verhext. Auch die Rüden haben ihre Lieder; Nur, daß wir sie nicht verstehn. Freßt ein Dichterhirn und heult dann wieder: „Laß — uns ängstigt dein Gestöhn!"

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Unvermögen 1889 Ihr macht den milden Einwand mir, Daß meine Muse viel zu frei. Ich kann nicht kriechen so wie ihr Fuchskatzen um den heißen Brei! Wenn ich auch wollt, ich könnt es nicht! Drum durch! bis daß der Säbel bricht.

A n R. 188g Du hast mir auch ein Spottlied dargebracht, Ich habe herzlich auch gelacht. Warum hast du's so schlecht gemacht?

Nachtgenossen 1889 Bei der Arbeit liegt ein Zettel Und ich kritzle drauf herum. Ach, ist das ein Lumpenbettel, Handarbeit und Griechentum. Vor das Forum meiner Feder Ford'r ich die Gespensterschaft, Und gehorchen muß ein jeder Meiner Formel Zauberkraft! Räuber, Mörder, Schergen, Schranzen Und die Opfer fremder Gier. Pfeife ich, sie müssen tanzen, Polka, Walzer, Hopchargier.

Die Gespenster hüpfen drollig Durcheinander, hopla hop! Sind sie ungefügig, schmoll ich, Sind sie störrisch, werd ich grob. Doch in meiner Arbeit stören Laß ich mich deswegen nicht! Denn ich muß mein Volk ernähren, Da mir's doch am Geld gebricht. Aber nur bei Lampenscheine Nimmt der Spuk sich farbig aus! In der Mitternacht alleine Wimmelt es in meinem Haus. Doch bei Sonnenlicht erbleichen Die Gespenster, weil sie nie Sichre Konsistenz erreichen; Poesie bleibt Phantasie. Immer meines Winks gewärtig Ist der Spuk — der Morgen früht, Und der Hände Werk ist fertig, Und vollendet ist das Lied. Schatten, Schatten, schwebet nieder! Längst vorbei ist Mitternacht! Morgen nacht erscheint ihr wieder, Denn es wird ein J u x gemacht.

Mein Dünkel

1889 Ich bin nun freilich kein Schiller, Das ständ mir auch schlecht zu Sinn! Doch bin ich vielleicht ein Müller? Und wenn ich auch das nicht bin, Dann meinethalben ein Triller! So trillre ich für mich hin. 42

Auch bin ich kein zweiter Goethe, Und möcht es auch gar nicht sein! Der eine bläst die Trompete, Der andre nur Feldschalmein ; Ich halte es mit der Flöte Und blase duse darein. Ich mag mich nicht überheben, Es wäre auch gar zu arg! Was mir die Götter gegeben, Das ist ein wenig zu karg! Der Lorbeer ist nicht mein Streben Legt mir den Flieder zum Sarg! Cerodetosgetriller und Flieder Verschmolzen in Ton und Duft! So fließet, ihr simplen Lieder, In die narkotische Luft! Und steig ich zum Styx hernieder, Umsäuselt des Hirten Gruft.

Lavant, mein Liebling

1889 Ich kenne einen Dichter, Der singt ein Liedelein, Das soll vor allen Liedern Mir Favoritin sein. Für diese Favoritin, Von keuschem Mädchensinn, Gab ich die Pfauenaugen Der Junovögel hin. Für diese Favoritin, So sinnig und so stolz, Verbrenn ich selbst die Puppen Aus meinem eignen Holz.

Der Dichter hat den Göttern Am Heiion gelauscht, Und in der Hypokrene Sich für die Kunst berauscht. Die Musen haben freundlich Den ernsten Gast bedacht, Und Grazienaugen lugen Aus feines Liedes Pracht. Er hat an Memnos Säule Die Leier reingestimmt, Die noch in Eos Strahle Im ersten Frührot flimmt. So kämpft mit der Chimäre Mein zweiter Bellerophon, Und hat sie auch drei Köpfe, Es siegt der Musensohn. So hat er Andromeda Vom Ungetüm befreit, So hat er der Minerva Medusens Haupt geweiht. Ein Perseus, der die Ketten Der Jungfrau kühn zerbricht, So kämpft er für die Freiheit, Doch, er verläßt sie nicht! Und wenn der wilde Triton Auf seiner Muschel tobt, So hat des Sängers Stimme Sich auch im Sturm erprobt. Den trunknen Dyonisos Samt Faunen und Silen Und taumelnden Mänaden Läßt er vorübergehn. Und nicht nur, daß der Sänger Die Meisterschaft bewährt, 44

Sein Lied bezeugt Gesinnung, Die manch ein Lied entbehrt! Drum hüpft mein Herz vor Freude Bei seines Liedes Klang, Und läßt den Liebling leben, Den Göttersohn: Lavant!

Der Pastor i8go „O bete! o bete mit mir, mein Sohn! In Demut und Wehmut vor Gottes Thron. Gott gebe dir Glauben und Frömmigkeit Und himmlisches Glück für irdisches Leid." „Ich will aber nichts vom himmlischen Glück. Erobern will ich die Erde zurück. Herr Pastor! Herr Pastor! es tut mir leid: Ich habe zum Beten keine Zeit." „O danke! o danke dem Geber dort Für sein zu Fleisch gewordenes Wort. Er hat dich von allem Übel erlöst, Den heiligen Geist dir eingeflößt." „Von allem Übel? Das seh ich nicht ein. Es herrscht der Hunger mit zwiefacher Pein. Herr Pastor! Herr Pastor! fürs karge Brot Zu danken, das hat keine Not." „Knie nieder, knie nieder, ich zwinge dich! Der Herr ist zugegen und schlägt dich durch mich. Du bist verblendet, du wardst verführt, Erleide die Strafe, die dir gebührt." „Ich denke: wir seien erlöst von der Sünd? Ich laß mich nicht schrecken und bin kein Kind. Herr Pastor! Herr Pastor! das fehlte mir just. Ich habe zum Knien keine Lust." 6

Adolf Lepp

„Verloren! verloren die Seele dein! Du wirst, wenn du stirbst, in der Hölle sein. Es schleicht ein brüllender Löwe herum Und raubt die Lämmer dem Christentum." „Der brüllende Löwe, der bist du! Laß mich mit deinem Geschwätz in Ruh. Herr Pastor! Herr Pastor! ich sage dir: Die Hölle ist schon auf Erden hier."

Der jüngste Tag 1890 Ich lieg im Grabe, schnarche da Im tiefsten Seelenfrieden; Auf einmal hör ich: „Tsching tatra! Heut wird eu'r Los entschieden! Ihr Seelen träumet, säumet nicht: Der Herrgott hält sein Weltgericht!" Und rings die Leichen, schreckensblaß, Ausrecken ihre Nasen: „Ist denn im Himmel Feuer, daß Sie so barbarisch blasen? Posaunenengel, hör einmal, Was machst du einen solchen Mordskandal?" „Ist Butterrevolution bei mir Zu Haus ums karge Futter? Es klingt, als ob die Kürassier' Das Volk zerhaun wie Butter. Mit kaltem Eisen, kaltem Blei Beschönigt man die Sklaverei." „Posaunenengel, trolle dich! Was störst du unsern Frieden? Das Erdenlos war fürchterlich, Das uns dein Herr beschieden. Wir mögen hören nichts, noch sehn, Und auch nicht vor Gerichte stehn." 46

„Trara, trara! Tschingtra! Bum, bum! Der Herr befiehlt: erwachen! Ihr dreht euch auf der Seite um? Das sind mir schöne Sachen. Steht auf! Für alles Erdenleid Entschädigt euch die Seligkeit." Das hilft! Die Seelen suchen sich Zusammen ihre Glieder, Ich aber lege heimlich mich Zum Weiterschlafen nieder, Was kümmert mich der jüngste Tag. Ich hab genug am Ungemach. Da stößt der Engel mit dem Fuß Mir zornig in die Seele : „Ist das die Antwort auf den Gruß? Gehorche dem Befehle! Such deine Knochen schnell zusamm'. Na, wird es bald? Daß Gott verdamm!" Da fahr ich aber in die Höh: „Ich hau dich gleich, du Lümmel! Was tust du mir im Grabe weh? Scher dich in deinen Himmel. Laß mich in Frieden, Bösewicht. In deinen Himmel will ich nicht!" „Halleluja!" der Engel sang; „Hosianna und Eleison! Ob du nicht dulden brauchst den Zwang. Das werd ich dir beweisen." Der Engel fluchte auf Latein Und deklamierte Litanein. „Ach, wenn ich doch Latein verstünd'! Wie wollt ich damit prunken. Die Schule war mir nicht vergönnt Und blieb mir ganz verstunken. Nun soll ich in den Himmel 'nein, Und ich versteh kein Wort Latein." 6*

Der Blaseengel aber sprach: „Das ist halt nicht vonnöten. Man spricht dort Volapük bei Tag, Und nachts bläst man Trompeten. Und seit dem neuen Kaiserreich Spricht man auch deutsch im Himmelreich." „Ja, ja, das glaube ich dir gern: Mit Trommeln und Kanonen. Bestell ein Kompliment dem Herrn: Ich möcht nicht bei ihm wohnen. Ich bin mit Deutschland fertig nun Und habe nichts mit ihm zu tun." „Ich bin des Herrgotts Polizei Und muß dich arretieren. Und werde, sprichst du gar zu frei, Dich höflichst denunzieren; Dann kriegst du einen Landsverweis Und macht man dir die Hölle heiß." „Ach ja, führ mich zur Hölle hin. Der Teufel ist gemütlich, Ich glaub, ich treff Bekannte drin, Die dort sich tuen gütlich. Die Hölle war auf Erden mein, Nun soll auch meine Seel hinein." „Du bist gewiß ein Anarchist, Wie Most und die Chicager?" „ 0 nein! ich bin nur Sozialist Aus Marxens großem Lager." „Dann vorwärts! marsch! zur Hölle gleich! Dann darfst du nicht ins Himmelreich." Schau dort die armen Seelen an, Wie sie sich echauffieren. Die dort ihr Herz nicht finden kann, Und die sucht ihre Nieren. Und jener fehlt das Schlüsselbein, Und die muß ohne Rüssel sein. 48

Und wie sie alle gräßlich sind, Verwittert und vermodert. Ist denn der Herrgott farbenblind, Daß er Gespenster fordert? Für die Gesellschaft dank ich schön. Ich kann sie nur mit Grausen sehn. Doch meine Stoffe waren auch Zersetzet und entbunden Und hatten sich als Asch und Rauch Zu neuer Form gefunden: Die Würmer fraßen mir den Steiß Und meine Leber fraß — wer weiß? In aller Eile suchte ich Nach meinen sieben Sachen. Und God dam! englisch fluchte ich: Nichts könnt ich passend machen; Ein großer und ein kleiner Fuß, So daß ich ewig hinken muß. Auch eine Rippe war mir schon Aus dem Gerüst gestohlen; Mein armes Rückgrat stak im Ton, Drauf lagen Kalk und Kohlen; Bakterien fraßen mir die Lung Und Wasserratten Ohr und Zung. In diesem Zustand konnte ich Nicht vor Gericht erscheinen. Das wär ja ein Affront für mich: Mit mangelnden Gebeinen. Ich sann auf eine Türkenlist, In der sich fing der Polizist. Da gab es eine Rauferei: Zwei Lumpenseelen schlugen Sich um ein Fell, das alle zwei An beiden Enden trugen. Der Polizist ging mutig vor Ich legt mich wieder auf das Ohr. 49

Die wilden Franzosen 1890 Die wilden Franzosen, Sie küssen und kosen Und paaren sich Und zeugen Kinder Und sterben als Sünder Und bahren sich. Wir Deutschen dagegen Sind nicht so verwegen, Sind sittlich und rein: Die Kindlein, die frommen, Vom Klapperstorch kommen Und beten und schrein. Die wilden Franzosen, Sie rasen und tosen Herum im Tanz; Fidel und heiter, Hop hop! und so weiter Im Wirbelkranz. Wir Deutschen hinwieder, Wir dehnen die Glieder Im Walzertakt — Wir drehen uns zierlich Und bärenmanierlich Und fest gepackt. Die wilden Franzosen, In blutigen Hosen Gehn sie zur Schlacht; Das ist doch entsetzlich, Wenn man sich plötzlich So blutig macht! Wir Deutschen hienieden, Wir lieben den Frieden, Das sieht man am Kleid:

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"Wir starren in Eisen, Der Welt zu beweisen Die Friedfertigkeit. Die wilden Franzosen, Sie pflücken die Rosen Und Veilchen weg! Da sind wir bescheiden: Wir treten mit Freuden Die Veilchen in Dreck. Die wilden Franzosen, Sie würfeln und losen Um Geld und Glück. Wir Deutschen verschmähen, Das Glücksrad zu drehen, Krocket und Crick. Die wilden Franzosen Metamorphosen Sind fürchterlich; Sie schnauben und schnarchen, Befreit vom Monarchen, Ganz unter sich. Wir deutschen Knaben Doch wenigstens haben Einen Kaiser und Herrn! Nach Freiheit zu trachten Und Fürsten zu schlachten, Das liegt uns fern.

Ein Traum i8go Die Trommel wirbelt, das Horn erklingt, Ich sah mich von Häschern und Schergen umringt Und wand mich vergebens in ihrer Gewalt, Man schleifte mich fort ohn Aufenthalt.

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Unzählige Gaffer liefen zu Häuf — Man schleppte bergan mich die Straße hinauf. Ich hatte ein hämisches Publikum, Die Schadenfreude, sie blieb nicht stumm, Und Staunen und Grausen in jedem Blick! Und kein Erbarmen mit meinem Geschick! „Das ist er! — Da geht er! — Da haben sie ihn! Es geschieht ihm schon recht! 's ist nicht schade um ihn! Der Narr, der uns stets mit Raketen bewarf! Seine Reden sind spitz, und das Fallbeil ist scharf!" So zischelt und wispert es deutlich herum, Laut schrie wohl mein Herz, doch die Zunge blieb stumm. Der Gedanke, verkannt und verworfen zu sein, Empörte mein Selbstgefühl, kränkt mich allein! Sie, die mir den blutigen Abschied trübt, Die Menschheit, ich habe sie stets geliebt. Und was ich auch dachte, dichtete, sprach, Stets war es der Kummer um ihre Schmach. Und hab ich um sie gemurrt und gegrollt, So hab ich doch stets nur ihr Bestes gewollt; Nun freut sie sich meiner schimpflichen Not! Ach, war ich erlöst doch, wär ich erst tot! Da blitzt mir das Fallbeil entgegen schon, Da ist mir auf einmal mein Mut entflohn; Ich zucke zusammen und bleibe stehn — Die Schergen zwingen mich, weiterzugehn. Die Schergen — ob Schergen auch Menschen sind? Für Wahrheit taub, für Gerechtigkeit blind. Es kommt mein Bruder des Weges daher, Er sieht mich nicht an und erkennt mich nicht mehr? So soll ich, von Freund und Bruder verlassen, Als Sünder auf dem Schafott erblassen? Nun stockt die Menge; es hält der Zug Am Fuß des Schafotts — ich weiß genug! Die Feigheit durchbebt mir Mark und Gebein, Doch nein, ich darf nicht zaghaft sein! 52

Drum vorwärts, wie stets, die Stufen hinan! Die Memmen erzittern, ich sterbe als Mann! Der Prokurator zerbrach den Stab, Indem er dem Henker mich übergab; Und eh ich die Zeremonie verstand, Da fühlt ich des Henkers wuchtige Hand, Die er bedeutsam ans Opfer gelegt, Das schwer nur atmet und kaum sich regt. Im Augenblick, Scherge, bin ich bereit! Es lebe der Geist der neuen Zeit! Der Tag der Vergeltung ist nicht mehr fern! Es lebe die Freiheit! So sterb ich gern. Ein Trommelwirbel — der Henker zog Mich mit sich, indem er mich niederbog; Er zwang mich mit roher Gewalt ins Knie Und pfercht mir den Kopf in ein Lederetui. Da saß ich nun, gleich der gefangenen Maus, Im Ohr mir dumpfes Wogengebraus. Und vor dem Auge Flammen und Blut Und Blässe im Herzen und keinen Mut! Ich glaubte zum Stillstand gekommen die Zeit, Mir ward die Sekunde zur Ewigkeit. Da hört ich ein pfeifend Geräusch — das Beil Geriet in Bewegung mit stürmischer Eil; Und näher und näher kam das Geschick! Und blitzschnell saß es mir im Genick. Eiskalt und haarscharf — ein Ruck und ein Zuck, Ein unwiderstehlicher, knirschender Druck — Da war mir der Kopf vom Rumpfe getrennt, Doch war meine Folter noch nicht zu End. Ich fühlt eine heiße, unsägliche Qual, Die Nerven erbebten mir allzumal. Aus ihren Höhlen getreten war Meiner rollenden Augen grausiges Paar. Mir zuckten die Lippen fortwährend — fest Hielt ich die Zähne zusammengepreßt. 53

Und was ich sah, das erschien mir rot Ich war nicht lebend und auch nicht tot. Doch eh mir die Besinnung entschwand, Da nahm mich der Henker als Kopf in die Hand Und griff mir ins Haar und hob mich hoch „Rebell", so schrie er, „lebst du noch?" Da saßen die Richter, so rot wie Blut, Und unten wogte die Menschenflut; Und hier erschien mir mein eigner Rumpf Als Grausen erregender, zuckender Stumpf! Die Sonne erlosch, und ich sah nichts mehr, Doch schärfer und feiner ward mein Gehör; Und zwischen heimlichem Donnergegroll Erklang eine Stimme so vorwurfsvoll : „Was hat verbrochen der arme Tropf, Daß man ihm raubte den jungen Kopf?" Ich höre den Häscher, der Antwort gibt: „Er hat ein garstiges Buch verübt." Was weiter geschehen, ich weiß es nicht. Entschwunden das gräßliche Traumgesicht.

Lied der Liberalen i8go Und was wir im tollen Jahre erstrebten, Ein einiges Deutschland, wir haben es nun! Heil uns, die die goldene Ära erlebten! Wir können auf unsern Lorbeeren ruhn. Wir haben Bismarck als Schirm und als Schild! Wie hat sich doch alles so herrlich erfüllt! Gedankenfreiheit und zollfreie Rede Ist freilich nur Freunden der Ordnung erlaubt! Der Pöbel, verharrend in ewiger Fehde, 54

Man gibt ihm den Maulkorb und schlägt ihn aufs Haupt. Uns aber wird jedes Begehren gestillt. Wie hat sich doch alles so herrlich erfüllt! Die läst'ge Zensur ist gänzlich verschwunden, Die reichstreue Presse versteht ihren Ton! Zwar hat man aufs neue wohl Ruten gebunden, Doch nur für die Presse der Opposition — Wir sind nicht die Gegner zu schützen gewillt. Wie hat sich doch alles so herrlich erfüllt! Das Ruder handhaben wir Vaterlandsfreunde, Und unser sind Würden und Orden und Amt! Doch Zügel und Zaum für des Vaterlands Feinde! Sie seien zu Knebel und Kerker verdammt! Sie sind kaum zu bänd'gen, gebärden sich wild. Wie hat sich doch alles — so herrlich erfüllt! Wir sind das Volk der Zucht und der Sitte! Wir werfen zu Boden die große Nation! Doch friedlich marschieren mit eisernem Schritte Wir vorn an der Spitze der Zivilisation. Drum haben ein herrliches Heer wir gedrillt. Wie hat sich doch alles so - herrlich erfüllt! Zwar um unser Deutschland zusammenzuhalten. Da brauchen wir Geld und abermals Geld! Denn wenn sich die sträubenden Kräfte zerspalten, So sind wir betrogen, so sind wir geprellt. Das Volk ist die Opfer zu spenden gewillt. Wie hat sich doch alles so — herrlich erfüllt. Drum Steuern und Zölle und wiederum Steuern, Wir haben zu schrauben und pressen den Mut! Und ob wir das Brot auch beständig verteuern, Das Volk ist gefällig, geduldig und gut. Und hungert der Pöbel, der Reichsetat schwillt. Wie hat sich alles so — herrlich erfüllt!

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Der erste Mai i8go Das ist der erste Mai, Parteigenossen! Das ist der erste, vielbesprochne Mai! Hat der Kongreß doch zu Paris beschlossen, Daß dieser Tag für uns ein Festtag sei. So sei willkommen, erster Feiertag, Und überheb uns jeder Müh und Plag. Von der Geschichte laßt mich diesmal schweigen: Die Freiheit hat den Maimond längst geweiht! Er wird auch diesmal seine Kräfte zeigen, Er trägt des Werdenden beblümtes Kleid. Es hat der Mai uns manche Freiheitsschlacht Und manchen Sieg — auch manch ein Leid gebracht. Genossen! Wenn die Reichen Feste feiern. So feiern wir gezwungnermaßen mit, Und wenn die Glocken von den Türmen leiern, So wissen wir: 's ist um die siebte Bitt'. Und wenn wir auch nicht einverstanden sind, Man herrscht uns nieder, wie ein trotzig Kind. Und diesen einen Tag, den wir uns nehmen, Verargt man uns in schnöder Barbarei! Wir sollen uns der Regel anbequemen, Die aufgestellt die schwarze Klerisei. Wir aber wollen keine Kinder sein Und uns für einen Tag vom Zwang befrein! Man fabelt da von vielem Blutvergießen. Hält man für Mörder oder Räuber uns? Wir wollen friedlich diesen Tag genießen Und kostet's Blut, so liegt es nicht an uns. Wir haben niemals unsre Hand befleckt Und unser Banner nie mit Blut bedeckt! O ihr Gewaltigen, die ihr uns grollet, Uns überhäuft mit unverdienter Schmach! Ihr könnt uns weiterknechten, wie ihr wollet, 56

Laßt uns nur diesen einen Feiertag! Ihr habt so vieler Tage Festlichkeit, Der erste Mai sei uns zum Fest geweiht! Wohl hat der Tag geschichtliche Bedeutung: Er fordert kürzre Schicht bei gleichem Lohn! Nicht angenehm berührt euch diese Zeitung, Und ihr empfangt sie gar mit Spott und Hohn. Allein wir sind als Menschen eben auch Berechtigt, zu verschließen unsern Schlauch. Bedenkt: die Wahlschlacht haben wir gewonnen! Aus allen Ländern jubelt es uns zu; Wir haben heut die große Schlacht begonnen Für Arbeitsnorm und angemeßne Ruh! Die ganze Welt blickt freudig auf uns her, Und ein Zurück gibt's nun und nimmermehr! Wir stehen nicht vereinzelt da: es streitet Geschlossen dicht das Proletariat! Die Völker waren längstens vorbereitet, Mit geist'ger Wehr gerüstet zu der Tat. Der ganzen Welt gehört der erste Mai, Die ganze Menschheit fordert: Gebt uns frei! Wir wollen nimmer uns die Köpfe spalten, Wir fordern ruhig unser Menschenrecht. Wir wollen gerne mit euch Frieden halten, Wenn ihr uns nur Gerechtigkeit versprecht! Wenn ihr nur wollt: beendigt ist der Krieg, Und kein Verlust verdüstert uns den Sieg! Doch sträubt ihr euch: wir werden nicht erlahmen. Bis wir auch diesmal unser Ziel erreicht! Wir streiten weiter in der Freiheit Namen, Die niemals einen Schritt zurücke weicht. Wenn auch das große Werk nicht gleich gelingt, Wir werden siegen, siegen unbedingt! Es ist so wenig, was wir fordern — Müssen Wir dennoch hören, daß es euch zu viel? Wollt ihr uns ewig unbefriedigt wissen, 57

Und setzt ihr eurem Aberwitz kein Ziel? Ihr Herrschenden, behaltet euer Glück Und gebt uns unser Menschenrecht zurück.

Gespenster i8go Zwei bleiche Männer marschierten In ihren Zimmern auf und ab. Doch jeder, ohn daß ihm der andre Ein Lebenszeichen gab. Der eine wüßt nichts vom andern, Doch war's zu gleicher Abendzeit. Doch waren die Räume geschieden Sehr viele Meilen weit. Der eine von beiden — ein König — Vibrierend zu sich selber sprach: „Wie werden die Würfel fallen Am Machtentscheidungstag? Zwei Mächte stehen gerüstet Sich gegenüber vor der Schlacht. Es ward mir noch nicht bewiesen, Daß ich die kleinre Macht! Nun will ich mich einmal messen Mit jener unnahbaren Partei! Ich breche die Frucht vom Baume, Und zwar am Ersten Mai! Doch werden auch meine Generäle Entschlossen an die Arbeit gehn? Sonst möchten meine Soldaten Das Ding verkehrt verstehn! Wenn sie sich verlocken ließen Zum Metzgerstreik am Ersten Mai! 58

Was wackelst du, Kopf, im voraus! Dann wärs mit mir vorbei." Der andre der bleichen Männer, Der war ich selbst und sprach zu mir: „Wenn meine Gesinnungsgenossen Doch blieben im Quartier! Kein einz'ger sollte zur Frohne, Doch auch zu keiner Feier gehn! Da möcht ich mal die verdutzten, Die Judasfratzen sehn! Sie wollen uns provozieren! Das leidet keinen Zweifel mehr: Umsonst mit scharfen Patronen Versieht man nicht das Heer! Sie schnarchen und schnauben Rache In lächerlicher Memmenwut, Die Niederlage zu löschen, Sie lechzen nach unserm Blut. Die frommen .Fleischergesellen', Die eben ,Buße' noch getan, Sie möchten heimlich zerbersten, Mißlingt ihr finstrer Plan! Ich zittre für der Genossen Armseliges Leben, frevelnd bedroht! Und morgen um diese Stunde Ist mancher vielleicht schon tot. Doch meine Genossen waren Gescheiter als wir bleichen zwei: Sie gingen nicht in die Falle Am ersten, freien Mai!"

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Gesellschaftsdank i8go Jetzt wird es öffentlich anerkannt, Daß wir die Ordnung nicht stören! Daß wir mit Prügel und Feuerbrand Nicht kämpfen und nicht verheeren! Für unsere Haltung am Ersten Mai Die Herren sich schmunzelnd bedanken! Sie fühlen sich wieder erleichtert frei, Entwunden des Löwen Pranken! Sie mögen nicht wenig erschrocken sein, Nicht wenig gezittert haben, Als sich die Wolken mit Wetterschein Rings zu erkennen gaben! Und was verliert ihr eu'r Selbstvertraun? Was wollt ihr der Zukunft wehren? Es ist unsre Absicht, neu aufzubauen, Aber nicht, die Welt zu zerstören! Nun Daß Nun Und

habt ihr wohl endlich eingesehn, ihr zu kurz uns gemessen! laßt ihr gewähren und lasset geschehn werdet uns nicht mehr pressen?

„Oho! So ist's mitnichten gemeint! Es bleiben aufrecht die Schranken! Wir schonen auch nicht den anständ'gen Feind Und werden uns schön bedanken! Und habt ihr uns auch großherzig geschont, Und nicht bedroht unser Leben, Das wird euch mit Kugeln und Knebeln gelohnt, Ihr werdet es wieder vergeben!"

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Die freisinnige Zeitung i8go Der Freisinn ist unser Element, Doch Treu und Gehorsam dem Kaiser! Dies Evangelium - potz sapperment! Es macht uns nachgerade heiser. Wir wollen mitsprechen im Deutschen Reich, Die Freiheit für uns - den Maulkorb für euch! Die deutschen Brüder in Ostafrika Sind unvernünft'ge Gesellen! Herr Wißmann räumt mit Hurra, Hurra! Auf unter den schwarzen „Rebellen". Das rauchlose Pulver bewährt sich dort Und frißt die schwarzen „Rebellen" fort. Die dahomeyaner Menschenschlächterei Muß von der Erde verschwinden! Indes wir an russischer Barbarei Durchaus nichts Verwerfliches finden. Der Zar aller Reußen handelt als Christ, Der Dahomeyaner ein Heide ist. Die Arbeiter wollen eine Straße ziehn, Die Büttel „mußten" sie sperren! Die Arbeiter wollten ins Wiesengrün, Die Büttel „mußten" sie zerren. Die Büttel „mußten" dazwischenhaun, Doch trafen sie nur Greise und Kinder und Fraun! Die Arbeiter hielten Zusammenkunft, Die Büttel „mußten" sie sprengen! Die Appellation an die Menschenvernunft Soll sich in die Arbeit nicht mengen! Die Büttel „mußten" wie immer brutal Mit scheidiger Waffe säubern den Saal. Die Arbeiter trugen ein Flugblatt herum, Die Büttel „mußten" es stehlen! Die Umtriebler wurden geschlossen krumm, 7

Adolf Lepp

Die Büttel „mußten" sie quälen! Die Sippschaft bleibt natürlich im Recht, Und ob sie sich auch der Gewalt erfrecht! Die Arbeiter hatten den Streik im Sinn, Die Büttel „mußten" verbieten! Die Arbeiter zogen schweigend dahin, Die Büttel „mußtens" verhüten! Die Herren schlössen die Aufwiegler aus, Der Büttel trieb sie zum Hause hinaus. Die Sozialisten sind insgeheim Im Walde zusammengekommen. Die Büttel gingen auch auf den Leim Und hatten Posta genommen. Die Büttel „mußten" von Waffe Gebrauch Wohl machen: Sie schlugen nämlich auf den Strauch. Die Arbeiter sammelten Gelder ein, Die Büttel „mußten" es mausen! Die Arbeiter „müssen" wohl Kinder sein, Die widernatürlich hausen! Doch schafft es die Büttelei nicht mehr, Dann requiriert sie das Militär. Das ergibt dann die schönste Gelegenheit, Das Pulver ohne Rauch zu „probieren"! Die Toten — sie sind uns wahrhaftig leid! Man „mußte" sie visitieren: Die Kugel durchlöchert des Opfers Leib, Man sucht vergebens nach ihrem Verbleib. Von Rauch, der Landgendarmeriegeneral, Ist gestern abend gestorben. Das rauchlose Pulver hat auf einmal Dem Rauch das Leben verdorben: Das Handwerk geht nun ohne den Rauch, Der „Fortschritt" zeigt sich hier eben auch.

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U n d doch! i8go Der erste Mai hat den Gegnern gezeigt, Wie wir die Skrupel vermeiden! Wir haben uns dem Verhältnis gebeugt Und ließen das Recht uns beschneiden. Und doch ward wied'rum Arbeiterblut Leichtsinnig, böswillig vergossen! Das Blut des Volkes, der unsrigen Blut, Das noch beständig geflossen! In Nord und in Süd, in West und in Ost Verübte man Meuchlertaten. Und wir erhalten die Hiobspost Aus allen christlichen Staaten. Das Das Das Der

also, das ist eu'r Christentum? also die Nächstenliebe? ist des rauchlosen Pulvers Ruhm? Trost, der dem Armen verbliebe?

Sogar die französische Republik Hat sich die Finger besudelt! Und dabei wird lustig von Völkerglück Und Freiheit weiter gedudelt! Du arme, geplünderte Menschheit, sprich: Hast du vergebens gestritten? Wann werden die Völker der Erde sich Den Aderlaß einmal verbitten? Wirst du in deiner Gutmütigkeit Auch diesem Schröpf köpf vergeben? Oder reißt dir deiner Langmütigkeit Unendlicher Faden soeben? Ach! Wenn der verratene Proletar Sich mal auf dem Marsche befindet Und seiner Peiniger finstere Schar die große Fehde verkündet! 7*

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Wir lechzen nicht nach Tyrannenblut Und wollen unblutig streben! Doch treibt uns Tyrannenübermut Zu kämpfen für unser Leben! Treibt uns nicht in die Verteidigung, Und liefert uns nicht vors Messer! Es rächt sich die blut'ge Beleidigung, Und friedliches Streben ist besser!

Eine Idee i8go O Volk! Dein Sänger hat wieder Eben mal eine „grandiose" Idee! Ich sehe verstoßen die Kinder der Brüder, Das tut mir im Herzen so weh! Hab ich doch selber empfunden, Was es bedeutet, verstoßen zu sein! Ließen doch auch mich die Hohepriester Nicht zum Tempel hinein! Und es möchten die Reichen Ganz verriegeln dem Proletar Die Paläste der Wissenschaften, Aus Gründen, deutlich und klar. Und jede rechtliche Regung Wird von den Professoren verpönt! Ist doch Hans an die Bratenknochen Der Schmarotzer gewöhnt! Und jede freie Betätigung Hat zur Folge die Relegtion. Gibt es doch prutziger Hänse gar viele, Zu stürzen Altar und Thron! Knechte gestalten nur Knechte! Hunde erzeugen nur Hunde! — Man sieht: 64

Wie die Esel die Welt bevölkern, Wenn nichts dagegen geschieht! Du Volk! Und du nur alleine Vermagst mit deines Willens Gewalt Diesem menschenentwürd'genden Treiben Gebieten ein donnerndes: Halt! 0 Volk! Du darfst deine Freunde, Die für dich einzutreten den Mut, Der Feinde Gnade nicht überlassen Und mußt sie nehmen in Hut! Sie werden es dir einst danken, Wenn du der Bundesgenossen bedarfst Und wenn dich die Dränger doppelt bedrängen. Die du entrüstet verwarfst! Auch sollst du für deine Kinder, Die man dir noch zu entfremden versteht. Besorgt sein, daß sie die graden Pfade Beschreiten, noch eh es zu spät! Daß sie an käuflichen Hänsen, Die ihre Väter Lügen gestraft, Beizeiten ein abschreckend' Beispiel nehmen, Nicht mehr von Armut versklavt. Und hast du mich, Volk, verstanden, So zeige dich in majestätischer Kraft, Und eine Heimstätte der Freiheit stifte, Mach mündig die Wissenschaft! Wohl ist's ein kecker Gedanke, Der unausführbar nur dem erscheint, Der deine unzähligen Einzelkräfte Nicht sah zum Ganzen vereint. Was hast du nicht schon geleistet, Du Menschheit, so arm und dennoch so reich! Die Opfer, die du zu erschwingen verstandest, Sie spotten jedes Vergleichs! 65

Wohl ist es ein riesig' Opfer, Das ich zu fordern gesonnen bin! Wohl würdest du wieder entbehren müssen, Willfahrtest du meinem Sinn! Doch weiß ich, wie opferwillig Du, Volk, für die heilige Sache bist, Und daß du Entbehrungen und Strapazen In der Begeisterung vergißt. Drum wirst du mit mir erwägen, Was du mit diesem Opfer bezweckst: E s gilt eine reine Quelle erschließen, An der die Jugend erwächst! Es werden der Armen Kinder Nicht mehr der Bildung Stiefkinder sein! Man wird sie nicht mehr vergiften können Mit süßen Sophisterein! Es werden die Freunde der Freiheit Von Schelmen nicht mehr in Verruf erklärt! Sie sollen sich rüsten mit Wissen und Wollen Und führen das Flammenschwert! Es werden nur wen'ge Verworfne Der heiligen Sache abtrünnig sein! So bleiben der Freiheit Kräfte erhalten, Die nimmer im Sumpfe gedeihn. Wohl ist's eine Selbstverleugnung, Doch auch eine achtungsgebietende Tat! Ein unerschöpfliches Zeugungsmittel, Ein Pfeiler zum Zukunftsstaat! Es dürften sich alle Völker Erleuchten an einem elektrischen Licht! An einer Flamme in eins zerschmelzen, Zu einer gemeinsamen Pflicht! Haha! Ich sehe den Schrecken, Den Gegnern bereitet durch mein Projekt. 66

Ich aber liefe von einem zum andern: „Das habe ich ausgeheckt!" Doch dürfte nicht etwa Preußen Auftun den alles verschlingenden Schoß. Wir stellten Langfingern und Diebeskrallen Das Unternehmen nicht bloß! Wir würden im freieren Ausland, Geschoben in schirmende Ferne hinaus, Wo unsre Vorboten Gastfreundschaft genießen, Begründen das Bildungshaus.

Ilin

1890 Seit Kennan mit ehrlicher Forscherhand Den Schleier gelüftet, der unheimlich dichte Sich über Sibirien ausgespannt, Tritt mancher hervor mit seiner „Geschichte". Da hat ein „englischer Reisender" just Wahrscheinlich mit andern in Kalau geboren — Die Neugier gründlich zu fesseln gewußt Mit einer Stadt, in der Steppe verloren. Der Gouverneur von Irkutsk befand sich Auf einer Rundreise per Inspektion; Im weiten Kreise streckt Steppenland sich — Doch horch! woher dieser Glockenton? Erst pianissimo, weich und leise Anschwellend in dieser besonderen Weise: „Oho! lala! Ein Etwas ist da, Das fremd euch geblieben, Ihr Lauscher da drüben! Es gibt noch ein Leben Und Weben und Streben, Das heimlich und froh 67

Bis heutigen Morgen Vor euch sich geborgen. Lala-oho!" Die Reisegesellschaft verwundert lauschte, Was da so fremd in den Lüften rauschte? Der Gouverneur meinte: „Seit ewiger Zeit Ist tote Steppe hier weit und breit." — Doch deutlich vernehmbar und mehr bestimmt Der Klang von dorten herüberschwimmt; Man bohrt in die Ferne den fragenden Blick Und reitet drauf zu wohl auf gut Glück. Doch öde Steppe, wohin man reitet. Die sich unendlich ringsum breitet. Da - halt! stumm bleibt die Gesellschaft stehn: Eine grüne Oase war fern zu sehn, Und hinter Gebüschen sucht sich ein Flecken Noch zu verstecken und läßt sich entdecken; Man reitet Galopp und stürmt heran Und hält erst im Herzen des Fleckens an. Die Einwohner, etwa ihrer achthundert, Erscheinen im Rahmen der Türen verwundert: „Was ist das für fremde Gesellschaft hier? Hm! Oberhalb Mensch und unterhalb Tier!" Auf beiden Seiten erst sprachloses Schweigen, Bis endlich der Gouverneur begann: „Wie nennt sich dies Städtchen? Wem ist's zu eigen?" „Ilin!" antwortet ein ernster Mann. „Wie kommt das Städtchen hierher?" „Verbannte Erbauten es nach gelungener Flucht; Zu ihnen gesellten sich Unverwandte Und traten zusammen in eh'licher Zucht." „Und ihr seid der Flüchtlinge Kinder wohl?" „Die Enkelkinder und Kindeskinder." — „So seid ihr Verbannte nicht mehr noch minder Als jene, die allsamt der Teufel hol!" 68

„ 0 Herr! die Eltern verschieden in Ehren, Was wollt ihr unsern Frieden stören?" „Ich werde euch zufriedenstellen! Führt mich zu eurem Gouverneur!" „Wir haben keinen." „Und wer, Gesellen, Stellt in der Stadt die Ordnung her?" „Was? Ordnung? Ordnung und Geselligkeit Herrscht in Ilin zu jeder Zeit." „Ihr müßt doch aber einen Häuptling haben, Sonst wird die Ordnung untergraben!" „Das mag bei euch da draußen Sitte sein, Wir halten Frieden, groß und klein." „Und wessen Oberherrschaft erkennt ihr an?" „Niemandes!" „Zahlt ihr Steuern, Leute?" — „Wozu? Wofür?" „Nun gut: Von heute Tritt unser Zar die Erbschaft an. Besitz ergreif ich in des Zaren Namen Von der Verbannten Stadt und Samen! Ihr werdet treue Untertanen sein, Sonst knuten wir euch kurz und klein. Ihr werdet einen Gouverneur bekommen, Die Ungebundenheit wird euch genommen; Euch sollen Zehnte und famose Steuern Das Fleisch versalzen und das Brot verteuern. Und wer sich widerspenstig zeigen sollte — schau: Den prügeln die Kosaken braun und blau." „O Herr! wir haben aber gar kein Geld?" „Nicht einen Kopeken?" - „Nicht einen Kopeken!" „Dann freilich ist's schlimm mit euch bestellt. Was steht und grinst ihr mich an, ihr Affen, Statt schleunigst euch Gelder anzuschaffen? Bei Väterchens Nastuch! dies Volk ist verkommen

Und hat nicht den Flug der Neuzeit genommen; Das, Kinderchen, muß nun anders werden: Ihr sollt euch als brave Russen gebärden; Das heißt, die Steuern müßt ihr entrichten Und auf eure wilde Freiheit verzichten, Sonst nehm ich euch alles: Strümpfe und Schuh, Das Haus und den Hof, das Kalb und die Kuh Und die Weiber dazu! Ich habe doch auch nicht die Reise zu euch Umsonst gemacht! ich bin nicht reich!" Da trat aus der Mitte ein Greis heraus Und räusperte sich und spuckte aus: „O Herr, laßt uns mit uns allein. Es weiß der Volksmund gräßliche Geschichten Von Knute, Knebel, Kantschu zu berichten, Das soll uns eine Warnung sein!" — „Laßt, Kinderchen, den alten Weißkopf lallen! Die neue Wirtschaft wird euch schon gefallen!" „Ihr Russen habt aus frevlem Übermut Nachts unsre Eltern aus den Betten, Wo sie sich wähnten in der besten Hut, Gerissen und gelegt in Ketten. Die Mutter von den lieben Kindern, Den Gatten von der Gattin; Weinen Der Eltern und Geschrei der Kleinen Könnt euern Menschenraub nicht hindern. Das war Musik in euern Ohren, Ihr wart ja ohne Herz geboren; An eurer Rosse Schweife habt ihr Greise Und Fraun und Kinder angebunden; So ging's im Tritt auf die Verschleppungsreise. Wer's überstand, war jämmerlich zerschunden. Und nicht nur hetztet ihr des Zaren Feinde! Ihr kränktet auch das Herz der wahren Freunde Und kehrtet Freundschaft jäh in Feindschaft um. Denn ihr seid roh und frech und deshalb dumm. "Wenn jemand euern Neid erregen mochte, Weil er euch geistig überlegen war; Wenn wilde Habgier in euch kochte. 70

Erfandet ihr für Väterchen Gefahr. Der große Zar, im Banne eurer Schauer, Nahm Rache an dem kleinsten Bürgersmann! Er wähnte wanken seine Lanzenmauer, Der Haß des Volkes haucht ihn glühend an; Drum lagen seine Köter auf der Lauer Und fielen jeden ersten besten an. Die Polizisten stahlen unverhohlen, Weil sich der Schelm nicht selber wehe tut; Man wird verschleppt, und unser Geld und Gut Wird konfisziert, das heißt: es wird gestohlen. Der Zar, ein Spielball in der Schranzen Händen, Er läßt als Puppe sich verwenden. Wo ist in Rußland eine Sicherheit? Der Bürger wird von hinten überfallen, Und niemand weiß von den Verwandten allen, Wo er geblieben, wo er weilt zur Zeit. Natürlich ahnen es die Anverwandten, Daß ihn die Häscher fingen, und man sucht Nach ihm oft jahrelang im Reiche der Verbannten, Wobei man heimlich Väterchen verflucht. Und in Sibirien, dem großen Grabe, Wird jeder Schmerzensschrei erstickt, Wird jede Geistesregung unterdrückt; Dem Winter preis, entblößt von jeder Habe, Erleidet der Gefangene Entbehrung, Knirscht in den Zaum der feigen Knechtung, Trägt trotzig schweigend die Entrechtung. Oh! unsre Eltern wußten mancherlei Zu melden von boshafter Nörgelei, Unwürd'gen Seelenfoltern, Marterqualen Und Schergenhohn bei blinkenden Pokalen. Sonst hätten unsre Eltern nicht gewagt, Was ihnen die Verzweiflung eingegeben. Denn eine Flucht schwankt zwischen Tod und Leben, Der Mord kommt hinterdrein gejagt. Noch nicht genug." „Genug! ich sag: genug! Was du da sprichst, ist eitel Lug und Trug! Kosaken vor! Ergreift den alten Hetzer 71

Und zählet fünfzig auf, dem Ketzer, Daß Hören ihm und Seh'n vergehe! Und überlebt er's ein'ge Stunden, Streut Salz und Pfeffer in die Wunden, Dann mag er heulen Ach und Wehe!" „ 0 Herr, könnt ihr vor Scham erröten, Beschimpft mich nicht, doch laßt mich töten!" Ein Jüngling lag dem Gouverneur zu Füßen: „Laßt mich des Vaters Freimut büßen!" „Zählt auch dem Knaben fünfundzwanzig auf! Will eines Bessern euch belehren Und zum Gehorsam euch bekehren!" Ein Weib hob flehend seine Hände auf: „Erbarmen für den Vater, so gebrechlich! Erbarmen für den Bruder, jung und schwächlich! O ich bin standhaft, Herr, und ich erleide Mit Mut die Züchtigung für beide!" — „Das ist ein süßes Mädchenangesicht! Sag an, Batruschka: weißt du auch zu lieben? Um deinetwillen werd ich Gnade üben! Laßt ab, Kosaken! straft die beiden nicht!" Ein drohendes Gemurr durch Ilins Bürger: „Treibt in die Flucht den Moskowiter Würger!" Der Gouverneur ward blaß und rot, Und er war feige, wie die Schergen alle; Er war zu schwach bedeckt in diesem Falle Und rief nach Polizei in seiner Not. „Das ist ja Aufruhr, Kinder! Polizei! Wer ruft die Polizei herbei?!" — Doch die Iiiner lachten seiner, „Die gibt's in Petersburg!" rief einer. „Was? keine Polizei im Orte? Und wer beschirmt des Hauses Pforte?" 72

„Die lassen wir hübsch offen stehn, Um freier ein- und auszugehn." „Und wer ist des Gesetzes Hüter?" (Beschwichtigt waren die Gemüter.) „Wozu Gesetze? Sie zu brechen Und, gleich den Russen, Recht zu sprechen?" Der Gouverneur, froh dieser Wendung Im Katzenjammer der Verblendung, Erzwang der Kehl ein heißes Lachen, Um gute Mien zum bösen Spiel zu machen. „Ihr seid aus Rand und Band, Iiiner! Wer war eu'r Herr und wer eu'r Diener?" „Hier gibt's kein Herrschen und kein Dienen, Ein jeder lebt, wie ihm's gefällt! Wir schaffen emsig wie die Bienen, Und unsertwegen steht die Welt. Ihr Russen mögt Gesetze schreiben, Wir wollen gute Menschen bleiben!" „So schweigt mit euerm Freiheitsdünkel, Verkrochen im entlegnen Winkel! Und habt iht eine Schule?" — „Nein!" „Wer lehrt euch Rechnen, Schreiben, Lesen?" „Es ist ein Mann im Ort gewesen, Der konnte Lesen, Zeichnen, Schreiben Und sonst noch Mancherlei betreiben; Er ist vor langer Zeit verschieden Und ruht mit seiner Kunst im Frieden." „Nun gut, das ist nicht schlimm, ihr Knaben, Ihr sollt auch eine Schule haben! Und wer in unsre Schule geht, Gar bald das Reglement versteht, Ihr sprecht verteufelt russisch, Kinder! Wir wollen euch, Hinsehe Bären,

Nach unsrer Pfeife tanzen lehren! Ihr gottverdammten Besenbinder! Ist ein Gefängnis hier?" „Gefängnis? Zu wessen braven Mann's Bedrängnis? Wir wissen wohl: Irkutsk ist eines! Hier in Hin ist keines." „Wo tut ihr die Verbrecher hin?" „Da ist kein einz'ger in Ilin." „Ein Ort, der der Kultur entbehrt! So etwas ist mir unerhört! Ihr sprecht der Zivilisation Des neunzehnten Jahrhunderts Hohn! Nun gut! Ihr sollt Verbrecher haben Und sollt ein Zuchthaus euch erbaun Und schaufeln Wall und Festungsgraben, Wie nirgend schöner anzuschaun! Wie auch in Vizerußland nicht, Wo man von deutscher Zinne spricht. Wer mit uns Russen in Berührung tritt, Bekommt auch die Verführung mit, Den innern Frieden zu vernichten; Wir wollen schon Verbrecher züchten. Und weil ihr zu Verbrechern werdet Und jedenfalls zu Friedensstörern, Zumal als Nachwuchs von Verschwörern, Und folglich unsern Staat gefährdet, So schick ich euch ein Detachement Kosaken, Jetzt mögt ihr euch nach Hause packen!"

Gezähmte Wölfe

1891 Ich ging einmal spazieren In einem polnischen Wald, Da kamen wohl zu vieren 74

Die wilden Wölfe bald. Sie drangen fletschend auf mich ein, O Not, o Angst, o Pein! Das Unglück kam, das rasche, Verquert mir in die Bahn; Da zog ich aus der Tasche Ein Lied von Felix Dahn. Ich bebte sehr, verzagte fast Und sprach in banger Hast: „Ein Wort, ihr Herren Wölfe! Dies ist ein zahm Gedicht Und hat der Strophen zwölfe, Viel Schatten und kein Licht. Leihn mir die gnäd'gen Herrn ihr Ohr, So les ich's ihnen vor?" Und ohne abzuwarten, Fing ich den Vortrag an, Da ward der Wald zum Garten, Der Wolf zum Edelmann. Die Wölfe knurrten leis: „Der Schuft!" Und schnoberten in der Luft. Beim ersten Verse waren Die Wölfe ganz erstaunt; Sie hatten sich zu Paaren Was in das Ohr geraunt — Und wie ich lesend weiter kam. Die Wölfe wurden zahm! Und weiter las ich wieder. Die Wölfe wurden sanft Und streckten ihre Glieder In eines Rinnsals Ranft; Nach Wasser lechzten sie im Durst, Das Lied schien ihnen Wurst. Und als ich bis zur Mitte Gekommen im Gedicht, Da leckte schon der dritte 75

Dem vierten das Gesicht! Sie tauten auf in Zärtlichkeit, D as hat mich sehr gefreut. So las ich leis mit Stöhnen Zu Ende das Papier — Ich hört die Wölfe gähnen Und schnarchen dann zu viert. Und da die Wirkung mir genügt, Empfahl ich mich vergnügt.

Der Bauer 1891 Der Bauer, ja dem Bauer, Das Leben wird ihm sauer, Dem Bauer, der das Feld Fürs ganze Volk bestellt. Des Morgens erste Röte Trifft ihn am Rübenbeete, Des Tages letztes Rot Bescheint sein Abendbrot. Und jeder neue Morgen Weckt ihn mit neuen Sorgen. Der Schutzzoll schützt ihn nicht, Wenn er zusammenbricht. Doch rüstig kämpft er wieder Die Nahrungssorgen nieder Und heimst die Ernte ein Und denkt: die Frucht sei sein. Doch ist sein Feld verschuldet, Und keinen Aufschub duldet Der gräßliche Termin, Sobald die Weizen blühen. 76

Wohl predigt der Herr Paster Den alten Duldungsknaster. Der Nachbar Gutsherr lacht Bei Hypothek und Pacht. Ein Acker nach dem Muß nach dem Gute Der Bauer wird zum Das ist dem Reichen

andern wandern, Knecht, recht.

Hallo, wach auf, du Bauer, Aus deiner dumpfen Trauer: Du schaffst uns allen Brot Und leidest selber Not. Was kauerst du dich nieder Im Rücken deiner Brüder? Wir reichen dir die Hand: Schlag ein, o Bauernstand! Zur Notwehr zu gebrechlich, Zur Abwehr, ach, zu schwächlich, Du mußt verloren sein, Bleibst du für dich allein. Doch alle Mann für einen! So müssen wir erscheinen Im Selbsterhaltungskrieg. Und unser ist der Sieg.

Schiefe Moral 1891 „Veit, ihr seid kein Mann von Wort! Zahlung habt ihr mir versprochen, Mich vertröstet fort und fort, Aber stets eu'r Wort gebrochen." „Wenn ich aber doch nicht kann? Möchten Sie sich, Herr, gedulden! 8

Adolf Lepp

Noch ist Veit ein Ehrenmann Und berichtigt seine Schulden." „Das sind faule Fische, Veit! Ich hab auch den Kopf voll Sorgen, Doch ich lieb die Pünktlichkeit, Und ein jeder wird mir borgen." „Herr, Sie haben Geld wie Heu! Glück ist keine Tugend — nennen Sie es Ehrlichkeit und Treu, Wenn Sie wollen, was Sie können?" „Was man will, das kann man auch! Und bezahlen muß ein jeder! Doch es ist ein schlimmer Brauch, Leicht zu sein, wie eine Feder!" „Gern bezahlt ich armer Tropf, Doch gebricht es mir an Mitteln; Stellen Sie mich auf den Kopf, Und umsonst ist all Ihr Schütteln." „ J a , ihr teilt eu'r Geld nicht ein! Wir bekommen lange Nasen, Und ihr spottet obendrein, Schulden seien keine Hasen!" „Herr, was ihr zum Frühstück braucht, Hab ich kaum für eine Woche! Und mein Körper dampft und raucht, Eingeschirrt in schwerem Joche." „Glaubt ihr, Veit, das große Los Sei mir in den Schoß gefallen? Ach, auch meine Last ist groß, Wohl die größte Last von allen!" „Schön, mein Herr, so tauschen wir! Gebt mir eure blanken Gulden. Geb ich euch mein Amt dafür Und bezahl sofort die Schulden." 78

Zur Abwehr 1891 Ihr fragt: wir wollten nur zerstören, Was eure Hände aufgebaut? Das nenne ich den Begriff verkehren! Das heißt: mit Lug und Trug vertraut! Wir sind die Schöpfer aller Güter, Auf die ihr nur die Hand gelegt! Wir sind der Schätze treue Hüter, Die ihr uns abzunehmen pflegt! Doch ihr zerstört im blinden Hasten Nach Mehrung Bau und Fundament! So sehn wir euch im Finstern tasten, Trotz lichterfülltem Firmament! O nein! Euch bleibe vorbehalten Das Abbruchs-, das Zerstörungswerk! Wir haben auf der Kräfte Walten Gerichtet unser Augenmerk. Wenn ihr die Welt in Trümmer schlaget Und seid mit eurem Wort kaputt, Und wenn's im Osten wieder taget, So räumen wir hinweg den Schutt. Ihr möget nur die Kraft verschwenden, Wir lassen neu die Welt erstehen Und warten nur auf euer Vollenden, Um rüstig an das Werk zu gehen. Und fragt nicht wieder nach der Zeichnung, Der Zukunftsbau enthüllt sich kaum! Das Eigentum kommt zur Enteignung, In unserer Welt hat jeder Raum. Dann wird geteilt nach gleichem Maße Die Arbeitslast, die Lebenslust, Wir ziehen friedlich eine Straße, Froh ausgesöhnt und zielbewußt. 8*

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Nur der wird sich verlassen fühlen, Der keine Lust am Schaffen hat, Denn wieder zum Verstecken spielen Erbaut die Zukunft keine Stadt.

Armer Leute Lust

1894 Arme Leute sollen lieben, Liebe ist ihr einzig Glück. Ohne sie wär unser Leben Eine öde Wüste eben, Aussichtslos für unsern Blick. Eine freundliche Oase Schließt sich in der Liebe auf. Heimisch fühlt sich da der Flüchtling, Und sie bietet selbst dem Züchtling Ein Asyl im Lebenslauf. Fordre nicht, daß der Enterbte Sich des letzten Glücks entschlägt. Zur Verzweiflung fast getrieben, Ist ihm noch ein Sporn geblieben, Daß er seine Bürde trägt: Reiche Menschen mögen hassen, Mögen unempfindlich sein. Doch die Sympathie der Seelen Armen Leuten wegzustehlen, Ist ein Raub am Sonnenschein. Nehmt dem Armen seine Sonne, Und sein Herz versinkt in Nacht. In der Nacht wetzt die Hyäne Des Verbrechens ihre Zähne, Und der Sarkophag erkracht. 80

Indirektes Mahnverfahren

1894 Hurrjeh ! Der Erste rückt heran, Der Wirt mahnt sanft die Miete an. Indem er wie ein Poltergeist Bedrohlich laut die Türen schmeißt. Schmiß ich die Türen so im Haus, Er war so frech und schmiß mich raus ! Doch weder mir noch ihm gehört Das Haus, das er im Frieden stört. Und noch ist nicht der Erste da. Und schon ist mir der Quälgeist nah, Er fürchtet, daß ich nicht berapp! Dann wird das Geld zum Fusel knapp. Nun seht, was ein solider Mann Erduldet, spricht der Haus-Tyrann ! Nichts schuld ich ihm und er mir nichts, Er droht, versoffnen Angesichts. Und fehlt am Ersten mir der Zins. Bei Gott ! Neun lump'ge Mark nur sind's. Setzt mich der rücksichtslose Schuft Sans façon an die frische Luft. Was kümmert ihn, ob krank ich bin Und ob mir jämmerlich zu Sinn? Und ob im scharfen Winterwind Zugrunde gehen Weib und Kind? Ihn schützt das Recht - mich hetzt die Not. Und Geld nur fordert mein Despot, Der, wär ein König er, sein Land Ausplünderte mit eigner Hand. Wer diese Wirte uns erschuf, Der hat verfehlet den Beruf ! Und wer die Mieten hat erdacht, Der war ein Finsterling der Nacht. 81

Der Schmarotzer 1897 Gestorben war der noble Herr Und drauf begraben worden. Die Zeitung machte groß Geplärr Mit allen seinen Orden. Sie schmierte dreizehn Seiten voll Vom Pomp des Leichenzuges: Was nicht besessen haben soll Der Tote Liebes, Kluges! Drei Tausend Mark hab er vermacht Der Stadt zu frommer Stiftung. Hei, wie es in die Seele lacht Zu armen Volks Vergiftung. Zu finsterm Zweck drei Tausend Mark — Uns stahl er Millionen! Drum mögt ihr uns mit solchem Quark Von Schenkerei verschonen! Uns hat er gründlich ausgepreßt Vermöge seines Amtes — Ein Fluch in das Schmarotzernest, Schmarotzernest verdammtes! Und uns Geprellten nun zum Hohn Tauft man nach ihm die Straße. Verewigt ihn, ein feiner Lohn, Mit falsch geeichtem Maße. Das brauchtet ihr wahrhaftig nicht. Das Volk wird nie vergessen, Wie es der ehrvergeßne Wicht Verstand, uns auszupressen.

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Kriegsknecht in Tätigkeit

1898 Himmelbombenelement! Schau, wie schön das Städtchen brennt! Unsre Kugeln trafen gut, Ist das eine Höllenglut! Kam'rad, heute früh geschah Mir ein toller Spaß, hurrah! Als ich requirieren ging, Ich ein junges Mädchen fing. Schade, Kam'rad, daß du nicht Beigewohnt hast der Geschieht! Weil ich nicht ihr Wort verstund, Schloß mit Küssen ich den Mund. Freilich schrie das Mädchen sehr, Setzte sich zur Gegenwehr; Kam ein Kerl herzu und droht. Kurz gefaßt, ich schoß ihn tot. Als die Jungfrau, ganz erschöpft. Vor mir lag, halb aufgeknöpft, Raubt ich ihr, was sie versagt. Was mir doch so wohlbehagt. Schau nur, Kam'rad, dort das Gut Hält sich tapfer fern der Glut! Schießen wir das Gut in Brand Fürs geliebte Vaterland! Nach der Arbeit winkt der Lohn, Einen Orden kriegt ich schon! Unser Hauptmann ist ein Held, Und er hat mich herbestellt. Gott der Herr sieht lächelnd zu. Freut sich, daß ich Böses tu; Bin ich doch sein Ebenbild! Bruderherz, du machst mich wild! 83

Grober Unfug 1898 Wir armen Sozialisten Haben manches versehen, Worunter Polizisten Groben Unfug verstehen. Der Kirchturm, er wackelt, Wir haben dran gerackelt! Daß es hagelt und kracht, Ja, wir haben's gemacht. Man nennt es groben Unfug, Eins zur Arbeit zu pfeifen! Und man verbietet uns unklug Rote Bänder und Schleifen; Doch die Herzen, die roten, Die hat noch niemand verboten, Und sie pochen so laut, Daß es manchen davor graut. Auch nennet der Herr Pastor Unfug unsre Sache, Und herab auf unsre Laster Ruft er Gottes Rache, Ei, so lasset ihn pred'gen! Es wird uns doch nicht schäd'gen. Denn die Arbeit wird frei, Und er hilft uns dabei.

Das vaterlandslose Gesindel 1898 Die Patrioten schelten Und sind aus Rand und Band. Wem soll die Rache gelten? Dem Feind im Vaterland! 84

Drum schnür getrost dein Bündel, Du vaterlandsloses Gesindel! Doch zahlet seine Steuern, Obzwar im finstern Trotz, Und hilft die Feste feiern, Die anberaumt der Protz — Und drehet Spul und Spindel Das vaterlandslose Gesindel. Es bauet die Gebäude Für Fürst und Patriot Und geht im rauhen Kleide Durch seine herbe Not, Das stets folgsame Kindel, Das vaterlandslose Gesindel. Es schlägt der Fürsten Schlachten Und schirmt das Vaterland Und läßt sich drum verachten Und wird vom Tisch verbannt, Als läg's noch in der Windel, Das vaterlandslose Gesindel. Doch nein! Aus Märchenträumen Der Kindheit schreckt's empor Und schreitet ohne Säumen Ans Tageslicht hervor Es hat durchschaut den Schwindel Das vaterlandslose Gesindel. Stiefvaterland, entwöhntes, Es fordert dich zurück, Und dein vom Mob verpöntes Kind kämpft um sein Geschick. Sein Erbe will das Mündel, Das vaterlandslose Gesindel.

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Die schwarze Liste

1898 Sie haben mich in schwarzen Listen stehen, Weil ich von Herzen frei heraus gesprochen, Darf ich mir die Gesellschaft drin besehen Und fragen, was jedweder drum verbrochen? Was treff ich da in dem Verzeichnis an? Das sind ja lauter unbescholtne Namen, Geachtet und geehrt von jedermann, Darunter einige verdiente Damen. Mit solchen Leuten gleichgestellt zu sein, Das kann ich mir ja nur zur Ehre schätzen. Geschieht es auch aus Bosheit, bitte, setzen Sie mich ein zweites Mal hinein.

Blasierte Löwenherzen zu umspinnen

1898 Und wie das Mienenspiel, das Wortgeflecht Der Herzen Öde zu verbergen wußte, Da warfen sich die Blicke ins Gefecht, So daß der Schein sich widerlegen mußte. Und falsche Augen, falscher Diamant Intrigierten um die Augenweide Und setzten manches Lämmerherz in Brand, Und plötzlich brannte wirklich das Gebäude. Wenn dieses hölzerne Komödienhaus Erzählen könnte all die Schelmenstreiche, Die es belauscht! Doch das Konzert ist aus, Und selbst der Tempel ist nur eine Leiche. Die Frommen wollen, wo der Basar stand. Ein Gotteshaus, ein Bankgeschäft errichten: Den noblen Fliegen, die sich hier verbrannt, Den übersinnlichen Tribut entrichten. 86

Grell lacht die nackte Armut auf und wischt Die Tränen sich aus den vergrämten Augen: Und ob ihr schminkt und auf die Tugend frischt, Man weiß genau, was diese Engel taugen! Geht! Eure Nächstenliebe ist nur Spott, Eu'r Christentum ist eine große Lüge, Eu'r geiles Bäuchlein ist eu'r lieber Gott, Und eine Venus fehlt nicht im Gefüge. Nun, Sklaven, gebt die letzte Krone preis : Ein Monument für die Schmarotzerpflanzen! Ein Beileidszoll, von dem eu'r Herz nichts weiß, Ein Räucherhaus für die geschmorten Wanzen! Und kommt das Volk im Kampf ums Dasein um, Sie fühlen nicht, wie unsre Herzen bluten! Das Sklavenpack, es ist nicht schade drum! Wir haben noch genug davon zum Knuten.

Die Standesehre

1899 Der „GoldnenJugend" wird zur Pflicht Die Paukerei: sie schießt und sticht. Der Paukkonvent erklärt für feig Den, der nicht reagiert sogleich. Ein Schimpfwort fordert schon heraus. Den Nichtpaukisten stößt man aus, Denn — er verletzt die Standesehre! Wenn sich der Arbeitsmann vergißt Und rüpelhaft und rüdig ist, Gleich ist zur Hand die Polizei Und paddelt dem Erregten bei. Und wer da schießt und sticht, der kann Sich gratulieren. — Armer Mann, Du hast ja keine Standesehre! Die reichen Ärzte fordern gar Ein stark erhöhtes Honorar. 87

Sie machen Streik, und in der Tat Verlangt's von ihnen der Senat. Die Staats-Raison den Streikern frönt, Der „Arbeitswillige" wird verpönt. Denn — er verletzt die Standesehre! Wenn wir bei niederm Arbeitslohn Erschlaffen in der langen Fron Und machen Streik und fordern mehr, Winkt Polizei und Militär. Mit Zuchthaus droht man uns, sobald Verruf erfolgt und Hinterhalt. Wir haben ja keine — Standesehre! Wenn wir ein mutig Wort gewagt. Das den Bedrückern nicht behagt, So sperrt man uns auf lange Zeit Zur Buße in das Sträflingskleid. Zu schmaler Kost und hartem Zwang Ertönt des Wärters rauher Klang. Wir haben ja keine Standesehre! Wenn aber einer jener Schar, Die zwar stets klein, doch mächtig war, Mal stolpert gar zu tölpelhaft, So ist für ihn die Festungshaft. Die holde Seele nimmt den Schwung Entgegen der Begnadigung, Von wegen der großen Standesehre!

Auf den Tod Jakob Audorfs 1899 Das „Vaterland" verstieß den braven Sohn, Der eine Zierde war des Vaterlandes. Nach seiner Lassallaise Donnerton Marschiert das Heer des unterdrückten Standes. Im kalten Rußland irrt der Emigrant Mit seinem Feuerherzen lange Jahre; 88

Das „Vaterland", das seinen Sohn verbannt, Gewährt ihm nun die heimatliche Bahre. Nun ruhe aus von deiner Lebensflucht, Du unentwegter Kämpfer der Erkenntnis. Du landetest in stiller Friedensbucht Uns führt dein Lied zum herrlichen Verständnis. Es wird dein Geist in unsrer Mitte sein, Wenn wir das „Lied der Petroleure" singen, Es wird den Feinden in den Ohren dein „Wohlan, wer Recht und Wahrheit achtet" klingen. Ein Denkmal brauchst du nicht. Das setztest du Dir selbst im Herzen aller Gleichgesinnten, Du führest uns dem lichten Morgen zu, Und deine Lieder werden weiter zünden.

Veränderter Kurs

1899 Wenn sich die Männer wie Rinder gebärden, Zum Gaudium der „Gönner" zu Kindern werden, In bunten Schärpen einherstolzieren Und wunderliche Embleme führen, Soldatchen spielen und Feuerwehr Und stolz sich fühlen als Militär, Festreden reden und Hurra brüllen, Den doppelten Durst mit Begeisterung stillen, Mit Orden, Borden und Schleifen tändeln Und mit dem stillen Denker anbändeln Dann lächeln die Herrchen gar stillvergnügt, Froh, daß sich das Närrchen freiwillig fügt. Wenn aber die Männer sich mutig recken, Geraten die „Gönner" in Wut und Schrecken, Wenn wir uns verständ'gen und stark vereinen, Das Vorrecht der Reichen mit Nachdruck verneinen, 89

Wenn wir mit unsrer gesammelten Kraft Respekt unsrem Freiheitsbegehren verschafft, Und wenn wir unser Urteil fällen, Forderungen an die Gewalthaber stellen, Und wenn wir Ideale verfechten Und unsre Frauen und Kinder entknechten — Dann lächeln die Protzen durchaus nicht mehr, „Das Volk will uns trotzen? Das Zuchthaus her!"

Zweites Aufgebot 1899 Was träumt ihr schon, der Frühling atme freier, Derweil ihr noch mit einem Auge schlaft? Der Menschheit eine Hälfte steht im Feuer, Indes die andre trauert noch versklavt! Noch herrscht der Mann, noch ist die Frau nicht frei, Noch bilden die Geschlechter die Partei. Solang die Frauen noch im Felde fehlen, Wird wahre Freiheit nie die Welt beseelen! Die Freiheit selbst ist ja ein Weib! Gebären Soll sie den Frieden, der das Glück verbürgt. Was wir erstreben, wollen wir gewähren, Damit kein Falke mehr die Taube würgt. Gerechtigkeit! ertönt des Schwachen Schrei, Und eine halbe Wendung macht nicht frei — Solang die Frauen noch im Felde fehlen, Wird wahre Freiheit nie die Welt beseelen! Erst sei das Weib erlöst, daß unsre Söhne Geläutert werden von der Mutter Hand! Erst fall die Fessel, die das Hehre, Schöne Zum Schaden der Entfaltung stets umwand! Frei sei die Frau, die Lebensspenderin, Dann zieht die Freiheit durch die Länder hin. Solang die Frauen noch im Felde fehlen, Wird wahre Freiheit nie die Welt beseelen. 90

Horch! Die Leibeigne reckt bereits die Glieder Und klirrt mit ihren Ketten zornerfüllt — Zu Hilfe kommt den Schwestern, mut'ge Brüder: Nicht halbe Arbeit, nur die ganze gilt! Wenn erst das Weib zu seiner Geltung kam, Peitscht es die Zaudernden empor zur Scham Wenn nicht die Frauen mehr im Felde fehlen, Wird wahre Freiheit bald die Welt beseelen!

Zur Reimkunst 1899 Kollege Reimschmied, du wirst mich verstehn. Nur Stümper sind wir zwei beide. Wir sollten zum Heine in die Schule mal gehn, Du hättest dran deine Freude. Du leimst keusch auf deutsch — das reimt sich ja nicht. Wir Deutschen sind scheinkeusch, das merke. Und was sich nicht deckt, das gibt kein Gedicht: Der Einklang verleiht uns die Stärke. Mein Heinrich Heine war weit uns voraus, Er wußte den Reim auf uns Deutsche. Er sah das Nationalzuchthaus voraus und — die gemeinsame Peitsche.

Sturm 1899 Vorwärts Volk, mit voller Kraft! Vorwärts mit gefällter Lanze! Eine Bresche zeigt die Schanze, Und des Feindes Mut erschlafft. Aus den Gräben, Pioniere!

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Eu'r Geschäft ist abgetan. Die Piqueure rasch voran! Vorwärts! vorwärts, Musketiere! Blößen gab sich längst der Feind, Daß er stände, kein Gedanke! Faßt ihn kräftig in der Flanke! Vorwärts, aller Kraft vereint! Spiel, Musik, die Marseillaise! Tambour, wirble auf zum Sturm! Sprengt des Feindes Pulverturm Unter Audorfs Lassallaise! Brüder, wendet euch nicht um! Groß und schwer sind die Verluste, Manch ein Herz verröcheln mußte, Und so mancher Mund ward stumm Vorwärts, Brüder, nicht zurücke Auf das Opfer, das da fiel, Sondern auf das hehre Ziel Wendet jetzt die mut'gen Blicke! Kinder, ha! Der Tag war heiß Unsre Feinde fochten zähe, Mann an Mann, in Auges Nähe, Was noch kommen mag, wer weiß. Vorwärts richtet eure Waffen,' Unser winkt ein Ideal: S e h t , die F r e i h e i t steigt zu Tal, Für den Frieden Raum zu schaffen.

Stimmen der Freiheit 1899 Ein Bergmann schlug sein Brot gar fein Wohl in den „Wahren Jakob" ein. Dies sah ein Lump und bracht es an, Entlassen war der arme Mann „Stimmen der Freiheit", euch hör ich gern! 92

Doch ist die Erlösung noch gar zu fern Stimmen der Freiheit, erhebet euch laut, Daß man die Vorhut nicht niederhaut! Ein Former las den „Vorwärts" vor Zur Vesper dem Gesellenchor. Der Herr erfuhr's und sperrt ihn aus. Er läuft umsonst von Haus zu Haus. „ S t i m m e n der F r e i h e i t " ? ihr tönet hell, Unstet und hilflos irrt der Gesell — Stimmen der Freiheit, schützet die Wacht, Daß man nicht schamlos sie niedermacht! Der freie Sänger schuf sein Lied Heraus aus innerstem Gemüt, Und es entflammt die Herzen all, Der Sänger büßt hinterm Gefängniswall — „ S t i m m e n der F r e i h e i t " , erhebt euch zur Wehr, Drücken die Ketten den Sänger zu sehr! Stimmen der Freiheit, gebt es nicht zu, Daß euerm Schöpfer man Leides tu! Ein mutiger Genosse trug Wahlzettel aus mit gutem Fug. Man nahm sie weg und nahm ihn mit, Drauf ward er seines Brotes quitt! „ S t i m m e n der F r e i h e i t " , euch ruf ich an: Züchtigt den Hochmut, schützet den Mann! — Stimmen der Freiheit, ihr seid ja stark, Donnert der Knechtschaft den Schreck in das Mark! Es bat die Deputation Für ihr Gewerk um bessern Lohn. Die „schwarze Liste" schlich herum, Die Deputierten wurden stumm! „ S t i m m e n der F r e i h e i t " , schmettert darein, Dringet den Drängern durch Mark und Gebein! Stimmen der Freiheit, laßt in Verruf Den nicht erklärt sein, der Werte schuf! Ein Knabe, der im Arbeitssaal „Die Blumenlese" warm empfahl, 9 Adoli Lepp

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Flog an die Luit mit Vehemenz, Das war die Antwort der „Intelligenz"! „ S t i m m e n der F r e i h e i t " , sendet den Strahl Nieder in Mammons trostloses Tal! Stimmen der Freiheit, stärkt die Idee, So nur durchdringt sie unsre Armee! O überlaßt den armen Wicht Den Ottern und den Nattern nicht! Und ist die Rache noch so klein, Das Opfer will verteidigt sein — „ S t i m m e n der F r e i h e i t " , schmettert ein Halt In die Gefolgschaft schnöder Gewalt! Stimmen der Freiheit, läutet zum Sturm, Berstet der Zwingburg Bollwerk und Turm!

Alarm

1899 Der kleinste aller deutschen Chansonniere Tritt vor dich, Volk, und spricht dich also an: Hast du noch nicht genug an der Misere, Die dich entnervt, die schleichend dich umspann? Willst du dir noch das Zuchthaus öffnen sehn? Und ist dies Joch noch länger auszustehn? Empor, o Volk, und wahre deine Ehre, Bevor's um deiner Freiheit Rest geschehn! Wär ich ein Simson, könnt ich Säulen stürzen! Wär ich ein Herwegh oder Freiligrath, Ich wollte kühn den Kampf der Knechte kürzen Mit Donnerton, mit rascher Männertat! Ström aus, mein Lied, und ruf die Streiter wach! Die Flamme glüht, bist du auch klein und schwach.. Zerspreng der Schlinge Knoten, den sie schürzen — Empor, o Volk! allüberall Verrat!

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Bettler 1899 Die Vöglein betteln uns an: Sie mögen nicht hungern und frieren, Ihr kleines Leben verlieren — Der Sperling immer voran. Ihr Vöglein, lasset das sein! Und hungern und frieren die Kinder Und öffnen zum Betteln die Münder, So sperrt der Büttel sie ein. Die Vöglein werden bedacht, Doch läßt der Menschen Erbarmen Die Not der Kinder der Armen Noch viel zu sehr außer acht. Die Vöglein sind zum Genuß Erfunden worden dem Reichen; Die Bettelkinder, die bleichen, Sind zu der Satten Verdruß.

Aufgepaßt 1899 Arme Sklaven! o wie lang Währt die Finsternis der Fron! Und ihr seufzet sehnsuchtsbang — Aufgepaßt: Es dämmert schon! Arme Sklaven! Euch bedrückt Noch der Schlummergeister Bann. Vorwärts, bis der Zeiger rückt — Aufgepaßt: Der Tag bricht an!

Das Buchverbot 1899 Zwei Büchermacher — ein Poet Und einer, der sonst nichts versteht. Als kraß zu schildern Mord und Brand — Die reichten einstmals sich die Hand. „Nun?" frag der Dichter ganz betrübt, „Hast du dich in Geduld geübt? Wie geht's mit deinem Schundroman, Der zieht wohl schwer die Käufer an?" „Oho!" lacht da der andere auf. „Mein Schundroman ist längst im Lauf. Ab geht er wie das liebe Brot, Das macht das — Polizeiverbot!" Der Dichter schleicht sich still davon Und spricht zu sich im dumpfen Ton: „Es geht mit meinem Buche schief —" Dann setzt er sich und schreibt den Brief. „Verehrtester Herr Staatsanwalt! Verbieten Sie mein Buch recht bald! Es mag nicht ziehn, das Publikum Sucht Contreband' — ich bitt darum!"

Militärfromm 1900 Wenn wir so die Welt betrachten. Wie sie der Verknechtung frönet, Müssen wir uns selbst verachten, Weil das Spiegelbild uns höhnet! Pickelhauben und Monturen Grinsen hämisch uns entgegen, In den Städten, auf den Fluren Protzen sie uns allerwegen. 96

Kein Journal im deutschen Reiche, Daß zum Spott dem Bürgerstande Litte nicht an Fahnenseuche, Prahlte nicht mit unsrer Schande! Selbst die Tante „Gartenlaube" Hat der Jugend ganz vergessen, Und es schmückt die alte Schraube Sich mit Paspeln und mit Tressen. Bürgerlichen Abonnenten Wird zur Strafe, daß sie's lesen, Eingeimpft von Hof — Skribenten Kriegerisch verfehltes Wesen. Sagt, wohin ist Bürgertugend, Männerstolz vor Königsthronen, Wenn die Mann gewordne Jugend Nur noch gilt in Bataillonen? Frieden braucht die Welt! Die Würger Sind Schmarotzer, die uns pressen! Ist der Bauer, ist der Bürger Im Soldatenstaat vergessen? Und wir müssen sie erhalten, Die die Zähn' uns zeigen offen! In der Schundorgane Spalten Prangen sie, aufs Haar getroffen. Schließlich kommt der Leser selber Auf den klassischen Gedanken, Daß sich Ferkel, Zicklein, Kälber Um die Pickelhaube zanken. Bürgersinn und Männerwürde Sind zu Spott und Hohn geworden; Nur der Esel trägt die Bürde, Und der Affe trägt den Orden.

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Das Risiko der Bergarbeit

igoo Im Jahre Achtzehnhundertneunundsiebzig, Da ist in Zwickau großes Leid geschehn. Ein großes Leid — allein das Herz ergibt sich, Wenn andre Stürme schneidend es durchwehn. Am ersten des Dezember abends waren Wohl hundertfünfzig unerschrockene Bergleute zu der Nachtschicht eingefahren, Ums Brot zu kämpfen, um das trockene. „Denn Not und Elend schreiten immer düsterer Daher durch harten Winters langer Frist. Der Nahrungsmangel waltet immer wüster, Der Handel stockt", berichtet mein Chronist; Und weiter: „Das Erbarmen ist erstorben, Der Bergmann hat im finstern Totenkleid Von Anbeginn um den Moment geworben, Und die Gefahr umschwebt ihn jederzeit." Indes die Herren ihre Dividenden In Ruh verzehren, taucht sich in den Schlund Der Arbeitsklav, des Leibes Not zu wenden, Und weiß nicht, steigt er wieder aus dem Grund. So war die Nachtkolonne eingefahren Für der Familie kargen Unterhalt, Da schlug der Donner in die fleiß'gen Scharen, Und neunzig Menschenherzen wurden kalt. „Es war", schreibt mein Chronist, „mit einem Male, Als stürze ein des Brückenberges Schacht"; Der Donner brüllt in grellem Wetterstrahle, Wie eine Batterie Geschütz erkracht. Die Elemente standen in Empörung Und fällten unbarmherzig Haupt um Haupt ; Im Augenblicke hatte die Zerstörung Das arme Volk um manches Glied beraubt! Ein Schreckensschrei die Region durchhallte; Die schwergetroffene Bevölk'rung eilt 98

Zur Unglücksstätte, wo in tiefster Falte Des Flözgebirges das Verhängnis weilt. Noch blieb vielleicht nur wenig auszulosen, Das Schicksal, das uns scharfe Dornen beut', Es hatte drunten seine weißen Rosen Auf seine stillen Opfer ausgestreut. Die alten Väter und die armen Mütter! Die Witwen und die Waisen, die im Nu Erzeugt das unterirdische Gewitter, Sie sahn verzweifelnd dem Beginnen zu; Hernieder fuhren zwar die Kameraden Zu eignen Lebens drohender Gefahr, Doch hemmten ihren Fuß die Wetterschwaden, Wo tief im Flöz die Unglücksstätte war. Der Wetterscheider war zerstört, Brandgase Verstrichen jede Bahn zum nächsten Schacht, Die Luftverschlüsse fehlten in der Phase, Das Fördergerüst war von der Wucht zerkracht. Man war bemüht das Ärgste abzuwenden, Die Lebenden zu retten aus der Qual — Vergebens war es, Beistand auszusenden, Den Weg verlegte ihm der Wetterstrahl. Erst Tags darauf vermochten sie die Leichen Zu Tag zu fördern, immer mehr und mehr; Ein Bild, granitne Herzen zu erweichen, Und kaum ein Auge sah man tränenleer. Man weiß es nicht, von wem die Stumpfe stammen, Die, braungebraten, sie heraufgeholt; Dem einen Leichnam hatten wilde Flammen Das Fleisch bis auf die Knochen durchgekohlt. Da lagen sie in langen Doppelreihen, Die Opfer einer schnöden Produktion! Wenn Schlotbarone um ihr Risiko schreien, Klingt's nicht wie gotteslästerlicher Hohn?! Da lagen sie in öder Totenkammer, Auf Stroh gebettet, die fürs liebe Brot Gestorben waren zu der Ihren Jammer; Zurück ins Leben rief sie kein Gebot! 99

Das Gräßliche des Anblicks auszumalen Ist jedes Dichters Phantasie zu schwach. Wer schmiedet Worte für die höchsten Qualen? Wer fühlt dem Schmerze der Verzweiflung nach? Denn Hunderte von Menschenwesen waren Auf einmal der Ernährer all beraubt; Wohl wächst das Herz in Stunden der Gefahren, Doch nur, so lang es noch an Rettung glaubt. Hier war der Trost ein Tropfen Öl ins Feuer, Mildtätigkeit, sie ward Beleidigung; Dem Herzen war das Opfer viel zu teuer. Es preiszugeben ohn' Verteidigung — Dann wurden die Gefallenen bestattet, Die Priester predigten von Gottes Huld. So schlummert, von Zypressen überschattet, Und habet mit den Lebenden Geduld! Allein, wie gräßlich auch die Katastrophe Hereingebrochen über eine Schicht, Wie tief zum Herzen spricht die Apostrophe, Es war darum das größte Opfer nicht. Wer zählt sie her, die Tausende der Leichen, Die einzeln sich in Jahr und Tag gehäuft! Wer rechnet die, so auf der Strecke bleichen. Nach denen langsam das Verderben greift? Wer kontrolliert die Seufzer und die Flüche, Am Füllort und im Flöze ausgehaucht, Indem die luft- und lichtbegier'ge Psyche Ihr reines Kleid in gift'ge Gase taucht! Wer will der Arbeit Risiko unterschätzen, Wenn man's mit dem des Kapitals vergleicht. Und wenn man sieht, wie in den dumpfen Flözen Der Tod fortwährend hin- und widerschleicht? Die Nächstenhebe — 's ist zum Rasendwerden, Sie vorenthält dem Schwachen selbst sein Recht! Mag Teurung auch die Existenz gefährden. Mit Wenigem begnüge sich der Knecht! Die Lebensmittel steigern sie im Preise, 100

Und Zins und Steuern drücken nicht zu leicht; Die tägliche Bilanz kommt aus dem Gleise, Wenn nicht der Lohn gemeßne Höh' erreicht! Schroff abgewiesen sind die Forderungen Der Kohlengräber, die man trieb zum Streik; Sie haben uns ein Liedlein vorgesungen, Sultan und Pascha, Großwesir und Scheik! Sie traten offen auf des Starken Seite Und bohrten dreist den Schwachen in den Grund. Das Recht, ein Monopol der reichen Leute, Dem Armen einen Riegel vor den Mund! Preistreiberei gebührt Privilegierten, Doch den Enterbten nicht, die für den Preis, Den ihnen ihre „Herren" oktroyierten, Aufopfern sich in unentwegtem Fleiß. Was sollen die Leibeigenen beginnen? Die Sorge wächst, der Sold langt nirgend hin! Ist es nicht grausam, ihnen anzusinnen. Für karge Kost zu opfern dem Gewinn? Darf über meine Kraft der „Herr" verfügen? Ward ich gekauft, wie jedes Arbeitstier? Darf man mich um mein letztes Recht betrügen, Abfüttern mich, wie den gefangnen Stier? Sie hatten alle ihre Kraft vereinigt Und liefen wider den Rebellen Sturm, Er unterlag und wurde drum gesteinigt Und wird voll Hohn zertreten wie ein Wurm. Schreibt ein Skribent im Amts- und Wochenblatte „Die Bergarbeit sei so gefährlich nicht!" Schämt sich der Lüge nicht das spiegelglatte, Gesättigte Reporter-Angesicht? Die Bergarbeit ist freilich nicht gefährlich Für Tintenfische und Chamäleons! Drum wählen sie, und das ist mir erklärlich, Die leichtre Scherenarbeit auf Koupons.

Der Reichstag igoo Wozu ist der Reichstag da? Hopsasa, bumsfidera! Um in gräßlicher Blamage Sich zu ducken immerdar, Vorspann sein der Equipage Oder Papstes Dromedar. Mit dem Volke sich entzweien In der Pose der Lakaien — Dazu ist der Reichstag da! Hopsasa, bumsfidera. Wozu ist der Reichstag da? Hopsasa, bumsfidera! Diese Schar von Volksvertretern Liegen voller Ruppigkeit Mit den wahren Volksvertretern Immerdar in Zank und Streit. Alles dürfen sich die meisten Vor der Minderheit erdreisten Dazu ist der Reichstag da, Hopsasa, bumsfidera. Wozu ist der Reichstag da? Hopsasa, bumsfidera! Auserlesne Finsterlinge Legen mit vergilbter Hand Der Entfaltung Schling auf Schlinge, Herzverknöchert, hirnverbrannt. Und die Blüte freiem Strebens Sträubt des Zwanges sich vergebens. Dazu ist der Reichstag da! Hopsasa, bumsfidera. Wozu ist der Reichstag da? Hopsasa, bumsfidera! Ellenlange Reden reden, Herzlos, sinnlos, inhaltsleer. 102

Mit den Nachbarn sich befehden. Protzend auf das Militär. Recht in Widerrecht verwandeln, Schwätzen und dawiderhandeln — Dazu ist der Reichstag da! Hopsasa, bumsfidera. Wozu ist der Reichstag da? Hopsasa, bumsfidera! Sprechen die Minister - kuschen Oder ja zu sagen nur. Trotz Tartuffen und Cartouchen Zu besudeln die Natur. Kunst und Leben zu vernichten Und Bordelle zu errichten — Dazu ist der Reichstag da! Hopsasa, bumsfidera. Wozu ist der Reichstag da? Hopsasa, bumsfidera! Von Studenten sich verlästern Lassen wegen einer Tat Und den Männermut von gestern Abzuleugnen — welch ein Staat! Einen Bismarck abzuwehren, Um ihn später hoch zu ehren — Dazu ist der Reichstag da! Hopsasa, bumsfidera. Wozu ist der Reichstag da? Hopsasa, bumsfidera! Nur den Kaiser nicht erwähnen, Wenigstens nicht gar direkt. Von der „höchsten Spitze" gähnen Indirekt und inkorrekt. Doch bewilligt ihm die Rotte Alles, alles — auch die Flotte — Dazu ist der Reichstag da! Hopsasa, bumsfidera. Wozu ist der Reichstag da? Hopsasa, bumsfidera! 103

Uns die Münzen zu verfeinern. Reduzieren im Gewicht. Uns die Brote zu verkleinern, Daß die Hungersnot ausbricht. Für den Grundbesitz die Grenzen Vor der Einfuhr abzufangen Dazu ist der Reichstag da! Hopsasa, bumsfidera. Wozu ist der Reichstag da? Hopsasa, bumsfidera! Unsere Schulden zu vermehren Und die Steuern zu erhöhn, Jede Fordrung zu gewähren. Bis wir nackt und barfuß gehn, Und uns dafür abzustrafen Mit dem Unfugsparagraphen — Dazu ist der Reichstag da! Hopsasa, bumsfidera. Wozu ist der Reichstag da? Hopsasa, bumsfidera! Mit papierenen Gesetzen Überschwemmen unser Land, Die das Rechtsgefühl verletzen Und verwirren den Verstand. Für die Reichen Schutz und Hebel, Für die Armen Trutz und Knebel — Dazu ist der Reichstag da! Hopsasa, bumsfidera. Wozu ist der Reichstag da? Hopsasa, bumsfidera! Zwar — der Reichstag hat erst neulich Solch ein Monstrum abgelehnt — Doch der Bundesrat bringt's eilig Wieder ein, an Brot gewöhnt. Was sie eben schlecht befunden, Wird zum Recht in wen'gen Stunden Dazu ist der Reichstag da! Hopsasa, bumsfidera. 104

Wozu ist der Reichstag da? Hopsasa, bumsfidera! Warum sind wir die Gequälten, Die man recht- und schutzlos macht? Weil wir unsere Auserwählten Ausgewählt mit Unbedacht. Löst den Reichstag auf, Genossen! Besser bleibt er ganz geschlossen Dazu ist der Reichstag da! Hopsasa, bumsfidera. Wozu ist der Reichstag da? Hopsasa, bumsfidera! Nichts als Kneblungsparagraphen Hecken die Verräter aus Und die Pfaffen und die Grafen Stecken uns die Zung heraus. Auf Gendarmen und Soldaten Stützen sich die Plutokraten — Dazu ist der Reichstag da! Hopsasa, bumsfidera. Wozu ist der Reichstag da? Hopsasa, bumsfidera! Hätt ich ein Mandat empfangen, Und ich säß im höchsten Wichs Drin, umzischt von falschen Schlangen, Ich zerriß es augenblicks. Volk, dich deiner Haut zu wehren, Soll dich dieser Reichstag lehren Dazu ist der Reichstag da! Hopsasa, bumsfidera.

Maiglöckchen igoo Die Maiglöckchen läuten Bimbim, bimbim! Man spürt's schon von weitem — 105

Bimbim. Sie verstreuen den Duft In die schwingende Luft. Die Maiglöckchen läuten — Bimbim, bimbim! Was hat's zu bedeuten? Bimbim. Zum Verbrüderungsfest uns der Mai rufen läßt. Die Maiglöckchen läuten Bimbim, bimbim. Die Freikämpfer schreiten — Bimbim — Für den Achtstundentag In den duftenden Haag. Die Maiglöckchen läuten — Bimbim, bimbim — Ei, so laßt euch bedeuten — Bimbim — Legt die Arbeit zur Seit Erster Mai ist es heut! Die Maiglöckchen läuten — Bimbim, bimbim! Die Duft-Töne gleiten — Bimbim! Um die Erde herauf. Und die Völker stehen auf.

Krieg ígoi Was ist das für ein Roßgestampf, Ein Sausen und ein Tosen? Die Deutschen ziehen in den K a m p f , Entgegen den Franzosen! Es gilt, dem Erbfeind abermals 106

Gewandt eins auszuwischen, Statt ihm die Rheinprovinz und Pfalz Nebst Elsaß aufzutischen. Hurra! Ihr Deutschen, schnell vorauf, Werft die Kanaillen nieder! Ich selbst geh mit euch dran und drauf, Ihr seid ja — meine Brüder! Nicht frag ich: Seid ihr auch im Recht, Die Karten zu verschieben? Die Trommeln rufen zum Gefecht, Drum rechten wir mit Hieben. Doch halt! Sind die Franzosen nicht Auch meine Brüder? — Freilich! Und Brüdern in das Angesicht Zu schlagen, wie abscheulich! Kehrt, deutsche Brüder, schleunigst um,. Laßt ab vom Brudermorde! Verleugnet nicht das Menschentum, Wie eine Hunnenhorde! 0 nein! Nicht hört ein Ohr auf mich, Noch achtet meiner Warnung! Das Hunnenheer begeistert sich In schimpflicher Umgarnung. Wie Kain den Bruder einst erschlug — Aus Konkurrenzneid — metzeln Sich Völker nieder, Zug für Zug, Auf Winken ihrer Etzein. Berauschen sich in Alkohol Und an der Pfaffen Phrasen Um dann mit tierischem Gejohl Im eignen Fleisch zu rasen; Entehren sich mit Mord und Brand, Zerstampfen ihre Saaten. Doch will der „Feind" sein „Vaterland" Dem Bruder nicht „verraten". Und das sind Menschenbrüder? Das Sind „Ebenbilder Gottes"? 107

So gräßlich widerwärtig blaß, Wie Fratzen wilden Spottes! Sie schwören beid' auf „Gottes Sohn" Und sind „erlöste" Christen, Die mit der „Nächstenliebe" Hohn Sich unaufhörlich brüsten! Die Menschheit ist fanatisiert, Wie einst die Hunnenhorden! Die Brut, die sie zur Schlachtbank führt, Ist ihr zum Fluch geworden. Ein großer Selbstmord ist der Krieg, Ein blutiges Verzichten, Indes die Beute und der Sieg Zufällt den Bösewichten. Der Krieg zerstört die beste Kraft, Vernichtet alle Garben, Die wir durch Fleiß und Wissenschaft Im Frieden erst erwarben. Der Frieden fördert und erhält Die Schätze, die wir schufen; Der Krieg zerstampft das Saatenfeld Mit wilder Rosse Hufen. Das Vaterland wird in Gefahr Gestürzt durch Schranz und Schergen; Die hinter Thron und Kanzel zwar Den eignen Wanst verbergen; Die hinter unsern Leibern sich Geflissentlich verschanzen Und wie die Leichenräuber sich Bedienen ihrer Lanzen. Als ob nicht jeder Mensch ein Recht Sich auszuleben hätte, Schleift man den gottesfürcht'gen Knecht Zum Tode an der Kette. Kein Schutzpatron, kein Schlachtengott Beachtet das Gewinsel Um Fahnenweih und Segensspott Stupider Einfaltspinsel. 108

O Menschheit, wirst du deine Kraft Nicht einmal freibekommen, Die ewig die Leibeigenschaft In ihren Dienst genommen? Du schleppst gehorsam, blöd und stumm Zur Schlachtbank deine Glieder Kehr einmal nur die Waffen um Und streck die Dränger nieder! Trotz mutig dem Kommandowort, Dich in den Tod zu stürzen, Statt feig im wüsten Massenmord Das Leben dir zu kürzen! — Das Märchen ist so wunderschön Vom Heldentod erheuchelt — Das Vaterland soll untergehn, Das seine Söhne meuchelt!

§181 igol

Jetzt weinst du, Mütterchen, und klagst Und willst vor Schmerz vergehn. Du hast dir nichts dabei gedacht, Darauf wird nicht gesehn. Dir tat die arme Waise leid, Drum nahmst du sie zu dir, Dein einzger Sohn kor sie zum Schatz, Jetzt büßest du dafür. Dir glaubt nun niemand weit und breit, Schwörst du auch noch so hoch, Weißt du auch nichts von deiner Schuld, Ins Zuchthaus kommst du doch!

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Adolf Lepp

Das Klatsch-Trifolium

1903 Drei Klatschen traten einst zusammen Zu hecheln, wie man denken kann. Ihr Eifer stand in hellen Flammen, Ein jeder Nachbar kam daran. Kein Märchen ist's — man wird erkennen. Daß ich der Wahrheit mich erkühnt. Ich könnte euch die Namen nennen. Sie hätten's sicherlich verdient! Spießruten mußt ein jeder laufen, Der zu der Zeit vorüberkam, Sie wußten jeden umzutaufen, Nicht wurden ihre Zungen lahm! Merkwürdig, daß von jedem Nachbarn Das garst'ge Klatsch-Trifolium Nachteil'ges nur und ganz unsagbar Verschlimmert trug ins Publikum. O weh! was das zusammenbraute, Nicht appetitlich schmeckt und roch. Und wenn es auch kein Mensch verdaute, In etwas haften blieb es doch. Es wußte von der schlecht'sten Seite Jedweden Menschen anzusehn. Als ob nicht auch bescheidne Leute Auf ihren guten Ruf bestehn. Der gute Ruf! — In weitem Bogen Ging mancher um die drei herum, Um durch die Hechel nicht gezogen Zu werden vom Trifolium. Einheimst es manches Warnungszeichen ; Vergebens, wie sich denken läßt! Gibt es kein Mittel, auszuweichen Vor dieser geist'gen Beulenpest? no

Man sollte keck dazwischenhageln, Verschüchtert nicht vorübergehn, Die Klatschen an den Schandpfahl nageln Und ihnen Red und Antwort stehn. Als das Trifolium eine ganze Geschlagne Stunde durchgeklatscht, Da löste sich die eine Pflanze Los, hatte sie doch ausgetratscht. „Es schlägt schon voll, und kommt zum Essen Mein Mann, es grobe Worte setzt! Ich hab das Kochen ganz vergessen, Es hat sich interessant geschwätzt!" „Adjöh! Adjöh! Und bald mal wieder!" Nicht klapperten die Mühlen mehr. Sie schritt die Splittergasse nieder — Die beiden lachten hinterher. Entrückt kaum des Gehöres Weite, Zog durch die Hechel sie das Paar, Daß sie, trotz aller schlechten Leute, Die Schlechteste der Schlechten war. Doch als die zweite sich entfernte. Lacht frech die dritte hinterdrein: „Ob die mir jemand kennenlernte, Das soll die allerschlecht'ste sein!"

Rauhbein 1903 Ich stand gehobenen Kinnes Und kämmte mir meinen Bart, „O jeh!" rief meine Gesponsin, „Wie bist du, Urmensch, behaart!" Nu ja! Gesponsin! betrachtest Du mich erst heut so genau? 10»

Iii

In dieser herben Umgebung, Drin wird man beizeiten rauh. In dieser feigen Gesellschaft, Die nur den Frechen beschützt, Kann sich ein Mensch nur behaupten, Der Haar auf den Zähnen besitzt.

Militärische Taxen 1904 Im Stall der Kürassierkaserne Brach aus der Rotz. Manch Tier verreckt, Denn von dem Brodem der Interne Ward eins um's andere angesteckt. Man eilt, den Boden des Gebietes, Der Pestilenz aushaucht, zu fliehn Und mit den Resten des Gestütes Ein freies Biwak zu beziehn. Nun mochten die Soldaten frieren Und sich verschnupfen allesamt, Sie waren, draußen zu kampieren Im Herbst! durch den Befehl verdammt. Die rauhe Luft bekam den Pferden Vortrefflich, wie vorauszusehen, Sie mußten ja gerettet werden, Die Mannschaft mocht zugrunde gehn! Sie haben ihren Wert, die Stuten, Und auch der Hengst hat seinen Preis. Doch ganz umsonst sind die Rekruten, Sie kosten nur dem Volke Schweiß! Doch hat das Volk nicht dreinzusprechen, Verhext man seine junge Brut! Wenn es nur bluten muß und blechen, Wird ihm auch angst und bang zumutl 112

Die „Untertanen" geben zagend Und zitternd ihre Söhne her, Sie wissen: jeder Grund ist schlagend, Ohn Widerwert und Gegenwehr. Man hat den Sprößling herzugeben Und weiß nicht, ob er unversehrt Und unverletzt an Leib und Leben Als Mann und Mensch zurückekehrt. Doch weiß man besser bei den Pferden, Die man zu der Remonte stellt. Daß menschlich sie behandelt werden, Denn ach! die Pferde kosten Geld.

Das Lied vom Ersten Mai 1905

„Der Erste Mai ein Feiertag!" Die Herrenmenschen rufen, Sie, die uns nichts als Ungemach Und sich nur Freuden schufen. Für jene ist das ganze Jahr Nur eine einz'ge Feier, Indes für sie der Proletar Sich müht in einer Leier. Doch wenn der Herrenmensch befiehlt, So läuten alle Glocken. Es wird der Herrgott ausgespielt, Die Leute zu verlocken. Und wenn der Herr es wünscht, so muß In Nacht- und Doppelschichten Das Volk zum eignen Überdruß Das Schmerzensgeld entrichten. Doch sind wir keine Kinder mehr, Die nach der Pfeife tanzen 113

Und auf den Wink der Plünderer Ununterbrochen schanzen. Ein Tag im Jahr muß unser sein. Das lassen wir uns nicht nehmen! E s soll der erste Tag im Mai'n Den Arbeitstrieb bezähmen. Das Arbeitsvolk der ganzen Welt Hat sich den Tag erkoren, Der dadurch seinen Glanz erhält, Daß es sich Treu geschworen. „Zugrunde geht der Klassenstaat!" So schrein die Herrn. Darüber Geh du, o Proletariat, Zur Tagesordnung über. Und kann der Staat nicht fortbestehn, Weil wir Verbrüdrung feiern, So mag er denn zugrunde gehn Mit allen seinen Schreiern. Wir hemmen nicht den Untergang Des morschen Staatsgefüges. Wir folgen unserm Freiheitsdrang Voll Zuversicht des Sieges — Drum Vivat, hoch der Erste Mai, Und hoch die Volksverbrüdrung! Der Herrenmenschen Litanei Bedarf nicht der Erwidrung.

Zum Feldzug gegen die Herero 1905 „Habt ihr's im Tageblatt gelesen? 's ist wieder eine Schlacht gewesen, Und was für eine blut'ge Schlacht! 114

Von uns sind nur zwei Mann geblieben, Der Feind ist ziemlich aufgerieben Und unbarmherzig niedergemacht." — „O Gott, wie ist das möglich? Haben Sich die Herero nicht gewehrt?" „Da ihnen kein Pardon wir gaben, Sind sie gefallen." — „Unerhört! Das ist doch keine Schlacht gewesen. Das war ein Massenmeuchelmord!" „Wir machen wenig Federlesen Mit jenen Feuerrüpeln dort. Sie würden unsere Nachsicht nur für Schwäche, Für Furcht erklären unsre Schonung. Dann zahlten wir mit unserm Blut die Zeche, Sie deckten sich mit ihrer Wohnung. So aber wissen wir auf unsern Märschen Stets das Gelände zu beherrschen. Wir respektieren keine Grenzen Und brechen den Hereros in die Fenzen, Plündern die Werften, stecken sie in Brand Und unterwerfen uns das Land. Erklären es für unser Schutzgebiet, Von dem kaum der Erobrer Nutzen zieht." — „Die armen Eingebornen! Unbestritten In ihrem Rechte werden obdachlos gemacht, hinausgetrieben nackt und bloß, Geplündert und beraubt der Hütten. Wenn sie nicht gar noch abgeschlachtet werden, So wie die ihnen abgenommenen Herden. Und fragt man sich, warum der Massenmord Geschieht? Die Eingebornen schießen Doch sicher nicht aus ihren Gassen dort, Um wenigstens nicht alles einzubüßen, So sind sie wehrlos, wenn man sie vernichtet, Und werden ohne jede Schuld gerichtet! Daraus erklärt sich auch die Differenz Des Blutverlusts: es fallen nur die Feinde. Es heftet sich der Sieg an die Potenz, Als dauerhaft bewähren sich die Freunde. Ja, wenn man Unbewehrte niederknallt, Ist man vor Schaden sicher, ist der Sieg 115

Gewiß. Doch ist das auch kein rechter Krieg, Das ist ein Handstreich schimpflichster Gewalt. Die armen Kinder, unglückseligen Frauen. Und was geschieht mit ihnen? Werden sie Auch abgeschlachtet wie das liebe Vieh, Übt Gnade man mit Schaudern und mit Grauen? Spießt man die Kinder auf die Lanzen nicht? Begnügt man sich, zu Waisen sie gemacht Zu haben?" „Auch die jungen Pflanzen bricht Man unterschiedlos auf der Menschenjagd. Es gibt im Felde kein Pardon, So lautet unsre Instruktion. Wir schlagen alles tot, was wir erfassen, Und unerreichbar ist, was wir am Leben lassen." — „Und solches nennt sich Zivilisation!" — „Was wollen Sie! Wir denken, die Hererorotten In kurzer Zeit nunmehro auszurotten, Mitsamt den Bondelzwars, den Hottentotten, Buschklappern, wie die Stämme all sich nennen, Den'n wir nur eine Galgenfrist vergönnen, Uns ihre Unterwerfung zuzubilligen, Uns abzubitten, eh wir sie vertilgen." — „Wie schon so manchen Völkerstamm, Dem euren Schutz ihr aufgedrungen Und euren Trutz ihr aufgezwungen, Ihn abzuschlachten wie ein Lamm." — „Du lieber Gott, dafür sind wir die Sieger Und dünken uns unüberwindlich. Weshalb ermangeln unsre Unterlieger Der Fähigkeit, der Zeit sich anzupassen! Das rächt an ihnen sich empfindlich. Unwiderstehlich wirken unsre Waffen, Dem Deutschen Reiche Raum und Ruhm zu schaffen. Das Volk, das zuläßt die Ermächtigung, Hat keine Existenzberechtigung. Was soll es die Kultur gefährden? Es muß daher beseitigt werden, Es ist zum Sterben reif und muß Abtreten, das ist Schicksalsschluß!" — „Welch eine herrliche Kultur! 116

Hat Gott die Völker nur geschaffen, Um dran zu wetzen eure Waffen Und sie barbarisch wegzuraffen?" — „Herr Gott, das liegt in der Natur Begründet: in des Kreises Lauf Frißt eines stets das andere auf! Das läßt sich nun einmal nicht ändern Und geht so zu in allen Ländern, Wo fern blieb der Romanen Schuh, Da greifen die Germanen zu. Das Recht des Stärkern gilt zumal, Das Recht der Faust, roh und brutal!" — „Empören sich beim Niederwerfen Des Opferlamms nicht eure Nerven? Und wenn das Opfer niederbricht, Steigt euch die Scham nicht ins Gesicht? Und fühlt ihr bei dem Sterberöcheln Des Opfers nicht eu'r Herz umfächeln? Und wird es bei dem Opferblut Euch angstbeklommen nicht zumut?" — „ 0 nichts von alledem. Ja, anfangs zwar Stieg uns zu Berge wohl das Haar, Als wir den ersten Mord verübt Und sind dann schaudernd fortgestiebt. Die Zeiten sind vorbei. Wir schlagen Die Feinde nieder mit Behagen, Und statt die Pausen zu genießen, Sehnt man sich nur nach Blutvergießen. Mit Scham und Scheu hat's wenig Not, Da sieht man, wie der Krieg verroht! Was sagt der Lepp dazu?" — „Was soll ich sagen Sie handeln unklug, mich danach zu fragen. Ich steh auf Seiten der Herero Und fluche unserm zweiten Nero, Daß er auf jene seine Horden hetzt. Wenn Menschen je im Recht gewesen, Die Willkür zum Gefecht erlesen, So sind es die Herero jetzt. Feiglinge nur vergreifen sich an Schwache, Zum Himmel schreit das Blut hinauf um Rache. Drum ist der Sieg auch nur ein Pyrrhussieg

Und dieser Feldzug noch kein Cyruskrieg. Nicht Ruhm und Ehre für die Räuberbande, Ein Brandmal wirft es ab der ewgen Schande." „Sie Hochverräter, der Sie sich nicht scheuen, Die deutsche Trikolore zu besudeln! Und der, anstatt sich des Erfolges zu freuen, Nicht müde wird, den Waffenfeind zu hudeln. Sie wären wert, Durch Henkersschwert Wie ein Verbrecher abgetan zu werden!" — „Das kann mein Rechtsbewußtsein nicht gefährden. Ich des Erfolgs der rohen Faust mich freun, Der fremdem Volk Freiheit und Leben kostet? Soll in der Scheide mir die Seele rosten, Doch dieser Meuchelmord ist zu gemein. Ich trauere um die Ausrottung der Neger Und fluche dem Erfolge eurer Schläger! Ich zähle nicht zu jene Lungerer, Die Hymnen heulen auf das Hunnenheer. Erbärmlich ist's, die Schwachheit auszunützen, Anstatt sie vor Erschöpfung zu beschützen. Unwiderstehlichkeit der Übermacht Zerrinnt wie Nebel in der Nacht. Es darf nur noch ein Stärkerer kommen, Ist euch der Ruhm des Werks genommen. Und dünkt ihr euch unüberwindlich, Auch eure Nerven sind empfindlich. Und was euch schmerzlich wehe tut, Bekommt es dem Herero gut?" — „Nur eine Frage noch. Und was gedächten Der Herr zu tun, wenn etwas Sie vermöchten?" — „Wer, ich? O nichts! Allein ich bin mir einig, Ich rüstet' mich zum Kampfe schleunig Und schritt dem guten Recht voran, Kurz, die Herero führt ich an!"

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Zur Providenz

1905 „Vom Glauben kann niemand leben", Schreibt Schreiner Säge soeben Im „Wahren Jakob". Erwäge: Dem ist nicht so, lieber Kollege. Von Gottes lebendigem Worte Lebt eine ganze Konsorte Von Gottesdienern. Geschoren Und auch gescheitelt, Pastoren, Die pred'gen mit vielem Geräusch: „Das Wort sei geworden zu Fleisch." Daß man vom Fleische leben kann, Weiß heut'gen Tages jedermann. Und dieses Menschengeklügel Verfängt sogar beim Geflügel. Da Dohlen, Krähen und Raben Nichts als die Vorsehung haben, Verdanken sie ihr Gelingen, Um zu entfalten die Schwingen Und daß sie den Schnabel zu regen Und Fleisch zu fordern vermögen. Sie leben der eigenen Neigung, Doch wen'ger der Überzeugung. Sie leben vielmehr, da gibts keinen Streit, Von anderer Glaubensseligkeit. Du aber, werter Kollege, Kannst nicht vom Glauben leben, Das will ich dir gern zugeben — Leb du von deiner Säge!

Zum Sterben

1906 Wie wird mir's im Herzen so öde Und im Gehirn so dumpf! Wie wird mir das Auge so blöde

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Und das Gehör nur so stumpf. Es kommt — Heil sei meinen Erben — Zum Sterben. Ich wollte die Menschheit nur hassen, Die so verächtlich sich gab, Und konnte das Lieben nicht lassen Bis an mein rechtliches Grab; Es kommt, trotz Wirken und Werben, Zum Sterben. Wer so viel Herzen umstritten, Der gibt das seinige gern zu. Wer so viel Schmerzen erlitten Wie ich, der sehnt sich nach Ruh! Es kommt — wer wehrt dem Verderben — Zum Sterben. Lebt wohl, ihr sonnigen Freunde, Die ihr als treu euch erprobt! Lebt wohl, ihr höhnischen Feinde, Deren Geschrei mich umtobt! Es kommt im Gären und Gerben Zum Sterben. Bei allem, was ich getrieben, Gedacht ich meiner zuletzt; Arm war ich und bin es geblieben, Bis Hein die Sense gewetzt. Es kommt im Herbste, dem herben, Zum Sterben.

Letzter Trost 1906 Und ward ich beworfen mit kleinlichem Kot, Und ward mir weidlich geschadet, So sterb ich doch einen reinlichen Tod, Im Sonnenfreilicht gebadet. 120

Und mögen die Ehrabschneider sich Die schändlichen Knochen zerreiben. Die Armut hat doch das Gute für sich, Stets unbestochen zu bleiben. Ich habe mich wenigstens nicht auf die Mast Gelegt und Güter gespeichert Und habe mich nie, der Menschheit zur Last, Auf Kosten andrer bereichert. Was ich genossen, das hab ich verdient, Und zwar mit Zinsen und Zöllen. Und was ich verdrossen, das hab ich gesühnt, Gebt Raum dem armen Rebellen.

PROSA

Der Spottvogel im K ä f i g Autobiographische

Erzählung

Der Berliner S p o t t v o g e l brachte auf dem Umschlag seiner Nr. 11 des II. Jahrganges eine eigenartige Vignette. Der Spottvogel in höchsteigener Person s a ß mit gespreiztem Hahnenkamm in einem solid gearbeiteten Käfig, welch letzterer durch ein massives Vorlegeschloß, wie es gewöhnlich die Berliner Trödeljuden zur Versicherung ihrer Verkaufsstände führen, gegen jeden unberufenen Ein- oder Ausbruch gesichert war. Und über dem satirischen Bildchen stand: D e r S p o t t v o g e l — und darunter — i m K ä f i g . Und auf dem letzten Blatt der Broschüre stand zu lesen: Z u r g e f ä l l i g e n K e n n t nisnahme. Im wunderschönen Monat Mai, Als alle Knospen sprangen, Da ist der S p o t t v o g e l eins, zwei, drei, Ins Gefängnis hineingegangen. Hab ich aber gelacht, als ich Obiges zu Gesicht bekam. Ach wenn der S p o t t v o g e l - R e d a k t e u r in seinem Käfig hätte sehen können, wie ich beide Fäuste in die Seiten stemmte und lachte, lachte so recht aus voller Brust, aus Herzenslust. War es nicht auch in einem wenn auch ein wenig feuchten, w u n d e r s c h ö n e n M a i , wo ich kleiner Spottvogel e i n s , z w e i , d r e i , zum erstenmal hinter die eisernen Gardinen spazierte? Damals freilich, im Jahre 1872, war mir durchaus nicht lächerlich zumute, und ich hätte es dem Berliner S p o t t v o g e l nicht raten, überhaupt keinem Menschen raten wollen, über mein Mißgeschick zu lachen. Heute lache 122

ich selbst darüber und freue mich hämisch, das Leben auch von dieser Seite gekostet zu haben. Es scheint übrigens das Verhängnis der Spottvögel zu sein, den Finklern in die Finger zu geraten. Entweder sind die Spottvögel tölpelhaft, so daß sie so leicht überrumpelt werden, oder die Vogelsteller sind so unbändig schlau, uns pfiffige Kerle trotz unserer H e l l i g k e i t zu überlisten. Daß die Vogelsteller vorzugsweise nach uns ihre Netze und Fallen auswerfen, beweist entweder, daß wir ein gern begehrter Braten sind oder aber unser Gesang vor allem andern Singsang gefällt, oder endlich, und das scheint mir das zutreffendste zu sein, man versichert sich unserer Persönchen, weil man uns für sehr gefährlich hält. In der Tat wird nichts so sehr gefürchtet als der Spott : Seine Pfeile sind zielgewandt und wirken tödlich. Als ich 1869 in Döbeln einwanderte, fand ich bereits eine kleine Anzahl zielbewußter Arbeiter vor, aber sie waren zerstreut, ohne jeden Zusammenhang. Ich bemühte mich daher, die Einzelglieder zu sammeln und zu einer Organisation zusammenzuschweißen, die Aufklärung in die Massen zu tragen, damit diese wiederum die Organisation anschwellen mache und die Überzeugung von der Zukunft der Arbeit auch fruchtbringend wirken könne. Noch aber fehlte mir die Basis, auf der ich hätte festen Fuß fassen können. Ich war zu fremd und unbedeutend, um das Vertrauen der Arbeiter vorwegzunehmen. Der Zufall kam mir aber zu Hilfe und verschaffte mir ein wirksames Kreditiv. In vollzähliger öffentlicher Versammlung eines l i b e r a l e n Vereins b e w i e s der staunenden Hörerschaft ein Quasi-Professor seine wichtige Wahrnehmung, daß ein einziger gesalzener Hering mehr Nahrungsstoffe enthalte als ein ganzes Pfund Rindfleisch. Dem entgegen sagte ich den Arbeitern: Wenn sie sich von der Unrichtigkeit dieses Rechenexempels überzeugen wollten, so dürften sie nur ihren eigenen Magen fragen, der wisse am besten, was ihm fromme, und er würde beim Genüsse eines faulen Herings niemals so behaglich schmunzeln als beim Genüsse einer kräftigenden Rindfleischbrühe. Es scheine mir aber, die Rinder würden knapp, der Herr Professor möchte dieselben wohl

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für seine Auftraggeber, die Bemittelten, reservieren und rede deshalb den Arbeitern gütlich zu, sich höflichst mit dem minderwertigen Hering zu begnügen. Diese ironische Demonstration fand bei den Arbeitern jubelnde Aufnahme, und sofort stand ich mitten drin in der Bewegung. Ich gedachte das Eisen zu schmieden, da es noch warm war! Ich berief Volksversammlungen ein, sorgte für die Massenverbreitung von Flugschriften und Plakaten, zog Redner nach D. und, was das schwierigste an der ganzen Arbeit war, versicherte mich großer Säle. Kurzum, die Bewegung, die eben noch wie eine unscheinbare Quelle im Sande verrieselte, kam in Fluß, ja sie schwoll von Woche zu Woche mehr an und drohte, nach den Fiktionen der Begüterten, aus den g e s e t z l i c h r e g u l i e r ten U f e r n zu treten. Das Amtsblatt zögerte denn auch nicht, gegen die Bewegung zu leitartikeln, mich als denjenigen zu brandmarken, der das L a s s a l l e s c h e G i f t den bisher so f r i e d f e r t i g e n und mit ihrem Lose s t e t s z u f r i e d e n e n A r b e i t e r n e i n g e i m p f t habe, und dieselben vor mir, dem Aufwiegler, Wühler, fremden Hetzer usf., eindringlichst zu warnen. Als ich dem Redakteur auf die Bude rückte mit einer durchaus sachlichen, die Tatsachen richtigstellenden Entgegnung, verweigerte dieser die Aufnahme, weil der Artikel zu l e i d e n s c h a f t l i c h gehalten sei. Als ich ihn auf die Leidenschaftlichkeit seiner mir aufgeprägten Ehrentitel aufmerksam machte, schrie er förmlich nach der Polizei und faselte von Erpressung und Hausfriedensbruch. Das sind nun die Helden, die die kräftig voranschreitende Arbeiterbewegung mit g e i s t i g e n W a f f e n bekämpfen bis auf den heutigen Tag! Die unliebsamen Folgen meiner Agitation und des Hetzartikels des Amtsblattes blieben allerdings nicht aus. Während die Bewegung immer höhere Wogen schlug, hagelte es Denunziationen auf mich herab, und es gab eine glücklicherweise nur kurze Periode, in der ich am Amtsgericht und dem Rathause kaum mehr herunterkam. In einer Woche drei bis vier Vorladungen war nichts Seltenes mehr, und als ich einst von einer neuntägigen Agitationstour zurückkehrte, fand ich sechs Vorladungen vor: Bald sollte ich eine unangemeldete Versammlung 124

abgehalten haben, die gar nicht stattgefunden, bald wieder staatsbedrohliche Worte geäußert haben an Orten, die ich nie betreten, dann wiederum sollte ich polizeilich nicht sanktionierte Plakate angeklebt haben und dergleichen mehr. Es wurde mir außerordentlich leicht, alle diese falschen Angaben in ihr Nichts aufzulösen, bis — ja bis sich endlich doch ein Häkchen fand, an dem ich mich gründlich verfing. Schon glaubte ich in jugendlicher Leichtlebigkeit unfaßbar zu sein, da saß ich bereits an der Angel. Es war nämlich unter den kleinen proletarischen Kämpfen und Exerzitien das blutige Jahr 1870 und mit ihm der Deutsch-Französische Krieg hereingebrochen. Die b e s s e r e G e s e l l s c h a f t am Orte hatte sich seltsamerweise in zwei feindliche Lager geteilt: Die eine Partei ließ die Franzosen hochleben und schrie: „Nieder mit Preußen!" Die andere machte es gerade umgekehrt. In einer unglücklichen • Nacht kam es zu ruhestörendem Lärm und pöbelhaften Handgreiflichkeiten. Die hochgebildeten Herren hatten vor dem Ratskeller gesessen und bis tief in die Nacht gezecht und gekanngießert. Erhitzt von Wein und Esprit, brüllten sie sich gegenseitig nieder, bearbeiteten sich mit Fäusten und Gelegenheitswaffen und warfen sich die teils erst halbgeleerten Weinflaschen an die gescheitelten Denkerschädel. Die anwohnenden Bürger fuhren erschreckt aus ihrer Nachtruhe, öffneten die Fenster und baten sich energisch Ruhe aus. Die Polizei ermahnte zur Ordnung und Mäßigung, aber alles vergebens. Man schob sie beiseite, und es wurde lustig weiterscharmützelt bis in die Morgendämmerung hinein. Der anständigere Teil der Einwohner D.s aller Stände war entrüstet über diesen Vorfall und, während sich die Bourgeoisiepresse in naives Schweigen hüllte, sprach man allerorts in nicht gerade schmeichelhaften Ausdrücken darüber. Man hat nie gehört, daß dieser himmelschreiende Vorfall ein gerichtliches Nachspiel gehabt hätte, wohl aber wurde meine freimütige Kritik der unhaltbaren Zustände unter die juristische Sonde gezogen. Das Volk hat eben Order zu parieren und gegebenenfalls zu marschieren — das Spintisieren steht ihm nicht an. 11

Adolf Lepp

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Als nun aber die ersten Siegesnachrichten vom Schlachtfelde hereindrangen, arrangierte die Bourgeoisie ein Jubel-Trubel-Fest, während die preußenfeindliche Opposition sich schweigend verkroch. Die Stadt wurde weidlich bekränzt und beflaggt und abends großartig illuminiert. Das leider noch gar zu wankelmütige Volk wurde zu Umzügen aufgeboten, und auf demselben Marktplatze, auf welchem nur wenige Nächte zuvor die Weinflaschen-Bataille getobt hatte, hielt der in Arbeiterkreisen berüchtigte Muster-Patriot, Herr N., eine salbungsvolle Predigt mit dem bonapartistischen Refrain: Das K a i s e r r e i c h ist d e r Frrriede! — Und draußen auf den Schlachtfeldern verbluteten zwei große Völker für diesen Frieden! Abends nach dem Fackelzug wurde eine große Volksversammlung improvisiert, in welcher die wissenschaftlich Gebildeten dem ungeschulten Volke d a s Segensreiche eines solchen Krieges vordemonsfrierten. In der alles beherrschenden Siegesfreude übersah man, wer ich war, und ich gelangte wahrhaftig zu Worte. „Arbeiter!" rief ich, „hört mich an! Die besitzende Klasse mag alle Ursache haben, Siegesfeste zu feiern und bunte Fahnen zu hissen, ihr Interesse ist mit dem Kriege verknüpft. Wir aber, die Arbeiter, deren Väter und Brüder auf dem Schlachtfelde verbluten und die wir schließlich die Zeche bezahlen müssen, haben kein positives Interesse am Völkermord, den wir obendrein für barbarisch und unmenschlich erklären. Für uns ist der heutige Tag ein Trauerfest, wir sollten uns daher der Statistenrolle schämen und schwarze Flore hissen. Nieder mit jedem Krieg! Es lebe der Frieden!" Weiter kam ich nicht. Das schüchterne Bravo, das mir gespendet wurde, verhallte im rasenden Wutgebrüll der Entrüstung. Rufe ertönten: V a t e r l a n d s v e r r ä t e r ! H i n a u s m i t d e m S c h u f t ! usw. Ich fühlte mich urplötzlich von zahlreichen Händen erfaßt und hinausgehoben aus dem Festlokal, oder vielmehr, ich schwamm förmlich auf einer höchst erregten Volkswoge hinaus, und draußen auf der Straße wurde ich behutsam auf die Füße gestellt und mir, ohne mir jedoch sonst ein Leid zuzufügen, von oben bis unten das Jackett zerschlitzt. Ein 126

wohlgeschniegelter Herr, seines Zeichens ein Advokat, inkriminierte mich fortwährend: „Was bezwecken Sie damit? Sind Sie als Agitator hier? Wollen Sie Propaganda machen?" usw., worauf ich die einzige Gegenfrage stellte: „Wollen Sie Bürgermeister meiner Kommune oder lieber Präsident meiner noch zu errichtenden Republik werden? Welchen Posten ziehen Sie vor?" So bin ich denn ein erstes und einziges Mal mit Eleganz an die Luft gesetzt worden! Was hat auch der lose Spottvogel in den geheiligten Räumen der Bierbankphilister zu schaffen? Er kann seine Schwingen nur im Freien heben, und sein Lied pfeift sich nur gut von den grünen Zweigen des Erkenntnisbaumes herab. Das einzig Kränkende an der ganzen Bescherung nur war, daß es A r b e i t e r h ä n d e waren, die sich herbeiließen, ihren natürlichen Gegnern freiwillige Bütteldienste zu leisten, und Arbeiterhände waren es auch, die mir den Rock auf dem Leibe zerrissen. Ich fragte mich mit banger Sorge: „Wird das arbeitende Volk ewig der herrschenden Klasse sein Kontingent an Bütteln und Statisten stellen, oder wird es endlich, wie ein Mann, sein Interesse wahrzunehmen versuchen?" Wir hielten es für angezeigt, zu all diesen Vorgängen, und zum Krieg insbesondere, prinzipiell Stellung zu nehmen. Ich berief zu diesem Zwecke eine Volksversammlung ein mit der Tagesordnung: „Krieg und Christentum". In Ermangelung eines geschulteren Referenten sprach ich. Ich verglich den friedseligen Geist des jungen Christentums mit dem kriegerischen Wesen des modernen Christentums, stellte die leuchtende Idealgestalt Jesus' dem heutigen zweideutigen Jesuitismus entgegen, der sich in allen Nuancen spreize, und tadelte die Kirche scharf, daß sie die christlichen Lehren nicht praktisch ausmünze. Jedenfalls wäre es ihr Beruf, gegen den Krieg zu protestieren. Sie habe tatsächlich die Macht besessen, jeden Mord zu verhindern, es sei lediglich letztlich ihre eigene Schuld, das Heft aus den Händen gegeben zu haben usw. Die Dialektik meines Vortrages war vielleicht nicht unanfechtbar, aber der Vortrag selbst war höchst moralisch und tief sittlich. Seine Quintessenz klang in den Versen aus: 11'

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Ihr mögt von Kriegs- und Siegesruhm So viel ihr wollt der Welt verkünden, Doch schweigt mit euerm Christentum, Gepredigt aus Kanonenschlünden! Seid, was ihr wollt, nur seid es ganz! Ein Beispiel nehmt an G o t t e s S o h n e : Christus trug keinen Lorbeerkranz Und Cäsar keine Dornenkrone. Und ein solcher Vortrag, der selbst den Gesinnungsgegnern hätte imponieren sollen und selbst dann, wenn der ungeschulte Redner in derber ungekünstelter Ausdrucksweise agiert, hat mich zum Staatsverbrecher degradiert und mir e i n e n M o n a t G e f ä n g n i s eingetragen. Und sonderbar. Gerade meine harmlosesten und sachlichsten Auslassungen haben Ärgernis erregt und zu kriminellen Erörterungen Anlaß geboten, während ich jedesmal, wenn ich mich schuldig wußte, die polizeilichen Redegrenzen überschritten zu haben, unangefochten blieb. Die Anklage lautete auf Gotteslästerung und Verächtlichmachung des kirchlichen Instituts und behauptete, ich hätte die Kirche mit dem Bordell und die Lehre Jesu mit der Hure verglichen, allein, davon ist mir kein Wort bewußt, ich weiß nur noch, daß ich die Leutseligkeit Jesus' gegenüber der Ehebrecherin und der Magdalena rühmend hervorhob. Meine sich zahlreich selbst meldenden Entlastungszeugen behaupteten demgegenüber, der die Versammlung überwachende und die Anzeige erstattende Schutzmann habe ein Räuschchen gehabt und zudem in der Versammlung geschlafen. Sie wurden gleich in der Voruntersuchung mit dem Bemerken zurückgewiesen, sie seien p a r t e i l i c h verdächtig und könnten überdies die inkriminierten Worte ü b e r h ö r t haben. Damals war ich in der Selbstverteidigung noch unbeholfen und linkisch. Heute, wo ich in die advokatischen Winkelzüge einigermaßen eingeweiht bin, wüßte ich mich besser zu resolvieren. Während der Prozeß lustig weiterwucherte, wählte mich die Arbeiterschaft zum Delegierten der Landesver128

Sammlung zu Chemnitz. Ich wußte bereits bei meiner Abreise, was mir bevorstand. Als ich zurückkehrte, war ich entlohnt und geboykottet worden und mußte D. verlassen. Ich wandte mich nach W., wo ich Beschäftigung fand und wohin auch mir der Prozeß folgte. Was die Juristen einmal gepackt haben, das lassen sie so leicht nicht wieder fahren. Der Prozeß wurde in D. weitergeführt, ich wurde in W. kommissarisch verhört. Zwischen dem mich verhörenden Assessor und mir gab es einen unerhörten Auftritt. Der martialische Herr war augenscheinlich gegen mich eingenommen und machte durchaus kein Hehl daraus. Er hielt mir eine donnernde Philippika und bezeichnete mein Delikt als Blasphemie und sozialdemokratische Frechheit. Ich bewahrte gewaltsam die Ruhe. Auf meine Entgegnungen antwortete er drakonisch: „Schweigen Sie! Ich glaube Ihnen kein Wort! Sie können sich auf eine hohe Strafe gefaßt machen!" Scheinbar ruhig, doch innerlich erregt, werfe ich die Frage hin: „Und wenn Sie zu verfügen hätten, welche Strafe diktierten Sie mir dann zu?" „Nun, an mir sollte es wahrhaftig nicht liegen!" erwiderte er: „Zwei Jährchen Festung sind Ihnen sicher." „Und was bekommen Sie für Ihre Bemühung?" frug ich immer noch ruhig. Dann aber platzte ich los, denn ich vermochte nicht länger an mich zu halten: „Sie bekommen den Orden!" Nun aber fuhr auch der Assessor empor, baumlang und kerzengerade stand er vor mir, seine Augen funkelten, sein Gesicht war erdfahl geworden, und mit bebenden Lippen schrie er mich an: „Mensch, was gestatten Sie sich!" „Ich habe gesagt, eines Ihrer Knopflöcher sehnt sich nach dem Piepvogel, umsonst ist der Tod!" brüllte ich, worauf er mit Stentorstimme rief: „Noch solch ein Wort, und ich lasse Sie abführen!" „Handeln, aber nicht drohen!" schrie ich. „Das also ist Ihre ganze Kunst, mir Ihre Machtvollkommenheit fühlbar zu machen!" Was sonst noch für Ausdrücke gefallen sind, ist besser, 129

sie nicht dem Papier anzuvertrauen. Kurzum, wir gerieten beide in solche Wut, daß sich rechts und links die Seitentüren öffneten, sämtliche Federn ihr kreischendes Geräusch einstellten und die Protokollanten andächtig lauschend verharrten. Auf einmal öffnete sich die Mitteltür, und hereinschritt im Schlafrock, die lange Pfeife in der Hand, der Herr Amtmann. „Herr Assessor!" rief er, „ich bitte Sie, was ist das für ein Auftritt hier?" „Entschuldigung, Herr Amtmann", stotterte der Assessor, „aber der Mensch da nimmt sich Dreistigkeiten heraus, die ich mir nimmermehr gefallen lassen werde!" Höflich intervenierte ich: „Erlauben Sie, Herr Amtmann, daß ich Ihnen eine andere Darstellung von dem Sachverhalt gebe als der Herr Assessor." „Schweigen Sie!" herrschte mich der Amtsgewaltige an, wendete sich indessen sogleich zum feuerrot gewordenen Assessor: „Herr Assessor", sagte er, „Sie müssen wissen, daß es des Juristen nicht würdig ist, durch irgendein Vorkommnis außer Fassung zu geraten. Wenn sich der Mann Unzulässiges erlaubt, so haben wir Mittel genug in der Hand, um ihn in die gebührenden Schranken zurückzuweisen. Für heute dispensiere ich Sie vom Amt. Sie sind zu sehr erregt, um unbefangen verhandeln zu können." Der Amtmann ging, ich war entlassen. Mein nächster Termin fand vor einem freundlichen, bescheidenen Beamten statt, und ich bemühte mich redlich, den schlechten Eindruck, den ich hervorgerufen, wieder zu verwischen. So standen die Aktien, als ich wieder in die Lage geriet, die Behörden gegen mich aufzustacheln und meine Lage möglichst zu verschlimmern. Im nahen S. tagte eine Volksversammlung, in der ich selbstverständlich nicht fehlte. Ein ganzer Tisch war besetzt mit Polizei- und Gerichtsbeamten aus W., welche einen solchen Lärm vollführten, daß niemand zu Worte kam und der Einberufer nicht imstande war, seine geschäftlichen Formalitäten zu erledigen. Augenscheinlich war es darauf abgesehen, die Versammlung zu provozieren und zu sprengen. Ich erhielt das Wort zur Geschäftsordnung. 130

„Meine Herren", sagte ich, „die Beamten sind meines Erachtens dazu da, die Ordnung im Staate herzustellen und zu erhalten, nie und nimmer aber die Ordnung zu durchbrechen. Was soll das aber für ein Beispiel geben, wenn selbst Exekutivbeamte hier die parlamentarische Ordnung stören, und zwar geflissentlich, um die Versammlung nicht zu Worte kommen zu lassen. Ich frage die Herren dort am Tische: .Gehört das zu Ihrer Funktion?' Frenetischer Beifall folgte meinen Worten, ich hatte der Versammlung aus dem Herzen gesprochen. An dem Tische dort drüben war es mäuschenstill geworden. Der Einberufer konnte ungestört die Büro wähl vornehmen und der Referent sich seiner Aufgabe entledigen, welche darin bestand, den Arbeitern ihr Klasseninteresse plausibel zu machen, sie zu belehren, daß sie sich auf niemand als auf sich selbst verlassen dürfen und daß sie bei gegebenen Anlässen als kompakte Masse auftreten, namentlich sich aber bei der bevorstehenden Wahl solidarisch erklären sollten. Rauschender Beifall lohnte den Referenten. Ihm entgegen trat der schon erwähnte Herr N., Friedensapostel von D.: „Ich bedaure sehrrr", schnarrte er, „daß man die Arbeiterr zu überreden sucht, keinen Kompromiß mit der besitzenden Klasse einzugehen. Kapital und Arbeit sind doch eng verknüpft durch die gemeinsamen Interessen, die sie miteinander haben. Die Harmonie zwischen Kapital und Arbeit darf nicht frevlich zerstört werden, wenn nicht der Gesellschaftsorganismus Schaden nehmen soll!" Und nun malte er der mustergültigen Versammlung eine Potemkinsche Landschaft von der Fürsorge der Bemittelten für die Arbeiter vor. Ich nahm das Wort und bewies dem Korreferenten in kurzen Worten, auf wie gebrechlichen Füßen diese Fürsorge stehe und daß die Interessen der Reichen den Interessen der Armen diametral zuwiderlaufen und daß derjenige, der dem arbeitenden Volke einen Kompromiß mit den Besitzenden anraten könnte, es nicht gut mit ihm meine, indem er wissen müsse, daß dies eine Schafschur bedeute und wir stets und ständig die Gerupften wären. Die Zeiten der Bevormundung des Volkes sind 131

ein für allemal vorüber, das Volk ist mündig geworden und hat gelernt, auf eigenen Füßen zu stehen. Die Zustimmung der Versammlung zu meinen schlichten Worten war so ausschlaggebend, daß Herr N. sich zwar das Wort erbat, sich aber eines besseren besann und darauf verzichtete. Endlich wurde mein Prozeß entschieden, und ich erhielt sechs Wochen Karzer. Die Justiz arbeitet zwar langsam, aber sicher. Die Hauptmomente der Anklage hatte man als unhaltbar fallenlassen. Ich wurde wegen einfacher Gotteslästerung verurteilt. Die Begründung des Urteils ist mir in meinem ganzen Leben nicht zur Kenntnis gekommen. Zur Berufungsverhandlung fand ich mich in einer offensiven Stimmung ein, beleidigte die Richter, indem ich sie der Parteilichkeit zieh und ihnen mit der Kassation durch das Urteil des Volkes drohte. Indessen, ich hatte Glück. Sei es nun, daß die Richter mein Gebaren einer jugendlichen Unbeholfenheit oder einer selbsterklärlichen Gereiztheit, sei es, daß sie es meiner bisherigen „Unbescholtenheit" zugute rechneten, sie ließen es außer Betracht und reduzierten meine Strafe auf vier Wochen Haft. Heute würde ich für ein solches Delikt aufs neue prozessiert und unbarmherzig verurteilt werden. Es kam die Zeit heran, wo das Urteil nach seinem Opfer schrie. Die Aussicht, daß ich mich meinen Feinden als Kriegsgefangener ausliefern soll, versetzte mich in eine so hochgradige Erregung, daß ich nahe daran war, der Staatsgewalt offenen Widerstand entgegenzusetzen. Mich wie ein folgsames Lamm selbst ausliefern zu müssen, wie ein Verbrecher behandelt zu werden, das dünkte mir so schimpflich, erniedrigend, daß ich beschloß, meine zwangsweise Abführung abzuwarten. Doch als sich mein exaltiertes Gemüt etwas besänftigte, gewann die bessere Überlegung die Oberhand. Und da ist dann im wunderschönen Monat Mai der kleine Spottvogel in den Käfig gekrochen! Aber mit einer Seelenstimmung, daß ich das Gerichtsgebäude in die Luft sprengen, das Gefängnis hätte zerstören mögen. Ich büßte meine Strafe im Amtsgefängnis zu W. ab. 132

Damals war die Polizei hier und dorten in unserem hellen Vaterländchen noch mit dem Amtsgerichte verquickt. Als ich mich dem auf der Wachstube befindlichen Beamten vorstellte, sagte derselbe im wegwerfensten Tone: „Das ist was Rechts!" Dann wandte er mir verächtlich den Rücken und ließ mich stehen und stundenlang warten, als wäre ich ihm zum Gefangenen zu schlecht. Und als später ein zweiter Beamter herzutrat, wies ersterer mit dem Daumen über die Schulter nach mir und sagte so halblaut, daß ich es hören mußte: „ Sieh Dir den einmal an! Das ist der Bursch, der sich in der Versammlung zu S. so rüpelhaft benommen hat." Der andere gab ein langgedehntes „So?" von sich, wandte sich halb herum und fixierte mich mit funkelnden Augen. Ich stand wie auf glühenden Kohlen und biß mich in die Lippen. Ich hätte sonst etwas gegeben, endüch mit mir allein in der Zelle zu sein. Nachdem sich die beiden eine Zeitlang unterhalten hatten, als sei ich nicht vorhanden, wandte sich der erstere direkt mit der Flage an mich: „Wie gedenken Sie sich Ihren Zukunftsstaat einzurichten?" Ich antwortete scharf: „Mit einem Amazonenchor und Sie an der Spitze als Oberjäger!" Der Fragesteller tat, als habe er meine Bemerkung überhört, und sagte nach einer Weile: „Na, ich denke doch, Sie werden hier schon anders pfeifen lernen." „Geben Sie sich keinen Illusionen hin", entgegnete ich, „in Ihren Federn vielleicht — in meinen ist die Mauser ausgeschlossen!" Da trat der Wachtmeister ins Lokal. Sofort verfinsterten sich seine trotz seiner erkünstelten Schroffheit nicht unsympathischen Züge — ich mußte mich auch noch zur Duldung einer Leibesvisitation erniedrigen — dann sagte er barsch: „Kommen Sie!" Schweigend führte er mich in eine Zelle und warf prasselnd die von außen verschließbare Türe zu. Ich saß gefangen. Buchstäblich genommen, saß ich eigentlich noch nicht, ich stand vorerst gefangen. Breit auf die Füße gestellt, als hätte mir soeben jemand einen Schub versetzt, und ich fände gerade den Ruhepunkt wieder. Perplex stand ich da, stand weniger bewußt gefangen als unbewußt befangen. Kurzum, die neue, bisher unbekannte Situation 133

machte mich verlegen, ich war einen Augenblick wie vor den Kopf gestoßen, ich fand nicht den nötigen Halt in mir, mich sofort hineinzuleben. Langsam schwächer werdend, verhallten die Korporalsschritte meines Kerkermeisters in der Ferne. Erschöpft sank ich auf den formlosen Schemel, den einzigen Sitzapparat in der Zelle. Uff! — Ein lauter Stoßseufzer erleichterte die wie zugeschnürte Brust. Ich war mit mir allein und den Spießruten der verhaßten Polizeimenschen glücklich entronnen. Die Stagnation hatte nur Sekunden gedauert. Ich fühlte, wie mir das Blut zu Kopfe stieg und wie mehr Bewegung in den Kreis meiner Vorstellungen kam. Wie ist mir's denn? Hatten nicht auf dem nämlichen Schemel bereits wiederholt Diebe, Brandstifter, Mädchenschänder, Räuber und Lustmörder gesessen? Am Ende wohl gar die schlimmsten Spezies der „blonden Bestie" Mensch: Kuppler und Halsabschneider? Wo denk ich hin! Kuppler, Wucherer und Halsabschneider wissen die Fallen und Ruten der Vogelsteller geschickt zu umgehen. Von ihnen fällt selten jemand hinein. Im Grunde genommen sind sie ja auch für das Gefängnis zu schlecht. Ich sah mich um. Diese trübselig öden Kerkermauern! Diese unheimlich schmale, enge Zelle! Droben, fast unter der Zimmerdecke befindet sich, meiner Hand unerreichbar, ein starkvergittertes Luftloch, Fenster genannt. Das Licht läßt es nur spärlich und mehrfach gebrochen herein. Dem Luftloch gegenüber diese finstere, schweigsame, abgeriegelte Pforte — bin ich denn ein wildes Tier, daß man sich meiner so ängstlich versichert? Bin ich ein Aussätziger, daß man mich von allem Verkehr absperrt, als fürchtete die saubere Gesellschaft durch mich verseucht zu werden? "Und dieses primitive Meublement! Ein hölzerner „Sitz", ein unbeschreiblicher Kübel, ein eiserner, pessimistisch dreinschauender Ofen. Und in dieser künstlich konstruierten Mördergrube sollte ich freigeborener Singvogel, dem oft die Straßen der Städte zu öde waren und der seinen Flug kühn 134

erhob über die Dächer der Tempel und Paläste hinauf in eine glanzerfüllte Freiheitssphäre, hinaus in den vertraulich wispernden Wald. Zähneknirschend ausharren, einen ganzen erschrecklich langen Monat hindurch? In dieser verrammelten Höhle soll ich den schönsten Monat des Jahres, den lieblichen Mai vertrauern müssen, mit eingezogenen Flügeln und lahmgelegter Zunge? Unmöglich, diesen wüsten Zwang auch nur eine Stunde zu ertragen! Plötzlich bemächtigte sich meiner eine gewisse Platzangst. Jäh sprang ich empor, mit immer hastiger werdenden Schritten durchmaß ich den Käfig, und ehe ich es selbst wollte und wußte, stürzte ich mich mit voller Wucht auf die heimtückische Tür, um sie aus den Angeln zu sprengen. Allein, sie wich und wankte nicht. Nach wiederholten vergeblichen Bemühungen rannte ich die Wände an, jedoch auch diese widerstanden meiner unzulänglichen Kraft. Einen Ausgang aber mußte ich mir erzwingen. Plötzlich sprang ich zum Fenster empor, die begehrliche Hand nach den Eisenstäben gereckt, indessen die beträchtliche Höhe •all meiner Versuche spottete. Ein Glück nur, daß ich kein offenes Fenster fand. Ich glaube, ich hätte mich in der Ekstase hinausgeschwungen und wäre hinabgestürzt in den gähnenden Tod oder in die noch schrecklichere Yerkrüppelung. Eine solche hochgradige Erregung dauerte zum Glück nicht allzulange an, es erfolgte naturgemäß eine wohltätige Reaktion. Ich raste noch eine Zeitlang im Räume herum, meine Bewegungen v/urden langsamer und schließlich sank ich ermattet auf meinen Schemel zurück. Noch kochte mein Blut, noch keuchte die Lunge, doch trat mit der Sehnenerschlaffung allmählich eine Sänftigung meines überreizten Gemütszustandes ein. Nach einer Minute absoluter Lethargie wurde ich ernster und nachdenklicher. Vier Wochen Gefängnis! was ist denn das? Hat nicht der Mann mit der eisernen Maske den ganzen langen Rest seines bemitleidenswerten Daseins lebendig begraben verseufzen müssen? Hat nicht die Bubenrache eines beleidigten Despoten dem unglücklichen Opfer die Bewegungsfreiheit beschnitten? jede geistige Betätigung entzogen, ihn zu ewiger Stummheit 135

verdammt? Bin ich nicht tausendmal besser daran als Kriegsgefangener einer von Humanität triefenden Obergewalt? Wer hindert mich am freien Gebrauch meiner Gliedmaßen und meiner Zunge? Ich kann turnerische Übungen und Verrenkungen vornehmen, kann singen und springen, niemand wird es gewahr werden, niemand wird es verhindern. Für geistige Beschäftigung hatte ich selbst vorgesorgt, in meinen Stiefeln staken wohlgeborgen einige Papierstreifen und ein Bleistift, die Visitation war nicht gründlich genug vorgenommen worden. Muse, wo bist du? Richtig, da stand sie vor mir und lächelte mir zu, sie war selbst ins Gefängnis gefolgt. Weg mit Überdruß und Trauer! Schranken spotten dem Gebox! Mit den Hörnern rennt die Mauer Ein kein Büffel und kein Ochs. Auf einmal stieß mich der Satyr in den Nacken. Ich lachte hell auf, meine Leichtlebigkeit kehrte zurück. Ich sah nämlich einen Geist vor mir, einen lichten, leibhaftigen Geist. Ich kannte den weiblichen Geist, es war die Idee. Ein hagerer Professor der Theosophie goß ihr den Inhalt seines Tintenfasses in den Schoß, und ein Doktor der Sophistik bemühte sich, ihr hinten seinen Stempel aufzudrücken. Aber die Tinte spritzte zurück, dem Professor in Mund und Augen, so daß er nur wenig blinzeln konnte, die schmale Zunge herausstreckte und sprudelte und sich die lange schwarzmelierte Nase rieb. Der vornübergeneigte Doktor hingegen fand keinen Anhaltspunkt, bekam das Übergewicht und berührte mit seiner rubinbesetzten Birnennase unsanft den Fußboden. Ihren Händen entschlüpfte die Idee, unbefleckt und reiner als zuvor. Und ich eingehegter Menschenstier will den Kopf durch die Mauer rennen! Es ist zu komisch. Drüben aber, drüben in ihren Büros sitzen die Richter und Amtsschreiber, zermartern sich das Gehirn und kritzeln sich die Finger lahm, um die Idee zu modifizieren. Ja, wenn die Jurisprudenz nicht so ledern wäre und noch ein Ideal zu verfechten hätte! Aber die Moral 136

hat sich längst überlebt und ist nicht mehr zeitgemäß, und ihre Quästoren kämpfen bedauerlicherweise gegen Windmühlenflügel. Das war alles recht schön und lustig. Ja, aber die gehässigen Polizeimenschen, denen mich die Richter auf Gnade und Ungnade überantwortet haben und die ich selbst zuvor noch gegen mich aufgestachelt hatte, wie werden sie mich die langen, bangen Wochen hindurch gelegentlichst kujonieren, ohne daß ich imstande wäre, erfolgreiche Abwehr zu leisten? Man hat bereits so manchen kläglichen Hilfeschrei aus den Gefängnissen heraus vernommen, und das Recht des Gefangenen ist stumpf. Nun gleichviel, mag kommen, was kommen will. Die Suppe, die ich mir selbst habe eingebrockt, wird mit Humor gewürzt, mit Ironie gesalzen, mit Satire gepfeffert und — ausgelöffelt. Gelöffelt? Ja, wenn ich nur einen Löffel besäße. Man hat mir nichts geboten, aber alles genommen, sogar das Taschenmesser, damit ich nicht in Versuchung gerate, mich oder den Kerkermeister zu erstechen. Draußen näherten sich die markanten Schritte des Kerkermeisters, gleichsam wie an meine Gedanken herangehaspelt. In der Türe öffnete sich ein Schieber, man reichte mir Wasser und Brot herein. Schweigend wurde es gereicht, schweigend nahm ich es in Empfang. „Gefangener, woran fehlt's sonst noch?" „An Tinte, Feder und Papier!" „Gibts nicht!" Die Klappe flog zu, der Kerkermeister entfernte sich. Diese Szene wiederholte sich einstweilen täglich, nur daß man mir auf die Forderung nach Tinte, Feder und Papier keine Antwort mehr gab. Jetzt war ich wieder allein und konnte weiter spintisieren. Wasser und Brot! Wie fein würde es mir munden, in der Freiheit genossen und durch meiner Hände Arbeit sauer verdient. Hier aber, von meinem Kerkermeister mir vorgeworfen wie einem Kettenhunde, ist es höchst kränkend für mich, es annehmen zu müssen. Hier würde selbst ein Braten für mich eine Beleidigung sein. Ich stieß den Wasserkrug verächtlich zu Boden und warf 137

das Brot in die entfernteste Zimmerecke. Ich bin mein Lebtag stets so polizeiwidrig anspruchslos gewesen, ach, wenn man doch gar keine Bedürfnisse hätte. Mögen mir indessen die Polizeimenschen die geistigen Bedürfnisse immer zu verübeln suchen, mögen sie mir Tinte, Feder und Papier zur Betätigung meiner Gedanken verweigern, ich werde mich schon notdürftig zu entschädigen wissen. Ich zog sofort Bleistift und Papier aus dem Stiefel und kritzelte auf denkbar kleinsten Raum, um mit dem Material zu geizen, mein erstes Gefangenengedicht, mit dessen Rezitation ich jedoch den geduldigen Leser nicht einschläfern möchte. In der Dämmerung ward mir ein Strohsack gereicht, den vor mir höchstwahrscheinlich Dirnen, Diebe, Mörder und Räuber benutzt hatten — bei dieser Wahnvorstellung durchrieselte es mich kalt. Allein, ich war bereits wieder nüchtern genug, meine eigenen Vorurteile zu zerpflücken. Schlechterdings sind Frevler und Verbrecher auch nur Menschen mit menschlichen Lastern, menschlichen Tugenden. Wer weiß, wie manchem die unverschuldete Not oder die geflissentlich anerzogene Unkultur oder der krankhafte Jähzorn oder welch ein niederträchtiger Einfluß zum Verbrecher geleistet hat, wieviel Edles und Erhabenes in ihm erstickt worden ist? Wer weiß, wieviel schuldlos Hineingeschworene denselben Schemel, auf dem ich hier sitze, gedrückt, den zur Ruhe winkenden Strohsack dort gequetscht und gewälzt haben, während draußen sich die scheußlichsten Laster ungetrübter Freiheit erfreuen, die gefährlichsten Subj ekte das „Zuchthaus nur mit dem Ärmel streifen" und sich des häßlichsten Wohllebens erfrechen. Freiheit, du wirst häufig genug mißbraucht und vergewaltigt, gerade wie das Recht und die Wahrheit und wie alles, was schön und edel ist. Nennen sich doch auch verschiedene Menschen „Arbeiter", die den Glacehandschuh kaum mehr von den Händen streifen! Beati possidentes! Ich schlief auf dem harten Verbrecher-Strohsack wie der Herrgott in Frankreich und träumte, die Königin von England zu sein. Einige Tage waren in nichtssagender Gleichförmigkeit dahingeflossen. Ich hatte mich in das Hausreglement 138

bereits eingelebt, als ein Ereignis eintrat, in dessen froher Erinnerung ich noch heute schwelge. Ein Ereignis, wenigstens f ü r mich, den Gefangenen; wie die Niederkunft jeder exotischen Prinzessin ein „freudiges Ereignis" für die nationalservile Presse ist. Es mochte am vierten Tage meiner Inhaftierung sein, ein lichter frischer Frühlingstag. Draußen im Städtchen war Wochenmarkt. Ich las in einem jener verlorenen Bücher, die für das Odium ihres Vorhandenseins zeitlebens Strafanstalt erhielten, während ihre Verüber frei ausgehen, als sich meiner Zelle leichte, trippelnde Schritte nahten und durch die dicke Kerkertür gedämpfte Frauenstimmen hörbar wurden. Die Türe wurde von ungewöhnlicher Hand erschlossen und herein trat die Frau Wachtmeister und die Mutter meiner Geliebten, eine gutmütige, schweigsame Person mit einem lieben, stets freundlichen Matronengesicht. Sie trat mir mit vielverheißendem Lächeln entgegen, reichte mir die warme, weiche Hand und sagte einfach und herzlich: „Kut'n Tak, mei Suhn! Wie geht's?" Ich drückte ihr kräftig die treue Menschenhand und sagte tief bewegt: „Gute Mutter A., Sie sind die erste Person, die sich um mich kümmert! Nun weiß ich doch wenigstens, daß ich nicht vergessen bin!" Sie öffnete einen großen mitgeführten Handkorb und sagte schmunzelnd: „Vergessen? ei, wer wird Sie denn vergessen!" Und nun packte sie aus, alles, was mütterliche Fürsorge für einen von allem entblößten Sohn nur zu geben vermag. Weißbrot und Kuchen, Butter und Käse, Wurst und Schinken, Radieschen und Erstlingsfrüchte, warme wollene Strümpfe, Filzschuhe, Halstuch usw. Sprachlos mit feuchten Augen stand ich da und nahm die reichen Spenden in Empfang, verlegen um ein Behältnis, wo hinein ich sie spedieren konnte. Die Frau Wachtmeister wußte Rat, sie öffnete die Röhren des ungeheizten Ofens und sagte: „Immer hier hinein in den ungewaschenen Schrank — so! Und machen Sie die Türen immer hübsch zu, damit nicht gleich jeder gewahr wird, was er verbirgt." Plötzlich hielt mir Mutter A. beide mit Eiern gefüllten Hände entgegen und sagte: 139

„Hier! — Aber nun hamm Se widder keen Tiegel, um se zu braten?" „Geben Sie sie mir", sagte die Frau Wachtmeister, „ich brate sie ihm." „Und nu hab' ich noch was, hie, unger meiner Scherze", sagte Mutter A., „das raten Se nich!" „Beste Mutter A.", sagte ich stockend, „Sie sorgen wirklich für mich wie eine leibliche Mutter!" Sie brachte, schelmisch neckend, einen frisch duftenden Veilchenstrauß zum Vorschein und sagte: „En scheenen Gruß von mei'm Paulinchen, Ihre Lieblingsblumen und am Sundig kam' se selber!" Ich führte den Liebesgruß an meine zuckenden Lippen, eine Träne fiel darauf. „Frau Wachtmeister, hamm Se kee Däppchen und ä bissei frisches Wasser, um de Blümel neiz'schtellen?" frag Mutter A. „Werde alles besorgen", antwortete die andere. „Suj mei Suhn!" hub Mutter A. wieder an, „und woran fehlts denn noch?" „Sie haben fast an alles gedacht, Mutter. Sie haben mich reich beschenkt, aber eines haben Sie doch vergessen: mir fehlen Tinte, Feder und Papier!" Mutter A. wandte sich zutraulich an die Frau Wachtmeister und fragte: „Kann er's hier nicht erhalten?" „Ich will mal mit meinem Mann Rücksprache nehmen", antwortete die Gefragte, „er wird es erhalten." „Frau Wachtmeister", sagte Mutter A. eindringlichst: „Halten Se mer den Menschen gutt! Er verdient's wahrhaftig nich, hie z' sitz'n!" „Soviel halten Sie auf den Menschen?" frug jene frappiert. Mutter A. bot mir zum Abschied die Hand: „Läh'm Se wohl, mei Suhn, und grämen Se sich nich! De baar Wuchen verflieg'n schnell." Es war mir nicht möglich zu sprechen, ich bog ihren Kopf herüber und küßte sie auf die Wange. Die Frauen entfernten sich. In der Tür drehte sich Mutter A. noch einmal um: „Und nichts an Paulinchen zu beschtell'n?" In Ermangelung der Worte warf ich ihr eine Kußhand zu. Lachend schoben die Frauen ab. Es war die höchste Zeit, daß man mich verließ, ich mußte mit mir allein sein. Mein Glückseligkeitszustand war unbeschreiblich. Ach, wie unendlich viel Glück und 140

Freude kann schon ein einziger guter Mensch um sich verbreiten. Die Liebe wäre kein leeres Wort, die Erde ein wirkliches Paradies, wenn alle Menschen durchaus liebreich und gut wären. Mit dieser alten, guten, im Städtchen allgemein gut geachteten Matrone, die ich heute noch im Grabe segne und die ganz uneigennützig verfuhr, indem sie an den Ernst des Verhältnisses ihrer jüngsten Tochter zu mir nicht einmal glaubte, kehrte der Engel der Versöhnung in meine Zelle ein und erhellte den öden Raum mit idealem Glanz. Ihre liebe, warme Erscheinung zerschmolz das Eis aller Herzen. Frieden kehrte ein in meine Brust, von Stund an trat eine erfreuliche Wendung ein in der Begegnung der sich bisher schroff abneigenden Personen. Verkannte Elemente näherten sich, alle Ärgernisse hörten auf, und, was ich nie für möglich gehalten hätte, ich lernte sogar einige gemütvolle Polizeimenschen schätzen und lieben. Noch hielt ich den Veilchenstrauß in meiner Hand, den ich mit Tränen befeuchtete und mit Küssen bedeckte, da trat die Frau Wachtmeister mit einem Wassertöpfchen und einem zweiten Schemel herein, stellte ersteres auf letzteres und sagte: „Hier stellen Sie Ihr Bouquet hinein!" Darauf sah sie mich zärtlich besorgt an und fügte leise, jedoch ein wenig indiskret hinzu: „Ich glaube gar, Sie weinen!" Geräuschlos entfernte sie sich wieder. Etwa eine Stunde später erschien der Wachtmeister selbst mit Feder, Tinte und Papier und sagte immer noch ein wenig barsch, dem man jedoch das Gezwungene anhörte: „Hier ist das Verlangte! — Ihre eigene Schuld, es nicht früher erhalten zu haben! Merken Sie sich eines: Der Gefangene hat nicht zu fordern, sondern zu bitten!" Dann ging auch er wieder, nicht ohne mir einen langen Blick voll warmer Sympathie zugeworfen zu haben, und mir kam es so vor, als trete er heute wieder schroff auf. Mein Kerkermeister fühlte, daß ich allein sein wollte. Aber tags darauf wurde ich von dem Tische des Wachtmeisters gespeist. Der Wachtmeister selbst war mein täglicher Gast, und wir haben oft stunden- und vierteltagelang miteinander disputiert, bis ihn schließlich sein Beruf zwang, die Unterhaltung abzubrechen. 12

Adolf Lepp

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Dafür wurde mir jede erdenkliche Vergünstigung zuteil. Ich erhielt ein Federkissen zugebilligt und, als ich um Beschäftigung bat, sogar einen Tisch, Eß- und Handwerkszeug, um Briefumschläge für das Gerichtsamt zu fabrizieren. Von diesen selbstgefertigten Couverts habe ich nach Jahr und Tag noch einige mit gerichtlichen Zustellungen erhalten, weil ich sie an meiner Arbeit wiedererkannte. Als aber mein Prinzipal von einer Geschäftsreise zurückkehrte, sandte er mir Rohmaterial zur Verarbeitung in die Zelle und zahlte den ausbedungenen Akkordlohn an die Sparkasse, welche mir bei meiner Entlassung einen bestimmten Prozentsatz aushändigte. Mein Prinzipal besaß die seltene Generosität, nachträglich mir für mustergültige Arbeit eine ExtraVergütung zuzubilligen. Später freilich, als in seiner Fabrik mit allen anderen im Orte zugleich der Streik ausbrach und ich mich nicht herbeiließ, den Streikbrecher zu spielen, mag es ihm leid getan haben. Kehren wir jedoch in das Gefängnis zurück. Ich hatte neben der Arbeit her eine Anzahl Gedichte verfaßt, das eine immer revolutionärer als das andere, darunter auch einige Liebeslieder und etliche ethischen Inhalts. Ich hatte dieselben in den Erholungsstunden schön säuberlich gefeilt und blankpoliert, ins reine geschrieben, in einem Umschlag verschlossen und an einen Freund adressiert. Bei meiner darauffolgenden Begegnung mit dem Wachtmeister händigte ich diesem Couvert und Porto mit der Bitte aus, die Offerte an ihre Adresse besorgen zu lassen. „Sie dürfen das Couvert nicht verschließen", sagte er, „jede Zeile, die das Gefängnis verläßt, muß zuerst durchgelesen werden." „Entschuldigen Sie, das habe ich nicht gewußt", stammelte ich verlegen und streckte die Hand nach meinem Briefe aus. „Halt", sagte er, „nun ist es zu spät! Ich betrachte den Brief als eingeliefert." Ich warf ihm einen langen Blick nach, als er sich entfernte. Jetzt glaubte ich wieder einen neuen unüberlegten Streich verübt und somit meine Lage verschlechtert zu haben. Alle diese Reimereien atmeten die Morgenluft einer hereindäm142

mernden Freiheit, sie boten Trotz dem verknöcherten Zwange, riefen sehnsüchtig den Geist der Zukunft herbei und überschütteten die Epigonen der Schikane mit giftigem Spott. Grund genug für Paragraphendeuter und Aktenmenschen, den Verfasser der Verse für verwerflich zu halten. Dreieinhalb Stunden verbrachte ich in Hangen und Bangen, dann kehrte der Wachtmeister zurück, meine flatternden Manuskripte in der Hand. „Sie haben was Schönes angerichtet", sagte er scheinbar barsch, „also ein Freiheitsdichter und noch dazu ein blutigroter!" „Ist es denn gar so schlimm ? " fragte ich. „ Sehr schlimm", erwiderte er, „selbst Ihre Liebeslieder triefen von Rosenblut." „Das sollt ich nicht meinen." „Der Herr Amtmann läßt Ihnen durch mich sein Kompliment zu Ihrem schönen Talent entbieten und Sie fragen, wo Sie studiert haben!" „Ich studiert? Auf einer ganz primitiven Elementarschule, und zwar alles in allem gerechnet höchstens ein Jahr." „Nicht möglich!" „Und dennoch wahr! Was wollen Sie? Fast meine ganze Schulzeit hindurch war ich krank und konnte die Schule daher nur hin und wieder besuchen." Der Wachtmeister sah mich lange durchdringend an und sagte dann endlich: „Wenn ich Sie nicht für einen rechtschaffenen Menschen hielte, wäre ich geneigt anzunehmen, Sie treiben ein loses Spiel mit mir! Soll ich dem Herrn Amtmann berichten, Sie hätten nicht studiert?" „Herr Wachtmeister", sagte ich, „ist es denn noch so verdächtig, nicht studiert zu haben? Sollen wir den Herrn Amtmann belügen?" „Solche Gedichte wie diese hier macht man nicht mit Elementarschulunterricht! " „Warum denn nicht? Talente werden angeboren, aber nicht anerzogen!" „Mag sein!" erwiderte er, „aber das Talent ist ein roher Edelstein, den die Schule erst abschleifen muß." „Schön gesagt, aber nicht durchaus zutreffend. Ich bin der einzige Künstler nicht, d. h., wenn ich überhaupt 12*

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ein solcher bin, der sein Talent in der rauhen Schule des armseligsten Lebens selbst geschliffen hat. Ich erinnere beispielsweise an den Maler Correggio. Die verketzerte Arbeiterbewegung hat der selbstgeschulten Talente eine Unmenge zur Verfügung." „ E s sind doch immer Sprachkenntnisse und grammatikalische Vorstudien erforderlich, um ein untadelhaftes Gedicht verfertigen zu können." „Diese Vorkenntnisse kann man sich eben durch eisernen Fleiß und zähe Ausdauer selbst aneignen, vorausgesetzt, daß man zum Studium veranlagt ist. Mein Vater war ein mittelloser Proletarier, ein anderer bin auch ich nie gewesen. Als ich die Schule verließ, die ich nur gelegentlichst frequentieren konnte, hatte ich kaum die Fertigkeit erlangt, einen anständigen Brief stilisieren zu können. Dazu war ich genötigt, mein Brot zu verdienen, um leben zu können. Da hieß es denn nun, sich selbst auszubilden. Jeden Groschen, den ich mir vom Munde abdarbte, verwandte ich für zweckentsprechende Lehrmittel. Am Tage arbeitete ich für kargen Lohn, des Nachts las, schrieb, zeichnete und rechnete ich. Und so bin ich dann Autodidakt in des Wortes verwegenster Bedeutung. Freilich hat es mich manchen Schweißtropfen, manche schlaflose Nacht gekostet." „Also ein selbstgemachter Mann?" warf der Wachtmeister hin, bemerkte dann aber sogleich, indem er das Steckenpferd, das er ritt, nicht zwischen den Beinen losbekommen konnte: „Aber immerhin, studiert haben Sie doch!" Ich lachte hell auf und entgegnete dann: „Nun gut, ich bin in der Lage, Ihnen eine Konzession machen zu können: Ich habe allerdings studiert." „Na sehen Sie mal", unterbrach er mich vorwurfsvoll, „jetzt endlich rücken Sie heraus!" „Sie irren", sagte ich, „zum Beziehen einer Hochschule ermangelte ich außer des nötigen Kleingeldes der erforderlichen Reife. Das Komödienhaus war mein Hörsaal, sodann das Forum, die Kirche, die Volksversammlung und, ich hebe es ganz besonders hervor, der Wald!" „So!" sagte der Wachtmeister ganz verblüfft, „wollen Sie sich nicht deutlicher erklären?" 144

„O gewiß! Der Wald mit seinen himmelhohen Strebepfeilern, seinem grünblauen Baldachin, seinem stimmungsvollen Rauschen und anmutendem Schweigen war meine ethisch-lyrische Schule, und ich betrachte all die kleinen gefiederten Sänger als meine Brüder und Lehrmeister. Was Sie an mir als Edelsteinschliff bezeichnen, ist eigentlich nichts weiter als unverfälschte Naturmusik." „Sie sind ein Sackermenter", lachte der Wachtmeister. „Wie listig Sie sich aus der Schlinge ziehen!" „In der Volksversammlung habe ich Dialektik und Logik studiert, im Forum Sophistik, Fabulisterei und Zungenschlag, im Komödienhaus die Kulissenmoral." „Und in der Kirche?" warf er lauernd hin. „Das fromme Gemüt und die gute Sitte, welch beides mir innewohnt." „Aha", lachte er sardonisch, „deshalb sitzen Sie hier!" „Das beweist noch nichts gegen meine Ästhetik, auch ein schuldloses Lamm kann straucheln, der Paragraph stellt eine unberechenbare Schlinge dar." „Daß ich es nicht vergesse", sagte er einlenkend, „der Herr Amtmann läßt Sie durch mich um die Abschrift Ihres Gedichtes M ä n n e r t r ä n e n bitten." „Zugestanden", sagte ich. „Und dann hätte auch ich eine Bitte", sagte er, „ich wünsche nämlich die gleiche Abschrift." „Zugestanden", erwiderte ich. „Sie wollen es aber nicht als Forderung, sondern als Gefälligkeit betrachten", bemerkte der Wachtmeister etwas zweideutig, und ich empfand den Stich. Dann fuhr er geschäftsmäßig fort: „Fügen Sie Ihre Gedichte außer M ä n n e r t r ä n e n in ein neues Couvert, und kleben Sie es zu. Ich nehme keinen Anstand mehr, dasselbe zu befördern. Bei späteren Briefsendungen dürfen Sie die Regel nicht außer Obacht lassen, so daß wir Einsicht vom Inhalt nehmen und die Umschläge selbst verschließen können." Sonderbar. Dieses eine Gedicht habe ich in der Folge noch verschiedene Male für Herren und Damen, sogar für einen Schreiber abschreiben müssen, und doch ist es nur sentimental, während die übrigen mehr oder weniger Kraft und Energie atmen und sich ganz vorzüglich zum Baumfällen und Mauerbrechen eignen. Aber von ihnen 145

mochte niemand etwas wissen, und diese verknöcherten Aktenmenschen erwiesen sich auf einmal als weichherzig und erschienen mir im sensitiven Lichte! Mit Geschmack läßt sich nicht rechten! Von dieser Zeit an begegnete mir jeder mit Achtung und Höflichkeit, aber auch mit oft belästigender Neugier. Ein Dichter als Sträfling, das mochte dem kleinen Amtsgefängnis noch nicht widerfahren sein, und dennoch gibt es gerade so gute und verhältnismäßig viele Dichter in der Gefangenenzelle als in der Freiheit. Selbst dem unvergleichlichen K l a d d e r a d a t s c h - P o e t e n Trojan ist das „fidele Gefängnis" nicht erspart geblieben. Diese Erscheinung läßt verschiedene, weit abweichende Schlußfolgerungen zu. Einmal kann man ein guter Poet, aber ein sehr schlechter Mensch sein — und boshaft sind die wirklichen Poeten alle, die meisten haben den Schalk im Nacken —, ein andermal kann man ein guter Mensch, aber ein schlechter Musikant sein und dafür in die Sträflingsjacke gesteckt werden. Ferner kann man ein harmloser Mensch und an seinen dichterischen Verübungen höchst unschuldig sein und dennoch für gefährlich gehalten und zeitweise unschädlich gemacht werden. Übrigens soll es nach Anastasius Grün so viele Poeten geben, als es Menschen gibt, wenigstens kommt kein unpoetischer Deutscher zur Welt, nur, daß manch ein Veilchen im Verborgenen verblüht. Endlich aber herrscht bei uns zu Hause die „gute Sitte", die Sänger lieber im Käfig als in der Weltfreiheit, in der Waldfrische zu wissen. Ich erinnere nur an die Kanarienhähnchen und Spottvögel. Ich sollte indessen in meiner Gefangenschaft eine Wahrnehmung machen, die ich bis dahin nicht für möglich gehalten habe. Mein Kerkermeister wurde immer vertraulicher zu mir, und eines Tages trat er mit einer Handvoll Manuskripte in meine Zelle und las mir — seine eigenen Gedichte vor. Ich hatte bereits dichtende Apothekergehilfen und Schornsteinfeger erlebt, aber ein poetischer Polizeimensch, das ging mir über den Horizont. Und dennoch verhielt es sich so, und zwar atmeten diese absonderlichen Gedichte noch dazu den Duft der freien Märzluft der 48er Epoche, aus der sie stammten. Zwar

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war die Dialektik der Gedichte höchst mangelhaft, zwar ließ die Metrik manches zu wünschen übrig, aber wenn in Musik gesetzte Empfindung Poesie ist, so war mein Kerkermeister ein Poet. Man merke: der Kerkermeister Poet, der Sträfling Poet, die Kerkerzelle eine Musenhalle — mir hüpfte das boshafte Herz in der Brust — und da soll es keine Wunder mehr geben in der Welt? Nachdem ich mir die Tränen getrocknet, die mir das gewaltsam verbissene Lachen in die Augen getrieben, konnte ich nicht umhin, mein Befremden darüber zu äußern, daß ein achtundvierziger Freiheitsdichter Polizist werden konnte. Daraus entspann sich zwischen uns schönen Seelen ein Disput, von dem ich noch folgendes im Gedächtnis behielt: „Glauben Sie etwa", frag mein Kerkermeister, „daß ich als Beamter nicht meine eigene Uberzeugung haben könnte?" „Sie dürfen keine solche haben, denn Sie haben Ihrer vorgesetzten Behörde Gehorsam gelobt, blinden, unbedingten Gehorsam." „Ich darf sie haben, denn ich habe meine Überzeugung nicht abgeschworen, nur betätigen darf ich sie nicht." „Sagen Sie das ja nicht so laut, es könnte Sie Amt und Stellung kosten!" „Das sage ich auch zu keinem anderen Menschen als zu I h n e n . Daraus können Sie ersehen, welches Vertrauen ich in Sie setze." „Ferner sehe ich daraus, daß Sie doch keine Überzeugung haben dürfen, Sie müssen sie ja ängstlich verleugnen." „Ins Herz kann mir niemand blicken, und was ich für recht erkenne, das halte ich hoch." „Das können Sie wieder nicht, denn Sie müssen gegebenenfalls tagtäglich Ihr Herz zum Schweigen bringen und gegen Ihre Überzeugung handeln." „Die Überzeugung läßt sich sehr wohl mit der Ausübung der Amtspflicht vereinbaren, wenn beide auf moralischer Grundlage fußen." „Vertrug es sich z. B. mit Ihrer Amtspflicht und mit der Überzeugung zugleich, als Sie die Versammlung zu S. zu sprengen versuchten?" 147

„Die Sozialdemokratie ist meines Erachtens verwerflich, denn sie kann nur zu unnützem Blutvergießen und zur Zerstörung der staatlichen Einrichtungen führen." „Die Sozialdemokratie ist meines Erachtens eine revolutionäre Bewegung wie jede andere auch. Sie unterscheidet sich von der achtundvierziger Bewegung nur dadurch, daß es diesmal nicht das Geldbürgertum, sondern der rechtlose Arbeiterstand ist, welcher seine nur zu billigen Forderungen durchzusetzen versucht." „Die Arbeiterklasse wird niemals zum Ziele gelangen, denn sie vergreift sich in den Mitteln, die sie zur Anwendung bringt." „Und ich sage Ihnen, sie wird zum Ziele gelangen, denn die Erfüllung ihrer Forderungen ist naturnotwendig. Übrigens sehe ich auch nicht ein, in welchen Mitteln sie sich vergreifen sollte. Dasselbe hat man auch der achtundvierziger Bewegung entgegengehalten." „Ich kann mich mit der Sozialdemokratie nicht befreunden, denn ich habe in all den Versammlungen, denen ich beiwohnte, den Eindruck empfangen, als liefe es auf eine Terrorisierung der besitzenden Klassen hinaus." Ich konnte mich des Lachens nicht erwehren. „Und Sie, Herr Wachtmeister, müssen unbeschadet Ihrer Überzeugung die besitzende Klasse vor dem Terrorismus der Arbeiterklasse schützen!" rief ich. „Damit geben Sie zu, daß Sie ein willenloses Werkzeug der besitzenden Klassen sind. In Wirklichkeit verhält es sich mit der Bewegung gerade umgekehrt: Nicht die Arbeiter terrorisieren. Ihr gesamter Protest richtet sich gegen den Terrorismus der Herrschenden. Aber wenn Ihre Behauptung auch etwas für sich hätte, müssen die Arbeiter darum noch um den lächerlich kleinen Rest ihrer verfassungsmäßig verbrieften Rechte geprellt, ihr Koalitionsrecht illusorisch gemacht werden? Wäre es nicht anständiger, die Arbeiter über ihren Irrtum aufzuklären und sie zu besserer Würdigung der gegebenen Verhältnisse zu erziehen?" „Ich habe mir oft gesagt, was würden die Sozialdemokraten beginnen, wenn sie zur Macht gelangten? Sie würden das oberste zu unterst kehren und keine Autori148

tat mehr respektieren. Gewalt muß mit Gewalt vertrieben werden!" „Es fragt sich nur stets, welche Gewalt die Oberhand behält. Die Bürgergewalt der vierziger Jahre hat das oberste zu unterst gekehrt, und dennoch hat die Regierungsgewalt sie als berechtigt anerkennen müssen und sich in Verhandlungen mit ihr eingelassen. Was die Sozialdemokratie beginnen wird, wenn sie zur Macht gelangt, weiß ich heute noch nicht. Das eine aber weiß ich: Sie wird zur Macht gelangen, und es wird darum nicht schlechter werden als gegenwärtig, eben weil es nicht schlechter werden kann." „Sie müssen doch aber zugeben, daß die Arbeiterbewegung auf den gewaltsamen Umsturz der bestehenden Ordnung abzielt, und ich frage Sie: Was kommt dabei heraus?" „Nein, das gebe ich gar nicht zu! Wir wünschen eine unblutige, ich möchte sagen, friedfertige Entwicklung der Gesellschaft zu erträglichen, vernunftgemäßen Verhältnissen und erkennen nur das Recht der Notwehr an, das wir ausüben, indem wir die heute bestehende Zwangsordnung bekämpfen." „Ja, wenn alle Sozialdemokraten so anständige Menschen wären wie Sie einer sind, so ließe sich noch etwas damit anfangen, so aber. . ." „Außer mir gibt es genug solcher Sozialisten, um das Volk zur Erkenntnis heranbilden zu können. Ich selbst habe manches auszusetzen an der Bewegung und an manchen Persönlichkeiten noch mehr. Allein, zeigen Sie mir eine menschliche Verbindung, die aus lauter Engeln und Göttern bestände. Dafür haben wir innerhalb der Partei die unbegrenzte Redefreiheit. Im Meinungsaustausch klären sich die Ideen. Man kann von der unterdrückten, bisher systematisch irregeführten Arbeiterschaft nicht mehr Tadellosigkeit verlangen als von der Klasse der Gebildeten, der Beglückten und Mächtigen. Übrigens: Moralisieren Sie erst die Gebildeten, Beglückten und Mächtigen, dann kommen Sie zu uns." „Wir haben aber die Verpflichtung, jeden Versuch, die Ordnung aufzugeben, zu unterdrücken. Mag die Arbei149

terbewegung auch noch so berechtigt sein, die bestehende Ordnung darf unter der Wahrnehmung der Sonderinteressen nicht zu Schaden kommen!" „Es fragt sich sehr, ob diese Ordnung auch eine wirkliche Ordnung ist! Wir Arbeiter wenigstens sehen sie als eine paragraphierte Unordnung an, da sie die ganze große Menschheit zugunsten einzelner entrechtet und unterdrückt. Und diese Ordnung wird noch von jeder Partei verletzt, sobald ein Sonderinteresse in Frage steht. Sie aber haben die Verpflichtung, ohne Ansehen der Person, das Recht zu schützen, auch unser Koalitionsrecht, denn wir tragen den Löwenanteil zu Ihrem Unterhalt bei." „Wenn Sie glauben, daß wir Polizeibeamte herzlos genug seien, die Arbeiter zu schikanieren, so haben Sie sich eine ganz falsche Meinung über uns gebildet. Ganz im Gegenteil sind wir stets bereit, den Arbeitern mit Schutz und Hilfe beizuspringen, wo es nur immer möglich ist." „Sie werden leider nur selten in der Lage sein, dies zu vermögen. Sie können es nicht, und Sie dürfen es nicht, sobald Sie durch Wahrung von Arbeiterinteressen die Interessen der Herrschenden verletzen. Sie sind Dichter, also Gemütsmensch. Ich gebe gern zu, daß sich Ihr Herz mehr zum Guten und Menschlichen neigt. Sie müssen aber vielleicht mit blutendem Herzen den Handwerks"burschen gefangen führen, der nicht die Seelengröße besaß, freiwillig zu verhungern, und darum gefochten hatte." „Seien Sie versichert, daß es mir immer unendlich schwer angekommen ist, solch armen Schlucker, der eigentlich so gar nichts verbrochen hat, als sich nur so ein Stück Brot erbettelt zu haben, zu verhaften. Ich wünschte immer um ihn herumzukommen und beschenke ihn lieber selbst. Aber was wollte ich machen? ich mußte!" „Da haben wir's! Ich nehme zu Ihren Gunsten an, und zwar trotz Ihrer anfänglich gegen mich hervorgekehrten Härte, daß Ihnen eine solche Manipulation herzlich sauer werden mag. Aber Sie mußten Ihrer Amtspflicht genügen trotz der Überzeugung, daß ein Handwerksbursch kein Verbrecher ist! Das beweist wieder, daß Sie 150

keinen e i g e n e n Willen haben dürfen und Ihre Überzeugung unterdrücken müssen, bis sie von selbst erstickt. Viele Ihrer Amtsgenossen sind nicht einmal so weichherzig wie Sie und greifen den ertappten Schelm mit unbarmherzigen Fingern an. Daraus erklärt es sich auch, daß deutsche Gendarmen in ein deutsches, friedlich demonstrierendes Volk schießen und stechen können, so, als sie glauben annehmen zu dürfen, der herrschenden Klasse damit einen Gefallen zu tun." Eines Tages bemächtigte sich des sonst so schweigsamen Gefängnisses eine außergewöhnliche Aufregung. Man räumte und rückte, Türen wurden aufgerissen und zugeschmissen, man näherte sich im Laufschritt meiner Zelle, mehrere Personen stürzten sich über meinen Schrank, alias Ofen; sämtliche Reste hereingepatschter Viktualien sowie alle nicht salonfähigen Luxusgegenstände und Nippes wie Blumenvase, Federkissen, Messer, Gabel, Handtuch, Spiegel usw., kurzum alles, was dem Gefangenen als unstatthafter Komfort erscheint und trotzdem jedem Kulturmenschen für unentbehrlich gilt, wurde konfisziert. Auf eine von mir hingeworfene diesbezügliche Frage entgegnete der Wachtmeister kurz: „Gefahr im Verzug. Revision avisiert!" Selbst die kleinsten Krumen, verräterische Zeugen strafbaren Wohllebens, entfernte die Frau Wachtmeister. Hastig entfernte man sich, vorsichtig knipste der Riegel ins Schloß. Perplex saß ich da, ein Gefangener in der Gefangenschaft gleichsam gefangen. Aber die Zeit verstrich, ohne daß sich die Gefahr den Sinnen wahrnehmbar gemacht hätte. Die Revision ging an meiner Zelle spurlos vorüber, vielleicht war ihr mein staatsgefährlicher Anblick zuwider. Anderen Tages erhielt ich mein k o n f i s z i e r t e s Eigentum unverkürzt zurück. Ich habe meinen Kerkermeister bisher in denkbar günstigem Licht erscheinen lassen. Allein, ich muß, will ich nicht parteiisch werden, nun auch seiner menschlichen Schwächen gedenken. Und er war nur zu sehr Mensch und hatte als solcher neben unstreitbaren Vorzügen eine recht häßliche 151

schwache Seite: Er schwärmte nämlich für die körperliche Züchtigung unverbesserlicher Subjekte. Er besaß — ein psychologisches Problem — wie viele leutselige humane Naturen einen Zug ins Grausame. Keine noch so vernünftige Vorstellung war imstande, diese Neigung zu dämpfen. Er teilte mir regelmäßig mit, was sich außerhalb der Zelle begeben hat. So erfuhr ich die Geheimnisse des verschlossenen Hauses. Sobald ein neuer Arrestant eingeliefert wurde, den er, wiez. B. sogenannte Landstreicher, Rückfällige, Brutalitätsbefüssene usw., für ganz besonders schlecht hielt, sprach er den Gedanken aus, daß gegen die Verworfenheit eines solchen nur noch die Prügelstrafe am Platze sei. Wie oft hab ich ihm auseinandergesetzt, daß die Prügel das verfehlteste Mittel von der Welt seien, eingeschläfertes Ehrgefühl wieder zu erwecken, und daß man nicht durch Brutalität, sondern durch Humanität veredelnd wirke. Er blieb dabei: Es gebe Menschen, bei denen die Humanität nicht mehr verfinge und die nur mit rauher, fühlbarer Hand angefaßt werden wollten. „Glauben Sie mir", rief er, „in meiner langen Praxis habe ich die Überzeugung gewonnen, daß die körperliche Schmerzempfindung das beste Erziehungsmittel ist und daß selbst gut veranlagte Leute, die mit schönen Redensarten aufgepäppelt werden, sentimental und eingebildet sind und zum praktischen Leben als wenig tauglich erscheinen. Ein rauher Baum will hart angefaßt sein, und wenn den ausartenden Knaben der Rohrstock zur Ordnung ruft, schadet es ihm?" „Allerdings", entgegnete ich, „gut veranlagte Naturen empfinden weniger den durch den Rutenstreich erzeugten körperlichen Schmerz als vielmehr den seelischen, der durch die Empfindung tiefster Beschämung verursacht wird. Ich wenigstens habe nie Schmerz empfunden, wenn ich geschlagen wurde, weil die mir dadurch zugefügte tätliche Beleidigung alles Blut zum Herzen drängte und sich meine Seele im höchsten Schmerz der Erniedrigung krümmte. Die Prügelstrafe ist schon deshalb verwerflich, weil sie die daran beteiligten Personen gegenseitig verächtlich macht. Der Prügelnde erscheint in den Augen des Geprügelten als feige Bestie, die ihre 152

Überlegenheit dazu mißbraucht, wehrlos Preisgegebenen ihre ganze Bosheit empfinden zu lassen. Der Geprügelte hingegen erscheint seinem Vergewaltiger als elender, hilfloser Leibeigener, als ein seiner Willkür gefügiges Spielzeug, um so interessanter und zu Experimenten herausfordernd, als es Nerven besitzt und Schmerz zu empfinden vermag. Beide, der Schläger und der Geschlagene, hassen und verabscheuen sich. Ersterer sinnt auf neue Anschuldigungen, um seine Prügelwut begründen zu können. Letzterer brütet Rache und sehnt die Gelegenheit herbei, sie ausführen zu können. Das sind die Konsequenzen des Prügeins. Und nun reden Sie mir noch vom Prügeln als Erziehungsmittel!" „Sie zeichnen wieder zu schwarz", rief der Wachtmeister. „Vor allen Dingen muß der Gestrafte überzeugt sein, daß die Strafe gerecht ist, dann wird er sich ihr um so williger beugen, je mehr er einsieht, daß er selbst die Ursache dazu geboten. Damit aber wird der Gezüchtigte zur Einkehr genötigt und auf den Weg der Besserung gedrängt. Es gibt Menschen, die es ihren Erziehern noch im Grabe danken, daß sie den Stock nicht geschont." „Mag sein", sprach ich, „gibt es doch auch Hunde, die die Hand lecken, die sie mißhandelte. Im amerikanischen Sklavenbefreiungskriege hat es sogar Sklaven gegeben, die für die Beibehaltung der Sklaverei ihr Hundeblut verspritzten. Als Iwan der Schreckliche verendete, weinte sein von ihm stets nur mißhandeltes und fortwährend in Schrecken gehaltenes Volk zum Herzzerbrechen um V ä t e r c h e n s Verlust. Wie sich all diese zweibeinigen Hunde an den unwürdigen Zustand der Leibeigenschaft so sehr gewöhnten, daß sie glaubten nicht mehr von ihm lassen zu können, so sehr gewöhnt sich der Prügelbock an die Prügel, so daß sie ihm schließlich nicht nur völlig gleichgültig werden, sondern vielmehr, daß er sich förmlich nach ihnen sehnt und, um eine Züchtigung herbeizuführen, sogar infame Streiche ausheckt. Diese Wahrnehmung wird mir wohl jeder Pädagoge bestätigen. Es hat den Anschein, als führe jeder künstlich erzeugte Schmerz einen roh-wolllüstigen Beigeschmack mit sich. Daraus erklärt sich auch 153

die Selbstzerfleischungswut der Flagellanten und Geißelbrüder. Nein, mein Herr! Prügel moralisieren nicht, sondern korrumpieren. Der einmal Geprügelte fühlt sich erniedrigt und entwürdigt, das d i c k e F e l l des öfter Geprügelten ist sprichwörtlich geworden." „Sie geben zu, als Knabe geprügelt worden zu sein. Sie geben ferner zu, daß meine Erziehung wohl nicht fehlgeschlagen sein kann. Warum sind wir beide trotz der empfangenen Rutenstreiche brauchbare Mitglieder der menschlichen Gesellschaft geworden und nicht solche versumpften Verbrecher, die immer und immer wieder ins Zuchthaus zurückkehren und die selbst der W i l l k o m m nicht abzuschrecken vermag? Weil wir eingesehen haben, daß die an uns vorgenommene Prozedur gerecht und darum notwendig, unsere Handlungsweise hingegen ungerecht und folglich verwerflich war, sind Ursachen unserer normalen Entwicklung." „Herr Wachtmeister, ich bin Gefangener, das ist ein negatives Zeugnis meiner b r a u c h b a r e n M i t g l i e d s c h a f t . Die Nützlichkeit eines Polizeibeamten wird in Volkskreisen, in meinen Kreisen, gar sehr in Zweifel gezogen, ja, es gibt Menschen unter uns, die den hochwohllöblichen Stand der heiligen Hermandad und was drum und dran hängt als unnütz und schädlich verbannen möchten nach dem Lande, worinnen der Pfeffer wächst. Was mich betrifft, so bin ich recht selten geprügelt worden. Ich nahm mich schon davor in acht, und zwar nicht aus Furcht vor dem Schmerze, sondern der damit verbundenen Kränkung wegen. Aber jeden Defekt meines Charakters schreibe ich dieser Ehrverletzung zu. Wahrscheinlich wird es bei Ihnen auf das gleiche hinauslaufen. Wer weiß, was aus uns beiden geworden wäre, hätte man uns niemals mit Schlägen und Fußtritten gedemütigt. Daß wir trotz der Demütigungen nicht versumpft sind, ist als ein erfreuliches Zeichen unserer moralischen Widerstandsfähigkeit zu begrüßen. Sie sagen es ja selbst, daß der scheußliche, vorsintflutliche W i l l k o m m gewisse Individuen nicht abhält, immer und immer wieder ins Zuchthaus zurückzukehren. Damit haben Sie das Verfehlte der Prügelstrafe zugestanden. Was will der flügellahme weltfremde Sträf154

ling in der sogenannten Freiheit beginnen? Wo findet er Raum und Brot für sich? Er muß wieder ins Zuchthaus zurück trotz der seiner wartenden Willkommenspeitsche. Er sieht nicht ein, daß die Prügel gerecht seien — Gewalt ist keine Gerechtigkeit —, er begreift es nicht, daß seine Aufführung ungesetzmäßig und folglich verwerflich war. Er muß leben, will er nicht zum Selbstmörder werden. Da ihm die Gesellschaft sein Erbteil nicht freiwillig herausgibt, so nimmt er sich gewaltsam, was er braucht, wo er es findet." „Nun sagen Sie mir nur, was Sie mit den Verbrechern anfangen würden, wenn Sie darüber zu verfügen hätten?" rief der Wachtmeister. „Nichts", sagte ich. „Ich würde mich so stellen, als hätte ich keine Verbrecher, sondern Menschenbrüder vor mir, würde mich mit ihnen kleiden, wärmen, satt essen und an die Arbeit gehen und würde über keine Verbrecher mehr zu verfügen haben." Der Wachtmeister funkelte mich an. Endlich fand er seine Sprache wieder, indem er sagte: „Sie sind unverbesserlich!" Damit verließ er, leise durch die Zähne pfeifend, meine Zelle. Sonntag war's, der erste freundliche Sonntag des Monats Mai. Die Sonne schien so feiertäglich hell und meinte es ja so gut mit dem Menschengeschlecht, daß sie selbst mir, dem Gefangenen, einen wärmenden Lichtstrahl ihres unparteiischen Wohlwollens durch das Eisengitter herein in die lichtarme Zelle sandte. Ich öffnete weit meine Nüstern, um ein möglichst genügendes Quantum dieses vornehmsten Lebenselements in mich aufzunehmen. Drüben, aus den ebenfalls geöffneten Zellenfenstern des Seitenflügels, ertönte Gesang. Es waren keine geistlichen Oden, sondern einfache Volkslieder, die rein und klar mit dem Luftzug herüberwogten. Diese stimmungsvollen Klänge weckten einen sympathischen Widerhall in meiner Brust. Unwillkürlich summte ich die Melodie leise nach, und ein harmonisches Fluidum verquickte mich mit der Gefühlswelt der durch Mauer und Gitter von mir geschiedenen Sänger, die, wie die Andreasberger Kanarienhähnchen, im Käfig musikalische Studien machten. Es waren meine Mitgefangenen, 155

•die da sangen. Als der letzte Laut verhallte, fielen mir plötzlich Gottfried Seumes Liederverse ein: Wo man singet, laß dich ruhig nieder, Böse Menschen haben keine Lieder! Sollten diese eines Verbrechens Beschuldigten böse Menschen sein? Oder meinte Seume vielmehr, Lieder aus solchen Kehlen seien keine eigentlichen Lieder? Die Kehlen da waren reingestimmt, und die Töne, die aus ihnen emporquollen, waren anmutig, gemütreich und wahr. Das Lied veredelt den Menschen und reinigt seine Seele von den ihr anhaftenden Schlacken. Ich saß bereits seit einigen Stunden an der Arbeit. Der Gefangene respektiert nicht den Feiertag, er rechnet nur mit den Tagen seiner Gefangenschaft und jauchzt der mit jeder entwichenen Stunde näherrückenden Wiedererlangung seiner armseligen Freiheit entgegen. Ich hatte meinen äußeren Menschen gewaschen und mit reinweißem Hemd versehen. Mein Astralmensch badete soeben in Licht, Laut und Duft. Ein tiefer Seelenfrieden hatte sich meiner bemächtigt. Ich kalkulierte, daß es im Kerker nicht nur Dichter, sondern auch Sänger gibt. Da nahte sich mir auch schon das Verhängnis in Gestalt eines Störenfrieds. Der Vormittagsgottesdienst mochte soeben beendet sein. Draußen auf dem Korridor näherten sich Schritte. Ich erwartete den ersten Besuch. Die Zelle wurde erschlossen und hereinbugsiert ein schlanker Herr im halbweltlichen Gewände des Geistlichen. Nach der Begrüßungsphrase frug ich nach der Identität des unerwarteten Gastes. „Ich bin der Superintendent S.", antwortete jener, „und befinde mich auf einem Rundgange durch die Zellen. Es ist wohl nicht mehr als recht und billig, daß ich auch Sie aufsuche!" „Womit kann ich dienen?" frug ich, ohne jedoch von der Arbeit aufzustehen. „Damit, daß Sie mich ruhig anhören und mir ein offenes Herz entgegenbringen", sagte er. „Wir werden sehen!" bemerkte ich. „Wissen Sie auch, Herr Pastor, daß ich nicht zu der von Ihnen vertretenen Glaubenssekte zähle?" 156

„Das tut nichts zur Sache", entgegnete er, „wir sind alle Gottes Kinder." „Schön gesprochen!" rief ich, „nun gut, ich werde hören." „Weshalb sitzen Sie hier?" frug er. „Das sollten Sie nicht wissen?" „Wegen Gotteslästerung, wie ich höre!" „Na also!" „Ich kann mir gar nicht vorstellen", salbaderte er nun los, „wie ein Mensch seinen Schöpfer, den Schöpfer aller Welten, den Vater aller Menschen, dessen Kind er ja ebenfalls ist, wie ein fehlerhafter Mensch, sag' ich, allmächtigen, allweisen, allbarmherzigen Gott, den Gott der Liebe und Gnade verlästern konnte!" „Offen gestanden, Herr Pastor, ich eben auch nicht, zumal ich diesen Gott nicht einmal kenne und ihn folglich nicht begreifen kann." „Bitte, weichen Sie mir nicht aus, junger Mann!" sagte pikiert der Geistliche. „Antworten Sie offen, haben Sie nicht in einer s o h ß i a l h d e m o k r a t t i s c h e n Versammlung Gott und die heilige Religion geschmäht?" „Nein", sagte ich kurz. „Reden Sie doch nicht! Unschuldig verurteilt zu sein, das behaupten alle Verbrecher!" „Herr Pastor", sagte ich gereizt, „sollte Ihnen an der Fortsetzung unseres Verkehrs gelegen sein, so muß ich ernstlich bitten, sich eines konventionelleren Tones zu befleißigen! Vor allen Dingen bin ich kein Verbrecher!" „Und für was halten Sie sich denn?" „Für einen Kriegsgefangenen, der seinen Feinden in die Hände fiel, weil sie mächtiger sind als er." „Junger Mann", sagte er salbungsvoll, „Sie sollten nicht so aufbegehren, sollten vielmehr von einem älteren Freunde Lehre und väterlichen Rat annehmen, es geschieht alles nur zu Ihrem besten." „Ich ehre und schätze das Alter, nehme auch Rat und Lehre von ihm an, solange es in den von der Kultur gerechtfertigten Umfangsformen bleibt. Aber selbst das Alter darf sich nicht durch Selbstüberhebung unangenehm und lästig machen, darf sich nichts vergeben durch unmotivierte Aufdringlichkeit." „Ich wüßte nicht, wodurch ich mir den Vorwurf der Selbstüberhebung und unmotivierten Aufdringlichkeit 13

Adolf Lepp

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zugezogen hätte", betonte er gekränkt. „Es ist meine Mission, strauchelnde Mitmenschen zu unterstützen, gefallene wieder aufzurichten. Diese Beschuldigung trifft mich also nicht." „Und wenn nun der Strauchelnde Ihres Beistandes gar nicht bedarf? Wer dürfte sich wohl erlauben, Ihnen Beistand zu leisten, wenn Sie am Straucheln sind!" „Da schütze mich Gott vor, daß sein Diener strauchele. Dafür sind wir Geistlichen ja eben bestimmt, den schwachgewordenen Menschenkindern beizuspringen, auch wenn Sie störrisch die Hand zurückweisen, die ihnen helfen will und kann." „Der Gott, der Sie vor dem Straucheln beschützt, darf nicht so parteiisch sein, uns übrige Sterbliche schutzlos fallenzulassen. Ein Gott der Allbarmherzigkeit, der Liebe und Güte darf neben bevorzugten Goldsöhnchen keine Stiefkinder besitzen." „Vor Gott ist jeder Mensch gleich. Es fragt sich nur, inwieweit sich der Mensch in Liebe und Einfalt ihm nähert oder in kindischem Haß und Trotz von ihm entfernt." „Ein liebender Vater, Herr Pastor, das merken Sie sich, läßt auf das sich trotzig entfernende Kind dennoch nichts kommen. Darin äußert sich ja eben der Begriff der Liebe, daß gerade die H i l f l o s e s t e n ihrer teilhaftig werden." „Auf diese scheinbare Wahrnehmung pocht wohl ihr trotziges Herz, daß Sie den Vater da droben im Himmel mit Schmähungen überhäufen? Irret Euch nicht, Gott läßt seiner nicht spotten! Gott ist langmütig, aber streng und gerecht, und er blickt ins menschliche Herz und wägt seine Triebe." „Herr Pastor, Sie reden zu mir wie zu einem Schulbuben. Ich aber bin ein denkender Mensch und finde, daß Ihre Vorstellung von Gott eine durchaus engherzige,, menschlich kleinliche ist. Ich glaube nicht an Gott. Seine Existenz jedoch vorausgesetzt, hätte er bedeutend Wichtigeres zu tun als jedem Menschenwürmchen ins Herz zu spähen, seine Triebe zu erforschen und sich über jedes alberne Geschwätz zu erbosen und Rache zu üben. Der Schöpfer aller Dinge hätte meines Erachtens nach mit Welten zu rechnen, Unendlichkeiten abzuwägen und Ewigkeiten zu überblicken." 158

„Gott ist allgegenwärtig, allwissend. Sein Auge durchdringt die Rinden der Erde wie die Rinden der Herzen." „Sie irren, Herr Pastor, indem Sie Gott mit dem Menschen verwechseln. Wenn das Auge Gottes, des Schöpfers, die Rinden der Herzen durchdringen wollte, es wendete sich mit Abscheu von seinem sogenannten Ebenbild hinweg und stampfte den Ton, erst mit den Händen zu Formen geknetet, mit den Füßen zusammen!" „Und weshalb das?" fragte er lauernd. „Nicht etwa deshalb, weil das Menschenherz nichts von ihm weiß. Hätte er von ihm erkannt und geliebt sein wollen, so hätte er sich ihm persönlich offenbaren müssen. Nein, deshalb, weil viele Menschen auf den Lippen Honig, im Herzen aber bittere Galle führen, immer den Mund voller Nächstenliebe — berauben und plündern sie den lieben Nächsten aus, wo sie nur können, umwedeln den Stärkeren, treten den Schwächeren mit Füßen, morden und meucheln nach Herzenslust, knien nieder und winseln Gott um Segen an." „Das sind sozialdemokratische Sentenzen", sagte er überlegen lächelnd. „Ich höre, aus Ihnen spricht der Agitator." „Ich bin kein Agitator, und sozialdemokratische Sentenzen sind es auch nicht", widerstritt ich. „Die Sozialdemokratie, die Angehörige jeder Glaubenssekte zu Mitgliedern zählt, hat mit meiner Religionsanschauung wenig oder gar nichts gemein. Judas hat Jesus um 30 Silberlinge verraten. Heute verrät der eine Bruder den andern um eine Gunstbezeugung, um einen Gnadenblick. Und der nominelle Stifter Ihrer Religion ward gefoltert und gekreuzigt wegen Gotteslästerung, desselben Vergehens, um das mich die Anhänger Jesu der Freiheit beraubt haben. Der einzige Unterschied ist nur der, daß es damals die Juden waren, welche schrien: Kreuzigt ihn, er hat Gott gelästert! Heute sind es die Christen, welche ,hepp, hepp' rufen: ,Er lästert Jesu, unsern Gott!' Sich als das Ebenbild Gottes aufzuspielen, Gott um Beistand und Segen zum Völkermord anzuwinseln, das ist die einzige kolossale Gotteslästerung, die ich mir denken kann." Es trat eine kleine Pause ein. Lauernd, durchdringend 13*

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sah er mich von der Seite an, dann sagte er: „Sie widersprechen sich sehr oft. Einmal leugnen Sie die Existenz eines Gottes, dann wieder gestehen Sie zu, daß es eine Gotteslästerung geben kann." „Die Existenz eines Gottes leugne ich gar nicht, nur ist mir Ihr Gottesbegriff unfaßlich. Es mag vielleicht ein Etwas vorhanden sein, welches sich mit der Bezeichnung ,Gott' annähernd deckt, allein, dieses Etwas will dann von mir nicht belauscht und erkannt sein, denn es hält sich mir wohlweislich fern, wird meinen Sinnen nicht wahrnehmbar, existiert also für mich nicht. Deshalb kann es aber auch keine Gotteslästerung geben. Dieses Verbrechens bekenne ich mich allerdings für schuldig, und dafür zu büßen, betone ich mit Stolz." „Gott will allerdings nur vom Herzen begriffen sein", sagte er. „Gott zeigt sich dem leiblichen Auge nur in Gestalt der Abendmahlssubstanz. Wie aber nun, wenn Sie plötzlich sterben und zu Ihrem Entsetzen wahrnehmen müssen, daß es dennoch einen Gott gibt? Junger Mann, so wie Sie haben schon viele kluge Leute gesprochen, und wenn sie dann auf der Schwelle der Ewigkeit standen, wurden sie mit Heulen und Zähneklappern inne, daß sie sich getäuscht hatten." „An ein Fortleben nach dem Tode glaube ich nicht, weil ein solches widernatürlich wäre. Die Naturgesetze hebt selbst kein Gott auf, und die ganze Schöpfung ist nach Naturgesetzen geregelt." „Darin besteht die Gottähnlichkeit des Menschen, daß der Herr mit der menschlichen Seele eine Ausnahme gemacht und mit ihr ein ewiges Fortbestehen eröffnet hat. Wenn Sie zugestehen, daß der Schöpfer des Weltalls allmächtig ist, so müssen Sie auch zugestehen, daß er in seiner Allweisheit diese Ausnahme machen konnte." „Nein, das gestehe ich nicht zu. Den allmächtigen Schöpfer vorausgesetzt, würde eine solche Ausnahme weder gerecht noch klug sein, denn sie würde andere, besser geaxtete Wesen zu unseren Gunsten benachteiligen und überdies den ganzen Schöpfungsplan über den Haufen werfen, indem sie die Natur auf den Kopf stellte und störend und hemmend in die Speichen des Weltgetriebes griffe." 160

„Des Herrn Wege sind wunderbar, und der Mensch ist nicht geschaffen, Gottes Handlungen zu korrigieren. In seinem Evangelium hat er uns seine Absichten und Pläne offenbart, und wir müssen glauben, um selig zu werden." „Wer glaubt, wird selig", warf ich hin. „Es ist nicht gut und nicht klug, seine Seligkeit zu vertrotzen", sagte er. „Wie wollen Sie sich vor Gott rechtfertigen, wenn Sie dermaleinst vor seinem Richterstuhle stehen und mit Beschämung innewerden, daß Gott existiert?" „Das denk' ich mir ungefähr so: Gott würde mich fragen: .Warum hast Du an mir gezweifelt, Mensch?' Ich würde höflichst antworten: ,Daran sind Deine Ebenbilder schuld, und Du, Herr, wirst es mir nicht zu hoch anrechnen ! Ich habe Dich lange vergeblich gesucht, in den Herzen der Menschen fand ich Dich nicht.' Und Gott würde darauf folgende Entscheidung treffen: ,Da hast Du recht, arme verblendete Seele! Im Menschenherzen hab' ich nicht Raum. Daß Du an mir gezweifelt hast, ist nicht Dein Fehler, und da Du sonst nicht ganz schlecht bist, rechne ich es Dir nicht an, gehe ein in Frieden.'" „Es würde ein ganz klein wenig anders lauten, mein Lieber", sagte drohend der Geistliche. „Aber Gott hat Sie mit Blindheit geschlagen, um Sie zu verderben." „Merken Sie denn nicht, Herr Pastor, daß es eine Blasphemie ist zu behaupten, Gott schlüge eines seiner Kinder, um es zu verderben, mit Blindheit?" „Ich muß mir höflichst ausbitten, mich bei meinem wahren Titel zu nennen", sagte er gereizt, „ich bin Superintendent! Pastor ist mein Charakter nicht." „Sie entschuldigen, Herr. In der Rangordnung besitze ich kein großes Unterscheidungsvermögen, und zudem, sind Sie mit dem Prädikat P a s t o r bescholten?" „Sie sagen das immer so verächtlich, mein Freund", entgegnete er, „daß ich anzunehmen berechtigt bin, Sie suchen mich zu verhöhnen." „Diese Absicht liegt mir fern. Allein, ich halte dem entgegen, daß Sie sich hier als mein väterlicher Freund aufzuspielen belieben, während Sie doch einer meiner unversöhnlichsten Feinde sind. Ich lese in Ihrem Herzen wie in einem aufgeschlagenen Buche." 161

„Sie sind ein Pessimist und haben kein Vertrauen", entgegnete er. „Solche Menschen erblicken in jedem, in jedem Entgegenkommen einen Hinterhalt, sie hoffen nicht und glauben an nichts, auch nicht an die christliche Nächstenliebe." „Das ist schlimm, aber wahr. Ich glaube an nichts, ich weiß! Jesus und seine Jünger sind barfuß einhergegangen und haben von einfachen Früchten gezehrt. Sie, der Sie sich auf Jesus als auf Ihren Gott berufen, kleiden sich höchst modern, wohnen komfortabel, fahren in nobler Karosse und speisen lukullisch. Wie wollen Sie mich beurteilen können, der ich ein armer Schlucker bin. Wie wollen Sie meine Wünsche und Erwartungen verstehen und die Welt meiner Empfindungen begreifen, um mir sträfliche Moralpredigten zu halten über die Abweichung meiner Überzeugung von der Ihrigen?" „Wissen Sie", sagte er im Fisteltone, „es ist der Neid, der aus Ihnen spricht. Glauben Sie denn, mein Beruf gäbe es zu, einherzugehen wie ein Fischer zu Jesus Zeiten? Damals war das Barfußgehen noch modern, heute würde man sich damit lächerlich machen. Ich muß mich anständig kleiden schon allein deshalb, um durch meine bloße Erscheinung auf die Leute vorteilhaft einzuwirken. Sie werden zugeben, daß die heutige Welt auf elegantes Äußere sieht. Was meine Lebensweise anbetrifft, so können Sie nicht einfacher leben als ich." Ich konnte mich des Lachens nicht erwehren. Sarkastisch warf ich die Frage auf: „Wohnen Sie vielleicht auch so einfach wie ich?" Er schien die Frage zu überhören und sagte einlenkend: „Lassen wir das. Ich bin nicht hierhergekommen, um mich mit Ihnen zu streiten, sondern um Sie mit unserem Herrgott zu versöhnen." „Vergebene Liebesmüh", rief ich. „Ich habe mich mit Gott nicht entzweit, folglich brauche ich mich mit ihm nicht auszusöhnen." „Was aber würde das werden, wenn es keine Religion mehr gäbe in der Welt!" rief er pathetisch. „Alle Laster und Leidenschaften schössen üppig ins Kraut, und unsere Zuchthäuser wären zu eng, die Verbrecher zu fassen." „Tun Sie nicht so, Herr Pastor, als ob wir, die Atheisten, die Kerker bevölkerten! Der Gegenpartei eine derartige 162

Eigenschaft zu insinuieren, finde ich unchristlich, gehässig von Ihnen! Gerade Sie, ein Apostel der Nächstenliebe, sollten sich nicht so kleinlich erweisen. Gehen Sie doch einmal die Gefängnisse durch. Wie wenige meiner Gesinnungsgenossen werden Sie dort finden. Selbst in diesem Gefängnisse bin ich höchstwahrscheinlich der einzige Freidenker. Ich bin keines Verbrechens, sondern meiner öffentlich Ausdruck gegebenen Überzeugung wegen hier." „Es mögen ziffernmäßig mehr Christen als Antichristen in den Zellen vorhanden sein", meinte er, „ich gebe das zu. Prozentual haben jedenfalls die Unchristen das Übergewicht. Das ist auch nur zu natürlich. Wer den Zorn Gottes nicht scheut, der achtet auch die Rechte seiner Mitmenschen nicht." „Diese Fabulistik würde einem Advokaten alle Ehre machen, aber keinem Geistlichen", sagte ich. Sie stellen gerade das Gegenteil von dem gewöhnlichen Menschenschlag dar. Sie haben ein weiches, zuckersüßes Herz, aber eine bitterböse Zunge." „Aber erlauben Sie!" Ich ließ ihn jedoch nicht zu Worte kommen, sondern fuhr fort: „Die Religion hat noch niemanden vor Straucheln und Fallen geschützt, sonst dürfte es nicht so viele strauchelnde Geistliche geben. Jeder Anstaltsgeistliche weiß, daß gerade die größten Mucker unter den Gefangenen die gefährlichsten Subjekte sind, daß die wenigen dort anzutreffenden freireligiösen Elemente sich als achtbare, vertrauenswürdige Leute erweisen. Wenn wir jeden Menschen veranlassen könnten, sein wirkliches Glaubensbekenntnis ohne Furcht vor der Benachteiligungsgefahr öffentlich abzulegen, Sie würden staunen, wie wenige Schafe und Lämmer dem Seelenhirten noch übrigblieben. Dazu ist ins Auge zu fassen, daß die ziffernmäßig geringe Zahl der Freigesinnten, die die Kerkerzellen ziert, keiner gemeinen Vergehen wegen, sondern fast ausschließlich ihrer Gesinnung halber die Freiheit verliert. Daraus könnte man logisch folgern, daß, wenn die ganze Menschheit aufgeklärter und selbstbewußter, sagen wir es gerade heraus, freidenkender wäre, würden sich die Zellen leeren und nie wieder füllen. Nun aber kommen 163

Sie daher und stellen, um der Ihnen verhaßten Freidenkerei einen wuchtigen Fußtritt zu versetzen, die kecke Behauptung auf, wir armen verketzerten Heiden lieferten den Zuchthäusern das verhältnismäßig größte Kontingent, und begründen Ihre Behauptung mit der vagen Tirade, wir fürchteten den Zorn Gottes nicht und achteten daher nicht die Rechte unserer Mitmenschen. Ist das wahr und gerecht? Ist das Ihre christliche Nächstenliebe ? Bester Herr, wer erst den Zorn Gottes fürchten muß, um das Unerlaubte zu unterlassen, der ist übel beraten. Wir unterlassen das Schlechte nicht aus kindischer Furcht, sondern weil es schlecht und folglich schädlich ist. Wir üben das Gute des Guten wegen." „Werden Sie mich nun auch einmal zu Worte kommen lassen?" frug er beinahe betrübt. „Der Mensch, der sich des Verbrechens nicht scheut, besitzt keine wahrhaftige Religion, sondern nur eine erheuchelte oder aber eine eingebildete, selbst zurechtgestutzte Afterreligion. Die Religion verbietet jedes Verbrechen und belegt die Übertretung ihrer Gebote mit strengen Strafen. Wenn Sie nur gerecht sein wollen, so müßten Sie zugestehen, daß die Religion schon manches Verbrechen verhütet hat und daß sie die Tendenz verfolgt, das Herz zu veredeln und die Folgen des Lasters möglichst abzuschwächen. Die Parteilichkeit, die Sie mir wiederholt zum Vorwurf machen, befindet sich im Gegenteil auf Ihrer Seite. Weil Sie keine Religion besitzen, hassen und verwerfen Sie sie ganz und lassen kein gutes Haar an ihr. Was wollte das wohl werden ohne Religion? Das führte zur Revolution, zur allgemeinen Auflösung aller gesetzlichen Bindemittel!" „Das ist das rote Gespenst, das Sie an die Wand malen, um rauh gewordene Kinder zu schrecken. Und das ist Ihr eigentliches Amt, die Revolution zu verhüten oder wenigstens möglichst zu verschleppen. Und was war die apostolische Propaganda? Zum mindesten eine Rebellion, eine passive Auflehnung gegen die staatsgesetzlichen Bindemittel der heidnischen Gesellschaft. Und was war die Reformation? Eine wirkliche aktive Revolution, die zu ihrer Durchführung selbst nicht die Gewaltmittel verschmähte. Aber Sie sind ein Diener des heutigen 164

Staates und müssen diesen gegen jeden Angriff von außen, sei er nun gerechtfertigt oder nicht, verteidigen. Die Revolution jedoch vermögen Sie mit der Religion nicht zu unterbinden; denn die Revolution ist ein Gewitter, eine naturgemäße Menstruation der politischen Atmosphäre. Ebensowenig vermag die Religion Verbrechen zu verhüten, wenn sie auch zugestandenermaßen den guten Willen dazu bekundet. Verbrechen sind Aussatzgeschwüre der erkrankten Volksseele, die sich nicht durch Postillen und Traktätchen kurieren läßt. Hier muß der Naturarzt herbei, der das Krebsgeschwür mitsamt seiner Wurzel entfernt. Die Wurzel allen Übels ist nicht Religionslosigkeit, sondern Ungleichheit der Menschen in der Verteilung der geistigen und materiellen Güter. Bekämpfen Sie mit mir die Ungleichheit, die Unwissenheit, die Armut und Unfreiheit, und Sie werden dem Ziele viel näher gelangen als mit der Religion." „Aber der alte Gott lebt noch", hub er an. „Der Mensch verliert mit der Religion seinen Halt, vertieft sich in unfruchtbares Grübeln und endigt im Delirium, indem er an sich irre wird." „Und wer bevölkert die Irrenhäuser?" frag ich, „wir, die Denkenden, oder sie, die Glaubenden? Nennen Sie mir einen einzigen Fall, wo ein freier Denker im Delirium endete, und ich will Ihnen Tausende von Gläubigen vorführen, die am Religionswahnsinn zugrunde gingen. Die Erkenntnis der Wahrheit ernüchtert, der Mystizismus in jeder Gestalt beklemmt das Herz und bedrückt den Verstand. Herz- und Gehirntätigkeit werden durch ihn gehemmt und alteriert, kein Wunder, wenn die Krankheit zuweilen ein schlimmes Ende nimmt." „Die Religion besänftigt das Gemüt", widersprach er, „veredelt das Herz und idealisiert das Denken. Die Religion muß der Menschheit erhalten bleiben, damit sie nicht ganz versinke im Sumpfe des Materialismus. Wohin wir unsere Blicke auch lenken mögen, in jedem Grashalm, in jedem Würmchen, in jeder Blume, in jedem Stern erkennen wir die Tätigkeit des Schöpfers. Es gibt nichts in der ganzen Schöpfung, das die Existenz eines Gottes widerlegen könnte." 165

„Und es gibt dennoch ein Etwas, das die Existenz eines Gottes widerlegt", sagte ich. „Die Wissenschaft annulliert die Religion. In dem Maße, in dem ich mein Wissen bereicherte, hörte ich zu glauben auf und fing selbständig zu denken an." „Das ist die alle Glaubenswahrheiten negierende Afterweisheit", sagte er spitzfindig. „Die echte gediegene Wissenschaft wendet sich nicht gegen die Religion, sondern bestätigt vielmehr jeden ihrer Sätze. Die tüchtigsten Gelehrten sind auch zugleich die frömmsten Christen und eifrigsten Kirchenbesucher. Ich erinnere hier nur an Darwin, dessen Naturforschung mit seiner Religiosität in scheinbarem Widerspruche steht." Wir kamen von Darwin auf Corvin, von diesem auf Lommel und Strauß zu sprechen. Ich hatte aber den Windmühlenflügelkampf satt und gedachte ihn zum schnelleren Abschluß zu bringen. Deshalb frug ich ganz unvermittelt: „Ist Ihnen Dr. Herrmann Krasser bekannt?" „Ich glaube ja", antwortete er unsicher. „Das ist doch der, der die Travestie auf den Münchhausen geschrieben hat." „Gestatten Sie mir, Sie mit ihm bekannt zu machen! Dr. Herrmann Krasser beginnt seinen ,Anti-Syllabus' mit folgenden Versen: Schon vor fünfzigtausend Jahren, wie die Wissenschaft bewies, Lebten Menschen auf der Erde, lange vor dem Paradies; Eh' die Bibel ward gedichtet, eh' des Schöpfers Werderuf, Laut der eignen Offenbarung, Himmel, Erd' und Menschen schuf. Ist die Offenbarung richtig, dann beweist sie sonnenklar, Daß der Mensch schon lange lebte, eh' er noch vorhanden war, Daß der Himmel und die Erde schon Jahrtausende bestand, Eh' sie ,Gott der Herr' zu schaffen und zu lenken nötig fand." „Hören Sie auf! Ich bitte Sie!" kreischte der Geistliche und hielt sich beide Ohren zu. Ruhiger, fast verächtlich 166

fuhr er fort: „Sind ja nur Knittelverse, das beweist nichts gegen die Religion." „Knittelverse, Herr Pastor, nennen Sie diese mustergültigen Reime! Dann aber Gnade Gott Ihren Kirchenlieddichtern! Außer dem Geliert ist mir keiner bekannt, der ein regelrechtes Kirchenlied verfertigt hätte." E r warf mir einige obskure Namen entgegen, die mir wegen ihrer Unbedeutendheit inzwischen entfallen sind. Dann zog er die Uhr und sagte: „Schon so spät? Ich habe mich bei Ihnen zu lange verweilt und muß für heute abbrechen, da noch andere Gefangenen den göttlichen Zuspruch benötigen." Ich stand von meinem Schemel auf und erfaßte seine Hand. „Nur noch einen Augenblick, Herr Pastor!" rief ich. „Haben Sie vorhin die Freundlichkeit gehabt, den Anfang des ,Anti-Syllabus' mit anzuhören, so hören Sie, bitte, auch das Ende mit an. E s lautet: Fort mit Kabbala und Traumbuch nächtiger Vergangenheit! B a u t vernünft'ge Menschenschulen dem Geschlecht der neuen Zeit! Tief bedauern wir die Alten, die, dem Irrtum Untertan, Nicht die wunderbare Klarheit heutiger Erkenntnis sahn, Die bei hohen Geistesgaben, seufzend unter Müh' und Qual, Selbst ihr Leben freudig wagten für der Wahrheit Ideal. O wie würden sie sich freuen, säh'n sie unsrer Tage Glück, O wie blickten sie mit Wehmut auf die alte Zeit zurück! Könnten Sokrates und Christus anfersteh'n in unsrer Welt, Und sie säh'n das einst'ge Dunkel gar so zauberhaft erhellt, Welcher Jubel, welch' Entzücken, oh, wie tauchten sie sogleich Mit der ganzen Kraft der Seele in das neue Geisterreich! Und wir sollten ewig hangen an ererbtem Mummenschanz, S t a t t uns selig zu versenken in der Zeiten Licht und Glanz? Und wir sollten rückwärts greifen, Kinder einer großen Zeit, 167

Die so weit das Abgelebte überstrahlt an Herrlichkeit? Fort mit allen Rumpelkammern voll Schutt und Moderduft! Menschheit, bade Deine Schwingen in der frischen Morgenluft! Dulde nicht, daß eine Stunde unbenützt vorübergeht, Eh' sie ihre goldnen Saaten auch in deine Brust gesät! Dulde nicht, daß die Minute unverstanden weiterrückt, Eh' sie ihren Hoheitsstempel auf die Stirne dir gedrückt! Dulde nicht, daß Deiner Kinder unverdorbner Geisteskraft Ferner vorenthalten bleibe die moderne Wissenschaft! Tritt ein Pfäfflein dir entgegen mit Kapuze und Tonsur, Singend seinen Bibelsegen — sing' du Psalmen der Natur, Schlägt er mit dem Kruzifixe, mit Konzil und Krummstab drein, Um dich wieder zu bekehren zu den alten Litanei'n, Dann mit Teleskop und Spektrum dementier' den armen Wicht, Oder schleudre ihm der Neuzeit Blitz und Dampf ins Angesicht!" Der Geistliche hatte mich still bis zu Ende angehört, wie konsterniert stand er da im Banne der Krasserschen Verse. Dann raffte er sich auf und rüstete sich zum Rückzug. „Ich gehe", sagte er, „ohne die Absicht der Wiederkehr! Es ist schade um solche Intelligenzen. Hier ist aber jedes Wort unnütz verschwendet." Damit schritt er der Türe zu. „Ich bedaure, Herr Pastor", sagte ich noch, „Ihnen nicht das ganze Gedicht vortragen zu dürfen! Adieu!" Er schien mich nicht mehr zu hören und bugsierte sich die von draußen eröffnete Pforte hinaus. Ich sah nur noch, daß es der Herr sehr eilig hatte, denn er beachtete den tiefen Bückling nicht, den ihm der an der Außenschwelle verharrende Wachtmeister machte, und schob von dannen. Kurz darauf kehrte der Wachtmeister zurück und vermochte nicht seine Lachlust zu unterdrücken. „Sind Sie doch ein Sackermenter!" sagte er eifrig, „dem armen Herrn Superintendenten so heimzuleuchten! Das habe ich noch nie erlebt." „Nun, er hat es mir ja leicht genug gemacht", bemerkte 168

ich. „Setzt er seinen Rundgang allein oder überhaupt nicht mehr fort?" „ E r hat für heute genug", fletschte der Wachtmeister schadenfroh, „und begibt sich sofort nach Hause." Nun wieder zurück zu einem freundlichen Bilde. Meine Leser werden sich noch gern und gut der Mutter A. erinnern, die anfangs meiner Gefangenschaft wie eine Lichterscheinung in meiner Zelle erschien, die die Serie meiner Besuche eröffnete, die durch ihre geschickte Intervention meine gedrückte Lage vorteilhaft umgestaltete und außer allerhand Genießbarem einen duftenden Veilchengruß von ihrer anmutigen Tochter Pauline entbot. Einige Tage nach dieser Episode vernahm ich ein ungewöhnliches, vom Korridor hereindringendes Geräusch. Es war, als rauften sich zwei kichernde Elfen. Zu meinem Befremden öffnete sich die Kerkertür, zwei tändelnde Wachtmeisterstöchter schleppten feixend einen umfangreichen Wasserbehälter, worin ein unförmliches Riesenbouquet stak, herein und taten, um das Komische der Situation zu erhöhen, als wäre die Last ihren Kräften angemessen zu schwer, um sie erheben zu können. Dieses eigentümliche Präsent stellten sie vor mich hin, lachten sich erst ordentlich aus, und die eine sagte dann, während die andere ihr hochgebauschtes Schürzchen auskramte : „So, das schickt Ihnen Fräulein Ernestine N.! I h r e E r n e s t i n e , ausdrücklich betonend; und diese Schokolade und dieses Fleisch und dieses Liebesbriefchen hier! Und Sie möchten sich ihretwegen nicht ängstigen, am Sonntag käme sie selber." „Da hat ja der Herr D. Ch. zwei Liebsten!" warf die andere neckend ein. Sprachlos stand ich dabei und fühlte die Glut der Verlegenheit mir ins Gesicht steigen. Doch die ältere Schwester pochte die Sprecherin und sagte neckend: „Was verstehst du Gänschen schon von doppelter Liebschaft!" Und raufend und tollend verließen die jugendfrischen Kobolde die Zelle. Nein, diese Ernestine N! Mir eine solche Verlegenheit zu bereiten, und zwar ohne jede gerechtfertigte Veranlassung meinerseits. 169

Mit der Ernestine arbeitete ich seit meiner Anwesenheit im Orte in einer Fabrik, sie war sogar meine nächste Nachbarin. Sie hatte eine untersetzte Figur, unverhältnismäßig umfangreiche Körperformen und ein mächtig aufgedunsenes Gesicht, klumpig verschwollene Augenlider und einen schläfrigen Gesichtsausdruck, aus dem die listig versteckten, wasserblauen Augen lauernd hervorlugten. Passend hatte sie der selten fehltreffende Volkswitz als ,Vollmond' bezeichnet. Ich hatte es ihr angetan, weil, wie sie hervorhob, niemand ihren Namen Ernestine so rein aussprach als ich. Dieser weibliche Vollmond war ein harmloses, etwas aufdringliches Wesen. Ich war viel zu gutmütig, dasselbe schroff von mir fern zu halten. So kam es, daß mich Ernestine von der Arbeitsstätte oft unaufgefordert nach Hause begleitete, was sie damit zu rechtfertigen suchte, daß uns der Weg eine gemeinsame Straße führte, obgleich ich unter ihrer Zwangsgesellschaft sozusagen Blut schwitzte und es für zweckdienlich erachtete, mich vor meiner Pauline zu entschuldigen, was der letzteren, die glücklicherweise nicht eifersüchtig war, ungeheures Vergnügen bereitete. Bei einem gelegentlichen Fabrikfeste wurde mit den Mitarbeiterinnen Brüderschaft getrunken, und ich war verständig genug, mich nicht überheben und davon ausschließen zu wollen. Aber jedes Ding hat zwei Seiten. Nun pochte der .Vollmond' demonstrativ auf sein ,Du', und die Kollegen sagten mir lachend: „Du hast ihn auf dem Halse, nun sieh' zu, wie Du Dich seiner wieder entledigen kannst!" Nun versuchte der Vollmond sogar, mich durch Geschenke verbindlich zu machen und durch den künstlich erweckten Schein längst bestehender Intimität eine Pression auf meine Entschließungsfreiheit auszuüben. Wahrhaftig, er war nicht so indifferent, der schlummerköpfige Vollmond, wofür ich ihn anfangs gehalten hatte! Ärgerlich pfefferte ich die Geschenke in die äußersten Zellenwinkel, schleuderte mit dem Fuß das Monstrebouquet aus dem Kübel und beschloß, beim Empfange des mir angekündigten Besuches mich schroff ablehnend gegen den Vollmond zu verhalten. Der Sonntag kam und mit ihm als erster Besuch: Erne170

stine! Sie stürzte sofort auf mich zu, umarmte und küßte mich und sprach mit dramatischer Echauffation, immer das ,Du' ganz besonders hervorhebend: „Endlich, mein Innigstgeliebter, darf ich Dich wiedersehen! Ach wenn doch diese schrecklichen vier Wochen erst vorüber wären, daß Du in meine Arme zurückkehren kannst! Ich vergehe vor Sehnsucht und Sorge, und Du sehnst Dich wahrscheinlich auch nach mir, nicht?" Mir war in ihrer bärenpfötigen Umarmung der Atem ausgegangen. Ich hatte, von ihrer mir unerwarteten Überrumpelungskunst frappiert, die Sprache verloren. Ernestine benützte geschickt meine momentane Befangenheit, die Fäden fester zu ziehen, die sie glaubte um mich geschlungen zu haben. Zu meinem größten Leidwesen hatte das Fräulein Schließerin die Zellentür nur lose angelehnt und lauschte nun begierig des theatralischen Auftritts, der sich da drinnen entwickeln sollte. Rascher jedoch, als ich selbst es gedacht, erlangte ich meine Fassung zurück. Ich wickelte mich aus der Umstrickung los, trat kühl einige Schritte zurück und sagte nichts weniger als schroff, aber doch ernst und bestimmt: „Fräulein Ernestine, in diesem Tone dürfen Sie nicht mit mir reden! Hoffentlich sind Sie nicht gekommen, um mit mir Komödie zu spielen?" Die Angeredete indessen erwies sich als bombenfest und war nicht so leicht aus der Fassung zu bringen. „Aber Lieber D!" sagte sie mit klagender Stimme, „was habe ich getan, um Deinen Unmut zu erregen? Du stellst Dich plötzlich so fremd und redest mich mit ,Sie' an, als sähen wir uns zum erstenmal. Das bin ich nicht gewohnt von Dir." Sie wollte wieder auf mich zueilen, ich aber streckte ihr abwehrend meine Hand entgegen und sagte lauter und bestimmter als zuvor: „Wir haben Duzbrüderschaft gemacht, es ist wahr, aber nicht aus Liebschaft, sondern nur aus Kollegialität. Sie haben es sich selbst zuzuschreiben, wenn ich mein ,Du' zurückziehe. Ich glaube, mich Ihnen gegenüber stets anständig und zurückhaltend bewegt und nichts unternommen zu haben, was in Ihnen die irrige Meinung erwecken könnte, ich trachte nach Ihrem Besitz. Zudem bin ich, wie Sie wissen, verlobt, und ich müßte erst einer andern die Treue brechen. 171

um Ihnen meine Liebe zuwenden zu können. Das aber werden Sie von mir nicht erwarten!" Jetzt erst fiel Ernestine aus der Rolle, und ihre Stimme kreischte ein wenig, als sie sagte: „Glaubst Du vielleicht mit der Pauline glücklich zu werden? Sie ist viel zu eingebildet, das Ding. Und was sie Dir zu bieten vermag, spende ich Dir im reichen Maße!" „Brechen wir ab, Fräulein!" rief ich. „Ich verbiete Ihnen ganz entschieden, Fräulein Pauline A. in die Debatte zu ziehen oder wohl gar verächtliche Bemerkungen über die Dame zu machen. Sonst sehe ich mich veranlaßt, jeden Verkehr mit Ihnen abzubrechen." Diese energische Sprache verfehlte ihren Eindruck nicht. Ernestine ließ sich erschöpft auf den Schemel nieder; ungekünstelte Tränen traten ihr in die Augen, und sie entgegnete mit weicher, wehmütiger Stimme, die auch mir zu Herzen drang: „So hätte ich mich also in Sie getäuscht, als ich einen aufrichtigen Freund in Ihnen zu erblicken glaubte. Aber ich zürne Ihnen nicht, ebensowenig Paulinen. Der Fehler liegt nur an mir, indem ich mir einbildete, von dem geliebt zu werden, den ich liebe." Es bedurfte der Sammlung, ehe ich zu antworten vermochte. „Wenn Ihnen an uneigennütziger Freundschaft etwas liegt, werde ich Ihnen diese nicht vorenthalten, Fräulein. Liebe jedoch kann ich Ihnen nicht bieten." „Es ist sehr wenig, aber ich verweigere es nicht", sagte sie. „Ich nehme es an als Abschlagszahlung. Wer weiß, welche Blumen die Zukunft ersprießen läßt. Vom Freunde erhoffe ich, daß er das brüderliche ,Du' an die Stelle des lieblosen .Sie' setzt!" „Zuvor möchte ich einige Bedingungen machen", warf ich ein. „Also aufrichtige Freundschaft unter Bedingungen?" sagte sie sarkastisch. „Ja, allerdings! Auch die Freundschaft setzt ihre Bedingungen voraus. Von der Freundin verlange ich keine Geschenke, denn ich will ihre Aufopferung nicht. Zudem müssen diese monströsen Blumensträuße, die nur imstande sind, uns beide lächerlich zu machen, ausfallen. Drittens dürfen wir nicht vergessen, daß Freundschaft 172

nicht Liebe ist, und letztens besorgst Du dieses Couvert unverzüglich an seine Adresse." Hastig griff sie nach dem Briefumschlag, der eine Anzahl Gedichte enthielt, die ich der Gefängniszensur zu unterschlagen gedachte und mit dessen Überantwortung ich Ernestinens Freundschaft eine Konzession machen wollte. Sie verbarg ihn in ihrem umfangreichen Busen und entgegnete: „Schön gesagt, aber erlaube, erlauben Sie, einige Ausstellungen zu machen. Erstens ist das keine Freundschaft, die nicht Opfer gibt und nimmt. Zweitens sind die zierlichen Veilchensträuße von anderer Hand wohl angenehmer?" Halblaut sprach sie vor sich hin: „Auch nicht die kleinste Freude gönnt mir der Mensch." „Und drittens?" frug ich. „Und drittens, ja, was war denn zu dritt?" frug sie naiv. Da öffnete sich die Kerkertür, und eine Tochter des Hauses führte Fräulein Pauline A. herein, und zwar mit folgenden absichtlich gedehnten Worten: „Hier bringe ich — die andere." Um rasch über die unbehagliche Situation hinwegzukommen und Pauline über ihre nur zu natürliche Befangenheit hinwegzuhelfen, stellte ich die längst vertrauten Damen einander vor: „Fräulein Pauline, meine Braut; Fräulein Ernestine, Kollegin, Freundin; Fräulein Schließerin." „Störe ich die Herrschaften?" frug Pauline ironisch, während ihr bereits der Schalk aus den Grübchen lachte. „Im geringsten, gar nicht!" sagte Ernestine pathetisch, als mache sie die repräsentativsten Honneurs. „Meine mir zuvorgekommene Nebenbuhlerin", sagte Pauline, ergriff der anderen Hand und drückte sie so derb, daß deren Besitzerin einen Schmerzenslaut nicht zu unterdrücken vermochte. Pauline lachte gutmütig hell auf, und die eben erst erneuerte Freundschaft stimmte lustig mit ein. Zögernden Fußes entfernte sich Fräulein Schließerin. Letztere mit meinen Blicken bis zur gänzlichen Entfernung verfolgend, fand ich, als ich mich wieder zur Gesellschaft wandte, das bereits verwelkte Veilchenbouquet durch ein frisches ersetzt. „Mehr nicht?" fragte Ernestine enttäuscht. „Vor der Hand, nein!" antwortete Pauline. „So gefällst Du mir, Kind", sagte ich. „Dieses Sträußchen gewinnt in meinen Augen 14

Adolf Lepp

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um so mehr an Wert, je weniger wichtig es sich hervortut und desto weniger es von minderwertigen Beigaben profaniert wird. Ernestine sollte sich daran ein Beispiel nehmen, mich ferner nicht mehr mit Geschenken zu überhäufen und mich mit schlecht angebrachten Verbindlichkeiten quälen zu wollen." „Ich werde es mir merken", sagte letztere. „Vor allen Dingen", lenkte Pauline ein, „wie ist Ihr Befinden? Fühlen Sie sich wohl und gesund?" „Beruhige Dich, Kind", entgegnete ich, „ich fühle mich nicht nur wohl und gesund, sondern überglücklich, sogar im Besitz einer solchen, zwei solcher Freundinnen!" „Zwei umgekehrte Verhältnisse", bemerkte Ernestine schnippisch. „Von mir mag er nichts wissen, mein freundschaftliches ,Du' beantwortet er mit einem höflichen ,Sie'. Nun macht es Paulinchen gerade so mit ihm, wie er es mit mir macht." Pauline lachte und wurde rot. Ich entgegnete: „Es gibt nichts Verkehrteres in der Welt als die Geschlechter. Die Frau ist das diametrale Gegenstück zum Manne, und dieser wieder ist die individuelle Analogie des Weibes. Warum konnte es nicht umgekehrt beschaffen sein und die Geschlechter ausgetauscht haben?" Pauline strich mir zärtlich über die Wange und sagte belustigt: „Das ist mein Gelehrter!" „Nein!" sagte Ernestine. „Es ist mein Verkehrter." „Es scheint mir fast so", schäkerte Pauline, „als habe der Unhold uns allen beiden die Köpfe verdreht, und wir werden uns noch um ihn schlagen müssen." „Überschätzen mich die Damen nicht", warf ich lachend ein. „Das Duell rechtfertigt sich nur durch die Wertschätzung einer Dame. Teilen wir also den Fratz. Hier, Pauline, hast Du den Arm. Hier, Ernestine, nimm dieses Bein! Hier, Pauline, erhältst Du mein Herz. Hier, Ernestine, bekommst Du den Kopf!" Ich begleitete meine Worte mit entsprechenden Gliederverrenkungen. Wir hatten längst vergessen, an welch einem trüb seligen Orte wir uns befanden, und lachten alle drei vor Lust und Ubermut. Dann sagte Ernestine phlegmatisch: „Den Kopf mag ich nicht, es stecken zu viele Finessen darin, und das Bein? es hat mich eben noch getreten. Ja, wäre es noch 174

ein Schweinsbein, daß ich es essen könnte." Unter allgemeinem Hallo sagte Pauline: „Also fordere ich Sie zum Duell heraus, Fräulein. Wir müssen uns schlagen! Wünschen Sie Pistolen oder Sonnenschirme?" Ernestine erhob sich, seufzte end sagte: „Es hat sich sein Schlagen, ich räume das Feld. Die Verlobten wünschen unter vier Augen zu sein." Ich geleitete Ernestine zur Türe. Sie konnte es indessen nicht unterlassen, mir zum Abschied die Hand zu küssen. Als ich zurückkehrte, fand ich auf der Tischkante einen Taler liegen. Ganz verdutzt frug ich Pauline, ob das Geld von ihr komme. Als sie es bestritt, veranlaßte ich sie zur Zurückerstattung des Geldgeschenks an Ernestine, die Spenderin. Nun war ich mit meinem Schutzgeist allein. Erleichtert atmete ich auf. Wir drückten uns die Hände und blickten uns in die Augen, gesprochen wurde fast gar nichts mehr. Pauline kam jeden Sonntag, besaß jedoch den feinen Takt, außer mit dem Veilchenstrauß mich mit Geschenken zu verschonen. Die materielle Fürsorge überließ sie der Mutter, welche sich an den Wochenmarkttagen regelmäßig einfand, die Hohlräume meines Ofens mit Nahrungsmitteln zu spicken. Ernestine hingegen konnte das Bescheren nicht unterlassen. Ich mußte micht erst wirklich böse gebärden, um sie von ihrem Verfahren abzulenken. Als sie aber die Indiskretion beging, das ihr anvertraute Couvert zu öffnen und meine Lieder zu profanieren, ward ich so boshaft, ihr das Wiederkommen zu verleiden und ein Spottlied auf sie zu verfassen mit dem wenig schmeichelhaften Titel: „Der Vollmond zu Pferde." Dieses Gedicht hat zum Verdrusse seines Objektes die Runde durch die Fabriken gemacht. Meine Absicht aber, einen vollständigen Bruch mit Ernestinen herbeizuführen, erzielte ich damit keineswegs. Außer den Sträußen der Freundin fand sich jeden Dienstag noch ein drittes Sträußchen ein, dessen Ursprung ich bis heute nicht zu ermitteln vermochte. Es waren mit weißer Seide gewundene Maiblumen. Wachtmeisters wußten nicht oder wollten's nicht wissen, von wem es gespendet wurde. Als dieses mysteriöse Geschenk eines Dienstags über die gewöhnliche Zeit ausblieb, bemächtigte sich meiner eine unbeschreibüche Unruhe. 14'

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Meine Seele jauchzte erleichtert auf, als sich der Maiblumenstrauß dennoch, wenn auch ein wenig verspätet, einfand. Tausend Dank der uneigennützigen Spenderin ; denn nur eine Dame konnte so feinfühlig verfahren. Das elegante Sträußchen selbst verriet seinen Ursprung aus Frauenhand. Eines Wochentags saß ich verträumt an meiner Arbeit, als sich geräuschlos die Tür öffnete und eine schlanke, elegant gekleidete Frauengestalt die Schwelle überschritt. Ich hatte gerade an Pauline gedacht, deren Gestalt und Gebaren die Dame zu haben schien. In wenigen Sätzen stand ich an ihrer Seite, ergriff ihre Hand, führte dieselbe zum Munde und sprach, vor Seligkeit blind: „Da bist Du ja, mein guter Genius! Meine Gedanken haben Dich herbeigezaubert!" Plötzlich stutzte ich. Das war nicht Paulines hingebendes Wesen, das war vielmehr ein unbekanntes Widerstreben. Diese Hand war zierlicher und weicher als Paulinens Hand, und sie folgte nur sträubend der Führung der meinigen. Verwirrt trat ich zurück — ich hatte meinen Irrtum erkannt. Eine mir völlig fremde, verlegen lächelnde Person stand vor mir. „Ach entschuldigen Sie", stotterte ich, „ich glaubte, ich dachte. . ." Die Fremde machte eine beschwichtigende Handbewegung und entgegnete zögernd: „Es ist vielmehr an mir, um Entschuldigung zu bitten! Ihnen muß es sonderbar erscheinen, mich hier eindringen zu sehen. Seien Sie indessen versichert, daß es nicht weibliche Neugier ist, die mich zu Ihnen führt, sondern das regste Interesse an einem Mann, von dem ich so viel Lobenswertes vernommen habe." „Lobenswertes? Von mir, einem armen Gefangenen? Fräulein, Sie scherzen!" rief ich. „Sind Sie nicht der Verfasser so schöner, gemütreicher Lieder wie Männertränen, Unterschied des Verlustes und so fort?" „Das allerdings! Es ist jedoch noch sehr die Frage, ob diese Lieder außer Ihnen noch jemand für schön und gemütreich befindet. Ich selbst lege denselben nicht die Bedeutung bei, die Sie ihnen beizulegen belieben." „Sagen Sie das nicht!" erwiderte sie. „Der Mensch soll

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sich nicht unterschätzen. Uber Ihre Lieder herrscht nur eine Stimme, und es befremdet mich, daß Sie dieselben nicht längst im Druck erscheinen ließen." Ich lachte belustigt auf, meine angeborene Fröhlichkeit kehrte zurück. „Da haben wir's!" rief ich, „glauben Sie mir, meine Dame, daß die meisten dieser VerÜbungen nicht druckreif sind! Einige zwar sind bereits im Druck erschienen, die meisten jedoch wandern geradewegs in den Papierkorb. Die Herren Redakteure wissen es jedenfalls besser als wir." „Ach", sagte sie. „Sie scheinen noch keine Ahnung davon zu haben, wie es in der Redaktion zugeht. Ich weiß es, manch ein Eingeweihter hat geplaudert. Jede Redaktion hat ihre Leib- und Lieblingspoeten. Diese können liefern, was sie wollen, gut oder schlecht, es wird gebracht und befürwortet. Die Redakteure eines Journals haben die stillschweigende Verpflichtung übernommen, sich gegenseitig herauszustreichen und keine Konkurrenz neben sich aufkommen zu lassen." „Also auch auf dem Gebiete der Schöngeisterei dieser häßliche Brotneid! Das ist mir neu und interessant! Aber es muß ja so sein, wie wäre sonst das Geschäft mit dem Krämer in Einklang zu bringen? Doch darüber vergesse ich die Pflicht zur Höflichkeit. Wir stehen hier an der Türe und plaudern, wollen Sie nicht näher treten und sich setzen? Ach, nun fehlt mir wieder der Stuhl, den ich Ihnen anbieten könnte, daß ich auch so armselig bin!" Ich hatte ihre Hand erfaßt und führte sie tiefer ins Gemach. Sie ließ sich ohne lange Umstände auf meinem Holzschemel nieder und schlug nun erst den Schleier zurück. Sie war jung und schön. Ihr Anblick verwirrte mich einigermaßen. Da frug sie mich plötzlich: „Haben Sie schon etwas an die G a r t e n l a u b e gesandt?" „Nein", antwortete ich. „Versuchen Sie es einmal, ich rate Ihnen dazu!" „Ich will es mir lieber noch überlegen", sagte ich. „Die G a r t e n l a u b e ist ein nobles Organ. Es könnte dem schlichten Naturdichter gerade so ergehen, wie es ihm anderswo ergangen ist." „Glauben Sie das nicht!" rief sie. „Die G a r t e n l a u b e ist nichts weniger als nobel, und ihre Poeten werden 177

immer fader und unverdaulicher. Ich sollte meinen, sie müßte den Naturdichter mit Freuden begrüßen als einen, der frischen Blumenduft hereinführt." „Sie scheinen sich ein sympathisches Vorurteil für mich gebildet zu haben, Gnädigste! Allein, ich muß dennoch erwidern, daß ich mich an die G a r t e n l a u b e n - D i c h t e r nicht heranwage. Das ist alles so proper und glatt wie poliert, die Silben gleiten daher wie Perlen am Schnürchen." „Mag sein", sprach sie, „'s ist aber kein Leben, kein Feuer darin! Farblose Wasserperlen!" „Wertes Fräulein", sagte ich warm, „Sie führen mich da in eine ganz neue Anschauung hinein! Offen gestanden, habe ich beim Lesen diverser G a r t e n l a u b e n Poesie selten etwas denken können. Aber ich habe mir gedacht, es müsse wohl so recht sein und ich sei nicht dazu berufen, ein Urteil zu fällen." „Nun, nun", sagte sie, „es gibt auch Meister, die ewig Stümper bleiben. Eine anspruchslose Protektion hob sie rechtzeitig aufs Roß. Apropos! Die G a r t e n l a u b e ist bei vielem Seichten, was sie enthält, noch lange nicht das ödeste Organ unserer Zeit, weil sie auch hin und wieder Perlen wahrer Poesie zum Vorschein bringt." „Wie klug Sie dies alles zu sagen vermögen, meine Dame! Ich sollte fast vermuten, eine Dichterkollegin vor mir zu haben." „Diese Vermutung ist unrichtig, mein Herr, da ich mich auf dem Pegasus noch nicht versucht habe. Allein, ich habe mich noch nicht in die Poesie hineingelebt. Also versuchen Sie es nur mit der G a r t e n l a u b e . Schlägt der Versuch fehl, ist nichts verloren!" „Zeit ist verloren, Mut ist gesunken!" rief ich, „und es wird schon fehlschlagen, da die Tendenz der G a r t e n l a u b e nicht die meinige ist." „Sie dürfen ihr freilich nur tendenzlose Stimmungslieder zufertigen, deren Sie ja einige bereits produziert haben. Übrigens sollte sich die Kunst von jeder häßlichen Parteinahme fernhalten, da sie der Gesamtheit angehört und über jedes Sonderinteresse erhaben sein muß." „Erlauben Sie, Gnädigste, daß ich anderer Meinung bin. Die wahre Kunst gehört allerdings der Gesamtheit an 178

und steht daher im Dienste des Volkes, dessen Denken, Fühlen und Wünschen sie zur Anschauung bringt. Daß dies richtig ist, beweisen die Freiligrathschen Gedichte, von deren keinem Sie sagen können, es seien Wasserperlen, denen Leben und Feuer fehlen! Es gibt aber eine unwiderstehliche Afterkunst, die sich in den Dienst des kleinlichen Sonderinteresses stellt und nur dem Erfolge frönt. Zu dieser bekennen sich z. B. die Hofpoeten und die Kirchenliederdichter." „Können diese Männer nicht von Begeisterung getragen sein?" fragte sie, „können Sie sich nicht für die Größe Gottes enthusiasmieren oder für die Idealgestalt eines Helden?" „Es ist die reine Erfolgsanbeterei! Wie kann man sich iür einen unerkennbaren Gott enthusiasmieren? Die Idealgestalt des Helden ist voller Flecke und Geschwüre und schrumpft in den Augen des Lobhudlers sofort zusammen, wenn der Erfolg ausbleibt. Der große Schiller hat eine Schlachtenstromerin, eine Giftmischerin und einen spanischen Trottelprinzen idealisieren können. Der fast noch größere Goethe hatte Götz von Berlichingen, einen Straßenräuber, zu verherrlichen vermocht!" „Aus Ihnen spricht der Verneiner. Ich hätte fast vergessen, daß Sie Gottesleugner sind. Der Dichter schält die Idealgestalt aus seinem Helden heraus, schleift gewissermaßen die Schlacken und Flecken ab wie der Juwelier den Edelstein. Der Held ist nicht mehr die Person, die gelebt und gefehlt hat, sondern er ist vielmehr ein geläuterter Abglanz derselben. Die Person gibt nur den Namen her, der Dichter das Ideal. Es ist das über dem Menschlichen Erhabene, das der Künstler zur Geltung bringt." „Durch dieses Verfahren aber", so rief ich, „wird die Geschichte verfälscht, die Wirklichkeit verdreht und die Menschheit genasführt! Ich ziehe das Rein-Menschliche dem Übersinnlichen, unwahr Erhabenen vor! Ich will lieber die Natur verherrlichen, als einem Idealphantom nachzujagen." „Und dennoch läge es in Ihrem eigenen Interesse, nicht gegen den Strom schwimmen zu wollen!" entgegnete sie. „Wie wollen Sie festen Fuß fassen, wenn 179

Sie sich selbst den festen Boden entziehen? Es ist nicht von Ihnen zu verlangen, wider Ihre Überzeugung zu wirken. Bleiben Sie tendenzlos, wenigstens in der Dichtkunst, und ich bin für Sie nicht bange, daß Sie den Weg zur Höhe finden werden." „Nein, und tausendmal nein! Ich bin nur ein DichterProletarier, meine Seele gehört dem leidenden Volke an, mein Interesse geht in der Gesamtheit auf. Ich habe festen Fuß gefaßt in der Überzeugung, daß das Volk die Kraft repräsentiert, vermittels derer es sich selbst erlösen und die Zukunft erobern wird. Das Wohl des Volkes ist mein Ideal, die Verteidigung seiner Rechte ist meine Tendenz und wird es sein und bleiben trotz aller Aussichtslosigkeit, den Weg zur Höhe zu finden." An der Zellentür klopfte es, die Dame erhob sich. „Schade", sagte sie, ihre Kleidung zurechtzupfend. „Gerade wo das Gespräch anfängt, höchst interessant zu werden, werde ich abgerufen. Aber ich komme schon einmal wieder, wenn Sie's gestatten!" „Von Herzen gern", sagte ich eifrig. „Der Umgang mit einer gebildeten Dame kann nur veredelnd wirken." Sie reichte mir ihre Hand, die ich respektabel zum Munde führte. Die Dame verschwand. Vergebens harrte ich ihrer Wiederkehr, vergebens auch forschte ich nach ihrer Identität. Wachtmeisters hüllten sich in Schweigen und sagten nur, die Dame wolle nicht genannt sein. Nachmittags kehrte der Wachtmeister in Begleitung eines Gefangenen zurück, den er als „Zuwachs" zu mir in die Zelle legte. Dieser Gefangene war ein schlanker, dunkler, nicht unschöner Mann von etwa 35 Jahren. Seine Kleidung war abgetragen, ohne schäbig zu sein. Sein Auftreten war ruhig und gemessen, seine Ausdrucksweise nüchtern und bescheiden. Dieser Mann erschien mir mehr als ein friedfertiger, wenn auch heruntergekommener Spießbürger denn als ein Verbrecher. Vergebens suchte ich in seinen Gesichtszügen den Stempel der Gemeinheit. Selbstverständlich teilte ich, was ich hatte, mit ihm. E r nahm es an, aber forderte es nicht. Da er wortkarg und in sich verschlossen war, fiel es mir nicht ein, nach der Veranlassung seiner Sistierung zu 180

forschen. Als er sah, daß ich schrieb, bat er mich eines Tages, in seinem Namen einen Brief zu schreiben, weil er des Schreibens unkundig sei. E r hatte in der Sächsischen Schweiz einen reichen Onkel. Diesen bat er im Brief um Hilfe und Rettung aus seiner mißlichen Lage, indem er zugleich einen unbescholtenen Lebenswandel in Aussicht stellte. Dieser von mir verfaßte Brief sollte dem Mitgefangenen zur selbstgestellten Falle werden. Der Brief wurde von der Gefängniszensur gelesen, und dabei stellte es sich heraus, daß der Bittsteller ein von der auswärtigen Behörde gesuchter entsprungener Züchtling war, der bisher unter falschem Namen und mit falschen Legitimationen sein Wesen getrieben hatte. Als der Wachtmeister mit dieser Erkenntnis unsere Zelle betrat, erkannte ich ihn kaum wieder. Rauh, beinahe heiser befahl er meinem Mitgefangenen, vor ihm gerade zu stehen. Dann packte er ihn mit beiden Fäusten an den Verschlußkanten des Rocks, rüttelte ihn zurecht und sprach im Tone aufrichtiger Entrüstung:. „Und Ihr wollt Menschen sein und Anspruch machen auf Menschlichkeit? Wie der Hund an der Kette, wie der Wolf im Wolfszwinger, so nur fühlt Ihr Euch wohl, so nur könnt Ihr gedeihen! O wie tief seid Ihr gesunken, tiefer als das wilde Viehzeug, und man weiß oft nicht recht, ob man Euch bedauern oder verachten soll!" Dann entfernte sich der Sprecher. Ich habe schon manch eine Moralpredigt über mich ergehen lassen müssen. Allein, keine verriet soviel persönlichen Anteil, so viel persönliche Wärme als diese. Nun wurden bereits getragene, reine und ausgebesserte Kleider gebracht. Mein Zellengenosse mußte sich umziehen und sich auf den Transport vorbereiten. Bevor er aus der Zelle geführt wurde, streckte er mir zum Abschied seine Rechte entgegen. Der Wachtmeister trat zwischen uns und sprach: „Nix da, Ihr seid Euresgleichen nicht!" So war ich wieder allein. Doch nur anderthalb Tage. Dann erhielt ich einen anderen Z u w a c h s . Aber einen, der Haare auf den Zähnen hatte. Dieser Mann war untersetzt, muskulös, sehnig, mit gelbgrauer Haut und strup-

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pigen blonden Haaren. Seine Kleidung war grau und schmutzig. Er kehrte sofort die Kollegialität hervor und plünderte meinen Ofen. Im Laufe unseres Zusammenseins nahm er, was sich ihm bot, ohne zu fragen, so daß es schließlich den Anschein gewann, als sei er der Spendende, ich der Empfänger. Ich ließ ihn lachend gewähren. Als er sich dann anschickte, einen Griff an das mir zur Verarbeitung anvertraute Rohmaterial zu tun, klopfte ich ihm gehörig auf die Finger. Übrigens schämte er sich seiner Verbrecherlaufbahn nicht und erzählte mir all seine H e l d e n t a t e n , die oft an Münchhausens Abenteuer erinnerten. Er roch nicht vom besten und machte sich so unangenehm als möglich. Bei meiner bald darauf erfolgenden Entlassung führte mich der Wachtmeister in den Korridor und frug, wie ich mit dem Zellengenossen zufrieden sei? Vorwurfsvoll frug ich dagegen: „Einen besseren konnten Sie wohl nicht auftreiben?" Der Wachtmeister lächelte verschmitzt und sagte: „Sehen Sie, das habe ich nur zu Ihrem Besten getan!" „Zu meinem Besten? Ich möchte wissen . . ." „Sie sollen sich durch näheren Umgang mit dem Verbrechertum von der Notwendigkeit der Prügelstrafe überzeugen!" „Dieses Experiment ist ganz verfehlt", warf ich ein. „Meine Uberzeugung ist fester als zuvor." „Weil Sie durchaus rechtbehalten und nicht überzeugt sein wollen", rief der Wachtmeister. „Wenn Sie nun die Verbrecher als Ihre Brüder betrachten, weshalb unterzeichnen Sie all Ihre Manuskripte mit dem Prädikat P o l i t i s c h e r G e f a n g e n e r ? Doch wohl nur deshalb, um nicht mit dem gewöhnlichen Verbrecher identifiziert zu werden, weil Sie denselben verachten." „Sie irren, ich wiederhole es", sprach ich. „Als Verbrecher mag ich allerdings nicht gelten, weil ich eben keiner bin. Ich würde mich als gesitteter Mensch eines Verbrechens schämen, nicht aber des Verbrechers. Dieser kann in seiner anerzogenen Unzurechnungsfähigkeit für die Krebsschäden der Gesellschaft nicht verantwortlich gemacht werden. Ich halte das Verbrechen für gefährlich, folglich für verwerflich. Ich kann es der 182

Gesellschaft nicht verargen, wenn sie den Verbrecher unschädlich macht, trotzdem sie selbst es war, die ihn gezüchtet hat. Der Verbrecher kehrt sich nun gegen sie und bedroht ihre Fortexistenz, sie räumt ihn in ihrer Notwehr einfach aus dem Wege. Aber verachten darf sie den nicht, den sie in ihrer unersättlichen Selbstsucht ins Elend gestürzt hat. Mißhandeln, prügeln und schikanieren soll sie den Unglücklichen nicht, den sie um seine Selbständigkeit geprellt hat. Das Verbrechertum gehört -auf das Konto der Gesellschaft, die um so strafbarer ist, je mehr sie sich bestrebt zeigt, die Schuld von sich ab und auf ihr hilfloses Opfer zu wälzen. Und was sind ihre Triebfedern? Habsucht, Herrschgier, Mordgier und Wollust, Roheit und Müßiggang! All diese Leidenschaften spiegelt das Verbrechertum wider wie ein Hohlspiegel. Das Verbrechertum ist die Karikatur der Gesellschaft. Die Ausbeutungssucht der sogenannten gebildeten Klasse korrumpiert die ganze Menschheit, indem sie Neid, Haß, Widerwillen und Geringschätzung erregt. Wird das arbeitende Volk geflissentlich nicht innegehalten und mit falschen Vorspiegelungen abgespeist, damit es nicht gewahr werden soll, wie gründlich es gerupft und geschröpft wird?" „Es hat immer Arme und Reiche in der Welt gegeben, und es wird wohl so bleiben bis an der Welt Ende", sophistierte der Wachtmeister. „Und ich sage Ihnen wieder: Sie irren! Es hat nicht immer Arme und Reiche gegeben, sondern es hat einen Zustand familiärer Gleichberechtigung auf Erden geherrscht, wie Sie es in jeder Völkerkunde nachlesen können. Und daß die Bäume des Privilegiums nicht in den Himmel wachsen, werden wir, die Armen, schon Sorge tragen. Wir Armen haben uns verbunden, diesem menschenunwürdigen Zustand ein jähes Ende zu bereiten und an dessen Stelle die Gleichberechtigung aller wieder einzuführen." „Ich bezweifle sehr", warf der Wachtmeister ein, „ob Ihre Armen intelligent genug sind, einen solchen paradiesischen Naturzustand herbeizuführen. Dazu gehört eine unbeschränkte Selbstverleugnung, die Sie nicht haben werden. Das Volk ist politisch nicht reif genug, 183

die Zügel der Regierung in die Hand zu nehmen. Auch fehlt ihm die Macht, die Ordnung der Dinge zu verdrängen und seine selbst erdachten Statuten an deren Stelle zu setzen. Wenn auch eine solche Umwälzung glücklich vonstatten gegangen wäre, was hätte das mit dem Verbrechertum zu schaffen? Es würde geradesoviel gestohlen und gemordet werden wie heute." „Ich sehe nicht ein, warum das Volk nicht endlich einmal zur richtigen Erkenntnis der Sachlage und ihrer Hebel gelangen sollte. Die Phrase von der politischen Unreife hört sich an wie Galgenhumor; politisch unreifer als das heutige bevorzugte Geschlecht kann auch das Volk nicht sein. Bücken Sie auf ein beliebiges Feld: Überall ist der Staatskarren in den Dreck geschoben worden, und nirgends ist die Kraft und Fähigkeit vorhanden, ihn wieder herauszuziehen. Es wird sich wohl schließlich doch noch das unwiderstehliche Volk dahinterstemmen müssen. Es ist bereits zur Einsicht gelangt, daß eine gerechtere Verteilung der irdischen Güter vernunftgemäßer und dem Gesamtwohl zweckdienlicher erscheint. Hat das Volk dies einmal gründlich erkannt, dann gibt es auch kein Aufhalten mehr, es schwemmt mit elementarer Gewalt alle Hindernisse hinweg, die in dem Weg zu seinem Ziel gelagert sind, und bricht einer Idee zu ihrer Verwirklichung Bahn. Und das Verbrechertum? Mit der Ursache fällt auch die Wirkung hinweg. Sobald sich die Wogen der Erregung gelegt haben werden, wird die Menschheit daran gehen, sich gleichmäßig zu nähren und aufzuklären. Es wird der Neid fortfallen, denn jeder wird haben, was er braucht. Wer wird da stehlen wollen, was leicht entbehrlich erscheint? Wer wird Blut vergießen wollen, wo das gemeinsame Interesse verknüpft ist und keiner mehr dem anderen im Wege steht? Ob die menschlichen Leidenschaften dermaleinst ganz einschlafen oder ob sie andere neue Blüten treiben werden, weiß ich heute noch nicht zu sagen; wohl aber weiß ich, daß Bildung, Glück und Zufriedenheit die besten Mittel zur Ausrottung der Bosheit und der Brutalität sind und daß Milde, Redlichkeit und Wahrheit veredelnd wirken, selbst auf ein vom Sturm der Leidenschaften beschädigtes Gemüt."

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„Das wird ja das reine Schlaraffenland werden", spottete der Wachtmeister. „So wenig wie möglich Beschäftigung, keine Steuern, keine Sorgen, keine Aufsichtsbehörde mehr, keine Verbrecher, sondern Brüder, keine Autorität mehr, sondern Banalität." „Nun", sagte ich verächtlich, „könnte es schaden, das Schlaraffenland, das sich heute bereits einige spekulative Köpfe auf Kosten der Gesamtheit eingerichtet haben, für die Gesamtheit einzuführen?" „Nein, mein Gutester", wehrte er ab, „mit dem Köder vermögen Sie keinen Hund hinter dem Ofen hervorzulocken!" Ich wollte ihm noch etwas entgegnen, besann mich aber eines Besseren. Es war der letzte Abend meiner Gefangenschaft hereingebrochen. Ich saß, eine Zigarre rauchend, unter dem offenen Zellenfenster. Die laue Frühlingsluft, das feierliche Abendgeflüster wirkte besänftigend auf mein Gemüt. Ich ließ die letzten vier Wochen meines Lebens vor meinem Geiste Revue passieren. Nur noch eine einzige, schwermütige Nacht, dann wäre auch diese ungewöhnliche Prozedur überstanden und ich meiner F r e i h e i t zurückgegeben. Wird es das einzige Mal bleiben, daß ich im Käfig saß? Werden die Vogler und Finkler ihre schrecklichen Fangarme nach mir ausrecken, mir Fallen legen und Leimruten legen, bis ich in ihren Krallen wieder festsitze? Spottvogel, hüte Dich! raunte es mir heimlich zu. Am Morgen, 9.00 Uhr, führte mich mein Kerkermeister in die Registratur. Registrator B., ein der niedrigsten Volksschicht entsprossener Mann, war mir nicht gewogen und ich ihm erst recht nicht. E r war einer der wenigen, auf die meine p o e t i s c h e Mission absolut keinen Eindruck machte. Sein ledernes, protziges Wesen heimelte mich wenig an. Instinktive Abneigung war uns beiden gemein. Mein pflichtschuldigster Morgengruß wurde als überhört nicht beantwortet. Herr Registrator schrieb eine Weile, ohne mich zu beachten, dann sagte er plötzlich im denkbar giftigsten Tone: „D. Ch. Ihre Strafzeit ist um! Ich habe Sie zu verwarnen, daß Sie sich vor einem Rückfall bewahren!" 185

Ich fühlte plötzlich mich blaß werden, dann schoß mir das Blut in Massen zu Kopfe. „Diese Erörterung hätten Sie sich ersparen können, Herr Registrator", sagte ich vibrierenden Tones. Lauter fügte ich dann hinzu: „Ich bin alt genug geworden, um selbst zu wissen, was ich zu tun oder zu lassen habe!" Der Herr Registrator verzog ein wenig das Gesicht, knurrte so etwas wie u n v e r s c h ä m t e r M e n s c h und sagte dann bissig: „Tun Sie meinetwegen, was Sie nicht lassen können. Ich habe Sie verwarnt, das war meine Pflicht!" „Schön, Herr Registrator! Und daß ich Ihrer Verwarnung keinen Wert beimesse, das ist meine Schuldigkeit!" „Sie dürfen sich entfernen! Sie sind entlassen!" Außerhalb der Registratur verabschiedete ich mich noch herzlich von meinem poetischen Kerkermeister, dann sah ich mich plötzlich von R o t h ä u t e n umzingelt. Ich glaubte schon ein Skalpiermesser nach meinem Kopfe zücken zu sehen. Heiliger Ludewig! Das waren ja gar keine Indianer, es war der Stamm meiner Freunde und Genossen, die mich in Empfang nahmen, um mich der deutschen Freiheit in die Arme zu schleudern, jener Vogelfreiheit, bei der man stets mit einem Fuße im Sprenkel steht. Und habe ich auch die ersehnte Freiheit nicht entdecken können, so bin ich doch auf diese Weise Bürger des Deutschen Rechtsstaates geworden - Ehrenbürger.

BRIEFE

Wehrstedt, den 16. 10. 88 Mein lieber Lautenbach! Die sämtlichen verfehlten Märkte, verbunden mit feuchtem Wetter verursachten, daß ich ganz von Gelde kam. Es war vorige Woche wie abgeschnitten, und wir hatten durchaus gar keine Einnahme, auch das Hausieren war vergeblich. Wir hatten nicht das trocken Brot satt und wußten nicht ein noch aus. Ich konnte daher auch die fehlenden Tabake nicht ersetzen und Ida sonnabends nicht nach Quedlinburg gehen, daher fiel auch diese Einnahme weg. Ich war in heller Verzweiflung und glaubte schon, ich würde mich nicht wieder erheben können. Am meisten grämte ich mich um Sie. Seit einigen Tagen hebt sich das Geschäft wieder langsam, und ich habe wieder Rohprodukte zur Arbeit. Ida wird kommenden Sonnabend nach Quedlinburg gehen, und ich werde Sonntag früh Ihnen, wenn auch nicht alles, so doch das meiste zurückgeben können. Diesen Brief erbitte ich mir zurück. Ich will ihn aufbewahren als Zeugnis meiner jetzigen Notlage. Mit Gruß Adolph Lepp London, den 5. 9. 1890 Werter Genosse Lepp! Ihre freundliche Mahnung vom 27. 8. traf mich beim Lesen des dritten Teiles vom „Chansonnier", der infolge unserer Räumungsaufgabe leider im hiesigen Verlag nicht mehr erscheinen kann. Sie können aus der ge-

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•druckten Beilage ersehen, welche Direktiven uns die veränderten Verhältnisse aufnötigen und sich einen Vers drauf machen, in welchem Trubel wir seit April stecken. Denn, um unsere Sache draußen, den nicht zu umgehenden ehrlichen Versuch zu erleichtern, müßten wir die Waffen vorläufig „auf dem Fechtboden" niederlegen. Unsere schwere Sündenlast würde sonst fortgesetzt den Mannschaften draußen angekreidet und die famose staatsanwaltschaftlich-reichsgerichtliche „Entdeckung" des „durch den S. D." „und seine Position dargestellten" „Geheimbundes", hinge all ihrem Tun wie eine Kugel an den Beinen. Diesen Rechtskniff zu fällen, gehört mit zu den ersten Zwecken unseres Abtretens, selbstredend stehen „wir" „Gewehr bei Fuß", soweit unsere hier freiwerdenden Kräfte nicht in Deutschland einrücken können. Zu den letzteren gehören Genosse Bernstein und ich, da unsere Todsünden uns das Vaterland auf 5 Jahre noch strafgesetzlich verschließen, der Fall des S.-Gesetzes uns also nicht zu statten kommt. Z. B . : Als Redakteur und benannter Gesellschafter unseres Geschäfts muß ich als Leiter der Administration und Expedition etc. gelten, als der „Obere der famosen geheimen Verbindung", eine Schuld, die nach Schluß derselben respektive „Auflösung des Geheimbundes" (hu!) noch 5 lange Jahre hier strafgesetzlich geahndet werden kann. Es ist uns deshalb maßgebenderseits abgewunken worden, bis man klarer sehen kann draußen. Bernstein ist wohlbestallter hiesiger Mitarbeiter der „Neuen Zeit" und Korrespondent diverser deutscher Parteiblätter, und ich habe die totale Liquidation des Geschäfts hier übernommen, was nebst sonstigen Räumen und Sichten der während meiner njährigen Tätigkeit seit Gründung des S. etc. angewachsenen Skripturen und dergleichen ein volles Jahr noch kosten dürfte. Sie sehen also, daß der Zwang der Verhältnisse uns eine Art „Reserveposition" auferlegt und daß unser Redaktionspersonal hier von jeher nur aus Bernstein bestehend, sich nicht zerstreut, wie Sie befürchtet haben. Schlüter hat nichts mit der Redaktion des „Sozialdemokrat" zu tun gehabt und hat schon seit Ende 1889 aufgehört, unserem Geschäft als 188

Mitaxbeiter im Archiv und der Expedition anzugehören. E r ist damals nach Amerika gegangen. Mit der Expedition und Administration des „ S . " und seiner Feldpost hatte Schlüter, und hier in der Expedition nur 2 Tage in der Woche, zu tun. In Zürich versorgte er das Geschäft für die Schweiz speziell und die Bücher für Volksbuchhandlung und Druckerei, deren technischer Leiter Genosse Tauscher war, wie hier. Ihr Schmerz um Schlüter ist also illusionär, und ich freue mich besonders, Sie auch in anderer Hinsicht beruhigen zu dürfen. Die Rezension der „Wilden Blumen" hat Schlüter hier auch nicht erlebt. Dies nur bemerke ich, um Ihrem Rezensenten nicht irrtümlich sein „Autorenrecht" durch andere Mutmaßungen geschmälert zu sehen. Ich hoffe, derselbe wird auch den „Deutschen Chansonnier" zu lesen noch Zeit finden. Ich halte dafür, daß — klären sich die Verhältnisse draußen - eine gute Auswahl davon im Druck erscheinen wird können. Erst, wenn ich ganz gelesen habe, will ich Ihnen meinen Eindruck des Ganzen schildern. Wollen Sie die „Maigedichte" noch zur Einsicht folgen lassen, desto besser. Ihr Zögern mit dem Manuskript des „D. Ch." im Januar, und wie Sie mir sagten, durch abermalige Überarbeitung verursacht, war diesmal eigentlich Ihr guter Stern. Denn wären wir durch die Verhältnisse, wie Sie sie kennen, während der Herausgabe des „D. Ch." überrascht worden, so müßte der Vertrieb ins Ungewisse fallen. So aber erwächst Ihnen die Chance, alles passierbar Schöne und Gute (soweit ich bis heute sehe) draußen erscheinen zu lassen. Ihr Rezensent wird von mir veranlaßt werden, Ihnen tunlichst dabei zu sekundieren, sobald er meine Auffassung des Gebotenen durch eigenes Urteil teilen lernt, und die Neugestaltung unserer Dinge draußen einigermaßen perfekt sein wird. Bei Sichtung wird mit den „gotteslästerlichen" Paragraphen des Reichsstrafgesetzes ebensowohl wie mit diversen anderen zu rechnen sein, doch immerhin nicht über die Hälfte „an die Kette kommen" müssen, soweit ich bis heute sehen kann. „Klein aber mein" dürfte der „Ch." dann wohl neben den „Wilden Blumen" derart vor das Volk treten 15 Adolf Lepp

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können, daß er in einem Anhang dieselben mitempfiehlt. Die Täterschaftsfrage träte dann auch in ein besseres Stadium vor der Welt, und das alles entwickle ich Ihnen nur deshalb heute schon, damit Sie, blase mich der Sturm hier hin wo er will, von meinen Winken benutzen können, was und wann es Ihnen dienlich scheint. Ihr Rezensent kommt nach Berlin. Seine Adresse erfolgt dann. Er kann und wird Sie dann auch sonst noch beraten für den Fall der Drucklegung. Ihr Urteil über Henkell (Diskret) ist dem unseren kongruent. Ein künstlerisches Genie, das sich in Barockereien gefällt und mitunter ins abgeschmackte hineinstelzt in der Meinung, der dichterische Realismus könne nur so „lebenswahr" zur Geltung kommen. Auch beim „D. Ch." bin ich auf einige wunde Flecken verwandter Art gestoßen, d. h., ich habe zu meiner Überraschung gefunden, daß ihn sein sonst so proletarisch gesunder Sinn doch einige Male im Stich ließ, einem „studierten" Realismus zu Gefallen. Asketiker ist keiner unter uns, aber dennoch pflichtet mir auch Ihr Rezensent bei, daß unsere „junge Dichterschule" — auch bei der Anlehnung an klassische Vorbilder — bei deren Beurteilung immer festhalten soll: Es gibt viele reale und poetische Situationen, in denen auch dem Genie der Griffel versagt, wenn er vergißt, daß „cacatum non est pictum". Dieses unter uns. Die Arbeitsunfähigkeitsnotiz scheint dem „Volksblatt" nacherzählt. Nun, um so besser. Ihr Guthaben für Portoverlag und Zeitverlust bei der durch uns verschuldeten Reinschrift des „D. Ch.", senden wir hier nur partiell mit M 20,—. Empfangen Sie dazu herzlichen Gruß und Dank Ihres Julius Motteier Apropos! Das Manuskript kann vielleicht der Rezensent nach Halle zum Parteitag mitbringen.

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30. Hugo; London, am 28. 6. 92 Werter Freund und Genosse A. Lepp in Halberstadt! Dank für Ihr treugemeintes Bemühen um den totgeschwiegenen Kunstverlag. Ich verstehe zwar, daß unsere Presse sich nicht zur Geschäftsreklame für parteigenössische Privatunternehmer hergeben kann und auch aus ökonomischen Gründen lieber die bezahlten Annoncen für dieselben sprechen läßt, aber ich vermag mir trotzdem nicht zu erklären, wie ein Vertriebshalter irgend einen Artikel will vertreiben können, ohne ihn selber zu annoncieren. Darunter verstehe ich, was unsere Presse, Literatur und deren jüngstes „Findelkind", die „Volkstümliche Kunst", betrifft, nicht eine marktschreierische Ruhmseligkeit, die immer Autoritäten zitieren und im gegenseitigen Herausstreichen besteht oder ausklingt, sondern ein würdiges, schlichtes, klares Vorführen neuerer Erscheinungen vom geistigen Kampfgebiet. Selbst dem Feinde soll man so gerecht werden, und kann man ihn nicht loben, d. h. ihn der eingehenden Erwähnung nicht würdig erachten, so erkläre man dies. Was besonders Ideen anlangt, so ist eben eine totgeschwiegene noch lang keine tot oder falsch erwiesene Idee. Das Totschweigen der unsrigen, soweit sie sich bis jetzt bildlich darstellt, ist übrigens z. Z. weniger eine Prinzipien- als, wie wir aus den Begleitumständen folgern können, eine Geschmacksfrage, an deren Beinen mancherseits und leider die Kugel taktischer Interessenfragen mithängt. Feststeht, daß unsere „Interessenten" blutarm, vom Hauptkampf total absorbiert und damit schwer opferbeladen sind. Damit muß jeder, unsere Parteipresse und Unternehmungen, in erster Linie rechnen. Ob es aber absolut richtig gerechnet ist, herauszurechnen, daß der praktische Kampf leiden müsse, wenn den Kämpfenden auch nur „ideale" Hilfsmittel geboten werden sollen, während sie am Alltäglichen darben, das steht auf einem anderen Blatt. Hat der „arme Teufel" nur Hunger im Bauch? Warum 15»

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kauft er sich (und darbt sich's am Munde ab) für einige Nickel Schundlektüre und Schundbildnerei, um „wenigstens andere Gedanken und eine Freude" zu haben! ?! Dort setzt unser Unternehmen, unser Appell ans Zugreifen an. Der Massengeschmack ist verhunzt und mancher „Kunstkenner" mitinfiziert. Mancher berechnet die Kunst und beurteilt sie nach ihren Chancen. Kunstkenner, -kritiker und -förderer haben wir daher blutwenig, wo die Brücke geschlagen werden muß, um zu den Massen zu dringen, in der Parteipresse nämlich. Sie will nicht reden, weil sie nicht reden kann in vielen Fällen. Lobt sie das Prinzip, Poesie oder Bildnerei, so riskiert sie, den verkaterten Geschmack zu kränken, lobt sie den nicht verkaterten Geschmack dagegen, so fürchtet sie — betrifft es ein parteigenössisches Privatunternehmen — den Verdacht der „Pufferei" von Genossen oder Freunden, die ihr etwa nahe stehen könnten etc. Aus diesem Grunde scheint man auch im Mayblatt (92) kein Wort zu Scheus großem Schritte gesprochen zu haben, den man allgemein mündlich als eine Meisterarbeit bezeichnete. Unsere unabhängige Presse ist eben trotz allem noch stark an die allgemeinen Parteiverhältnisse gebunden, mit denen sie rechnen muß, und die „Kleinen" machen's nach. Man fürchtet „unliebsame Präzedenzfälle" für ein privates Unternehmen spontan eintreten zu sollen, und das ist ja taktisch korrekt den Genossen gegenüber; ob in Rücksicht des Prinzips auch, resp. der Sache, darüber kann man als gleichzeitig persönlich Interessierter nicht streiten, ohne leicht dem „falschen Scheine" zu verfallen, den ja auch die schweigsame Kritik in jeder Hinsicht meiden will. Den uns wie allen ähnlichen Unternehmen freistehenden Annoncenweg glaubten wir nicht betreten zu sollen, obschon er uns die wenigeren Opfer auferlegen würde. Wir wollen uns die „Mitinteressenten" durch unsere Arbeit und nicht mit der Reklame heranziehen. Und wenn wir also Bild um Bild an alle Parteiblätter der Welt zur Kritik vorlegen und dieselben Schweigen für

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ihre Pflicht halten, so getrösten wir uns dieser „Duldung" unserer Anläufe solange als eines Ausdrucks „schweigender Sympathie", bis das Gegenteil gedruckt vor uns erscheint. Auf andere Rückschlüsse verzichten wir. Denn, sind die Träger unserer Parteipresse nicht innerlich gedrängt, ihrer Auffassung zur prinzipiellen Seite unseres nunmehr ca. 5/4 Jahr alten „Kunstversuches" öffentlich objektiv Ausdruck zu geben, so fehlt ihnen eben solche noch, und eine Preßzangengeburt würde die Massen nur abstoßen können. Die von Ihnen beabsichtigte Wegleitung hätte, wenn von der Redaktion selbst und spontan gegeben, solche Spuren nicht an sich getragen. In Ihnen hörte „man" indessen den „Verkannten" reden, der für die nach seiner Auffassung „Auch-Verkannten", (richtiger: Nicht-Gekannten) das Wort verlangt. Wie gesagt, herzlichen Dank für Ihr treues Begegnen und die Versicherung, daß uns das Dargelegte ein freundliches Zeichen dafür ist, daß unsere Idee und nicht deren Träger und ihr guter Wille allein es sind, die Sie zur Feder greifen ließen. Keinien Augenblick im Zweifel über die schwierige Aufgabe, beurteilen wir Verhältnisse und Menschen immer in fester Objektivität und Wechselwirkung. Unsere Presse wird erwachen, wenn sie die Idee selber reden hört und wir werden fortfahren, sie im Bilde reden zu lassen für sich selbst, bis so ihre Lebensfähigkeit entschieden ist. In einem Gedankenbrief (in der „Neuen Welt" glaube ich) sagt unser Lavant schon 1876/77, wenn ich mich recht entsinne: „An des Palastes prunkumhüllter Pforte, klopft ,bettelnd' die Idee." Wer den Kampf wagt, muß mit der Niederlage auch „zu Fache kommen" können. Besser als ins Grab gegen seine Überzeugung fechten müssen. Die Herausgabe „Dietz's Gedichtsammlung" läßt freilich warten. Wahrscheinlich erscheint sie zu einer Festzeit. Ich zähle leider zu den Nichtunterrichteten in dieser Hinsicht. Wie wäre es, wenn Sie an Dietz, dem der Stoff vorliegt, einige gute Stoffe für die Tagespresse lieferten? M 50,— für die „Eleclareusiarma" Ich grüße Sie herzlichst und bin allezeit der alte J . Motteier 193

Leipzig, den 6. 1. 94 Geehrtester Herr! Ich habe jetzt Ihrem Manuskript nähertreten können. Dabei hat sich aber ergeben, daß es, so wie es ist, dem Druck nicht übergeben werden kann, jedenfalls nicht in meinem Verlag jetzt. Das Ganze ist mir zu ungeordnet; die Verhältnisse und Personen, die darin vorkommen, sind zu klein und unbedeutend, um die Schrift als politische Schrift für weitere Kreise wichtig und interessant zu machen. Dagegen geht aus dem Manuskript hervor, daß sein Verfasser ein nicht gewöhnliches Vorstellungsvermögen hat und ein gutes Buch zu schreiben imstande wäre. Mein Rat wäre, daß Sie das Manuskript beiseite legten und sein Material in ganz anderer Weise verwerteten. Entweder zu einem sozialen Roman oder zu einer ganz schlichten Lebensbeschreibung. In dieser Form könnten die Bilder, die Sie zu zeigen haben, von großer Wirkung sein und für weitere Kreise wert haben. Als politische Schrift Ihren Halberstädter Widersachern gegenüber hat das Manuskript wenig Interesse für weitere Kreise. Aber schildern Sie die Dinge und Ihre Erlebnisse objektiv, ohne persönliche Gereiztheit, so daß man ein klares Bild von Ihren Lebenskreisen und den Schicksalen, die sich darin abspielen, gewinnt, dann kann es ein packendes und nützliches Buch werden. Überlegen Sie sich das! Ich schicke Ihnen zunächst das Manuskript zurück. Mit bestem Dank Ihr ergebenster F. Grunow Leipzig, Lindenstr. 2/III; 13. Febr. 1903 Werter Herr Lepp! Verzeihen Sie, daß ich Ihren freundlichen Neujahrswunsch, den ich allerdings auch erst am 13. Januar erhalten habe, erst heute erwidre: ich habe aber ge-

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schäftlich und durch meine nebenamtlich betriebene Dichterei so viel zu tun, daß mir für Privatkorrespondenz wenig Zeit übrigbleibt. Heute habe ich aber in stenographischen Dingen einen Privatbrief schreiben müssen und da muß auch Zeit zu ein paar herzlichen Worten für Sie werden. Sie haben schon s. Zt. in der Vorrede zu Ihren Gedichten, die mir sehr interessant waren, einer Anerkennung meiner Lyrik Ausdruck gegeben, die mich sehr freundlich berührte, denn ich bin in dieser Hinsicht wahrlich nicht verwöhnt, und wenn ich des Ansporns durch Lob und Anerkennung bedurfte, so hätte ich schon lange verstummen müssen. Ich rufe in die Wälder hinein, aber niemand, kann ich fast sagen, hat mir ein Echo zurückgegeben, und das ist beinahe entmutigend. Aber ich kann eben nicht anders, „ich muß nun einmal singen", auf die Gefahr hin, daß es nichts nützt und daß niemand sich darum kümmert. Es ist also wohl nur menschlich, daß es mich freundlich berührt, wenn einmal ein herzlich gemeintes Wort der Zustimmung zu mir dringt, und deshalb habe ich das Bedürfnis, Ihnen zu danken und Ihnen kameradschaftlich die Hand zu drücken. Haben Sie nicht früher in Halberstadt gewohnt? In Zwickau finde ich schon einmal Gelegenheit, Sie aufzusuchen und werde das gewiß tun, wenn ich einmal in die Nähe komme; in Halberstadt habe ich zwar Verwandte, kam aber nie dazu, dieselben aufzusuchen und bei dieser Gelegenheit auch Sie einmal aufzusuchen. Arbeiten Sie für den „WJ" in ST. und unter welcher Chiffre? Es wird mich freuen, einmal von Ihnen zu hören, wie es Ihnen in dem Kohlennest Zwickau geht, und dann lassen Sie, bitte, das „ehrerbietig" weg, das mich eigentümlich berührt und mir gegen den Strich geht. In guter Kameradschaft Ihr Richard Cramer alias Rudolf Lavant Ich brauche wohl nicht darum zu bitten, daß mein bürgerlicher Name zwischen uns den Wert einer Deckadresse hat und daß ich für Sie immer Rudolf bleibe. 195

Zwickau, den 15. II. 03 Wertgeschätzter Dichter-Kollege! Sie haben mir mit ihrem Briefe vom 13. ds. Mts. eine höchst angenehme Überraschung bereitet. Der Postbote brachte ihn mir direkt vor das Bett, in welchem ich schwer krank lag. Ich habe mich ausgesungen, müssen Sie wissen; junge, frische Kräfte haben mich bereits abgelöst und sind an meine Stelle getreten. Zum Glück vielleicht für die deutsche Dichtung bin ich fast unproduktiv geworden, Leib und Seele befinden sich in völliger Auflösung. Obwohl ich mit meiner „schwachen Stimme" einzig und allein nur dem zielbewußten Proletariat gedient, selbst ein zielbewußter Proletar, so ist mir von seiten meiner Leidensgefährten ebensowenig Verständnis entgegengetragen worden als Ihnen, ja, es scheint das Los aller Idealisten zu sein, geringschätzt und verworfen zu werden. Die wenige Anerkennung, die ich überhaupt gefunden, ist mir sonderbarerweise von Seiten meiner mit mir in ewiger Fehde befindlichen politischen Gegner zu teil geworden, während meine Genossen, anstatt wenigstens die Lauterkeit meiner Gesinnung anzuerkennen und mein gemeinnütziges Streben zu ermutigen, mich nur mit Haß und Neid verfolgten und mir mit ihrer unangebrachten Feindschaft die Flügel lähmten. Aus meiner Vaterstadt Halberstadt haben mich auch nur die feindlichen Brüder vertrieben, die über den Umstand, daß ich sie zur Scham rief, plötzlich ausnahmsweise einig wurden, um über mich schwachen, hilflosen Knaben herzufallen und mir und zwar während ich fortwährend in ihren Diensten schwitzte, den dortigen Aufenthalt zur Hölle zu gestalten. Glücklicherweise bedürfen wir alle beide der Rechtfertigung unserer Mitbewerbung nicht, es verteidigen uns unsere tapferen Lieder. Freilich hätte eine rechtzeitige Aufmunterung unsern Fortschritt nur fördern können; und auch in pekuniärer Hinsicht kommen wir stets zu kurz, indem unsere Leistungsfähigkeit viel zu niedrig gewertet wird, um für deren Erhaltung besorgt zu sein. 196

Und diese große Partei, die unsere Mitbewerbung stets unterschätzt, hat Raum genug für Treibhauspflanzen, Geisteskrüppel und Blumenleichen! Auch die „Stimmen der Freiheit" räumen einem Karl Henckell, einem Dr. W. L. Rosenberg, ja sogar einem Ludwig Aub wieder den größtmöglichen Spielraum ein; während sie für wirklich „geborene" Dichter wie Konrad Talmann, Rudolf Lavent, Andreas Scheu und andere mehr kaum ein verlorenes Winkelchen übrig behalten. Verstehen all diese Unternehmer wirklich nichts von Poesie, daß sie gemeiniglich die Stümper bevorzugen oder ist ihr musikalisches Organ so sehr verstimmt, daß sie nicht einmal über die Symmetrie des Rhythmus verfügen? Mir unbegreiflich! Ich bin doch nur ein Proletar mit groben klobigen Sinnesorganen; soviel verstehe ich aber doch von der Kunst, daß die „elenden Skribenten" die Künstler nicht verdrängen dürfen. Und da auch Sie nicht die erforderliche Anerkennung gefunden, so gestatten Sie mir ein Wort, frei von der Leber herab. Ich bin meines unbotmäßigen Freimutes wegen geflissentlich als Grobian verschrieen worden und darf es daher schon wagen, wahre, wirkliche Kunst anzuerkennen, ohne mich der Gefahr auszusetzen, als Schmeichler zu gelten. Und ob man Sie nun anerkennt oder nicht: Sie sind ein ganzer Dichter, wie ein aus Erz gegossener Mann. Ihre Poesie ist fließend, wie goldiger Wein, die Technik Ihrer Form ist regelrecht, stets angepaßt, Ihre Musik ist, weil selbstempfunden, übertragbar. Ihre Sentenzen sind volkstümlich und daher leicht verständlich, was Ihre Tendenz anbetrifft, so lüfte ich vor ihr noch jeder Zeit den Hut. Ein Lied aus Ihrem Instrument ist noch stets ein köstlicher Herzensgenuß, und sollte es der Scheelsucht trotzdem gelingen, Sie, wie so manchen der Öffentlichkeit zu unterschlagen; so werden nicht Sie, sondern vielmehr das Volk wird betrogen um Ihre schöne, opferfreudige Kraft. Mir ist es wahrhaftig nicht spottsüchtig zu Mute, denn ich weiß heute nicht, ob ich morgen noch leben werde. Gefreut hat mich die Gelegenheit, mich einmal aus197

sprechen zu können, doch, was mich persönlich anbetrifft, so habe ich stets bedauert, Ihrem Auffluge nicht folgen zu können; es kann eben niemand über seine Kraft. Für „Wahren Jakob" und „Süddeutschen Postillon" arbeite ich nur gelegentlichst, meist unter der Chiffre A. L., während ein Haufen meiner Gedichte unter der Chiffre D. Ch. herumgestreut sind. Die Partei kann mich nicht gebrauchen, und ich glaub' es ihr gern. Sollten Sie mich wirklich einmal besuchen können, so würde ich mit Freuden Ihre persönliche Bekanntschaft machen, muß jedoch im voraus bemerken: Sie kommen zu einem wirklichen Proletar! Meine „Ehrerbietung" galt Ihrer uneigennützigen Meisterschaft. Leben Sie wohl, wackerer Kamerad; und sollten wir uns im Leben nicht wiedersprechen, so behalten Sie mich in gutem Angedenken. Ihr Adolf Lepp Ich freilich bin in den „St. d. Fr." hinsichtlich des Raumes nicht zu kurz gekommen.

ANHANG

Biographischer Überblick Kurt Laube

A m 21. Juni 1847 wurde Adolf Lepp in Halberstadt als Sohn des Zigarrenarbeiters Ludwig Lepp und seiner Ehefrau Karoline Lepp, geborene Adam, als erstes von fünf Kindern geboren. Seine Mutter war vor ihrer Eheschließung Dienstmädchen in Nöscherode. Als kleiner Knabe erkrankte Lepp an den Skrofeln. 1856 erfaßte die gesamte Familie ein Nervenfieber, der Vater starb daran. Die Großmutter in Mittweida nahm den Jungen zu sich und übte auf ihn einen nachhaltigen Einfluß aus. Hier las er seine ersten Bücher und versuchte sich in Versen. Im selbstgebastelten Puppentheater spielte er für seine Freunde „Die Räuber", „Wilhelm Teil", den „Zerbrochenen Krug" u. a. Dramen. Nach dem Tode der Großmutter, 1860, mußte er der Mutter, die als Reinemachefrau nicht genug Geld verdiente, um fünf Kinder zu ernähren, helfen, einige Groschen zum Lebensunterhalt beizusteuern. Mit dem 14. Lebensjahr ließen seine Augenentzündungen, die ihm in der Schule mehr Versäumnisse als Unterrichtstage eingebracht hatten, nach. Narben und Flecken auf der Hornhaut beider Augen blieben zurück. 1862 erlernte er den Beruf seines Vaters, Zigarrenmacher, nachdem sein Wunsch, Gärtner zu werden, von seinem Vormund abgelehnt worden und er einer Böttcherlehre physisch nicht gewachsen war. Als Achtzehnjähriger begann er sich in der Arbeiterbewegung zu betätigen und gehörte zu den ersten Mitgliedern der Halberstädter Organisation des Allgemeinen Deutschen Tabakarbeitervereins. Sie war die erste Gewerkschaftsvereinigung, die in dieser Stadt gebildet wurde. Überall in den mittelsächsischen Städten (Roßwein, Döbeln, Mittweida und Waldheim), die er auf seiner Gesellenwanderung (Walz) von 1868 bis 1875 aufsuchte, wirkte er als Initiator und Organisator von Arbeiterversammlungen. Von seiner katholischen Religion kehrte er sich vollständig ab und

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wurde ein erbitterter Gegner der Kirche überall dort, wo diese ihre Macht mißbrauchte. 1869, nach der Teilnahme an der Landeskonferenz des A D A V in Chemnitz, wurde er vom Zigarrenfabrikanten Otto Schmidt, Stadtrat von Döbeln, fristlos entlassen und auf die Schwarze Liste gesetzt. 1870 lehnte er das Angebot der Döbelner Parteiorganisation, hauptamtlich in ihren Reihen zu arbeiten, ab, da er meinte, für die aus Überzeugung geleistete Parteiarbeit keinen Lohn nehmen zu können. Auf der Suche nach Arbeit kam er nach Waldheim, wo er nach einem Streik der Tabakarbeiter ebenfalls auf die Schwarze Liste gesetzt wurde. So gezwungen, ging er 1871 nach Mittweida und wurde wegen seiner revolutionären Tätigkeit (vgl. Erzählung: Der Spottvogel im Käfig) zu vier Wochen Kerker verurteilt, 1874 ein weiteres Mal zu vier Tagen Haft. 1871 lernte er seine spätere Ehefrau, Auguste Seydel, Tochter eines verarmten Webermeisters aus Mittweida, kennen, die ihm bis zu ihrem Tode, 1882, 6 Kinder gebar und ihn nicht nur im Kampf um das tägliche Brot unterstützte, sondern auch aktiv am politischen Kampf ihres Mannes teilnahm. Gemeinsam traten sie in Arbeiterversammlungen auf. 1872 heirateten beide, nachdem sie in Waldheim eine Möglichkeit des Broterwerbs gefunden hatten: Für den Zigarrenfabrikanten Klette fertigten sie Zigarren auf Kommission an. Der Lohn war jedoch derart gering, daß sich A. Lepp nach der Geburt des ersten Kindes um eine andere Verdienstmöglichkeit bemühen mußte. 1874 wurde er in der Zigarrenfabrik von Conrad und Müller in Waldheim eingestellt. In dieser Fabrik trat er auf vielfältige Weise für die Interessen seiner Kollegen ein und bezahlte das mit dem Verlust des raren Arbeitsplatzes. Gern nahm er daher 1875 die Einladung seiner Mutter an, für immer mit seiner Familie nach Halberstadt überzusiedeln, wozu ihm seine Geschwister entsprechende Hilfe zugesichert hatten. Die gegen die Sozialdemokratie eingestellten Angehörigen nahmen ihre Versprechen nicht ernst. Die von ihnen beschafften Wohnungen bezeichnete der Dichter als „Löcher". Judenstraße 4 und Vogtei 25 waren seine ersten Notunterkünfte. Die Zigarrenfabrikanten Haiberstadts lehnten eine Einstellung A. Lepps aus politischen Gründen ab. Die Ortsgruppe der SD A P übergab ihm eine einmalige Unterstützung von 7 Talern; dennoch, die Not war groß. Um den Lebensunterhalt für die nun 4 Köpfe zählende Familie aufzubringen, produzierte er in Heimarbeit Zigarren und schrieb gegen kleine Honorare

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Gedichte für Vereine und Einzelpersonen. 1878 verstarben zwei Kinder an den Folgen der Unterernährung. Die Geburt ihres sechsten Kindes im Mai 1882 bezahlte die Mutter mit dem Leben. Durch körperliche Überanstrengung bei einer Transportarbeit f ü r den Hauswirt, den Gemüsehändler Knopf, erlitt Auguste Lepp im Mai 1882 eine Frühgeburt, an der sie und das Neugeborene drei Wochen später verstarben. Die soziale Lage zwang Lepp 1883, seine drei noch lebenden Kinder, Louise, Franz und Ernst, bei Verwandten oder Freunden unterzubringen und sich den Lebensunterhalt als Hausierer zu verdienen. Gegen den Willen des Vaters wurden die bei seiner Mutter und Schwiegermutter untergebrachten Kinder getauft. Seinen Wunsch, sie wieder unter einem Dache zu vereinen, konnte er erst vier J a h r e später verwirklichen, indem er Frau Ida Beyer, die Witwe eines tödlich verunglückten Dachdeckergesellen aus Chemnitz, als Lebensgefährtin nach Halberstadt holte. Um die Aufmerksamkeit der Verleger auf sich zu lenken und Geld für den Wareneinkauf seines inzwischen begonnenen ambulanten Galanteriewarenhandels hereinzubekommen, gab er im November 1889 seinen ersten Gedichtband „Wilde Blumen" im Selbstverlag heraus. Die hierfür verwendeten und unter unsäglichen Entbehrungen vom Lebensunterhalt abgezweigten fünfhundert Mark brachten dem Dichter nur wenig Gewinn, zumal betrügerische Weiterverkäufer den Gutgläubigen ausnutzten. Der Umsatz dieses Bandes bereitete dem Dichter in seiner Heimatstadt Schwierigkeiten. Wohlmeinende Kritiken im „Sozialdemokrat" Nr. 14, vom 9. 4.1890, und im Berliner „Vorwärts", vom 19. 1. 1890, halfen, den Vertrieb zu forcieren. Die Partei half ihm, seiner Dichtung das für die Arbeiterklasse zweckdienliche Profil zu geben. Insbesondere sein Kontakt mit Julius Motteier wirkte sich für seine weitere literarische Tätigkeit im Interesse der unterdrückten Klassen fruchtbringend aus. In dem 1893 erschienenen 1. Band der „Deutschen Arbeiter-Dichtung" veröffentlichte I. W. H. Dietz in Stuttgart 23 Gedichte A. Lepps. Die hierfür erhaltenen 120,— Mark trugen neben den kleinen Einnahmen aus dem Verkauf der „Wilden Blumen" dazu bei, daß sich sein Lebensstandard nun etwas besserte. So wurde es ihm jetzt auch möglich, genügend Papier, Tinte u. ä. für seine schriftstellerische Arbeit zu kaufen, schrieb er doch bis dahin auf die Rückseiten bereits benutzten Papiers der verschiedensten Herkunft und Qualität. Am 19. Februar 1892 schloß er standesamtlich die Ehe mit

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Ida Beyer, die ihm bereits zwei Jahre vorher den Sohn Adolf geboren hatte. Im Juli 1894 verließ er seine Vaterstadt und zog in die Bergarbeiterstadt Zwickau. Die Wahl Zwickaus, einer für beide fremden Stadt, dürfte durch Julius Motteier empfohlen worden sein. Motteier hatte die Arbeiterschaft Zwickaus als ihr Reichstagskandidat in den Jahren 1874 bis 1878 kennengelernt. Dank seiner neu errungenen relativen wirtschaftlichen Selbständigkeit — er •unterhielt einen Spielwaren-, seine Frau einen Zuckerwarenhandel — konnte er sich mehr als sonst seiner schriftstellerischen Arbeit widmen. 1897 überarbeitete er den Großteil seiner Gedichte, ergänzte sie aus neuer Sicht, indem er einzelne Wörter, aber auch ganze Strophen durch neue ersetzte und dabei den parteipolitischen Gegenwartsfragen Rechnung trug. 1898 konzentrierte er sein Schaffen auf die Fertigstellung seines lyrischen Beitrages für die „Stimmen der Freiheit", einer Anthologie, mit der dem Dichter die größte Anerkennung zuteil wurde — von 38 hier vertretenen Lyrikern wurde A. Lepp mit dem prozentual stärksten Beitrag (30 Gedichte) berücksichtigt. Selbst in der überarbeiteten und erweiterten vierten Auflage von 1914, in der 1 1 1 Lyriker ihre Gedichte veröffentlichten, stellte man A. Lepp neben den Dichtern Herwegh, Kegel, Josef Schiller, Stern und Krille den größten R a u m zur Verfügung. Mit 17 aufgenommenen Gedichten behauptete A. Lepp in dieser Auflage hinter O. Krille (24) und G. Herwegh (22) weiterhin einen beachtlichen Platz. Neben seinen Beiträgen im „Wahren J a k o b " und in dem „Süddeutschen Postillon" trat er mit Veröffentlichungen in der Arbeiterzeitung seiner Wahlheimat, dem „Sächsischen Volksblatt", in Erscheinung. Diese letzte Schaffensperiode A. Lepps zeigte nicht nur den Reifegrad seiner Dichtung, sondern auch die Entfaltungsmöglichkeit seines Naturtalents bei geringfügiger Verbesserung seiner Lebensverhältnisse. 1900 wurde sein jüngster Sohn Heinrich geboren. Ihm widmete Lepp das persönlich-liebevolle Gedicht: „Heinrich, Du mein Söhnchen". Die familiäre Harmonie um die Jahrhundertwende währte nur kurz. Bereits 1903 erkrankte der Dichter so schwer an Tuberkulose, daß er vermutete, nicht zu überleben. Erst 1905 zeigte sich wieder eine Besserung seines Befindens. A. Lepp nutzte diese kurze Zeit für seine Dichtung. E s entstanden eine Reihe wertvoller Kampfgedichte, wie z. B . „Das Lied vom ersten Mai". Bereits Anfang 1906 häuften sich seine Husten- und Schwächeanfälle, die eine Bettlägerigkeit in immer kürzeren

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Intervallen zur Folge hatte. Vom Herbst desselben Jahres an verließ er sein Krankenlager nicht mehr. Seinem treuen Dichterkollegen Ernst Klaar signalisierte er am 27. 10. 06 sein nahes Ende. Eine zur Tbc hinzugekommene Wassersucht führte am 2. Dezember 1906 zu seinem Tode. Sein „Lieblingsdichter", Rudolf Lavant, widmete ihm einen poetischen Nekrolog:

Dem Andenken Adolf Lepps Es ist beklemmend, wie in diesen Tagen Sich der Verlust an treuen Männern summt. Ein braves Herz hat aufgehört zu schlagen Und liederreiche Lippen sind verstummt. Das Leben war ihm eine schwere Bürde, Obgleich der Arme reichbegabt und klug, Doch ob er wund sich beide Schultern trug. Es blieben treu der Trotz ihm und die Würde. Wer ihn gekannt, der wird ihn nie vergessen, Der Hartes dulden Tag für Tag gemußt. Was wir am „kleinen B6ranger" besessen, Das haben nur die wenigsten gewußt. Ein stiller Kummer lag in seinen Zügen, Lesbar für jeden, der ihn angeblickt. Denn seine Schwingen waren früh geknickt — Nie ward die Muße ihm zu Sonnenflügen. Stich hielt sein Werk dem Urteil strenger Richter Und eines bessern Loses war er wert, Doch bei dem alten Proletarierdichter Ist nie das Glück versöhnend eingekehrt. Er war zu stolz zum Klagen und zum Bitten, In harter Schale lag der weiche Kern; Nun ist in Nacht versunken dieser Stern, Nun hat der Arme endlich ausgelitten! Er hat's verdient, daß wir ein treu Gedenken, Das ihn erkennt nach seinem ganzen Wert, Dem hochbegabten Sohn des Volkes schenken, Der sich im Dienste der Idee verzehrt. Nun ruht er aus von Mühsal und Beschwerde, Der uns begeistert auf die Schanzen rief In wundersamen Klängen voll und tief. Und leicht sei unserm armen Lepp die Erde. 16

Adolf Lepp

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Anmerkungen

Zur

Textgestaltung

Die Texte wurden chronologisch angeordnet, die Rechtschreibung den heute gültigen Normen angepaßt. Lautstand und stilistische Eigenheiten wurden dabei nicht verändert. Alle Eingriffe unterblieben, wenn sich dadurch Veränderungen am Metrum, Inhalt oder an der Intonation ergeben hätten. Wortschöpfungen des Dichters wurden in jedem Falle übernommen, desgleichen mundartliche Wendungen. Des Dichters bewußt von der seinerzeit gültigen Orthographie abweichende Schreibung hatte vor allem die Reduzierung von Konsonanten zum Inhalt. Wo einem Doppelkonsonanten ein dritter folgte, hat Lepp den vorderen mit der Begründung gestrichen, daß zwei Konsonanten den vorangehenden Vokal bereits ausreichend kürzten. So schrieb er „komt" statt „kommt", „sezte" statt „setzte" u. a. m. Der mit „chs" gekennzeichnete k-Laut wurde durch „x" wiedergegeben, z. B. „Drexler" statt „Drechsler". Diese Eigenheiten lassen sich in seinen Handschriften, aber auch in seinen „Wilden Blumen" nachweisen. Erst kurz vor der Jahrhundertwende paßte er sich den allgemein gültigen Normen an. Mit Rücksicht auf den heutigen Leser wurde der übermäßige Gebrauch des Gedankenstrichs besonders am Strophenende eingeschränkt. Die von Lepp häufig ohne zwingenden Grund benutzte Kombination von Ausrufe- und Fragezeichen wurde in den meisten Fällen auf eines der beiden Zeichen reduziert. Die vorliegenden Texte wurden folgenden Quellen entnommen: dem unveröffentlichten Nachlaß, dem Gedichtband „Wilde Blumen", der Anthologie „Deutsche ArbeiterDichtung", der Anthologie „Stimmen der Freiheit" und dem „Süddeutschen Postillon". Zur Anfertigung des biographischen Überblicks wurden Untersuchungen am Nachlaß im Archiv des Instituts für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED und in den

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Stadtarchiven von Halberstadt und Zwickau vorgenommen. Die in diesen Band aufgenommenen Texte folgen den in den Anmerkungen zuerst genannten Quellen. Der Nachlaß wurde durch das freundliche Entgegenkommen Herrn Hartmut Lepps, des Neffen Adolf Lepps, durch die Akademie der Wissenschaften der D D R erworben. Der in Zwickau lebende Sohn des Dichters, Heinrich Lepp, stellte wertvolle Informationen zur Verfügung.

Abkürzungen Archiv

Arbeiter-Dichtung

Blumen

Ergänzung

Lepp Nachrichten

SP Sozialdemokrat

16*

Akademie der Wissenschaften der DDR, Abteilung Literaturarchiv, Nachlaß Lepp (Die Nummer nennt die betreffende Archivregistratur). Deutsche Arbeiter-Dichtung. Eine Auswahl Lieder und Gedichte deutscher Proletarier. Erster Band: Gedichte von W. Hasenclever, K . E. Frohme und Adolph Lepp, Stuttgart 1893. Wilde Blumen. Ein frischer Liederstrauß, dem Volke gewidmet. Von Adolph Lepp, Selbstverlag des Verfassers, Halberstadt 1889. Beim Druck der Arbeiter-Dichtung unberücksichtigt gebliebene Strophen. Zur Lyrik der Arbeiter-Dichtung wurden besonders 1897/98 umfangreiche Ergänzungen vorgenommen, die handschriftlich im persönlichen Band A. Lepps angemerkt wurden. Ergänzungen, die im Nachlaß vorhanden sind, werden in diesem Band veröffentlicht. Anmerkung Adolf Lepps. Zwickauer Neueste Nachrichten. Tageszeitung, einzelne Zeitungsausschnitte sind im Archiv vorhanden. Süddeutscher Postillon. Politisch-satirisches Arbeiterblatt, München 1882 bis 1910. Der Sozialdemokrat. Zentralorgan der deutschen Sozialdemokratie, hg. v. 207

Eduard

Bernstein

& Co.,

Zürich

1885—1890 u n d L o n d o n 1889—1890.

Spottvogel

StF

unveröff. Volksblatt

Adolf Lepp: Der Spottvogel im Käfig. Erzählung, Archiv Nr. 1919: 50 Zeitungsausschnitte aus dem „Sächsischen Volksblatt", Zwickau 1899. Stimmen der Freiheit. Blüthenlese der hervorragendsten Schöpfungen unserer Arbeiter- und Volksdichter, hg. v. Konrad Beißwanger, 3. Aufl., Nürnberg 1902. Unveröffentlichte Gedichte, die nur im Archiv vorhanden sind (überwiegend handschriftlich). Sächsisches Volksblatt. Arbeiter-Zeitung in Zwickau, zwischen 1895 und 1906 mit Gedichtveröffentlichungen Adolf Lepps.

Anmerkungen zur Einleitung 1 Vgl. StF, 4. Aufl., Nürnberg 1914, S. 134. 2 Arbeiter-Dichtung, S. 125—144. 3 Ebd., S. 1 3 2 . 4 Deutsche Arbeiter-Dichtung. Eine Auswahl Lieder und Gedichte deutscher Proletarier. Zweiter Band: Gedichte von Jakob Audorf, Stuttgart 1893, S. 41. 5 Arbeiter-Dichtung, S. 26. 6 Ebd., S. 27. 7 Ebd., S. 1 3 2 . 8 Deutsche Arbeiter-Dichtung, Bd. 2, a. a. O., S. 171. 9 E b d . , S. 19—21. 10 E b d . , S. 1 1 3 — 1 1 5

11 Erstdruck in „Sächsisches Volksblatt", Dresden, Nr. 75 v. 28. 6. 1898, Archiv mit der Anmerkung Lepps zum Wort Marseillaise: „Besser Lassallaise". 12 Volksstaat-Erzähler, Leipzig, Nr. 33 v. 26. 7. 1874. 13 „Der deutsche Chansonnier", gedr. 1893. 14 W. Hasenclever: Liberal (1874). I n : Arbeiter-Dichtung, S. 37; Jakob Audorf: Nationalliberales Küchenrezept. I n : Deutsche Arbeiter-Dichtung, Bd. 2, a. a. O., S. 97. 15 Der wahre Jakob. Stuttgart Jg. 10(1893), Nr. 188, S. 1561. 16 I n : Max Kegels sozialdemokratisches Liederbuch, 8. Aufl., Stuttgart 1897. Abgedr. in: Im Klassenkampf.

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Deutsche revolutionäre Lieder und Gedichte aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, hg. v. Wolfgang Friedrich, Halle 1962, S. 161. Vorwärts! Eine Sammlung von Gedichten für das arbeitende Volk, Zürich 1886, Die Armen (S. 56), Das arme Kind, (S. 117), Der Anteil des Armen (S. 136), Hund und Proletarier (S. 112), Der Bettler (S. 309). Ebd. S. 101. Deutsche Arbeiter-Dichtung, Bd. 2, a. a. O., S. 24/25. Arbeiter-Dichtung, S. 99. Erstdruck in „Chemnitzer Freie Presse", Nr. 300 v. 25. 12. 1876. StF, 4. Aufl., Nürnberg 1914, S. 173. Der Nachlaß Lepps befindet sich im Archiv der Akademie der Wissenschaften der D D R . StF, 4. Aufl., Nürnberg 1914, S. 173. Blumen, S. 3. Der „Münchener Dichterkreis" umfaßt eine Gruppe epigonaler bürgerlicher Schriftsteller, die unter Führung von Emanuel Geibel und Paul Heyse einem wirklichkeitsabgewandten Schönheitskultus und einem traditionsgebundenen, ästhetischen Formalismus in der Kunst huldigten. Sie wurden deshalb von den deutschen Naturalisten stark angegriffen. J. P. Eckermann: Gespräche mit Goethe, 23. Aufl., Leipzig 1948, S. 580. Chamissos gesammelte Werke in vier Bänden, hg. v. Max Koch. Bd. 2, Stuttgart o. J., S. 201. Ebd., S. 202. Arbeiter-Dichtung, S. 143. Ebd., S. 138. Ebd. Die Sammlung ist aufgeteilt in: Freundliche Lieder (S. 1—14), Launige Lieder (S. 16—43), Spottgedichte (S. 44—105), Streitgedichte (S. 106—149) und Lieder der Trauer (S. 150—178). Mit einem Nachtrag sind es 183 Titel.

34 Arbeiter-Dichtung, S. 143 f.

Anmerkungen zu den Gedichten S. 3

Wo wohnt Lepp? In: Archiv Nr. 1877, unveröff.

S. 5

Männertränen, in: Blumen, S. 164f. Vgl. die Erzählung„Der Spottvogel im Käfig", S. 122 dieses Bandes. 209

S. 8

Abendseufzer, in: StF, S. 226.

S. 9

Gruß an den Parteikongreß 1874, in: Der Volksstaat. Organ der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei und der internationalen Gewerksgenossenschaften, unveränd. Nachdruck mit einer Einleitung und einer Bibliographie der Publikationen von Marx und Engels im „Volksstaat" von Erich Kundel, Leipzig 1971, Bd. 8: Beilagen unter dem Titel: Volksstaaterzähler, Nr. 33 v. 26. 7. 74.

S. 11

Und sie bewegt sich doch! In: Archiv Nr. 1631, unveröff. Lepp: Zum ersten Male vorgetragen von Auguste Lepp in der Abendunterhaltung zu Waldheim, dem 27. September 1874. Stürmischer Beifall.

S. 13

Der bescheidene Maler, in: Blumen, S. 8.

S. 13

Frühlingshohn, in: Arbeiter-Dichtung, S. 167f. Ergänzung als fünfte Strophe: Schwarze Gendarmen, Gauner und Gründer Liegen auf hämisch erschlichener Mast, Während für Künstler und Erfinder Nicht Zeit noch Raum bleibt zu Ruh' und Rast.

S. 15

An die Literatur, in: Blumen, S. 124.

S. 16

Prokne, in: Blumen, S. 10.

S. 17

Der deutsche Chansonnier, in: Arbeiter-Dichtung, S. i45ff.; Archiv Nr. 674.

S. 18

S. 20 S. 22

Nimmermehr! In: Arbeiter-Dichtung, S. i55ff.; SP, Jg. 26 (1907), H. 3; StF, S. 237; Archiv Nr. 1926. O komm zu mir! In: Arbeiter-Dichtung, S. 152ff. Der Natur, in: Blumen, S. 6.

S. 22

Herr Bodenstedt, ein Gärtner, in: Blumen, S. 14.

S. 23

Der rote Zapfenstreich, S. 160.

S. 24

Wes Brot ich ess', des Lied ich sing, in: ArbeiterDichtung, S. 161; StF, S. 237; SP, Jg. 20 (1901), H. 18, S. 150 (ohne Verfasserangabe).

210

in:

Arbeiter-Dichtung,

S. 25

Schablone, in: Arbeiter-Dichtung, S. i75f.; StF, S. 240I Ergänzungen: Der zweiten Strophe sollten folgen: Doch Geistesnotzucht, Musterzwang, Sind aller Künste Niedergang, Weshalb in dieser Zone Der blöde Stümper Kleister frißt Und das Symbol der Meister ist — Schablone! Mit Gold und Lorbeer.wird bezahlt. Wer als Laternenlicht erstrahlt, Ein Stern an Crösus' Throne. Natur und Wahrheit sind verspönt. Mit böhmischen Diamanten höhnt — Schablone! Nicht frommt des Töpfers Tüchtigkeit Im Regiment der Nichtigkeit, Der Ära der Barone. Wer hält mit stumpfen Sägen feil? Der Wert schlägt um ins Gegenteil — Schablone! Der dritten Strophe sollte folgen: Und wenn der Götzenpriester spricht. Und Widerworte gibt es nicht, Vom Vater, Geist und Sohne. Die fromme Hammelherde lallt Ihm nach mit blökender Gewalt — Schablone!

S. 26

Wenn ich König wär', in: Arbeiter-Dichtung, S. 147; Archiv Nr. 1759. Ergänzung: Zwei Strophen. Ludwig: Ludwig II., König von Bayern, stürzte das Land durch Prunkbauten in Schulden und ertrank 1886 in geistiger Umnachtung im Starnberger See.

S. 27

Elegie eines Zeitungsbogens, in: Arbeiter-Dichtung, S. 183. Ergänzung: Fünf Strophen: Der ersten Strophe sollte folgen: Und mich durchfraßen Würmer Loch an Loch, Und Kehrricht lagerte in meinen Falten. Ich war verworfen, und ich hoffte doch, Daß mir der Zukunft lichte Winke galten.

211

Der zweiten Strophe sollte folgen: Zwar stumpfem Brüten gab ich da mich hin, Doch träumt' ich auch von bessern Zeiten wieder. Dann seufzt' ich wohl, daß ich so häßlich bin, Und warum tritt man mich verächtlich nieder? Der dritten Strophe sollten folgen : Ach, niemand war, der mir Bedeutung gab, Man stieß mich fort mit offnem Widerstreben. Nur Schuh und Stiefel wischt man an mir ab. Und die Zerknirschung fraß an meinem Leben. Der achten Strophe sollte folgen: Nur eines ward mir immer noch nicht klar: Weshalb die Arbeitsleute mich verschenkten? Bei der Metamorphose müßig war Der Herr, mit dessen Vorrecht sie mich kränkten. Der letzten Strophe sollte folgen: Mich aber, Setzer hörst du? lass' mich rein. Der Bildung und der Wissenschaft zu Nutzen f Doch kannst du mich nicht von der Schmach befrein, Wirf mich ins Feuer, statt mich zu beschmutzen i S. 30

Der Leiermann, in: Blumen, S. 72.

S. 31

Einer Farbigen ins Stammbuch, in: Blumen, S. 69.

S. 32

Ich, in: Arbeiter-Dichtung, S. 169.

S. 33

Meine Herren, ich danke schön, in: Blumen, S. 37.

S. 34

Letzter Wille, in: Blumen, S. 80.

S. 35

Der Erbfeind, in: Archiv Nr. 5 ; Der wahre Jacob, Stuttgart, J g . 6 (1889), Nr. 7 1 , S. 565; Der wahre Jacob. Lyrik und Prosa von 1884 bis 1905. Ausgewählt und eingeleitet von Manfred Häckel, Berlin 1959, S. 40. „Der Erbfeind" wurde in beiden Fällen ohne Yerfassernamen veröffentlicht. Die Autorschaft A. Lepps wurde erst bei der Durchsicht des Nachlasses und von Zeitschriften ermittelt.

S. 37

Wilhelm Hasenclevers Nekrolog, in: Blumen, S. 1 9 7 ; Archiv Nr. 1374.

212

Hasenclever: Wilhelm Hasenclever (1837—1889) sozialistischer Dichter lassalleanischer Richtung Seine Gedichte erschienen 1893 in der Arbeiter Dichtung. S. 37 August Geibs Totenfeier, in: Blumen, S. 197. Geib: Wilhelm Ludwig August Geib (1848—1879), sozialistischer Dichter und Mitbegründer sowie Vorstandsmitglied der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschlands. Ein Band „Gedichte" erschien 1876 in Leipzig. S. 38 Beim Drechsler, in: Blumen, S. 17. S. 39 Die Gespensterscheuche, in: Blumen, S. 103. S. 40

Das Dichterhirn, in: Blumen, S. 104.

S. 41

Unvermögen, in: Blumen, S. 103.

S. 41

An R. In: Blumen, S. 104.

S. 41

Nachtgenossen, in: Blumen, S. i8f.

S. 42

Mein Dünkel, in: Blumen, S. 105.

S. 43

Lavant, mein Liebling, in: Blumen, S. 1 5 f f . Lavant: Richard Cramer, alias Rudolf Lavant (1844—1915), sozialistischer Lyriker, Gedichtband: In Reih' und Glied. Vgl. auch: Rudolf Lavant. Gedichte, hg. v. Hans Uhlig. Mit einem Vorwort von Manfred Häckel. Berlin 1965 (Textausgaben zur frühen sozialistischen Literatur in Deutschland, Bd. VI). Heiion: Helikon.

S. 45

Der Pastor, in: Arbeiter-Dichtung, S. 158; StF, S. 242 f. Ergänzungen als Strophen 9 und 10: Der Teufel — der Teufel hat dich umgarnt. O hör auf die Stimme, die dich warnt. Nur Prüfung Gottes ist alles Leid, Und droben winket die Seligkeit. Und du, der den Himmel auf Erden hat, wirst von der Prüfung wohl selig und satt ? Herr Pastor, Herr Pastor! der Himmel ist Nur Pfaffenlüge und Teufelslist! 213

S. 46

Der jüngste Tag, als Anlage im persönlichen Band Arbeiter-Dichtung des Dichters. Butterrevolution: Zerschlagung einer Volksempörung in Halberstadt durch Bismarck-Kürassiere, die rücksichtslos in die Menschenmenge ritten. Volapük: Künstlich aufgebaute Sprache; ähnlich dem Esperanto als Welthilfssprache gedacht. Most: Johann Joseph Most (1846—1906) sozialdemokratischer Arbeiterführer und Schriftsteller, wurde 1880 auf dem Parteikongreß in Wyden (Schweiz) wegen seines Anarchismus aus der Partei ausgeschlossen.

S. 50

Die wilden Franzosen, in: Archiv Nr. 835; unveröff.

S. 51

Ein Traum, in: Arbeiter-Dichtung, S. 187ff. Ergänzungen: 106 Verszeilen (12 Strophen): Als Strophe 1 : Und aller Blicke aufs höchste gespannt, Mit Angst und Tücke mir zugewandt. Dolchspitzen waren's, so tödlich kalt! Entsetzlicher Aufzug, endigst du bald ? Als Strophe 5: Des Armesünderglöckleins kläglicher Ton Beleidigt mein Ohr mit unsäglichem Hohn — Ich bin kein Sünder! Ich.sterbe als Held! Mein Urteil haben nur Memmen gefällt! Nur Memmen, die jedes vernünftige Wort Erwidern mit Brandmal, Bannfluch und Mord! Nur Memmen erbleichen vor männlichem Mut, Ihr Opfer umschleichend mit schändlicher Wut. Ja, sie sind die Sünder! Und daß ich der Mohr, Das schwatzen die Lügner den Blöden vor. Doch tröstet mich fein die aufkeimende Saat Und das Bewußtsein der löblichen Tat Sowie der Gedanke, daß unsere Schar Noch nie so vollzählig wie heute war. Und hat sie auch wieder ein Opfer gebracht, Das hat sie nur noch entschlossner gemacht! Und ob ich darüber zugrunde geh, Es überlebt mich die Freiheitsidee; Sie wird die Massen erfassen, die jetzt

214

Mein schimpflicher Tod in Verwirrung gesetzt! Sie wird sich ein Heer von Helden erziehn. Und mit Taten besiegeln mein Lebensbemühn. Hier wird mir eine Zähre des Mitleids geschenkt— Kind, trockne die Augen! Du hast mich gekränkt ! Ich will kein Mitleid, ich fordre mein Recht! Und wenn ich's nicht kriege, ergeht es euch schlecht! Als Strophe 6: Ihr Schergen, ihr gebt euch der Knute preis Und bindet euch Ruten zum eignen Steiß! Und greift nach dem Knebel und macht euch stumm. Das findet der nobelste Pöbel halt dumm! Wo Schranzen Recht und Gesetz verdrehn. Da kann die Gesellschaft nicht fortbestehn. Da stürzt sich die menschliche Kreatur Auf die unterste Stufe der Unkultur, Und wird zum Meuchler, zum Henkersknecht, Der sich vergreift am eignen Geschlecht; Der Mensch sinkt unter das wilde Tier, Das sein Junges verteidigt mit Kampfbegier, Das den Käfig haßt und die Freiheit liebt, Sich lieber den Tod als gefangen gibt, Und seinesgleichen nie verläßt. Wie meinesgleichen mich eben jetzt! O das Bewußtsein, nur so zu sterben. Kann mir den ganzen Geschmack verderben! Da komm ich vor meines Todfeindes Haus, Der pfeift vergnügt in den Morgen hinaus. Der scheint sich an seines Nächsten Leiden Die boshaften Augen mit Lust zu weiden. Seitdem sich der Mensch in der Schlechtigkeit übt, Nicht zweifle ich mehr, daß Teufel es gibt. Als Strophe 7: Bergauf bewegt sich der Menschenstrom, Wir sind am Domplatz — dort steht der Dom! Der Tempel mit großem Märtyrerkranz, Den Opfern unchristlicher Intoleranz! Es zeigt sein unheimliches Doppelgesicht Mit Hexenprozeß und Ketzergericht! 215

Drin brütet das Dogma, das mich verdammt. Dem jeder Gesinnungsmord entstammt. Der sechsten Strophe sollte folgen: So h ä t t ' ich also mein Leben verträumt, Die Zeit zum Vorwärtsstreben versäumt? Wohl dacht ich beständig darüber nach. Wie abzuwenden die blutige Schmach? Mir fehlte die Unterstützung zur Tat, Nun ist es vorbei und gerettet der Staat. Der siebenten Strophe sollte folgen: Herunter, du Schwarzer, von meinem Schafott t Ich will nichts hören von deinem Gott! Vom Gotte der Schranzen und Schergen schweig still 1 Der die Nattern erschuf und das Krokodil! Verrichtet der Pfaffe sein Hehleramt, Da bin ich zu doppelter Folter verdammt! Ich hab ihn im Leben redlich gehaßt, Nun hat er eben seine Zeit abgepaßt, Mich zu beglücken mit seiner Religion, Seinen Herrgott zu rächen und seine Person. Und wenn man den schwarzen Vikarius sieht. Dicht neben dem Henker im roten Habit, So glaubt man zwei leibliche Brüder zu sehn, Die wie Schuster und Schneider ihr Handwerk verstehn; Und schließt mir der Henker auf ewig den Mund, So richtet der Pfaff mir die Seele zu Grund; Doch zieh ich den Henker dem Pfaffen vor, Weil er sich die richtige Farbe erkor. Dort hocken die Richter im schwarzen Talar Und gleichen dem Götzenpriester aufs H a a r ; Sie blicken so lächerlich ehrbar drein, Als sähen sie Gespenster im Sonnenschein; Und ist die blutige Komödie zu Ende, Sie waschen sich wie Pontius Pilatus die Hände — Es sind Jesuiten im Hof-Probstgewande, Verhaßt und gefürchtet im ganzen Lande. Und einer erhebt sich aus ihrem Chor Und liest mir nochmals die Erkenntnis vor: „Was beten Sie nicht, bevor es zu spät, Um Gnade des Königs Majestät?"

216

Die Gnade, die mir mein Recht abspricht, Die falsche Münze begehr ich nicht! Hochstapler, Raufbolde, meineidige Vetteln, Die mögen sich Königs Gnade erbetteln! Ich werf euch vor die Füße den trotzigen Kopf Und komm zu euch spuken als ehrlicher Tropf! Der achten Strophe sollte folgen: Umarmt mich der Scherge zum Judaskuß! Zurück! Daß ich mich erbrechen muß! S . 54

Lied der Liberalen, in: Arbeiter-Dichtung, S. i 7 3 f f . S t F S. 239. Ergänzungen als Strophen 8 bis 10: Und mag auch der Pöbel rumoren und schnaufen, Doch was er behauptet, es ist j a nicht wahr! Am besten, wir schießen ihn über den Haufen, Um rasch zu begegnen der „innern Gefahr"! Kadavergehorsam, wenn's der Sicherheit gilt! Wie hat sich doch alles — suäh — herrlich erfüllt. Belagerungszustand, Ausnahmegesetze, Und Landesverweis und Ächtung und Bann, Und Kesseltreiben, Rebellenhetze, Das Vcterland rechnet es dankbar uns an! So wird die Revolte im Ansturm gestillt — Wie hat sich doch alles — so herrlich erfüllt! Drum, was wir im tollen Jahre betrieben, Ist alles bewilligt, ward gegenstandslos! Das Volk nur ist immer dasselbe geblieben, Ist zaghaft im Handeln, in der Zuversicht groß! Seine Agitatoren nur machen es wild — Wie hat sich doch alles so närrisch erfüllt — Liberale: Deutsche Fortschrittspartei, in der vorwiegend das Kleinbürgertum vertreten war. Sie verband sich 1884 mit dem linken Flügel der Nationalliberalen Partei (Partei der mittleren Bourgeoisie) zur Deutschfreisinnigen Partei. Mit diesem Zusammenschluß hatten die bourgeoisen Interessen innerhalb der Partei endgültig gesiegt.

S. 56

Der erste Mai, in: Arbeiter-Dichtung, S. i 4 9 f f . Lepp: Dieses harmlose Gedicht ist von der Redak-

217

tion des „Gewerkschafters" abgelehnt aus angeblicher Scheu vor dem Staatsanwalt! Diese rotgesottenen Krebse! Diese republikanischen AngstMeier! S. 58

Gespenster, in: Archiv Nr. 661, unveröff. Niederlage: Lepp: Die Reichstagswahl von 1898 ist gemeint.

S. 60

Gesellschaftsdank, in Archiv Nr. 661, unveröff.

S. 61

Die freisinnige Zeitung, in: Archiv Nr. 661, unveröff. Wissmann: Herrmann von Wissmann (1853—1905), Afrikaforscher, unternahm im Auftrag deutscher imperialistischer Institutionen drei große Afrikareisen, unterdrückte 1888/90 im Auftrag der kaiserlichen Regierung Deutschlands blutig die Erhebung der Araber in der damaligen Kolonie Deutsch-Ostafrika und war dort von 1895 bis 1896 Gouverneur.

S. 63

Und doch! I n : Archiv Nr. 661, unveröff.

S. 64

Eine Idee, in: Archiv Nr. 661, unveröff. Relegtion: Relegation.

S. 67

Hin. in: Arbeiter-Dichtung, S. 1 9 1 ff.

S. 74

Gezähmte Wölfe, in: Arbeiter-Dichtung, Ergänzung als Strophen 8 und 9:

S. 1 7 7 .

Nun dreht sich wie im Kreisel Des Urwalds Zauberpracht; Das hatte Dahns Gesäusel Am End' hervorgebracht! Bei Gott, ich wüßte nicht wie's kam, Daß 's diese Wendung nahm. Felix Dahns Entgegnung: E s freut mich, daß mein Strafbon Nicht unbeachtet bleibt! Die Wölfe sollen leben! Und wer Rezepte schreibt! Du aber, dem das macht viel Spaß, Zupf dich an deiner Nas! Dahn: Felix Dahn (1834—1912), chauvinistischer Apologet des Militärdespotismus, veröffentlichte

218

1876 den historischen Roman „Ein Kampf um Rom" der die Überlegenheit der Germanen gegenüber den anderen Völkern beweisen sollte. Seine Lyrik blieb unbedeutend. S. 76

Der Bauer, in: Arbeiter-Dichtung, S. 162f.; Archiv Nr. 384; StF, S. 243.

S. 77

Schiefe Moral, in: Arbeiter-Dichtung, S. i79ff.

S. 79

Zur Abwehr, in: Archiv Nr. 24 und 1810. Dieses Gedicht diente zur Untersützung der Programm diskussion zum Erfurter Parteitag.

S. 80

Armer Leute Lust, in: StF, S. 2 3 1 ; Halberstädter Intelligenzblatt v. 7. 3. 1894, als Zeitungsausschnitt im Archiv vorhanden (Nr. 1914).

S. 81

Indirektes Mahnverfahren, in: Archiv Nr. 1130.

S. 82

Der Schmarotzer, in: Archiv Nr. 551.

S. 83

Kriegsknecht in Tätigkeit, in: Archiv Nr. 1206.

S. 84

Grober Unfug, in: Arbeiter-Dichtung, S. 172; Von unten auf. Ein neues Buch der Freiheit. Gesammelt und gestaltet von Franz Diederich, Berlin 1911, Bd. 2, S. 219; Der wahre Jacob, Stuttgart, Jg. 15 (1898), Nr. 309, S. 2729. Lepp: Die Strophe 3. fiel aus, wahrscheinlich, um das religiöse „Zartgefühl" nicht zu verletzen.

S. 84

Das vaterlandslose Gesindel, in: StF, S. 241.

S. 86

Die schwarze Liste, in: StF, S. 231.

S. 86

Blasierte Löwenherzen zu umspinnen, in: Archiv Nr. 1185.

S. 87

Die Standesehre, in: StF, S. 234f.

S. 88

Auf den Tod Jacob Audorfs, in: StF, S. 223. Audorf: Jacob Audorf (1835—1898), Anhänger Lassalles, schrieb das „Lied der deutschen Arbeiter" 1864, nach seiner damaligen Bedeutung auch Arbeitermarseillaise genannt.

219

S. 8g

Veränderter Kurs, in: StF, S. 244.

S. 90

Zweites Aufgebot, in: StF, S. 223f.; Archiv Nr. 1836 u. 1913; Volksblatt, Jg. 8, Nr. 100 v. 26. 8. 1899, Beilage für unsere Frauen.

S. 91

Zur Reimkunst, in: StF, S. 230.

S. 91

Sturm, in: StF, S. 2 2 4 !

S. 92

Stimmen der Freiheit, in: StF, S. 221 f.

S. 94

Alarm, in: StF, S. 225.

S. 95

Bettler, in: Volksblatt, Nr. 151 v. 23. 12. 1899; Archiv Nr. 1913.

S. 95

Aufgepaßt! In: Archiv Nr. 1058 u. 1919; Volksblatt, 1899, als Zeitungsausschnitt im Archiv vorhanden.

S. 96

Das Buchverbot, in: StF, S. 226f.

S. 96

Militärfromm, in: Archiv Nr. 1336.

S. 98

Das Risiko der Bergarbeit, in: Volksblatt, Jg. 9, Nr. 36 v. 27. 3. 1900; Archiv Nr. 318. oktroniert: oktroyieren.

S. 102 Der Reichstag, in: Archiv Nr. 531, unveröff. S. 105 Maiglöckchen, in: Volksblatt, Jg. 9, Nr. 51 v. 3. 5. 1900; Archiv Nr. 1921. S. 106 Krieg, in: Archiv Nr. 1205, unveröff. S. 109 § 181, in: SP, Jg. 20 (1901), Nr. 19, S. 159. S. 110 Das Klatsch-Trifolium, in: Zwickauer Neueste Nachrichten, Nr. 33 v. 15. 8. 1903, Beiblatt: Für unsere Frauen; Archiv Nr. 1916. S. 111 Rauhbein, in: SP, Archiv Nr. 1454.

Jg. 22 (1903), Nr. 4, S. 28;

S. 112 Militärische Taxen, in: SP, Jg. 23 (1904), Nr. 21 S. 173. 220

1

S. 113 Das Lied vom Ersten Mai, in: SP, Jg. 24 (1905), Nr. 9; Archiv Nr. 289. S. 114 Zum Feldzug gegen die Herero, in: Archiv Nr. 1803, unveröff. Hereroaufstand: Aufstand des südwestafrikanischen Stammes der Herero im Jahre 1904 in Okahand ja unter Leitung ihres Oberhäuptlings Damuel Maherero gegen die Kolonialtruppen des deutschen Kaiserreichs. Dabei wurden 80000 Hereros einschließlich der nichtwehrfähigen Bevölkerung ermordet. Fenzen: Einfriedung oder Einzäunung. Cyruskrieg: Cyrus I I (Kyros), gilt als Begründer der persischen Großmachtstellung in Asien, zeichnete sich durch Milde, Großmut und Toleranz gegenüber den Unterworfenen aus. S. 119 Zur Providenz, in: Archiv Nr. 1819, unveröff. S. 119 Zum Sterben, in: Archiv Nr. 1044, unveröff. S. 120 Letzter Trost, in: Archiv Nr. 1136, unveröff.

Anmerkungen zur Prosa S. 122 Der Spottvogel im Käfig, in: Archiv Nr. 1919, als Zeitungsausschnitt aus dem „Volksblatt", 1899. S. 122 Spottvogel: Der Spottvogel, hg. v. K a r l Schneidt, Berlin 1891—1897 — eine Wochenzeitung, an die A . Lepp einige Gedichte schickte (1891), die jedoch ' nicht veröffentlicht wurden. Der Titel der Erzählung A . Lepps ist vermutlich 1893 der ersten Nummer des dritten Jahrgangs des „Spottvogel" entnommen, der den Untertitel „ D e r Spottvogel im K ä f i g " trug. S. 145 Männertränen: vgl. Gedicht auf S. 5 dieses Bandes. S. 146 Kladderadatsch: Humoristisch-satirisches Wochenblatt, Berlin 1849 ff. Unterstützte in dieser Zeit die fortschrittlichen Bestrebungen der bürgerlich-demokratischen Revolution von 1848/49 und wurde spä17

Adolf Lepp

221

ter zum eifrigen Befürworter der Regierungspolitik Bismarcks. S. 150 gefochten: Umgangssprachlicher Archaismus f ü r : betteln um Nahrungsmittel. S. 167 Anti-Syllabus: Die Syllabi waren Zusammenstellungen bzw. Verzeichnisse der vom Papst für Irrtümer erklärten Lehren. S. 168 Sackermenter: eigentlich Sakramentierer, Teufelskerl, früher: Ein Verächter der Sakramente.

Anmerkungen zu den Briefen S. 187 Lepp an Lautenbach, in: Archiv Nr. 1902, unveröff. S. 187 Motteier an Lepp, in: Archiv Nr. 1910, unveröff. „Chansonnier": „Der deutsche Chansonnier" — eine bis heute nicht aufgefundene Erzählung A . Lepps. S. 188 Als Redakteur • • • : I m Original hat dieser Satz folgende Form: Als Redakteur und benannter Gesellschafter unseres Geschäfts und ich als Leiter der Administration und Expedition, etc. gelten, als die „Oberen der famosen geheimen Verbindung", eine Schuld, die nach Schluß derselben resp. „Auflösung des Geheimbundes" (hu!) noch 5 lange Jahre hier, strafgesetzlich geahndet werden kann. S.i88f. S. D. oder S.: Gemeint ist die Zeitung Der Sozialdemokrat. S. 188 Bernstein: Eduard Bernstein (1850—1932), Redakteur des Sozialdemokrat. E r wurde später zum theoretischen Begründer des Revisionismus in der deutschen Sozialdemokratie. S. 189 „ D . C h . " : Zwischen 1890 und 1900 gebrauchtes Pseudonym (Deutscher Chansonnier) A . Lepps. S. 190 Asketiker: Asket. S. 194 Grunow an Lepp, in: Archiv Nr. 1908, unveröff. Manuskript: Gemeint ist A . Lepps: Die Corruption 222

in der Provinz. Autobiographischer Bericht, 6 Bde, handgeschrieben, insgesamt 568 Seiten, in: Archiv Nr. 1818/1 bis 6. S. 194 L a v a n t an Lepp, in: Archiv Nr. 1900, unveröff. „ W . J." in St.: Zeitschrift „ D e r wahre Jacob" in Stuttgart. S. 196 L e p p an L a v a n t , in: Archiv Nr. 1900, unveröff.

Anmerkungen zum biographischen

Überblick

S. 201 Tabakarbeiterverein: Auf der Gedenktafel im Heimatmuseum Halberstadt wird A . Lepp als Gründer der Ortsgruppe der Tabakarbeitergewerkschaft angegeben. Im Nachlaß befinden sich jedoch nur Hinweise darüber, daß er zu den ersten Mitgliedern gehörte. S. 204 Volksblatt: Der größte Teil aller Zeitungsveröffentlichungen A. Lepps erfolgte in diesem Blatt. Im Archiv befinden sich Ausschnitte unter den Nrn.: 1913, 1921, 1058, 318, 221 u. a. S. 204 Heinrich: Gedicht mit der Anfangszeile „Heinrich, du mein Söhnchen". E s fehlt eine Gedichtüberschrift. Archiv Nr. 1080. S. 205 Ernst K l a a r : Sozialistisch-proletarischer Schriftsteller, geboren 1861 in Chemnitz, gestorben 1920 in Dresden; Freund der Familie L e p p ; Verfasser des Nachrufes über A. Lepp im SP, Jg. 26 (1907), Nr. 3. Dieser Nachruf befindet sich im Archiv Nr. 21.

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Bibliographie

Veröffentlichungen

von Lepp

Wilde Blumen. Ein frischer Liederstrauß, dem Volke gewidmet. Von Adolph Lepp, Selbstverlag des Verfassers, Halberstadt 1889. Deutsche Arbeiter-Dichtung. Eine Auswahl Lieder und Gedichte deutscher Proletarier. Erster B a n d : Gedichte von W . Hasenclever, K . E. Frohme und Adolph Lepp, Stuttgart 1893, S. 115—191. Stimmen der Freiheit. Blüthenlese der hervorragendsten Schöpfungen unserer Arbeiter- und Volksdichter, hg. v. Konrad Beißwanger, 3. Aufl. Nürnberg 1902, S. 219—244. Von unten auf. Ein neues Buch der Freiheit. Gesammelt und gestaltet von Franz Diederich. Zweiter Band, Berlin 1911, S. 119 f. I m Klassenkampf. Deutsche revolutionäre Lieder und Gedichte aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, hg. v. Wolfgang Friedrich, Halle 1962, S. 55, S. 80.

Veröffentlichungen

Über Lepp

Ein Proletarierdichter. In: Sozialdemokrat, Nr. 14 v. 5. 4. 1890, S. 2. Ein Dichterproletarier. In: Vorwärts, Berlin, Nr. 3 v. 19. 1. 1890, Beilage: Das Sonntagsblatt. Adolf Lepp gestorben. Nachruf. I n : Volksblatt, v. 5.12.1906. Adolf Lepp, dem Dichter des Proletariats und eifrigem Mitarbeiter gewidmet. Nachruf von Ernst Klaar. I n : SP, Jg. 26 (1907), Nr. 3. 224

Aus dem Leben eines Vergessenen. In: Zwischen Harz und Bruch. Heimatzeitschrift des Kreises Halberstadt, hg. v. R a t des Kreises Halberstadt, Abt. Kultur in Verbindung mit dem Kulturbund, J g . 6 (1961), H. 1 1 , S. 366ff. Lexikon sozialistischer deutscher Literatur. Von den Anfängen bis 1945. Monographisch-biographische Darstellungen, Halle 1963. Skizze zur Geschichte der deutschen Nationalliteratur. Von den Anfängen der deutschen Arbeiterbewegung bis zur Gegenwart. In: Weimarer Beiträge. Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturtheorie, Berlin, J g . 10 (1964), H. 5, S. 679ff. Deutsche Literaturgeschichte in einem Band, hg. v. Hans Jürgen Geerdts, 2. Aufl., Berlin 1966, S. 5igii. Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. 2, Leipzig 1974, S. 3 4 I A. Schönfelder: Versuch einer Erfassung des lyrischen Werkes des proletarischen Dichters Adolf Lepp. Staatsexamensarbeit. Pädagogische Hochschule „ K a r l Liebknecht" Potsdam, Sektion Germanistik-Geschichte, 1968. Gisela Dresler: Die Prosaerzählungen aus dem Nachlaß von Adolf Lepp. Staatsexamensarbeit. Pädagogische Hochschule „ K a r l Liebknecht" Potsdam, Sektion GermanistikGeschichte, 1968. Kurt Laube: Das Bild des arbeitenden Menschen in den Gedichten Adolf Lepps aus den Jahren 1889 bis 1894. Diplomarbeit zum Staatsexamen. Pädagogische Hochschule „ K a r l Liebknecht" Potsdam, Sektion Germanistik—Geschichte, 1972.

A L S NÄCHSTE BÄNDE FOLGEN

Werner Möller • Sturmgesang. Krieg und Kampf. Herausgegeben von Mathilde Frühe sozialistische aus den Zeitschriften

satirische

Gedichte

Dau

Lyrik

„Der wahre Jakob"

und

„Süddeutscher

Postillon" Herausgegeben von Norbert Rothe G. M. Scävola • Gedichte und

Stücke

Herausgegeben von Gudrun und Hans Heinrich Aus dem Klassenkampf

Klatt

Klatt (Gedichtsammlung,

Herausgegeben von Klaus

Völkerling

München

1893)