Effizienz oder Glück?: Wirtschaftsethische und moralökonomische Perspektiven der Kritik an ökonomischen Erfolgsfaktoren [1 ed.] 9783428539345, 9783428139347

Die (Makro-)Ökonomik steht in der Kritik. Ist sie mit ihrer Fixierung auf das jährliche Wachstum des Bruttoinlandsproduk

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Effizienz oder Glück?: Wirtschaftsethische und moralökonomische Perspektiven der Kritik an ökonomischen Erfolgsfaktoren [1 ed.]
 9783428539345, 9783428139347

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Volkswirtschaftliche Schriften Heft 562

Effizienz oder Glück? Wirtschaftsethische und moralökonomische Perspektiven der Kritik an ökonomischen Erfolgsfaktoren

Herausgegeben von

Detlef Aufderheide und Martin Dabrowski In Verbindung mit Karl Homann · Christian Kirchner Michael Schramm · Jochen Schumann Viktor Vanberg · Josef Wieland

Duncker & Humblot · Berlin

DETLEF AUFDERHEIDE / MARTIN DABROWSKI (Hg.)

Effizienz oder Glück?

Volkswirtschaftliche Schriften Begründet von Prof. Dr. Dr. h. c. J. Broermann †

Heft 562

Anschriften der Herausgeber: Priv.-Doz. Dr. Detlef Aufderheide

Dr. Martin Dabrowski

Forschungsstelle für Wirtschaft und Angewandte Wirtschaftsethik Anton-Bruchausenstr. 8

Akademie Franz Hitze Haus Fachbereich Wirtschaft, Sozialethik, Umwelt Kardinal-von-Galen-Ring 50

D-48147 Münster

D-48149 Münster

Die Tagungsreihe „Wirtschaftsethik und Moralökonomik. Normen, soziale Ordnung und der Beitrag der Ökonomik“ wird in Kooperation zwischen der Katholisch-sozialen Akademie FRANZ HITZE HAUS und der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Münster durchgeführt.

Effizienz oder Glück? Wirtschaftsethische und moralökonomische Perspektiven der Kritik an ökonomischen Erfolgsfaktoren

Herausgegeben von

Detlef Aufderheide und Martin Dabrowski In Verbindung mit Karl Homann · Christian Kirchner Michael Schramm · Jochen Schumann Viktor Vanberg · Josef Wieland

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2012 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0505-9372 ISBN 978-3-428-13934-7 (Print) ISBN 978-3-428-53934-5 (E-Book) ISBN 978-3-428-83934-6 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die (Makro-)Ökonomik steht in der Kritik. Ist sie mit ihrer Fixierung auf das Wachstum im Bereich der Jahr für Jahr neu produzierten marktfähigen Güter – Stichwort BIP, das Bruttoinlandsprodukt – nicht mitverantwortlich für marktwirtschaftliche Fehlentwicklungen, für materialistisches Denken und die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen der Erde? Nicht erst seit der letzten Wirtschafts- und Finanzkrise sind kritische Stimmen laut geworden, die die Zweckmäßigkeit der bisher verwendeten ökonomischen Erfolgsindikatoren grundsätzlich in Frage stellen. Im Mittelpunkt der Kritik stehen die fehlende Berücksichtigung von Verteilungsfragen und Aspekten der Nachhaltigkeit, die konzeptionelle Blindheit für krisenhafte Entwicklungen und ihre negativen Folgen für die betroffenen Menschen sowie die Frage, ob die üblichen Kennzahlen (BIP und weitere) allein überhaupt hinreichend geeignet sind, das tatsächliche Wohlergehen der Menschen abzubilden. Somit stellen sich insbesondere zwei Leitfragen. Inwiefern erweisen sich die vorgebrachten Kritikpunkte auch bei genauerer Untersuchung als stichhaltig? Welche Alternativen stehen bei kritischer Betrachtung überhaupt zur Verfügung, worin liegen oder lägen deren Stärken und Schwächen? Für beide Fragen ist es ganz offenkundig von besonderer Bedeutung, nicht nur die Erkenntnisziele unterschiedlicher Fachdisziplinen sowie die Anliegen der politischen und wirtschaftlichen Praxis in den Blick zu nehmen. Vielmehr geht es nicht zuletzt darum, angesichts fortgeschrittener wissenschaftlicher Spezialisierung zumindest für jeweils zentrale Aspekte eine gemeinsame Sprache zu finden: Aus ökonomischer Sicht spielen z. B. andere Qualitätskriterien eine zentrale Rolle als beispielsweise aus der Perspektive von Philosophie oder Theologie. In diesem Buch sind daher die Ergebnisse einer disziplinenübergreifenden Tagung zusammengefasst, die im Dezember 2011 in der Akademie Franz Hitze Haus in Münster stattfand. In fünf Beiträgen werden zu ausgewählten Bereichen aktuelle Forschungsergebnisse präsentiert und stets von je zwei Korreferaten, nicht zuletzt mit Blick auf ihre praktische Anwendbarkeit, diskutiert. Dabei steht vor allem die Leistungsfähigkeit moderner ökonomischer Lösungsvorschläge im Dialog mit Theologen, Philosophen, Historikern und Juristen auf dem Prüfstand.

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Vorwort

Der Band setzt eine Reihe fort, die unter dem Rubrum „Normen, soziale Ordnung und der Beitrag der Ökonomik“ im Jahre 1996 begann. Auch die sieben vorangegangenen Sammelbände sind in den „Volkswirtschaftlichen Schriften“ (VWS) des Verlages Duncker & Humblot unter folgenden Titeln erschienen: „Wirtschaftsethik und Moralökonomik. Normen, soziale Ordnung und der Beitrag der Ökonomik“ (VWS 478); „Internationaler Wettbewerb – nationale Sozialpolitik? Wirtschaftsethische und moralökonomische Perspektiven der Globalisierung“ (VWS 500); „Gesundheit – Ethik – Ökonomik. Wirtschaftsethische und moralökonomische Perspektiven des Gesundheitswesens“ (VWS 524); „Corporate Governance und Korruption. Wirtschaftsethische und moralökonomische Perspektiven der Bestechung und ihrer Bekämpfung“ (VWS 544); „Markt und Wettbewerb in der Sozialwirtschaft. Wirtschaftsethische und moralökonomische Perspektiven für den Pflegesektor“ (VWS 551); „Internetökonomie und Ethik. Wirtschaftsethische und moralökonomische Perspektiven des Internets“ (VWS 556); „Effizienz und Gerechtigkeit bei der Nutzung natürlicher Ressourcen. Wirtschaftsethische und moralökonomische Perspektiven der Rohstoff-, Energie- und Wasserwirtschaft“ (VWS 560). Den Verlegern, Herrn Dr. Florian Simon, sowie seinem Vater, Herrn Prof. Dr. h. c. Norbert Simon, sind wir für die inzwischen langjährige und außerordentlich bewährte Zusammenarbeit sehr dankbar. Die Reihe gründet sich auf eine Kooperation zwischen der Katholischsozialen Akademie Franz Hitze Haus und der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Münster. Deren vorrangiges Ziel liegt darin, dem Diskurs zwischen Ethik und Ökonomik, zwischen Ökonomen und Theologen bzw. Moralphilosophen sowie Vertretern anderer Disziplinen ein Forum zu bieten, um sich über aktuelle Forschungsergebnisse ebenso wie über die sich ergebenden Implikationen für die Praxis auszutauschen. Wie der Untertitel „Wirtschaftsethische und moralökonomische Perspektiven …“ jeweils anzeigt, werden dabei zwei besondere Perspektiven eingenommen. Es geht einerseits (Stichwort Wirtschaftsethik) nicht in erster Linie um allgemeine Fragen der Angewandten Ethik. Vielmehr erfolgt jeweils eine Engführung auf wirtschaftlich relevante Aspekte. Andererseits (Stichwort Moralökonomik) stellen sich die Autoren der vorliegenden Reihe immer wieder der Frage, wie mit den Methoden der Ökonomik auch und gerade moralische Probleme besser erklärt und vertiefend analysiert werden können: Moralökonomik kann in Langfassung auch verstanden werden als die Gesamtheit aller wissenschaftlichen Untersuchungen, die durch die Anwendung bewährter und neuerer ökonomischer Methoden zu einem besseren Verständnis moralisch relevanter Fragen und Probleme beitragen (können).

Vorwort

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Wir haben wiederholt betont und tun dies ganz bewusst auch hier: „Den“ ökonomischen Ansatz gibt es nicht. Es geht auch innerhalb der Ökonomik um einen fruchtbaren Wettbewerb um die besten Analysemethoden. Wenn aber, diesen Fragen vorgelagert, das Forschungsprogramm der Ökonomik – als solches Forschungsprogramm vermeintlich festgelegt auf den Eigennutz und andere moralisch höchst umstrittene Phänomene – ausgerechnet auf Fragen der Moral angesetzt wird, so führt dies immer wieder zu Irritationen. Diese Irritationen zeigen sich bemerkenswerterweise nicht nur bei Fachfremden, sondern bisweilen auch unter Ökonomen, wie die Debatte um den jüngeren Forschungszweig der Behavioral Economics zeigt. Auch hier betonen wir erneut, dass die vorliegende Buchreihe angetreten ist, solchen Irritationen mit inhaltlicher Überzeugungsarbeit zu begegnen. Keine Frage: Auch die bestehenden Limitationen einer ökonomischen Analyse der Moral sind immer wieder im Dialog neu auszuloten. Zum Gelingen des letztlich auf wechselseitiges Lernen angelegten Vorhabens hat auch dieses Mal wieder die Akademie Franz Hitze Haus in Münster wesentlich beigetragen. Wir sind dem Leiter des Hauses, Herrn Prof. DDr. Thomas Sternberg, für die außerordentlich harmonische Zusammenarbeit und großzügige Unterstützung bei der Durchführung der Tagung sehr dankbar. Ganz besonders danken wir Frau Prof. Dr. Mechthild Schrooten, Hochschule Bremen, die an dieser Tagung aufgrund des besonderen Themenzuschnitts als Kooperationspartnerin mitgewirkt hat. Bei der inhaltlichen Vor- und Nachbereitung konnten wir – in projektbezogenen Einzelgesprächen, durch weitergehende Hinweise und auf vielfältige andere Weise – je nach fachbezogener Fragestellung immer wieder auf guten Rat aus dem disziplinenübergreifend besetzten Beraterkreis zurückgreifen: Den Herren Prof. Dr. Dr. Karl Homann, Prof. Dr. Dr. Christian Kirchner, LLM., Prof. Dr. Michael Schramm, Prof. Dr. Dr. h.c. Jochen Schumann, Prof. Dr. Viktor Vanberg und Prof. Dr. Josef Wieland danken wir an dieser Stelle sehr herzlich für die inzwischen langjährige idelle bzw. inhaltliche Unterstützung. Münster, im August 2012

Detlef Aufderheide Martin Dabrowski

Inhaltsverzeichnis Michael Schramm Macht Gleichheit glücklich? Ein Beitrag zum „messy business“ der Entwicklung integrativer Wirtschaftsindikatoren ........................................

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Björn Bünger Macht Gleichheit glücklich? Kommentar aus Perspektive der Glücksökonomik (Korreferat) .......................................................................................................

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Franz-Joseph Post Der Herzog von Richelieu spielt „Ultimatum Game“? (Korreferat) .......................................................................................................

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Alexander Lenger und Nils Goldschmidt Effizienz oder Konsens? Einige prinzipielle Überlegungen zum Verhältnis zweier Grundkategorien ökonomischen Denkens ....................

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Peter Schallenberg und Arnd Küppers Glück und Gerechtigkeit. Effizienz und Konsens. Anmerkungen aus Sicht einer theologischen Ethik (Korreferat) .......................................................................................................

81

Rüdiger Wilhelmi Konsens durch Effizienz – Ordnungsökonomik als Utilitarismus? (Korreferat) .......................................................................................................

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Johannes Hirata Zum systematischen Stellenwert von Wirtschaftswachstum: Ziel, Mittel oder weder noch? ........................................................................... 105 Eric Christian Meyer Wachstum – Kein Ziel, sondern Ergebnis wirtschaftlichen Handelns (Korreferat) ....................................................................................................... 131 Joachim Wiemeyer Die Bedeutung wirtschaftlichen Wachstums aus christlich-sozialethischer Sicht (Korreferat) ....................................................................................................... 139

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Inhaltsverzeichnis

Oliver Lerbs und Ulrich van Suntum Neue oder ergänzende Kenngrößen für die Beurteilung des ökonomischen und sozialen Erfolgs einer Gesellschaft ............................................................. 151 Georg Erber Lebensqualitätsmessung durch die OECD. Eine Alternative zum Bruttoinlandsprodukt als Wohlstandsindikator? (Korreferat) ....................................................................................................... 179 Jan S. Voßwinkel Probleme der Suche nach neuen Kenngrößen für den ökonomischen und sozialen Erfolg einer Gesellschaft (Korreferat) ....................................................................................................... 193 Mechthild Schrooten Nachhaltiges Wachstum: Die Berücksichtigung ökologischer Fragestellungen bei der Wohlfahrtsmessung ............................................................................... 199 Andreas Lienkamp Kein Glück ohne Nachhaltigkeit (Korreferat) ....................................................................................................... 217 Wolf-Gero Reichert Wohlfahrt und/oder Nachhaltigkeit? Sozialethische Einwürfe (Korreferat) ....................................................................................................... 229 Autorenverzeichnis .................................................................................................. 239

Macht Gleichheit glücklich? Ein Beitrag zum „messy business“ der Entwicklung integrativer Wirtschaftsindikatoren Von Michael Schramm In den Vereinigten Staaten besitzt das reichste eine Prozent der Bevölkerung 37,1 % des Privatvermögens, während den unteren 80 Prozent der Bevölkerung lediglich 12,3 % des Privatvermögens gehören (Stand 2009)1. Mit diesen (nur exemplarisch herausgegriffenen) Zahlen verbinden sich mindestens zwei systematische Fragen2: 1. Ist diese (Vermögens-)Ungleichheit das Zwischenergebnis einer „Smith Economy“, in der die „invisible hand“ nicht nur produktiv zu ökonomischer Effizienz führt, sondern auf die lange Sicht auch distributiv zu mehr „Wohlstand für alle“ (möglicherweise bei steigender Ungleichheit)? Oder ist die Ungleichheit eher Ergebnis einer „Darwin Economy“, in deren sozialdarwinistischer Evolution sich nicht die Besten, sondern die Ruchlosesten durchsetzen und bereichern, ohne dass für die unteren Schichten nennenswerte Krümel vom reich gedeckten Tisch der Reichen herabfallen würden? Möglicherweise ist die Vermutung nicht unplausibel, dass unser aktuelles Wirtschaftssystem sowohl Elemente einer „Smith Economy“ als auch einer „Darwin Economy“ miteinander verbindet. Eine zweite Frage schließt sich an: 2. Was bedeuten die oben genannten Zahlen zur Ungleichheit in Bezug auf das Glück der Bevölkerungsgruppen? Sind die 80 Prozent vergleichsweise unglücklich? Ist wenigstens das eine (reichste) Prozent der Bevölkerung glücklich? Der Bankenexperte Hans-Peter Burghof hat nach der Finanzkrise 2008 selbst das Letztere bezweifelt: „Man hat [...] das Gefühl, [...] dass [...] man im Grunde genommen da zu einem Vulgärkapitalismus gekommen ist [...]. Denn sehr glücklich sind diese Banker in New York ja auch nicht gewesen. Die sind dem Geld hinterher gerannt, bis ihnen der

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Schulz (2011), S. 74. Ein solches Ausmaß an Ungleichheit gab es zuletzt vor etwa hundert Jahren. 2 Mit den folgenden Stichworten „Smith Economy“ und „Darwin Economy“ greife ich die Terminologie bei Frank (2011a) und Frank (2011b) auf.

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Michael Schramm Atem ausgegangen ist. Häufig machen die das nur wenige Jahre, weil du das nicht lange aushältst. [...] Glücklich hat das nicht gemacht, es hat reich gemacht“ 3.

Wie dem auch sei, ich werde in diesem Beitrag versuchen, mich den beiden Stichwörtern im Titel – „Gleichheit“ und „Glück“ – systematisch zu nähern und ihre Relevanz für ein Wirtschaftssystem, das lebensdienlich für alle Beteiligten sein sollte, zu klären. Ich will dabei gleich vorausschicken, dass ich diesbezüglich insbesondere die konzeptionellen Überlegungen des Nobelpreisträgers Amartya Sen als wichtig erachte4.

I. Glück als Endzweck? In den neueren Debatten um integrative(re) Wirtschaftsindikatoren zeichnen sich zwei Tendenzen ab, wie man den guten alten Indikator des BIP (Bruttoinlandsprodukt; Gross Domestic Product, GDP) ergänzen oder ersetzen sollte: – Die eine Richtung arbeitet daran, den klassischen Indikator des BIP durch weitere Indikatoren zu ergänzen. Der „SSFC-Report“ (Stiglitz-Sen-Fitoussi Commission) vom September 2009 gilt als „Meilenstein in dieser Debatte“5. Er hat drei Gebiete herausgearbeitet, die ein umfassenderes Indikatorensystem berücksichtigen sollte: Wirtschaftsleistung („Classical GDP Issues“), Lebensqualität („Quality of Life“) und Nachhaltigkeit („Sustainable Development and Environment“). Ich komme später hierauf zurück. – Die andere Richtung ersetzt das BIP durch einen absoluten Schlussstein aller Erfolgsbewertungen: das Glück. Das subjektive Glück der Menschen wird hier zu dem schlussendlichen Endzweck aller Unternehmungen. So schreibt etwa Richard Layard: „If we are asked why happiness matters, we can give no further, external reason. It just obviously does matter. [...] Happiness is that ultimate goal because, unlike all other goals, it is self-evidently good“6.

___________ 3

Hans-Peter Burghof (2008): Interview in „SWR1 Leute“ vom 2. Oktober 2008. Download: http://www.swr.de/swr1/bw/programm/leute/-/id=1895042/nid=1895042/did =3881694/xi9i7n/index.html (ab 22:20 min.). Diese Vermutung müsste natürlich eigentlich mit statistischen Zahlen belegt werden. Sie ist aber gleichwohl alles andere als unplausibel. 4 Sein bemerkenswertes Buch „The Idea of Justice“ (Sen 2009) ist zwar ein fast undurchdringlicher Wald unzähliger Gedanken, aber es macht mit der Polydimensionalität des menschlichen Lebens ernst und verfällt nicht der Illusion, man könne mit einem einzigen Prinzip oder „Rezept“ alle Menschheitsprobleme „auf einen Streich“ aus der Welt schaffen. 5 SVR/Conseil (2010), S. 4. 6 Layard (2005), p. 113.

Macht Gleichheit glücklich?

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Die Frage drängt sich auf, ob diese Endzweck-Diagnose wirklich zutreffend ist. Dazu gleich. Zunächst aber einige Bemerkungen zum klassischen Indikator: dem BIP und seinem Wachstum.

1. Wachstum? Das Wachstum des BIP ist in den letzten Jahren als der klassische Schlüssel und Maßstab für das menschliche Wohlergehen in den wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskursen ins Gerede gekommen. Gleichwohl beherrscht das Wachstum des BIP nach wie vor die politischen Diskussionen. Und in der Tat: Die Tatsachen sind beeindruckend. Nachdem die Welt seit der Geburt Christi fast zweitausend Jahre lang überhaupt kein Wirtschaftswachstum zu verzeichnen hatte, explodierte die wirtschaftliche Leistung vor allem in den westlichen Ländern. Seit knapp zwei Jahrhunderten leben wir in der Welt eines enormen wirtschaftlichen Wachstums: Die Weltwirtschaft produziert heute etwa das Achtundsechzigfache als im Jahr 18007. Und obwohl in dieser Zeit die Weltbevölkerung stark angewachsen ist und wohl weiter wachsen wird – zwischen 1800 und 2050 wird sich die Zahl der Menschen von 0,9 vermutlich auf 9,0 Milliarden verzehnfachen – ist auch das Pro-Kopf-Einkommen weltweit in beeindruckender Weise gewachsen: Es ist heute mehr als neunmal so hoch wie 18208. Eine zweifelsohne beeindruckende Bilanz. Gleichwohl ist ein erbitterter Streit um dieses Wirtschaftswachstum entstanden. So schreibt etwa Karl-Heinz Paqué in seinem Buch „Wachstum!“: „Wachstum […] ist nicht der falsche Weg. Im Gegenteil, es ist der einzige Weg, wie überhaupt im Weltmaßstab die großen Ziele der Menschheit erreicht werden können. […] Es hat […] als politisches Ziel nicht nur wirtschaftliche, sondern auch moralische Bedeutung“9. Und weiter: „Allein das globale Wachstum selbst kann jene Kräfte in Gang setzen, die den Wohlstand mit einer Stabilisierung des Klimas in Einklang bringt“10.

In völligem Kontrast hierzu diagnostiziert Meinhard Miegel im Wachstum eine pseudoreligiöse Ideologie: „Als Ideologie hat das Wachstum der Wirtschaft die prosaische Sphäre des HandfestIrdischen verlassen und Züge des Metaphysisch-Religiösen angenommen. Wachstum hat sich in gewisser Weise zur Religion unserer Zeit entwickelt und bedarf als solche

___________ 7 Umfangreiches Zahlenmaterial bei Maddison (2007). Vgl. auch Paqué (2010), S. 6; Jackson (2009/2011), S. 28. 8 Vgl. Paqué (2010), S. 6. 9 Paqué (2010), S. 1. 10 Paqué (2010), S. 96.

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Michael Schramm keiner rationalen Begründungen mehr“11. So sei „[a]n den Türstöcken der Moderne […] an die Stelle Gottes das Wachstum getreten, und dieser Gott Wachstum duldet keine fremden Götter neben sich“12. Aber es handle sich nicht nur um einen eifersüchtigen Gott, sondern auch um einen Gott, dem buchstäblich alles „zum Opfer“ falle: „Menschen, Tiere und Pflanzen; Landschaften, Städte und Kulturen; Familien, Freundschaften und Nachbarschaften; Nächsten- und Fernstenliebe; Lebenssinn und Lebensglück“13.

Während die einen also überhaupt keine Alternative jenseits des Wirtschaftswachstums sehen, wähnen sich andere bereits in einer „Postwachstumsgesellschaft“ und propagieren eine „Steady-State-Ökonomie“14. In dieser Lage tun wir gut daran, nicht einfach undifferenziert von dem „Wachstum“ zu sprechen, sondern das Pro und Contra unterschiedlicher Aspekte des wirtschaftlichen Wachstums etwas auszuloten. Mir scheinen zunächst einmal drei Punkte in diesem Zusammenhang relevant zu sein: (1) Wachstum ist nicht gleich Wachstum. Während ein „unendliches“ Wachstum im Bereich der organischen Natur wohl als Krankheit („Krebs“) einzustufen ist, gibt es im Bereich des immateriellen Wissenswachstums keine definierbare Grenze, die der Mensch nicht überschreiten sollte. Freilich bleibt alles menschliche Wissen fragmentarisch, doch immer ist mehr Wissen besser als weniger. Das wusste auch bereits Aristoteles: Während er bei den ethischen Tugenden die goldene „Mitte“ (mesotes) propagierte, galt dies für ihn nicht für die kognitiven („dianoetischen“) Tugenden, kurz: das Wissen. Vom Wissen kann man gar nicht genug haben. Nun ist aber auch zumindest ein Teil des Wirtschaftswachstums auf ein Anwachsen des Wissens zurückzuführen. Dies betont etwa Karl-Heinz Paqué: „Wachstum der Wirtschaft heißt vor allem Wachstum des Wissens“15. Wenn Friedrich August von Hayek den Marktwettbewerb als ein „Entdeckungsverfahren“ bezeichnet, dann ist das, was da neu entdeckt wird, nichts anderes als (neues) Wissen. Insoweit Wachstum ein immaterielles Wachstum des Wissens darstellt, wüsste ich nicht, was es gegen diese Art von Wachstum einzuwenden gäbe. (2) Die Armen brauchen Wachstum. Wir leben auf einer Erde mit krassen ökonomischen Ungleichheiten16. So leben 1,08 Mrd. Menschen von weniger als 1 $ täglich (= „absolute“ Armut); 44 % der Menschheit verfügen lediglich über ___________ 11

Miegel (2010), S. 56. Wieso Miegel hier meint, eine Religion bedürfe keiner rationalen Begründung mehr, ist mir völlig schleierhaft. 12 Miegel (2010), S. 57. 13 Miegel (2010), S. 56. 14 Klassisch bereits Daly (1972). 15 Paqué (2010), S. 1. 16 Hierzu: UNDP (2005), p. 24; Chen/Ravallion (2004), p. 153.

Macht Gleichheit glücklich?

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1,2 % des Weltprodukts; 850 Mio. Menschen sind chronisch unterernährt, wobei theoretisch eine Umverteilung von 0,67 % (= 300 Mrd. US-$) des Weltprodukts ausreichen würde, um dieses Verhungern zu beseitigen17; 250 Mio. Kinder zwischen 5 und 14 sind zu ausbeuterischer Kinderarbeit (incl. Militär; Prostitution usw.) gezwungen; und täglich sterben 50.000 Menschen, davon 29.000 Kinder, vorzeitig aufgrund ihrer Armut. Angesichts solcher Zahlen wäre es vollkommen zynisch und unverantwortlich, den Armen dieser Welt ein Wachstum zu verweigern. Es gibt für Verhungernde gar keinen anderen Weg, der Armut zu entkommen, als quantitatives Wirtschaftswachstum. Dies wird auch von Wachstumskritikern ausdrücklich hervorgehoben: „Es geht nicht darum, Wachstum überall aufzugeben. Es geht aber sehr wohl darum, dass die entwickelten Länder den ärmeren Ländern Raum für Wachstum lassen. Gerade in den ärmeren Ländern macht Wachstum tatsächlich einen Unterschied“18 – den Unterschied nämlich zwischen Leben und Tod. (3) Es gibt ökologische Grenzen eines Ressourcen verbrauchenden Wachstums. In einer endlichen Welt mit endlichen Naturressourcen kann es keinen unendlich steigenden Ressourcenverbrauch geben. Die bisherige Geschichte unserer Wachstumswirtschaft zeigt unter dem Strich allerdings, dass eine wachsende Wirtschaft auch immer mehr Energie braucht. So sind trotz aller Anstrengungen des Kyoto-Protokolls die weltweiten CO2-Emissionen seit 1990 um 40 Prozent angestiegen19. Die theoretische Lösung dieses Problems hat einen Namen. Er lautet ‚Entkopplung‘: Wenn man das weitere Wirtschaftswachstum von einem weiteren Wachstum des Ressourcenverbrauchs (vor allem der Energiereserven) abkoppeln würde, könnte die Wirtschaft weiter wachsen, ohne die ökologischen Grenzen einer endlichen Welt zu durchbrechen. Kurz gesagt kennzeichnet sich die empirische Lage dadurch, dass in den letzten Jahrzehnten zwar eine ‚relative‘ Entkopplung, nicht aber eine ‚absolute‘ Entkopplung gelungen ist. Wenn wir zum Beispiel die ‚Energieintensität‘ (also den Verbrauch an Primärenergie pro Einheit der weltweiten Wirtschaftsleistung) betrachten, dann können wir feststellen, dass sie in den letzten fünfzig Jahren kontinuierlich gesenkt werden konnte und heute etwa um 33 Prozent niedriger ausfällt als noch im Jahr 197020. Aber: „Relative Entkopplung ist nicht einmal die halbe Miete“21. ___________ 17

Diese Angabe bei Pogge (2002/2008), p. 3. 211. Jackson (2009/2011), S. 59. 19 Vgl. Jackson (2009/2011), S. 33. 20 IPCC (2007), p. 3. 21 Jackson (2009/2011), S. 84. Greifen wir als (vermutlich wichtigstes) Beispiel den durch CO2 bedingten Klimawandel heraus. Die Konzentration von Kohlendioxid (CO2) bzw. von CO2-Äquivalenten in der Atmosphäre der Erde hat in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich zugenommen und liegt derzeit (2011) effektiv bei etwa 385 ppm[v] (parts 18

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Michael Schramm

2. Glück? (1) Seit langem ist bekannt, dass es keinen linearen Zusammenhang zwischen objektivem Wirtschaftswachstum bzw. steigenden Einkommen einerseits und subjektivem „Glück“ (Wohlbefinden) andererseits gibt. Das Logo für diese Erkenntnis ist das „Easterlin-Paradox“. Ich komme darauf zurück. (2) Die Vertreter der ökonomischen Glücksforschung verweisen angesichts dieser Tatsache auf das (zunächst sehr plausible) Argument, dass doch der schlussendliche Endzweck aller menschlichen Anstrengungen in Wirtschaft und Gesellschaft nicht in der Mehrung des objektiven Wohlstands, sondern in der Mehrung des subjektiven Wohlbefindens liege, im „Glück“ also. Ähnlich wie der bereits zitierte Richard Layard schreibt etwa Bruno S. Frey: „[T]he ultimate goal of most human beings is to be happy. […] Happiness is considered by many to be the ultimate goal in life; indeed, virtually everyone wants to be happy“22.

Mit diesem Standpunkt, im (subjektiven) Glück den absoluten Endzweck aller menschlichen Unternehmungen zu sehen, stehen die Glücksökonomen in einer wirklich langen Tradition: – So hat bereits Aristoteles erklärt, dass „die Glückseligkeit […] das Wünschenswerteste ist, ohne dass irgend etwas anderes addressiert werden könnte. […] So scheint also die Glückseligkeit das vollkommene und selbstgenügsame Gut zu sein und das Endziel des Handelns“23. – Auch in diversen Religionen spielt das Glück (oder die „Glückseligkeit“) eine finale Rolle. So lautet etwa im klassischen Katholischen Katechismus die Antwort auf die Frage: „1. Wozu sind wir auf Erden?“: „Wir sind dazu auf Erden, dass wir den Willen Gottes tun, und dadurch in den Himmel kommen.“24. Und warum wollen wir unbedingt in den Himmel kommen? Auch hier gibt der Schüler-Katechismus eine klare Antwort: „Die Seligen im ___________ per million [by volume]), während sie in den letzten 800.000 Jahren niemals über 300 ppm(v) gelegen hatte. Und dieser Anstieg wird (vermutlich) weitergehen: Im Jahr 2006 stießen die OECD-Länder 13,6 Mrd. Tonnen CO2 aus und die Nicht-OECDLänder 15,4 Mrd. Tonnen CO2. Die amerikanische EIA (Energy Information Administration) schätzt für das Jahr 2030, dass dann die heutigen OECD-Länder 14,6 Mrd. Tonnen CO2 ausstoßen – also 1 Mrd. Tonnen mehr als heute – und die Nicht-OECD-Länder 25,8 Mrd. Tonnen CO2 – also 10,4 Mrd. Tonnen CO2 mehr als heute (Energy Information Administration (2009), Chapter 8, Table 15). Dabei setzen diese Schätzungen wohlgemerkt eine weitere „relative“ Entkopplung voraus. 22 Frey (2008), p. 1. 3. 23 Aristoteles (1984), S. 65 (1097 b 16.20). Daraus wird bei Frey/Frey Marti (2010), S. 8 (ohne Angabe des Fundorts bei Aristoteles): „Alle Menschen wollen glücklich sein“. 24 Erzbischöfliches Ordinariat Bamberg (o.J., vor 1955), S. 3.

Macht Gleichheit glücklich?

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Himmel genießen mehr Freuden, als sich aussprechen lässt: […] sie sind frei von jedem Übel […] und sind ganz glücklich“25. Dieses ungetrübte Glück ist also die himmlische Rendite all der mühseligen Investitionen („den Willen Gottes tun“) hier auf Erden. – Auch in diversen Ethikkonzeptionen dreht sich schlussendlich alles um das Glück. Einschlägig ist hier natürlich vor allem der Utilitarismus. So erklärt etwa John Stuart Mill: „Die Auffassung, für die die Nützlichkeit oder das Prinzip des größten Glücks die Grundlage der Moral ist, besagt, daß Handlungen insoweit und in dem Maße moralisch richtig sind, als sie die Tendenz haben, Glück zu befördern“26. Entscheidend ist für den Utilitarismus am Ende des Tages das „Durchschnittsglück“, wie Jeremy Bentham betont: „It is the greatest happiness of the greatest number that is the measure of right and wrong“27. – Selbst Immanuel Kant, dessen Moraltheorie des „kategorischen Imperativs“ ja gerade nicht auf den „hypothetischen Imperativen“ zur Erlangung von Glückseligkeit beruht, braucht schlussendlich doch auch die „Glückseligkeit“ als Schlussstein, um die Sache mit der Moral „abzurunden“: „Daher ist auch die Moral nicht eigentlich die Lehre, wie wir uns glücklich machen, sondern wie wir der Glückseligkeit würdig werden sollen“28. Und schließlich wird eben auch die Ökonomik zumindest von den Glücksökonomen als nichts anderes als eine Wissenschaft zur Mehrung des Glücks verstanden: „For a long time, economics has taken income as a suitable though incomplete proxy for human welfare. Happiness research shows that reported subjective well-being is a far better measure of individual welfare“29. „Economics is – or should be – about individual happiness“30.

(3) Die Frage, ob das subjektive Glück tatsächlich der optimale Schlüssel und Maßstab für das menschliche Wohlergehen ist oder doch nicht, ist nicht leicht zu beantworten. Ich neige zur Auffassung, dass das Glück einen sehr relevanten Indikator abgibt, obwohl einige Einschränkungen beachtet werden müssen, die zeigen, dass man das Glück nicht als den einzig selig machenden Maßstab zur Beurteilung von Gesellschaftszuständen ausgeben kann. Ich nenne exemplarisch drei Einschränkungen: ___________ 25

Erzbischöfliches Ordinariat Bamberg (o.J., vor 1955), S. 34. Mill (1864/1987), S. 203. Schon vorher Bentham (1823/1999), S. 234f. 27 Bentham (1789/1992), p. 229. 28 Kant (1788/2003), S. 175. Und er fährt fort: „Nur denn, wenn Religion dazu kommt, tritt auch die Hoffnung ein, der Glückseligkeit dereinst in dem Maße teilhaftig zu werden, als wir darauf bedacht gewesen, ihrer nicht unwürdig zu sein“ (ebd.), S. 175. 29 Frey (2008), p. 3. 30 Frey (2008), p. 3. 26

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Michael Schramm

– Zunächst einmal sagt das ermittelte „Durchschnittsglück“ nichts darüber aus, ob für einzelne Mitglieder einer Gesellschaft oder für Minoritäten schwere substanzielle Beeinträchtigungen ihrer Menschenrechte und Freiheiten existieren oder nicht: „But the same set of utility numbers may go, in one case, with serious violations of very basic human freedoms, but not in another. Or it may involve the denial of some recognized individual rights in one case but not in another. [...] There is something quite peculiar in the insistence that no intrinsic importance at all is given to anything other than utility or happiness“31.

– Des Weiteren ist zu beachten, dass Angaben zum Niveau des Glücks eine schlussendlich subjektive Angelegenheit sind. Ein brummiger Rhöner (wie ich) wird sein Glückslevel möglicherweise niedriger einschätzen als ein euphorischer Berliner32. – Ein wichtiger Punkt sind zudem verzerrte Glückswahrnehmungen, die sich aus Anpassungen bei Menschen, die sich in einer dauerhaften und hoffnungslosen Notlage befinden, ergeben: „It is through ‚coming to terms‘ with one’s hopeless predicament that life is made somewhat bearable by the traditional underdogs [...]. The practical merit of such adjustments for people in chronically adverse positions is easy to understand: this is one way of being able to live peacefully with persistent deprivation. But the adjustments also have the consequential effect of distorting the scale of utilities in the form of happiness or desire-fulfilment. In terms of pleasure or desire-fulfilment, the disadvantages of the hopeless underdog may thus appear to be much smaller than what would emerge on the basis of a more objective analysis of the extent of their deprivation and unfreedom“33.

Unter dem Strich würde ich aber trotz dieser gewichtigen Einschränkungen, die man auf jeden Fall im Auge behalten muss, sagen, dass Glück insofern einen wichtigen Indikator für das Gedeihen von Menschen darstellt, als es nicht nur für sich selbst steht, sondern als Maßstab dafür verstanden werden kann, ob wir unsere Ziele und Werte haben realisieren können oder ob nicht – und zwar unabhängig davon, um welche Ziele es sich inhaltlich handelt. Wichtig aber ist: „Glück“ ist ein außerordentlich wichtiger und hilfreicher, wohlgemerkt aber nicht der einzige Erfolgsindikator, den wir zu berücksichtigen haben34.

___________ 31

Sen (2009), p. 281f. Vgl. auch Wilkinson/Pickett (2009/2010), S. 22. 33 Sen (2009), p. 281f. 34 „Happiness, pleasure and pain have an importance of their own, but to treat them as general-purpose guides to all aspects of well-being would be, at least partly, a leap in the dark“ (Sen 2009), p. 286. 32

Macht Gleichheit glücklich?

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II. „Equality of What?“ Wenn in moralökonomischen Kreisen Debatten über „Gleichheit“ geführt werden, so geht es dabei fast immer um das Problem der Einkommens(un) gleichheit. Demgegenüber muss man allerdings sehen, dass von „Gleichheit“ in ganz unterschiedlicher Hinsicht gesprochen werden kann. Gesellschaftstheoretisch ist insbesondere darauf hinzuweisen, „that every normative theory of [society or] social justice that has received support and advocacy in recent times seems to demand equality of something – something that is regarded as particularly important in that theory“35.

– So setzt etwa die Gerechtigkeitstheorie von John Rawls mit einem Konzept der normativen Gleichheit bestimmter Ressourcen ein. Seine Konzeption ist insofern „egalitär“ konzipiert, als er „[d]ie Gleichverteilung [...] als Maßstab akzeptiert, weil sie zum Ausdruck bringt, wie Menschen zueinander stehen, wenn sie als freie und gleiche moralische Personen vorgestellt werden“36. Normativer Ausgangspunkt ist ein im gleichen Bürgerstatus begründeter egalitärer Liberalismus37. Das Basisargument für diesen zunächst egalitaristischen Zugang ist, dass die individuellen Fähigkeiten der Menschen (Intelligenz, Flexibilität, Selbstbewusstsein usw.) „das Ergebnis der Lotterie der Natur [seien], und das ist unter moralischen Gesichtspunkten willkürlich“38. Denn was kann ein von der Schicksalslotterie weniger Begünstigter 39 dafür, dass er nun mal weniger aufgeweckt ist als andere? Und weil er nichts dafür kann, dass er bei der Lotterie des Schicksals eine Niete gezogen hat, gibt es zunächst einmal keinen moralischen Grund dafür, dass er im Leben nun schlechter dastehen soll als diejenigen, denen ein Lotteriegewinn beschieden war. Rawls rückt aber aufgrund ökonomischer Argumente von dieser Gleichverteilung der Einkommen ab und hat daher Ungleichverteilungen (= höhere Einkommen für die Leistungsfähigen) befürwortet, allerdings nur dann, wenn auch die von der „Lotterie“40 des Schicksals weniger Begünstigten daraus einen Vorteil ziehen können (difference principle): Rawls’ Argumentation befürwortet Ungleichheiten aus ökonomischen Gründen, setzt aber zunächst einmal aus ethischen Gründen egalitaristisch an. – Bei Harry Frankfurt wird zwar „Gleichheit als moralisches Ideal“ abgelehnt, aber nur im spezifischen Sinn einer Ressourcen- oder Einkommensgleich___________ 35

Sen (2009), p. 291. Rawls (1993/1998), S. 395. 37 Es „sind die zwei Grundsätze [...] Ausdruck eines egalitären Liberalismus“ (Rawls 1993/1998), S. 70. 38 Rawls (1971/1979), S. 94; vgl. auch ebd., S. 32. 39 Rawls (1971/1979), S. 118. 40 Rawls (1971/1979), S. 94. 36

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heit: Abgelehnt wird nur der ökonomische Egalitarismus, also „the doctrine that it is desirable for everyone to have the same amounts of income and wealth (for short, ‚money‘)“41. Wenn Frankfurt aber ein gleiches Recht auf ein gutes Leben für alle Menschen einfordert, so wird auch hier eine normative Gleichheitsforderung erhoben: „Es kommt darauf an, ob Menschen ein gutes Leben führen, und nicht, wie deren Leben relativ zu dem Leben anderer steht“42. Oder wie die Philosophin Angelika Krebs formuliert: „Der Nonegalitarismus [...] versteht Gerechtigkeit [...] über absolute Standards“43. Im Hinblick auf solche Standards eines guten Lebens sind dann aber alle Menschen gleich zu behandeln44. – Auch Robert Nozick lehnt einen Egalitarismus im Hinblick auf das Einkommen bekanntlich zwar völlig ab, fordert aber ebenso entschieden die Gleichheit aller Bürger im Hinblick auf unveräußerliche Freiheitsrechte. Wie diese exemplarische Aufzählung zeigt, geht es nicht so sehr um die Frage: „Gleichheit – ja oder nein?“, sondern um die Frage „Gleichheit wovon?“. Auf diesen Punkt hat Amartya Sen unter der Überschrift „Equality of What?“ in seinen Tanner Lectures aus dem Jahr 1979 hingewiesen45.

III. Alles relativ! Wie wir die Dinge sehen Im Grunde ist alles relativ. Dies gilt nicht nur für Raum und Zeit („Relativitätstheorie“), sondern auch für die Wahrnehmungen des Menschen in der modernen Gesellschaft: – Menschliches Wahrnehmen funktioniert erstens, wie in Bezug auf ökonomische Tatbestände insbesondere die Behavioral Economics gezeigt hat, immer relativ (im Sinn von relational). Wir nehmen durch Vergleichen wahr. – Dies gilt nicht nur allgemein, sondern zweitens auch ganz speziell im Hinblick für die Wahrnehmung unseres Einkommens und des daraus resultierenden Glücks oder Unglücks („Easterlin-Paradox“). Zunächst aber zur Verhaltensökonomik. ___________ 41

Frankfurt (1983/1987), p. 21. Frankfurt (1997/2000), S. 41. 43 Krebs (2003), S. 242. 44 Dem Nonegalitarismus geht es gerade nicht um Einkommensgleichheit, wohl aber „um die Erfüllung eines absoluten oder nicht-komparativen Standards für alle (zu einem menschenwürdigen Leben gehört Nahrung, niemand soll hungern müssen)“ (Krebs 2000, S. 15). In diesem Sinn erklärt auch der Philosoph Wolfgang Kersting: „Der Sozialstaat ist dazu da, daß jeder Bürger genug bekommt“ (2000), S. 385. 45 Klassisch also: Sen (1980). 42

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1. Relationales Wahrnehmen – Erkenntnisse aus der Behavioral Economics Wichtige Erkenntnisse zur Relativität (Relationalität) unseres Wahrnehmens haben die Forschungen der Behavioral Economics46 hervorgebracht. Das klassische Experiment aus dem Bereich dessen, was man heute Behavioral Economics nennt, ist das „Ultimatum Game“47. Hier erhält ein „Proposer“ 10 $ oder € und kann sie auf sich und seinen Mitspieler, den „Responder“, aufteilen. Wenn der „Responder“ die Aufteilung annimmt, erhalten beide Seiten den vorgeschlagenen Betrag. Wenn der „Responder“ jedoch ablehnt, gehen beide leer aus.

Proposer

0

10 1

accepts

rejects

9, 1

0, 0

Abbildung 1: Das Ultimatum Game

Dieses Spiel ist unzählige Mal getestet worden und die empirischen Ergebnisse haben sich als ziemlich stabil erwiesen. Sie zeigen: – Der „Proposer“ gibt (deutlich) mehr als ein Homo Oeconomicus (aufgrund von Fairness-Interessen und/oder Angst vor Ablehnung). Dies ist aus Sicht eines klassischen Homo Oeconomicus irrational, denn wenn hier zwei ___________ 46

Zu nennen sind u.a. Ariely (2008); Bolton/Ockenfels (2000); Camerer/Loewenstein/Prelec (2005); Fehr/Falk (2002); Güth/Schmittberger/Schwarze (1982); Kahneman/Tversky (1979); Ockenfels (1999); Thaler/Sunstein (2009). 47 Erstmals: Güth/Schmittberger/Schwarze (1982): An Experimental Analysis of Ultimatum Bargaining, in: Journal of Economic Behavior and Organization 3 (1982), pp. 367–388. Ein einschlägiger Aufsatz hierzu ist: Forsythe/Horowitz/Savin/Sefton (1994).

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Homines Oeconomici gespielt hätten, hatte der „Proposer“-HO keinesfalls mehr als einen Dollar angeboten. – Anders als der Homo Oeconomicus opfern die „Responder“ Geld, das sie mitnehmen könnten, weil sie die Aufteilung als unfair ansehen. Auch dies ist aus Sicht des klassischen economic approach irrational, denn ein Homo Oeconomicus hätte selbstverständlich den einen angebotenen Dollar angenommen, da ein Dollar immer noch besser ist als gar kein Dollar. Faktisch aber schädigen sich „Responder“ selber, weil sie sich im Vergleich zum „Proposer“ ungerecht behandelt fühlen. So sieht ein typisches Ergebnis eines Ultimatum Game etwa folgendermaßen aus:

Abbildung 2: Ergebnisse im Ultimatum Game48

In unserem Zusammenhang entscheidend ist jedoch der folgende Umstand: Sowohl das empirische Verhalten des „Proposers“ als auch das des „Responders“ erfolgen aufgrund von (relativen) Vergleichen. Insbesondere die Reaktion des Zurückweisens seitens des „Responders“ zeigt sehr deutlich, dass Menschen meist nicht nach absoluten Standards entscheiden (im Gegensatz zum Homo Oeconomicus, dem es absolut besser erscheint, den einen Dollar nach Hause zu nehmen als mit leeren Taschen von dannen ziehen zu müssen), sondern sich gegebenenfalls sogar selber (monetär) schädigen, wenn sie sich im Vergleich zum „Proposer“ unfair behandelt fühlen. ___________ 48

Forsythe/Horowitz/Savin/Sefton (1994).

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2. Relativer Wohlstand – Anmerkungen zum „Easterlin Paradox“ In vielen Studien konnte nachgewiesen werden, dass bis zu einem bestimmten Pro-Kopf-Einkommen das persönliche Glücksempfinden mit steigendem Wohlstand deutlich zunimmt. Weniger arme Menschen sind im Durchschnitt glücklicher als solche, die hungern müssen. Das ist auch nicht verwunderlich, denn als biologische Wesen leiden wir Mangel, wenn bestimmte natürliche Grundbedürfnisse nicht befriedigt werden. Auch von daher bestätigt sich, dass die armen Länder dieser Erde ein echtes Wirtschaftswachstum dringend benötigen. Interessant ist aber nun die Tatsache, dass zusätzliches Einkommen die Lebenszufriedenheit nicht endlos erhöht: „Wenn ein Pro-Kopf-Einkommen von rund 15.000 US-Dollar erreicht ist, reagiert der Wert der Lebenszufriedenheit so gut wie überhaupt nicht mehr auf Zuwächse beim BIP, selbst dann nicht, wenn diese beträchtlich sind“49.

Diese Tatsache ist seit 1974 als „Easterlin Paradox“ bekannt50 und seither in vielen Studien bestätigt51. Der Glücksökonom Richard Layard beschreibt das Paradox folgendermaßen: „There is a paradox at the heart of our lives. Most people want more income and strive for it. Yet as Western societies have got richer, their people have become no happier“52.

Die Lebenszufriedenheit wird also nicht endlos durch zusätzliches Einkommen und Vermögen erhöht. Anders formuliert besteht keine lineare Beziehung zwischen Einkommen und Glück. Vielmehr sind wir mit dem Phänomen eines abnehmenden Grenznutzens konfrontiert53. Dieses Phänomen eines abnehmenden Grenznutzens erklärt auch die Tatsache, dass Superreiche mit der Akkumulation von weiterem Einkommen gar nicht mehr aufhören können: Da ihnen eine zusätzliche Summe von 100.000 $ möglicherweise weniger Nutzen stiftet als einem Ärmeren ein zusätzliches Einkommen von 100 $, sind sie gewissermaßen „gezwungen“, enorm große Zuwächse zu generieren, um wenigstens noch einen gewissen Zusatznutzen zu verspüren. Sind die absoluten Lebensbedürfnisse erst einmal gestillt, haben Menschen in der Konsequenz dann eben auch keinen absoluten (objektiven) Maßstab zur Beurteilung ihrer Lebenslage bzw. ihres Glücks. Hier schlägt nun die Stunde ___________ 49

Jackson (2009/2011), S. 59. Vgl. Easterlin (1974). Zusammenfassend: Easterlin (2001). 51 Es existieren auch kritische empirische Studien, beispielsweise Stevenson/Wolfers (2008). Allerdings haben Easterlin und Mitarbeiter auf diese Kritik bereits reagiert: Easterlin/Angelescu McVey/Switek/Sawangfa/Smith Zweig (2010). 52 Layard (2005), p. 3. 53 Frey/Frey Marti (2010), S. 49. 50

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der relationalen Wahrnehmung aller Dinge. Bei höherem Lebensstandard gewinnt immer mehr die relative Position zu den anderen Mitgliedern der eigenen Gesellschaft an Gewicht. Glück wird also relativ54.

IV. Diagnose: Umgekippt! Ungleichheit = Unglück? Eine weitergehende Diagnose, die sich in der neueren Literatur findet, besteht in der Hypothese, dass die Ungleichheit, die in diesem vergleichenden Vorgehen wahrgenommen wird, empirisch bereits so groß geworden sei, dass sie hauptsächlich Unglück produziere. Ich greife zwei Beispiele auf.

1. Darwin Economy? Eine in Bezug auf das gute alte Ziel „Wohlstand für alle“ (Ludwig Erhardt) konzeptionell herausfordernde Begriffsunterscheidung hat der Ökonom Robert H. Frank vorgelegt: (1) Die „Smith Economy“. Der Name Adam Smith steht für die Erkenntnis, dass der Marktwettbewerb bereits als solcher eine soziale Funktion haben kann. Dies wird von Frank ausdrücklich anerkannt: „Without question, Adam Smith’s invisible hand was a genuinely ground-breaking insight. Producers rush to introduce improved product designs and cost-saving innovations for the sole purpose of capturing market share and profits from their rivals. In the short run, these steps work just as the producers had hoped. But rival firms are quick to mimic the innovations, and the resulting competition quickly causes prices to fall in line with the new, lower costs. In the end, Smith argued, consumers are the ultimate beneficiaries of all this churning“55.

Was Frank hier beschreibt, ist genau derjenige Mechanismus, den von Hayek sehr treffend als „Entdeckungsverfahren“ bezeichnet hat56. Insoweit der Marktwettbewerb tatsächlich als „Entdeckungsverfahren“ funktioniert, kommt dieser „Smith-Wettbewerb“ seiner „Sozialfunktion“57 nach. Entgegen den Auffassungen von traditionell Liberalen – beispielsweise von Erich Hoppmann, der behauptet, dass dem Wettbewerb „ein Eigenwert zukommt“58 – geht das Konzept der „Smith Economy“ davon aus, dass der „Wettbewerb […] kein Selbst___________ 54

Genauer hierzu sowie zum Gewöhnungseffekt: Frey/Frey Marti (2010), S. 47–62. Frank (2011a), p. 6. 56 Hayek (1969). 57 Messner (o.J.), S. 27. 58 Hoppmann (1988), S. 239. 55

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zweck“59 ist, sondern – als Mittel, als Instrument – eine Sozialfunktion zu erfüllen hat. In diesem Sinn hat auch Alfred Müller-Armack von der „Solidaritätsfunktion des Wettbewerbs“60 gesprochen. Ein Wettbewerb ist, wenn er als „Entdeckungsverfahren“ funktioniert, im Hinblick auf die davon profitierenden Konsumenten eine soziale Veranstaltung. Frank betont allerdings ergänzend, dass sich diese Sozialfunktion des Wettbewerbs nicht immer und überall gleichsam automatisch ergebe. „But many of Smith’s modern disciples believe he made the much bolder claim that markets always harness individual self-interest to produce the greatest good for society as a whole. Smith’s own account, however, was far more circumspect. He wrote, for example, that the profit-seeking business owner ,intends only his own gain, and he is in this, as in many other cases, led by an invisible hand to promote an end which was no part of his intention. Nor is it always the worse for the society that it was not part of it.‘ Smith never believed that the invisible hand guaranteed good outcomes in all circumstances. His skepticism was on full display, for example, when he wrote, ,People of the same trade seldom meet together, even for merriment and diversion, but the conversation ends in a conspiracy against the public, or in some contrivance to raise prices.‘ To him, what was remarkable was that self- interested actions often led to socially benign outcomes. Like Smith, modern progressive critics of the market system tend to attribute its failings to conspiracies to restrain competition. But competition was much more easily restrained in Smith’s day than it is now. The real challenge to the invisible hand is rooted in the very logic of the competitive process itself“61.

Wir halten also erst einmal fest: Normativ stellt sich Frank also explizit auf die Seite des Smith-Konzepts. (2) Die „Darwin Economy“. Allerdings kann Robert H. Frank dieses normativ begrüßenswerte Modell in der Empirie unseres gegenwärtigen Wirtschaftssystems nur sehr bedingt wieder finden. Hier, so Frank, regiere faktisch ein anderer Mechanismus, nämlich derjenige, den Charles Darwin im brutalen Daseinskampf der Natur diagnostiziert (nicht: moralisch prämiert!) habe: Darwin’s „understanding of competition describes economic reality far more accurately than Smith’s“62.

Inwiefern? Frank rekurriert hier auf die (angeblich bei Darwin vorliegende) Differenz der Selektion von Gruppeninteressen und individuellen Interessen. (Dies ist mittlerweile in der heutigen Evolutionsbiologie zwar nicht mehr der entscheidende Unterschied63, doch muss uns das jetzt in unserem Zusammen___________ 59

Messner (o.J.), S. 27. Müller-Armack (1974), S. 127. 61 Frank (2011a), p. 7. 62 Frank (2011b). 63 Wie beispielsweise Richard Dawkins m.E. sehr überzeugend herausgearbeitet hat, ist das, was in der natürlichen Selektion langfristig überlebt, aber weder die Gruppe noch das Individuum, sondern das („egoistische“) Gen (vgl. Dawkins 1976). 60

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hang nicht wirklich interessieren.) Franks Punkt ist jedenfalls, dass sich das von Adam Smith ins Auge gefasste Ideal, dass sich die Verfolgung individueller Interessen über die „invisible hand“ des Wettbewerbsmechanismus ganz im Sinne der Gruppeninteressen, also zum Wohl der Allgemeinheit (bzw. der Konsumenten) auswirke, in der Welt Darwins nur als eher seltener Glücksfall darstelle: „Charles Darwin was one of the first to perceive the underlying problem clearly. One of his central insights was that natural selection favors traits and behaviors primarily according to their effect on individual organisms, not larger groups. Sometimes individual and group interests coincide […]. In other cases, however, mutations that help the individual prove quite harmful to the larger group. This is in fact the expected result for mutations that confer advantage in head-to-head competition among members of the same species“64.

Anders als „the standard invisible-hand narrative“65 behaupte, koinzidierten Individual- und Gruppeninteressen nur bisweilen, während der Regelfall heute eher darin bestehe, so Frank, dass sich einzelne Individuen auf Kosten der Allgemeinheit bereicherten: „Darwin understood that individual and group interests sometimes coincide, as in Smith’s framework. But Darwin also saw that interests at the two levels often conflict sharply. In those cases, he said, individual interests trump“66.

Der von Darwin in den evolutiven Prozessen der Natur erkannte Mechanismus sei, so Frank, auch für die evolutiven Prozesse der Gesellschaft bzw. der Wettbewerbswirtschaft signifikant und daher lehrreich: „Darwin’s insight can help us resolve a host of seemingly intractable economic problems in the United States, and in nations that have followed our lead“67.

Denn der Marktwettbewerb habe als solche nicht nur eine – erwünschte – produktive Seite, sondern auch eine – unerwünschte – destruktive Dimension: „Today, though, markets are far more competitive than ever, just as conservatives maintain, but they’re also hugely more wasteful. The apparent paradox is resolved once we recognize that market failure stems from the very logic of competition itself. As Darwin knew, when individual and group interests diverge, competition not only fails to promote the common good, it also actively undermines it“ 68.

Was Frank hier beschreibt, dürfte nichts anderes sein als das, was Karl Homann und Ingo Pies schon 1991 als „ruinösen Wettbewerb“ bezeichnet haben. Denn auch Homann/Pies unterscheiden von der Sache her eine „Smith ___________ 64

Frank (2011a), p. 7. Frank (2011a), p. 7. 66 Frank (2011b). 67 Frank (2011b). 68 Frank (2011b). 65

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Economy“ von einer „Darwin Economy“ und sprechen in diesem Zusammenhang von einer „Ambivalenz des Wettbewerbs“69: „Smith Economy“: „Nicht dem Wohl-Wollen der Anbieter, sondern dieser Logik des Wettbewerbs verdanken wir den Wohl-Stand breiter Bevölkerungsschichten, wie wir ihn nur in Marktwirtschaften antreffen. [...] Das Dilemma, in dem sich die Anbieter befinden, wird von der Gesellschaft mit guten Gründen eingerichtet, denn der Konkurrenzdruck führt dazu, daß es auf Märkten zu den für die Konsumenten so attraktiven Wettbewerbsleistungen kommt“70. „Darwin Economy“: „Diese Wettbewerbslogik weist aber nicht nur Vorteile auf. Sie ist auch mit Nachteilen verbunden [...]. Wer sich nicht an die Regeln des Wettbewerbs hält – und das heißt für die Marktanbieter im Prinzip nichts anderes als Gewinnmaximierung –, der wird mit wirtschaftlichem Ruin bestraft, und zwar unabhängig davon, ob er im Wettbewerb nicht mithalten konnte oder aus moralischen Gründen nicht mithalten wollte. Der Wettbewerb kann nicht zwischen fehlender Leistung und moralisch eigentlich erwünschter Zurückhaltung – etwa bei Waffenlieferungen oder Umweltverschmutzung – unterscheiden. Er bestraft beides gleichermaßen“71.

Die Ambivalenz des Marktwettbewerbs besteht darin, dass er einerseits – im Sinn der „Smith Economy“ – zum einen als ein „Entdeckungsverfahren“ funktioniert, das für die Gesellschaft insgesamt wünschenswert ist, dass er andereseits aber – im Sinn der „Darwin Economy“ – aufgrund derselben Dilemmalogik ruinöse Wettbewerbsprozesse erzwingt, wenn man die Märkte nicht ordnet. Marktwirtschaften folgen der von Schumpeter diagnostizierten Logik der „schöpferischen Zerstörung“. Das dürfte mehr oder weniger unstrittig sein. Der Streitpunkt liegt in der Frage, ob unser empirisch vorfindliches Wirtschaftssystem faktisch mehr Schöpferisches oder aber mehr Zerstörung produziere. Homann/Pies sehen die globale Wirtschaft per saldo als ein klares NichtNullsummen-Spiel, während Frank offenbar der Meinung zuneigt, dass das System, so wie es heute faktisch existiert, mehr zerstöre als schöpferisch hervorbringe. Sollte Franks Diagnose zutreffen, dann würde unser Wirtschaftssystem eine Ungleichheit produzieren, die weder von Rawls’ Differenzprinzip noch von Kerstings meritorischem Konzept mehr gedeckt wäre. Ich neige zu der Vermutung, dass diese Diagnose die negativen Seiten übertreibt. Und konzeptionell gibt es zum Wirtschaftssystem einer (sozialen) Marktwirtschaft ohnehin keine praktikable Alternative. Allerdings muss man ebenso klar und deutlich sagen, dass der aktuelle (Finanz-)Kapitalismus in Teilen tatsächlich als destruktiver „Vulgärkapitalismus“ daherkommt, etwa wenn man an bestimmte Äußerungen des früheren Lehman-CEOs Richard Fuld ___________ 69

Homann/Pies (1991), S. 610. Homann/Pies (1991), S. 610. 71 Homann/Pies (1991), S. 610. 70

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über sein Verständnis von Wettbewerb denkt. Im Jahr 2007 erklärte Fuld nämlich: Lehman is going to „squeeze some of our shorts [short-sellers], and squeeze them hard. Not that I want to hurt them. Don’t get that, please, cause that’s just not who I am. I’m soft, I’m lovable. But what I really want to do is that I want to reach in, rip out their heart and eat it before they die“72.

Mit einem solchen Verständnis von Marktwettbewerb befindet man sich ganz zweifelsohne in der Dimension einer „Darwin Economy“, die dann weder produktiv zu ökonomischer Effizienz noch distributiv zu mehr „Wohlstand für alle“ führt.

2. „The Spirit Level“ Im Jahr 2009 brachten die britischen Epidemiologen Richard G. Wilkinson und Kate Pickett ein Buch mit dem etwas merkwürdigen Titel „The Spirit Level“ („Die Wasserwaage“) heraus73. Darin verfechten sie mit Engagement ihre (natürlich ziemlich monokausale) „These […], dass die Ungleichheit die Ursache vieler sozialer und gesundheitlicher Probleme ist“, dass also „Ungleichheit eine Gesellschaft zersetzen kann“74. So haben „sozialer wie wirtschaftlicher Kollaps […] eine gemeinsame Ursache: die zunehmende Ungleichheit“75.

Die deutsche Übersetzung des Buches bringt diese These auf den kurzen Titel-Slogan: „Gleichheit ist Glück“. Näherhin untersuchen Wilkinson/Pickett die Korrelationen zwischen der Einkommens(un)gleichverteilung einerseits und diversen sozialen Problemen andererseits76. In zahlreichen Schaubildern werden dann die gefundenen Korrelationen abgebildet. Und die Ergebnisse sind zunächst einmal wirklich beeindruckend – man beachte in den Abbildungen vor allem die Position der USA (immer rechts oben). Am Ende des Tages ergeben sich doch starke Evidenzen für die Schlussfolgerung, dass Gleichheit oder Ungleichheit doch zumindest einen der relevanten Faktoren darstellt, die das Wohlergehen der Menschen ___________ 72 The Love of Money. Episode 1: The Bank that Bust the World (BBC 2009); see http://www.tradeitdontdateit.com/bbc-the-love-of-money-episode-1-the-bank-thatbust-the-world/ or http://www.youtube.com/watch?v=l0N_FX0kUMI&feature=related. 73 Der Titel wird – so weit ich sehe – nur an einer einzigen Stelle erklärt: „Wie mit einer Wasserwaage lässt sich die soziale Schieflage einer Gesellschaft analysieren“ Wilkinson/Pickett (2009/2010), S. 11. 74 Wilkinson/Pickett (2009/2010), S. 12. 75 Wilkinson/Pickett (2009/2010), S. 19. 76 Wilkinson/Pickett (2009/2010), S. 33.

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(mit) beeinflussen und daher mit ins Kalkül gesamtwirtschaftlicher Erfolgsindikatoren gezogen werden sollten. Einfach ignorieren kann man die frappierenden Korrelationen bei Wilkinson/Pickett jedenfalls nicht.

V. „A very messy business“ – Polydimensionales „Piecemeal Social Engineering“ Die bisherigen Ausführungen zeigen meines Erachtens, dass man sich über das genaue Vorgehen beim Geschäft der Entwicklung von zweckmäßigen Wirtschaftsindikatoren zwar streiten, sicher aber nicht monodimensional vorgehen kann: Weder reicht das BIP oder die Einkommens(un)gleichheit noch die ökologische Nachhaltigkeit oder das Glück aus, um ein halbwegs vollständiges und damit realistisches Bild vom tatsächlichen Gedeihen der Menschen zu erhalten77. Eines der größten Verdienste von Amartya Sen besteht meines Erachtens darin, unermüdlich darauf hingewiesen zu haben, dass wir – nicht nur in Bezug auf die Entwicklung geeigneter Wirtschaftsindikatoren, sondern auch ganz allgemein – die Probleme dieser Welt nicht mit einem einzigen (Entscheidungs-) Prinzip „auf einen Streich“ aus der Welt schaffen können. Das ist zwar eine Botschaft, die die Vertreter diverser Menschheitsbeglückungsindustrien gerne verbreiten, doch die Wahrheit ist, dass es die eine und dazu „saubere“ Lösung faktisch nicht gibt. Sen illustriert dieses Problem mit dem schlichten Beispiel einer Flöte, die einem von drei Kindern zugesprochen werden soll. „Let me illustrate the problem with an example in which you have to decide which of three children – Anne, Bob and Carla – should get a flute about which they are quarrelling. Anne claims the flute on the ground that she is the only one of the three who knows how to play it (the others do not deny this) [...]. In an alternative scenario, it is Bob who speaks up, and defends his case for having the flute by pointing out that he is the only one among the three who is so poor that he has no toys of his own. [...] In another alternative scenario, it is Carla who speaks up and points out that she has been working diligently for many months to make the flute with her own labour (the others confirm this)“78.

Nun kann man sich füglich streiten, welche der konkurrierenden Begründungen für eine angemessene (moralökonomische) Entscheidung die triftigste ist. Zunächst im Überblick:

___________ 77 78

Ein plurales Indikatorenset schlagen auch vor: Stiglitz/Sen/Fitoussi (2009). Sen (2009), p. 12f.

30

Michael Schramm Tabelle 1 Drei Kinder und eine Flöte Anne

Bob

Carla

Tatsachen

kann Flöte spielen

ist arm

hat die Flöte gebaut

Argumente

Nutzen (Glück) für Spielerin und Zuhörer (Utilitarismus); oder: teleologische Begründung (Aristoteles)

Gleichheit (normativer Egalitarismus)

property rights (Libertarianismus)

– Aristoteles, von dem das Illustrationsbeispiel der Zuteilung einer Flöte ursprünglich stammt, erachtet eine teleologische Begründung als die plausibelste: Die Flöte soll demjenigen gehören, der dem Zweck einer Flöte – nämlich (gut) gespielt zu werden – entsprechen kann79. Zu diesem Ergebnis käme (vermutlich) auch ein Utilitarist, der den größten sich ergebenden Durchschnittsnutzen, also das größte „Durchschnittsglück“ als relevanten Entscheidungsmaßstab ansehen würde. – Bob, das ärmste Kind, das sonst nichts hat, würde von einem normativen Egalitarier, für den größtmögliche Einkommensgleichheit als entscheidender normativer Verteilungsmaßstab angesehen würde, unterstützt werden. – Ein Libertärer hingegen würde ganz klar die property rights (Eigentumsrechte) als das entscheidungsrelevante Kriterium ansehen und die Flöte ihrer Erbauerin Carla zusprechen. Es zeigt sich, dass es bereits in diesem schlichten Beispiel sehr unterschiedliche und doch für sich genommen nachvollziehbare Kriterien gibt, um Dinge zu entscheiden. „The general point here is that it is not easy to brush aside as foundationless any of the claims [...]. The different resolutions all have serious arguments in support of them, and we may not be able to identify, without some arbitrariness, any of the alternative arguments as being the one that must invariably prevail“ 80.

Wenn man dieses Problem moralökonomisch konzeptionalisieren möchte, dann ist es meines Erachtens zweckmäßig, drei Ebenen der moralökonomischen Argumentation zu unterscheiden81: ___________ 79

Vgl. hierzu auch Sandel (2009), pp. 187f. Sen (2009), p. 14. 81 Vgl. hierzu bereits Schramm (2010), S. 26–30. 80

Macht Gleichheit glücklich?

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Tabelle 2 Drei Ebenen der Umsetzung von Moral Begründungsebene (justification level)

ethische Prinzipien

ideal

Anwendungsebene (application level)

lokale Angemessenheit im Falle widerstreitender Prinzipien

real

ethische Prinzipien Implementierungsebene (implementation level)

ökonomische Prinzipien rechtliche Prinzipien

aktual

...

Der Streit über die Frage, welches der diversen, in sich durchaus plausibel begründeten Verteilungsprinzipien (Begründungsebene) nun in diesem lokalen Fall der Zuteilung einer Flöte ethisch angemessen erscheint, findet auf der Anwendungsebene statt. Und auf der Implementierungsebene entscheidet sich dann aktual, ob in der tatsächlichen Zuteilung der Flöte dann überhaupt auf die ethische Dimension zurückgegriffen wird oder ob andere Entscheidungsprinzipien (etwa ökonomischer oder juristischer Art) zum Zuge kommen. Das grundsätzliche Problem besteht darin, dass das Geschäft all dieser Entscheidungsprozesse insofern als ein „messy business“ bezeichnet werden muss, als keine klaren (und allseits anerkannten) Vorrangregeln zwischen den möglicherweise gleich-gültigen Entscheidungslogiken existieren. In diesem Sinn schreibt der Philosoph Hilary Putnam zu praktischen Problemen: „What is important is that practical problems, unlike the idealized thought experiments of the philosophers, are typically ‚messy‘. They do not have clear-cut solutions, but there are better and worse ways of approaching a given practical problem. One cannot normally expect to find a ‚scientific‘ solution to a practical problem“ 82.

Was bleibt, ist ein step-by-step-Prozess des lokalen Entscheidens und des Lernens (aus eventuellen Entscheidungsfehlern) – also genau das, was Karl Popper „Piecemeal Social Engineering“ (im Unterschied zu einem „Utopian social engineering“) genannt hat und was man vornehmer auch als „Inkrementalismus“ oder salopper als „Durchwursteln“ (muddling through) bezeichnen könnte. Das Geschäft der Ermittlung zweckmäßiger Erfolgsindikatoren hat der Polydimensionalität des menschlichen Lebens Rechnung zu tragen. Es wird in___________ 82

Putnam (2004), pp. 28f. Ähnlich für den Begriff „local justice“ auch bereits Elster (1992), p. 15: „[L]ocal justice is above all a very messy business. To a large extent it is made up of compromises, exceptions, and idiosyncratic features“.

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Michael Schramm

sofern ein „messy business“ sein, als es keine allseits anerkannten und damit keine allseits klaren Vorrangregeln zwischen diesen vielfältigen und teils widerstreitenden Entscheidungslogiken („Gleichheit“; „Glück“; „Wohlstand“; ökologische „Nachhaltigkeit“ usw.) gibt. Wir werden step by step vorgehen (müssen) und hoffentlich aus unseren Erfahrungen (und Fehlern) lernen.

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Macht Gleichheit glücklich? Kommentar aus Perspektive der Glücksökonomik – Korreferat zu Michael Schramm – Von Björn Bünger

I. Einleitung „Macht Gleichheit glücklich?“1 Einige der Ausführungen von Michael Schramm zu dieser Frage2 sollen im Folgenden aus Perspektive der ökonomischen Glücksforschung kommentiert werden. Dazu wird wie folgt vorgegangen: Im zweiten Abschnitt wird zu den von Schramm angesprochenen Problemen der Verwendung von selbstberichtetem Glück (self-reported happiness) als Indikator für die Beurteilung von Gesellschaftszuständen Stellung bezogen. Im dritten Abschnitt wird gezeigt, dass die Studie „The Spirit Level“ von Wilson und Pickett3 aus Perspektive der Glücksökonomik wenig zur Beantwortung der Ausgangsfrage beiträgt. Der vierte Abschnitt rundet den Beitrag mit einem Ausblick ab.

II. Selbstberichtetes Glück zur Beurteilung von Gesellschaftszuständen Michael Schramm4 vertritt die Auffassung, dass menschliches Glück nur ein relevanter Indikator unter anderen für die Beurteilung von Gesellschaftszuständen sein sollte. Er gibt exemplarisch drei Einschränkungen an, die dagegen sprechen, (selbstberichtetes) Glück als den einzigen Maßstab zu verwenden: ___________ 1

Für diesen Beitrag muss es genügen, Glück mit „gelingendem Leben“ gleichzusetzen (und damit vom „Zufalls-“Glück abzugrenzen). Zur Bedeutungsgeschichte des menschlichen Glücks siehe McMahon (2006). 2 Vgl. Schramm (2012), in diesem Band. 3 Wilson/Pickett (2011). 4 Vgl. Schramm (2012), in diesem Band.

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(i) Das „Durchschnittsglück“ einer Gesellschaft berücksichtigt die Situation von Minderheiten nur ungenügend. (ii) Die Angaben zum Glücksniveau werden von den jeweiligen Temperamenten und Charaktereigenschaften der Individuen beeinflusst. (iii) Anpassungsprozesse an erfahrenes Leid können zu verzerrten Glückswahrnehmungen führen. Alle drei Einwände sind für sich genommen schlüssig, können jedoch bei der Verwendung von selbstberichtetem Glück als Indikator in der Praxis umgangen oder zumindest abgemildert werden. Zunächst zu den letzten beiden Einwänden: Eine Verzerrung der Ergebnisse durch die unbeobachtbare Heterogenität in Folge individuell unterschiedlicher Temperamente (ii) oder Anpassungsprozesse (iii) kann durch Anwendung entsprechender ökonometrischer Techniken verhindert oder zumindest vermindert werden. Hier bietet sich beispielsweise die Verwendung von Paneldesigns 5 oder Vignettenstudien6 an. Hier stellt das Problem der Datenverfügbarkeit allerdings oft eine bindende Restriktion dar und der Empiriker wird oft in den sprichwörtlichen sauren Apfel beißen und sich fragen müssen, ob es besser ist mit suboptimalen Datensätzen zu arbeiten oder die Studie besser ganz sein zu lassen. Zum einen existieren nur wenige Panelstudien (wie das britische BHPS oder das deutsche GSOEP), wesentlich weniger jedenfalls, als es inzwischen Querschnittsstudien gibt. Zum anderen sind auch die Vignettenstudien sehr aufwendig und damit wenig verbreitet beziehungsweise schwierig umzusetzen. Für diese beiden Probleme gibt es also nur aufwändige oder gegebenenfalls gar keine Lösungen. Anders sieht es jedoch für den ersten Einwand aus: Der Einwand gegen die Verwendung des Durchschnittsglücks (i) richtet sich nicht so sehr gegen die Verwendung von Glück, sondern von Durchschnittswerten allgemein. Er wäre beispielsweise genauso ein Argument gegen die Verwendung des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf als Indikator für gesellschaftlichen Wohlstand. Diese Einschränkung kann vermieden werden, indem man sich vom klassischen utilitaristischen Kalkül (Maximierung des Durchschnittsglücks oder des Gesamtglücks) löst. So könnte man die Situation von Randgruppen explizit berücksichtigen und Gesellschaften beispielsweise ausschließlich nach den berichteten Glücksminima beurteilen oder die Bedeutung derjenigen, die sehr unglücklich sind, stärker gewichten. Diese besondere Berücksichtigung der Randgruppen, die sich beispielsweise auch in der christlichen Option für die Armen oder in der Rawls’schen Gerechtigkeitskonzeption findet, lässt sich ___________ 5 6

Vgl. Cameron/Trivedi (2005), S. 9f. und 700. Vgl. zu einer kritischen Diskussion van Praag/Ferrer-i-Carbonell (2010), S. 72ff.

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relativ einfach in entsprechende Studien einbauen. Eine Lösung wäre hier also leicht umsetzbar.7

III. Anmerkungen zu „The Spirit Level“ Michael Schramm verwendet in seinem Beitrag8 die Studie „The Spirit Level“ von Wilson und Pickett9 als Beispiel für eine empirische Auseinandersetzung mit der Frage „Macht Gleichheit glücklich?“. Schramm weist auf die angesprochene Problematik des Studiendesigns explizit hin. Dennoch hält er fest, dass die „frappierenden Korrelationen“, die Wilson und Pickett berichten, nicht zu ignorieren seien. Um die Frage, ob Gleichheit glücklich macht, der empirischen Analyse zugänglich zu machen, müssen drei Dinge geklärt werden: Erstens, wie ist das abstrakte Konzept der Gleichheit für die Analyse handhabbar zu machen? Zweitens, wie kann selbiges für Glück erfolgen, und drittens, wie kann der kausale Zusammenhang zwischen diesen beiden Größen nachgewiesen werden? Im Folgenden soll gezeigt werden, wie im „Spirit Level“ mit diesen Fragen umgegangen wird.

1. Messung von Gleichheit Während Gleichheit als abstraktes Konzept einfach zu erfassen ist, beginnen die Schwierigkeiten dort, wo Abweichungen von ihr gemessen werden sollen.10 Die verschiedenen Maße der Gleichheit und Ungleichheit (wie Gini-Koeffizient, Atkinson-Maß usw.) messen natürlich alle unterschiedliche Aspekte von Ungleichheit und kommen demnach auch in vielen Fällen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Hinzu kommt, dass Gleichheit in verschiedensten Dimensionen des menschlichen Zusammenlebens untersucht werden kann. In der empirischen Praxis beschränkt man sich allerdings aus Gründen der Datenverfügbarkeit zum Großteil auf die Berücksichtigung der Einkommensungleichheit oder Vermögensungleichheit. Auch Wilson und Pickett beschränken sich auf die Messung der Einkommensungleichheit. Als (Un-)Gleichheitsmaß verwenden sie das Verhältnis der ___________ 7 Es sei allerdings angemerkt, dass die Verwendung des arithmetischen Mittels oder des Medians der Glücksantworten als Messgröße in der Glücksforschung derzeit (noch?) weit verbreitet ist. 8 Vgl. Schramm (2012), in diesem Band. 9 Wilkinson/Pickett (2011). 10 Vgl. Moran (2003), S. 353.

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Summe der Einkommen der 20 % einkommensstärksten zur Einkommenssumme der 20 % einkommensschwächsten Mitglieder der Gesellschaft.11

2. Messung von Glück Für die Messung des Glücks bestehen verschiedene Möglichkeiten. Bei der Glücksmessung können individuelle oder von außen vorgenommene Bewertungen herangezogen werden. Oft wird eine Bewertung nach diesen beiden Maßstäben auch ähnlich ausfallen. In einigen Fällen hingegen werden die Bewertungen beispielsweise aufgrund von „quiet acceptance of deprivation and bad fate“12 deutlich voneinander abweichen.13 Stellt man die Selbsteinschätzung der betroffenen Personen in den Vordergrund, so liegt es nahe, in Umfragen erfasste Selbstauskünfte zu berücksichtigen.14 Diese happiness surveys sind methodisch nicht unumstritten, werden aber in der empirischen Glücksforschung weitgehend akzeptiert.15 Der deutsche Titel „Gleichheit ist Glück“ des „Spirit Level“ legt nahe, dass von den Autoren der Zusammenhang zwischen Gleichheit und Glück untersucht wird.16 Ausgerechnet den direkten Zusammenhang zwischen Einkommensungleichheit (oder anderen Formen sozialer (Un-)Gleichheit) und selbstberichtetem Glück untersuchen sie jedoch nicht. Man könnte nun vermuten, dass diese Untersuchung unterbleibt, weil Wilkinson und Pickett die Messung des Glücks als selbstberichtetes Glück grundsätzlich ablehnen. Diese Annahme lässt sich jedoch nicht stützen, da sie selbstberichtetes Glück für ihre Analysen verwenden. So messen sie für andere Fragestellungen das Glücksniveau als Anteil der Befragten, die auf einer vierstufigen Skala angeben, „ziemlich glücklich“ oder „sehr glücklich“ zu sein.17 ___________ 11

Vgl. Wilkinson/Pickett (2011), S. 15ff. Sen (1984), S. 308. 13 Siehe beispielsweise den von Sen (1984) geschilderten Fall indischer Witwen. – Dies würde dem in Abschnitt II. angesprochenem Fall (iii) verzerrter Glückswahrnehmungen entsprechen. 14 Dies scheint zumindest bei großen Personenzahlen derzeit das einzig praktikable Vorgehen. Andere Möglichkeiten der Messung des erfahrenen Glücks (beispielsweise Beurteilungen durch Dritte, Messung neurophysiologischer Zustände) lassen sich (bisher) nur in kleinerem Rahmen realisieren. 15 Zu einer Diskussion der Vor- und Nachteile der Nutzung subjektiver HappinessDaten siehe beispielsweise van Praag/Ferrer-i-Carbonell (2008, 2010), Frey/Stutzer (2000) und Senik (2005). 16 Vgl. Schramm (2012), in diesem Band. 17 Wilson/Pickett (2011), S. 6ff. übernehmen diese Operationalisierung von Layard (2005), S. 242. Die Werte entstammen dem World Values Survey (WVS). Die Befrag12

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3. Messung der kausalen Wirkung von Gleichheit auf Glück Mit der Frage „Macht Gleichheit glücklich?“ ist nach einer bestimmten Wirkungsrichtung oder Kausalität gefragt.18 Wie in vielen anderen empirischen Studien werden im „Spirit Level“ allerdings nicht Kausalität, sondern lediglich Korrelationen nachgewiesen. Wilkinson und Pickett treffen Aussagen zur Kausalität zwischen Ungleichheit und schlechtem Gesundheitszustand, Ungleichheit und sozialen Problemen19 sowie zwischen Ungleichheit und Vertrauen innerhalb der Gesellschaft20. Da sie sich jedoch nicht zum Zusammenhang zwischen Einkommensungleichheit und selbstberichtetem Glück äußern, kann die Ausgangsfrage nicht beantwortet werden. Selbst wenn ein (linearer) statistisch signifikanter Zusammenhang gezeigt würde, könnte nicht gefolgert werden, dass Glück aus Gleichheit folgt.21 Stattdessen könnte auch eine umgekehrte Wirkungsrichtung (oder wechselseitige Beeinflussung) vorhanden sein oder gar kein direkter Zusammenhang zwischen den beiden Größen bestehen. 22 Um sich dem Phänomen Kausalität empirisch zu nähern sind u.a. Längsschnitt- oder Paneldaten erforderlich, in denen die zeitliche Abfolge der erhobenen Daten nachvollziehbar ist. In ökonometrischen Studien kann dann zumindest auf so genannte Granger Kausalität23 getestet werden.24

___________ ten geben an, ob sie „very happy“, „quite happy“, „not very happy“ oder „not at all happy“ sind. 18 Die Frage zielt plausiblerweise nicht darauf ab, ob Gleichheit der einzige glücksförderliche Faktor ist, sondern ob ceteris paribus eine höhere Gleichheit ein höheres Glücksniveau bedingt. Der unterstellte Zusammenhang ist also nicht monokausal. 19 Wilkinson/Pickett (2011, S. 190–196) interpretieren ihre Ergebnisse so, dass Ungleichheit wahrscheinlich jeweils die Ursache ist. 20 Auch hier argumentieren Wilkinson/Pickett (2011, S. 54–57), dass Ungleichheit die Ursache ist. 21 Vgl. beispielsweise Dolan/Peasgood/White (2008), S. 96 und Hirata (2011), S. 26. 22 Der letztgenannte Fall kann auftreten, wenn eine dritte Größe im Hintergrund beide Variablen beeinflusst. Vgl. hierzu das klassische Beispiel bei Scriven (1959), S. 480: Die fallende Anzeige eines Barometers und das Aufziehen eines Sturms verursachen sich nicht gegenseitig, sondern werden beide durch das Phänomen des fallenden Luftdrucks hervorgerufen. 23 Granger Kausalität liegt vor, wenn ein Modell, dass die vergangenen Ausprägungen einer unabhängigen Variable enthält, die jetzigen Ausprägungen einer abhängigen Variable besser erklärt als ein ansonsten gleiches Modell, dass diese Werte nicht beinhaltet, vgl. Granger (1969). Zu anderen Vorgehensweisen mit Kausalität in der Ökonomik siehe beispielsweise Hoover (2008). 24 Der Schluss von der Granger Kausalität auf Kausalität erfordert immer über die empirischen Daten hinausgehende weitere Informationen.

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In seiner Re-Analyse der Ergebnisse des „Spirit Levels“ findet Christopher Snowdon allerdings mit den von Wilson und Pickett verwendeten Datensätzen und der von ihnen angewandten Methodik (Pearson-Korrelationsanalysen25) keinen statistisch signifikanten Zusammenhang zwischen selbstberichtetem Glück und Einkommensgleichheit.26 Aus den von Wilson und Pickett akzeptierten Methoden und den von ihnen verwendeten Daten lässt sich also möglicherweise ein Zusammenhang zwischen sozialen Problemen und Ungleichheit ableiten, jedoch nicht, dass Gleichheit glücklich macht oder sogar Glück „ist“.

IV. Ausblick Will man die Ausgangsfrage beantworten, ob Gleichheit glücklich macht, indem man nach einem kausalen Zusammenhang zwischen Einkommensungleichheit und selbstberichtetem Glück fragt,27 so leisten die Ergebnisse des „Spirit Levels“ keinen Beitrag. Im Gegenteil, gerade die Einfachheit der Ergebnisse, die Wilson und Pickett präsentieren, und ihre populärwissenschaftliche Eingängigkeit verstellen eher den Blick auf den Versuch, diese Fragestellung fundiert zu beantworten. Selbst wenn festgestellt würde, dass Gleichheit tatsächlich glücklich macht, bleibt zu klären, ob Gleichheit künstlich herbeigeführt werden sollte. Aus ethischer Perspektive müssen Gleichheit und Glück nicht uneingeschränkt positiv zu bewerten sein. Einerseits kann Gleichheit ungerecht sein, wenn gegen das Prinzip der vertikalen Gerechtigkeit verstoßen wird, wenn also ungleiche Personen gleich behandelt werden. Als Beispiel stelle man sich einen Richter vor, der alle Angeklagten ohne Prüfung des Einzelfalls verurteilt. Andererseits kann auch das Glück einzelner Personen oder Gemeinschaften gesellschaftlich problematisch sein, etwa wenn dieses aus dem Ausleben antisozialer Präferenzen 28 resultiert, beispielsweise aus der Unterdrückung Dritter. Eine gewisse Skepsis gegenüber glücksfördernden Eingriffen des Staates scheint, der Tradition Karl Poppers folgend, in jedem Fall angebracht.

___________ 25

Vgl. Wilkinson/Pickett (2011), S. 310ff. Vgl. Snowdon (2011), S. 53f. 27 Und damit in einer aus Sicht der Glücksökonomik sehr plausiblen Form. 28 Vgl. Harsanyi (1986). 26

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Der Herzog von Richelieu spielt „Ultimatum Game“? – Korreferat zu Michael Schramm – Von Franz-Joseph Post Vor 300 Jahren gab der Herzog von Richelieu seinem Sohn eine gefüllte Geldbörse, auf dass er sie angemessen verwende. Als der junge Mann das Geld zurückbrachte, traf er auf wenig Verständnis bei seinem Vater. Wie der unwürdige Knecht im Gleichnis hatte der Sohn nach Ansicht des Vaters das Geld nicht fruchtbringend genutzt. Was darunter zu verstehen sei, demonstrierte Richelieu sofort. Er öffnete ein Fenster und warf den gefüllten Geldbeutel hinaus.1 Als homo oeconomicus im engeren Verständnis handelt der Herzog vordergründig so wenig wie Michael Schramms Responder im Ultimatum Game, der das Angebot von ein oder zwei Euro zurückweist und mit leeren Händen dasteht. Ökonomisch in diesem Sinne handelt eher der Sohn, der zumindest das Kapital der Familie erhält, wenn auch nicht verzinst. Und doch ist das Tun des Herzogs fruchtbringend, während die Vorsicht des Sohnes sogar schädlich ist. Mit einem behavioristischen Zugang ist dies allerdings so wenig zu verstehen wie mit einer Begrifflichkeit, die den Mehrwert auf ökonomisches Kapital reduziert.

I. Konstitutive Regeln und Kapitalsorten Um Handlungen von Menschen, seien sie sprachlicher oder nicht-sprachlicher Natur, zu verstehen, ist es erforderlich, die zu Grunde liegende Bedeutung zu erfassen. Mit John R. Searle möchte ich unterstellen, dass diese Bedeutungen konstitutiven Regeln folgen, die überhaupt erst festlegen, als was eine Handlung in einem bestimmten Kontext gelten soll.2 Das gleiche Verhalten kann daher in unterschiedlichen sozialen oder historischen Kontexten eine andere Bedeutung haben. Dasselbe Verhalten, dieselbe Abfolge von Bewegungen ___________ 1 2

Vgl. Elias (1983), S. 104f. Vgl. Searle (1983), S. 54–78.

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ist eben noch lange nicht dieselbe Handlung. Ohne Kenntnis der konstitutiven Regeln kein Verständnis der Handlungen und des Spiels und damit auch kein Verständnis der Mitspieler. Mit Norbert Elias bin ich der Überzeugung, dass das Handeln des Herzogs von Richelieu nicht irrational, sondern im hohen Maße rational war, während das Handeln des Sohnes nicht nur irrational, sondern geradezu gefährlich sein konnte. Richelieu mit seiner demonstrativen Missachtung des Geldes ist sich sehr bewusst, dass es gerade diese Demonstration ist, die den Adeligen des ancien régime von einem wirtschaftlich denkenden und handelnden Angehörigen des Dritten Standes unterscheidet und die auch dazu beiträgt, die noblesse untereinander zu differenzieren. Ein Großer des alten Frankreichs, der in seinem Handeln wirtschaftliche Überlegungen zeigte, gefährdete durch ein solches Tun seinen sozialen Status und machte sich gemein mit dem Bürger. Er untergrub geradezu die raison d’être der Aristokratie. Dies war der tiefere Sinn des noblesse oblige. In einem Haushalt des Dritten Standes hätten dieselben Handlungen von Vater und Sohn vermutlich eine ganz andere Bedeutung gehabt. Im Spiel Richelieus mit seinem Sohn sind somit zumindest zwei Relationen zu berücksichtigen. Die zu den aufstrebenden Wirtschaftsbürgern des Dritten Standes und die zu den adeligen Statuskonkurrenten. Relativ und polydimensional ist das Spiel des Herzogs allemal. Damit ist bereits angedeutet, dass der Mehrwert, die Zinsen, die das Handeln des Herzogs von Richelieu bewirkt, sein Ansehen als Großer des alten Frankreichs ist. Nicht um ökonomisches Kapital ist es ihm zu tun, sondern um Status, Rang, auch um Ehre. Mit Pierre Bourdieu ließe sich in diesem Zusammenhang von symbolischem oder sozialem Kapital sprechen, das neben der Geldbörse als Einsatz im Spiel des Herzogs zu berücksichtigen ist.3 Ein Aristokrat mochte durchaus ein weit geringeres ökonomisches Kapital sein eigen nennen als ein Bürger des Dritten Standes. Aber noch der verarmte Adelige verfügte über ein soziales, symbolisches und unter den Bedingungen des ancien régime auch kulturelles Kapital, das ihn über die wohlhabenden Angehörigen des Dritten Standes erhob. Es griffe im Übrigen zu kurz, das Handeln des Herzogs auf ein Marktgeschäft zu reduzieren, bei dem symbolisches oder soziales Kapital für Geld gekauft wird. Die verschiedenen Kapitalsorten sind unter den Bedingungen einer Standesgesellschaft nicht beliebig substituierbar, da sie sozialen Grenzen unterliegen. Das Statuskapital des Adeligen war ein der Person innewohnendes Kapital, das nicht frei handelbar war und dessen Verlust mit dem sozialen Tod

___________ 3

Vgl. z. B. Bourdieu (1982).

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einherging.4 Dieses symbolische Kapital war im Sinne Marcel Mauss’ eher schon eine Gabe, die zur Gegengabe in Form von Großzügigkeit verpflichtete. 5 Diesem Kalkül von Gabe und Gegengabe war Richelieu wie so viele Große in vormodernen Gesellschaften verpflichtet. Die Distributionsfunktion dieses statusorientierten Mechanismus ist nicht zu unterschätzen. Betrachte ich mit der Annahme, dass erst die Kenntnis konstitutiver Regeln das Verstehen von Handlungsspielen ermöglicht und zudem mit der Vorstellung von unterschiedlichen Kapitalsorten das von Michael Schramm angeführte Beispiel eines Ultimatum Game, komme ich wie er zu einer gänzlich anderen Sichtweise als der klassische behavioral approach, sodass mir das Spielergebnis nicht überraschend, sondern geradezu schlüssig erscheint. Ich bin der Überzeugung, dass in der geschilderten Spielsituation nicht eine, sondern zwei Kapitalsorten vorhanden sind. Da sind zum einen die 10 Euro, die gewissermaßen offen auf dem Tisch liegen. Wie beim Herzog von Richelieu ist aber noch ein ganz anderes Kapital im Spiel, das weniger offensichtlich ist: Die Position der Spieler zu einander, sprich ihr Status oder ihr symbolisches Kapital. Anders als beim Spiel des Herzogs verfügen Proposer und Responder zu Beginn des Spiels über beinahe dasselbe symbolische Kapital, insofern als sie nur gemeinsam zu einem befriedigenden Ergebnis gelangen können und weitergehende Rangunterschiede nicht explizit benannt sind. Der Status des Proposers ist allerdings etwas höher, weil er das Spiel eröffnen muss und damit mehr Verantwortung für den befriedigenden Spielausgang trägt. Und genau diese leicht unterschiedliche Verteilung des symbolischen Kapitals vor dem ersten Spielzug spiegelt sich in der prozentualen Verteilung der Spielergebnisse, wie sie Michael Schramm anführt. Wie beim Aristokraten des ancien régime und seinen adeligen Statuskonkurrenten geht es auch bei Michael Schramms Ultimatum Game nur vordergründig um ökonomisches Kapital. Die Hintergrundmusik bildet die Statusrelation der Mitspieler.

II. Unterschiede und Ungleichheit Anders als im angeführten Beispiel eines Ultimatum Game gibt es allerdings im Spiel des Herzogs von Richelieu einen weiteren Mitspieler – neben dem adeligen Statuskonkurrenten den Inhaber ökonomischen Kapitals aus dem Dritten Stand. Die vielen Armen und Unterprivilegierten des ancien régime bleiben ___________ 4 Zum Begriff des sozialen Todes vgl. Patterson (1982), der hiermit Phänomene von Sklaverei zu erfassen sucht. Der Begriff veranschaulicht meines Erachtens aber auch treffend, was in einer Standes- oder Kastengesellschaft der Verlust des angeborenen Status bedeutet. 5 Vgl. Mauss (1990).

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zunächst außen vor. Sie profitieren von der Großzügigkeit oder Verschwendung des Herzogs, sie sind aber in der skizzierten Episode keine Mitspieler, sondern Zuschauer. Also ein Dreiecksverhältnis, in dem verschiedene Kapitalsorten im Spiel sind. Betrachten wir nur eine Kapitalsorte, so scheint es nicht bedeutsam, ob wir von Ungleichheit oder Unterschied sprechen. Einkommensunterschied wird dann geradezu als Synonym von Einkommensungleichheit gebraucht. Bei mehreren Mitspielern und Berücksichtigung verschiedener Kapitalsorten ist es allerdings erforderlich, begrifflich zu differenzieren. Soziale Unterschiede müssen nämlich nicht als soziale Ungleichheit wahrgenommen werden bzw. als solche gelten. Der Inhaber kulturellen Kapitals kann nämlich sehr wohl mit dem Inhaber ökonomischen Kapitals auf Augenhöhe verkehren, wie Pierre Bourdieu in seinen Untersuchungen zeigt.6 Die begriffliche Trennung von Unterschied und Ungleichheit ist wichtig, weil im Sprachgebrauch von „Gleicheit“ und „Ungleicheit“ häufig ein Gerechtigkeitsdiskurs verborgen ist. Soziale Unterschiede, so meine Annahme, sind keine, die einem Legitimationsdiskurs unterliegen, während der Wahrnehmung sozialer Ungleichheiten eine Vorstellung von Gleichheit eingeschrieben ist, von der abzuweichen der Begründung bedarf. Soziale Ungleichheit ist Gegenstand eines Gerechtigkeitsdiskurses. Das ist bei der Verwendung von „Unterschied“ nicht der Fall. Amartya Sens „Gleichheit wovon?“ könnte eine ähnliche Differenzierung implizieren. Die begriffliche Differenzierung ist das eine, die Anwendung dieser Differenzierung auf soziale Wirklichkeit – was immer das sein mag – das andere. Betrachten wir noch einmal den Herzog von Richelieu. Auch eine polydimensionale Betrachtung wird nicht umhin können, die Ungleichheit zwischen den Ständen als das hervorstechende Strukturmerkmal des alten Frankreichs zu benennen, dessen sich die Zeitgenossen nur zu bewusst waren. Demgegenüber verblassten die Unterschiede innerhalb der einzelnen Stände. Diese unterlagen weit weniger einem Gerechtigkeitsdiskurs. Entsprechend ist es die Standesungleichheit, der die Französische Revolution mit ihrer Vorstellung der Gleichheit aller citoyens begegnete. Erst mit der Durchsetzung dieser Gleichheitsvorstellung wurden in der Folge die Unterschiede zwischen den Bürgern zu einer Frage von Gleichheit und Ungleicheit und Gegenstand des dominanten Gerechtigkeitsdiskurses. Castels „Metamorphosen der sozialen Frage“, das Ringen um den sozialen Status der Lohnarbeit, sind Ausdruck dieser Entwicklung, für die eine umfassende politische, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Neuorientierung charakteristisch ist.7 Ausdruck dieser Entwicklung ist auch, dass in den ___________ 6 7

Vgl. Bourdieu (1982). Vgl. Castel (2000).

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zwei Jahrhunderten nach der Französischen Revolution sukzessive auch die verschiedenen Gruppen der Besitzlosen und die Frauen als citoyens anerkannt wurden. Die Diskussion um das Wahlrecht von Kindern, um das Ausländerwahlrecht oder auch um eine Frauenquote lassen sich allerdings durchaus dahingehend verstehen, dass dieser Prozess der Inklusion verschiedener sozialer Gruppen in diese Gleichheitsvorstellung bis heute nicht zu einem Abschluss gekommen ist. In den gegenwärtigen (post-)modernen westlichen Gesellschaften formal gleichberechtigter Individuen ist dieser Prozess schließlich soweit gediehen, dass es an festgefügten Standes-, Schichten- oder Klassenzugehörigkeiten mangelt, an denen sich soziale Ungleichheit offensichtlich festmachen lässt. Charakteristisch ist vielmehr einerseits eine vielfältige Fragmentierung und Individualisierung mit unterschiedlichen Lebensstilen. Eine dominierende Sozial- und Lebensform wie die moderne Stadt hat Richard Sennett geradezu als concentration of difference beschrieben, ohne deswegen in jedem Unterschied Ungleicheit oder gar Ungerechtigkeit auszumachen. Und derselbe Richard Sennett hat den flexiblen Menschen als Prototyp dieser Gesellschaft ausgemacht. 8 Zugleich ist aber insbesondere in Städten, die sukzessive unter den Einfluss der Globalisierung geraten, eine Raumstruktur zu beobachten, für die soziale und/oder ethnische und kulturelle Merkmalen prägend sind.9 Unter diesen Umständen der vielfältigen Fragmentierung, Segmentierung und Individualisierung verbietet es sich, jeden Unterschied als soziale Ungleichheit zu identifizieren. Der Erkenntnisgewinn wäre gering und die Gefahr, dass Ungerechtigkeit nicht als solche erkannt wird, groß. Das Risiko, vor lauter Bäumen, den Wald nicht zu sehen, ist das Wesen, von Schramms messy business. Die Frage, welcher Unterschied als soziale Ungleichheit erkannt und damit einem Gerechtigkeitsdiskurs unterzogen wird, ist in (post-)modernen Gesellschaften sehr viel schwieriger und kontroverser zu beantworten als in Standes-, Kasten- oder Klassengesellschaften, in denen die sozialen Grenzen offensichtlicher sind. Umso bedeutsamer und wirkmächtiger wird der öffentliche Diskurs, der Aushandlungsprozess darüber, was als Ungleichheit gelten soll.

III. Cui bono? – Ideologiekritisches Bedenken In den westlichen Wachstumsökonomien insbesondere nach 1945 war die klassische Legitimation für die ungleiche Verteilung ökonomischen Kapitals das Versprechen, dass alle, wenn auch im unterschiedlichen Maße, profitieren ___________ 8 9

Vgl. Sennett (1990), S. 126f.; Sennett (2007). Vgl. Post (2004), bes. S. 163ff.; 174ff.

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und sei es auch erst zu einem späteren Zeitpunkt oder gar in der folgenden Generation.10 Insofern formulierte John Rawls nicht nur eine Gerechtigkeitstheorie. Seine Konstruktion eines Urzustandes, in dem ein Schleier der Unwissenheit alle Beteiligten umgab, macht leicht vergessen, dass Rawls seine Überlegungen auf dem Höhepunkt der westlichen Wachtsums- und Wohlfahrtsökonomie publizierte. Insofern ließe sich durchaus feststellen, dass A Theory of Justice den westlichen Gesellschaftsvertrag der Wachstumsökonomie und insbesondere der Jahrzehnte unmittelbar nach 1945 gerechtigkeitstheoretisch legitimierte.11 Ideologiekritisch ist zu fragen, warum heute neue Gerechtigkeitsvorstellungen jenseits von Rawls diskutiert werden und von flexiblen Gerechtigkeitskonzeptionen die Rede ist.12 Zu fragen ist auch, warum die traditionellen Modelle der Wohlstands- bzw. Wachstumsmessung in Frage gestellt und Glück als Ergänzung oder gar als Ersatz für materiellen Wohlstand ins Spiel gebracht werden. Der Verweis auf die objektiven Grenzen des Wachstums ist das eine. Das andere aber ist, dass die ökonomisch weniger Privilegierten, Castels Prekäre oder Entkoppelte, eben nicht mehr von der Ungleichheit in Form von Wohlstandswachstum profitieren, wie dies Rawls Gerechtigkeitstheorie vorsieht. Ob global – der Streit um das Klimaschutzprotokoll zeigt dies – oder innerhalb einer Gesellschaft, machen die Prekären und die Entkoppelten die Erfahrung, dass die Privilegierteren ihnen genau dieses Wohlstandswachstum verweigern wollen, indem sie den Gesellschaftsvertrag der Wachstumsökonomie einseitig aufkündigen und andere Währungen jenseits des materiellen Wohlstands ins Spiel bringen. Dem sozialpolitischen Hinweis auf die 1970er Jahre liegt vielleicht weniger eine überholte Wohlfahrtsstaatsromantik zu Grunde als ein Hinweis auf den alten Grundsatz des „Pacta sunt servanda“. Die Erfahrung mangelnder Fairness und ein Gefühl von Ohnmacht und Unglück kommen hierin zum Ausdruck. Die Wachstumsgrenzen mögen objektiv sein, ihre Wahrnehmung und Bewertung unterliegt aber allemal dem gesellschaftlichen Diskurs; einem Diskurs, an dem die Wirtschaftswissenschaften prominent teilnehmen. Die Bereitstellung integrativer Wirtschaftsindikatoren schwebt so wenig wie dieses Korreferat wertfrei über diesem Diskurs, sondern ist integraler Bestandteil der öffentlichen Auseinandersetzung um Unterschiede, soziale Ungleichheiten und soziale ___________ 10 Das enorme Wachstum der vergangenen zwei Jahrhunderte sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch durch den zwischenzeitigen Pauperismus breiter, aber eben nicht aller Bevölkerungsgruppen erkauft wurde, sodass erst die Kinder- oder Enkelgeneration die Früchte ernten konnte. 11 Vgl. Rawls (1975). 12 Vgl. z. B. Schramm (2007) und die Korreferate von Aufderheide (2007) und Winkler (2007).

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Gerechtigkeit. Und der Hinweis auf Glück und Wohlergehen als Lebensziel anstelle von materiellem Wohlstand kann eben auch als Verschleierung von Ungleicheit wahrgenommen werden. Der Mensch muss sich den Kuchen, den Marie Antoinette den Hungernden angeblich zu essen empfahl, erst einmal leisten können. Es ist wie beim Ultimatum Game. Sollen die Wachstumsgrenzen global wie lokal akzeptiert werden und materieller Wohlstand und materielles Wachstum nicht mehr als einziger Maßstab gelten, so werden die Privilegierten als Proposer bei der Verteilung des Kapitals ein Angebot machen müssen, das die weniger Privilegierten akzeptieren können. Einfach nur den Gesellschaftsvertrag, sprich die Spielregeln aufzukündigen ist für ein beiderseits befriedigendes Spielergebnis zu wenig. Insofern findet Michaels Schramms Forderung nach einer relationalen, polydimensionalen Perspektive zwar inhaltlich meine Unterstützung, doch treibt mich auch die Sorge um, dass damit im Ergebnis den Benachteiligten Wasser gepredigt wird, während andere Wein trinken.

Literatur Aufderheide, Detlef (2007): Jedem das Seine? Anmerkungen zu einer flexiblen Gerechtigkeitskonzeption – Korreferat zu Michael Schramm, in: Dabrowski, Martin/Wolf, Judith (Hrsg.): Aufgaben und Grenzen des Sozialstaates, Paderborn, S. 91–97. Bourdieu, Pierre (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Übersetzt von Bernd Schwibs und Achim Ritter, Frankfurt a. M. Castel, Robert (2000): Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit. Aus dem Französischen von Andreas Pfeuffer, Konstanz. Elias, Norbert (1983): Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie. Mit einer Einleitung: Soziologie und Geschichtswissenschaft, o.O. Mauss, Marcel (1990): Die Gabe. Form und Funktion des Austausches. Mit einem Vorwort von E. E. Evans-Pritchard. Übersetzt von Eva Moldenhauer. Anhang: Henning Ritter: Die ethnologische Wende. Über Marcel Mauss, Frankfurt a. M. Patterson, Orlando (1982): Slavery and Social Death. A Comparative Study, Cambridge/London. Post, Franz-Joseph (2004): Weltsystem-Staat-Stadt. Anmerkungen zum Konzept der Global Cities, in: Johanek, Peter/Post, Franz-Joseph (Hrsg.): Vielerlei Städte. Der Stadtbegriff, Köln/Weimar/Wien, S. 159–176. Rawls, John (1975): Eine Theorie der Gerechtigkeit. Übersetzt von Hermann Vetter, Frankfurt a. M. Schramm, Michael (2007): Gerechtigkeitskonzeptionen im Widerstreit. Ansätze einer Theorie der flexiblen Gerechtigkeit, in: Dabrowski, Martin/Wolf, Judith (Hrsg.): Aufgaben und Grenzen des Sozialstaates, Paderborn, S. 63–89.

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Searle, John R. (1983): Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay, Frankfurt a. M. Sennett, Richard (1990): The Conscience of the Eye. The Design and Social Life of Cities, London/Boston. – (2007): Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Aus dem Amerikanischen von Martin Richter, 3. Aufl. Berlin. Winkler, Katja (2007): Menschenwürde als Ausgangspunkt und Ziel flexibler Gerechtigkeit – Korreferat zu Michael Schramm, in: Dabrowski, Martin/Wolf, Judith (Hrsg.): Aufgaben und Grenzen des Sozialstaates, Paderborn, S. 99–108.

Effizienz oder Konsens? Einige prinzipielle Überlegungen zum Verhältnis zweier Grundkategorien ökonomischen Denkens* Von Alexander Lenger und Nils Goldschmidt

Abstract Wie ist das Verhältnis von Effizienz und Konsens? Folgt der gesellschaftliche Konsens der Effizienz oder folgt die Effizienz dem gesellschaftlichen Konsens? Zur Beantwortung dieser Fragen wird im vorliegenden Beitrag eine ordnungsethische bzw. ordnungsökonomische Perspektive herangezogen, welche die freiwillige Zustimmungsfähigkeit von Individuen zu gesellschaftlichen Arrangements in den Mittelpunkt ihrer normativen und positiven Überlegungen stellt. Eine solche Perspektive resultiert aus der expliziten Abgrenzung zur ökonomischen Orthodoxie, indem sie dem Effizienzkriterium das Konsenskriterium zur Seite stellt, d. h. eine Forschungsperspektive, die explizit anerkennt, dass wirtschaftliche Effizienz nur einen Teilaspekt für gesellschaftliche Arrangements darstellt. Dazu werden im folgenden Beitrag auch zwei weitere Probleme zu analysieren sein. Erstens, inwiefern ökonomische Theoriemodelle überhaupt geeignet sind, die Frage nach dem Verhältnis von Effizienz und Konsens sinnvoll erörtern zu können, und zweitens, inwieweit das empirische Faktum sozialer Ungleichheit zur Beantwortung der Frage berücksichtigt werden muss.

I. Einleitung Wie ist das Verhältnis von Effizienz und Konsens? Folgt der gesellschaftliche Konsens der Effizienz oder folgt die Effizienz dem gesellschaftlichen Konsens? Die vorliegenden Fragen zielen u. E. auf zwei verschiedene Analyseebenen, welche es zunächst zu klassifizieren und daran anschließend (allerdings in umgekehrter Reihenfolge) zu analysieren gilt. Die erste Fragestellung „Folgt der gesellschaftliche Konsens der Effizienz oder folgt die Effizienz dem gesell___________ * Der Beitrag beruht in einigen Überlegungen auf zwei früheren Aufsätzen (Goldschmidt 2011; Lenger/Goldschmidt 2011).

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schaftlichen Konsens?“ behandelt – so unser Verständnis – das Spannungsverhältnis zwischen marktwirtschaftlicher Produktivität (sprich Effizienz) und Gerechtigkeit (als notwendige Voraussetzung für einen gesellschaftlichen Konsens) und kann dementsprechend in der klassischen Diskussion um Effizienz und Gerechtigkeit verortet werden (zum Überblick Lenger 2009a; Lenger/ Goldschmidt 2012). Aus einer orthodoxen ökonomischen Perspektive wäre die Antwort eine leichte, da üblicherweise der effizienten Produktion und Allokation knapper Ressourcen ein systematischer Vorrang vor der Frage nach distributiver Gerechtigkeit eingeräumt wird, d. h. im Mittelpunkt der Überlegungen steht die Frage, wie es gelingt, einen möglichst großen ‚Kuchen‘ zu produzieren, und nicht, wie ein solcher ‚Kuchen‘ verteilt werden soll. Dahinter steht die Annahme, dass Umverteilungsmaßnahmen zu negativen Auswirkungen für Zahler von Transferleistungen (schwächere Anreize für produktive Leistungen und Investitionen), und Empfänger (unproduktive Kämpfe um die entstehenden Transferzahlungen) führen und damit in einem unauflöslichen Spannungsverhältnis zu einer effizienten ökonomischen Gestaltung stehen. Eine solche Sichtweise des vermeintlichen Konflikts zwischen Gerechtigkeit und Effizienz ist aus Perspektive einer modernen Ordnungsökonomik jedoch aus zweierlei Gründen fragwürdig: Zum ersten sind normative Aussagen über soziale Endzustände, die mittels Umverteilung realisiert werden sollen, in einer Marktwirtschaft generell problematisch, da diese Zustände nicht unmittelbar angesteuert werden können (Buchanan 1959; Hayek 1945). Zum zweiten werden marktwirtschaftliche Ordnungen nicht vorrangig durch ihre wirtschaftliche Produktivität legitimiert, sondern ihre gesellschaftliche Akzeptanz ist letztlich darauf zurückzuführen, dass sie für alle betroffenen Menschen ein insgesamt wünschenswertes und damit zustimmungsfähiges soziales Arrangement darstellt (vgl. hierzu grundlegend Buchanan 1975; Vanberg 1994). Eine entsprechende normative Argumentation wird in den Abschnitten II. bis V. entwickelt. Hinzu tritt noch die zweite, oben zuerst benannte Frage, wie das Verhältnis von Effizienz und Konsens prinzipiell zu bestimmen ist. Diese Fragestellung zielt u. E. auf die Bedeutung sozialer Ungleichheit und der Reproduktion von Statusdifferenzen. Im Gegensatz zur Frage nach Gerechtigkeit und Effizienz, die vor allem eine normative Dimension anspricht, geht es bei dieser Frage zunächst um die Diskussion rein positiver Fakten, nämlich erstens, ob Effizienz bzw. gesellschaftliche Wohlfahrtsgewinne unterschiedlich verteilt werden und zweitens, wie sich diese Aufteilungsmuster im Einzelnen darstellen. Zur Klärung dieser Frage wird in Abschnitt VI. auf die Soziologie sozialer Ungleichheit zurückgegriffen und die Folgen für eine ordnungsökonomische Denkweise skizziert. Dabei gilt das besondere Augenmerk – so unsere Überzeugung – der sinnvollen und stringenten Verknüpfung normativer Überlegungen und positi-

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ver Befunde, wie sie im Konzept der Inklusion, d. h. dem ethischen Konzept eines gelingenden Lebens angelegt ist und mit Hilfe der Ordnungsethik theoretisch konkretisiert werden kann.

II. Befunde und Reichweite der Glücksforschung Betrachten wir zunächst die Frage, ob der gesellschaftliche Konsens der Effizienz folgt oder die Effizienz dem gesellschaftlichen Konsens. Um sich dieser Frage zu nähern, ist es u. E. hilfreich, auf die Befunde der Glücksforschung zurückzugreifen. Die Glücksforschung befasst sich seit einigen Jahren mit der empirischen Erforschung der Bedingungen, unter denen Menschen glücklich sind.1 Die Befunde der Glücksforschung – wie ja auch die Ergebnisse der experimentellen Ökonomik – geben deutliche Hinweise darauf, dass das Modell eines nutzenmaximierenden homo oeconomicus, wie es in verschiedenen Spielarten in der neoklassischen Ökonomik bis heute Anwendung findet, wenig empirische Validität besitzt. So zeigt eine Vielzahl von Untersuchungen, dass eine effizientere Produktion und das daraus generierte höhere Einkommen nicht notwendigerweise mit mehr Glück korrelieren. Das subjektive Wohlergehen der Menschen wächst keineswegs in dem Maße, wie der materielle Reichtum eines Landes zunimmt, und folglich liegt das Glück der Menschen nicht unmittelbar in wirtschaftlicher Effizienz begründet.2 Empirische Befunde hierzu wurden bereits Anfang der 1970er Jahre vor allem von Richard A. Easterlin (1973, 1974) vorgelegt. Zusammenfassend urteilen Easterlin u.a. (2010, S. 3–4) in einem kürzlich erschienenen Artikel: „The article contributes the broadest range of evidence yet assembled, demonstrating that over time a higher rate of economic growth does not result in a greater increase of happiness. [...] Thus, in the short term, happiness and SWB [subjective well-being] are positively related, but over the long term – here usually a minimum period of 10 [years] – the relationship is nil. The happiness-income paradox now holds for countries ranging from poor to rich: among countries, at a point in time happiness and income are positively related, but over time within a country, happiness does not increase as income goes up.“3

___________ 1 Für einen Überblick über den wissenschaftlichen Forschungsstand siehe z. B. Frey/Stutzer (2002a und b); Clark/Frijters/Shields (2008) oder Hirata (2010). Für populär gehaltene Schriften siehe z. B. Layard (2009); Frey/Frey Marti (2010) und Wilkinson/Pickett (2010). 2 Im Folgenden wird nicht weiter zwischen den Termini „Glück“, „Zufriedenheit“ und „subjektivem Wohlbefinden“ unterschieden. Hirata (2010, S. 129–130) hat gezeigt, dass diese sprachlichen Abstufungen kaum empirische Auswirkungen zeigen. 3 Für gegenteilige Ergebnisse siehe insbesondere Hagerty/Veenhoven (2003, 2006) und Stevenson/Wolfers (2008); siehe auch die Replik von Easterlin (2005).

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Nun ließe sich kontrovers über die Ursachen und Gesetzmäßigkeiten solcher empirischen Beobachtungen streiten. Ein zentraler Faktor ist sicherlich die Tatsache, dass mit steigenden Erwartungen an den materiellen Wohlstand die Zufriedenheit mit dem jeweils tatsächlich erreichten Niveau über die Zeit gewissermaßen ‚aufgesaugt‘ wird („aspiration theory“) und dass umgekehrt eine Gewöhnung an ein bestimmtes Maß von Wohlstand die Effekte der Zufriedenheit mit einem gegebenen Einkommensniveau verringert („adaption theory“).4 Auch könnte kritisch die Frage erörtert werden, welche Glücksfaktoren ausschlaggebend sind – Richard Layard (2009, S. 77ff.) beispielsweise benennt folgende sieben Faktoren, die das individuelle Glücksempfinden signifikant beeinflussen: Familiäre Beziehungen, finanzielle Lage, Arbeit/Arbeitslosigkeit, soziales Umfeld, Gesundheit, persönliche Freiheit und Lebensphilosophie/Religion. Für die hier vorliegenden Überlegungen sind jedoch vor allem die Konsequenzen entscheidend, die aus dem Verhältnis von wirtschaftlicher Effizienz zu Glück gezogen werden. So wird üblicherweise argumentiert, dass der neue Maßstab für wirtschaftliche Entwicklung die individuelle Lebenszufriedenheit sein muss, wenn materieller Wohlstand letztlich wenig zum Glück des Menschen beiträgt, aber wirtschaftliches Handeln dem Menschen auch künftig nützlich sein soll. Aus einer solchen Perspektive ist es normativ nicht länger zulässig, wirtschaftliche Prozesse ausschließlich aus dem Blickwinkel der aggregierten Effizienz einer Volkswirtschaft zu bewerten. Vielmehr sind wirtschaftliche Abläufe daran zu messen, inwieweit sie dem Einzelnen nützlich sind und ob sie dazu beitragen das individuelle Lebensglück zu steigern. Dabei ist es der Glücksforschung zu verdanken, darauf hingewiesen zu haben, dass die jeweilige Lebenszufriedenheit häufig von Faktoren abhängt, die zwar hohe Kosten verursachen, für eine glückliche Lebensführung aber äußerst nützlich sein können. Hierbei ist insbesondere an solche Aspekte wie Gesundheit, Kinder, niedrige Verbrechensraten, ein familienfreundliches Arbeitsumfeld usw. zu denken. Die Grenzen der Glücksforschung zeigen sich freilich dann, wenn aus der normativ gut begründbaren Forderung nach einem glücklichen Leben (wer würde schon ein unglückliches Leben für eine Vielzahl der Mitglieder einer Gesellschaft als Ziel anstreben?) fälschlicherweise die Schlussfolgerung abgeleitet wird, dass es die unmittelbare Aufgabe der Glücksforschung sein sollte, die Produktion dieser Glücksfaktoren zu stärken. Politische Entscheidungspro___________ 4 Damit einher geht die Beobachtung, dass die Zufriedenheit mit dem individuellen Einkommen nicht unmittelbar an der absoluten Einkommenshöhe, sondern an der relativen Einkommensposition hängt. Zur Bedeutung relativer Einkommenspositionen aus Sicht der Glücksforschung siehe ausführlich Frey (2008, S. 30ff.).

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zesse wären dann lediglich Prozesse auf der Grundlage von prognostizierbaren Glücksmessungen, d. h. Glück würde kalkulierbar und einem Verwertungsprozess unterworfen. Eine solche Sichtweise ist jedoch mit zwei Problemen behaftet: Zum einen ist einzuwenden, dass die individuellen Auskünfte zum subjektiven Wohlbefinden durch gesellschaftliche Umstände verzerrt werden. Vor diesem Hintergrund weist insbesondere Amartya Sen (2010, S. 282) auf die Schwierigkeiten bei der Erhebung von Lebenszufriedenheit dauerhaft benachteiligter Personengruppen hin: „The utilitarian calculus based on happiness or desire-fulfillment can be deeply unfair to those who are persistently deprived, since our mental make-up and desires tend to adjust to circumstances, particularly to making life bearable in adverse situations.“ Zum anderen entsteht die Problematik, dass eine solche Perspektive Glück als ‚Setzkasten‘ oder ‚Puzzlespiel‘ einzelner Faktoren versteht, ohne dass eine diesen Elementen zugrunde liegende gesellschaftliche Leitidee formuliert wird. Das heißt, es rücken zwar eine Vielzahl verschiedener Faktoren in den Gestaltungraum, eine klare politische Agenda kann jedoch aus solchen Überlegungen nicht begründet abgeleitet werden. So argumentieren Frey und Frey Marti (2010, S. 165): „Grundsätzlich sind alle Faktoren, die die Lebenszufriedenheit systematisch beeinflussen, ‚Kandidaten‘ für politische Interventionen, insbesondere sozio-demografische, wirtschaftliche, kulturelle und politische Faktoren“. Damit entsteht aber nicht nur eine prinzipielle Beliebigkeit einzelner Ziele, sondern es bleibt vollkommen ungeklärt, inwieweit Elemente subjektiven Wohlbefindens in einem solchen Ansatz Berücksichtigung finden sollten, die sehr spezifisch sind und möglicherweise nur in bestimmten Lebensphasen eine Rolle spielen, wie z. B. die Forderung nach Kindertagesstätten, Drogenentzug oder Altenheimen im Falle der eigenen Betroffenheit. Die Glücksforschung ist somit gefährdet, einem naturalistischen Fehlschluss zu unterliegen. Aus dem Ist-Zustand des empirischen Wissens über einzelne Faktoren, die dem Wohlbefinden einzelner Menschen zuträglich sind, wird auf das normative Postulat geschlossen, dass diese Faktoren auch befördert werden sollten. Eine normative Theorie zur Fundierung politischer und gesellschaftlicher Gestaltungsprozesse, die über einen diffusen Utilitarismus hinausgeht, fehlt der Glücksforschung (bisher) jedoch weitestgehend (vgl. auch Hirata 2010, S. 128). In ihren Schlussfolgerungen klingen daher auch nicht wenige Autoren der Glücksforschung recht optimistisch, wenn sie politische Programme fordern, die zwar in ihrer Allgemeinheit gesellschaftlich konsensfähig sind, aber kaum als handlungsleitend eingestuft werden können.5 ___________ 5 Vgl. z. B. Layard (2009, S. 251): „Wir benötigen daher dringend eine Vorstellung vom Gemeinwohl. Ich kann mir kein besseres Ziel vorstellen als das größtmögliche Glück für alle und jeden Einzelnen. Dieses Ideal bringt uns unseren Mitmenschen wie-

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Im Folgenden wird es vor diesem Hintergrund darum gehen, die Frage nach dem Glück und der Effizienz einer ordnungsökonomischen Reflexion zu unterziehen. Hierzu wird grundsätzlich zu fragen sein, welche normative Leitidee für moderne Gesellschaften tragfähig ist, die sich – wie von der Glücksforschung eingefordert – von einer allein materiellen Wachstumsideologie verabschiedet, jedoch nicht einfach auf eine Addition verschiedener Glücksfaktoren abzielt. Um uns dieser Frage zu nähern, werden zunächst unterschiedliche Ansätze diskutiert, die u. E. dem Effizienzparadigma als normatives Postulat folgen. Hierzu zählen neben der orthodoxen Wohlfahrtsökonomik auch die heterodoxeren Ansätze der neuen Institutionenökonomik und der neuen Wirtschaftssoziologie (Abschnitt III. und IV.). Daran anschließend wird der normative Gegenentwurf einer Ordnungsökonomik vorgestellt, der die freiwillige Zustimmungsfähigkeit zu gesellschaftlichen Arrangements der betroffenen Menschen in den Mittelpunkt seines Forschungsinteresses stellt und somit das normative Postulat der Effizienz durch ein normatives Konsenskriterium ersetzt (Abschnitt V.).

III. Der Trade-off zwischen wirtschaftlicher Effizienz und sozialer Gerechtigkeit Zentrale Ziele staatlicher Wirtschaftspolitik sind die Realisierung von Freiheit, Gerechtigkeit, Sicherheit und Wohlstand.6 Da sich diese Ziele wechselseitig unterschiedlich stark beeinflussen und teilweise untrennbar miteinander verbunden sind, ist es für die vorliegenden Überlegungen zweckmäßig, das Verhältnis zwischen den Zielen ‚Freiheit und Wohlstand‘ (Zieldimension der wirtschaftlichen Effizienz) sowie den Zielen ‚Gerechtigkeit und Sicherheit‘ (Zieldimension von sozialer Gerechtigkeit) jeweils gemeinsam zu betrachten. Gemeinsam bilden die zwei Zieldimensionen – so die These – die Grundlage für das Glück des Einzelnen bzw. für den Konsens der Gesellschaft. Diese Ziele stehen aber nicht in einem hierarchischen, sondern in einem komplementären Verhältnis. Es ist jedoch festzuhalten, dass von einem Großteil der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur auch heute noch ein grundlegend konträres Verhältnis von ökonomischer Effizienz und sozialer Gerechtigkeit diagnostiziert wird.7 Die entscheidende Aufgabe der Wirtschaftspolitik ist es aus einer solchen Per___________ der näher. Aber auch unser Eigeninteresse erhält ausreichend Gewicht, denn schließlich wissen wir selbst am besten, was uns gut tut.“ 6 Zum Überblick Streit (1979/2005, S. 237–282); Teichmann (2001, S. 53–56). 7 Vgl. stellvertretend für Vertreter dieser Position Berthold (1991, 1997, S. 28); Mussel/Pätzold (1993/2008, S. 6–7; Teichmann (2001, S. 55); Ott (2003, S. 493); Blankart (2008, S. 81–82); Grüner (2008, S. 9–10); Weimann (2009, S. 114–115).

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spektive, „die Ergebnisse des Marktmechanismus insbesondere in sozial- und verteilungspolitischer Hinsicht zu korrigieren“.8 Damit wird die Frage der effizienten Allokation der Produktionsfaktoren systematisch von der Frage nach einer gerechten Verteilung abgekoppelt und explizit die Auffassung vertreten, dass Gerechtigkeit lediglich ein exogener Faktor ordnungspolitischer Gestaltung ist. Entsprechend werden Gerechtigkeitspostulate allenfalls aus philosophischen Theorien abgeleitet und für wirtschaftswissenschaftliche Fragestellungen nutzbar gemacht.9 Dabei wird argumentiert, dass sich die Implementierung von Gerechtigkeitsnormen mittels Umverteilung nur durch vermeintliche Effizienzverluste realisieren lasse, weshalb es zu einem unausweichlichen Konflikt zwischen Effizienz und Gerechtigkeit kommt und sich dementsprechend das Gesamtglück der Gesellschaft reduziert. Dieser Konflikt wird in der traditionellen Wohlfahrtsökonomik auch als „the big trade-off between efficiency and equity“ bezeichnet (Okun 1975). Ein solcher Gegensatz entsteht aufgrund zweier vermeintlich gegenläufiger Tendenzen: So produziert der marktwirtschaftliche Leistungswettbewerb einerseits ungleiche Ergebnisse, welche vielfach als ungerecht empfunden werden. Gesellschaftliche Umverteilungsmaßnahmen erzeugen jedoch andererseits auch negative Resultate und stehen häufig im Konflikt zu einer effizienten ökonomischen Gestaltung.10 Um diesen Konflikt zu vermeiden, wird zumeist der Frage nach der effizienten Produktion und Allokation knapper Ressourcen der Vorrang gegeben (zumal vermeintlich ja nur das verteilt werden könne, was zuvor produziert wurde). Das Problem distributiver Gerechtigkeit wird hingegen überwiegend ausgeklammert und systematisch zurückgestellt.11 So wird in einem ersten Schritt eine effiziente Ressourcenallokation angestrebt, um in einem zweiten Schritt über konkrete Umverteilungsmaßnahmen zu beschließen. Ausgangspunkt für eine solche Sichtweise ist das Knappheitsproblem, da Handeln unter Knappheit (Opportunitäts-)Kosten verursacht.12 Ausgehend von der Tatsache, dass in der Realität die Menge der zur Verfügung stehenden Ressourcen und Produktionsfaktoren begrenzt ist, ergibt sich die Notwendigkeit der Wahl zwischen verschiedenen Verwendungsmöglichkeiten der knappen Mittel. ___________ 8

Mussel/Pätzold (1993/2008, S. 6–7; Hervorhebung durch die Verfasser). Blankart (2008, S. 79–82, 88). 10 Zur Theorie von rent-seeking Prozessen siehe grundlegend Buchanan/Tullock (1962) sowie Buchanan/Tollison/Tullock (1981). Zur Wirkung von Privilegienvergabe auf die wirtschaftliche Dynamik vgl. Olson (1991). 11 Vgl. wiederum Mussel/Pätzold (1993/2008, S. 6–7); Ott (2003, S. 493); Blankart (2008, S. 81–82); Teichmann (2001, S. 55); Weimann (2009, S. 114–115). Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass diese Überlegungen sich auf die Allokation und Distribution privater Güter beziehen. 12 Fehl/Oberender (1976/2004, S. 495); Streit (1979/2005, S. 1); Weimann (2009, S. 13–14, 17). 9

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Knappe Mittel können dabei sowohl materielle als auch immaterielle Güter, wie Entscheidungszeit oder das Wissen über Alternativen und komplexe Zusammenhänge, sein. Um ein Kriterium zu haben, mit dem alternative Auswirkungen für die soziale Wohlfahrtsfunktion beurteilt werden können, ist für die Wohlfahrtsökonomik der Begriff der Effizienz von entscheidender Bedeutung, d. h. der rationale und wirtschaftliche Umgang mit knappen Mitteln: Ist eine effiziente Allokation erreicht, so sind die gegebenen Mittel ihrer jeweils ‚produktivsten‘ Verwendung zugeführt. Hierzu werden üblicherweise drei Allokationskriterien entwickelt, die ausgehend von der Präferenzfunktion der Individuen eine ordinale Reihung alternativer Zustände der gütermäßigen Versorgung erlauben: das Pareto-Kriterium, das Kaldor-Hicks-Kriterium sowie das Prinzip der Generalkompensation.13 Die Aussage, dass kein anderer Mechanismus ökonomische Effizienz so gut garantiert wie eine marktwirtschaftliche Ordnung, basiert im Wesentlichen auf dem Fundamentaltheorem der Wohlfahrtsökonomik, dass in einer idealen Ökonomie (d. h. perfekte Wettbewerbsmärkte ohne Externalitäten und Transaktionskosten) jedes kompetitive Marktgleichgewicht pareto-optimal ist.14 Dabei zeigt das Arrow-Debreu-Modell der allgemeinen Gleichgewichtstheorie, dass jede Gleichgewichtsverteilung eine effiziente Lösung darstellt, weil sämtliche Tauschmöglichkeiten die zur Verfügung standen, realisiert wurden. Gemäß dem Pareto-Kriterium erhöht sich die gesellschaftliche Wohlfahrt, wenn eine wirtschaftspolitische Maßnahme dazu führt, dass der Nutzen mindestens eines Individuums zunimmt, ohne dass sich gleichzeitig der Nutzen eines anderen Individuums verringert. Dabei ist es explizit nicht ausreichend, lediglich die individuellen Verluste und Gewinne von Individuen miteinander zu verrechnen und aus einem positiven Saldo auf eine Verbesserung der sozialen Wohlfahrt zu schließen. Vielmehr wird gefordert, dass kein Individuum durch eine wirtschaftspolitische Maßnahme schlechter gestellt wird, d. h. dass die Gewinne einer Reform ausreichen müssen, um die Verluste der Reformverlierer de facto zu kompensieren. Ein gesellschaftlicher Zustand erfüllt somit das Kriterium der Pareto-Optimalität, wenn die Produktionsfaktoren einer optimalen Verwendung zugeführt wurden, und keine Person mehr besser gestellt werden kann, ohne die Situation wenigstens einer anderen Person zu verschlechtern. Damit beinhaltet das Pareto-Kriterium als Bewertungsmaßstab einer wirtschaftlichen Ordnung ein Werturteil, wenn auch häufig nicht explizit auf den normativen Charakter hingewiesen wird.15 Allerdings ermöglicht das Pareto-Kriterium keine theoreti___________ 13

Donges/Freytag (2009, S. 86–87). Siehe Eichberger (2004, S. 170–179). 15 Entsprechend schreibt Harsanyi (1977, S. 16; Hervorhebungen im Original): „[…] like all theories based on some notion of perfectly rational behavior … our theory is a normative (prescriptive) theory rather than a positive (descriptive) theory. At least formally and explicitly it deals with the question of how each player should act in order to 14

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schen Aussagen über die Gerechtigkeit von Einkommensverteilungen beim Vergleich unterschiedlicher Ausstattungen und Leistungspotenziale, da häufig eine Vielzahl alternativer Pareto-Optima existieren, die untereinander wertmäßig nicht vergleichbar sind und somit das Pareto-Kriterium ohne ein zusätzliches normatives Kriterium als Wohlfahrtsmaßstab nicht brauchbar ist.16 Zudem ist das Pareto-Konzept in der Praxis nicht ohne weiteres auf tatsächliche Verteilungskonflikte anwendbar, da praktisch jede reale wirtschaftspolitische Maßnahme sowohl Gewinner als auch Verlierer erzeugt. 17 Da ein derartiger Zustand jedoch nicht dem Kriterium der Pareto-Optimalität entspricht, müsste eine solche Maßnahme stets unterlassen werden. Somit lässt sich das Pareto-Kriterium treffend auch als „konservatives Kriterium“ bezeichnen, da es zur Beibehaltung des Status quo beiträgt, unabhängig davon wie dieser Zustand beschaffen ist.18 Einer Wirtschaftspolitik, die sich ausschließlich am ParetoKriterium orientierte, wären in der Realität also nahezu sämtliche Handlungsspielräume verschlossen. Entsprechend würde die real-politische Anwendung des Pareto-Kriteriums erfordern, dass bei jeder wirtschaftspolitischen Maßnahme alle potentiellen Verlierer voll entschädigt werden. Ein solches Vorgehen würde jede Wirtschafts- und Sozialpolitik ihres praktischen Sinns berauben und wäre auch normativ höchst problematisch, da sich hieraus eine „Konservierung der bestehenden (relativen) Vermögensverteilung in der Gesellschaft“ ergeben würde.19 Die angesprochenen Schwierigkeiten, die aus einer strikten Anwendung des Pareto-Kriteriums resultieren, wurden bekanntlich frühzeitig erkannt und das Pareto-Kriterium entsprechend modifiziert, so dass eine praktische Anwendung möglich ist, ohne auf die vorteilhaften Wirkungen des Wettbewerbs, der Innovationen oder der politischen Gestaltung verzichten zu müssen. So haben Nicholas Kaldor und John Richard Hicks ein Wohlfahrtskriterium formuliert, welches auf der Idee einer hypothetischen Kompensation bei Wohlstandsänderungen beruht.20 Abweichend vom Pareto-Kriterium, bei welchem Änderungen der ökonomischen Wohlfahrt nur dann positiv beurteilt werden, wenn keine ___________ promote his own interests most effectively in the game and not with the question of how he (or persons like him) will actually act in a game of this particular type.“ 16 Donges/Freytag (2009, S. 87). Für Voraussetzungen und Implikationen des ParetoKriteriums siehe Fehl/Oberender (1976/2004, S. 496–504). 17 Sohmen (1976/92, S. 307–308). Dasselbe gilt für Wettbewerb und Innovationsprozesse, welche üblicherweise ebenfalls Verteilungskonflikte erzeugen und somit bei strikter Anwendung des Pareto-Kriteriums unterlassen werden müssten (vgl. Fehl/Oberender 1976/2004, S. 530). 18 Schmidtchen (2004, S. 65). 19 Sohmen (1976/92, S. 307–308). 20 Fehl/Oberender (1976/2004); für die Originalquellen siehe Kaldor (1939) und Hicks (1941).

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gegenläufige individuellen Wohlfahrtsreduktionen auftreten, werden beim Kaldor-Hicks-Kompensationskriterium auch solche Veränderungen positiv bewertet, bei denen die Wohlfahrt einzelner Individuen steigt, während die anderer Individuen sinkt. Das genannte Kriterium besagt, dass eine wirtschaftspolitische Maßnahme dann legitim ist, wenn sie theoretisch geeignet ist, die gesamtgesellschaftliche Wohlfahrt zu erhöhen, d. h. wenn die Gewinner die Verlierer kompensieren könnten und gleichwohl noch einen Gewinn übrig hätten.21 Gegen eine praktische Anwendung des Kaldor-Hicks-Kriteriums sind jedoch drei Argumente anzuführen. Erstens stellt das Kriterium auf einen interpersonellen Nutzenvergleich ab, weshalb die individuelle Betroffenheit von verteilungspolitischen Maßnahmen keine Berücksichtigung findet. Somit kann die spätere Position von Individuen, die aufgrund der Umverteilung entsteht, nicht prognostiziert werden. Zweitens ist ungeklärt, über welchen Zeithorizont sich eine mögliche Kompensation für bestimmte Innovationen und wirtschaftspolitische Maßnahmen erstrecken soll. Drittens sei nochmals darauf hingewiesen, dass das Kaldor-Hicks-Kriterium tatsächlich nur eine hypothetische Kompensationsmöglichkeit berücksichtigt, die tatsächliche Kompensation jedoch keine Rolle spielt. Damit würde das Kaldor-Hicks-Kriterium mit nur fiktiver Kompensation in ordnungsökonomischer Hinsicht nicht die Zustimmung der Betroffenen finden, die schlechter gestellt werden. Würde jedoch ein zusätzliches Arrangement zur tatsächlichen Kompensation getroffen werden, so würde unweigerlich zum Pareto-Kriterium zurückgekehrt. Da das Kaldor-Hicks-Kriterium somit Verteilungsfragen letztlich unberücksichtigt lässt, versagt es ebenfalls in der praktischen, wirtschaftspolitischen Anwendung zur Lösung von Gerechtigkeitsfragen.22 Aus diesem Grund hat Carl Christian von Weizsäcker das Kaldor-HicksKriterium weiter verallgemeinert und das Prinzip der Generalkompensation entwickelt. Ausgehend von dem Grundgedanken, dass es fundamentaler Bestandteil eines marktwirtschaftlichen Systems ist, dass einzelne Wirtschaftsakteure ihre Wohlfahrtsposition verbessern, während sich die Wohlfahrtsposition von anderen Individuen im Gegenzug verschlechtert, argumentiert Weizsäcker, dass es extrem unwahrscheinlich wäre, dass immer die gleichen Wirtschaftssubjekte durch Innovationen oder wirtschaftspolitische Maßnahmen bevorzugt oder benachteiligt würden. Vielmehr ist laut Weizsäcker davon auszugehen, dass auf längere Sicht die Mehrzahl der Marktteilnehmer positiv vom Wirt___________ 21 Der Vollständigkeit halber sei zudem darauf hingewiesen, dass die Anwendung des Kaldor-Hicks-Kriteriums zu Inkonsistenzen führen kann (siehe bereits Scitovsky 1942 sowie Erlei/Leschke/Sauerland 1999/2007). 22 Erlei/Leschke/Sauerland (1999/2007, S. 17–18); Fehl/Oberender (1976/2004, S. 531–532).

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schaftsgeschehen in einzelnen Wirtschaftsbereichen beeinflusst wird.23 Indem also auf die Umsetzung des Pareto-Kriteriums im Einzelfall verzichtet wird, d. h. alle beteiligten Individuen auch einmal negativ betroffen sein können, und stattdessen auf die Generalkompensation abgezielt wird, werden im Zeitablauf schließlich alle Wirtschaftsbürger besser gestellt.24 Mit dem Prinzip der Generalkompensation ist ein weiteres Effizienzkriterium benannt, das zur Bewertung von alternativen Wirtschaftsordnungen herangezogen wird. Allerdings unterstellt Weizsäcker a priori, dass die Chancen zur Realisierung des Prinzips der Generalkompensation umso höher sind, je ungehinderter Wettbewerbsprozesse ablaufen können,25 womit seine Argumentation tautologisch bleibt, da er systematische Verlierer a priori ausschließt. Zudem vernachlässigt das Prinzip der Generalkompensation, wie auch schon das Kaldor-Hicks-Kriterium, die tatsächliche Verteilungsfrage, weshalb es letztlich ungeeignet ist, normative Aussagen zu treffen und/oder wirtschaftspolitische Reformen zu legitimieren (vgl. hierzu auch Abschnitt VI.).

IV. Institutionen, soziale Eingebundenheit und Effizienz: Die Perspektiven der neuen Institutionenökonomik und der neuen Wirtschaftssoziologie Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die vorgestellten Effizienzüberlegungen insbesondere auf der idealtypischen Annahme basieren, dass perfekte Wettbewerbsmärkte ohne Externalitäten und Transaktionskosten, Macht- und Informationsasymmetrien etc. existieren. Entsprechend stellt sich die Frage, wie alternative ökonomische Ansätze die Frage nach dem Verhältnis von Effizienz und Glück beantworten würden. Hierzu ist insbesondere auf die neue Institutionenökonomik einzugehen, welche in der jüngeren Vergangenheit, vor allem durch die Arbeiten von Douglass C. North (1990, 2005) inspiriert wurde und betont, dass Institutionen bzw. soziale Regeln wichtig für die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes sind.26 Dabei wird explizit unterstellt, dass die wirtschaftliche Effizienz einer Gesellschaft nicht nur von den formellen Institutionen, wie z. B. Gesetze und Verträge, abhängt (die Unsicherheit von Entscheidungen und damit die Transaktionskosten reduzieren)27, sondern dass glei___________ 23

Ähnlich argumentiert bekanntlich auch Hayek (2003). Siehe hierzu Weizsäcker (1984, 1988, 1998) sowie Fehl/Oberender (1976/2004, S. 532–533). 25 Fehl/Oberender (1976/2004, S. 533). 26 Vgl. zum Überblick Kasper/Streit (1998); Furubotn/Richter (2005); Erlei/Leschke/ Sauerland (1999/2007); Voigt (2009). 27 Letztlich wird argumentiert, dass formelle Institutionen (insbesondere spezifizierte Verträge) es den beteiligten Kooperationspartner ermöglichen, ein effizienteres Ergebnis 24

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chermaßen auch informelle Institutionen den wirtschaftlichen Wohlstand eines Landes signifikant beeinflussen.28 Mit der Unterscheidung zwischen formellen und informellen Institutionen (vgl. North 1990) findet die Tatsache Berücksichtigung, dass gesellschaftliche Ordnungen in der Praxis stets geplante wie auch ungeplante Elemente (d. h. spontane Ordnungen) aufweisen.29 Unabhängig von diesem differenzierten deskriptiven Zugang zur Beschreibung ökonomischer Prozesse bleibt aber auch in der neuen Institutionenökonomik Effizienz als Zielpunkt wirtschaftlichen Handelns der harte Kern des Forschungsinteresses. Entsprechend wird argumentiert, dass ein ‚Mismatch‘ von formellen und informellen Institutionen bzw. die Nicht-Berücksichtigung von informellen Regeln höhere Transaktionskosten erzeuge und damit letztlich wirtschaftlich weniger produktiv sei (vgl. grundlegend Richter/Furubotn 2010, Kapitel 2). Die Setzung von Effizienz als normative Prämisse in der neuen Institutionenökonomik wird u. E. besonders deutlich bei der Analyse des „Sozialkapitals“ als Determinante der wirtschaftlichen Entwicklung eines Landes (siehe Durlauf/Fafchamps 2005). Grob gesprochen lässt sich die Arbeitshypothese der Sozialkapitalforschung wie folgt beschreiben: Das Sozialkapital einer Gesellschaft beeinflusst die Möglichkeiten zur Bildung von produktiven Kooperationen zwischen Individuen innerhalb bestimmter sozialer Strukturen und erhöht hierdurch die Leistungsfähigkeit der Gesellschaft.30 ___________ zu realisieren; vgl. z. B. Leschke (2003) und Voigt (2009: Kap. 5). Ein positiver Zusammenhang zwischen ökonomischen Freiheitsrechten und Wirtschaftswachstum wird auch von den Freiheitsindizes hergestellt (siehe Economic Freedom Index; Heritage Index of Freedom). Für einen Überblick über den Stand der empirischen Forschung siehe z. B. Acemoglu/Johnson/Robinson (2005). 28 Vor diesem Hintergrund rücken zunehmend kulturell geprägte Erklärungsansätze in das Interesse der ökonomischen Forschung. Ansätze einer ‚kulturellen Ökonomik‘ verstehen sich dabei als ein integrativer sozialwissenschaftlicher Ansatz, der aber zugleich enge Anknüpfungspunkte zur modernen Institutionenökonomik hat (vgl. Goldschmidt/Remmele 2006). Für einen Überblick siehe Blümle et al. (2004) und Leipold (2006). Eine gute Darstellung der ‚kulturellen Wende‘ in der ökonomischen Handlungstheorie ist in Tanner (2004) zu finden. 29 Vgl. Hayek (2003) und Vanberg (1994, Kapitel 7). Methodologisch beziehen sich diese Fragen aber im Wesentlichen auf eine Weiterentwicklung der ökonomischen Wachstumstheorie, d. h. es wird untersucht, welche Faktoren in welcher Weise und in welcher Intensität die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes beeinflussen. Zusammenfassend könnte man auch sagen, dass die neue Institutionenökonomik sich gewissermaßen aus dem Forschungsprogramm der Neoklassik ableitet, jedoch eine realitätsnähere Perspektive einnimmt, wenn sie etwa Transaktionskosten (Coase 1937) oder opportunistisches Verhalten der Marktakteure (Williamson 1985) in ihre Überlegungen integriert. 30 Vgl. zur Bedeutung von Sozialkapital im internationalen Vergleich z. B. die Arbeiten von Knack/Keefer (1995, 1997); Zak/Knack (2001); Putnam (2001) und Grootaert/ Bastelaer (2002).

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Somit steht für die neue Institutionenökonomik weiterhin die Effizienz im Mittelpunkt des Forschungsinteresses, welche zwar den Einfluss von Sozialkapital, Normen, kulturelle Prägungen etc. als exogene Variablen für wirtschaftliches Wachstum anerkennt, jedoch keinesfalls Gerechtigkeitsfragen gleichrangig zu Effizienzüberlegungen in ihre normative Zielfunktion integriert. Vor diesem Hintergrund ist festzuhalten, dass die neue Institutionenökonomik die Perspektive der neoklassischen Wohlfahrtsökonomik zwar signifikant erweitert, letztlich aber nicht über das Effizienz-Kriterium als normativer Zielpunkt der Wirtschaft herausgeht. So schreibt beispielsweise Voigt (2009, 34–35): „Diese vier stilistischen Forschungsfelder [der Institutionenökonomik] gehören vollständig in ein positives Forschungsprogramm. Hier geht es also nicht darum, Aussagen darüber zu machen, welche Institutionen für eine bestimmte Volkswirtschaft optimal sind, sondern darum zu erklären, [… 1.] wie die Institutionen den freiwillig vereinbarten Austausch von Gütern zwischen privaten Akteuren beeinflussen, [… 2.] welchen Einfluss darauf haben, wie private Akteure wiederholte Transaktionen strukturieren, [… 3.] wie Institutionen die Anreize zu kollektivem Handeln beeinflussen, [… und 4.] wie Institutionen auf Wachstum und Entwicklung wirken.“

Damit erklärt sich einerseits der Erfolg dieser Wissenschaftsdisziplin in den Wirtschaftswissenschaften, gleichermaßen erscheint sie jedoch ungeeignet wirtschaftspolitische Aussagen bzw. eine Aussage zu der Frage nach dem Verhältnis von Effizienz und Gerechtigkeit auch in einer umfassenden sozialwissenschaftlichen Sicht befriedigend beantworten zu können. Einen weiteren Zugang zum Verhältnis von Effizienz und Gerechtigkeit bietet die Wirtschaftssoziologie. Zentraler analytischer und theoretischer Referenzpunkt der Wirtschaftssoziologie sind „die sozialen Strukturen in die wirtschaftliches Handeln eingebettet ist“ (Beckert/Deutschmann 2009, S. 8, Hervorhebungen im Original). Dabei zeichnet sich die Wirtschaftssoziologie insbesondere durch „ihren genauen empirischen Blick“ (Beckert/Deutschmann 2009, S. 8) aus: „Sie begnügt sich nicht mit modellhaften Vorstellungen über die Funktionsweise von Märkten, sondern versucht, genauer zu klären, wie Märkte und Wirtschaftsorganisationen ‚wirklich‘ funktionieren. … Schwerpunkte der Wirtschaftssoziologie sind empirisch-historische ‚dichte‘ Beschreibungen und Analysen sowie das Streben nach empirisch gehaltvollen Erklärungen.“ (Beckert/Deutschmann 2009, S. 8)

Entsprechend definieren Beckert und Deutschmann die Aufgabe der Wirtschaftssoziologie folgendermaßen: „Wir sehen die Aufgabe der Wirtschaftssoziologie in der Erklärung wirtschaftlicher Strukturen und Prozesse mit dem theoretischen und methodischen Instrumentarium der Soziologie. Damit sind auch industriesoziologische und finanzsoziologische Ansätze einbezogen, ebenso wie die Konsumsoziologie und die sich auf das Verhältnis von Staat und Wirtschaft konzentrierende politische Ökonomie.“ (Beckert/Deutschmann 2009, S. 14).

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Wie die neuere Institutionenökonomik übt auch die neue Wirtschaftssoziologie Kritik an der Neoklassik, wobei insbesondere das Verhaltensmodell des homo oeconomicus wie auch die Annahme perfekter Märkte mit vollkommener Konkurrenz und Informationen zum Gegenstand der Kritik werden. Der Zugewinn, den die Wirtschaftssoziologie bieten kann, ist ihre empirisch dichte Beschreibung von Wirtschaftsprozessen, wie sie sich gerade in jüngeren Veröffentlichungen zeigt (vgl. exemplarisch die äußerst gelungene Analyse des Berufsbildungsgesetzes in Deutschland seit 1970 von Marius Busemeyer 2009).31 Eine kohärente normative Perspektive über die Zielpunkte von sozialund wirtschaftspolitischen Maßnahmen sowie ethische Kontroversen liegt hingegen auch für die Wirtschaftsoziologie (bisher) nicht vor. Entsprechend fordern Beckert und Deutschmann dies als ein zweites Aufgabengebiet der Wirtschaftssoziologie in Abgrenzung zur Mainstream-Ökonomik: „Ergänzend hierzu kann der Beitrag der Wirtschaftssoziologie darin bestehen, wirtschaftliche Phänomene von alternativen normativen Prämissen her zu beleuchten. Die Prämisse der ökonomischen Theorie ist das Effizienzpostulat. Damit einher geht eine Gleichgültigkeit gegenüber Fragen der Verteilungsgerechtigkeit. Versteht man jedoch mit der Soziologie die Wirtschaft als ein gesellschaftliches Funktionssystem, das nicht Selbstzweck ist, sondern einen Beitrag zur sozialen Ordnung leistet, dann können Fragen der sozialen Legitimität wirtschaftlicher Ungleichheiten nicht unbeachtet bleiben. Die Frage, wie die Organisation der Ökonomie sowohl dem Kriterium der Effizienz als auch der Forderung nach sozial legitimer Verteilung Rechnung tragen kann, ist eine andere als die nach der Effizienz ökonomischer Arrangements allein.“ (Beckert/Deutschmann 2009, S. 14)

Um es nochmals anders zu formulieren: Die empirische Ausrichtung der neueren Wirtschaftssoziologie und insbesondere ihr Versuch, die positive Wirkung sozialer Beziehungen auf wirtschaftliches Handeln abzuschätzen (vgl. White 2002; Granovetter 1995; Powell/DiMaggio 1991), bleibt in normativer Hinsicht unbefriedigend. Vielmehr führt ihr ‚Einbettungsansatz‘, sprich die Bemessung positiver Wirkungen von sozialen Beziehungen dazu, dass auch hier – trotz entgegenlaufender Versicherungen – wiederum die Frage nach der Effizienz gesellschaftlicher Ordnungen in den Vordergrund rückt. Folglich verwirft die Wirtschaftssoziologie zwar die Annahme, dass Menschen strikt eigennutzorientiert und vollständig rational agieren, sie stellt der Bewertung wirtschaftlicher Systeme jedoch kein alternatives normatives Kriterium gegenüber. Entsprechend resümiert Gertraude Mikl-Horke: „Obwohl die Neue Wirtschaftssoziologie auf die soziale Konstitution und Konstruktion des wirtschaftlichen Handelns hinweist, erfolgt keine grundsätzliche Abkehr von

___________ 31 Damit weisen wirtschaftssoziologische Publikationen durchaus eine gewisse Ähnlichkeit zu den Arbeiten der historischen Schule auf, da auch diese neueren Arbeiten sich in der Regel durch umfassende Detailstudien einzelner Quellen und durch kleinräumige statistisch-empirische Forschung auszeichnen.

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den Annahmen der utilitaristischen neoklassischen Konzeption des rationalen Handelns und auch die darauf beruhende Sicht des Marktes wird nicht in Frage gestellt, sondern durch die Einbeziehung nicht-ökonomischer Aspekte erweitert.“ (MiklHorke 2008, S. 37–38).

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die wohlfahrtsökonomische, aber auch die institutionenökonomische und wirtschaftssoziologische Analyse des Verhältnisses zwischen Effizienz und Glück bzw. Gerechtigkeit gleichermaßen problematisch ist. Akzeptiert man die Vorstellung, dass das Ausmaß der Umverteilung einen Einfluss auf die Größe des Sozialprodukts bzw. die ‚Glückshöhe‘ hat, lassen sich verteilungspolitische Probleme weder durch das Effizienzparadigma noch durch den Rückgriff auf philosophische Theorien lösen, sondern die Verteilungsziele und Präferenzen müssen selbst Gegenstand der ökonomischen Analyse werden (Blankart 2008, S. 82). Entsprechend soll im Folgenden gezeigt werden, dass Effizienz- und Glücks- bzw. Gerechtigkeitsfragen mittels eines ordnungsökonomischen Ansatzes zusammen gedacht werden können.

V. Gesellschaftlicher Konsens und Effizienz: Die ordnungsökonomische Perspektive Moderne Ordnungsökonomik verbindet die traditionellen Ideen der Freiburger Schule zur Herausbildung einer freiheitlichen Wirtschaftsverfassung mit den Überlegungen der Konstitutionenökonomik von James Buchanan sowie mit den Erkenntnissen der evolutionären Ökonomik in der Tradition von Carl Menger und Friedrich August von Hayek.32 Dabei ist es insbesondere Hayek zu verdanken, auf den spezifischen Charakter der Sozialwissenschaften und vor allem der Nationalökonomie hingewiesen zu haben. Im Gegensatz zur physikalischen Welt existieren die Gegebenheiten bzw. Daten der Gesellschaft gerade nicht objektiv, sondern werden immer erst durch die spezifische Relation und subjektive Interpretation der von ihr betroffenen Menschen erzeugt: „Tatsächlich sind die Objektive des Handelns der Gesellschaft oder des Menschen keine ‚objektiven Tatsachen‘ in dem besonderen, engen Sinn, in dem dieser Ausdruck von den Naturwissenschaften verwendet und den bloßen ‚Meinungen‘ gegenübergestellt wird, und sie können in keiner Weise physikalisch definiert werden. Soweit es sich um menschliche Handlungen handelt, sind die Dinge das, was die Menschen glauben, dass sie sind.“ (Hayek 1959/2004, S. 20)

Angesichts dieser Tatsache drehen sich aber sowohl die Perspektive wie auch die normativen Prämissen um. Im Gegensatz zur Wohlfahrtsökonomik ___________ 32

Für eine Einführung in das ordnungsökonomische Forschungsprogramm siehe Hoppmann (1995); Streit (1996); Vanberg (1997/2008) und Goldschmidt/Wohlgemuth (2008). Für einen knappen, aber gelungenen Überblick siehe Borella (2008, S. 40–71).

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und dem Effizienzparadigma der orthodoxen Ökonomik allgemein, die ein bestimmtes Modell des Menschen a priori voraussetzt, geht es der Ordnungsökonomik in der Tradition von Hayek um die Erklärung realen menschlichen Verhaltens sowie – ausgehend von dieser Tatsache – um eine realistische ökonomische Theorie, die das Verhalten des Einzelnen vor dem Hintergrund der spezifischen historischen und kulturellen Situation erklärt: „Es ist wahrscheinlich keine Übertreibung zu sagen, dass in den letzten hundert Jahren jeder bedeutende Fortschritt in der Wirtschaftstheorie ein weiterer Schritt in der konsequenten Anwendung des Subjektivismus war. Dass die Gegenstände der wirtschaftlichen Tätigkeit nicht objektiv definiert werden können, sondern nur in Bezug auf einen menschlichen Zweck, versteht sich hier von selbst. Weder eine ‚Ware‘ oder ein ‚wirtschaftliches Gut‘, noch ‚Nahrung‘ oder ‚Geld‘ können physikalisch definiert werden, sondern nur unter Hinweis auf die Ansichten, die Menschen über diese Dinge haben.“ (Hayek 1959/2004, S. 25)

Aus einer solchen Perspektive ergeben sich jedoch weitreichende Konsequenzen für die Wirtschaftspolitik sowie die Frage nach dem Verhältnis von Glück und Effizienz. Denn während – wie weiter oben ausgeführt – in der vorherrschenden neoklassischen Theorietradition tendenziell einzelne volkswirtschaftliche Positionen gegeneinander aufgerechnet und mit einem idealen Gleichgewichtszustand verglichen werden, um von dort aus Gestaltungsempfehlungen für ein „gerechteres“ Wirtschaftssystem zu geben, setzt die Ordnungsökonomik im Gegensatz nicht bei monetär bewertbaren Positionen und theoretischen Gleichgewichtszuständen mit hohem Wirkungsgrad als Rechtfertigung normativer Ansprüche an, sondern überlässt es vielmehr den betroffenen Individuen, selbst über eine in ihrem jeweiligen Interesse liegende Ordnung zu entscheiden. Marktwirtschaftliche Systeme sowie ihre jeweiligen Ausgestaltungen sind nicht durch ihre positiven Funktionseigenschaften bei der Allokation und Produktion per se gerechtfertigt, sondern durch die Zustimmung der Individuen, die in einer solchen Wettbewerbsordnung leben (vgl. hierzu auch Vanberg 2001). Die Ordnungsökonomik zielt auf die Analyse und Erklärung alternativer Regelsets und somit auf die Suche nach denjenigen gesellschaftlichen Arrangements, die Personen durch die gemeinsame Bindung an bestimmte Regeln wechselseitige Vorteile auf gesellschaftlicher Ebene ermöglichen (vgl. Vanberg 2003) und so in ihrem jeweiligen individuellen Interesse und damit (hypothetisch) zustimmungsfähig sind. In expliziter Abgrenzung zur klassischen Wohlfahrtsökonomik und der damit einhergehenden Konzentration auf bestimmte technische Aspekte wirtschaftlicher Effizienz, auch bspw. bezüglich der Finanzierbarkeit verschiedener sozialstaatlicher Sicherungssysteme, versucht die Ordnungsökonomik, gut begründete Regeln einer sozioökonomisch-politischen Ordnung endogen zu entwickeln. ‚Effizient‘ sind aus diesem Blickwinkel marktliche und politische Prozesse immer dann, wenn sie im gegenseitigen (und damit zustimmungsfähigen) Interesse der betroffenen Individuen liegen.

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Somit untersucht Ordnungsökonomik dezidiert, inwiefern gesellschaftliche Arrangements im Interesse derjenigen liegen, die von diesen Arrangements letzten Endes auch betroffen sind und inwiefern Verbesserungen gefunden werden können, die eine Zustimmung der Betroffenen erfahren. Dabei erhebt sie – im Gegensatz zur klassischen Wohlfahrtsökonomik – die freiwillige Zustimmung der betroffenen Personen als das entscheidende normative Kriterium zur Beurteilung der Wünschbarkeit einer gesellschaftlichen Ordnung (Vanberg 2003, S. 51; vgl. auch Lenger/Goldschmidt 2012). Eine solche Sichtweise eröffnet Spielräume für wirtschafts- und sozialpolitisches Handeln jenseits ausschließlich finanzwissenschaftlicher Überlegungen und stellt somit das individuelle Glück bzw. subjektive Wohlergehen der betroffenen Individuen in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses. Das heißt jedoch keineswegs, dass Wirtschaftspolitik unabhängig von monetären, insbesondere fiskalischen Überlegungen betrieben werden sollte. Die Berücksichtigung von ‚Finanzierungsvorbehalten‘ und ‚Kosten-Ertrags-Rechnungen‘ ist vielmehr ein zentraler Bestandteil bei der Suche nach geeigneten Regeln oder alternativen gesellschaftlichen Arrangements. Jedoch sind die monetären Kosten oder potentiellen Effizienzgewinne einer Maßnahme noch kein absolutes Kriterium für oder gegen eine bestimmte Gestaltung: Die Frage, beispielsweise, ob die Versorgung von Demenzkranken verbessert werden sollte oder nicht, bewegt sich auf einer anderen Ebene als die Frage, ob die Einrichtung stationärer Betreuungseinrichtungen für Demenzkranke das Bruttoinlandsprodukt steigert oder nicht. Die Schließung von Theatern wie von Gefängnissen würde den Staatshaushalt möglicherweise in vergleichbarer Art und Weise entlasten, ob solche Maßnahmen aber den Interessen der Bürger gleichermaßen entsprechen, kann mittels einer monetären Bewertung allein nicht entschieden werden. Die Einsicht in die wirtschaftliche Effizienz bestimmter wirtschaftspolitischer Arrangements ist lediglich ein Element zur Gestaltung einer wirtschafts- und sozialpolitischen Rahmenordnung. Welche Regeln aber letztlich im Interesse einer Gesellschaft sind, ist letztlich der Entscheidung der betroffenen Individuen zu überlassen. Indem die Ordnungsökonomik somit ihre Aussagen ausschließlich auf subjektive Bewertungen ausrichtet, gelingt es ihr, endogene Entscheidungsfindungsprozesse in ihren interdependenten wirtschaftlichen und politischen Dimensionen zu berücksichtigen. Somit kann die Frage, ob der gesellschaftliche Konsens der Effizienz oder die Effizienz dem gesellschaftlichen Konsens folgen sollte aus ordnungsökonomischer Perspektive eindeutig beantwortet werden: Es muss das Ziel einer modernen Wirtschafts- und Sozialpolitik sein, Effizienzüberlegungen nicht zum Zielpunkt sondern zum Zweck der Bedürfnisbefriedigung und Glücksproduktion einzusetzen. Eine Erkenntnis, wie sie auch schon im Vorwort zur ersten Ausgabe des Jahrbuches für die Ordnung der Wirtschaft und Gesellschaft formuliert wurde:

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Alexander Lenger und Nils Goldschmidt „Wir fordern nicht die Wettbewerbsordnung, weil wir uns von vornherein dogmatisch auf diese Mittel festgelegt haben. Unsere Forderung beschränkt sich auf die Schaffung einer Wirtschafts- und Sozialordnung, in der wirtschaftliche Leistung und menschenwürdige Daseinsbedingungen gleichermaßen gewährleistet sind. Weil der Wettbewerb diesem Ziel dienstbar gemacht werden kann, das ohne ihn sogar unerreichbar bleibt, deshalb fordern wir ihn. Er ist Mittel aber nicht letzter Zweck.“ (Vorwort, ORDO 1, 1948: XI)

VI. Effizienz, Glück und Ungleichheit Abschließend sollen noch einige Hinweise zur Beantwortung der Frage, wie das Verhältnis von Effizienz und Konsens prinzipiell zu bestimmen ist, gegeben werden. Wie bereits angesprochen, zielt diese Frage auf das Problem der sozialen Ungleichheit in marktwirtschaftlichen Systemen und somit auf die analytische Überlegung, dass die Akzeptanz wirtschaftlicher Effizienz nicht per se, sondern nur in Abhängigkeit der jeweils realisierten Verteilungsmuster bestimmt werden kann. Es ist also zu fragen, wem die Effizienz eigentlich nützt. Zur Klärung dieser Frage werden im Folgenden die zentralen Befunde der soziologischen Ungleichheitsforschung diskutiert, da u. E. konflikttheoretische Überlegungen zur Entstehung, Reproduktion und Persistenz sozialer Ungleichheit in den Wirtschaftswissenschaften nur begrenzt zur Verfügung stehen (vgl. hierzu Lenger/Goldschmidt 2011 sowie die dort zitierte Literatur). Für ordnungsökonomische und ordnungsethische Überlegungen – so unser zentrales Argument – muss, ausgehend von der realen Lebenswelt, zunächst die Persistenz sozialer Ungleichheit im Lebensverlauf als empirische Tatsache anerkannt werden (exemplarisch Kohli 1990; Mayer 1990; Mayer/Blossfeld 1990; umfassend Hradil 2001), welche in modernen Wissensgesellschaften im Wesentlichen auf faktisch ungleich verteilten Bildungschancen beruhen (vgl. hierzu grundlegend Boudon 1974; Shavit 2007; Becker/Lauterbach 2008 oder auch Blossfeld/Shavit 1993; Lenger 2008, 2009b). Die Illusion sozialer Chancengleichheit zeigt sich für Deutschland aber insbesondere auch in fehlenden Auf- und Abstiegschancen. Verschiedene empirische Erhebungen zeigen, dass beispielsweise weniger als ein Prozent der Bevölkerung aus einem Elternhaus, in dem der Vater ungelernter Arbeiter ist, eine leitende Angestelltenposition besetzen. Dagegen werden ca. zwei Drittel der Kinder aus einer leitenden Angestelltenfamilie selbst zu leitenden oder hochqualifizierten Angestellten. Die statistischen Befunde zeigen, dass Fleiß und Leistung allein eher selten einen sozialen Aufstieg garantieren. Vielmehr determiniert das Elternhaus die Aufstiegschancen wie auch die Abstiegsrisiken. Für Deutschland wird dieses Phänomen auf zweierlei Weise durch seine institutionelle Besonderheit verstärkt. So haben wir in Deutschland mit dem Übergang an die weiterführende Schule erstens ein sehr frühes Selektionsprinzip,

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welches zweitens durch ein stark ausgeprägtes Berufsprinzip verstärkt wird (d. h., dass im späteren Arbeitsleben wenig Möglichkeiten für einen sozialen Aufstieg durch berufliche Neuausrichtung existieren; vgl. exemplarisch Pollak 2010). Die konsequente analytische Berücksichtigung sozialer Ungleichheit erweitert die Diskussion um Effizienz vs. Gerechtigkeit um eine weitere Perspektive. Denn die systematische Anerkennung bestehender und sich im Zeitablauf reproduzierender sozialer Ungleichheiten verdeutlicht, dass es sich um ein strukturelles Steuerungsproblem marktwirtschaftlich verfasster Gesellschaften handelt, welches es – gerade im Sinne einer modernen Ordnungsökonomik – zur Bestimmung wirtschaftspolitischer Ziele angemessen zu berücksichtigen gilt. Denn aus dem Prinzip der freiwilligen Zustimmungsfähigkeit als normative Prämisse ergibt sich notwendigerweise, dass sich Menschen in modernen, demokratischen Gesellschaften zweifelsohne darauf verständigen würden, allen Mitgliedern einer Gesellschaft prinzipiell sowohl die gleichen Rechte als auch die gleichen Chancen, d. h. im weitesten Sinne dasselbe Glück zuzubilligen. Es erscheint daher nicht plausibel bzw. legitim, dass Mitglieder einer demokratisch verfassten Gesellschaft systematisch einzelne Mitglieder von den Chancen (d. h. den allgemeinen Möglichkeiten) einer eigenständigen und gelingenden Lebensführung rigoros ausschließen. Anknüpfend an diese Überlegungen gilt aber auch, dass nur dann, wenn gleiche Startchancen tatsächlich gegeben sind, die Hayek’sche Argumentation Gültigkeit besitzt, nach der die Vorstellung von „sozialer Gerechtigkeit“ als Ergebnisgerechtigkeit prinzipiell inkompatibel zu den Funktionsprinzipien einer Marktwirtschaft sind (Hayek 1973–9/2003). Eine systematische Ungleichheit von Startbedingungen erzeugt zwangsläufig eine Ungleichheit von Macht- und Aktionspotentialen im marktwirtschaftlichen Wettbewerb und führt somit konsequenterweise zu einer Ungleichverteilung an Effizienzgewinnen. Eine solche Überlegung korrespondiert unmittelbar mit dem Befund von Walter Eucken und Franz Böhm, wonach ohne eine entsprechende ordnungspolitische Flankierung der Wettbewerb eine Gruppe systematischer Verlierer erzeugt, da letztlich „die Marktstellung […] über die Machtstellung entscheidet“ (Eucken 1940/1989, S. 202; Hervorhebungen im Original) und in diesem Sinne auch die Marktstellung über das individuelle Glück zumindest mitentscheidet. Berücksichtigt man nun aber die zuvor hergeleitete Tatsache, dass sich die normative Qualität einer Marktwirtschaft nicht alleine aus ihrer Effizienz bzw. Gesamtproduktivität ableitet, sondern letztlich aus der freiwilligen und dauerhaften Zustimmung aller Beteiligten resultiert, weil sie Wohlfahrtsgewinne für alle Marktteilnehmer verspricht (vgl. hierzu wiederum Weizsäcker 1984, 1988, 1998), so muss die faktische Verteilung dieser Produktivitätsgewinne zwangsläufig zu einem zentralen Gegenstand einer modernen Ordnungsökonomik

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werden. Ansonsten läuft eine ordnungsökonomische Argumentation Gefahr zu verkennen, dass die fehlende Zustimmung der systematischen ‚Verlierer‘ des Marktprozesses nicht einfach an einem fehlenden Verständnis für marktwirtschaftliche Prozesse liegt, sondern daran, dass sie eben die systematischen Verlierer des Marktspiels sind. In diesem Sinne gilt es aber auch anzuerkennen, dass die grundsätzliche wirtschaftliche Besserstellung aller (Effizienz) für die Verfolgung eigener Interessen (Glück) keine (unmittelbare) Rolle spielt.33 Vor diesem Hintergrund wird umso deutlicher, dass das auf Effizienz ausgerichtete Kriterium der individuellen Leistungsbereitschaft niemals als das alleinige entscheidende Legitimationskriterium zur Akkumulation erwünschter Ressourcen in einer Marktwirtschaft herangezogen werden kann. Eine solche Perspektive vernachlässigt bestehende Macht- und Informationsasymmetrien, unterschiedliche Ressourcenausstattungen sowie grundlegend verschiedene Möglichkeiten zur Teilnahme an gesellschaftlichen Verteilungsprozessen. Vielmehr muss eine moderne Ordnungsökonomik darauf abzielen, eine privilegienfreie Gesellschaftsordnung um die Möglichkeit zu ergänzen, alle Bürger zur Teilnahme am produktiven Wettbewerb fortlaufend zu befähigen. Um jedoch der systematischen Ausgrenzung von bestimmten Personengruppen entgegenzuwirken, bedarf es sozialer Chancen und sozialer Schutzmaßnahmen (vgl. allgemein Föste 2006). Diese Überlegungen werden in der sozialwissenschaftlichen Theorie aktuell unter dem Topos der Inklusion abgehandelt,34 welche auf die sozialpolitische Teilhabe von Personen am gesellschaftlichen Wohlstand abzielt. Ziel einer modernen inklusiven Wirtschaftsbzw. Sozialpolitik ist es, bestehende strukturelle, soziale und individuelle Unterschiede, die durch eigene Anstrengungen nicht verändert werden können, in ihrer Bedeutung aufzuheben oder zumindest abzumildern. Eine moderne Gesellschaft – die im Anschluss an die vorgestellten Überlegungen als ein (freiwilliger) Zusammenschluss von einzelnen Individuen verstanden werden muss – sollte folglich daran gemessen werden, inwiefern es gelingt, allen Mitgliedern einer Gesellschaft die prinzipielle Möglichkeit zu geben, vollwertiges Mitglied der Gesellschaft zu sein, ein dem Standard der Gesellschaft angemessenes Leben zu führen und Optionen zur Gestaltung des eigenen Lebensweges wahrnehmen zu können.

___________ 33 Wobei soziale Präferenzen, d. h. das Wohlergehen der Mitmenschen, durchaus einen entscheidenden Einfluss auf unsere Glücksfunktion hat (vgl. z. B. Fehr/Fischbacher 2002). 34 Zu den vielfältigen Verwendungsweisen der Begriffe Inklusion und Exklusion siehe Stichweh (2005) oder Bohn (2006, S. 12–20).

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Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Forderung nach Inklusion in ordnungsökonomischer Perspektive fordert, dass gesellschaftliche Teilhabe im Idealfall durch marktwirtschaftliche Teilnahme realisiert werden muss.35 Erst ein regelmäßiges, konkurrenzfähiges Einkommen ermöglicht es einem Großteil der Gesellschaft, selbständig überlebensfähig Teil der Marktgesellschaft zu sein. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass naturgemäß einige Gesellschaftsmitglieder hierzu nicht oder nur sehr beschränkt in der Lage sind – hier denken wir insbesondere an Kinder, Alte, Kranke und zunehmend auch Unqualifizierte oder Menschen mit einer Qualifikation, die am Markt nicht mehr benötigt wird. Entsprechend muss jegliche wettbewerbliche Ordnung – folgt man dem oben angesprochenen Postulat freiwilliger Zustimmung als Beurteilungsmaßstab einer gesellschaftlichen Ordnung – durch sozialpolitische Maßnahmen ergänzt werden, um zu gewährleisten, dass alle beteiligten Individuen in die Gesellschaft inkludiert werden und auch dauerhaft bleiben. Damit sollte aber auch hinreichend deutlich geworden sein, dass die Frage, wem die Effizienz zu Gute kommt, aus einer solchen Perspektive keinen Bestand hat, weil sich ihre Antwort substantiell gegen die normative Zielsetzung der Gesellschaft richtet. Vielmehr ist herauszustellen, dass gerade die Antwort auf die Frage, dass Effizienz bestimmten Schichten bzw. Personenkreisen nützlicher ist als anderen, darauf hinweist, dass das Primat gesellschaftlicher Gestaltung nicht alleinig auf den Wirkungsgrad wirtschaftlicher Maßnahmen gelegt werden kann, sondern dass gleichermaßen wirtschafts- und sozialpolitische Maßnahmen im konstitutionellen Interesse der Bürger liegen, die in der Argumentationsfigur ‚konsensuale Zustimmung‘ ihre wissenschaftspragmatische Heuristik findet.

VII. Fazit Glücksforschung und Ordnungsökonomik verbindet das analytische Vorgehen, gesellschaftliche Prozesse nicht allein an ökonomische Erwägungen, sondern an das subjektive Wohlbefinden bzw. die individuellen Lebensmöglichkeiten zurückzubinden. Diesem von beiden Theorielinien formulierten Anspruch muss sich eine moderne Wirtschaftswissenschaft insgesamt stellen, sofern sie weiterhin gesellschaftliche Relevanz entfalten will: Der Verweis auf die (langfristige) Effizienz von Wettbewerbsprozessen ist mit Blick auf eine tragfähige, am Lebensglück der einzelnen Menschen orientierte Vorstellung von Gesellschaft unterkomplex und gerechtigkeitstheoretisch unzureichend. ___________ 35

Vgl. für eine ausführliche Herleitung dieser Argumentation: Goldschmidt (2010, S. 71–75); Fuchs-Goldschmidt/Goldschmidt (2010); Goldschmidt/Fuchs-Goldschmidt (2011); Lenger/Goldschmidt (2012) und Lenger/Goldschmidt (2011).

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Vielmehr muss die Perspektive individueller Lebenszufriedenheit (wieder) in das Zentrum ökonomischer Diskussionen gerückt werden und damit auch eine sozialphilosophisch und soziologisch befriedigende Perspektive, die zur Begründung gesellschaftlicher Prozesse und politischer Empfehlungen taugt.36 Vor diesem Hintergrund bietet die moderne Ordnungsökonomik u. E. tragfähige Argumente, die für den Methodendiskurs in den Wirtschaftswissenschaften allgemein von Nutzen sein können. Hierzu zählen die klare Ausrichtung am Einzelnen und seinen/ihren individuellen Lebenschancen innerhalb der Gesellschaft, unabhängig von Angebot, Nachfrage und Wirkungsgrad. Flankiert wird eine solche methodologische Ausrichtung durch eine tragfähige, auf individuelle Zustimmungsfähigkeit zurückgreifende normative Argumentation, welche die Teilhabe und Teilnahme an gesellschaftlichen Prozessen als Zielpunkt moderner Gesellschaftspolitik begreift.

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___________ 36 Dass dies bislang auch der Glücksforschung nicht gelungen ist, betont auch Hirata: „Das den meisten Glücks-Forschungsprogrammen augenscheinlich zugrunde liegende normative Interesse, Ansätze für die Verbesserung individueller oder gesellschaftlicher Entwicklung zu finden oder zumindest differenziertere Kriterien zur Beurteilung von Lebensqualität zu gewinnen, erfordert jedoch eine bewusste, ethische Auseinandersetzung mit Wertfragen, insbesondere natürlich, wenn explizit Politikempfehlungen ausgesprochen werden.“ (Hirata 2010, S. 145).

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___________ 1 2

Siehe dazu Buchanan (1984). Siehe dazu Vanberg (2008).

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Peter Schallenberg und Arnd Küppers

Die Berechtigung des theologischen Ethikers, so zu verfahren, liegt darin, dass die Soziale Marktwirtschaft, die auch der Fluchtpunkt des Textes von Goldschmidt und Lenger ist, eben nicht nur ein Ensemble institutioneller Arrangements darstellt. Die Soziale Marktwirtschaft ist vor allem anderen ein normatives Konzept, dem eben bestimmte Werte und Ideen zugrundeliegen, die in der christlichen Kultur des Abendlandes wurzeln. Das haben auch die Bischöfe der Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Gemeinschaft (COMECE) in der Anfang 2012 erschienenen Erklärung „Eine europäische Solidaritäts- und Verantwortungsgemeinschaft“ festgestellt. Dort heißt es: „Das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft verbindet das Prinzip der Freiheit auf dem Markt und das Instrument der Wettbewerbswirtschaft mit dem Prinzip der Solidarität und Mechanismen des sozialen Ausgleichs. Diese Verbindung ist keine bloße Klugheitsentscheidung einer rein instrumentellen Vernunft, sondern beruht auf einer Wertentscheidung, die getragen wird von den moralischen Grundlagen unserer europäischen Kultur. Sie wurzelt in unserem geschichtlichen Erbe. Genauer gesagt: Die Idee der Sozialen Marktwirtschaft gründet auf dem christlich-abendländischen Menschenbild der Personalität und der der europäischen Kultur eigentümlichen Verbindung von antiker Gerechtigkeits- und Liebesethik, die aus den Quellen der griechischen Philosophie, des römischen Rechtsdenkens und der Bibel hervorgegangen ist. Die heute in Europa präsenten Formen der Sozialen Marktwirtschaft sind ohne dieses kulturelle Erbe nicht denkbar.“3

Goldschmidt und Lenger beziehen sich in ihren Ausführungen freilich nicht allein auf diesen Begriff der Sozialen Marktwirtschaft im weiteren, im kulturellen Sinne. Sie stellen sich explizit in die Tradition des Ordoliberalismus und der Ordnungsökonomik als wichtiger Inspirationsquelle der Sozialen Marktwirtschaft im engeren Sinne, also der konkreten Wirtschaftsverfassung, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik Deutschland etabliert worden ist. Das bietet der theologischen Ethik einen weiteren Anknüpfungspunkt. Denn das konkrete institutionelle Arrangement, das in der jungen Bundesrepublik errichtet und „Soziale Marktwirtschaft“ getauft wurde, war keineswegs nur durch den Ordoliberalismus beeinflusst. Eine weitere wichtige Inspirationsquelle war die katholische Soziallehre. Ralf Dahrendorf hat oft darauf hingewiesen, dass Ordoliberalismus und katholische Soziallehre sich dabei nicht passgenau ergänzt haben. Vielmehr gab es Spannungen und Brüche. 2004, im Rahmen der dritten Ludwig-ErhardLecture der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“, sagte er: „Wer in Deutschland von Sozialer Marktwirtschaft spricht [....] meint Ludwig Erhard plus katholische Soziallehre, jenes Programm der Unvereinbarkeiten, das die frühe CDU und CSU prägte und in gewissem Maße bis heute prägt, wobei die SPD es nach Bad Godesberg 1960 und mehr noch nach Karl Schiller über___________ 3 Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Gemeinschaft (COMECE) (2012), Ziffer 1.

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nommen hat.“4 In einem Interview, geführt ein halbes Jahr vor seinem Tod mit Patrick Bahners und Alexander Cammann von der Frankfurter Allgemeinen, wandte sich Dahrendorf deshalb auch gegen das landläufige Diktum von Erhard als dem „Vater der Sozialen Marktwirtschaft“: „Natürlich wollte Erhard keine soziale Marktwirtschaft; das Soziale kam aus der katholischen Soziallehre via Adenauer, der einen guten Sinn für die Bilanz des Unvereinbaren hatte. Erhard war ursprünglich gegen die Rentenreform 1957 und schon gar nicht für die Mitbestimmung.“5 In der Tat kann man die Entstehung der Sozialen Marktwirtschaft zu einem guten Teil aus dem machtpolitischen Kalkül Konrad Adenauers rekonstruieren, sowohl den Wirtschaftsflügel als auch den Sozialflügel in der neuen Volkspartei CDU fest zu integrieren. Die Sozialausschüsse waren für Erhard und seine Brigadiers ein rotes Tuch, während Johannes Albers und seine Leute von der CDA den liberalen Erhard als ein trojanisches Pferd in den Reihen der Union sahen. Adenauer aber wollte vor der ersten Bundestagswahl eine glasklare programmatische Abgrenzung gegenüber der Sozialdemokratie. Dazu musste die CDU die Idee eines „christlichen Sozialismus“, die noch das Ahlener Programm von 1947 geprägt hatte, über Bord werfen. Zu diesem Zweck holte Adenauer Erhard ins Boot. Soziale Marktwirtschaft ist demnach eine zunächst einmal politisch begründete „Quadratur des Kreises“. Anders als die Vertreter einer reinen ordoliberalen Lehre hatte Dahrendorf damit aber kein grundsätzliches Problem. „Theoretisch Unvereinbares muss praktisch nicht abwegig sein“, sagte er 2004. „Wir leben ja immerfort mit Widersprüchen und ziehen sogar Gewinn daraus. Es ist eines von Konrad Adenauers historischen Verdiensten, dass er den Widerspruch von Marktwirtschaft und Sozialpolitik ertragen, ja zum Programm erhoben hat.“6 Aus der Perspektive einer christlichen Sozialethik liegt das besondere Verdienst des Forschungsprogramms von Goldschmidt und Lenger nun darin, dass sie auch auf der Ebene der ökonomischen Theorie versuchen, die Unvereinbarkeit von Markt und Sozialem zu überwinden. Die ethischen Referenzbegriffe des Glücks und der Gerechtigkeit, die sie hierbei heranziehen, sollen im Folgenden aus der Perspektive einer theologischen Ethik kommentierend und ergänzend in den Blick genommen werden. Die Begriffe des Konsenses und der ___________ 4 Dahrendorf (2004), S. 13. Noch weiter als Dahrendorf geht der Bremer Politikwissenschaftler Philip Manow in seinem Urteil. Er schreibt, die Soziale Marktwirtschaft sei für die Ordoliberalen um Eucken und Erhard weitestgehend eine innenpolitische Niederlage gewesen. Manow (2010). Dazu Schallenberg/Küppers (2011), S. 3–9. 5 Dahrendorf (2008). 6 Dahrendorf (2004), S. 13.

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Effizienz sollen erst im abschließenden Fazit noch einmal aufgegriffen und thematisiert werden. Effizienz ist ein der theologischen Ethik weitgehend fremder Begriff. Das Konsenskriterium hingegen ist in der Diskussion der modernen Sozialethik, auch der theologischen Sozialethik äußerst prominent. Hier liegt unseres Erachtens aber auch ein noch uneingelöstes Desiderat in dem Forschungsprogramm von Goldschmidt und Lenger. Deswegen soll auch dieser Punkt am Ende des Aufsatzes thematisiert werden.

I. Glück in der Perspektive christlicher Theologie und Ethik Goldschmidt und Lenger stellen fest, dass es der Glücksforschung weithin an einer normativen Fundierung bzw. Orientierung ihrer politischen und sozialen Zielsetzungen mangelt, die über einen diffusen Utilitarismus hinausgeht. Hier könnte eine Rückbesinnung auf ältere Traditionen hilfreich sein. Denn das Glück war ein Topos von Philosophie und Theologie, lange bevor die Ökonomie als eigene Wissenschaft entstand. Schon bei Aristoteles ist die eudaimonia das telos, das Ziel des menschlichen Lebens.7 Die christlichen Philosophen und Theologen des Mittelalters sprechen von der beatitudo, wobei die beatitudo perfecta, die vollkommene Glückseligkeit für die Christen natürlich in der visio essentiae divinae, der beseligenden Schau Gottes in der Ewigkeit besteht.8 Das christliche Menschenbild könnte man in Anlehnung an den Münchener Kabarettisten Karl Valentin zugespitzt so auf den Punkt bringen: „Der Mensch an sich ist gut, aber er wird immer seltener!“ Genau das ist mit der alttestamentlichen Rede vom sagenhaften Garten Eden, dem vergangenen Paradies der Idealität, und mit der Rede von der ursprünglichen Gottesebenbildlichkeit des Menschen im Schöpfungsbericht gemeint: Der Kern des Menschen, sein ursprüngliches Wesen also, ist als Ideal gedacht; es ist gut infolge der Teilhabe an Gottes vollkommener Gutheit und damit vom Wesen her auf das Gute und – christlich gedacht – auf Gott hin ausgerichtet. Aber der Mensch erlebt sich zugleich auch als Mängelwesen, als durch Defekt und „Ursünde“ je schon in seiner Freiheit zum Guten und zum vollkommenen Glück eingeschränkt. Die Schöpfung Gottes als innerste Wesensnatur des Menschen ist eingeschränkt durch die ebenso zur faktischen Natur des Menschen gehörende Fähigkeit zur Verfehlung und zum Bösen. Daher muss diese wesenhafte, aber gebrochene Freiheit zum Guten und zum Besten gefördert und angereizt werden. Mit anderen Worten: Es braucht Anreizsysteme für den Menschen, damit er im Gewissen sich auf das Gute hin ausbildet und aus___________ 7 8

Siehe dazu Ackrill (1995), S. 39–62. Siehe dazu Heinzmann (1998).

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streckt, damit er das Gute in konkreter Gestalt in seinem Leben für attraktiv hält und es in die Tat des Alltags umsetzt. Dies charakterisiert den christlichen Begriff von Bildung: Aus-Bildung des ursprünglichen Gottesebenbildes durch entschiedene Gewissens- und Herzensbildung, damit das Bild des Guten konkrete Gestalt im Denken und Handeln gewinnt. Nach der traditionellen christlichen Staats- und Sozialphilosophie ist solche Bildung keineswegs nur eine Aufgabe von Personen, sondern ebenso von Institutionen, näherhin von Staat und Wirtschaft: Die guten Strebungen des Menschen sollen durch Anreize gefördert, die Versuchungen zum Bösen dagegen durch Sanktionen abgewehrt werden. Denn dem Menschen fehlen instinktive und unfehlbare Neigungen zum Guten und zum Besten, er neigt zu Fremd- und Selbstzerstörung, er hält ein nur scheinbar Gutes für ein wirklich Gutes und verstrickt sich auf der Suche nach dem Guten im Vorletzten, in der Sünde, im Bösen. Dieses Menschenbild ist der geistige Hintergrund, vor dem sich die abendländischen ethischen Traditionen ausbildeten, die Wege zu gelungenem und geglücktem Leben suchten. Die menschliche Wesensnatur verwirklicht sich nach deren Grundkonzept im Raum gesellschaftlicher und staatlicher Ordnung und Zivilisation. Kultur erscheint dann als notwendiger Humus einer menschenwürdigen Gesellschaft und einer menschenwürdigen Wirtschaft; Kultur bildet die notwendige Ergänzung und Überformung einer in sich gebrochenen Natur. Diese menschliche Natur trägt zwar noch die Erinnerung an das Beste (an das ursprüngliche Paradies des geglückten Lebens) in sich, ist aber aus sich heraus nicht in der Lage, dieses Glück zu erreichen. Zwischen diesen beiden Polen – Freiheit des Menschen als Ebenbild Gottes einerseits und durch den Sündenfall korrumpierte Natur des Menschen andererseits – bewegt sich die gesamte vormoderne christliche Sozialphilosophie. In der sich vom Christentum emanzipierenden und distanzierenden Philosophie der Neuzeit wird diese Ambivalenz im Menschenbild in der einen oder der anderen Richtung oftmals aufgelöst. Paradigmatisch dafür stehen die Namen Jean-Jacques Rousseau und Thomas Hobbes. Rousseau ist dabei der anthropologische Optimist. Er glaubt, eine ursprüngliche, gute menschliche Natur einfach wiederherstellen zu können, und zwar durch eine radikal subjektivistische Moral. „Rousseau errichtet einen neuen, einen konsequent subjektiven Maßstab, der Epoche machen sollte. Dieser Maßstab lautet: Übereinstimmung – nicht mit einer objektiven Norm, sondern mit sich selbst.“9 Thomas Hobbes dagegen hat ein pessimistisches, dezidiert antiaristotelisches Menschenbild und sieht in dem allmächtigen Staat, dem Leviathan, die einzige Möglichkeit, den Menschen vor der Verderbtheit und Gewalt von seinesgleichen zu retten. ___________ 9

Spaemann (1992), S. 23.

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Beide Extrempositionen sind der traditionellen christlichen Anthropologie und Ethik fremd. Des Menschen Natur ist demnach korrumpiert, er ist deshalb nicht durch und durch gut; das Böse, zumindest die Möglichkeit und auch eine gewisse Geneigtheit zum Bösen gehören zu seiner tatsächlichen Natur. Aber dieses Böse kann den guten Kern seiner idealen Natur nicht zerstören. Deswegen ist auch Hobbes aus christlicher Perspektive zu widersprechen. Das Paradies ist auf Erden, im Geist des Menschen nämlich und in guten Gedanken, bruchstückhaft zu erkennen und auch durch Anreize zum Guten in Umrissen und wenigstens skizzenhaft zu erstellen. Das Streben jedes Menschen nach Glückseligkeit führt, kantianisch gesprochen, zu der Variante des Kategorischen Imperativs, wonach zu tun ist, wodurch der Mensch würdig ist, glücklich zu sein: in Übereinstimmung mit sich als dem Wesen der Sittlichkeit zu leben. Natürlich ist diese vormoderne christliche Sozialphilosophie nicht einfachhin in unsere moderne/postmoderne Gesellschaft übersetzbar. Aber in unserer Kultur sind die Erinnerungen an die in ihrem Horizont entwickelten menschenwürdigen Mittel der Glücksgewinnung gleichsam gespeichert. Das stellt mit Jürgen Habermas auch ein durchaus unverdächtiger Zeuge fest: „Das Christentum ist für das normative Selbstverständnis der Moderne nicht nur eine Vorläufergestalt oder ein Katalysator gewesen. Der egalitäre Universalismus, aus dem die Ideen von Freiheit und solidarischem Zusammenleben, von autonomer Lebensführung und Emanzipation, von individueller Gewissensmoral, Menschenrechten und Demokratie entsprungen sind, ist unmittelbar ein Erbe der jüdischen Gerechtigkeits- und der christlichen Liebesethik. In der Substanz unverändert, ist dieses Erbe immer wieder kritisch angeeignet und neu interpretiert worden. Dazu gibt es bis heute keine Alternative. Auch angesichts der aktuellen Herausforderungen einer postnationalen Konstellation zehren wir nach wie vor von dieser Substanz. Alles andere ist postmodernes Gerede.“10 Von diesem Gedanken des Strebens nach Glück her, wie es auch in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 heißt, kann der Begriff der unveräußerlichen Menschenwürde gedeutet werden: Es ist das Recht des Individuums auf eine würdige, seiner Vernunft und seinen Neigungen angemessene Glücksstrebung. Daher unterstreicht Otfried Höffe: „Die Neigungen sind übrigens nicht glücksunwürdig, vielmehr für sich genommen unschuldig. Nur die Mittel und Wege sind des Glückes würdig (z. B. Ehrlichkeit) oder aber unwürdig (Betrug).“11 Für das Menschenbild von Staat und Wirtschaft heißt das aus Sicht der christlichen Theologie: Dem Individuum und seiner gebrochenen Freiheit zum Guten gebührt der ständige Vorrang vor dem Kollektiv, der Person gebührt der ___________ 10 11

Habermas (2001), S. 174f. Höffe (2004), S. 294, Anm. 46.

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Primat vor der Gesellschaft. Daher unterstreicht die katholische Soziallehre den zentralen Wert von Personalität und Subsidiarität. „[D]er Mensch ist älter als der Staat“12, schreibt schon Papst Leo XIII. 1891 in der ersten Sozialenzyklika Rerum Novarum. Nicht der Staat hat ursprünglich ein Recht, sondern jede Person hat unveräußerliche Grundrechte, und der Staat hat nur insoweit Recht (einschließlich des Gewaltmonopols), als er bedrohte Rechte von Personen zu schützen hat. Jedem offenkundigen oder auch klandestinen Unterjochen der Person durch einen philosophischen oder ökonomischen Utilitarismus oder durch totalisierende Gesellschaftssysteme ist entschieden zu widersprechen und zu widerstehen. Aber umgekehrt gilt auch: Die Entfaltung des Menschen im Blick auf ein gelingendes Leben ist von Staat und Gesellschaft entschieden zu fördern. Darauf zielt der Begriff des Gemeinwohls in der katholischen Soziallehre ab. Gemeinwohl ist dabei gemäß der klassischen Definition in Mater et Magistra (1961) der „Inbegriff jener gesellschaftlichen Voraussetzungen, die den Menschen die volle Entfaltung ihrer Werte ermöglichen oder erleichtern.“13 Das Gemeinwohl ist in diesem Verständnis also keine quantitative Größe, meint nicht die Summe der Einzelwohle. Das eben ist der Gemeinwohlbegriff des Utilitarismus oder auch des Staatssozialismus, die von der Möglichkeit des planerischen Kalküls gesamtgesellschaftlicher Nutzenmaximierung ausgehen. Das Gemeinwohl, von dem die kirchliche Soziallehre spricht, ist demgegenüber eine qualitative Größe, die darauf gerichtet ist, die gesellschaftlichen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die Einzelnen ihre je eigenen Zwecke in der sozialen Kooperationsgemeinschaft bestmöglich erreichen können.14 Dieses Konzept geht dabei gerade nicht davon aus, dass eine zentrale Instanz, sei es die Sozialphilosophie oder eine staatliche Planungsbehörde, in der Lage wäre, die Gesamtheit der Wünsche der Menschen zu erkennen und ihre materiale Realisierung zu organisieren. Wohl aber wird von der Möglichkeit ausgegangen, durch die Gestaltung von sozialen Regeln und Institutionen gute Realisierungsbedingungen dafür bereit zu stellen, dass die Menschen in ihrem Streben nach Glück erfolgreich sein können.

II. Soziale Gerechtigkeit als Beteiligungsgerechtigkeit Dass die Menschen in ihrem Streben nach Glück nicht auf Abwege geraten, sich nicht verirren, das zu verhindern ist in unserer postmodernen Moderne nicht mehr die Aufgabe eines christlichen Staates, kann es nicht sein unter den ___________ 12

Rerum Novarum (1891), Ziffer 7. Mater et Magistra (1961), Ziffer 65. 14 Siehe dazu Nothelle-Wildfeuer (2008), S 142–163, hier: S. 145.

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Voraussetzungen einer auch in kultureller Hinsicht pluralistischen Gesellschaft. Hier liegt der Grund des viel diskutierten Böckenförde-Dilemmas, das bekanntlich auch Ausgangspunkt des Gespräches des damaligen Kardinals Joseph Ratzinger mit Jürgen Habermas in der Katholischen Akademie München im Januar 2004 war.15 Der Theologe und der Philosoph gingen an jenem Abend der Frage nach, wie unter der Voraussetzung der faktischen Pluralität weltanschaulicher Überzeugungen und kultureller Identitäten in der Welt von heute solche Voraussetzungen eines gedeihlichen Zusammenlebens der Menschheit theoretisch und praktisch rekonstruiert werden könnten. Auch auf diese Frage kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Im Bewusstsein, dass hierbei also ein wesentlicher gedanklicher Schritt übersprungen wird, soll vielmehr der Frage nachgegangen werden, wie von dem oben skizzierten Gemeinwohlverständnis aus das von Goldschmidt und Lenger diskutierte Verhältnis zwischen Effizienz und Gerechtigkeit bestimmt werden kann. Denn nicht mehr das Glück, nicht mehr die eudaimonia, die beatitudo, das gute Leben, sondern die Gerechtigkeit ist der Leitbegriff der modernen Sozialphilosophie. Und Gerechtigkeit ist in diesem modernen Sinne – paradigmatisch formuliert bei John Rawls – politisch und nicht metaphysisch zu verstehen: Es geht eben nicht darum, eine bestimmte Konzeption des Glücks bzw. des gelingenden Lebens zu fördern, sondern das gedeihliche und friedliche Zusammenleben von Menschen mit ganz unterschiedlichen Glücksvorstellungen und Lebenskonzepten zu organisieren.16 In der Tradition der katholischen Soziallehre stehen Gerechtigkeit und Gemeinwohl in engem Zusammenhang. Soziale Gerechtigkeit wird hier gar als Synonym für Gemeinwohlgerechtigkeit verstanden. Oswald von Nell-Breuning, der Nestor der katholischen Sozialwissenschaften im 20. Jahrhundert, schreibt: „,Sozial gerecht‘ ist, was das Gemeinwohl erfordert oder mindestens ihm nicht zuwider ist; wer dem Gemeinwohl zuwiderhandelt, der versündigt sich damit gegen die soziale Gerechtigkeit. So sind ,soziale Gerechtigkeit‘ und ,Gemeinwohl‘ geradezu zwei Namen für ein und dieselbe Sache.“17 Unsere Terminologie ist heute eine andere. Auch das hat verschiedene Gründe, auf die hier nicht eingegangen werden kann. Aber der Sache nach ist eine Anknüpfung an das oben skizzierte Gemeinwohlverständnis weiterhin sehr gut geeignet, um dem in der politischen und gesellschaftlichen Debatte schillernden Begriff der sozialen Gerechtigkeit einen vertretbaren Inhalt zu geben. Soziale Gerechtigkeit ist dann nämlich nicht bloß ein Schlagwort, mit dem man alle möglichen Forderungen der unterschiedlichen Interessengruppen bekräfti___________ 15

Siehe dazu Habermas/Ratzinger (2005). Siehe dazu Rawls (1992), S. 255–292. 17 Nell-Breuning (1985), S. 361.

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gen kann, sondern ein Wert, ein ethischer Orientierungsmaßstab also, vor allem für politisches Handeln. Das hat sich nach diesem Maßstab am Gemeinwohl auszurichten, also daran, dass möglichst alle Menschen die Voraussetzungen für ein selbstbestimmtes, eigenverantwortliches Leben in Sicherheit und Freiheit haben. Terminologisch werden heute Gerechtigkeitsbegriffe bevorzugt, die klarer den zentralen Bezug der Gerechtigkeit auf den Menschen und auf sein Recht zu personaler Entfaltung herausstellen. In der katholischen Soziallehre ist das der Begriff der Beteiligungsgerechtigkeit, den auch Goldschmidt und Lenger als normativen Leitbegriff einer modernen inklusiven Wirtschafts- und Sozialpolitik empfehlen. Es ist kein Zufall, dass dieser Begriff seinen Ursprung in den USA zu Zeiten der sogenannten „Reagonomics“ hat. Die katholischen Bischöfe der USA haben 1986 ihr Unbehagen über den damaligen Kurswechsel in der amerikanischen Wirtschafts- und Sozialpolitik in ihrem Hirtenbrief Economic Justice for All ausgedrückt. Aber – und das ist die eigentliche Leistung dieses Papiers – sie haben sich nicht auf bloße Kritik beschränkt oder eine Rückkehr zu dem alten wohlfahrtsstaatlichen Arrangement gefordert. Sondern sie haben die berechtigten Aspekte der Kritik an dem überkommenen Wohlfahrtsstaatsmodell aufgegriffen und versucht, eine neue Perspektive aufzuzeigen, indem sie soziale Gerechtigkeit nicht mehr bloß als Verteilungsgerechtigkeit, sondern auch als contributive justice, als Beteiligungsgerechtigkeit definiert haben. Wörtlich heißt es: „Die soziale Gerechtigkeit beinhaltet, dass die Menschen die Pflicht zu aktiver und produktiver Teilnahme am Gesellschaftsleben haben und dass die Gesellschaft die Verpflichtung hat, dem Einzelnen diese Teilnahme zu ermöglichen.“18 Damit sollte nicht lediglich ein neuer Aspekt unter den Begriff der sozialen Gerechtigkeit subsumiert, sondern, „ein unabdingbares und vorrangiges ethisches Leitkriterium im Gesamtkonzept sozialer Gerechtigkeit“19 formuliert werden. Dieses „fragt nicht primär danach, wie faire Distributionsverhältnisse zu erreichen sind, sondern welche sozialen Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit jeder Mensch eine würdige, demütigungsfreie Existenz als anerkanntes Mitglied der sozialen Gemeinschaft führen kann. In diesem Sinne wird soziale Gerechtigkeit nicht alleine durch eine materielle Versorgung aller realisiert, sondern erst durch die Teilhabe aller an den wesentlichen politischen, ökonomischen und kulturellen Vollzügen innerhalb der Gesellschaft.“20

___________ 18

Economic Justice for All (1987), 71. Seibel (2005), S. 259. 20 Küppers (2008), S. 165–174, S. 171. 19

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Während ein auf Verteilungsgerechtigkeit fokussierter Sozialstaat sich lange Zeit damit begnügte, Unfreiheit im Sinne eines Mangels an sozialen Verwirklichungschancen lediglich zu verwalten und finanziell abzufedern, ist die Perspektive der Beteiligungsgerechtigkeit darauf gerichtet, Chancen zu eröffnen und damit Freiheit (neu) zu ermöglichen. Diese Erweiterung der Perspektive führt dazu, dass mit der Frage auch nach den nicht-materiellen Voraussetzungen gesellschaftlicher Teilhabe bestimmte Bereiche in das Blickfeld des Gerechtigkeitsdiskurses geraten, die in der alten, rein monetären Verteilungsperspektive nicht hinreichend ausgeleuchtet wurden wie etwa der Bereich der Bildung. Das ermöglicht, soziale Problemlagen nicht nur eindimensional zu betrachten, sondern in ihrer Komplexität wahrzunehmen. Und erst eine solche vielschichtige Ursachenforschung erlaubt es dann auch, Möglichkeiten wirklicher Abhilfe zu finden. Wenn ein enger Zusammenhang von materieller Armut und Bildungsarmut besteht, dann ist ein nachhaltiger Erfolg in der Armutsbekämpfung eben erst dann zu erwarten, wenn die sozialpolitischen Bemühungen sich auf beide Ursachen richten und nicht nur auf eine.

III. Fazit In einem abschließenden Fazit sollen nun die Zentralbegriffe von Goldschmidts und Lengers Aufsatz noch einmal in den Blick genommen werden: Effizienz und Konsens. 1. Effizienz und das „Sachziel der Wirtschaft“ Die Ethik tut sich in der Tat schwer mit der Kategorie der Effizienz. Es handelt sich dabei offensichtlich um keinen moralischen Begriff. Er ist es höchstens in mittelbarer Hinsicht, indem man sagen kann, dass eine effiziente Nutzung der notorisch knappen Produktionsmittel und Güter dem Gemeinwohl dient. Aber Effizienz im rein betriebswirtschaftlichen Sinne, bloßes costcutting, bloße Gewinnmaximierung – das ist Moral und Ethik fremd. Die katholische Soziallehre spricht deshalb auch lieber von „Gewinnoptimierung“ als von „Gewinnmaximierung“. Damit ist gemeint: Effizienz, betriebswirtschaftliche und volkswirtschaftliche, ist wichtig, aber kein Selbstzweck. Effizienz kann vom moralischen Standpunkt aus nur Mittel zum Zweck sein. Diesen Zweck haben die klassischen katholischen Sozialwissenschaftler das „Sachziel der Wirtschaft“ genannt. Joseph Kardinal Höffner definierte dieses Sachziel der Wirtschaft in seinem Eröffnungsreferat bei der Herbstvollversammlung der DBK 1985 folgendermaßen: „Der Sinn der Wirtschaft liegt weder – rein formalistisch – im bloßen Handeln nach dem ökonomischen Rationalprinzip, noch in der Technokratie, noch in der bloßen

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Rentabilität, noch im größtmöglichen materiellen ,Glück‘ einer größtmöglichen Menschenzahl. Auch wäre es irrig, die Wirtschaft als Befriedigung von Nachfrage durch Bereitstellung eines entsprechenden Angebots zu definieren; denn dann entspräche die Deckung sinnloser oder schädlicher Bedürfnisse dem Sachziel der Wirtschaft. Das Sachziel der Wirtschaft besteht vielmehr in der dauernden und gesicherten Schaffung jener materiellen Voraussetzungen, die dem einzelnen und den Sozialgebilden die menschenwürdige Entfaltung ermöglichen.“21

Joseph Höffner ist bekanntlich selbst bei Walter Eucken, dem Kopf der Freiburger Schule, in Volkswirtschaft promoviert worden. Insofern war ihm das ordnungspolitische Denken sehr wohl vertraut. Gemeinsam war den Ordoliberalen und den katholischen Sozialwissenschaftlern nach dem Zweiten Weltkrieg, dass sie eine neue Wirtschaftsordnung anstrebten, die nicht nur Effizienz, sondern ein menschenwürdiges Leben für alle garantieren sollte. Die Ordoliberalen meinten, dass dieses Ziel im Wesentlichen zu erreichen wäre, wenn man nur eine funktionierende Wettbewerbsordnung herstellen würde. Die katholische Soziallehre sah dagegen immer schon die Notwendigkeit einer dem Wettbewerb komplementären Sozialpolitik. Dass es in diesem Punkt keine grundsätzliche Meinungsverschiedenheit mehr zwischen einer Christlichen Sozialethik und einem modernen Verständnis von Ordnungsökonomie geben muss, zeigen Goldschmidt und Lenger in ihrem Aufsatz.

2. Gesellschaftlicher Konsens und seine Kriterien Zu guter Letzt soll nun noch gefragt werden, inwieweit aus ethischer Perspektive die zentrale Bedeutung des Konsenskriteriums im Ansatz von Goldschmidt und Lenger nachzuvollziehen ist. Der ganz grundsätzlichen Perspektive ist sicher zuzustimmen: dass nämlich die moralische Qualität einer Sozialordnung, auch einer Wirtschaftsordnung ganz maßgeblich davon von abhängt, inwiefern sie für die in ihr lebenden Menschen zustimmungsfähig ist. Aus ethischer Perspektive ist aber die entscheidende Frage, wie diese Zustimmungsfähigkeit ermittelt wird bzw. welche Kriterien hierfür formuliert werden. Die Vielfalt der zeitgenössischen kontraktualistischen Theorien zeigt, dass hierüber weithin eben keine Einigkeit herrscht.22 Goldschmidt und Lenger bleiben in ihrem Postulat der allgemeinen Zustimmungsfähigkeit sozialer Arrangements und Regeln jedoch vage. Aus sozialethischer Perspektive bleibt hier in ihrem Forschungsprogramm insofern ein Desiderat. Dass die Frage nach den Kriterien der Zustimmungsfähigkeit keine bloß akademische ist, zeigt etwa die Vertragstheorie von James Buchanan, den Gold___________ 21 22

Höffner (1985), S. 24. Siehe dazu Kersting (1994).

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schmidt und Lenger als eine Referenz angeben. Buchanans Vertragstheorie nimmt insofern eine Sonderstellung ein, als sie von einem realistischen Naturzustandsszenario ausgeht. Das aber ist aus ethischer Perspektive hochproblematisch. Kontraktualistische Theorien sind Gedankenexperimente. Sie fingieren mit dem Naturzustand eine bestimmte Ausgangssituation, die eben nicht realistisch ist, sondern normative Vorgaben enthält, um dann zu fragen, welchen Verfassungsvertrag die Mitglieder einer Gesellschaft unter diesen Prämissen beschließen würden. Das Naturzustandsszenario ist daher der bei weitem wichtigste Teil der kontraktualistischen Argumentationskette. Buchanans Naturzustand enthält jedoch keine solchen normativen Prämissen. Peter Koller meint deshalb, dass sich dessen Ansatz aus Sicht der Politischen Philosophie „in jeder Hinsicht als ein gigantischer Fehlschlag erweist“23. Und er hat den Verdacht, dass Buchanan „dem Konzept des Status quo einfach willkürlich eine bestimmte Vorstellung des konstitutionellen Kontrakts unterschiebt, die seinen libertären politischen Idealen entspricht.“24 Goldschmidt und Lenger übernehmen Buchanans Ansatz keineswegs; insofern trifft sie diese Kritik an dessen vertragstheoretischem Ansatz auch nicht. Indem sie aber die allgemeine Zustimmungsfähigkeit zum zentralen Element in ihrer Begründungsstrategie sozialer Regeln machen, sollten sie in ihrem weiteren Forschungsprogramm mehr als im vorliegenden Aufsatz in die Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen sozialphilosophischen Vertragstheorien treten. Literatur Ackrill, John L. (1995): Aristotle on Eudaimonia, in: Höffe, Otfried (Hrsg./1995), Aristoteles – Die Nikomachische Ethik (Klassiker auslegen, Bd. 2), Berlin, S. 39–62. Buchanan, James M. (1984): Die Grenzen der Freiheit. Zwischen Anarchie und Leviathan (Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften, Bd. 38), Tübingen. Dahrendorf, Ralf (2004): Wie sozial kann die Soziale Marktwirtschaft noch sein? 3. Ludwig-Erhard-Lecture, Berlin. – (2008): Keiner fragt nach den Managermillionen. Gespräch mit Patrick Bahners und Alexander Cammann, http://lesesaal.faz.net/wehler/article.php?txtid=dahr (05.11.11). Economic Justice for All, A Pastoral Letter of the United States Conference of Catholic Bishops on Catholic Social Teaching and the US Economy, Washington 1986. Übersetzung aus: Gegen Unmenschlichkeit in der Wirtschaft. Der Hirtenbrief der katholischen Bischöfe der USA „Wirtschaftliche Gerechtigkeit für alle“, Freiburg u.a. 1987. Habermas, Jürgen (2001): Zeit der Übergänge. Kleine Politische Schriften IX, Frankfurt a.M.

___________ 23 24

Koller (1987), S. 242. Ebd. S. 230.

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Konsens durch Effizienz – Ordnungsökonomik als Utilitarismus? – Korreferat zu Alexander Lenger und Nils Goldschmidt – Von Rüdiger Wilhelmi

I. Einleitung Das Hauptreferat hat in der schriftlichen Fassung den Titel „Effizienz oder Konsens?“ und enthält vor allem eine Kritik des Effizienzkriteriums und ein Plädoyer für die Ordnungsökonomik, bei der die Effizienz nicht selbst Zweck, sondern Mittel zu einem anderen Zweck sei, der in der Bedürfnisbefriedigung und Glücksproduktion liege1. Dieses Korreferat versucht die zentralen Begriffe und Argumente des Hauptreferats und deren Grundlagen nachzuzeichnen. Es beginnt mit der Effizienz und behandelt dann die damit zusammenhängenden Komplexe der Kritik am Effizienzkriterium, des Utilitarismus sowie des vom Hauptreferat vertretenen ordnungsökonomischen Ansatzes. Dabei nimmt es insbesondere auf die parallele Diskussion um die ökonomische Analyse des Rechts Bezug.

II. Zur Effizienz Die erste Frage „Was ist Effizienz?“ beantwortet das Hauptreferat nicht ausdrücklich. Unter ihr wird zunächst offenbar die marktwirtschaftliche Produktivität im Sinne einer effizienten Produktion und Allokation knapper Ressourcen verstanden2. Später wird im Rahmen des ordnungsökonomischen Ansatzes als „effizient“ bezeichnet, was im gegenseitigen (und damit zustimmungsfähigen) Interesse der betroffenen Individuen liege3. ___________ 1

Lenger/Goldschmidt (2012), S. 69. Lenger/Goldschmidt (2012), S. 54. 3 Lenger/Goldschmidt (2012), S. 68. 2

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Rüdiger Wilhelmi

1. Wohlfahrtsökonomische Ansätze Das Hauptreferat fasst Effizienz offenbar ökonomisch als marktwirtschaftliche Produktivität im Sinne einer effizienten Produktion und Allokation knapper Ressourcen auf4. Als Kriterien für diese Effizienz werden das Pareto-Kriterium, das Kaldor-Hicks-Kriterium und das Prinzip der Generalkompensation diskutiert, die letztendlich auf die Auswirkungen von Maßnahmen auf die ökonomische Wohlfahrt der betroffenen Individuen oder der Gesamtheit abstellen; das Hauptreferat kommt dabei zu dem Befund, dass diese Kriterien Verteilungsfragen vernachlässigen und ungeeignet sind, normative Aussagen zu treffen und politische Maßnahmen zu legitimieren5. Dies entspricht dem aktuellen Stand der Debatte über die ökonomische Analyse des Rechts6.

2. Institutionenökonomische und wirtschaftssoziologische Ansätze Die sodann im Hauptreferat dargestellten Perspektiven der neuen Institutionenökonomik und der neuen Wirtschaftssoziologie auf die Effizienz bleiben etwas unklar. Sie scheinen jedoch auf einer anderen Ebene angesiedelt zu sein. So sei die Setzung von Effizienz als normative Prämisse der neuen Institutionenökonomik aufzufassen, der es vor allem um die Vermeidung von Transaktionskosten bei der Bildung produktiver Kooperationen und damit um die wirtschaftliche Produktivität gehe7. Ein eigenständiges Kriterium für Effizienz ist damit nicht verbunden. Vielmehr wird die Effizienz auf formelle und informelle Institutionen und damit auf einen bestimmten Untersuchungsgegenstand angewendet bzw. werden die Institutionen an ihrer Effizienz gemessen. Auch die neue Wirtschaftssoziologie soll vor allem der Frage nach der Effizienz gesellschaftlicher Ordnungen nachgehen8. Dies steht allerdings im Widerspruch zu der vom Hauptreferat selbst zitierten Selbstbeschreibung der Wirtschaftssoziologie, die sich gerade dadurch von der ökonomischen Theorie abhebe, dass es ihr nicht nur darum gehe, wie die Organisation der Ökonomie dem Kriterium der Effizienz genügen könne, sondern auch darum, wie sie der Forderung nach sozial legitimer Verteilung Rechnung tragen könne9. Hier bil___________ 4

Lenger/Goldschmidt (2012), S. 54. Lenger/Goldschmidt (2012), S. 60ff. 6 Vgl. zusammenfassend Eidenmüller (2005), S. 317ff. 7 Lenger/Goldschmidt (2012), S. 64f. 8 Lenger/Goldschmidt (2012), S. 66f. 9 Vgl. Lenger/Goldschmidt (2012), S. 66. 5

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det also nicht mehr allein die Effizienz den Maßstab, sondern auch die Verteilungsgerechtigkeit. Während sowohl die wohlfahrtsökonomische als auch die institutionenökonomische Analyse das Verhältnis von Effizienz und Verteilungsgerechtigkeit nicht wirklich in den Blick zu nehmen scheinen, trifft dies auf die wirtschaftssoziologische Analyse damit offenbar nicht zu. Eigenständige Kriterien für die Effizienz oder die gerechte Verteilung sind damit jedoch noch nicht verbunden. Vielmehr beruht offenbar auch die neue Wirtschaftssoziologie auf einer utilitaristischen Basis, auch wenn sie gegenüber der Wohlfahrts- und Institutionenökonomik auch nicht-ökonomische Aspekte in das utilitaristische Kalkül einbezieht10.

3. Allgemeine oder Glückseffizienz? Allerdings muss Effizienz nicht ökonomisch aufgefasst werden, sondern kann auch allgemein als möglichst günstiges Verhältnis von Aufwand und Ertrag verstanden werden. Effizient könnten damit auch Maßnahmen in Bezug auf das Glück der betroffenen Individuen oder einer Gesamtheit sein. Insoweit könnten wohl auch das Pareto-Kriterium, das Kaldor-HicksKriterium und das Prinzip der Generalkompensation Geltung beanspruchen, wenn sie nicht auf die ökonomische Wohlfahrt bezogen werden, sondern auf das Glücksniveau. Dabei würde jedoch die Kritik des Hauptreferats, die darauf hinausläuft, dass diese Kriterien nicht geeignet sind, normative Aussagen zu treffen und politische Maßnahmen zu legitimieren11, wohl auch in Bezug auf die allgemeine bzw. Glückseffizienz zutreffen. Verteilungsfragen könnten demgegenüber zumindest insoweit berücksichtigt werden, als sie Auswirkungen auf das Glücksniveau der betroffenen Individuen oder der Gesamtheit haben; mit anderen möglichen Faktoren treten sie damit neben die ökonomische Effizienz bzw. die ökonomische Wohlfahrt. Notwendig wäre es allerdings, das Glück ebenso wie die dieses determinierenden Faktoren zu operationalisieren, um valide Effizienzaussagen treffen zu können12. Diese Überlegungen lassen sich auch auf die neue Institutionenökonomik übertragen. Denn formelle und informelle Institutionen können auch danach beurteilt werden, inwieweit sie sich auf die allgemeine bzw. die Glückseffizienz auswirken. Ähnlich erscheint es denkbar das Instrumentarium der neuen Wirtschaftssoziologie dafür zu nutzen, die Wirkung sozialer Strukturen nicht ___________ 10

Vgl. Lenger/Goldschmidt (2012), S. 67. Lenger/Goldschmidt (2012), S. 60ff. 12 Skeptisch insoweit Lenger/Goldschmidt (2012), S. 57. 11

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nur auf die ökonomische Effizienz, sondern auch auf die allgemeine oder Glückseffizienz zu analysieren.

4. „Effizienz“ als Ermöglichung gegenseitiger Vorteile Im Rahmen des ordnungsökonomischen Ansatzes bezieht das Hauptreferat die „Effizienz“ auf marktliche und politische Prozesse und bezeichnet als „effizient“, was im gegenseitigen (und damit zustimmungsfähigen) Interesse der betroffenen Individuen liege13. Dabei gehe es darum, gesellschaftliche Arrangements zu identifizieren, die im gemeinsamen Interesse der Betroffenen und damit hypothetisch zustimmungsfähig seien, weil sie wechselseitige Vorteile auf gesellschaftlicher Ebene ermöglichen14. Entscheidendes normatives Kriterium zur Beurteilung sei insoweit die freiwillige Zustimmung der betroffenen Personen15. Unter Effizienz scheint das Hauptreferat damit nicht mehr ein möglichst günstiges Verhältnis von Aufwand und Ertrag zu verstehen, das auf ein bestimmtes Ziel bezogen ist, etwa auf ökonomische Wohlfahrt oder Glück. Vielmehr führt es offenbar einen anderen, letztendlich kontraktualistischen Maßstab für die Beurteilung gesellschaftlicher Arrangements ein. Die Effizienz scheint hier also kategorial anders gebraucht zu werden als in der sonst üblichen Verwendung, die auch in dem vorhergehenden Teil des Hauptreferats vorausgesetzt wird – sie ist ja auch nur in Anführungsstriche gesetzt. Sie scheint eher als ein Synonym für Gerechtigkeit. Da sie auf die Zustimmung bzw. Zustimmungsfähigkeit abstellt, ist die dem ordnungsökonomischen Ansatz zugrundeliegende Gerechtigkeitstheorie prima facie nicht den teleologischen Gerechtigkeitstheorien zuzuordnen, die sich am Nutzen und der Effizienz orientieren, sondern den Vertrags- oder Konsenstheorien16. Auf den ordnungsökonomischen Ansatz und seinen Bezug zum Utilitarismus und zur Pareto-Effizienz wird unten unter V. näher eingegangen.

III. Zur Kritik am Effizienzkriterium Die Kritik des Hauptreferats am Effizienzkriterium und der wohlfahrtsökonomischen, institutionenökonomischen und wirtschaftssoziologischen Analyse umfasst vor allem drei Aspekte. Zunächst die Erkenntnisse der Glückforschung, ___________ 13

Lenger/Goldschmidt (2012), S. 68. Lenger/Goldschmidt (2012), S. 68f. 15 Lenger/Goldschmidt (2012), S. 68f. 16 Zu den Gerechtigkeitstheorien vgl. etwa Rüthers/Fischer (2010), Rn. 378ff. 14

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dass ökonomische Effizienz bzw. eine Steigerung nicht nur der gesamten, sondern auch der individuellen Wohlfahrt nicht notwendig mit mehr Glück korrelieren17. Weiter die mangelnde Berücksichtigung der Verteilungsgerechtigkeit, obwohl Verteilungsfragen einen Einfluss auf die ökonomische Wohlfahrt und das Glücksniveau haben18. Schließlich die mangelnde normative Fundierung dieser Ansätze, der ein „ordnungsökonomischer“ Ansatz gegenüber gestellt wird19. Dabei erscheint die Kritik, dass ökonomische Effizienz nicht notwendig zu mehr Glück führe, grundsätzlich plausibel. In der Diskussion um die ökonomische Analyse wird ebenfalls festgestellt, dass zwischen der Effizienz in Gestalt des auf die ökonomische Effizienz bezogenen Kaldor-Hicks-Kriteriums und der utilitaristischen Nutzenmaximierung keine Zielidentität bestehe20. Wie bereits dargelegt, gilt diese Kritik jedoch nicht für einen erweiterten Effizienzbegriff, der sich nicht auf die ökonomische Wohlfahrt, sondern auf das Glücksniveau bezieht. Sie begründet also keinen prinzipiellen Einwand gegen das Effizienzkriterium. Allerdings stellt sich insoweit die Frage nach der Praktikabilität des Effizienzkriteriums, denn bereits auf die ökonomische Wohlfahrt bezogen wird die praktische Anwendung des Kaldor-Hicks-Kriteriums für problematisch gehalten21 und die Operationalisierbarkeit bezweifelt22. Für die Kritik, dass die Verteilungsgerechtigkeit nicht genügend berücksichtigt werde, gilt ähnliches. Auch in der Diskussion um die ökonomische Analyse des Rechts zeigt sich, dass die Wohlfahrtsökonomik der Effizienz den Vorrang gegenüber der Verteilungsgerechtigkeit einräumt; denn Verteilungsfragen werden entweder gar nicht berücksichtigt oder in erster Linie aus der Perspektive der damit verbundenen Effizienzverluste gesehen, wobei die Lösung des daraus resultierenden Konflikts bestenfalls der Politik überlassen wird; oder eine Umverteilung wird aus prinzipiellen Gründen abgelehnt23. Allerdings kann die Verteilungsgerechtigkeit bei der allgemeinen oder Glückseffizienz berücksichtigt werden. Ähnlich findet die Umverteilung Eingang in den Utilitarismus, soweit sie Einfluss auf den Nutzenzuwachs hat und das größte Glück der größten Zahl erhöhen kann24. Zudem ist die Verteilungsgerechtigkeit ___________ 17

Lenger/Goldschmidt (2012), S. 55. Lenger/Goldschmidt (2012), S. 67. 19 Lenger/Goldschmidt (2012), S. 67. 20 Eidenmüller (2005), S. 180ff., zusammenfassend S. 317; auch Künzler (2008), S. 148ff. 21 Künzler (2008), S. 30f. 22 Künzler (2008), S. 80ff. 23 Vgl. Eidenmüller (2005), S. 277ff. m. w. N. 24 Vgl. Eidenmüller, S. 276f.; zurückhaltender Mathis (2009), S. 140f. 18

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auch nach dem Hauptreferat ausdrücklich Gegenstand der neueren Wirtschaftssoziologie25. Die Kritik, dass es an einer normativen Fundierung mangele, geht davon aus, dass die Glücksforschung auf einem diffusen Utilitarismus beruhe und einem naturalistischen Fehlschluss unterliege26. Damit läuft die Kritik am Glückskriterium auf eine Kritik am Utilitarismus hinaus, die jedoch nicht näher dargelegt wird.

IV. Zum Utilitarismus Die Kritik des Hauptreferats am Glückskriterium beinhaltet damit allerdings auch eine entsprechende Kritik am Utilitarismus. Sie bezweifelt zunächst die Praktikabilität der Glücksmessung, insbesondere da individuelle Auskünfte zum subjektiven Wohlbefinden durch gesellschaftliche Umstände verzerrt würden; zudem bemängelt sie das Fehlen einer gesellschaftlichen Leitidee27. All dies dürfte ebenso wie der gegen die Glücksforschung gerichtete Vorwurf des naturalistischen Fehlschlusses28 auch auf den Utilitarismus zutreffen, der ja gerade auf das größte Glück der größten Zahl gerichtet ist. Hinzu kommt, dass auch die Kritik an den Effizienzkriterien den diesen zugrundeliegenden Utilitarismus ebenfalls trifft. Insbesondere wird der Utilitarismus nicht die Zustimmung der Betroffenen finden, wenn er sich nicht am Pareto-Optimum orientiert, sondern das Kaldor-Hicks-Kriterium genügen lässt oder sogar auf das Prinzip der Generalkompensation vertraut29; und auch das Pareto-Kriterium gewährleistet die Zustimmung nicht, da eine Vielzahl alternativer Pareto-Optima existiert und es in der Praxis regelmäßig nicht nur Gewinner, sondern auch Verlierer gibt30. Hinzu kommt, dass auch der Utilitarismus Verteilungsfragen unberücksichtigt lässt31. Dementsprechend wird in der Diskussion um die ökonomische Analyse des Rechts für den Utilitarismus etwa festgestellt, dass interpersonelle Nutzenvergleiche nicht möglich seien32. Zudem fehle es an einer normativen Begrün___________ 25

Lenger/Goldschmidt (2012), S. 66. Lenger/Goldschmidt (2012), S. 57. 27 Lenger/Goldschmidt (2012), S. 57. 28 Lenger/Goldschmidt (2012), S. 57. 29 Vgl. Lenger/Goldschmidt (2012), S. 62f. 30 Lenger/Goldschmidt (2012), S. 61. 31 Lenger/Goldschmidt (2012), S. 62. 32 Eidenmüller (2005), S. 189ff.; auch Mathis (2009), S. 135ff. 26

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dung für die Orientierung am Nutzen33, es liege ein naturalistischer Fehlschluss vor34. Auch für die konsenstheoretischen Ansätze wird festgestellt, dass sie eine normative Begründung nicht liefern könnten, denn eine am Kaldor-HicksKriterium orientierte Effizienz sei weder bei natürlicher, also auf die jeweilige eigene Zukunft bezogener Unwissenheit konsensfähig, da dann nicht jeder erwarten könne, davon langfristig zu profitieren35, noch bei künstlicher Unwissenheit, bei der nicht nur die Zukunft, sondern auch die eigene Identität ungewiss ist, da die zugrundeliegenden Wahrscheinlichkeits- und Risikoannahmen nicht begründbar sind36, während der Vorwurf der fehlenden Zielidentität zwischen dem utilitaristischen Ziel der Nutzenmaximierung und dem ökonomischen Effizienzziel37 nur die an der ökonomischen Wohlfahrt orientierte Effizienz trifft, nicht aber den Utilitarismus und die allgemeine oder Glückseffizienz. Die konsenstheoretischen Ansätze werden zwar mit einer Anleihe am Zustand der Unwissenheit von Rawls oder einer Abschwächung davon begründet, führen jedoch letztendlich wieder auf den Utilitarismus zurück, den sie gewissermaßen affirmativ auf einer Metaebene wiederholen38. In der Diskussion um die ökonomische Analyse des Rechts wird schließlich noch darauf hingewiesen, dass der Utilitarismus keine unantastbaren Freiräume des Einzelnen gewährleiste39. Dieser Aspekt, der sich im Hauptreferat nicht findet, weist auf ein Spannungsverhältnis zwischen dem Utilitarismus und der Freiheit hin.

V. Zum ordnungsökonomischen Ansatz Der ordnungsökonomische Ansatz sieht das normative Kriterium für die Beurteilung gesellschaftlicher bzw. sozioökonomisch-politischer Ordnungen in der freiwilligen Zustimmung der betroffenen Personen; effizient seien danach gesellschaftliche Arrangements, die im gegenseitigen und damit zustimmungsfähigen Interesse der betroffenen Individuen lägen40. Darin liegt auf den ersten Blick eine kontraktualistische Begründung über die Zustimmungsfähigkeit. ___________ 33

Eidenmüller (2005), S. 226ff. Vgl. Mathis (2009), S. 138. 35 Eidenmüller (2005), S. 239ff.; auch Künzler (2008), S. 166ff. 36 Eidenmüller (2005), S. 253ff.; Künzler (2008), S. 171f. 37 Eidenmüller (2005), S. 261ff. 38 Eidenmüller (2005), S. 321. 39 Eidenmüller (2005), S. 207ff.; Mathis (2009), S. 141ff. 40 Lenger/Goldschmidt (2012), S. 68f. 34

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Unklar bleibt jedoch der Maßstab für die Zustimmungsfähigkeit oder Zustimmung. Wonach bemisst sich das Vorliegen eines gegenseitigen und damit zustimmungsfähigen Interesses? Ein Rekurs auf die überkommenen Vertragstheorien oder die modernen Konsenstheorien, etwa von Rawls oder Harsanyi41, findet nicht statt. In dem diskutierten Fallbeispiel spricht sich das Hauptreferat für die Berücksichtigung der faktischen Verteilung von Produktivitätsgewinnen aus und stellt maßgeblich auf die Auswirkungen auf die eigenen Interessen bzw. das Glück der Beteiligten ab42. Ähnlich wird als Ziel der modernen Ordnungsökonomik die Bedürfnisbefriedigung und die Glücksproduktion angegeben43. Damit liegt der Maßstab für die Effizienz im Sinne der modernen Ordnungsökonomik darin, inwieweit die Befriedigung von Bedürfnissen und die Produktion von Glück gelingen. Für die Zustimmungsfähigkeit ist danach maßgeblich, dass das Maß der befriedigten Bedürfnisse und des Glücks der Beteiligten verbessert oder zumindest nicht verschlechtert wird. Der ordnungsökonomische Ansatz knüpft damit insoweit an die institutionenökonomischen und wirtschaftssoziologischen Ansätze an, als sein Gegenstand offenbar vor allem gesellschaftliche Arrangements bzw. sozioökonomisch-politische Ordnungen sind, er also auch formelle und informelle Institutionen und gesellschaftliche Ordnungen umfasst, und dabei insbesondere auch die Verteilungsgerechtigkeit in den Blick nimmt. Allerdings erweist sich der ordnungsökonomische Ansatz jedoch im Kern als eine Spielart des Utilitarismus. Denn er stellt auf die Interessen bzw. das Glück der Beteiligten ab und Effizienz soll dann vorliegen, wenn diese verbessert oder zumindest nicht verschlechtert werden. Maßgeblich scheint damit letztendlich das Pareto-Kriterium zu sein, da sich der ordnungsökonomische Ansatz auf das individuelle Glück bzw. das subjektive Wohlergehen der betroffenen Individuen konzentriert44, während das Kaldor-Hicks-Kriterium die Gesamtheit zum Gegenstand hat. Dabei fällt eine gewisse Parallele zu den verschiedenen Phasen der Überlegungen von Posner auf, der die Entwicklung der ökonomischen Analyse des Rechts geprägt hat, auch wenn er Jurist ist. Die erste Phase ist dadurch geprägt, dass er sich zwar nicht explizit zu den normativen Grundlagen der ökonomischen Analyse des Rechts geäußert, diese jedoch offenbar im Utilitarismus gesehen hat45. In der zweiten Phase hat er sich vom Utilitarismus dadurch abgegrenzt, dass er die normative Grundlage auf das Konzept der Reichtums___________ 41

Zu den Theorien Rüthers/Fischer (2010), Rn. 381ff. m. w. N. Lenger/Goldschmidt (2012), S. 72. 43 Lenger/Goldschmidt (2012), S. 70. 44 Vgl. Lenger/Goldschmidt (2012), S. 69. 45 Vgl. Mathis (2009), S. 167f. m. w. N. 42

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maximierung stützt, bei dem es allein auf die Effizienz für den Reichtum der Gesellschaft ankommt46. Diese Phase mündet in der dritten Phase, in der Posner das Prinzip der Reichtumsmaximierung durch konsenstheoretische Argumente untermauert47. Auch diese Phase hat Posner jedoch wieder verlassen und fasst die Effizienz nun nicht mehr als einziges, sondern nur noch als wichtiges Rechtsprinzip auf und beansprucht für die Reichtumsmaximierung nicht mehr den Rang einer universellen Ethik, sondern begründet sie vor allem pragmatisch48. Auf die konsenstheoretische Begründung der Reichtumsmaximierung ist bereits oben unter IV. eingegangen worden, wobei Posner nicht von einer künstlichen, sondern von einer natürlichen Unwissenheit ausgeht. Eine am KaldorHicks-Kriterium orientierte Effizienz wird danach für nicht konsensfähig gehalten, da dann nicht jeder erwarten könne, davon langfristig zu profitieren49. Mit der pragmatischen Begründung der Reichtumsmaximierung nähert sich Posner explizit dem Utilitarismus an, verzichtet aber auf eine solide philosophische Begründung; vielmehr beruft er sich darauf, dass die Menschen in mehr oder weniger freien Marktwirtschaften nicht nur wohlhabender, sondern u.a. auch zufriedener seien50. Der ordnungsökonomische Ansatz teilt letztendlich das Schicksal des Ansatzes von Posner, auch wenn er sich nicht auf die Reichtumsmaximierung konzentriert. Denn auch für den ordnungsökonomischen Ansatz des Hauptreferates ist nicht erkennbar, wie eine konsenstheoretische Begründung gelingen soll. Als Spielart des Utilitarismus unterliegt der ordnungsökonomische Ansatz derselben Kritik wie der Utilitarismus. Insbesondere stößt auch er auf die Schwierigkeiten beim interpersonellen Nutzenvergleich, ist nicht wirklich konsensfähig und beruht letztendlich auf einem naturalistischen Fehlschluss; auch hier scheint im Ergebnis der Utilitarismus lediglich affirmativ auf der Metaebene wiederholt zu werden.

VI. Fazit Als Fazit lassen sich zunächst drei Punkte festhalten. Erstens wird Effizienz zwar regelmäßig auf die ökonomische Wohlfahrt bezogen, kann aber auch andere Ziele zum Gegenstand haben, etwa das Glücksniveau. Zweitens trifft Kri___________ 46

Vgl. Mathis (2009), S. 168ff. Vgl. Mathis (2009), S. 199ff. 48 Vgl. Mathis (2009), S. 205ff. 49 Eidenmüller (2005), S. 239ff.; auch Künzler (2008), S. 166ff.; explizit zu Posner auch Mathis (2009), S. 212. 50 Vgl. Eidenmüller (2005), S. 264ff.; Mathis (2009), S. 210. 47

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tik des Hauptreferats an der mangelnden Praktikabilität und der fehlenden normativen Begründung des Utilitarismus grundsätzlich auch diese Glückseffizienz. Drittens überzeugt jedoch auch der ordnungsökonomische Ansatz des Hauptreferats nicht, da er letztendlich eine Spielart des Utilitarismus zu sein scheint. Die vom Hauptreferat aufgeworfene Frage „Effizienz oder Konsens?“ lässt sich hingegen nicht eindeutig beantworten. Die These, dass die Effizienz nicht selbst Zweck sei, sondern Mittel zu einem anderen Zweck, der in der Bedürfnisbefriedigung und Glücksproduktion liege51, bezieht sich zunächst nur auf die auf die ökonomische Wohlfahrt gerichtete Effizienz. Fasst man die Effizienz jedoch weiter und bezieht sie auf die Bedürfnisbefriedigung und Glücksproduktion, so geht sie letztendlich in diesen Zielen auf. Vor allem aber scheint die Effizienz eine tragende Rolle für die Begründung des Konsenses zu spielen, der wiederum die Zwecke der Bedürfnisbefriedigung und Glücksproduktion rechtfertigt, diesen also vorgelagert ist.

Literatur Eidenmüller, Horst (2005): Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. Tübingen. Künzler, Adrian (2008): Effizienz oder Wettbewerbsfreiheit, Tübingen. Lenger, Alexander/Goldschmidt, Nils (2012): Effizienz oder Konsens?, in diesem Band. Mathis, Klaus (2009): Effizienz statt Gerechtigkeit?, 3. Aufl. Berlin. Rüthers, Bernd/Fischer, Christian (2010): Rechtstheorie, 5. Aufl. München.

___________ 51

Lenger/Goldschmidt (2012), S. 69.

Zum systematischen Stellenwert von Wirtschaftswachstum: Ziel, Mittel oder weder noch? Von Johannes Hirata

„Wachstum ist nicht alles, das ist wahr. Aber ohne Wachstum ist alles nichts. Ohne Wachstum keine Arbeitsplätze; ohne Wachstum keine Sanierung der sozialen Sicherungssysteme; ohne Wachstum sinkender Wohlstand; ohne Wachstum werden mehr und mehr Menschen auf der Strecke bleiben.“ Angela Merkel1

I. Einleitung Die vorherrschende Vorstellung der Rolle von Wachstum ist mit dem voranstehenden Zitat der Bundeskanzlerin sehr gut charakterisiert: Wenige gehen so weit, Wirtschaftswachstum als das alleinige Ziel gesellschaftlicher Entwicklung zu bezeichnen (auch wenn dies nach wie vor Standard in wohlfahrtsökonomischen Fachaufsätzen ist), aber die allermeisten sehen Wirtschaftswachstum als unerlässliche Voraussetzung für gute Entwicklung an. In einer repräsentativen Umfrage aus dem Jahr 2007 stimmten in Deutschland genau dieser Aussage – „Wachstum ist nicht alles, aber ohne Wachstum ist alles nichts.“ – 61 % der Befragten zu, während sie lediglich 16 % ablehnten (der Rest blieb unentschieden).2 In Deutschland wurde bereits 1967 mit dem Stabilitäts- und Wachstumsgesetz „stetige[s] und angemessene[s] Wirtschaftswachstum“ ins Pflichtenheft aller künftigen Regierungen geschrieben. Auf EU-Ebene wurde Wirtschaftswachstum ebenfalls in praktisch allen wesentlichen Verträgen als eines der übergeordneten Ziele festgelegt, so bereits im „Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ von 1951 (Art. 2), im „Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft“ von 1957 (Art. 2), im „Vertrag über die Europäische Union“ von 1992 (Art. G, Abs. B) sowie im Vertrag von Lissabon von 2007 (z. B. Art. 2, Abs. 3). Insbesondere in Zeiten, in denen unsere Gesellschaft unter dem Eindruck einer bedrohlichen ___________ 1 2

Merkel (2003), S. 17–18. Miegel/Petersen (2008), S. 29.

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Finanz- und Wirtschaftskrise steht, gibt es einen quasi-Konsens, dass das dringendste Ziel die Rückkehr zu Wirtschaftswachstum zu sein hat. Diese als selbstverständlich (bzw. „alternativlos“) hingenommene Fixierung auf Wirtschaftswachstum steht in einem auffälligen Kontrast zu einem entgegengesetzten Diskurs, der die Wünschbarkeit und z.T. auch die Möglichkeit von dauerhaftem Wirtschaftswachstum schon seit den 70er Jahren radikal in Frage stellt.3 Innerhalb dieses inzwischen auch in den wissenschaftlichen Mainstream hineinragenden Diskurses findet insbesondere die Sichtweise zunehmenden Anklang, dass die Begrenztheit der natürlichen Umwelt auf Dauer nicht mit dem momentanen Lebensstil der westlichen Welt vereinbar ist und schon gar nicht mit dessen weiterem Wachstum und Übertragung auf den Rest der Welt. In ihrer Gegensätzlichkeit sind beide Diskurse sich aber gleichzeitig sehr ähnlich darin, dass sie Wirtschaftswachstum als etwas Gegenständliches betrachten, als etwas an sich Gutes bzw. Schlechtes, das es verdient (wenn auch mit unterschiedlichen Vorzeichen), in den Mittelpunkt einer Konzeption guter gesellschaftlicher Entwicklung gestellt zu werden. In dieser Untersuchung soll genau dieses Verständnis auf den Prüfstand gestellt werden. Bevor über die Wünschbarkeit von (positivem oder negativem) Wachstum befunden werden kann, ist nämlich zu klären, ob Wirtschaftswachstum überhaupt, d. h. vor allem unter systematischen und nicht nur inhaltlichen Gesichtspunkten, als ein substantielles Ziel (im positiven oder negativen Sinn) taugt und welchen systematischen Stellenwert genau Wirtschaftswachstum sinnvollerweise überhaupt einnehmen kann.

II. Ziele und Mittel Eine Frage, die es vor der eigentlichen Untersuchung zu klären lohnt, ist diejenige nach den Anforderungen an ein übergeordnetes gesellschaftliches Ziel und nach der Abgrenzung zwischen Zielen und Mitteln. Gerade im Zusammenhang mit Wirtschaftswachstum erscheint es oftmals nicht klar zu sein, ob es in erster Linie als Ziel oder als Mittel betrachtet wird. Als Ziel oder – synonym – Zweck an sich kommen nur Dinge in Betracht, die intrinsisch erstrebenswert und somit nicht, oder zumindest nicht uneingeschränkt, substituierbar sind. Je nach zugrundeliegender Wertkonzeption gibt es entweder, wie beispielsweise im normativen Hedonismus, genau ein letztes Ziel, oder aber mehrere Ziele, die nicht aufeinander reduzierbar sind. Im ersten ___________ 3

Meadows et al. (1972); Costanza/Daly (1987).

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Fall wird ein einziges Ziel als „summum bonum“ oder dominant end4 deklariert, und alle anderen augenscheinlich wertvollen Dinge sind ausschließlich deshalb und in dem Maße erstrebenswert, in welchem sie zur Erreichung dieses höchsten Guts beitragen. Dies impliziert, dass bei Konflikten zwischen untergeordneten „Zielen“ (die in dieser Konzeption letztlich nur Mittel sein können) die Maximierung des übergeordneten Ziels darin besteht, die richtige Abwägung zwischen diesen untergeordneten Zielen zu treffen. Eine solche Konzeption wird bekanntermaßen insbesondere vom normativen Hedonismus und Utilitarismus Bentham’scher Prägung vertreten, der bis heute die vorherrschende Wertkonzeption der Ökonomik ausmacht, auch wenn diese sich hier und da explizit davon lossagt. Im zweiten Fall gibt es mehrere Ziele, die alle an sich erstrebenswert sind und nicht ausschließlich – aber möglicherweise auch – deshalb, weil diese wiederum zu einem weiteren Ziel beitragen. Auch in einer solchen Konzeption ist zuweilen die Rede von einem übergeordneten Ziel – wie Glück, dem gelingenden Leben etc. –, aber dann nicht in einem ausschließenden Sinne, sondern im Sinne eines „inclusive end“5, das eben darin besteht, im Rahmen eines kohärenten Lebensentwurfs bzw. einer ethischen Konzeption des Guten die Erreichung mehrerer letzter Ziele zu verbinden und im Konfliktfall in aller Unbestimmtheit gegeneinander abzuwägen.6 Gegen eine derartige Konzeption mag zu sprechen scheinen, dass sie keine Kriterien für die „richtige“ Abwägung zwischen letzten Zwecken angibt oder, genauer gesagt, dass sie die Vorstellung prinzipiell ablehnt, dass diese deliberative Tätigkeit überhaupt einer deterministischen Bewertung unterzogen werden könne (was freilich nicht mit Beliebigkeit, sondern mit Unbestimmtheit gleichzusetzen ist). Genau diese Ablehnung ist es aber auch, die für die „inclusive end“-Konzeption spricht, da sie, in Aristoteles’ Worten, „in jedem einzelnen Gebiet nur so viel Präzision … verlang[t], als es die Natur des Gegenstandes zuläßt“7. Nun kommt Wirtschaftswachstum wohl kaum als Ziel an sich in Betracht, weder als „dominant end“ noch als „inclusive end“, denn dafür müsste Wirtschaftswachstum an sich das Wesen guter gesellschaftlicher Entwicklung darstellen, was vor allem deshalb unplausibel ist, da Wirtschaftswachstum eine aggregierte Kennzahl ist und kein erfahrbares, substantielles Phänomen (s.u.). Stattdessen ist es ein Kandidat für ein operationales Ziel. Damit meine ich ein zwar nicht an sich wertvolles Ziel, aber eines, das so unmittelbar mit einem ___________ 4

Hardie (1965), S. 279. Hardie (1965), S. 279. 6 Vgl. auch Rawls (1999/1971), S. 484, 490f. 7 Aristoteles (1998), S. 107; vgl. auch Sen (1995), S. 48–49: „… if an underlying idea has an essential ambiguity, a precise formulation of that idea must try to capture that ambiguity rather than lose it.“ 5

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intrinsischen Ziel korrespondiert, dass es stellvertretend für dieses angestrebt werden kann. Im Idealfall herrscht eine strikte eins-zu-eins Korrespondenz zwischen beiden Größen, so dass von der Veränderung des operationalen Ziels immer auch eindeutig auf die Veränderung des dahinter stehenden intrinsischen Ziels geschlossen werden kann. Ein einfaches Beispiel für ein in diesem Sinne operationales Ziel wäre die Aufrechterhaltung der Körpertemperatur in der Umgebung von 36,5°C, das eng mit dem intrinsischen Ziel körperlichen Wohlbefindens korrespondiert. Ob jeweils von einem Mittel oder Ziel die Rede ist, ist letztlich eine Frage der Perspektive. So ist beispielsweise ein Fahrrad ein Mittel, um sich fortzubewegen, und Fortbewegung in diesem Zusammenhang folglich das Ziel, aber Fortbewegung ist in Hinblick auf die Erreichung der Arbeitsstätte wiederum nur Mittel usw. Ob Fortbewegung dabei auch als intrinsisches Ziel angesehen wird, ist dann eine Frage der zugrundeliegenden Wertekonzeption: Im Rahmen einer „dominant end“-Konzeption ist Fortbewegung lediglich ein Mittel und nicht ein intrinsisch wertvolles Ziel, während es im Rahmen einer „inclusive end“-Konzeption durchaus gleichzeitig Mittel und Ziel an sich sein kann. Solange diese letzte Konzeption zugrunde gelegt wird, ist die Abgrenzung zwischen Mitteln und Zielen also eine graduelle Frage: z. B. können gute Leistungen in der Schule einerseits als Selbstzweck aufgefasst werden, andererseits aber auch als Mittel für die Erweiterung der beruflichen Wahlmöglichkeiten und eine Reihe weiterer Ziele, die in diesem Sinne höhergradige Ziele sind (und natürlich wiederum gleichzeitig Mittel für wiederum noch höhergradige Ziele sein können). Insofern ein Ziel nicht nur instrumentellen, sondern auch intrinsischen Wert hat, gibt es also grundsätzlich zwei voneinander weitgehend unabhängige Arten von Gründen, dieses anzustreben, nämlich intrinsische und instrumentelle Gründe. Als operationales Ziel wären in diesem Beispiel gute Schulnoten zu verstehen, da diese mit dem dahinter stehenden Ziel guter schulischer Leistungen bzw. umfassender Bildung korrespondieren, aber eben nicht als Selbstzweck taugen. Dies wird anhand der Überlegung deutlich, dass gute Noten, die von einem korrumpierbaren Lehrer erkauft wurden, ausschließlich instrumentellen Wert hätten. Die Sinnhaftigkeit, überhaupt gute Schulnoten anzustreben, steht und fällt also mit dem Ausmaß, in welchem diese einerseits mit dem dahinter stehenden intrinsischen Ziel korrespondieren und andererseits instrumentell für weitere Ziele sind.

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III. Gründe für Wirtschaftswachstum Die Gründe, die für das Anstreben von Wirtschaftswachstum angeführt werden, sind vielfältig. Im Folgenden sollen die wesentlichen Gründe vorgestellt und untersucht werden.

1. Beschäftigung Das wohl bedeutsamste Argument, das für Wirtschaftswachstum ins Feld geführt wird, ist die Förderung von Beschäftigung bzw. die Reduzierung oder Stabilisierung von Arbeitslosigkeit.8 Dabei wird in der Regel argumentiert, dass Wirtschaftswachstum unmittelbar die Arbeitslosigkeit stabilisiere oder gar reduziere, oder dass es zumindest eine notwendige Voraussetzung dafür sei. Diese Sichtweise ist bei näherem Hinsehen jedoch wenig plausibel: Sicherlich gibt es einen vergleichsweise engen statistischen und sachlichen Zusammenhang zwischen diesen beiden Größen, aber es kommt einer Verwechslung von Ursache und Wirkung gleich, wenn Wirtschaftswachstum als Ursache von Beschäftigung betrachtet wird. Wirtschaftswachstum kann ja grundsätzlich, bei Betrachtung einer geschlossenen Volkswirtschaft, aus zwei unterschiedlichen (sich gegenseitig nicht ausschließenden) Gründen stattfinden: (1) aufgrund einer Zunahme der im Laufe eines Jahres in einer Volkswirtschaft geleisteten Arbeitsstunden oder (2) aufgrund der Zunahme der Arbeitsproduktivität (Output pro Stunde geleisteter Arbeit), sei es als Folge technologischen Fortschritts, sei es als Folge eines vermehrten Einsatzes von (physischem oder Human-) Kapital. Unter der Annahme, dass die pro Jahr geleistete Arbeitszeit unverändert bleibt, wird also die Entwicklung der Beschäftigung (Zunahme, Stagnation oder Abnahme) direkt damit zusammenhängen, ob das Wirtschaftswachstum größer, genau so groß oder kleiner als das Produktivitätswachstum ausfällt. Die Kausalität verläuft jedoch nicht von Wachstum zu Beschäftigung, sondern umgekehrt: es ist ja nicht so, dass die Produktion aus heiterem Himmel zunimmt und dann bestimmte Beschäftigungseffektehat, sondern eine Zunahme der Produktion erfordert einen bestimmten Einsatz an Arbeit. Zudem kann Wirtschaftswachstum ja auch Folge von Produktivitätswachstum bei gleichzeitigem Beschäftigungsabbau sein, wie das Phänomen des „jobless growth“ vor Augen führt.9 Das ___________ 8

So z. B. Paqué (2010), S. 189ff. Genau genommen erfordert Wirtschaftswachstum, dass das Produktivitätswachstum größer ist als die Abnahme der Beschäftigung. Ich werde mich aber im Folgenden weitgehend auf die beiden einfachen Fälle beschränken (entweder konstante Beschäftigung bei zunehmender Produktivität oder zunehmende Beschäftigung bei konstanter Produktivität). 9

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direkte Anstreben von Wirtschaftswachstum garantiert also keineswegs einen positiven Beschäftigungseffekt. Umgekehrt führt eine Zunahme der Beschäftigung unter normalen Voraussetzungen (kein technologischer Rückschritt, keine zunehmende Allokationsineffizienz) jedoch notwendigerweise zu Wirtschaftswachstum, so dass das direkte Anstreben von Beschäftigungszuwachs unter den üblichen Annahmen auch Wirtschaftswachstum zur Folge haben wird. Unabhängig von der kausalen Beziehung ist festzuhalten, dass bei gegebenem Produktivitätswachstum jede Wachstumsrate vereinbar ist mit der Aufrechterhaltung von Vollbeschäftigung, wenn sich nämlich die Jahresarbeitszeit pro Person entsprechend anpasst. Auf dieses Zwischenergebnis wird weiter unten noch einmal zurückzukommen sein.

2. Wettbewerbsfähigkeit Wirtschaftswachstum wird auch deshalb für erstrebenswert erachtet, weil es als Voraussetzung für die Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft angesehen wird. Typischerweise wird jedoch nicht weiter erläutert, was unter Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft verstanden wird – was im Gegensatz zur Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens keinesfalls offensichtlich ist – und was Wettbewerbsfähigkeit letztlich erstrebenswert macht. Wenn mit Wettbewerbsfähigkeit das Erzielen von Leistungsbilanzüberschüssen gemeint ist, ist genau wie bei der Beschäftigung anzumerken, dass Wirtschaftswachstum wiederum als Konsequenz und nicht als Ursache anzusehen ist. Ein Land wird ja nicht deshalb mehr exportieren, weil es Wirtschaftswachstum erfahren hat, sondern im Gegenteil eher weniger, da eine Zunahme der Binnennachfrage dazu führt, dass tendenziell ein größerer Anteil der Binnenproduktion als vorher im Inland verkauft und auch mehr Güter importiert werden.10 Darüber hinaus ist es aufgrund der inneren Logik der Zahlungsbilanz nur kurz- und mittelfristig möglich, Leistungsbilanzüberschüsse zu erzielen, und zwar genau in dem Maße, in dem andere Länder gleichzeitig Leistungsbilanzdefizite ausweisen, da global gesehen jedem Euro Leistungsbilanzüberschuss des einen Landes ein Euro Leistungsbilanzdefizit eines anderen Landes gegenübersteht (abgesehen von der Vermögensübertragungsbilanz, die in diesem Zusammenhang vernachlässigbar ist).11 Wettbewerbsfähigkeit in diesem Sinne wäre also keine verallgemeinerbare Strategie und kann daher nicht grundsätzlich als erstrebenswert gelten.

___________ 10 11

Krugman/Obstfeld (2006), S. 555. Krugman/Obstfeld (2006), S. 381ff.

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Verallgemeinerbar wäre allerdings das Ziel, ein Leistungsbilanzdefizit zu vermeiden. Makroökonomisch betrachtet ist die Leistungsbilanz aber zunächst völlig unabhängig vom Bruttoinlandsprodukts (BIP) und dessen Wachstum. Stattdessen hängt sie ab von der Verhältnismäßigkeit von Arbeitsproduktivität, Lohnniveau und Wechselkurs, also von den zu Markt-Wechselkursen umgerechneten Lohnstückkosten. Auch ein Land, in dem die Arbeitsproduktivität und damit das BIP nicht zunimmt, kann auf Dauer eine ausgeglichene Leistungsbilanz haben, nämlich dann, wenn das reale Lohnniveau konstant bleibt. Dies folgt unmittelbar aus der Ricardianischen Einsicht, dass jedes Land im internationalen Handel einen komparativen Vorteil besitzt, unabhängig von seiner absoluten Produktivität. Mikroökonomisch betrachtet würde eine Aufrechterhaltung des makroökonomischen Status quo inmitten einer dynamischen Weltwirtschaft möglicherweise jedoch ständige Anpassungen und technologische Fortschritte in bestimmten Bereichen erfordern, da beispielsweise Autos, die sich immer weiter vom aktuellen technischen Standard entfernen, irgendwann schlicht unverkäuflich sind. Wenn aus diesem technologischen Fortschritt Wirtschaftswachstum entsteht, wäre dies jedoch wiederum als Folge und nicht als Ziel zu verstehen. Sofern Wettbewerbsfähigkeit von Volkswirtschaften als Wirtschaftskraft verstanden wird12, also als eine Frage des Pro-Kopf-Einkommens, ist die Behauptung, dass Wirtschaftswachstum zu Wettbewerbsfähigkeit führe, natürlich tautologisch, da damit de facto gesagt würde, dass eine Zunahme des Pro-KopfEinkommens eine Zunahme des Pro-Kopf-Einkommens erfordert.

3. Verteilungsspielräume In einer Gesellschaft, in der Forderungen nach einer finanziellen Besserstellung der unteren Einkommensgruppen erhoben werden, ermöglicht es Wirtschaftswachstum, dieses Ziel zu erreichen, ohne eine andere Gruppe finanziell schlechter zu stellen. Anstatt im Rahmen eines Nullsummenspiels Einkommen einfach auf Kosten der einen Gruppe umzuverteilen, können dank Wirtschaftswachstum in einer win-win-Situation alle Einkommensgruppen finanziell besser gestellt werden, wobei je nach Zielsetzung durch eine entsprechende asymmetrische Verteilung der Gewinne aus Wirtschaftswachstum gegebene verteilungspolitische Ziele erreicht werden könnten. Der entscheidende Aspekt dieser Möglichkeit wird dann, z. B. von Benjamin Friedman13, darin gesehen, dass die stetige Zunahme der Einkommen aller Einkommensgruppen sozialen Unfrieden ___________ 12 13

So offenbar Porter (1998). Friedman (2005).

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verhindern kann und zu politischer Stabilität und zivilisatorischem Fortschritt verhilft. Dieses Argument ist zwar zunächst sehr plausibel, beruht aber auf einer Reihe von fragwürdigen Voraussetzungen. So bringt Wirtschaftswachstum zwar grundsätzlich das Potenzial mit sich, die Einkommen der unteren Einkommensschichten überproportional anzuheben und die Einkommensschere zu schließen, aber wenn nicht bereits die konkrete Ausprägung des Wachstums zu einer entsprechenden Anpassung der Verteilung der Primäreinkommen (also vor Steuern und Transfers) führt, ist für die entsprechende Anpassung der Verteilung der Sekundäreinkommen (nach Steuern und Transfers) eine nicht nur absolut sondern auch relativ immer höhere Steuer- und Abgabenlast der Bezieher überdurchschnittlicher Einkommen notwendig. Es ist jedoch nicht davon auszugehen, dass die Bereitschaft für höhere relative Belastungen langfristig zunehmen wird, insbesondere nicht aufgrund der Einsicht, dass das eigene Sekundäreinkommen trotz zunehmender relativer Belastung immer noch höher ist als in der Vergangenheit. Erfahrungsgemäß spielt bei der Beurteilung der Angemessenheit der steuerlichen Belastung des eigenen Einkommens der Vergleich mit dem Netto-Realeinkommen der Vergangenheit, wenn überhaupt, nur eine untergeordnete Rolle – entscheidend dürfte der Vergleich mit dem aktuellen Brutto-Einkommen und an zweiter Stelle mit der steuerlichen Belastung der anderen Mitglieder der Gesellschaft sein. Selbst wenn zwecks Kompensation der Verlierer eine zunehmende Belastung der Gewinner des Wirtschaftswachstums stattfände, würde eine immer weitere Erhöhung der Transfers hin zu Erwerbslosen bzw. zu den Beziehern niedriger Einkommen problematische Anreizeffekte zur Folge haben (Problem der Aufrechterhaltung des Lohnabstandsgebots) und auch das Problem der Stigmatisierung durch den Empfang von Transferleistungen verschärfen, da diese immer größer ausfallen. Beides spricht dagegen, dass Wirtschaftswachstum in der Realität als win-win-Prozess (in Hinblick auf das Einkommen) stattfinden wird, wenn nicht bereits die unmittelbare Wirkung auf die Primäreinkommen ausgeglichen ist. In der Tat kann die Entwicklung der Einkommensverteilung in den USA seit den siebziger Jahren und in Deutschland seit den neunziger Jahren zu einem guten Teil als Folge dieser Schwierigkeit verstanden werden, jeder Gruppe ein größeres Stück eines asymmetrisch wachsenden Kuchens zukommen zu lassen. Das bedeutet, dass nicht Wirtschaftswachstum an sich die Annäherung an Verteilungsziele erlaubt, sondern lediglich Wirtschaftswachstum, das von vornherein (also in Bezug auf die Primäreinkommen) bestimmte Verteilungseffekte mit sich bringt. Darüber hinaus wird selbst ein allgemeiner, gleichförmiger Anstieg aller Einkommen nur insofern einen positiven Effekt auf die Bezieher geringer Einkommen haben, als deren Lebensqualität (bzw. Lebenszufriedenheit) von ihrem

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absoluten Lebensstandard abhängt. Vieles spricht jedoch dafür, dass die Lebenszufriedenheit mehr vom relativen Lebensstandard (also von der Höhe des eigenen Lebensstandards in Bezug auf den Lebensstandard des Rests der Gesellschaft) als vom absoluten Lebensstandard abhängt14. Das würde bedeuten, dass die symmetrische Zunahme aller Einkommen – so schwierig diese auch zu erreichen wäre – zwar in Hinblick auf die Einkommenshöhe eine win-winSituation darstellt, aber in Hinblick auf die Lebenszufriedenheit lediglich ein Nullsummenspiel.15 Aus dem gleichen Grund dürfte auch die Hoffnung enttäuscht werden, dass Wirtschaftswachstum zu weniger Bedürftigkeit führen würde16, da die Bedürfnisse eben weitgehend mit dem von der Gesellschaft vorgelebten Lebensstandard zunehmen. Ein zentrales Argument Benjamin Friedmans verweist auf das psychologische Phänomen, dass Menschen ihre Lebenssituation in Abhängigkeit von Vergleichswerten aus ihrer eigenen Vergangenheit sowie aus ihrem Umfeld beurteilen17. Während es natürlich nicht möglich sei, dass es allen besser geht als dem Durchschnitt, sei es dank Wirtschaftswachstum sehr wohl möglich, dass es zu jedem Zeitpunkt allen in Bezug auf ihre eigene Vergangenheit besser geht, was dann gewissermaßen dafür entschädige, dass nicht jeder an allen anderen vorbeiziehen kann. Auch wenn dieser Schlussfolgerung zuzustimmen ist, ist damit aber nicht gezeigt, dass Wirtschaftswachstum hierfür erforderlich ist. Zwar ist Wirtschaftswachstum eine mögliche Komponente für eine derartige Strategie, aber das gleiche Ziel kann, wenn auch in etwas geringerem Ausmaß, auch damit erreicht werden, dass die finanzielle Situation jedes Einzelnen im Laufe des individuellen Lebenszyklus immer besser wird, wofür lediglich eine – bereits jetzt (bzw. noch weitgehend) übliche – steigende Einkommensgestaltung über den Lebenszyklus notwendig ist. Ebenfalls dürfte in diesem Zusammenhang die Erwartung an das Wirtschafts- bzw. Einkommenswachstum eine bedeutsame Rolle spielen. Wenn die finanzielle Frustration nämlich nicht davon abhängt, ob der eigene Lebensstandard im Zeitverlauf zunimmt, sondern davon, ob und wie weit er hinter den Wachstumserwartungen zurückbleibt, dann ist auch in diesem Sinne wirtschaftliche Stagnation ein weitgehend zirkuläres Problem, dass erst durch die Hervorbringung von Wachstumserwartungen überhaupt entsteht, oder zumindest verstärkt wird.

___________ 14

Layard (1980); Frank (1997). Vgl. die Anmerkungen weiter unten im letzten Abschnitt von Teil IV. 16 So Paqué (2010), S. 207. 17 Friedman (2005), S. 81. 15

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4. Soziale Sicherungssysteme Neben dem Anstieg der Einkommen der Haushalte wird auch oft erwartet, dass Wirtschaftswachstum die sozialen Sicherungssysteme und die öffentlichen Haushalte auf eine bessere finanzielle Grundlage stellt. Auch dieses Argument leuchtet zunächst unmittelbar ein angesichts angespannter öffentlicher Haushalte, rapide steigender Kosten im Gesundheitssystem sowie der relativ zum Durchschnittseinkommen sinkenden Auszahlungen der umlagefinanzierten Rente.18 Solange die Steuer- bzw. Beitragssätze unverändert bleiben, wird Wirtschaftswachstum natürlich zu einer ungefähr proportionalen Zunahme der entsprechenden Einnahmen führen (auch bei Ausschaltung der sogenannten „kalten Progression“). Auf der anderen Seite darf nicht übersehen werden, dass die tatsächlichen Ausgabensteigerungen dieser Systeme zu einem beträchtlichen Teil wiederum von der Einkommensentwicklung und damit vom Wirtschaftswachstum abhängen. So sind ja z. B. die Rentenansprüche aus gutem Grund – nämlich ganz offensichtlich aus Einsicht in die Relativität von Wohlstand – jeweils an die Entwicklung der Löhne gekoppelt (in Deutschland sogar exakt proportional – ceteris paribus – in der sogenannten Rentenformel), und die Kosten im Gesundheitssystem sowie im öffentlichen Dienst hängen natürlich langfristig ebenfalls entscheidend davon ab, wie schnell das allgemeine Einkommensniveau steigt. Da die Kosten gerade in diesen beiden Bereichen (Gesundheit und öffentlicher Dienst) von Dienstleistungen mit geringem Potenzial für Produktivitätssteigerungen dominiert sind, wird Wirtschaftswachstum verhältnismäßig stark auf diese Kosten durchschlagen, so dass der Entlastungseffekt von Wirtschaftswachstum auf diese Kassen zu einem erheblichen Teil konterkariert würde. Im Übrigen ist auch eine kapitalbildende Altersvorsorge im gleichen Maße von dieser Dynamik betroffen, da – wie man von jedem Versicherungsberater zu Recht zu hören bekommt – die subjektiven Ansprüche an die Altersvorsorge mit dem in der Gesellschaft vorherrschenden Lebensstandard steigen und Wirtschaftswachstum somit höhere Beiträge erforderlich macht. In Bezug auf die Ausgaben im Gesundheitswesen ist jedoch noch der spezifische Effekt zu berücksichtigen, dass medizinische Innovationen offenbar unterm Strich einen kostensteigernden Effekt haben, wobei diese aus ethischen bzw. politischen Gründen niemandem vorenthalten werden (können).19 Dieser Teil des Arguments ist offenbar nicht zirkulär, sondern weist auf einen zunehmenden Finanzbedarf hin, der auch ohne wirtschaftliches Wachstum eintreten ___________ 18

Dieses Argument wird offenbar als derart einleuchtend empfunden, dass oftmals nicht einmal weiter begründet wird, weshalb Wirtschaftswachstum z. B. „das Rentensystem fair und finanzierbar mach[t]“, Paqué (2010), S. 173. 19 Vgl. Paqué (2010), S. 179.

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würde. Bei wirtschaftlicher Stagnation würde daraus freilich ein Rückgang des für Konsum und/oder andere Zwecke zur Verfügung stehenden Einkommens resultieren (aber nicht unbedingt ein Rückgang des Lebensstandards, da ja die Verbesserung der medizinischen Versorgung den Rückgang des Konsums kompensieren dürfte). Andererseits würde Wirtschaftswachstum in einer Höhe, die gerade ausreicht, um die Kostensteigerung im Gesundheitswesen zu kompensieren, nicht zu einer Erhöhung der Nettolöhne führen (da ja dann der Anstieg der Krankenkassenbeiträge plus eventueller Zunahmen von Selbstbeteiligungen etc. den Anstieg der Bruttolöhne vollständig aufzehren würde). Wer also Wirtschaftswachstum mit diesem Argument einfordert, muss dazu sagen, dass dieses Wachstum nicht auf die Nettolöhne und das Konsumniveau durchschlagen wird und dass es die Bereitschaft zu einer größeren relativen Abgabenlast voraussetzt.

5. Konsum Interessanterweise wird die Zunahme des Konsumniveaus an sich nur selten als positiver Aspekt von Wirtschaftswachstum genannt (wohlgemerkt für Industrieländer), obwohl dieser Effekt derjenige ist, der am unmittelbarsten mit Wirtschaftswachstum zusammenhängt: bei gleichbleibender Bevölkerungsgröße bedeutet Wirtschaftswachstum ja eine Zunahme der pro Person erzielten Produktion, so dass prinzipiell eine ebenso große Zunahme des durchschnittlichen Konsums möglich wird. Umgekehrt ist eine Zunahme des mittleren Konsumniveaus (zumindest langfristig) nicht denkbar ohne Wirtschaftswachstum, ist also in diesem Sinne systematisch untrennbar abhängig von Wirtschaftswachstum. Mit anderen Worten: Wirtschaftswachstum ist tatsächlich eine notwendige Voraussetzung für eine dauerhafte Zunahme des Konsumniveaus. Dies steht im Gegensatz zu allen anderen bisher angeführten Vorteilen von Wirtschaftswachstum, die nicht systematisch von Wirtschaftswachstum abhängig sind, sondern prinzipiell auch mit anderen Mitteln erreicht werden können. Die Tatsache, dass eine Zunahme des durchschnittlichen materiellen Wohlstands selten als Argument für Wirtschaftswachstum in Industrieländern angeführt wird, mag die Einschätzung widerspiegeln, dass das mittlere Konsumniveau bereits jetzt so hoch ist, dass eine weitere Zunahme nicht vordringlich ist. Defizite im Lebensstandard werden hierzulande auch von den Befürwortern von Wirtschaftswachstum so gut wie ausschließlich bei denjenigen diagnostiziert, die (bezogen auf die Haushaltsgröße) mit unterdurchschnittlich wenig Geld auskommen müssen. In einem etwas anderen Sinne spielt Konsum aber doch wieder eine Rolle, nämlich in Form des Arguments, dass ohne Wirtschaftswachstum ein Rückgang des Wohlstands drohe und Wirtschaftswachstum somit eine Vorausset-

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zung dafür sei, das heutige Konsumniveau zu halten.20 Hintergrund dieser Argumentation ist üblicherweise die Prognose, dass ein zunehmender Anteil der Wirtschaftsleistung für andere Dinge als Konsum aufgewendet werden muss (z. B. medizinische Behandlungen, Alten- und Krankenpflege, Abtragen von Schulden). Für die Berechtigung des Ziels der Aufrechterhaltung des Wohlstands spricht wiederum das bereits weiter oben angesprochene Argument Friedmans, dass aufgrund des Vergleichs mit der Vergangenheit ein materieller Rückschritt die empfundene Lebensqualität stark beeinträchtigt und unter Umständen zu eskalierenden Verteilungskämpfen und sozialen Verwerfungen führen kann. Es bleibt jedoch die Frage, ob bzw. warum das heutige Wohlstandsniveau ohne Wachstum zu sinken droht und inwiefern Wachstum das abwenden kann. Dieser Frage kann hier nicht im Einzelnen nachgegangen werden, aber auch hier scheinen die oben angedeuteten zirkulären Argumente eine bedeutsame Rolle zu spielen, da die Bedrohung des Wohlstands insbesondere im Finanzbedarf der sozialen Sicherungssysteme gesehen wird, der wiederum selbst, wie oben erläutert, durch Wirtschaftswachstum zunimmt. Damit ist nicht unbedingt gesagt, dass unser Wohlstand ohne Wirtschaftswachstum nicht bedroht ist, aber es steht zu befürchten, dass Wirtschaftswachstum eine derartige Bedrohung nicht oder nur in einem viel geringeren als dem erhofften Ausmaß abwenden könnte. Darüber hinaus ist es denkbar, dass eine Gesellschaft, deren Lebensstandard stagniert, während andere Gesellschaften an ihr vorbeiziehen, dieses relative Zurückfallen als „Demütigung“21 empfindet. In dem Maße, in dem es einen solchen internationalen Relativeinkommens-Effekt gibt22, ist es sicherlich wichtig, diese Reaktion ernstzunehmen.

6. Weitergehende Gründe für Wirtschaftswachstum Über diese im engeren Sinne wirtschaftlichen Folgen hinaus lassen sich noch weitere Gründe denken, die für Wirtschaftswachstum sprechen. In einer nicht verallgemeinerbaren, nationalen Perspektive ist Wirtschaftswachstum auch deshalb wünschenswert, da die Wirtschaftskraft eines Landes mitentscheidend ist für dessen geopolitisches Gewicht und militärische Verteidigungsfähigkeiten. Dies lässt sich aktuell gut an der Konkurrenz zwischen den USA und China beobachten, bei der die USA wohl berechtigterweise befürchten, dass China ___________ 20

Vgl. das vorangestellte Zitat Angela Merkels. Paqué (2010), S. 32. 22 Der Relativeinkommen-Effekt wird weiter unten noch einmal aufgegriffen.

21

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mit seiner rapide zunehmenden Wirtschaftskraft in Hinblick auf das geopolitische Gewicht in absehbarer Zeit mit den USA gleichziehen oder diese gar überholen wird. Auch wenn hier global betrachtet natürlich ein Nullsummenspiel bzw. ein Gefangenendilemma vorliegt, ist es nachvollziehbarerweise im Interesse jedes einzelnen Landes, sich möglichst effektiv verteidigen zu können und einen möglichst großen geopolitischen Einfluss zu erlangen. Möglicherweise würde diese Überlegung in der Realität einen der größten Widerstände gegen eine Abkehr von Wirtschaftswachstum darstellen. Des Weiteren wird zuweilen und mit Hinweis auf historische Daten argumentiert, dass Wirtschaftswachstum auch zu kultureller Blüte führt, offenbar weil erst bei einem gewissen Wohlstand ein breiteres Interesse an Kunst entsteht.23 Es erscheint jedoch gewagt, aus einer Handvoll historischer Daten einen derartigen kausalen Zusammenhang herzustellen und zu extrapolieren. Es stellt sich wiederum die Frage, ob Wirtschaftswachstum ursächlich dafür verantwortlich ist, dass eine Gesellschaft der Kunst größere Aufmerksamkeit und mehr Ressourcen zur Verfügung stellt, oder ob es die Abwesenheit wirtschaftlicher Not und Verunsicherung ist, was nicht von vornherein in Konflikt mit wirtschaftlicher Stagnation stehen muss. In Bezug auf aktuelle Entwicklungen stellt sich auch die Frage, weshalb trotz anhaltenden Wirtschaftswachstums immer weniger Mittel für Konzerthäuser und wissenschaftliche Orchideenfächer zur Verfügung stehen und stattdessen Entscheidungsprozesse von Grundschullehrplänen bis hin zu Forschungsanträgen von Wirtschaftlichkeitsanforderungen in einer Art und Weise dominiert werden, die noch vor wenigen Jahren unvorstellbar gewesen wäre.

IV. Kritik an Wirtschaftswachstum Die Kritik daran, Wirtschaftswachstum als übergeordnetes gesellschaftliches Ziel anzustreben, ist vielfältig, und je nach Stoßrichtung ergeben sich unterschiedliche Implikationen. Dabei bewegen sich die verschiedenen Ansätze auf unterschiedlichen Ebenen – manche kritisieren lediglich operationale Defizite, während andere fundamentale konzeptionelle Unzulänglichkeiten sehen – und sind teilweise nicht miteinander vereinbar. Es ist daher wichtig, die unterschiedlichen Kritikpunkte voneinander abzugrenzen.

___________ 23

Paqué (2010), S. 32.

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1. Mangelnde Validität Der wohl am wenigsten umstrittene Kritikpunkt an der Eignung von Wirtschaftswachstum bezieht sich auf die begrenzte Validität von Wirtschaftswachstum als Indikator für die Mehrung des Wohlstands. Es wird also kritisiert, dass das gemessene Wirtschaftswachstum durch Faktoren beeinflusst wird, die nicht als Wohlstandsmehrung gelten können, bzw. dass es nicht durch Faktoren beeinflusst wird, die sehr wohl Wohlstandsmehrung implizieren. So hat die innerhalb von Haushalten unentgeltlich verrichtete Arbeit sowie ehrenamtliche Arbeit keinen Einfluss auf das Bruttoinlandsprodukt (BIP), obwohl diese Art von Arbeit natürlich prinzipiell genauso zur Wohlfahrt beiträgt wie bezahlte Arbeit auch. Andererseits fließen auch defensive Ausgaben – beispielsweise die mit der Bekämpfung einer Ölkatastrophe verbundenen Kosten – in das BIP mit ein, obwohl diese „Wertschöpfung“ lediglich zur Reparatur eines (menschengemachten) Schadens führt, ohne unterm Strich den Wohlstand zu mehren. Diese Defizite werden durchgehend auch von den Befürwortern von Wirtschaftswachstum anerkannt, so dass die Differenzen letztlich in der Einschätzung der Größenordnung bzw. der Bedeutung dieser Ungenauigkeit für politische Entscheidungen bestehen. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass die häufig aufgestellte Behauptung, eine Ölkatastrophe (oder ein Autounfall etc.) führe zu einem Anstieg des BIP, so nicht richtig ist, da davon auszugehen ist, dass nicht mehr produziert wird als es sonst der Fall wäre, sondern dass die zur Bekämpfung der Ölpest geleistete Arbeit andere Formen der Produktion ersetzt. Nur wenn aufgrund der Ölpest insgesamt mehr gearbeitet würde, kann davon gesprochen werden, dass die Ölpest der Auslöser für einen Anstieg des Wachstums ist, auch wenn die Ursache in der Tatsache zu sehen ist, dass die Bekämpfung der Ölpest insgesamt zu einer Zunahme der in der Volkswirtschaft geleisteten Arbeitsstunden24 geführt hat (anstatt lediglich zu einer Reallokation von Arbeitszeit). Die Kritik bleibt zwar berechtigt, aber sie ist korrekterweise so zu formulieren, dass die von der Ölpest verursachten Schäden fälschlicherweise nicht negativ in die Ermittlung des BIP eingehen.

2. Vernachlässigung von Bestandsgrößen Eine ähnliche Kritik richtet sich dagegen, dass das BIP eine Stromgröße ist und das Wirtschaftswachstum folglich nur die Veränderung eines Stroms (Produktion pro Jahr) misst, während Veränderungen des zugrunde liegenden Kapi___________ 24 Der Einfachheit halber soll hier davon ausgegangen werden, dass alle geleisteten Arbeitsstunden die gleiche Produktivität aufweisen.

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tals keinen Eingang in das BIP finden. Ein hohes Wirtschaftswachstum kann also möglicherweise dadurch zustande kommen, dass z. B. natürliche Ressourcen wie Erdölvorkommen, bedeutende Biotope oder die temperaturregulierende Kapazität der Atmosphäre immer schneller vernichtet bzw. beeinträchtigt werden. Da diese Art von Wirtschaftswachstum das Potenzial für zukünftigen Wohlstand untergräbt, taugt es ebenfalls nicht als Ziel gesellschaftlicher Entwicklung. Allerdings sind diesen kapitalvernichtenden Tendenzen der realen wirtschaftlichen Entwicklung konsequenterweise auch die kapitalschaffenden Tendenzen gegenüberzustellen. So gibt es in bestimmten Bereichen dank Wirtschaftswachstum auch absolute Verbesserungen der Umwelt zu verzeichnen (insbesondere in Bezug auf Luft- und Wasserverschmutzung), und auch die Zunahme von Wissen (in Form von technologischem Fortschritt) und von physischer Infrastruktur sowie die Weiterentwicklung von Institutionen (einschl. Gesetzgebung, Rechtsprechung) etc. ist gegebenenfalls positiv zu berücksichtigen. Ob unterm Strich die positiven oder die negativen Tendenzen überwiegen, wäre natürlich äußerst schwierig und nur annäherungsweise abzuschätzen, aber prinzipiell liefe es lediglich auf die Frage der korrekten Verrechnung zwischen unterschiedlichen Formen von Kapital hinaus.

3. Ethischer Reduktionismus Kritiker weisen den Hinweis auf mögliche positive Konsequenzen von Wirtschaftswachstum auf bestimmte Bestandsgrößen häufig zurück, indem sie die Verrechnung von unterschiedlichen Formen von Kapital bzw. Strömen grundsätzlich ablehnen. Diese Frage, die für gewöhnlich als Frage der Substituierbarkeit bzw. Kommensurabilität von verschiedenen Arten von Werten artikuliert wird, ist schon in den 90er Jahren zu einem zentralen Problem der Nachhaltigkeitsdebatte und zum Unterscheidungsmerkmal zwischen einer schwachen und einer starken Konzeption von (ökologischer) Nachhaltigkeit geworden: In der schwachen Konzeption von Nachhaltigkeit wird Kommensurabilität bejaht und Nachhaltigkeit somit zu einer Frage der Aufrechterhaltung des Gesamtwerts aller Formen von Kapital.25 Prinzipiell ist in dieser Konzeption ein Verlust natürlichen Kapitals in beliebiger Größe nicht problematisch, solange diesem Verlust ein mindestens ebenso großer Zugewinn an z. B. technologischem Fortschritt gegenübersteht. Dies impliziert natürlich, dass alles, was in irgendeiner Form wertvoll ist, auf einen eindimensionalen Wert reduziert werden kann, sei es ein Schweißroboter, eine bedrohte Tierart oder die Achtung der Menschenrechte. ___________ 25

Neumayer (2003), S. 1.

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In der starken Konzeption von Nachhaltigkeit hingegen wird natürliches Kapital als nur begrenzt oder gar nicht substituierbar angesehen und die Möglichkeit der Verrechnung von natürlichem Kapital mit anderen Formen folglich abgelehnt.26 Stattdessen ist in dieser Sichtweise der Umgang mit natürlichem Kapital bestimmten Prinzipien zu unterwerfen, so dass natürliches Kapital unbedingt nachhaltig zu bewirtschaften ist, unabhängig davon, ob andere Formen von Kapital zunehmen oder nicht. Aus Sicht der starken Konzeption von Nachhaltigkeit würde Wirtschaftswachstum also auch nicht dadurch zu einem besseren Indikator werden, dass die geldwerte Zunahme des BIP um die Veränderung des natürlichen Kapitals (und ggf. weiterer Kapitalarten) korrigiert wird. Vielmehr ist aus dieser Sicht Wirtschaftswachstum deshalb ein ungeeignetes Ziel, weil es eine irreduzibel mehrdimensionale Wertevielfalt auf eine einzige Größe reduziert. Auch wenn die Teilnehmer dieser Debatte den Unterschied zwischen ihren Positionen als eine Frage von (In-)Kommensurabilität unterschiedlicher Werte verstehen, drängt sich aus einer ethischen Perspektive der Eindruck auf, dass es den Beteiligten eigentlich um die Abgrenzung zwischen einer deterministischutilitaristischen (schwache Nachhaltigkeit) und einer im Wesentlichen unbestimmt-deontologischen (starke Nachhaltigkeit) Konzeption des Guten geht (die wiederum als „dominant end“ bzw. „inclusive end“-Konzeptionen aufgefasst werden können). Dabei wird die letzte Position in den meisten Fällen nur ansatzweise schlüssig expliziert, offenbar weil ihre Befürworter (in der Mehrzahl wohlfahrtsökonomisch geschulte Umweltökonomen) immer noch unbewusst einem utilitaristischen Paradigma verhaftet sind und meinen, ihre Intuitionen innerhalb der utilitaristischen bzw. wohlfahrtsökonomischen Binnenlogik begründen können zu müssen, was dann aber nicht widerspruchsfrei gelingen kann27. Ohne diesen Befund an dieser Stelle weiter ausführen zu können, kann hier festgehalten werden, dass in der Kritik am Wachstums-Reduktionismus normative Überzeugungen und nicht positive Argumente entscheidend sind, wobei es jenseits utilitaristischer Prämissen durchaus gute Gründe gegen eine rein konsequentialistisch gedachte Abwägung zwischen uneingeschränkt kommensurablen Gütern geben kann.

___________ 26 27

S. 5.

Ebd. Siehe z. B. die wenig überzeugenden Kunstgriffe in Costanza/Daly (1987), insbes.

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4. Vernachlässigung von Verteilungsfragen In eine ähnliche Richtung zielt die Kritik, dass Wirtschaftswachstum auch mit einer ausgeprägten bzw. zunehmenden Einkommensungleichverteilung einhergehen kann. Diese Kritik kann sehr unterschiedlich motiviert sein: auch und gerade innerhalb einer utilitaristischen Wohlfahrtskonzeption folgt aus dem Prinzip des abnehmenden Grenznutzens des Einkommens (ein zusätzlicher Euro stiftet einer armen Person mehr Nutzen als einer reichen) unmittelbar, dass „das größte Glück der größten Zahl“ eine Umverteilung von oben nach unten innerhalb der Einkommenspyramide erfordert, auch wenn dieses Ziel aufgrund der auch zu berücksichtigenden Anreizeffekte und anderer „Nebenwirkungen“ keine absolute Gleichverteilung impliziert. Andererseits kann die Forderung nach der Berücksichtigung von Verteilungseffekten genauso gut aus einer deontologischen Perspektive erhoben werden, insbesondere dann, wenn denjenigen am unteren Ende der Einkommensverteilung ein moralisches Recht auf eine bessere Entlohnung zugesprochen wird, unabhängig von den Konsequenzen davon für einen gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrtsindikator. Diese Kritik ist wohlgemerkt keine Kritik an Wirtschaftswachstum an sich, sondern lediglich eine Kritik an der ausschließlichen Orientierung an Wirtschaftswachstum ohne Berücksichtigung von Verteilungseffekten. Prinzipiell lässt dieser Ansatz offen, ob unter der Voraussetzung, dass unerwünschte Verteilungseffekte vermieden werden können, (maximales) Wirtschaftswachstum erstrebenswert ist, aber einige Vertreter dieser Kritik (wie z. B. Gewerkschaften) sprechen sich klar für Wirtschaftswachstum als Bedingung für die Erreichung von Verteilungszielen aus.

5. Verwechslung von Mittel und Ziel Eine grundsätzlichere Kritik an der Orientierung an Wirtschaftswachstum argumentiert, dass mit Wirtschaftswachstum lediglich ein kleiner Ausschnitt dessen in den Blick genommen werde, was ein gutes Leben ermöglichen kann. Auch wenn der materielle Lebensstandard nicht unwichtig sei, sei er doch nur eine von mehreren Voraussetzungen bzw. Mitteln für ein gutes Leben. Für die umfassende Bewertung der Güte einer Gesellschaft wäre es aber selbstverständlich notwendig, nicht ausschließlich auf eines von mehreren Mitteln zu fokussieren, sondern auf eine oder mehrere Größen, die intrinsisch wertvoll sind und in erster Linie als intrinsisch wertvolles Ziel denn als Mittel zu betrachten sind.

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Ein besonders weit entwickelter Ansatz in diesem Sinne ist der FähigkeitenAnsatz von Martha Nussbaum28 und Amartya Sen29, der nicht auf die materiellen Voraussetzungen für ein gutes Leben abstellt, sondern auf das Ergebnis wirtschaftlicher Prozesse in Form von realen Freiheiten, also der Fähigkeit, wertgeschätzte Tätigkeiten tun oder lassen zu können. Für diese Sichtweise spricht unter anderem, dass die Bewertung nicht auf über den Markt bereitgestellte Güter begrenzt ist, sondern prinzipiell alle Arten von Vorteilen einbezieht. Außerdem berücksichtigt sie, dass die Menge der für eine bestimmte Tätigkeit erforderlichen Güter stark mit individuellen Voraussetzungen (z. B. bei körperlichen Einschränkungen) und dem sozio-ökonomischen Kontext variieren kann. Dies kommt z. B. darin zum Ausdruck, dass die Lebenserwartung nur bedingt mit dem pro-Kopf-Einkommen korreliert, wie Sen anhand des Vergleichs zwischen dem indischen Bundestaat Kerala und afro-amerikanischen Bevölkerungsgruppen in den USA nachweist30. Ein weiterer Ansatz, dem es um die Ausrichtung an Zielen anstelle von Mitteln geht, kommt aus der ökonomischen Glücksforschung. Diese konnte in zahlreichen empirischen Studien nachweisen, dass die subjektiv erfahrene Lebenszufriedenheit überhaupt nur verhältnismäßig schwach vom Einkommen abhängt (im Sinne des statistischen Bestimmtheitsmaßes, d. h. ein wie großer Anteil der Varianz der Lebenszufriedenheit durch Einkommensunterschiede statistisch „erklärt“ werden kann), jedenfalls deutlich weniger als z. B. von der Anzahl der Freunde oder von Arbeitslosigkeit.31 In dem Maße, in dem das Einkommen mit der Lebenszufriedenheit korreliert, lässt sich außerdem ein Relativeinkommens-Effekt feststellen, also das Phänomen, dass die Lebenszufriedenheit nicht oder nicht ausschließlich davon abhängt, wie hoch mein Lebensstandard absolut betrachtet ist, sondern vielmehr davon, in welchem Verhältnis er relativ zu meinen Ansprüchen und den gesellschaftlichen Anforderungen steht.32 In dem Maße, in dem Einkommenssteigerungen diesem Effekt unterliegen, ist Wirtschaftswachstum folglich ein Nullsummenspiel, da der positive Effekt eines höheren Lebensstandards durch den Anstieg des Bewertungsmaßstabs zunichte gemacht wird.

___________ 28

Nussbaum (2000). Sen (2007/2002). 30 Sen (2007/2002), S. 33ff. 31 Campbell/Converse/Rodgers (1976), S. 368. 32 Frank (1997). 29

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V. Plausibilität von Wirtschaftswachstum als Ziel Um nun zu der Beantwortung der Frage nach dem angemessenen systematischen Stellenwert von Wirtschaftswachstum vorzudringen, ist es zunächst aufschlussreich, die Voraussetzungen zu bestimmen, unter denen Wirtschaftswachstum ein sinnvolles (operationales) Ziel sein könnte.Grundsätzlich lassen sich dabei drei denkbare Möglichkeiten unterscheiden, in welchem Sinne Wirtschaftswachstum ein sinnvolles Ziel wäre bzw. sein könnte. Erstens und idealerweise ist das, was als übergeordnetes Ziel angestrebt wird, von überragendem intrinsischem Wert. Wenn Einigkeit darüber bestünde, dass die Maximierung von Wirtschaftswachstum an und für sich uneingeschränkt erstrebenswert und damit letztlich identisch mit guter Entwicklung ist, bliebe als einziges Problem die positive Frage nach der effektivsten Strategie, um dieses Ziel zu erreichen. In etwas abgeschwächter Form könnte Wirtschaftswachstum im Rahmen einer „inclusive end“-Konzeption des Guten als eines unter mehreren Zielen von intrinsischem Wert angesehen werden, das dann prinzipiell unter dem Vorbehalt erstrebenswert wäre, dass keine unverhältnismäßigen negativen Auswirkungen auf andere intrinsische Ziele entstehen. Ein solches Verständnis wäre also bereits eine erhebliche Relativierung des Status von Wirtschaftswachstum. Zweitens würden ganz ähnliche Implikationen entstehen, wenn Wirtschaftswachstum unmittelbar mit einem intrinsischen Ziel korrelierte, also ein zuverlässiger Indikator für gute Entwicklung wäre, auch wenn Wirtschaftswachstum selbst kein intrinsischer Wert zukäme. Grundsätzlich wäre natürlich eine perfekte Korrelation zwischen Indikator und dem dahinter stehenden Desideratum wünschenswert, aber pragmatischerweise kann natürlich auch ein unvollkommener Indikator sinnvoll sein, solange er zur Lösung des Problems beiträgt, ein an sich nicht messbares Ziel zu erreichen. Das Kriterium muss also sein, ob der Indikator hinreichend mit dem eigentlichen Ziel korreliert und wie gut oder schlecht alternative Herangehensweisen im Vergleich wären. Drittens wäre es auch dann sinnvoll, Wirtschaftswachstum anzustreben, wenn es eine notwendige Voraussetzung für ein übergeordnetes Ziel wäre. In diesem Fall wäre Wirtschaftswachstum zwar nicht selbst ein intrinsisches Ziel, aber die Wünschbarkeit, ceteris paribus, von Wirtschaftswachstum dürfte dann nicht mehr in Frage stehen. Auch wenn es natürlich vorzuziehen wäre, das übergeordnete Ziel direkt anzustreben, kann es wie bei jedem Indikator aus pragmatischen Gründen z. B. der Messbarkeit oder der Operationalisierbarkeit sinnvoll sein, zunächst konkret messbare notwendige Voraussetzungen als (Zwischen-)Ziel anzupeilen, auch wenn damit noch nicht sichergestellt ist, dass das übergeordnete Ziel erreicht werden wird. In diesem Sinne ist offenbar die

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oben wiedergegebene Position Angela Merkels zu verstehen, dass Wachstum nicht alles, aber ohne Wachstum alles nichts sei. Wie plausibel ist es nun, dass Wirtschaftswachstum einem dieser drei Modelle entspricht? Die erste Möglichkeit kann ohne Umschweife verworfen werden: kein ernstzunehmender Politiker oder Ökonom wird jemals behaupten, dass die Maximierung von Wirtschaftswachstum alle denkbaren Ziele in einer optimalen Güterabwägung integriert. Aber auch in der abgeschwächten Form (Wirtschaftswachstum als eines unter mehreren intrinsischen Zielen) bleibt diese Konzeption unplausibel, solange man von einem intrinsischen Ziel verlangt, dass es ein irreduzibler inhaltlicher Bestandteil einer Konzeption des guten Lebens bzw. guter Entwicklung sei. Der entscheidende Grund dafür ist, dass Wirtschaftswachstum keine substanzielle lebensweltliche Bedeutung hat, sondern als eine hochaggregierte Kennzahl einer Vielzahl von z.T. gegensätzlichen Veränderungen (im Sinne von „schöpferischer Zerstörung“33 aber auch in Bezug auf grundsätzlich vermeidbare Nebenwirkungen) innerhalb einer Volkswirtschaft saldiert. Wirtschaftswachstum hat also unausweichlich Gewinner und Verlierer, so dass mit der Zielsetzung von Wirtschaftswachstum letztlich der Anspruch erhoben wird, damit die optimale Güterabwägung zwischen letzten, intrinsischen Gütern (einschließlich der moralischen Rechte von Individuen) zu treffen. Wirtschaftswachstum hat also intrinsische Werte zum Gegenstand und kann somit nicht selber ein intrinsisches, sondern von vornherein höchstens ein von intrinsischen Werten abgeleitetes operationales Ziel sein. Die damit bereits angesprochene zweite Möglichkeit, nämlich Wirtschaftswachstum als Indikator stellvertretend für ein intrinsisches Ziel anzustreben, ist zwar mit den bereits genannten Einschränkungen verbunden, die einem pragmatischen Kompromiss geschuldet sind, aber solange diese Einschränkungen anerkannt und transparent gemacht werden, ist systematisch nichts dagegen einzuwenden. Allerdings stellt sich dann noch die Frage nach der inhaltlichen Angemessenheit dieses Indikators. Das einzige in Frage kommende intrinsische Ziel ist eine stetige Zunahme des durchschnittlichen Konsums, die aber, wenn überhaupt, üblicherweise nur als nachrangiges Ziel angeführt wird. Grundsätzlich ist Wirtschaftswachstum aber ein durchaus geeigneter Indikator für die Zunahme des Konsums, der nur noch verhältnismäßig einfachen Korrekturen bzw. Anpassungen zu unterziehen wäre, z. B. in Hinblick auf defensive Ausgaben oder Verteilungswirkungen. Alle anderen für Wirtschaftswachstum ins Feld geführten Vorteile sind derart kontingent, dass Wirtschaftswachstum einen nur sehr bedingt aussagekräftigen Indikator abgeben würde. Zudem stehen für diese Vorteile relevantere Kennzahlen zur Verfügung, wie etwa Zahlen zur Arbeitslosigkeit, zur Ein___________ 33

Schumpeter (2005), S. 81.

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kommensverteilung oder zur Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme, so dass Wirtschaftswachstum auch nicht als pragmatische Vereinfachung herhalten muss. Ob der Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und gewissen intrinsischen Zielen stark genug ist, um Wirtschaftswachstum als operationales Ziel zu rechtfertigen, ist aber letztlich eine Ermessensfrage. Bei der dritten Möglichkeit kommt es darauf an, ob Wirtschaftswachstum tatsächlich eine notwendige Voraussetzung für die Erreichung der angeführten intrinsischen Ziele ist. Bis auf das nur verhalten vertretene Ziel einer Zunahme des Konsums, das tatsächlich Wirtschaftswachstum erfordert (unter der Voraussetzung einer konstanten oder auch wachsenden Bevölkerung) ist nicht zu sehen, dass eines der angeführten Ziele systematisch davon abhängt, dass die Wirtschaft wächst. Dass dies dennoch eine verbreitete Vorstellung ist, mag damit zu erklären sein, dass gewisse Umstände als gegeben vorausgesetzt werden, unter denen Wirtschaftswachstum tatsächlich zu einer notwendigen Bedingung für (bzw. Begleiterscheinung von) z. B. Beschäftigung wird. Insbesondere ist dies der Fall, wenn als gegeben vorausgesetzt wird, (i) dass stetiger technologischer Fortschritt stattfindet und dieser auf die gesamtwirtschaftliche Produktivität durchschlägt, dass (ii) die durchschnittliche Jahresarbeitszeit sowie (iii) die Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter konstant bleiben (d. h. statische Alterspyramide) und dass (iv) der Kapitalstock unverändert bleibt. In der Summe führen diese Voraussetzungen (auf die ich weiter unten noch einmal zurückkommen werde) dazu, dass ein Anstieg der Arbeitslosenquote nur dann vermieden werden kann, wenn die Wirtschaft wächst, wobei Wirtschaftswachstum in diesem Zusammenhang wohlgemerkt als Begleiterscheinung und nicht als Ursache zu verstehen ist. Im Zusammenhang mit anderen Zielen, die durch Wirtschaftswachstum zu erreichen sein sollen, kommen weitere Voraussetzungen hinzu. So wird bei der Frage der Finanzierbarkeit der sozialen Sicherungssysteme und der öffentlichen Haushalte vorausgesetzt, dass die Kosten steigen werden, aber es wird dabei nicht gesehen, dass diese erwarteten Kostensteigerungen wiederum zumindest teilweise eine Folge von Wirtschaftswachstum sind. Ähnlich wird erwartet, dass sich die Lebensqualität zumindest derjenigen am unteren Ende der Einkommensverteilung im Zuge eines allgemeinen Anstiegs der Löhne verbessert, ohne dass in Betracht gezogen wird, dass ein allgemeiner Anstieg der Lebensstandards wiederum zu einem Anstieg der Konsumanforderungen führt. Im Grunde wird also zirkulär argumentiert, dass Wirtschaftswachstum erforderlich ist, um die Folgen von Wirtschaftswachstum zu bewältigen. Die Verwendung eines Indikators, der nur unter bestimmten Voraussetzungen mit dem eigentlich angestrebten Ziel korreliert oder der allenfalls Mittel zum Zweck ist, ist vor allem deshalb bedenklich, weil damit Denkblockaden errichtet werden, die den Weg zu möglichen Lösungswegen verschließen. Ins-

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besondere wird nicht hinterfragt, ob die angenommenen Voraussetzungen tatsächlich gegeben sind oder ob diese selber zum Gegenstand der Diskussion zu machen sind. Ein bedrückend triviales Beispiel dafür ist z. B. die Bewertung der Entwicklung der japanischen Wirtschaft über die letzten zehn Jahre durch die überwältigende Mehrheit der Ökonomen, die von einer zweiten „verlorenen Dekade“ sprechen (die erste verlorene Dekade der 90er Jahre ist weniger problematisch). Zu diesem Schluss kommen sie offenbar aufgrund des langsamen Wirtschaftswachstums, das mit durchschnittlich 0,8 % nur die Hälfte des Wirtschaftswachstums der USA (1,6 %) betrug und immer noch weniger als das Wirtschaftswachstum der Euro-Zone (1,1 %). Setzt man diese Zahlen jedoch ins Verhältnis zur Bevölkerungsentwicklung, zeigt sich, dass Japan ein höheres Wachstum des pro-Kopf BIP hatte (0,75 %) als die USA (0,65 %) oder die Euro-Zone (0,55 %). Insbesondere hat auch die Arbeitslosenquote in Japan weniger zugenommen als in den USA oder der Euro-Zone und beträgt nur knapp die Hälfte dieser Länder.34 Der Fokus auf Wirtschaftswachstum suggeriert hier eine Krise, die offenbar gar keine ist.35 Aber unabhängig von dem schwachen Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und den Merkmalen guter Entwicklung würde die Beschränkung auf einen einzigen Indikator problematisch sein. Oben wurde bereits die Kritik am ethischen Reduktionismus dargelegt, nach der im Rahmen einer „inclusive end“-Konzeption des Guten Güterabwägungen prinzipiell nicht mit letzter Bestimmtheit beurteilt werden können. Vertreter einer „dominant end“Konzeption begegnen diesem Einwand in der Regel mit dem Argument, dass das Gute ohne vollkommene Kommensurabilität von Werten inkonsistent und beliebig wäre.36 Aber selbst im Rahmen einer solchen reduktionistischen Konzeption ist der Anspruch, der mit der Orientierung an einem einzigen Wohlfahrtsindikator erhoben wird, höchst unplausibel: nämlich dass dieser eine Indikator alle denkbaren Güterabwägungen implizit (weitgehend) richtig beurteilt. Da in einer solchen Sichtweise auch Gerechtigkeitsanforderungen unter das eine summum bonum subsumierbar sein müssen, muss es zumindest prinzipiell auch möglich sein, Verteilungsfragen und Fragen der intergenerationalen Gerechtigkeit quantitativ zu integrieren. Zum Beispiel müsste der Indikator dann so angepasst werden, dass die Auswirkungen auf die Zukunft in Form einer Gegenwartswert-Rechnung saldiert werden (was in der Wohlfahrtsökonomik und insbesondere in der Kosten-Nutzen-Analyse natürlich gang und ___________ 34

The Economist (2011). Damit soll freilich nicht gesagt sein, dass das Wachstum des Pro-Kopf-Einkommens die richtige Zielgröße wäre, sondern lediglich, dass sich selbst erfahrene Ökonomen durch den ausschließlichen Fokus auf gesamtwirtschaftliches Wachstum selbst nach wohlfahrtsökonomischen Beurteilungskriterien fundamental in die Irre führen lassen. 36 Z. B. Annas (1993), S. 31ff. 35

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gäbe ist). Wie gesagt, dass das prinzipiell möglich sein muss, folgt direkt aus den Annahmen des „dominant end“-Paradigmas – aber einem real existierenden Indikator auch nur annähernd derartige Eigenschaften zuzutrauen, erfordert geradezu kindliches Urvertrauen.

1. Der systematische Stellenwert von Wirtschaftswachstum Nachdem nun mit einiger Ausführlichkeit dargelegt wurde, was dagegen spricht, Wirtschaftswachstum (bzw. ein beliebiges anderes Konzept) als einziges Ziel anzustreben, bleibt noch zu erörtern, wie denn die Zielsetzung gesellschaftlicher Entwicklung stattdessen zu konzipieren ist und welcher Stellenwert Wirtschaftswachstum in einer solchen Konzeption zukommt. Grundsätzlich ist festzuhalten, dass im Rahmen einer – auch vom Schreibenden vertretenen – „inclusive end“-Konzeption die Vorstellung von einem einzigen Ziel, das alle Güterabwägungen genau richtig anzugeben vermag, zu ersetzen ist durch eine unbestimmte Konzeption des Guten, in der Güterabwägungen letztlich in einer Gegenüberstellung von guten Gründen als Ergebnis einer nicht bis ins Letzte objektivierbaren – aber damit keineswegs beliebigen – unparteilichen Beurteilung zu treffen sind. Dabei sind im Gegensatz insbesondere zum Utilitarismus auch deontologische Gründe zu berücksichtigen, z. B. Überlegungen zur moralisch zumutbaren Verpflichtung zu Konsumeinschränkungen im Lichte historischer Verantwortung. Wenn es also mehrere inkommensurable intrinsische Ziele gibt, ist es zunächst einmal geboten, diese auch explizit zu benennen und erforderlich werdende Güterabwägungen transparent zu machen und zur Diskussion zu stellen.37 Natürlich ist es prinzipiell auch vertretbar, diese Güterabwägungen im Sinne der Erfordernis von „deliberativer Wirtschaftlichkeit“38 zu einem gewissen Grad zu vereinfachen, aber dann ist diese Vereinfachung selber transparent zu machen und grundsätzlich zur Disposition zu stellen. Insbesondere muss jemand, der zwecks Vereinfachung ein übergeordnetes Ziel als Indikator vertritt, angeben können, was genau dieses Ziel erstrebenswert macht. Im Falle von Wirtschaftswachstum müsste diese Person also beispielsweise angeben, dass es ihr eigentlich um die Vermeidung von Arbeitslosigkeit, die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme etc. geht, und wenn sich zeigt, dass diese Ziele auf anderem Wege besser erreicht werden können, wäre dieser Indikator zu verwerfen oder zumindest zu relativieren. Darüber hinaus wären Fragen der ___________ 37 38

Vgl. Miegel (2010), S. 55. Dryzek (2001), S. 652.

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Verteilungsgerechtigkeit sowie der Generationengerechtigkeit als integrale Anforderungen an gute Entwicklung in einem umfassenden Sinne (verstanden als „inclusive end“) stets mitzudenken. Wirtschaftswachstum würde in einer solchen Konzeption kein privilegierter Stellenwert zukommen – und zwar weder in einer positiven noch in einer negativen Bedeutung. Denn auch diejenigen, die wirtschaftliche Stagnation oder negatives Wirtschaftswachstum fordern, begehen im Grunde den gleichen Fehler, nämlich einen Indikator zu einem substanziellen Ziel zu überhöhen, geradezu so, als würde Wirtschaftswachstum etwas an sich Schlechtes sein. Wenn es diesen Kritikern beispielsweise um ökologische Nachhaltigkeit aus Gerechtigkeitsüberlegungen geht, dann sollte eben das als Ziel formuliert werden. Selbst wenn ökologische Nachhaltigkeit in der Praxis tatsächlich nicht mit Wirtschaftswachstum vereinbar sein sollte, wäre Nullwachstum lediglich eine Folge der richtigen Entscheidungen. Sich explizit gegen Wirtschaftswachstum auszusprechen birgt dann vor allem die Gefahr, in Diskussionen um die Vereinbarkeit von Wirtschaftswachstum und Nachhaltigkeit hineingezogen zu werden, die wenig ergiebig sein dürften, weil Wirtschaftswachstum eben lediglich ein abgeleiteter Indikator ist. Sehr wohl von Belang wäre es, die Vereinbarkeit von nachhaltiger Entwicklung und anderen substanziellen Zielen wie Beschäftigung oder sozialem Frieden zu diskutieren, aber wie hoch das Wirtschaftswachstum bei nachhaltiger Entwicklung ausfällt, wäre – abgesehen von der damit zum Ausdruck kommenden Entwicklung des Konsums – eine weitgehend irrelevante Erkenntnis.

2. Technologischer Fortschritt = Wachstum? Das vielleicht gewichtigste Argument gegen die oben vertretene Position, dass Wirtschaftswachstum keine notwendige Voraussetzung bzw. Begleiterscheinung für gute Entwicklung (insbesondere für die Vermeidung eines Anstiegs der Arbeitslosigkeit) ist, besteht in dem Hinweis auf die Unvermeidlichkeit technologischen Fortschritts. Es ist sicherlich zutreffend, dass in jeder auch nur ansatzweise freien Wirtschaft der Moderne jedes Jahr aufs Neue unaufhaltsam Produkte und Produktionsprozesse verbessert werden und somit die potenzielle Arbeitsproduktivität erhöhen. Daraus folgt aber nicht, dass eine Zunahme der Arbeitslosigkeit nur dann verhindert werden kann, wenn die Wirtschaft wächst. Es gibt nämlich noch mindestens zwei weitere durchaus gangbare Optionen, wie zunehmende Produktivität und eine Stagnation des BIP einhergehen können. Zum einen würde eine Reduktion der durchschnittlichen Jahresarbeitszeit, die prozentual genau dem Anstieg der Arbeitsproduktivität entspricht, dazu führen, dass die Wirtschaft stagniert, ohne dass die Arbeitslosigkeit zunehmen

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müsste.39 Eine Reduktion der Arbeitszeit unter Inkaufnahme von weniger Wachstum hat ja insbesondere in den 60er und 70er Jahren in den wohlhabenden Ländern stattgefunden, wenn auch in sehr unterschiedlichem Ausmaß (das z. B. an den erstaunlichen Unterschieden in der Anzahl der Urlaubstage von US-Amerikanern und Deutschen abzulesen ist). Diese Strategie kann also in gewissem Sinne als bereits bewährt gelten, aber sie ist auch begrenzt, da es fraglich ist, ob die Mehrheit der Menschen wirklich weniger als, sagen wir, 30 Stunden pro Woche arbeiten möchte und ob sie ihrer Freizeit so viel abgewinnen können, wenn ihnen der Kontrast mit einer herausfordernden Tätigkeit fehlt.40 Die zweite Option bestünde darin, in bestimmten Bereichen eine Verringerung der tatsächlichen Arbeitsproduktivität bewusst in Kauf zu nehmen, indem z. B. nachhaltigere Formen der Energieerzeugung genutzt werden, die (zumindest kurzfristig) weniger wirtschaftlich als Kohle oder Gas (oder Kernenergie) sind. Ein ehrgeiziges gesamtwirtschaftliches CO2-Emmissionsziel beispielsweise könnte genau diesen Effekt des freiwilligen Verzichts auf die wirtschaftlichsten Technologien haben, in dessen Folge die gesamtwirtschaftliche Produktivität, das BIP und die Beschäftigung unverändert bleiben, auch wenn sich hinter dieser scheinbaren Stagnation „mutwillige“ Produktivitätsverluste in der Energiebranche bei gleichzeitigen Produktivitätszuwächsen in anderen Branchen verbergen. Technologischer Fortschritt ist also tatsächlich äußerst hilfreich bei der Bewältigung der Herausforderung nachhaltiger Entwicklung, aber er führt nicht zwangsläufig zu Wirtschaftswachstum, und wir brauchen eben nicht Wirtschaftswachstum, sondern Produktivitätswachstum, um uns diese weniger wirtschaftlichen Produktionsformen leisten zu können.41 In der Praxis nährt sich der Widerstand gegen einen derartigen verordneten Produktivitätsverzicht ironischerweise vor allem aus der Befürchtung, dass dies das Wirtschaftswachstum beeinträchtigen wird. Was vollkommen korrekt ist – aber worin besteht das Problem?

Literatur Annas, Julia (1993): The Morality of Happiness, New York. Aristoteles (1998): Die Nikomachische Ethik, 3. Ausg., München. Campbell, Angus/Converse, Philip E./Rodgers, Willard L. (1976): The Quality of American Life, New York.

___________ 39

Siehe z. B. Jackson (2011). Siehe auch Keynes (1972/1928), S. 328. 41 Anders als z. B. von Koerber (2008), S. 265 argumentiert. 40

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Costanza, Robert/Daly, Herman E. (1987): Toward an Ecological Economics, in: Ecological Modelling 38, S. 1–7. Dryzek, John S. (2001): Legitimacy and Economy in Deliberative Democracy, in: Political Theory 29, S. 651–69. Frank, Robert H. (1997): The Frame of Reference as a Public Good, in: The Economic Journal 107, S. 1832–47. Friedman, Benjamin M. (2005): The Moral Consequences of Economic Growth, New York. Hardie, William F. R. (1965): The Final Good in Aristotle’s Ethics, in: Philosophy 40, S. 277–95. Jackson, Tim (2011): Prosperity without Growth, London. Keynes, John M. (1972/1928): Economic Possibilities for our Grandchildren, in: Collected Writings, London, S. 321–32. Koerber, Eberhard von (2008): Chancen oder neue Grenzen des Wachstums?, in: Beatrice Weder di Mauro (Hrsg./2008):Chancen des Wachstums. Globale Perspektiven für den Wohlstand von morgen, Frankfurt/Main, S. 249–68. Krugman, Paul/Obstfeld, Maurice (2006): Internationale Wirtschaft: Theorie und Politik der Außenwirtschaft, 7. Ausg., München. Layard, Richard (1980): Human Satisfaction and Public Policy, in: The Economic Journal 90, S. 737–50. Meadows, Donella H./Meadows, Dennis L./Randers, Jorgen/Behrens, William W. (1972): The Limits to Growth, New York. Merkel, Angela (2003): Rede auf dem 17. Parteitag der CDU am 1. Dezember 2003 in Leipzig. http://www.cdusz.de/nachrichten/200407131146272.pdf (accessed October 14, 2011). Miegel, Meinhard (2010): Exit: Wohlstand ohne Wachstum, 2. Ausg., Berlin. Miegel, Meinhard/Petersen, Thomas (2008): Der programmierte Stillstand, München. Neumayer, Eric (2003): Weak versus strong sustainability, 2. Ausg., Cheltenham. Nussbaum, Martha C. (2000): Women and Human Development: The Capabilities Approach, Cambridge. Paqué, Karl-Heinz (2010): Wachstum!, München. Porter, Michael E. (1998): The Competitive Advantage of Nations, New York. Rawls, John (1999/1971): A Theory of Justice, Oxford. Schumpeter, Joseph A. (2005): Capitalism, Socialism and Democracy, London. Sen, Amartya K. (1995): Inequality Reexamined, Cambridge, MA. – (2007/2002): Ökonomie für den Menschen, 4. Ausg., München. The Economist (2011): Whose lost decade?, in: The Economist, 19.November 2011, http://www.economist.com/node/21538745.

Wachstum – Kein Ziel, sondern Ergebnis wirtschaftlichen Handelns – Korreferat zu Johannes Hirata – Von Eric Christian Meyer

I. Einleitung Ist Wachstum das Ziel für wirtschaftliches Handeln? Soll Wachstum Ziel für wirtschaftliches Handeln sein? Die Orientierung an der Wachstumsentwicklung ist zunehmend in die Kritik geraten. Dabei ist diese Wachstumskritik nichts Neues. Man findet sie in der ökonomischen Literatur seit hunderten Jahren. Bekannt ist die Kritik von Thomas R. Malthus, der bereits 1798 in seinem „Essay on the Principle of Population“ darauf hinwies, dass in einer begrenzten Welt, in der insbesondere das Ackerland begrenzt ist, kein dauerhaftes Wachstum möglich ist.1 Mitte des 19. Jahrhunderts beschäftigte sich John Stuart Mill mit den Grenzen des Wachstums, indem er sich mit dem Funktionieren einer stationären, nicht-wachsenden Volkswirtschaft auseinandersetzte.2 Gute hundert Jahre später erschien der erste Bericht des Club of Rome zu den Grenzen des Wachstums, der erste Computersimulationen zur Beschränktheit des Wachstums unternahm.3 Das wiederholte Aufkommen der Wachstumsdiskussion führt zu der Frage, was denn passiert wäre, wenn man bereits zur Zeit John Stuart Mills seiner Argumentation gefolgt wäre und sich gegen weiteres Wachstum entschieden hätte. Würden wir heute in einer besseren Welt leben? Würden die Menschen glücklicher sein? Zahlreiche Publikationen beschäftigen sich auch heute wieder kritisch mit der Wachstumsfixierung.4 Diese Kritik formuliert drei Hauptvorwürfe. Erstens sei dauerhaftes Wachstum in einer beschränkten Welt nicht dauerhaft möglich. ___________ 1

Vgl. Malthus (1798, 2007). Vgl. Mill (1852). 3 Vgl. Meadows (1972). 4 Vgl. z. B. Jackson (2009), Miegel (2010), Meadows (2004), gegenteilig dazu Paqué (2011). 2

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Deshalb seien alternative Wirtschaftsformen zu entwickeln, die nicht dem Wachstumsparadigma unterliegen. Zweitens bestehe zwischen dem Wachstum und dem Wohlbefinden bzw. dem Glück der Menschen keine direkte Beziehung oder zumindest sei diese nicht allgemein unter allen Umständen nachweisbar. Drittens sei die Orientierung am Wirtschaftswachstum zu eng gewählt. Andere Indikatoren und hier insbesondere Bestandsgrößen (wie z. B. der Umwelt-, Ressourcen- oder Artenbestand) seien durch geeignete Indikatoren zu erfassen. In diesem Beitrag soll aus dem Blickwinkel der ökonomischen Wachstumstheorie zu einigen dieser Vorwürfe Stellung bezogen werden. Zunächst wird dazu beschrieben, was unter Wachstum verstanden wird und wie es entstehen kann. Darauf aufbauend können dann einige Missverständnisse über Wachstum in diesem stringenten Modellrahmen behandelt werden.

II. Was ist Wachstum? 1. Wachstum in der Ökonomik Entgegen vieler Vorwürfe betrachtet die ökonomische Wachstumsforschung Wachstum selbst nicht als Ziel wirtschaftlichen Handelns. Vielmehr wird versucht zu verstehen, wie Wachstum entsteht, um damit identifizieren zu können, welche Faktoren für Wachstum verantwortlich sind und ob und in welchem Umfang Wachstum überhaupt langfristig möglich ist. Grundlegend und prägend für das langfristige (Wachstums-)Verhalten von Volkswirtschaften sind die Arbeiten von Robert Solow.5 Solow hat zunächst in einem rein positiven Modell mit Kapital und Arbeit und mit sehr anspruchslosen Annahmen gezeigt, dass die langfristig mögliche Wachstumsrate durch die Rate des Wachstums des Arbeitseinsatzes (bzw. als Näherung der Bevölkerungswachstumsrate) und der Rate des technischen Fortschritts bestimmt wird. Betrachtet man dann die Wirtschaftsleistung pro Kopf bzw. pro eingesetzter Arbeitseinheit, so ergibt sich, dass die langfristige Wachstumsrate allein durch den technischen Fortschritt bestimmt wird. Andere Größen hingegen, wie z. B. die Investitionsquote, beeinflussen nicht die langfristige Wachstumsrate, sondern lediglich das Wachstumsniveau. Nirgends wird hier also eine Notwendigkeit von Wachstum hergeleitet, es wird lediglich gezeigt, welche Faktoren langfristig das Wachstum bzw. dessen Niveau bestimmen. Die rein positive Betrachtung wurde dann normativ erweitert, indem man die Konsumentscheidungen endogenisierte. D. h. es wurde die Annahme formu___________ 5

Vgl. Solow (1956).

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liert, dass die Individuen aus dem Konsum einen Nutzen ziehen, der einen abnehmenden Grenznutzen aufweist. Die Ergebnisse bleiben dabei jedoch insb. hinsichtlich der langfristigen Entwicklung weitgehend unverändert. Nun lässt sich hinsichtlich der Nutzenfunktion anführen, dass der Konsum aus der Mehrproduktion nicht zu einem entsprechenden Mehrnutzen führt, vielmehr würden bei einem hohen Wohlstandsniveau andere Faktoren relevant werden. Fügt man z. B. eine endogene Entscheidung über die Arbeit-Freizeit-Entscheidung ein, so erfahren die Individuen bei einem hohen Konsumniveau einen entsprechend geringeren Grenznutzen aus dem Konsum, was die Freizeit relativ attraktiver werden lässt, wodurch der Arbeitseinsatz reduziert würde und was dann wiederum zu einer geringeren Produktion führen wird, was die Konsummöglichkeiten reduziert. Prinzipiell wird jedoch auch hier das langfristige Wachstum durch den technischen Fortschritt getrieben, wenngleich auf niedrigerem Niveau. Die herausragende Bedeutung des technischen Fortschritts führte zu weiteren Betrachtungen der sog. „Neuen Wachstumstheorie“ über dessen Entstehung.6 Um Neues zu erfinden, müssen Entscheidungen über die Aktivitäten in Forschung und Entwicklung aber auch über die Ausbildung getroffen werden. In beiden Fällen stehen die entsprechenden Arbeitskräfte nicht in der Produktion zur Verfügung. Das Entscheidungskalkül muss also darstellen, wie viel Nutzen man heute opfern möchte, um morgen mit besseren Technologien einen höheren Nutzen erzielen zu können, der sich aus einem höheren Konsum ergibt, jedoch genauso in mehr Freizeit bestehen könnte. Auch hier zeigt sich, dass ein dauerhafter technischer Fortschritt und damit eine langfristig positive Wachstumsrate möglich sind. Es wird jedoch keine Aussage darüber getroffen, dass eine solche wünschbar oder gar notwendig ist. Darüber hinaus wurden die Untersuchungen um eine Betrachtung der Verwendung begrenzter natürlicher Ressourcen im Produktionsprozess erweitert. 7 Prinzipiell zeigen sich hier weitere Bestimmungsfaktoren, die das Wachstum einer Volkswirtschaft beeinflussen können, wie z. B. die Leichtigkeit mit der die Ressourcen im Produktionsprozess substituiert werden können, der Verschleiß der Kapitalgüter oder die Erfindung sog. Backstop-Technologien. Prinzipiell ist es möglich, dass die Beschränktheit der Vorkommen natürlicher Ressourcen zu einer Verlangsamung des Wachstums oder auch zu einer wirtschaftlichen Schrumpfung führen, sofern es nicht gelingt diese Prozesse durch einen entsprechenden technischen Fortschritt oder substituierende Backstop-Technologien zu kompensieren. Daraus folgt jedoch auch wiederum keine ökonomisch begründete Notwendigkeit von Wachstum. Allerdings wird aufgezeigt, dass ___________ 6 7

Vgl. einführend hierzu z. B. Meyer/Müller-Siebers/Ströbele (1998), S. 134ff. Vgl. hierzu ausführlich Meyer (2010) oder Ströbele (1984).

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eine ressourceninduzierte Schrumpfung möglich ist, sofern keine hinreichende Innovationsfähigkeit vorhanden ist. Keine dieser Betrachtungen führt also zu einem ökonomisch begründeten Zwang zum Wachstum. Im Gegenteil: Wird der „Motor“ der Innovation ausgeschaltet, so führen sie regelmäßig in einen stationären Zustand des Nullwachstums in Pro-Kopf-Einheiten. Wachstum ist stets das Ergebnis und keinesfalls das Ziel des wirtschaftlichen Handelns.

2. Arten von Wachstum Wenn über Wachstum gesprochen wird, werden häufig unterschiedliche Arten des Wachstums verwechselt, was insbesondere dem Missbrauch des Wachstumsbegriffs im politischen Raum geschuldet ist. In diesem Beitrag soll von den konjunkturellen Schwankungen der Wachstumsrate vollständig abstrahiert werden. Vielmehr steht eine langfristige Entwicklung im Kern der Betrachtung. Wie im vorangegangenen Abschnitt bereits beschrieben, ist die langfristige gleichgewichtige Wachstumsrate im Wesentlichen bestimmt durch die Rate des Wachstums des Arbeitskräfteeinsatzes und der Rate des technischen Fortschritts. Geht man auf eine individuelle Betrachtung über, womit sich die Rate des Arbeitskräfteeinsatzes herauskürzt, bleibt also als Bestimmungsgröße die Rate des technischen Fortschritts übrig. Die Möglichkeit, Wachstum zu erzeugen, bestimmt sich also dadurch, wie gut es in einer Volkswirtschaft gelingt, einerseits Neues zu entdecken, andererseits aber auch Prozesse immer wieder kreativ so neu zu organisieren, dass eine effizientere Nutzung der vorhandenen Inputgrößen möglich wird. Solange Neugier besteht, solange Neues entdeckt wird, solange Menschen nicht in einer Welt leben wollen, in der alles Entdeckbare auch schon entdeckt ist, wird es also die Möglichkeit zum Wachstum geben. Von dieser langfristigen gleichgewichtigen Wachstumsrate ist das sog. „Catch-up“-Wachstum zu unterscheiden. Dieses besteht in dem beschleunigten Wachstum, das in weniger entwickelten Volkswirtschaften beobachtet werden kann, die auf dem Weg sind, ihr gleichgewichtiges Wachstumsniveau zu erreichen. Diese Wachstumsrate ist regelmäßig höher als die langfristige Wachstumsrate und wird durch weitere Faktoren wie z. B. die Investitionsquote beeinflusst. Voraussetzung für dieses Wachstum ist ein entsprechender institutioneller Rahmen, der ein solches Wachstum zulässt.8 ___________ 8 Sofern die institutionellen Rahmenbedingungen tatsächlich gegeben sind, ist diese Aussage höchst solide durch empirische Untersuchungen belegt. Dieses gilt insb. dann, wenn diese Eigenschaft des Catch-up-Wachstum in ähnlichen institutionellen Settings analysiert wird. Vgl. hierzu z. B. Barro/Sala-i-Martin (1995), S. 382ff.

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Das Konzept eines langfristigen Wachstumsgleichgewichts ist zu Recht kritisiert worden. Tatsächlich ist dieses Gleichgewicht für die Wachstumsrate eine Art „moving target“, d. h. sie unterliegt selbst Änderungen, nämlich insbesondere dann, wenn sich Veränderungen im Innovationsverhalten und der Innovationskraft einer Volkswirtschaft ergeben. D. h. diese Wachstumsrate ist zwar die langfristig angestrebte Rate, da sie aber selbst Änderungen unterliegt, befindet sich jede Volkswirtschaft ständig auch mehr oder minder in einem unterschiedlich stark ausgeprägten Catch-up-Wachstum. Wachstum bezieht sich immer auf eine bestimmte Basisgröße. Im wirtschaftlichen Zusammenhang ist dieses regelmäßig das reale Bruttoinlandsprodukt, d. h. es wird eine um Preisentwicklungen bereinigte Größe betrachtet, die außerdem noch nicht die auf den Kapitalbestand fälligen Abschreibungen enthält. Das Bruttoinlandsprodukt repräsentiert dabei alle gehandelten Produkte und Leistungen in einer Volkswirtschaft, d. h. nicht enthalten sind Leistungen aus Schwarzarbeit oder auch Eigenproduktionen, die nicht ihren Weg auf den Markt finden, weshalb die tatsächlich erbrachte wirtschaftliche Leistung und der daraus resultierende Konsum größer sein können. Dieses hängt im Falle der Schwarzarbeit von den Rahmenbedingungen (Strafen, Kontrolldichte, Anreize zur Schwarzarbeit ab), im Falle der Eigenleistungen von den Preisen auf den Märkten, den Zeitbudgets der Individuen und den Präferenzen und Talenten zur Erbringung dieser Leistungen. In der Praxis ist man also in der Quantifizierung des Bruttoinlandsproduktes mit Erhebungsungenauigkeiten konfrontiert. Die Entwicklung des Bruttoinlandsproduktes kann also immer durch ein Anwachsen oder Schrumpfen der „verdeckten“ Aktivitäten begründet sein, das sich aus veränderten Rahmenbedingungen ergibt. Aber – und das ist wesentlich – diese Entwicklungen wirken in der Regel nicht dauerhaft auf die Wachstumsrate des Bruttoinlandsproduktes. Zwar kann dieses kurzfristig die Wachstumsrate beeinflussen, nämlich genau dann, wenn diese Aktivitäten aus dem „verdeckten“ in den „sichtbaren“ Bereich wandern, es ist jedoch nicht möglich, dass dieses stetig über einen längeren Zeitraum erfolgt. D. h. diese Messungenauigkeit betrifft das Bruttoinlandsprodukt als Niveaugröße, jedoch weniger dessen Wachstumsrate.

III. Missverständnisse über Wachstum Wenn das Konzept des langfristigen Wachstums keine Ansätze zu einem „Wachstumsdogma“ enthält, so bleibt zu klären, wie es dennoch dazu kommt, dass Wachstum in der wirtschaftspolitischen Diskussion eine so hohe Relevanz besitzt.

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1. Wachstum und Beschäftigung Häufig wird behauptet, dass Wachstum einen höheren Beschäftigungsstand sichern könne. Hierbei ist jedoch zwischen der lang- und kurzfristigen Entwicklung scharf zu unterscheiden. Langfristig ist die Beschäftigungswirkung eher gering einzuschätzen, während es sehr wohl kurzfristige konjunkturelle Effekte geben kann. Es wird jedoch insbesondere verkannt, dass das Beschäftigungsniveau durch die Bedingungen auf den Arbeitsmärkten bestimmt wird. Die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit setzt deshalb nicht primär an der Wachstumspolitik, sondern an den Arbeitsmarktbedingungen an. Stimmen die Arbeitsmarktbedingungen nicht, so kann Wachstum mit hohen Arbeitslosenquoten einhergehen. Als Beispiel mag Spanien dienen, das in den ersten Jahren der Währungsunion zwar hohe Wachstumsraten, aber auch hohe, wenn auch rückläufige Arbeitslosenquoten hatte, die weit oberhalb der Arbeitslosenquoten der stagnierenden Bundesrepublik lagen. Wie sich jetzt zeigt, hat das Wachstum die spanischen Beschäftigungsprobleme allenfalls (konjunkturell) kaschiert, sie aber keinesfalls gelöst. Die (nur kurzfristigen) Beschäftigungswirkungen von Wirtschaftswachstum können also keinesfalls als Begründung von Wachstum dienen, werden aber von einer eher kurzfristig ausgerichteten Wirtschaftspolitik gerne als Begründung genutzt.

2. Wachstum und Verteilung Wachstum eröffnet der Wirtschaftspolitik einfachere Verteilungsspielräume. Diese Behauptung ist zweifelsohne richtig, wenngleich es keine echte Begründung für den Wunsch nach Wachstum ergibt. Vielmehr ist es der Wunsch von Wirtschaftspolitikern, die sich damit einen größeren Handlungsspielraum zur Verteilung von Wohltaten erhoffen. Da die Steuereinnahmen sich als Anteil an den erbrachten Wirtschaftsleistungen ergeben, bedeutet ein höheres Bruttoinlandsprodukt auch eine Steigerung der Steuereinnahmen, sofern keine Ausweichreaktionen stattfinden. Eine Steigerung der Steuereinnahmen und damit eine steigende Umverteilung ließe sich genauso über eine Erhöhung der Steuersätze erreichen (wieder unter der Bedingung, dass keine Reaktion auf diese höheren Steuersätze stattfindet). Obwohl in beiden Fällen dieselben Steuerzahlungen anfallen, ist die Akzeptanz der Steuerzahlungen im ersten Fall höher. Die Wirtschaftspolitik macht sich dabei eine Verhaltenseigenschaft zu Nutze. Im Falle der erhöhten Einnahmen durch Wachstum können sich Staat wie auch Steuerzahler gegenüber der Situation zuvor besser stellen, weshalb sie eher akzeptiert wird als eine Erhöhung der Steuersätze. Eine ökonomische Begründung für Wachstum kann dieses jedoch nicht sein, vielmehr ist es lediglich eine politische Motivation von Wachstum.

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3. Wachstum und Bestände Die Fixierung auf Wachstum berücksichtige nicht andere Bestände, wie z. B. Ressourcen, die Umwelt oder auch die Artenvielfalt. Dem Argument liegt häufig die Idee zu Grunde, dass bestimmten Beständen ein eigener Wert innewohnt, weshalb eine Nutzung der Bestände ausgeschlossen ist. Insbesondere ist eine Substitution solcher Bestände durch andere Bestände nicht zulässig. 9 Die Behandlung von natürlichen Beständen hat natürlich in der der Ressourcenökonomik und den Arbeiten zum Wachstum bei begrenzten Ressourcen breiten Niederschlag gefunden.10 Ressourcen können genutzt werden, sofern sie durch andere Bestände substituiert werden. Eine rein konsumtive Verwendung dieser Bestände ist hingegen nicht zulässig. Damit finden sich klare Regeln für den Umgang mit natürlichen Ressourcen bzw. Beständen. Sofern eine – durchaus zu beobachtende – Übernutzung solcher Bestände stattfindet, so ist dieses weniger einer Wachstumsorientierung geschuldet, als vielmehr einem unzulänglichen institutionellen Rahmen, dem es nicht gelingt, den Wert dieser Bestände und eventuelle Externalitäten in ihrer Nutzung zu internalisieren. Ähnlich wie im Falle des Zusammenhangs mit der Beschäftigung liegt der Handlungsbedarf nicht in der Eindämmung einer übermäßigen Wachstumsorientierung, sondern im richtigen Design der Märkte, so dass es nicht zu Fehlanreizen kommt, die zu Übernutzungen führen.

IV. Fazit Es wurde versucht zu zeigen, dass Wachstum in der Ökonomik kein eigenständiges Ziel ist. Vielmehr versucht die Ökonomik zu erklären, durch welche Prozesse es zu Wachstum kommen kann, ohne jedoch normative Aussagen über dessen Wünschbarkeit zu treffen. Der Wunsch nach Wachstum entstammt vielmehr dem politischen Prozess, wo er als gesicherte ökonomische Kenntnis transportiert wird, tatsächlich jedoch nur zur Lösung politischer nicht jedoch wirtschaftlicher Probleme beiträgt. Die Ursachen der ökonomischen Probleme (Arbeitslosigkeit, Bestandsübernutzungen) werden dadurch jedoch überspielt und nicht angegangen.

___________ 9 Dieses reflektiert die Diskussion zwischen starker und schwacher Nachhaltigkeit. Vgl. zu den Begriffen der starken und schwachen Nachhaltigkeit z. B. Endres/Radke (1998), S. 19. 10 Vgl. für einen Überblick z. B. Meyer/Müller-Siebers/Ströbele (1998), S. 158ff. oder Ströbele (1984).

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Eric Christian Meyer

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Die Bedeutung wirtschaftlichen Wachstums aus christlich-sozialethischer Sicht – Korreferat zu Johannes Hirata – Von Joachim Wiemeyer Im Kontext von Theologie und Kirche spielt Wachstum eine wichtige Rolle. Die wichtigste Form des Wachstums für ein gelungenes menschliches Leben aus christlicher Sicht ist die Intensivierung bzw. das Wachstum der Gottesbeziehung. Menschen sollen zudem in ihrer sittlichen Einstellung, in ihrem geistigen Leben und in ihren personalen Beziehungen zu anderen Menschen wachsen. Aus dieser Perspektive könnte das Verhältnis zum ökonomischen Wachstum, gemessen etwa an der Steigerung des Bruttoinlandsprodukts auf der Hand liegen, indem diesem nur eine untergeordnete Rolle im menschlichen Leben zugewiesen wird. Dies wäre aber aus einer sozialethischen Sichtweise verkürzt, weil man zwischen zwei unterschiedlichen Ebenen unterscheiden muss, nämlich zum einen der Ebene der Institutionen und Strukturen der Gesellschaft (Sozialethik), und zum anderen der individuellen Ebene des Einzelnen und dessen Bestreben, ein „gutes“ oder gelingendes Leben zu führen (Individualethik). Gesellschaftliche Institutionen (z. B. die Rechtsordnung mit der Sicherung von Menschenrechten oder die Wirtschaftsordnung) können immer nur institutionelle Grundbedingungen schaffen, die den Einzelnen befähigen1, ein gelingendes oder glückliches Leben zu führen. Ob dies der einzelnen Person gelingt, hängt aber auch bei geeigneten gesellschaftlichen Bedingungen von gesellschaftlich nicht beeinflussten Vorgegebenheiten (genetische Ausstattung), von Zufällen, von der personalen Umwelt sowie von der individuellen Nutzung von Freiheitsräumen durch die einzelne Person ab.2 Auf der sozialethischen Ebene könnte Wirtschaft und wirtschaftliches Wachstum zu den unverzichtbaren Ermöglichungsbedingungen geglückten menschlichen Lebens zählen. Ein Mindestmaß an der Verfügbarkeit materieller ___________ 1 2

Vgl. zum Befähigungsansatz: Sen (2010), S. 253ff. Vgl. Wallacher (2011), S. 79ff.

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Güter ist sicher eine wesentliche Grundvoraussetzung. Die Autonomie und Eigendynamik sozialer Subsysteme wie der Wirtschaft könnte aber dazu führen, dass sie in Gegensatz zu christlichen Wertvorstellungen gerät. Dies wird in einem ersten Punkt angesprochen.3 Anschließend werden christlich-sozialethische Akzente in der Debatte um neue Sozialindikatoren aufgegriffen. Dann wird gefragt, ob Wachstum gestaltet werden kann. Da in dem Beitrag von Hirata4 Finanzmärkte und ihre Beziehung zum Wachstum gar nicht, sowie die internationale Dimension nur unter Machtaspekten angesprochen wird, werden diese Dimensionen ebenfalls aufgegriffen.

I. Wirtschaftliches Wachstum als Religionsersatz Miegel ist der Auffassung, dass in westlichen Industriegesellschaften wie der Bundesrepublik das Streben nach wirtschaftlichem Wachstum zu einer Ersatzreligion geworden ist: „Vieles spricht dafür, dass in den frühindustrialisierten und vielen anderen Ländern das Wachstum der Wirtschaft nicht mehr jenes Licht und Wärme spendende Feuer ist, das während langer Zeit das Leben der Menschen erleichtert und bereichert hat. Vielmehr ist es zu einer Ideologie geworden, die das Denken und Fühlen der Mehrheit steuert und sich nicht zuletzt deshalb rationalen Erwägungen und kritischer Reflexion weitgehend entzieht. Als Ideologie hat das Wachstum der Wirtschaft die prosaische Sphäre des Handfest-Irdischen verlassen und Züge des MetaphysischReligiösen angenommen. Wachstum hat sich in gewisser Weise zur Religion unserer Zeit entwickelt und bedarf als solche keiner rationalen Begründungen mehr. Wichtiger ist der Glaube.“5

Die Diagnose von Miegel würde stimmen, wenn Politik, die Öffentliche Meinung, die Akteure in der Wirtschaft sowie das Denken und Handeln der Menschen vor allem bestimmt würden von dem Bestreben, Wachstum zu fördern, voranzutreiben, zu ermöglichen und Wachstumserträge zu genießen. Diesem müsste gegenüber allen anderen Gütern Vorrang eingeräumt werden. Dass in der Politik der Förderung des Wachstums große Bedeutung beigemessen wird, kann man an vielen Aussagen von Politikern belegen.6 Ebenso streben praktisch alle Unternehmen nach Steigerung von Umsatz und Gewinn, was letztlich Wachstum bedeutet. Es gibt weiterhin die Tendenz, vorgeblich verkrustete Märkte (z. B. den Arbeitsmarkt) zu deregulieren bzw. gesellschaftliche Bereiche wie „Bildung“, „Medien“, „Gesundheit“ und „soziale Dienste“ stärker ___________ 3 Positionen der kirchlichen Sozialverkündigung zur Wachstumsproblematik findet man bei: Wiemeyer (2011), S. 3–10. 4 Vgl. Hirata (2012). 5 Miegel (2011), S. 55f. 6 Vgl. das Zitat von Bundeskanzlerin Angela Merkel bei Hirata (2012).

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Marktimperativen zu unterwerfen, auch im Sinne einer Mobilisierung von Wachstumskräften. Da reales Wachstum Nachfrage finden muss und der private Konsum das größte Aggregat in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung darstellt, hat die kirchliche Sozialverkündigung diese Grundproblematik angesichts des individuellen Konsumverhaltens thematisiert. Innerhalb westlicher Wohlstandsgesellschaften wird von der Kirche ein negativ konnotierter Konsumismus7 konstatiert. Darunter ist ein Konsumverhalten zu verstehen, das Konsumgüter nicht aus instrumentellen Zwecken und der Nützlichkeit des Gebrauchswerts wegen erwirbt. Auch wird nicht zunächst Konsumverzicht geleistet, um Ersparnisse zu bilden, sondern Konsumgüter müssen vielfach sofort, auch um den Preis einer Verschuldung, erworben werden. Kaufen (Shoppen-Gehen in Konsumtempeln) erhält damit faktisch einen Eigenwert auch als Zeitvertreib. Ergebnis eines solchen Konsumverhaltens ist, dass Konsumgüter gar nicht ge- und verbraucht werden, z. B. werden rd. 30 % aller Lebensmittel vernichtet, andere Güter werden kaum genutzt bzw. vor der Abnutzung weggeworfen oder nicht wegen ihres funktionellen Gebrauchsnutzens, sondern als Prestigegut erworben.8 Wenn kirchlicherseits ein solches ethisch bedenklich erscheinendes Konsumverhalten beobachtet wird, ist es zunächst eine Aufgabe kirchlicher Verkündigung, Menschen durch kirchliche Angebote zu einem bewussteren Konsumverhalten zu bewegen und auf ein Konsumverhalten aufmerksam zu machen, das als bloße Ersatzbefriedigung erscheint. Innerhalb einer freiheitlichen Ordnung gehört die Konsumfreiheit zu den wichtigen wirtschaftlichen Grundfreiheiten. Zwar werden auch unmittelbare Eingriffe (z. B. Rauchverbot) in die Konsumfreiheit praktiziert. Dies ist aber nur in Ausnahmefällen möglich, wo die Schädlichkeit unmittelbar nachzuweisen ist. Eine sozialethische Aufgabe liegt hier in einer Konsumerziehung, Verbraucheraufklärung und einem Schutz vor aggressiven Vertriebsformen sowie Werbemethoden. Gesellschaftlich regelungsbedürftig könnte der Zugang zu Verschuldungsmöglichkeiten zu Konsumzwecken sein, um leichtfertige Kreditaufnahme und Überschuldung zu vermeiden.

___________ 7 8

Vgl. Johannes Paul II. (1991), Nr. 36. Ausführlich dazu: Rumbach-Thome (2003). Vgl. Wallacher (2011), S. 95f.

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II. Christlich-sozialethische Akzente in der Debatte um Grenzen des Wachstums und alternative Indikatoren Wenn etwa das Bruttoinlandsprodukt und sein Wachstum als wichtigster gesellschaftlicher Wohlfahrtsindikator hinterfragt werden und nach Art, Anzahl und Gewichtung alternativer Indikatoren und Messverfahren gesucht wird, die Lebensqualität zu erfassen, spielen normative Überlegungen notwendigerweise eine Rolle. Dabei werden viele Gesichtspunkte in die öffentliche Debatte eingebracht, über die Konsens herrscht. Die Christliche Sozialethik wird eine Relativierung des Wachstums des Bruttoinlandsprodukts teilen, wenn diese mit ökologischen Bedenken, etwa einem Raubbau am Naturkapital, hoher Schadstoffbelastung etc. artikuliert wird. Dies gilt vor allem, wenn dabei die weltweite Dimension in den Blick genommen wird, weil die große Anzahl armer Menschen in den Entwicklungsländern einen Anspruch auf Wachstum und damit auch einen Zugriff auf natürliche Ressourcen zur Armutsüberwindung hat. Zweitens wird die Christliche Sozialethik nicht nur Durchschnittswerte im Auge haben, sondern auch die Verteilung des Volkseinkommens in den Blick nehmen und einer zu ungleichen Verteilung entgegentreten.9 Drittens ist auf den Umfang und die Qualität öffentlicher Dienstleistungen (Infrastruktur) zu achten.10 Hier sollen die drei Gesichtspunkte „Arbeit“, „Sozialkapital“ und „Familie“ herausgestellt werden, auf deren Berücksichtigung eine Christliche Sozialethik besonderen Wert legt, die aber in der Diskussion um Wachstum und Lebensqualität bisher nicht ausreichend im Vordergrund stehen. Der erste Gesichtspunkt betrifft die Entstehung des Bruttosozialprodukts bzw. die Genese des Wachstums. Wachstum kann entstehen, indem mehr Personen beschäftigt werden, indem die Arbeitszeit der beschäftigten Personen ausgeweitet wird, die Arbeit intensiviert wird, die Qualifikation der arbeitenden Menschen verbessert wird, Arbeit mit neuen Maschinen ausgestattet oder die Arbeitsproduktivität durch eine bessere Organisation der Arbeit erhöht werden kann. Problematisch ist eine Arbeitszeitverlängerung, vor allem bei unbezahlten Überstunden bzw. eher unfreiwilliger Ausdehnung der Arbeitszeit. Weiterhin kann eine Intensivierung der Arbeit problematisch sein, vor allem wenn diese Intensität langfristig nicht durchhaltbar ist und zum Verlust des Humankapitals (physische und zunehmende psychische Erkrankungen) führt. Hier findet ein Raubbau an Menschen statt.11 Im Kontext der Arbeit gibt es ein weiteres Phänomen: Die Christliche Sozialethik vertritt einen weiten Arbeitsbe___________ 9

Vgl. Johannes XXIII. (1961), Nr. 74. Vgl. Wallacher (2011), S. 155f. 11 Vgl. Wallacher (2011), S. 129f. 10

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griff12, der nicht nur Erwerbsarbeit betrifft, sondern auch Tätigkeiten im Haushalt, die Eigenproduktion im Haushalt, Erziehung und Pflege sowie bürgerschaftliches Engagement in verschiedenen Formen umfasst. Wenn Eigenarbeit bzw. bisheriges bürgerschaftliches Engagement in marktförmige Erwerbsarbeit überführt wird, wächst das Bruttoinlandsprodukt, selbst wenn das Arbeitsergebnis nicht größer wird.13 Zwar können eine größere Arbeitsteilung und Rationalisierungseffekte z. T. für eine Verlagerung von Arbeit aus der Haushaltsproduktion in die Marktförmigkeit sprechen. Die Christliche Sozialethik betont aber, dass sowohl für den Arbeitenden als auch für die in diesen Arbeitsprozessen involvierten Personen (z. B. Kinder, Kranke, Pflegebedürftige) Arbeit im Haushalt sowie im bürgerschaftlichen Engagement eine über ökonomische Effizienzüberlegungen hinausgehende Bedeutung im Sinne personaler Zuwendung hat und es in vielen Fällen nicht egal ist, welche zwei Personen (Familienangehörige versus Familienfremde) interagieren. Daher dürfen etwa wachstumspolitische Überlegungen nicht einseitig zu einem Zurückdrängen dieser Formen von Arbeit führen. Das bürgerschaftliche Engagement in einer Gesellschaft prägt zweitens maßgeblich auch das Sozialkapital14 dieser Gesellschaft. Darunter sind die positiven gesellschaftlichen Folgen zu verstehen, die durch fortlaufende Interaktionen erwachsen, die Menschen freiwillig unternehmen. Während Sachkapital (Maschinen, Infrastruktur) durch den Gebrauch abgenutzt wird, bedarf Sozialkapital der permanenten Aktivierung. Sozialkapital ist Ausdruck des gegenseitigen Vertrauens der Bürger untereinander. Dies ist eine Grundvoraussetzung für Selbsthilfe, Selbstorganisation und Selbstgestaltung in der Gesellschaft. Zum Sozialkapital gehört auch ein gewisses Ausmaß sozialer Kontrolle, was die Entstehung von politischem Extremismus verhindert, Kriminalität klein hält und Missbrauch von staatlichen Leistungen und Sozialleistungen eingrenzt. Entstehung und Pflege eines solchen Sozialkapitals setzt aber eine gewisse soziale Stabilität und nur eine begrenzte Mobilität voraus. In den Stadtteilen deutscher Großstädte, in denen ca. 20 % der Einwohner jährlich umziehen, wachsen nachbarschaftliche Beziehungen und nachbarschaftliche Hilfe nicht, ebenso wenig die Vereine etc. Auch Kirchengemeinden sind für ihr Gemeindeleben auf eine gewisse räumliche Stabilität ihrer Mitglieder angewiesen. Wenn wachstumsbedingte Mobilitätszwänge in einer Gesellschaft die Pflege und Entstehung von Sozialkapital behindern, kann entweder eine große Staatstätigkeit notwendig werden zur Vermeidung von Folgeproblemen, oder es gibt erhebli___________ 12

Vgl. Johannes Paul II. (1981), Nr. 4–6. Vgl. Ostwald/Sesselmeier (2011). Beide weisen zusätzlich für internationale Vergleiche noch auf den verschieden großen Umfang der Schwarzarbeit hin. 14 Vgl. Sachverständigengruppe „Weltwirtschaft und Sozialethik“ (2000), Wallacher (2011), S. 66f. u. 91f. 13

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che Sozialprobleme (Alkohol- und Drogenmissbrauch, Kriminalität, vernachlässigte Kinder, hohe Scheidungsraten), die sich z. T. wegen ihrer negativen Konsequenzen auf das Humankapital langfristig wiederum wachstumsmindernd auswirken können. Wenn in den USA auf 100.000 Einwohner 8-mal so viele Personen inhaftiert sind wie in Deutschland, muss dies auch als wichtiger Wohlfahrtsindikator gelten.15 Drittens lässt sich an der demografischen Entwicklung in Deutschland ablesen, dass eine Gesellschaft ohne große ökonomische Konsequenzen erheblichen Raubbau an einer spezifischen Kapitalform (Humankapital) betreiben kann. Obwohl seit 40 Jahren (1972) die Anzahl der einheimischen Deutschen sinkt, weil ein wachsender Sterbeüberschuss herrscht, hat dieser Verlust an Humankapital bisher wirtschaftliches Wachstum in Deutschland nicht behindert, wenn z. B. die kinderschwachen, aber selbst geburtenstarken Jahrgänge intensiv im Arbeitsmarkt vertreten waren. Durch Zuwanderung und eine gewisse Verbesserung der Qualität des Humankapitals konnten die quantitativen Verluste bisher ausgeglichen werden. Da das Humankapital der Zuwanderer unter dem der angestammten Deutschen liegt, insofern Ausländer niedrigere Schulabschlüsse erreichen und die Schulabbrecherquote unter ihnen höher ist, gibt es angesichts zurückgehender neu in das Arbeitsleben eintretender Jahrgänge Probleme. Falls angesichts des Eintritts geburtenstarker Jahrgänge in den Ruhestand, die zahlenmäßig fast doppelt so groß sein werden wie die nachrückenden Generationen, Wachstumsengpässe auftreten werden, könnte sich ein Wachstum in Deutschland in den letzten Jahrzehnten als nicht nachhaltig erweisen. Die Reproduktionsrate der angestammten einheimischen Bevölkerung beträgt lediglich 55 %.16

III. Wachstumsgestaltung aus sozialethischer Sicht Wirtschaftliches Wachstum ergibt sich in marktwirtschaftlichen Gesellschaften maßgeblich aus der Kreativität und dem Engagement vieler Millionen Menschen, deren Interaktionen vor allem über Märkte produktiv verknüpft und durch den Wettbewerb angespornt werden.17 Neugier, Kreativität und Innovationsbereitschaft gehören zum Menschsein und haben auch im Kontext einer christlichen Anthropologie ihre Bedeutung. Innovationsstreben und Kreativität wird in einer freiheitlichen Gesellschaft der notwendige Raum gegeben. Dabei hat die Wirtschaftsordnung aber sicherzustellen, dass die menschliche Kreativität sich nicht destruktiv auswirkt. Es bedarf daher gesellschaftlicher Diskurse ___________ 15

Eurostat (2009). Vgl. Kaufmann (2007), S. 5. 17 Vgl. Schumpeter (1975), S. 134ff. 16

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über die Regeln und Bedingungen des Wirtschaftens. So können Forscher und Innovatoren zu große gesellschaftliche Risiken eingehen (Großtechnologien) oder ethisch bedenkliche Experimente an Menschen vornehmen (z. B. Versuche bei Arzneimitteln). Innovationsfreude und Kreativität finden sich auch bei rein kriminellen Aktivitäten, weil jede technische Innovation (z. B. Internetbanking) auch für illegale Bereicherung genutzt wird. Die Wirtschaftsordnung hat das Wirtschaften z. B. hinsichtlich negativer externer Effekte oder hinsichtlich mangelnder Nachhaltigkeit (z. B. Abbau an Naturkapital ohne hinreichende Kompensation) zu verhindern. In einer pluralistischen Gesellschaft wird aber ein Freiraum für kreative Aktivitäten, die Wachstum hervorbringen können, verbleiben. Zu dem freiheitlichen Charakter einer pluralistischen Gesellschaft gehört auch, dass Individuen ihre Vorstellungen vom guten Leben tatsächlich realisieren können. Sozialethisch ist zu fragen, ob es aufgrund institutioneller Zwänge im Bereich der Wirtschaft Personen gibt, die an Wachstumsprozessen beteiligt sind, die über ihre Wünsche hinausgehen. Sie können ihre Präferenzen nach einer reduzierten Arbeitszeit nicht realisieren, selbst wenn sie zu einem Einkommensverzicht bereit wären. Untere Einkommensgruppen kann eine ungleiche Einkommensverteilung zu längerer Arbeitszeit zwingen, um ein Mindesteinkommen zu sichern. Viele Unternehmen wie öffentliche Arbeitgeber lassen freiwillige Beschränkungen der Arbeitszeit nicht zu, weil sie diese betriebsorganisatorisch nicht für möglich halten. Zu solchen institutionellen Zwängen des Arbeitslebens gehört auch, dass die in Umfragen ermittelten Wunschzahlen für Kinder höher als die tatsächlich realisierte Zahl an Geburten sind. Dies kann zwar darin liegen, dass ein Partner für die Realisierung des Kinderwunsches fehlt, aber auch darin, dass „strukturelle Rücksichtslosigkeiten gegenüber der Familie“18 wie die Organisationsstruktur der Wirtschaft sowie komplementäre staatliche Einrichtungen (Kinderkrippen, Kindergärten und Schulen) der Realisierung der Wünsche entgegenstehen. Diesen Personen, die mehr zum ökonomischen Wachstum beitragen, als sie eigentlich wollen, stehen aber Personen mit unfreiwilliger Teilzeitarbeit, Arbeitslose und ggf. Personen der „Stillen Reserve“ gegenüber, die mehr zu einem materiellen Wachstum beitragen wollen, als zur Zeit möglich. Auch bei diesen Wünschen ist aber darauf hinzuweisen, dass sie von der Einkommenssituation (Niveau von Löhnen und Sozialleistungen) abhängen. Somit kann eine Gesellschaft bei unfreiwilliger Arbeitslosigkeit oder reduzierten Arbeitsstunden ihr Wachstumspotential nicht ausschöpfen. ___________ 18

Vgl. Kaufmann (2007), S. 6.

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Es ist bemerkenswert, dass bereits John Stuart Mill 1871 einen stationären Zustand der Wirtschaft als wünschbar angesehen hat: „Ich gestehe, daß mich nicht das Lebensideal der Leute bezaubert, die glauben, daß der Normalzustand menschlicher Wesen in dem fortwährenden Kampfe gegeneinander besteht, daß das Stoßen, Drängen, einander auf den Fersen Treten, das heute das Kennzeichen unserer gesellschaftlicher Zustände ist, das wünschenswerteste Los der Menschen oder etwas anderes sei, als die unerfreulichen äußeren Merkmale eines einzelnen Abschnitts des gewerbliches Fortschritts.“19 Für Mill ist der beste Zustand, in dem „keiner arm ist, niemand mehr reicher zu sein wünscht“20, der, in dem ein Konkurrenzkampf unterbleibt. Dies bedingt eine staatliche Politik zur Reduzierung von Ungleichheiten der Einkommensverteilung. Wenn nicht mehr die Sucht vorherrscht, wirtschaftlich vorankommen zu müssen, kann ein geistiger Kulturfortschritt erfolgen.21

IV. Wirtschaftliches Wachstum im Kontext globaler Finanzmärkte Die Diskussion um Wachstum und soziale Indikatoren bewegt sich bisher im Kontext einer Kritik am Bruttoinlandsprodukt als Wohlfahrtsindikator sowie der Suche nach ergänzenden oder ersetzenden Indikatoren, der Messbarkeitsund Aggregationsprobleme von Indikatoren etc. Angesichts solcher ungeklärten Fragen geht die Debatte noch nicht um konkrete wirtschaftspolitische Schlussfolgerungen. Die Diskussion würde aber akademisch bleiben, wenn sie hier stehen bleiben würde. In der Christlichen Sozialethik spielt der methodische Drei-Schritt „Sehen-Urteilen-Handeln“22 eine wichtige Rolle, weil man mit Karl Marx sagen könnte, dass es nicht darauf ankommt, die Welt verschieden zu interpretieren, sondern sie zu verändern. Ein zentrales Merkmal der Globalisierung ist die in den letzten 20 Jahren entstandene Verflechtung globaler Finanzmärkte. In der Logik der globalen Finanzmärkte spielen ja Zinsen, Dividenden, Kursgewinne etc. die zentrale Rolle. Dauer, Arten der Investitionen wie Orte (Länder) werden in der Abwägung von Renditemöglichkeiten und Risiken ausgewählt. Dabei werden z. T. extrem hohe Zielwerte, z. B. 25 % Eigenkapitalrendite (nicht des investierten Gesamtkapitals), vorgegeben. Bei solchen Renditeerwartungen gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten: Erstens die Renditen sind realwirtschaftlich fundiert, d. h. die Rendite der Finanzwirtschaft bildet das reale Wachstum ab. Ein ___________ 19

Mill (1921), S. 391. Mill (1921), S. 391. 21 Vgl. Mill (1921), S. 395. 22 Vgl. Johannes XXIII. (1961), Nr. 336. 20

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wachsendes Volumen in der Finanzwirtschaft ergibt Ansprüche auf die Realwirtschaft. Wenn diese durch das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts nicht erfüllt werden können, ist zweitens eine Erhöhung der Werte des Bestandskapitals (Immobilienblase) möglich. Die Finanzwirtschaft ist aktiv bestrebt, ihre monetären Ansprüche an die Realwirtschaft zu untermauern, wenn z. B. bei Hedgefonds und Private-Equity-fonds Unternehmen übernommen, zerschlagen, fusioniert oder anders strukturiert werden, um die angezielte Gewinnrate zu erreichen. Im Kontext der gegenwärtigen Euro-Krise fordern die Finanzmärkte von verschuldeten EU-Ländern und anderen Staaten wirtschaftspolitische Reformen, um Wachstumskräfte zu mobilisieren, d. h. letztlich die Staatsschulden realwirtschaftlich zu fundieren. Was bedeutet dies für die Wachstumsdiskussion? Eine Möglichkeit besteht darin, dass die Finanzwirtschaft ihre Renditeerwartungen beibehält, die über das reale Wirtschaftswachstum hinausgehen. Bei steigenden Kursen (z. B. Blasen an Wertpapiermärkten) verbleiben die Renditen vorerst im monetären Bereich. In einer Aufschwungphase erscheint dies zunächst als Positiv-SummenSpiel, bei dem alle profitieren.23 Da sie sich aber dauerhaft nicht von der Realwirtschaft abkoppeln können, muss es von Zeit zu Zeit zu einem Platzen von Blasen kommen, d. h. nicht alle Renditerwartungen von allen Akteuren in der Finanzwirtschaft gehen auf. Es gibt ein Null-Summen-Spiel, indem es zu einer Entwertung kommt. Während beim Aufbau einer Blase die Realwirtschaft (Immobilienboom) durchaus profitieren kann, trifft sie das Platzen der Blase umso härter. Es ist anzunehmen, dass sich das Platzen von Blasen mit ihren negativen Rückwirkungen auf die Realwirtschaft mittelfristig negativer auswirkt als ein etwas moderaterer Wachstumskurs ohne Blasenbildung. Die erste Alternative zu überzogenen Renditeerwartungen besteht darin, dass die Finanzwirtschaft selbst ihre Ansprüche deutlich senkt und sich mehr am Wachstum der Realwirtschaft orientiert. Da Finanzmärkte aber kurzfristig ausgerichtet sind, besteht die Gefahr, dass sie Wachstum, das auf Raubbau, etwa in reiner Umwandlung von Naturkapital in Geldkapital besteht, honorieren. Die zweite Alternative besteht darin, dass sich der gesellschaftliche Diskurs über Wachstum im Finanzmarkt selbst niederschlägt und man von der eindimensionalen Beurteilung von Staaten, Unternehmen etc. abgeht und ökologische und soziale Aspekte, nachhaltige Formen des Wirtschaftens unmittelbar in die Investitionsentscheidungen einbezieht.24 Selbst wenn es gelingen sollte, dass die Finanzwirtschaft von einer dominierenden Rolle über die Realwirtschaft heruntergeholt und ihr wieder eher eine dienende Rolle zugewiesen würde, so dass die kurzfristig ausgerichtete Fi___________ 23 24

Vgl. Emunds (2011), 146f. Sachverständigengruppe „Weltwirtschaft und Sozialethik“ (2010).

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nanzwirtschaft durch ihre Renditeansprüche nicht Raubbau am Naturkapital, am Humankapital etc. erzwingen kann, bleibt doch auch die Frage der internationalen Vernetzung und ihrer wirtschaftlichen Dynamik bestehen.

V. Wirtschaftliches Wachstum in einer global vernetzten Wirtschaft International ist wirtschaftliches Wachstum für die Länder, in denen Hunger und verbreitete Armut herrscht, auch aus ethischen Gründen unverzichtbar. Eine theoretisch denkbare Umverteilung wäre problematisch, weil selbsterarbeitete Einkommen auch etwas mit Selbstbewusstsein und mit Selbstachtung zu tun haben. Die Umfragen der Glücksforschung zeigen, dass die Lebenszufriedenheit in Ländern bei einem Wachstumsprozess bis zu einem Bruttosozialprodukt pro Kopf zwischen 10.000 – 15.000 Euro deutlich ansteigt.25 Wer eine wachstumskritische Diskussion führt, indem Fragen der Lebensqualität (Freizeit, Verteilungsgerechtigkeit, Umweltschutz, Sozialer Zusammenhalt) gegeneinander abgewogen werden, muss sich in der Zeit der Globalisierung die Frage stellen, ob ein altindustrialisiertes Land wie die Bundesrepublik die Möglichkeit hätte, bewusst auf Wachstum zu Gunsten anderer Werte zur Steigerung von Lebensqualität zu verzichten? Wachstum wird wesentlich durch technologischen Fortschritt und Verbreitung technologischen Wissens hervorgebracht. In einer international verflochtenen Wirtschaft sind zudem Kapital im Sinne von Unternehmensinvestitionen und Menschen mobil. Bewusste Verzichte auf materielles Wirtschaftswachstum könnten daher sowohl dazu führen, dass einheimische Unternehmen in anderen Ländern investieren sowie mobile Arbeitskräfte abwandern, als auch dazu, dass ausländische Unternehmen im Inland nicht investieren sowie kaum Ausländer zuwandern. Es muss festgehalten werden, dass mit dem Atomausstieg und seinen Kosten, dass mit der Nichtnutzung bestimmter Formen von Hormonfleisch, grüner Gentechnik etc. in Deutschland bzw. in der EU manche Formen technologischen Wissens bewusst nicht genutzt werden. Innerhalb der EU findet man z. B. hinsichtlich der Sonntagsruhe unterschiedliche Regelungen. Im Umfang der sozialen Ungleichheit und der Umverteilung findet man innerhalb der EU ebenfalls erhebliche Diskrepanzen, was sich in den Steuerquoten der Länder niederschlägt. Hier werden reflektiert Wachstumsverluste hingenommen. Wenn man die Frage der Investitionen und der Mobilität von Arbeitskräften heranzieht, können bestimmte Regulierungen im Kontext des Umweltschutzes ___________ 25

Vgl. Wallacher (2011), S. 88 und Schramm (2011), S. 35.

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und der Arbeitswelt nicht im Widerspruch zu einheimischen Investitionen stehen. Hohe Lebensqualität hinsichtlich der Ökologie, der Verteilungsgerechtigkeit und des sozialen Zusammenhalts kann für Investoren wie für Arbeitskräfte ein attraktiver Standort sein. Dies setzt aber voraus, dass ein Land zumindest partiell durch technologische Vorsprünge ökonomische Kosten kompensiert. Umgekehrt können Maßnahmen, die kurzfristig im Sinne des materiellen Wachstums als nachteilig erscheinen, sich langfristig auch ökonomisch produktiv auswirken, z. B. verteilungspolitisch motivierte Investitionen in die Bildungschancen von Kindern von Migranten.

VI. Schlussbemerkung Aus der Sicht der Christlichen Sozialethik stellt materielles Wirtschaftswachstum kein letztes Ziel dar, auch kein letztes oder oberstes Ziel des Wirtschaftens. Wirtschaftswachstum hat seinen legitimen Stellenwert, wenn es zur Steigerung einer umfassend verstandenen Lebensqualität tatsächlich beiträgt und nicht auf eingerechnetem Raubbau gesellschaftlicher Kapitalbestände beruht.

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Neue oder ergänzende Kenngrößen für die Beurteilung des ökonomischen und sozialen Erfolgs einer Gesellschaft Von Oliver Lerbs und Ulrich van Suntum

I. Einleitung Das Interesse an neuen oder ergänzenden Kenngrößen des ökonomischen und sozialen Erfolgs einer Gesellschaft ist gegenwärtig immens. In der jüngeren Vergangenheit ist eine Vielzahl unterschiedlicher Ansätze entwickelt worden, die eine umfassendere Beurteilung des gesellschaftlichen Wohlergehens erlauben sollen. Im September 2009 veröffentlichte die auf Initiative des französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy gegründete „Commission on the Measurement of Economic Performance and Social Progress“ (sog. Stiglitz-SenFitoussi-Kommission) einen sehr umfassenden und viel beachteten Bericht mit Empfehlungen für eine Verbesserung der gesellschaftlichen Wohlstandsmessung.1 Auch der Deutsche Bundestag hat sich inzwischen in die Diskussion eingebracht. Ende des Jahres 2010 wurde eine interdisziplinär zusammengesetzte Enquete-Kommission beauftragt, eine umfassende Expertise für alternative Wege der Wohlfahrtsmessung bis hin zur Entwicklung eines „ganzheitlichen Wohlstands- und Fortschrittsindikators“ zu erarbeiten.2 Die aktuelle Diskussion um eine erweiterte und verbesserte Messung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und des sozialen Wohlergehens hat ihre Wurzeln in der Diskussion um die „Grenzen des Wachstums“ in den frühen 1970er Jahren. Bereits damals wurde die besondere Orientierung der (Wirtschafts-)Politik an Produktionsgrößen wie dem Bruttoinlandsprodukt heftig kritisiert. In Reaktion auf die Veröffentlichungen des Club of Rome3, von Nordhaus und Tobin4, Easterlin5 und anderen entstand in Deutschland und anderen Ländern die Sozialindikatorenforschung, eine wirtschaftssoziologische Strömung, die Stand und Entwicklung gesellschaftlicher Lebensbedingungen ___________ 1

Vgl. Stiglitz/Sen/Fitoussi (2009). Vgl. Deutscher Bundestag (2010). 3 Vgl. Club of Rome (1972). 4 Vgl. Nordhaus/Tobin (1972). 5 Vgl. Easterlin (1974).

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im weitesten Sinn anhand statistischer Kennzahlen zu erfassen versucht. Das Ziel dieser Forschungsrichtung bestand (und besteht) in einer umfassenden und regelmäßigen „Sozialberichterstattung“, welche ein Gegenstück zur volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung bilden soll.6 Die Suche nach neuen zusammenfassenden oder ergänzenden Wohlstandsmaßen hat die Sozialindikatorenforschung von Anfang an begleitet, genau wie auch die Diskussion über die inhaltlichen und methodischen Probleme dieses Forschungszweiges.7 Dem Interesse an ökonomischen und sozialen Indikatoren liegt seit jeher der Wunsch zugrunde, das Wohl von Gesellschaften durch rationale, kennzahlenorientierte politische Entscheidungen gezielt verbessern zu können. Die Quantifizierung gesellschaftlichen Erfolgs wird gleichermaßen als notwendige Voraussetzung für bessere politische Entscheidungen gesehen. Der Wunsch nach Quantifizierung und damit Objektivierung der Ergebnisse gesellschaftlicher Prozesse ist jedoch keineswegs ein Phänomen des 21. Jahrhunderts. Bereits mit der Herausbildung gesellschaftlicher Institutionen mit übergreifender Entscheidungs- und Verfügungsgewalt im Zuge der Aufklärung (u. a. Bildungseinrichtungen, Unternehmen und Gebietskörperschaften) brach das Zeitalter der heute allgegenwärtigen Dokumentations- und Rechenschaftspflichten an. Vergleichbar mit der Quantifizierung natürlicher Größen sollten ökonomische und soziale Erfolgskennzahlen wie Schulnoten, Rentabilität und Produktivität objektive Auskunft über Leistungsvermögen und dessen Änderungen geben und damit rationale Entscheidungen ermöglichen.8 In gewisser Analogie zum Gebiet der Medizin sollte an die Diagnose eine Therapie anschließen, deren Eignung und Güte an die Qualität der Diagnose geknüpft ist. Die Erhebung und Auswertung von Statistiken stellt eine wesentliche Voraussetzung von Dokumentation und Rechenschaft dar. Gemäß dem Lehrsatz „nur was messbar ist, kann auch gesteuert werden“ wird es erst durch die Quantifizierung des Leistungsvermögens ermöglicht, statistisch nach dessen Determinanten zu suchen, den Beitrag einzelner Komponenten zu überprüfen, Ertrag und Aufwand in Relation zu setzen und das Leistungsvermögen letztlich durch geeignete Maßnahmen zu verbessern. Gleichwohl stellt sich insbesondere bei der Quantifizierung gesellschaftlicher Sachverhalte die Frage, inwiefern diese wirklich notwendig, sinnvoll und geeignet ist: Der durch eine Quantifizierung gewonnene Nutzen sollte größer sein als die im Rahmen einer solchen Anstrengung entstehenden Kosten. Im Folgenden werden ausgewählte gegenwärtig vorgeschlagene Ansätze einer erweiterten Beurteilung des ökonomischen und sozialen Erfolgs einer ___________ 6

Vgl. Leipert (1978). Vgl. Noll (2002), S. 317. 8 Vgl. Hoskin (1996), S. 265.

7

Neue oder ergänzende Kenngrößen für die Beurteilung

153

Gesellschaft erörtert. Zu diesem Zweck werden unterschiedliche Ansätze der erweiterten Wohlfahrtsmessung klassifiziert, anhand exemplarischer Fälle dargestellt und hinsichtlich ihrer Eignung als Kenngrößen gesellschaftlicher Wohlfahrt bewertet. Vorangestellt sind einige kurze Erläuterungen zu den Grundlagen einer alternativen bzw. erweiterten Wohlfahrtsmessung. Sie befassen sich mit der Problematik einer inhaltlichen Definition des Wohlfahrtsbegriffs, den methodischen Voraussetzungen für aussagekräftige Operationalisierungen gesellschaftlicher Wohlfahrt anhand statistischer Kennzahlen sowie der (Nicht-) Eignung des Inlandsprodukts als umfassende gesellschaftliche Erfolgskennzahl.

II. Was ist gesellschaftliche Wohlfahrt? 1. Individuelles Wohlergehen vs. gesellschaftliche Wohlfahrt Insbesondere die frühen klassischen Ökonomen sahen individuelles Wohlergehen als letzten Sinn und Zweck wirtschaftlicher Aktivität. Individuelles Wohlergehen wurde von ihnen in einem sehr weiten Sinne verstanden und keineswegs auf materielle Güter beschränkt. So definierte beispielsweise Stanley Jevons die Maximierung von Genuss und Wohlgefallen bzw. die Minimierung von Verdruss und Missbehagen als das finale Ziel jeglichen ökonomischen Handelns. Diese utilitaristische Denkweise hat die mikroökonomische Theorie entscheidend mitgeprägt. Die moderne mikroökonomische Theorie argumentiert mit dem Begriff der individuellen Präferenzordnung, nach der Zustände mit einem bestimmten Nutzen Zuständen mit einem niedrigeren Nutzen grundsätzlich vorgezogen werden.9 Individueller Nutzen wird dabei nicht nur durch den Konsum materieller privater Güter gestiftet, sondern auch durch den Konsum immaterieller privater Güter (z. B. private Beziehungen oder Freizeit), den Konsum materieller öffentlicher Güter (z. B. öffentlichen Ausstellungen) sowie den Konsum immaterieller öffentlicher Güter (z. B. Rechtsschutz, Sicherheit oder intakte Natur).10 Grundsätzlich gilt für alle Güter das Gesetz des abnehmenden Grenznutzens, d. h. der durch den Konsum des Gutes zusätzlich erfahrene Nutzen nimmt mit steigender Konsummenge fortlaufend ab. Die auf der mikroökonomischen Nutzentheorie aufbauende Wohlfahrtsökonomik versucht, das Konzept des individuellen Nutzens auf Gruppen von Gesellschaftsmitgliedern zu übertragen. Diese Übertragung wirft Fragen auf, die ___________ 9 Für das Nichtsättigungsprinzip reicht ein Vergleich ordinaler Nutzenwerte aus. Für die Konsistenz einer Präferenzordnung ist es also keine notwendige Voraussetzung, individuelle Nutzenniveaus auf einer Kardinalskala ordnen zu können. 10 Gemäß mikroökonomischer Theorie ist entgangener Nutzen, etwa durch den Verlust einer persönlichen Bindung, nichts anderes als eine Schmälerung der individuellen Wohlfahrt.

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Oliver Lerbs und Ulrich van Suntum

für eine theoretisch konsistente Definition gesellschaftlicher Wohlfahrt von elementarer Bedeutung sind.11 Kann ein bestimmter Zugewinn an materiellem Wohlstand durch die Produktion zusätzlicher Güter und Dienstleistungen beispielsweise einen Verlust an Umweltqualität aufwiegen? Falls ja, wie hoch darf dieser Verlust höchstens sein? Anhand des Pareto-Kriteriums, eines der wichtigsten Konzepte der Wohlfahrtsökonomik, können zumindest konkurrierende Wohlfahrtszustände beurteilt werden, bei denen keine gegenläufigen Wohlfahrtsveränderungen auftreten (das Pareto-Kriterium kommt ohne interpersonelle Nutzenvergleiche aus). Demnach ist ein Zustand dem anderen vorzuziehen, wenn er im Vergleich wenigstens einen Gewinner und keinen Verlierer impliziert. Wie ist jedoch der Wohlfahrtszustand einer Gesellschaft zu beurteilen, wenn A gegenüber dem Ausgangszustand einen Wohlfahrtsgewinn erfährt, während gleichzeitig B einen Wohlfahrtsverlust erleidet? Für eine aggregierte Beurteilung müsste in einem solchen Fall der Nutzen verschiedener Individuen miteinander verglichen bzw. auf irgendeine Weise zu einer Größe verdichtet werden. Zwar sind in der modernen Wohlfahrtsökonomik sogenannte Kompensationskriterien entwickelt worden, die Vergleiche zwischen bestimmten vergleichbaren Zuständen theoretisch erlauben.12 In der Mehrheit der Fälle ist jedoch weder ein interpersoneller Nutzenvergleich noch eine Aggregation von Nutzenniveaus möglich. Diese Konsistenzprobleme haben wiederholt Anlass zur Kritik an Versuchen gegeben, das Wohlfahrtsniveau einer Gesellschaft am individuellen Wohlergehen einer „repräsentativen Person“ oder an einem aggregierten „Gesamtnutzen“ der Gesellschaft zu beurteilen.

2. Zur inhaltlichen Definition gesellschaftlicher Wohlfahrt Versteht man unter gesellschaftlicher Wohlfahrt das „größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl“, so sollte gesellschaftliche Wohlfahrt trotz der oben erläuterten Probleme inhaltlich entlang individueller Bedürfnisse definiert werden. Da individuelle Bedürfnisse verschiedenartig sind und sich zum Teil gegenseitig bedingen bzw. ergänzen, ist auch gesellschaftliche Wohlfahrt als theoretischer Idealtypus zwingend mehrdimensional. Eine inhaltliche Konkretisierung des Wohlfahrtsbegriffs sollte dieser Mehrdimensionalität Rechnung tragen. Eine inhaltliche Auslegung des Begriffs gesellschaftliche Wohlfahrt erfordert also die Identifikation einzelner Dimensionen, für deren individuelle Wohlfahrtsrelevanz ein hohes Ausmaß an Konsens in der Gesamtgesellschaft besteht. Dies ist gleichbedeutend mit einer Formulierung gesellschaftlicher ___________ 11

Vgl. Fleurbaey (2009), S. 18ff. und 34ff. Zu diesen zählen das Kaldor-Hicks-Kriterium, das Scitovsky-Kriterium sowie die Kriterien nach Samuelson und Gorman. Vgl. Varian (2003), S. 15ff. 12

Neue oder ergänzende Kenngrößen für die Beurteilung

155

Ziele, welche an den Bedürfnissen des Einzelnen orientiert sind.13 Naturgemäß kann eine solche Konkretisierung niemals erschöpfend sein. Ein Beispiel für eine solche Formulierung gesellschaftlicher Ziele bietet der Ansatz der „Social Indicators“ der OECD. Darin werden acht Hauptzielbereiche zur Beurteilung gesellschaftlicher Wohlfahrt konkretisiert:14 1. Gesundheit, 2. Entwicklung der Persönlichkeit durch Bildung, 3. Arbeit und Qualität des Arbeitslebens, 4. Zeiteinteilung und Freizeit, 5. Verfügung über Güter und Dienstleistungen, 6. Physische Umwelt, 7. Persönliche Sicherheit und Rechtspflege, 8. Gesellschaftliche Chancen und Beteiligung. Alle acht Hauptzielbereiche werden als „wesentliche gesellschaftliche Anliegen“ verstanden, d. h. für ihre Wohlfahrtsrelevanz wird ein hoher gesellschaftlicher Konsens vorausgesetzt. Für die Wohlfahrt einer Gesellschaft ist nach Auslegung der OECD neben der reinen Verfügbarkeit von privaten und öffentlichen Gütern (sowohl materieller als auch immaterieller Natur) zum einen die Verteilung der produzierten Güter zwischen den Individuen bzw. die Verteilung des Zugangs zu bestimmten Allgemeingütern relevant. Zum anderen ist die Nachhaltigkeit des Wirtschaftens im Interesse künftiger Generationen von Bedeutung. Zwar sind die Aspekte der Verteilung und der Nachhaltigkeit nicht expressis verbis formuliert. Jedoch ist der Verteilungsaspekt erkennbar in den Zielbereichen „Verfügung über Güter und Dienstleistungen“ und „Gesellschaftliche Chancen und Beteiligung“ enthalten, während der Aspekt der Nachhaltigkeit (z. B. im ökologischen Sinn) dem Themenbereich „Physische Umwelt“ zugerechnet werden kann.

___________ 13 Gesellschaftliche Ziele werden stets von den Wert- und Normvorstellungen einer Gesellschaft beeinflusst. Da sich gesellschaftlicher Konsens fortlaufend verändert und insbesondere vom Entwicklungsstand einer Gesellschaft selbst abhängig ist, muss eine konsensfähige inhaltliche Ausfüllung des Begriffs gesellschaftliche Wohlfahrt notwendigerweise raum- und zeitabhängig sein. 14 Vgl. OECD (2009).

156

Oliver Lerbs und Ulrich van Suntum

III. Zur Messung von Wohlfahrt anhand statistischer Kennzahlen „Messen“ bedeutet eine strukturerhaltende Zuordnung von Zahlen zu Objekten.15 Im Sinne der Messtheorie ist etwas messbar, wenn es mindestens ein eindeutiges und theoretisch konsistentes Verfahren bzw. Modell gibt, nach dem es sich quantifizieren lässt. Beispielsweise sind idealtypische volkswirtschaftliche Größen wie Güterproduktion, Inflation oder Arbeitslosigkeit ausreichend strukturerhaltend quantifizierbar. Da diese Größen eine theoretisch eindeutige Definition und eine natürliche Einheit haben, können ihre „Werte“ anhand eines vorgegebenen, theoretisch konsistenten Verfahrens indirekt bestimmt, d. h. „messbar gemacht“ (operationalisiert) werden.16 Gesellschaftliche Wohlfahrt ist dagegen nicht auf diese Weise messbar. Vergleichbar mit der „Wettbewerbsfähigkeit“ einer Volkswirtschaft handelt es sich beim ökonomischen und sozialen Erfolg einer Gesellschaft um einen mehrdimensionalen Idealtypus, für den kein eindeutiges theoretisch konsistentes Verfahren bzw. Modell existiert, nach dem er sich bestimmen ließe. Dies bedeutet nicht, dass in der Realität nicht unterschiedliche Ausprägungen gesellschaftlicher Wohlfahrt existieren, die zumindest prinzipiell mit Zahlen bezeichnet werden können. Die grundsätzliche Frage lautet mithin nicht, ob Wohlfahrt an sich überhaupt in Zahlen ausgedrückt werden kann, sondern allein wie notwendig, sinnvoll und billig eine solche Operationalisierung ist.17 Um zu einer fundierten Beurteilung einzelner Dimensionen gesellschaftlicher Wohlfahrt oder gar der Wohlfahrt als Ganzer gelangen zu können, sollten grundsätzliche methodische Voraussetzungen erfüllt sein. Aus wissenschaftlicher Sicht müssen interpretierbare und (wirtschafts-)politisch anwendbare Kennzahlen insbesondere die drei wesentlichen Gütekriterien Validität, Zuverlässigkeit und Objektivität erfüllen.18 Das Kriterium der Validität bedeutet, dass ein Indikator inhaltlich das widerspiegelt, was gemessen werden soll. Valide Indikatoren müssen also relevant, repräsentativ und konsistent sein. Lücken, Redundanzen und Unschärfen in der Abgrenzung sollten möglichst vermieden werden. Das Kriterium der Zuverlässigkeit verlangt, dass unterschiedliche Messverfahren nicht zu unterschiedlichen Ergebnissen führen sollten, bzw. der Fehlertoleranzbereich ausreichend eng sein sollte. Zuverlässigkeit bedeutet somit, dass ein Indikator in hohem Maße exakt und robust gegenüber unter___________ 15

Vgl. Diekmann (2007), S. 279. Vgl. von der Lippe (1996), S. 39f. 17 Der Begriff des „Messens“ wird im Folgenden nicht in seinem strengen Sinne verwendet. Vielmehr wird der Begriff analog zum Begriff der Operationalisierung verwendet. 18 Vgl Costanza et al. (2009), S. 23ff. 16

Neue oder ergänzende Kenngrößen für die Beurteilung

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schiedlichen Verfahren der Berechnung ist. Objektiv ist eine Kennzahl, wenn ihre methodische Konstruktion und ihr Ergebnis intersubjektiv nachvollziehbar und nachprüfbar sind. Ein objektiver Indikator sollte insbesondere keine Werturteile enthalten. Die Kriterien der Zuverlässigkeit und Objektivität stellen in gewisser Hinsicht Minimalvoraussetzungen für die Konstruktion aussagekräftiger Indikatoren dar. Eine statistische Größe kann zwar in hohem Maße zuverlässig und auch objektiv sein, sie ist jedoch nur dann auch valide, wenn sie inhaltlich in hohem Maße relevant und repräsentativ für den zu bewertenden Sachverhalt ist. So handelt es sich beispielsweise beim Bruttoinlandsprodukt zwar um eine in hohem Maße objektive und zuverlässige statistische Größe. Da gesellschaftliche Wohlfahrt als theoretisches Konstrukt jedoch inhaltlich weit mehr umfasst als die reine Güterproduktion, stellt das Inlandsprodukt keine valide Kenngröße der Wohlfahrt dar. Zwar ist die Höhe der Güterproduktion für die gesellschaftliche Wohlfahrt durchaus relevant, jedoch nicht ausreichend repräsentativ. Hierin liegt der Ausgangspunkt der Beyond-GDP-Diskussion.

IV. Zur Aussagekraft des Inlandsprodukts als gesellschaftliche Erfolgskennzahl Wie oben erläutert, stellt das Bruttoinlandsprodukt keine valide Grundlage zur Beurteilung gesellschaftlicher Wohlfahrt dar. Anders als mitunter vermutet wird, ist es auch nicht als ein umfassendes Wohlfahrtsmaß konzipiert worden. Das Inlandsprodukt soll lediglich den Wert der innerhalb einer bestimmten Periode für den Endverbrauch hergestellten Güter und Dienstleistungen quantifizieren, was keineswegs mit einer Quantifizierung gesellschaftlicher Wohlfahrt gleichgesetzt werden kann und darf. Für diesen Befund lassen sich unterschiedliche Gründe anführen, welche gleichzeitig die methodischen Schwächen der Inlandsproduktberechnung offenlegen.19 Zum einen existieren Faktoren, die für den ökonomischen und sozialen Erfolg einer Gesellschaft erfahrungsgemäß relevant, aber nicht im Inlandsprodukt erfasst sind. Zu diesen Faktoren können sämtliche Güter und Dienstleistungen gezählt werden, deren Produktion und anschließender Konsum den Nutzen einzelner Wirtschaftssubjekte erhöht, für die jedoch weder Marktpreise noch Produktionskosten vollständig bekannt bzw. zurechenbar sind. Zu diesen Gütern zählen ehrenamtliche Tätigkeiten, Haushaltsarbeit oder Produkte der Schattenwirtschaft, aber auch immaterielle, eher ideelle Güter wie soziale Bindungen, Gesundheit, Freiheit oder Sicherheit. Bei manchen dieser Güter han___________ 19

Für eine detaillierte Darstellung vgl. Frenkel/John (2006), S. 160ff.

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delt es sich um öffentlich bereitgestellte Güter, deren Rivalität und Exkludierbarkeit in unterschiedlichem Maße eingeschränkt sind. Da öffentliche Güter zu einem Großteil vom Staat bereitgestellt werden, ist ihre Produktion zwar zu Herstellungskosten im Inlandsprodukt erfasst, es bleibt jedoch offen, inwieweit damit auch ihre Wertschätzung durch die Konsumenten richtig erfasst wird. Im Gegensatz zu auf Märkten gehandelten Gütern, deren Marktpreise (zumindest im Fall wettbewerblich organisierter Märkte) die Wertschätzung durch den marginalen Nachfrager widerspiegeln, ergibt sich die Bewertung öffentlicher Güter im Inlandsprodukt eben gerade nicht aus Angebot und Nachfrage. Auch kann aus der Höhe der monetären Ausgaben für staatliche Leistungen in Bildungs-, Gesundheits- oder Rechtswesen nicht auf die Qualität dieser Leistungen geschlossen werden. Oftmals treten bei diesen Gütern gleichzeitig soziale Zusatzerträge bzw. positive externe Effekte auf, welche ebenfalls nicht im Inlandsprodukt erfasst sind. Eine aus Wohlfahrtsgesichtspunkten unkorrekte Erfassung liegt oftmals auch bei Phänomenen vor, die zwar im Inlandsprodukt erfasst sind, jedoch als nicht wohlfahrtsrelevant oder sogar wohlfahrtsmindernd angesehen werden. So treten etwa bei der Produktion oder dem Konsum einiger Güter und Dienstleistungen negative externe Effekte auf. Die sozialen Kosten von Produktion bzw. Konsum übersteigen in solchen Fällen – soweit keine vollständige Internalisierung in den Preisen vorliegt – ihre privaten Kosten. Auf der anderen Seite steigt z. B. beim Bau von Lärmschutzwällen oder bei der Beseitigung von Umweltschäden das Inlandsprodukt, während die ursprüngliche Emission dort nicht erfasst wird. Die Asymmetrie zwischen der Vernachlässigung sozialer Zusatzkosten bei gleichzeitiger systematischer Erfassung von Beseitigungsarbeiten beeinträchtigt also die Validität des Inlandsprodukts als Wohlfahrtsindikator. Aus Gesichtspunkten der Nachhaltigkeit des Wirtschaftens erscheint problematisch, dass das Inlandsprodukt eine Stromgröße ist. Aus der Höhe einer Stromgröße lässt sich nicht ohne Weiteres ablesen, inwiefern diese Produktion auch langfristig in ökonomischer, sozialer und ökologischer Hinsicht tragfähig ist. Zwar enthält das Bruttoinlandsprodukt Abschreibungen auf den Sachkapitalstock der Volkswirtschaft, jedoch enthalten diese nicht unmittelbar auch den Verbrauch von nicht-reproduzierbaren Faktoren, insbesondere von erschöpfbaren Naturgütern und einer intakten Erdatmosphäre. Da diese Güter auf lange Sicht entscheidend für den Fortbestand von Gesellschaften sind, erscheint aus Wohlfahrtsperspektive neben der Erhebung von Stromgrößen auch die systematische Überwachung physischer Bestandsgrößen erforderlich. 20 Zudem beinhalten Höhe, Zusammensetzung und Entwicklung des Inlandsprodukts nur sehr eingeschränkte Informationen über die Verteilung von Einkommen und Zugang ___________ 20

Vgl. u.a. Stiglitz/Sen/Fitoussi (2009), S. 61f.

Neue oder ergänzende Kenngrößen für die Beurteilung

159

zu wichtigen sozialen Gütern in einer Volkswirtschaft. Gehen Steigerungen des Inlandsprodukts über längere Zeiträume mit wachsender Ungleichheit der Einkommensverteilung einher, ist fraglich, inwieweit eine Steigerung des Wohlergehens der Gesellschaft insgesamt vorliegt. Obgleich das Inlandsprodukt aufgrund der oben angeführten methodischen Schwächen keine aussagekräftige Kennzahl der gesellschaftlichen Wohlfahrt ist, bildet es mit der Höhe der wirtschaftlichen Produktion eine wesentliche Dimension des ökonomischen und sozialen Erfolgs einer Gesellschaft ab. Die Qualität des Inlandsprodukts liegt insbesondere darin, dass es mit dem Einkommenskreislauf auf einer geschlossenen und in sich konsistenten theoretischen Grundlage basiert. Bruttoinlandsprodukt und Nationaleinkommen können auf unterschiedlichen, äquivalenten Weisen aus einem System von Definitionsgleichungen berechnet werden. Dies bedeutet gleichzeitig, dass man die Höhe der Produktion unter Nutzung unterschiedlicher Statistiken schätzen kann, was dem Inlandsprodukt die Eigenschaft hoher Zuverlässigkeit verleiht.21 Darüber hinaus weisen Höhe und Entwicklung des Inlandsprodukts statistisch nachweisbar eine Korrelation zu weiteren (jedoch keinesfalls allen) Determinanten gesellschaftlicher Wohlfahrt auf. Dazu zählen zum einen volkswirtschaftliche Größen wie Beschäftigungsniveau, Inflation und Steueraufkommen. Jedoch auch wohlfahrtsrelevante nicht-ökonomische Größen wie etwa die mittlere Lebenserwartung, das Bildungsniveau der Bevölkerung, der Grad der Umweltbeeinträchtigung oder das Niveau von Kriminalität und Schattenwirtschaft stehen nachweislich in einem engen Zusammenhang zu Niveau und Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Produktionstätigkeit.22 Bei der Interpretation des Inlandsprodukts oder seiner Verwendung als politische Zielgröße ist es letztlich unerlässlich zu wissen, in welchem Zusammenhang es zu anderen wichtigen makroökonomischen Variablen wie Beschäftigung, Inflation oder Staatshaushalt steht und was Veränderungen in dieser Größe erfahrungsgemäß bewirken. Hier leisten Makroökonomie und empirische Wirtschaftsforschung wichtige Beiträge.

___________ 21 22

Vgl. von der Lippe/Breuer (2010), S. 446. Vgl. Kassenböhmer/Schmidt (2011), S. 10ff.

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V. Klassifizierung, Darstellung und Bewertung aktueller Ansätze der alternativen bzw. erweiterten Wohlfahrtsmessung 1. Klassifizierung derzeit diskutierter Ansätze Die fehlende Eignung des Inlandsprodukts als Kenngröße gesellschaftlicher Wohlfahrt hat zu einer Vielzahl von Vorschlägen für eine „alternative“ bzw. „erweiterte“ Wohlfahrtsmessung geführt.23 Aus diesem Grund erscheint zunächst eine Klassifizierung unterschiedlicher derzeit diskutierter Ansätze der Operationalisierung gesellschaftlicher Wohlfahrt geboten. Zunächst stellt sich die grundlegende methodische Frage, ob die Wohlfahrt ein- oder mehrdimensional „gemessen“ werden soll. Seit Beginn der Diskussion konkurrieren vor diesem Hintergrund verschiedene Formen aggregierter Wohlfahrtsmaße (Wohlfahrtsindizes) mit Systemen nebeneinander stehender Einzelindikatoren (Indikatorenbündel bzw. Indikatorensysteme).24 Wohlfahrtsindizes versuchen, die Wohlfahrt einer Gesellschaft in einer einzigen Zahl zusammenzufassen. Zur Erstellung eines solchen Index müssen einzelne Komponenten in irgendeiner Form gewichtet und anschließend aggregiert werden. Indikatorenbündel enthalten dagegen mehrere nebeneinander stehende Einzelindikatoren und verzichten auf die Aggregation der vorhandenen Informationen zu einer einzigen Zahl. In der Regel enthalten Indikatorensysteme für sich genommen objektive Einzelindikatoren wie z. B. Inlandsprodukt, Arbeitslosenquote oder statistische Lebenserwartung. Es existieren jedoch auch Vorschläge, Indikatoren subjektiv empfundener Lebenszufriedenheit in solche Systeme aufzunehmen.25 Im Gegensatz zu den eindimensionalen Wohlfahrtsindizes erlauben mehrdimensionale Indikatorensysteme grundsätzlich keine direkten räumlichen und zeitlichen Vergleiche der gesellschaftlichen Wohlfahrt, insbesondere keine Bildung von Rangfolgen. Neben dimensionslosen Maßen gibt es innerhalb der Gruppe der aggregierten Wohlfahrtsmaße Indizes, die wie das Inlandsprodukt eine metrische Skala (nämlich Währungseinheiten) aufweisen. Konzeptionell handelt es sich bei diesen Maßen um Revisionsansätze des Inlandsprodukts. Im Rahmen solcher Revisionen wird versucht, die methodische Konzeption der Inlandsproduktbe___________ 23

Die Bezeichnungen „alternative Methoden der Wohlfahrtsmessung“ und „Jenseits des Inlandsprodukts“ sind genau genommen missverständlich – erkennt man an, dass das Inlandsprodukt die Produktionstätigkeit quantifizieren soll, gibt es keine guten Alternativen zu dieser Kennzahl. Das Inlandsprodukt sollte eben gerade nicht als allgemeines Wohlfahrtsmaß missverstanden werden, sodass es in diesem Sinn auch keiner „Alternativen“ zum Inlandsprodukt bedarf. 24 Vgl. Wesselink (2007), S. 4ff. 25 Vgl. Erber (2010), S. 831ff.

Neue oder ergänzende Kenngrößen für die Beurteilung

161

rechnung beizubehalten, diese jedoch um die im vorigen Kapitel beschriebenen methodischen Erfassungsprobleme zu „korrigieren“.26 Da das Inlandsprodukt in Geldeinheiten gemessen wird, erfordern solche Korrekturen eine monetäre Bewertung sämtlicher wohlfahrtsrelevanter Transaktionen, die nicht oder nur unzulänglich im Inlandsprodukt erfasst werden. Ein bekanntes Beispiel dieser Ansätze ist der auf Nordhaus und Tobin zurückgehende „Measure of Economic Welfare“.27 Weitere monetäre Wohlfahrtsindizes sind der „Genuine Progress Indicator“28 sowie der auf Deutschland bezogene „Nationale Wohlfahrtsindex“.29 Da sämtliche dieser Indizes in Geldeinheiten (einer metrischen Skala) ausgedrückt sind, lassen sie analog zum Inlandsprodukt zumindest prinzipiell nicht nur qualitative Vergleiche über Rangfolgen, sondern sämtliche für metrische Skalen zulässige Operationen, insbesondere die Berechnung von Durchschnitten und Wachstumsraten zu. Dimensionslose Wohlfahrtsindizes lassen sich durch die Aggregation gewichteter, jedoch nicht durchgängig in Geldeinheiten bewerteter Indexkomponenten erstellen. Zur Konstruktion solcher Indizes ist es notwendig, die meist in unterschiedlichen Einheiten und Skalenniveaus vorliegenden Einzelkennzahlen einheitlich zu skalieren. Im Gegensatz zu monetären Wohlfahrtsindizes erfolgt dies jedoch nicht durch die Zuweisung impliziter Marktwerte, sondern anhand statistischer Transformationen. Als Einzelindikatoren kommen grundsätzlich sowohl objektive Kennzahlen als auch aus individuellen Befragungen abgeleitete subjektive Lebenszufriedenheitswerte in Frage, einige Indizes verwenden auch eine Kombination aus objektiven Kennzahlen und subjektiven Lebenszufriedenheitsscores. Zu den durch Gewichtung und Aggregation verschiedener wohlfahrtsrelevanter Einzelkennzahlen konstruierten dimensionslosen Indizes zählt etwa der in Politik und breiter Öffentlichkeit populäre „Human Development Index“.30 Ein Beispiel für Deutschland bildet der „Fortschrittsindex“ des Zentrums für gesellschaftlichen Fortschritt.31 Zu den auf Befragungen zur individuellen Lebenszufriedenheit rekurrierenden Indizes gehören z. B. der „Gross National Happiness-Indikator“32 sowie der australische „Wellbeing-Index“. Der vom niederländischen Soziologen Veenhoven entwickelte „Happy Life-Expectancy-Index“ ist einer der wenigen Indizes, die sowohl objektive Kennzahlen als auch individuelle Lebenszufriedenheitsbefragungen zur Indexkonstruk___________ 26

Vgl. Sharpe (1998), S. 11ff. Vgl. Nordhaus/Tobin (1972). 28 Vgl. Cobb/Halstead/Rowe (1995). 29 Vgl. Diefenbacher/Zieschank (2010). 30 Vgl. UNDP (1990). 31 Vgl. Bergheim (2010). 32 Vgl. DiTella/MacCulloch (2005).

27

162

Oliver Lerbs und Ulrich van Suntum

tion nutzen.33 Die wenigsten gängigen Ansätze folgen jedoch einer an der subjektiv geäußerten Lebenszufriedenheit orientierten Beurteilung der gesellschaftlichen Wohlfahrt. Dies ist vor allem eine Folge der konzeptionellen und methodischen Probleme von Befragungen über die individuelle Lebenszufriedenheit.34 Indikatorensysteme bilden den konzeptionellen Gegenentwurf zu aggregierten Wohlfahrtsmaßen. Sie sind in erster Linie als Konsequenz der Bewertungsund Aggregationsprobleme bei eindimensionalen Wohlfahrtsindizes zu sehen.35 Heute gängige Indikatorenbündel werden in erster Linie von staatlichen Institutionen und internationalen Organisationen für Informations- und Prognosezwecke zusammengestellt und publiziert. Sie weisen zum Teil unterschiedliche Schwerpunkte (z. B. ökologische Nachhaltigkeit) auf. Bekannte Indikatorenbündel sind die „Social Indicators“ der OECD sowie das „Set of Sustainable Development Indicators“ der Europäischen Kommission.36 Für Deutschland bestehen derzeit das vom Statistischen Bundesamt publizierte „Indikatorenbündel zur Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung“, das vom Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR) vorgeschlagene „Indikatorensystem für Wirtschaftsleistung, Lebensqualität und Nachhaltigkeit“ sowie das „Wohlstandsquartett“ des Denkwerks Zukunft.37

2. Darstellung derzeit diskutierter Ansätze Im Folgenden soll die Konzeption einiger aktuell diskutierter Methoden der alternativen Wohlfahrtsmessung beispielhaft skizziert werden. In Anbetracht der Vielzahl existierender Ansätze erfolgt dies anhand einer Auswahl aggregierter Wohlfahrtsindizes und mehrdimensionaler Indikatorenbündel mit Bezug auf Deutschland. Bei den eindimensionalen Wohlfahrtsmaßen wird je ein Vorschlag einer Inlandsproduktrevision (d. h. eines in Geldeinheiten bewerteten Indikators) und ein Vorschlag einer Aggregation unterschiedlich skalierter Teilindikatoren vorgestellt.38 ___________ 33

Vgl. Veenhoven (1996). Vgl. Barrotta (2008), S. 149ff. 35 Vgl. Frenkel/John (2006), S. 166. 36 Vgl. OECD (2009), Eurostat (2009). 37 Vgl. Statistisches Bundesamt (2010), Sachverständigenrat (2010), Denkwerk Zukunft (2010). 38 Eine detaillierte Darstellung der vorgestellten Ansätze findet sich in einer Studie zur theoretischen Fundierung und Bewertung alternativer Methoden der Wohlfahrtsmessung von van Suntum/Lerbs (2011). 34

Neue oder ergänzende Kenngrößen für die Beurteilung

163

a) Wohlfahrtsindizes aa) Nationaler Wohlfahrtsindex Beim „Nationalen Wohlfahrtsindex“ (NWI) handelt es sich um einen im Auftrag des Umweltbundesamtes entwickelten Ansatz für einen eindimensionalen Wohlfahrtsindex für Deutschland.39 Die Konzeption des NWI folgt dem Vorschlag einer Inlandsproduktrevision in der Tradition des „Measure of Economic Welfare (MEW)“ von Nordhaus und Tobin. Der NWI verwendet jedoch anstatt des Inlandsprodukts den Konsum der privaten Haushalte als Ausgangsbasis seiner Korrekturen. Um Verteilungsgesichtspunkte in den NWI einfließen zu lassen, wird der private Konsum vor allen weiteren Schritten zunächst mit dem Gini-Index der Einkommensverteilung der privaten Haushalte gewichtet. Im Rahmen der Berechnung des NWI werden anschließend im privaten Konsum nicht enthaltene, jedoch wohlfahrtsstiftende Positionen wie z. B. „Wert der Hausarbeit“, „Wert der ehrenamtlichen Arbeit“ oder „Nutzen dauerhafter Konsumgüter“ mit einem Geldwert beziffert und dem verteilungsgewichteten Konsum hinzugerechnet. Wohlfahrtsmindernde Positionen wie z. B. „Kosten von Kriminalität“, „Kosten des Alkohol- und Drogenmissbrauchs“ oder „Schäden durch Verlust landwirtschaftlich nutzbarer Fläche“ werden dementsprechend abgezogen. In seiner Grundvariante enthält der NWI einundzwanzig Teilvariablen, welche nach Angaben der Urheber sowohl nicht über den Markt erzielte Wohlfahrtssteigerungen als auch soziale und ökologische Kosten des Wirtschaftens umfassend berücksichtigen (vgl. Tabelle 1). Im Ergebnis weist der NWI einen Geldwert aus, der sich (zumindest prinzipiell) direkt mit der Höhe des Inlandsprodukts bzw. des Nationaleinkommens vergleichen lässt. Der rechnerisch ausgewiesene Wert des NWI liegt nach Angaben der Urheber unter dem des Inlandsprodukts bzw. Bruttonationaleinkommens (2007: 1,5 gegenüber 2,2 Billionen Euro). Zudem fällt der NWI zunehmend gegenüber dem Niveau der wirtschaftlichen Produktion zurück.40

___________ 39 Für eine detaillierte Beschreibung des Nationalen Wohlfahrtsindex vgl. Diefenbacher/Zieschank (2010). 40 Vgl. Diefenbacher/Zieschank (2010), S. 105f.

164

Oliver Lerbs und Ulrich van Suntum Tabelle 1 Komponenten des „Nationalen Wohlfahrtsindex“ Variable

Vorzeichen

Veranschlagter Wert (Mrd. €)

1

Gini-Index der Verteilung des Haushaltsnettoeinkommens

2

Verteilungsgewichtete private Konsumausgaben

+

1.072,19

3

Wert der Hausarbeit

+

713,0

4

Wert der ehrenamtlichen Arbeit

+

59,0

5

Öffentliche Ausgaben für Gesundheits- und Bildungswesen

+

79,0

6

Nutzen/Kosten dauerhafter Konsumgüter



24,77

7

Kosten des Pendelns zwischen Wohnung und Arbeitsstätte



35,0

8

Kosten von Verkehrsunfällen



25,0

Kosten von Kriminalität



8,5

10

9

Kosten des Alkohol- und Drogenmissbrauchs



20,5

11

Ausgaben zur Kompensation von Umweltbelastungen



33,0

12

Schäden durch Wasserverschmutzung



12,1

13

Schäden durch Bodenbelastung



2,0

14

Schäden durch Luftverschmutzung



15,0

15

Schäden durch Lärm



4,0

16

Veränderung der Fläche von Feuchtgebieten



0

17

Schäden durch Verlust landwirtschaftlich nutzbarer Fläche



0,43

18

Ersatzkosten der Ausbeutung nicht erneuerbarer Ressourcen



290,0

19

Schäden durch CO2-Emmissionen



70,0

20

Nettowertänderung des Anlagevermögens (ohne Bauten)

+

20,0

21

Veränderung der Kapitalbilanz

+

150,0

Neue oder ergänzende Kenngrößen für die Beurteilung

165

bb) Fortschrittsindex des Zentrums für gesellschaftlichen Fortschritt Der „Fortschrittsindex“ ist ein vom Zentrum für gesellschaftlichen Fortschritt (eines unabhängigen Think Tanks) entwickelter Vorschlag für einen dimensionslosen Wohlfahrtsindex.41 Das primäre Ziel des Fortschrittsindex ist weniger eine Bestimmung des absoluten Niveaus der gesellschaftlichen Wohlfahrt als vielmehr die Abbildung der Entwicklung der Wohlfahrt über die Zeit. Insbesondere soll es dieser Ansatz ermöglichen, den gesellschaftlichen Fortschritt verschiedener Länder im Zeitverlauf miteinander in Relation zu setzen. Im Rahmen der Berechnung des Fortschrittsindex werden ausgewählte „Leitindikatoren“ aus den vier Bereichen materieller Wohlstand, Gesundheit, Bildung und ökologische Nachhaltigkeit zu einem Gesamtindex verdichtet (vgl. Tabelle 2). Für sämtliche der ausgewählten Teilindikatoren existieren auf internationaler Ebene vergleichsweise lange Zeitreihen. Der Fortschrittsindex ist derart normiert, dass er für Deutschland im Jahr 2000 einem Wert 1,0 entspricht. Werte für die Einzelindikatoren und den Gesamtindex liegen für 22 Industrieländer und den Zeitraum 1970 bis 2008 vor. Im Jahr 2008 wies der Index für Deutschland einen Wert von etwa 1,1 auf, was einen moderaten Fortschritt gegenüber 2000 vermuten lässt. Im internationalen Vergleich nimmt Deutschland jedoch lediglich den 18. Platz ein, was in erster Linie dem im Vergleich zu anderen einbezogenen Ländern geringen Anteil von Schülern und Studenten an der entsprechenden Alterskohorte geschuldet ist.42 Ein distinktives Merkmal des Fortschrittsindex ist die Verwendung statistischer, in diesem Fall zeitreihenökonometrischer Methoden bei der Gewichtung einzelner Indexkomponenten. Die zur Aggregation der Teilindikatoren verwendeten Gewichte werden (mit Ausnahme des ökologischen Fußabdrucks) nicht explizit vorgegeben, sondern basieren auf Ergebnissen einer Panel-Kointegrationsanalyse. Die Verwendung dieses Verfahrens soll der Tatsache Rechnung tragen, dass sich die einbezogenen Leitindikatoren (bzw. die von ihnen abgebildeten Wohlfahrtsdimensionen) nicht unabhängig voneinander entwickeln, sondern in Zusammenhang miteinander stehen. Beispielsweise geht jeder Anstieg des Nettonationaleinkommens um zehn Prozent langfristig im Querschnitt der einbezogenen Länder mit einem Anstieg der Lebenserwartung um etwa ein Jahr einher. Der Fortschrittsindex berücksichtigt dies, indem ein Einkommensanstieg um zehn Prozent das gleiche Gewicht erhält wie ein zusätzliches Jahr an statistischer Lebenserwartung.

___________ 41 42

Für eine detaillierte Beschreibung des Fortschrittsindex vgl. Bergheim (2010). Vgl. Bergheim (2010), S. 4f.

166

Oliver Lerbs und Ulrich van Suntum Tabelle 2 Komponenten des „Fortschrittsindex“

Materieller Wohlstand

Gesundheit

Bildung

Umwelt

Nettonationaleinkommen pro Kopf

Lebenserwartung bei der Geburt

Anteil der Schüler und Studierenden

Ökologischer Fußabdruck

b) Indikatorenbündel aa) Wohlstandsquartett des Denkwerks Zukunft Beim „Wohlstandsquartett“ handelt es sich um einen Vorschlag des Denkwerks Zukunft, eines auf Initiative der Stiftung für kulturelle Erneuerung gebildeten Think Tanks.43 Das Wohlstandsquartett schlägt eine Wohlfahrtsbeurteilung anhand eines vergleichsweise übersichtlichen Indikatorenbündels vor. Dabei sollen die Aspekte materieller Wohlstand, Verteilungsgerechtigkeit, gesellschaftlicher Zusammenhalt und ökologische Nachhaltigkeit anhand ausgewählter Leitindikatoren abgebildet werden (vgl. Tabelle 3). Ziel des Wohlstandsquartetts ist in gewissem Maße eine Verbindung der Stärken aggregierter Wohlfahrtsmaße und detaillierter Indikatorenbündel: Aggregations- und Gewichtungsprobleme sollen umgangen, gleichzeitig eine gewisse Übersichtlichkeit gewahrt werden. Das vorgeschlagene System beinhaltet vier Teilindikatoren, über deren Relevanz für die jeweils abzubildende Dimension in der Diskussion ein vergleichsweise hoher Konsens besteht. Für sämtliche Indikatoren des Wohlstandsquartetts liegen Daten auf europäischer Ebene vor, sodass direkte internationale Vergleiche für die einzelnen Indikatoren auch über mehrere Jahre möglich sind.

___________ 43 Für eine detaillierte Beschreibung des Wohlstandsquartetts vgl. Denkwerk Zukunft (2010).

Neue oder ergänzende Kenngrößen für die Beurteilung

167

Tabelle 3 Komponenten des „Wohlstandsquartetts“ Materieller Wohlstand

Verteilungsgerechtigkeit

Sozialer Zusammenhalt

Ökologische Nachhaltigkeit

Pro-KopfBIP

Quintilsverhältnis der Einkommensverteilung (80/20-Relation)

Gesellschaftliche Ausgrenzungsquote

Ökologischer Fußabdruck im Verhältnis zur globalen Biokapazität

bb) Indikatorenbericht des Statistischen Bundesamts zur nachhaltigen Entwicklung in Deutschland Der „Indikatorenbericht zur nachhaltigen Entwicklung in Deutschland“ wird seit 2006 in zweijährigen Abständen vom Statistischen Bundesamt zusammengestellt und publiziert.44 Primärer Zweck dieses relativ umfangreichen Indikatorenbündels ist eine Dokumentation des Zielerreichungsgrads der in der Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung formulierten Nachhaltigkeitsziele. Der Indikatorenbericht beinhaltet 29 Einzelindikatoren zu 21 Themenbereichen (vgl. Tabelle 4). Diese lassen sich wiederum den übergeordneten Dimensionen „Generationengerechtigkeit“, „Lebensqualität“, „Sozialer Zusammenhalt“ sowie „Internationale Verantwortung“ zuordnen. Der Großteil der verwendeten Indikatoren nutzt Daten aus amtlichen Statistiken, insbesondere der volkswirtschaftlichen und umweltökonomischen Gesamtrechnung. Zur Beurteilung des Zielerreichungsgrades ist für die meisten Indikatoren ein Symbolsystem ausgewiesen, wobei sich die Beurteilung an den in der Nachhaltigkeitsstrategie politisch festgelegten Zielvorgaben orientiert. Neben dem absoluten Stand ist dabei insbesondere die Entwicklung des jeweiligen Indikators innerhalb der letzten fünf Jahre maßgeblich.

___________ 44 Für eine detaillierte Beschreibung des Indikatorenberichts zur nachhaltigen Entwicklung in Deutschland vgl. Statistisches Bundesamt (2010).

168

Oliver Lerbs und Ulrich van Suntum Tabelle 4 Komponenten des „Indikatorenberichts zur nachhaltigen Entwicklung in Deutschland“

Generationengerechtigkeit

Lebensqualität

Sozialer Zusammenhalt

Internationale Verantwortung

Ressourcenschonung

Materieller Wohlstand

Beschäftigung

Energieproduktivität

Pro-Kopf-BIP

Rohstoffproduktivität

Mobilität

Beschäftigungsquote

Entwicklungszusamm enarbeit

Klimaschutz

Gütertransportintensität

Perspektiven für Familien

Treibhausgasemissionen Erneuerbare Energien Anteil erneuerbarer Energien am Energieverbrauch Flächenverbrauch Anstieg der Siedlungs- und Verkehrsfläche Artenvielfalt Index für Artenvielfalt und Landschaftsqualität (Vogelindex)

Personentransportintensität

Ganztagsbetreuungsquote

Anteile des Schienenverkehrs und der Binnenschiffahrt im Güterverkehr

Gleichberechtigung

Anteil öffentlicher Ausgaben für Entwicklungszusammenarbeit am BNE (ODA-Quote)

Geschlechtliches Lohndifferenzial

Offenheit der Märkte

Landbewirtschaftung

Integration

Stickstoffüberschuss

Schulabschlussquote ausländischer Schüler

Importe aus Entwicklungsländern

Anbaufläche des ökologischen Landbaus Luftqualität

Staatsverschuldung

Schadstoffbelastung der Luft

Öffentliches Budgetdefizit

Gesundheit und Ernährung

Wirtschaftliche Zukunftsvorsorge

Vorzeitige Sterblichkeit

Investitionsquote

Raucherquote

Innovation

Anteil der Bevölkerung mit Fettleibigkeit

F&E-Ausgabenquote Bildung Anteil der 18–24-Jährigen ohne Abschluss Anteil 25-Jähriger mit Hochschulabschluss Studienanfängerquote

Kriminalität Anzahl angezeigter Wohnungseinbrüche

Neue oder ergänzende Kenngrößen für die Beurteilung

169

cc) Vorschlag des deutschen und des französischen Sachverständigenrats für Wirtschaft Beim Vorschlag der deutschen und französischen Sachverständigenräte für Wirtschaft handelt es sich um einen ersten konkreten Versuch, die Empfehlungen der Stiglitz-Sen-Fitoussi-Kommission zur Entwicklung eines umfassenden Ansatzes der Wohlfahrtsmessung in die Praxis umzusetzen. Die Stiglitz-SenFitoussi-Kommission spricht sich in ihrem Abschlussbericht für eine Beurteilung gesellschaftlicher Wohlfahrt anhand eines umfassenden, auf den drei Dimensionen Wirtschaftsleistung, Lebensqualität und Nachhaltigkeit basierenden Indikatorensystems aus.45 Insgesamt werden zur Entwicklung eines solchen Systems zwölf einzelne Empfehlungen formuliert. Unter anderem wird von der Kommission empfohlen, bei der Beurteilung des materiellen Wohlstands einer Gesellschaft den Blick von der Produktions- auf die Haushaltssphäre zu verlagern und die Verteilung von Einkommen, Konsum und Vermögen explizit zu berücksichtigen. Darüber hinaus spricht sich die Kommission für eine outputbezogene Messung der Lebensqualität aus. Neben dem materiellen Lebensstandard sollen z. B. Gesundheit, Bildung oder Umweltbedingungen anhand outputbezogener realer Indikatoren operationalisiert werden. Auch dabei soll wiederum nach Möglichkeit die Verteilungsdimension berücksichtigt werden.46 Das von den Sachverständigenräten vorgeschlagene „umfassende Indikatorensystem zu Wirtschaftsleistung, Lebensqualität und Nachhaltigkeit“ sieht vor, die drei im Stiglitz-Report definierten Dimensionen Wirtschaftsleistung, Lebensqualität und Nachhaltigkeit jeweils anhand eigenständiger Bündel von Teilindikatoren abzubilden (vgl. Tabelle 5).47 Die Auswahl der Einzelindikatoren folgt zum Großteil statistischen Kriterien, anhand derer die tatsächliche Relevanz der Kennzahlen für den zugrundeliegenden Wohlfahrtsaspekt beurteilt werden kann. Die Datengrundlage der einbezogenen Kennzahlen ist gleichwohl heterogen, denn neben Primärdaten aus offiziellen Statistiken werden zahlreiche Sekundärdaten verwendet. Bemerkenswert an dem Vorschlag der Sachverständigenräte ist neben der Berücksichtigung der Verteilungsgerechtigkeit insbesondere das breite Verständnis von Nachhaltigkeit. Der verwendete Nachhaltigkeitsbegriff beinhaltet nicht allein ökologische, sondern auch finanzielle und fiskalische Aspekte.

___________ 45

Vgl. Braakmann (2010), S. 609ff. Zu den Empfehlungen im Einzelnen vgl. Stiglitz/Sen/Fitoussi (2010), S. 10ff. 47 Für eine detaillierte Beschreibung des Vorschlags der Sachverständigenräte vgl. Sachverständigenrat (2010). 46

170

Oliver Lerbs und Ulrich van Suntum Tabelle 5 Komponenten des „Indikatorensystems für Wirtschaftsleistung, Lebensqualität und Nachhaltigkeit“

Materieller Wohlstand

Lebensqualität

Nachhaltigkeit

BIP pro Kopf

Gesundheit

BIP pro Arbeitsstunde

Potenziell verlorene Lebensjahre

Ökonomische Nachhaltigkeit

Beschäftigungsquote Nettonationaleinkommen pro Kopf Gesamtwirtschaftliche Konsumausgaben pro Kopf und Quotient aus oberstem und unterstem Einkommensquintil (80/20-Relation)

Investitionsquote

Bildung

F&E-Ausgabenquote

Anteil der Schüler und Studenten an der Bevölkerung im Alter von 15 bis 24 Jahren

Fiskalische Nachhaltigkeit

Politische Einflussnahme und Kontrolle

Fiskalische Nachhaltigkeitslücke gemäß Sustainability Report der EUKommission

Indikator „Mitspracherecht und Verantwortlichkeit“ (nach „Worldwide Governance Indicators“)

Strukturelles Budgetdefizit

Finanzielle Nachhaltigkeit

Private Aktivitäten

Kredit/BIP-Lücke

Anteil der Arbeitnehmer in Schichtarbeit

Aktienkurslücke

Soziale Aktivitäten Regelmäßigkeit mit anderen Personen verbrachter Zeit für Sport und Kultur sowie in gemeinschaftlichen Organisationen Umwelt Feinstaubbelastung (nur städtische Bevölkerung) Unsicherheit Nicht-Armutsrisikoquote (Anteil der Personen mit einem verfügbaren Einkommen von über 60 % des nationalen Medianeinkommens)

Immobilienpreislücke Ökologische Nachhaltigkeit Niveau der Treibhausgasemissionen Treibhausgasemissionen pro Kopf Rohstoffproduktivität Rohstoffverbrauch pro Kopf Biodiversitätsindikator (vorläufig: Vogelindex)

Neue oder ergänzende Kenngrößen für die Beurteilung

171

3. Bewertung derzeit diskutierter Ansätze Grundsätzlich stehen alle oben beschriebenen Ansätze – unabhängig von der konkret verwendeten Methodik – vor dem grundsätzlichen Problem der inhaltlichen Auslegung gesellschaftlicher Wohlfahrt bzw. der Abgrenzung wohlfahrtsrelevanter Sachverhalte. Die eigentliche Problematik der Konstruktion neuer bzw. ergänzender Wohlfahrtskennzahlen besteht letztlich also nicht in der konkreten methodischen Ausgestaltung ihrer Konstruktion, sondern in der Wertbeladenheit und mangelnden inhaltlichen Klarheit des Wohlfahrtsbegriffs selbst.48 Die inhaltliche Unbestimmtheit des Begriffs Wohlfahrt lässt eine Fülle an möglichen, miteinander konkurrierenden Ansätzen der Wohlfahrtsmessung zu, welche durchaus zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Dieses Dilemma lässt sich im Grunde nicht auflösen. Selbst im Fall eines hohen Maßes an Konsens über die Relevanz bestimmter Wohlfahrtsdimensionen werden auch sehr umfassende Ansätze niemals in der Lage sein, sämtliche Aspekte des ökonomischen und sozialen Erfolgs einer Gesellschaft zu umfassen. Dies stellt die grundsätzliche Validität der derzeit diskutierten Ansätze einer „alternativen Wohlfahrtsmessung“ in Frage. Tendenziell ist die inhaltliche Validität solcher Operationalisierungen von Wohlfahrt als vergleichsweise hoch anzusehen, die der Multidimensionalität des Wohlfahrtsbegriffs in hohem Maße Rechnung tragen. Darunter fallen vor allem diejenigen Ansätze, welche die verschiedenen Dimensionen gesellschaftlichen Erfolgs inhaltlich möglichst breit abdecken, also ein hohes Maß an Repräsentativität aufweisen. Dies ist in erster Linie für das vorgeschlagene Indikatorenbündel der Sachverständigenräte der Fall. Neben der Verfügbarkeit materieller und immaterieller Güter, ökologischer Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit der Verteilung berücksichtigt dieses Indikatorensystem auch die Dimensionen fiskalischer und finanzieller Nachhaltigkeit. In etwas geringerem Maße repräsentativ erscheint das Indikatorenbündel zur Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung, welches allein auf ein ökologisches Verständnis von Nachhaltigkeit abzielt und Verteilungsaspekte teilweise außer Acht lässt. Abgesehen von dem grundsätzlichen Problem der inhaltlichen Repräsentativität stellt sich bei den oben beschriebenen Ansätzen die Frage nach ihrer Objektivität und Zuverlässigkeit. Zunächst ist kritisch anzumerken, dass die Auswahl der zu operationalisierenden Wohlfahrtsdimensionen bei sämtlichen Ansätzen letzten Endes bis zu einem gewissen Grad subjektiven Gesichtspunkten folgt. Dies ist eine unmittelbare Konsequenz aus der Wertbeladenheit des Wohlfahrtsbegriffs. Die Objektivität eines Wohlfahrtsmaßes erscheint insbesondere dann als mangelhaft, wenn aus normativen Gründen bestimmte Dimen___________ 48

Vgl. Brachinger (2009), S. 795.

172

Oliver Lerbs und Ulrich van Suntum

sionen der Wohlfahrt bewusst ausgeblendet oder überbetont werden. Als ein Beispiel lässt sich der Nationale Wohlfahrtsindex anführen. Die Auswahl der Teilkomponenten dieses Maßes ist – von den Urhebern des Index explizit gewollt – stark auf ökologische Aspekte fokussiert. Staatsausgaben für Bildung und Gesundheit sind gemäß diesem Wohlfahrtsmaß die einzigen Arten öffentlicher Ausgaben, die überhaupt Wohlfahrt stiften, was angesichts öffentlicher Ausgaben für physische Infrastruktur oder innere und äußere Sicherheit sehr fragwürdig erscheint. Angesichts der zahlreichen Abzugspositionen für Kosten durch Lärm, Kosten durch Luftverschmutzung etc. drängt sich auf der anderen Seite die Frage nach Abgrenzungsproblemen, Doppelzählungen und Redundanzen auf.49 Neben diesem Selektionsproblem leiden insbesondere aggregierte Wohlfahrtsmaße unter Problemen hinsichtlich der Objektivität der vorgenommenen Gewichtungen einzelner Teilbereiche sowie hinsichtlich ihrer Zuverlässigkeit. Diese Probleme sind die Folge gravierender Erfassungs- und Bewertungsprobleme.50 Die Aggregation mehrerer Einzelindikatoren zu einem Wohlfahrtsindex erfordert zunächst die Definition von Vorzeichen, mit denen die einzelnen Indikatoren in den Gesamtindex eingehen sollen. Dies ist gleichbedeutend mit Aussagen darüber, ob eine Komponente wohlfahrtserhöhend oder wohlfahrtsvermindernd wirkt. Dies erscheint zwar auf den ersten Blick unproblematisch, ist jedoch mitunter keinesfalls eindeutig. Beispielsweise mag eine Senkung der Ungleichheit der Einkommensverteilung (z. B. gemessen am Abstand von oberstem und unterstem Einkommensquintil) ausgehend von einem hohen Niveau wohlfahrtssteigernd erscheinen. Wird ein gewisses Maß an Einkommensgleichheit überschritten, könnten weitere Senkungen jedoch von der Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder als ungerecht empfunden werden, was an einem positiven Wohlfahrtsbeitrag solcher Senkungen zweifeln ließe. Neben der Definition von Vorzeichen muss im Rahmen der Indexaggregation geklärt werden, welches relative Gewicht einzelnen Komponenten zugewiesen werden soll, und ob die einzelnen Indikatoren additiv oder multiplikativ verknüpft werden sollen. Dies ist mit weitreichenden, nicht mehr objektiv nachvollziehbaren Annahmen über die relative Bedeutung und (Nicht-)Substituierbarkeit verschiedener Teilaspekte der Wohlfahrt verbunden: Ist z. B. ein Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Produktion um ein Prozent genauso wohlfahrtserhöhend wie ein Rückgang der Treibhausgasemissionen um zwei Prozent oder ein Anstieg der durchschnittlichen Lebenserwartung um fünf Monate? Werden die Einzelkomponenten additiv verknüpft, wird implizit angenommen, dass Verschlechterungen in einigen Teilbereichen (z. B. Umweltqualität ___________ 49

Vgl. von der Lippe/Breuer (2010), S. 446f. Zu dieser Problematik vgl. im Einzelnen von der Lippe (1996), S. 47ff.; Noll (2002), S. 319ff. 50

Neue oder ergänzende Kenngrößen für die Beurteilung

173

oder Gesundheit) durch Verbesserungen in anderen Bereichen vollständig aufgewogen werden können, d. h. eine vollständige Substituierbarkeit zwischen verschiedenen Wohlfahrtsdimensionen besteht. Auch durch die Verwendung kalkulatorischer Geldwerte wie im Fall des NWI ist das Gewichtungsproblem nicht in den Griff zu bekommen. Die Zuweisung kalkulatorischer Marktpreise mag zwar zunächst objektiv erscheinen, es existieren jedoch mehrere konkurrierende Verfahren, die teilweise zu durchaus unterschiedlichen Ergebnissen gelangen und somit insbesondere die Zuverlässigkeit des Gesamtindikators in Frage stellen. Die Frage, ob ein Wert von 1,5 Billionen Euro des NWI nun viel oder wenig Wohlfahrt bedeutet, ist offensichtlich nicht sinnvoll zu beantworten, denn es existiert weder eine vernünftige Vergleichsmöglichkeit für diesen Wert, noch ist das Zustandekommen dieser Zahl angesichts zahlreicher Unschärfen bei der Erfassung und Bewertung vieler Korrekturposten objektiv nachvollziehbar und zuverlässig wiederholbar. Zusammen mit der sogar bewusst gewählten Normativität in der Auswahl der Korrekturposten sind diese Erfassungs- und Bewertungsprobleme für die geringe Akzeptanz von NWI und anderen Indizes in der Tradition des Measure of Economic Welfare verantwortlich. Angesichts der Existenz offenkundiger methodischer Schwächen ist nicht verwunderlich, dass derzeit diskutierte eindimensionale Wohlfahrtsindizes kaum praktische wirtschaftspolitische Relevanz besitzen. Dies gilt sowohl für in Geldeinheiten gemessene Indizes wie den NWI als auch für unter Verwendung statistischer Transformationen hochaggregierte Indizes wie den Fortschrittsindex (gleichwohl ist dieser einer der wenigen dimensionslosen Indizes, der das Gewichtungsproblem explizit aufgreift und anhand statistischer Methoden zu lösen versucht). In Anbetracht der offenkundigen methodischen Schwächen aggregierter Wohlfahrtsmaße erscheint die Entwicklung eines aussagekräftigen Systems von Einzelindikatoren insgesamt als aussichtsreichster Ansatz einer umfassenden Wohlfahrtsmessung. Zu diesem Ergebnis gelangt auch die sog. Stiglitz-SenFitoussi-Kommission.51 Aufgrund des hohen Maßes an Validität, Zuverlässigkeit und Objektivität einzelner Teilindikatoren eignen sich Indikatorensysteme im Gegensatz zu Globalindizes wesentlich besser zur Entscheidungsunterstützung als eindimensionale Maße. Dies gilt insbesondere, da nebeneinander stehende Indikatoren in der Lage sind, Wechselbeziehungen und Zusammenhänge zwischen einzelnen Dimensionen gesellschaftlicher Wohlfahrt (zumindest in ihren Grundzügen) offenzulegen. Naturgemäß geht der zusätzliche Nutzen höherer Detailliertheit mit zusätzlichen Kosten einer geringeren Handhabbarkeit einher. Eine größere Detailliertheit, deren letztlicher Nutzen von der Frage___________ 51

Vgl. Stiglitz/Sen/Fitoussi (2009), S. 15.

174

Oliver Lerbs und Ulrich van Suntum

stellung abhängt, muss also gegen weniger Übersichtlichkeit und die fehlende Möglichkeit „eindeutiger“ Schlussfolgerungen abgewogen werden. In Anbetracht der Multidimensionalität gesellschaftlicher Wohlfahrt wiegt der Nachteil der höheren Komplexität jedoch weitaus geringer als die zuvor skizzierten methodischen Schwächen aggregierter Wohlfahrtsmaße. Selbstverständlich hängt auch die Aussagekraft eines Indikatorenbündels letztlich von der Validität, Zuverlässigkeit und Objektivität der verwendeten Einzelindikatoren ab. Auch Indikatorenbündel sind aufgrund des stets präsenten Selektionsproblems zudem nicht im strengen Sinne objektiv. Problematisch ist bei vielen Indikatorenbündeln auch der Rückgriff auf Inputgrößen, welche meist in Ermangelung von Alternativen zur Beurteilung bestimmter Wohlfahrtsaspekte verwendet werden. Inputgrößen stellen in der Regel keine validen Maße für die ihnen zugrundeliegenden Aspekte dar. So sagt beispielsweise die Anzahl der Hochschulabschlüsse oder der Patente pro Einwohner (bzw. deren Veränderung) nur bedingt etwas über die Qualität des Bildungssystems bzw. die Innovationsfähigkeit eines Landes aus. Die von dieser Kommission formulierten Empfehlungen zur Entwicklung eines aussagekräftigen Indikatorensystems spiegeln sich bereits zu weiten Teilen in dem von den Sachverständigenräten vorgeschlagenen Indikatorenbündel wider. Gleichwohl befindet sich dieser Vorschlag noch in einem sehr frühen Stadium. In seiner derzeitigen Form erscheint das Indikatorensystem insbesondere als zu umfangreich, um als Instrument der Entscheidungsfindung dienen zu können. Zu hinterfragen ist außerdem die internationale Vergleichbarkeit einer Reihe von Indikatoren sowie die Zuverlässigkeit der zur Abbildung der fiskalischen und finanziellen Nachhaltigkeit ausgewählten Kennzahlen. Da zahlreiche der eingeschlossenen Indikatoren stark untereinander korreliert sein dürften, erscheinen Vereinfachungen ohne dramatische Informationsverluste durchaus möglich, sodass das Problem der Unübersichtlichkeit als lösbar erscheint. Die wesentlichen Hürden einer systematischen länderübergreifenden und intertemporalen Erfassung und Beurteilung von Wirtschaftsleistung, Lebensqualität und Nachhaltigkeit bestehen allerdings weniger in der Reduktion von Komplexität als in der Harmonisierung der Datenerhebung und Datenaufbereitung. Hier dürften in den nächsten Jahren noch weitere Anstrengungen notwendig sein.

VI. Schlussbetrachtung Die Beurteilung der ökonomischen und sozialen Leistung einer Gesellschaft anhand statistischer Kennzahlen ist grundsätzlich möglich und nützlich. Es erscheint insofern durchaus wünschenswert, wohlfahrtsrelevante Statistiken systematisch und regelmäßig zu erheben und auszuwerten. In der Tat verfügen

Neue oder ergänzende Kenngrößen für die Beurteilung

175

die meisten Länder heute über eine nie zuvor gekannte Vielzahl von Statistiken, welche eine große Bandbreite von Lebensbereichen abzudecken vermögen. Dazu gehören in erster Linie die umweltökonomische Gesamtrechnung sowie Haushaltsstichproben und Zeitbudgeterfassungen, aber auch Erhebungen im Bereich des Bildungswesens, des Gesundheitswesens, des Justizwesens sowie des Arbeitsmarktes. Wachsende Beachtung finden zudem Auswertungen zur individuellen Lebenszufriedenheit, wie sie beispielsweise im Rahmen des vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) erhobenen Sozio-ökonomischen Panels (SOEP) durchgeführt werden. In Anbetracht dieser Vielzahl an aussagekräftigen statistischen Erhebungen und Kennzahlen sollte der zusätzliche Nutzen gänzlich neuer Wohlfahrtsmaße kritisch hinterfragt werden. Gleichzeitig muss es eine wichtige Aufgabe der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sein, insbesondere im politischen und medialen Bereich für die Vielfalt und gleichzeitige Komplexität heute verfügbarer Statistiken zu sensibilisieren. Dies bedeutet auch, die Nichteignung des Inlandsprodukts als allgemein gültige Kenngröße des Erfolgs einer Gesellschaft zu kommunizieren und ergänzende Indikatoren stärker in den Vordergrund zu rücken. Gleichzeitig sollte betont werden, dass ein derart vielschichtiger und komplexer Sachverhalt wie der ökonomische und soziale Erfolg einer Gesellschaft nicht erschöpfend anhand einer einzigen, eindimensionalen Kennzahl abgebildet werden kann. Die Suche nach „allgemein gültigen“ bzw. „allumfassenden“ Wohlfahrtsmaßen, welche möglicherweise sogar zur Zielgröße politischer Handlung erhoben werden sollen, führt zwangsläufig in die Irre. Besteht das Ziel der derzeit vorgenommenen Anstrengungen in einer systematischen Erfassung von Zustand und Entwicklung einer Gesellschaft, müssen notwendigerweise verschiedene Dimensionen gesellschaftlicher Wohlfahrt spezifiziert und zwischen ihnen unterschieden werden. Nur wenn diese wechselseitigen Abhängigkeiten anhand valider, zuverlässiger und objektiver Kennzahlen erkennbar gemacht und näher analysiert werden, sind wirtschaftspolitische Handlungsempfehlungen unter Abwägung von Nutzen und Kosten überhaupt möglich.

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Lebensqualitätsmessung durch die OECD. Eine Alternative zum Bruttoinlandsprodukt als Wohlstandsindikator? – Korreferat zu Oliver Lerbs und Ulrich van Suntum – Von Georg Erber

I. Einleitung Lebensqualität ist seitens der OECD ein Ansatz, der versucht aus einem heterogenen Bündel von einzelnen sozialen und ökonomischen Indikatoren einen Gesamtindikator für die Lebensqualität einzelner Mitgliedsländer der OECD zu entwickeln. Der folgende Beitrag nimmt diesen Ansatz als exemplarisches Beispiel, um daran Probleme solcher Messkonzepte zu illustrieren, die auch bei anderen analog konstruierten Indikatorsystemen immer wieder auftauchen. Mithin ist hierdurch der Rahmen bereits gesteckt. Bisher findet eine Bewertung in der breiten Öffentlichkeit und der Politik anhand des Systems der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (VGR) mit dem Bruttoinlandsprodukt als Leitindikator für die Gesamtperformance statt. Die VGR hat seit dem Ende des zweiten Weltkriegs einen weltweiten Siegeszug angetreten, der keineswegs durch konkurrierende Konzepte beendet werden kann. Mithin geht es um Korrekturen und Ergänzungen der VGR. Die Bereitschaft zu einer Relativierung des bisherigen strikt ökonomischen Rahmens hat auch bei den Ökonomen immer mehr Anhänger gefunden (Erber 2010a). Die Forschung über soziale Indikatoren insbesondere im Bereich der Soziologie und Psychologie hat bisher lange weniger Beachtung seitens der Ökonomen gefunden, die sich lieber auf die „hard facts“ ihrer ökonomischen Kenngrößen fokussierten. Dem liegt das Paradigma eines Preis-Mengen-WertSystems zugrunde. Alle Produkte, die über Märkte gehandelt werden, lassen sich entsprechend der auf den jeweiligen Produktmärkten erzielten Marktpreise und umgesetzten Mengen empirisch erfassen. Mithin erfolgt hier die Bewertung durch die Marktteilnehmer selbst. Eine zusätzliche externe Bewertung erscheint daher überflüssig.

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Allerdings werden dabei eine Fülle von vereinfachenden Annahmen in der Regel durch Durchschnittsbildungen, Aggregationen auch über heterogene Produkte und Märkte vorgenommen, die zu Problemen der daraus gewonnenen aggregierten Kennziffern führen. Andere nicht über den Markt bestimmte Größen wie Bestandsgrößen, z. B. das Anlagevermögen werfen zusätzliche Probleme der Bewertung in monetären Größen auf. Soll beispielsweise zu Anschaffungs-, zu Markt- oder Wiederbeschaffungspreisen bewertet werden? Wie bewertet man Produkte, für die realiter gar keine Märkte existieren? Ein Beispiel sind hierfür insbesondere staatliche Dienstleistungen. Dort werden administrierte Preise mehr oder weniger willkürlich festgelegt oder die Dienstleistungen kostenlos – weil aus dem allgemeinen Steuertopf finanziert – produziert und an die Gesellschaft verteilt. Mit Hilfe eines impliziten Marktes sollen dann teilweise mittels Schattenpreisen hier ein am Marktparadigma einer effizienten Produktion und Allokation orientierten Marktwirtschaft diese Lücke geschlossen werden (Kanbur 1987). Ob die dadurch erzielten Lösungen befriedigend sind, kann durchaus in Frage gestellt werden. Mithin ist die VGR selbst mit ihrem Anspruch auch nur das gesamte wirtschaftliche Geschehen einer Volkswirtschaft konsistent zu erfassen keineswegs ein unproblematisches Konzept. Es lebt eben auch von vielfältigen Analogien, die unter der Referenz auf das Markt-Preis-Wert-Paradigma sowie dem Postulat der Markteffizienz auch alle anderen gesellschaftlichen Bereiche ohne explizite Märkte bewerten möchten. Objektiv ist dies am Ende aus Sicht zahlreicher Kritiker der VGR jedoch nicht. Man muss an den Wertmaßstab der Bewertung durch Märkte als adäquaten Wertmaßstab glauben (Erber 2010b) und entsprechend ist die VGR daraufhin essentiell ausgerichtet. Vielfältige Formen des Marktversagens führen jedoch auch bereits bei der Wahl auch real existierender Märkte zu Zweifeln, ob der empirisch erfassbare Marktpreis dann noch als Messgröße zu einer Wohlstandsmessung geeignet sein kann. Hinzu kommt, dass es einen Bereich der Wirtschaftsaktivitäten gibt, die sich unter dem Titel Schattenökonomie einer offiziellen statistischen Erfassung entziehen. Gründe hierfür können Steuervermeidungsstrategien oder im Sinne von Coase (Coase 1960) die kostengünstigere Eigenproduktion innerhalb eines Unternehmens oder Haushalts als der Bezug der äquivalenten Produkte am Markt sein. Schätzungen gehen davon aus, dass diese Schattenökonomie wie beispielsweise in Ländern wie Griechenland oder Italien bis zu rund einem Viertel des offiziell in der VGR erfassten Sozialprodukts ausmacht (Schneider et al. 1999). In der Summe sind also die hier kurz skizzierten Probleme und Messfehler der VGR-Messung keineswegs gering einzuschätzen. Nimmt man stattdessen den Ansatz der Erfassung der sozialen, politischen, psychologischen und ökonomischen Indikatoren als Ausgangspunkt, dann lassen sich diese Probleme der VGR zunächst umgehen. Man kann direkt das erfassen, was man jeweils erfassen möchte. Die Bewertung von Märkten spielt

Lebensqualitätsmessung durch die OECD

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dabei unmittelbar keine Rolle. Man verabschiedet sich von der Fokussierung nur auf diejenigen sozialen Tatbestände, die durch Märkte einer Bewertung ökonomisch zugänglich sind. Es stellt eine zu starke Einengung für die Beurteilung des Erfolgs einer Gesellschaft dar. Mithin geht es hier auch um eine neue Synthese in den Sozialwissenschaften oder auch nur Koexistenz zwischen ökonomischen und sozialen, politischen sowie psychologischen Indikatoren zu einer mehr ganzheitlichen gesellschaftlichen Betrachtung. Hinzu kommt, dass der Glaube der Ökonomen in das Effizienz-Postulat von Märkten spätestens mit der derzeitigen Wirtschafts- und Finanzkrise schwer erschüttert worden ist (Shleifer 1999). Die Selbst-Regulierung der Märkte führt nicht zum sozialen Optimum. Adam Smiths unsichtbare Hand, die alles zu Wohle richtet, hat an Glaubwürdigkeit verloren. Damit ist aber die Trennung in positive und politische Ökonomie in Frage gestellt. Der neoklassische Mainstream der Ökonomen, der hierfür die Verantwortung übernehmen muss, ist derzeit in die Defensive geraten. Der Anspruch der Ökonomen ihr Fachgebiet in den gleichen Rang wie die Naturwissenschaften zu erheben, stößt mit der Ausschließlichkeit eine soziale Physik à la Quetelet (1838) zur Grundlage einer faktenbasierten Sozialwissenschaft zu machen, an Grenzen. Die scheinbare Objektivität der Sozialwissenschaften in Form ökonomischer Marktmodelle – heute in seiner fortgeschrittendsten Form der dynamischen stochastischen allgemeinen Gleichgewichtsmodelle (DSGEM, Vgl. z. B. Sbordone, Tambalotti, Rao, Walsh 2010) – erwies sich immer mehr als hinsichtlich seines Erklärungsgehalts zu eng zur Erklärung ökonomischer und sozialer Prozesse einer Gesellschaft. Märkte müssen keineswegs automatisch immer zu einem und dann noch einem eindeutigen Gleichgewicht hin tendieren, das auch noch ein soziales Optimum repräsentiert. Sein und Bewusstsein interagieren innerhalb einer Gesellschaft. Sowohl auf der individuellen wie auch auf der kollektiven Ebene. Das Bewusstsein wurde jedoch in der Ökonomie allzu gerne in den Datenkranz der Präferenzen externalisiert. Wie jedoch Präferenzen im Zusammenspiel mit Erwartungen und historischen Erfahrungen hinsichtlich aktueller und zukünftiger Entwicklungen innerhalb einer Gesellschaft geformt werden, konnte immer weniger auch aus dem Kontext der ökonomischen Analyse ausgeblendet werden (Manski 2004). Die Ökonomie degenerierte ansonsten immer mehr unter diesen selbstauferlegten Beschränkungen zu einem social engineering, das mittels ZweckMittel-Denken aufgrund scheinbar objektiver Erkenntnisse in Form von ökonomischen Modellbildungen anhand von Marktdaten wie Preisen, Mengen und daraus abgeleiteten Wertgrößen Lösungen mittels dieser Modelle anhand vorgegebener Ziele deduzierte (vgl. hierzu Leeson 1998 und weitere Literatur zur Keynes-Tinbergen-Kontroverse).

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Dies führt zwangsläufig zu dem gerade in Deutschland wohlbekannten Werturteilsstreit1 zwischen positiver und normativer Ökonomie (Myrdal 1954). Die zentrale Frage lautet bis heute: Wie viel normatives ist in der scheinbar positiven ökonomischen Theorie enthalten? Gerade die in den letzten Jahren immer stärker an Einfluss gewinnende Forschungsrichtung der Verhaltensökonomie (Thaler 1994) bis hin zur Neuroökonomie beginnt hinter das Postulat gegebener Präferenzen von Wirtschaftssubjekten zu schauen. Dies führt auch zur Unterminierung des Rationalitätspostulats des Einzelnen als Entscheidungsträgers. Hinzu kommt das Problem kollektiver Entscheidungen, die sich – wir wissen es spätestens seit Arrow (1951) – nicht einfach aggregieren lassen. Mithin müssen auf all diese Probleme schlüssige Antworten gefunden werden. Allerdings herrscht derzeit vorrangig ein Pragmatismus, d. h. man beschränkt sich auf Konsensentscheidungen in Expertengremien von Sozialwissenschaftlern wie man mittels eines einfachen Indikatoren-Sets eine Erweiterung relativ zum Bruttoinlandsprodukt(BIP) und der damit verbundenen VGR vornehmen kann.

II. Das Problem der Selektion von geeigneten Indikatoren Um die Lebensqualität eines Menschen und einer ganzen Gesellschaft zu erfassen, wird daher nicht nur der Bereich der Wirtschaft definiert, sondern alle anderen Lebensbereiche. Mithin liegt dem Verständnis ein eher holistisches Konzept zugrunde, das den Primat der Wirtschaft als Lebensbereich ablehnt. Lebensqualität soll alle Lebensverhältnisse betrachten. Allerdings ist eben auch diese Gesamtheit zu strukturieren. In Deutschland hat das Sozio-ökonomische Panel (SOEP) eine umfangreiche Datenbasis entwickelt, die weit über den engen Bereich der traditionellen Wirtschaft hinausreicht. 2 Grundlage für die Entscheidung über die Auswahl geeigneter Indikatoren zur Lebensqualität ist die Unterteilung der individuellen Lebensverhältnisse in Lebensbereiche bzw. Lebenslagen. Das Leben der einzelnen Gesellschaftsmitglieder wird in voneinander vergleichsweise gut trennbare Lebensbereiche bzw. Lebenslagen untergliedert. Dabei spiegeln Bereiche der durch Märkte vermittelten Lebenszusammenhänge nur einen Teilaspekt des gesamten Lebenszusammenhangs eines Menschen. Mithin wird Lebensqualität dahingehend differenziert, inwieweit das Leben einer Lebensgemeinschaft wie beispielsweise einer Gesellschaft, seines Staates und seiner Bürger hinsichtlich der Lebenszufriedenheit bzw. Lebensqualität innerhalb der verschiedenen Lebens___________ 1 2

http://de.wikipedia.org/wiki/Werturteilsstreit. http://www.diw.de/de/diw_02.c.221178.de/ueber_uns.html#299767.

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bereiche befriedigt werden kann. Das überordnete Ziel ist dann die Lebenszufriedenheit insgesamt der Gesellschaftsmitglieder möglichst weitgehend in all diesen Lebensbereichen möglichst positiv zu gestalten. Des Weiteren wird unterstellt, dass das Prinzip von Bentham, dass ein Gesellschaftszustand besser als ein anderer ist, wenn eine größere Anzahl seiner Mitglieder vergleichsweise besser gestellt ist als im Vergleich zu einem anderen (Bentham 1789). Mithin sind die Indikatoren relative Maße, d. h. sie vergleichen zwei Zustände und ordnen diese nach dem Greatest Happiness Principle in eine ordinale oder soweit möglich kardinale Rangordnung. Dabei kann zwischen objektiven und subjektiven Indikatoren unterschieden werden. Objektive können beispielsweise die durchschnittliche Lebenserwartung sein. Subjektive bestehen in der Regel aus subjektiven Stellungnahmen über das positive/negative Empfinden einzelner Gesellschaftsmitglieder über ihre Bewertung eines bestimmten Sachverhalts, z. B. Wohnverhältnisse. Hinzu kommt noch die Möglichkeit wie im Capability Approach von Sen (Sen 1993) Lebenschancen der einzelnen Gesellschaftsmitglieder beurteilen zu lassen (siehe Abb. 1).

Abbildung 1: Capability Approach

Auch hier lassen sich objektive oder subjektive Indikatoren generieren. Sen’s Ansatz versucht jedoch das Problem der Chancengleichheit innerhalb einer Gesellschaft zu analysieren und greift damit das Spannungsverhältnis zwischen Erwartungen der Einzelnen ein selbstbestimmtes und erfülltes Leben führen zu können hinaus, d. h. er weist auf Entwicklungspotentiale der einzel-

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nen Menschen hin, die im Sinne von Bentham auf der Suche nach ihrem Lebensglück entsprechende Entwicklungschancen bekommen sollen. Damit wird implizit das Problem der Chancenungleichheit an Lebenschancen als zusätzliches Problem in der Bestimmung geeigneter Indikatoren eingeführt. Es lassen sich mithin eine Vielzahl von möglichen Realisierungen einer Indikatorauswahl entwickeln. Es gibt aber offenbar nur sehr begrenzte Möglichkeiten eine Auswahl zu finden, die von allen beteiligten Akteuren eines solchen Auswahlverfahrens als ihren Vorstellungen am besten entsprechend gefunden werden kann. Mithin wird im Rahmen eines Dialog- und Entscheidungsprozesses per Mehrheitsentscheidung sich am Ende einer gegenüber den anderen durchsetzen.

1. Der OECD Better-Life-Index Dieser Beitrag fokussiert sich auf den von der OECD seit kurzem veröffentlichten Better-Life-Ansatz (OECD 2011). Ein Grund liegt darin, dass er aufgrund eines umfangreichen Dialogs zwischen Expertengruppen aus den OECDMitgliedsländern als Konsenslösung bereits entwickelt wurde. Dies schafft letztendlich eine vergleichsweise große Legitimation gegenüber anderen Ansätzen, die im Vergleich dazu einen weniger umfassenden Diskussions- und Entscheidungsprozess durchlaufen haben. Der Better-Life-Ansatz geht über den mit weniger Indikatoren ausgestatteten Human Development Index (HDI), der von der UNDP (2011) regelmäßig veröffentlicht wird, hinaus. Es werden zwei Bereiche voneinander unterschieden. Der eine umfasst Indikatoren für die materiellen Lebensbedingungen, der andere Indikatoren zur Messung der Lebensqualität. Für die materiellen Lebensbedingungen werden folgende Indikatoren für drei Bereiche ausgewiesen: –

Einkommen und Vermögen,



Beschäftigung und Arbeitseinkommen,



Wohnverhältnisse.

Für den Bereich der Lebensqualität werden acht Hauptbereiche unterschieden: –

Gesundheitsstatus,



Arbeit und Leben,



Ausbildung und Qualifikationen,



Soziale Beziehungen,

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Gesellschaftliches Engagement und Partizipationsmöglichkeiten beim Regieren,



Umweltqualität,



Persönliche Sicherheit,



Subjektives Wohlbefinden (Lebenszufriedenheit).

Sicherlich ist diese Aufgliederung auch anders vorstellbar, aber es ist das Ergebnis eines breiten Dialogs, der diese Untergliederung als Konsens generiert hat. Als Einzelindikatoren für Einkommen und Vermögen wurden folgende zwei ausgewählt: –

das verfügbare korrigierte Pro-Kopf-Haushaltseinkommen,



das finanzielle Pro-Kopf-Nettovermögen eines Haushalts.

Sicherlich spielt hier erneut Pragmatismus eine entscheidende Rolle, ob derartige Daten über die Anzahl der OECD-Mitgliedsländer auch erhoben werden können oder bereits erhoben werden. Andere Indikatoren sind durchaus vorstellbar. Als Einzelindikatoren für den Bereich Arbeit und Leben werden drei Einzelindikatoren ausgewiesen: –

Beschäftigungsquote,



Quote der Langzeitarbeitslosen,



Durchschnittliches Jahreseinkommen je Beschäftigten.

Für den Bereich Wohnverhältnisse werden zwei Einzelindikatoren verwendet. –

Anzahl der Räume pro Person,



Unterkünfte ohne grundlegende Ausstattung der Wohnung (WC).

Mithin erfassen diese sieben Einzelindikatoren den Gesamtbereich der materiellen Lebensverhältnisse. Damit wird deutlich, dass hier ein konsequenter Reduktionismus auf eine begrenzte Zahl stattgefunden hat. Dies ist dem Zweck, ein Indikatorsystem für Makrovergleiche zu entwickeln, geschuldet. Als Kriterium spielt dabei sicherlich die vorhandene Varianz zwischen den einzelnen OECD-Mitgliedsländern eine wichtige Rolle. Zudem sollen damit sowohl die durchschnittlichen materiellen Lebensbedingungen als auch Ungleichheit in den Lebensbedingungen abgebildet werden. All diese Probleme finden sich auch bei alternativen Ansätzen und müssen entsprechend gelöst werden.

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Bei dem zweiten großen Bereich zur Lebensqualität werden insgesamt fünfzehn Einzelindikatoren eingesetzt. Für den Bereich Gesundheitsstatus werden zwei Einzelindikatoren herangezogen: –

Lebenserwartung zum Zeitpunkt der Geburt,



Selbsteinschätzung des eigenen Gesundheitszustands.

Hier taucht also zum ersten Mal ein subjektiver zusammen mit einem statischen Prognosewert als Indikator auf. Hieraus lässt sich leicht der healthy lifeexpectationcy index (HALE) berechnen, wie er von der Weltgesundheitsorganisation regelmäßig veröffentlicht wird (WHO 2011). Der Bereich Arbeit und Leben umfasst drei Einzelindikatoren: –

Anteil der Beschäftigten mit besonders langen Arbeitszeiten,



Zeit, die zur persönlichen Freizeit und Pflege zur Verfügung steht,



Anteil der berufstätigen Frauen mit Kindern im schulpflichtigen Alter.

Der Bereich Ausbildung und Fähigkeiten wird durch zwei Einzelindikatoren repräsentiert: –

Höchster Ausbildungsstand,



Kognitive Fähigkeiten von Studenten.

Der Bereich soziale Beziehungen wird durch einen einzelnen Indikator repräsentiert: –

Unterstützung durch soziale Netzwerke.

Der Bereich Gesellschaftliches Engagement und Partizipation bei zentralen politischen Entscheidungen wird durch zwei Einzelindikatoren erfasst: –

Wahlbeteiligung,



Beteiligung der Bürger bei wichtigen politischen Entscheidungen.

Der Bereich Umweltqualität wird durch einen Einzelindikator für Luftqualität gemessen. Der Bereich persönliche Sicherheit wird durch zwei Einzelindikatoren repräsentiert: –

Internationale Selbstmordquote,



Selbsteinschätzung der persönlichen Bedrohungssituation.

Der Bereich subjektive Lebenszufriedenheit wird durch zwei subjektive Einzelindikatoren dargestellt: –

Lebenszufriedenheit insgesamt,



Affektive Ausgeglichenheit.

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Man erkennt daraus, dass sich hier ein recht heterogenes Konglomerat aus objektiven wie subjektiven Einzelindikatoren zur Erfassung der komplexen Lebenslage innerhalb einer Bevölkerung ergeben hat. Es ist auch offensichtlich, dass es für die Auswahl keine zwingenden logischen Gründe gibt. Hinzu kommt ein hohes Maß an Heterogenität der in die Betrachtung einbezogenen Zusammenhänge. Es bleibt auch offen inwieweit eine klare Trennung tatsächlich erreicht worden ist. Kommt es nicht implizit doch zu Doppelzählungen wie beispielsweise beim Pro-Kopf-Haushaltseinkommen und dem durchschnittlichen Jahreseinkommen eines Beschäftigten. Beides ist sicherlich nicht voneinander unabhängig. Es stellt sich auch beispielsweise die Frage, ob subjektive Selbsteinschätzungen mit unabhängig davon mehr objektiven durch Mediziner kompatibel sind oder wie man Wahrnehmungsverzerrungen – man fühlt sich gesünder als man ist – bei der Analyse kontrollieren kann. Wie ist ein Paranoiker über imaginierte Bedrohungslagen – man befürchtet den Raubüberfall immer an der nächsten Ecke – von demjenigen zu unterscheiden, der weniger paranoid ist? Warum wird nur die Umweltqualität durch die Luftqualität repräsentiert. Spielt die Wasser- oder Bodenqualität keine Rolle? Es bleibt, kurz und gut, ein Unbehagen an der Auswahl bestehen.

2. Das Problem der Trade-Offs Nachdem man sich auf ein Indikatoren-Set verständigt hat, stellt sich die Frage, ob man zwischen den einzelnen Indikatoren sich eine sinnvolle Beziehung derart vorstellen kann, dass ein höherer Indikatorwert für einen Indikator eine Substitution für einen niedrigeren Indikatorwert für einen anderen Indikator zulassen soll. Wie lassen sich diese Beziehungen sinnvoll begründen? Es ist keine leichte Aufgabe sich hier ein gültiges Verfahren vorzustellen. Gibt es also überhaupt sogenannte tade-offs zwischen diesen Größen? Kann man dies durch eine einfache – in der Regel sogar konstante – relative Gewichtung adäquat durch einen Wert zwischen den Größen angemessen realisieren. Wären diese Gewichte nicht etwa wieder so etwas wie implizite Schattenpreise? Je heterogener die Einzelindikatoren sind, desto schwieriger wird es sich hier eine sinnvolle Substitutionsmöglichkeit vorzustellen. Trotzdem ist es gängige Praxis dies immer und immer wieder zu tun. Meist werden dabei die jeweiligen Dimensionen der einzelnen Messgrößen ignoriert, d. h. man vergleicht quasi Äpfel mit Birnen. Einen Einblick über die Vorgehensweise liefert beispielsweise ein Handbuch der OECD (2008). Es ist jedoch offensichtlich, dass hierdurch die Probleme, die man aus der Bestimmung ökonomischer Indizes wie Preis-, Mengen- oder Volumenindizes bereits kennt, eher potenziert werden (Fisher 1922).

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Hinzu kommt das Problem wer entscheidet über das Gewichtungsschema? Letztendlich werden durch die Gewichtungen ja Werturteile gefällt. Der OECD Better-Life-Index bietet daher die Möglichkeit entsprechend einer subjektiven Gewichtung sich seinen eigenen zusammengesetzten Indikator über die Website zu generieren. 3 Allerdings bedeutet dies ja nur eine Auslagerung der Problematik auf den in der Regel weitaus weniger kompetenten Nutzer. Es ist daher nicht überraschend, dass es gegenüber solchen zusammengesetzten Indikatoren erhebliche Bedenken gibt.4 Ein Beispiel dafür, dass durch solche Gewichtungen und Auswahl von Einzelindikatoren völlig arbiträre Ergebnisse erzielt werden können, ist der von Nordkorea veröffentlichte Happiness-Index. Demnach sind die Chinesen in der Volksrepublik gefolgt von den Nordkoreanern die glücklichsten Menschen der Welt. 5 Gefolgt werden diese Weltmeister des Glücklichseins von Kuba, dem Iran und Venezuela. Mithin zeigt dieser Extremfall die Anfälligkeit dieses Konzepts für vielfältige interessegeleitete Manipulationen. Selbst die immer wieder zitierte Gross National Happiness von Bhutan stößt beim Autor dieses Beitrags auf erhebliche Bedenken, wenn man zur Kenntnis nimmt, dass die dortige Regierung einen großen Teil der einheimischen Bevölkerung mit nepalesischem Ursprung vorher aus Bhutan vertrieben hat und diese jetzt in Flüchtlingslagern in Indien und Nepal ihr Dasein fristen.6 Werden dann dort die verbliebenen Bhutanesen dadurch glücklicher? Was ist dann von solchen Zeitungsmeldungen wie in der Zeit zu halten? Bhutan – 40,9 Prozent sind schon glücklich (Khan 2011).

3. Better-Life-Index als Politik-Benchmark? Die Indikatorsysteme zur Messung von Lebenszufriedenheit dienen in der Regel ja nicht nur zur Zustandsbeschreibung, sondern sollen ja politischen Entscheidungsträgern als Orientierungshilfe für politische Entscheidungen und bei der gesellschaftlichen Entwicklungsplanung dienen. Auch hier sind begründete Zweifel angebracht. Es kommt leicht zu unerwünschten Rückkopplungen zwischen der politisch gewollten Zielgröße und ihrer Erhebungsmethodik. Cooking statistics, um der Öffentlichkeit den Erfolg einer Regierung zu demonstrieren hat eine lange Tradition. So ist beispielsweise die Arbeitslosenstatistik immer wieder anfällig zur politischen Einflussnahme, in dem die Definitionen, wer wann als arbeitslos statistisch zu erfassen ist, in einer Vielzahl von Fällen be___________ 3

http://www.oecdbetterlifeindex.org. Vgl. die Stellungnahme des Generaldirektors von Eurostat Radermacher (2010). 5 http://www.piie.com/blogs/nk/?p=1495. 6 http://en.wikipedia.org/wiki/Bhutanese_refugees.

4

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legt worden. So wurde beispielsweise in der Ära von Margret Thatcher die unerwünschte hohe Arbeitslosigkeit durch politische Weisungen, wie diese denn erfasst werden sollte, optisch nach unten manipuliert, um den „Erfolg der Politik“ der Öffentlichkeit glaubhaft machen zu können. Ein anderer klassischer Bereich in der Ökonomie ist die Inflationsmessung. Der derzeitige Präsident von Eurostat konstatierte diesbezüglich: „Es gibt ja das schöne Gesetz von Charles Goodhart (1975). Charles Goodhart war ein Berater der englischen Notenbank unter Margaret Thatcher und er hat festgestellt, dass es so eine Art heisenbergsche Unschärfe auch für ökonomische Indikatoren gibt. Goodhart’s Law besagt: Once a social or economic indicator is made a target for the purpose of conducting social or economic policy, then it will lose the information content that would qualify it to play such a role. Dies hat folgenden Hintergrund: Wenn eine Messzahl politisch unter Druck kommt, dann stimmen sozusagen diejenigen, deren Verhalten gemessen wird, ihr Verhalten auf diese Messzahl ab.“ Walter Radermacher (2007)

Ein weiteres Musterbeispiel sind die Defizit- und Staatsschuldenquoten der Mitgliedsländer der EU. Auch hier wurden durch entsprechende Interventionen insbesondere von Italien und Griechenland durch Devisen Swap Geschäfte die Staatsschuldenquoten soweit gesenkt, dass ein Beitritt zur Währungsunion erreicht werden konnte (Erber 2011a, 2011b). Es lässt sich mithin gut vorstellen, dass, gelänge es den Better-Life-Index soweit politisch aufzuwerten, dass er als wichtiger weiterer Indikator neben dem Bruttoinlandsprodukt für die politische Entscheidungsfindung herangezogen würde, entsprechende Risiken – das Beispiel Nordkorea zeigt dies bereits überdeutlich – auch hier wirksam werden. Mithin ist hier ebenso große Vorsicht geboten, dass solche Indikatorensysteme nicht unter die politische Kontrolle fallen, um unter schwierigen politischen Verhältnissen statistische Erfolge vorzuweisen, die de facto bei genauerer Betrachtung so nicht eingetreten sind.

III. Fazit Es ist in den letzten Jahren ein zunehmendes Interesse an einer Neuorientierung der gesellschaftspolitischen Indikatorensysteme weg, vom Bruttoinlandsprodukt und hin zu anderen, sozialen und subjektiven psychologischen Indikatoren, festzustellen. Hier spiegelt sich die tiefe Unzufriedenheit zahlreicher Sozialwissenschaftler und insbesondere auch Ökonomen, dass das Bruttoinlandsprodukt die zunehmenden Probleme der sozialen, umwelt- und gesellschaftspsychologischen Befindlichkeiten nicht wiedergeben kann. Der Anstoß ging insbesondere von der Stiglitz-Sen-Fitoussi-Kommission (2009) aus, hier eine umfassende Reform der Messung von Lebensqualität und Lebenszufrie-

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denheit vorzunehmen. Man kann insbesondere das jetzt von der OECD implementierte Indikatorensystem des Better-Life-Index als Ergebnis dieser Bemühungen ansehen. Es zeigt sich jedoch bereits jetzt, dass diese Implementation durchaus eine Fülle von Problemen grundsätzlicher Art ausweist, die schwer zu überwinden sein werden. Ob daher mit einem raschen Erfolg – hinsichtlich der Akzeptanz in der breiten Öffentlichkeit und Politik – gerechnet werden kann, bleibt abzuwarten. Bisher bleiben doch erhebliche Zweifel, ob man hier einen grundlegenden Fortschritt erreicht hat. Vielleicht sollte man doch eher auf homogenere Indikatorensysteme zurückgreifen und auf die Bildung eines zusammengesetzten Indikators ganz verzichten. Jedenfalls gibt der jetzige des Better-LifeIndex auch kein größeres Politikverständnis, in welche Richtung die Politik verstärkt Ressourcen und Aktivitäten ausrichten soll. Indikatorensysteme sollten letztendlich aufgrund eines entsprechend zugrundeliegenden Systemzusammenhangs dessen wesentliche Merkmale und Interaktionen zwischen Politikvariablen und potentiellen Zielgrößen erfassen. Fehlt dieser Zusammenhang, dann sind die Erwartungen daran, dass man hiermit erfolgreich Politikgestaltung beeinflussen kann, irreführend. Es gilt immer noch der alte Grundsatz: Manchmal ist weniger mehr, d. h. fehlt ein Totalmodell für die wesentlichen gesamtgesellschaftlichen Interaktionsprozesse, dann sollte man auch nicht den Versuch unternehmen, dies durch ein höchst unvollkommenes Indikatorsystem vorzutäuschen.

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Probleme der Suche nach neuen Kenngrößen für den ökonomischen und sozialen Erfolg einer Gesellschaft – Korreferat zu Oliver Lerbs und Ulrich van Suntum – Von Jan S. Voßwinkel

I. Einleitung In ihrem Beitrag befassen sich Oliver Lerbs und Ulrich van Suntum mit neuen oder ergänzenden Kenngrößen für die Beurteilung des ökonomischen und sozialen Erfolgs einer Gesellschaft. Die Debatte über neue oder ergänzende Ziele und Kenngrößen hat sowohl auf der Seite der Politik als auch in der ökonomischen Literatur bis hin zur populärwissenschaftlichen Literatur in den letzten Jahren eine große Aufmerksamkeit erfahren. 1 In Ergänzung zu den von Lerbs und van Suntum genannten Quellen für die politische Bedeutung dieser Debatte sei auch auf die Mitteilung der Europäischen Kommission „Das BIP und mehr – Die Messung des Fortschritts in einer Welt im Wandel“ [KOM (2009) 433] hingewiesen.2 Zwar bezeichnet die Europäische Kommission das Bruttoinlandsprodukt (BIP) dort als „besten einzelnen Messwert“3 um die Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft zu messen, sieht aber Gründe, dass zusätzliche Indikatoren verwendet werden sollten.

II. Kenngrößen für wessen Erfolg? Wenn man sich mit Kennzahlen als Gradmesser für den „Erfolg einer Gesellschaft“ befasst, begibt man sich auf schwieriges Terrain. Erfolg kann eine Gesellschaft nur haben, wenn es klare Erfolgskriterien gibt. Eine freiheitliche Gesellschaft kann derartige Kriterien nur durch ihre Mitglieder erhalten. Aus ___________ 1

Vgl. u.a. Layard (2005); Frey/Frey Marti (2010); Frey/Stutzer (2010). Vgl. Langner (2009). 3 Europäische Kommission (2009), S. 11. 2

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Arrows Unmöglichkeitstheorem folgt, dass es unter Beachtung einiger grundlegender Prinzipien nur durch Einstimmigkeit möglich ist, aus den Erfolgsvorstellungen der Individuen auf eine Erfolgsskala der Gesellschaft zu schließen. 4 In einer pluralistischen Gesellschaft ist ein solcher Konsens über Ergebnisse von sozialen Prozessen kaum zu erwarten, insbesondere dann nicht, wenn ein immer ausdifferenzierteres Bündel von Erfolgskriterien verwendet werden soll. Üblicherweise wird man bei politisch relevanten Kennzahlen wie Bruttoinlandsprodukt (BIP), Alphabetisierungsrate, Kindersterblichkeit, Arbeitslosigkeit usw. allerdings weniger an den Erfolg einer Gesellschaft als holistische Entität, sondern an den Erfolg des politischen Führungspersonals denken. Kennzahlen können helfen, die Leistung einer gewählten Regierung zu messen. Im Rahmen der grundsätzlichen Informationsasymmetrie zwischen Bürgern (Prinzipalen) und Regierung (Agenten) können geeignete Kennzahlen Rechenschafts- und Kontrollprozesse zwischen Regierung und Bürgern vereinfachen. Allerdings dürften erhebliche Informationsasymmetrien zwischen Experten und Bürgern über das Zustandekommen der Kennzahlen herrschen. Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass auch diese Informationsasymmetrie durch Regierungen und Interessengruppen bei der Konkretisierung von Kennzahlendefinitionen und der Operationalisierung der notwendigen Messvorgänge zu jeweils eigenen Gunsten genutzt wird. Kennzahlen fungieren als Gradmesser für die Qualität politischer Führung durch Exekutive und Legislative entweder, weil es einen gesetzlichen Auftrag zur Erfüllung bestimmter in Kennzahlen ausgedrückter Ziele gibt (z. B. die Vorgaben aus dem Stabilitätsgesetz, die Einhaltung der Kriterien aus dem Stabilitäts- und Wachstumspakt usw.) oder weil die Erfüllung bestimmter Kennzahlen in der öffentlichen Debatte als Erfolg gilt (z. B. das Abschneiden im PISA-Ranking als Gradmesser für den Erfolg der Bildungspolitik). Wenn die Nichterfüllung eines gesetzlichen Auftrags nicht mit Sanktionen verbunden ist, dann erfüllen Kennzahlen eine entscheidungsleitende Funktion wohl nur dann, wenn ihnen auch in der öffentlichen Wahrnehmung eine hohe Bedeutung zugemessen wird. So ist es schon seit längerer Zeit erkennbar kein Ziel der Wirtschaftspolitik auf Bundesebene, ein außenwirtschaftliches Gleichgewicht herbeizuführen, auch wenn dies im Stabilitätsgesetz5 so vorgesehen ist. Deutschland hat vielmehr seit vielen Jahren anhaltende Exportüberschüsse. Ähnlich könnte es mit einer ins Stabilitätsgesetz eingefügten zusätzlichen Größe gehen: Sie könnte von der Verfolgung anderer Ziele dominiert werden. Wenn aber eine zusätzliche Zielgröße allein durch die Wahl des Namens, z. B. „Glück“, ___________ 4

Vgl. Arrow (1963); Buchanan/Tullock (1999 [1962]), S. 251. Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft vom 8. Juni 1967 (BGBl. I S. 582), das zuletzt durch Artikel 135 der Verordnung vom 31. Oktober 2006 (BGBl. I S. 2407) geändert worden ist. 5

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normativ hoch aufgeladen ist, könnte sich eine Dynamik ergeben, infolge derer die Verfolgung dieser Zielgröße wiederum die Verfolgung anderer Ziele dominiert.

III. Gibt es tatsächlich zu wenige Kenngrößen? In der Auseinandersetzung um ergänzende Kennzahlen im politischen Betrieb schwingt regelmäßig die Vorstellung mit, dass der derzeitige Vorrat an durch Kennzahlen ausgedrückten politischen Zielen zu sehr auf im engeren Sinne ökonomische Größen wie das BIP, die Inflation, die Arbeitslosigkeit usw. beschränkt ist und sich hierdurch auch politische Entscheidungen zu sehr an der Erfüllung dieser Zielgrößen zulasten anderer Ziele wie Umweltqualität, Zeitgestaltung der Bürger usw. orientieren. Unabhängig von der Frage, ob es angesichts von Kennzahlen aus den PISA-Studien, dem Frauenanteil in hierarchisch herausragenden Positionen, internationalen Vergleichen zur Lebensqualität usw. wirklich an nicht im engeren Sinne ökonomischen Kennzahlen fehlt, so dürfte doch die These, dass sich politische Entscheidungen der letzten Jahrzehnte zu sehr auf die Erfüllung eines kleinen Spektrums an Kennzahlen beschränkt hätten, kaum zu halten sein. Politische Parteien führen Wahlkämpfe nicht einzig um die Frage, auf welche Weise ein (ökonomisch eng definierter) Zielkatalog zu erfüllen ist. Insbesondere im ausdifferenzierten deutschen Parteiensystem unterscheiden sich politische Parteien auch gerade darin, welches Gewicht sie welchen denkbaren Zielen beimessen. Man versteht den Politikbetrieb zu statisch, wenn man in ihm einzig ein Abstimmen über gegebene Alternativen sieht. So wie auf Märkten erst entdeckt wird, „welche Dinge Güter sind“6 werden politische Gestaltungsalternativen erst im politischen Prozess entdeckt.7 Dieser Prozess sollte öffentlich und nachvollziehbar stattfinden.

IV. Nachteile aggregierter Kennzahlen Eine aus vielen verschiedenen Kennzahlen zusammengesetzte Superkennzahl würde den eben erwähnten Prozess kaum unterstützen können. Insofern ist der Auffassung von Lerbs und van Suntum über aggregierte Wohlfahrtsmaße zuzustimmen. Durch die Informationsverdichtung würden relevante Informationen über die Gewichtung einzelner Teilindikatoren geradezu herausverdichtet. Man stelle sich nur vor, ob es wirklich ein Informationsgewinn wäre, wenn ___________ 6 7

Hayek (1968). Vgl. Voßwinkel (2011), S. 83–85.

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man die vier Zielgrößen der Wirtschaftspolitik nach § 1 Stabilitätsgesetz – Stabilität des Preisniveaus, hoher Beschäftigungsstand, außenwirtschaftliches Gleichgewicht und stetiges und angemessenes Wirtschaftswachstum – in einer einzigen Kennzahl verdichten würde. Wäre dies ein Gewinn an handhabbarer Information, durch die sich die Leistungsfähigkeit von Politikern besser beurteilen ließe?

V. Spezifische Probleme neuer Kenngrößen Bekannte Kennzahlen wie BIP, Inflationsrate, Arbeitslosigkeit usw. weisen alle ihre eigenen Probleme hinsichtlich der theoretischen Vorstellung über die eigentlich zu messende Größe, hinsichtlich der Messmethoden und hinsichtlich der Interpretation der gemessenen Ergebnisse auf. Ihnen liegt aber eine gefestigte Vorstellung darüber zugrunde, was eigentlich gemessen werden soll. Bei der Diskussion um die Aufnahme von ergänzenden Zielgrößen wie z. B. selbstberichtete Zufriedenheit („Glück“), Chancengleichheit oder Verteilungsgerechtigkeit würde die konkret zu operationalisierende Kennzahl nicht auf einer gleichermaßen gefestigten Vorstellung aufbauen können. BIP, Inflationsrate, Arbeitslosigkeit usw. messen Phänomene, die einen Einfluss auf das Wohlbefinden von Personen haben können, selbst aber kein Indikator für das Wohlbefinden sind. Den ergänzenden Kennzahlen wird aber mitunter zugetraut, dass sie unmittelbar etwas über die Wohlfahrt aussagen. Ob dies den Diskurs um gute politische Entscheidungen wirklich befördern würde, ist durchaus fraglich: BIP, Inflationsrate, Arbeitslosigkeit usw. lassen Raum für abwägende Entscheidungsprozesse. Wenn es aber eine Kennzahl gibt, die unmittelbar Auskunft über die Wohlfahrt gibt, dann gibt es für solche Abwägungen, für einen Diskurs um Ziel-Mittel-Relationen, keinen Raum mehr. Die Wohlfahrt ist einfach zu maximieren. Man kann sich vorstellen, dass dies bald den Ruf nach wiederum neuen, ergänzenden Kennzahlen nach sich ziehen würde. In der Debatte um neue und ergänzende Kennzahlen, insbesondere aber in der Debatte um die Messung von „Glück“ (als selbstberichtete Zufriedenheit) findet eine alte Warnung kaum Beachtung: Es ist gefährlich, wenn Politik verspricht, Glück über eine Gesellschaft zu bringen.8 Diesem Gedanken liegt die Auffassung zugrunde, dass sich die Anwendung von Zwang als wesentliches Element der Politik dann rechtfertigen lässt, wenn sich so ein konkretes Übel beseitigen lässt (Armut, fehlende medizinische Versorgung im Krankheitsfall usw.). Zwang als Mittel zur Maximierung eines holistischen Wohlfahrtsbegriffs ___________ 8

Vgl. Popper (1992), S. 277.

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einer Gesellschaft ist aber dieser Auffassung zufolge mit einer offenen Gesellschaft nicht vereinbar. Die Debatte um neue Kennzahlen könnte ein guter Anlass sein, diese fundamentale Asymmetrie zwischen „Glück“ und „Unglück“ auch in der traditionellen Ökonomik neu zu diskutieren.

Literatur Arrow, Kenneth (1963): Social Choice and Individual Values, New York u.a.O. Buchanan, James M./Tullock, Gordon (1999 [1962]): The Calculus of Consent, Indianapolis, IN. Europäische Kommission (2009): Das BIP und mehr – Die Messung des Fortschritts in einer Welt im Wandel, Mitteilung KOM (2009) 433 v. 20. August 2009. Frey, Bruno/Frey Marti, Claudia (2010): Glück, die Sicht der Ökonomie, Zürich/Chur. Frey, Bruno/Stutzer, Alois (2010): Happiness and public choice, in: Public Choice 144, S. 557–573. Hayek, Friedrich August von (1968): Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, Kiel. Langner, Benedikt (2009): Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) und weitere Indikatoren, CEP-Analyse zur Mitteilung der Europäischen Kommission „Das BIP und mehr – Die Messung des Fortschritts in einer Welt im Wandel“ [KOM (2009) 433] v. 20. August 2009. Abrufbar unter http://www.cep.eu/analysen-zur-eu-politik/ weitere-themen/bip, zuletzt abgerufen am 21. Februar 2012. Layard, Richard (2005): Happiness. Lessons from a New Science, London. Popper, Karl R. (1992): Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Band 2: Falsche Propheten: Hegel, Marx und die Folgen, Tübingen. Voßwinkel, Jan S. (2011): Konstitutionelle Ökonomik und Wandel des fiskalischen Föderalismus in Deutschland, Frankfurt a.M. u.a.O.

Nachhaltiges Wachstum: Die Berücksichtigung ökologischer Fragestellungen bei der Wohlfahrtsmessung1 Von Mechthild Schrooten Wohlfahrtsmessung ist eine hochkomplexe Angelegenheit. Dies spiegelt sich nicht zuletzt in der Schaffung diverser prominent besetzter Kommissionen zur Entwicklung und Berechnung entsprechender Indikatoren.2 In Deutschland sollen solche Fragen in der Enquetekommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft“ diskutiert werden. Unstrittig ist, dass die natürlichen Ressourcen dieser Erde begrenzt sind. Auch der Erkenntnishorizont der Ökonomie als Wissenschaft ist limitiert. Angesichts der methodischen Problematiken bei der Wohlfahrtsmessung wird bislang auf die Messung des Wirtschaftswachstums ausgewichen, wenn es um Fragen wie Lebensqualität und Wohlstand geht. Dabei scheinen Mathematisierungs- und Formalisierungsbestrebungen die Präzision wissenschaftlicher Ergebnisse zu erhöhen. Vernachlässigt wird jedoch oft, dass durch Komplexitätsreduktion gewonnene Erkenntnisse nicht zwangsläufig zur erfolgreichen Realitätsbewältigung geeignet sind. Die Suche nach den Determinanten des Wirtschaftswachstums stand schon bei den frühen Ökonomen im Mittelpunkt der theoretischen Überlegungen. Als wichtige Bestimmungsgrößen der lang- und kurzfristigen gesamtwirtschaftlichen Dynamik werden Investitionen, Sparen, staatliche Aktivitäten, technischer Fortschritt und Bildung gesehen.3 Im Wesentlichen wird der Einsatz der Produktionsfaktoren Arbeit, Boden und Kapital analysiert. Die Natur und vorhandene natürliche Ressourcen werden in der Regel unter den Produktionsfaktor Boden gefasst. Insofern sind der ökonomischen Wachstumstheorie im Grund___________ 1

Der vorliegende Beitrag wurde auf der Tagung „Glück und Effizienz“ vorgestellt und diskutiert. Der Teilnehmerin und den Teilnehmern ebenso wie den Korreferenten sei an dieser Stelle für ihre Hinweise und Anregungen gedankt. Dank geht auch an Anna Brandt und Stefan Gruber für das Korrekturlesen. 2 Vgl. z. B. OECD (2011). 3 In den Wirtschaftswissenschaften wird zwischen „Konjunktur“ und „Wachstum“ unterschieden. Bei der „Konjunktur“ handelt es sich um die kurzfristige Veränderung der gesamtwirtschaftlichen Aktivitäten; beim „Wachstum“ um langfristige Prozesse.

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satz auch ökologische Fragen inhärent. Dennoch sind die Umwelt- oder Ressourcenökonomik relativ junge Zweige der bereits mehrere Jahrhunderte alten ökonomischen Wissenschaft. Der Begriff „nachhaltiges Wachstum“ wird oftmals der Ressourceneffizienz gleichgesetzt. Ressourceneffizienz über einen längeren Zeitraum zu sichern, erfordert es, auch über intertemporale Optimierungsstrategien nachzudenken. Anders ausgedrückt, die Lebensbedingungen zukünftiger Generationen sind bei gegenwärtigen Entscheidungen zu berücksichtigen. Damit hat Nachhaltigkeit im Kern ökonomische, ökologische und soziale Dimensionen. In diesem Beitrag geht es um den Stellenwert ökologischer Fragestellungen in der aktuellen Wachstums-, Wohlstands- und Wohlfahrtsdebatte. Dabei wird ein integrativer Ansatz gewählt, der es ermöglicht, neben ökonomischen und ökologischen Fragestellungen zumindest ansatzweise soziale Dimensionen zu berücksichtigen.

I. Theoretische Vorüberlegungen Die ökonomische Standardtheorie gibt kaum Antworten auf ökologische und soziale Fragen.4 Vielmehr werden diese Aspekte mit dem Verweis auf ihren normativen Charakter weitgehend ausgeblendet. So nutzen die traditionellen neoklassischen Wachstumsmodelle eine Produktionsfunktion als Grundlage, die auf den beiden Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital basiert.5 In dieser Modellwelt gelten die beiden Produktionsfaktoren als vollständig substituierbar. Wesentlich für die neoklassische Betrachtungsweise sind die Grenzerträge und damit Erträge, die auf die letzte Einheit des jeweils eingesetzten Produktionsfaktors entfallen. Grundsätzlich wird davon ausgegangen, dass die Grenzerträge mit der eingesetzten Menge von Arbeit und Kapital abnehmen. Wo kommt in diesem Zusammenhang das Wirtschaftswachstum her? Zum einen geht es auf Effizienzsteigerungen zurück. Zum anderen aber ist gerade die Effizienzsteigerung oft an technischen Fortschritt gebunden; genau der kann aber mit den traditionellen Wachstumsmodellen nicht erklärt werden. Daher setzen modernere wachstumstheoretische Modelle auf seine Endogenisierung – der technische Fortschritt wird dann zumindest teilweise in einen Zusammenhang mit Investitionen in Humankapital oder mit sinkenden Transaktionskosten gestellt. Dies geschieht beispielsweise, indem der „schöpferische Unternehmer“6 ___________ 4

Einen guten Überblick über die Diskussion bietet Schmidt (2005). Die moderne Wachstumstheorie basiert in ihren wesentlichen Annahmen auf den Arbeiten von Robert Solow. Vgl. Solow (1956). 6 Wesentliche Impulse gehen dabei von den Arbeiten Schumpeters aus. Vgl. Schumpeter (2006). 5

Nachhaltiges Wachstum: Die Berücksichtigung ökologischer Fragestellungen 201

oder aber die Bereitstellung moderner Finanzprodukte bei der Modellierung berücksichtigt werden.7 Umwelt und Natur werden in diesen Modellen in der Regel als kostenlose Güter betrachtet; sie gehen folglich nicht in die Modellwelt ein. Die meisten Wachstumsmodelle verzichten auch auf die Einbeziehung von Geld – schließlich geht es beim Wachstum um realwirtschaftliche Prozesse. Die auf neoklassischen Grundannahmen beruhende Ressourcen- und Umweltökonomik versucht, die Vernachlässigung von Natur und Umwelt bei der ökonomischen Analyse in der hergebrachten Wirtschaftswissenschaft zu heilen. Im Mittelpunkt stehen die eingesetzten „natürlichen“ Ressourcen und deren optimale Verwendung, auch im intertemporalen Vergleich. Dabei wird zwischen erneuerbaren und nicht-erneuerbaren Ressourcen unterschieden. In diesen Modellen resultiert aus der Erneuerbarkeit von Ressourcen, dass ein Verzicht auf ihren Einsatz kaum sinnvoll erscheint. Anders dagegen verhält es sich bei den nicht-erneuerbaren Ressourcen.8 Es wird davon ausgegangen, dass aus der Verknappung der Ressource im Zeitverlauf ein Wertzuwachs resultiert. Die Ressource selbst wird in diesem Zusammenhang als eine alternative Kapitalanlageform begriffen. Die Entscheidung über die Ressourcenausbeutung wird annahmegemäß von den Eigentümern getroffen. Das zugrunde liegende Kalkül scheint simpel. Der erwartete Wertzuwachs der Ressource und damit die veränderte Zahlungsbereitschaft der Nachfrager werden dem Zins gegenübergestellt, der auf dem Finanzmarkt zu realisieren ist. Die Eigentümer sind also solange indifferent bezüglich der Anlageform, wie der Marktzins dem erwarteten Wertzuwachs entspricht. Nach der so genannten Hotelling-Regel gilt, dass wenn der erwartete Wertzuwachs der Ressource über dem Zins liegt, die Ressourcenausbeutung unattraktiv ist.9 Letztendlich werden hier Argumente aus der Finanzierungstheorie herangezogen. Zins und erwarteter Wertzuwachs stellen die entscheidenden Vergleichsgrößen dar.10 ___________ 7

Vgl. z. B. Pagano (1993). Hotelling war der erste Ökonom, der versuchte, Entscheidungsregeln bei der Verwendung von nicht-erneuerbaren Ressourcen aufzustellen. Dabei wurden auch intertemporale Allokationsentscheidungen berücksichtigt. Der Ansatz ist inzwischen vielfach verfeinert worden und stellt ein Standardtool der Umwelt- und Ressourcenökonomik dar. Vgl. Hotelling (1931). 9 Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass die Eigentumsrechte klar definiert sind. Ferner wird angenommen, dass unter vollständiger Konkurrenz operiert wird und die Grenzkosten der Ressourcenextraktion für alle Ressourceneigentümer gleich sind. Mindestens die Annahme vollständiger Konkurrenz ist angesichts der faktischen Verteilung vorhandener Rechte an Ressourcen problematisch. 10 Demnach müssten von der Niedrigzinspolitik der Zentralbanken im Gefolge der Finanzkrise 2008/09 dämpfende Impulse auf den Ressourcenabbau und damit Ressourcenverbrauch ausgehen. 8

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Ein Strang der Ressourcen- und Umweltökonomik versucht die „externen Effekte“ wirtschaftlichen Handelns einzubeziehen. Bei externen Effekten handelt es sich um die Folgen der wirtschaftlichen Aktivität eines Akteurs für einen anderen – also etwa um die Folgen der Emission von Schadstoffen. Für diese Folgen gibt es keinen originären Markt; vielmehr liegt hier Marktversagen vor. Folglich ist staatliche Intervention gefordert. Selbst bei einer Argumentation im neoklassischen Modellrahmen muss der Staat im Falle externer Effekte aktiv werden, um dem Marktversagen entgegenzutreten. Faktisch kann er beispielsweise den Verursacher mit einer entsprechenden Steuer belasten und somit in die Gewinnmaximierungsstrategie eines Unternehmens eingreifen. Letztendlich könnte der Staat aber auch den Verursacher oder aber die Leidtragenden mit entsprechenden Rechten ausstatten und diese Rechte handelbar machen. Ein weiterer Zweig der Umwelt- und Ressourcenökonomik argumentiert vor dem Hintergrund der Tatsache, dass in der Vergangenheit als öffentliche und freie Güter betrachtete Güter – wie beispielsweise gute Luft und sauberes Wasser – zunehmend zu privaten Gütern und damit vielfach zu handelbaren Waren werden. Im Unterschied zu privaten Gütern, die im Mittelpunkt der traditionellen Ökonomik stehen, zeichnen sich öffentliche Güter durch die Nichtausschließbarkeit und die Nichtrivalität im Konsum aus. Private Güter dagegen sind gerade durch die Ausschließbarkeit derer charakterisiert, die nicht für das Gut zahlen wollen. Der technische Fortschritt und die zunehmende Digitalisierung schaffen immer mehr Möglichkeiten, Menschen vom Konsum von vormals als „öffentlich“ betrachteten Gütern auszuschließen. Folglich nimmt aktuell die Anzahl der öffentlichen Güter permanent ab. Im Gefüge zwischen reinen öffentlichen und reinen privaten Gütern finden sich Allmendegüter („common resources“). Bei Allmendegütern liegen die relevanten Eigentumsrechte nicht bei einem einzelnen Wirtschaftssubjekt sondern bei einer Gruppe von Akteuren. Folglich handelt es sich um solche Güter, von denen einzelne Gruppenmitglieder nicht oder nur zu hohen Kosten ausgeschlossen werden können. Zugleich liegt eine graduelle Rivalität im Konsum vor. Dies kann zu einer Übernutzung der gemeinsamen Ressourcen führen. Die Nobelpreisträgerin Ostrom hat gezeigt, dass sich zwischen den Akteuren Spielregeln vereinbaren lassen, die auch im Fall von Allmendegütern zu einer optimalen Ressourcennutzung führen.11 Geld als Transaktionsmittel spielt dabei gar keine Rolle. ___________ 11

Vgl. Ostrom (1990). Demnach sind in sieben Bereichen spezielle Spielregeln zu vereinbaren: (1) Ausschluss von Nichteigentümern muss möglich sein, (2) Regeln zur Nutzung der Allmenderechte, (3) Regeln zur Anpassung an eine sich verändernde Gesamtsituation, (4) Monitoring/Aufsicht über die Regeleinhaltung, (5) Sanktionsmechanismen mit Eskalationsstufen, (6) Regeln zur Konfliktlösung und (7) Anerkennung der

Nachhaltiges Wachstum: Die Berücksichtigung ökologischer Fragestellungen 203

Dabei erleichtert die Existenz von Geld die intertemporale Ressourcenallokation. In der Standardökonomie werden dem Geld die Funktionen als Tauschmittel, Zahlungsmittel, Wertaufbewahrungsmittel und als Maßeinheit zugeschrieben. Es wird angenommen: Der Tausch findet unmittelbar, d. h. in einem Zug, statt – oder anders ausgedrückt: Geld wird direkt gegen ein Gut getauscht. Im Unterschied dazu ermöglicht die Zahlungsmittelfunktion des Geldes das zeitliche Auseinanderfallen von Transaktionen. Kurzum: Ein Gut kann gegen eine zukünftige Geldzahlung – also gegen ein Zahlungsversprechen bzw. eine Schuld – getauscht werden. Geld erleichtert also das Eingehen von Zahlungsversprechen und damit die intertemporale Transaktion. Eine wesentliche Voraussetzung für die Akzeptanz eines Zahlungsversprechens durch Gläubiger ist die Geldwertstabilität und damit die Wertaufbewahrungsfunktion des Geldes. Diese ist nur dann gesichert, wenn die Inflation auch über einen längeren Zeitraum gering ist. In einer modernen Volkswirtschaft ist die Zentralbank für die Sicherung der Wertaufbewahrungsfunktion der heimischen Währung zuständig. Es wird davon ausgegangen, dass diese sowohl durch die Zinspolitik als auch durch die Geldmengenpolitik gesichert werden kann. Schwieriger als die Sicherung der Wertaufbewahrungsfunktion nach „innen“ – also die Inflationsbekämpfung – ist die Sicherung der Wertaufbewahrungsfunktion nach „außen“. Heute verfügen etliche Staaten über einen flexiblen Wechselkurs gegenüber den wichtigsten Leitwährungen, US-Dollar, Euro und Yen. Die konkrete Währung, in der die Transaktionen in einer Volkswirtschaft oder aber zwischen Volkswirtschaften abgewickelt werden, kann dabei auch als ein Kommunikationsmedium begriffen werden.12 Geld, seine Funktionen und die Analyse von Transaktionen auf dem Finanzmarkt lassen den Eindruck entstehen, dass intertemporale Transaktionen, ebenso wie die Bewertung relativer Knappheit, mittels ökonomischer Modellbildung gefasst werden können. Vor diesem Hintergrund scheint auch die Möglichkeit zu bestehen, ökologische Fragestellungen in ökonomischen Modellen zu berücksichtigen, indem eine Bewertung in Geldeinheiten vorgenommen wird. Zwar wird immer wieder die Forderung nach interdisziplinären Analyseansätzen erhoben; faktisch sind die einzelnen sozial- und naturwissenschaftlichen Disziplinen bislang nur wenig verzahnt. Methodisch stößt ein solches Vorgehen in der Praxis auf erhebliche Grenzen. Denn letztendlich setzen die vorgestellten ökonomischen Ansätze auf eine Integration ökologischer Fragen in die neoklassische Modellwelt und damit auf eine marktwirtschaftlich fundierte Lösung der ___________ von den Allmendeeigentümern gesetzten Regeln durch die rechtlichen Rahmenbedingungen. Elinor Ostrom hat für ihre Arbeiten zu Allmende und der Nutzung natürlicher Ressourcen 2010 den Nobelpreis erhalten. 12 Der Soziologe Niklas Luhmann hat darauf hingewiesen, dass Geld in der modernen Gesellschaft letztendlich die Funktion eines Kommunikationsmittels übernimmt. Vgl. Luhmann (1988).

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mit wirtschaftlichen Prozessen verbundenen ökologischen Probleme. In diesem Zusammenhang liegt es nahe, die Integration ökologischer Fragestellungen in die Standardökonomie durch die Berücksichtigung unterschiedlicher Kapitalformen zu forcieren. So kann beispielsweise in Analogie zum Sachkapital und Humankapital auch vom natürlichen (Umwelt) und sozialem Kapital gesprochen werden. Hier schließt sich scheinbar der Kreis. Denn mittels der Standardökonomie kann formal unter Berücksichtigung unterschiedlicher Kapitalformen der optimale Kapitaleinsatz – und möglicherweise sogar ein optimaler Kapitalmix bestimmt werden. Bei einem solchen Vorgehen wird nach der Integration der Dimensionen „Ökologie“ und „Soziales“ eine Lösung im neoklassischen Modellrahmen gesucht. Der Fokus liegt damit weiterhin bei der Analyse von Marktprozessen; die eigentlichen Erkenntnisgrenzen des ökonomischen Modellrahmens werden so nicht gesprengt. Genau dieses Vorgehen, also die Erweiterung neoklassischer Rahmenargumentationen um Einzelaspekte, ist seit vielen Jahren typisch für die wirtschaftswissenschaftliche Debatte. Dabei werden regelmäßig Kernpunkte einer zeitgeistabhängigen wirtschaftswissenschaftlichen Diskussion in den traditionellen, neoklassisch fundierten Modellrahmen integriert, ohne substantielle Veränderungen vorzunehmen. Eine Analyse, die auf ein solches Vorgehen setzt, bleibt auch immer in den Grundannahmen der neoklassischen Modells gefangen – der Erkenntnishorizont ist eo ipso begrenzt. Anders ausgedrückt: Hier wird mittels im 19. Jahrhundert entwickelter Konzepte von nationalstaatlicher Orientierung, technischem Fortschritt, Leistungsorientierung und -bewertung versucht, die Zukunft zu gestalten, und damit eine Lösung für die Probleme des 21. Jahrhunderts zu finden. In der Praxis stößt dieses Vorhaben zunehmend an seine Grenzen. Letztendlich versucht die ökonomische Wissenschaft mittels altgedienter Instrumente für hochkomplexe, zukunftsrelevante Problemfelder Handlungs- und Politikempfehlungen zu entwickeln. Das muss als problematisch gelten.

II. Auf der Suche nach angemessenen Indikatoren Die Fokussierung auf das Wirtschaftswachstum bei der Wohlstands- und Wohlfahrtsmessung wird seit langem in Frage gestellt. Dies liegt nicht nur an der Tatsache, dass in die Berechnung des Bruttoinlandsprodukts nur solche Transaktionen eingehen, die über den offiziellen Markt abgewickelt werden; weite Bereiche der Familienarbeit und sozialer Transaktionen sind aus der Betrachtung ausgeklammert. Vielmehr wird zunehmend dieses Brutto-Konzept in Frage gestellt. Tatsächlich gab es bereits in den 1960er Jahren erste Ansatzpunkte, die Grundorientierung „Wirtschaftswachstum“ durch das Konzept „Lebensqualität“ zu ersetzen. Lebensqualität geht weit über materiellen Wohlstand hinaus. Vordergründig lässt sich der breit gefasste Begriff „Lebensqualität“ am ehesten mit dem ökonomischen Terminus der „Wohlfahrt“ verbinden. Im We-

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sentlichen geht es bei dem Wohlfahrtskriterium um die aggregierte und intertemporale Nutzenmaximierung in einer Volkswirtschaft. Zentrale Fragen der alt hergebrachten Wohlfahrtstheorie sind der optimale Ressourceneinsatz, die optimale Produktionsfunktion und die optimale Einkommensverteilung in einer Gesellschaft. Wohlfahrtsoptimierung erfordert demnach Wirtschaften unter Berücksichtigung von Restriktionen, die durch die Natur und das gesellschaftliche Miteinander gegeben sind. Wohlfahrtsoptimierung kann auch die Berücksichtigung von Interessen zukünftiger Generationen bedeuten. Über lange Zeit fanden Wohlfahrtsanalysen und Untersuchungen zur Nachhaltigkeit von Wirtschaftswachstum weitgehend unabhängig voneinander statt. Ein erster Ansatz, beide Konzepte zusammenzuführen, wurde vom Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie 1996 vorgestellt. Dabei wird zwischen materiellem und immateriellem Wohlstand unterschieden.13 Allerdings argumentiert auch dieser Ansatz vor dem Hintergrund des Grenznutzenkonzeptes; demnach nimmt der Grenznutzen aus materiellen Gütern mit dem Einkommensniveau ab.14 Es kommt daher nicht von ungefähr, dass die Debatte um Lebensqualität, Wirtschaftswachstum und Wohlfahrt in Zeiten abnehmender bzw. vergleichsweise geringer gesamtwirtschaftlicher Zuwachsraten geführt wird. Letztendlich wird dabei die Substituierbarkeit von materiellen und immateriellen Gütern als ein Ansatzpunkt für eine nachhaltige Wirtschaftspolitik gesehen. Diese Simplifizierung bietet eine Chance, die neoklassische Modellökonomie um wesentliche Aspekte – nämlich immaterielle – zu erweitern. Letztendlich dient dies auch dazu, gesellschaftlich relevante Dimensionen miteinander zu verknüpfen, ohne auf der wissenschaftlichen Ebene tatsächlich interdisziplinär arbeiten zu müssen. Vielmehr wird so eine Hegemonialstellung ökonomischer Analysen über ökologische und soziale zementiert. Folglich kommt es bei diesem Vorgehen zwar zu neuen Erkenntnissen. Diese sind allerdings weiterhin stark von den Modellannahmen der neoklassischen Ökonomik geprägt. Dabei ist zu beachten: Auch unter Einbeziehung ökologischer und sozialer Dimension ist die Beantwortung komplexer gesellschaftspolitischer Fragestellungen mit einer Weltsicht des homo oeconomicus nicht möglich.15 Folglich können aus dieser, eher auf traditionellen ökonomischen Modellen ___________ 13

Wilke (2003). Die neoklassische Theorie kann zeigen, dass das so genannte Pareto-Optimum ohne die Existenz eines Staates erreicht werden kann. Beim Pareto-Optimum handelt es sich um eine Situation, in der es nur eine Besserstellung durch die Schlechterstellung eines anderen Marktteilnehmers gibt (Optimierung unter Nebenbedingungen). Dies wäre dann das gesamtgesellschaftliche Wohlfahrtsoptimum. Wesentliche Kritikpunkte an dieser Wohlfahrtsbetrachtung ergeben sich aus den Modellannahmen – wie beispielsweise das Vorhandensein von vollständiger Voraussicht für alle Akteure. 15 Auch keynesianisch ausgerichtete Makromodelle beziehen bestenfalls ansatzweise ökologische Fragestellungen in ihre Betrachtung ein. 14

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basierenden Argumentation kaum klare Indikatoren für eine entsprechende Wirtschaftspolitik abgeleitet werden; dies gilt insbesondere für eine nachhaltige Wirtschaftspolitik. Als nachhaltig gilt eine Entscheidung dann, wenn sie einerseits die Lebensqualität der aktuellen Generation sichert, aber auch zukünftigen Generationen Wahlmöglichkeiten zur Gestaltung ihres Lebens offen hält.16 Eine verbindliche Definition des Begriffes „Nachhaltigkeit“ ist bislang nicht gelungen. Dies erschwert auch internationale Vergleiche. Zugleich ist zu beachten, dass zwischen den drei Säulen der Nachhaltigkeit im engeren Sinne – ökonomisch, ökologisch und sozial – Zielkonflikte vorhanden sein können. Wie sind dann, wenn soziale, ökologische und ökonomische Optimierungsstrategien zueinander im Widerspruch stehen, Wohlstand, Wohlfahrt und Nachhaltigkeit zu sichern?17 Tatsächlich bestehen zumindest in der kurzen Frist systematische Trade-offs zwischen ökologischen, sozialen und ökonomischen Zielen. Dies liegt vor allem daran, dass die ökologische und soziale Räson vielfach die Marktergebnisse in Frage stellt. Dazu kommt, dass sich gerade ökologische Auswirkungen menschlichen Handelns oftmals nicht regional oder national begrenzen lassen. Damit steht das gesamte Konzept der Volkswirtschaftslehre in Frage, in deren Mittelpunkt immer die Analyse eines klar abgegrenzten Wirtschaftsraums steht.18 Indikatoren sollen Informationen über Zustände liefern. Wünschenswert sind Indikatoren, die klare Klassifizierungen zulassen – etwa vergleichbar zu den Resultaten eines Lackmustests. Grundlage der Auswertung des Lackmustests ist die klare Definition von „sauer“ und „basisch“. Die Entwicklung von Nachhaltigkeitsindikatoren krankt schon im ersten Schritt daran, dass der zugrunde liegende Begriff, Nachhaltigkeit, bislang keine verbindliche Definition erfahren hat. Folglich wird bei der Entwicklung von Nachhaltigkeitsindikatoren im Nebel des wissenschaftlichen Diskurses gestochert.

___________ 16

Vgl. WCED (1987). Aktuell scheinen der ökonomischen und ökologischen Dimension der Nachhaltigkeit höhere Gewichte zuzukommen als etwa der sozialen Dimension. Insbesondere wird Nachhaltigkeit in der Öffentlichkeit eher selten direkt in einen Zusammenhang mit einer Umverteilung von „reich“ nach „arm“ gleichgesetzt. Vielmehr wird der Begriff eher im Kontext mit Kürzungen staatlicher Sozialtransfers genutzt. So ist bei etwa bei der Rente in Deutschland ein so genannter Nachhaltigkeitsfaktor eingeführt worden, der faktisch eine Absenkung des Rentenniveaus nach sich zieht. 18 „Die Gegenüberstellung von Natur und Gesellschaft ist eine Konstruktion des 19. Jahrhunderts, die dem Doppelzweck diente, die Natur zu beherrschen und zu ignorieren. Natur ist unterworfen und vernutzt am Ende des 20. Jahrhunderts …“ Beck (1986), S. 9. 17

Nachhaltiges Wachstum: Die Berücksichtigung ökologischer Fragestellungen 207

In der Praxis werden Indikatoren oftmals vor dem Hintergrund bestehender Datenlimitationen konstruiert.19 Prinzipiell können Datensätze, die auf unterschiedlichen Dimensionen fußen, durchaus kombiniert werden. So ist es denkbar, etwa einen Indikator CO2-Emission in kg/BIP in Euro zu konstruieren. Für jeden einzelnen Indikator ist seine Aussagekraft zu hinterfragen.20 Bei funktionsfähigen Indikatoren kann zwischen Früh- und Spätindikatoren unterschieden werden. Auf der Grundlage von Indikatorensets können auch Frühwarnsysteme entwickelt werden, die auf das Risiko einer krisenhaften Zuspitzung oder eine deutliche Abweichung vom gewünschten Entwicklungspfad hinweisen. Dazu muss allerdings erst einmal festgelegt werden, wie der gewünschte Entwicklungspfad aussieht. In der Nachhaltigkeitsdebatte schlägt dabei die fehlende klare Definition des entscheidenden Begriffes deutlich zu Buche. Gelegentlich entsteht der Eindruck, dass angesichts fehlender Kreativität und fehlenden Mutes traditionelle ökonomische Indikatoren zu Instrumenten der Nachhaltigkeitsmessung gemacht werden. Hier ist ein Missbrauch nicht unwahrscheinlich. Das Heranziehen dieser Datensätze kann zudem die Basis zu tiefgreifenden, wenn auch ungewollten Fehlinterpretationen bieten. Folglich stellt die Frage, wie sich sinnvolle Indikatoren zur Identifizierung nachhaltigen Wirtschaftswachstums konstruieren lassen, ein hochkomplexes Unterfangen dar. Dies gilt umso mehr, als solche Indikatoren in der Praxis nicht weniger als eine Bewertung des menschlichen Zusammenlebens ermöglichen sollen.

III. Empirie: Wirtschaftswachstum ≠ Wohlstand ≠ Nachhaltigkeit 1. Wirtschaftswachstum ≠ Wohlstand Ökonomische Standardindikatoren zur Beurteilung der gesamtwirtschaftlichen Aktivität liefert die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung (VGR). Zwar reichen die ersten Ansätze zur statistischen Erfassung wirtschaftlicher Aktivitäten weit in die Menschheitsgeschichte zurück. Die systematische Darstellung der gesamtwirtschaftlichen Aktivität in Form von Konten und Input-OutputTabellen wurde allerdings erst im Gefolge der Wirtschaftskrise 1929 vorangetrieben. Heute erfassen alle 187 Mitgliedsstaaten des Internationalen Währungsfonds ihre gesamtwirtschaftlichen Aktivitäten auf der Grundlage eines einheitlichen Schemas; diese Datensammlung ermöglicht nicht nur intertempo___________ 19 Vielfach werden dazu Kettenindices gebaut, die auf einem Basisjahr aufsetzen. Bei der Interpretation eines solchen Indexes ist zu hinterfragen, ob es sich dabei um Durchschnittswerte in einem Jahr oder die Werte zum Jahresende handelt. 20 Ein Indikator, der allein die CO2-Emission betrachtet, greift beispielsweise zu kurz, wenn es um die Beurteilung der CO2-Intensität wirtschaftlicher Aktivitäten geht.

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rale, sondern auch internationale Vergleiche. Im Mittelpunkt der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung steht das Bruttoinlandsprodukt, also die Berechnung dessen, was in einem abgegrenzten Wirtschaftsraum in einem bestimmten Zeitraum produziert, statistisch registriert und auf Märkten sichtbar gehandelt wird. Die Berechnung wird aus drei Perspektiven vorgenommen: Entstehung, Verwendung und Verteilung. Auf der Entstehungsseite werden die wirtschaftlichen Aktivitäten der unterschiedlichen Sektoren wie etwa der Industrie und des Dienstleitungssektors erfasst. Bei der Verwendungsrechnung geht es um Investitionen, Konsum, Staatsausgaben, Exporte und Importe. Bei der Verteilungsrechnung steht die Differenzierung zwischen Lohneinkommen und Gewinnen im Mittelpunkt. Wirtschaftswachstum bedeutet nichts anderes als einen steigenden gesamtwirtschaftlichen Output. Es geht dabei um Bruttogrößen. Abschreibungen, die es ermöglichen würden, den Nettozuwachs zu beurteilen, werden bei einer solchen Berechnung ebenso wenig wie der effiziente Ressourceneinsatz berücksichtigt. Der Output selbst wird üblicherweise in Marktwirtschaften in Geldeinheiten gemessen; nicht erfasst werden alle Aktivitäten, die nicht über den Markt oder über die so genannte „offizielle“ Ökonomie abgewickelt werden. Dazu gehören nicht nur schattenwirtschaftliche Aktivitäten, sondern beispielsweise auch die unbezahlte Haus- und Familienarbeit. Um den intertemporalen Vergleich des Outputs zu ermöglichen, werden die in Geldeinheiten gefassten nominalen Werte um die Inflation bereinigt; es werden „reale“ Größen konstruiert. Im Jahr 2010 lag das Bruttoinlandsprodukt in Deutschland bei etwa 2 500 Mrd. Euro. Real – also bereinigt um die Inflation – war es gegenüber dem Vorjahr um 3,7 % gestiegen.21 Trotz der beachtlichen Zuwachsrate lag das Niveau des BIP 2010 noch leicht unter dem Vergleichswert aus der Vorkrisenzeit 2007/2008 (Abb. 1).

___________ 21

Statistisches Bundesamt (2011c). Auch im Jahresverlauf 2011 setzte sich der Aufwärtstrend fort, so war „das Bruttoinlandsprodukt (BIP) – preis-, saison- und kalenderbereinigt – im dritten Quartal 2011 nach vorläufigen Berechnungen um 0,5 % höher als im Vorquartal. Das Ergebnis für das zweite Quartal 2011 wurde zudem auf nun + 0,3 % nach oben korrigiert. Der Aufschwung der deutschen Wirtschaft setzte sich somit nach dem wachstumsstarken Jahresbeginn (+ 1,3 % im ersten Quartal) im Verlauf des Jahres 2011 weiter fort und nahm im Berichtsquartal wieder etwas mehr Fahrt auf.“

Nachhaltiges Wachstum: Die Berücksichtigung ökologischer Fragestellungen 209

Quelle: Statistisches Bundesamt.

Abbildung 1: Entwicklung des realen Bruttoinlandsprodukts, Deutschland (1991–2010), 2005 = 100

Das nominale Pro-Kopf-BIP lag rechnerisch in Deutschland 2010 bei etwa 30 500 Euro. Im Jahr 1980 waren es noch umgerechnet 10 800 Euro. Real, also unter Berücksichtigung der Preisentwicklung, ergeben sich für die beiden Vergleichsjahre 17.400 (1980) und 27.500 Euro (2010). Beides sind im internationalen Vergleich hohe Werte.22 Das reale Pro-Kopf-BIP hat in den letzten dreißig Jahren um etwa 60 % zugelegt. Auch in den letzten Jahren ist das Bruttoinlandsprodukt tendenziell in realer Messung gestiegen (Abb. 2). Ähnliches gilt für die anderen entwickelten Volkswirtschaften. Die Grenzen des Wirtschaftswachstums scheinen somit zumindest bei einer Fokussierung auf Standardindikatoren bislang nicht erreicht. Dies ist umso beachtlicher, als in den letzten Jahren ein beschleunigter Aufholprozess der so genannten emerging economies zu verbuchen ist – die weltweite Produktion von Gütern und Dienstleistungen steigt und steigt.23 Diese Zuwächse, aber auch die Entwicklung des Pro-Kopf-BIPs (Abb. 2) sagen nichts über die Einkommens- und Vermögensverteilung innerhalb einer ___________ 22

Zum internationalen Vergleich wird vielfach das Pro-Kopf-BIP gemessen in Kaufkraftparität herangezogen. Deutschland belegt hierbei seit Jahren einen Platz unter den ersten zehn Ländern. Vgl. International Monetary Fund (2011). 23 Bereits in den 1970er Jahren wurde eine systemkritische Wachstumsdebatte geführt. Vgl. Meadows (1972).

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Volkswirtschaft aus. Auch bieten beide Indikatoren bestenfalls erste Ansatzpunkte zur Beurteilung des Wohlstands eines Landes. Tatsächlich lassen sich belastbare Daten über persönliche Einkommensverhältnisse, Vermögen und Wohlstand wesentlich schwieriger generieren, als etwa ein Datensatz zur gesamtwirtschaftlichen Produktion. Dazu kommt, dass der Begriff „Wohlstand“ definitorische Fragen nach sich zieht. Aus Gründen der Vereinfachung wird er rasch dem Einkommen sowie Vermögen gleichgesetzt.24 Vorhandene Vermögen lassen sich nur schwer beziffern. Dies liegt einerseits an Bewertungsproblemen.

Quelle: Statistisches Bundesamt.

Abbildung 2: Entwicklung des Pro-Kopf Bruttoinlandsprodukts, Deutschland (2000–2010), in Preisen von 2000, in Tsd. Euro

Andererseits ist die Datenbasis relativ dünn. Dennoch werden immer wieder Anläufe unternommen und entsprechende Schätzungen vorgelegt. So beziffert das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) das Bruttovermögen der privaten Haushalte in Deutschland im Jahr 2007 auf rund 8 Billionen ___________ 24

Um diese definitorische Enge zu überwinden, wählt die EU Kommission einen eher interdisziplinären Ansatz bei der Ausformulierung und Entwicklung ihrer „Wellbeing 2030“ Strategie. „The project analyses the main policy areas that impact on citizens’ quality of life, with a particular emphasis on areas where there is a specific European policy interest. This includes labour market policies, health/lifestyles, education, demographics/migration, integration and inequalities, and public finances/financial sustainability.“ Dhéret/Zuleeg with Chiorean-Sime/Molino (2011). Ökologische Fragestellungen werden dabei weitgehend ausgeblendet.

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Euro. Zugleich hat das Nettovermögen, also das Bruttovermögen bereinigt um Verbindlichkeiten, bei immerhin noch 6,6 Billionen Euro gelegen. Dabei ist dieses Vermögen in Deutschland höchst unterschiedlich verteilt. Teilt man die Bevölkerung entsprechend ihres Vermögens in zehn gleichgroße Gruppen so zeigt sich, dass die am wenigsten Vermögenden netto mit Schulden konfrontiert sind. Die Gruppe der 10% Vermögendsten der Bevölkerung dagegen verfügte 2007 über mehr als 60% des privaten Gesamtvermögens.25Auch lässt sich zeigen, dass die Ungleichheit der Vermögensverteilung in den letzten Jahren zugenommen hat. Bereits durch Berücksichtigung dieses simplen Indikators wird deutlich, dass das realwirtschaftliche Wachstum nicht zwangsläufig zu mehr Wohlstand für alle führt. Vielmehr zeigt sich, dass es offenbar zu einer Umverteilung von „unten“ nach „ganz oben“ gekommen ist. Das obere Dezil konnte demnach seinen Anteil am Gesamtvermögen kräftig ausbauen (Tabelle 1). Tabelle 1 Vermögensverteilung in Deutschland (Nettovermögen) in Prozent des Gesamtvermögens* 2002

2007

1. Dezil

-1,2

-1,6

2. Dezil

0,0

0,0

3. Dezil

0,0

0,0







8. Dezil

11,8

11,1

9. Dezil

19,9

19,0

10. Dezil

57,9

61,1

* persönliches Nettovermögen. Lesehilfe: Die vermögendsten 10 % der deutschen Bevölkerung verfügen über 61,1 % des Gesamtvermögens. Quelle: SOEP.

Längst schon wurde versucht, die Lebensqualität in einer Gesellschaft zu messen. In diesem Rahmen wurden die zentralen methodischen Probleme der empirischen Sozialforschung – insbesondere das Spannungsfeld zwischen individuellen und gesamtgesellschaftlichen Kriterien, aber auch zwischen qualitativen und quantitativen Indikatoren deutlich.26 Ungleichheit bei der Einkom___________ 25

Vgl. Frick/Grabka (2009). Einen ersten Ansatzpunkt zur Beurteilung der Lebensqualität in einer Gesellschaft bietet der Human Development Index (HDI). In diesen gehen das Pro-Kopf-BIP, die Lebenserwartung und der Zugang zu Bildung ein. Die theoretische Fundierung erhält der HDI durch die Arbeiten von Martha Nussbaum und Amartya Sen. Beide haben den so genannten Capability-Approach entwickelt. Danach wird die Lebensqualität in einer Gesellschaft durch die Möglichkeiten der Individuen zur Entwicklung ihrer Fähigkeiten bestimmt. Bei der Berechnung des HDI werden ökologische Fragen weitgehend ausge26

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mens- und Vermögensverteilung lässt sich innerhalb von Gesellschaften, aber auch zwischen einzelnen Volkswirtschaften beobachten. Aktuell wird in diesem Jahrhundert die internationale Einkommensverteilung zwischen den so genannten entwickelten Volkswirtschaften und den emerging economies in Frage gestellt. 2. Wohlstand ≠ Nachhaltigkeit Bemühungen, Wohlstand, Wohlfahrt und Nachhaltigkeit bei ökonomischen Entscheidungen zu berücksichtigen, sind vor allem dann gefährdet, wenn eine entsprechende Datenbasis fehlt. Daher wurde die traditionelle VGR ergänzt, um so zu einer Umweltökonomischen Gesamtrechnung (UGR) zu gelangen.27 Prinzipiell ließen sich auch die mit den ökologisch-ökonomischen Prozessen verbundenen Transaktionen in Kontensystemen fassen; dabei könnten sie durchaus in physischen Einheiten dargestellt werden. Bevor sinnvolle Indikatoren zur Bestimmung nachhaltigen Wirtschaftswachstums entwickelt werden können, müssen die Einflussfaktoren auf eben diese spezielle Form des Wachstums bestimmt sein. Folglich ist die Ökonomie an entscheidenden Punkten auf die inhaltliche Unterstützung durch die Naturwissenschaften angewiesen. Dabei muss berücksichtigt werden, dass die Entwicklung ökologischer Kriterien zur Sicherung von Nachhaltigkeit bislang immer auch auf den Erhalt des ökonomischen Systems zielt – Systemgrenzen werden bislang nicht in Frage gestellt. Bis heute sind die Ergebnisse der UGR weit weniger in der öffentlichen Diskussion als die der vierteljährlich veröffentlichten Daten der VGR. Anders als die VGR stellt die UGR kein in sich geschlossenes Kontensystem dar; ein international einheitliches Accounting-System ist bislang nicht vorhanden. Dies erschwert Ländervergleiche erheblich. Vielmehr handelt es sich bei der UGR um ein Indikatorenset, in das nicht nur geldwerte Größen, sondern auch Mengenindikatoren eingehen. Tatsächlich sind die nationalen statistischen Ämter bei der Aufstellung einer UGR mit beachtlichen methodischen Problemen kon___________ blendet. Die UN liefert auf der Grundlage ihrer Berechnungen alljährlich ein Ranking der Volkswirtschaften und ermöglicht so den internationalen Vergleich. 27 „Welche Rolle spielt die Umwelt für die Ökonomie? Und welche Auswirkungen haben umgekehrt die wirtschaftlichen Aktivitäten auf die Umwelt? Mit diesen Wechselwirkungen beschäftigen sich die Umweltökonomischen Gesamtrechnungen (UGR) des Statistischen Bundesamtes. Die UGR haben das Ziel, drei Formen der Wechselwirkungen zwischen Wirtschaft und Umwelt zu beschreiben: Umweltbelastungen, Umweltzustand und Umweltschutzmaßnahmen. Die Grundidee ist, von der üblichen Beschreibung von Arbeit und Kapital in einer Volkswirtschaft auszugehen und diese Beschreibung um den ,Faktor Natur‘ zu ergänzen.“ Statistisches Bundesamt (2011b). http://www. destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/Navigation/Statistiken/Umwelt /Umwelt.psml. [stimmt nach Relaunch nicht mehr] (Zugriff: 24.11.2011).

Nachhaltiges Wachstum: Die Berücksichtigung ökologischer Fragestellungen 213

frontiert, die nicht zuletzt im Zusammenhang mit der fehlenden verbindlichen Definition des Begriffes „Nachhaltigkeit“ in Verbindung zu bringen sind.28 Nachhaltigkeit könnte darauf zielen, zukünftigen Generationen einen wertmäßig gleichen Ressourcenbestand zu sichern – dabei treten jedoch Bewertungsfragen auf. Insbesondere ist zu beachten, dass die Bewertung in Geldeinheiten eine nominale ist. Sie hängt immer mindestens auch von aktuellen Wertvorstellungen, der relativen Knappheit und der Inflation ab. Eine Bewertung ökologischer Prozesse in Geldeinheiten erleichtert also bestenfalls vordergründig die Analyse; tatsächlich birgt sie erhebliche methodische Probleme in sich. Dazu kommt, dass sich etliche ökologische Phänomene nicht auf nationalstaatlicher Ebene fassen lassen; alles, was die Lebensgrundlagen auf dieser Erde bedroht, bedroht langfristig auch die Eigentums-, Vermögens- und Einkommensverhältnisse. Für die Akzeptanz neuer Indikatoren ist die Nachvollziehbarkeit ihrer Konstruktion von Bedeutung. Das in der Bundesrepublik Deutschland eingesetzte Indikatorensystem zur Beurteilung des Phänomens „Nachhaltiges Wachstum“ setzt sich aus höchst unterschiedlichen Kenngrößen zusammen. Nicht nur die Energie- und Rohstoffproduktivität, die Artenvielfalt, sondern auch das ProKopf-BIP ebenso wie der Finanzierungssaldo der öffentlichen Haushalte gehen in das Indikatorenset ein. Diese Einzelindikatoren wirken relativ unverbunden und eklektisch zusammengestellt. Gemeinsam ist diesen Indikatoren jedoch, dass es sich um quantifizierbare Größen handelt; qualitative Fragen werden ausgeklammert. Gemeinsam ist vielen der vorgestellten Indikatoren zudem, dass kein klares Benchmarking und damit keine klare Zielgröße vorgegeben ist. Damit ist die Interpretation etlicher Indikatoren relativ frei gestaltbar. Gesunken sind nach Angaben des Statistischen Bundesamtes im Zeitverlauf die in Deutschland produzierten Treibhausgasemissionen [falsch: Anstieg von 2009 auf 2010; inzwischen neuere Zahlen: siehe Angabe unter der Tabelle]. Hier dürfte gerade in den Krisenjahren 2008/2009 der gesamtwirtschaftliche Einbruch zu Buche schlagen. Ähnliches gilt auch für die Schadstoffbelastung der Luft. Insgesamt jedoch lassen die vorgelegten „Umweltindikatoren“ erkennen, dass hier an bestehende Statistik angeknüpft wurde. Auch ist die Aussagekraft der Indikatoren in Bezug auf Nachhaltigkeit und ökologischen Wohlstand eher begrenzt. Interessant, aber auch verwirrend ist es, dass beispielsweise auch das Defizit der öffentlichen Haushalte gemessen in Prozent des Bruttoinlandsprodukts als Indikator herangezogen wird (Tabelle 2).

___________ 28

Ein wesentliches Forum zur Entwicklung einheitlicher Standards stellt „The London Group on Environmental Accounting“ dar. Vgl. dazu z. B. United Nations Statistics Division (2007).

214

Mechthild Schrooten Tabelle 2 Ausgewählte Nachhaltigkeitsindikatoren1

Indikator

Maßeinheit/Basisjahr

2000 20082 20092 20102

Treibhausgasemissionen

Basiswert3 = 100

83,3

78,4

73,5

...

Erneuerbare Energien Anteil am Primärenergieverbrauch

%

2,9

8,1

8,9

9,4

Anteil am Stromverbrauch (Brutto)

%

6,4

15,1

16,3

16,8

Anstieg der Siedlungs- und Verkehrsfläche

ha pro Tag

131

95

78

...

Staatsdefizit

in % des BIP

1,2

-0,1

3

3,3

Bruttoanlageinvestitionen/ BIP

%

21,5

19

17,6

17,9

BIP je Einwohner

in 1.000 EUR (Preise von 2000)

25,1

27,7

26,5

27,5

Gütertransportintensität

1999 = 100

99,7

116 108,1

...

Personentransportintensität

1999 = 100

95,8

92,3

97,9

...

Anteil des Schienenverkehrs an der Güterbeförderungsleistung

%

17,2

18,4

17,2

...

Anteil der Binnenschifffahrt an der Güterbeförderungsleistung

%

Stickstoffüberschuss4

kg/ha

Ökologischer Landbau

5

Schadstoffbelastung der Luft

% 1990 = 100

13,8

10,2

10

...

112,8

97,9

...

...

3,2

5,4

5,6

5,9

51,6

44,3

43,6

...

1

Stand Juli 2011. Vorläufige Ergebnisse (teilweise geschätzt). 3 Basisjahr ist 1990 für Kohlendioxid (CO2) Methan (CH4), Distickstoffmonoxid (N2O) und 1995 für HFCs, PFCs und Schwefelhexafluorid (SF6) (nach Kyoto-Protokoll). 4 Gleitender Dreijahresdurchschnitt, Bezug auf das mittlere Jahr. 5 Anteil an der landwirtschaftlichen Nutzfläche. ... = Angabe fällt später an. 2

Quelle: Statistisches Bundesamt.

In der Nachhaltigkeitsdebatte werden anknüpfend an ökonomische Standardindikatoren wie etwa die Arbeits- und Kapitalproduktivität so seit Jahren auch entsprechende Werte für die Energie- und Rohstoffproduktivität berechnet. Die Werte dieser als Kettenindices konstruierten Datensätze lassen erkennen, dass

Nachhaltiges Wachstum: Die Berücksichtigung ökologischer Fragestellungen 215

in den letzten Jahren sowohl die Energie- als auch die Rohstoffproduktivität gestiegen ist (Tabelle 3).29 Tabelle 3 Energie- und Rohstoffproduktivität 2000 Energieproduktivität Rohstoffproduktivität

2005

2006

2007

2008

126,7 128,8 138,3 138,8 120,6 134,2 132,3

2009

2010

140 138,6

138 141,2 146,8

...

[aktuellere Zahlen unter: https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesamtwirtschaftUmwelt/Umwelt/Umwelt oekonomischeGesamtrechnungen/Umweltindikatoren/Tabellen/Indikatoren.html] Quelle: Statistisches Bundesamt.

IV. Fazit Die Berücksichtigung ökologischer Fragestellungen in der Wachstumsdebatte und Wachstumsmessung kommt nur langsam voran. Auch im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts fehlt es an tragfähigen Definitionen, Konzepten und Daten. Die bisher vorgelegten Indikatoren ermöglichen kaum eine Wohlstandsmessung unter Berücksichtigung ökologischer Fragen. Diese bereits auf der nationalen Ebene erkennbaren Probleme verschärfen sich bei der internationalen Betrachtung. Ökologische, wirtschaftliche und soziale Risiken indes lassen sich angesichts der Globalisierung kaum auf nationalstaatliche Gebilde begrenzen. Allerdings gibt es Anhaltspunkte dafür, dass diesen Risiken in einkommensstärkeren Ländern besser entgegengetreten werden kann. Spätestens an diesem Punkt wird die ökologische Frage auch zu einer verteilungspolitischen. Gerade in Bezug auf Verteilungsfragen aber bieten die Wirtschaftswissenschaften nur unzureichende Ansatzpunkte zur Entwicklung einer Optimierungsstrategie. Vieles deutet derzeit darauf hin, dass eine nachhaltige Entwicklung ein vollständiges Umdenken dieser wissenschaftlichen Disziplin erfordert: Abkehr von einer an kurzfristiger Effizienz, Profit und gesamtwirtschaftlichen Bruttozuwachsraten orientierten Sichtweise und Hinwendung zu einer ganzheitlichen Sicht menschlicher Aktivitäten.

___________ 29

Die Messung der Produktivität einzelner Einflussfaktoren ist indes außerordentlich schwierig und zieht erhebliche methodische Probleme nach sich; die angegebenen Werte sind daher eher als Trend zu verstehen.

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Mechthild Schrooten

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Kein Glück ohne Nachhaltigkeit – Korreferat zu Mechthild Schrooten – Von Andreas Lienkamp

I. Zuvor Der Beitrag von Mechthild Schrooten bietet eine detaillierte Darstellung und Analyse der bisherigen, von ihr durchweg als defizitär bewerteten Bemühungen, ökologische Fragestellungen bei der Wohlfahrtsmessung angemessen zu berücksichtigen. Über diese kritische Bestandsaufnahme hinaus liefert der Aufsatz selbst leider kaum konkrete Vorschläge, wie dieser Mangel behoben werden könnte. Dies hängt sicherlich damit zusammen, dass die Konstruktion „sinnvoller Indikatoren zur Identifizierung nachhaltigen Wirtschaftswachstums“ in der Tat ein „hochkomplexes Unterfangen“ (Schrooten) darstellt. Das Hauptproblem liegt aus Sicht der Autorin darin, wie ein Set von allgemein anerkannten, nachvollziehbaren, sowohl quantitativen als auch qualitativen Erfolgsindikatoren bestimmt werden soll, wo doch noch nicht einmal ein Konsens darüber existiert, wie das Ziel einer nachhaltigen Entwicklung bzw. eines ebensolchen Wachstums sowie der gewünschte Pfad dahin aussehen sollen. Mehrfach, insgesamt fünfmal, beklagt die Autorin, dass es keine klare, verbindliche bzw. tragfähige Definition des Begriffs Nachhaltigkeit gebe. Folglich gleiche die Entwicklung entsprechender Indikatoren einem Stochern im Nebel. In diesem Koreferat aus dem Blickwinkel einer christlich-theologischen Ethik soll versucht werden, den Dunstschleier um das Wort „Nachhaltigkeit“ zumindest insoweit aufzulösen, dass der Blick auf seinen ursprünglichen Gehalt wieder möglich wird, von dem her jede Operationalisierung ihren Ausgang nehmen sollte. Diese kann allerdings nur in einem internationalen und interdisziplinären Diskurs geschehen, wie auch Frau Schrooten zu Recht anmahnt. Daran sollten allerdings nicht nur Sozial- und Naturwissenschaften beteiligt werden, denn diese können aus sich heraus zu dem ethischen Gehalt des Leitbildes Nachhaltigkeit nur begrenzt Stellung nehmen. Sie sollten darum Philosophie und Theologie, u.a. in Gestalt der Bio- und Wirtschaftsethik, als Gesprächspartnerinnen hinzuziehen, auch um sich über die normativen Implika-

218

Andreas Lienkamp

tionen der eigenen Aussagen, deren Begründung und Reichweite Klarheit zu verschaffen.

II. Nachhaltigkeit in der Bibel? Für einen christlichen Theologen und Ethiker liegt es nahe, einen Blick in die Bibel zu werfen1. Nachhaltigkeit selbst (in Gestalt einer althebräischen oder altgriechischen Entsprechung) taucht in der Schrift als Begriff nicht auf, wohl aber – avant la lettre – die Sache, um die es dabei geht. Nach der zweiten, älteren Schöpfungserzählung (Gen 2,4-25) hat Gott den Menschen (’ādām) aus dem Erdboden (’adāmā), d. h. aus Lehm geformt und ihm, dem Irdenen, Leben eingehaucht2. Homo sapiens wird theologisch demnach als ein von der Erde genommenes und somit erdverbundenes Wesen gedacht. In der vorangestellten jüngeren Schöpfungserzählung (Gen 1,1-2,3) erschafft die Gottheit ein Menschenpaar (’ādām) als sælæm, als Statue, die nach altorientalischer Vorstellung die Gottheit repräsentieren soll. Aber anders als im alten Ägypten oder Mesopotamien ist nicht ein Mensch (der König) lebendige Statue Gottes, sondern der Mensch. Jeder Mensch hat also die Aufgabe, als Stellvertreterin bzw. Stellvertreter Gottes in der Schöpfung zu wirken. Deren Eigentümer bleibt aber Gott selbst; dem Menschen ist das Land bzw. das Ökosystem lediglich als Leihgabe anvertraut. Nimmt man die beiden Erzählungen zusammen, so erhält der Mensch in Bezug auf seine Mitgeschöpfe von Gott zwei doppelte Aufträge, die sich – folgt man dem hebräischen Urtext – in feiner Komposition ergänzen. Nach Genesis 1 soll der Mensch über das Land und die Tiere gewaltfrei „herrschen“ (Gen 1,26.28) und „seinen Fuß darauf setzen“, was – entgegen früheren (Fehl-)Deutungen – als Geste des Schutzes, als beschützen zu verstehen ist (Gen 1,28). Nach Genesis 2 darf der Mensch den „Garten“ kultivieren, aber er soll ihm, der ein Bild für die irdische Schöpfung ist, nach der Hauptbedeutung des verwendeten Verbs dabei zugleich dienen (Gen 2,15) und ihn hüten, bewahren bzw. schützen (Gen 2,15)3. Lässt man den Kontext beiseite, stehen Herrschaft und Dienst hier in einer gewissen Spannung zueinander. Flankiert werden sie aber jeweils vom Auftrag, die Schöpfung zu schützen und zu bewahren. Außerdem ___________ 1

Die biblischen Weisungen beanspruchen nicht deshalb Geltung, weil sie in der Bibel stehen. Sie stehen vielmehr in der Bibel, weil sie vernünftig sind – nicht im Sinne einer bloßen Zweckrationalität, sondern im Sinne einer global, langfristig und ganzheitlich, d. h. die gesamte, dem Menschen zugängliche Schöpfung berücksichtigenden Vernunft. Diese kann nicht nur von Jüdinnen und Juden, Christinnen und Christen geteilt werden, sondern auch von Anders- oder Nichtgläubigen. 2 Erst nachträglich macht Gott daraus ein Menschenpaar. 3 Vgl. dazu ausführlicher Lienkamp (2012).

Kein Glück ohne Nachhaltigkeit

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ist vom Zusammenhang her klar, dass der Mensch als ‘æbæd JHWH, als Diener Gottes, nach dessen Vorbild mit Weisheit und Liebe „herrschen“ und zugleich der Schöpfung und damit Gott selbst dienen soll. Hinzu kommt, dass sich die gegenwartskritische Utopie der Schöpfungserzählungen gegen jedes Blutvergießen und damit gegen jede Zerstörung von Leben wendet4. Denn Gott ist ein „Liebhaber des Lebens“. Er hat „keine Freude am Untergang der Lebenden“ (Weish 1,13). Zudem soll der Mensch für seine soziale und naturale Umwelt „ein Segen ... sein“ (Gen 12,2), d. h. Leben als höchstes, weil konditionales Gut fördern und bereichern. Damit sind aus biblischer Sicht zentrale Maßstäbe, ja schon so etwas wie grundlegende Managementregeln formuliert, die zu bereits erprobten, modernen Indikatoren der Nachhaltigkeit in Beziehung gesetzt werden können (z. B. findet der Auftrag, das Leben zu achten und zu schützen, eine Entsprechung im CSD-Indikator Biodiversity / Species / Abundance of Selected Key Species5). Gleichgültig wie das Ziel von Gesellschaft und Wirtschaft auch bezeichnet wird, ob als Wohlfahrt, Glück oder Gemeinwohl, für die Bibel steht fest, dass die regulative Idee des Schalom – im Sinne von Wohlergehen, Heil und Frieden – nicht nur den Menschen, erst recht nicht bloß die gegenwärtig lebenden, betrifft, sondern die Schöpfung als Ganze. Gott will das Heil aller Kreatur. Diese keineswegs neue theologische Erkenntnis steht am Beginn der inzwischen 300jährigen Geschichte des Begriffs und Leitbildes der Nachhaltigkeit. Sein Begründer war ein gläubiger Christ und forstwirtschaftlicher Experte: Hannß Carl von Carlowitz (1645–1714), Oberberghauptmann und Leiter des sächsischen Oberbergamts in Freiberg.

III. Nachhaltigkeit als neuer Begriff Lange also bevor die Brundtland-Kommission sustainable development im Jahr 1987 auf die weltpolitische Agenda setzte und das Gemeinsame Wirtschafts- und Sozialwort der christlichen Kirchen in Deutschland „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ (1997) Nachhaltigkeit unter ihre ethischen Prinzipien einreihte, forderte Carlowitz in seinem bahnbrechenden Lehrbuch „Sylvicultura oeconomica“6 von 1713 die „nachhaltende“ Verwendung der damaligen Schlüsselressource Holz. Im Zusammenhang mit der existenziel___________ 4 Gemäß beiden Schöpfungserzählungen sollen Tier und Mensch „ursprünglich“ vegetarisch leben, also das Leben der anderen Geschöpfe achten (vgl. Gen 1,29f und 2,16). 5 Hier nach CSD Indicators of Sustainable Development; vgl. dazu UNDSD (2007), S. 6. 6 Den Titel kann man mit „Haushälterischer Waldbau“ übersetzen; vgl. Grober (2010), S. 118.

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Andreas Lienkamp

len Frage, wie „Conservation und Anbau des Holtzes anzustellen, daß es eine continuirliche, beständige und nachhaltende Nutzung gebe“7, kommt es zur wohl ersten Verwendung des Begriffs im heutigen Sinne. Flottenpolitik, Grubenausbau und Holzkohlegewinnung hatten im 17. Jahrhundert zu einem großflächigen Kahlschlag in den Wäldern Europas geführt, der das wirtschaftliche Leben und die soziale Existenz vieler Menschen und ganzer Landstriche gefährdete. Heute wie damals ist die Nachhaltigkeitsidee also „ein Kind der Krise“8, zugleich aber auch der „Griff nach der Notbremse“9. „Man soll keine alte Kleider wegwerffen / bis man neue hat / also soll man den Vorrath an ausgewachsenen Holtz nicht eher abtreiben / bis man siehet / daß dagegen gnugsamer Wiederwachs vorhanden.“10 So formuliert Carlowitz – ein altes Sprichwort aufgreifend – die erste Managementregel der Nachhaltigkeit. „Als Krebsübel der anbrechenden Moderne galt ihm der Raubbau an der ‚gütigen‘ Natur um des schnellen ‚Geldlösens‘ willen. Man dürfe nicht ‚wider die Natur handeln‘, sondern müsse ‚mit ihr agiren‘.“11 Wenn heute davon gesprochen wird, dass Menschen, Unternehmen und Staaten sich achtsam gegenüber der Natur oder schlicht umweltgerecht verhalten sollen, so finden sich auch diese Forderungen schon in der „Sylvicultura oeconomica“: Man habe mit dem Holz gerecht und pfleglich umzugehen und alle „Verschwendung und Verderbung“ so weit wie möglich zu vermeiden. Der Begriff „pfleglich“ ist laut Carlowitz ein „uhralter Holtz-Terminus“, der „in hiesigen Landen gebräuchlich“ sei12. Und einen „Holtz-Verständigen“ habe man „nur einen Holtz-Gerechten genennet“13. Die göttliche „Vorsichtigkeit“, ein Vorbild für den Menschen, weise den Menschen an, dass er die Gaben der Schöpfung „mit Behutsamkeit brauchen“ solle14. Holz, „das herrliche Nahrungs-Mittel“15, sei so wichtig wie das tägliche Brot. Man müsse es mit „Praecaution“, mit Vorsicht, nutzen und dafür sorgen, dass „eine Gleichheit zwischen An- und Zuwachs und dem Abtrieb derer Höltzer erfolget“ und so eine „beständige und continuirliche Nutzung“ ermöglicht werde16. Unter direkter Bezugnahme auf die zweite Schöpfungserzählung (Gen 2,5.15) führt Carlowitz dann aus, dass ja die höchs___________ 7

Carlowitz (1713), S. 105; vgl. ebd., S. 113 (Hervorhebung von mir; A.L.). Grober (1999), S. 98. 9 Grober (2002), S. 121. 10 Carlowitz (1713), S. 88. 11 Grober (2005), S. 256; Carlowitz (1713), S. 39, S. 79, S. .99, S. 112f. 12 Vgl. Grober (2010), S. 114: „Tatsächlich ist pfleglich der unmittelbare Vorläufer von nachhaltig.“ 13 Carlowitz (1713), S. 87. 14 Ebd., S. 97. 15 Ebd. 16 Ebd., S. 86f; vgl. auch ebd., S. 104. 8

Kein Glück ohne Nachhaltigkeit

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te göttliche Majestät dem Menschen das Land hat „bauen / und also die Gewächse / folglich auch das wilde Holtz fortpflantzen heissen“ – „zu GOttes Ehren / und derer Nachkommen besten“17. Wie man sieht, hat Carlowitz nicht nur die Ökologie im Blick, sondern auch die Ökonomie und zugleich das Soziale, und zwar in intergenerationeller Ausrichtung. Die „florirenden Commercia“ müssten dem „Bono publico“, also „zum Besten des gemeinen Wesens“ dienen; die „armen Unterthanen“ hätten ein Recht auf „sattsam Nahrung und Unterhalt“. Aber dasselbe Recht stehe auch „der lieben Posterität“, also den nachrückenden Generationen, zu 18. „In klaren Umrissen wird schon das Dreieck der Nachhaltigkeit sichtbar: Die Ökonomie hat der ‚Wohlfahrt‘ des Gemeinwesens zu dienen. Sie ist zu einem schonenden Umgang mit der ‚gütigen Natur‘ verpflichtet und an die Verantwortung für künftige Generationen gebunden.“19 Für Carlowitz stellt die Natur dabei alles andere als ein bloßes Ressourcenlager dar. Für den gläubigen Lutheraner ist sie vielmehr vor allem das Werk des Schöpfergottes. In ihr entdeckt er, um mit Augustinus zu sprechen, die „Spur Gottes“: „Wenn wir die Geschöpffe ansehen / müssen wir nachgehends unumgänglich den großen Schöpffer bewundern / loben / dancken und preisen. Denn je herrlicher und unergründlicher wir die Creaturen und Geschöpffe finden / je größer und mehr wird hoch zu halten seyn der Urheber und Schöpffer / Meister und Erhalter derselben“20. Aber nicht nur um Gottes willen, auch um ihrer selbst willen sind die Mitgeschöpfe vor unverschämten und ruinösen Eingriffen des Menschen zu schützen. So macht sich Carlowitz zum Anwalt „dieser stummen Creaturen Noth und Anliegen“21. Ähnlich wie die universalen ethischen Prinzipien der Menschenwürde und Fairness speist sich also auch das Nachhaltigkeitsleitbild mit seinen drei Gerechtigkeitsdimensionen aus einer am biblischen Schöpfungsglauben ausgerichteten Quelle, auch wenn der theologische Laie Carlowitz bei den hauptamtlichen Theologen lange keine Rückendeckung erhielt. Für ihn aber steht fest: „GOtt gebeut das Holtz zu schonen“22, wobei „Holz“ hier stellvertretend für die gesamte, dem Menschen zugängliche Schöpfung steht. „Will man nun dieser heilsamen Sache / nehmlich der Schonung des Holtzes und dessen nöthiger conservation nachdencken, so befindet sich / daß der größte und allgemeine ___________ 17 Ebd., S. 104. Carlowitz verweist zudem auf Gen 21,33, wo es heißt, dass Abraham in Beerscheba eine Tamariske pflanzte und dort den Namen des Herrn anrief. Der Erzvater wird damit zum Vorbild der Generation paradise lost erhoben. 18 Ebd., Vorrede an den König, [1]–[3] sowie Vorbericht, [6]. 19 Grober (1999), S. 98; Carlowitz (1713), S. 80, S. 112. 20 Carlowitz (1713), S. 399. 21 Ebd., S. 110. 22 Ebd., S. 78.

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Gesetz-Geber / der grosse GOtt / selbige befohlen“ hat (ebd., 79). Dabei geht es Carlowitz, wie gezeigt, sowohl um die Bäume und Wälder selbst als auch um die Leben ermöglichenden Früchte (im wörtlichen wie auch im übertragenen Sinn) für die Jetzigen wie für die Kommenden.

IV. Nachhaltigkeit im 20. und 21. Jahrhundert Unser heutiges Wort „Nachhaltigkeit“ ist demnach keine Übersetzung aus dem Englischen. Vielmehr ist sustainability die Übertragung des deutschen Begriffs, der – wie beschrieben – auf Carlowitz zurückgeht und sich aufgrund des Einflusses der hiesigen frühen Forstwissenschaft international ausbreitete. Nachhaltigkeit, so definiert auch Frau Schrooten, ganz im Einklang mit dem weisen Sachsen, wenn auch ohne expliziten Bezug auf ihn, habe im Kern eine ökonomische, ökologische und soziale sowie temporale Seite. Deshalb brauche es einen „integrativen“ und „interdisziplinären“ Ansatz. Zur näheren Bestimmung des Begriffs greift die Autorin dann auf die berühmte Passage des sog. Brundtland-Berichts zurück23, die sie folgendermaßen interpretiert: „Als nachhaltig gilt eine Entscheidung dann, wenn sie einerseits die Lebensqualität der aktuellen Generation sichert, aber auch zukünftigen Generationen Wahlmöglichkeiten zur Gestaltung ihres Lebens offen hält.“ (Schrooten) Richtig ist, dass die künftigen Generationen ein Recht darauf haben, dass die gegenwärtigen ihnen nicht Optionen ihrer Lebensgestaltung verbauen. Der Brundtland-Bericht setzt aber ähnlich wie Carlowitz basaler an. Es gilt nicht nur, Wahlmöglichkeiten offen zu halten, sondern zunächst einmal sicherzustellen, dass die grundlegenden Bedürfnisse, vor allem der Armen, befriedigt werden können.24 Auch ist die Aussage von Frau Schrooten, „die Lebensbedingungen zukünftiger Generationen sind bei gegenwärtigen Entscheidungen zu berücksichtigen“, viel zu schwach. Denn hier werden keine (advokatorisch) einklagbaren Rechte der kommenden Generationen oder der Mitgeschöpfe formuliert, noch nicht einmal verbindliche Pflichten der jetzt lebenden Entscheidungs- und Handlungsträger/-innen. Von Menschen- oder Tierrechten ist im Beitrag von Frau Schrooten gar nicht, von Rechten allgemein lediglich in Bezug auf handelbare Verschmutzungslizenzen die Rede – eine reduzierte und zudem höchst fragwürdige, wenn auch gebräuchliche Begriffsverwendung, die insinuiert, jemand habe das Recht auf eine Schädigung Dritter. Ebenfalls zu schwach ist ___________ 23 Vgl. WCED (1987), Chapter 2, No. 1: „Sustainable development is development that meets the needs of the present without compromising the ability of future generations to meet their own needs.“ 24 Vgl. WCED (1987), Chapter 2, No. 1: Sustainable development contains within it „the concept of ,needs‘, in particular the essential needs of the world’s poor, to which overriding priority should be given“.

Kein Glück ohne Nachhaltigkeit

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die folgende Formulierung: „Wohlfahrtsoptimierung kann auch die Berücksichtigung von Interessen zukünftiger Generationen bedeuten“25. Dem ist zu entgegnen, dass eine Wohlfahrt, die sich auf die synchron Lebenden beschränkt und nicht intertemporal und interspeziell gedacht wird, nichts anderes als kollektiver Egoismus ist. Die von Frau Schrooten paraphrasierte Stelle des Brundtland-Berichts ist im Übrigen die „harmlosere“ Variante. Die zu ziehenden, unbequemen Konsequenzen werden eher in der folgenden Passage deutlich, die vielleicht auch deshalb weniger oft zitiert wird: „Nachhaltige Entwicklung ist kein feststehender Zustand der Harmonie, vielmehr ein Prozess der Veränderung, in dem die Nutzung der Ressourcen, die Ausrichtung der Investitionen, die Orientierung der technischen Entwicklung und der institutionelle Wandel mit zukünftigen wie auch gegenwärtigen Bedürfnissen in Übereinstimmung gebracht werden. Wir tun nicht so, als ob dieser Weg leicht oder gradlinig wäre.26 Darum bedarf nachhaltige Entwicklung letztlich eines entsprechenden politischen Willens.“27 An diesem mangelt es vor allem, sei es aufgrund von Inkompetenz, Ignoranz oder Indifferenz gegenüber dem Leiden anderer. Eine fehlende Datenbasis ist sehr wohl ein Problem, darin ist Frau Schrooten zuzustimmen, denn eine solide, nachvollziehbare empirische Grundlage gehört zu den Voraussetzungen einer effektiven Nachhaltigkeitspolitik. Ganz sicher aber ist unzulängliche Information nicht die Hauptursache, weshalb Bemühungen scheitern, „Wohlstand, Wohlfahrt und Nachhaltigkeit bei ökonomischen Entscheidungen zu berücksichtigen“ (Schrooten). Will man Anthropozentrik bzw. Speziesismus bei der Bestimmung von Nachhaltigkeit vermeiden, so darf man allerdings bei keiner der beiden wiedergegebenen Passagen des Brundtland-Berichts stehen bleiben, sondern sollte die im Anhang dazu abgedruckte „Summary of Proposed Legal Principles for Environmental Protection and Sustainable Development“ hinzuziehen, die von der WCED-Expertengruppe für Umweltrecht erarbeitet und verabschiedet worden war. Darin werden eine Reihe genereller Prinzipien, Rechte und Verantwortlichkeiten benannt, darunter: „Fundamentales Menschenrecht: 1. Alle Menschen haben das grundlegende Recht auf eine Umwelt, die ihrer Gesundheit und ihrem Wohlergehen dient. Intergenerationelle Gerechtigkeit: 2. Die Staaten sollen die Umwelt und die natürlichen Ressourcen bewahren und zum Nutzen der gegenwärtigen und künftigen Generationen gebrauchen. Bewahrung und nachhaltige Nutzung: 3. Die Staaten sollen die Ökosysteme und die ökologischen Prozesse aufrechterhalten, die für das Funktionieren der Biosphäre ___________ 25

Hervorhebung von mir, A.L. Auch Mechthild Schrooten weist – zu Recht – auf Zielkonflikte (trade-offs) zwischen der ökologischen, sozialen und ökonomischen Dimension der Nachhaltigkeit hin. 27 WCED (1987), Overview, No. 30 (eigene Übers.). 26

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entscheidend sind, sie sollen die Artenvielfalt erhalten und das Prinzip der optimalen nachhaltigen Nutzung lebender natürlicher Ressourcen und Ökosysteme beachten.“28 Die hier vorgenommene Differenzierung entspricht derjenigen der Justitia in eine globale, intergenerationelle und ökologische Gerechtigkeit. Der Brundtland-Bericht blieb nicht ohne Wirkung. Deshalb lohnt es sich, der von Frau Schrooten nicht weiter verfolgten Entwicklung zur Präzisierung des Nachhaltigkeitsgedankens auf der Ebene der Vereinten Nationen nachzugehen. Nächster Meilenstein ist die in Rio de Janeiro 1992 verabschiedete Agenda 21, die das an Carlowitz erinnernde dritte Anliegen der WCED-Expertengruppe, die Bewahrung (conservation)29 und nachhaltige Nutzung, aufnimmt und sustainable development nun als eine „wirtschaftlich effiziente, sozial ausgewogene und verantwortungsbewußte sowie umweltverträgliche Entwicklung“ definiert. Dabei gehe es um die „schrittweise Integration wirtschafts-, gesellschafts- und umweltpolitischer Fragestellungen“30. Durch diese Konferenz, so der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen, „sei die umfassende politische Zielbestimmung ‚sustainable development‘ als wegweisende Programmatik für die Bewältigung der gemeinsamen Zukunft der Menschheit für die internationale Völkergemeinschaft verbindlich geworden.“31 Damit ist die ökologische Komponente nun ausdrücklich in den Sustainability-Begriff integriert. Um die Operationalisierung voranzutreiben, verpflichten sich die beteiligten Staaten in der Agenda 21, eine eigene nationale Nachhaltigkeitsstrategie zu entwickeln: „Zu den Zielen dieser Strategie gehört die Gewährleistung einer sozial ausgewogenen wirtschaftlichen Entwicklung bei gleichzeitiger Schonung der Ressourcenbasis und der Umwelt zum Wohle künftiger Generationen.“32 Noch einmal werden hier die drei grundsätzlich gleichberechtigten Punkte des Nachhaltigkeitsdreiecks sowie die intertemporale Ausrichtung betont. Zudem rückt die Agenda 21 die Auseinandersetzung mit den „derzeitigen Wachstumskonzepte[n] und die Notwendigkeit neuer Konzepte von Wohlstand und Prosperität“ auf die Tagesordnung, „die es gestatten, durch eine veränderte Lebensweise einen höheren Lebensstandard zu erzielen, und die in geringerem Maße von den endlichen Ressourcen der Erde abhängig sind und mit der Trag___________ 28 WCED (1987), Annexe 1, No. 3. Die hervorgehobenen Passagen sind im Original Überschriften und unterstrichen (eigene Übers.). 29 Vgl. dazu das sich u.a. auf Gen 2,15 stützende Motto des konziliaren Prozesses: Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung der Schöpfung. 30 Agenda 21 (1992), Nr. 8.4. 31 SRU (1994), S. 9. 32 Agenda 21 (1992), Nr. 8.7.

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fähigkeit der Erde in größerer Harmonie stehen.“33 Dazu „müssen Indikatoren für nachhaltige Entwicklung erarbeitet werden, um eine solide Grundlage für die Entscheidungsfindung auf allen Ebenen zu schaffen“34. Angestoßen von der Rio-Konferenz wurde dann unter Leitung der „United Nations Division for Sustainable Development“ (UNDSD) ein Verständigungsprozess über die wesentlichen Kriterien zur näheren Bestimmung des Begriffs der Nachhaltigkeit in Gang gesetzt. Dieser Prozess mündete im Oktober 1996 in eine Arbeitsliste mit über 130 sozialen, ökonomischen, ökologischen und institutionellen Indikatoren für die nationalen Nachhaltigkeitsprozesse, wobei sich Deutschland an der Testphase beteiligte. Es handelt sich dabei um eine Art trial-and-error-Verfahren sukzessiver Annäherung, um in möglichst partizipativen Prozessen eine zustimmungsfähige, genauere Bestimmung der Wesensmerkmale nachhaltiger Entwicklung bzw. ein Indikatorenset zu ermitteln, mit dem sich der Ist-Stand sowie Fort- und Rückschritte exakter messen lassen. Seit 2007 liegt die (2006 beschlossene) aktuelle dritte Ausgabe der „CSD Indicators of Sustainable Development“ vor, die nun besser mit den Millenniums-Zielen harmonieren. Auch die jüngste Edition ist in Themen (insgesamt 14, z. B. Atmosphäre), Unterthemen (zusammen 44, z. B. Klimawandel) und Indikatoren (alles in allem 50 Kernindikatoren, z. B. CO2-Emissionen, und weitere 46 Indikatoren, z. B. Treibhausgasemissionen) unterteilt, die mit einem sehr detaillierten Raster als handhabbare Messgrößen aufgeschlüsselt sind. 35 Seit 2005 ist zudem ein Review Process für die Indikatoren installiert, um sie regelmäßig auf ihre Praxistauglichkeit zu überprüfen und auf der Basis von Erfahrungen weiterzuentwickeln.

V. Nicht zuletzt Trotz aller inzwischen erreichten Klärung des Begriffs Nachhaltigkeit heißt es noch in einem jüngst publizierten Papier des UNCSD-Sekretariats zur (insgesamt enttäuschenden) Rio+20-Konferenz (2012): „Currently there is no single, universally accepted definition or assessment metrics for sustainable development. There are no internationally agreed sustainable development indica___________ 33

Ebd., Nr. 8.6. Ebd., Nr. 40.4. Vgl. auch ebd., Nr. 8.41ff: Schaffung „nationaler Systeme integrierter umweltökonomischer Gesamtrechnungen“, sowie ebd., Kap. 40: Informationen für die Entscheidungsfindung. 35 Vgl. UNDSD (2007), mit Links auf die einzelnen Indikatoren und deren nähere Bestimmung nach folgendem Schema: Indicator, Policy relevance, Methodological discription, Assesment of data, Agencies involved in the development of the indicator, References. 34

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tors that would help monitor progress.“36 Die Frage von Hans Diefenbacher, ob es sich bei der Operationalisierung von Nachhaltigkeit um einen infiniten Prozess handele, ist wohl zu bejahen.37 Dennoch ist die Völkergemeinschaft über das Stadium eines „Stocherns im Nebel“ (Schrooten) hinaus. Mit der Erinnerung an die erstmalige Formulierung des Nachhaltigkeitsparadigmas durch Hanns Carl von Carlowitz und an die ihn dabei leitenden biblisch-ethischen Orientierungen sowie mit dem Blick auf die Entwicklung von SustainabilityIndikatoren auf der Ebene der Vereinten Nationen konnte dem inflationär gebrauchten und dabei häufig missbrauchten Begriff doch einiges an Substanz zurückgegeben werden. Schon in ihrer Einleitung weist Frau Schrooten angesichts der Schwierigkeiten der Wohlfahrtsmessung auf den limitierten „Erkenntnishorizont der Ökonomie als Wissenschaft“ hin. Im weiteren Verlauf stellt sie dann das „gesamte Konzept der Volkswirtschaftslehre“ aufgrund der nationalen Begrenztheit ihres Blickwinkels in Frage. Am Ende ihres Beitrags fällt die Kritik schließlich noch viel umfassender und radikaler aus: Nachhaltige Entwicklung, so Schrooten, erfordere „ein vollständiges Umdenken dieser wissenschaftlichen Disziplin“. Der theologische Ausdruck dafür heißt metanoia: Sinnesänderung, Abkehr von einem falschen Weg. Bekanntermaßen haben die Worte Ökonomie und Ökologie den selben Kern. Beiden geht es um den oikos, das Haus. Zusammengenommen bedeutet dies, dass die „auf Gedeih und Verderb“ von der Natur abhängige Menschheit mit ihren Mitgeschöpfen pfleglich und mit dem Lebenshaus Erde haushälterisch, wie ein guter Steward, eine kluge Verwalterin oder eben wie „Mieth-Leute“ (Carlowitz)38 umzugehen haben, nicht nur um ihrer selbst und der nachrückenden Generationen, sondern auch um der außermenschlichen Natur willen. Denn – darin stimme ich Frau Schrooten ausdrücklich zu – „alles, was die Lebensgrundlagen auf dieser Erde bedroht, bedroht langfristig auch die Eigentums-, Vermögens- und Einkommensverhältnisse“. Nachhaltigkeit ist zwar nicht alles, aber ohne sie ist (zumindest auf Dauer) alles andere nichts. Sie ist nicht identisch mit Glück, wohl aber eine Bedingung der Möglichkeit von Glück, das nur dann diesen Namen verdient, wenn es nicht unfair auf Kosten anderer (Menschen, Generationen, Mitgeschöpfe), sondern in Übereinstimmung mit ihr erstrebt bzw. erreicht wurde. Eine langfristig, global und ökologisch denkende Ökonomik weiß längst darum. Sie muss dieses Wissen „nur“ umsetzen und sich damit innerdisziplinär durchsetzen. Theologie und Ethik können sie dabei unterstützen. ___________ 36

UNCSD Secretariat (2012), S. 1. Immerhin haben die teilnehmenden Staaten in ihrem Schlussdokument „The Future We Want“ festgehalten, dass das Gross Domestic Product als Wohlstandsindikator nicht ausreiche. Vgl. UNCDS (2012), No. 38. 37 Vgl. Diefenbacher (2001), S. 109. 38 Carlowitz (1713), S. 399.

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Literatur Agenda 21 (1992): Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung im Juni 1992 in Rio de Janeiro – Dokumente, hrsg. vom Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Bonn 1997. Carlowitz, Hannß Carl von (1713): Sylvicultura oeconomica, oder haußwirthliche Nachricht und Naturmäßige Anweisung zur Wilden Baum-Zucht, Leipzig. Diefenbacher, Hans (2001): Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Zum Verhältnis von Ethik und Ökonomie, Darmstadt. Grober, Ulrich (1999): Der Erfinder der Nachhaltigkeit, in: Die Zeit Nr. 48 vom 25.11., S. 98. – (2002): Denken wie ein Berg. Die Vereinigten Staaten und ihre große ökologische Tradition – oder: Wie Aldo Leopold im Wilden Westen zum Ethiker der Nachhaltigkeit wurde, in: Die Zeit Nr. 35 vom 22.8., S. 76. – (2010): Die Entdeckung der Nachhaltigkeit. Kulturgeschichte eines Begriffs, München. Lienkamp, Andreas (2009): Klimawandel und Gerechtigkeit. Eine Ethik der Nachhaltigkeit in christlicher Perspektive, Paderborn/München/Wien/Zürich. – (2012): Herrschaftsauftrag und Nachhaltigkeit. Exemplarische Überlegungen zum Umgang mit der Bibel im Kontext theologischer Ethik, in: Heimbach-Steins, Marianne/Steins, Georg (Hrsg.) in Verbindung mit Alexander Filipović und Kerstin Rödiger: Bibelhermeneutik und Christliche Sozialethik, Stuttgart, S. 187–216. SRU (1994): Für eine dauerhaft-umweltgerechte Entwicklung. Umweltgutachten 1994 des Rates von Sachverständigen für Umweltfragen (BT-Drs. 12/6995), Bonn. UNCDS (2012): United Nations Conference on Sustainable Development: The Future We Want, United Nations A/CONF.216/L.1, Rio de Janeiro, http://www.uncsd 2012.org/rio20/thefuturewewant.html. UNCSD Secretariat (2012): Current Ideas on Sustainable Development Goals and Indicators, RIO 2012 Issues Briefs No. 6. UNDSD (2007): United Nations Division for Sustainable Development: Factsheet, http://www.un.org/esa/sustdev/natlinfo/indicators/factsheet.pdf.

Wohlfahrt und/oder Nachhaltigkeit? – Sozialethische Einwürfe – Korreferat zu Mechthild Schrooten – Von Wolf-Gero Reichert

I. Der Streit um das rechte Maß Die Einsicht, dass Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) nicht mit Wohlstandszuwachs gleichgesetzt werden darf, teilt mittlerweile ein Großteil der Bevölkerung. Allen scheint es inzwischen um nachhaltiges Wachstum zu gehen. Dennoch beziehen sich viele Entscheider in Politik und Wirtschaft auf das BIP. Konnte dies früher noch mit einem Mangel an Alternativen entschuldigt werden, ist es derzeit nur auf die normative Kraft des Faktischen zurückzuführen: Die Politik kann ihr Steueraufkommen erhöhen, wenn das BIP wächst; für die Akteure in der Wirtschaft, angefangen von Gewerkschaftlern bis hin zu den Rating-Agenturen, stellt das BIP vermutlich den kleinsten gemeinsamen Nenner dar, auf den sich alle irgendwie einigen können.1 Gegen die BIP-Fixierung, die sehr tief in Köpfen und Prozessen sitzt, hat sich in Wissenschaft und Zivilgesellschaft eine Gegenströmung unter dem Stichwort „Postwachstumsgesellschaft“ formiert. Dabei gibt es zwei dominante Positionen: Die eine Seite hält eine Abkehr vom Wirtschaftswachstum als politischem Ziel aufgrund von ökologischen, sozialen oder demokratietheoretischen Überlegungen erforderlich: Die modernen Ökonomien sollen in einen weniger dynamischen Zustand überführt werden.2 Die andere Seite hält dagegen, dass das Problem nicht das Wachstum per se ist, schließlich bedeutet auch Veränderung Wachstum. Es wird jedoch die einseitige Fixierung auf das BIP als dominante Kennzahl kritisiert. ___________ 1 Die unbeabsichtigten Nebenwirkungen einer solch kollektiven „Kleinste-gemeinsame-Nenner“-Haltung erleben wir derzeit in eigentlich allen europäischen Ländern, wo die Politiker, selbst wenn sie wollten, kaum vom Ziel des BIP-Wachstums Abstand nehmen könnten: Die „Kapitalmärkte“ würden dies umgehend „abstrafen“. 2 Bspw. Seidl/Zahrnt (2010); Miegel (2010).

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Wolf-Gero Reichert

Diese zweite Position kann nochmals differenziert werden in solche, die eine radikal andere Messmethode fordern, und andere, die das BIP ergänzen wollen. Zur Ersteren gehört bspw. Thomas Pogge, der das Wachstumsziel nicht aufgibt, aber die sozialethische Frage aufwirft: Welches Wachstum ist gut? Seine Antwort lautet: Es ist besser, auf einen Teil absoluten Wachstums zu verzichten, wenn dies ökonomische Ungleichheiten in einer Gesellschaft reduziert. Als geeignete Kennziffer für ein solch homogeneres Wachstum sieht Pogge die ökonomische Position der ärmsten zehn Prozent einer Gesellschaft. Es geht ihm also um eine „armenfreundliche Beurteilung ökonomischen Wachstums“.3 Der zweiten Gruppe wiederum geht es um eine adäquate Ergänzung des BIP. Die Entscheider in Politik und Wirtschaft sollen sich an einer Bandbreite von Kenngrößen der Wohlfahrtsmessung orientieren.4 Angesichts der Herausforderung, das Wirtschaftssystem nachhaltig auszurichten, benennt Mechthild Schrooten in ihrem Beitrag „Nachhaltiges Wachstum: Die Berücksichtigung ökologischer Fragestellungen bei der Wohlfahrtsmessung“ das Ungenügen der derzeit vorherrschenden Wirtschaftstheorie. Sie fordert daher einen integrativen Ansatz, der eine „ganzheitliche Sicht menschlicher Aktivitäten“ gestattet und dazu die ökologische, ökonomische und soziale Dimension zusammenführt.5 Obzwar Schrooten keine Postwachstumsposition vertritt, steht sie auch den ergänzenden Konzeptionen kritisch gegenüber. „Die bisher vorgelegten Indikatoren ermöglichen kaum eine Wohlstandsmessung unter Berücksichtigung ökologischer Fragen.“6 Letztlich führt sie ihr Unbehagen am derzeitigen Status-quo des Wirtschaftssystems auf das Versagen der Wirtschaftswissenschaften zurück: „Hier wird mittels im 19. Jahrhundert entwickelter Konzepte von nationalstaatlicher Orientierung, technischen Fortschritts, Leistungsorientierung und -bewertung versucht, die Zukunft zu gestalten, und damit eine Lösung für die Probleme des 21. Jahrhunderts zu finden.“7 Kompetent stellt sie dar, wie die Ökonomie auf Kritik stets nach dem gleichen Muster verfahren ist; nämlich den Anfragen die theoretische Spitze zu nehmen, sie in das neoklassische Modell zu integrieren und so die dominante Stellung der Ökonomie im interdisziplinären Fächerwettstreit zu verteidigen: Ökologische Probleme wurden dabei stets in Präferenzfragen überführt und so behandelt, als ob sie nur im Horizont eines marktwirtschaftlichen Arrangements lösbar seien, wofür ergo die Ökonomie zuständig sei. Formen solcher Integration

___________ 3

Vgl. Pogge (2008), S. 337. Vgl. Kroll (2011). 5 Vgl. Schrooten (2012), S. 215 in diesem Band. 6 Ebd., S. 215. 7 Ebd., S. 204. 4

Wohlfahrt und/oder Nachhaltigkeit? – Sozialethische Einwürfe

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sind die Spielarten der Umweltökonomik, externe Effekte, öffentliche bzw. Allmendegüter und die Rede von Naturkapital etc.8 Obwohl sie damit schließt, dass eine ganz neue Konzeptionen erforderlich ist, um die ökologische, die soziale sowie die ökonomische Dimension adäquat aufeinander zu beziehen, vermisst der Leser einen konstruktiven Ansatz, wie dies gelingen könnte. Lösungspotential sieht sie offenbar in den Begriffen „Lebensqualität“ und „Nachhaltigkeit“.9 Doch anstelle einer Entfaltung dieser Begriffe folgt nur der empirische Aufweis, dass weder Wirtschaftswachstum mit Wohlstand, noch Wohlstand mit Nachhaltigkeit deckungsgleich ist.10 Der Autor begreift diese konzeptionelle Leerstelle bei synchroner empirischer Infragestellung des neoklassischen Standardmodells als Einladung, aus sozialethischer Perspektive einige Gedanken über die Begriffe Wohlstand und Nachhaltigkeit vorzulegen und so der Frage näherzukommen, wie eine „ganzheitliche Sicht menschlicher Aktivitäten“ aussehen kann und welche Probleme dabei zu beachten sind. Zunächst wird die These vertreten, dass man sich mit dem Rückgriff auf Wohlstand bzw. Wohlfahrt Probleme einhandelt, mit denen bereits die Utilitaristen rangen. Im Anschluss wird argumentiert, dass die Suche nach eindeutigen Nachhaltigkeitsindikatoren eine expertokratische Schlagseite hat, die in einem Spannungsverhältnis zum öffentlichen Diskurs demokratisch verfasster Gesellschaften steht.

II. Neue alte Fehler oder das Utilitarismusproblem Mit dem Rückgriff auf „Lebensqualität“ in seiner ökonomischen Fassung als Wohlstand oder Wohlfahrt ist wenig gewonnen. Beide Begriffe sind unscharf und einseitig. Es bedarf dringend der Korrektur durch deontologische Begriffe wie Gerechtigkeit oder starke Nachhaltigkeit. Obzwar es zu begrüßen ist, wenn Ökonomen wieder über die Grundbegriffe ihrer Sozialwissenschaft reflektieren wollen, ist angesichts der Philosophiegeschichte doch zu fragen, ob etwas gewonnen ist, wenn man auf die alten Begriffe von Wohlstand und Wohlfahrt zurückgeht, um die Lebensqualität in einem umfassenden Sinn zu bestimmen. Kann man damit die Trade-Offs zwischen sozialen, ökologischen und ökonomischen Optimierungsstrategien auflösen? Bietet der Wohlfahrtsbegriff wirklich die gesuchte ganzheitliche Sicht, aus der heraus ein passender Indikator zur Messung nachhaltigen Wachstums oder ___________ 8

Ebd., S. 202ff. Ebd., S. 205f. 10 Ebd., S. 207–215. 9

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Handlungsempfehlungen für eine moralisch gerechtfertigte Politik abgeleitet werden können? M.E. handelt man sich in erster Linie neue alte Probleme ein. Zunächst stellt sich die Frage, wie Wohlstand und Wohlfahrt unterschieden werden können. Bezeichnenderweise führt das einschlägige Lexikon der Wirtschaftsethik die Begriffe in einem einzigen Artikel auf, der mit „Wohlfahrt, Wohlstand“ betitelt ist. Nach Bernhard Külp bezeichnen beide den „Inbegriff aller nutzensteigernden Güter einer Person oder einer Gemeinschaft von Personen“11. Pragmatisch gesteht er zu, dass eine Grenze gezogen werden kann, wenn mit Wohlstand ausschließlich die Nutzenstiftung durch materielle Güter begriffen wird, während sich der Wohlfahrtsbegriff sowohl auf materielle als auch immatrielle Güter bezieht. Schon diese schwierige Grenzziehung zeigt, dass es hier um äußert schwierige, moralisch relevante Fragen geht: Was soll als Wohlfahrt gelten? Wie wird der gestiftete Nutzen berechnet? Sind interpersonelle Wohlfahrtsvergleiche möglich? „Der Mensch strebt nicht nach Glück; nur der Engländer thut das.“12 Friedrich Nietzsche spielt mit diesem Satz auf die empiristische Ethik des Utilitarismus an. Deren Zentralbegriff war das Glück, das freilich mit Nutzenkategorien begriffen wurde, m. a. W. in der Terminologie von Präferenzen und Wohlstand/Wohlfahrt. Nach Höffe lassen sich alle utilitaristischen Ansätze auf eine einheitliche Grundposition zurückführen, die zusammengefasst besagt: Handlungen sind genau dann moralisch richtig, wenn ihre Folgen für den Nutzen aller Betroffenen optimal sind. Zu beachten dabei ist, dass der Nutzen hedonistisch als Befriedigung von Bedürfnissen und Interessen verstanden wird.13 Als Handlungsempfehlung ergibt sich daraus: Jeder moralisch handelnde Politiker soll neutral und objektiv – wie ein unparteiischer Beobachter – abwägen, welche Reform den größten Nutzen für alle stiftet. Wie aber soll dieser Nutzen empirisch gefasst werden? Die Messprobleme, mit denen der Utilitarismus seit seiner Anfangszeit konfrontiert war, werden insbesondere in der Debatte zwischen Jeremy Bentham und John Stuart Mill deutlich. Letzterer verwies darauf, dass ein qualitativ differenzierter Hedonismus erforderlich ist, damit die Vielfalt von Aktivitäten und Gütern, die Nutzen stiften, berücksichtigt werden kann. Bentham reagierte auf diesen Einwand, der auf den Einbezug immaterieller Güter abzielt, mit dem pragmatischen Hinweis, dass es unmöglich ist, die qualitativ so unterschiedlichen Lustarten konsistent in ein einheitliches Nutzenkalkül zu integrieren.14 ___________ 11

Vgl. Külp (1993), S. 1332. Vgl. Nietzsche/Colli (1980), S. 61. 13 Vgl. Höffe (1975), S. 7ff. 14 Im Grunde trifft dieser Einwand Bentham selbst, auch wenn er sich nur auf materielle Güter bezieht. 12

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Dass sich der Utilitarismus trotz aller Schwierigkeiten als ernstzunehmender Ethikansatz gehalten hat, liegt vermutlich daran, dass er von den damals neu entstehenden Wirtschaftswissenschaften aufgegriffen wurde. Der Überführung lag freilich eine Grundoperation zugrunde: An die Stelle des Nutzenkalküls, das der unparteiische Beobachter durchführen sollte, rückten die Klassiker wie Adam Smith den Markt, der all die schwierigen Bewertungsfragen dadurch löst, dass er allem einen Preis gibt. Der Vorteil des Marktverfahrens liegt auf der Hand: Das, was gekauft wird, wird offenbar mehr geschätzt, als das, was nicht gekauft wird. Folglich ist der Markt das real durchgeführte Nutzenkalkül; seine Ergebnisse, das in Preisen gemessene BIP, bilden die Wohlfahrt ab, denn in ihnen spiegeln sich unzählige Wertentscheidungen. Bei den Klassikern ging es also nicht nur um die Frage nach der Allokationseffizienz von Märkten, sondern immer auch um die Frage, welches Verteilungsverfahren bestmöglich den freien Wertentscheidungen der Menschen entspricht.15 Erst mit der Neoklassik setzte ein Bruch ein: Die realen Bedürfnisse der Menschen und ihre Wertentscheidungen, die sich letztlich in den Preisen äußern, wurden als gegebene Präferenzen in der Axiomatik verborgen. 16 Somit erscheinen die schwierigen Fragen zur Bestimmung der Wohlfahrt völlig an den Markt delegierbar, wodurch die Ökonomie als Wissenschaft sich dem vermeintlich wertfreien Sachproblem zuwenden konnte, die Voraussetzungen eines effizienten Marktes zu bestimmen.17 In solch einem positivistischen Sinne hat sich in der Folge der Mainstream der neoklassischen Wirtschaftswissenschaften entwickelt: Wenn der Markt die ausgezeichnete Arena ist, in der die Wertentscheidungen aufeinandertreffen und durch den Preismechanismus ausgeglichen werden, dann ist das Feld bereitet für ein expertokratisches Regime, das dafür zu sorgen hat, dass der Marktmechanismus bestmöglich funktioniert und die Wohlfahrt optimiert. Das große Problem des Utilitarismus ist indes, dass er keine deontologischen Normen kennt. Gerechtigkeit oder auch Umweltschutz sind nur insofern relevant, als Menschen sie wertschätzen. In einer Gesellschaft ohne mehrheitliche Präferenz für menschenwürdige Lebensbedingungen leben Arme nicht gut. 18 Man kann John Rawls Theorie der Gerechtigkeit als Versuch auffassen, dem Utilitarismus zu begegnen und aus der ökonomischen Entscheidungstheorie unter radikaler Unsicherheit („Schleier des Nichtwissens“) eine Präferenz für Gerechtigkeits-, nicht für Nutzenkategorien unterzuschieben. Weiß man nicht, an welcher Position innerhalb der Gesellschaft man einmal landen wird – arm oder reich, in verschmutzen Landstrichen oder in intakter Umwelt – dann ist es ___________ 15

Vgl. hierzu mit Blick auf Smiths Hauptwerke Wallacher (2011), S. 100ff. Vgl. Zinn (1987), S. 68. 17 Vgl. Külp (1993), S. 1332. 18 Vgl. Wallacher (2011), S. 102. 16

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rational, für gesellschaftliche Grundregeln zu stimmen, die sich an eindeutigen Gerechtigkeitsgrundsätzen orientieren: Jeder soll gleiche Rechte haben, jeder soll ökonomisch möglichst gut und möglichst gleich gestellt werden.19 Damit ist dem Wohlfahrtsgedanken, der als Summe kontingenter Wertungen verstanden wird, ein unhintergehbares Korsett aus deontologischen Normen des Richtigen gegeben.

III. Expertokratie vs. Demokratie. Oder: Wofür braucht es überhaupt Markt und öffentlichen Diskurs? Derzeit kehren all die Fragen zurück, die in der Formierungszeit der Wirtschaftswissenschaften ausgeblendet wurden und deren Ausblendung in den großen Schulstreiten verteidigt wurde.20 Allerdings hat sich das Bewusstsein für die moralisch relevanten Grundentscheidungen längst verloren, weshalb nun in Expertengremien mit gesteigerter Dringlichkeit daran gearbeitet wird, die externen Effekte in den Markt wieder einzupreisen bzw. deren Auswirkungen auf die Wohlfahrt mit integrativen Indikatoren zu fassen. Dies bringt freilich das große Problem mit sich, dass moralisch relevante Fragen aus der politischen Öffentlichkeit, die den eigentlichen Sitz solcher Auseinandersetzungen darstellt, in exklusive Expertengremien verlagert werden. Insbesondere mit dem Klimawandel stellt sich die dringliche Frage: Soll am Markt als dem Verfahren festgehalten werden, durch das die Wertentscheidungen vermittelt werden? Dies hängt mit dem Grundproblem der „Monetarisierung“ zusammen: Allem, was bisher keinen Preis hat, muss ein fiktiver Preis zugeteilt werden, z. B. der Atmosphäre.21 Neben dem Problem, dass man notgedrungen den Umweltschäden immer „hinterherhechelt“, stellt sich eine viel fundamentalere Frage: Wer berechnet diese Preise anhand welcher Vergleichsgrößen? Es bräuchte eigentlich einen unparteiischen Beobachter, der dies souverän in ein Bewertungskalkül überführt. Auch Schrooten hat das Problem vor Augen, wenn sie schreibt: „Eine Bewertung ökologischer Prozesse in Geldeinheiten erleichtert bestenfalls vordergründig die Analyse; tatsächlich birgt sie erhebliche methodische Probleme in sich.“22 Leider bricht sie auch an dieser Stelle die Reflexion ab, ohne auf Alternativen zur Einpreisung einzugehen. ___________ 19

Vgl. Rawls/Vetter (1975), S. 201ff. Nach Swedberg (1990), S. 33ff sind dies der Methodenstreit, der Werturteilsstreit und der Positivismusstreit. 21 Vgl. Engels (2010), S. 71. 22 Vgl. Schrooten (2012), S. 213. 20

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Ein Blick in die Wirtschaftsgeschichte kann dabei erhellend sein. Ende des 19. Jahrhunderts gab es mit der sozialen Frage ähnlich drängende Probleme, die mit dem Ungenügen der reinen Marktpreise zu tun hatten. Im Vordergrund stand damals der Preis der Ware „Arbeit“. Die Wirtschaftstheorie verwies darauf, dass das Wechselspiel von Angebot und Nachfrage dies regelt und somit die Wohlfahrt erhöht. Von den Kritikern der neoklassischen Ökonomie, von Marx bis zu den Vertretern der katholischen Soziallehre, wurde dagegen eingewandt, dass in den Marktergebnissen nicht nur Wertentscheidungen, sondern auch Machtverhältnisse zum Ausdruck kommen.23 Nicht zuletzt aufgrund der moralischen Empörung darüber, dass Menschen keinen Preis, sondern einen unbezifferbaren Wert haben, verschob sich die Arena der Auseinandersetzung: 1. Im politischen Diskurs wurde darum gerungen, was als Mindestmaß für würdige Arbeit zu gelten habe. Auf politischen Druck hin, der besonders von der Arbeiterbewegung ausging, wurden absolute Standards gesetzt, die uneingeschränkt für alle wirtschaftlichen Prozesse zu gelten haben – angefangen von den Menschenrechten bis hin zu den Richtlinien des Arbeitsschutzes. Aus Gründen der Gerechtigkeit wurden also Bereiche definiert, die nicht unter Nutzenaspekten betrachtet werden durften. 2. Zugleich bildeten sich innerhalb des Wirtschaftssystems Verbände, die unter Druck und Gegendruck Preise für die „Ware“ Arbeit aushandelten. Damit die Löhne flexibel bleiben, wurden keine absoluten Standards gesetzt, sondern mit dem Tarifvertragssystem lediglich ein Verfahren benannt, das jenseits des Marktes einen fairen Interessenausgleich verspricht, solange einige Grundvoraussetzungen gewährleistet sind (bilaterales Monopol von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden; Ergebnisoffenheit der Verhandlungen; Gegnerunabhängigkeit der Parteien etc.) 24 Erst innerhalb dieser doppelten Zähmung des Marktes – durch Vorgaben der Gerechtigkeit, die sich aus den Menschenrechten ergeben, sowie durch faire Verfahrensvorgaben für die Aushandlung von Löhnen – konnte ein Festhalten am Markt gerechtfertigt werden. In einer Zeit, in der die Endlichkeit der Tragekapazitäten der Erde nicht bewusst war, galten die derart vorstrukturierten Marktergebnisse als faire Annäherung an die gesellschaftliche Wohlfahrt. Heute – im Bewusstsein, dass die Tragekapazität der Erde beschränkt ist – stellt sich die Situation radikal dringlicher dar. Der Rückgriff auf die „Wohlfahrt“ hilft beim Thema „Nachhaltigkeit“ nicht weiter: Es reicht nicht, neben die zwei Säulen Ökonomie und Soziales noch eine dritte – Ökologie – zu stellen, die jeweils der Wohlfahrt zuträglich sein müssen. Wohlwollend kann man das gängige 3-Säulen-Modell als Desiderat nach einem Entwicklungskonzept ___________ 23 24

Vgl. Nell-Breuning (1976), S. 618. Vgl. Nell-Breuning (1960), S. 132ff.

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verstehen, das Interdependenzen zwischen den verschiedenen Dimensionen berücksichtigt. Zumeist werden die Dimensionen jedoch gleichrangig behandelt, was Substituierbarkeit mit sich bringt. Das 3-Säulen-Modell ist ein Konzept schwacher Nachhaltigkeit, denn die intergenerationell zu sichernde Lebensqualität wird weiterhin als Befriedigung von Präferenzen gefasst. Da Präferenzen gemeinhin in Geldpreisen gemessen werden, ergibt sich eine Verengung auf den monetarisierten bzw. monetarisierbaren Konsum von Gütern. Natur wird in diesem Modell als wertfreie Ressource behandelt, als Naturkapital, das zur Produktion und zum Konsum genutzt werden kann. Sie ist grundsätzlich substituierbar. Jenseits des bereits angesprochenen Monetarisierungsproblems gehen damit zwei zentrale Schwierigkeiten einher:25 Erstens wird nicht unterschieden zwischen dem substituierbaren und dem „kritischen“, nicht-substituierbaren Naturkapital. Es gibt nämlich Bestandteile der Natur, die nicht ersetzbar sind, sondern notwendige Voraussetzung des Überlebens und der dauerhaften Wohlfahrt der Menschheit. Unter anderem gehören dazu die zentralen Funktionen des Ökosystems wie bspw. die Filterung von Wasser, der Stickstoffkreislauf etc. Zweitens ist zu beachten, dass ökologische Funktionen meist multifunktional sind, wobei nie alle Funktionen bekannt sein werden. Wollte man diese Funktionen künstlich ersetzen, bräuchte es für jede Funktion ein artifizielles Substitut. Bienen sind bspw. nicht nur Nahrungsmittel für andere Tiere und Honigproduzenten, sondern sie gewährleisten auch die Bestäubung, die kaum künstlich bewerkstelligt werden kann. Sozialethisch spricht also vor allem ein Vorsichtsargument gegen das Konzept schwacher Nachhaltigkeit: Die Substitutionsthese ist eine Wette auf den Erfindungsgeist der Menschheit. Es liegt durchaus im Bereich des Möglichen, dass eine umfassende Substitution gelingt. Es kann aber auch schiefgehen, wobei die Folgen dann im schlimmsten Fall irreversibel sind. Es braucht also ein Konzept starker Nachhaltigkeit, das die Interdependenzen zwischen Wirtschaft, Sozialem und Ökologie fundamental anders fasst. Eine intakte Geo- und Biosphäre ist Voraussetzung menschlichen Lebens. Das Wirtschaftssystem ist damit zumindest in zwei Hinsichten abhängig vom Ökosystem: Zum einen bedarf es dessen als Ressourcenquelle, zum andern als Aufnahmepool für Abfälle und Ausstöße. Das bedeutet, dass Naturkapital nicht unbegrenzt durch Sachkapital ersetzt werden kann. Zumindest das kritische Naturkapital muss um jeden Preis erhalten werden. Starke Nachhaltigkeit umschreibt die Bedingung der Möglichkeit dafür, dass Menschen langfristig leben und sich entfalten können. Sie ist die grundlegende Voraussetzung von Wohlfahrt. So bringt starke Nachhaltigkeit eine allgemeine Umkehrung der Blickrichtung mit sich: Auch wenn wir Natur substituieren könnten, sollten wir es denn tun? Zum einen kennen wir nicht alle nicht-monetären Nutzungsarten von ___________ 25

Vgl. Ott/Döring (2008). S. 163–165.

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Natur, die positiv zur Wohlfahrt beitragen. Zum anderen können wir unmöglich wissen, welche Nutzungsarten kommende Generationen wertschätzen werden. Warum sollte der Natur nicht ein Eigenwert zugesprochen werden, der prima facie nicht verrechnet werden darf?26 Um nicht gänzlich auf marktwirtschaftliche Arrangements verzichten zu müssen, bräuchte es analog zur Lösung der sozialen Frage – politische Setzung absoluter Mindeststandards für würdige Arbeit, Implementierung von Verfahren des Interessenausgleichs – mit Blick auf die globale Umwelt- und Klimafrage eine Differenzierung zwischen absoluten Standards, die die zentralen Funktionen des Ökosystems schützen, und Verfahren, die herangezogen werden können, wenn es um den Ausgleich von Nutzungsinteressen an Umweltressourcen geht. Bei der Setzung absoluter Nachhaltigkeitsstandards, die die nichtsubstituierbaren Teile des Ökosystems sichern, ist man auf die Expertise von Naturwissenschaftlern angewiesen. Beim Ausgleich von Nutzungsinteressen, die im Zuge des Klimawandels zu einer extremen Zunahme von sozialen Konflikten führen wird, stellen sich jedoch ständig moralisch relevante Fragen, die nicht eindeutig zu beantworten sind: Welches Nutzungsinteresse ist legitim? Welches soll Vorrang haben? Das Ideal des unparteiischen Beobachters gilt dabei weiterhin. Doch ist es naiv zu glauben, Wissenschaftler könnten unvoreingenommen einen vereinheitlichenden Indikator definieren, der als Maß und zugleich als Kompass für Lebensqualität oder nachhaltiges Wachstum dient. Der Wunsch der Politik nach handfesten Nachhaltigkeitsindikatoren oder umweltökonomischen Konzepten ist dabei überaus verständlich. Allerdings überfordert sie die Experten, wenn jene nun die politischen Entscheidungen vorweg nehmen sollen, indem sie elegante Indikatoren entwickeln, bei denen die Wertungs- und Gewichtungsfragen bereits vorentschieden sind. Angesichts der harten Verteilungskonflikte, die im Zuge des Klimawandels auftreten werden, ist es dringlicher zu klären, wer in den Verfahren, die dem Ideal des unparteiischen Beobachters nahe kommen sollen, vertreten sein muss. Dafür sind repräsentative, demokratisch legitimierte Aushandlungsgremien einzusetzen, in die neben Experten und Interessengruppen auch soziale Bewegungen einzubeziehen sind. Als Ethiker, als Wirtschaftswissenschaftler oder als Biologe sollte man die Leistungsfähigkeit seiner wissenschaftlichen Disziplin (aner-)kennen. Zur Vermittlung der disziplinären Erkenntnisse kann man nur im realen Diskurs kommen. Von daher sind lose und eklektische Indikatorenbündel vermutlich ehrlicher und diskursfähiger als Indikatoren, die auf fraglicher Basis integriert sind. Ökonomen können hierzu einen Beitrag leisten, indem sie Analysen vorlegen, wie sich Menschen in kontextualisierten Interaktionsräumen wie Märk___________ 26

Vgl. Ott/Döring (2008), S. 170.

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Wolf-Gero Reichert

ten wohl verhalten werden, wenn entsprechende Nachhaltigkeitsreformen umgesetzt würden. Völlig ausgeschlossen ist es jedoch, aus der Wirtschaftswissenschaft selbst eine normative Sozialwissenschaft zu machen, die alle Fragen der Wohlfahrt und der Nachhaltigkeit abhandelt und die Antwort in fertigen Indikatoren präsentiert. Damit sind die Ökonomen überfordert und alle anderen Menschen entmündigt.

Literatur Engels, Anita (2010): Die soziale Konstitution von Märkten. In: Beckert, Jens/ Deutschmann, Christoph (Hrsg./2010): Wirtschaftssoziologie, Wiesbaden, S. 67–86. Höffe, Otfried (1975): Einführung in die utilitaristische Ethik. Klassische und zeitgenössische Texte, München. Kroll, Christian (2011): Wie wollen wir zukünftig leben? Internationale Erfahrungen bei der Neuvermessung von Fortschritt und Wohlergehen. Berlin. Külp, Bernhard (1993): Wohlfahrt, Wohlstand, in: Enderle, Georges (Hrsg./1993): Lexikon der Wirtschaftsethik. Freiburg, S. 1332–1333. Miegel, Meinhard (2010): Exit. Wohlstand ohne Wachstum. Berlin. Nell-Breuning, Oswald von (1960): Kapitalismus und gerechter Lohn. Freiburg. – (1976): Wir alle stehen auf den Schultern von Karl Marx, in: Stimmen der Zeit, 194, S. 616–622. Nietzsche, Friedrich/Colli, Giorgio (1980): Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. München. Pogge, Thomas (2008): Wachstum ist gut. Nur welches Wachstum? in: Weder, Beatrice (Hrsg./2008): Chancen des Wachstums. Globale Perspektiven für den Wohlstand von morgen, Frankfurt, S. 329–354. Rawls, John/Vetter, Hermann (1975): Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt. Seidl, Irmi/Zahrnt, Angelika (2010): Argumente für einen Abschied vom Paradigma des Wirtschaftswachstums, in: Seidl, Irmi/Zahrnt, Angelika (Hrsg./2010): Postwachstumsgesellschaft. Konzepte für die Zukunft. Marburg, S. 23–36. Swedberg, Richard (1990): The New ,Battle of Methods‘, in: Challenge, 1, S. 33–38. Wallacher, Johannes (2011): Die bleibende Bedeutung der Politischen Ökonomie von Adam Smith, in: Hochgeschwender, Michael/Löffler, Bernhard (Hrsg./2011): Religion, Moral und liberaler Markt. Politische Ökonomie und Ethikdebatten vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bielefeld, S. 89–106.

Autorenverzeichnis Bünger, Dr. Björn, Institut für Finanzwissenschaft II, Universität Münster. Erber, Dr. Georg, Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), Berlin. Goldschmidt, Prof. Dr. Nils, Fakultät für angewandte Sozialwissenschaften, Hochschule für angewandte Wissenschaften München. Hirata, Prof. Dr. Johannes, Volkswirtschaftslehre, Fakultät Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Hochschule Osnabrück. Küppers, Dr. Arnd, Katholische Sozialwissenschaftliche Zentralstelle, Mönchengladbach. Lenger, Alexander, Dipl.-Volkswirt, M.A. Soziologie, Arbeitsstelle Wirtschaftsethik, Goethe-Universität Frankfurt am Main. Lerbs, Dr. Oliver, Institut für Siedlungs- und Wohnungswesen, Universität Münster. Lienkamp, Prof. Dr. Andreas, Katholische Theologie, Lehrstuhl für Christliche Sozialwissenschaften, Universität Osnabrück. Meyer, Eric Christian, Institut für Genossenschaftswesen, Universität Münster. Post, Dr. Franz-Joseph, Verein für Katholische Arbeiterkolonien in Westfalen, Münster. Reichert, Wolf-Gero, Diplom-Theologe, Volkswirt und Philosoph (M.A.), Oswald von Nell-Breuning-Institut, Frankfurt a.M. Schallenberg, Prof. Dr. Peter, Lehrstuhl für Moraltheologie und Ethik der Theologischen Fakultät der Universität Paderborn. Schramm, Prof. Dr. Michael, Lehrstuhl für Katholische Theologie und Wirtschaftsethik, Universität Hohenheim. Schrooten, Prof. Dr. Mechthild, Professorin für Volkswirtschaftslehre an der Hochschule Bremen, Forschungsprofessorin am DIW Berlin und Mitglied der Arbeitsgruppe „Alternative Wirtschaftspolitik“. van Suntum, Prof. Dr. Ulrich, Institut für Siedlungs- und Wohnungswesen, Universität Münster. Voßwinkel, Dr. Jan S., Stiftung Ordnungspolitik, Freiburg. Wiemeyer, Prof. Dr. Joachim, Lehrstuhl für Christliche Gesellschaftslehre, Universität Bochum. Wilhelmi, Prof. Dr. Rüdiger, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels-, Gesellschaftsund Wirtschaftsrecht sowie Rechtsvergleichung, Universität Konstanz.