Ehe, Liebe, Freundschaft: Semantik der Vergesellschaftung im frühneuhochdeutschen Prosaroman [Reprint 2013 ed.] 9783110937848, 9783484365605

This study of historical semantics and early modern-age literary history delineates the way in which ideas about marriag

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German Pages 399 [400] Year 2001

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Ehe, Liebe, Freundschaft: Semantik der Vergesellschaftung im frühneuhochdeutschen Prosaroman [Reprint 2013 ed.]
 9783110937848, 9783484365605

Table of contents :
A) Themen, Theorien, Texte
1 Annäherungen
2 Theoriebaustein I : geschichtliche Realität
3 Theoriebaustein II: historische Semantik als Diskursanalyse
4 Theoriebaustein III: Systemtheorie
5 Vorstellung des Textkorpus
B) Indizien für Ausdifferenzierungsprozesse
1 Zugangsweisen
2 Mediengeschichte und Evolution: der Buchdruck
2.1 Fragestellung und Vorgehensweise
2.2 Zentrale Textspeicher I: Wissenstexte
2.3 Zentrale Textspeicher II: Prosaromane
2.4 Anonymer Markt als Selektionsinstanz
2.5 Beschleunigung des Semantikumschlags
3 Ausdifferenzierung literarisch: zum Fortunatus
3.1 Fragestellung und Vorgehensweise
3.2 Erzwungene Ausfahrt und ernüchternde Abenteuer
3.3 Begegnung mit Bären und Glücksjungfrauen
3.4 Weitere Welterfahrung
3.5 Sesshafter Familienvater, reisender Räuber, frivoler Sterbender
3.6 Zur Vita der Söhne und zum Epilog: Widerrufe?
3.7 Verzicht auf Sinnstiftung
4 Ausdifferenzierung historisch: zur Gesellschaftsgeschichte
4.1 Verselbständigungsversuche der Teilsysteme
4.2 Soziale und mentale Folgen
5 Zusammenschau und Folgerungen
C) Antworten auf Ausdifferenzierungsprozesse
1 Semantik der Vergesellschaftung I : Ehe
1.1 Ehe in der literarischen Tradition
1.2 Ehe in moraltheologischen Entwürfen
1.3 Ehe in den wickramschen Romanen
2 Semantik der Vergesellschaftung II: Liebe
2.1 Fragestellung und Vorgehensweise
2.2 Zum Zerfall des Modells Dienstminne
2.3 Varianten einer Sprache der Liebe
2.4 Liebe in Wickrams Romanen
3 Semantik der Vergesellschaftung III: Freundschaft
3.1 Fragestellung und Vorgehensweise
3.2 De amicitia deutsch
3.3 Spätmittelalterliche Freundschaft I: Loher und Maller
3.4 Spätmittelalterliche Freundschaft II: Olwier und Artus
3.5 Frühneuzeitliche Freundschaft: Wickrams Romane
D) Verknüpfungen
E) Literaturverzeichnis
1 Abkürzungsverzeichnis
2 Primärliteratur
3 Sekundärliteratur
F) Autoren- und Textregister

Citation preview

Frühe Neuzeit Band 60 Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext In Verbindung mit der Forschungsstelle „Literatur der Frühen Neuzeit" an der Universität Osnabrück Herausgegeben von Jörg Jochen Berns, Klaus Garber, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller und Friedrich Vollhardt

Manuel Braun

Ehe, Liebe, Freundschaft Semantik der Vergesellschaftung im frühneuhochdeutschen Prosaroman

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2001

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Braun, Manuel: Ehe, Liebe, Freundschaft : Semantik der Vergesellschaftung im frühneuhochdeutschen Prosaroman / Manuel Braun. - Tübingen: Niemeyer, 2001 (Frühe Neuzeit; Bd. 60) ISBN 3-484-36560-9

ISSN 0934-5531

© Max Niemeyer Verlag G m b H , Tübingen 2001 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz und Druck: Druckerei Hubert & Co., Göttingen Einband: Buchbinderei Heinr. Koch, Tübingen

Dank Vorliegendes Buch ist die gekürzte und überarbeitete Fassung der Dissertation, die ich im Wintersemester 1998/99 an der Ludwigs-Maximilians-Universität eingereicht habe. Als echten Glücksfall habe ich die Betreuung durch Prof. Jan-Dirk Müller empfunden, der mich nie gegängelt und nie allein gelassen hat, sondern mir in den entscheidenden Augenblicken mit klarem Blick für das Machbare, intimer Kenntnis des Gegenstandes sowie kritischem Verstand beigesprungen ist. Das Zweitgutachten hat Prof. Karl Eibl verfasst, dessen Lehre mir entscheidende Impulse gegeben hat. Prof. Dietmar Peil danke ich für eine weitere Stellungnahme. Den historischen Teil der Arbeit hat Prof. Winfried Schulze durchgesehen und sich - im Interesse der Leser - für eine kräftige Kürzung ausgesprochen. Die Debatte um den Autor mag noch lange nicht entschieden sein, die eigene Schreiberfahrung führt mich allerdings ins Lager der Skeptiker. Schließlich verdankt sich der Text, der laut Vorsatzblatt der meine sein soll, zu einem guten Teil denjenigen, die ihre Kenntnisse, ihr Fragevermögen, ihre Genauigkeit, ihr Stilgefühl und nicht zuletzt ihre Zeit in ihn investiert haben : Ute von Bloh, Gundula Caspary, Udo Friedrich, Thomas Klinkert, Andreas Kraß, Claudia Schmitz, Armin Schulz, Annette Schütterle, Marcus Stumpf, Stefanie Tegeler, Alexandra Tischel, Markus Trabusch, Isabelle Wentzlaff, Alexander Wöll, Cornel Zwierlein. Noch dankbarer bin ich ihnen (und einer Reihe Anonymi) dafür, dass sie während der drei Jahre dafür gesorgt haben, dass nicht alles nur Literatur geblieben ist. Meine Schwester Friederike hat mich die ganze Zeit über aus nächster Nähe ertragen, mein Bruder Ingbert ist mir in allen Nöten zur Seite gestanden, die von Bytes & Co. herrühren. Ihnen möchte ich genauso danken wie meinen Eltern, die mir ein Studium ermöglicht haben, das von der Notwendigkeit des Geldverdienens entlastet war. Damit aus einem Computerausdruck ein Buch werden konnte, bedurfte es der Mithilfe weiterer Personen und Institutionen. Prof. Klaus Garber und Prof. Friedrich Vollhardt haben sich dafür ausgesprochen, die Arbeit in die Reihe >Frühe Neuzeit< aufzunehmen. Birgitta ZellerEbert und Susanne Mang haben das Typoskript sorgfaltig und sachkundig betreut, die >VG Wort< seinen Druck gefordert. Habet Dank ! München, 31. Januar 2000

Inhaltsverzeichnis

A) Themen, Theorien, Texte 1 2 3 4 5

Annäherungen Theoriebaustein I : geschichtliche Realität Theoriebaustein II: historische Semantik als Diskursanalyse Theoriebaustein III: Systemtheorie Vorstellung des Textkorpus

B) Indizien für Ausdifferenzierungsprozesse

1 1 7 12 20 31

35

1 Zugangsweisen 2 Mediengeschichte und Evolution : der Buchdruck 2.1 Fragestellung und Vorgehensweise 2.2 Zentrale Textspeicher I : Wissenstexte 2.3 Zentrale Textspeicher II: Prosaromane 2.4 Anonymer Markt als Selektionsinstanz 2.5 Beschleunigung des Semantikumschlags

35 37 37 41 45 49 51

3

52 52 56 67 74

Ausdifferenzierung literarisch: zum Fortunatus 3.1 Fragestellung und Vorgehens weise 3.2 Erzwungene Ausfahrt und ernüchternde Abenteuer 3.3 Begegnung mit Bären und Glücksjungfrauen 3.4 Weitere Welterfahrung 3.5 Sesshafter Familienvater, reisender Räuber, frivoler Sterbender 3.6 Zur Vita der Söhne und zum Epilog: Widerrufe? . . 3.7 Verzicht auf Sinnstiftung

86 97 100

4

Ausdifferenzierung historisch: zur Gesellschaftsgeschichte 4.1 Verselbständigungsversuche der Teilsysteme 4.2 Soziale und mentale Folgen

103 104 114

5

Zusammenschau und Folgerungen

118

Vili C) Antworten auf Ausdifferenzierungsprozesse 1

Semantik der Vergesellschaftung I : Ehe 1.1 Ehe in der literarischen Tradition 1.1.1 Zum Stellenwert der Ehe 1.1.2 Eheanbahnung und Eheschließung 1.1.3 Eheleben 1.1.4 Bedeutung und Erziehung der Kinder 1.1.5 Allianzpolitik und Freiräume 1.2 Ehe in moraltheologischen Entwürfen 1.2.1 Zum Stellenwert der Ehe 1.2.2 Eheanbahnung und Eheschließung 1.2.3 Eheleben 1.2.4 Bedeutung und Erziehung der Kinder 1.2.5 Ehe als Ordnung 1.3 Ehe in den wickramschen Romanen 1.3.1 Zum Stellenwert der Ehe 1.3.2 Eheanbahnung und Eheschließung 1.3.3 Eheleben 1.3.4 Bedeutung und Erziehung der Kinder 1.3.5 Diskursive Vorgaben und erzählerischer Eigensinn

121 121 121 121 123 129 130 132 133 133 142 148 152 157 158 158 160 173 176 186

2 Semantik der Vergesellschaftung II: Liebe 189 2.1 Fragestellung und Vorgehensweise 189 2.2 Zum Zerfall des Modells Dienstminne 192 2.2.1 Tradition und Bewahrung: Wigoleis vom Rade 192 2.2.2 Unverständnis und Kritik: Olwier und Artus 195 2.2.3 Doppelte Depravation: HugSchapler 197 2.2.4 Verhöflichung und Marginalisierung: Die schöne Magelone 200 2.2.5 Auf der Suche nach einer anderen Liebe 201 2.3 Varianten einer Sprache der Liebe 202 2.3.1 Diskursivierung I: Redeanlässe und Redeformen .. 203 2.3.2 Diskursivierung II: Liebessemantik jenseits der Handlungslogik 212 2.3.3 Adelsliebe und Passionierung I : Paare 216 2.3.4 Adelsliebe und Passionierung II: Entstehung der Liebe 218 2.3.5 Adelsliebe und Passionierung III: Liebesgeständnis 224 2.3.6 Liebescode I : Erfahrung der Liebe 226 2.3.7 Liebescode II: Selbstreflexivität 233 2.3.8 Liebescode III: Bezug zur Sexualität 238

IX

2.3.9 2.4 2.4.1 2.4.2 2.4.3

Bausteine zu einer Sprache passionierter Liebe . . . 244 Liebe in Wickrams Romanen 247 Ferne Erinnerung: Anklänge an die Dienstminne .. 247 Diskursivierung I: Redeanlässe und Redeformen .. 250 Diskursivierung II: Liebessemantik jenseits des umgebenden Diskurses 256 2.4.4 Passion I: Paare 259 2.4.5 Passion II : Entstehung der Liebe 262 2.4.6 Passion III: Liebesgeständnis 266 2.4.7 Liebescode I: Erfahrung der Liebe 268 2.4.8 Liebescode II: Selbstreflexivität 274 2.4.9 Liebescode III: Bezug zur Sexualität 278 2.4.10 Passion mit Hindernissen 280 3 Semantik der Vergesellschaftung III: Freundschaft 3.1 Fragestellung und Vorgehensweise 3.2 De amicitia deutsch 3.3 Spätmittelalterliche Freundschaft I: Loher und Maller 3.4 Spätmittelalterliche Freundschaft II: Olwier und Artus 3.5 Frühneuzeitliche Freundschaft: Wickrams Romane 3.5.1 Zur Begrifflichkeit von >Freundschaft< und >Freund< 3.5.2 Voraussetzungen des Freundschaftsentwurfs 3.5.3 Freundschaft als Passion? 3.5.4 Zum Freundschaftsentwurf des Nachbarn-Romans 3.5.5 Diskursivierung und Diagnose

285 285 291 295 304 311 312 316 318 328 341

D) Verknüpfungen

345

E) Literaturverzeichnis

359

1 Abkürzungsverzeichnis 2 Primärliteratur 3 Sekundärliteratur F) Autoren- und Textregister

359 360 363 387

A)

Themen, Theorien, Texte

1

Annäherungen

Ritter

Galmy,

I. A u f z u g , 3. Auftritt; h a n d e l n d e F i g u r e n : H e r z o g i n , Rit-

ter G a l m y ; die S z e n e spielt a m K r a n k e n b e t t : Die Herlzogin wider anhub / »Galmy« sprach sye / »du solt wissen / das mir die ursach deiner kranckheyt unverborgen ist / darumb du wo! frèlich on alle sorg mit mir reden magst. Friderich dein treüwerfreündt mir alle ding zu wissen gethan halt / mich deines kummers gantz grüntlich berichtet. [...] / hab ich mich eylens zu dir gefugt / damit dein Edler leib nit lang in solchen gedancken mit seiifftzen und klagen gepeiniget würd. Dieweil ich doch verstanden hab / du mich nicht änderst / dann in züchten und eeren liebhabest / und alleyn meines drostes begeren thust / so bin ich hie Edler Ritter dich zu dròsten /[...].« Der Ritter grosse freiid von der Hertzogin red empfieng / nit mer sorg hat / mit ir zu reden / mit frölicher stim anfieng / und sprach. »Gnädige fraw mein / dieweil ich verstand / euch mein trewer bruder mein anligen gantz entdeckt hat / ist mir nit miiglich eiich solichs zu bergen. Irsond wissen aller liebste Fraw / das mich ewer zucht und schone / so gàntzlich gefangen hat / das mir nit miiglich ist / deren in keynen weg widerstand zu thun / mir solche heymliche liebe an mein hertz geleyt / das ich gàntzlich mich verwegen hat zu sterben / unnd keyns andren drosts noch hilff wertig gewesen bin / biß mich mein freündtlicher lieber bräder und gesell da hin bewegt hat / mit seinem freiindtlichen bitten / das ich im mein liebe gegen eiich geöffnet hab / und wie euch mein gesell angezeygt / nimmer änderst an mir spüren sollen / so lang mir Got mein leben erstrecken thut. «1 - natürlich hast du, liebe Leserin, lieber Leser, d a n k d e i n e r textanalytis c h e n S c h u l u n g erkannt, d a s s e s sich bei Ritter

Galmy

u m e i n e n Erzähl-

text, nicht u m e i n D r a m a h a n d e l t , u n d e s war nicht d a r a u f a n g e l e g t , dir d a m i t i m S i n n e e i n e r C a p t a d o b e n e v o l e n t i a e zu s c h m e i c h e l n . A u c h hat das, w a s G e o r g W i c k r a m d a erzählt, a u f d i c h w o h l e h e r lächerlich als d r a m a t i s c h gewirkt, o b w o h l e s sich u m d e n B e g i n n e i n e r g r o ß e n L i e b e h a n d e l t . D e r L i e b h a b e r liegt l e i d e n d u n d laut ä c h z e n d im Bett, ein Kam e r a d vermittelt i h m e i n T h e r a p i e g e s p r ä c h mit d e m Objekt

1

seiner

Ritter Galmy, S. 17-19. Ich zitiere Primärtexte nach erreichbaren Ausgaben, gebe dabei nur den normalisierten Titel, nicht aber Autoren oder Übersetzer an (außer bei pragmatischen Schriften, wo das Autorprinzip stärker verankert ist). Auch Originaldrucke erscheinen unter den Titeln, die sich in der Forschung eingebürgert haben (für Eheschriften: Erika Kartschoke (Hg.), Repertorium; für Prosaromane: Ertzdorff, Romane und Novellen). Abkürzungen werden stillschweigend aufgelöst. Nur bei defekter oder fehlender Seiten- weiche ich auf Lagenzählung aus.

2 Wünsche, in wohlgesetzten Worten verständigen sich die beiden auf ein Verhältnis - ohne Sex. Lebensweltlich applizierbar ist das heute nicht mehr, aber vielleicht vermag gerade die seltsame Sprödigkeit, mit der anno 1549 die Themen Ehe, Liebe und Freundschaft traktiert werden, eine hermeneutische Spannung aufzubauen, die neues Interesse für alte Literatur weckt. Diese Behauptung soll ein zweiter, genauerer Blick auf die angeführte Romanstelle plausibilisieren, indem er deren Erkenntnispotenzial weiter auszuschöpfen versucht. Liebeskrankheit und Liebesgeständnis evozieren zunächst einmal passionierte Liebe, 2 die Wendung an die höher gestellte Herzogin zitiert das mittelalterliche Minnemodell. Doch verursacht liebe3' in einer Ehebruchskonstellation - die Herzogin ist verheiratet - dem Autor des Galmy offenbar schwere moralische Bedenken, die er mit Zusätzen wie in züchten und eeren4 zu zerstreuen sucht. Solche Skrupel sind insofern problematisch, als sie seine erzählerischen Möglichkeiten stark einschränken. Weshalb er sie sich dennoch auferlegt, wird deutlich, wenn man statt dem Romanerzähler einem Moralprediger zuhört: Man sollfleissige verwarung thün / das sie [die Töchter des Landes, M. B.] nit zulesen oder zuhören bekommen / die leichtfertigen vnd vnzüchtigen Fabeln / Gedicht vnnd Bulenbücher / Als da seind / Tristrant / Schapler / Galmy / Eurialus / Hortzog Luppold / Centumnouella / etc. Darauß sie lehrnen / wie man heimlich soll bulen / vnnd Bùlenbrieffe schreiben. Item / die vnzüchtigen Lieder. Vnd hie solle die Oberkeyt einen ernst brauchen / vnd solche Bûberey nicht gestatten / weder zu drucken noch feyl zuhaben / dann es ist der grasten verderb Germanie eine.5

Der Ruf des protestantischen Predigers nach dem Zensor belegt, dass die Selbstbeschränkung in Sachen Erotik Wickram nichts geholfen hat. Selbst sein Ritter Galmy fallt unter das Verdikt, dass Liebesliteratur die Jugend verdirbt. Das Ziel des moraltheologischen Schrifttums ist zwar auch die Verbindung der Geschlechter, aber unter anderen Vorzeichen : Der Ehestand aber / ist eine vnauffloßliche zusamenfugung oder Verknüpfung / eines Manns vnd eines Weibs / welche billich vnd mit recht einander nemen mugen / von Gott eingesetzt / Kinder zu zeugen / vnd Hurerey vnd vnzucht zu vermeiden.6 Es geht also um die rechtlich institutionalisierte und theologisch sanktionierte Ehe, die genau das unterbinden soll, was - von dieser Warte aus gesehen - die Romane freisetzen, nämlich Hurerey vnd vnzucht.

2 3 4 5 6

Nach Luhmann, vgl. u. S. 190f. Ritter Galmy, S.18. Ritter Galmy, S.18. Spangenberg, Ehespiegel, Bl. Γ. Sarcerius, Corpus iuris matrimonialis,

Bl. IIr.

3 Moralisch unbedenklich erscheint die neben Liebe und Ehe dritte Sozialbindung, die Freundschaft. Der Ritter Galmy spricht von ihr auf eine Weise, die schon recht modern anmutet, ohne dass die Differenzen zu übersehen sind. Die Herzogin bezeichnet Fridrich als freiindt7 Galmys und verwendet das Wort damit in einer Bedeutung, die gegenüber der älteren (»Verwandten) noch nicht fest etabliert ist. Für Galmy ist Fridrich ein freiindtlicher lieber brüder und gesell,8 womit er einen Verwandtschaftsbegriff und einen älteren Sozialitätsterminus gebraucht. Der Roman muss also auf vorhandenes sprachliches Material zurückgreifen und es umprägen, um überhaupt von Freundschaft reden zu können; mithin ist hier die Entstehung einer Sprache der Freundschaft in nuce zu beobachten. In Verlängerung des eben Angedeuteten stehen die frühneuzeitlichen Semantiken 9 von Ehe, Liebe und Freundschaft im Zentrum des Interesses, deren Wandel ich mit dem der Gesellschaft zu korrelieren suche. Meine Arbeit ordnet sich demnach dominant weder der Linguistik noch der Historischen Anthropologie zu, sondern versteht sich als Beitrag zu einer bislang ausstehenden Literaturgeschichte der Frühen Neuzeit. 10 Denn ich arbeite in erster Linie mit Prosaromanen also Literatur -, was einen textanalytischen Zugang nahe legt. Erfassen - und vor allem erklären - lässt sich die Geschichte der Literatur jedoch nur im Rekurs auf außerliterarische Faktoren: Die Aufdeckung immanenter Gesetze in der Geschichte der Literatur (bzw. der Sprache) gestattet es, jede konkrete Ablösung literarischer (bzw. sprachlicher) 7

Ritter Galmy, S. 17. Ritter Galmy, S. 18. 9 Ich verwende den weiten Semantikbegriff Luhmanns, vgl. u. S. 25. 10 Es fehlt bislang an einer theoretisch fundierten Literaturgeschichte des 16. Jahrhunderts. Das mag primär daran liegen, dass sich in der Germanistik anders als in der Geschichtswissenschaft keine eigene Frühneuzeitforschung etabliert hat und dass diese Epoche im allgemeinen literarhistorischen Bewusstsein weniger verankert ist als etwa Mittelalter oder Goethezeit, könnte aber - pragmatisch betrachtet - auch mit mangelnden Vorarbeiten zu tun haben. Dass Literaturgeschichte heute keinem Totalitätskonzept mehr folgen kann, wie Japp, Beziehungssinn, S. 236f., ausfuhrt, ist sicher richtig. Dennoch bleibt Synthese sinnvoll, allein schon um die angehäuften Detailkenntnisse überschaubar zu halten und Spezialuntersuchungen sinnvolle Ziele (Bestätigung, Ergänzung, Widerlegung) zu stecken. " Zur Begründung dieser Begriffswahl Jan-Dirk Müller, Volksbuch/Prosaroman, S. 1-15. Zur Unbrauchbarkeit des romantischen Volksbuchbegriffs ausführlich Kreutzer, Der Mythos vom Volksbuch. Dass neueste Arbeiten wie Classen, The German Volksbuch, S. 16f., 75-81, in Kenntnis dieser Gegenargumente aus Traditionalismus oder wie Dohm, Emanzipation, S.46, sogar unter Berufung auf Müller wieder für den Begriff Volksbuch optieren, muss einen für die Fortschrittsmöglichkeiten des Faches skeptisch stimmen. 8

4 Systeme zu charakterisieren, gibt uns aber nicht die Möglichkeit, das jeweilige Evolutionstempo und gerade diese eine, unter mehreren theoretisch möglichen, gewählte Evolutionsrichtung zu begründen, denn die immanenten Gesetze der literarischen (bzw. sprachlichen) Evolution sind nur eine unbestimmte Gleichung, die wohl eine begrenzte Anzahl Lösungsmöglichkeiten, nicht aber notwendig eine einzige zuläßt. Die Frage der konkret gewählten Richtung oder zumindest der Dominante läßt sich nur durch eine Analyse der Korrelation der literarischen mit den übrigen historischen Reihen lösen. 12 M i t d i e s e m Fazit s c h l i e ß e n R o m a n J a k o b s o n u n d Jurij T y n j a n o v 1928 die formalistische D i s k u s s i o n der literarischen E v o l u t i o n ab. O f f e n b a r v e r m a g e s d i e Literaturwissenschaft aber nicht, s o l c h e E i n s i c h t e n auf D a u e r zu stellen, s o n d e r n m u s s sie sich i m m e r w i e d e r n e u erarbeiten. 1 3 Mit Verve hat d a s für d i e G e r m a n i s t i k zuletzt d i e S o z i a l g e s c h i c h t e der 1 9 7 0 e r Jahre getan, d e r e n I m p u l s j e d o c h s c h o n Mitte der 1 9 8 0 e r Jahre a u s l ä u f t . 1 4 D o c h m ö g l i c h e r w e i s e hat der literaturtheoretische S p i e l z e u g zug, der unter e n o r m e m D a m p f steht u n d h e k t i s c h v o n P a r a d i g m a zu P a r a d i g m a rast, o h n e j e m a l s e i n e s d a v o n a b z u a r b e i t e n , 1 5 i n z w i s c h e n bereits e i n e g a n z e R u n d e g e d r e h t , s o d a s s m a n a n Ort u n d Stelle b l e i b e n u n d dort z u s t e i g e n kann. D e n n mittlerweile fragt e i n Vertreter der D e konstruktion w i e J. Hillis Miller, w i e d e n n die E i n s i c h t e n Paul de M a n s u n d d e s N e w Criticism in d e n rhetorischen Charakter der Literatur gem e i n s a m (!) v o r d e m A n d r ä n g e n historischer u n d s o z i o l o g i s c h e r Frag e s t e l l u n g e n zu retten s e i e n . 1 6 D e r W a n d e l in der T h e o r i e l a n d s c h a f t sollte es e r m ö g l i c h e n , d a s Verhältnis v o n Literatur u n d G e s e l l s c h a f t e i n l e u c h t e n d e r zu m o d e l l i e r e n als in der älteren F o r s c h u n g , die sich d e s M a r x i s m u s o d e r der Kriti-

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Jakobson/Tynjanov, Probleme der Literatur- und Sprachforschung, S.65. Wie Hansen-Löve, Der russische Formalismus, S.397, ausführt, begründet sich die Zuwendung der Formalisten zur Literatursoziologie ab 1925 aus der inneren Entwicklungslogik ihrer Theorie, nicht aus politischem Opportunismus. Jakobson und Tynjanov vertreten entsprechende Gedanken ja auch noch im Prager Exil. Aus altgermanistischer Perspektive zeichnet Heinzle, Literatur, die jeweiligen Konjunkturen textimmanenter und kontextbezogener Literaturbetrachtung in diesem Jahrhundert nach. Hierzu Jan-Dirk Müller, Aporien und Perspektiven. Meinem Eindruck nach neigt die Germanistik dazu, Paradigmen zu rasch aufzugeben, bevor diese ihr Problemlösungspotenzial wirklich erschöpft haben (so für die Sozialgeschichte auch Ort, Vom >Text< zum >WissenMinisterialenthese< hinausführen könnten. Dass sich die Sozialgeschichte weiterdenken lässt, belegt eindrucksvoll der Sammelband von Huber/Lauer (Hgg.), Nach der Sozialgeschichte. Für die Verknüpfung beider Verfahren plädiert Jannidis, Das Individuum, S. 13-18. Zum Folgenden Luhmann, Das Problem der Epochenbildung; ausführlicher zu den Formen gesellschaftlicher Differenzierung ders., Die Gesellschaft, S.595788.

6 dert zudem verwandte Tendenzen in anderen, es kommt zur Koevolution, ohne dass sich Erstursachen auffinden ließen. Auch für die Literaturgeschichte dürfte es sich lohnen, Epochen der Evolution als Einteilungsraster zu erproben. 20 Für die Frühe Neuzeit möchte ich das für die volkssprachliche - nicht die lateinisch-humanistische - Literatur des ober- und mitteldeutschen Städteraums tun. Denn in dieser Region hat man sie geschrieben, gedruckt und gelesen und hier verdichtet sich der postulierte gesellschaftsstrukturelle Wandel. Aus kommunikationstheoretischer Sicht bietet es sich an, die Einführung des Buchdrucks als Einschnitt zu betrachten - der früheste der behandelten Texte, die Melusine des Thüring von Ringoltingen, erscheint 1474. Parallel zu kommunikations- und literaturgeschichtlichen Prozessen laufen tief greifende gesellschaftliche Umstellungen ab, die allerdings nicht so exakt datierbar sind. Dennoch lässt sich - so eine zentrale These der Arbeit - zeigen, dass sich der im Spätmittelalter angelaufene Ausdifferenzierungsprozess in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts beschleunigt. Ab 1550 gewinnen allmählich wieder die Ordnungskräfte die Oberhand, die der frühabsolutistische Fürstenstaat und die konfessionellen Kirchen zur Stabilisierung der Ständeordnung aufbieten. Es erscheint also möglich, die knapp hundertjährige Zeitspanne vom ausgehenden 15. bis ins zweite Drittel des 16. Jahrhunderts als distinkte Epoche zu begreifen, die durch eine besondere Dynamik gekennzeichnet ist. Die Texte, die sie hervorbringt, setzen sich kommunikationstheoretisch von der handschriftlich verbreiteten Literatur des Spätmittelalters und gesellschaftsgeschichtlich von der Literatur der Restabilisierungsepoche, dem Barock, ab. 21 Evolution verläuft also nicht einsinnig, sondern in Schüben. Zweitens Gattung: Um die Literatur der Dynamikphase mit gesellschaftsgeschichtlichen Entwicklungen zu korrelieren, dürfte es günstig sein, exemplarisch bei einer offenen, komplexen Gattung anzusetzen - 2 2 beim Prosaroman. Hier sollten Reflexe der damaligen Veränderungen am ehesten an die Oberfläche treten, befindet sich der Roman doch seit dem späten Mittelalter im experimentierfreudigen Zustand erzählerischer >VerwilderungCommonsense< von Kognitionswissenschaft und Wissenschaftstheorie, vgl. Nüse, Über die Erfindung/en, S. 76f. Siegfried J. Schmidt, Der radikale Konstruktivismus, S.40f.

8 seiner Position und handelt sich zugleich intrikate Folgeprobleme ein. 28 Die Kernaussage des Radikalen Konstruktivismus, und nur sie steht zur Diskussion, lautet, dass das menschliche Nervensystem auf Grundlage selbsterzeugter neuronaler Impulse funktioniert, dass es folglich in sich geschlossen ist und keinen Kontakt zur Wirklichkeit besitzt: 29 »Die Signale, die dem Gehirn zugeführt werden, sagen also nicht, blau, heiß, cis, au, usw. usw., sondern >Klick, Klick, Klickwaswieviel< und >woherunrealistic< in what it tells us about the world. [...] If myth, literary fiction, and traditional historiography utilize the narrative mode of discourse, this is because they are all forms of language-use. This in itself tells us nothing about their truthfulness - and even less about their >realism< inasmuch as this notion is always culturally determinate and varies from culture to culture.« Diese Einsicht verdankt White, Die Last der Geschichte, S. 57f., einer extrem eigenwilligen Popper-Lektüre: Die Wahrheit wissenschaftlicher wie künstlerischer Aussagen lasse sich nur nach der »Reichhaltigkeit der Metaphern« (S. 58) beurteilen. Gumbrecht, Fiktion und Nichtfiktion ; Siegfried J. Schmidt, Fictionality. Appleby u. a., Telling the Truth, S. 255 ; Chartier, Zeit der Zweifel, S. 92 ; Hanisch, Die linguistische Wende, S. 221. Eibl, Rezension zu Gebhard Rusch/Siegfried J. Schmidt, S. 238.

12 3

Theoriebaustein II: historische Semantik als Diskursanalyse

Vergangenheit heißt hier aber nicht nur geschichtliche Realität, sondern auch und gerade historische Semantik. Beide sollen über Luhmanns Systemtheorie aufeinander bezogen werden, wozu diese aber einiger Ergänzungen bedarf, da sie einfach die Begriffsgeschichte übernimmt, wie sie Reinhart Koselleck für das Lexikon zur politisch-sozialen Sprache entworfen hat. 53 Das bringt eine Beschränkung auf sogenannte Grundbegriffe mit sich, deren Bedeutungswandel in der Umbruchsepoche um 1800 beschrieben wird. In der theoretischen Konzeption Kosellecks (und Luhmanns) sind jedoch einige zentrale Probleme ungeklärt: 54 das Verhältnis von Wort und Begriff - ist Begriff ein sprachliches Zeichen (und damit lemmatisierbar) oder eine kognitive Funktion (und damit diachron durchgängig zu verfolgen)? -, von Wortund Sachgeschichte sowie das Bedeutungskonzept. Die einzelnen Lexikonartikel isolieren die Begriffe von ihrem textuellen und kontextuellen Umfeld und beschränken sich in ihrer Quellenauswahl auf philosophische und theoretische Texte. Insgesamt gerät die Begriffsgeschichte allzu leicht in die Nähe einer reinen Ideengeschichte. Solche Probleme umgeht der Ansatz zu einer historischen Semantik, den Dietrich Busse unter Rückgriff auf kommunikations- und diskurstheoretische Überlegungen entwickelt hat. 55 Da er Sprache als Handlungsvollzug auffasst, erschließt sich bei ihm die Bedeutung einer Äußerung nur über die Rekonstruktion der Sprechsituation und ihres textuellen und diskursiven Umfelds. 56 Nur wenn der Sprachhistoriker die Pragmatik einbezieht, Nachbar- und Gegenbegriffe analysiert sowie sprachliche und epistemische Vorgaben aufsucht, gewinnt er Zugang zur Wortbedeutung und zum Bedeutungswandel. Semantische Verschiebungen resultieren aus dem Wechselverhältnis von Regelbefolgung und Regeldurchbrechung in jedem kommunikati-

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Koselleck, Einleitung; entsprechend Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik 1, S. 19. Die Kritik nach Busse, Historische Semantik, S. 43-76, und Schüttler, Sozialgeschichtliches Paradigma, S. 174f. Das Folgende nach Busse, Historische Semantik; ergänzend herangezogen ist die Zusammenfassung von Fritz, Historische Semantik. Dieses Verständnis von Sprache veranlasst Busse, Historische Semantik, S. 221-250, Foucault einen reduzierten strukturalistischen Sprachbegriff vorzuwerfen. Im Rahmen meiner Überlegungen ist weder zu entscheiden, ob diese Rekonstruktion zutreffend ist (wie auch Busse weiß, spielt Pragmatik bei Foucault über die - zugegebenermaßen nicht besonders erhellenden - Begriffe der Praxis und des Dispositivs durchaus eine Rolle) noch ist hier gar zu klären, welches Sprachkonzept denn nun das >richtige< ist.

13 ven Akt, wie er sich zwischen Sprecher und Rezipient ereignet. 57 Grundlage des Wandels sind die Notwendigkeit, Handlungsmuster an immer neue Situationen anzupassen, oder das Bestreben, ihren kommunikativen Nutzen durch eine Erweiterung ihres Handlungspotenzials zu steigern. Die Änderung betrifft dabei nur einzelne Elemente, während der Gesamtzusammenhang einer Äußerung von Konventionen bestimmt bleibt, die allein ihre Verständlichkeit sicherstellen. Scheitert die abgewandelte kommunikative Handlung (ephemere Verwendung), ist das für den kommunikativen Kontext dennoch aufschlussreich, gelingt sie (Einführungshandlung), kann sie eine neue Konvention begründen, indem die anderen Kommunikationsteilnehmer sie als Verhaltenserwartung übernehmen. 58 Soziale Netze und Medien beschleunigen diesen Übernahmeprozess. Um Regeln des Sprechens als Ausgangspunkt von Neuerungen zu rekonstruieren, bietet sich der Rückgriff auf die Diskurstheorie an, wie ihn Busse und vor ihm Karlheinz Stierle vorschlagen. 59 Denn nicht nur das textuelle Umfeld, sondern auch die diskursiven Vorgaben jenseits der lexikalischen Oberflächenebene schreiben die Bedeutung eines Wortes oder einer Aussage fest. 60 Um zu bestimmen, wie Diskurse Bedeutungen stabilisieren, aber auch deren Wandel ermöglichen, sind handhabbare Explikationen der Konzepte Diskurs und Diskursanalyse notwendig. Sie finden sich beim >Diskursivitätsbegründer< Michel Foucault selbst, 61 aber auch bei späteren Anwendern, die seine Anregun-

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Fritz, Historische Semantik, S.38, macht darauf aufmerksam, dass auch die Deutung des Rezipienten innovativ wirken kann. Dass eine genauere Rekonstruktion dieses Vorgangs der Linguistik noch erhebliche empirische u n d theoretische Probleme aufgibt, räumt Fritz, Historische Semantik, S. 65f., ein. Er schlägt vor, Routinisierung (Verwendung eines neuen Ausdrucks in sich wiederholenden Situationen), Standardisierung (Fixierung des Ausdrucks) und Konventionalisierung (Erwartung eines bestimmten Ausdrucks in einer bestimmten Situation; normative Regelung der Verwendungsweise; Ablösung von den ursprünglichen pragmatischen Spezifika) zu unterscheiden (S. 67f.). Busse, Historische Semantik, S. 222-271; Stierle, Historische Semantik. Wissenschaftsgeschichtlich sieht Warning, Poetische Konterdiskursivität, S.314f., die Bedeutung des foucaultschen Diskursbegriffs darin, der Linguistik aus der Stagnation geholfen zu haben. Busse/Teubert, Ist Diskurs ein sprachwissenschaftliches Objekt?, S.22f. Die von Fritz, Historische Semantik, S. 13f., aufgelisteten Verwendungszusammenhänge reichen von Kollokationen im Satz bis zum allgemeinen Wissen. Foucault, Archäologie, S. 151 f., spricht von der Stabilisierung der Aussage durch ihr diskursives Umfeld. Damit ist die Verbindung von historischer Semantik und Diskurstheorie auch von letzterer her nahe gelegt. Warning, Poetische Konterdiskursivität, S.313, bezeichnet Foucault als solchen, sieht aber in der geringeren Geschlossenheit der theoretischen Konzeption die Differenz zu Karl Marx und Sigmund Freud.

14 gen aufgegriffen und weitergedacht haben. Auszugehen ist dabei von der Leistung des Diskurses, die darin besteht, das Sagbare so stark einzuschränken, dass Kommunikation überhaupt möglich wird. 62 Diese Kontingenzreduktion erfolgt auf den drei Ebenen, auf denen Michael Titzmann seine Diskursdefinition ansiedelt: gemeinsamer Redegegenstand, Regularitäten der Rede und Relationen zu anderen Diskursen. 63 Die erste Ebene betrifft also die Themen, über die die Teilnehmer der Kommunikation sprechen können und dürfen. Zumindest eine vorläufige heuristische Annäherung an einen Diskurs wird kaum darauf verzichten können, das Untersuchungsobjekt zunächst einmal zu benennen. 6 4 Das schließt wie bei Titzmann ein Misstrauen gegen vorschnelle Homogenisierungen und ein Bewusstsein für Unterschiede nicht aus : Eine Klasse verwandter Sachverhalte kann in der Kultur jedenfalls einen nichtautonomen und nicht-kohärenten Gegenstand bilden, über den es nur fragmentarische und abhängige Diskurse gibt, die sich in verschiedenen Texten finden und in andere Diskurse eingebettet sind, oder einen autonomen und kohärenten Gegenstand, über den sich ein unabhängiger und nicht-eingebetteter Diskurs bildet, der sich in Texten zu genau diesem Thema manifestiert. 65

Im Unterschied zu Titzmann, für den grundsätzlich jeder Diskurs durch soziale Institutionen gestützt sein kann, 6 6 würde ich dies besonders für unabhängige Diskurse annehmen wollen. Die wohl wichtigste Einschränkung des Sagbaren erfolgt durch die Regularitäten der Rede - das ist die zweite Ebene der Definition. Abzuleiten ist die Ordnung des Diskurses aus den Regelmäßigkeiten des Aussagens. 67 Sie resultieren aus dem Vorgang der »Einschreibung, das heißt d[em] Aussagen als Wiederholung ähnlicher, vorgängiger Aussagen«. 68 Die Diskursregeln, die jenseits des Sprecherbewusstseins si-

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Wegmann, Diskurse der Empfindsamkeit, S. 13. Diese Definition ermöglicht den Anschluss an die Systemtheorie. Titzmann, Kulturelles Wissen, S. 51-53. Foucault, Archäologie, S. 156, 170, privilegiert in seiner eigenen Definition einseitig die Formationsregeln. Foucault, Archäologie, S. 49-51, zweifelt an der Möglichkeit, Diskurs über ein einheitliches und permanentes Objekt zu definieren, setzt aber in der Praxis selbst bei Gegenständen wie Wahnsinn oder Sexualität an und macht erst in einem zweiten Schritt deren Vielfalt sichtbar. Die Frage nach den Spezifikationsrastern, die die Gegenstände feiner einteilen (S.64), wäre also der thematischen Diskursdefinition nicht entgegengesetzt, sondern nachgeordnet. Entsprechend warnt Weinert, Die Arbeit der Geschichte, S.357, davor, den »Relativismus, verstanden als Diskursgebundenheit der Objekte« zum »extremen historischen Nominalismus« zu steigern. Titzmann, Kulturelles Wissen, S.51. Titzmann, Kulturelles Wissen, S. 54. Foucault, Archäologie, S. 170. Sarasin, Subjekte, Diskurse, Körper, S. 144.

15 tuiert sind, zu erarbeiten, ist die eigentliche Aufgabe der Diskursanalyse. Diskursive Vorschriften legen die semantische Ausdifferenzierung auf der paradigmatischen (Wörter mit vergleichbarer Bedeutung) und syntagmatischen Ebene (Verknüpfungsregeln) fest. 69 Zu den Formationsregeln zählen formale Regeln (logische und methodologische Voraussetzungen der Aussagen, Argumentationsweisen, Wahrheitsbedingungen), inhaltliche Annahmen und Terminologien. 70 Dazu kommen die Formulierungsregeln, die festlegen, »auf welche Weise Propositionen in Sätze des Diskurses überführt werden können«. 71 Leitfragen, wie sie Foucault vorgibt, können helfen, die Regeln des Sprechens genauer zu erfassen, wobei sich die nach den Sprecher- und Subjektpositionen als die wichtigste erweist. 72 Bei Foucault nicht angesprochen ist die Kategorie Geschlecht, die aber immer wieder ins Spiel kommt, wenn man sich mit Semantik der Vergesellschaftung beschäftigt: Welche Geschlechter werden über Liebe zusammengebracht, welche über Freundschaft? Welches Geschlecht wird aktiv, wenn es darum geht, eine Liebesbeziehung zu beginnen? Wie entwerfen unterschiedliche Texttypen das Verhältnis der Geschlechter? Welches Geschlecht besetzt die Subjekt-, welches die Objektposition des Sprechens? Solche Fragen sind sinnvollerweise auf der >genderdie< Frau nicht gibt, sondern nur eine Vielfalt von >FrauensexgenderArchäologe< sollte sich stets bewusst sein, dass die Diskursanalyse ein konstruktiver und interpretativer Vorgang ist, nicht das einfache Nachzeichnen vorgegebener Positivität, wie Foucault mitunter suggeriert. 76 Daraus entsteht eine größere Freiheit beim Umgang mit dem Diskursbegriff, zugleich aber auch die Verpflichtung, das eigene Vorgehen möglichst transparent zu gestalten, weshalb ich an dieser Stelle das Verhältnis von Literatur und Diskurs und damit auch das von Text und Kontext genauer explizieren will. Auszugehen ist dabei von der Annahme, dass die Zuordnung von Texttypen und Diskursen grundsätzlich offen ist.77 Ein Diskurs kann sich etwa in einem oder in mehreren Texttypen ausprägen, während umgekehrt in einem Text mehrere Diskurse zugleich auftreten können. Mit dem Abstand von Institutionen - in der Frühen Neuzeit etwa Kirche und Obrigkeit -, die die Homogenität der Rede überwachen und notfalls erzwingen, wächst der Freiheitsgrad eines Diskurses. 78 Dieser kann auch über die Unterscheidung zwischen logisch stabilisierten und logisch nicht-stabilisierten Diskursen näher bestimmt werden, die auf Michel Pêcheux zurückgeht: Während die ersteren mittels genauer Regulierung die Möglichkeit individueller Formulierungen fast völlig ausschalten, sind die nicht-stabilisierten - darunter die literarischen - Diskurse weniger starr. Das Verhältnis literarischer Texte zu den Diskursen ist durch eine Gegebenheit gekennzeichnet, die ich potenzielle Polydiskursivität< nenne. Damit ist das bekannte Faktum gemeint, dass gerade längere erzählende Texte - im Unterschied zu homogeneren präskriptiven oder lyrischen Texten - vielfältigen diskursiven Einflüssen unterliegen können, die nicht immer vollständig aufeinander abgestimmt sind. Vielmehr können die unterschiedlichen Diskurse, die unter den Bedingungen literarischen Erzählens oft hart aneinander gefügt sind, zentrifugale Kräfte und Sinnüberschüsse erzeugen, die sich quer zur bloßen Widerspiegelung herrschender Diskurse stellen. 79 Dieser Zerstäubung diskur76

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Busse, Historische Semantik, S.65f., 297-301, sowie Busse/Teubert, Ist Diskurs ein sprachwissenschaftliches Objekt?, S. 16f. ; Meyer, Diskurstheorie, S.390; Walter, Unkeuschheit, S.41. Das ironisch vorgetragene, inhaltlich aber prinzipiell zutreffende Bekenntnis zum Positivismus in Foucault, Archäologie, S. 182. Titzmann, Kulturelles Wissen, S. 54f. Die Einheit von Buch und Werk hinterfragt Foucault, Archäologie, S. 35-38, 261, und führt aus, dass Diskurse quer zu Texttypen wie Literatur und Wissenschaft stehen können. Hierzu und zum Folgenden Sarasin, Subjekte, Diskurse, Körper, S. 153f. So korrigiert Teuber, Der Wille zur Sprache, S.65f., Foucault im Anschluss an Bachtin. Freilich ist diese Einsicht bei Foucault, Schriften zur Literatur, passim, durchaus angelegt, der manche moderne Literaten als anarchistische Kämpfer ge-

17 siver Zwänge nachzuspüren, ist Aufgabe der (Einzel-)Textanalyse, die folglich im Rahmen der Diskursanalyse sinnvoll bleibt. 80 Also partizipieren Literatur und die von ihr transportierte Semantik zwar an diskursiven Regeln, verfügen aber auf Grund äußerer und innerer Gegebenheiten über einen vergrößerten Spielraum zur Abweichung und damit über ein erhöhtes Potenzial für Bedeutungswandel. Das Verhältnis Einzeltext-Diskurs ist freilich variabel, neben Subversion gibt es Möglichkeiten wie Partizipation und Unterordnung. 81 Auf der Ebene der Diachronie geht es weder darum festzustellen, dass alles bereits bei Piaton steht, oder auszumachen, dass etwas ganz neu ist: »liebenswerte, aber verspätete Spielchen von Historikern in kurzen Hosen«. 8 2 Anders als diese lehnt es Foucault zudem ab, totalisierende Einschnitte zwischen diskursive Formationen zu legen : Die Archäologie beschreibt dagegen eine Schicht von Aussagehomogenität, die ihren eigenen zeitlichen Schnitt hat und nicht all die anderen Formen von Identität u n d Unterschieden, die man in der Sprache ausmachen kann, mit sich zieht. U n d auf dieser Ebene errichtet sie eine Anordnung, Hierarchien, eine ganze Verästelung, die eine grobe, amorphe und ein für allemal global gegebene Synchronie ausschließen. 8 3

Eigentlich ließen sich solch komplexe Transformationsprozesse am ehesten evolutionstheoretisch erklären. Foucault lehnt die Evolutionstheorie ab, weil er sie - trotz ihrer Offenheit für Zufälle und Sprünge für homogenisierend hält. 84 Indem er den Diskurs als inkohärent und

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gen die Diskurspolizei feiert (darauf, dass Foucault dabei der Konzeption der >TelquelHöhenkammliteratur< ausgehen und diese jenseits der diskursiven Zwänge ansiedeln. Zwar spricht sich Warning dagegen aus, »der Literatur nun doch wieder in apologetischer Absicht einen Sonderstatus zuzuschreiben« (S. 317), u n d fordert statt dessen dazu auf, in »einer Dialektik von Einbettung und Ausbettung« (S.318) zu denken, seine Beispiele fuhren aber alle vor, wie große Werke diskursive Vorgaben transzendieren, indem sie sie ästhetisieren, remythisieren oder ironisieren. Foucault, Archäologie, S.205. Foucault, Archäologie, S.21 lf. Foucault, Archäologie, S. 34, gebraucht den Evolutionsbegriff nur vortheoretisch, wenn er Evolution und Entwicklung synonym verwendet, beide als Kohärenzprinzipien abweist und ihnen das Streben unterstellt, »die Zeit durch eine ständig reversible, immer am Werk befindliche Beziehung zwischen einem Ursprung und

18 von Widersprüchen durchsetzt zeichnet, 85 liefert Foucault aber einen ausgezeichneten Ansatzpunkt für die Erfassung evolutionärer Veränderungen. Denn Gegensätze sichern die additioneile Entwicklung des Aussagefeldes, bewirken dessen Neuorganisation oder kritisieren es stoßen also Umschichtungen im Diskurs an. Das lenkt zur zweiten Aufgabe hinüber, die sich der historischen Diskurssemantik auf der diachronen Ebene stellt, nämlich der Erklärung des beschriebenen Bedeutungswandels. Leitend für seine Erforschung können zwei Prinzipien Foucaults sein: Die Akzeptanz von Wissenskonstellationen ist nicht einfach als gegeben hinzunehmen, sondern möglichst genau zu erklären. 86 Und dabei sollten »jene Ensembles nicht als Universalien analysiert werden, denen die Geschichte mit ihren besonderen Umständen gewisse Modifizierungen beibringt«. 87 Gerade bei scheinbar so selbstverständlichen Semantiken und Einrichtungen wie Ehe, Liebe und Freundschaft ist diese Mahnung angebracht. Nicht teilen kann ich dagegen Foucaults Ablehnung jeder Erklärung diskursiver Veränderungen. 88 Denn Brüche in der Form neuer Bedeutungen verweisen auf ein Bezeichnungsbedürfnis, das sie allein legitimieren kann. 89 Freilich vermag erst die Rezeptionsgeschichte darüber zu entscheiden, ob dieses Bedürfnis nur subjektiv ist oder ob die Diskursgemeinschaft es teilt. Dem ereignishaften Bedeutungswandel folgt mit der Durchsetzung ein Prozess langer Dauer. Als Triebkräfte kommen diskursive und gesellschaftliche Veränderungen in Betracht: »Die Vielzahl der zu berücksichtigenden Faktoren läßt dabei nur Vermutungen zu, keine Gewißheiten.« 90 Erschwerend wirkt es, dass unter den Bedingungen der Schrift die Epochengrenzen ständig verwischt werden, da immer auch ältere Formulierungen in neue diskursive Zusammenhänge eingebaut werden können. Häufen sich Bedeutungsinnova-

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einem Endpunkt zu beherrschen, die nie gegeben werden«. Ebenso inadäquat parallelisiert er die Evolutionstheorie mit dem theologischen Schöpfungsmodell und dem psychologischen Modell des Bewusstwerdens (S. 244f.). Foucault, Archäologie, S. 213-223. Foucault, Was ist Kritik?, S.34f. Foucault, Was ist Kritik?, S.35. Foucault, Was ist Kritik?, S. 36-39, lehnt zu Recht eine monistische und reduktionistische Kausalanalyse ab, hat aber - trotz der Ausführungen zur Genealogie keine ausgearbeitete Alternative anzubieten. Weinert, Die Arbeit der Geschichte, S. 349, führt den Verzicht auf Ursachenanalyse auf die Ausschließung des Subjekts zurück und zeigt, dass Foucault selbst diese nicht durchhalten kann. Zur Kritik der bloßen Aneinanderreihung von Epistemen in ders., Die Ordnung der Dinge, vgl. Eibl, Literaturgeschichte, S.4. Ihre Transformation wäre nur durch einen Wechsel auf die textexterne Ebene der Gesellschaft zu erklären. Das Folgende nach Busse, Historische Semantik, S. 270, und Stierle, Historische Semantik, S. 184-186. Busse, Historische Semantik, S. 270.

19 tionen oder sterben mehrere miteinander verbundene Begriffe gleichzeitig ab, liegt jedoch die Vermutung nahe, dass sich die soziale Erfahrung geändert hat. Hier gilt es allerdings Missverständnisse zu vermeiden, wie sie etwa Busse unterlaufen, wenn er vorschlägt, über die Bedeutungs- und Diskursanalyse auf das Bewusstsein der Sprachbenutzer durchzugreifen und über die historische Semantik das Projekt der Mentalitätsgeschichte voranzutreiben. 91 Ein solches Vorgehen konterkariert den konzeptionellen Gewinn der Diskurstheorie : Die Pointe d[ies]es Vorschlags, eine Textmenge als Diskurs zu konstruieren, besteht darin, die Diskursregularitäten nicht als Ausdruck, symmetrisches Korrelat oder Produkt von Strukturen anderer Art zu begreifen, sondern als Strukturen, die nur funktional auf andere Größen der Gesellschaft zu beziehen sind. 92

Schon der Gegenstand meiner Arbeit verbietet zudem jeden mentalitätsgeschichtlichen Reduktionismus, da sich gerade die frühneuzeitlichen Semantiken von Ehe, Liebe und Freundschaft in ihrer elaborierten Form kaum in alltagssprachlichen, sondern nur in präskriptiven oder literarischen Texten manifestieren und sich so einer unmittelbaren Zurechnung auf soziale Institutionen oder Gefühle versagen. Foucaults Regeln der Seltenheit und der Äußerlichkeit können solchen einsinnigen Reduktionismus vermeiden und die funktionale Analyse vorbereiten helfen. 93 Die Diskurstheorie setzt Seltenheit an die Stelle der Totalität: Es wird nie alles gesagt, was mit den Mitteln einer Sprache formuliert werden kann. Zwar vermag kein Historiker auf Verallgemeinerungen zu verzichten, sonst müsste er alle erreichbaren Quellen einfach nachschreiben. Doch warnt ihn die Regel der Seltenheit davor, die Vielfalt der vorliegenden Aussagen, etwa der zur Liebe, vorschnell auf ein vereinheitlichendes Prinzip (die Reformation, das Stadtbürgertum oder den Frühkapitalismus) zurückzuführen. Ergänzend meint Äußerlichkeit, dass Aussagen nicht auf eine begründende Subjektivität - einen Autor namens Wickram - zu beziehen sind. Diskurse sind mithin als eigenständige Ebene des Sprechens aufzufassen, sie sind nicht allegorisch zu lesen, sondern als Objekte systematisch zu beschreiben. 94 Ihre Funktion ist nur indirekt zu ermitteln, was aber nur möglich ist, wenn man das Verhältnis Semantik/Diskurs-Gesellschaft genauer modelliert. 95 91 92 93 94

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Busse, Historische Semantik, S.74. Meyer, Diskurstheorie, S.391 ; vgl. auch Foucault, Archäologie, S. 34, 92. Foucault, Archäologie, S. 172-178. Foucault, Archäologie, S. 198-200, mit dem Vorschlag des nicht-allegorischen Monumentbegriffs. Für die Diskursanalyse, die mehr sein will als eine linguistisch-semantische Analyse und deshalb nach der diskursiven Praxis fragt (vgl. Foucault, Archäologie,

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Theoriebaustein I I I : Systemtheorie

Um dieses Problem adäquat anzugehen, erscheint mir derzeit die Anlehnung an die Systemtheorie am aussichtsreichsten, und zwar direkt an ihre luhmannsche Variante. Denn die

literaturwissenschaftliche

Adaptation Luhmanns durch die Leidener Gruppe verspricht kaum Gewinn, 96 weil sie nur dessen differenztheoretischen Ansatz totalisiert, indem sie vorschlägt, die Bedeutung eines Textes durch die Differenz zu seinem synchronen Kontext zu bestimmen. 97 Nicht nur ist dieses Projekt inkonsequent, da zumindest die interpretatorische Praxis Texte der Kontextseite als identische Einheit fassen muss,98 sondern auch prinzipiell unabschließbar, da alle zeitgleich verfügbaren Texte als Negativfolie infrage kommen. 99 Außerdem - und diese Kritik trifft das Leidener Modell im Kern - steht ein Text zu anderen Texten nicht nur im Verhältnis der Opposition, sondern teilt mit ihnen bestimmte Merkmale wie Gattungsstrukturen oder Diskursregeln. 100 Schließlich verfehlt das Konzept die geschichtliche Dimension der Literatur. Denn anders als bei Luhmann selbst werden Kommunikationen um ihre Zeitdimension gebracht und in ihrem einmaligen Kontext eingefroren. 101 Ein anderes Problem stellt sich bei dem Modell der Münchener Forschergruppe zur Sozialgeschichte der Literatur, das sich auf Talcott Parsons' struktural-funktionale Systemtheorie stützt.102 Diese nämlich ist ganz auf die moderne, bereits voll ausdifferenzierte amerikanische Gesellschaft ausgerichtet, sodass sie sich kaum auf ältere Gesellschaftsformationen anwenden lässt.103 Außerdem erlaubt es der starre Ansatz des S. 72f., 99; zum Begriff diskursive Praxis, S. 171), ist dieses Defizit schon mehrfach benannt worden, etwa von Ort, Sozialsystem >LiteraturSupertheorieAGIL-Schemas< mit seinen vier Funktionen 1 0 4 nicht, die Leistung des Literatursystems für die Gesellschaft genauer und historisch variabler zu bestimmen, Handlungsorientierung bleibt als Funktionszuweisung zu allgemein. 105 Damit ist ein weiterer Schwachpunkt des Entwurfs angedeutet, der sich zu stark auf das Verhältnis des Literatursystems zur Gesellschaft konzentriert und darüber die Frage nach einer Korrelation von Texten zu gesellschaftlichen Prozessen tendenziell aus den Augen verliert. 106 Schließlich - das hängt mit dem eben gemachten Einwand zusammen - lehnt sich das Münchener Modell derart eng an Parsons an, dass es für Literaturwissenschaftler nur schwer einzusetzen ist. Mir ist auch bislang kein Anwendungsversuch bekannt; Friederike Meyer und Michael Ort selbst suchen inzwischen Rückhalt an anderen Theorieansätzen, um ihren Entwurf anschlussfähiger zu gestalten. 107 Seine Grundeinsicht, die Verschränkung von Funktions- und Strukturgeschichte, bleibt indessen bewahrenswert. 108 Schwierigkeiten stellen sich zwar auch bei der Systemtheorie Luhmanns, dennoch hat die Neugermanistik inzwischen belegt, dass zumindest deren historischer Teil Gewinn bringend einzusetzen ist. 109 Auch ich werde meine Arbeit nicht zur Gänze auf das Prokustesbett der Systemtheorie spannen, sondern aus ihren Angeboten auswählen. Denn seit ihrer Hinwendung zum Radikalen Konstruktivismus und zur Dekonstruktion wirft die luhmannsche Theorie derart massive praktische und erkenntnistheoretische Schwierigkeiten auf, dass eine konsequent systemtheoretische Reformulierung literaturwissenschaftlicher Fra104

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Diese sind: Anpassung an die Umwelt (adaptation), Zielverwirklichung (goalattainment), Integration (integration) und Strukturerhaltung (latent pattern maintenance). Plumpe/Werber, Umwelten der Literatur, S. 14; Rusch, Systemtheorien, S.38f. Hempfer, Schwierigkeiten mit einer >SupertheorieLiteraturText< zum >WissenSupertheorieSupertheorieSemantikSattelzeit< um 1800.126 Mit einer engen Synchronisation semantischer und gesellschaftlicher Entwicklungen ist seit der Einführung der Schrift jedoch nicht mehr zu rechnen, Vorgriffe sind jetzt genauso möglich wie Verzögerungen, gerade bei Strukturbrüchen sind Traditionsüberhänge im Textmaterial wahrscheinlich. 127 Um zu erklären, wie sich entsprechende Anpassungsprozesse vollziehen, greift Luhmann auf die Evolutionstheorie zurück. 128 Das hat nichts mit Biologismus zu tun, sondern bedeutet den Einsatz einer historischen Systemtheorie, die die Biologie zufällig zuerst entdeckt hat, als vielseitig verwendbare heuristische Hilfe : Sie ermöglicht es, alles, was ist, als das Ergebnis vorangegangener Selektionsund Bewährungsprozesse zu begreifen, von der Evolution der Materie bis zur Ideenevolution. Wir brauchen uns Korrelationen nicht mehr in den Kategorien der Druck- und Stoßkausalität des 19. Jahrhunderts vorzustellen, sondern die Evolutionstheorie ermöglicht es, das Verhältnis von Systemen zu ihrer Umwelt in den Kategorien des Passens, der Funktion, der Problemlösungsaktivität zu erfassen und diese Kategorien auch ineinander zu übersetzen. 129 125 126 127 128

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Das Folgende nach Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik 1, S. 21-41. Vgl. Otto Brunner u.a. (Hgg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Luhmann, Die Gesellschaft, S.289, 891. Zur Evolutionstheorie Luhmann, Die Gesellschaft, S.413-594; speziell zur Ideenevolution ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik I, S.41-53. Auch Fritz, Historische Semantik, S.5, setzt in seiner Einführung in die historische Semantik die Evolutionstheorie wie selbstverständlich ein - ein weiteres Indiz für ihre Anwendbarkeit im Rahmen meiner Arbeit. Eibl, Literaturgeschichte, S. 13.

26 Ausgangspunkt evolutionstheoretischen Denkens ist die Paradoxie der Wahrscheinlichkeit des Unwahrscheinlichen. Es fragt nicht nach Ursprüngen, verzichtet auf kausale Erklärungen und auf prüfbare Prognosen. Es rechnet mit Zufällen, nicht aber mit Fortschritt. Positiv gewendet: Es geht vielmehr allein um die Frage, wie zu erklären ist, daß in einer Welt, die immer auch anderes bietet und beibehält, komplexere Systeme entstehen, und eventuell : woran sie dann scheitern. Es geht, sehr vereinfacht gesagt, um die Erklärung von Strukturänderungen. 130

Drei eigenständige Mechanismen ermöglichen Evolution: Variation, Selektion, Restabilisierung. 131 Die Variation setzt eine Differenz zum Bestehenden, womit sie das System zur Entscheidung für oder gegen die Neuerung (Selektion) und zur Umsetzung dieser Entscheidung in einen neuen Endzustand (Restabilisierung) zwingt. Der aber kann sogleich zum Ausgangspunkt neuer Abweichungen werden. Der Evolutionsprozess ist mithin endlos und gesetzlos. Auf Ideen, Semantiken und Diskurse lässt sich die Evolutionstheorie etwa so anwenden : Die Voraussetzung für Variationen liegt darin, dass jede Kommunikation sinnhaft ist und damit ihre Negation nahe legt. Anstöße für Ablehnung kommen einerseits aus dem gesellschaftlichen Umfeld ; andererseits variieren Diskurse aus endogenen Gründen, denn gerade ausgearbeitete, schriftlich fixierte Gedanken reizen zum Widerspruch, besonders intensiv die unlösbaren Probleme. Außerdem bleibt Raum für Begabung, Persönlichkeit, Kreativität, kurz: für Zufalle. 132 Oftmals mögen für kulturelle Innovationen gar nicht neue Ideen ausschlaggebend sein, sondern vielmehr die verstärkte, selektive oder neuartige Nutzung des überlieferten Ideenguts. 133 Von den Mechanismen der Selektion hängt es ab, ob und wann neue Ideen oder Begriffsprägungen aufgegriffen oder alte wieder belebt werden. Sie finden allgemeine Akzeptanz, wenn sie plausibel sind. Aus literaturwissenschaftlicher Sicht ließe sich anfügen, dass hierzu auch die Qualität der Formulierung beitragen wird. Außerdem ist zu überprüfen, inwieweit sich die neuen Begriffe mit bereits bestehenden verknüpfen lassen. 134 Als Stabilisierungsmechanismen fungieren in Luhmanns Evolutionskonzept Systematisierung und Dogmatisierung, die allerdings nicht anschaulich ausgearbeitet sind und für meine Arbeit keine Rolle spielen.

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Luhmann, Die Gesellschaft, S.429f. Fritz, Historische Semantik, S. 38, spricht von Innovation, Selektion und Diffusion. Ich behalte die eingeführten luhmannschen Begriffe bei. Luhmann, Geschichte als Prozeß, S. 184. Holmes, Poesie der Indifferenz, S. 15. Jannidis, Das Individuum, S.22.

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Es gilt nun, einige Grundzüge des Ansatzes Luhmanns zusammenzufassen und dabei die Stellen zu markieren, an denen seine Wissenssoziologie und die Diskurstheorie ineinander einrasten. 135 Statt Semantik und Gesellschaft in einem Basis-Überbau-Schema anzuordnen oder sie unterschiedslos ineinander aufgehen zu lassen, gelingt es Luhmann, sie distinkt zu halten und gleichzeitig vielfach zu verflechten. 136 Dem entspricht es, dass Foucault den Diskurs als eigenständige Ebene modelliert, die nicht monokausal reduzierbar ist, da er Einheitskonzeptionen wie Mentalität, Autor oder Werk misstraut und Ordnung nicht mehr als etwas Vorgegebenes, sondern als künstlich Hergestelltes ansieht. Seinerseits spricht sich auch Luhmann stets gegen ontologisches und metaphysisches Denken aus, sieht Soziales nicht mehr einfach als gegeben und setzt zentrale Begriffe wie Sinn, Kommunikation, Gesellschaft differenztheoretisch an. Mit Differenzen arbeiten auch die System- und die Evolutionstheorie, mit deren Hilfe man dort fortfahren kann, wo die >Archäologie< abbricht: bei der Erklärung des Begriffswandels. Variationen beruhen auf dem Verweisungscharakter von Sinn, womit sie sich sowohl auf Anstöße von außen, aber auch auf Widersprüche oder ungeklärte Probleme innerhalb des Ideengutes selbst zurückführen lassen. Analog charakterisiert Foucault den Diskurs als von Widersprüchen durchzogen, was Veränderungen hervortreibt. Abweichende Kommunikation basiert aber immer auf vorhandenen Regelmäßigkeiten der Rede. Der Zwang zum Anschluss an den geltenden Sprachgebrauch führt dazu, dass selbst äußere Impulse nur mit diskurseigenen Mitteln umgesetzt werden können. Für die literarhistorische Praxis stelle ich mir ein zweistufiges Verfahren vor: Der Frage nach Abweichungen hat eine - diskursanalytische - Bestandsaufnahme dessen vorauszugehen, was bestimmte Texte zum Zeitpunkt X zu einem Thema sagen können. 137 Dann erfolgt ein Wechsel auf die diachrone Ebene und das weitere Vorgehen richtet sich an dem formalistischen Vorschlag aus, die innere Entwicklung einer Textreihe zu beschreiben und erst dann auf externe Ursachen zu rekurrieren, wenn die Transformationen nicht mehr immanent zu begründen sind. 138 Denn über Selektionen entscheiden Verleger, Buchkäufer und Autoren von Anschlusstexten, hier machen sich also gesellschaftliche 135

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Vielfache Anregungen für den Versuch, beide Theorien zusammenzuführen, verdanke ich Wegmann, Diskurse der Empfindsamkeit. Einige Hinweise finden sich auch bei Fohrmann/Müller, Einleitung, S. 13, 18. Holmes, Poesie der Indifferenz, S. 15. Auf die Notwendigkeit, den semantischen Selektionshorizont zu erarbeiten, verweist Ort, Sozialsystem >Literaturinvisible hand< vor. Die funktionale Analyse bietet sich also als Ausweg an, da sie weder den Verzicht auf wissenschaftliche Erklärung noch den Zwang bedeutet, alle Ergebnisse in die Form deduktiver Gesetzeszusammenhänge zu bringen. Genau dies fordern wissenschaftstheoretische Gegner des Funktionalismus wie Hempel, Die Logik, und Döbert, Systemtheorie, S. 50-58. Hiervon setzt sich Luhmann, Funktion, zu Recht ab. Nur würde ich den Unterschied zwischen Funktionalismus und Kausalanalyse nicht zu einem wissenschaftstheoretischen hochstilisieren, sondern ihn eher auf der praktischen Ebene ansetzen (vgl. auch Finke, Konstruktiver Funktionalismus, S.208). In diese Richtung hat sich auch Luhmann, Soziale Systeme, S. 84f., inzwischen bewegt, wenn er Kausalität als Hypothese - zulässt, den Schwerpunkt aber nach wie vor auf den Vergleich legt. In Anlehnung an Stephen Toulmin definiert Schneider, Objektives Verstehen, S. 161, Funktionalität als historisch-genetisches Resultat des rekonstruierbaren Ausschlusses anderer Möglichkeiten.

29 Für die literaturgeschichtliche Arbeit bietet sich besonders der Äquivalenzfunktionalismus an. 142 Er rechnet damit, dass einem Bezugsproblem mehrere äquivalente Lösungsansätze zugeordnet werden können oder dass ein Tatbestand durch mehrere Ursachen zu erklären ist. Gearbeitet wird mit einer dreistelligen Relation: Die Funktion setzt den Gegenstand also in Direktbeleuchtung und in Seitenbeleuchtung. Sie spezifiziert ihn auf doppelte Weise: positiv u n d negativ. Sie zeigt, wie er zur Problemlösung beiträgt, und sie klärt zugleich, d a ß er es nicht so tut wie andere, funktional äquivalente Formen. Auf diese Weise kann sie an grundlegende Systemprobleme a n k n ü p f e n und zugleich in Rechnung stellen, d a ß die Lösungsmittel beim Aufbau komplexer Systeme im Laufe einer langen Evolutionsgeschichte differenziert werden und sich dabei wechselseitig voneinander abgrenzen und spezifizieren. 1 4 3

Etwa ist anzunehmen, dass die massiven Probleme, die die Änderung der gesellschaftlichen Differenzierungsform aufwirft, mit mehreren semantischen Strategien zugleich angegangen werden und dass sich diese hinsichtlich ihrer Leistungen unterscheiden. Die Zahl der funktionalen Alternativen ist jedoch durch die Strukturen des Umfelds begrenzt, in das sie sich einzufügen haben. 144 Die Zurechnung von Ursachen und Wirkungen in der funktionalen Analyse ist eine Konstruktion aus der Sicht des Beobachters, der die Intention der handelnden Subjekte nicht zu entsprechen braucht. 145 Die Funktion einer Formulierung muss also nicht in der Autorintention aufgesucht werden, was zugleich diskurstheoretischen Vorgaben entspricht. Literaturgeschichtlichen Anforderungen kommt der Vorschlag Luhmanns entgegen, Problemzusammenhänge als Stufenfolge zu be142

Luhmann, Funktion; Merton, Funktionale Analyse, S. 187. Plurifunktionalität ist auch der wichtigste phänomenologische Befund zur Funktionsanalyse bei Elmar Holenstein, Z u r Semantik der Funktionalanalyse, S. 293. Er wirft den Verfechtern der Kausalanalyse vor, gerade die potenzielle Plurifunktionalität von Strukturen zu übersehen (S.299). Dieser Vorwurf ließe sich freilich auch an die Adresse der kunsttheoretischen Arbeiten L u h m a n n s selbst richten, der versucht, einem so komplexen Gebilde wie der Kunst eine einzige Funktion zuzuweisen. Luhmann, Das Kunstwerk, S. 67, selbst sieht diese im Aufweis von Kontingenz, P l u m p e / Werber, Literatur ist codierbar, S. 32-35, plädieren für Unterhaltung. Auf diese Banalität ist freilich Horaz vor 2000 Jahren ohne Systemtheorie auch schon verfallen, was belegt, wie wenig ergiebig die Suche nach >der< Funktion >der< Kunst ist. Ich schlage vor, besser von konkreten Textbefunden oder semantischen Entwicklungen auszugehen u n d nach deren Funktionen zu fragen.

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Luhmann, Funktion der Religion, S.9f. Merton, Funktionale Analyse, S. 197. Merton, Funktionale Analyse, S. 176. In der Auflösung des >romantischen< Junktims von Intention und Bedeutung sieht Schneider, Objektives Verstehen, S. 224f., die Voraussetzung dafür, Hermeneutik, Handlungs- und Systemtheorie zu verbinden. Dagegen vertreten Busse/Teubert, Ist Diskurs ein sprachwissenschaftliches Objekt?, S. 25, noch einen Funktionalismus, der auf die Intention der Sprachbenutzer rekurriert.

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30 trachten, 146 womit sich Textanalysen als Verlängerung funktionaler Verfahren verstehen lassen, die sich lediglich durch einen größeren Detaillierungsgrad auszeichnen. 147 Ist etwa die Funktion eines Diskurses in einer konkreten gesellschaftsgeschichtlichen Konstellation geklärt, kann daran die Analyse der Folgen anschließen, die sein Einbau in einen bestimmten Text hat. Aber auch der umgekehrte Weg, der bei Textbeobachtungen ansetzt und dann zu größerer Abstraktion führt, entspricht den Prinzipien der funktionalen Analyse, die ja die Wahl des Bezugspunktes grundsätzlich freistellt und weite Spielräume für gegenstandsspezifisches Vorgehen eröffnet. 148 Grundsätzlich ist aber die Frage nach der Funktion derjenigen nach der Struktur vorgeordnet, was die luhmannsche Systemtheorie von ihren Vorgängerinnen unterscheidet. 149 Funktion und Dysfunktion sind dabei nicht klar zu trennen, da jede Lösung Folgeprobleme aufwirft. 150 Zudem mögen Lösungen auf der einen Stufe zu Inkonsistenzen auf der nächsten führen. 151 Für mein Projekt leistet der Funktionalismus insofern einen wichtigen Beitrag, als er es erlaubt, genauer zu bestimmen, nach welchen Kriterien die Gesellschaft aus den angebotenen Ideen auswählt. Begünstigen wird sie diejenigen, die die drängenden Fragen am schlüssigsten beantworten. A u f fundamentale Probleme dürften aber mehrere Antworten möglich sein, mit unterschiedlichen Stärken und Schwächen. Diese können sich auf verschiedenen Ebenen unterschiedlich auswirken. Mithin bedeutet die funktionale Analyse eine Aufforderung zum Vergleich, zur stetigen Suche nach Alternativen und eine Warnung vor vorschnellen Festlegungen. Unter Rückgriff auf Foucault wäre diese Fragerichtung noch in die Bereiche des Verdrängten, Ausgeschlossenen, Marginalisierten hinein zu verlängern, sodass die Kosten des Evolutionsprozesses sichtbar werden könnten - ein Aspekt, der bei Luhmann selbst zu kurz kommt.

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Luhmann, Funktion, S.20. Schneider, Objektives Verstehen, S.233. Schneider, Objektives Verstehen, S. 199. Finke, Konstruktiver Funktionalismus, S. 164. Schneider, Objektives Verstehen, S. 196f., sieht den entscheidenden Schritt Luhmanns, die Vorordnung der Funktion, dadurch ermöglicht, dass Komplexitätsreduktion als Letztproblem fungiert, das durch verschiedene Strukturen lösbar ist. Luhmann, Funktion, S. 21 f., korrigiert so ältere soziologische Ansätze, die Funktion und Dysfunktion noch sauber zu trennen suchen. Schneider, Objektives Verstehen, S. 162f.

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Vorstellung des Textkorpus

Der gewählte semantisch-diskursanalytische Zugang macht es notwendig, ein breit gestreutes Textkorpus zu betrachten. Zudem suche ich so der Beschränkung auf die immer gleichen Texte (Melusine, Fortunatus, Wickrams Romane) zu steuern und einige bislang eher randständige Werke stärker ins Gespräch zu bringen. Gewichtiger sind aber inhaltliche Gründe, die für eine größere, heterogene Menge an Texten sprechen. Sie soll die Pluralität an Gattungs- und Erzählmöglichkeiten einfangen, die in der Epoche verfügbar sind. Diese reichen von Chansonde-geste-Adaptationen über Liebes- und Abenteuerromane hellenistischen Typs bis hin zu einigermaßen eigenständigen Erzählexperimenten, wobei es zu vielfachen Interferenzen kommen kann. Novellen sind ebenfalls exemplarisch einzubeziehen, da es einerseits Grenzformen gibt und andererseits novellistische Erzählmuster in den Roman eingehen. 152 Dieses verwilderte Feld, besiedelt mit verwilderten Texten, entspricht ungefähr dem diffusen zeitgenössischen Gattungsbewusstsein, wie es etwa im Buch der Liebe oder in theologischen Angriffen gegen erzählende Literatur fassbar ist. 153 Zeitlich greife ich ebenfalls weit aus, indem ich Texte behandle, die in dem gut ein Dreiviertel Jahrhundert umfassenden Zeitraum von 1474 bis 1557 gedruckt worden sind. 154 Zudem sprechen aus diesen Historien Stimmen aus entfernteren Vergangenheiten, was schon Jakobson und Tynjanov theoretisch modellieren : Der Begriff des literarischen synchronischen Systems stimmt nicht mit der naiven Vorstellung von der chronologischen Epoche überein, da er nicht nur chronologisch zusammengehörige, sondern auch Kunstwerke aus anderssprachigen Literaturen und älteren Epochen in seinen Systemkreis einbezieht. 155

Das gilt in erhöhtem Maß für die frühneuzeitliche Literatur, bei der es sich meist um Übersetzungen oder Bearbeitungen älterer Vorlagen handelt. Ihr Rekrutierungsfeld reicht von der Renaissancenovelle bis zum spätmittelalterlichen Roman, wobei über formale oder inhaltliche Zitate weitere Texte gegenwärtig sind.

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Jan-Dirk Müller, Volksbuch/Prosaroman, S.63, Anm. 205, stuft Eurialus und Lucretia als überdehnte Novelle ein, die sich dem Prosaroman nähert und im zeitgenössischen Gattungsbewusstsein zu ihm gehört. Allgemein zur Zugehörigkeit der Novellen zu den Historien in derZeit Brock, Les romans, S. 31, und Jacobi, Jörg Wickrams Romane, S. 28f. Jan-Dirk Müller, Volksbuch/Prosaroman, S.63f. Diese Eingrenzung schließt Camillus und Emilie, Ismenius und Ismene sowie Theagenes und Chariklea aus. Jakobson/Tynjanov, Probleme der Literatur- und Sprachforschung, S.64.

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Mit den heterogenen Erzählmustern aus weit auseinander liegenden Epochen verbinden sich unterschiedliche Weisen, über Ehe, Liebe und Freundschaft zu sprechen. Da sie das Reservoir für die evolutionären Entwicklungen in der Semantik bildet, ist diese Vielfalt zunächst einmal verfügbar zu machen. Vor ihrem Horizont sind die Romane Wickrams zu sehen. Weil es sich bei ihnen um >Originalromane< handelt, ist anzunehmen, dass sie aus dem vorhandenen Material die Bestandteile auswählen und neu anordnen, die vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Problemlage Plausibilität besitzen. Und das Angebot ist entsprechend reichhaltig, es enthält etwa mittelalterliche Minnekonzepte, humanistische Liebesmodelle, spätmittelalterliche Freundschaftsentwürfe oder moraltheologische Ehelehren. Da die Literatur letztere als fertig ausformulierten, themenspezifischen und unabhängigen Diskurs vorfindet und aufnimmt, ist zu seiner Erschließung auf die reichhaltige Eheliteratur der Epoche zurückzugreifen. Nachdem der Beobachtungsraum derart gedehnt worden ist, sind nun einige pragmatische Grenzen zu ziehen, um ihn noch überschaubar zu halten. Leitendes Kriterium bei der Auswahl der Texte ist deren inhaltliche Ergiebigkeit. 156 Da es um eine historisch-semantische Studie geht, sind in erster Linie aufschlussreiche Formulierungen zu den Themen Ehe, Liebe und Freundschaft gefragt, weniger ästhetische Qualität. 157 Um die sprachlichen Realisate aufeinander beziehen zu können, erfolgt eine Beschränkung auf hochdeutsche Prosaromane. 158 Außerdem verfolgt die Arbeit keine genetischen Interessen und verzichtet deshalb auf Vergleiche mit Vorlagen. Um semantischen Wandel zu erklären, rekurriere ich auf Funktionserfüllung, die gleichermaßen durch die Drucklegung eines vorhandenen Textes, die Überarbeitung eines älteren oder die Übersetzung eines fremdsprachigen Romans sowie eine

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Auf diesem Weg ausgeschlossen habe ich den Alexanderroman, den Brissonetus, den Eulenspiegel, den Fierrabras, die Haimonskinder, den Herzog Emst, den Gehörnten Siegfried und die Trojahistorien. Gumbrecht, Who is Afraid of Deconstruction?, S. 108-112, beschreibt die Koppelung historischen Interesses an ästhetische Bedeutung in der Literaturwissenschaft des 19. Jahrhunderts als therapiebedürftige >Double bindWoraus< - der Ausgangszustand vor der Ausdifferenzierung - zu erfassen, auf ein vertieftes Verständnis der vormodernen Adelsgesellschaft kann es an dieser Stelle nicht ankommen. 2 Es reicht aus, das spätmittelalterliche Gesellschaftssystem als stratifikatorisch differenziertes und feudal verfasstes zu skizzieren - reine Gegenbegriffe zum modernen Gesellschaftstypus, die die Verhältnisse stark vereinfachen. Die Grundzüge der stratifikatorischen Gesellschaft fängt die Definition des Historikers Winfried Schulze ein : Als ständische Gesellschaft können wir in einer ersten Annäherung jene Etappe der gesellschaftlichen Entwicklung verstehen, die die Existenz gesellschaftlicher Gruppen sieht, die durch eine spezifische Rechtsstellung, eine spezifische Form des Erwerbs und eine dadurch begründete Fähigkeit zur Ausübung oder Nichtausübung von Herrschaft bestimmt werden. Die im allgemeinen durch Geburt oder durch sanktionierte soziale Qualifikationen erworbene Zugehörigkeit zu einem >Stand< verpflichtet zur Wahrung der standesspezifischen Erwerbsbegrenzungen und Lebensführung, damit erscheint die so strukturierte Gesellschaft prinzipiell als frei von Konflikten, im scharfen Unterschied zu einer durch Marktbeziehungen konstituierten Gesellschaft. 3

Zu unterstreichen ist noch, dass vor allem das Prinzip der Ehre mit seinen spezifischeren Erscheinungsformen wie etwa Reichtum, Autorität und Freiheit die Unterschiede im Ranggefüge markiert. 4 Ihrer Bedeutung entsprechend kann Ehre nicht aus höheren Wertbegriffen abgeleitet werden. Aus der Ungleichheit der Menschen folgt aber auch eine Asymmetrie der Verpflichtungen, die etwa in adelsspezifischen Tugenden aufscheint. Mit Hilfe des Konzepts Feudalismus - nach Hans-Ulrich Wehler ein »Komplex von eigentümlichen politisch-militärischen, sozioökonomi-

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Berger/Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion, S. 185f. So auch Luhmann, Mein >MittelalterZentralspeicherBuchzeitalter