Effi Briest-Handbuch [1. Aufl. 2019] 978-3-476-04873-8, 978-3-476-04874-5

„Eine Romanbibliothek der rigorosesten Auswahl, und beschränkte man sie auf ein Dutzend Bände, auf zehn, auf sechs, – si

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German Pages XII, 330 [332] Year 2019

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Effi Briest-Handbuch [1. Aufl. 2019]
 978-3-476-04873-8, 978-3-476-04874-5

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XII
Front Matter ....Pages 1-1
1 Das späte 19. Jahrhundert (Christian Geulen)....Pages 3-8
2 Das literarische (Um-)Feld (Lothar Bluhm)....Pages 9-12
3 Effi und ihresgleichen (Hugo Aust)....Pages 13-22
4 Die soziale Stellung der Frau (Iris Meinen)....Pages 23-29
5 Nation und Nationalismus (Stefan Neuhaus)....Pages 30-35
Front Matter ....Pages 37-37
6 Theodor Fontane: Leben und Werk (Cord Beintmann)....Pages 39-50
7 Bekanntschaft mit anderen Autoren (Cord Beintmann)....Pages 51-55
8 Selbstzeugnisse (Rolf Selbmann)....Pages 56-60
9 Die Ardenne-Affäre (Rolf Selbmann)....Pages 61-63
10 Anmerkungen zur ›Judenfrage‹ (Hans Otto Horch)....Pages 64-67
11 Effi und Cécile: Bezüge zuFiguren und Motiven in Fontanes Werk (Stefan Neuhaus)....Pages 68-72
12 Bezüge zu Irrungen, Wirrungen (Klaus Müller-Salget)....Pages 73-75
13 Handlung (Johann Holzner)....Pages 76-85
14 Figuren (Klaus Müller-Salget)....Pages 86-97
Front Matter ....Pages 99-99
15 Der Roman im Spiegel der zeitgenössischen Kritik (Christoph Jürgensen)....Pages 101-106
16 Die übersetzerische Rezeption (Wolfgang Pöckl)....Pages 107-112
17 Die Rezeption im Drama (Iris Meinen)....Pages 113-118
18 Produktive Rezeption: Spuren in anderen literarischen Werken (Helga Arend)....Pages 119-124
19 Theodor Fontane und Thomas Mann (Hans Otto Horch)....Pages 125-130
20 Verfilmungen (Christiane Schönfeld)....Pages 131-145
Front Matter ....Pages 147-147
21 Natur-, Jahreszeiten- und Wettersymbolik (Rolf Selbmann)....Pages 149-152
22 Der Chinesen-Spuk als »ein Drehpunkt für die ganze Geschichte (Klaus Müller-Salget)....Pages 153-155
23 Familie (Veronika Schuchter)....Pages 156-160
24 Ehe, Erotik und Sexualität (Rolf Selbmann)....Pages 161-165
25 Krankheit und Tod (Veronika Schuchter)....Pages 166-170
26 Bürgerlichkeit und Gesellschaft (Helmut Schmiedt)....Pages 171-174
27 Geographie und Architektur (Rolf Selbmann)....Pages 175-178
28 Räume (Rolf Selbmann)....Pages 179-182
29 Philosophie (Werner Moskopp)....Pages 183-190
30 Religion (Irene Zanol)....Pages 191-198
31 Bildung (Volker Ladenthin)....Pages 199-203
32 Kunst und Musik (Klaus Müller-Salget)....Pages 204-206
33 Literatur (Rolf Selbmann)....Pages 207-212
Front Matter ....Pages 213-213
34 Literatur und Theorie (Stefan Neuhaus)....Pages 215-220
35 Theoriegeleitet Fontane interpretieren: »Effis Zittern: ein Affektsignal und seine Bedeutung« (Jürgen Wertheimer)....Pages 221-224
36 Erzähltheorie/Narratologie (Michael Scheffel)....Pages 225-232
37 Hermeneutik (Ilona Mader)....Pages 233-239
38 Werkimmanente Interpretation (Michael Braun)....Pages 240-243
39 Psychoanalyse (Veronika Schuchter)....Pages 244-251
40 Erinnerungs- und Gedächtnistheorien (Anna Braun)....Pages 252-259
41 Konstruktivismus und Dekonstruktion (Irmtraud Hnilica)....Pages 260-267
42 Diskursanalyse (Helmut Grugger)....Pages 268-276
43 Gender Studies (Christine Kanz)....Pages 277-286
44 Alterität (Sabine Egger)....Pages 287-293
45 Emotionsforschung (Michael Braun)....Pages 294-299
46 Subjekt- und Identitätstheorien (Florian Huber)....Pages 300-307
Erratum zu: Effi Briest-Handbuch (Stefan Neuhaus)....Pages E1-E1
Back Matter ....Pages 309-330

Citation preview

Stefan Neuhaus (Hg.)

Effi Briest Handbuch

Stefan Neuhaus (Hg.)

Effi Briest-Handbuch

J. B. Metzler Verlag

Der Herausgeber

Stefan Neuhaus ist Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz.

ISBN 978-3-476-04873-8 ISBN 978-3-476-04874-5 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-476-04874-5 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten.

Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Einbandgestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart (Foto: United Archives / Alamy Stock Photo) J. B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

Inhalt

Einleitung VII Editorische Vorbemerkung Siglen XII

XII

18 Produktive Rezeption: Spuren in anderen literarischen Werken Helga Arend 119 19 Theodor Fontane und Thomas Mann Hans Otto Horch 125 20 Verfilmungen Christiane Schönfeld 131

I Literaturgeschichte 1 2 3 4 5

Das späte 19. Jahrhundert Christian Geulen 3 Das literarische (Um-)Feld Lothar Bluhm 9 Effi und ihresgleichen Hugo Aust 13 Die soziale Stellung der Frau Iris Meinen 23 Nation und Nationalismus Stefan Neuhaus 30

II Autor und Werk 6 Theodor Fontane: Leben und Werk Cord Beintmann 39 7 Bekanntschaft mit anderen Autoren Cord Beintmann 51 8 Selbstzeugnisse Rolf Selbmann 56 9 Die Ardenne-Affäre Rolf Selbmann 61 10 Anmerkungen zur ›Judenfrage‹ Hans Otto Horch 64 11 Effi und Cécile: Bezüge zu Figuren und Motiven in Fontanes Werk Stefan Neuhaus 68 12 Bezüge zu Irrungen, Wirrungen Klaus Müller-Salget 73 13 Handlung Johann Holzner 76 14 Figuren Klaus Müller-Salget 86

III Rezeption 15 Der Roman im Spiegel der zeitgenössischen Kritik Christoph Jürgensen 101 16 Die übersetzerische Rezeption Wolfgang Pöckl 107 17 Die Rezeption im Drama Iris Meinen 113

IV Themen, Motive und Symbole 21 Natur-, Jahreszeiten- und Wettersymbolik Rolf Selbmann 149 22 Der Chinesen-Spuk als »ein Drehpunkt für die ganze Geschichte« Klaus Müller-Salget 153 23 Familie Veronika Schuchter 156 24 Ehe, Erotik und Sexualität Rolf Selbmann 161 25 Krankheit und Tod Veronika Schuchter 166 26 Bürgerlichkeit und Gesellschaft Helmut Schmiedt 171 27 Geographie und Architektur Rolf Selbmann 175 28 Räume Rolf Selbmann 179 29 Philosophie Werner Moskopp 183 30 Religion Irene Zanol 191 31 Bildung Volker Ladenthin 199 32 Kunst und Musik Klaus Müller-Salget 204 33 Literatur Rolf Selbmann 207

V Theoretische Zugänge 34 Literatur und Theorie Stefan Neuhaus 215 35 Theoriegeleitet Fontane interpretieren: »Effis Zittern: ein Affektsignal und seine Bedeutung« Jürgen Wertheimer 221 36 Erzähltheorie/Narratologie Michael Scheffel 225 37 Hermeneutik Ilona Mader 233 38 Werkimmanente Interpretation Michael Braun 240 39 Psychoanalyse Veronika Schuchter 244

VI

Inhalt

40 Erinnerungs- und Gedächtnistheorien Anna Braun 252 41 Konstruktivismus und Dekonstruktion Irmtraud Hnilica 260 42 Diskursanalyse Helmut Grugger 268 43 Gender Studies Christine Kanz 277 44 Alterität Sabine Egger 287 45 Emotionsforschung Michael Braun 294 46 Subjekt- und Identitätstheorien Florian Huber 300

Anhang Zeittafel Cord Beintmann 311 Auswahlbibliographie 314 Autorinnen und Autoren 319 Personenregister 320 Sach- und Werkregister 323

Einleitung

»Aber ob nach dem Leben oder nicht, die Kunst hat eben ihre eignen Gesetze.« Brief Theodor Fontanes an Siegfried Samosch vom 18. September 1891 (DÜW 2, 423)

»Eine Romanbibliothek der rigorosesten Auswahl, und beschränkte man sie auf ein Dutzend Bände, auf zehn, auf sechs, – sie dürfte ›Effi Briest‹ nicht vermissen lassen.« Dieses hohe Lob spendete 1919, also vor rund 100 Jahren und 100 Jahre nach Fontanes Geburt, kein Geringerer als Thomas Mann, der, wenn man in seiner Besprechung von Conrad Wandreys Buch über Fontane (Wandrey 1919) weiterliest, das Lob zu einem Preis der Kunst erweitert. So wird Effi Briest zu dem prototypischen Beispiel für das Beste, das nur die Kunst zu schaffen vermag: »Heißt es nicht, kein Gebilde aus Menschenhand sei vollkommen? Und doch, so sehr man gestimmt sein mag, der Menschheit Bescheidenheit anzuraten, – der Satz ist falsch, es gibt das Vollkommene, als Künstler bringt der Mensch es träumerisch zuweilen hervor. Das sind seltenste Glücksfälle [...]« (Mann 1990, 10, 577). Thomas Mann spielt hier zugleich auf eine berühmte Ballade Fontanes an, Die Brück am Tay, und zwar auf die von den Hexen gesprochenen Zeilen: »Tand, Tand, / Ist das Gebilde von Menschenhand« (Fontane 1989, 1, 166 und 168), auf diese geistreiche Weise Fontane zugleich widerlegend und feiernd. Thomas Mann ist immer wieder in Reden und Aufsätzen auf Fontane zu sprechen gekommen (s. Kap. 19). Aus dem Jahr 1910 stammt das frühe Bekenntnis: »Und er ist unser Vater [...]« (Mann 1990, 13, 817). Das lässt sich auch ganz praktisch verstehen. Fontanes Prosa dürfte vorbildhaft für den Autor Thomas Mann gewesen sein, etwa die »typische[] Funktion der Gespräche« (Moulden/Wilpert 1988, 66; auch 98–99). Auch ist anzunehmen, dass Mann den Namen, der seinem ersten und nobelpreisgekrönten Roman von 1901 den Titel gegeben hat, aus Effi Briest entlehnt hat (Mattern/Neuhaus 2018, 9 und 182). Auf die Frage Innstettens, wer Crampas sekundieren wird, antwortet Wüllersdorf:

»Er nannte zwei, drei Adlige aus der Nähe, ließ sie dann aber wieder fallen, sie seien zu alt und zu fromm, er werde nach Treptow hin telegraphieren an seinen Freund Buddenbrook. Und der ist auch gekommen, famoser Mann, schneidig und doch zugleich wie ein Kind. Er konnte sich nicht beruhigen und ging in größter Erregung auf und ab. Aber als ich ihm alles gesagt hatte, sagte er gerade so wie wir: ›Sie haben recht, es muß sein!‹« (283).

Die Nebenfigur Buddenbrook spiegelt die Überzeugungen der zentralen Figuren und wirft so einmal mehr die Frage nach der Sinnhaftigkeit einer starren, Menschenleben kostenden Ordnung auf (s. Kap. 5, 14, 26, 41, 42). Gerade diese nur kurz in Erscheinung tretende und dennoch für die Konstruktion des Romans nicht unwesentliche Figur als geheimen Paten zu wählen wäre, selbst wenn die anderen Erklärungen zur Genese des Namens für Buddenbrooks eher stimmen sollten (z. B. ein Flurname, vgl. Mann 2002 ff., 1.2, 32), eine zu Thomas Manns Verfahren der geistreichen Anspielung passende Pointe. Jedenfalls klingen seine Ausführungen zu Fontane in weiten Teilen so, als habe er auch über sich selbst geschrieben: »Denn was wäre Dichtung, wenn nicht Ironie, Selbstzucht und Befreiung?« (Mann 1990, 10, 580). Das Interesse nicht nur an Effi Briest, an Fontane und seinem Werk ist nach wie vor ungebrochen (s. Kap. 15–18, 20) und bedarf auch deshalb weiterer Erforschung. Ein Call for Papers für ein Panel im Rahmen der 43rd Annual Conference der US-amerikanischen German Studies Association (GSA) im Oktober 2019 in Portland, mit dem auf den runden Geburtstag anspielenden Titel »Fontane at 200«, verkündet: »On the 200th birthday of Theodor Fontane, this panel series aims to assess the relevance of Fontane today.

VIII

Einleitung

Such an assessment is overdue. While Fontane remains a canonical figure in the German literary canon, the most important representative of poetic realism, and likely the best German-language novelist between Goethe and Mann, the scholarly attention devoted to Fontane’s works often lags behind his stature [...]« (Lyon 2018).

Fontanes Romane sind, so heißt es weiter, einerseits in der Zeitgeschichte verwurzelt und behandeln andererseits zahlreiche Themen, die auch heute aktuell sind: »e. g., financial crisis, class conflict, changing gender roles, and migration« (ebd.). Dass ausgerechnet der 1895 und nach einer lebensbedrohlichen Krise des alten Fontane (FHb, 634) veröffentlichte Roman Effi Briest zu einem der erfolgreichsten Werke deutscher Sprache werden sollte, dass gerade dieser Roman weiterhin eine ebenso beliebte Lektüre an Schulen und Universitäten ist wie er von Menschen geliebt wird, die aus ganz privaten Gründen lesen, das dürfte auch noch viele andere Ursachen haben, denen jede Arbeit über den Roman und somit auch das vorliegende Handbuch nachzugehen bemüht sein sollte. Kurzgefasst und vorausschickend könnte man sagen: Effi Briest ist ein Roman, der all jenen Ansprüchen gerecht wird, wie sie Goethe im »Vorspiel auf dem Theater« des Faust in parodistischer und zugleich doch auch ernst gemeinter Weise in den Positionen von Dichter (Produzent), Direktor (Vermittler) und Lustiger Person (Figur, Werk) spiegelt, etwa wenn der Direktor meint: »Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen; / Und jeder geht zufrieden aus dem Haus« (Goethe 1998, 3/1, 11), oder wenn die Lustige Person feststellt: »Greift nur hinein ins volle Menschenleben! Ein jeder lebt’s, nicht vielen ist’s bekannt, / Und wo ihr’s packt, da ist’s interessant« (Goethe 1998, 3/1, 13). Fontanes Zeitroman – eine neue Gattung, deren Erfindung ihm zugeschrieben wird – greift hinein ins volle Menschenleben der Gesellschaft des zweiten deutschen Kaiserreichs, deren immer noch durch feudale Machthierarchien und protestantisch-bürgerliche Moralvorstellungen geprägte Ordnungsmuster auf den Prüfstand gestellt werden und diese Prüfung aus vielerlei noch zu diskutierenden Gründen nicht bestehen (s. Kap. 1, 2, 4, 5, 6, 23, 24, 30, 31, 39, 43, 44). Vertreter*innen verschiedenster Stände, gesellschaftlicher Gruppierungen und Professionen kommen vor, auch wenn der Schwerpunkt auf dem niederen Adel oder dem Großbürgertum liegt (s. Kap. 26). Abgesehen von prekären sozialen und wirtschaftlichen Abhängigkeiten sind die Pro-

bleme der Figuren (s. Kap. 14), so zeigt sich etwa im Vergleich von Effi und Roswitha (so wenig Effi dies wahrhaben will), erkennbar ständeübergreifend. Das Faust-Zitat ist auch in poetologisch-biographischem Sinn Programm. Es findet sich bereits bei dem nicht mehr ganz jungen, aber auch noch nicht zum Romanautor gewordenen Fontane in seinem Aufsatz Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848 aus dem Jahr 1853: »Wohl ist das Motto [des Realismus] der Goethesche Zuruf: / Greif nur hinein ins volle Menschenleben, / Wo du es packst, da ist’s interessant, / aber freilich, die Hand, die diesen Griff tut, muß eine künstlerische sein. Das Leben ist doch immer nur der Marmorsteinbruch, der den Stoff zu unendlichen Bildwerken in sich trägt [...]« (Fontane 1979a, 43). Doch welche Merkmale, Verfahren und Techniken sind es, die der Autor herauspräpariert, und welche Werkzeuge benutzt er dafür, um zu einem solchen Ergebnis zu gelangen? Thomas Mann durfte, weil er selbst ein bedeutender Autor war, die Schöpferkraft und Geniehaftigkeit von Schriftstellern wie Fontane feiern und konnte so nicht nur Fontane, sondern auch sich selbst als Genie inszenieren. Die Literatur- und Kulturwissenschaft freilich geht heute davon aus, dass wir es mit Texten zu tun haben, die eine besondere, komplexe Form der Mitteilung sind (s. Kap. 34); in den Worten Niklas Luhmanns: Die »Formen« von Kunst und Literatur »[...] werden als Mitteilung verstanden, ohne Sprache, ohne Argumentation. Anstelle von Worten und grammatischen Regeln werden Kunstwerke verwendet, um Informationen auf eine Weise mitzuteilen, die verstanden werden kann« (Luhmann 1997, 39). Wenn wir mit Luhmann die Gesellschaft als Ergebnis eines Prozesses der Sinnstiftung in einer von »Kontingenz« geprägten Welt betrachten (Luhmann 1997, 16), dann verdoppeln Kunst und Literatur diesen Konstruktionsprozess (s. Kap. 41) mit den ihnen eigenen Regeln, die von der konventionalisierten Alltagskommunikation abweichen. Deshalb sind beim Betrachten von Kunstwerken wie beim Lesen von literarischen Texten »Was-Fragen durch Wie-Fragen zu ersetzen« (Luhmann 1997, 147). Mit anderen Worten: Die Handlung zusammenzufassen ist keine Kunst, aber die Art und Weise, wie diese Handlung literarisch gestaltet worden ist, zu beschreiben – das erfordert eine voraussetzungsreiche Argumentation (s. Kap. 13). Zumal das zentrale Kriterium für die Beurteilung von Kunst und Literatur Neuheit ist, vor allem auf formaler (also sprachlicher und struktureller) Ebene: »Nicht zuletzt liegt darin eine Prämie auf Komplexität des Arrange-

Einleitung

ments der Formen, denn das bietet die Chance, auch bei wiederholtem Durchgang immer wieder etwas Neues zu entdecken, was dann um so überraschender kommt« (Luhmann 1997, 85). Um Neuheit zu erkennen, muss man wissen, was es vorher schon gab. Die Neuheit dieses Romans bezieht sich auf die Literatur- und Sozialgeschichte gleichermaßen (s. Kap. 38). Fontane war ein belesener und gebildeter Autor und Effi Briest zitiert indirekt oder direkt zahlreiche Autoren und Werke (s. Kap. 33), etwa Romane Sir Walter Scotts oder Gedichte Heinrich Heines. Die Handlung selber bezieht sich auf eine zeitgenössische ›reale‹ Affäre (s. Kap. 9); allerdings hat das Vorbild für die Figur Effi Briest, Elisabeth von Ardenne, noch bis 1952 gelebt (FHb, 637). Die »Berliner Skandalgeschichte« ist Fontane »von Emma Lessing, der Frau des Eigentümers der Vossischen Zeitung«, erzählt worden (FHb, 636). Fontane ist nicht der Einzige, der aus dieser Geschichte literarisches Kapital gewonnen hat, allerdings ist der ebenfalls auf der Ardenne-Affäre basierende, 1897 erschienene Roman Zum Zeitvertreib des Schriftstellerkollegen Friedrich Spielhagen (Spielhagen 2015) heute eigentlich nur noch bekannt, weil es Effi Briest gibt. Fontanes Effi Briest scheint eine ›Mitteilung‹ anzubieten, die viele anspricht, von Leser*innen, die sich für die Liebesgeschichte oder das Zeitkolorit interessieren und sich vor allem mit der Figur Effi identifizieren, bis hin zu Wissenschaftler*innen, die sozial- oder literaturgeschichtliche Bezüge herstellen und diesen bekanntesten Roman wie die anderen Romane Fontanes auf ganz unterschiedliche Weise lesen; als Zeitroman, als Bildungs- oder Antibildungsroman, als politischen Roman oder gar als »kulturhistorisches Dokument« (Craig 1998, 230) von mit Daten und Fakten nicht beschreib- und erklärbaren gesellschaftlichen Dispositionen und davon abhängigen menschlichen Gefühlslagen. Zu den vielen Superlativen über den Schriftsteller Fontane gehört der Satz des renommierten Historikers Gordon A. Craig: »Es gibt niemanden, der ihm gleicht. Kein Schriftsteller seiner Zeit hat so viele Themen behandelt wie er« (Craig 1998, 10). Dass die Offenheit und somit Anschlussfähigkeit des Romans für Deutungen auch viele Spekulationen und Indienstnahmen für ganz besondere eigene Interpretationen zur Folge hat, wird in der Fontane-Forschung immer wieder deutlich. Zu den populären Fehleinschätzungen gehört die Auffassung, der Erzähler spiele keine wichtige Rolle: »Durch die hohe Dialogizität in den Romanen tritt der zumeist nullfokalisierte Erzähler oftmals stark in den Hintergrund. Die

IX

Handlung, so Barbara Naumann, ist auf die Gesprächsszenen zwischen seinen Figuren hin organisiert und kulminiert in diesen« (Murr u. a. 2018, 135). Klaus Müller-Salget und Michael Scheffel werden genauer erläutern, dass und weshalb dem nicht so ist (s. Kap. 14, 36). Ohnehin funktioniert die hier stillschweigend vorgenommene Gleichsetzung von allwissendem Erzähler und Trivialität des Erzählens nur bedingt, wenn man beispielsweise bedenkt, dass auch Franz Kafka einen allwissenden Erzähler verwendet. Nicht nur das Zurücktreten hinter die Figuren, auch die – bei Fontane wie bei Kafka – deutlichen Erzählerkommentare, die allerdings nun nicht mehr in einen auf den ersten Blick sinnhaften Deutungszusammenhang eingebunden sind (wenn sie nicht sogar gegen solche Deutungen arbeiten), verdienen Beachtung. Die Modernität des Romans zu begründen braucht es wohl noch mehr als dieses Handbuch, aber es sollte eine gute Grundlage dafür sein. Zwei Beispiele für diese Modernität lassen sich mit den Begriffen Liebe und Sexualität einerseits (s. Kap. 24), gesellschaftliche Normen und Konventionen andererseits bezeichnen. Crampas muss sterben, weil Effi und er einen »Schritt vom Wege« gegangen sind, wobei dieser Begriff als Beispiel für die bereits angesprochene intertextuelle Tiefe des Romans gelten kann. Ein Schritt vom Wege ist der Titel eines zeitgenössischen Lustspiels (!) von Ernst Wichert (Wichert 1873), das Fontane als Theaterkritiker gesehen und besprochen hat. Fontanes Besprechung beginnt mit den auch auf seinen Roman anzuwendenden Worten: »Ein altes Thema, gefällig variiert« (Fontane 1979b, 95). Allerdings findet Fontane durchaus kritische Worte über das heute wohl zu Recht vergessene Stück: »Die Kunst erheischt freilich noch ein weniges mehr, nicht Kopie, sondern Spiegelbild, nicht Abschreibung, sondern Vertiefung oder Verschönung des Daseins« (Fontane 1979b, 98). Keine Verschönung, aber Vertiefung findet in Effi Briest statt. Dort ist es Crampas, der das Stück, eine weihnachtliche Belustigung, als Regisseur inszeniert, mit Effi in der Hauptrolle. Anspielungsreich und, wenn man es auf den unmittelbar auf die Aufführung folgenden Seitensprung und die beginnende Affäre bezieht, durchaus anzüglich heißt es im Roman: »Der ›Schritt vom Wege‹ kam wirklich zu stande [...]« (169). Die 18-jährige Effi ist eben schon weiter als die, kurz vor Effis Seitensprung, mit Innstetten und Crampas kokettierende Tochter des Oberförsters Ring (176). Das Verhalten der pubertierenden Cora Ring wird von der gestrengen Sidonie vielsagend mit folgenden Worten charakterisiert – die drei Punkte sind die von

X

Einleitung

den Leser*innen aufzufüllende Leerstelle: »Ich habe noch keine Vierzehnjährige gesehen...« (185). ›...die sich so schamlos verhalten hat‹, ließe sich der Satz etwa vervollständigen. Sexualität als etwas einerseits Natürliches und andererseits Gefährliches zu inszenieren hat eine Tradition, die bis in die Gegenwartsliteratur hinein nichts von ihrer Brisanz verloren hat, man denke etwa an Elfriede Jelineks Roman Die Klavierspielerin von 1983, in dem es über »vierzehnjährige Mädchen mit ihren ersten Freunden« heißt, dass sie »noch mit dem Schrecken der Welt kätzchenartig herumspielen, bevor sie selbst ein Teil des Schreckens werden« (Jelinek 2009, 140). Allerdings sind die Mädchen oder Frauen, auch das wird in beiden Romanen deutlich, nicht die Taktgeber des Schreckens. In Die Klavierspielerin ist es der Klavierschüler Klemmer, der seine Lehrerin »unterwerfen« will (Jelinek 2009, 69), indem er sie benutzt, vor allem sexuell: »Lernen möchte er im Umgang mit einer um vieles älteren Frau – mit der sorgsam umzugehen nicht mehr nötig ist –, wie man mit jungen Mädchen umspringt, die sich weniger gefallen lassen. Könnte dies mit Zivilisation zu tun haben?« (Jelinek 2009, 68). Allerdings zeichnet sich auch Erikas Mutter durch äußerste Grausamkeit aus: »Die Mutter fügt Erika lieber persönlich ihre Verletzungen zu und überwacht sodann den Heilungsvorgang« (Jelinek 2009, 13). Den ironisch-kritischen Befund einer tendenziell menschenfeindlichen Ordnung nimmt bereits Effi Briest vorweg (s. Kap. 5, 25, 26, 41, 43). Darin ist es vor allem Innstetten, dessen Handeln alle offiziellen Repräsentanten bis hin zum Kaiser exkulpieren (338), allerdings auch die Ministerin. Zwar hilft sie Effi, ihre Tochter wiederzusehen (ein unglückliches Wiedersehen mit fatalen Folgen), doch betont sie gleichzeitig, dass sie das Verhalten Innstettens, bis hin zur Entfremdung der Tochter von der Mutter, durchaus »rechtfertigen« könne (321). Die »männliche Herrschaft« (Bourdieu 2012) der Gesellschaft lässt keine Verteilung der Schuld auf die Geschlechter zu. Es sind die männlichen Verhaltensweisen, der »Ehrenkultus« und »Götzendienst« (280) des »uns tyrannisierende[n] Gesellschafts-Etwas« (278), die dazu führen, dass Innstetten, obwohl er sich in seinem »letzten Herzenswinkel zum Verzeihen geneigt« fühlt (277), seine Frau verstößt. Erst nach dem Duell bekommt er Skrupel, fragt sich: »Wo liegt die Grenze?«, und erkennt, dass es sich, nicht zuletzt angesichts der seit dem Seitensprung vergangenen Zeit, wohl um einen Fall von »Prinzipienreiterei« handelt: »So aber war alles einer Vorstellung, einem Begriff zu Liebe, war eine

gemachte Geschichte, halbe Komödie. Und diese Komödie muß ich nun fortsetzen und muß Effi wegschicken und sie ruinieren, und mich mit... Ich mußte die Briefe verbrennen, und die Welt durfte nie davon erfahren« (287). Damit denkt Innstetten das, was Frauenfiguren um Effi sagen, etwa Roswitha: »das ist ja nun schon eine halbe Ewigkeit her, und die Briefe [...] – die sahen ja schon ganz gelb aus, so lange ist es her« (291), während die Geheimrätin Zwicker in einem Brief an eine Freundin unumwunden fragt: »Wozu giebt es Öfen und Kamine?« (305). In Fontanes wie in Jelineks jeweils wohl wichtigstem Roman – Elfriede Jelinek wurde 2004 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet – spielt die Frage nach einem sozialen Miteinander in einer gesellschaftlichen Ordnung, die ein freies, selbstbestimmtes und glückliches Leben ermöglicht, wohl die zentrale Rolle (s. Kap. 46). Dass sich die Frage bei Jelinek radikaler und dringlicher zu stellen scheint, dürfte eher am Stil als an den fiktional-modellhaften Auswirkungen auf die Figuren liegen. Erika Kohut wird vergewaltigt und verletzt sich selbst, Effi Briest und ihr Liebhaber sterben. Um sich den durch Fontanes Roman eröffneten Perspektiven möglichst umfassend annähern zu können, ist das Handbuch in eine Vielzahl von Einzelkapiteln gegliedert, die sich mit den sozialgeschichtlichen, den literarhistorischen, den biographischen, den werkgeschichtlichen Voraussetzungen (s. Kap. 1–14 und die Zeittafel), also den Entstehungsbedingungen (s. bes. Kap. 6–10) und der Rezeption (S. Kap. 15–20) wie den medialen Verarbeitungen ebenso beschäftigen wie mit zentralen Themen, Motiven und Symbolen (s. Kap. 21–33). In einem weiteren größeren Abschnitt (s. Kap. 34–46) wird versucht, sich der Interpretation des Romans auf verschiedenen Wegen zu nähern, aus der Überzeugung heraus, dass exemplarisches theoriegeleitetes Interpretieren die bestmögliche Hilfestellung für die weitergehende Beschäftigung mit dem Roman etwa in Schule und Universität (aber auch für den Gewinn ganz persönlicher Erkenntnisse) bietet und dass, mit Roland Barthes gesprochen, die Interpretation eines literarischen Texts aus den »Variationen der in den Werken angelegten und gewissermaßen anlegbaren Bedeutungen« be- oder entsteht (Barthes 1967, 68), also die (freilich infinite) Summe seiner möglichen Interpretationen ist. Nicht jede Theorie ist gleich naheliegend für jedes Werk, so dürfte es (wenn es sich hierbei auch um ein extremes Beispiel handelt) wenig ergiebig sein, Goethes Wahlver-

Einleitung

wandtschaften mit postkolonialen Ansätzen zu Leibe zu rücken. Es wurde versucht, das gewählte Set an theoretischen Zugriffen bestmöglich auf die vom Roman besonders betonten Themen abzustimmen. Großer Dank gebührt Lektor Oliver Schütze für sein Vertrauen und die wunderbare Zusammenarbeit, Klaus Müller-Salget für seine mehr als wertvolle Hilfe bei der Korrektur, Jonas Breer für die Erstellung des Registers und natürlich all den Beiträger*innen, die mithelfen, dass dieser Roman im kollektiven Gedächtnis weiterlebt. Fontane hätte sich, das belegen bereits seine Selbstzeugnisse, nichts Schöneres wünschen können, als dass sein Werk im Bewusstsein seiner Leser*innen auch über seine eigene Zeit hinaus eine solche Rolle spielt. Effi Briest ist tot, es lebe Effi Briest! Koblenz, im März 2019 Stefan Neuhaus Literatur Barthes, Roland: Kritik und Wahrheit. Aus dem Franz. übers. von Helmut Scheffel. Frankfurt a. M. 1967. Bourdieu, Pierre: Die männliche Herrschaft. Aus dem Franz. übers. von Jürgen Bolder. Frankfurt a. M. 2012. Craig, Gordon A.: Über Fontane. Aus dem Amerik. übers. von Jürgen Baron von Koskull. München 1998. Fontane, Theodor: Aufsätze und Aufzeichnungen. In: Ders.: Erinnerungen, ausgewählte Schriften und Kritiken. Werke und Schriften, Bd. 28. Hg. von Jürgen Kolbe. Frankfurt a. M. u. a. 1979. [Fontane 1979a]

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Fontane, Theodor: Theaterkritiken, Bd. 1: 1870–1874. In: Ders.: Erinnerungen, ausgewählte Schriften und Kritiken. Werke und Schriften, Bd. 30. Hg. von Siegmar Gerndt. Frankfurt a. M. u. a. 1979. [Fontane 1979b] Fontane, Theodor: Gedichte. 3 Bde. Hg. von Joachim Krueger und Anita Golz. Berlin/Weimar 1989. Goethe, Johann Wolfgang von: Werke. Hamburger Ausgabe. 14 Bde. München 1998. Jelinek, Elfriede: Die Klavierspielerin. Roman. Reinbek bei Hamburg 412009. Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1997. Lyon, John: CFP (GSA panel): Fontane at 200, Portland, OR. In: https://networks.h-net.org/node/79435/discussions/ 3394220/cfp-fontane-200-jan-20-2019-german-studiesassociation-conference (28.12.2018). Mann, Thomas: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Frankfurt a. M. 1990. Mann, Thomas: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher. Hg. von Heinrich Detering u. a. Frankfurt a. M. 2002 ff. Mattern, Nicole/Stefan Neuhaus (Hg.): BuddenbrooksHandbuch. Stuttgart 2018. Moulden, Ken/Gero von Wilpert (Hg.): BuddenbrooksHandbuch. Stuttgart 1988. Murr, Sandra u. a.: Fontanes ›Force‹ und die Figurensprache in ›Effi Briest‹. In: FBl 106 (2018), 135–142. Spielhagen, Friedrich: Zum Zeitvertreib. Berlin 2015. Wandrey, Conrad: Theodor Fontane. München 1919. Wichert, Ernst: Ein Schritt vom Wege. Berlin 1873.

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Editorische Vorbemerkung / Siglen

Editorische Vorbemerkung

Nur mit Seitenzahl wird folgende Ausgabe des Romans im Text zitiert: Fontane, Theodor: Effi Briest. In: Ders.: Große Brandenburger Ausgabe: Das erzählerische Werk, Bd. 15. Hg. von Christine Hehle. Berlin 1998. Es gibt mehrere Ausgaben der Werke Fontanes, die teilweise abgekürzt zitiert werden, vgl. das folgende Abkürzungsverzeichnis. Da die im Berliner AufbauVerlag erscheinende Große Brandenburger Ausgabe noch nicht vollständig und nicht in jeder Bibliothek vorhanden ist und da ihre Anschaffung aber wohl nur Bibliotheken möglich ist, wird nur Effi Briest verbindlich nach dieser Ausgabe zitiert und ansonsten auch auf die in vielen Bibliotheken vorhandenen anderen Ausgaben zurückgegriffen. Dies sind vor allem die beiden vom Münchner Hanser-Verlag und von der Münchner Nymphenburger Verlagshandlung veröf-

fentlichten großen Werkausgaben, die außerdem als Taschenbuchausgaben in den Handel gekommen sind. Gebräuchlich, weil seinerzeit als eine frühe PaperbackWerkausgabe kostengünstig zu haben, ist die Nymphenburger Taschenbuch-Ausgabe in 15 Bänden von 1969. Die Hanser-Ausgabe ist vom Berliner UllsteinVerlag im Taschenbuch vertrieben worden. Noch komplizierter ist die weitere Editionslage, insbesondere der Briefe. Da die Äußerungen des Autors zu seinem Roman, soweit sie für dieses Handbuch relevant sind, überschaubar sind, wird nur die seinerzeit relativ weit verbreitete zweibändige Ausgabe in der Reihe »Dichter über ihre Dichtungen« abgekürzt zitiert. Den entsprechenden Abkürzungen folgt vor der Seitenangabe die Bandangabe, bei der HFA erst die Angabe der Abteilung und dann des Bandes.

Siglen DÜW Fontane, Theodor: Der Dichter über sein Werk. 2 Bde. Hg. von Richard Brinkmann in Zusammenarbeit mit Waltraud Wiethölter. Für die Taschenbuchausgabe durchgesehene und erweiterte Fassung. München 1977. FBl Fontane-Blätter/Fontane Blätter. Halbjahresschrift, begr. 1965. Hg. im Auftrag des Theodor-Fontane-Archivs und der Theodor-Fontane-Gesellschaft. FHb Grawe, Christian/Helmuth Nürnberger (Hg.): Fontane-Handbuch. Stuttgart 2000. GBA Fontane, Theodor: Große Brandenburger Ausgabe. Begr. und hg. von Gotthard Erler, fortgef. von Gabriele Radecke und Heinrich Detering. 48 Bde (geplant). Berlin 1994 ff.

HFA Fontane, Theodor: Sämtliche Werke, Schriften und Briefe. Hg. von Walter Keitel und Helmuth Nürnberger. 4 Abteilungen. München 1962–1982. NFA Fontane, Theodor: Sämtliche Werke. 27 Bde und Teilbände. Hg. von Edgar Gross, Kurt Schreinert, Jutta Neuendorff-Fürstenau u. a. München 1959–1970. NTA Fontane, Theodor: Nymphenburger TaschenbuchAusgabe in 15 Bänden. München 1969.

I Literaturgeschichte

1 Das späte 19. Jahrhundert Literatur als Selbstreflexion historischer Epochen Das 19. Jahrhundert wird oft als ›langes‹ Jahrhundert bezeichnet: man lässt es üblicherweise mit der Französischen Revolution von 1789 beginnen und mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 enden. Doch ist der Verweis auf singuläre Ereignisse nur eine Form der Periodisierung. Eine andere ist die Frage nach Übergängen und Schwellenphasen, in denen sich ältere Lebensformen und Gesellschaftsstrukturen auflösen und neue herausbilden. In dieser Hinsicht sind mindestens drei Phasen des 19. Jahrhunderts unterscheidbar: Die von Reinhart Koselleck so genannte ›Sattelzeit‹ der Entstehung der Moderne zwischen Aufklärung und Vormärz; die Phase der industriellen und politischen Doppelrevolution von 1848 mit dem gleichzeitigen Beginn der modernen Arbeiterbewegung; und schließlich die durch Hochindustrialisierung, Nationalismus (s. Kap. 5), Reformbewegung und Imperialismus geprägte Schlussphase, die nicht zuletzt kultur- und ideengeschichtlich in vielen Aspekten bereits das 20. Jahrhundert vorwegnahm (s. Kap. 2) oder ankündigte (Koselleck 1972, vgl. außerdem: Osterhammel 2009; Wehler 1987–2008; Nipperdey 1983–1992). Fontanes 1894/95 zunächst als Vorabdruck und dann in Buchform erschienener Roman Effi Briest fällt mitten in die dritte Phase des späten 19. Jahrhunderts. Die folgende Skizze seines historischen Kontexts wird sich daher auf das Fin de Siècle und auf die Frage konzentrieren, welche Aspekte der Lebensweise des 19. Jahrhunderts sich hier aufzulösen und welche neuen Formen der Selbst- und Weltwahrnehmung sich herauszubilden begannen. Dabei soll aber nicht ein allgemeines historisches Bild der Epoche gezeichnet werden, dessen Bezug zum Roman im Prinzip offenbleibt (s. Kap. 2). Vielmehr werden umgekehrt einige Leitmotive und Leitthemen des Romans aufgegriffen und im größeren kultur- und sozialgeschichtlichen Kontext des späten 19. Jahrhunderts verortet. Dieses Vorgehen erhebt nicht den Anspruch einer historischen Interpretation des Romans, sondern will einige seiner Dimensionen in den geschichtlichen Kontext hinein ausdehnen und verlängern, um zu verdeutli-

chen, was er leisten könnte, wollte man ihn als historische Quelle lesen. Während Literaturwissenschaftler es heute kaum mehr scheuen, in die Archive zu gehen, um die historischen Kontexte der von ihnen untersuchten Werke selbstständig zu untersuchen, tun sich umgekehrt die meisten Historiker immer noch schwer, auch die fiktionale Welt des Literarischen als Quelle und eigenen Untersuchungsgegenstand zu entdecken. Damit aber verschließen sie sich nicht nur einer wichtigen Ebene der Selbstreflexion historischer Epochen, sondern verpassen auch die Chance, die klassische, aber fragwürdige Unterscheidung zwischen Werk und Kontext zu durchbrechen und das eigentlich Historische in der Literatur selbst freizulegen: ihren Charakter als Zeitdokument (Fulda 2001; van Laak 2012).

Der Gegensatz von individueller Freiheit und gesellschaftlichen Zwängen Eines der Hauptthemen Fontanes ist der Gegensatz zwischen einem freien, spontanen und impulsiven Handeln hier und einem determinierten, gesetzmäßigen und konventionellen Handeln dort – wobei nicht die schlichte Entgegensetzung, sondern gerade die kunstvolle, mal dramatische, mal versöhnende Verschränkung dieses Gegensatzes den Roman auszeichnet. Dieser Gegensatz, inklusive der Bemühung um seine Überwindung, stellt auch übergreifend ein kulturgeschichtliches Leitmotiv des späten 19. Jahrhunderts dar, das in unterschiedlichsten Kontexten und Formen seinen Ausdruck fand: zunächst natürlich auf einer soziokulturellen Ebene, die auch im Roman im Vordergrund steht und auf der es um den Antagonismus von individueller Freiheit und tradierten gesellschaftlichen Zwängen geht. Im Roman ist der dramatische Höhepunkt dieses Konflikts das Duell, zu dem sich von Innstetten, einem gesellschaftlich tradierten Ehrbegriff folgend, gezwungen fühlt, obgleich er den Sinn einer solchen ›Verteidigung‹ der Standes- wie der persönlichen ›Ehre‹ selber stark bezweifelt. Heute wird bisweilen immer noch davon ausgegangen, dass das Duell im 19. Jahrhundert ein Relikt der höfischen Kultur gewesen sei, das vom Bürgertum vor allem aus Gründen

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2019 S. Neuhaus (Hg.), Effi Briest-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04874-5_1

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I Literaturgeschichte

des sozialen Prestigegewinns nachgeahmt wurde (s. Kap. 26). Demgegenüber hat Ute Frevert nachgewiesen, dass gerade am Ende des 19. Jahrhunderts das Duell längst ein weitgehend verbürgerlichtes Ritual war, in dem es weniger um die Nachahmung aristokratischer Kultur als um die Ausbildung eines eigenen bürgerlichen Begriffs der Ehre ging (Frevert 1991). Das Duell sollte hier weniger die Standesehre als die Selbstbestimmung und liberale Männlichkeit ›unter Beweis‹ stellen. Innstettens Zweifel richten sich gegen beide Legitimierungsformen, nach denen er aber dennoch handelt. Das späte 19. Jahrhundert ist überhaupt eines der wesentlichen Forschungsfelder, auf dem in den vergangen drei Jahrzehnten die Auseinandersetzung zwischen der klassischen Sozialgeschichte und der Neuen Kulturgeschichte ausgetragen wurde. Erstere hatte in den 1960er Jahren bis in die 1980er Jahre vor allem ein klassentheoretisches Bild der Epoche gezeichnet: Eine ›überhängende‹ und schon zu lange überlebende Aristokratie, die an ihren alten Standesvorstellungen festhielt und bis zum Ersten Weltkrieg Politik, Landbesitz und Militär dominierte; ein zunehmend brodelndes und sich allmählich auch politisch formierendes Proletariat; und dazwischen ein sich immer weiter ausdifferenzierendes, im ganzen aber schwaches und aus sozialen Abstiegsängsten heraus sich dem Adel anbiederndes Bürgertum. So korrekt dieses Bild im Groben sein mag, so sehr rückte es Mentalität und Selbstwahrnehmung ebenso wie die konkreten Denk- und Handlungsweise der in diesen sozialen Aggregaten zusammengefassten Menschen aus dem Blick. Gerade das Bürgertum, das sich am Ende des Jahrhunderts längst in Wirtschafts- und Bildungsbürgertum, in alten und neuen Mittelstand, in Klein- und Kleinstbürgertum ausdifferenziert hatte und die große Mehrheit der Bevölkerung bildete, kann in seinen Denk- und Handlungsweisen schwerlich allein durch Verweis auf seine ›Klassenlage‹ verstanden werden (s. Kap. 26). Denn angesichts der Herausforderungen der Zeit gegenüber Industrialisierung, Globalisierung, Modernisierung und Rationalisierung hatte es längst eigene Reaktionsund Reflexionsformen gefunden, die bis in die sich ihrerseits zunehmend verbürgerlichenden Adelskreise hineinwirkten. Zumal für das späte 19. Jahrhundert ist die lange dominante These von einem strukturellen Mangel an Bürgerlichkeit und Modernität im Deutschen Kaiserreich entschieden revidiert worden (vgl. Blackbourne/Eley 1984; als Überblick: Mergel/Wellskopp 1997). Vielmehr waren hier gerade jene ideologischen Ambivalenzen moderner Bürgerlichkeit

bzw. bürgerlicher Modernitätsvorstellungen wirksam und entscheidend, die auch in Fontanes Roman entfaltet werden.

Determinismus und Freiheit Zu ihnen gehörte in besonderer Weise und in einer Vielzahl von Formen und Kontexten das Verhältnis von Determinismus und Freiheit. Was Effi Briest zu einem echten Gesellschaftsroman macht, ist nicht zuletzt der Umstand, dass seine sämtlichen Protagonisten, so individuell gezeichnet sie sind und so sehr sie sich um ein individuelles und freies Handeln und Entscheiden bemühen, zugleich alle wie Roboter einem Programm zu folgen scheinen. Dabei gelingt es Fontane, gerade in der Ineinanderblendung von Freiheit und Zwanghaftigkeit die individuellen Charakterzüge seiner Figuren zu profilieren. Selbst die Heldin, in ihren scheinbar spontanen, natürlichen und leidenschaftlichen Empfindungen, die sie scharf von ihrem kalten und korrekten Ehemann abgrenzen, handelt keineswegs selbstbestimmt, sondern getrieben von eigenen Bedürfnissen und Vorstellungen. Nur fünf Jahre nach der Veröffentlichung des Romans und zwei Jahre nach Fontanes Tod sollte mit Sigmund Freuds Traumdeutung zum ersten Mal eine systematische Theorie formuliert werden, die jene innersten Bedürfnisse und Wünsche zu den eigentlichen und am wenigsten kontrollierbaren Determinanten des menschlichen Lebens erklärte (Freud 1972). Bis dahin als Triebe und Instinkte angesprochen, die es im bürgerlichen Denken durch Sittlichkeit und Selbstdisziplin im Zaum zu halten galt, erhielten sie hier einen neuen Status. Statt sie einer zu überwindenden, mindestens aber zu kontrollierenden Natur zuzuschlagen, konzipierte Freud diese inneren Bedürfnisse und Wünsche als sedimentierte Kulturerfahrung und damit als etwas, das zwar wie eine determinierende Natur wirken kann, faktisch aber Teil der Verdrängungs-, Verschiebungs- und Projektionsdynamiken der menschlichen Psyche und damit der Kultur ist. Es war präzise die Zeit der Entstehung von Effi Briest, in der Freud bei den gescheiterten Versuchen, Hysterie durch Hypnose zu heilen, zu seiner die Psychoanalyse erst begründenden Einsicht kam, dass weder die Natur noch einzelne Erlebnisse ausschlaggebend sind, sondern erst der individuelle (später auch kollektive) Prozess einer missglückten Aufarbeitung triebhafter Regungen und traumatischer Erfahrungen zu den Symptomen seelischer Er-

1 Das späte 19. Jahrhundert

krankung führt. Und erst die historisch-narrative Rekonstruktion dieses missglückten Verarbeitungsvorgangs, inklusive der Bewusstmachung seiner unbewusst produzierten Determinanten, verspreche Heilung. Fontanes Roman, in der so präzise wie distanziert erzählten Geschichte seiner Protagonisten, die innere Bedürfnisse, äußere Zwänge und individuelle Erfahrungen immer komplexer miteinander verschränkt, nimmt den Freudschen Blick auf biographische Ereigniskonstellationen und Entwicklungsstrukturen, freilich ohne jeden psychologischen oder sonstigen Heilungsanspruch, perspektivisch vorweg. In dieser Hinsicht wäre es interessant, jenseits der oft versuchten psychoanalytischen Deutung des Romans, ihn danach zu befragen, wie viel Psychoanalyse er selber, erzählerisch, bereits enthält (s. Kap. 39). Freud war aber keineswegs der erste, der die sozialmoralischen Koordinaten und Gegenbegriffspaare des bürgerlichen Denkens – Geschichte und Natur, Freiheit und Ordnung, Zufall und Berechnung, Gesellschaft und Individualität, Vernunft und Glaube, Verstand und Gefühl – auf tieferer Ebene einer neuen prozess- und entwicklungstheoretischen Synthese zuführen wollte (s. Kap. 29). Immanuel Kants berühmte Bestimmung der Brennpunkte bürgerlicher Lebensführung: »der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir« (Kant 1968, 161), hatte im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ihre Selbstverständlichkeit längst verloren. Die gemeinte harmonische Symbiose von Welterkenntnis und Selbstbefreiung war angesichts der sozialen Verwerfungen, politischen Konflikte und technischen Neuerungen nicht mehr einfach zu haben, sondern musste in neuen, synthetischen Formen hergestellt werden.

Marxismus und Darwinismus Eines der beiden ersten und langfristig besonders wirksamen Modelle, Determinismus und Freiheit prozesslogisch in neuer Weise miteinander zu verknüpfen, war der Marxismus. Seine von Hegel übernommene, dann aber materialistisch umgedeutete Dialektik von Klassenlage, Klassenbewusstsein und Klassenbefreiung brachte das in der Aufklärung formulierte Selbstbestimmungsrecht des Menschen und die Vorstellung von der Machbarkeit der Geschichte mit dem Determinismus der Verhältnisse und mit einer fast mechanisch ablaufenden Entwicklungslogik des Klassenkampfs in Verbindung. Was aber im Theoriemodell des dialektischen Materialismus überzeu-

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gend verknüpft wurde, stellte politisch eine echte Herausforderung dar (s. Kap. 29). So war die Sozialdemokratie, gerade in der Entstehungszeit von Effi Briest, als sie nach Aufhebung ihres Verbots erstmals Wahlergebnisse jenseits der 20 % verzeichnen konnte, massiv über die Frage zerstritten, ob man auf den naturnotwendigen Zusammenbruch des Kapitalismus warten sollte oder aber ihn aktiv durch revolutionäre Praxis herbeizuführen habe. Und auch wenn die soziale Frage eher und direkter im Stechlin thematisiert wird als in Effi Briest, bildete sie einen wichtigen und dem Autor stets präsenten Hintergrund seiner schriftstellerischen Arbeit. Dieser wie auch sein journalistisches Schaffen sind trotz ihrer nur selten urteilenden oder Partei ergreifenden, meist nur beobachtenden Autorposition dennoch Belege des regen Interesses Fontanes an den politischen und sozialen Entwicklungen seiner Zeit. Das zweite Modell der Verknüpfung von Freiheit und Determinismus, Zufall und Notwendigkeit, welches das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert bestimmen sollte, war der Darwinismus. Hatte man Evolution bis dahin als Fortschrittsversprechen gedacht, das sich laut Lamarck durch die Vererbung erworbener Eigenschaften von Generation zu Generation weiter erfülle, formulierte Darwin einen ganz anderen Entwicklungsmechanismus. In seiner Theorie der natürlichen Selektion entstanden biologische Veränderungen rein zufällig und erst das Verhältnis zwischen biologischer Ausstattung und den Bedingungen der jeweiligen Umwelt (der sogenannte Überlebenskampf) sollte darüber entscheiden, welches Merkmal sich langfristig durchsetzt. In der populären sozialdarwinistischen Formel vom ›Überleben des Stärkeren‹ legitimierte diese Theorie zunächst die kapitalistische Leistungsethik insbesondere des Wirtschafts- und Kleinbürgertums. Doch ließ sie sich kaum mehr mit einem klassischen Fortschrittsdenken vereinbaren. Denn in seinem Modell zufälliger Veränderungen, die sich erst bewähren müssten, hatte Darwin den Begriff einer Entwicklung geschaffen, die rückblickend zwar perfekt erscheint (weil alles außer dem ›Besten‹ ausgemerzt wird), strukturell aber zukunftsblind ist und, wie nicht nur die Biologen am Ende des Jahrhunderts mit Schrecken feststellten, unter bestimmten Bedingungen auch Devolution, also Rückschritt zuließ. Langfristig waren in der Rezeptionsgeschichte Darwins daher zwei andere Aspekte entscheidender als das, was wir üblicherweise ›Sozialdarwinismus‹ nennen: Zum einen die Einsicht, dass die Konstanz der Natur einzig in ihrer konstanten Veränderung be-

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I Literaturgeschichte

steht. Und zum zweiten die Einsicht, dass dieser Veränderungsprozess angetrieben wird von einem täglich, blind und in ewiger Wiederholung ablaufenden Mechanismus der Selektion. Letzteres war für die Zeitgenossen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts besonders schwer zu akzeptieren, weshalb die Frage, ob es nicht doch einen Weg gäbe, die Evolution zu steuern, bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts das biologische wie biopolitische Denken dominierte. Gerade im Kontext dieser Frage aber entwickelte sich ein Verständnis der Natur und ihrer determinierenden Macht, das immer enger an den Gedanken ihrer Gestaltbarkeit geknüpft wurde. Hieß ›Naturbeherrschung‹ in der Aufklärung noch vorwiegend Befreiung von ihren Zwängen durch menschliche Vernunft, herrschte im späten 19. Jahrhundert, in Anlehnung an das technische Paradigma, der Wunsch vor, sich die Natur einschließlich ihrer Gesetze und Determinismen so weit anzueignen, dass sie gleichsam von innen heraus für menschliche, gesellschaftliche wie politische Zwecke nutzbar sei (vgl. Geulen 2000). Etwas strukturell Ähnliches lässt sich in Fontanes Roman beobachten: Die meisten seiner Figuren handeln zwar nach den vorgegebenen Mustern einer angenommenen ›Natürlichkeit‹ ihrer jeweiligen Rollen, reichern diese aber denkend und experimentierend so weit mit Individualität an, dass die sich am Ende meist durchsetzende Rollenkonformität zu etwas anderem wird, indem sie von innen heraus eine freie und bewusste Form der Aneignung erfährt. Dabei ist es auch hier zunächst zweitrangig, ob das ›Vorgegebene‹ Ausdruck gesellschaftlicher Zwänge oder natürlicher Regungen und Bedürfnisse ist. Denn auch diese Unterscheidung war den Zeitgenossen des Fin de Siècle schon längst nicht mehr so selbstverständlich wie am Beginn des bürgerlichen Zeitalters.

Wende der bürgerlichen Selbst- und Weltwahrnehmung Am deutlichsten zeigte sich diese Wende der bürgerlichen Selbst- und Weltwahrnehmung von der Überwindung zur bewussten Aneignung vorgegebener Determinanten am Ende des 19. Jahrhunderts wohl in den bürgerlichen Reformbewegungen. Auch sie wurden lange als ein Fluchtraum vor den sozialen Umwälzungen der heraufziehenden modernen Industriegesellschaft gedeutet, lassen sich aber sehr viel angemessener als Formen der Reaktion und Aufarbeitung sozialer Erfahrung lesen. Dabei ist es gerade mit

Blick auf die Zeit um 1900 wichtig, diese Bewegungen nicht vorschnell politisch in ›links‹ und ›rechts‹ zu unterteilen, insofern hier oftmals noch sehr nahe beieinander lag, was sich erst später in bürgerlich, bündisch und völkisch teilte. Übergreifend ging es um die Suche nach neuen Lebensführungen und -orientierungen: um die Wiederentdeckung und Verherrlichung des eigenen Körpers (Nacktkulturbewegung, Turnbewegung, Hygienebewegung), teils verbunden mit neuen Körperpraktiken (Vegetarismus, alternative und orientalische Medizin, Kraftsport und neue Formen der Tanzkultur); um die Neuaneignung und Einverleibung der Natur durch Ernährung, durchs Wandern, durch Landschafts-, Natur- und Tierschutz, aber auch durch Rassenhygiene, volksgerechte Lebensart und ›Gartenstädte‹; es ging um einen neuen Jugendkult, um die Neubestimmung sexualmoralischer Werte, um Frauenbewegung, Heimatschutz und neue Formen der Erziehung und Volksbildung, und schließlich ging es um die Erfindung neuer säkularer Religions- und Glaubensformen (vgl. Reulecke u. a. 1998; Puschner u. a. 1996). Was diese Bewegungen und Praktiken gemeinsam kennzeichnete, war der bisweilen obsessive Versuch, die hergebrachte bürgerliche Moral zu überwinden, um sie auf wissenschaftlicher Grundlage und als theoretische Verstandesleistung neu zu erfinden. So war der ausgeprägte Naturkult dieser Bewegungen (im englischsprachigen Raum als ›authentic living‹ bezeichnet) alles andere als eine antimoderne Flucht in vorindustrielle Lebenswelten. Vielmehr bezog man sich überall auf jene postdarwinistische Einsicht, von Ernst Haeckel, Wilhelm Bölsche und anderen Populärwissenschaftlern der Zeit massenhaft verbreitet, dass es eben keinen prinzipiellen Unterschied zwischen der natürlichen und der menschlichen Welt gebe, sondern überall die gleichen Gesetze herrschten und die gleichen Prinzipien am Werk seien. So konstatierte Ernst Haeckel etwa in seinen ›Welträtseln‹ von 1899: »Die unwiderstehliche Leidenschaft, welche Eduard zu der sympathischen Ottilie, Paris zu Helena hinzieht und alle Hindernisse der Moral überwindet, ist dieselbe mächtige, unbewusste Attraktionskraft, welche bei der Befruchtung der Tier- und Pflanzeneier den lebendigen Samenfaden zum Eindringen in die Eizelle antreibt« (Haeckel 1925, 135).

Damit war weniger eine Triebtheorie der Kultur als der monistische Grundsatz gemeint, dass Natur und

1 Das späte 19. Jahrhundert

Kultur am Ende identisch seien, was in der Konsequenz bedeute, dass die Natur in genau dem Maße vom Menschen beherrschbar und kontrollierbar sei, in dem sich der Mensch ganz ihren Gesetzen unterwerfe und ihren Prinzipien hingebe.

Suche nach neuen Ordnungen und Orientierungen Die Art und Weise, in der die Figuren in Fontanes Effi Briest ihre je ganz eigenen, individuellen Motive für ihr Denken und Handeln zu haben scheinen und dennoch geradezu mechanisch einem ›Programm‹ folgen (s. Kap. 46), repräsentiert also nicht nur eine literarische Kritik der gesellschaftlichen Rollenmuster des 19. Jahrhunderts, sondern wohl auch eine Reflexion jener längst begonnenen Versuche der Befreiung von Konventionen durch ihre Neuerfindung als ›natürliche‹ und ›authentische‹ Prinzipien. Zumindest in der unmittelbaren Entstehungszeit des Romans kann jedenfalls von einer Dominanz der Rollen- und Moralvorstellungen des 19. Jahrhunderts keine Rede mehr sein. Im aristokratisch-großbürgerlichen Milieu wurden sie sicher noch lange verteidigt, gesamtgesellschaftlich aber waren sie längst von ihrer konventionellen Geltung unabhängig und in den Strudel einer expliziten Neuerfindung von Bürgerlichkeit und Modernität geraten (s. Kap. 26). Diese Neubestimmung moralischer Handlungsnormen jenseits der überlieferten Tradition und unter Rückgriff auf das jetzt primär wissenschaftlich erkundete Wahre, Authentische und Natürliche – von Max Weber später kritisch als »ergrübelte Prophetie« bezeichnet – kann als eines der zentralen kulturhistorischen Felder angesehen werden, in denen sich der Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert vollzog (Weber 2002). Dabei waren es nicht nur die binnengesellschaftlichen Probleme im sich rasant industrialisierenden Kaiserreich, die diese Entwicklung vorantrieben. Vielmehr dehnte sich der bürgerliche Imaginationsraum im Zuge des deutschen Kolonialimperialismus seit 1884 weit über die nationalen und europäischen Grenzen hinaus aus (s. Kap. 5, 44). Auch wenn sich dies literarisch bevorzugt im eher populären Genre der halb dokumentarischen, halb fiktionalen Kolonialliteratur niederschlug, verweisen auch in Effi Briest einige exotische Nebenfiguren, wie etwa der imaginäre ›Chinese‹, auf diesen Zusammenhang (s. Kap. 22). Generell sind die rückwirkenden Effekte des deutschen Kolonialismus auf das politische und

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kulturelle Selbstverständnis des Kaiserreichs lange unterschätzt worden. Dabei hat Hannah Arendt bereits 1950 darauf aufmerksam gemacht, in welcher grundlegenden Weise dieser neue kolonial-globale Handlungs- und Imaginationsraum die Deutschen zwang, ihre erst 1871 staatlich realisierte Nation noch einmal zu transformieren: von einer mühsam errungenen politisch-partikularen und territorialen Einheit in eine global agierende Weltmacht, die nicht nur zu den andern Kolonialmächten in erbitterter Konkurrenz um Vorherrschaft stand, sondern auch inmitten der fernen, außereuropäischen Wüsten und Urwälder ›Rassenkämpfe‹ ums Überleben führte (Arendt 2005, bes. 472–528). So fand in dem Jahr, in dem Effi Briest als Buch veröffentlicht wurde, im Treptower Park in Berlin die erste und größte staatlich organisierte Kolonialausstellung des Kaiserreichs statt: inklusive 103 aus allen deutschen Kolonien importierter ›Eingeborener‹, die man als Teil der neuen ›wundersamen Besitztümer‹ zur Schau stellte. Erklärter Zweck der Ausstellung war es, den Deutschen nicht nur Exotisches aus den Kolonien zu präsentieren, sondern sie über die neue weltpolitische Aufgabe und Verantwortung der Nation zu belehren und an diese zu gewöhnen. Im Gegensatz zu den privat organisierten und sensationsorientierten Völkerschauen, wie sie in Zoologischen Gärten bereits seit längerem stattfanden, sollte hier die Normalität der kolonialen Konstellation vermittelt werden. Entsprechend konnten sich Besucher und Eingeborene auf dem Gelände neun Monate lang frei bewegen und allein einige Berliner Schutzpolizisten, gekleidet in weiße Tropenanzüge, sorgten für Sicherheit und Ordnung (vgl. Meinecke 1897). Selbst wenn auch hier die Faszination des Fremden das primäre Motiv für den Besuch der Ausstellung gewesen sein mag, macht sie zugleich deutlich, wie sehr die Integration des global-imperialen Handlungsund Imaginationsraums in das partikular-nationale Selbstverständnis ein Teil der politischen Kultur des Kaiserreichs um 1900 war. Wie Arendt schon früh bemerkte, gehört auch der Rassismus, der das nationale Selbstbild seit den 1880er Jahren massiv zu überformen begann, in diesen Zusammenhang: Denn es war das biopolitische Rassenkonzept mit seiner, räumliche Dehnbarkeit und (evolutionistisch) zeitliche Veränderbarkeit markierenden, Semantik, das am ehesten in der Lage war, Zugehörigkeit als gegeben, natürlich determiniert und festgelegt, zugleich aber als flexibel, verschiebbar und herstellbar zu denken. Doch war dies nur die extreme Variante der das Kai-

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I Literaturgeschichte

serreich generell umtreibenden Suche nach einer Antwort auf die Frage, wie aus den unverkennbaren und in den 1890er Jahren schon unumkehrbar erscheinenden Verwerfungen der überkommenen sozialen, kulturellen und auch moralischen Lebensführung neue Ordnungen und Orientierungen sich ableiten ließen. Viel später, kurz vor dem Zweiten Weltkrieg, beschrieb Walter Benjamin den vorangegangenen Geschichtsverlauf rückblickend als ein »Kaleidoskop in der Kinderhand, dem bei jeder Drehung alles Geordnete zu neuer Ordnung zusammenstürzt« (Benjamin 1980, 660). Damit ist die Jahrhundertwende recht genau beschrieben. Selten zuvor war in Deutschland ein Bewusstsein des fundamentalen Wandels und der Infragestellung alles Überkommenen so verbreitet und zugleich so eng verknüpft mit der Sehnsucht nach neuer Ordnung und neuer Orientierung. Die Energie dieser nicht nur gleichzeitigen, sondern oft ineinsgesetzten Abbruchs- und Aufbruchsstimmung reichte bis in die Katastrophe, die für Benjamin 1939 der Ausgangspunkt seines Rückblicks war. Von heute aus rückblickend dieses Amalgam von Tradition und Innovation, von Ordnung und Freiheit, Herkunft und Zukunft politisch oder moralisch wieder zu differenzieren und danach zu beurteilen, was wirklich zukunftsträchtig war oder hätte sein sollen und was nicht, hilft dem Verständnis der Epoche wenig. Denn sie selber, und oft komplexer als wir es heute tun, hat ihre eigene Transformation reflektiert und sich in vielerlei Weise um eine Überwindung der Gegensätze bemüht. Darin und weniger in der bloßen Widersprüchlichkeit von Fortschritt und Reaktion liegt das eigentliche Kennzeichen des späten 19. Jahrhunderts. Sicher gab es Formen der ideologischen und auch gewaltsamen Harmonisierung von Gegensätzen, und manche von ihnen waren sehr folgenreich. Doch gilt es zu verstehen, dass diese auf die gleichen historischen Umstände und Entwicklungen reagierten wie die bildende Kunst der Jahrhundertwende oder eben auch wie der mit Effi Briest zu einem ersten Höhepunkt gelangte moderne Gesellschaftsroman. In diesem Sinne ist Fontanes Versuch, die Widersprüchlichkeit seiner Epoche in den Gewissenkonflikten seiner Figuren und ihren Interaktionen bis ins Detail zu entfalten, sicherlich etwas ganz anderes als die hier angeführten Beispiele einer künstlichen

Heilung von Widersprüchen – aber er steht im selben geschichtlichen Kontext und ist ebenso Reflexion wie Dokument seiner Zeit. Literatur Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft [1950]. München 102005. Benjamin, Walter: Zentralpark [1939]. In: Gesammelte Schriften, Bd. 1. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M. 1980, 655–690. Blackbourne, David und Geoff Eley (Hg.): The Perculiarities of German History. Bourgeois Society and Politics in 19th Century Germany. Oxford 1984. Freud, Sigmund: Die Traumdeutung [1900]. Studienausgabe, Bd. II. Frankfurt a. M. 1972. Frevert, Ute: Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft. München 1991. Fulda, Daniel u. a. (Hg.): Literatur und Geschichte. Ein Kompendium zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart. München 2001. Geulen, Christian: ›Center Parcs‹. Zur bürgerlichen Einrichtung natürlicher Räume im 19. Jahrhundert. In: Manfred Hettling/Stefan-Ludwig Hoffmann (Hg.): Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts. Göttingen 2000, 257–287. Haeckel, Ernst: Die Welträtsel [1899]. Leipzig 1925. Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft [1788], Kants Werke, Akademie Textausgabe, Bd. V. Berlin 1968, 1–164. Koselleck, Reinhart: Einleitung. In: Ders./Werner Conze/ Otto Brunner (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. I. Stuttgart 1972, XIII–XXVII. Laak, Dirk van: Literatur und Geschichte. Eine Beziehungsanalyse. Berlin 2012. Meinecke, Gustav u. a. (Hg.): Deutschland und seine Kolonien im Jahr 1896. Amtlicher Bericht zur ersten deutschen Kolonialausstellung. Berlin 1897. Mergel, Thomas/Thomas Wellskopp (Hg.): Zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte. München 1997. Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte. München 1983– 1992. Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München 2009. Puschner, Uwe u. a. (Hg.): Handbuch der völkischen Bewegung 1871–1918. München 1996. Reulecke, Jürgen u. a. (Hg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880–1933. Wuppertal 1998. Weber, Max: Wissenschaft als Beruf [1919]. In: Schriften 1894–1922. Hg. von Dirk Kaesler. Stuttgart 2002, 474– 511. Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. 5 Bde. München 1987–2008.

Christian Geulen

2 Das literarische (Um-)Feld

2 Das literarische (Um-)Feld Der Poetische oder Bürgerliche Realismus im Umfeld der Epochen Fontanes Roman gilt mit guten Gründen als zentrales Werk des Poetischen oder Bürgerlichen Realismus (s. Kap. 6, 7, 15, 26, 36–38), als ein Höhe- und zugleich Wendepunkt der Epoche hin zur Klassischen Moderne, sofern man diese nicht wie Delabar (2010) erst 1918 beginnen lässt, sondern mit der frühen Moderne um 1890 – entweder vor oder nach dem Naturalismus. Wie auch immer, steht Fontanes Effi Briest an der Schwelle zur Moderne. Nicht zufällig wird der Roman entsprechend oft in einem Atemzug mit Thomas Manns Buddenbrooks genannt, mit dem die Romanliteratur in Deutschland dann ins 20. Jahrhundert eintritt (s. Kap. 19). Gattungsspezifisch wird der Fontane-Roman gemeinhin den Gesellschaftsromanen zugerechnet und hat wie die meisten dieser Romane einen engen Bezug zum Diskursfeld um Liebe und Skandal (s. Kap. 24, 43). Mit dem Poetischen oder Bürgerlichen Realismus ist eine literarhistorische Epoche in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (s. Kap. 1) benannt, bei der es vielleicht ein letztes Mal gelingt, eine Einheit zu postulieren, bevor mit dem Einbrechen der Moderne gegen Ende des Säkulums die Vielfalt der Stile den Epochenbegriff durch den der Strömungen ablösen lässt. Bernd Balzer nennt die Epoche »eine Fermate gleichsam nach dem ›Epochenproblem Vormärz‹ [...] und vor der Hektik der zahlreichen -Ismen des Fin de Siècle« (Balzer 2006, 7). Gleichwohl bereitet auch der Poetische oder Bürgerliche Realismus Schwierigkeiten beim Versuch einer verbindlichen Fixierung. Das lässt sich nicht nur mit den unterschiedlichen Paradigmen und uneinheitlichen Objektbestimmungen erklären, wie sie sich etwa aus einer enger literaturhistorischen oder einer weiteren kultur- oder sozialgeschichtlichen Perspektive ergeben können, sondern schon mit der Spezifizierung des grundlegenden Realismusbegriffs. Grundsätzlich gilt, dass die Literatur dieser Epoche sich als auf das Wirkliche verpflichtet sieht, letztlich sogar deren ›Widerspiegelung‹ in literarisierender Form anstrebt (s. Kap. 36, 38). Für das Literaturprojekt selbst ergibt sich daraus ein eigenes Spannungsverhältnis. Es kulminiert in der komplexen Frage, wie die Horizonte von Literatur und Wirklichkeit tatsächlich miteinander verknüpft werden können: »Denn einerseits soll Realität verklärt wiedergegeben werden, auf der anderen Seite aber darf die in der Literatur ent-

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worfene Welt keinesfalls unrealistisch und unplausibel oder gar mit romantischen Attributen oder märchenhaften Zügen ausgestattet sein« (Becker 2003, 98). Der stoffliche Rahmen gerade des Gesellschaftsromans war dabei die Alltagswelt der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer Zeit (s. Kap. 26). Auf jeden Fall steht der Poetische oder Bürgerliche Realismus in der Tradition des Aufklärungsprojekts und einer fortschreitenden Rationalisierung von Welt und Leben (s. Kap. 29). Als eine in sich ambivalente Erscheinung grenzt er sich gleichermaßen von vorgängigen Konzepten der Literatur ab, wie er sich partiell auch an sie anschließt. Epochenwechsel sind stets ein Miteinander von Kontinuitäten, Umformungen, Brüchen und Entgegensetzungen. In Hinblick auf eine entsprechende Verortung des Poetischen oder Bürgerlichen Realismus gilt dies bereits in Bezug auf die Klassik, deren Idealismus abgelehnt wird, während die Vorstellung eines Realismus als ›ästhetischer Kategorie‹ aufgegriffen wird. Zu Recht ist daher mit Blick auf den Realismusbegriff »von einer Kontinuität zwischen Klassik und Realismus gesprochen« (Becker 2003, 61) worden. Auch wenn die vielfältigen Anknüpfungen des Poetischen oder Bürgerlichen Realismus an die Romantik kaum zu übersehen sind, manifestiert doch bereits ein Blick auf den programmatischen Fragmentcharakter der romantischen Romanliteratur die grundlegenden Unterschiede in Bezug auf die Vorstellung von Wirklichkeit und Leben. Im Horizont eines Poetischen oder Bürgerlichen Realismus zeigt sich die Welt als eine zwar vielfältig gestörte, aber doch geschlossene und in sich konsistente, was sich nicht zuletzt in seiner Formorientierung niederschlägt (s. Kap. 6, 7). Sabina Becker verweist zutreffend auf »die geordnete Aneignung einer überschaubaren Realität« (Becker 2003, 67) in der realistischen Romanliteratur. Während die Romantik und ihr Wirklichkeitsbegriff einem Kontingenzparadigma verpflichtet waren, liegt dem Poetischen oder Bürgerlichen Realismus und seiner Realitätskonzeption ein Ordnungs- und »Plausibilitätsprinzip« (Becker 2003, 127) zugrunde. Die Ambivalenz von Weiterführung und Entgegensetzung wird aber vor allem mit Blick auf das Junge Deutschland und den Vormärz greifbar. Die realistische Literatur vor 1849, also Autoren wie Karl Gutzkow, Willibald Alexis, Karl Leberecht Immermann, Adalbert Stifter ebenso wie die »Protagonisten einer bürgerkritischen Linken« von Georg Büchner bis Georg Weerth gehören zu den »Wegbereitern eines literarischen Konzepts, das für den Bürgerlichen Rea-

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lismus prägend wurde« (Balzer 2006, 9). Mit dem Scheitern der bürgerlichen Revolution von 1848 verlor ein politisierter Realismusbegriff indes seine Überzeugungskraft und öffnete der Literatur den Raum für die Verbindung von Wirklichkeitsnähe mit Verklärungs- und Versöhnungselementen. Mit dem Poetischen oder Bürgerlichen Realismus ging zugleich das Bewusstsein von einer neuen Klassizität einher, das sich grundlegend unterschied von der Befangenheit einer biedermeierlichen Literaturwelt, die sich als epigonal, als im ›Schatten der Großen‹ stehend, empfand (s. Kap. 7). Der ›neue‹ Realismus löste sich betont vom Subjektivismus der vorgängigen Epoche, wie auch dem der Romantik. Gleichwohl hat schon Friedrich Sengle konstatieren können, dass die »Biedermeierzeit eine Voraussetzung für die vielgetadelte idyllische Neigung des deutschen Realismus ist« (Sengle 1971, Bd. 1, 222; auch Becker 2003, 58). Wenn man Fontanes Effi Briest zum Bezugspunkt wählt, zeigt sich eine ähnliche Ambivalenz in der Abgrenzung zur Moderne. Nach ersten Entwürfen Ende der 1880er Jahre entstand der Roman in den frühen 1890er Jahren, um zwischen Oktober 1894 und März 1895 in einem Zwischenabdruck in der Deutschen Rundschau und im Oktober 1895 als Buchausgabe im Verlag F. Fontane & Co. zu erscheinen. In diesem Zeitabschnitt etablierte sich auch eine literarische Moderne, wurden die Blätter für die Kunst gegründet, erschienen Gedichtbände von Stefan George, brachte Hugo von Hofmannsthal eine erste Fassung von Der Tod des Tizian als Dramenfragment heraus. Vor dem Hintergrund dieser Avantgarde-Entwicklung ist Fontanes Roman unzweifelhaft ein Stück traditioneller Literatur. Diese Zuordnung stimmt auch in Bezug auf den Naturalismus, dessen ungleich radikaleres Realismuskonzept Fontane bei aller Offenheit für diese neue Strömung grundsätzlich fremd blieb. Zugleich steht Fontanes Roman aber auch für eine spezifische Modernität, auf die eine nachfolgende Generation von Literaten sich beziehen konnte. Am deutlichsten hat dies sicherlich Thomas Mann getan (s. Kap. 19). In der ›Anzeige eines Fontane-Buches‹, Ende 1919 im Berliner Tageblatt, feierte Mann Effi Briest »als Fontane’s ethisch modernstes Werk, das am deutlichsten über die bürgerlich realistische Epoche hinaus in die Zukunft« weise und eine »schmerzlich zugestandene Überwindung der vom Dichter verkörperten Ordnungswelt« (Mann 1990, 579) bedeutete. Für Mann liegen die »dichterischen Reize und Möglichkeiten« des Romans gerade in jenem »Zwielicht«, das sich

»aus dem Zweifel, dem in Frage gestellten Glauben, dem bedrängten Konservatismus« (Mann 1990, 580) ergibt. Aus dieser Perspektive überschreitet Fontane mit seinem Alterswerk die Grenzen eines Poetischen oder Bürgerlichen Realismus, ist Effi Briest nicht nur ein Höhe- und Wendepunkt der Epoche, sondern in gewisser Hinsicht bereits deren Überschreitung.

Zur Gattungsfrage Mit Recht werden immer wieder der besondere Stellenwert des Romans und überhaupt die »Dominanz des Epischen« (Becker 2003, 145) im Poetischen oder Bürgerlichen Realismus hervorgehoben, wobei neben dem Roman der Novelle als zweiter Leitgattung der Epoche ein eigener Stellenwert zukommt. Zu Recht wird dabei die Bedeutung gerade des vorgängigen englischen und des französischen Realismus akzentuiert. Als Bezugspunkte und Vorbilder kommen insbesondere Honoré de Balzac, Gustave Flaubert und Charles Dickens zur Geltung. In einem gewissen Rahmen gilt dies auch für den russischen Realismus mit Iwan S. Turgenjew, Fjodor Dostojewski und Leo Tolstoi (s. Kap. 3). Gerade der erzählenden Literatur wurde ab der Mitte des 19. Jahrhunderts das Vermögen zuerkannt, das vielfältige bürgerliche Gesellschaftsleben der Gegenwart in seiner Wirklichkeit gleichermaßen authentisch wie detailliert wiederzugeben. Demgegenüber trat etwa die Lyrik zurück und verlor sich das Dramatische weitestgehend. Im Unterschied etwa zum durchaus schon frührealistischen Konzept eines ›Romans des Nebeneinanders‹, wie Karl Gutzkow es in seinen neun Bänden Die Ritter vom Geiste umsetzte, zielte der Roman des Poetischen oder Bürgerlichen Realismus gleichwohl nicht auf das umfassende Gesellschaftspanorama ab, sondern setzte – hier Goethe deutlich näher als dem ›neuen‹ Romantyp Gutzkows – eine individualzentrierte Struktur um. Für den Roman des Poetischen oder Bürgerlichen Realismus ist die Tradition des Bildungs- und Entwicklungsromans entsprechend von außerordentlicher Bedeutung. Zu den relevanten literarhistorischen Bezugspunkten von Fontanes Effi Briest wird man deshalb sicherlich Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre zählen müssen, mit Blick auf die Öffnung des Bildungsromans hin zu einem Gesellschaftsroman auch Wilhelm Meisters Wanderjahre, selbst wenn dessen literarische Spiegelung der bürgerlichen Welt bei Fontane auf Vorbehalte stieß. Die Anknüpfung an den Weimarer ›Dichterfürsten‹ wird

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in Fontanes Roman allein schon in den Faustreminiszenzen greifbar, die in Effis Briefen von ihrer Hochzeitsreise an die Eltern geradezu ostentativ ausgestellt werden. »Hier in Padua (wo wir heute früh ankamen)«, berichtet die frisch vermählte Effi von Innstetten von ihrem Ehemann, »sprach er im Hotelwagen etliche Male vor sich hin: ›Er liegt in Padua begraben‹, und war überrascht, als er von mir vernahm, daß ich diese Worte noch nie gehört hätte« (46). Mit dem Mephistozitat (Faust I, V. 2925) wird die spätere unglückliche Ehegeschichte der von Innstettens intertextuell bereits angedeutet und das Grabmotiv eingeführt. Der Bezugspunkt Bildungsroman ist wirkungswie rezeptionsgeschichtlich nicht von der Hand zu weisen, stößt bei der gattungspoetologischen Bestimmung des Fontane-Romans jedoch an seine Grenzen (s. Kap. 31, 36). Wenn man den Bildungsroman mit Jürgen C. Jacobs als »[e]rzählerische Darstellung des Wegs einer zentralen Figur durch Irrtümer und Krisen zur Selbstfindung und tätigen Integration in die Gesellschaft« (Jacobs 1997, 230) versteht und die erzählerische Darstellung eines entsprechenden Scheiterns als vom Modell des Bildungsromans abhängigen ›Anti-Bildungs-‹ oder ›Desillusionsromans‹ erkennt, sind Bezugspunkte zum Entwicklungsgang Effis durchaus erkennbar. Doch ebenso deutlich wird, dass Fontanes Roman mit dieser Gattungszuweisung allenfalls oberflächlich gefasst werden kann. Tatsächlich ist die Entwicklung der zentralen Figur – von Effi – nur bedingt greifbar und sie ist nicht einmal der maßgebliche Gegenstand der Handlung. Es handelt sich bei Fontanes Effi Briest um einen Gesellschaftsroman, »geht es doch vorrangig um soziale Konfliktlinien in der wilhelminischen Epoche – hier um epische Grenzgänge zwischen Adel und Bürgertum oder genauer: zwischen traditionell-ständischer und modern-bürgerlicher Ethik und Moral« (Scheuer 2008, 1). Der zentrale Bezugspunkt ist letztlich nicht die einzelne Erzählfigur, so zentral sie innerhalb der Romanhandlung auch sein mag, der Roman wird vielmehr vom Anspruch getragen, »die zeitgenössische Wirklichkeit wahrheitsgetreu und lebensecht wiederzugeben« (Aust 2000, 80). Als gattungsgeschichtliches ›Zwischenglied‹ zwischen Bildungs- und Gesellschaftsroman und als »nicht nur von Fontane so empfundene[r] Wendepunkt für den Bürgerlichen Realismus« (Balzer 2006, 52) wird mit guten Gründen oft Gustav Freytags Roman Soll und Haben spezifiziert, der den Blick auf den weiteren sozialen Raum ausgeweitet hat (s. Kap. 7).

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Der Autor in der Zeit Zur groben Einordnung von Fontanes Roman macht nicht nur der Blick auf die Epochenentwicklung und die Gattungsgeschichte Sinn. Auch die Bedeutung der Autoren hat sich im Laufe des ›langen 19. Jahrhunderts‹ verändert. Schon die Vorstellung vom ›Dichterberuf‹ zeigt den Wandel auf: Rolf Selbmann spricht in Bezug auf den Poetischen oder Bürgerlichen Realismus von einer »Schwundstufe des poetischen Anspruchs« (Selbmann 1994, 132). Nach der Emanzipation des poetischen Selbstbewusstseins im 18. Jahrhundert und der Durchsetzung einer Autonomieästhetik tritt der Gegensatz einer gleichermaßen hochgewerteten wie gefährdeten Künstlerkonzeption zur Bürgerexistenz in der Romantik immer stärker in den Vordergrund, um sich schließlich in »Schwundformen poetischer Autonomie« (Selbmann 1994, 116) zu verlieren (s. Kap. 26). Die Entwicklung sollte im Naturalismus eine Fortschreibung und Radikalisierung erleben, um gegen Ende des 19. Jahrhunderts in einer neuen Apotheose des Künstlers als Schöpfer und Führer eine völlige Kehrtwendung und im Sezessionismus einer Moderne eine neue Selbstverortung im Hinblick auf das Verhältnis zur Gesellschaft zu erfahren. Der Poetische oder eben auch Bürgerliche Realismus zeichnet sich dadurch aus, dass der Autor sich trotz aller Vorbehalte im Unterschied etwa zur früheren Romantik nicht ausdrücklich gegen die bürgerliche Gesellschaft – die ›Philister‹ in der Perspektive der Romantiker – stellt, sondern als Teil der Gesellschaft begreift. Er zeichnet die Gesellschaft in ihrer Konventionalität und Reaktivität und fokussiert ihre durchaus auch erdrückende Macht in Konfliktkonstellationen mit dem Individuum (s. Kap. 46). Der Blick ist dabei nicht diffamierend oder diskreditierend, sondern selbst in der Kritik ein Gutteil resignativ, auf jeden Fall konservativ. In der sich in dieser Zeit rasant entwickelnden bürgerlichen Welt mit ihren vielfältigen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Umformatierungen und ihren wissenschaftlichen und technischen Fortschritten sieht sich der Autor des Poetischen oder Bürgerlichen Realismus als beobachtender und kritisch wertender, in summa aber durchaus als wohlwollender Begleiter. Er zeigt einen melancholischen Optimismus, der erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts in die Skepsis und den Pessimismus der Moderne umschlagen wird. Effi Briest steht an der Schwelle zur Klassischen Moderne. Der Autor selbst profitiert von Veränderungen des Buchmarktes und einer »geradezu explosionsartige[n]

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Ausweitung des Lesens« (Balzer 2006, 28). Mit der Ausweitung des Buchmarktes, einer neuen Bedeutung von Leihbibliotheken und von Unterhaltungsmedien auf dem Zeitschriftensektor stiegen die Möglichkeiten für Autoren rasant an, ihren Werken auch eine größere Publizität zu verschaffen. Mit der Entwicklung gewann der Autor auch auf der ökonomischen Seite Möglichkeiten und Sicherheiten, die er zuvor nicht besaß (s. Kap. 15). Die Epoche des Poetischen oder Bürgerlichen Realismus ist insgesamt auch die Phase einer ›Verbürgerlichung‹ der Kunst. Das hat die Kunst gleichwohl mit sämtlichen anderen Subsystemen der Gesellschaft in diesem Zeitabschnitt gemein. Literatur Aust, Hugo: Literatur des Realismus. Stuttgart 32000. Balzer, Bernd: Einführung in die Literatur des Bürgerlichen Realismus. Darmstadt 2006. Becker, Sabina: Bürgerlicher Realismus. Literatur und Kultur im bürgerlichen Zeitalter 1848–1900. Tübingen/Basel 2003. Delabar, Walter: Deutschsprachige Literatur 1918–33. Berlin 2010. Helmstetter, Rudolf: Die Geburt des Realismus aus dem Dunst des Familienblattes. Fontane und die öffentlich-

keitsgeschichtlichen Rahmenbedingungen des Poetischen Realismus. München 1997. Jacobs, Jürgen C.: Artikel »Bildungsroman«. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearb. des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, Bd. I: A–G. Hg. von Klaus Weimar u. a.. Berlin/New York 1997, 230– 233. Mann, Thomas: Reden und Aufsätze 2. In: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Bd. X. Frankfurt a. M. 1990. Nelles, Jürgen: Bedeutungsdimensionen zwischen dem Gesagten und dem Ungesagten. Intertextuelle Korrespondenzen in Fontanes ›Effi Briest‹ und Goethes ›Faust‹. In: Wirkendes Wort 48, H. 2 (1998), 192–214. Scheuer, Helmut: Singularität und Typik – Epische Planspiele zwischen Adel und Bürgertum in Theodor Fontanes ›Effi Briest‹ (1894/95). In: Matthias Luserke-Jaqui (Hg.): Deutschsprachige Romane der klassischen Moderne. Unter Mitarbeit von Monika Lippke. Berlin u. a. 2008, 1–18. Selbmann, Rolf: Dichterberuf. Zum Selbstverständnis des Schriftstellers von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Darmstadt 1994. Sengle, Friedrich: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution. 1815–1848. 3 Bde. Stuttgart 1971–1980.

Lothar Bluhm

3 Effi und ihresgleichen

3 Effi und ihresgleichen Vorbemerkung In der Reihe der literarisch berühmten Ehebrecherinnen ist Effi weder die erste noch die letzte. Ihr ging vor langer Zeit die biblische Bathseba voraus und bewies sogar, sei’s als Treulose, sei’s als Vergewaltigte – der Fall ist strittig (vgl. Kern 2000, 206–218) –, wie einträglich sowohl politisch als auch heilsgeschichtlich ein Ehebruch sein kann, wenn ihm Kinder wie König Salomon entspringen. Das Segensreiche des Ehebruchs bzw. der außerehelichen Abstammung lehrten parallel auch andere Mythen, wenn sie von Göttern erzählten, die sich voll inbrünstiger Liebe mit den irdischen Ehefrauen vermischten und ihnen zum Dank für die nicht immer freiwillig gewährte Gunst ruhmvollen Nachwuchs bescherten, wie es Jupiter der Alkmene mit Herakles antat. Und als die Götter aus der Welt längst verschwunden waren, meldete sich ›die Natur‹ nachdrücklich zu Wort, wenn es galt, modernen Frauen wie Lady Chatterley den Sprung aus der Ehe mit dem Erlahmten ins authentisch wild bewegte Leben zu ermöglichen. Aber typischer ist doch das Schicksal einer Effi, die aus verschiedenen Gründen nicht in den Genuss der Früchte solcher Seitensprünge kommt. Zur Typik des Ausbruchs aus dem Leid in der Ehe gehören das Symptomatische der nicht belohnten, sondern weltweit streng bestraften Seitensprünge und das Signifikante solcher Brüche für den geschichtlichen Zustand der ›häuslichen‹ Welt (s. Kap. 24). Das muss nicht unbedingt die bürgerliche sein. Schon die höfische Welt zerbrach mit der Liebe, die Syr Launcelot der Gemahlin des Königs Arthur, Quene Gwenyvere, erwies (Malory: Le Morte Darthur, 1485). ›Beliebt‹ wurden solche Erzählungen aber im 19. Jahrhundert und haben vielleicht sogar die Moderne ›überlebt‹, die in Ehefragen eher liberal verfahren will.

Die Ehefrauen Im Kreis ihrer zeitlich näheren ›Verwandten‹ fällt Effi kaum aus dem Rahmen (s. Kap. 11, 12), ist sie eine der vielen, die erfahren, in welchem Ausmaß das intim geführte Leben öffentlich beobachtet, laut bewertet und streng gemaßregelt wird. Sie alle, Indiana (George Sand: Indiana), Julie (Honoré de Balzac: Die Frau von dreißig Jahren), Hester (Nathaniel Hawthorne: The Scarlet Letter), Emma (Gustave Flaubert: Madame Bovary), Anna (Leo Tolstoi: Anna Karenina), Ana (Cla-

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rín: Die Präsidentin) und Effi sind literarische Varianten des Motivs der »mal mariée« (Dethloff 2000, 124). Das öffentlich gefeierte Eheglück erweist sich alsbald als heimisches Unglück, sei es, weil das Paar sich verrechnet hat oder eine Seite nicht so kann, wie die andere Seite will, sei es, dass sich trotz des Guten in der Ehe etwas Besseres außerhalb bietet, aus heiterem Himmel oder notwendigerweise. Ehen, so scheint es, stehen jenem ›Glück‹ im Wege, das insbesondere erotische Erfüllung meint (Stern 1964, 316). Zum Zeitpunkt ihrer Eheschließung sind sie alle jung, meistens wohlerzogen, selten arm: Die 17-jährige Effi oder die 19-jährige Ana Ozores sind zwar keine ungewöhnlich früh heiratenden Frauen, aber sie stehen noch ganz im Bann der ›verantwortlichen‹ Erwachsenen, und das heißt, sie sind ihrer selbst noch nicht mächtig, auch wenn sie wie Ana überaus klug und belesen sind. Hinzu kommt, dass sie normalerweise ihren Ehegatten nicht selbst wählen, sondern ihn zugesprochen bekommen. Sie werden zwar nicht direkt gezwungen, wohl aber mit Argumenten überredet oder gar überwältigt, deren Tragfähigkeit sie noch nicht abschätzen können: Aus ›reiner Liebe‹ heiraten sie nicht; das tat eine Einzige, Julie, die »Frau von dreißig Jahren« (Balzac), und täuschte sich gründlich. Allenfalls hoffen sie, im Lauf der Ehe ihren Gatten lieben zu lernen, wie Ana irrigerweise meint, wenn sie in die Ehe mit Victor einwilligt, um dem Verheiratungsplan ihrer unfähigen Tanten zu entkommen. Widerstrebend haben aber weder Emma noch Anna ihren Mann akzeptiert. Selbst Hester handelte nicht gezwungen, sondern eher notgedrungen als Kind verarmter adliger Eltern, dem ein geachteter Gelehrter Sicherheit versprach. Auch Emma, die einzige NichtAdlige, folgt wohl dem, was ihr Vater in kurzer Aussprache zu bedenken gibt, so wie Frau von Briest ihrer Tochter das Kluge und Vorteilhafte der Verbindung vor Augen führt. Trotz ihrer Jugend oder vielleicht auch deshalb werden diese Ehefrauen in der Ehe leicht krank, insbesondere nervös oder gar hysterisch. So führen sie trotz Wohlstands ein dürftiges, meist nur kurzes Leben. Die wenigsten entgehen dem nahezu naturnotwendigen Ehebruch und vermögen wie Indiana (Sand) auszuhalten, bis der alte Ehemann stirbt und der längst Geliebte wählbar ist. In der Reihe der Titelheldinnen von Indiana bis Effi weist Ana Ozores vielleicht den stärksten »Elan des Transzendierens einer mediokren Existenz« auf (Link-Heer 1995, 167). Wie Emma liest sie zu intensiv das nicht zu jeder Zeit Richtige, zum Beispiel die Lebensbeschreibung der hl. Teresa von Avila, und ver-

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sucht, im Geist der Heiligen nicht nur zu leben, sondern auch zu schreiben, denn das Schreiben liegt ihr. Aber ihre übersteigerten Anlehnungen an mystischerotische Vorbilder und ihre irdischen Entsprechungen werden ihr schließlich auch bewusst, und sie begegnet einem klugen Arzt, der ihr sagen kann, was zu tun ist, um wieder gesund zu werden und zu überleben. Ob sie es schafft, bleibt allerdings fraglich. Sie unterscheidet sich sowohl von Emma als auch von Effi, geschweige denn von einer Kommerzienrätin Jenny Treibel, denn die Diskrepanz zwischen ›Poesie‹ und ›Wirklichkeit‹ gerät trotz vieler Irrungen nicht grundsätzlich aus dem Blick. Wie Ana freilich nach dem finalen Kuss weiterleben wird und kann, bleibt offen bzw. lässt wenig hoffen. Hester allein scheint von Anfang an ein klares Bewusstsein ihrer Lage gehabt zu haben; nicht sie hat sich mit falschen, angelesenen Erwartungen getäuscht, sondern der Ehemann. Und es ist der überaus kluge, aber schwache Geliebte, der das Wagnis einer neuen Verbindung nicht eingehen kann. Hester besitzt bereits Emmas und Annas Kraft, ja Wut: »Be it sin or no, [...] I hate the man!« (Hawthorne 2017, 107). Aber diese sieben Jahre lang bewiesene Vitalität als öffentlich Gebrandmarkte kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass selbst Hester unterm Druck des sie diskriminierenden ›scharlachroten Buchstabens‹ mehr als Tote denn als Lebende wirkt: »Her face, so long familiar to the townspeople, showed the marble quietude which they were accustomed to behold there. It was like a mask; or, rather, like the frozen calmness of a dead woman’s features; owing this dreary resemblance to the fact that Hester was actuelly dead, in respect to any claim of sympathy, and had departed out of the world with which she still seemed to mingle« (ebd., 135).

Emma, neben Charles’ Mutter und seiner ersten Frau eigentlich die dritte »Madame Bovary«, ist in der Welt der Provinz von Anfang an verloren. Zwar wird sie nicht ausgelacht, aber sie tappt von einer Illusionsfalle in die nächste und kennt in ihrem »monomanischen Hass« (Matz 2014, 129) keine Rücksicht. Ob das auf emotionale Stärke verweisen kann (Stern 1964, 320), mag fraglich bleiben. Im Gegensatz zu Effi genießt sie für kurze Zeit das, was sie für Liebe hält. Hier Spuren einer authentischen, innewohnenden Liebesfähigkeit zu sehen, bleibt eine gewagte Aufwertung, ermöglicht aber jene Form der Sympathie, die Opfern dieser Art entgegengebracht wird (vgl. Vargas Llosa 1980).

Im Falle Anna Kareninas wirkt sich aus, was bei Effi auffallend fehlt, eine überwältigende Leidenschaft, die mitten ins vermeintlich sichere Leben einschlägt und alles über den Haufen wirft, bis diese Lebenswucht unter den Eisenbahnrädern, die von Anfang an rollen, um Menschen zusammenzubringen oder zu trennen, zermalmt wird. Wenn auch Anna ein Opfer ist, so ist sie es nicht zuletzt dank eines tödlichen Räderwerks, das in Gang kommt, sobald Menschen leidenschaftlich zu lieben beginnen. Es ist fraglich, ob Anna ohne ihre Liebe zu Wronski je die Worte gewählt hätte, mit denen sie sich von ihrem Mann trennt: »Ich fürchte, ich hasse Sie...« (Tolstoi 2011, 323). Hier geht es weniger um Moral (vgl. Stern 1964, 325–327) als um den Ausbruch existenzieller Unverträglichkeit, sobald ›Leidenschaft‹ ins Spiel kommt und alles durcheinanderwirbelt. Schon der Erzähler des »scharlachroten Buchstabens« mutete seinem Lesepublikum zu, im Grunde Liebe und Hass als das gleiche anzusehen (vgl. Hawthorne 2017, 153). »Weg mit Euch« (326) – wenn damit nicht nur Ehemänner wie Innstetten gemeint sind, dann erreicht die Radikalisierung unter den Geschiedenen hier einen Höhepunkt (Dethloff 2000). Balzacs »Frau von dreißig Jahren« hat lange gebraucht, ihre »frühen Fehler«, so der Titel des ersten Romanteils, zu erkennen. Dann spielt sie ein Leben lang das konventionelle Scheinspiel mit, auch als Ehebrecherin, um doch am Ende angesichts des Schicksals ihrer Töchter erkennen zu müssen, dass sie von Anfang an alles falsch gemacht hat. Auch Effi hält ihre Radikalität nicht durch. Aber im Rahmen des ihr gewährten Realismus zählen ihre unterschiedlichen Reaktionsweisen nicht wenig.

Die Ehemänner Alle Ehemänner sind alt, als ›betrogene‹ Ehemänner stehen sie in keinem guten Ruf, zumal manche erst spät etwas merken oder sich eigentlich nichts daraus machen. So klug sie sein mögen, unterwerfen sie sich dem Gerede der Leute und bestrafen die Schuldigen, aber auch sich selbst. Vielleicht ist ihr Alter nicht einmal das Entscheidende. Eher zählt etwas, was sie als ›abgelebt‹ erscheinen lässt. Schon Hesters Mann fühlt sich abgestorben und sucht in der Ehe das aufgegebene Leben. Innstetten holt ›das Entgangene‹ nach. Die so geschlossenen Ehen dauern freilich unterschiedlich lang: Sehr kurz währt sie im Fall Hesters, weil die beabsichtige Umsiedelung das Ehepaar bald trennt und der nachreisende Mann als verschollen gilt. Acht Jahre

3 Effi und ihresgleichen

lang halten immerhin die Ehen Anna Kareninas und Ana Ozores’. Sein prägnantes Profil gewinnt der Ehemann oft erst im Vergleich mit dem Liebhaber. Dann erst wirkt Karenin widerlich mit seinen großen Ohren und knackenden Fingern. Die Gestalt des Ehemanns gewinnt ihre ›üble‹ Kontur als abwesender »er« vornehmlich im Liebesgeflüster der enttäuschten Ehefrau mit ihrem Geliebten: »Ja, seine Art zu fühlen, widerstreitet der meinigen. Er hat mich nie verstanden, er kennt die Liebe nur von der rohen und häßlichen Seite, ich verabscheue ihn. Wenn du wüßtest! ...« (Flaubert 1921, 65, 67). Dennoch sind die Ehemänner, um die es in den kanonischen Romanen geht, wohl besser als ihr Ruf. Sie müssen deshalb keine sympathischen Figuren sein; aber ›sympathisch‹ sind auch deren Ehefrauen nicht unbedingt. Doch am ›Fall‹ des Ehemanns zeigt sich leibhaftig und in voller Aktion der allgemeine Zustand der Beziehung von Mensch zu Mensch, geschlechtlich, hierarchisch und überhaupt. Die größte Fallhöhe, sofern sich so etwas messen lässt, erleidet wohl Roger Chillingworth, der Ehemann Hesters. Im vorgerückten Alter erwirbt sich der Gelehrte, fast ein weiser Mann, seine junge Schülerin zur Ehefrau, hofft auf ein neues Leben, erwartet in ihr die Verkörperung von »warmth and cheerfulness of home« (Hawthorne 2017, 75), wie es kein Bett bisher bot, und muss seinen Irrtum erkennen, als er nach einjähriger Gefangenschaft unerkannt wiederauftaucht und seine Frau mit fremdem Kind am Pranger sieht. Da er sich nicht neben sie auf die Bühne der Schande und Lächerlichkeit stellen will, bleibt er still, gibt er sich nur seiner Frau zu erkennen und beginnt mit neuem Namen und unter der Maske eines Arztes seinen Rachefeldzug gegen den bald erkannten Konkurrenten. So wird er geradezu zum »Teufel«; und zur Besinnung kommt er erst, als ihm sein sterbender Gegner im Tod ›entwischt‹. Mit dem Verlust seines Gegners ›schrumpft‹ er leibhaftig aus dem Leben. Sich zu besinnen, wie es selbst der närrische Quintanar, Anas Mann, trotz seiner Jagd-, Theater- und weiterer, eher lächerlicher Abenteuer vermag, kommt für den heilkundigen Arzt nicht in Frage (»leech« heißt nicht nur Arzt, sondern auch Blutegel), obwohl er am Ende der fremden Tochter sein Vermögen vermacht. Sogar der oft verlachte Charles Bovary verhält sich bedächtiger, ›bedächtig‹ durchaus, wenn man von ihm persönlich die total verhängte Dummheit der Welt-Provinz (»bêtise humaine«) abzieht. Vielleicht ist er wirklich der einzig liebende Ehemann (Matz 2014, 35–36). Karenin und Innstetten, die überlebenden Ehemänner,

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erscheinen am Ende der Geschichte als gebrochene Männer, die ausgespielt haben.

Die Liebhaber Glücklich verheiratet ist keine der Ehefrauen. Das Grundgefühl der in der Ehe ›abgestellten‹ Frauen ist Langeweile, getragen vom Bewusstsein, vernachlässigt oder gar gedemütigt zu werden. Das ist das Stichwort für den Auftritt des Geliebten. In tragischen Erzählungen vom Ehebruch (s. Kap. 24, 43) spielt der ›Liebhaber‹ selten die Rolle dessen, der ›die Liebe hat‹, sie vorbehaltlos teilt; weder liebt er unbedingt, noch wird er unbedingt geliebt. Wie der betrogene Ehemann ist er ein Typus, entspricht er einem Klischee. Als Klischee wird er auch wahrgenommen, ohne dass es ihm ernsthaft schadete. Meistens ist er wesentlich jünger als der Ehemann und steht also der Ehefrau lebensgeschichtlich näher, obwohl auch er seine ›Erfahrungen‹ ausspielt und sich der Umworbenen liebesgeschichtlich überlegen weiß. Selten verheiratet, tritt er gern als Verführer oder gar Eroberer auf, der aber lächerlich wirkt, wenn »in seinem Körper von Zeit zu Zeit etwas Knacks« macht (Clarín 1987, 758); bestenfalls erscheint er als bedauernswert. Solche Liebhaber machen sich gerne etwas vor wie Flauberts Henry: »[...] er lobte sich und stieg in seiner eigenen Achtung, während er seine Zaghaftigkeit als Tugend und seine Dummheit als Zartgefühl empfand, wie das immer geschieht« (Flaubert 1921, 66). Und immer repräsentiert er jene ›Gebrechlichkeit‹, an der menschliche Beziehungen schon lange vor seinem Auftritt scheitern, gescheitert sind. So löst er etwas aus, was unterschwellig vielleicht schon von Anfang an, sei’s in der Ehe, sei’s schon im Leben ›gegeben‹ ist und sich von Geburt an oder in einer Gesellschaft, die gern bürgerlich heißt, ausbreitet. Unter diesen Liebhabern ist Arthur Dimmesdale (The Scarlet Letter) der am meisten geliebte und am wenigsten lächerliche, aber auch der problematischste. Hester wird nahezu ein Leben lang an dem öffentlich geachteten Reverend hängen, dem Vater ihrer außerehelichen Tochter. So ›verliebt‹ in einen äußerst schwachen, sich fast würdelos verhaltenden und doch klugen und schließlich auch tapferen Geliebten zeigt sich keine der nachfolgenden Titelheldinnen. Graf Wronski hat gewiss die Kraft und das Vermögen, sich gegen Familie, Gesellschaft und Welt zu stemmen, eine ›freie‹ Ehe mit Anna zuerst in Italien, dann in der Heimat zu führen, den Leuten zum Trotz. Als einziger

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Liebhaber in der Reihe der Ehegeschichten setzt er sich in der Verzweiflung wiederholt dem Tod aus, zuerst der versuchte Selbstmord, dann der freiwillige Gang in den serbischen Krieg. Aber die Vornamensgleichheit zwischen Alexej Karenin und Alexej Wronski weist vielleicht doch darauf hin, dass auch Annas zweite Lebens- und Liebeslinie Brüche enthält und wiederholt. Alle anderen ›Liebhaber‹, Emmas Rodolphe und Léon, Anas Avaro de Mesía und Fermín de Pas sowie der überalterte und zudem verheiratete Major Crampas gefallen sich in der Rolle solcher Verführer, wie sie das Provinzleben hervorbringt. Wenn sie verdoppelt erscheinen wie gegenüber Emma, so bringen sie in Sachen Liebe nichts Neues, sondern vergrößern nach anfänglichem Rausch alsbald die bittere Enttäuschung. Das muss besonders krass auch Ana, Claríns ›Präsidentin‹, erfahren, wenn sie zwischen ›fleischlichem‹ und ›geistigem‹ Versucher die Wahl hat. Das heißt, eine ›Wahl‹ hat sie eigentlich nicht: Der Körper des liberalen Herzensbrechers Mesía fiel ihr schon früh in den Blick und infizierte sie mit einer Illusion. Den Geist des Generalvikars Fermín lernt sie aus nächster Nähe, in der Ohrenbeichte, sozusagen geschwisterlich lieben, aber zugleich kopflos anbeten. Beide spanischen ›Herzensbrecher‹ verstehen sich als Jäger auf der Jagd nach ihrer Beute, beide führen einen Eroberungskampf und gieren nach dem Sieg über eine »Festung« aus stadtbekannter Tugend, schwärmerischer Frömmigkeit und bodenloser Dummheit. Aus der Sicht des Generalvikars wird Ana, wenn sie sich dem ›weltlichen‹ Liebhaber ergibt, einen doppelten Betrug verüben (Clarín 1987, 771). Es liegt in der Konsequenz dieser ›frommen Provinz‹, dass der abgeschlagene Konkurrent eine Intrige beginnt, die eine mögliche »Lösung«, und zwar im Einvernehmen mit dem erbärmlichen, aber keineswegs gewalttätigen Ehemann (ebd., 791), vereitelt. Mit dem Geliebten eine neue, glückliche Ehe beginnen zu können, bleibt das Vorrecht jener Romane, die wie Indiana auf den ›drohenden‹ Ehebruch verzichten, solange der Ehemann lebt, oder die wie Tschernyschewskijs Was tun? Erzählungen von neuen Menschen (1863, dt. 1883) den Glauben an die Macht der Emanzipation plakativ zur Schau stellen oder wie L ’Adultera das entscheidende Kriterium in der Hinwendung der Frau zur selbständigen Tätigkeit sehen. Die Kraft, sich am Verführer zu rächen, bringt nur Thomas Hardys »pure woman« Tess of the d’Urbervilles (1891) auf und wird dafür mit dem Tode bestraft.

Requisiten Dass Liebende ›Requisiten‹ brauchen, um sich richtig zu lieben (bewegende Bilder, gemeinsame Lektüren, gefaltete Zettelchen, Treibhaus-Musik; dazu Scherpe 2010), oder Ehemänner, um ihre Treulosen zu überführen, wenn es ihnen nicht gelingt, sie auf frischer Tat zu ertappen, ist in beiden Fällen eine Notlösung wie in Wagners Tristan und Isolde oder Shakespeares Othello. Blicke allein können genügen, eine Kettenreaktion auszulösen wie im Fall Annas. Hester, die am längsten am ›Buchstaben‹ hängt, braucht für ihre Liebe zu Arthur kein in Stimmung versetzendes Hilfsmittel. Was Balzacs Julie in die Arme des raffinierten Diplomaten Charles de Vandenesse treibt, ist nebst der »große[n] Kränkung« (Balzac 1996, 50), die sie durch ihren dummen Ehemann erleidet, die wachsende Reue über ihr sprödes Verhalten gegenüber dem einzig würdigen, aber zur Entsagung genötigten Lord Arthur Granville, der ihretwillen jämmerlich zu Tode kommt. Es ist die Intrige der Neidischen oder der dumme Zufall, die Quintanar den Liebhaber seiner Frau ertappen bzw. der Innstetten mit der Nase auf die kompromittierenden Briefe stoßen lässt. Lektüre erscheint dann naturgemäß als medialer Ersatz. Ob aber die »medial vermittelte Lust« geeignet ist, ein obsolet gewordenes »ontologisch beglaubigtes ›unmittelbares Begehren‹« vollwertig zu ersetzen (vgl. Scherpe 2010, 397), mag offen bleiben. Fast lehren solche Fälle, dass nicht der Ehebruch, ohnehin etwas Nebensächliches, das Entscheidende sei.

Duell Ins Schema des literarischen Konflikts der Frau zwischen zwei Männern fügt sich das Duell als ›Standard‹ nahtlos ein. Sich zu duellieren ist die habituelle und fast naturgegebene Konsequenz unter Männern, wenn dem Ehemann die ›Seine‹ zu einem anderen überläuft. Besitz und Freiheit werden im Duell knallhart geregelt. Mehr noch geht es um die verletzte und wiederherzustellende Ehre. Das Duell gilt zugleich als Symptom für eine (oft bürgerliche) Gesellschaft, die in sich bereits zerbrochen ist, aber nach außen Zusammenhalt und Wehrhaftigkeit bekundet. Doch trotz demonstrierter Stärke renkt sich nach dem Duell die Geschichte selten wieder glücklich ein, denn sie war es ja eigentlich nie. Näher besehen, ist das Duell in den Romanen, die von der Gebrechlichkeit der Ehe handeln,

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nur ein literarisches Verhaltensklischee, das seltener in Anspruch genommen wird, als es die Kritik an dieser eher archaisch wirkenden Lösung erwarten lässt. Keineswegs alle betrogenen Ehemänner verlangen prompt nach Genugtuung im Duell, abgesehen davon, dass ein Duell im Umkreis gewaltbereiter Gesellschaften mit Massentötungen im Krieg eher eine begrenzt wirkende Variante der herrschenden Aggressivität darstellt. Vor allem aber kommen neben dem Duell auch weit brutalere Formen der Rache vor. In Balzacs Geschichte der Frau von dreißig Jahren spielt ein Duell überhaupt keine Rolle. Eine verletzte Ehre braucht nicht wiederhergestellt zu werden, weil dieser keineswegs bürgerliche, sondern hocharistokratische Stand längst seine Ehre und mit ihr das Ethos der Ehe verspielt hat. Was sich in einer Art Wiederholungsschleife abzeichnet, ist die Brüchigkeit der Ehen infolge »früher Fehler«; und demonstrativ vollzieht sich die Wiederkehr des Ehebruchs in der Ehegeschichte der Tochter am Auftritt eines Mannes, dessen Vater bereits der Liebhaber ihrer Mutter war. Hester Prynnes ›betrogener‹ Ehemann verzichtet bewusst auf ein öffentliches Verfahren und betreibt stattdessen unter der Maske eines gütigen Arztes über sieben Jahre lang eine geradezu teuflisch infame Rache an Hesters Geliebtem, setzt eine »terrible machinery« (Hawthorne 2017, 98) in Bewegung, die unbarmherziger als ein Duell den ohnehin gewissensgeplagten Geistlichen allmählich in den Tod treibt. Was Charles Bovarys Verhalten in diesen Dingen der persönlichen Genugtuung betrifft, so gilt seine Zurückhaltung oder gar ›Gutgläubigkeit‹ (»C’est la faute de la fatalité«, Flaubert 1857, Bd. 2, 489) eher als Zeichen seiner lächerlichen Wirklichkeitsverkennung. Wie Alexej Karenin, der ausdrücklich auf das Duell verzichtet, kommen diese Männer in der Wirkungsgeschichte ihrer Romane nicht gut weg, obwohl sie beide durch das Verhalten ihrer Ehefrauen zerstört werden. Was Charles betrifft, so erscheint er nach dem Tod seiner Frau in einem anderen, besseren Licht, so dass seine vermeintliche Lächerlichkeit eher auf die Perspektive seiner Umwelt verweist als auf einen eigenen Charakterzug (Dethloff 1997, 148). Lächerlich wirkt entschieden häufiger Don Quintanar, der Ehemann der Ana Ozores. Er ist der erste in der hier gewählten Romanreihe, der in ein Duell verwickelt wird. Eigentlich will sich auch Quintanar nicht duellieren, lässt sich aber von seiner Theater-Passion hinreißen, insbesondere von dem auf der Bühne verherrlichten Duell-Ritual nach dem Muster eines beliebten Dramas (Zorillas Don Juan Tenorio); zudem

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stachelt ihn der intrigante Konkurrent in der Liebe zu Ana auf. Das stattfindende Duell verläuft tödlich, aber es wirkt zugleich possenhaft, denn nicht nur Quintanar verfehlt sein heroisches Rollenideal, sondern auch sein Gegner kann sich vor Zittern kaum auf den Beinen halten. Trotzdem gelingt diesem abgehalfterten Liebhaber der tödliche Schuss, und zwar ›in die volle Blase‹ seines Gegenübers. So ›niedrig‹ verläuft das einmütig beanstandete Duell zwischen Innstetten und Crampas nicht, aber es wirkt wie eine Maschinerie, die auf Knopfdruck abläuft. Ihre Mitspieler gehen, seltsam gefasst, automatisch aufeinander zu, verständigen sich befremdlich mit Waffen und verabschieden sich in nahezu absurder Weise ruhig voneinander, Menschen ohne Gefühlszeichen, eher zurückgelassene Marionetten, die irgendwo abseits eine ›öffentliche Privatsache‹ in stiller Verabredung einvernehmlich austragen und an selbstgespannten Drähten zuckend vollbringen, was eigentlich nicht mehr erlaubt ist und ihnen nur schadet, selbst wenn das Gesetz ein Auge zudrückt.

Die Kinder Im Schema des Ehebruchromans scheinen Kinder eine nebensächliche Rolle zu spielen. Aber entscheidend sind sie über kurz oder lang schon, sei’s bei der Trennung, sei’s fürs Weiterleben, sei’s in der Ehe überhaupt (s. Kap. 23). Selbst Claríns kinderlose ›Präsidentin‹ hält es für möglich, dass ein eheliches Kind ihrem Leben eine andere Wendung hätte geben können. Schließlich waren sie ja alle eben noch Kinder und reagierten unterschiedlich auf ihre Eltern, sei’s, dass sie nicht auf den klugen Rat des kränklichen Vaters hörten wie Balzacs Julie, sei’s, dass sie sich irritieren ließen von den exzentrisch liberalen Ideen ihres Vaters wie Ana, sei’s, dass sie wie Effi kopfüber in die Fänge einer Mutter gerieten, die sogar eine »mörderische« genannt wurde (Miething 1994, 365). In Balzacs Roman Die Frau von dreißig Jahren spielen Julies Kinder, insbesondere die beiden Töchter und der Sohn, eine entscheidende Rolle. Helène, die erste eheliche Tochter, muss die Entfremdung der Mutter vom Vater erleben. Zum Halbbruder, der aus der ehebrecherischen Beziehung hervorgeht, unterhält sie ein gespanntes Verhältnis, bis sie den Jungen in einer Affekthandlung tötet. Sie wird sich später endgültig von der Mutter lösen, einem ›romantischen‹ Mörder folgen, paradiesische Zeiten als seine Frau und mehrfache Mutter auf einem Korsarenschiff verbrin-

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gen (Effis »Midshipman«-Ideal?) und doch nach erneuter Schicksalswende in Anwesenheit ihrer Mutter elend zugrunde gehen. Auch die zweite Tochter Moina wird der Mutter nicht zur Freude leben, wiederholt sich doch an der jungen Frau, was die Mutter an misslungenem Eheleben hinter sich hat. Es zeichnet Balzacs Erzählung aus, dass er wenig Zweifel lässt über die Bestimmung der Frau in der Ehe und ihre Rolle als Mutter (vgl. Dethloff 1997, 113–114). Hesters außereheliche Tochter Pearl ist in der Reihe der Kinder die merkwürdigste, aber zugleich jene Figur, die im realistischen Kontext am meisten befremdet, weil ihr ›wildes‹ Wesen feste, reale Glaubenssätze durcheinanderwirbelt. An Pearl wird sichtbar, was Hester trotz des offen getragenen ›scharlachroten Buchstabens‹ auch oft verbergen will (s. Kap. 21). Es ist Pearl, Elfenkind und koboldartige Figur, die phantastisch grotesk querschlägt, wenn sich die Partner, sei’s Ehemann, sei’s Geliebter, ›vernünftig‹ verhalten, d. h. auf die Umwelt Rücksicht nehmen. Sie versteht wenig und durchschaut viel. Sie ist es, die ihrer Mutter aus romantisch exaltiertem Instinkt die Warnung vor dem maskierten Ehemann zurufen kann: »Come away, mother! Come away, or yonder old Black Man will catch you!« (Hawthorne 2017, 84) Sie findet sich keineswegs mit der neuen Rolle der Dritten im erphantasierten Ehebunde des lange getrennten Liebespaares ab; den Kuss des natürlichen Vaters wäscht sie spontan ab, solange er sich nicht offen zu Frau und Kind bekennt. Sie allein verlässt das Gefängnis der Neuen Welt und beginnt in einer ganz anderen Ferne ein eigenes Leben: »It was as if she had been made afresh, out of new elements, and must perforce be permitted to live her own life, and be a law unto herself, without her eccentricities being reckoned to her for a crime« (ebd., 85). Das kann sich als Modell im realistischen Abschnitt des Jahrhunderts nicht behaupten. Folglich machen Emma, Anna und Effi andere Erfahrungen mit ihren Kindern. Allenfalls spielt Effi für sich selbst noch mit einer kindlichen Rollenphantasie, wie sie in Pearl real erscheint. Annas Verhältnis zu ihren Kindern lässt sich nicht auf einen Nenner bringen. Denn ›das Kind der Liebe‹, die Tochter, bedeutet ihr wenig, obwohl sie an der schweren Geburt fast gestorben wäre. Anders ihr Verhältnis zum ehelichen Sohn. Nach einjähriger Trennung sucht Anna am Geburtstag ihren Sohn Serjoscha heimlich auf. Denn sie liebt ihn nach wie vor; und auch er hat sie nicht vergessen, er erwartet sie sogar, obwohl man ihn lehrte, sich daran zu gewöhnen, dass sie gestorben sei. Anna ist sich bei allem Abscheu vor

ihrem Ehemann ihrer Schuld bewusst; und auch ihr Sohn erkennt »Schrecken und Scham« (Tolstoi 2011, 811) in ihrem Gesicht. Sie weiß sich ihrem Mann unterlegen (»er ist besser und gütiger als ich«, ebd., 811). Und doch brechen »Abscheu und Erbitterung« (ebd., 812) erneut aus, sobald sie ihm begegnet. Aber sein Sohn liegt ihr am Herzen. Ein solcher Umsturz der Gefühle bleibt sowohl Emma als auch Effi erspart, obwohl auch hier die Stimmung schwankt. Emma lässt sich zur Verletzung Berthes hinreißen, die ihr als Tochter des verachteten Charles gleichgültig bleibt, ja den Rausch der Leidenschaft stört. Nach dem Tod des Vaters in Pflege gegeben, wird sie kaum glücklich überleben. Effi, ohnehin befreit von der alltäglichen Sorge ums Kind, steigert sich dennoch in überschwängliche Erwartungen an eine erneute Begegnung mit ihrer Tochter, die nicht so reagieren darf oder kann, wie es die Mutter erwartet (Hoffmann 1994). Ihre Empörung ist verständlich, hilft dem Kind aber nicht weiter.

Das Ende »Erzählungen schließen mit Verlobung oder Hochzeit« (Fontane 2011, 2, 495) – das gilt aber selten für Geschichten, die mit »Hochzeit« anfangen oder sogar mitten in der Ehe beginnen, um dann zu erzählen, wie es typischerweise weiter- und das heißt zu Ende geht. Die Ehe ist in den Romanen des 19. Jahrhunderts oft nur ein Schema, das nichts anderes verdient, als gebrochen zu werden (s. Kap. 11). Danach noch einmal mit »Verlobung oder Hochzeit« zu schließen, hieße wider besseres Wissen seltsame Schleifen abzulaufen. Wenn die Folgen des Ehebruchs geklärt sind, gibt es naturgemäß nichts weiter zu berichten. Und doch gelten die letzten Sätze solcher Romane nicht nur dem Ende des erzählten Schritts vom Wege, war doch der Seitensprung bloß ein Zeichen für allgemeine Brüche. »Ich habe meine Mutter verloren«, lautet der letzte Satz in Balzacs Geschichte der Frau von dreißig Jahren. Gesprochen wird er von ihrer Tochter Moina, die soeben die Ehe mit dem Sohn dessen gebrochen hat, der seinerseits der ehebrecherische Geliebte dieser Mutter war. Die nunmehr schon 50-jährige »schuldige Mutter« (Balzac 1996, 207) hat Gewissheit über diesen Ehebruch ihrer Tochter erlangt und erliegt diesem Schock. Trotz eines Lächelns der Sterbenden, das der Tochter zu verstehen gibt, wie »das Herz einer Mutter ein Abgrund ist, dessen Tiefe immer ein Verzeihen birgt«, hat das letzte Wort nach dem strengen

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Urteil des Erzählers eine »junge Muttermörderin« (ebd., 223). Der Schluss der Geschichte vom ›scharlachroten Buchstaben‹ beharrt auf der Geltung des Buchstabens, den Hester am Anfang der Erzählung vor aller Augen auf dem Pranger trug und seitdem fast nie abgelegt hat. In den Jahren nach dem Tod ihres Geliebten verlief ihr Leben, vielleicht auch dank der Unterstützung durch ihre Tochter, etwas glücklicher. Sie erwarb sich mittlerweile Ansehen als Ratgeberin, die verzweifelten Frauen die Hoffnung auf die zukünftige Enthüllung einer ›neuen Wahrheit‹ gab, »in order to establish the whole relation between man and woman on a surer ground of mutual happiness« (Hawthorne 2017, 155). Aber noch ganz zuletzt bleibt der Scharlachbuchstabe als heraldisches Zeichen auf ihrem Grabstein gegenwärtig, beansprucht das letzte Wort. Nicht triumphierend klingt, was der Grabstein auf seine Weise zu verstehen gibt und der Schlusssatz in Kapitälchen ausschreibt: »It bore a device, a herald’s wording of which might serve for a motto and brief description of our now concluded legend; so sombre is it, and relieved only by one ever-glowing point of light gloomier than the shadow: – »›On a field, sable, the letter A, gules‹« (ebd.). Von diesem ›legendären‹ Ende sticht der letzte Satz des Berichts über die »Sitten in der Provinz« erheblich ab, insofern er sich nach der Registrierung der Todesfälle, der würdigen Gestaltung des Grabsteins und der behelfsmäßigen Unterbringung der verwaisten Tochter dem Apotheker zuwendet, der mustergültig und erfolgreich überlebt und also den ehrenvollen Schlusspunkt ausgesprochen missklingend bildet: »Il vient de recevoir la croix d’honneur« (Flaubert 1857, 2, 490). Auch Annas Geschichte endet nicht mit ihrem Tod, sondern setzt sich in einem zwar kürzeren, aber gesonderten achten Teil des Romans fort, in dem das überlebende Ehepaar Lewin und Kitty nochmals in den Blick rückt. Keineswegs zeichnet sich hier ein gesicherter Lebenseheweg ab, vielmehr steht manches nach wie vor auf der Kippe, und die endlich gefundene Antwort auf die Frage nach dem »Sinn« des Lebens hat wohl nur deshalb einen »unanzweifelbaren« Klang, weil sie als Lebensabsicht so vorsichtig formuliert ist: »das Gute, das hineinzubringen in meiner Macht steht« (Tolstoi 2011, 1227). Dass die herrschende Kirche statt Zuflucht der Bedrängten ein ewiger ›Tatort‹ ist, zeigt sich von Anfang an und bestätigt sich auch am Ende der Geschichte über die ›Präsidentin‹. Zwar scheint Ana die Folgen des Ehebruchs zu überleben, aber anders als Hester

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muss sie auch ganz zuletzt erfahren, dass ihr ›Geliebter‹ (eigentlich hatte sie ja wie Emma zwei, aber der Provinz-Don-Juan spielt längst keine Rolle mehr) von Liebe, und sei es eine ›geistige‹, nichts wissen will. Der Generalvikar Don Fermín mag körperlich einem Arthur Dimmesdale weit überlegen sein, gegenüber seiner Mutter und in seiner Kirche angesichts seines Beichtkinds erweist er sich als jämmerlicher, lächerlicher Schwächling. »Er flog am ganzen Leib« (Clarín 1987, 834), heißt es, und flieht mit »zitternden Knien«, als er die hilfesuchende Ana in der Kapelle erblickt. Ana, zurückgestoßen und in Ohnmacht fallend, muss sich den Kuss eines hinzukommenden »Kirchenmannes« gefallen lassen. Zur Besinnung gekommen, heißt es im lapidaren Schlusssatz: »Sie hatte geglaubt, auf ihrem Mund den schleimigen, kalten Bauch einer Kröte zu spüren« (ebd., 835). Wie Hawthorne und Flaubert rückt auch Fontane am Ende seiner Erzählung einen Grabstein in den Blick und registriert die Not der Figuren, das rechte Wort zu finden. Eine »dürftige Ausflucht« (Matz 2014, 183) ist das nicht.

Erzählhaltung Das Motiv der Frau zwischen zwei Männern begünstigt eine typisierende Darstellung, die zuverlässig mit stehenden Rollen arbeitet, die ins Komödienfach gehören. Aber auch novellistische Erzählweisen, in sich nicht minder schematisch, begegnen wiederholt, weil das Motiv die Rolle des Hauses und ›seiner Frau‹ in den Vordergrund rückt (vgl. die Novellenmerkmale: sexuelles Faktum, weibliche Regie und ungerade Zahl; nach Schlaffer 1993). Wenn solche Pointierungen vermieden werden sollen und der Bericht über die Brüchigkeit einer die Gesellschaft tragenden Verbindung als Symptom eines allgemeinen Zustands im Mittelpunkt steht und wenn zudem die Schuldfrage strittig ist, bieten sich weitblickende, also auktoriale, oder genaue, scharf hinsehende, flexible, gar introspektive Erzählperspektiven an (s. Kap. 36). Dennoch fällt auf, dass multiperspektivisches Erzählen, kombiniert mit unzuverlässiger Berichterstattung, eher selten und erst spät begegnet (vgl. Schnitzlers Das Tagebuch der Redegonda 1909), Ford Madox Fords The Good Soldier, 1915, Yasushi Inoues Das Jagdgewehr, 1949, dt. 1964). »The reader may choose among these theories« (Hawthorne 2017, 152) – dieser Erzählerkommentar – es geht um die Frage, ob Hesters Geliebter Arthur Dimmesdale in der Enthüllungsszene nicht auch ein

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scharlachrotes Stigma auf der Brust trug – ist bezeichnend für die gewählte Erzählperspektive in The Scarlet Letter: einerseits ein außerhalb der Geschichte stehender Erzähler, der das Ganze wissend überblickt und souverän kommentiert, andererseits das Eingeständnis beschränkten Wissens, unzuverlässiger oder lückenhafter Überlieferung, die bei entscheidenden Dingen Widersprüchliches berichtet und den Erzähler veranlasst, dem Leser die letzte Entscheidung zu überlassen. Bei aller auktorialen Überlegenheit macht sich ein doch subjektiver, persönlicher Erzähler geltend, der im »Zollhaus« (so der Titel des vorangestellten Einleitungskapitels, das zweihundert Jahre nach Hesters Geschichte spielt) seine Zeit sinnlos verbringt und dabei dann doch auf ein Manuskript stößt, das es ihm ermöglicht, eine alte Geschichte aus dem Boston des 17. Jahrhunderts neu zu erzählen. Ein eindeutiger Text entsteht so nicht, vielmehr erweist er sich bis hinab auf den einzelnen scharlachroten Buchstaben A als vieldeutig, insofern es nicht nur um »adultery« geht, sondern vielleicht auch um »angel« und möglicherweise sogar um »Atlantic«, wobei dann die ganze Geschichte nicht etwa um Ehebruch kreiste, sondern um Vergewaltigungen der indigenen Bevölkerung im Zeitalter der europäischen Kolonialisierung Nordamerikas, um diese Schuld und um Buße für dieses Vergehen (Doyle 2017). Und noch in einem anderen Sinne wirkt sich diese Uneindeutigkeit aus: Als historischer Roman, vielmehr als deklarierte »Romance« präsentiert sich der nacherzählte Handschriftenfund als Gratwanderung zwischen phantastischer und realistischer, romantisch exotischer und moderner puritanischer Welt. An der Schwelle des Realismus ergibt diese Doppelung eine interessante Mischung, die bis hinauf nach Kessin und seinem »Spuk« reicht, eine eminent realistische Linie, die sich keineswegs irritieren lässt vom antiromantischen Zug der RealismusProgrammatik, die vielmehr die problematisch gemischten Lebensverhältnisse in der Neuen wie der Alten Welt wirklichkeitsgetreu verfolgt. Überblick und Einsicht beansprucht Balzacs »Sittenschilderer« (Balzac 1996, 211) auch dort, wo es »Szenen aus dem Privatleben« zu schildern gilt. Zugleich räumt er ein, dass gerade in Herzensangelegenheiten ein zuverlässiges Urteil kaum möglich ist: »Vielleicht läßt es sich niemals feststellen, wer recht oder unrecht hat: das Kind oder die Mutter« (ebd., 211). Auch hier wird »Gott« als »Richter« angerufen, der seine »Rache« oft »im Schoß der Familie übt« und »ewig« weit darüber hinaus. Dennoch wahren seine Szenen den realen Boden, auch dort, wo sie melodra-

matisch das Räuber- und Korsarenwesen einfassen. Wie Hawthornes weit zurückliegende Szenen aus der Welt der »bearded men« (Hawthorne 2017, 35) erzählt Balzac von gemischten Szenen aus Zeiten des Niedergangs. Eine solche differenzierbare Entschiedenheit versagt sich Flauberts Bericht über die »Sitten in der Provinz«. Hier lenken »impassibilité« und »impartialité« den Gang der Erzählung (Dethloff 1997, 152). Dennoch behauptet sich ein regieführender Erzähler: Wenn es gilt, den Klang wiederzugeben, den das Gemisch der Reden auf einer Landwirtschaftsausstellung hervorbringt, die Sprachfetzen der offiziellen Reden und das Liebesgeflüster des Paares, so macht eine übergeordnete Instanz sicht- und hörbar, was innerhalb dieser Provinzwelt niemand in dieser Verbindung vernimmt, was also nur von außen dank einer »plurale[n] Perspektivik« (Miething 1994, 343) wahrnehmbar ist. Mit einem vorangestellten, überaus persönlichen und doch anonymen »Wir«, das Charles, den »Neuen«, beobachtet, setzte der Sittenbericht ein; alsbald verschwindet dieses »Nous«, vielmehr es ›häutet sich‹ (Vargas Llosa 1980, 178–202), und es bleibt die reine Beobachtung. Aber sie ist nicht eigentlich stumm. Vielmehr klingt sie von Anfang an: »Nous étions à l’Étude« (Flaubert 1857, 2, 5); und das ist ein Rhythmus, den die Übersetzung »Wir saßen im Arbeitszimmer« nicht bewahren kann. Dabei lebt die ganze Erzählung vom »gueuloir« (Dethloff 1997, 154), von einem geradezu brüllenden Vortrag, und mündet als Klangkörper in einer »Symphonie des Grotesken« (Dethloff 1997, 149). Der umfassende Bericht über Wahn und Leidenschaft, über Kontrollverlust und Momente, in denen Anna Karenina ihre Augen zusammenzukneifen pflegt, offenbart lupenrein all jene Risse in der Wirklichkeit des Lebens, die dem realistischen Roman wichtig sind (s. Kap. 45). Der Satz: »Die Rache ist mein, und Ich will vergelten« (Tolstoi 2011, 5), ein Bibelzitat (5 Mose 32,35; Römer 12,19), lässt keinen Zweifel über das, was die Erzählung auktorial zu verstehen gibt (s. Wiederholungen ebd., 934, 1168 in Figurenrede; so auch in Scarlet Letter: »Let God punish! Thou shalt forgive!«; 117); aber diese unanfechtbare Klarstellung ist nur das externe Motto des Romans, und es gibt Übersetzungen, die es fallen lassen. »Die höhere Gerechtigkeit des Erzählens wertet nicht, richtet nicht – sie sagt, was ist« (Matz 2014, 150). Was wäre allwissender als der Einleitungssatz: »Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise« (Tolstoi 2011, 7). Aber zeigt das der Roman wirklich in auktorialer Ge-

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wissheit? Irritiert diese Auskunft nicht ebenso wie die plötzliche Sympathiebekundung »arme Effi«, die eine Erklärung einleitet, die mit dem Blick hinauf »zu den Himmelswundern« (345) nicht alles erfassen kann, was sonst noch geschah? Vertraut ist der Gedanke, dass eine Geschichte wie die über Effi Briest »nach christlichen Bildern« verläuft (Schuster 1978; s. Kap. 30). Das heißt, so wie die Ereignisse erzählt werden, haben sie sich nicht nur im Berlin des späten 19. Jahrhunderts abgespielt und auch nicht nur im erfundenen Kessin (s. Kap. 27, 28), sondern sind in einer seit langem maßgeblichen Schrift vorerzählt, die welt- und heilsgeschichtliche Nachrichten mehr oder minder glaubwürdig überliefert und seither bilderreiche Nachwirkungen bis in die Gegenwart zeitigt. Nicht nur Effi Briest oder Emma Bovary stehen im Bann gelesener Bücher mit und ohne Bilder (s. Kap. 33). »Aha! see now, how they trouble the brain, – these books! – these books!« (Hawthorne 2017, 97), heißt es in einem zwar abgewandelten Zusammenhang, der aber doch Einflüsse meint, unter denen der Scharlachbuchstabe seine Macht gewinnt. Der Roman, der ganz im Zeichen ›literarischer Nachfolge‹ steht, ist Claríns La Regenta. Hier vor allem vollzieht sich ein ›doppelzüngiges‹ Erzählen (Sieburth 1990), welches den Eindruck erweckt, dass jede Figur und alles Geschehen, ja sogar die Urteile des Erzählers nicht etwa aus psychologischen und moralischen Reflexionen hervorgehen, sondern hauptsächlich auf vorausgehende Texte bezogen sind, so dass sich ein intertextuelles Zitatenspiel entfaltet, wo sich, oberflächlich gesehen, nur reale Verhältnisse im erfundenen Vetusta zur Geltung bringen. Das mag poststrukturalistisch überspitzt erscheinen, macht aber bewusst, wie ebenenreich solche Erzählarchitekturen ausfallen können, die scheinbar von einfachen Ehen und vertrauten Brüchen zuverlässig berichten und am Ende doch den Bescheid erteilen: »The reader may choose among these theories« (Hawthorne 2017, 152).

Ausblick Mit fortschreitender Liberalisierung könnten die scharfen, persönlichen wie gesellschaftlichen Konflikte, von denen der Eheroman im 19. Jahrhundert immer wieder erzählt, allmählich zurücktreten, wenn nicht gar verschwinden (s. Kap. 17, 18, 20, 44, 46). Romane wie Arno Geigers Alles über Sally (2010) zeigen, dass der einst tragische Verlauf heute eine leichtere und lebbare Wendung nehmen kann. Andere Romane

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wie Players (1977) von Don DeLillo erzählen vergleichbare Fälle skeptischer. Ob und welche Herausforderungen das alte Thema der »mal mariée« für den Roman der Zukunft bereit hält, mag eher unentschieden bleiben, hängen doch zentrale Aspekte eines reformierten Ehelebens von (literarischen) Erfahrungen mit jenen Erweiterungen bzw. flexiblen Lösungen ab, die der Begriff des Posthumanismus zu denken aufgibt (Braidotti 2013). Björks frohe Botschaft All is full of love (Homogenic) will in Lied und Video-Clip eine globale Versöhnung verheißen, könnte aber auch weltweite, über-menschliche Irrungen und Wirrungen vorbereiten. Angedacht, vielleicht auch nur phantasievoll vorweggenommen wird eine ›nomadische Subjektivität‹ (s. Kap. 46), die lockere Beziehungen eingehen kann, eine ›transversale Einheit‹ mit ›multiplen körperlichen Zugehörigkeiten‹, bei denen es ›von Natur aus‹ keinen Ehebruch geben kann, weil es dank dieser ›nachmenschlichen‹ Regelungen dann keine »einseitige Kost« (Geiger 2010, 359) mehr gibt. Romane Balzac, Honoré de: Die Frau von dreißig Jahren. Roman [La femme de trente ans. 1831/35, 1842]. Aus dem Französischen übers. von Hedwig Lachmann. Frankfurt a. M. 1996 (insel taschenbuch, Bd. 1914). Clarín: Die Präsidentin. Roman [EA La Regenta. 1884/85]. Aus dem Spanischen von Egon Hartmann. Mit einem Nachwort von F. R. Fries. Frankfurt a. M. 1987 (suhrkamp taschenbuch, Bd. 1390). Flaubert, Gustave: Jules und Henry oder Die Schule des Herzens [E 1843–1845, EA 1911]. Deutsch von E. W. Fischer. Berlin 21921. Flaubert, Gustave: Madame Bovary. Mœrs de Province. Deuxième Édition. 2 Bde. Paris 1857 (Bayerische Staatsbibliothek digital). Flaubert, Gustave: Madame Bovary. Sitten in der Provinz [1857]. Hg. und neu übers. von Elisabeth Edl. München 2014 (dtv, Bd. 14343). Fontane, Theodor: Vor dem Sturm. In: GBA. Das erzählerische Werk, Bd. 1–2. Hg. von Christine Hehle. Berlin 2011. Geiger, Arno: Alles über Sally. Roman. München 2010. Hawthorne, Nathaniel: ›The Scarlet Letter‹ [1850] and Other Writings. Hg. von Leland S. Person. New York 22017. Sand, George: Indiana [1832]. Aus dem Französischen übers. von A. Seubert. Frankfurt a. M. 1983 (insel taschenbuch, Bd. 711). Tolstoi, Lew: Anna Karenina. Roman in acht Teilen [EA 1878]. Aus dem Russischen neu übers. und kommentiert von Rosemarie Tietze. München 2011 (dtv, Bd. 13995).

Fachliteratur Bertheau, Jochen: Kontrafakturen. Fontanes Umarbeitungen von Flaubert ›Madame Bovary‹, Dumas fils ›La dame aux camélias‹ und Goethe ›Wahlverwandtschaften‹. Aachen 2018.

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Hugo Aust

4 Die soziale Stellung der Frau

4 Die soziale Stellung der Frau Vorbemerkung Die soziale Stellung der Frau im 19. Jahrhundert muss vor dem Hintergrund des entscheidenden rechtlichen Wandels von der ständischen zur staatsbürgerlichen Gesellschaft, der damit einhergehenden Herausbildung eines bürgerlichen Selbstverständnisses und der geschlechtlich markierten Ausdifferenzierung von Berufs- und Familienleben gesehen werden (s. Kap. 1, 6, 23, 24, 26). Waren Frauen ebenso wie Männer in der traditionellen, auf Rechtsverschiedenheit basierenden ständischen Gesellschaft vor allem durch die Zugehörigkeit zu ihrem Stand definiert, so »mußte sich die Frage nach der Rolle der Geschlechter in einer Gesellschaft von freien und gleichen Staatsbürgern naturgemäß neu stellen« (Mazohl-Wallnig 1995, 15). Die neue bürgerliche Gleichheit brachte eine neue »Ordnung der Geschlechter« (Honegger 1991, 1) hervor, welche Männern wie Frauen die passiven staatsbürgerlichen Rechte gleichermaßen zuerkannte, hinsichtlich der aktiven politischen Partizipation die staatsbürgerliche Gleichberechtigung Frauen vorenthalten sollte (vgl. Mazohl-Wallnig 1995, 15). Die soziale und gesellschaftliche Diskriminierung der Frau wurde im 19. Jahrhundert auf Basis einer Vorstellung von polaren naturgegebenen Geschlechtercharakteren (vgl. Hausen 1976, 363) und der Bestimmung der bürgerlichen Kleinfamilie als »verbindliches Familienmodell für die ganze Gesellschaft« (Spree 2011) massiv forciert (s. Kap. 23). Mit großem rechtlichem und ideologischem Aufwand wurde die durch die Forderungen der Französischen Revolution und den staatsbürgerlichen Emanzipationsprozess brüchig gewordene gesellschaftliche Vormachtstellung der Männer erneut zementiert (s. Kap. 43). Fontanes Effi Briest ist ein Roman der Geschlechterhierarchien – und der Kritik daran. Der Autor zeichnet in zahlreichen Analogien zum zeitgenössischen Diskurs der Geschlechter eine Gesellschaft, die Frauen jegliche Form der Selbstbestimmung vorenthält und stellt hierin ein besonders »eindringlich geschildertes Exempel dar, welch fatale Mesalliance Geschlechterindividualität und gesellschaftliche sanktionierte Identitätsmuster miteinander eingehen können [...]. Keine der literarischen Frauenfiguren Fontanes pointiert so direkt und unprätentiös, wie Effi Briest, was sie ist und wie sie ist: das Andere« (Stöhr 2018, 14).

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Seit den 1970er Jahren hat sich das wissenschaftliche Interesse an diesem Forschungsfeld deutlich intensiviert. Vor allem im Bereich der genderorientierten Sozial- und Geschichtswissenschaften sind zahlreiche Publikationen erschienen, die die Geschlechterdifferenz in der ›neuen‹ bürgerlichen Gesellschaft herausstellen (u. a. Hausen 1976; Schulze 1980; Honegger 1991) sowie den damit einhergehenden Wandel des Familien- und Haushaltsbildes untersuchen (u. a. Rosenbaum 1982; Schlegel-Matthies 1995; Gestrich 1999). Weitere Forschungsarbeiten haben die Etablierung der Frauenbewegungen seit der Französischen Revolution, die die Historikerin Ute Gerhard als die »Zeitenwende in den Geschlechterbeziehungen« (Gerhard 2009, 9) beschreibt, umfangreich erforscht (u. a. Biermann 2009; Schaser 2006; Gerhard 2009).

Staatsbürgerliche Emanzipation Der staatsrechtlichen Gleichheit stand die Vielfalt der bürgerlichen Lebenswelten gegenüber (s. Kap. 26), die dazu führten, dass sich in der Selbstzuschreibung und im Selbstverständnis »neue« (Mazohl-Wallnig 1991, 16) Schichten zu etablieren begannen, die im Sinne von »sozialer Identität als Kanon von gemeinsamen Wertevorstellungen und Verhaltensweisen« (ebd.) sichtbar wurden. Innerhalb dieser sich etablierenden sozialen Schichten kam der Frau die Rolle der bürgerlichen Ehefrau zu, denn die privatrechtlichen Zuschreibungen der bürgerlichen Ehe im Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuch gestehen dem Mann in § 91 als »Haupt« der Familie das Recht zu, »das Hauswesen zu leiten« und weisen ihm die alleinige »Verbindlichkeit« zu, »der Ehegattin nach seinem Vermögen den anständigen Unterhalt zu verschaffen und sie in allen Vorfällen zu vertreten« (Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch 1811, § 91). Die hierauf fußende rechtliche Regelung band die Ehefrau nicht nur an die soziale Schicht (»Die Gattin [...] genießt die Rechte seines Standes«, § 92; ebd.) und an das ökonomische Kapital ihres Ehemannes, sondern sie wurde von diesem qua Gesetz auch in allen Rechtsangelegenheiten vertreten, was einer gesetzlichen Unmündigkeit gleichkam. Das sich hieraus ergebende Abhängigkeitsverhältnis der Ehefrau vom Ehemann wurde in der seit dem 18. Jahrhundert voranschreitenden geschlechtlich markierten Ausdifferenzierung des Erwerbs- und Familienlebens unter gleichzeitiger Abwertung des privaten und Aufwertung des beruflichen Bereiches zusätzlich gestärkt.

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2019 S. Neuhaus (Hg.), Effi Briest-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04874-5_4

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Geschlechtliche Ausdifferenzierung des Erwerbs- und Familienlebens Die geschlechtlich markierte Ausdifferenzierung der Lebensbereiche hat ihren Ursprung in der mit der beginnenden Industrialisierung voranschreitenden Trennung von Erwerbs- und Familienleben, die erstmalig von Karin Hausen in ihrer Studie über die Polarisierung der Geschlechtercharaktere deutlich herausgearbeitet wurde. In der vorindustriellen Haushaltsund Familienwirtschaft bildeten die Eheleute ein »Arbeitspaar« (Schaser 2006, 10). Die Aufgaben wurden unter den Ehepartnern verteilt, ohne dass eine geschlechtsspezifische Unterscheidung und Bewertung von produktiven und konsumtiven Tätigkeiten existierten. In der Gemeinschaft des ›ganzen Hauses‹ (vgl. Brunnen 1968) wurde die weibliche Arbeit ebenso hoch bewertet wie die des Mannes (vgl. Schlegel-Matthies 1991, 206). Dennoch waren alle Mitglieder des Hauses und damit auch die Ehefrau dem Hausvater untergeordnet, »der als leitender Kopf ihnen überhaupt erst ein Ganzes schafft« (Brunnen 1968, 112). Die Unterordnung der Frau unter den Willen des Hausherren ist das Resultat eines in der abendländischen Philosophie dominierenden Denkmusters, das seit der Antike, insbesondere in der christlichen Deutung, »aus der Gegenüberstellung von männlich – weiblich, aktiv – passiv die notwendige Unterwerfung der Frau unter die Herrschaft des Mannes zu legitimieren« (Gerhard 2018, 33) suchte. Doch während die Merkmale der Geschlechtscharaktere in älterer Zeit aus gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Funktionen und Tätigkeiten beider Geschlechter abgeleitet wurden, wurden sie im 19. Jahrhundert zu naturgegebenen Eigenschaften erhoben und konnten so eine starke ideologische Prägewirkung erlangen (vgl. Hausen 1976, 370; Sieder 1987, 133), in deren Folge die Frau, ihren weiblichen Anlagen von Emotionalität und Passivität entsprechend, an das Haus gebunden wurde (s. Kap. 23, 35, 43). Demgegenüber standen die Charaktermerkmale des Mannes: Aktivität, Energie, Willenskraft, Rationalität, Wissen und Urteilsfähigkeit – all jene Eigenschaften, die ihn für ein Leben im öffentlichen Raum zu qualifizieren schienen.

Der familiäre Binnenraum Die Trennung der Lebensbereiche (s. Kap. 28) und die damit einhergehende geschlechtliche Markierung führten dazu, dass der Ehemann die Ehefrau auch

nach außen vertrat. Der Mann arbeitete außer Haus, erhielt für seine Tätigkeiten Lohn, während die Frau nicht mehr an der Finanzierung der Familie unmittelbar beteiligt war, sondern, gemäß ihren ›Anlagen‹, nun für das Funktionieren des Haushaltes, die Aufsicht über die Angestellten/das Gesinde, die Erziehung der Kinder und die emotionale Geborgenheit der Familienmitglieder zuständig war (s. Kap. 31). Gerade in Schichten, die über ein gehobenes Einkommen verfügten, konnte sich hier schnell das Gefühl »der Nutzlosigkeit« (Spree 2011) breit machen, besonders dann, wenn Tätigkeiten im Haushalt durch die Dienstboten ausgeführt wurden und sich der Ehemann durch seine beruflichen Verpflichtungen häufig außer Haus befand. Auch Fontanes Effi wird die hieraus erwachsende Langeweile verspüren. Bereits vor der Eheschließung äußert Effi eine derartige Befürchtung, wenn sie ihrer Mutter gegenüber formuliert, dass sie nichts schlechter ertragen könne als »Langeweile« (35). Viele Frauen konnten sich mit ihrer zugedachten Rolle nur schwer arrangieren und wählten »mehr oder minder häufig kleine Fluchten aus der Einengungen ihrer Rolle. Zur Schaffung dieser Nischen und Schonräume instrumentalisierten sie nicht selten das Weiblichkeitsstereotyp der Schwäche und suchten Rückzug in der Krankheit« (Budde 1997, 418). Das Gefühl der Nutzlosigkeit wurde in der Selbstwahrnehmung zusätzlich dadurch gestärkt, dass der Haushalt mit der Herauslösung aus der Erwerbsarbeit seine »Produktionsfunktion« (Spree 2011) verlor. Dies lässt sich deutlich an der Inszenierung und Codierung der Handarbeitsmöbel auf Interieurdarstellungen ablesen. War die Handarbeit zunächst eine den Dienstboten vorbehaltene Tätigkeit, so wurde sie zunehmend zum Tätigkeitsfeld der bürgerlichen Ehefrau. Mit dieser Umwertung ging auch ein neues Verständnis der Tätigkeit einher, die den Arbeitscharakter in den Hintergrund und die dekorative Tätigkeit in den Vordergrund treten ließ. Die handarbeitende Frau verkörperte die weibliche Form der schöpferischen Muße (vgl. Mittendorfer 1995, 36): »In dieser Funktion war das Handarbeiten Bestandteil des über alle gesellschaftlichen Schichten hinwegreichenden Kanons sanktionierter weiblicher Verhaltensweisen [...]« (ebd., 37). Und weiter: »An der Handarbeit hatte sich der Wandel der Arbeit im Haus zur dekorativen, häuslichen Beschäftigung vollzogen, die als Versatzstück weiblichen Rollenverhaltens der Öffentlichkeit das Bild der häuslichen, aber dennoch nicht arbeitenden Frau signalisierte« (ebd., 39).

4 Die soziale Stellung der Frau

Innerhalb dieser Rollenerwartungen und -zuschreibungen werden die weiblichen Mitglieder der Familie Briest gleich zu Beginn des Romans eingeführt: »Beide, Mutter und Tochter, waren fleißig bei der Arbeit, die der Herstellung eines aus Einzelquadraten zusammenzusetzenden Altarteppichs galt« (6). Doch bereits in der Eingangsszene wird deutlich, wie wenig diese rollenspezifische Erwartungshaltung mit der von Fontane entworfenen Tochterfigur korrespondiert, denn »während die Mutter kein Auge von der Arbeit ließ, legte die Tochter [...] von Zeit zu Zeit die Nadel nieder und erhob sich, um unter allerlei kunstgerechten Beugungen und Streckungen den ganzen Kursus der Heil- und Zimmergymnastik durchzumachen« (ebd.). Effis leidenschaftliche Unterbrechungen der Handarbeit werden von ihrer Mutter, hier vorgestellt als Vertreterin vorherrschender weiblicher Pädagogik, unmittelbar gerügt. Diese Deutungsebene wird durch die Wahl des Handlungsortes, den Garten, der als Symbol der gebändigten Natur ebenso gelesen werden kann wie er im Rahmen geschlechtlicher Markierungen zwischen Offenheit (männlich konnotiert) und Begrenztheit (weiblich konnotiert) und/oder zwischen Natur (weiblich konnotiert) und Kultur (männlich konnotiert) changiert, zusätzlich gestützt (s. Kap. 21, 28). Im Zusammenspiel von naturgegebenen Geschlechtercharakteren und privatrechtlicher Verankerung der Ehe bei zeitgleicher Abwertung weiblicher Produktivität und Stilisierung »der bürgerlichen Kleinfamilie zum verbindlichen Familienmodell [...] wird die Bindung aller Frauen an Haus und Familie perfekt, gewinnt die Abhängigkeit der Frau ihre historisch neue, bürgerlich-patriarchale Qualität« (Gerhard 2012, 74). Eva Schulze beschreibt diese Entwicklung als Form der »Domestizierung der Frau« (Schulze 1980, 63). Das sich hieraus ableitende Idealbild der bürgerlichen Kleinfamilie sollte sich zunächst innerhalb des gebildeten Bürgertums entfalten, bevor es sich auch in weiteren Sozialgruppen durchsetzte. Diese Entwicklung war einerseits in dem hohen »Prestige des Bildungsbürgertums begründet« (Spree 2011), andererseits in der vorherrschenden Bildungspolitik, die darauf hinwirkte, »die Unterschiede zwischen den Geschlechtern zu vertiefen« (Hausen 1976, 387–388) und die daraus abgeleitete unterschiedliche soziale Qualität der Geschlechter zu untermauern. Das Private, innerhalb dessen die bürgerliche Frau fortan »ihr Glück zu suchen und zu finden hatte, erweist sich damit als sichtbare Produktion politischer und rechtlicher Entscheidungen, welche eine (männ-

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liche) Gesellschaft von neuen Bürgern für sich selbst getroffen hatte« (Mazohl-Wallnig 1991, 17). Hatte das Privatrecht des modernen Staates den Typus der bürgerlichen Ehefrau einerseits erschaffen, so hatte es ihn zugleich aus der öffentlichen Welt der Männer ausgeschlossen (vgl. ebd.).

Weibliche Sozialisation Die Bindung der Frauen an den sozialen Status des Mannes, ihre gesellschaftliche Fixierung auf die Rolle der Ehefrau und Mutter und die damit einhergehende Neuorganisation des familiären Binnenraums führte zur »Entfaltung eines neuen Typus von bürgerlicher Kindheit« (Sieder 1987, 129), innerhalb dessen die gesamte Sozialisation der heranwachsenden Mädchen auf eine erfolgreiche Heirat und die damit einhergehende Aufgaben ausgerichtet wurde (s. Kap. 31). Neben der Haushaltsführung erlernten die jungen Mädchen ein breites Repertoire an sozialen Fähigkeiten, wie die Pflege von Freundschaften, die Gastlichkeit eines Hauses zu gestalten, die richtige und angemessene Konversation zu führen, auch die Fähigkeit, wie »eine maßvolle Gemütslage errungen und stabilisiert werden konnte« (vgl. Jacobi 1995, 222). Diese pädagogische Ausrichtung dokumentiert mit Eindringlichkeit das Bildungsprogramm des 19. Jahrhunderts, das die Unterschiede zwischen den Geschlechtern und die daraus resultierende Rollenverteilung deutlich untermauern sollte (vgl. Hausen 1976, 387–388). Zwar setzte sich bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts die allgemeine Schulpflicht auch für Mädchen durch, allerdings wurden die Schülerinnen in erster Linie auf ihre gesellschaftlich zugewiesene Rolle vorbereitet und von all jenem ferngehalten, was ihrer ›natürlichen‹ Veranlagung zuwiderlaufen könnte (vgl. ebd., 388). »Was die Bildungsinhalte anbelangt, so war die Meinung einhellig, dass von Mädchen strikt alles fernzuhalten sei, was der Emotionalität Abbruch tun könne. Unter diesem Verdikt fiel vor allem die Mathematik, da sie anstelle von Gemüt die Rechenhaftigkeit des Geistes befördere« (ebd.). Diesen Bildungsauftrag übernahmen bezeichnenderweise vorrangig private Schulen (vgl. Zinnecker 1973, 38). Der Staat hatte an der Förderung der jungen Mädchen nur wenig Interesse, so war den jungen Frauen doch der Zugang zur Beamtenlaufbahn ebenso versperrt wie zu den gelehrten Berufen (vgl. Spree 2011). Entsprechend ihrer Bestimmung war der Lehrplan der Mädchenschulen sehr begrenzt. Sie wurden über

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ein Pflichtpensum des öffentlichen Elementarbereiches hinaus lediglich in Tätigkeiten der häuslichen Pflege sowie sprachlich-literarischer Kultivierung und Konversation unterrichtet. Das im Laufe des Jahrhunderts ausdifferenzierte Mädchenschulsystem, Spree spricht in diesem Zusammenhang geradezu von einer »Gründungswelle« (ebd.), galt in erster Linie dazu, soziale Unterschiede zu determinieren; so war es den höheren Töchtern »kaum zuzumuten, die Schulbank mit ihrem späteren Gesinde zu teilen« (ebd.). Die Mädchenschulen vergaben jedoch fast ausnahmslos keine qualifizierten Abschlüsse und führten »neben dem gymnasialen Schulwesen für die Knaben eine Sonderexistenz und wurden dem ›niederen Schulwesen‹ zugeordnet« (vgl. ebd.). Die Etablierung der bürgerlichen Familie als Bestimmungsort der Weiblichkeit, die sich im Bildungsprogramm deutlich niederschlug, wurde gestützt von einer stark religiös aufgeladenen Erziehung der jungen Mädchen (s. Kap. 30). Die Erziehung der Mädchen stand so im Gegensatz zur der Erziehung der Jungen: »War den Mädchen eine Perspektive im politischen Raum verwehrt, so bot ihnen der kirchliche, zwischen häuslicher Privatsphäre und öffentlichem Raum stehend, Schutz und Entfaltungsmöglichkeiten über die Enge der Familie hinaus« (vgl. Jacobi 1995, 221). Hierzu sind vor allem Wohltätigkeitsvereine zu zählen, innerhalb derer die Frauen und Mädchen des Bürgertums ein gewisses Maß an gesellschaftlicher Mitverantwortung erlangen konnten. Die im 19. Jahrhundert sich zunehmend verbreitende Vereinskultur sollte zudem die Grundlage für die Frauenbewegungen bilden.

Die Ehe Die Ehe als einzig erstrebenswerte weibliche Lebensform erhielt weitere Schützenhilfe durch ein seit der Mitte des 18. Jahrhunderts auf Basis der Geschlechterpolarität basierendes Vorstellungsmodell, das über 100 Jahre als unumstößliche bürgerliche Norm galt: Das Weibliche und das Männliche ergänzten einander (s. Kap. 23, 24). Innerhalb dieses bürgerlichen Komplementärmodells benötigte jeder Mensch eine andere ›Hälfte‹: »Der Mann, der für die Welt draußen, und die Frau, die für das häusliche Leben qualifiziert wurde« (Schaser 2006, 14). Dieses Idealbild spiegelt die stetig anwachsende Heiratsquote im 19. Jahrhundert wider, die in den 1870er Jahren (1873/74) einen vorläufigen Höhepunkt erfuhr (vgl. Fertig 2016; vgl. zum

Heiratsverhalten Ehmer 1991). Hieraus resultierte ein Verständnis des Wechselseitigen-Aufeinander-Angewiesen-Seins der Eheleute. Dies zeigte sich in mehrfacher Hinsicht. Im Rahmen des öffentlichen Raums ›diente‹ die Ehefrau nun beispielsweise vorrangig zu ›Repräsentationszwecken‹. Ihr Erscheinen, ihre Eleganz und ihre kommunikativen Fähigkeiten galten als sichtbarer Beweis für den ›Erfolg‹ und den sozialen Status des Mannes (vgl. Sieder 1987, 135). Aus diesen vielschichtigen Abhängigkeitsverhältnissen heraus muss jungen Frauen unter Umständen eine Heirat mit einem ›weniger passenden Mann‹ erstrebenswerter erschienen sein, als den ›Makel‹ der unverheirateten Frau zu tragen. Denn während es Männern grundsätzlich möglich war, im Falle einer Ehelosigkeit durch berufliche Optionen ein anerkanntes, alternatives Lebensmodell zu praktizieren, sahen sich unverheiratete Frauen mit der Infragestellung ihrer Weiblichkeit und damit einem hohen Maß an gesellschaftlicher Diskriminierung konfrontiert (vgl. Schaser 2006, 13). Viele Frauen willigten daher »wohl lieber in eine Ehe mit einem weniger passend scheinenden Mann ein, als dass sie offenen Auges das Schicksal einer ›alten Jungfer‹ auf sich genommen hätten« (ebd., 13). Auch Fontane arbeitet seine Frauenfiguren in eben diesen Diskurs ein, der eine angemessene Eheschließung als Ziel weiblicher Sozialisation beschreibt. Die Schwierigkeit für die jungen Frauen, in der ihnen verordneten sozialen Rolle ein stabiles Selbstwertgefühl zu entwickeln (s. Kap. 46), wurde durch den häufig anzutreffenden hohen Altersunterschied der Eheleute verstärkt. Dieser betrug gerade im Bildungsbürgertum oft 10 bis 15 Jahre (der Altersunterschied zwischen Effi und Innstetten beträgt über zwanzig Jahre) und hat seine Ursache häufig in den langen Ausbildungs- und Einarbeitungszeiten des Mannes, bis dieser eine ›familiengerechte‹ und damit geeignete Position eingenommen hatte (vgl. Spree 2011). Fontanes Liebesgeschichte mit »Held und Heldin, und zuletzt mit Entsagung« (9) bearbeitet eben genau diese Problematik. Darüber hinaus war man der Auffassung, dass der Mann die notwendige Lebenserfahrung mitbringen müsse, die die junge Frau aufgrund ihrer bis dahin ganz auf den elterlichen Haushalt beschränkten Existenz normalerweise nicht besitzen konnte, da sie meist bruchlos aus der Obhut der Eltern in die des Ehemannes wechselte (vgl. Rosenbaum 1982, 198). Luise von Briest selbst lässt Fontane die vermeintlichen Vorzüge einer solchen Verbindung im Gespräch mit ihrer Tochter formulieren: »Er ist freilich älter als Du, was alles in allem ein Glück

4 Die soziale Stellung der Frau

ist, dazu ein Mann von Charakter, von Stellung und guten Sitten, und wenn Du nicht ›Nein‹ sagst, was ich mir von meiner klugen Effi kaum denken kann, so stehst Du mit zwanzig Jahren da, wo andere mit vierzig stehen« (18). An dieser grundsätzlichen Ausrichtung der weiblichen Sozialisation änderte auch die sich ab dem späten 18. Jahrhundert zunehmend verbreitende Vorstellung der bürgerlichen Liebesehe nichts, die, so zeigen zahlreiche Studien, eher einem Idealbild entsprach, als dass sie die soziale Realität der jungen Frauen widerspiegelte. »Auch im 19. Jahrhundert waren Ehen im Bürgertum weniger Herzens- als Geschäftsangelegenheiten« (vgl. Frevert 1995, 106). Ehen wurden nicht aus Liebe geschlossen, sondern »möglicherweise mit Liebe« (Borscheid 1983, 134). Diese Ambivalenz lässt auch Fontane Effi formulieren, wenn sie in einem Gespräch mit ihrer Mutter sagt, dass sie sich von ihrer Ehe »Zärtlichkeit und Liebe« wünsche, doch gleich danach komme »Glanz und Ehre« (35). Das Modell der Liebesehe, dessen Vorstellung sich zunächst in bürgerlichen Kreisen etablierte, zeichnete sich durch die Betonung eines häuslichen Ehe- und Familienlebens im Rahmen gutbürgerlicher Sittlichkeit und Moral aus, das es weiterhin erlaubte, am Modell des Patriarchates festzuhalten. Das Konzept der Liebesehe, das letztlich wohl eher als eine Form der vernünftigen Liebe zu verstehen ist denn als eine »sentimentale Leidenschaft für Äußerlichkeiten oder sexuelle Befriedigung« (Spree 2011), eine Liebe, »die die Tugend des geliebten Menschen erkannte« (Sieder 1987, 130), eröffnete jedoch neue Vorstellungsräume, die die soziale Stellung der Frau langfristig stärken sollten. Zum einen wurde die Gattenliebe zumindest dem »Anspruch nach erotisiert« (Spree 2011). Allerdings wurde diese Form der Erotisierung für die Frauen unmittelbar ›entschärft‹, indem man zunehmend die Vorstellung von einer grundsätzlichen Unempfindlichkeit der weiblichen Geschlechtsorgane wissenschaftlich zu begründen suchte. Schon Johann Gottlieb Fichte urteilte im ausgehenden 18. Jahrhundert: »Im unverdorbenen Weibe äußert sich kein Geschlechtstrieb, und wohnt kein Geschlechtstrieb, sondern nur Liebe; und diese Liebe ist der Naturtrieb des Weibes, einen Mann zu befriedigen« (Fichte 1960, 304). Zahlreiche Mediziner und Biologen versuchten die von Fichte theoretisch abgeleitete philosophische These von der Nichtexistenz des weiblichen Sexualtriebes naturwissenschaftlich zu begründen (vgl. Honegger 1991, 188). Frauen, die ihre sexuelle Lust auslebten, galten als sozial minderwertig oder psychisch

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krank (s. Kap. 35, 39, 43). Zwar glaubte man, die Frau sei den von ihren Geschlechtsorganen ausgehenden nervlichen Reizungen und Stimmungen ausgeliefert, dennoch wurde ihr die sexuelle Begierde abgesprochen. Der Frau kam vielmehr die »große zivilisatorische Aufgabe« zu, den »animalischen und aggressiven Geschlechtstrieb des Mannes zu kultivieren« (Spree 2011). Diese unterschiedliche Bewertung der Sexualität führte dazu, dass es dem Ehemann auch gestattet war, sollte es zur Untreue der Ehefrau kommen, unmittelbar die Scheidung zu veranlassen, während der Seitensprung eines Mannes keinen hinreichenden Grund für eine Scheidung darstellte; vielmehr wurde es dem Gatten durchaus zugestanden, sexuelle Befriedigung außerhalb der Ehe zu suchen, vorausgesetzt, dies geschah diskret (vgl. Gestrich 2010). Ähnlich verhielt es sich mit der vorehelichen Sexualität, die ausschließlich Männern zugebilligt wurde. Legitime weibliche Sexualität war ausschließlich an die Ehe gebunden. Mit entsprechender Strenge wurde folglich über die Sexualität der heranwachsenden Mädchen gewacht. Wollten Frauen ihren sozialen Status erhalten, mussten sie ihr Leben grundsätzlich außerhalb jeglicher sexueller Lust führen (s. Kap. 24). Obwohl das Konzept der Liebesehe nun an individuelle Glücksansprüche gekoppelt wurde, so waren diese Ansprüche doch abermals geschlechtlich markiert und deren Unterwanderung folgten soziale Ächtung und der Ausschluss aus der bürgerlichen Gesellschaft. Zum anderen schwächte das Konzept der Liebesehe auf lange Sicht den Einfluss der Elterngeneration auf die Partnerwahl deutlich, ebenso wie der Mann, als aktiver Geschlechterpart, nun um die Frau ›werben‹ musste. Für Frauen gab es im 19. Jahrhundert wenig gangbare Möglichkeiten, sich aus einer unglücklichen Beziehung zu befreien. Mit dem Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 hatte sich die Situation für Frauen zwar dahingehend verbessert, dass ihnen die Scheidung einer kinderlosen Ehe ohne nachteilige Konsequenzen ermöglicht wurde, allerdings mussten auch hier beide Partner zustimmen (vgl. Spree 2011). Einen Anspruch auf Unterhalt hatte die geschiedene Frau nur, wenn der Ehemann als Schuldiger geschieden wurde (bei Scheidungen wurde stets die Schuldfrage verhandelt, vgl. Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch § 93–136). Die Höhe der Zahlung orientierte sich an den Einkommensverhältnissen des Mannes und nicht an den Bedürfnissen der Frau (vgl. zum Scheidungsrecht Gestrich 2010, 33– 34). Auch Fontanes Figur verliert mit der Entdeckung

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des Ehebruchs ihre soziale Stellung, das Sorge- und Umgangsrecht für ihre Tochter und jeglichen Anspruch auf Unterhalt.

Frauenbewegungen In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte sich die Kritik an der herrschenden Geschlechterordnung, deren Ursprünge bis ins 15. Jahrhundert zurückreichen (vgl. Gerhard 2012, 11), durch die Bestrebungen des aufstrebenden Bürgertums, diese zu zementieren, zunehmend verstärkt. Aus der lauter werdenden Kritik erwuchs die deutsche Frauenbewegung, die um die Jahrhundertwende in der Öffentlichkeit unübersehbaren Einfluss und Ansehen gewonnen hatte (vgl. Schaser 2006, 1). Hierzu hatte im Wesentlichen die sich etablierende Vereinskultur beigetragen, die die Selbstorganisation und Vernetzung der Frauen außerhalb der häuslichen Sphäre ermöglichte. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand eine vielfältige »publikumswirksame Vereinskultur mit eigenen Publikationsorganen, Beratungsstellen sowie einem umfangreichen Angebot an Informationsveranstaltungen, Treffen und Kongressen« (ebd.). Initiatorinnen waren in erster Linie Frauen aus den bürgerlichen Schichten. Daher standen die Forderung nach Bildungs- und Berufsmöglichkeiten für bürgerliche Frauen und die Verbesserung der sozialen Lage der Unterschichten im Mittelpunkt der zahlreichen Bildungs-, Berufs- und Wohltätigkeitsvereine. Am Ende des 19. Jahrhunderts sollte sich ein breites Ausbildungsangebot für sogenannte »Frauenberufe« (Jacobi 1995, 222) im sozialen, pädagogischen und pflegerischen Bereich etabliert haben. Obwohl sich die zahlreichen Organisationen für die Chancengleichheit der Geschlechter einsetzten, änderte dies, bis auf wenige Ausnahmen, nichts an der grundsätzliche Vorstellung von der Andersartigkeit der Geschlechter (vgl. Gestrich 2010, 6) oder, wie Effi zu Beginn des Romans einen der »Lieblingssätze« ihres Vaters zitiert: »Weiber weiblich, Männer männlich« (9). Literatur Allgemeins bürgerliches Gesetzbuch für die gesammten Deutschen Erbländer der Österreichischen Monarchie [1811]. In: http://www.koeblergerhard.de/Fontes/ ABGB1811.htm (21.1.2019). Biermann Ingrid: Von Differenz zu Gleichheit. Frauenbewegung und Inklusionspolitiken im 19. und 20. Jahrhundert. Bielefeld 2009.

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Iris Meinen

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I Literaturgeschichte

5 Nation und Nationalismus Stationen der Nationwerdung Das 19. Jahrhundert ist das Jahrhundert des Nationalismus. Aus dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, einem losen Staatenbund, der nach der Eroberung weiter Teile Mitteleuropas durch Napoleon 1806 auch formal zu existieren aufhört, wird im Wiener Kongress von 1815 der Deutsche Bund. Aus ihm geht schließlich, nach zahlreichen Reformen wie der Zollunion, in den drei siegreichen Einigungskriegen Preußens von 1860 (gegen Dänemark um Schleswig-Holstein), 1866 (gegen Österreich um die Vorherrschaft im Deutschen Bund) und 1870/71 (gegen Frankreich) das Zweite deutsche Kaiserreich hervor. 1888, im Dreikaiserjahr, löst erst Friedrich III. seinen Vater Wilhelm I. ab, doch als der neue Kaiser nach nur 99 Tagen an Kehlkopfkrebs stirbt, folgt ihm wiederum sein Sohn nach, der sich Wilhelm II. nennt und der selbst die Politik bestimmen will, so dass der alt gewordene (1815 geborene) Otto von Bismarck 1890 sein Entlassungsgesuch einreicht. Der österreichische Kanzler Fürst Klemens Wenzel Lothar von Metternich, dessen Politik für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts bestimmend war (mit dem Wiener Kongress von 1815 und den Karlsbader Zensur-Beschlüssen von 1819), war nach der gescheiterten Revolution von 1848 von Bismarck als der neuen prägenden Persönlichkeit im deutschsprachigen Raum abgelöst worden. Bismarck gilt als Architekt der sogenannten kleindeutschen Lösung (der Reichsgründung unter Ausschluss Österreichs). Bismarcks Außenpolitik war von wechselnden Allianzen geprägt, um die Stellung des Kaiserreichs in Europa nach Möglichkeit zu festigen und auszubauen. Der junge Kaiser suchte stärker die Konfrontation, um Deutschland als Kolonialmacht ins Spiel zu bringen (Fröhlich 1994, 46–68). Auch wenn es zu einfach wäre, Deutschland allein die Schuld am Ersten Weltkrieg zu geben, so war es doch maßgeblich die Politik des deutschen Kaisers und der Spitzen in Politik und Armee, die seinen Ausbruch provozierten (s. Kap. 1). Die fiktionale Literatur hat den Prozess der Nationwerdung Deutschlands stets kritisch begleitet (s. Kap. 2). Das Spektrum reicht von tendenziell kosmopolitischen bis zu dezidiert chauvinistischen Entwürfen einer deutschen Nation (Neuhaus 2002). Fontanes Leben umspannt den größten Teil des 19. Jahrhunderts und sein Werk beschäftigt sich mit den oben angedeuteten Entwicklungen in besonders

eindrucksvoller Weise (s. Kap. 6). Die Romane und Erzählungen, aber auch die Gedichte gehen immer wieder auf die genannten Ereignisse ein. Schon Fontanes erster Roman Vor dem Sturm, 1878 veröffentlicht, trägt den Untertitel »Roman aus dem Winter 1812 auf 13« und handelt vom Vorabend der Befreiungskriege gegen Napoleon, freilich in einer untypischen und wenig glorifizierenden Variante: Der geschilderte Aufstand gegen die aus Russland geschlagen zurückkehrenden Truppen Napoleons scheitert. Die Leser*innen wissen natürlich um die weiteren historischen Ereignisse, die im Romantitel bereits angedeutet werden. Dennoch ist es bemerkenswert, dass Fontane die weltpolitischen Ereignisse ausspart und ausgerechnet einen fehlgeschlagenen regionalen Aufstand zum Handlungsrahmen seines Romans macht. Die Erzählung Schach von Wuthenow (1883) geht sogar noch weiter in der für Preußen-Deutschland wenig schmeichelhaften Geschichte zurück, und zwar in die des Jahres 1806, kurz vor der Niederlage Preußens in den Schlachten von Jena und Auerstedt im Oktober, also kurz vor dem Zusammenbruch des alten preußischen Staates und des gesamten Reiches, der fast zeitgleich binnen weniger Monate erfolgte. Der gelernte Apotheker Fontane, der Schriftsteller werden wollte, arbeitete vor allem aus ökonomischen Gründen (sonst hätte er seine geliebte Emilie nicht heiraten können) als Journalist und Propagandist für die preußische Regierung. 1852 und von 1855 bis 1859 nutzte er die Möglichkeit, dieser Tätigkeit als Korrespondent in London nachzugehen, von dort aus unternahm er mehrere Reisen, darunter auch 1858 eine Schottlandreise. Die Aufenthalte in England und Schottland waren zweifellos prägend für seine Auffassung von Politik und Gesellschaft, ebenso für seine Literaturproduktion. Dies lässt sich an der nun überhaupt erst beginnenden Publikation von Büchern (Ein Sommer in London von 1854; Aus England und Jenseit des Tweed von 1860) wie an den in späteren Werken verwendeten Stoffen und Motiven, aber auch an der kulturell und politisch nicht auf den nationalen Diskurs beschränkten Behandlung von Themen zeigen (Neuhaus 1996). Fontane hatte schon früh eine Affinität zur englischsprachigen Literatur, insbesondere zu den Dramen William Shakespeares und den Historischen Romanen Sir Walter Scotts. Der überwältigende Eindruck der Metropole London, der Hauptstadt des Weltreichs Großbritannien, und die Geschichte der Insel, geprägt von der Tradition einer konstitutionellen Monarchie und von dem Wohl-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2019 S. Neuhaus (Hg.), Effi Briest-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04874-5_5

5 Nation und Nationalismus

stand wie auch den sozialen Verwerfungen der von englischem Boden ausgehenden Industriellen Revolution, hinterließen nicht nur vielfältige Spuren im fiktionalen Werk. Sie dürften auch die Ursache dafür sein, dass Fontane in seinen sogenannten Kriegsbüchern (Der Schleswig-Holsteinsche Krieg im Jahre 1864 von 1866; Kriegsgefangen von 1871; Aus den Tagen der Occupation von 1871/72; Der Krieg gegen Frankreich 1870–1871 von 1873/76), die er teils als Auftragsarbeit schrieb, keineswegs gegen die Kriegsgegner Preußens hetzte, auch wenn er als patriotischer Hugenottenabkömmling auf der Seite der preußischen Armee stand.

Karriere eines Konzepts Nationen sind, mit dem originalen Titel von Benedict Andersons einflussreichem Buch aus dem Jahr 1953, »imagined communities« (Anderson 1998). »Vorgestellt ist sie [die Nation] deswegen, weil die Mitglieder selbst der kleinsten Nation die meisten anderen niemals kennen, ihnen begegnen oder auch nur von ihnen hören werden, aber im Kopf eines jeden die Vorstellung ihrer Gemeinschaft existiert« (Anderson 1998, 14–15). Die moderne Nation ist Ergebnis eines Konstruktionsprozesses, der die staatliche Ordnung, die ein funktionierendes Gemeinwesen auf einem gegebenen Gebiet garantieren soll, mit einem mythologisch-fundierenden Element anreichert und sie zu einer »Politischen Religion« werden lässt (Wehler 2001, 27). Die anwachsende »Fülle an mythologisch-symbolischen Bedeutungen« sorgt für die nötige Attraktivität, um »die Idee der Nation seit 1813 vor allen konkurrierenden sinnstiftenden Prinzipien« (Schulze 1994, 122) wirksam werden zu lassen. »Die antinapoleonischen Widerstandsaktionen des Jahres 1809 waren der öffentlich sichtbare Beginn der ersten deutschen Nationalbewegung« (Dann 1993, 60), mit dem ersten Resultat der sogenannten Befreiungskriege gegen Napoleon (ebd., 62–65). Die Französische Revolution von 1789 kann als wichtigste Weichenstellung in Europa gelten. Die alte feudale Architektur wurde abgelöst durch einen Versuch, Macht anders zu legitimieren, und zwar nach den Prinzipien ›Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit‹. Zwar regierte vor allem das Chaos und es wurde bald eine neue hierarchische Ordnung mit dem bürgerlichen Kaiser Napoleon etabliert. Andererseits gingen von der Revolution entscheidende Impulse aus, beispielsweise für das nationale und schließlich für

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das europäische Rechtswesen (mit dem Code Civil, auch Code Napoléon, von 1804). In seiner spezifisch europäischen Variante tritt der moderne Nationalismus allerdings auch das Erbe der religiösen Imperien des Mittelalters an: »Der Schlüssel zur Einordnung des ›offiziellen Nationalismus‹ – der gewollten Fusion von Nation und dynastischem Reich – besteht in der Erkenntnis, daß er sich nach den und in Reaktion auf die nationalistischen Volksbewegungen entwickelte, die seit den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts in Europa immer stärker wurden. Stellte für diese Nationalismen die Geschichte Amerikas und Frankreichs das Modell dar, so wurden sie nun selbst zum Modell. Es bedurfte nur einer kleinen Taschenspielerei, um das Imperium in nationaler Verkleidung attraktiv erscheinen zu lassen« (Anderson 1998, 80).

Fontane, so könnte man resümierend sagen, durchschaute des Imperiums neue Kleider und wandte sich oft genug – wenn auch nicht immer, etwa in der sogenannten und im Roman selbst so benannten »Judenfrage« (120; vgl. FHb, 281–305) – gegen chauvinistische, imperialistische und rassistische Tendenzen innerhalb und außerhalb des Reiches (s. Kap. 10). Die Kolonialpolitik allgemein wird beispielsweise in der im Erscheinungsjahr von Effi Briest entstandenen und in einer Zeitschrift erstveröffentlichten Ballade Die Balinesenfrauen auf Lombok auf satirisch-tragische Weise einer fundamentalen Kritik unterzogen (Fontane 1989, 1, 65–66; Komm., 502; s. Kap. 44). In der Frage des sogenannten Kulturkampfes (der Führung des protestantisch-preußisch geprägten Reichs, betrieben von Bismarck, gegen die katholische Kirche und ihre Mitglieder) beispielsweise ist das, was sich dazu in Fontanes Werk finden lässt, »frei von jeder direkten Tendenz«, die entsprechenden Stellen »zielen eher auf eine humoristische Relativierung der politischen Klischees« (Sprengel 1999, 17). Fiktionale Zeugin ist die Figur der Bediensteten Roswitha Gellenhagen, deren katholischer Hintergrund ein Teil ihres positiven Charakters ist. So glaubt die protestantische Effi, »daß der Katholizismus uns gegen solche Dinge ›wie da oben‹ besser schütze« (134), und wählt auch deshalb Roswitha als Kindermädchen (s. Kap. 14, 30). Dies geht bis zu Wüllersdorfs Feststellung nach der Lektüre von Roswithas Brief, in dem sie für Effi um den Hund Rollo bittet: »die ist uns über«, gefolgt von Innstettens Bestätigung: »Finde ich auch« (339).

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I Literaturgeschichte

Anfang und Ende von Reich und Roman Effi Briest zeigt zahlreiche Spuren der Auseinandersetzung mit Nation und Nationalismus, die den kritischen Diskurs (s. Kap. 42) der anderen Werke fortsetzen oder flankieren. Insofern kann die Beschäftigung mit den Werken Fontanes, in diesem Fall mit Effi Briest, den Blick schärfen für eine im 21. Jahrhundert wieder zunehmende Tendenz, Nation »als eine quasi-natürliche Einheit in der europäischen Geschichte« (Wehler 2001, 7) zu betrachten. Bereits der erste Satz ruft den nationalen Kontext auf: »In Front des schon seit Kurfürst Georg Wilhelm von der Familie von Briest bewohnten Herrenhauses zu Hohen-Cremmen fiel heller Sonnenschein auf die mittagsstille Dorfstraße [...]« (5). Kurfürst Georg Wilhelm (1595–1640) war von 1619 bis 1640 Kurfürst und Markgraf von Brandenburg sowie Herzog von Preußen. Er gilt als Vertreter einer verfehlten, ›schwachen‹ Politik, die Preußen in besonderem Maße unter den Folgen des Dreißigjährigen Krieges leiden ließ. Sein Sohn hingegen, Friedrich Wilhelm von Brandenburg (1620–1688), steht für eine entschlossene und reformorientierte Politik, die den Weg bereitete für den Aufstieg Preußens zur Großmacht. Seit der legendären und in Fontanes Texten häufig erwähnten Schlacht von Fehrbellin (1675) wurde er der ›Große Kurfürst‹ genannt. Effi sagt zu dem Apotheker Gieshübler – wohl eine nicht zufällig an das Ende des ersten und längeren Gesprächs gesetzte Pointe –, sie halte ihn für den Vertreter eines alten Apothekeradels: »Uns, aus den alten Familien, wird das am leichtesten, weil wir, so wenigstens bin ich von meinem Vater und auch von meiner Mutter her erzogen, jede gute Gesinnung, sie komme woher sie wolle, mit Freudigkeit gelten lassen. Ich bin eine geborene Briest und stamme von dem Briest ab, der, am Tage vor der Fehrbelliner Schlacht, den Überfall von Rathenow ausführte, wovon Sie vielleicht einmal gehört haben...« (73).

Mit diesem Adelsprädikat korrespondieren weitere, ähnliche Bewertungen, von denen noch die Rede sein wird und die den besonderen Status der Figur betonen. Während der erste Satz des Romans, so wie die symbolisch ausgemalte Szenerie mit den Begrenzungen des Gartens (Friedhofsmauer, Teich) und der Sonnenuhr, an deren Platz später Effis Grab sein wird, durch den unglücklich agierenden Kurfürsten auf den Untergang des Hauses hindeutet, wird an der

späteren Stelle die positive Seite der Tradition betont, für die nun Effi steht, indem sie »jede gute Gesinnung [...] mit Freudigkeit« gelten lässt. Vater Briest sieht in der kürzeren Geschichte seiner Familie als der seines Schwiegersohns einen Vorzug: »Innstetten, unbestritten, ist ein famoses Menschenexemplar, Mann von Charakter und Schneid’, aber die Briest’s – verzeih’ den Berolinismus, Luise – die Briest’s sind schließlich auch nicht von schlechten Eltern. Wir sind doch nun ’mal eine historische Familie, laß mich hinzufügen Gott sei Dank, und die Innstetten’s sind es nicht; die Innstetten’s sind bloß alt, meinetwegen Uradel, aber was heißt Uradel?« (28).

Wenn diese wirre Rede einen Sinn machen könnte, dann vielleicht den, in der Familie Briest die relativ kurze Erfolgsgeschichte Preußens verkörpert zu sehen, im Unterschied zu der ›alten deutschen‹ Tradition anderer adeliger Familien. Allerdings lässt der Roman nach seinem ersten Satz keinen Zweifel daran, dass auch diese Tradition dem Untergang geweiht ist. Effi bekommt keinen Sohn, sondern eine Tochter: »Doktor Hannemann patschelte der jungen Frau die Hand und sagte: ›Wir haben heute den Tag von Königgrätz; schade, daß es ein Mädchen ist. Aber das andere kann ja nachkommen, und die Preußen haben viele Siegestage‹« (135). In der Schlacht bei Königgrätz von 1866 siegten die preußischen Truppen über die Armeen Österreichs und Sachsens. Preußen wurde zur Führungsmacht, konnte die kleindeutsche Lösung durchsetzen und den Weg zur Reichsgründung von 1871 ebnen. Nicht nur Doktor Hannemann sieht in der Geburt eines Mädchens statt eines Sohnes einen Verlust. Es heißt später auch, den Grund hierfür implizit thematisierend: »Die Hohen-Cremmener kamen dann und wann auf Besuch und freuten sich des Glücks der Kinder, Annie wuchs heran – ›schön wie die Großmutter,‹ sagte der alte Briest – und wenn es an dem klaren Himmel eine Wolke gab, so war es die, daß es, wie man nun beinahe annehmen mußte, bei Klein-Annie sein Bewenden haben werde; Haus Innstetten (denn es gab nicht einmal Namensvettern) stand also mutmaßlich auf dem Aussterbeetat« (262–263).

Nicht nur das Haus Innstetten stirbt aus, auch das Haus Briest; nur die Seitenlinie des Vetters Dagobert könnte fortdauern. Der Geburt der einzigen Tochter der Briests folgt die Geburt der einzigen Tochter der

5 Nation und Nationalismus

Innstettens. Es liegt nahe, in dieser Konstruktion einen Hinweis auf den Umstand zu suchen, dass beide Ehen nicht aus Liebe geschlossen wurden. Die Versorgungsehe der Briests hat offenbar deshalb gut funktioniert, weil man sich arrangiert hat, und die Ehe der Innstettens kann dies nach Effis Entschluss, in Berlin neu anzufangen, auch für sich behaupten. Doch sind es die Folgen von Effis Ausbruch aus dem engen Normkorsett, für das die preußische Tradition steht, die einen vergleichbaren Verlauf verhindern. Genealogisch lässt sich also ein Abstieg feststellen, der das Aussterben der Familien mit dem gewachsenen Rigorismus in moralischen Fragen begründet. Effi nutzt ihre »gute Gesinnung« nichts mehr, wenn sie von ihrem Ehemann, ihren Eltern und allen Repräsentanten der preußisch-deutschen Gesellschaft verurteilt wird, obwohl ihr Fehltritt mehr als sechs Jahre zurückliegt – mit der Sechs als Zahl des Teufels, dessen Züge auch Crampas als einer Versucher-Figur mitgegeben werden (z. B. 192). Der Anfang des Romans verweist auf den Schluss (s. Kap. 21). Am Anfang wird der Garten beschrieben, in dem Effi großgeworden ist und in dem sie noch mit ihren Freundinnen spielt, als ihre Mutter sie zu dem fatalen Arrangement mit Innstetten ins Haus ruft, also mit dem ehemaligen Bewerber um die eigene Hand, den die Mutter nicht nahm, weil er noch nicht den nötigen gesellschaftlichen Stand hatte (11– 12). Am Ende des Romans finden die Leser*innen ein ratloses Ehepaar, das seine Tochter an einer zentralen Stelle des Gartens begraben hat (348–350). Für das Fortbestehen des Kaiserreichs ist das keine gute Prognose.

Patriotismus und Nationalismus der Figuren Innstetten verkörpert den prototypischen Preußen, allerdings keineswegs nur in einem negativen Sinn. Effi stellt ihn, bevor sie verlobt wird, ihren Freundinnen wie folgt vor: »Aber er mochte [nachdem ihn Effis Mutter als junge Frau zurückgewiesen hatte] doch nicht länger hier in der Nähe bleiben, und das ganze Soldatenleben überhaupt muß ihm damals wie verleidet gewesen sein. Es war ja auch Friedenszeit. Kurz und gut, er nahm den Abschied und fing an, Juristerei zu studieren, wie Papa sagt, mit einem ›wahren Biereifer‹; nur als der siebziger Krieg kam, trat er wieder ein, aber bei den Perlebergern statt bei seinem alten Regiment, und hat auch

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das Kreuz. Natürlich, denn er ist sehr schneidig. Und gleich nach dem Kriege saß er wieder bei seinen Akten, und es heißt, Bismarck halte große Stücke von ihm und auch der Kaiser, und so kam es denn, daß er Landrat wurde, Landrat im Kessiner Kreise« (12).

Später werden alle Repräsentanten des Reichs Innstettens Verhalten gegenüber seiner Frau und deren Liebhaber gutheißen, bis hin zu Wilhelm I. (338). Innstetten allerdings sieht selbst den »Ehrenkultus« und »Götzendienst« (280) des »uns tyrannisierende[n] Gesellschafts-Etwas« (278), dem er wider besseren Gefühls folgt (277), seinen früheren Nebenbuhler tötet und seine Frau verstößt. Obwohl er immer höhere Stufen in der Hierarchie der preußischen Regierung erklimmt, erkennt er selbst, dass es sich bei seinem Verhalten um einen Fall von »Prinzipienreiterei« handelt (287). »Mein Leben ist verpfuscht« (340). Er geht so weit, Auswanderungspläne zu schmieden. Sein Freund Wüllersdorf kann ihn nur auffordern, sich mit der Situation abzufinden: »Einfach hier bleiben und Resignation üben«; passenderweise wählt er eine Metapher aus dem Militärischen: »In der Bresche stehen und aushalten, bis man fällt, das ist das beste« (341). Die preußische Tradition kann nur noch als Vergangenes Trost bieten: »Oder auch wohl nach Potsdam fahren und in die Friedenskirche gehen, wo Kaiser Friedrich liegt, und wo sie jetzt eben anfangen, ihm ein Grabhaus zu bauen« (341). Sogar der tabuisierte Rückzugsort von Wüllersdorf, wo er in einem Haus mit »Blumenladen« dann »verschiedene Stammgäste, Frühschoppler« trifft, »deren Namen ich klüglich verschweige«, liegt in der die preußische Tradition im Namen tragenden »Potsdamerstraße« (342). Innstettens jugendliches Pendant, das wohl um Effi werben würde, wenn beide etwas älter wären (z. B. 37), ist »Vetter Briest vom Alexander-Regiment, ein ungemein ausgelassener, junger Leutnant« (23). Zu ihm hätte, so legen einige Anspielungen – etwa auf das skandalträchtige Gemälde Die Gefilde der Seligen von Arnold Böcklin (24) – nahe, die »temperamentvoll[e]« und »leidenschaftlich[e]« Effi viel besser gepasst (vgl. auch 212). Zu den vielen Provokationen des Romans gehört nicht nur der Verweis auf Böcklins Bild (s. Kap. 32), sondern auch und noch viel mehr die Rolle, die Bismarck spielt, der zwar selbst als Figur nicht in Erscheinung tritt, aber Namensträger eines anrüchigen Gasthauses an einer wichtigen Weggabelung ist (49) und vor allem einen unheilvollen Einfluss auf Innstetten ausübt. Bismarck wird zum Katalysator der Entzweiung des Ehepaars. Innstettens abendliche Abwe-

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I Literaturgeschichte

senheit durch seinen Besuch bei »Bismarck in Varzin« (79) gibt den Angstzuständen Effis Raum und führt zu dem ersten, grundlegenden »Streit« zwischen den Ehepartnern (93).

Weltläufigkeit Bereits im Vorwort zur ersten Auflage der Wanderungen durch die Mark Brandenburg (1862) setzt Fontane sein an der englischen Literatur und Kultur geschultes Konzept von Weltläufigkeit um, das patriotisches Denken stärkt, aber nationalistisches Denken ausschließt: »›Erst die Fremde lehrt uns, was wir an der Heimat besitzen.‹ Das hab’ ich an mir selber erfahren und die ersten Anregungen zu diesen ›Wanderungen durch die Mark‹ sind mir auf Streifereien in der Fremde gekommen. Die Anregungen wurden Wunsch, der Wunsch wurde Entschluß. / Es war in der schottischen Grafschaft Kinroß, deren schönster Punkt der Leven-See ist. Mitten im See liegt eine Insel und mitten auf der Insel, hinter Eschen und Schwarztannen halb versteckt, erhebt sich ein altes Douglas-Schloß, das in Lied und Sage vielgenannte Lochleven-Castle« (Fontane 1991, 9).

Die erfahrene Realität und die erlesene Fiktion, für die metonymisch »Lied und Sage« stehen, greifen unterschiedslos ineinander. Lochleven Castle ist Schauplatz von Sir Walter Scotts Roman The Abbott (1820), der Fontane als Anregung für seinen Besuch von Insel und Schlossruine während seiner Schottlandreise diente (Neuhaus 1996, 216–220). Heimat und Fremde werden zunächst als Antagonismen präsentiert, um diesen Gegensatz zunehmend aufzulösen (s. Kap. 44). Ein Ort wird zum Auslöser einer Reflexion über die Bedeutung von Kultur und Geschichte für die eigene Identität. Die Aufwertung der einen Region impliziert nicht die Abwertung der anderen, vielmehr handelt es sich um ein Gleichrangigkeit behauptendes Anregungs- und Übertragungsverhältnis. Kaum eine andere Szene in Fontanes gesamtem Werk dürfte dies so deutlich machen wie die folgende aus Effi Briest, die außerdem zeigt, dass Innstetten noch vergleichsweise vorurteilsfrei ist (er ist ja auch der Einzige, der an der Richtigkeit seines eigenen Verhaltens wirklich zweifelt): »[...] der Hauslehrer aber stürzte von seinem Platz am unteren Ende der Tafel an das Klavier und schlug die

ersten Takte des Preußenliedes an, worauf alles stehend und feierlich einfiel: ›Ich bin ein Preuße... will ein Preuße sein.‹ / ›Es ist doch etwas Schönes,‹ sagte gleich nach der ersten Strophe der alte Borcke zu Innstetten, ›so ’was hat man in anderen Ländern nicht.‹ / ›Nein,‹ antwortete Innstetten, der von solchem Patriotismus nicht viel hielt, ›in anderen Ländern hat man ’was anderes‹« (182).

›Solcher Patriotismus‹ ist Nationalismus, da er die eigene preußische (wir befinden uns im Zweiten deutschen Kaiserreich, das als vergrößertes Preußen gesehen wird) Nation über die anderen stellt.

Kritik am Preußentum Effi Briest zeichnet sich dadurch aus, dass Klischees vom ›Eigenen‹ und vom ›Fremden‹ permanent aufgerufen und durchkreuzt werden (s. Kap. 44). Dass eine Figur namens Golchowski durch Innstetten als »ein halber Pole« und »ein ganz unsicherer Passagier« charakterisiert wird, wird dadurch gebrochen, dass er der Wirt des Gasthauses »Zum Fürsten Bismarck« ist (49) und Innstetten noch hinzufügt: »Dabei leiht er auf Wucher, was sonst die Polen nicht thun; in der Regel das Gegenteil« (50). Der ganze Küstenort Kessin steht für ein Klischees dekonstruierendes Spiel mit Fremdheit: »Die ganze Stadt besteht aus solchen Fremden, aus Menschen, deren Eltern oder Großeltern noch ganz wo anders saßen« (51). Zunächst einmal ist die Mischung aus Dänen, Schweden, Schotten, Portugiesen und anderen Nationalitäten pittoresk und übt einen Reiz auf Effi aus. Auch der Chinese, die erste komplexe Chiffre der deutschsprachigen Literatur (Chiffre wird hier im rhetorischen Sinn verstanden als nicht mehr auflösbare Metapher), steht für das Fremde in seiner Ambivalenz – einerseits wird er als Spuk zur Bedrohung, andererseits ist er vermutlich eine Projektionsfigur für die Probleme der anderen Figuren und selbst das Opfer einer unglücklichen Liebesgeschichte (s. Kap. 22). Der mitleidige Pastor Trippel hätte ihn auch »auf dem christlichen Kirchhof begraben«; diese Meinung sei ihm aber »sehr verdacht worden, so daß es eigentlich ein Glück war, daß er drüber hin starb, sonst hätte er seine Stelle verloren« (99–100). Dabei gehört nicht nur »der Vater von der Trippelli« (100), sondern auch seine Tochter, die mit »Fürst Kotschukoff« liiert (105) und eine der besten Freundinnen von Apotheker Gieshübler ist – »unsere beste Nummer hier, Schöngeist und Original und vor allem Seele von

5 Nation und Nationalismus

Mensch, was doch immer die Hauptsache bleibt«, sagt Innstetten über ihn (58) – zu den Figuren, bei denen die Abweichung von der Norm als etwas ausgesprochen Positives bewertet wird. Die männlich wirkende Sängerin Trippelli – auch das eine Durchkreuzung von Stereotypen – ist ebenso tolerant wie welterfahren: »Sorgen giebt es in Rußland nicht; darin – im Geldpunkt sind beide gleich – ist Rußland noch besser als Amerika« (110). Die Kritik am Preußentum korrespondiert mit der Aufwertung des Fremden allgemein, ohne es seiner Ambivalenz zu entheben und selbst wieder zum Klischee zu werden. Gieshübler ist der exemplarische Fremde im positiven Sinn und dabei die wohl originellste Figur des Romans. Um Effi zu zitieren: »Alonzo Gieshübler, so mein’ ich, schließt eine ganz neue Welt vor einem auf, ja, fast möchte’ ich sagen dürfen, Alonzo ist ein romantischer Name« (72–73). Der spanische Name deutscher Herkunft bedeutet so viel wie ›aus vornehmem Geschlecht‹ und hat literarische Berühmtheit durch die Titelfigur Alonso Quijano aus Miguel de Cervantes’ Roman Don Quixote erlangt. Zu allem Überfluss ist der verwachsene Gieshübler außerdem der Inhaber der »Mohrenapotheke« (78). Auch wenn sich im Dialogischen des Romans (s. Kap. 36), also vor allem aus Figurenperspektive, zahlreiche ironische oder kritische Töne gegenüber anderen Nationen finden lassen: Die kritischsten Töne und Untertöne sind gegen das ›Preußische‹ gerichtet (s. Kap. 26), dessen erstarrtes Normen- und Wertekorsett in den Untergang führt – nicht nur in den Untergang der einzelnen Figuren, die sich mit diesen Nor-

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men mehr schlecht als recht arrangieren, an ihnen leiden oder sogar durch deren Wirkung sterben, sondern auch des ganzen Systems, dessen älteste Familien auf dem ›Aussterbeetat‹ stehen. Der Roman gewinnt so eine prognostische Qualität, die natürlich nicht beabsichtigt gewesen sein kann (Fontane hatte keine die Zukunft vorhersagende Kristallkugel), die aber heute gerade deshalb umso beeindruckender wirkt. Literatur Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Aus dem Engl. von Benedikt Burkard. Berlin 1998. Dann, Otto: Nation und Nationalismus in Deutschland 1770–1990. München 1993. Fontane, Theodor: Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Bd. 1. Hg. von Helmuth Nürnberger. München/ Wien 1991. Fröhlich, Michael: Imperialismus. Deutsche Kolonial- und Weltpolitik 1880–1914. München 1994 (Deutsche Geschichte der neuesten Zeit vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart). Neuhaus, Stefan: Freiheit, Ungleichheit, Selbstsucht? Fontane und Großbritannien. Frankfurt a. M. u. a. 1996. Neuhaus, Stefan: Literatur und nationale Einheit in Deutschland. Tübingen/Basel 2002. Schulze, Hagen: Der Weg zum Nationalstaat. Die deutsche Nationalbewegung vom 18. Jahrhundert bis zur Reichsgründung. München 41994. Sprengel, Peter: Von Luther zu Bismarck. Kulturkampf und nationale Identität bei Theodor Fontane, Conrad Ferdinand Meyer und Gerhart Hauptmann. Bielefeld 1999. Wehler, Hans-Ulrich: Nationalismus. Geschichte, Formen, Folgen. München 2001.

Stefan Neuhaus

II Autor und Werk

6 Theodor Fontane: Leben und Werk Herkunft und Jugend, Apothekerberuf, literarische Anfänge Fast vier Jahre seines Lebens verbringt Fontane in London, der damals größten Stadt der Welt, und elf seiner siebzehn Erzählwerke sind ganz oder teilweise in der Metropole Berlin angesiedelt, Fontanes Wohnort von 1844 bis zu seinem Tod. In seinen Wanderungen durch die Mark Brandenburg würdigt er mit liebevollem Engagement auch provinzielle Gefilde. Gegensätze und Widersprüche prägen Fontanes Leben und Werk: Provinz und Großstadt, revolutionärer Elan und Anpassung an Überkommenes, Nähe und Ferne. Geboren wird Theodor Fontane am 30. Dezember 1819 im brandenburgischen Provinzstädtchen Neuruppin als Spross einer im 17. Jahrhundert aus Frankreich eingewanderten Hugenottenfamilie. Sein Vater, der Apotheker Louis Henri Fontane (1796–1867), ist ein Lebemann und Spieler, seine Mutter Emilie Fontane (1797–1869) schildert Fontane als energisch und charaktervoll. Die internationale Hafenstadt Swinemünde, wo die Familie ab 1827 lebt, wird für Fontane zu einem ersten Ort der Offenheit. Fontanes schulischer Bildungsweg gerät holprig. Er besucht eine Stadtschule, erhält Hausunterricht, besucht nur eineinhalb Jahre das Neuruppiner Gymnasium, dann eine Gewerbeschule in Berlin, die er 1835 mit dem mittleren Abschluss und damit der Berechtigung zum nur einjährigen Militärdienst beendet, den er 1844/45 ableistet. Lebenslang verachtet der Autodidakt Fontane formale Bildungsabschlüsse. Auf Wunsch der Eltern macht er ab 1836 eine Apothekerlehre und erhält 1847 nach Jahren als Apothekenangestellter in Berlin, Magdeburg, Leipzig und Dresden die Approbation als »Apotheker erster Klasse«. Ab 1848 bildet er im Berliner Krankenhaus Bethanien Diakonissen zu Apothekerinnen aus. Parallel zur Apothekerexistenz beginnt Fontanes Laufbahn als Schriftsteller. 1839 veröffentlicht der Berliner Figaro seine Versnovelle Geschwisterliebe, er schreibt das satirische Epos Burg, und im oppositionellen Unterhaltungsblatt Die Eisenbahn erscheinen Gedichte Fontanes. Zunächst schreibt er Natur-, Liebes- und Empfindungspoesie (Schüppen 2000, 708),

in den 1840er Jahren kommt von ihm selbst »Freiheitsphrasendichtung« genannte politische Lyrik hinzu, in der Fontane sich mit Verve gegen als ungerecht gegeißelte Herrschaftsstrukturen und für Demokratie und Freiheit einsetzt. Ein wesentliches Genre der Lyrik Fontanes stellen Balladen dar. Bearbeitet werden durch seine Englandzeit beeinflusste Stoffe aus England und Schottland, aber auch aus der preußischen Geschichte. In den 1840er Jahren werden Lesecafés und liberaldemokratisch orientierte literarische Vereine für Fontanes literarische und politische Sozialisation bedeutsam. Hier kommt er in Kontakt mit politisch Oppositionellen. In Berlin verkehrt er im Platen-Klub und im Lenau-Verein, in Leipzig in der illegalen Organisation »Allgemeinheit« (Dieterle 2018, 203) und im Herwegh-Klub, in dem sich radikale Burschenschaftler treffen. 1844 wird Fontane Mitglied des literarischen Sonntagsvereins »Tunnel über der Spree«. Erfolg hat Fontane im »Tunnel« mit Balladen wie Der TowerBrand (1844) und mit den ironisch angeschärften Preußen-Liedern Männer und Helden (1850), humorvollen Huldigungen preußischer Feldherren. Bis in die 1860er Jahre wird er vor allem als Balladendichter wahrgenommen (D’Aprile 2018, 145). Im konservativen »Tunnel« gehört Fontane zu einer revolutionär orientierten Minderheit. Er erlebt im März 1848 die revolutionären Straßenkämpfe in Berlin; dass Fontane ein veritabler Barrikadenkämpfer war, ist nicht verbürgt. Im Mai desselben Jahres fungiert er als Wahlmann für die Wahl der deutschen Nationalversammlung in Frankfurt und schreibt Artikel für die oppositionelle Berliner Zeitungs-Halle.

Korrespondent, Wanderer, Kriegsjournalist, Kritiker 1845 verlobt Fontane sich mit Emilie Rouanet-Kummer (1824–1902). 1849 spitzt sich seine berufliche Situation zu. Er braucht eine wirtschaftliche Existenzgrundlage, auch für eine Eheschließung mit Emilie. Eine eigene Apotheke kann sich Fontane nicht leisten. Seine Tätigkeit am Diakonissenkrankenhaus endet, danach übt er den Beruf des »Giftmischers« (an Bernhard von Lepel, 26.4.1850, HFA IV, 1, 120) nie mehr

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2019 S. Neuhaus (Hg.), Effi Briest-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04874-5_6

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II Autor und Werk

aus. Von Poetenhonoraren kann er nicht leben, Bewerbungen für diverse berufliche Tätigkeiten scheitern. Sein Freund Wilhelm Wolfsohn vermittelt Fontane 1849 eine Stelle als Berlin-Korrespondent der radikaldemokratischen Dresdner Zeitung. Damit beginnt im November 1849 Fontanes über 40-jährige Arbeit als Journalist bis zu seiner letzten Theaterrezension 1894. 1842 erscheinen erste Artikel in der Leipziger Zeitschrift Die Eisenbahn. Vier Artikel in der Berliner Zeitungs-Halle 1848 weisen ihn als radikalen Demokraten aus, der nach 1848 gemäßigt demokratisch argumentiert und Rechtsstaatlichkeit in Preußen einfordert. 1850 vollzieht Fontane eine Art Seitenwechsel, der mit der Enttäuschung des einstigen Revolutionärs über das Scheitern der Revolution und ganz pragmatisch mit der Notwendigkeit eines soliden Broterwerbs erklärbar ist. Er nimmt das Angebot an, in das reaktionäre »Literarische Cabinet« einzutreten, einen verlängerten Arm des preußischen Innenministeriums. Es gilt, in deutschen Zeitungen regierungsfreundliche Artikel unterzubringen. Zwei Monate später heiraten Fontane und Emilie Rouanet-Kummer. Immer wieder belasten Geldsorgen die Ehe. Kündigungen Fontanes 1870 bei der Kreuzzeitung und 1876 als Sekretär der Berliner Kunstakademie lösen Ehekrisen aus. Emilie bringt sieben Kinder auf die Welt, von denen drei kurz nach der Geburt sterben. Ein besonders enges Verhältnis hat Fontane zu seiner einzigen Tochter Martha. 1849, im Vorjahr der Heirat, schreibt Fontane seinem Freund Bernhard von Lepel (1.3.1849, HFA IV, 1, 62), dass er bereits zum zweiten Mal Vater eines nichtehelichen Kindes geworden sei. Über die Mutter oder die Mütter ist nichts bekannt. Konflikthaft und liebevoll zugleich verläuft die fast 50-jährige Ehe von Emilie und Theodor Fontane. Emilie ist eine intellektuelle Partnerin ihres Mannes, erste Leserin und kompetente Kritikerin seiner Romane. Ab 1851 arbeitet Fontane bei der Nachfolgeeinrichtung des »Literarischen Cabinets«, der »Centralstelle für Preßangelegenheiten«, wo er englische Artikel auf Deutsch in einem Pressespiegel zusammenfasst. »Ich habe mich heute der Reaction für monatlich 30 Silberlinge verkauft«, heißt es am 30. Oktober 1851 in einem Brief Fontanes an den Freund Lepel (HFA IV, 1, 194). 1852 und wieder von 1855 bis 1859 lebt Fontane im Auftrag der »Centralstelle« in London, wo er preußenfreundliche Artikel in der englischen Presse unterbringen soll. Außerdem schreibt Fontane aus London für deutsche Zeitungen, etwa für die erzkonservative Neue Preußische (Kreuz-)Zeitung; zwei ihrer Redakteure hat er 1849 in der Dresdner Zeitung noch als

»Lügenfabrikanten« bezeichnet (HFA III, 1, 32). Es geht darum, pro-preußischen Propagandajournalismus zu machen. Zeitlebens steht Fontane England nahe; zum einen schätzt er das Land als Nation mit einem fortschrittlichen politischen System und Rechtsstaatlichkeit, zum anderen hegt er eine romantische Zuneigung zur Geschichte Englands und Schottlands. Ein Sommer in London (1854) beleuchtet die politische, wirtschaftliche, soziale und künstlerische Entwicklung Englands. 1858 unternimmt er mit seinem Freund Bernhard von Lepel eine Schottlandreise, von der er in Jenseit des Tweed (1860) berichtet. Das moderne, industrialisierte Schottland ignoriert Fontane. Er sucht und beschreibt ein romantisches Schottland, das ihm durch die Lektüre des von ihm hoch geschätzten Sir Walter Scott bereits vertraut ist. Die Londoner Jahre bedeuten für Fontane eine Horizonterweiterung, auch für sein Schreiben, etwa durch das Kennenlernen medialer Berichterstattung mit Hilfe von Telegraphie und Fotografie oder moderner journalistischer Erzählverfahren, die er in der Times findet (D’Aprile 2018, 204–205) und die auch in sein fiktionales Erzählen eingehen. Nach der Entlassung der reaktionären preußischen Regierung Manteuffel Ende 1859 kündigt Fontane seine Stelle als London-Korrespondent, im darauffolgenden Sommer tritt er wieder in die »Centralstelle« ein, doch eine Indiskretion durch Fontane führt ein paar Monate später zur Beendigung seiner Tätigkeit als Mitarbeiter der Regierungspresse. 1860 ist das Jahr eines erneuten Einschnitts in Fontanes Berufsleben. Er wird Redakteur der Neuen Preußischen (Kreuz-)Zeitung, des reaktionären Sprachrohrs von Adel und Militär. Die Stelle bietet dem einstigen Republikaner ein gesichertes Einkommen, und mit der Kreuzzeitung kann sich der national orientierte Fontane »arrangieren, ohne sich dabei ganz zu verbiegen« (Neuhaus 1998, 192). Am 28. Juni 1860 schreibt er an Paul Heyse, man werde »mit den Jahren ehrlich und aufrichtig conservativer« (HFA IV, 1, 709). 1862 kandidiert er bei den Wahlen für das preußische Abgeordnetenhaus ohne Erfolg als Wahlmann für die Partei der Altkonservativen. Bei der Kreuzzeitung ist Fontane, ohne in England zu leben, für die England-Berichterstattung verantwortlich. Dazu gehören auch über vierhundert von Fontane in Von Zwanzig bis Dreißig als »unechte Korrespondenzen« (HFA III, 4, 412) bezeichnete Kopien und Kompilationen bereits vorliegender Texte britischer Zeitungen. Fontane schreibt als Journalist Berichte und Repor-

6 Theodor Fontane: Leben und Werk

tagen. Gegen das Wahrheitsgebot verstößt er immer wieder, englische Pressetexte gibt er als eigene aus, manches ist sogar frei erfunden. Gleichwohl gilt Fontane als »Mitbegründer der modernen Reportage« (Krings 2008, 27), dem es gelingt, nüchterne Tatsachen spannend und unterhaltsam zu präsentieren. Fontanes leserorientierter Journalismus und seine Methoden des Kompilierens, Modifizierens und Montierens von Texten sind eine Vorschule für die Verarbeitung von Realitätselementen in der Erzählfiktion seiner Romane. In den 1860er Jahren arbeitet Fontane an den Wanderungen durch die Mark Brandenburg und an seinen Kriegsbüchern über die preußisch-deutschen Feldzüge 1864, 1866 und 1870/71. Nach dem erzählerischen Werk stellen Fontanes Wanderungen durch die Mark Brandenburg nach Umfang und heutiger Präsenz den bedeutendsten Komplex in seinem Gesamtwerk dar. 1861 erscheint Die Grafschaft Ruppin als erster Band, 1889 als letzter Band Fünf Schlösser. Altes und Neues aus der Mark Brandenburg. Beschrieben werden in den Wanderungen Landschaften, Orte und ›Sehenswürdigkeiten‹, es geht um historische Ereignisse und Personen, und immer wieder malt Fontane in poetischen Sätzen eindrückliche Stimmungsbilder. Fontanes Wanderungen zielen auf eine Verlebendigung und Poetisierung von Landschaften, Ortschaften und Bauwerken als Orten der Geschichte und haben fraglos literarische Qualität. Feuilletonistisch-erzählerisch, bisweilen leicht sarkastisch und nie heimattümelnd führt Fontane durch Brandenburg. Die Wanderungen sind auch ein Fundus für Fontanes Romane, etwa Vor dem Sturm, Effi Briest und Der Stechlin. An seinen Kriegsbüchern Der Schleswig-Holsteinsche Krieg im Jahre 1864 (1866), Der deutsche Krieg von 1866 (1869) und Der Krieg gegen Frankreich 1870– 1871 (1872) mit ihren rund 4000 Seiten arbeitet Fontane über zehn Jahre. Neben den Kriegsbüchern veröffentlicht Fontane Zeitungsberichte in feuilletonistischem Stil über seine Besuche von Kriegsschauplätzen, die er immer erst nach den Schlachten betritt; seine Berichte beruhen auf schriftlichen Quellen. In Kriegsgefangen (1871) erzählt er, wie er am 5. Oktober 1870 im französischen Domrémy, das außerhalb des deutsch besetzten Gebietes liegt, als vermeintlicher preußischer Spion verhaftet wird und fast zwei Monate in Haft verbringen muss. In den Kriegsbüchern bemüht sich Fontane um eine gewisse Unparteilichkeit; er will auch dem Feind gerecht werden. Seine Kriegsbücher bieten neben schlachtenmalerischen Passagen und öder Detailhuberei auch ein Bild der grauenhaf-

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ten Kriegsrealität, und Fontane argumentiert gegen chauvinistische Dumpfheit (Beintmann 1998, 81). Fontanes Jahreseinkommen aus verschiedenen Quellen (Kreuzzeitung, Wanderungen, Kriegsbücher, eine jährliche staatliche Beihilfe für das Wanderungen-Projekt) beträgt nun rund 2000 Taler. Das bedeutet eine wirtschaftliche Stabilisierung. Erst in den 1890er Jahren können die Fontanes einen gewissen Wohlstand genießen. 1872 wird eine Vier-ZimmerWohnung in der Potsdamer Straße 134c bezogen, in der Fontane bis zu seinem Tod lebt. Eine erneute berufliche Zäsur vollzieht Fontane 1870. Er fühlt sich beruflich und politisch bei der Kreuzzeitung nicht mehr wohl (Nürnberger 2000, 69) und kündigt. Ihm könne sich »noch absolut Neues, Glückliches erschließen, der Moment dazu ist gut gewählt«, schreibt er am 11. Mai 1870 seiner Frau (HFA IV, 2, 308). Wenige Monate später wird Fontane bei der liberalen Vossischen Zeitung fester Theaterkritiker für das Königliche Schauspielhaus in Berlin, bleibt es bis 1889 und schreibt danach noch als freier Mitarbeiter für dasselbe Blatt. Über Jahrzehnte ist Fontane als Theater-, Literatur- und Kunstkritiker tätig. Was Gegenwartstheater angeht, so ist Fontanes Zeit als Kritiker über lange Jahre nicht sonderlich aufregend. Neue Dramatiker der 1880er Jahre wie Paul Lindau, Adolf Wilbrandt und Ernst von Wildenbruch sind heute vergessen. Ab 1889 rezensiert Fontane innovative Dramen von Ibsen, Tolstoi, Gerhart Hauptmann, Arno Holz und Johannes Schlaf und wird zu einem Wegbereiter des Naturalismus. Fontanes Grundhaltung als Theaterkritiker ist sehr offen, er zeigt sich selbst Klassikern gegenüber bisweilen skeptisch. ›Wahrheit‹ und die Darstellung von ›wirklichem Leben‹ sind für Fontane grundlegende Kriterien für ein überzeugendes Theaterstück. »Schön und vornehm, aber nichts weiter; wer wirklich lebt, will reales Leben sehn«, kommentiert er am 29. Oktober 1873 eine Inszenierung von Goethes Tasso (HFA III, 2, 150). Sein Urteilsvermögen beschreibt Fontane am 2. Mai 1873 selbstbewusst in einem Brief an Maximilian Ludwig: »Meine Berechtigung zu meinem Metier ruht auf [...] Feinfühligkeit künstlerischen Dingen gegenüber« (HFA IV, 2, 431). Sehr direkt, anschaulich und in einem locker-natürlichen Tonfall, dazu oft amüsant-humorvoll formuliert Fontane seine Bewertungen. Vielleicht kommt gerade das Nichtakademikertum Fontanes dem Stil seiner noch heute lesbaren Kritiken zugute. Theateraufführungen finden sich auch mehrfach in Fontanes Romanwerk, wo sie »eine dramaturgische, ja erzählstrategische Funktion im Handlungsgefüge haben« (Ziegler

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1996, 102). In Effi Briest spielt Effi die Hauptrolle in einer Laienaufführung eines Stücks von Ernst Wichert mit dem sprechenden Titel Ein Schritt vom Wege. Als Literaturkritiker befasst sich Fontane vor allem mit Zeitgenossen wie Theodor Storm, Paul Heyse, Gustav Freytag, Gottfried Keller, Iwan Turgenjew oder Émile Zola. Wie in seinen Theaterkritiken sind Fontanes Wertungen dezidiert. »Bei Romanen, Novellen, Gedichten, bin ich meines Urtheils in der Regel ganz sicher, beneidenswerth sicher«, schreibt er am 13. April 1889 an Martha Fontane (Fontane 1968–1971, 2, 114). Fontane verfasst auch Kritiken von Werken der bildenden Kunst. Dabei hat er »einen eigenen kunstkritischen und kunstgeschichtlichen Stil entwickelt [...], der den ästhetischen Gesichtspunkt mit dem ethischen, sozialen und nationalen zu verknüpfen wusste« (Aust 2000, 884).

Der Romancier 1876 bietet sich Fontane noch einmal eine neue Berufsperspektive mit finanzieller Sicherheit. Freunde aus dem »Tunnel über der Spree« vermitteln ihm die Position als Erster Sekretär der Königlichen Akademie der Künste. Doch Fontane harmoniert weder mit dem Akademiepräsidenten Friedrich Hitzig noch mit dem Akademiedirektor Anton von Werner. Schon nach fünf Monaten bittet Fontane um seine Entlassung und wagt damit als 56-Jähriger einen beherzten Schritt in die Unsicherheit einer freien Schriftstellerexistenz. »Ich sehe klar ein, daß ich eigentlich erst bei dem 70er Kriegsbuche und dann beim Schreiben meines Romans [Vor dem Sturm] ein Schriftsteller geworden bin d. h. ein Mann, der sein Metier als eine Kunst betreibt, als eine Kunst, deren Anforderungen er kennt«, schreibt Fontane, der sich bereits seit 1851 durchgängig als Schriftsteller bezeichnet hat, am 17. August 1882 an seine Frau (HFA IV, 3, 201). Die Befreiung vom Staatsdienst sieht er wohl als letzte Chance, die Arbeit als belletristischer Autor zum Zentrum seiner beruflichen Existenz zu machen. Fontane nimmt die Arbeit an seinem bereits 1862 begonnenen Roman Vor dem Sturm wieder auf. »Ja, der Roman! Er ist in dieser für mich trostlosen Zeit mein einziges Glück, meine einzige Erholung. [...] Ich empfinde im Arbeiten daran, daß ich nur Schriftsteller bin und nur in diesem schönen Beruf [...] mein Glück finden konnte« (an Mathilde von Rohr, 1.11.1876, HFA IV, 2, 547). Mit dem Erscheinen des Romans Vor dem Sturm (1878) beginnt sein Roman- und Alterswerk und da-

mit die bedeutendste Phase des Künstlers Fontane. Das letzte, unvollendete der siebzehn Erzählwerke, Mathilde Möhring, wird erst 1906 posthum veröffentlicht. In den 1890er Jahren erscheint Autobiographisches, Meine Kinderjahre (1893) und Von Zwanzig bis Dreißig (1898). Die Spannung von Alt und Neu ist ein Thema in Fontanes vorletztem Roman Der Stechlin (1898) und charakteristisch für die Ambivalenz Fontanescher Haltungen, sei es zum Adel, zu Preußen, Bismarck oder England. Gegen Ende seines Lebens, in dem er ebenso republikanischer Oppositioneller wie preußischer Propagandajournalist war, kehrt er wieder zu seinen politischen Anfängen zurück, wird »immer demokratischer« (an Martha Fontane, 16.2.1894, HFA IV, 4, 335) und sieht sogar in der Arbeiterschaft eine Perspektive: »Der Bourgeois ist furchtbar, und Adel und Klerus sind altbacken [...]. Die neue, bessere Welt fängt erst beim vierten Stande an« (an James Morris, 22.2.1896, HFA IV, 4, 539). Von eigenartiger Ambivalenz ist Fontanes Haltung zu den Juden (s. Kap. 10). Fontane hat einerseits eine Reihe ungetaufter und getaufter jüdischer Freunde, etwa Wilhelm Wolfsohn, Moritz Lazarus und seinen wichtigen Briefpartner Georg Friedlaender, er schätzt Weltläufigkeit und Bildung von Juden und betont, persönlich von Juden nur Gutes erfahren zu haben. Andererseits finden sich in Fontanes Briefen krass antisemitische Äußerungen. Er spricht Juden die Fähigkeit zu vollständiger Assimilation ab, mokiert sich über Juden in von ihm besuchten Kurorten und wünscht den Juden in einem Brief am 1. Dezember 1880 an Mathilde von Rohr »eine ernste Niederlage« (HFA IV, 3, 113; Küng 2015, 402–407). Gegenüber seiner Tochter Martha spricht er sogar selbst von »meinem Antisemitismus« (9.6.1890, HFA IV, 4, 49). Hans Otto Horch sieht ein Übergewicht antisemitischer gegenüber den »philosemitischen« Einlassungen Fontanes (Horch 2000, 294), ebenso Norbert Mecklenburg, der trotz aller Ambivalenz von einer antisemitischen Grundeinstellung Fontanes überzeugt ist (Mecklenburg 2018, 201). Auch im Erzählwerk finden sich diverse antisemitische Anspielungen, etwa aus dem Munde des alten Briest und des Barons Güldenklee in Effi Briest (ebd., 209). Eine deutlich progressive Haltung Fontanes gegenüber der literarischen Avantgarde der 1890er Jahre zeigt sich in seinen Rezensionen etwa zu Gerhart Hauptmanns Dramen Vor Sonnenaufgang und Die Weber. Wenn das naturalistische Stück Die Familie Selicke von Arno Holz und Johannes Schlaf »Momentbilder« zeigt, ist Fontane in seiner Besprechung vom 8. April 1890 überzeugt, dass »diesen Stücken, ›die

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keine Stücke sind‹, doch die Zukunft gehören« werde (HFA III, 2, 847). Die Gedichte des älteren Fontane ab der zweiten Hälfte der 1870er Jahre sind gegenüber seiner früheren Lyrik formal wie inhaltlich etwas völlig Neues. Fontane verlässt als Lyriker die Geschichte und thematisiert Privat-Alltägliches, das er mit gesellschaftlicher Gegenwärtigkeit verknüpft. Karl Richter sieht Fontanes Alterslyrik näher an Tucholsky, Kästner und Brecht als an Fontanes Zeitgenossen Storm oder Heyse (Richter 2000, 728). In Fontanes später, oft ironischhumorvoll grundierter Lyrik geht es etwa um die problematische Situation der schriftstellerischen Profession oder das Älterwerden, und es wird sarkastisch Gesellschaftskritik artikuliert. Stilistisch nähern sich Fontanes Verse der Umgangssprache an. Fontane genügen oft metrisch lockere Knittelverse, doch gerade diese Lässigkeit ist eine bewusste gesetzte Form und intoniert Modernität. Balladen wie Die Brück’ am Tay (1880) und John Maynard (1886) setzen Gegenwart in Szene, und Fontanes wohl bekanntestes Verswerk Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland (1889) verzichtet mit der sympathischen Geste seines Helden auf jegliches Balladenpathos. In den 1890er Jahren verfasst Fontane zwei autobiographische Werke. An Meine Kinderjahre (1893) loben Zeitgenossen die Wahrheit der Schilderung; aus Sicht der neueren Forschung hat Fontane seine Kindheit verharmlost, Problematisches ausgespart (vgl. Nürnberger 2000, 755). Ein weiterer autobiographischer Text, Von Zwanzig bis Dreißig, erscheint 1898, in Fontanes letztem Lebensjahr. Fontanes Darstellung jenes Jahrzehnts seines Lebens enthält Selbststilisierungen und Euphemisierungen problematischer Punkte seiner Biographie. Tagebücher Fontanes liegen mit Lücken für die Jahre 1852 bis 1898 vor. Sie geben einen Einblick in Fontanes Alltag und seine vielen Begegnungen mit Menschen aus unterschiedlichen sozialen Milieus. Intime persönliche Enthüllungen enthalten die Aufzeichnungen nicht. Fontane formuliert in seinen Tagebüchern lapidar-sachlich, bisweilen auch amüsant. Daneben hat Fontane Tagebücher über Reisen innerhalb von Deutschland oder etwa nach Frankreich und Italien verfasst. Fontane stilisiert sich gerne zum Einzelgänger. »Ich bin absolut einsam durchs Leben gegangen, ohne Klüngel, Partei, Clique, Coterie, Klub, Weinkneipe, Kegelbahn, Skat und Freimaurerschaft, ohne rechts und ohne links [...]« (an Emilie Fontane, 14.6.1883, GBA 3, 308). »Eiskalt in sich zurückgezogen, sprühte er nach außen gewinnende Liebenswürdigkeit«, so wird Fonta-

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ne von Karl Bleibtreu beschrieben (Bleibtreu 1912, 37, zit. nach HFA IV, 5, 2, 1030). Am gesellschaftlichen Leben Berlins nimmt er teil, wahrt aber stets eine gewisse Distanz zu Menschen und Institutionen. Mit vielen Menschen ist der leidenschaftliche Briefschreiber durch geschätzte 11.000 Briefe verbunden, von denen 5800 überliefert sind. Fontanes Briefwerk bietet profunde Einblicke in Fontanes Leben und Denken. Empfänger sind die Familie und Freunde, andere Autoren sowie Verleger, Redakteure und Kritiker. Die oft spöttische und selbstironische Korrespondenz des unermüdlichen Briefschreibers Fontane enthält politische Erörterungen, poetologische Ausführungen und berufliche Auseinandersetzungen, aber auch Alltägliches, darunter Konflikte mit Ehefrau Emilie. Zu entdecken sind lässig-provokativ formulierte Sentenzen: »Denn je mehr man liest, je dümmer wird man« (an Hermann Wichmann, 7.7.1894, HFA IV, 4, 372), ebenso wie Grundsätzliches: »Das Wichtigste für den Menschen ist der Mensch [...]« (an den Sohn Theodor, 25.12.1895, HFA IV, 4, 516). In seinen letzten Lebensjahren erfährt Fontane öffentliche Anerkennung durch ein Ehrendoktorat der Berliner Universität, vor allem aber durch seinen berühmtesten Roman Effi Briest (1895), der »erste wirkliche Erfolg, den ich mit einem Roman habe«, wie Fontane in seinem Tagebuch notiert (HFA III, 3, 2, 1211) notiert. Am 20. September 1898 stirbt Theodor Fontane nach einem Abendessen mit seiner Tochter überraschend an einem Herzschlag. Laut Martha Fontane blätterte er noch kurz vor seinem Tod in einem Heft der Deutschen Rundschau.

Das Erzählwerk Fontanes erzählerisches Werk beginnt 1878 mit einem historischen Roman, es enthält drei Erzählwerke des Genres Kriminalliteratur sowie zwölf Gesellschaftsbzw. Zeitromane. Fontanes Ruhm speist sich aus letzteren Werken, die Milieus, soziale Rollen und Statuskonflikte thematisieren und damit ›Gesellschaftsromane‹ sind. Als ›Zeitromane‹ können diese Romane gelten, weil ihre Fremdreferenz als ›realistische‹ Erzählwerke in der Zeit ihrer Entstehung angesiedelt ist, also den 1870er bis 1890er Jahren; Unwiederbringlich spielt kurz davor: 1859–1862, Grete Minde geht an den Anfang des 17. Jahrhunderts und damit am weitesten zurück, Schach von Wuthenow mit einer spannungsvollen Verflechtung von Liebe und Geschichte spielt 1806, der Erstling Vor dem Sturm im (so der Unter-

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titel) »Winter 1812 auf 13«. Mit seinen größten Romanen hat Fontane Weltliteratur geschaffen (Grawe 2000, 469). Sein erster (historischer) Roman Vor dem Sturm ist ein »Vielheitsroman« mit Figuren aus verschiedenen sozialen Klassen. In Fontanes Kriminalerzählungen Grete Minde (1880), Ellernklipp (1881) und Unterm Birnbaum (1885) sowie dem Roman Quitt (1890) geht es um Unrecht, Schuld und Vergeltung. Heiratsstrategien im bürgerlichen Milieu schildern die Romane Frau Jenny Treibel oder »Wo sich Herz zum Herzen find’t« (1892) und Mathilde Möhring (1906). Liebesbeziehungen, die an Standesschranken scheitern, sind das Thema in Irrungen, Wirrungen (1888) und Stine (1890). Sechs Romane bearbeiten problematische, brüchige und scheiternde Ehen: L ’Adultera (1882), Schach von Wuthenow (1882), Graf Petöfy (1884), Cécile (1887), Unwiederbringlich (1891) und Effi Briest (1895). Fontanes letzte Romane Die Poggenpuhls (1896) und Der Stechlin (1898) suchen den Bedeutungsverlust des Adels zu veranschaulichen, der gleichwohl noch eine starke Position in Politik und Gesellschaft hat. Erotik und Sexualität (s. Kap. 24), Gewalt und Tod sind grundlegende Themen der Gesellschaftsromane Fontanes, dazu Sprache als ganz wesentliches Sujet des Fontaneschen Erzählens. Sprache ist nicht nur das selbstverständliche Medium des Erzählens und in Fontanes Romanen mit ihrem hohen Anteil an Gesprächen das vorherrschende Mittel der sozialen Interaktion, sondern wird selbst durch schichtenspezifische Varianten, Sprachformeln und -klischees, Zitate und Sprachskepsis thematisiert. Gespräche mit formelhaften sprachlichen Wendungen intonieren bisweilen eine »Welt der Uneigentlichkeit« (Neumann 2011, 129), der fehlenden Authentizität, und darin liegt das kritische Potenzial der Sprachkunst Fontanes. Das Themenspektrum der Romane Fontanes verdichtet sich im Konflikt von Einzelnem und Gesellschaft, von individuellem Bedürfnis und sozialer Rolle (s. Kap. 46), von Natur und Kultur. Vor allem an Ehebruch und Mesalliance demonstriert Fontane diesen Konflikt. Das Individuum wird mit sozialen Normen und Werten konfrontiert, die eigenem Wünschen und Begehren im Wege stehen, etwa durch Standesschranken oder archaische Begriffe von Ehre. »Der natürliche Mensch will leben, will weder fromm noch keusch noch sittlich sein [...]«, schreibt Fontane am 10. Oktober 1895 an Colmar Grünhagen (HFA IV, 4, 487). Individualität und gesellschaftliches Normensystem aber stehen sich nicht als voneinander getrennte Sphä-

ren gegenüber. Der Mensch ist ein gesellschaftliches Wesen, er hat soziale Normen und Werte internalisiert (s. Kap. 26). Dennoch führen eine rigorose Moral, oft eine männliche (Doppel-)Moral und die starre soziale Hierarchie des Kaiserreichs unweigerlich zu Konflikten mit individuellem Begehren. Verstöße von Frauen gegen die herrschende Sexualmoral (Effi Briest) oder eine mit dem Stand des Mannes nicht kompatible Schichtzugehörigkeit (Irrungen, Wirrungen) bedrohen massiv das Prestige des Mannes (Gnam 2005, 65). Der Briefeschreiber Fontane stellt die gesellschaftliche Ordnung aber nicht grundsätzlich in Frage: »›Die Sitte gilt und muß gelten‹, aber daß sie’s muß, ist mitunter hart« (an Friedrich Stephany, 16.7.1887, HFA IV, 3, 553). Fontanes Protagonisten, etwa Effi Briest und Innstetten in Effi Briest, durchschauen mit großer Klarheit, wie verhängnisvoll es ist, wenn ein rigides soziales Normengefüge mit aller Härte den Bedürfnissen und Gefühlen der Menschen entgegensteht. Leiden bis hin zu psychischen und psychosomatischen Erkrankungen ist die Folge (Mecklenburg 2018, 28; Thomé 1993, 360; s. Kap. 25, 35, 39, 43). Unter Hysterie leiden in Fontanes Romanwerk nicht nur Frauen, sondern auch Männer (Kuhnau 2005, 18). In den Gesellschaftsromanen nehmen sich sechs Personen das Leben, zwei sterben im Duell. Fontane spielt Varianten des Umgangs mit jenen Konflikten durch: Resignation, Entsagung und Freitod dominieren, nur Melanie van der Straaten in L ’Adultera wagt einen Ausbruch aus ihrer Ehe. Fontanes Protagonisten mögen Menschen sein, die durch ihre Persönlichkeit und als Gesellschaftswesen determiniert sind (vgl. Swales 1989, 82) – da nähert sich Fontane dem Naturalismus – und doch verfügen seine Figuren über einen Spielraum der Autonomie (Gnam 2005, 66; Mecklenburg 2018, 4). Wie kein anderer Autor seiner Zeit stellt Fontane Frauen in den Mittelpunkt seines Romanwerks. Jenen Zusammenprall von individuellem Begehren mit dem Gefüge sozialer Normen zeigt Fontane vor allem an den Auswirkungen auf Frauen. Im 19. Jahrhundert bedeutete Frauenleben zumeist Abhängigkeit von Männern und Fehlen jeglicher Gleichstellung in Politik, Berufsleben und Recht. Daraus ergaben sich klar definierte Geschlechtsrollen (s. Kap. 43). Herrn von Briests vollmundige Sentenz »›Weiber weiblich, Männer männlich‹« (GBA 15, 9) wird von Fontaneschen Frauenfiguren in Frage gestellt. Seine Romane erzählen von der Durchlöcherung rigider Rollenerwartungen. Ein dezidierter Frauenrechtler ist Fontane nicht. Deutlich verurteilte Fontane Schopenhauers Frauen-

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feindlichkeit, die er »Gequackel eines [...] vorurteilsvollen, persönlich vergrätzten alten Herrn« nennt (NFA, XXI/2, 171). Mit einem Frauenstimmrecht konnte Fontane sich allerdings nicht anfreunden. Die Konflikte in Fontanes Romanen enden meist mit Anpassung und Resignation (Mecklenburg 2018, 26), in Unwiederbringlich und Cécile sogar mit einem Freitod der weiblichen Hauptfiguren. Doch Fontane gestaltete auch Frauenfiguren, die sich Selbstbestimmung herausnehmen: Melanie van der Straaten, Corinna Schmidt, Mathilde Möhring, Ebba von Rosenberg, Gräfin Melusine Ghiberti, Victoire von Carayon. Effi Briest benennt in aller Deutlichkeit die Unbarmherzigkeit des von Innstetten buchstäblich exekutierten Ehrbegriffs. Frauen sind bei Fontane nicht nur Opfer, keine bloßen Rollenwesen. Die Männer wirken eher schwach. Andrea Gnam stellt »unbedingte, rigide Frauen [...] zögernde[n] Männern« gegenüber (Gnam 2005, 75). In Mathilde Möhring mit der Hauptfigur als ungewöhnlichster und modernster Frauengestalt Fontanes findet sogar ein Tausch der konventionellen Geschlechtsrollen statt, ein regelrechtes Cross-Gender (Küng 2015, 319). Eine direkte Darstellung von Sexualität gibt es bei Fontane nicht, stattdessen setzt er bisweilen einen blanc, eine Leerstelle, etwa in L ’Adultera, Schach von Wuthenow, Irrungen, Wirrungen und Effi Briest. Erotisches wird indirekt, in anspielungsreichen, strategisch angelegten Liebesdiskursen zur Sprache gebracht (Brandstetter/Neumann 1998, 245). Die Modernität des Fontaneschen Romanwerks zeigt sich in einem polyperspektivisch-diskursiven Erzählen (s. Kap. 36, 42), in dem vor allem in den letzten Werken die Handlung zugunsten des Gesprächs zurücktritt. Über Die Poggenpuhls schrieb Fontane am 14.2.1897 an Siegmund Schott: »Das Buch ist kein Roman und hat keinen Inhalt, das ›Wie‹ muß für das ›Was‹ eintreten [...] (HFA IV, 4, 635). Dass soziale Wirklichkeit wesentlich semiotisch, durch Sprache als ein Zeichensystem konstituiert wird (s. Kap. 41), erweist Fontanes Erzählen auf vielfältige, höchst subtile, auch amüsante und unterhaltsame Weise. Fontanes in der Mehrzahl seiner Romane vorherrschendes Thema sind die Geschlechterverhältnisse, deren Konflikthaftigkeit durch starre Normierung zuungunsten der Frauen er in diversen Konstellationen durchspielt. Ohne je deutlich Partei zu ergreifen, ist er seiner Zeit voraus (Becker/Kiefer 2005, 13). In Fontanes kühl kalkulierter Fiktion scheint die Vision einer zukünftigen Gesellschaft auf, in der jener Grundkonflikt von individuellem Begehren und Normensystem gelöst werden könnte.

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Realismus »Der Realismus in der Kunst ist so alt als die Kunst selbst, ja noch mehr: er ist die Kunst«, erklärt Fontane 1853 in seinem poetologischen Essay Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848 (HFA III, 1, 238). Realismus ist ein Epochen- und zugleich ein Stilbegriff. Die Epoche des deutschen Realismus umfasst die Jahrzehnte etwa von 1848 bis 1890, beginnend mit dem poetischen oder programmatischen Realismus ab 1848, auf den der Spätrealismus etwa ab der Reichsgründung bis zum Ende des 19. Jahrhunderts folgt. Die Realisten grenzen sich gegen die Literatur der Romantik und des Vormärz ab. Auf den Realismus folgen Naturalismus und ästhetizistische Literaturrichtungen wie Symbolismus, Jugendstil und Impressionismus. Industrialisierung, Verwissenschaftlichung und Technisierung bilden den sozioökonomischen Hintergrund des Realismus, außerdem neue Verkaufsund Rezeptionsbedingungen von Literatur (Jeßing 2014, 177). Die zunehmende Bedeutung der Naturwissenschaften unterstützt die Forderung der Theoretiker des Realismus nach ›Objektivität‹. Der deutsche Realismus wird auch als bürgerlicher oder poetischer Realismus bezeichnet. ›Bürgerlich‹ nimmt auf Figuren, Wertvorstellungen und Leser der realistischen Literatur Bezug, während ›poetisch‹ die Ästhetik der realistischen Werke ins Auge fasst. Realismus als künstlerisches Konzept und literarische Schreibweise erfordert einen dem Autor und dem Leser gemeinsamen Begriff von Realität als einer in Raum und Zeit sinnlich gegebenen Erfahrungswelt (s. Kap. 2). Der literarische Realismus ist dann die Präsentation fiktiver Zustände, Handlungen und Personen als ›real‹ (Ritzer 2003, 217). Allerdings läuft die Wahrnehmung der empirischen Realität durch Autor und Leser nur sehr begrenzt direkt ab, zu weiten Teilen ist die Rezeption von Wirklichkeit medial vermittelt, was notwendig Selektion und Filterung bedeutet und Manipulation bedeuten kann. Der literarische Realismus orientiert sich an Aristoteles’ Begriff der Mimesis, also Nachahmung, bewegt sich aber in einem komplexen Spannungsfeld von abbildender Mimesis und Poiesis, der freien dichterischen Schöpfung, die definitorisch in der Rede vom ›poetischen‹ Realismus Aufnahme findet. Als ›wirklichkeitsgetreu‹ oder wenigstens ›wirklichkeitsnah‹ soll der Leser realistische Literatur empfinden, als ›Abbild‹ oder ›Widerspiegelung‹ von Wirklichkeit. Solche Begrifflichkeiten bieten allesamt lediglich Annäherungen an das hochproblematische Verhältnis

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von empirischer Wirklichkeit und einer Literatur, die sich zum Ziel setzt, in besonderem Maße Wirklichkeit in ihre fiktive Eigenwelt aufzunehmen. Empirische und fiktional konstruierte Wirklichkeit unterscheiden sich kategorial (Huyssen 1974, 16), daher kann fiktionale Literatur eine Verdoppelung oder Kopie von Wirklichkeit per definitionem nicht leisten. Vielmehr wird Realität von Fiktion verarbeitet und reflektiert. Ein fiktionaler Text, so wirklichkeitsgesättigt er auch sein mag, ist zudem keine wissenschaftliche Analyse und auch kein journalistischer Text. Dem überaus erfahrenen Journalisten Fontane war der Unterschied klar. »Abhandlungen haben ihr Gesetz und die Dichtung auch«, schreibt er am 24. Juni 1881 seiner Frau (HFA IV, 3, 148). Fiktion verhält sich zur Wirklichkeit selektiv und verdichtend. Statt einer kontingenten Real-Welt präsentiert Literatur dem Leser eine anschaulich-nachvollziehbare Kunst-Welt (Plumpe 1996, 10). Verklärung ist ein fundamentales ästhetisches Prinzip des Realismus. Drei Bedeutungsdimensionen des sperrigen Begriffs der Verklärung sind denkbar. Zum einen kann Verklärung für Beschönigung, Reinigung, Harmonisierung stehen. Für Julian Schmidt, den führenden Programmatiker des Realismus, ›läutert‹ oder ›reinigt‹ realistische Literatur das ›Real-Schöne‹, das dann im erdachten Kunstwerk als ›verklärt‹ erscheint (Plumpe 1996, 66). Eine zweite Bedeutungsvariante des Begriffs der Verklärung meint ein Erzählen, das Zusammenhänge zu klären, zu erklären und zu verdeutlichen sucht. Verklärung soll Elemente der empirischen Wirklichkeit in der Fiktion in einen logischen Zusammenhang bringen und so verständlicher machen (Leine 2018, 23). Verklärung kann drittens als Übersetzung, Umwandlung von Realität in Literatur verstanden werden. Diese interessanteste, modernste und umfassendste Lesart des Begriffs betont die Autonomie der Literatur bezüglich ihrer Fiktionalität und Ästhetik. Die Poetik der realistischen Literatur propagiert den Verzicht auf aufwendige Rhetorik, möchte keine Stoffe, die nur gebildete Leser verstehen, tritt für einfaches Erzählen ein, bearbeitet Themen des bürgerlichen Alltags und lehnt krasse Elendsschilderungen ab (Hahl 1993, 268). Die Modernisierungsschübe der Zeit in Wirtschaft, Wissenschaft und Technik, eigentlich die zeitgeschichtliche Grundierung des Realismus, sind kein Thema der realistischen Literatur. In der Forschung wird der Realismus auch kritisch beleuchtet, etwa durch eine Akzentuierung des Widerspruchs zwischen realen vordemokratischen Struktu-

ren sowie sozialem Elend und dem Programm des Realismus, das Schönheit in der Wirklichkeit ›verklärend‹ literarisieren möchte (Plumpe 1996, 79).

Fontanes Poetik Poetologische Aussagen Fontanes finden sich in Briefen, Literaturrezensionen und in dem bereits erwähnten Essay mit dem Titel Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848 (1853), in dem er darlegt, was Literatur leisten sollte: »Er [der Realismus] ist die Widerspiegelung alles wirklichen Lebens, aller wahren Kräfte und Interessen im Elemente der Kunst [...] Der Realismus will nicht die bloße Sinnenwelt und nichts als diese; er will am allerwenigsten das bloß Handgreifliche, aber er will das Wahre« (HFA III, 1, 242). Mit seiner Forderung, Literatur müsse auf das »Wahre« zielen, geht er deutlich über die simple Abbildtheorie des Realismus hinaus. Was aber unterscheidet das lediglich ›Wirkliche‹ vom ›Wahren‹? Aus der Sicht von Stefan Neuhaus zielt Fontane mit dem Begriff des ›Wahren‹ auf Überzeitliches, Zeitunabhängiges (Neuhaus 1998, 193). Fontane deutet schon hier, als noch junger Autor, an, dass es zwischen Empirie und Fiktion eine Differenz gibt, dass Literatur mehr ist als ein Echo von Realität. Fontane betont in seinem Essay auch vehement, was Literatur nicht zu leisten habe, nämlich »das nackte Wiedergeben alltäglichen Lebens, am wenigsten seines Elends und seiner Schattenseiten« (HFA III, 1, 240). Jahrzehnte später hat Fontane genau das in seinen Romanen gemacht. 1853 meinte er die Verweigerung drastischer Sozialkritik, viel später beschrieb er psychisches Leiden. In einer Rezension von Gustav Freytags Roman Die Ahnen schreibt Fontane 1875: »Was soll ein Roman? Er soll uns, unter Vermeidung alles Übertriebenen und Häßlichen, eine Geschichte erzählen, an die wir glauben. Er soll [...] uns eine Welt der Fiktion auf Augenblicke als eine Welt der Wirklichkeit erscheinen, soll uns weinen und lachen, hoffen und fürchten [...] lassen [...]« (HFA III, 1, 316– 317). Ein entschieden sozialkritischer Impetus hat in Fontanes Realismuskonzept keinen Platz. Tendenzliteratur über die schlesischen Weber oder die »Darstellung eines sterbenden Proletariers, den hungernde Kinder umstehen« (HFA III, 1, 240), lehnt er ab. »[...] Häßlichkeiten sind nicht Realismus. Realismus ist die künstlerische Wiedergabe (nicht das bloße Abschreiben) des Lebens. Also Echtheit, Wahrheit«, schreibt Fontane 1883 in einem Text über Zola (HFA III, 1,

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540). »Häßlichkeiten« macht er etwa in den Feldern soziales Elend, Sexualität, Gewalt, Arbeit und Krankheit aus (Aust 2000, 421). Auch das Extreme möchte Fontane nicht zum Gegenstand der Kunst machen, sondern das Alltägliche und den Menschen ohne extreme Ausprägung. »In gewissem Sinne, wenigstens nach der Moral-Seite hin, verlangen wir Durchschnittsmenschen [...]« (HFA III, 1, 547). Diese psychologisch-modern wirkende Orientierung ist zum einen leserorientiert und zugleich in einem soziologischen Sinne ›realistisch‹, weil Gesellschaftsanalyse vor allem auf das ›Normale‹ zielt. Eine Poetik, die Gesellschaftsromane ins Auge fasst, muss klären, inwieweit die Figuren als Typen oder als individuell gezeichnete Charaktere angelegt sind. »Ich persönlich bin sehr für Gestalten in der Kunst, die nicht bloß Typ und nicht bloß Individuum sind« (an Moritz Lazarus, 12.9.1891, Fontane 1968– 1971, 2, 301). Fontanes Figuren sind immer beides, in einer Klasse verankert, Vertreter eines sozialen Milieus, das sich etwa sehr deutlich in der Sprache abzeichnet, und zugleich unverwechselbare Charaktere. Noch einmal, 1886, äußert Fontane sich grundsätzlich zur Realismus-Problematik: »Aufgabe des modernen Romans scheint mir die zu sein, ein Leben, eine Gesellschaft, einen Kreis von Menschen zu schildern, der ein unverzerrtes Wiederspiel des Lebens ist, das wir führen. Das wird der beste Roman sein, dessen Gestalten sich in die Gestalten des wirklichen Lebens einreihen, so dass wir in der Erinnerung an eine bestimmte Lebensepoche nicht mehr genau wissen, ob es gelebte oder gelesene Figuren waren [...]. Also noch einmal: darauf kommt es an, daß wir in den Stunden, die wir einem Buche widmen, das Gefühl haben, unser wirkliches Leben fortzusetzen, und daß zwischen dem erlebten und erdichteten Leben kein Unterschied ist, als der jener Intensität, Klarheit, Übersichtlichkeit und Abrundung und infolge davon jener Gefühlsintensität, die die verklärende Aufgabe der Kunst ist« (HFA III, 1, 568–569).

Sehr verdichtet findet sich in diesen Zeilen Fontanes Poetik. Er strebt Deckungsgleichheit von Fiktion und ›wirklichem Leben‹ im Gefühl der Leser an und erklärt doch nachdrücklich, die fundamentale Aufgabe der Kunst sei es, mehr zu sein als eine bloße Kopie der Realität, vielmehr durch ›Verklärung‹ einen entscheidenden Erkenntniszuwachs zu bieten. Gelingt, was Fontane vorschwebt, so glückt eine Identifikation des Lesers mit Figuren und Handlungen der Fiktion. Der

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Leser hat eine Vorstellung von Wirklichkeit, die der literarische Text, der Wirklichkeit simuliert, zu bestätigen scheint. Wie im Realismus überhaupt, ist auch in Fontanes Poetik der schwierige Begriff der ›Verklärung‹ zentral (zunächst spricht er von ›Läuterung‹). An Turgenjew mag er nicht, dass dieser »so ganz unverklärt die Dinge wiedergiebt. Ohne diese Verklärung giebt es aber keine eigentliche Kunst«, so Fontane am 24.6.1881 an seine Frau (HA IV, 3, 148). Zunächst verwendet Fontane den Begriff der Verklärung in der naheliegenden Bedeutung, die Beschönigung von nicht unbedingt Schönem meint. Am 14. Juni 1883 fehlt ihm bei Zolas Roman La fortune des Rougons der »verklärende Schönheitsschleier« (GBA 3, 309). Fontanes Forderung nach »Intensität, Klarheit, Übersichtlichkeit und Abrundung« als »verklärende Aufgabe der Kunst« (HFA III, 1, 569) geht weiter, akzentuiert in aller Deutlichkeit die gestaltende Autonomie des Kunstwerks. »Nicht allein Realitätsillusion ist angestrebt, sondern die fiktive Welt soll die reale sogar überbieten [...]« (Grätz 2015, 54). Die Fiktion soll nicht nur klare Bezüge zur faktischen Realität aufweisen, sondern mit für den Leser deutlich erkennbaren zusätzlichen Bedeutungen aufgeladen sein (Löck 2008, 90). Deutlich betont Fontane die Literarizität des realistischen Textes, seinen Kunstcharakter mit Hilfe des Begriffs »Modelung«, einem Synonym für Verklärung: »Denn es bleibt nun mal ein gewaltiger Unterschied zwischen dem Bilde, das das Leben stellt, und dem Bilde, das die Kunst stellt; der Durchgangsprozeß, der sich vollzieht, schafft doch eine rätselvolle Modelung und an dieser Modelung haftet die künstlerische Wirkung, die Wirkung überhaupt«, so Fontane in einer Theaterkritik 1890 (HFA III, 2, 847). Die Forderung des Realismus, Literatur müsse das Schöne in der Realität würdigen, also auch Schönes im Hässlichen entdecken, teilt Fontane. Die »Schönheit ist da, man muss nur ein Auge dafür haben [...]. Der ächte Realismus wird immer schönheitsvoll sein; denn das Schöne, Gott sei Dank, gehört dem Leben gerade so gut an wie das Häßliche«, schreibt er am 14. Juni 1883 in dem bereits erwähnten Brief an seine Frau (GBA 3, 309). Von einem Roman fordert Fontane, »dass er mich wohltuend berührt und mich entweder über das Alltägliche erheben oder aber, das schön Menschliche mir darin zeigend, mir auch das Alltägliche wert und teuer machen soll« (zit. nach Reuter 1968, 619). Diese Betonung des Schönen und Humanen kann als Perspektive des Fontaneschen Werks in die Richtung einer wünschenswerten, die konkrete Wirklichkeit

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transzendierenden Zukunft gesehen werden (vgl. Aust 2000, 429). Das gelingt Fontane durch die Zeichnung von Romanfiguren, die in ihrer Haltung Distanz gegenüber gesellschaftlichen Normen zeigen.

Fontanes Realismus Fontanes erzählerisches Werk entspricht nur begrenzt seinem Literaturkonzept. Seine Poetologie müsste eigentlich aus seinem Werk destilliert werden, das weitaus raffinierter, komplexer und aufregender geraten ist, als es Fontanes bisweilen recht strenge poetologische Ausführungen erwarten lassen (vgl. Steinecke 1987, 175–176). Was ist bei Fontane in einem einfachen Sinn, ohne dass bereits von »Verklärung« die Rede sein könnte, realistisch? Ein deutlicher Bezug zur empirisch-historischen Wirklichkeit ist dadurch gegeben, dass Fontanes Romane und Novellen häufig auf konkrete Ereignisse zurückgehen, von denen er durch mündliche Mitteilungen oder aus schriftlichen Quellen, etwa Zeitungstexten, erfahren hat. Gabriele Radecke beschreibt am Beispiel von L ’Adultera, wie sich in einer schon fiktionalen, aber noch vorerzählerischen Phase der Arbeit Fontanes der Übergang von einer Sammlung verschiedener Materialien zu einer Disposition der Konstellation von Schauplätzen, Figuren und Handlungsstrukturen des Romans vollzieht (Radecke 2002, 216–217). In Fontanes BerlinRomanen werden reale Straßen und Bauten genannt, und die fiktionale Darstellung der Milieus seiner Figuren zeigt in ihrer Detailsicherheit eine Kennerschaft, die nur ein scharfer Beobachter seiner sozialen Umwelt haben kann (s. Kap. 27, 28). Höchst präzise beschreibt Fontane Interieurs von Wohnungen, das Prestige bestimmter Adressen, Präferenzen für bestimmte Kunstwerke oder kulinarische Vorlieben (Mecklenburg 2018, 146). In seinen Romanen halten sich die Menschen meist in Innenräumen auf, wo Gespräche stattfinden, ein fundamentales Element des Fontaneschen Erzählens. »›Wer am meisten red’t, ist der reinste Mensch‹«, so Dubslav von Stechlin in Der Stechlin (GBA 17, 24). Wirklichkeitsgetreue Naturbeschreibungen schätzt Fontane nicht. Natur wird bei Fontane mit den Romanfiguren verknüpft und symbolisch aufgeladen, etwa das Rondell zu Beginn von Effi Briest, das am Ende des Romans der Ort von Effis Grab ist (Weber 1997, 152). »›[D]as Wort ist die Hauptsache‹«, heißt es im Stechlin (GBA 17, 390). Sprache spielt in Fontanes Werk eine zentrale Rolle, als Raum der sozialen Interaktion

und als sozialspezifischer Code. »Meine ganze Aufmerksamkeit ist darauf gerichtet, die Menschen so sprechen zu lassen, wie sie wirklich sprechen«, schreibt Fontane am 24.8.1882 an Emilie Fontane (HFA IV, 3, 206). An ihrer Sprache, zu der auch Dialekt gehört, sind soziale Verortung und milieuspezifische Mentalitäten der Figuren Fontanes ablesbar, seien es Adlige, Offiziere, Bildungs- und Besitzbürger oder Dienstboten. Der Adel dominiert, und bis auf die Heimarbeiterin Lene (Irrungen, Wirrungen) und die Näherin Stine im gleichnamigen Roman gibt es keine Figuren aus der Arbeiterschaft, soziale Missstände sind kein Thema (Sprengel 1998, 343). Fontanes Romanfiguren, durchweg »Durchschnittsmenschen« (Wittkowski 1983, 418), sind als Vertreter ihrer jeweiligen Klasse und zugleich als individuelle Charaktere gezeichnet (vgl. Steinecke 1987, 175). Die souveräne Verschmelzung von Wirklichkeitsbezügen und fiktionaler Romanwelt schafft für den Leser eine Realitätsillusion, über die Fontanes Erzählen aber weit hinausgeht: »Fontane ist ›realistisch‹, indem er einen ›literarischen Dialekt‹ (Slawinski) verwendet, der dem durchschnittlichen Publikum geläufig war [...]; er ist poetisch-realistisch, indem er in diesem enggesteckten vorgegeben[en] Rahmen an (hoch)literarische Traditionen anknüpft und Modellierungen der Realität unternimmt, die in den konfektionierten Realitätsauffassungen nicht vorgesehen waren [...]« (Helmstetter 1998, 102).

Fontanes Erzählwerk muss auch vor dem Hintergrund veränderter Bedingungen der Literaturrezeption gesehen werden (s. Kap. 15). Um die Mitte des 19. Jahrhunderts bezogen 90 Prozent der Leser ihre Bücher aus rund zweitausend Leihbibliotheken. Die Werke der noch heute bekannten, bedeutenden realistischen Erzähler hatten – bei bescheidenen Honoraren – Auflagen von 500 bis 1000 Stück. Deutlich höhere Honorare erhielten belletristische Autoren, die in Zeitschriften publizierten, etwa in der Gartenlaube mit 382.000 Heften im Jahr 1875 und rund fünf Millionen Lesern (Goltschnigg 1985, 8–9). Fontane stellt sich auf einen Literaturmarkt mit einem Massenpublikum ein (Wruck 1987, 20), denn »natürlich muss ich meine Arbeiten an den Mann bringen, weil ich sonst nicht leben kann« (an Emilie Fontane, 9.8.1882; Fontane 1968–1971, 1, 170). Zehn seiner siebzehn Romane und Novellen erscheinen zunächst in Zeitungen und Zeitschriften als Vorabdruck, etwa Effi Briest in der Deutschen Rundschau. Die Veröffentlichung in

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Zeitschriften bringt gewisse Restriktionen mit sich, so ist die Thematisierung von Sexualität weitgehend tabu. Ein Mitinhaber der Vossischen Zeitung nennt Irrungen, Wirrungen eine »gräßliche Hurengeschichte« (Nürnberger/Storch 2007, 228), und die Berliner Nationalzeitung verweigert den Vorabdruck von Cécile (vgl. Helmstetter 1998, 82). Fontane spricht von den »tausend Finessen« seiner Schreibweise (Brief an Emil Dominik am 14.7.1887, HFA IV, 3, 551) und meint die komplexe Struktur von Leitmotiven, Anspielungen, Verweisen, Zitaten und Symbolen, die sein Romanwerk durchzieht (s. Kap. 21). In Fontanes subtiler Ästhetik manifestiert sich das »Poetische« seines Realismus, die »Verklärung« von Wirklichkeit. In seinem Erzählen montiert er in die wirklichkeitsorientierten Strukturen eine intertextuelle Parallelwelt aus vielfältigen Zeichen, Signalen und Hinweisen. Mit diesem Instrumentarium kann Fontane psychische Vorgänge mit tabuisierten und irrationalen Ingredienzien indirekt versprachlichen (vgl. Grawe 2000, 483). Beispielhaft für Fontanes Intertextualität ist die vielfältige Verwendung von Zitaten (s. Kap. 33), die realistisch-deskriptiv als charakteristisches Merkmal einer zeittypischen Konversation in einem gehobenen gesellschaftlichen Milieu dienen und parodistisch-kritisch sozialspezifische Sprechweisen beleuchten oder aber als Wegweiser in einem erzählerischen Gesamtkontext fungieren (vgl. Voss 1985, 10 und Graetz 2015, 75). Fontane arbeitet mit Andeutungen und Vorausdeutungen, etwa in Effi Briest mit der Komödie Ein Schritt vom Wege, die auf den kommenden Ehebruch anspielt. Im Sinne einer »doppelten Codierung« dient die detaillierte Beschreibung von Realien wie etwa Sonnenuhr, Schaukel und wildem Wein zu Beginn von Effi Briest zum einem der Präsentation eines anschaulich-wirklichkeitsnahen Ambientes, zum anderen aber bergen diese realistischen Elemente symbolische Bezüge (Graetz 2015, 65; s. Kap. 21, 41). Gabriele Brandstetter und Gerhard Neumann sprechen von ›semiologischen‹ Romanen, »deren Aufmerksamkeit [...] auf die Konstruktion und Differenzierung sozialer Bedeutung und sozialer Rollen [...] gerichtet ist« (Brandstetter/Neumann 1998, 247). Ein wesentliches Element des Fontaneschen Verständnisses von Verklärung ist der Humor. Die Funktion des Humors definiert Fontane als »Darüberstehn«, als »heiter souveräne[s] Spiel mit den Erscheinungen dieses Lebens, auf die er herabblickt« (HFA III, 1, 461). Humor betont den Abstand von realer und fiktionaler Welt (Jeßing 2014, 178). Bei Fontane hat der Humor neben dem versöhnlichen auch ein kriti-

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sches Potenzial, indem er in nichtauthentischem Verhalten oder Sprechen seiner Romanfiguren deren Authentizität sucht (Mecklenburg 2018, 10). In Effi Briest treten karikaturistisch gezeichnete Figuren auf, hier ist das Komische ein »Indiz von Heuchelei und Doppelmoral« (ebd., 14). Erzählerbericht, Gespräch, Selbstbetrachtung, reflektierender Monolog und Brief sind die Grundelemente der Erzählweise Fontanes, die damit polyperspektivisch angelegt ist (s. Kap. 36). In späten Romanen wie Die Poggenpuhls und Der Stechlin dominiert der Dialog. Der Erzähler tritt zurück, Figuren übernehmen den Erzählakt. Damit wird Fontanes Erzählen modern, spiegelt zunehmend komplexe gesellschaftliche Strukturen und zugleich Fontanes skeptisch-differenzierte Weltsicht wider (s. Kap. 26, 38). Literatur Aust, Hugo: Literatur- und Kunstkritik. In: FHb, 878–888. Aust, Hugo: Kulturelle Traditionen und Poetik. In: FHb, 306–465. Becker, Sabina/Sascha Kiefer: Einleitung. In: Dies. (Hg.): »Weiber weiblich, Männer männlich«? Zum Geschlechterdiskurs in Fontanes Romanen. Tübingen 2005, 7–15. Beintmann, Cord: Theodor Fontane. München 1998. Bender, Niklas: Kampf der Paradigmen. Die Literatur zwischen Geschichte, Biologie und Medizin. Flaubert, Zola, Fontane. Heidelberg 2009. Brandstetter, Gabriele/ Gerhard Neumann: »Le laid c’est le beau«. Liebesdiskurs und Geschlechterrolle in Fontanes ›Schach von Wuthenow‹. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 72, H. 1 (1998), 243–267. D’Aprile, Iwan-Michelangelo: Fontane. Ein Jahrhundert in Bewegung. Hamburg 2018. Dieterle, Regina: Theodor Fontane. Biografie. München 2018. Fontane, Theodor: Fontanes Briefe in zwei Bänden. Ausgewählt von Gotthard Erler. Berlin 1968. Fontane, Theodor: Briefe I–IV. Hg. von Kurt Schreinert. Berlin 1968–1971. Fontane, Theodor: Briefe an Wilhelm und Hans Hertz 1859– 1898. Hg. von Kurt Schreinert. Stuttgart 1972. Fontane, Theodor: Emilie und Theodor Fontane: Der Ehebriefwechsel 1844–1898, Bd. 1–3. Berlin 1998. Gnam, Andrea: Das Feuer der Unbedingtheit. Unbeirrbare Frauen, zögernde Männer. In: Sabina Becker/Sascha Kiefer (Hg.): »Weiber weiblich, Männer männlich«? Zum Geschlechterdiskurs in Theodor Fontanes Romanen. Tübingen 2005, 63–78. Goltschnigg, Dietmar: Vorindustrieller Realismus und Literatur der Gründerzeit. In: Viktor Žmegač (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd. 2. Königstein/Ts. 1985, 1–108. Grätz, Katharina: Alles kommt auf die Beleuchtung an. Theodor Fontane – Leben und Werk. Stuttgart 2015. Graevenitz, Gerhart: Theodor Fontane: Ängstliche Moderne. Über das Imaginäre. Konstanz 2014.

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II Autor und Werk

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7 Bekanntschaft mit anderen Autoren

7 Bekanntschaft mit anderen Autoren Im »Tunnel« Bis auf Theodor Storm und Gerhart Hauptmann sind die Schriftsteller, mit denen Fontane einen persönlichen Austausch pflegte, sämtlich vergessen, so etwa Bernhard von Lepel, Christian Friedrich Scherenberg, den Fontane mit einer Biographie würdigt, George Hesekiel und Paul Lindau. Storm und Hauptmann, Paul Heyse, Friedrich Spielhagen und Julius Rodenberg sind mit Fontane auf interessante Weise verknüpft, durch Lob oder aber Abgrenzung und durch Bezüge zu Effi Briest. Fontane ist als Schriftsteller aufs Engste mit dem Literaturbetrieb seiner Zeit verbunden, dessen Mechanismen und Erfordernisse ihm absolut vertraut sind. Er rezipiert und rezensiert die Arbeiten von Autorenkollegen und hat mit einigen von ihnen persönlichen und brieflichen Kontakt. Fontanes Verhältnis zu anderen Schriftstellern ist komplex, manche bewundert er, andere kritisiert er, einigen ist er freundschaftlich verbunden. Seine Urteile, oft in Briefen an Dritte oder aber in Rezensionen oder Aufsätzen formuliert, sind bisweilen höflich, meist aber nüchtern und unumwunden, bisweilen schonungslos hart formuliert, etwa in seiner autobiographischen Rückschau Von Zwanzig bis Dreißig. Einige Kollegen lernt Fontane im literarischen Verein »Tunnel über der Spree« in Berlin kennen. Der Name ironisiert den zur Zeit der »Tunnel«-Gründung 1827 allgemein bestaunten Tunnel unter der Themse in London (vgl. Neuhaus 1993). Die »Tunnel«-Mitglieder sind ›echte‹ Dichter, aber auch dilettierende Hobbyautoren sowie nicht schreibende Offiziere, Studenten, Musiker und Maler. Man trägt eigene Vereinsnamen (Fontane firmiert als »Lafontaine«) und pflegt skurrile Rituale. Die »Tunnel«-Autoren rezitieren eigene Texte und werden auf einer Notenskala von »sehr gut« bis »›verfehlt« bewertet (HFA III, 4, 321). Für den jungen Autor Fontane ist der »Tunnel« ein literarisches Versuchsterrain, das für die Fremdbewertung seiner Arbeiten von immenser Bedeutung ist, denn als Autor muss der junge Fontane sich erst noch finden. Mit politischer Lyrik im Herwegh-Ton reüssiert er in dem eher konservativ orientierten »Tunnel« nicht, erst seine historischen Balladen wie etwa Der TowerBrand (1844) oder Archibald Douglas (1854), aber auch seine patriotisch gestimmten Preußenlieder sto-

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ßen auf großen Zuspruch. Fontane findet Bekannte und Freunde über seine »Tunnel«-Jahre hinaus und profitiert von dem Netzwerk, das der »Tunnel« auch ist. Zudem kommt er im »Tunnel« mit einem preußennahen Milieu in Kontakt. Die Folge ist eine deutliche Annäherung Fontanes an Werte Preußens und bedeutende Ereignisse der preußischen Geschichte (vgl. Nürnberger 1997, 109).

Paul Heyse Zu seiner Zeit war Paul Heyse (1830–1914) ein berühmter Erfolgsautor von über 150 Novellen, über zwanzig Theaterstücken und auch Romanen. 1910 erhält er als erster Deutscher den Literaturnobelpreis. Erotik und Liebe sind in seinem Werk wichtige Themen. »[E]r glaubt Leben und Liebe aus dem ff zu verstehn und hat doch in Beides nur eben hineingeguckt«, schreibt Fontane sarkastisch am 7.1.1851 an seinen Freund Bernhard von Lepel (HFA IV, 1, 150). Heyse, Epigone eines klassizistischen, überholten Kunstkonzepts, propagiert den Ausnahmemenschen (vgl. Sprengel 1998, 364), im Gegensatz zu Fontane, der als Helden seiner Romane ausdrücklich Durchschnittsexistenzen favorisiert. Fontane lernt Heyse im Winter 1848/49 im »Tunnel« kennen. Einen Austausch und eine Freundschaft über Jahrzehnte bezeugen hundert Briefe Fontanes an Heyse und fünfzig des Adressaten an Fontane, ebenso wechselseitige Besuche in Berlin und an Heyses Wohnort München. Fontane bewundert Heyse. 1853 bescheinigt er Heyse eine »außergewöhnliche Begabung« (HFA III, 1, 255), und am 6.5.1866 schreibt er ihm: »Was mir immer das Hervorragendste an allen Deinen Arbeiten bleibt, ist ihre Kraft bei aller Glätte, ihr Sturm bei aller Ruhe, ihre Leidenschaft bei blond und blau. Samthandschuh, aber eine Faust darin« (HFA IV, 2, 158). Später bewertet Fontane Heyses Arbeiten zunehmend kritischer. Schon in einem Brief an Heyse am 9. Dezember 1878 schreibt Fontane, Heyse »habe keinen größeren Bewunderer [...] als mich«, um dem Freund dann einen verbalen Keulenschlag zu versetzen: »Aber ich unterscheide Dein Talent als solches und die Hervorbringungen Deines Talents.« Ein paar Zeilen später heißt es: »Wir sehen die Welt mit ganz verschiedenen Augen an« (HFA IV, 2, 640). An seinen Sohn Friedrich schreibt Fontane am 21. Juni 1898 über Heyse: »[...] so klug, so fein, so geistvoll, so äußerlich abgerundet bis zur Meisterschaft er ist, so ist doch die

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2019 S. Neuhaus (Hg.), Effi Briest-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04874-5_7

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II Autor und Werk

Kluft zwischen ihm und mir zu groß« (HFA IV, 4, 729). Heyse wiederum kann mit einem Spätwerk Fontanes, den Poggenpuhls, nichts anfangen. Er spricht am 16. Februar 1897 in einem Brief an den Kritiker Siegmund Schott von »anmutige[m] Klatsch« und vermisst »das Wohlgefühl [...], das ich im Gegensatz gegen den bloßen Cancan einer angenehmen Gesellschaft von der sog. Dichtkunst erwarte« (Fontane 1972b, 527). Trotz der Divergenzen zwischen Heyse und Fontane blieb ihre persönliche Beziehung gut. Mögliche Einflüsse von Heyses Kunst auf Fontanes Arbeiten sieht Hugo Aust in den Themen Liebe und auch Schuld (Aust 2000, 333). Heyse, so schreibt Fontane 1869 an Karl Zöllner (HFA IV, 2, 247), biete »wahre Tiefblicke in die weibliche Natur, in die Menschen-Natur überhaupt«. Fontanes enthusiastisches Lob könnte darauf hindeuten, dass er aus Heyses Arbeiten Gewinn gezogen hat.

Theodor Storm »An ihm ist jeder Zoll ein Dichter. Kein großer, aber ein liebenswürdiger Dichter, wir möchten sagen ein recht poetischer Dichter«, schreibt Fontane 1853 in seinem poetologischen Essay Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848 über Theodor Storm (HFA III, 1, 258). In diesen beiden Sätzen kündigt sich bereits an, was für ihn die Beziehung Fontanes zu Storm ausmacht. Fontane und Theodor Storm (1817–1888) begegnen sich im Winter 1852/53 zum ersten Mal. Storm wird von Fontane in den »Tunnel über der Spree« eingeführt, die beiden haben einen Briefwechsel über 35 Jahre, von 1852 bis 1887, und auch hin und wieder persönlichen Kontakt. Man kann von Freundschaft sprechen; doch der Umgangston wahrt Distanz, zu einem »Du« kommt es, anders als zwischen Fontane und Heyse, nie. Die Beziehung ist keine herzliche Freundschaft, bleibt prekär. Gabriele Radecke urteilt gleichwohl, dass »Storm und Fontane gleichermaßen voneinander profitierten« (Radecke 2018, XXI). Während Fontane in seinen Briefen Privates vermeidet und bis zum Schluss reserviert bleibt, will Storm ein engeres Verhältnis aufbauen und tritt Fontane vertrauensvoll und offen entgegen. »Behalten Sie mich lieb; ich habe Sie recht in mein Herz geschlossen [...]«, schreibt Storm am 29. September 1853 an Fontane (Radecke 2018, XXIV). Fontane wie Storm haben bis zum Schluss die neu erschienenen Arbeiten des anderen wahrgenommen. Bereits 1853 lobt Fontane Storms »Form« als »makellos, einfach, das Triviale und

das Gezierte mit gleich richtigem Takt vermeidend« (HFA III, 1, 267). Storms Naturschilderung findet er glänzend (ebd., 268), und noch am 10. Juni 1896 schreibt er an Wilhelm Hertz, er sei ein »enthusiastischer Stormianer« (Fontane 1972a, 363). In Von Zwanzig bis Dreißig würdigt Fontane Storms Lyrik: »Als Lyriker ist er, das Mindeste zu sagen, unter den drei, vier Besten, die nach Goethe kommen. Dem Menschen aber, trotz allem, was uns trennte, durch Jahre hin nahe gestanden zu haben, zählt zu den glücklichsten Fügungen meines Lebens« (HFA III, 4, 378). Storm sei ein »dichterisches Genie« gewesen, schreibt Fontane 1888 in seinem Tagebuch (HFA III, 3, 2, 1195). Doch Fontane stört in seinem Verhältnis zu dem Schriftstellerkollegen der Unterschied der Persönlichkeiten, verknüpft mit den ganz verschiedenen Lebensräumen, Provinz und Großstadt. »Wir waren zu verschieden. Er war für den Husumer Deich, ich war für die Londonbrücke«, heißt es in Von Zwanzig bis Dreißig (HFA III, 4, 372). Fontane mokiert sich über Storms angeblichen Lokalpatriotismus, seine »Husumerei, die sich durch seine ganze Produktion – auch selbst seine schönsten politischen Gedichte nicht ausgeschlossen – hindurch zieht« (ebd., 364). Storm wiederum, entschieden demokratisch und antipreußisch eingestellt, betrachtet Fontane beinahe als seinen politischen Gegner (Radecke 2018, XXXIII). In seinen Erinnerungen an Theodor Storm (1888) betont Fontane, Storms »Dichterqualitäten« hätten ihn »schlichtweg entzückt« (zit. nach Radecke 2018, 175). Dennoch blieb eine Scheidewand. Storm, so Fontane, »war im Banne seiner Lyrischen [im Original groß – C. B.] Natur und was sich nicht mit seiner stormschen Natur deckte, daran konnte er doch so eigentlich nicht heran und wie klug und tüchtig und bedeutend es sein mochte, er hielt es für eine Art Halbliteratur [...]« (ebd., 175). Doch Fontane bekennt auch in aller Deutlichkeit: »Ich verdanke ihm sehr viel nach der schriftstellerischen Seite hin, denn er verstand sein Metier wie wenige [...]« (ebd., 176). Für beide, Fontane und Storm, ist Liebe mit allen Verwicklungen und Abgründen ein großes, verbindendes Thema. Aus Fontanes Sicht ist Storm »vor allem ein erotischer Dichter und überflügelt auf diesem Gebiete alle neueren deutschen Dichter, die wir kennen« (HFA III, 1, 268). Storm, so Fontane, hält ihn für »frivol« (HFA III, 4, 373), was Fontane veranlasst, Storm in ein Milieu abgehobener »Weihekußmonopolisten« abzuschieben (ebd., 374). Erotische Anzüglichkeiten Fontanes gegenüber Storms Frau bei einem Gespräch führen zu einer Verstimmung im Verhältnis der beiden Autoren.

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Fontanes Spätwerk kann Storm nicht mehr wahrnehmen. Für Fontane ist »Storm ein Meister der Kunst des Andeutens, des Ahnenlassens« (Fontane 1869, zit. nach Radecke 2018, 164), die in Fontanes Romanwerk größte Bedeutung hatte. Hugo Aust überlegt, ob es von Storms Versen Elisabeth (1849) eine Verbindung zu Effi Briest geben könnte: »Meine Mutter hat’s gewollt,/Den Andern ich nehmen sollt« (Aust 2000, 330). In Von Zwanzig bis Dreißig erinnert sich Fontane daran, wie Storm selbst einmal eine Gespenstergeschichte von einem »Spukhause« (HFA III, 4, 369) erzählte. Doris Rüegg vermutet, dass die Person Storms eine Anregung für den Spukgeschichten-Fabulierer Innstetten in Effi Briest war (Rüegg 1981, 118, zit. nach Aust 2000, 330).

Julius Rodenberg Drei der bedeutendsten Romane Fontanes, Unwiederbringlich (1891), Frau Jenny Treibel (1892) und Effi Briest (1894), sind zuerst in Julius Rodenbergs Zeitschrift Deutsche Rundschau erschienen. 111 Briefe hat Fontane an Rodenberg geschrieben, der 1831 als Julius Levy in Rodenberg (Grafschaft Schaumburg) geboren wird. Der promovierte Jurist Julius Rodenberg, Verfasser von Lyrik, Märchen und Romanen, heute als Autor vergessen, hat als Schriftsteller zunächst mehr Erfolg als Fontane. Rodenberg ist als Literaturvermittler von großer Bedeutung für die Zeit von 1865–1890. Er gibt einflussreiche Zeitschriften heraus, ab 1867 den Salon für Literatur, Kunst und Gesellschaft. Seine 1874 gegründete Deutsche Rundschau, die er bis zu seinem Tod 1914 leitet, wird zur wichtigsten Instanz des Literaturmarktes. Fast alle bedeutenden Autoren, etwa Conrad Ferdinand Meyer, Storm und Keller, veröffentlichten in der Rundschau. Den Aufbau von Rodenbergs Roman Die Grandidiers (1879) über eine Berliner Hutmacherfamilie findet Fontane sehr kunstvoll, würdigt realistisch-deskriptive Passagen, fesselnde Figuren und psychologische Präzision (NFA 21/1, 314–315). Rodenberg wiederum lobt Fontanes Roman Vor dem Sturm, der »um seiner gesunden, im besten Sinne des Wortes ethischen Richtung willen [...] rühmend hervorgehoben« werden müsse (Deutsche Rundschau, 5.2.1879, zit. nach Reuter 1968, 124). Geradezu grotesk konträr urteilte Rodenberg in seinem Tagebuch: »An Fontane’s ›Vor dem Sturm‹ würge ich nun schon bald acht Wochen; es ist gar nicht zu sagen, was das für ein albernes Buch ist. [...] Wenn nur Fontane nicht so ein feiner, liebenswürdiger und gescheidter Mann wäre. Und so et-

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was zu schreiben!« (HFA IV, 5, 2, 468–469) Am Tag nach Fontanes Tod schreibt Rodenberg in sein Tagebuch: »Aber obwohl wir gewiß einander freundlich gesinnt waren, denn Freundlichkeit war ein Grundzug seines persönlichen Charakters: freundschaftlich näher sind wir uns doch nie getreten. Seine ganze schriftstellerische Arbeit, trotz ihres großen Erfolges, ist mir nie recht sympathisch gewesen« (Fontane 1969, 286). Das Verhältnis von Rodenberg und Fontane war durchgängig pragmatisch, nicht mehr. Im Mai 1894 nahm Rodenberg das Manuskript von Effi Briest zum Vorabdruck in der Deutschen Rundschau an. Trotz seiner Distanz zu Fontanes Werk hat Rodenberg mehrere Romane Fontanes, darunter seinen berühmtesten, Effi Briest, gedruckt. Effi Briest sei den »Lesern [...] lieb geworden«, so Rodenberg am 21.2.1895 nach der letzten Folge von Effi Briest (HFA IV, 5, 2, 891). Ein Jahr später vermerkt Fontane in seinem Tagebuch: »Im Herbst erscheint ›Effi Briest‹ als Buch und bringt es in weniger als Jahresfrist zu 5 Auflagen, – der erste wirkliche Erfolg, den ich mit einem Roman habe« (HFA III, 3, 2, 1211). Zwischen Fontane und Rodenberg kommt es zum Bruch, weil Rodenberg das Kapitel über den »Tunnel über der Spree« in Von Zwanzig bis Dreißig deutlich kürzte. Fontane beklagt sich 1896 in seinem Tagebuch über Rodenberg: »Er war immer artig und verbindlich, aber ohne Rücksicht auf das Interesse des andern« (HFA III, 3.2, 1212). Bemerkenswert ist, dass Julius Rodenberg nach Fontanes Tod ein anrührendes Gedicht über Fontane verfasst, in dem er den alten Fontane »jünglingsgleich« nennt (zit. nach Fontane 1969, 287).

Friedrich Spielhagen Friedrich Spielhagen (1829–1911) war Literaturtheoretiker und ein sehr erfolgreicher Romancier. In einem Brief an Mathilde von Rohr am 17. März 1872 blickt Fontane neiderfüllt auf Spielhagens mutmaßlich hohes Einkommen und erlaubt sich einen Blick in die Zukunft seines eigenen Werkes: »Ich würde mich schließlich zwar besinnen mit ihm zu tauschen, weil ich ein halbes Dutzend vaterländ. Gedichte und Balladen geschrieben habe, von denen ich bestimmt glaube, dass sie länger leben werden als Spielhagens Romane, aber all das ändert nichts an der augenblicklichen Thatsache, daß er, neben Auerbach, der angesehenste deutsche Romanschriftsteller der

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II Autor und Werk Gegenwart ist, während ich in allem nur so mitschwimme und auch nicht ein einziges Prosa-Buch geschrieben habe, das über den succes d’estime hinausgewachsen wäre« (HFA IV, 2, 403–404).

Ab 1896, da kennt Fontane Spielhagen schon Jahrzehnte, hat er 17 Briefe an Spielhagen geschrieben, zu dessen Person und künstlerischen Arbeiten er eine deutliche Distanz hat. Dogmatisch vertritt Spielhagen die Theorie eines sogenannten ›objektiven‹ Erzählens, die besagt, dass in Erzählprosa auf keinen Fall ein Erzähler wahrnehmbar sein dürfe. Fontane bezeichnet diese Auffassung in einem Brief an Wilhelm Hertz am 14. Januar 1879 (HFA IV, 3, 7–8) als »reine Quackelei« und erklärt, dass für ihn »das beständige Vorspringen des Puppenspielers in Person [...] einen außerordentlichen Reiz« darstelle. Am 15. Februar 1896 äußert sich Fontane in einem Brief an Spielhagen differenzierter. »Das Hineinreden des Schriftstellers ist fast immer vom Übel, mindestens überflüssig. Und was überflüssig ist, ist falsch. Allerdings wird es mitunter schwer festzustellen sein, wo das Hineinreden beginnt. Der Schriftsteller muß doch auch, als er, eine Menge tun und sagen. Sonst geht es eben nicht und wird Künstelei« (HFA IV, 4, 533). Spielhagens literarische Arbeiten erhalten von Fontane beides, Lob und Kritik. An zwei Novellen Spielhagens, Mesmerismus und Alles fließt, schätzt Fontane »Modernität nach Stoff wie Behandlung« (an Friedrich Spielhagen, 28.1.1897, HFA IV, 4, 632), bei Spielhagens Roman Faustulus gefällt ihm, dass der »Lokalund Gesellschaftston [...] wundervoll getroffen« ist (an Spielhagen, 22.11.1897, HFA IV, 4, 676). Doch Fontane äußert auch massive Kritik. Die Bewertung von Spielhagens Drama Angela erhellt Fontanes Einstellung zur gesellschaftlichen Position des Künstlers. »[D]ie Spielhagenschen Hauptfiguren [...] sind mir so odiös, daß mir jedesmal übel und weh dabei wird. Immer die Vorstellung, daß ein Dichter, ein Maler oder überhaupt ein Künstler etwas Besondres sei, während die ganze Gesellschaft [...] auf der niedrigsten Stufe steht [...]« (an Emilie Fontane, 29.6.1883, HFA IV, 3, 265). Von einem Roman verlangt Fontane, »daß er mich wohltuend berührt und mich entweder über das Alltägliche erheben oder aber – das schön Menschliche darin mir zeigend – mir auch das Alltägliche wert und teuer machen soll«, genau das aber fehlt Fontane bei Spielhagens Roman Sturmflut und in dessen Werk generell (NFA 21/2, 199–200). Am 20. Februar 1896 erfährt Fontane aus einem Brief Spielhagens an ihn, dass dieser einen Roman mit

dem Titel Zum Zeitvertreib verfasst hat, der gerade in der Zeitschrift Dies Blatt gehört der Hausfrau vorabgedruckt worden ist. Die historische Quelle von Spielhagens Roman ist wie bei Effi Briest die Ardenne-Affäre (s. Kap. 9). Bei Spielhagen ist der Liebhaber der Ehefrau ein (bürgerlicher) Gymnasialprofessor mit einer beinahe revolutionären Einstellung (Sprengel 1998, 309–310), damit ist in Spielhagens Literarisierung der geschichtlichen Vorlage das soziale Gefälle zwischen dem adligen Ehemann und seinem Rivalen größer als in Effi Briest. Der Betrogene »erschießt den Nebenbuhler [...] in gezielter Rache am ›Plebejer‹« (ebd., 310). Sprengel sieht bei Fontane im Hinblick auf die Gestaltung der Figuren und die Bildlichkeit »eine unvergleichlich höhere Komplexität und Eindringlichkeit« als bei Spielhagen (ebd.). Im Mai 1896 übersendet Spielhagen seinen Roman Fontane. Am 25. August 1896 äußert Fontane in einem Brief an Spielhagen offene Kritik an dessen Roman. »Ich finde das Maß an Verurteilung, soweit von einer solchen überhaupt gesprochen werden kann, nicht scharf genug« (HFA IV, 4, 586). Der Adel als soziale Klasse wird aus Fontanes Sicht zu unkritisch dargestellt. »Der Roman unterstützt, gewiß sehr ungewollt, die alte Anschauung, daß es drei Sorten Menschen gibt: Schwarze, Weiße und – Prinzen« (ebd.). Am 11. Februar 1896 bedankt sich Fontane in einem Brief an Spielhagen für dessen »überaus freundliche Worte über ›Effi Briest‹« (HFA IV, 4, 532) und am 16. Februar 1897 für eine Besprechung der Poggenpuhls durch Spielhagen, die ihn »außerordentlich erfreut« (HFA IV, 4, 636). Im ersten Brief schreibt Fontane: »Es ist doch hocherfreulich, daß sich immer wieder herausstellt: das Beste haben die Kollegen voneinander.«

Gerhart Hauptmann »Es ist wahr, es giebt überhaupt wenige nette Dichter, aber sie kommen doch am Ende vor und beweisen einem, daß Talent, Hochflug und Reichthum an Herz und Seele mit Bescheidenheit gepaart sein können. Ein glänzendes Beispiel ist Gerhart Hauptmann«, schreibt Fontane in einem Brief am 19. März 1895 an Georg Friedlaender (HFA IV, 4, 436). Fontane und Hauptmann (1862–1946) haben persönlichen Kontakt, Hauptmann ist mehrfach im Hause Fontane zu Gast. Die Korrespondenz der beiden umfasst nur wenige Briefe. Die Beziehung Fontanes zu dem über vierzig Jahre jüngeren Hauptmann, der bereits der auf den

7 Bekanntschaft mit anderen Autoren

Realismus folgenden literarischen Epoche angehörte, war eine Verbundenheit, die auf der ausdrücklichen Anerkennung von Hauptmanns Kunst durch Fontane beruhte. In einem Brief an Friedrich Stephany am 22. Oktober 1889 bescheinigt er Hauptmann »ein sehr großes, ein seltenes Talent« (HFA IV, 3, 732). Kein Autor des deutschsprachigen Realismus näherte sich mit Aufgeschlossenheit und zumindest partieller Zustimmung so stark dem Naturalismus wie Fontane. Entschieden undogmatisch gibt er sich in einem Brief an Hauptmann am 12. September 1889: »Die realistische Schule hat nicht einzig und allein Recht, aber sie hat so gut Recht wie die ihr entgegengesetzte« (HFA IV, 3, 723–724). Geradezu leidenschaftlich tritt Fontane in seiner Rezension der Uraufführung von Vor Sonnenaufgang am 20. Oktober 1889 an der Berliner »Freien Bühne« für Hauptmanns Stück ein: »Gerhart Hauptmann [...] hat nicht bloß den rechten Ton, er hat auch den rechten Mut, und zu dem rechten Mute die rechte Kunst. Es ist töricht, in naturalistischen Derbheiten immer Kunstlosigkeit zu vermuten. Im Gegenteil, richtig angewandt [...] sind sie ein Beweis höchster Kunst« (HFA III, 2, 820). Fontanes öffentliches Urteil half dem jungen Hauptmann. Wie Hauptmann und Henrik Ibsen gestaltet Fontane Frauenfiguren, die aus einem Korsett sozialer Normen auszubrechen versuchen. »Ibsen mag die größere Natur, die stärkere Persönlichkeit, das überlegene bahnbrechende Genie sein, dichterisch steht mir G. Hauptmann höher, weil er menschlicher, natürlicher, wahrer ist« (an Friedrich Stephany, 22.3.1898, HFA IV, 4, 707). Als Theaterkritiker berichtet Fontane über weitere Dramen Hauptmanns, 1890 Das Friedensfest und 1891 Einsame Menschen. Seine Besprechung von Hauptmanns Die Weber, aufgeführt 1894 im Deutschen Theater in Berlin, ist Fontanes letzte Theaterkritik überhaupt. Nach der Aufführung wird die Loge des Kaisers gekündigt, weil das Stücks demoralisierend sei. In einem Brief an Otto

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Brahm bewertet Fontane Die Weber als »vorzüglich, epochemachend« (27.9.1894, HFA IV, 4, 386). Ein möglicher Einfluss von Hauptmanns Werk auf Fontane und umgekehrt ist nicht feststellbar, doch gibt es Verbindungen. Fontane lobt an Hauptmanns Vor Sonnenaufgang die »kunstvolle Schlichtheit der Sprache« (HFA III, 2, 820) und formuliert so prägnant, was für sein eigenes Werk gilt. »Das Motiv des brüchigen Bodens spielt in Vor Sonnenaufgang wie in Effi Briest eine zentrale symbolische Rolle« (Aust 2000, 378). Eine große Vielfalt von Protagonistinnen mit unterschiedlichen Lebensläufen sieht Hans-Heinrich Reuter bei Fontane wie bei Hauptmann (Reuter 1968, 678–679). Literatur Aust, Hugo: Kulturelle Traditionen und Poetik. In: FHb, 306–465. Fontane, Theodor: Briefe I–IV. Hg. von Kurt Schreinert. Berlin 1968–1971. Fontane, Theodor: Briefe an Julius Rodenberg. Eine Dokumentation. Hg. von Hans-Heinrich Reuter. Berlin/Weimar 1969. Fontane, Theodor: Briefe an Wilhelm und Hans Hertz 1859– 1898. Hg. von Kurt Schreinert. Stuttgart 1972. [Fontane 1972a] Fontane, Theodor: Der Briefwechsel zwischen Theodor Fontane und Paul Heyse. Hg. von Gotthard Erler. Berlin/Weimar 1972. [Fontane 1972b] Neuhaus, Stefan: Fontane und der Tunnel unter der Themse. Anmerkungen zu einem Motiv aus dem ›Stechlin‹, seiner Geschichte und Bedeutung. In: FBl 56 (1993), 63–79. Nürnberger, Helmuth: Fontanes Welt. Berlin 1997. Radecke, Gabriele: Einführung. In: Theodor Storm – Theodor Fontane. Der Briefwechsel. Historisch-kritische und kommentierte Ausgabe. Hg. von Gabriele Radecke. Berlin 2018, XV–XXXVI. Reuter, Hans-Heinrich: Fontane. 2 Bde. München 1968. Sprengel, Peter: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1870–1900. Von der Reichsgründung bis zur Jahrhundertwende. München 1998.

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8 Selbstzeugnisse Selbstaussagen während der Entstehung Wann genau Fontane mit der Arbeit an Effi Briest begonnen hat, kann nicht mehr eindeutig rekonstruiert werden; erste Entwürfe werden für 1888/89 vermutet (371). Jedenfalls versuchte Fontane schon am 28. Juli 1890 dem Herausgeber der Gartenlaube, Adolf Kröner, seinen »neuen Roman« mit einer Art Werbetext schmackhaft zu machen, wobei er Kröner halbironisch darum bat, »Gerechtigkeit« und »Milde« walten zu lassen: »Er spielt im ersten Drittel auf einem havelländischen adligen Gut, im zweiten in einem kleinen pommerischen Badeort in der Nähe von Varzin und im letzten Drittel in Berlin. Titel: Effi Briest. Es handelt sich, ganz im Gegensatz zu Quitt und Unterm Birnbaum nur um Liebe, also stofflich eine Art Ideal« (DÜW 2, 441). Damit war auch schon die Struktur des Romans in Form einer dreistufigen Raumgliederung vorgegeben, von der Fontane auch nicht mehr abwich (s. Kap. 28). Doch die Arbeit stockte, zuerst durch eine Erkrankung, dann durch eine Depression. Zuerst berichtete Fontane andeutend in einem Brief an Friedlaender vom 22. April 1892 von einer Morphiumvergiftung durch Überdosierung, an der angeblich der Apotheker schuld gewesen sein sollte – eine erstaunliche Schuldzuschreibung von einem gelernten Apotheker. Im Sommer weitete sich eine Depression so aus, dass Fontane in »Gleichgültigkeit gegen Alles, was er geschaffen« ausbricht (Emilie Fontane an den Sohn Friedrich, 28.6.1892; 337) und seine Frau »immer ernstlicher an eine Nervenanstalt« dachte, wie diese an ihren Sohn Friedrich am 7. Juli 1892 schrieb. In diesem für Effi Briest zu verzeichnenden Krisenjahr 1892 lag dann das Manuskript des Romans monatelang bei Georg Friedlaender, dem Fontane das Konvolut als »Werthpacket«, mit 6000 Mark »unrenommistisch« hoch versichert, zugesandt hatte (Briefe vom 19.5. und 21.9.1892; DÜW 2, 441). Es ist gezeigt worden, wie sehr diese Bedingungen die Entstehungsgeschichte von Effi Briest geprägt haben (Haberer 2012, 153–158; s. Kap. 6). Erst mit dem Abschluss seiner Autobiographie Meine Kinderjahre, die zeitgleich zu Effi Briest in Arbeit war, stabilisierte sich der Dichter wieder. Im Frühjahr 1893 fing Fontane mit der Korrektur an, weil der Roman bis zum 1. September für den Vorabdruck in der Deutschen Rundschau abgeliefert sein sollte, tatsächlich aber erst Mitte Februar 1894 dort

eintraf. Am Manuskript habe er sich, so Fontane gegenüber Friedlaender brieflich am 29. November 1893, »ganz dumm corrigirt« (DÜW 2, 443); erst danach könne er »wieder Mensch sein« (an die Tochter, 6.1.1894; DÜW 2, 443). Gegenüber dem Gründer und Herausgeber der Deutschen Rundschau, Julius Rodenberg, wies Fontane ausdrücklich darauf hin, die lange Korrekturzeit sei durch die »Finessen« bedingt (Böschenstein 1985; Anderson 1998), die er in seinem Roman versteckt habe. Das beginne schon beim Titel von Effi Briest: »für mein Gefühl sehr hübsch, weil viel e und i darin ist; das sind die beiden feinen Vokale« (9.11.1893; DÜW 2, 443). Schließlich hatte Fontane schon früher darauf hingewiesen, dass es bei ihm eines wiederholten Lesens bedürfe, denn: »Eine Welt von Finessen geht einem erst allmählich auf« (Brief an Paul Schlenther, 20.9.1887; HFA IV, 3, 566). Überhaupt sei das Lesen seiner Texte immer »Räthsel lösen. Alles andre ist Nebensache« (Brief an Wilhelm Hertz, 9.10.1878; DÜW 2, 215). Ansonsten war Fontane bei der Korrektur wie immer im Rückstand (»werden wohl bis zu genanntem Termin nur die ersten 12 Kapitel fertig sein«), weil er besondere Sorge trug, »ob es stofflich keinen Anstoß gibt« (an Julius Rodenberg, 22.1.1894; DÜW 2, 444). Bei der Zusammenstellung der einzelnen Lieferungen kam ihm bald der Verdacht, der Roman werde für den Vorabdruck »ein wenig zu lang sein« (an Rodenberg, 15.2.1894; DÜW 2, 445). Nach der lobenden Rückmeldung Rodenbergs war Fontane dann »natürlich sehr beglückt«: »Ich bin auch nicht ängstlich wegen der Schlußkapitel, trotzdem alles noch wie Kraut und Rüben durcheinanderliegt« (an Rodenberg, 2.3.1894; DÜW 2, 445).

Selbstaussagen nach dem Erscheinen des Romans Nach dem Abschluss aller Korrekturen für den Vorabdruck und dessen Erscheinen in der Deutschen Rundschau von Oktober 1894 bis März 1895 befand sich Fontane schon im Modus des Rückblicks. Auf die lobende Zuschrift von Hans Hertz antwortete Fontane mit einem Werkstattbericht, in dem er, angefangen von der Stofffindung über die für ihn neuartige literarische Anverwandlung bis hin zu Beschreibungsdetails, ausführlich berichtete: »Ja, die arme Effi! Vielleicht ist es mir so gelungen, weil ich das Ganze träumerisch und fast wie mit einem Psy-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2019 S. Neuhaus (Hg.), Effi Briest-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04874-5_8

8 Selbstzeugnisse chographen geschrieben habe. Sonst kann ich mich immer der Arbeit, ihrer Mühe, Sorgen und Etappen, erinnern – in diesem Falle gar nicht. Es ist so wie von selbst gekommen, ohne rechte Überlegung und ohne alle Kritik. Meine Gönnerin Lessing (von der Vossin) erzählte mir auf meine Frage: ›Was macht denn der?‹ (ein Offizier, der früher viel bei Lessings verkehrte und den ich nachher in Innstetten transponiert habe), die ganze Effi-Briest-Geschichte, und als die Stelle kam, 2. Kapitel, wo die spielenden Mädchen durchs Weinlaub in den Saal hineinrufen: ›Effi komm‹, stand mir fest: ›Das mußt du schreiben.‹ Auch die äußere Erscheinung Effis wurde mir durch einen glücklichen Zufall an die Hand gegeben; ich saß im Zehnpfund-Hotel in Thale, auf dem oft beschriebenen großen Balkon, Sonnenuntergang, und sah nach der Roßtrappe hinauf, als ein englisches Geschwisterpaar, er 20, sie 25, auf den Balkon hinaustrat und 3 Schritt vor mir sich an die Brüstung lehnte, heiter plaudernd und doch ernst. Es waren ganz ersichtlich Dissenterkinder, Methodisten. Das Mädchen war genau so gekleidet, wie ich Effi in den allerersten und dann auch wieder in den allerletzten Kapiteln geschildet habe: Hänger, blau und weiß gestreifter Kattun, Ledergürtel und Matrosenkragen. Ich glaube, daß ich für meine Heldin keine bessere Erscheinung und Einkleidung finden konnte, und wenn es nicht anmaßend wäre, das Schicksal als etwas einem für jeden Kleinkram zu Diensten stehendes Etwas anzunehmen, so möchte ich beinah sagen: das Schicksal schickte mir die kl. Methodistin« (Brief an Hans Hertz, 2.3.1895; DÜW 2, 448–449).

Die Mitteilung, dass Effi Briest eine Fallgeschichte sei, die Fontane als Psychographie der Heldin und als tranceartigen Produktionsprozess (»so wie von selbst«) ohne kritische Selbstkontrolle des Schreibvorgangs hervorgebracht habe, darf mit einiger Skepsis betrachtet werden (s. Kap. 39). Denn Fontane gebraucht dasselbe Bild wiederholt und zeitgleich, etwa in einem Brief an Paul Schlenther vom 11. November 1895, in dem es heißt: »Ich habe das Buch wie mit dem Psychographen geschrieben. Nachträglich, beim Korrigieren, hat es mir viel Arbeit gemacht, beim ersten Entwurf gar keine. Der alte Witz, daß man Mundstück sei, in das von irgendwoher hineingetutet wird, hat doch was für sich, und das Durchdrungensein davon läßt schließlich nur zwei Gefühle zurück: Bescheidenheit und Dank« (DÜW 2, 453). Sogar in Effi Briest kommt diese Vorstellung wörtlich vor, als Effi von ihrer häuslichen Gespenstererscheinung berichtet (»ein Gespenst, das durch meine Stube geht«) und die Sän-

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gerin Trippelli kommentiert: »sagte mir mein Vater, als das mit dem Psychographen aufkam: ›Höre, Marie, das ist ’was.‹ Und er hat recht gehabt, es ist auch ’was damit. Überhaupt, man ist links und rechts umlauert, hinten und vorn« (109). Auch der Behauptung Fontanes, er habe die harten Fakten des Romans aus der Realität unverändert übernommen (»die ganze Effi-Briest-Geschichte«), während er andererseits in demselben Brief den »Zufall« und gleich zweimal »das Schicksal« bemüht und die Chronologie von Vorlage und Darstellung gleichsam umkehrt (»genau so gekleidet, wie ich Effi [...] geschildert habe«), ist seiner Aussage gegenüberzustellen, wie weit die erwähnte komplexe Umarbeitung den Roman vom ursprünglichen »Entwurf« entfernt – nachgewiesen sind bis zu sieben Fassungen (FHb, 634). Außerdem sind auch die zahllosen Verflechtungen innerhalb der Romanstruktur in Rechnung zu stellen, etwa die Einbindung Effis in einen religiös durchsetzten Kontext (s. Kap. 30), der dem Roman einen zusätzlichen Subtext jenseits seiner Vorlage unterschiebt (Schuster 1978). Neben solchen geradezu poetologischen Äußerungen mühte sich Fontane damit ab, seinen Roman gegenüber ersten Lesern in Schutz zu nehmen oder vermeintliche Missverständnisse auszuräumen. So galt es sich gegenüber dem Vorwurf eines pommerschen Adeligen zu rechtfertigen, Fontane habe durch »das Vorführen pommerscher Adelsnamen« »billige Namenwitze« gerissen; auch die Darstellung von Effis erstem Wohnort Kessin sei eine Missachtung Hinterpommerns, die auf einem »märkischen Chauvinismus« der Autors beruhe: »Das lag nicht an Hinterpommern, sondern daran, daß Fremde Fremde bleibt« (Briefentwurf an Otto von Glasenapp, Herbst 1895; DÜW 2, 450–451). Eine sich mit der Heldin identifizierende Leserin bestärkte Fontane zunächst darin (»Schenken Sie ihr die Liebe, die sie menschlich verdient«), um dann den geäußerten Abscheu gegen den Ehemann Innstetten als einem »alten Ekel« zu relativieren: »Männer – und nun gar wenn sie Prinzipien haben – sind immer ›alte Ekels‹. Darin muß man sich finden« (Brief an Anna Witte, 18.10.1895; DÜW 2, 451). Diese Formulierung vom »alten Ekel« griff Fontane noch einmal auf, um die Ehekonstellation um Effi und Innstetten in ihrer Kontrastierung zu rechtfertigen: »Ja, Effi! Alle Leute sympathisieren mit ihr, und einige gehen so weit, im Gegensatze dazu, den Mann als einen ›alten Ekel‹ zu bezeichnen. Das amüsiert mich natürlich, gibt mir aber auch zu denken, weil es wieder

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II Autor und Werk beweist, wie wenig den Menschen an der sogenannten ›Moral‹ liegt und wie die liebenswürdigen Naturen dem Menschenherzen sympathischer sind. Ich habe dies lange gewußt, aber es ist mir nie so stark entgegengetreten wie in diesem Effi-Briest- und Innstetten-Fall. Denn eigentlich ist er (Innstetten) doch in jedem Anbetracht ein ganz ausgezeichnetes Menschenexemplar, dem es an dem, was man lieben muß, durchaus nicht fehlt. Aber sonderbar, alle korrekten Leute werden schon bloß um ihrer Korrektheiten willen mit Mißtrauen, oft mit Ablehnung betrachtet. Vielleicht interessiert es Sie, daß die wirkliche Effi übrigens noch lebt, als ausgezeichnete Pflegerin in einer großen Heilanstalt. Innstetten, in natura, wird mit nächstem General werden. Ich habe ihn seine Militärcarrière nur aufgeben lassen, um die wirklichen Personen nicht zu deutlich hervortreten zu lassen« (Brief an Clara Kühnast, 27.10.1895; DÜW 2, 452).

Interessant ist dabei Fontanes doppelte Rechtfertigung seiner Figurenkonstellation, nämlich einmal über die Moralvorstellungen der Leser, zum anderen dann aber über die tatsächliche Verortung seiner Romanfigurenvorlagen in der Wirklichkeit, indem er den engen Bezug von Romanwelt und Realität aufeinander betont: »daß die wirkliche Effi übrigens noch lebt«; »Innstetten, in natura«. Die Buchausgabe von Effi Briest erschien im Oktober 1895 mit der Datierung auf 1896 im Berliner Verlag des Sohnes Friedrich Fontane und erreichte innerhalb eines Jahres fünf Auflagen – »der erste wirkliche Erfolg, den ich mit einem Roman habe«, notierte Fontane in seinem Tagebuch 1895 (DÜW 2, 455). Bei seinen wohlwollenden Rezensenten (s. Kap. 15) bedankte sich Fontane nicht nur; gelegentlich stellte er auch einiges richtig, so die Behauptung, das Milieu seiner Romane entspreche der Sozialstruktur seiner Leserschaft: »Ich bin immer ein Adelsverehrer, ein liebevoller Schilderer unseres märkisch-pommerschen Junkertums gewesen, meine Leser aber wohnen zu Dreivierteln in der Tiergartenstraße etc. und zu einem Viertel in Petersburg und Moskau, ja bis nach Odessa« (an Moritz Necker, 29.10.1895; DÜW 2, 453). Kritiker, »die das betonen, worauf es einem beim Schreiben angekommen ist«, erhalten schon mal einen tieferen Einblick, wie einer der ersten Rezensenten, Joseph Viktor Widmann, am 19. November 1895: »Sie sind der erste, der auf das Spukhaus und den Chinesen hinweist; ich begreife nicht, wie man daran vorbeisehen kann, denn erstlich ist dieser Spuk, so bilde ich mir wenigstens ein, an und für sich interessant, und zweitens, wie Sie hervorgeho-

ben haben, steht die Sache nicht zum Spaß da, sondern ist ein Drehpunkt für die ganze Geschichte« (DÜW 2, 454). Vielleicht sollte auch hier die Interpretation nachfragen: Wenn dies »ein Drehpunkt« ist (s. Kap. 22), gibt es noch andere und wo lägen dann diese? Dem Angeschriebenen gegenüber, der in seiner Besprechung »dem armen Innstetten so schön gerecht« geworden ist, greift Fontane die schon zurückgewiesene Rede vom »Ekel« Innstetten nochmals auf: »Für den Schriftsteller in mir kann es gleichgültig sein, ob Innstetten, der nicht notwendig zu gefallen braucht, als famoser Kerl oder als ›Ekel‹ empfunden wird, als Mensch aber macht mich die Sache stutzig. Hängt das mit etwas Schönem im Menschen- und namentlich im Frauenherzen zusammen, oder zeigt es, wie schwach es mit den Moralitäten steht, so daß jeder froh ist, wenn er einem ›Etwas‹ begegnet, das er nur nicht den Mut hatte auf die eigenen Schultern zu nehmen« (ebd.). Die Frage der »nicht verbrannten Briefe«, woran Effis »Schuld« hafte, sei in der gesellschaftlichen Welt »leider trivial«. Er habe diese Lebenserfahrung – »Die Menschen können sich nicht trennen von dem, woran ihre Schuld haftet« – nur mit Vorsicht benutzt, »weil alles [andere] wenig natürlich war, und das gesucht Wirkende ist noch schlimmer als das Triviale. So wählte ich von zwei Übeln das kleinere« (an Hermann Wichmann, 24.4.1896; DÜW 2, 461). Schon kurz nach dem Erscheinen von Effi Briest in Buchform vermeldete Fontane eine erste innere Distanzierung; aber vielleicht kokettierte er auch nur ein wenig: »So nehme ich Abschied von Effi; es kommt nicht wieder, das letzte Aufflackern eines Alten« (an Maximilian Harden, 1.12.1895; DÜW 2, 455).

Fontane und Friedrich Spielhagen Grundlegend setzte sich Fontane mit Friedrich Spielhagen (1829–1911) auseinander, der nicht nur mit seinen Beiträgen zur Theorie und Technik des Romans schon 1883 eine Theorie des modernen Gesellschaftsromans vorgelegt hatte und sich überhaupt als der maßgebliche Romantheoretiker der Gegenwart verstand. In seinem 1897 erschienenen Roman Zum Zeitvertreib verarbeitete Spielhagen die Ardenne-Affäre ebenfalls literarisch, wobei Spielhagen den Vorteil hatte, mit Elisabeth von Ardenne persönlich bekannt gewesen zu sein und mit ihr sogar einen Briefwechsel geführt hatte (s. Kap. 9). Grundsätzlich unterstützte Fontane Spielhagens romantheoretische Forderung,

8 Selbstzeugnisse

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dass der moderne Erzähler sich bis zur Unsichtbarkeit zurückzunehmen habe (»mit Ihnen in Uebereinstimmung«; s. Kap. 36); er rechtfertigte aber auch (»Allerdings«) die erzählerische Autonomie seines eigenen Erzählers in Effi Briest:

solchen Eindruck auf mich, daß aus dieser Szene die ganze lange Geschichte entstanden ist. An dieser einen Szene können auch Baron A. und die Dame erkennen, daß ihre Geschichte den Stoff gab« (an Friedrich Spielhagen, 21.2.1896; DÜW 2, 460).

»Das Hineinreden des Schriftstellers ist fast immer von Uebel, mindestens überflüssig. Und was überflüssig ist, ist falsch. Allerdings wird es mitunter schwer festzustellen sein, wo das Hineinreden beginnt; der Schriftsteller muß doch auch, als er, eine Menge thun und sagen, sonst geht es eben nicht, oder wird Künstelei« (an Friedrich Spielhagen, 15.2.1896; DÜW 2, 456–457).

Fontane hatte Spielhagens Parallelroman Zum Zeitvertreib gleich nach Zusendung »mit dem größten Interesse gelesen« und auch der Wahl des Titels zugestimmt (»nicht besser ausgedrückt werden kann«). Seine grundsätzlichen Einwände gegen Spielhagens Behandlung desselben Stoffes verkleidete Fontane als »kleine Bedenken«, die sich dann aber doch zu einem größeren Einwand auswuchsen:

Seine Differenz zu Spielhagens Auffassungen erläuterte Fontane gegenüber dem Verleger Julius Rodenberg anhand eines Vergleichs zwischen Goethes Wahlverwandtschaften und seiner Effi Briest. Spielhagen hatte dazu einen Aufsatz verfasst, den er durch Vermittlung Fontanes in der Deutschen Rundschau Rodenbergs unterbringen wollte. Obwohl Spielhagen dort Fontanes Roman sogar über den Goethes stellte, riet Fontane von einer Veröffentlichung ab: »Nach meiner Meinung liegt es nun so, daß [der Aufsatz] a. alle Goetheverehrer verletzt und b. mich, ungewollt, in ein komisches Licht stellt« (an Julius Rodenberg, 18.2.1896; DÜW 2, 458). Kurz zuvor hatte Spielhagen Fontane mitgeteilt, er habe einen Roman mit dem Titel Zum Zeitvertreib geschrieben, »dessen Thema mit dem des Ihren sehr viel Verwandtes hat«. Man habe offensichtlich »aus derselben Quelle geschöpft. Will sagen: unser beiderseitiges Motiv ist dieselbe Ehetragödie« (Spielhagen an Fontane, 20.2.1896; zit. nach Schafarschik 2002, 92). Fontane teilte Spielhagen bereitwillig mit, wie der Stoff der Ardenne-Affäre durch die Berliner Salonerzählung an ihn gekommen sei und wie er die Figuren aus dem »Magdeburgischen« in die Mark und nach Pommern verlegt habe. Er verriet dem »Kollegen« und »Romancierkonfrater« auch den springenden Punkt, der diese »Ehebruchsgeschichte wie hundert andre mehr« für ihn zu einem Romanplot gemacht habe: »Die ganze Geschichte ist eine Ehebruchsgeschichte wie hundert andre mehr und hätte, als mir Frau L. davon erzählte, weiter keinen großen Eindruck auf mich gemacht, wenn nicht (vgl. das kurze 2. Kapitel) die Szene bez. die Worte: ›Effi komm‹ darin vorgekommen wären. Das Auftauchen der Mädchen an den mit Wein überwachsenen Fenstern, die Rotköpfe, der Zuruf und dann das Niederducken und Verschwinden machten

»Diese Bedenken gipfeln in der persönlichen oder sag ich lieber richterlichen Stellung, die Sie zu der von Ihnen geschilderten Gesellschaft einnehmen. Ich finde das Maß der Verurteilung, soweit von einer solchen überhaupt gesprochen werden kann, nicht scharf genug. [...] So wird das dramatische Interesse der Hergänge geschädigt. Mein zweites Bedenken, allerdings in einem innigsten Zusammenhange mit dem schon Gesagten, richtet sich gegen das, was ich die politische Seite des Buches nennen möchte. Der Roman unterstützt, gewiß sehr ungewollt, die alte Anschauung, daß es drei Sorten von Menschen gibt: Schwarze, Weiße und – Prinzen. Der Adel spielt hier die Prinzenrolle und zeigt sich uns nicht bloß in den diesem Prinzentum entsprechenden Prätensionen, sondern – und das ist das etwas Bedrückliche – beweist uns auch, daß diese Prätensionen im wesentlichen berechtigt sind, vom Adelsstandpunkt aus ganz gewiß und vom Standpunkt draußenstehender Dritter aus wenigstens beinah. [...] Durch das Hervorkehren dieser Dinge nährt man nur jene Überheblichkeitsgefühle, die man ausrotten möchte« (an Friedrich Spielhagen, 25.8.1896; DÜW 2, 462).

Hinter der Kritik leuchtet Fontanes eigenes Gesellschaftsbild, wie es auch aus Effi Briest hervortritt, besonders hell auf. Affirmativ-liberale Fortschrittsgläubigkeit, wie sie Spielhagens Roman präsentiert, ist Fontanes Sache offenbar nicht. Literatur Anderson, Paul Irving: Von »Selbstgesprächen« zu »TextParadigma«. Über den Status von Fontanes Versteckspielen. In: FBl 65/66 (1998), 300–317. Böschenstein, Renate: Fontanes »Finessen«. Zu einem Methodenproblem der Analyse ›realistischer Texte‹. In: Schiller-Jahrbuch 29 (1985), 532–535.

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II Autor und Werk

Downes, Daragh: Effi Briest. Roman. In: FHb, 633–648. Ehrhardt, Holger: Mythologische Subtexte in Theodor Fontanes ›Effi Briest‹. Frankfurt a. M. u. a. 2008 (MeLi, Bd. 56). Haberer, Anja: Zeitbilder. Krankheit und Gesellschaft in Theodor Fontanes Roman ›Cécile‹ (1886) und ›Effi Briest‹ (1894). Würzburg 2012.

Schafarschik, Walter: Theodor Fontane. Effi Briest. Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart 22002, 102–114. Schuster, Peter-Klaus: Theodor Fontane: ›Effi Briest‹. Ein Leben nach christlichen Bildern. Tübingen 1978. Tyrrell, Thomas: Theodor Fontanes ›Effi Briest‹ und Friedrich Spielhagens ›Zum Zeitvertreib‹. Zwei Dichtungen zu einer Wirklichkeit. Houston/Texas 1986.

Rolf Selbmann

9 Die Ardenne-Affäre

9 Die Ardenne-Affäre Wie die meisten Werke Fontanes beruht auch Effi Briest auf dem Gerüst einer wahren Begebenheit. Hierfür liefert die handschriftliche, fragmentarisch gebliebene Autobiographie der Betroffenen, Elisabeth von Ardenne, geb. Freiin von Plotho (1853–1952), die wichtigste Quelle, zugänglich gemacht durch ihren Enkel, den in der DDR nicht unbekannten Manfred Baron von Ardenne (Seiffert 1964, 259). Freilich ist diese Autobiographie kein literaturfreies Lebensbekenntnis, sondern selbst schon durch die Wirkungsgeschichte von Fontanes Roman hindurchgegangen und von diesem infiziert worden. Denn Elisabeth von Ardenne legt in ihren Rückerinnerungen großen Wert darauf, bei ihrer Lebensgeschichte die Unterschiede zur Romanwelt Fontanes besonders herauszustreichen. Wie Fontane an diese Lebensgeschichte als seinem zukünftigen Romanstoff gekommen sein will, berichtet er erstmals nach der Fertigstellung des Romans in einem Brief an Hans Hertz vom 2. März 1895. Fontane erzählt darin von seiner eher beiläufig hingeworfenen Bemerkung während eines gesellschaftlichen small talks (»Was macht denn der?«), woraufhin seine »Gönnerin Lessing (von der Vossin)«, gemeint ist Emma Lessing, die Ehefrau des Verlegers der Vossischen Zeitung, »die ganze Effi-Briest-Geschichte« erzählt habe (DÜW 2, 449). Immer wieder betonte Fontane, so in einem Brief an Marie Uhse vom 13. November 1895: »Es ist eine Geschichte nach dem Leben, und die Heldin lebt noch« (DÜW 2, 453). Nach Elisabeth von Ardennes Autobiographie und anderen Quellen wurde die junge Dame auf dem Gut der Eltern in Zerben bei Parey an der Elbe als das jüngste von fünf Kindern geboren. Elisabeth von Plotho war also, anders als Effi, kein Einzelkind. Der Vater starb schon nach sieben Jahren. Elisabeth, bald »Betty« gerufen, die Autobiographie nennt sie auch »Else«, wurde am 26. November 1853 geboren; das Kind wuchs, so die Autobiographie, »wild und eigenwillig« im Kreis meist männlicher Spielkameraden auf. Der fünf Jahre ältere Fähnrich Armand Léon Baron von Ardenne von den roten Zieten-Husaren aus Rathenow wurde als damals schon militärisch, literarisch und musikalisch auffallende Erscheinung in diesem Kreis eher als »Störenfried« empfunden (Seiffert 1964, 260). Durch sein Klavierspiel erregte der Offiziersanwärter eher den Widerwillen als die Zuneigung Elisabeth von Plothos. Zudem stammten die Ardennes aus dem belgischen Adel, der in Preußen erst 1873 als gleichrangig anerkannt wurde. Daher wurden die ersten Werbun-

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gen Ardennes auch abgewiesen; Elisabeth ließ dem Begriffsstutzigen ihre Ablehnung einmal sogar durch Dritte ausdrücklich zukommen (Franke 1994, 24). Erst nach dem erfolgreichen 1870er Krieg, in dem Ardenne verwundet und mit dem Eisernen Kreuz II. Klasse ausgezeichnet wurde, kam es durch die briefliche Vermittlung der Mutter am 7. Februar 1871 zur überraschenden Verlobung des 22-jährigen Leutnants mit der 17-jährigen in Stechow. Die Hochzeit fand entgegen der Forderung des Brautvaters nach Einhaltung der vollen Wartezeit von drei Jahren schon am 1. Januar 1873 in Zerben statt. Noch am Hochzeitstag, also ohne die bei Fontane geschilderte Hochzeitsreise, bezog das junge Paar eine von der Brautmutter eingerichtete Wohnung am Lützowufer nahe des alten Zoologischen Gartens in Berlin. Nach bestandenem Examen an der Kriegsakademie kehrte Ardenne zu seiner Husareneinheit nach Rathenow zurück. Während des dortigen Garnisonslebens wurde dem Paar eine Tochter geboren, 1877 ein Sohn; Ardenne machte sich in dieser Zeit einen Namen als Militärschriftsteller im Auftrag eines königlichen Prinzen und beförderte dadurch seine Karriere. 1877 wurde er nach Düsseldorf kommandiert, 1879 wurde er Adjutant des Kommandeurs der Kavallerie-Brigade der 9. Dragoner in Metz, im Sommer 1881 kehrte er als Rittmeister und Eskadronchef zu den Düsseldorfer Husaren zurück. Das dortige Leben mit reichem gesellschaftlichem Verkehr, vor allem der Kontakt zur Künstlervereinigung des Malkastens, war wohl ganz in seinem Sinn, weniger in dem seiner Frau, wie es damalige Bekannte vorhergesehen haben wollten und nachträglich in ihren Erinnerungen festhielten: »sahen wir mit wachsendem Bangen voraus« (Beckmann 1930, 89). Elisabeth von Ardenne führte also im Unterschied zu Effi Briest kein zurückgezogenes Leben am topographischen Rande des Neuen Reichs. Die Wende brachte der freundschaftliche Umgang der Familie mit dem am 9. Mai 1843 in Danzig geborenen Amtsrichter Emil Hartwich, der in einer offenbar unglücklichen Ehe (mit vier Kindern) lebte. Hartwich füllte nicht nur sein Amt aus. Als Maler war er mehr als bloß Dilettant; überliefert sind Porträts der Familie Ardenne. Außerdem betätigte sich Hartwich als »Sportund Freiluftfanatiker«; er war auch als Turner aktiv und Mitbegründer des »Zentralvereins für Körperpflege« (Franke 1994, 94). »Er verstand es, unaufdringlich, mit kleinen Seitenblicken auf Armand, sich Else immer unentbehrlicher zu machen, mit der er in vielem übereinstimmte, in manchem auch, was sie von Armand trennte, vor allem in der Lust zu Kostümie-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2019 S. Neuhaus (Hg.), Effi Briest-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04874-5_9

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rung und Theaterspiel« (Seiffert 1964, 264). Hartwich imponierte Elisabeth von Ardenne offensichtlich durch die Bereitschaft, Wagnisse wider alle Vernunft und jenseits bürgerlicher Sicherheiten einzugehen, wie er am 6. Januar 1885 in einem Brief an sie über den britischen Afrikareisenden Stanley schrieb: »Daß er Livingston gefunden hat, ist mir ziemlich Wurst, aber daß er seine Schreibfeder hingelegt hat und ohne alle Vorkenntnisse und ohne im Training zu sein, aufgestanden ist um ihn im tiefsten Afrika zu suchen, finde ich einfach großartig« (zit. nach Franke 1994, 97). »Der zweifelhafte Charakter des Majors Crampas hat mit der idealen Siegfriedgestalt unseres Helden [= Hartwich] auch nicht die geringste Ähnlichkeit« (Schellens 1927, 45). Als Ardenne am 1. Oktober 1884 als Adjutant des Kriegsministers ins Kriegsministerium nach Berlin versetzt wurde, begannen Else und Hartwich ihre Affäre. Diese schlug sich in einem Briefwechsel nieder, der in dem Plan gipfelte, dass beide sich scheiden lassen wollten. Anders als Innstetten, der auf Effis Briefe durch Zufall stößt, suchte der eifersüchtige Ardenne gezielt nach solchen Briefen. Deren Auffindung als untrüglicher Beweis führte am 27. November 1886 zum Duell der beiden diesbezüglich nicht unerfahrenen ehemaligen Freunde – Ardenne hatte sich schon mehrfach duelliert, Hartwich galt als ausgezeichneter Pistolenschütze. Bei diesem Duell auf der Berliner Hasenheide schoss Hartwich, dem als Herausgeforderter der erste Schuss zustand, offenbar in die Luft (357); Hartwich selbst wurde durch einen Schuss in den Unterleib schwer verwundet und starb am 1. Dezember 1886 an den Folgen dieser Verletzung. Ardenne wurde am 15. Dezember 1886 zu einer Festungshaft von zwei Jahren verurteilt, wobei er den Ort dieser Festungshaft selbst wählen durfte; er wurde schon am 22. Januar 1887 begnadigt. Seine Militärkarriere nahm durch die Duellgeschichte keinen Schaden. Bald nach seiner Freilassung wurde er Major im Landwehr-Dragonerregiment in Düsseldorf, dann zum Oberst und Regimentskommandeur befördert; 1904 ging er als Generalleutnant in Pension und war noch bis zu seinem Tod 1919 als Militärschriftsteller tätig. Die Scheidung der Ardennes hatte am 15. März 1887 stattgefunden; die Kinder wurden dem Ehemann zugesprochen. Seiner Mutter (Brief vom 28.12.1886) hatte Ardenne längst gestanden: »Meine Frau hat mich nie geliebt« (zit. nach Franke 1994, 58). Bereits am 4. Mai 1888 ging er eine zweite Ehe ein. Elisabeth von Ardenne widmete sich nach ihrer Scheidung Hilfsbedürftigen und Kranken; ein brieflich von ihr 1904 unternommener Versöhnungsversuch mit ihrem Ex-Gatten

scheiterte; sie starb kurz vor ihrem 100. Geburtstag 1952 in Lindau am Bodensee (358). In der Gegenüberstellung der rekonstruierten Biographie der Elisabeth von Ardenne und dem Romanleben von Effi Briest ergeben sich signifikante Übereinstimmungen, aber eben auch markante Unterschiede. Am gewichtigsten wirkt wohl der Altersunterschied der kindlichen Effi zu Geert von Innstetten, der bei den Ardennes nicht besteht. Auch die Ansiedlung des Ausgangs der Romanhandlung im vertrauten Brandenburg ist Fontanes Zutat. Außerdem hat Fontane die sozialen Rollen zwischen Landrat und Major ausgetauscht. Von der Ardenne-Geschichte völlig unabhängig ist der Aufenthalt der Familie in Kessin, ebenso die Hochzeitsreise der Innstettens, die sich vermutlich an den Stationen der Hochzeitsreise von Fontanes Freund Bernhard von Lepel orientiert. Zwischen der Lebensgeschichte Elisabeth von Ardennes und dem Roman Effi Briest gibt es aber auch Berührungen, die sich innerhalb des Romans als Intensivierungen auszeichnen. Hans Werner Seiffert hast sie in einem detailgenauen Vergleich zusammengestellt, etwa dass Innstetten »sehr schneidig« gewesen sei, was in der Wirklichkeit von Elses Bruder berichtet wird (Seiffert 1964, 268), oder die »Fritz-Reuter-Passion«, die im Roman Jahnke zugeschrieben wird, während sie in Wirklichkeit für Elisabeth von Ardenne bezeugt ist (Seiffert 1964, 269). Dies gilt auch für Eingriffe in andere Details, etwa beim geselligen Verkehr im Düsseldorfer Garnisonsleben, der zu Elisabeths glücklichen Erinnerungen zählte; ein dort überlieferter »Dr. Ruchbaum« (Seiffert 1964, 262) trägt manche Züge, die im Roman dem Apotheker Alonzo Gieshübler zugeschrieben werden. Ähnliches gilt für die Wohnung in Berlin in der Nähe des Zoologischen Gartens, von der sowohl für die Ardennes als auch für die Innstettens berichtet wird (Seiffert 1964, 274). Bei der Auffindung der verräterischen Briefe lässt Fontane den Zufall mitspielen, freilich mit ironischer Volte. In beiden Fällen kommen die Briefe durch das Aufbrechen einer Kassette ans Licht, bei Innstetten freilich durch Zufall, bei Ardenne hingegen als gezielte Handlung infolge seiner Eifersucht (Seiffert 1964, 274). Das tragische Duell des Romans folgt dem tatsächlichen Duell zwischen Ardenne und Hartwich nur in seiner Grundkonstellation. So griff Fontane wohl auch auf eine etwas länger zurückliegende Meldung aus England zurück, wonach die Frau des bekannten Kunstkritikers John Ruskin eine Affäre mit dem präraffaelitischen Maler John Everett Millais begonnen hatte: diese hieß »Effie« (Grawe 1985, 29). Dass es sich

9 Die Ardenne-Affäre

bei Fontanes Umgang mit den stofflichen Vorlagen um eine Strategie handelte, »in Ort und Namen alles transponirt« zu haben, erläuterte der Autor selbst am 12. Juni 1895 einer Bekannten: »Das Duell fand in Bonn statt, nicht in dem rätselvollen Kessin, dem ich die Szenerie von Swinemünde gegeben habe; Crampas war ein Gerichtsrat, Innstetten ist jetzt Oberst, Effi lebt noch, ganz in der Nähe von Berlin. Vielleicht läge sie lieber auf dem Rondel in HohenCremmen« (zit. nach Schafarschik 2002, 110).

Ein erhellendes Schlaglicht auf die Szenerie werfen auch die Briefe Friedrich Spielhagens an Else von Ardenne, weil diese aus der Zeit vor dem Ehebruch stammen. Schon hier finden sich die Spielmarken, die dann in Fontanes Roman zu gültigen Zuschreibungen werden. So schreibt Spielhagen am 11. Juni 1877 an die Baronin tröstend-ironisch nach Düsseldorf, er bedauere sie, »Ihren Jammer, in einer Provinzstadt Ihr jung frisch Leben vertrauern zu müssen, während wir in der Hauptstadt sybaritisch schwelgen« (zit. nach Seiffert 1964, 285). Am 12. Dezember 1878 schreibt Spielhagen dieser seiner Briefpartnerin, obwohl er eigentlich etwas anderes sagen will, unwissend eine Vo-

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rausdeutung: »Sie Beide und Düsseldorf – das ist eine complete Mesalliance. Mein Trost ist, daß dergleichen ungehörige Verbindungen nicht dauern können« (zit. nach Seiffert 1964, 289). Literatur Beckmann, Wilhelm: Im Wandel der Zeiten. Berlin 1930. Budjuhn, Horst: Fontane nannte sie ›Effi Briest‹. Das Leben der Elisabeth von Ardenne. Berlin 1985. Franke, Manfred: Leben und Roman der Elisabeth von Ardenne, Fontanes ›Effi Briest‹. Düsseldorf 1994. Freiherr Raitz von Frenz, Clemens: Die Geschichte der wahren Effi Briest. In: Deutsches Adelsblatt 52, H. 7 (2013), 10–13. Grawe, Christian: Theodor Fontane: Effi Briest. Frankfurt a. M./Berlin/München 1985. Schafarschik, Walter: Theodor Fontane. Effi Briest. Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart 22002, 83–91. Schellens, Franz: Emil Hartwichs Schriften über die körperliche Ertüchtigung der Jugend und für die Schulreform (Neuherausgabe). Mit einer Darstellung seines Lebens und Strebens von Franz Schellens. Düsseldorf 1927. Seiffert, Hans Werner: Fontanes ›Effi Briest‹ und Spielhagens ›Zum Zeitvertreib‹ – Zeugnisse und Materialien. In: Ders.: Studien zur neueren deutschen Literatur. Berlin 1964, 254–300.

Rolf Selbmann

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II Autor und Werk

10 Anmerkungen zur ›Judenfrage‹ Die Forschung hat sich erst seit den 1960er Jahren dem Problem gestellt, dass Fontane keineswegs frei von den antisemitischen Vorurteilen seiner Zeit war, obwohl er jüdische Freunde und Briefpartner hatte (s. Kap. 7) und das gebildete jüdische Bürgertum vor allem in Berlin sein treuestes Lesepublikum war (s. Kap. 15). In Briefen und Tagebüchern insbesondere seit den 1880er Jahren ist eine Zunahme seiner negativen Äußerungen über Juden und Judentum festzustellen, als mit dem ›Berliner Antisemitismusstreit‹ um den Historiker Heinrich von Treitschke der rassistisch argumentierende Antisemitismus zunehmend auch politische Bedeutung gewann (vgl. Kremnitzer 1972; Fleischer 1998; Horch 2000; Mecklenburg 2018, 194– 267). Dass Fontane andererseits (wohl nicht nur adressatenbezogen, sondern auch von widersprüchlichen Stimmungen abhängig) durchaus auch positiv über das jüdische Bürgertum und seinen Anteil an der deutschen Kultur geurteilt hat, gehört zu seinem schriftstellerischen Credo des »sowohl als auch«, des »ja, aber«, des »nein, jedoch«. Gemessen an den zahlreichen zu Lebzeiten unpublizierten Brief- und Tagebuchäußerungen oder auch Werkentwürfen fällt auf, welche Restriktionen sich Fontane hinsichtlich einer Publikation antijüdischer Äußerungen auferlegt hat. Dies gilt bereits für die Wanderungen wie sonstige Reiseprosa, es gilt im großen Ganzen auch für die Rezensionen und Essays, und es gilt in besonderem Maß für Fontanes »Romankunst der Vielstimmigkeit« (Mecklenburg 1998). Jüdische Hauptfiguren gibt es nur im ersten Berliner Roman L ’Adultera (Ezechiel van der Straaten und Ebenezer Rubehn) und in Unwiederbringlich (Ebba von Rosenberg, daneben der konvertierte Tierarzt Lissauer), jüdische Nebenfiguren sind eher spärlich, wenn auch wie z. B. in Die Poggenpuhls (die Familien Bartenstein und Blumenthal), in Mathilde Möhring (die Firma Silberstein & Isenthal) und in Der Stechlin (Baruch und Isidor Hirschfeld, Gundermann, Katzenstein und Dr. Moscheles) äußerst wichtig. Aussagen über Juden und Judentum stammen nie von einem auktorialen Erzähler, sondern von Haupt- oder Nebenfiguren; insofern sind sie in ihrer Dialogizität zu interpretieren, anders als viele private Äußerungen Fontanes, die dessen eigene, wenn auch wechselnde Positionen wiedergeben. Wenn freilich auch eine hochsympathische Identifikationsfigur wie der alte Stechlin mit dem Judentum einiger Figuren nicht zurechtkommt, wirft dies ein bedenkliches Licht auf dessen Vorbildcharakter. Und auch in ande-

ren Erzählwerken zeigt sich fast nebenbei, aber für den geschärften Blick unübersehbar der normale kaiserzeitliche Antisemitismus – so auch in Effi Briest (mit Blick auf Effi und ihre Tochter vgl. Hoffmann 1994). Auch wenn es in diesem Roman keine jüdischen Figuren gibt, können zwei Aspekte der ›Judenfrage‹ als zentral angesehen werden: die Haltung zur Judenemanzipation der Aufklärung sowie die Frage des zeitgenössischen Antisemitismus, fokussiert im Fall Richard Wagners (s. Kap. 14, 32). Die Auseinandersetzung mit Lessings Nathan der Weise als dem Hohen Lied der Aufklärung und Toleranz par excellence findet sich im 19. Kapitel (s. Kap. 33). Bei einem Besuch Innstettens und Effis in der Försterei Uvagla bringt der alte Güldenklee auf Papenhagen einen Toast auf Oberförster Ring aus: »Ja, meine Freunde«, [...], »viele Ringe giebt es, und es giebt sogar eine Geschichte, die wir alle kennen, die die Geschichte von den ›drei Ringen‹ heißt, eine Judengeschichte, die, wie der ganze liberale Krimskrams, nichts wie Verwirrung und Unheil gestiftet hat und noch stiftet. Gott bessere es. Und nun lassen Sie mich schließen, um Ihre Geduld und Nachsicht nicht über Gebühr in Anspruch zu nehmen. Ich bin nicht für diese drei Ringe, meine Lieben, ich bin vielmehr für einen Ring, für einen Ring, der so recht ein Ring ist, wie er sein soll, ein Ring, der alles Gute, was wir in unsrem altpommerschen Kessiner Kreise haben, alles, was noch mit Gott für König und Vaterland einsteht – und es sind ihrer noch einige (lauter Jubel) –, an diesem seinem gastlichen Tisch vereinigt sieht. Für diesen Ring bin ich. Er lebe hoch!« (181).

Nicht von ungefähr ist es vermutlich die Weihnachtszeit 1879, in der dieser Besuch stattfindet. Im Herbst dieses Jahres, so der Kommentar von Christine Hehle, »[...] dem gemeinsamen Jubiläumsjahr Lessings und des Stückes und zugleich dem Jahr der Gründung der ›Antisemiten-Liga‹, der antisemitischen Rede des Hofpredigers Adolph Stoecker, ›Unsere Forderungen an das moderne Judenthum‹, und der Auslösung des ›Berliner Antisemitismusstreits‹ [...] wurde die ›Ringparabel‹ in der öffentlichen Diskussion über die ›Judenfrage‹ vielfach als Argument vereinnahmt [...]. Im Brouillon steht an dieser Stelle zunächst ›liberale Geschichte‹; erst in einer zweiten Textstufe wird daraus ›Judengeschichte‹ [...]; diese Veränderung wurde möglicherweise von Rodenberg moniert, wie eine Notiz von seiner Hand [...] belegt« (Komm., 473–474).

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2019 S. Neuhaus (Hg.), Effi Briest-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04874-5_10

10 Anmerkungen zur ›Judenfrage‹

Henry H. Remak hat in seiner Analyse des Toasts die Brisanz der Ablehnung der Lessingschen Ringparabel aus der Unsicherheit eines pommerschen Junkers abgeleitet, dessen Identität durch die neue nationale Integrationspolitik Bismarcks gefährdet sei (Remak 1979, 554–555). Die Juden stehen für diese Integration und zugleich für die Herrschaft der Ökonomie über die Politik. Remak verkennt nicht, dass sich Fontane in Güldenklee selbst zitiert (vgl. vor allem seinen Brief an Emilie vom 12.8.1883, aber auch die Nathan-Rezension vom 18.2.1880), lässt aber offen, ob dies eine Selbstpersiflage bedeutet oder eine Bekräftigung seiner eigenen Antipathie. Eben dies Offenhalten gehört zu Fontanes künstlerischem Kalkül: Güldenklee kann im Roman kaum als direktes Sprachrohr Fontanes gelten, dazu ist er zu marginal und außerdem humoristisch deformiert. In seiner zwei Jahrzehnte später erschienenen Bewertung muss Remak allerdings zugestehen, dass Fontane der Figur tatsächlich seine eigene Haltung zu Lessing und der Aufklärungsidee inkorporiert hat (Remak 2000, 193). Zu Recht macht aber Norbert Mecklenburg auf die bewusstseinskritische Funktion der Stelle aufmerksam: Das Verfahren des »episch eingebetteten Diskurszitats« erlaubt es dem Lesepublikum, ungeachtet der privaten Autormeinung, eigene Schlüsse im Sinn einer Kritik des kaiserzeitlichen Antisemitismus zu ziehen (Mecklenburg 2018, 58– 60, hier 60). Auch Innstetten, der von Güldenklees preußischem Patriotismus nicht viel hält (182), zeichnet sich selbst durch widersprüchliche Züge aus, die gerade den zeittypischen Gehalt dieser Figur ausmachen (s. Kap. 14, 36, 41). Dazu gehört vor allem seine Vorliebe für Richard Wagner (s. Kap. 32). Innstetten ist zu sehr mit seiner Karriere und dem Kontakt zu Bismarck beschäftigt, um sich wirklich um seine junge Frau zu kümmern. Beim Tee spricht er von allerlei politischen Neuigkeiten: »War er damit durch, so bat er Effi, daß sie ’was spiele, aus Lohengrin oder aus der Walküre, denn er war ein Wagner-Schwärmer. Was ihn zu diesem hinübergeführt hatte, war ungewiß; einige sagten, seine Nerven, denn so nüchtern er schien, eigentlich war er nervös; andere schoben es auf Wagner’s Stellung zur Judenfrage. Wahrscheinlich hatten beide recht« (120).

Effi selbst wird ebenfalls als nervös dargestellt (s. Kap. 35, 45), sie teilt die Vorliebe für Wagner, wie im 9. Kapitel mitgeteilt wird:

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»Auf der gerade vor ihr aufgeschlagenen Seite [eines Reisehandbuchs] war von der ›Eremitage‹, dem bekannten markgräflichen Lustschloß in der Nähe von Bayreuth, die Rede; das lockte sie, Bayreuth, Richard Wagner [...]« (81).

Es gehört zu den künstlerischen Finessen Fontanes, dass mit den beiden Musikdramen Wagners zugleich auf Effis Schicksal vorausgedeutet wird. Diesen Zusammenhang hat Hans Rudolf Vaget bereits 1975 verdeutlicht: »Selbstredend hat Fontane die Anspielung auf Lohengrin und auf Die Walküre mit Bedacht gewählt. Denn die Gestalt des Schwanenritters, der seiner Gattin mit pädagogenhafter Herablassung die Ehebedingungen vorschreibt und der aus der Spannung zwischen ehelicher Liebe und der Loyalität zu einer höheren Instanz seine Ehe am gegenseitigen NichtVerstehen scheitern sieht, ist ebenso erhellend für die Situation und die Psychologie Instettens [!] wie die Gestalt Wotans, der gezwungen wird, das einzige Wesen, das er liebt, aus Pflichtgehorsam zu bestrafen. Aber letztlich vermag Instetten doch nicht in die Rolle der verstehend-bestrafenden Autorität hineinzuwachsen, stattdessen verfällt er in die Rolle des für den Ehebruch rachenehmenden Hunding, wenn auch mit sehr gebrochenem Selbstbewußtsein. Diese innere Gebrochenheit, die Fontane aus der schon fast dekadenten Nervosität Instettens gedeutet wissen will, wird auch von Instetten selbst als der Grund dafür benannt, daß er schließlich doch dem ›Götzendienst‹ des ›Gesellschafts-Etwas‹ huldigt. Wüllersdorf gegenüber gesteht er: ›Aber es kam zu plötzlich, zu stark, und so kann ich mir kaum einen Vorwurf machen, meine Nerven nicht geschickter in Ordnung gehalten zu haben. Ich ging zu Ihnen und schrieb Ihnen einen Zettel, und damit war das Spiel aus meiner Hand‹. An dieser handlungsentscheidenden Stelle des Romans wird somit die Gültigkeit der scheinbar beiläufig gegebenen Diagnose Instettens als Wagner-Schwärmer aus Nervosität nachdrücklichst bestätigt« (Vaget 1975, 464–465).

Was Wagners Antisemitismus betrifft, so hat seine Streitschrift Das Judenthum in der Musik, die 1850 unter dem Pseudonym R. Freigedank erschien und 1869 in erweiterter Form unter Wagners Namen neu veröffentlicht wurde, den kulturellen Antisemitismus hoffähig gemacht (vgl. Katz 1985) und die Ideologie Bayreuths für Jahrzehnte bestimmt. Wagner und die

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II Autor und Werk

Bayreuther Festspiele seit 1876 haben Fontane zugleich fasziniert und abgestoßen, nicht wenige Briefe und Stellen im Erzählwerk zeugen von einer nicht unerheblichen Beschäftigung mit diesem Komplex (Horch 1991; im Bayreuther Kreis wurde Fontane deshalb attackiert; vgl. Anderson 2004). Crampas und die Funktion Heinescher Zitate im Roman wurde häufig analysiert (s. Kap. 33); Heines Judentum spielt in diesem Zusammenhang explizit allerdings kaum eine Rolle (vgl. jedoch Fleischer 1998, 265–268). Hingegen ist auf eine scheinbar unwesentliche Bemerkung Effis im Gespräch mit Roswitha über ihre Schwermut und Angst aufmerksam zu machen (Kap. 14,32). Bezeichnenderweise spielt Effi nun Chopin statt Wagner, dessen Nocturnes jedoch nicht angetan sind, »viel Licht in ihr Leben zu tragen«. Aber auch der abendliche Blick auf die nahe gelegene Christuskirche hilft ihr nicht, bei gelegentlichen Besuchen hat sie »nicht viel davon gehabt«: »›Er predigt ganz gut und ist ein sehr kluger Mann, und ich wäre froh, wenn ich das Hundertste davon wüßte. Aber es ist doch alles bloß, wie wenn ich ein Buch lese; und wenn er dann so laut spricht und herumficht und seine schwarzen Locken schüttelt, dann bin ich aus meiner Andacht heraus.‹ ›Heraus?‹ Effi lachte. ›Du meinst, ich war noch gar nicht drin. Und es wird wohl so sein. Aber an wem liegt das? Das liegt doch nicht an mir. Er spricht immer so viel vom alten Testament. Und wenn es auch ganz gut ist, es erbaut mich nicht‹« (314).

›Er‹: gemeint ist Paulus Stephanus [Selig] Cassel (1821–1892), als Sohn eines jüdischen Bildhauers in Schlesien geboren, zunächst royalistischer Journalist, nach seiner Taufe 1855 Sekretär der Erfurter Akademie, 1866/67 Abgeordneter der Konservativen Partei im Preußischen Abgeordnetenhaus. Seit 1867 engagierte sich Cassel für die Judenmission und wurde Pastor an der freikirchlich orientierten Christuskirche. Anders aber als andere Konvertiten setzte sich Cassel im Zuge des Berliner Antisemitismusstreits vehement für die Juden ein und verfasste in den 1880er Jahren Broschüren gegen Heinrich von Treitschke, Adolph Stoecker, Eduard von Hartmann und die antisemitischen Bayreuther Blätter (Der Judengott und Richard Wagner, 1885). Wenn Effi in Cassels Predigten zu viel Altes Testament entdeckt, impliziert das indirekt, es könne mit dem Christentum des Konvertiten nicht so weit her sein, der im Übrigen in seinem über-

legenen Intellekt und seiner übertriebenen Rhetorik und Gestik auch äußerlich als Jude markiert wird (vgl. Mecklenburg 2018, 209–210). In einem Gespräch mit dem Spiegel fand der Historiker Gordon A. Craig eine treffende Formel für die Eigenart Fontanes als Zeitzeuge und Schriftsteller: »Er teilte die Schwächen seiner Zeit, und er teilte sie uns mit« (Craig 1997, 278). Damit werden zwei Aspekte deutlich gemacht: Fontanes Fähigkeit zur literarischen Kommunikation mit Blick auf das weite Feld gesellschaftlicher Entwicklungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (s. Kap. 2, 6–8) und die Teilhabe des Autors nicht nur an den positiven Errungenschaften seiner Zeit, sondern auch an deren Schwächen. Eine der unübersehbaren Schwächen der deutschen und europäischen Gesellschaft war die ungelöste ›Judenfrage‹, an ihr hat sich Fontane als Zeitgenosse wie viele seiner schriftstellerischen Kollegen lebenslang vergeblich abgearbeitet. In seinem Erzählwerk ist er jedoch zu ästhetisch überzeugenden, weil den zeitgenössischen Diskurs kritisch reflektierenden Ergebnissen gelangt (s. Kap. 41, 42). Dies gilt vor allem auch für seinen bedeutendsten Roman Effi Briest. Literatur Anderson, Paul Irving: »Wie in einer E. T. A. Hoffmann’schen Erzählung«. Eine Bayreuther Attacke und Fontanes ›Effi Briest‹. In: E. T. A. Hoffmann-Jahrbuch 12 (2004), 90–108. Craig, Gordon A.: »Ein Bild der Zeit im Plauderton«. In: Der Spiegel 43 (1997), 274–278. Fleischer, Michael: »Kommen Sie, Cohn.« Fontane und die »Judenfrage«. Berlin 1998 (Neuedition: Fontane und die »Judenfrage«. Berlin 2009). Hoffmann, Elisabeth: »Annie von Innstetten« ‒ noch eine Nebenfigur in Fontanes ›Effi Briest‹. Zur Dekonstruktion einer Schlüsselszene des Romans. In: FBl 57 (1994), 77–87. Horch, Hans Otto: Annäherungen an ein Jahrhundertereignis. Theodor Fontanes Verhältnis zu Richard Wagner und zum Wagnerismus: ein Thema mit Variationen nebst Introduktion und Koda. In: Robert Leroy/Eckart Pastor (Hg.): Deutsche Literatur um 1890. Festschrift zum hundertjährigen Gründungsjubiläum der Philosophischen Fakultät der Universität Lüttich. Bern 1991, 31–73 (Kurzfassung: Ansichten des 19. Jahrhunderts. In: FBl 6, H. 3, H. 41 der Gesamtreihe (1986/1), 311–324). Horch, Hans Otto: Theodor Fontane, die Juden und der Antisemitismus. In: FHb, 281–305. Horch, Hans Otto: Von Cohn zu Isidor. Jüdische Namen und antijüdische Namenspolemik bei Theodor Fontane. In: Hanna Delf von Wolzogen, in Zusammenarbeit mit Helmuth Nürnberger (Hg.): Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts. Internationales Symposium des Theodor-Fontane-Archivs zum 100. Todestag Theodor Fontanes 13.–17. September 1998 in Potsdam, Bd. I. Würzburg

10 Anmerkungen zur ›Judenfrage‹ 2000, 169–181 (auch in: Bettina Plett (Hg.): Theodor Fontane. Neue Wege der Forschung. Darmstadt 2007, 174– 186). Katz, Jakob: Richard Wagner. Vorbote des Antisemitismus. Königstein/Ts. 1985. Kremnitzer, John: Fontanes Verhältnis zu den Juden. Diss. Phil. New York 1972. Mecklenburg, Norbert: Theodor Fontane. Romankunst der Vielstimmigkeit. Frankfurt a. M. 1998. Mecklenburg, Norbert: Theodor Fontane. Realismus, Redevielfalt, Ressentiment. Stuttgart 2018. Paulsen, Wolfgang: Theodor Fontane. The Philosemitic Antisemite. In: Leo Baeck Institute Year Book 26 (1981), 303–322 (auch in: Ders.: Der Dichter und sein Werk. Von Wieland bis Christa Wolf. Ausgewählte Aufsätze zur deutschen Literatur. Frankfurt a. M. u. a. 1993, 267–290). Remak, Henry H. H.: Politik und Gesellschaft als Kunst. Güldenklees Toast in Fontanes ›Effi Briest‹. In: Jörg Thunecke (Hg.): Formen realistischer Erzählkunst. Festschrift für Charlotte Jolles. Nottingham 1979, 550–562. Remak, Henry H. H.: Fontane und der jüdische Kultureinfluß in Deutschland: Symbiose und Kontrabiose. In: Hanna Delf von Wolzogen, in Zusammenarbeit mit Helmuth Nürnberger (Hg.): Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts. Internationales Symposium des Theodor-

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Fontane-Archivs zum 100. Todestag Theodor Fontanes 13.–17. September 1998 in Potsdam, Bd. 1. Würzburg 2000, 183–195. Schillemeit, Jost: Judentum und Gesellschaft als Thema Fontanes. In: Ders.: Studien zur Goethezeit. Hg. von Rosemarie Schillemeit. Göttingen 2006, 498–518. Simon, Ernst: Theodor Fontanes jüdischer Komplex. In: Neue Zürcher Zeitung vom 16.8.1970 (unter dem Titel »Theodor Fontanes jüdische Ambivalenz« auch in: Ders.: Entscheidung zum Judentum. Essays und Vorträge. Frankfurt a. M. 1980, 266–275). Schmidt, Michael: »Wie ein roter Faden«. Fontanes Antisemitismus und die Literaturwissenschaft. In: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 8 (1999), 350–369. Vaget, Hans Rudolf: Thomas Mann und Theodor Fontane. Eine rezeptionsästhetische Studie zu ›Der kleine Herr Friedemann‹. Modern Language Notes 90, 3, The German Issue: Thomas Mann, 1875–1975 (1975), 448–471. Vaget, Hans Rudolf: Fontane, Wagner, Thomas Mann. Zu den Anfängen des modernen Romans in Deutschland. In: Eckhard Heftrich u. a. (Hg.): Theodor Fontane und Thomas Mann. Die Vorträge des Internationalen Kolloquiums in Lübeck 1997. Frankfurt a. M. 1998, 249–274.

Hans Otto Horch

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II Autor und Werk

11 Effi und Cécile: Bezüge zu Figuren und Motiven in Fontanes Werk Romane eines Zeitzeugen Fontane gilt als Begründer des ›repräsentativen Zeitromans‹ (FHb, 467), Effi Briest ist der bekannteste (s. Kap. 6). Der Roman spielt in der jüngsten Vergangenheit der zeitgenössischen Erstleser und verhandelt Fragen, die für Gegenwart und Zukunft relevant sind, etwa nach der Stellung der Frau in der Familie, nach den Gründen für eine Eheschließung und nach dem Umgang mit Sexualität (s. Kap. 24), aber auch – und vielleicht vor allem – die Frage nach einer politischen Ordnung, die eine möglichst freie Entfaltung des Individuums ermöglicht (Neuhaus 2017, 187–198). Fontane gilt als »Zeuge seines Jahrhunderts« und als »Jahrhunderterscheinung« (FHb, 103). Diese Formulierungen Dietmar Storchs lassen sich nicht nur mit einem Blick auf seine Lebensdaten, sondern vor allem auf sein erzählerisches Werk bestätigen und präzisieren. Dabei zeigen sich die Grenzen von Zeitroman und Historischem Roman als nicht so eng gesteckt, wie man vermuten könnte. Die Handlungszeit von Fontanes erzählerischem Werk umspannt das ganze 19. Jahrhundert (Schach von Wuthenow spielt 1806, Vor dem Sturm – wie der Untertitel bereits besagt – im »Winter 1812 auf 13«) oder geht sogar darüber hinaus (Grete Minde spielt am Beginn des 17. Jahrhunderts, Ellernklipp in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts). Ein Blick auf seine Texte (oder auf die anderer Autor*innen) zeigt, dass auch Historische Romane zeitgenössische Probleme verhandeln und daher als ›Zeitromane in historischem Gewand‹ gelesen werden können (Neuhaus 2001). Auch in den ›historischen Romanen‹ Fontanes wird die Frage nach der passenden Paarbeziehung verhandelt. Wenn in seinem ersten Roman Vor dem Sturm Lewin von Vitzewitz die bürgerliche Marie Kniehase heiraten darf, obwohl sie nicht nur die Adoptivtochter des Dorfschulzen, sondern auch von unklarer Herkunft ist, dann wird mit dem Typus der ›Sternenprinzessin‹ (NTA 2, 1, 9; 2, 630 und 636) auf eine an das Märchen gemahnende Weise ein neuer poetischer Adel geschaffen.

Parallelen zu anderen Erzähltexten Die gelingenden Mesaillancen sind in Fontanes erzählerischem Werk zwar in der Minderzahl, doch gibt es mit L ’Adultera, Frau Jenny Treibel und Der Stechlin weitere prominente Beispiele. In L ’Adultera kann das junge Liebesglück nur durch die Einwilligung des Gatten in eine Scheidung sichergestellt werden; der Ehebruch steht bereits im Titel, der auf ein Tintoretto-Gemälde anspielt. Melanie de Caparoux heiratet wie Effi mit etwa siebzehn Jahren den viel älteren Berliner Geschäftsmann Ezechiel van der Straaten. Insofern könnte dieser Roman als Parallelgeschichte mit gutem Ausgang oder als Gegenentwurf gelesen werden. Zwischen Happy End und Sad Ending steht die in Irrungen, Wirrungen (Vorabdruck 1887, Buchausgabe 1888) gefundene Lösung; die Liebespartner heiraten – aber eine oder einen anderen (s. Kap. 12). Am deutlichsten sind die Parallelen zu dem fast ein Jahrzehnt vor Effi Briest erschienenen Roman Cécile (Vorabdruck 1886, Buchausgabe 1887), dem man allerdings unrecht tun würde, wenn man ihn lediglich als Vorstufe zu seinem berühmten Schwesterroman betrachtete. Auch hier handelt es sich um eine Dreiecksgeschichte mit tödlichem Duell-Ausgang. Die immer noch junge Cécile ist mit dem deutlich älteren Oberst a. D. Pierre von St. Arnaud verheiratet, als sie während einer Urlaubsreise im Harz den Ingenieur Robert von Gordon kennenlernt. Die beiden verlieben sich ineinander, aber Cécile gibt dem Drängen Gordons nicht nach. Wie Gordon lernt, ist sie in ihrer frühen Jugend zur zweifachen Mätresse geworden und konnte dem sozialen Abstieg nur durch die Heirat mit dem Oberst entkommen, dem sie dafür dankbar ist, auch wenn sie ihn fürchtet, nicht zuletzt wegen seiner Eifersucht. Effi und Cécile sind abhängig von ihren deutlich älteren Männern, die sie nicht lieben; es handelt sich um konventionelle Versorgungsehen (s. Kap. 23, 24). Allerdings ist Innstetten die vielschichtigere Figur. St. Arnaud ist es vor allem um seine eigene Ehre zu tun, während Innstetten einen allgemeinen Ehrbegriff glaubt verteidigen zu müssen. St. Arnaud erschießt Gordon, obwohl dieser bestenfalls geistigen Ehebruch begangen hat. Cécile, die kein Kind hat, wird von ihrem Mann nicht verstoßen, aber auch sie stirbt am Ende des Romans: Sie nimmt sich das Leben. Wie Effi ist Cécile eine Verführte; beide werden durch ihre Mütter in die Hände von wohlhabenden Männern gegeben, die sich in der einen oder anderen Weise als falsche Wahl herausstellen.

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2019 S. Neuhaus (Hg.), Effi Briest-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04874-5_11

11 Effi und Cécile: Bezüge zu Figuren und Motiven in Fontanes Werk

In allen Romanen und in den Erzählungen, die – entgegen Fontanes eigenem Begriffsgebrauch, der lediglich die Ehebruchsgeschichte L ’Adultera als Novelle betitelte (FHb, 457) – oftmals auch als Novellen bezeichnet werden, wobei auch Novellen und Erzählungen zu Romanen aufgewertet worden sind (L ’Adultera firmiert z. B. in der NTA als Roman), finden sich nicht nur zahlreiche, in den symbolischen Kosmos des jeweiligen Werks eingepasste Verweise auf Geschichte und Zeitgeschichte, auch sind die Figuren als prototypische Vertreter der gesellschaftlichen Ordnung angelegt (s. Kap. 26). Ehe und Ehebruch werden oftmals zum Prüfstein dieser Ordnung, nicht immer mit Sympathie für den ehebrechenden Partner angesichts der Folgen wie bei Effi Briest. In dem Roman Unwiederbringlich wird der Seitensprung des männlichen Protagonisten, des Grafen Helmuth Holk, mit der in Liebesangelegenheiten äußerst erfahrenen Ebba von Rosenberg zwar auch tödliche Folgen zeitigen. Holk wird allerdings als jemand charakterisiert, der nicht weiß, was er will, und der sich aus Schwäche und Gelegenheit verführen lässt. Seine religionsstrenge Frau mit dem dazu passenden Namen Christine versucht, sich mit ihrem reuigen Mann zu versöhnen, nimmt sich aber schließlich das Leben. Die Sympathie liegt einmal mehr bei dem weiblichen Ehepartner, dessen Schuld allerdings ›nur‹ in einer vom Herrnhuther Glauben beeinflussten Sittenstrenge zu suchen ist – insofern ist Christine eher eine Gegenfigur zu der wenig sittenstrengen Effi. Es finden sich allerdings verwandte Motive, so ist der Schlittschuhlauf über den gefrorenen See kurz vor dem Ehebruch (NTA 10, 191) mit der durch den Schloon gefährdeten, ebenfalls in erotischem Kontakt zwischen den außerehelichen Liebespartnern mündenden Schlittenfahrt vergleichbar. In beiden Fällen deutet der in seiner Tragfähigkeit unzuverlässige Untergrund auf das weitere Geschehen voraus. Dass von St. Arnaud ein Oberst a. D. ist, ist ebenso wenig ein Zufall wie Gordons schottische Herkunft. Das Schicksal Céciles als Mätresse erinnert an Lessings Emilia Galotti, nur dass im Falle Céciles die eigene Mutter aus ökonomischen Interessen zur Kupplerin wurde. Überhaupt spielen ökonomische Zusammenhänge bei den Eheschließungen in der Regel eine herausragende Rolle. Wenn in Frau Jenny Treibel die Tochter eines Kolonialwarenhändlers mit dem sprechenden Namen Jenny Bürstenbinder durch Heirat zur Kommerzienrätin aufsteigt und der Tochter ihrer Jugendliebe Wilibald Schmidt, Corinna, einen vergleichbaren sozialen Aufstieg durch die Eheschließung mit ihrem schwachen Sohn Leopold verweigert,

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dann wird die ökonomisch grundierte ›Codierung von Intimität‹ (Luhmann 1994) einer ironisch-kritischen Revision unterzogen. Insofern lässt sich die Heirat Corinnas mit ihrem Cousin Marcell Wedderkopp, im Rahmen des (auch in diesem Namen sichtbaren) ironischen Romankonzepts, durchaus als Happy Ending lesen (Neuhaus 1998). Den offensichtlichen Bezug zwischen den Frauenfiguren hat Fontane selbst in einem Brief an Colmar Grünhagen vom 10. Oktober 1895 deutlich markiert: »Der natürliche Mensch will leben, will weder fromm noch keusch noch sittlich sein, lauter Kunstprodukte von einem gewissen, aber immer zweifelhaft bleibenden Wert, weil es an Echtheit und Natürlichkeit fehlt. Dies Natürliche hat es mir seit lange angetan, ich lege nur darauf Gewicht, fühle mich nur dadurch angezogen, und dies ist wohl der Grund, warum meine Frauengestalten alle einen Knacks weghaben. Gerade dadurch sind sie mir lieb, ich verliebe mich in sie, nicht um ihrer Tugenden, sondern um ihrer Menschlichkeiten, d. h. um ihrer Schwächen und Sünden willen. Sehr viel gilt mir auch die Ehrlichkeit, der man bei den Magdalenen mehr begegnet als bei den Genoveven. Dies alles, um Cécile und Effi ein wenig zu erklären« (DÜW 2, 357–358).

Effi und Cécile Cécile ist das ältere Werk und dennoch immer die kleine Schwester von Effi Briest geblieben. »Trotz früher Anerkennung der feinen Psychologie und des impressionistischen Stils hat sich das Werk nie recht durchgesetzt, vielleicht wegen der kühlen Atmosphäre, die die Hauptgestalt umgibt« (Jolles 1993, 59). Wie Effi Briest (s. Kap. 9) beruht Cécile auf einer ›wahren‹ Begebenheit: »Die Handlung des Romans geht auf eine am Dinertisch des Grafen Philipp Eulenburg erzählte, St. Arnauds Duell und Verlobung mit Cécile stark ähnelnde Episode aus dem Leben des zweiten Eulenburgschen Sohns zurück [...]« (FHb, 563). Hier handelt es sich allerdings, anders als bei Effi Briest, um eine zurückliegende Duell-Geschichte, die Handlung setzt erst viel später ein. Dennoch ist notierenswert, dass Fontanes häufig geübte Praxis, sich von Erzählungen seiner Freunde und Bekannten anregen zu lassen, auch für diese beiden Romane gilt. In beiden Romanen wird bereits am Anfang die Differenz von (zukünftigem) Gatten und Titelfigur markiert. »Der ältere Herr, ein starker Fünfziger [...]«,

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II Autor und Werk

wird von St. Arnaud eingeführt, Cécile hingegen als »schlanke, schwarzgekleidete Dame« (NTA 8, 7). Der auktoriale und dennoch nur bedingt zuverlässige Erzähler vermutet: »Täuschte nicht alles, so lag eine ›Geschichte‹ zurück, und die schöne Frau (worauf auch der Unterschied der Jahre hindeutete) war unter allerlei Kämpfen und Opfern errungen« (NTA 8, 9). Noch deutlicher wird Gordon in einem Selbstgespräch: »Dahinter steckt ein Roman. Er ist über zwanzig Jahre älter als sie. Nun, das ginge schließlich, das bedeutet unter Umständen nicht viel. Aber den Abschied genommen, ein so brillanter und bewährter Offizier!« (NTA 8, 15). Aufschlussreich ist, dass hier das ›Opfer‹ als beiderseitiges markiert wird; aus der Perspektive der Figur hat sogar der Mann, durch das Ausscheiden aus seiner Position in der Armee, das größere Opfer gebracht. Dies passt zu Gordons Angepasstheit an das Wertesystem, auf die noch zurückzukommen sein wird. Angesichts der differenzierten Figurenzeichnung greift es wohl zu kurz, lediglich die »Frau als reines Objekt und Opfer« zu sehen, wie es Charlotte Jolles für die Forschung bis in die 1990er Jahre bilanziert (Jolles 1993, 60). Die viel diskutierte Frage der Schuld lässt sich auch nicht dadurch lösen, dass man Cécile zu einem für Fontanes Erzähltexte typischen ›Elementarwesen‹ erklärt (Jolles 1993, 59). Angesichts der Stärke und Selbstbestimmtheit, die Cécile zeigt, insbesondere in den Gesprächen mit Gordon und in ihrem Freitod, lässt sich wohl auch nicht von einer reinen ›femme fragile‹ sprechen, wie dies offenbar als neuer, oberflächlicher Standard durch Studienarbeiten geistert, die als Beitrag zur Forschung im Netz veröffentlicht werden (hier wird bewusst auf einen Literaturhinweis verzichtet und auf die Suche bei Google Books verwiesen). Beide Titelfiguren zeigen ein für das ausgehende 19. Jahrhundert typisches weibliches Krankheitsbild (Haberer 2012). Bei beiden Frauen sind es die Erfahrungen mit Mesaillancen und Ehen, also mit ihren männlichen Partnern, die zu ihrer Kränklichkeit führen (s. Kap. 25, 35, 43). Gordon findet hierzu deutliche Worte (NTA 8, 153), die zwar nicht unwidersprochen bleiben, weil es auch Gordon um das Ausleben seiner Liebe und Leidenschaft zu tun ist, während sich Cécile »nach Stille, nach Idyll und Frieden« sehnt, ebenso »nach Unschuld«, denn: »Ich habe Schuld genug gesehen« (NTA 8, 155). Dies ist freilich auch ein deutlicher Hinweis auf die Krankheitsursachen, in diesem Fall auf die zu Anfang angesprochene, zurückliegende »Geschichte«, die erst gegen Ende des Romans mitgeteilt wird, in einem – verhängnis-

voll wirkenden – Brief aus der Feder von Gordons Schwester Klothilde. Wie Effi ist auch Cécile von ihrer Mutter mit siebzehn Jahren verkuppelt worden, hier allerdings ohne Eheschließung und an einen bereits ›alten‹ Fürsten, der schon bald das Zeitliche segnete und durch den kränkelnden Neffen abgelöst wurde, wieder ohne Trauschein und von begrenzter Dauer. Entgegen der allgemeinen Erwartung folgte keine Eheschließung mit dem »von ihr protegierten Kammerherrn von Schluckmann«, vermutlich aus gesellschaftlich-moralischen Bedenken seitens des potenziellen Bräutigams (NTA 8, 143–144). Wie schon in Effi Briest zeigt sich auch in Cécile die Figur, von der man (in dem Fall aufgrund der internationalen Biographie) am meisten Unangepasstheit an die Werte und Normen der preußisch-deutschen Gesellschaft erwarten würde, genau diesen Werten erkennbar verhaftet. Gordon ist, »trotzdem ihm die Tage preußischer Disziplin um mehrere Jahre zurücklagen« (NTA 8, 19), in seinem Verhalten dennoch St. Arnaud sehr ähnlich. In der Wahl zwischen der Besichtigung von Kirche oder Schloss sind beide der folgenden, bezeichnenden Meinung: »Endlich entschied der Oberst mit einem Anfluge von Ironie dahin, daß Herrendienst vor Gottesdienst gehe, welchem Entscheide Gordon in gleichem Tone hinzusetzte: ›Preußen-Moral! Aber wir sind ja Preußen‹« (NTA 8, 41– 42). Die Ironie dient hier nicht der Subvertierung des Preußischen, sie unterstreicht dessen Selbstgefälligkeit. Nonchalant wird eine Umkehrung jenes grundlegenden Wertesystems gebilligt, mit dem sich gerade das preußische Königshaus – als ›von Gottes Gnaden‹ eingesetzt – immer gerechtfertigt hat. Beide Herren schätzen klassische Bildung (s. Kap. 31) und äußere Formen, dabei achten sie weniger darauf, menschliche Rücksichten zu nehmen. Das zeigt sich in beider Verhalten gegenüber Cécile, die diese klassische Bildung nicht besitzt, aber dafür ein feines Gespür für zwischenmenschliches Verhalten (NTA 8, 24–26, 100 u. a.). Gordons Einschätzung deckt sich mit dem Romangeschehen: »Aber sie besitzt dafür ein anderes, was alle diese Mängel wieder aufwiegt: eine vornehme Haltung und ein feines Gefühl, will sagen: ein Herz« (NTA 8, 53). Dabei ist Cécile, wie Effi, in ihrer Natürlichkeit eine ›Tochter der Luft‹: »Sie war wohl eigentlich ihrer ganzen Natur nach auf Reifenwerfen und Federballspiel gestellt und dazu angetan, so leicht und graziös in die Luft zu steigen wie selber ein Federball« (NTA 8, 53–55). Dass der Roman Gordon die Einsicht in Céciles Mitmenschlichkeit gewährt und St. Arnaud als jemand dargestellt wird, dem es vor

11 Effi und Cécile: Bezüge zu Figuren und Motiven in Fontanes Werk

allem darum geht, »eine schöne Frau zu besitzen« (so Rosa Hexel: NTA 8, 141), steigert die Problematik der Konstellation, die etwa äußerlich dadurch markiert wird, dass Gordon an der Tafel an Céciles linke Seite gesetzt wird, während der Ehemann selbstverständlich den Platz an ihrer rechten beansprucht. Königliche und fürstliche Mätressen wurden früher Zur linken Hand getraut, wie es im Titel eines der Erfolgsromane der Unterhaltungsschriftstellerin Hedwig CourthsMahler heißt. Aufschlussreich ist, dass hier der Mann die Mätressenposition zugewiesen bekommt – die Durchkreuzung von stereotypen Zeichnungen der Geschlechter in Fontanes Romanen wäre eine eigene Untersuchung wert (s. Kap. 41, 43). Gordon kann seinen moralischen Vorteil aber nicht nutzen, im Gegenteil. Als er von seiner Schwester über die Geschichte Céciles als, wie er es nennt, »Favoritin in duplo« unterrichtet wird, »war ihm, als ob er ersticken sollte« (NTA 8, 145) und er verfällt der üblichen Doppelmoral. Als er, nachdem ihn Cécile freundlich in seinem Verhalten zurechtgewiesen hat, »wieder zur Besinnung« kommt und weil er sich, wie er dann selbst einsieht, »wirklich dem Augenblick überlassen« hat (NTA 8, 155), mäßigt er sich – allerdings nur vorübergehend. Als er Cécile in Begleitung des Geheimrats im Theater erblickt, leidet er »Höllenqualen« von Eifersucht und lässt sich vor dem angenommenen »Nebenbuhler« zu verletzenden Anspielungen hinreißen (NTA 8, 162–163). Dass ausgerechnet Don Juan gegeben wird (NTA 8, 165), motiviert auf symbolische Weise die Schwere der Tat zusätzlich. Seine Bankrotterklärung findet Gordon in Céciles bestimmtem, nach wie vor freundlichem Verhalten, das äußere und innere Bildung kontrastiert: »Was Sie Beredsamkeit nennen, nenn’ ich einfach ein Herz« (NTA 8, 169). Noch deutlicher fällt der Kontrast zu St. Arnaud aus, von dem der Erzähler weiß: »Nicht das Liebesabenteuer als solches weckte seinen Groll gegen Gordon, sondern der Gedanke, dass die Furcht vor ihm, dem Manne der Determiniertheiten, nicht abschreckender gewirkt hatte« (NTA 8, 173). Gordon darf schließlich vor seinem Tod noch – in einem Brief an Cécile – erkennen: »Ich hätte, statt Zweifel zu hegen und Eifersucht großzuziehen, Ihnen vertrauen und der Stimme meines Herzens rückhaltlos gehorchen sollen« (NTA 8, 176). Ob er unmittelbar vor dem Duell die Hand der Versöhnung, die ihm St. Arnaud entgegengestreckt haben will (NTA 8, 177), aus Wunsch nach Buße für Schuld oder aus Gehorsam gegenüber dem preußischen Wertekosmos zurückweist, bleibt offen.

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Auch in Cécile deutet sich schon das Motiv des Hundes gleicher Rasse (ein Neufundländer) an, dessen mitfühlendes Verhalten dem der Menschen überlegen ist (NTA 8, 29, 109) – ein weiterer Baustein in der bitteren Bilanz der buchstäblich tödlich wirkenden, rigiden gesellschaftlichen Ordnung. Während solche Bausteine in Cécile eher eingestreut wirken, scheinen sie in Effi Briest, etwa durch die prominentere Rolle des Hundes oder die verhandelten genealogischen Fragen, konsequenter eingesetzt. Beide Romane arbeiten einerseits mit zahlreichen Vorausdeutungen auf die Gründe für das spätere, tödliche Duell (die in Cécile sowohl in der Vergangenheit wie auch der Erzählgegenwart liegen), andererseits mit Charakterisierungen der zentralen Figuren durch Symbole (s. Kap. 21) oder Parallelgeschichten, etwa wenn in beiden Romanen auf Arnold Böcklins Gemälde Die Gefilde der Seligen angespielt wird, das jeweils, vielleicht um die Anspielung auf den Mythos zu betonen, als »Insel der Seligen« firmiert (24; NTA 8, 121). In Cécile webt Fontane ein ähnlich dichtes Netz an Vorausdeutungen und Symbolen wie später in Effi Briest. Ein Beispiel ist die auf einem Spaziergang entdeckte Villa, die zunächst wie »das ›verwunschene Schloß‹ im Märchen« erscheint, sich dann aber als Ort des Grauens entpuppt: »Es geht ein finsterer Geist durch dieses Haus, und sein letzter Bewohner erschoß sich hier [...]« (NTA 8, 23). Das auf einem Spaziergang gesehene Jagdschloss mit dem sprechenden Namen Todtenrode ist gar ein Ort der Mätressenwirtschaft (NTA 8, 83). So wird auch Rosa Hexels freundliche Prognose: »Einem armen Mädchen, Prinzessin oder nicht, wird immer geholfen, da tut der Himmel seine Wunder [...]« (NTA 8, 31–32), durch das weitere Geschehen konterkariert. Das Märchenmotiv wird den ganzen Roman durchziehen, etwa wenn sich der »Spiegel aus Bergkristall« (NTA 8, 43), der »Kristallspiegel« (NTA 8, 45), der auch ein magisches Märchenrequisit sein könnte, durch Abwesenheit auszeichnet und mit dem Mätressenwesen in Verbindung gebracht wird, das Gordon – eine Vorausdeutung auf sein späteres scheinheiliges Verhalten – scharf verurteilt (NTA 8, 47–48). Allerdings gibt es auch positive Parallelfiguren und -geschichten, etwa die Episode in Burg Rodenstein mit der Bekanntschaft der Tochter des Präzeptors, deren folgende Worte am Ende eines Abschnitts stehen und dadurch zusätzlich betont werden: »Aber ich denke, die Gnade rechnet mehr unsere Guttat an als unsere Schuld« (NTA 8, 91). Eine weitere Gemeinsamkeit, die freilich für alle Texte Fontanes typisch ist, ist der Einsatz intertextuel-

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II Autor und Werk

ler wie historischer Referenzen zur Charakterisierung und Motivierung von Figuren und Handlung (s. Kap. 33), etwa wenn ein Urlauber aus Berlin den Namen Robert von Leslie-Gordon wie folgt kommentiert: »Das ist ja der reine ›Wallensteins Tod‹« (NTA 8, 22). Der Roman »[...] spielt damit auf Johann Gordon, kaiserlicher Obrist unter Wallenstein, an, der sich als Kommandant von Eger für die Beteiligung an der Ermordung Wallensteins gewinnen ließ. Er meint damit jedoch eher die Dramen- als die historische Gestalt [...]« (Fischer 1999, 36–37). Allerdings ist die Anspielung eine doppelte, denn es gibt auch einen historischen »Mr. Lewis D. B. Gordon«, der wie die Romanfigur als Ingenieur für die Verlegung von TelegraphieKabeln zuständig war und mit Werner von Siemens zusammenarbeitete (ebd., 39). Wenn also Gordon feststellt: »Ja, dergleichen ist mehr als Spielerei, die Namen haben eine Bedeutung«, dann ist das ein Wink mit dem Zaunpfahl in Richtung der Leserschaft, auf solche Verweise zu achten (vgl. auch Böschenstein 1996). Dies gilt ebenso für die Bedeutung des Namens Cécile, der hier mit der heiligen Cäcilie in Verbindung gebracht wird, der »musikalischen und sogar heiliggesprochenen Namensschwester«, wenngleich in provokativer Negation: »Die Heiligkeit gewiß nicht und auch kaum die Musik« habe sie, meint Cécile, mit der Patronin gemein (NTA 8, 81). Gerade durch den Verweis wird aber einmal mehr auf die Integrität der Figur hingewiesen, die sich von ihren männlichen Begleitern nicht durch äußerliche (gesellschaftlich-moralische), sondern durch charakterliche Tugenden abhebt. In der Charakterisierung Céciles und Gordons findet sich, nicht zuletzt über das Motiv des Schottischen (NTA 8, 57), auch ein komplexer intertextueller Verweis auf Schillers Maria Stuart und ihr berühmtes Vorbild (NTA 8, 62, 107 u. a.; vgl. auch Neuhaus 1996, 260–289). So waren es die frühe Verheiratung und die unglücklichen Ehe- und Liebesverhältnisse, die für den Tod Maria Stuarts mit verantwortlich zeichneten. Dass Cécile im Tod ein Kreuz hält und sich als Kon-

vertitin zum Katholizismus bekennt (NTA 8, 179), gehört in diesen Kontext und kann zugleich einmal mehr als Vorwurf gegen auf das rigide preußisch-protestantische System gelesen werden (s. Kap. 30). Beide Romane üben scharfe Kritik am Werte- und Normensystem der zeitgenössischen Gesellschaft, die Übereinstimmungen gehen teilweise sogar ins Wörtliche. Wenn in Effi Briest von »Ehrenkultus« und »Götzendienst« (280), von dem »uns tyrannisierende[n] Gesellschafts-Etwas« (278) die Rede ist, so darf in Cécile der keineswegs positiv gezeichnete Geheimrat Hedemeyer die freilich auch auf ihn selbst anzuwendende Kritik äußern: »Rund heraus, wir schwelgen in einem unausgesetzten Götzen- und Opferdienst« (NTA 8, 133). Literatur Böschenstein, Renate: Caecilia Hexel und Adam Krippenstapel. Beobachtungen zu Fontanes Namengebung. In: FBl 62 (1996), 30–57. Fischer, Hubertus: Gordon oder Die Liebe zur Telegraphie. In: FBl 67 (1999), 36–58. Haberer, Anja: Zeitbilder. Krankheit und Gesellschaft in Theodor Fontanes Romanen ›Cécile‹ (1886) und ›Effi Briest‹ (1894). Würzburg 2012. Jolles, Charlotte: Theodor Fontane. Stuttgart/Weimar 41993. Luhmann, Niklas: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt a. M. 1994. Neuhaus, Stefan: Freiheit, Ungleichheit, Selbstsucht? Fontane und Großbritannien. Frankfurt a. M. u. a. 1996. Neuhaus, Stefan: Warum sich Herz zum Herzen find’t. Die Bedeutung eines Schiller-Zitats für die Interpretation von Fontanes ›Frau Jenny Treibel‹. In: Literatur in Wissenschaft und Unterricht 31, H. 2 (1998), 189–195. Neuhaus, Stefan: Zeitkritik im historischen Gewand? Fünf Thesen zum Gattungsbegriff des »Historischen Romans« am Beispiel von Theodor Fontanes ›Vor dem Sturm‹. In: Osman Durrani/Julian Preece (Hg.): Travellers in Time and Space/Reisende durch Zeit und Raum. The German Historical Novel/Der deutschsprachige historische Roman. Amsterdam/New York 2001, 209–225. Neuhaus, Stefan: Grundriss der Neueren deutschsprachigen Literaturgeschichte. Tübingen/Basel 2017.

Stefan Neuhaus

12 Bezüge zu Irrungen, Wirrungen

12 Bezüge zu Irrungen, Wirrungen Anders als bei Effi Briest hat der Vorabduck von Irrungen, Wirrungen in der Vossischen Zeitung im Sommer 1887 einen Skandal ausgelöst: Die unverhohlene Sympathie, mit der hier von einer standeswidrigen Liebesbeziehung zwischen einem adligen Offizier und einer Näherin erzählt wurde, empörte einen Teil der Leserschaft, zumal in der Romanhandlung dem ›Frevel‹ nicht einmal die ›verdiente Strafe‹ folgt (s. Kap. 15). Magdalene Nimptsch, genannt Lene, trägt ihren Namen einerseits nach der von den Kirchenvätern zur reuigen Sünderin gemodelten Jüngerin Maria Magdalena, andererseits, wie man vermutet, im Sinne einer Hommage an den von Fontane verehrten Dichter Nikolaus Lenau (eigentlich: Nikolaus Niembsch Edler von Strehlenau); allerdings gab es auch eine niederschlesische Kreisstadt Nimptsch (heute: Niemcza), in der 1884 ein Offizier namens Sellenthin tätig war (GBA 10, 251). Im Übrigen ist Lene ja die nur angenommene Pflegetochter der alten Frau Nimptsch; wie sie ursprünglich hieß, erfahren wir nicht. Ob man im durchaus geläufigen Nachnamen ihres Geliebten Botho von Rienäcker das französische »rien« = »nichts« mitbedenken soll, steht dahin; immerhin hat Bothos Vater das Familienerbe ja so heruntergewirtschaftet, dass »von gutem Boden« kaum etwas übrig geblieben ist (GBA 10, 50). Lenes Alter wird uns nicht verraten; älter als die 18-jährige Lina (GBA 10, 20) soll sie sicherlich sein, und so überrascht es ein wenig, wenn Jahre später an ihrem Hochzeitstag von ihr als »einem sehr hübschen Mädchen« die Rede ist (GBA 10, 189). Noch ausgiebiger als Effi ist Lene von mehreren Spiegel- und Kontrastfiguren umgeben, mit dem Ziel, ihr Anderssein, ihre Besonderheit hervortreten zu lassen (s. Kap. 44). Die gutmütige, aber derbe Frau Dörr hat ehemals auch eine Liebschaft mit einem Adligen gehabt, einem Grafen, der allerdings »seine fuffzig auf ’m Puckel« hatte und »immer kreuzfidel und unanständig« war (GBA 10, 8). Als sie Bothos Umgang mit Lene beobachtet, kommt sie zu dem Schluss: »Nei, so war meiner nich« (GBA 10, 9). Noch deutlicher wird der Kontrast im scheinbar Gleichen, als Botho und Lene in Hankels Ablage von Bothos Offizierskameraden mit ihren Freundinnen überrascht werden. Die groteskerweise nach Figuren aus Schillers Jungfrau von Orleans benannten Halbweltdamen erhoffen sich materielle Vorteile, um sich später, wie Frau Dörr, ›ordentlich‹ verheiraten zu können (so jedenfalls die Pläne der ›Königin Isabeau‹, GBA 10, 96). Lene verfärbt sich und ›Isa-

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beau‹ erkennt: »Sie sind wohl am Ende mit hier dabei (und sie wies aufs Herz) und thun alles aus Liebe? Ja, Kind, denn is es schlimm, denn giebt es ’nen Kladderadatsch« (GBA 10, 97). Lene will nichts als Liebe, sie weiß von Anfang an, dass Botho sie wird verlassen müssen (GBA 10, 36), – was nicht ausschließt, dass sie später bei einer zufälligen Begegnung mit dem Ehepaar von Rienäcker einen Zusammenbruch erleidet (GBA 10, 120–123). Leicht ist ihr die Trennung nicht gefallen. Lenes Andersartigkeit wird übrigens auch dadurch unterstrichen, dass sie im Gegensatz zu ihrer Pflegemutter, zu Frau Dörr und zu den ›Damen‹ der Offiziere keinen Dialekt spricht. Käthe von Rienäcker, geb. von Sellenthin, die nicht nur schöne, sondern vor allem begüterte Cousine von Botho, ist als Kontrastfigur zu Lene angelegt, was ihren Gatten des Öfteren wehmütig an Lenes »Einfachheit, Wahrheit und Unredensartlichkeit« denken lässt (GBA 10, 124). Käthe erscheint als oberflächlich, nur am Kleinen und Komischen interessiert; meisterhaft beherrsche sie »die Kunst des gefälligen Nichtssagens« (GBA 10, 134). Botho erkennt, »daß mit Käthe wohl ein leidlich vernünftiges, aber durchaus kein ernstes Wort zu reden war« (GBA 10, 123–124). Ebenso wie Effi wird Käthe, weil die Ehe kinderlos bleibt, an einem 24. Juni (Johannistag, der im Volksglauben für eine Wendung der Dinge steht) in eine Badekur geschickt. Während sich in Effis Abwesenheit die Katastrophe ereignet, hat Botho in der Parallelsituation ein Gespräch mit Gideon Franke, der Lene heiraten wird, erfährt dabei vom Tod der alten Frau Nimptsch, der er, wie seinerzeit versprochen, einen Immortellenkranz aufs Grab bringt, versucht sich endgültig von Lene zu lösen, indem er ihre Briefe und ein bedeutungsschweres Sträußchen verbrennt, und hat ein Gespräch mit seiner Spiegelfigur: Bogislaw von Rexin, der sich mit einer ›schwarzen Henriette‹ in einer ähnlichen Situation befindet wie seinerzeit Botho mit Lene. Der hatte auf »ein verschwiegenes Glück« gehofft, »ein Glück, für das ich früher oder später [...] die stille Gutheißung der Gesellschaft erwartete« (GBA 10, 106). Ähnliches will Rexin, aber Botho rät ihm dringlichst ab, dabei unverkennbar seine eigene Situation ausmalend: »Erinnerungen bleiben und Vergleiche kommen. [...] Vieles ist erlaubt, nur nicht das, was die Seele trifft, nur nicht Herzen hineinziehen und wenn’s auch blos das eigne wäre« (GBA 10, 176). Laut Christian Grawe wird Botho in dieser Zeit des Alleinseins reif für die Ehe; von Käthe gelte dasselbe (Grawe 1982). Während Effi mit der leicht dubiosen

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2019 S. Neuhaus (Hg.), Effi Briest-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04874-5_12

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Geheimrätin Zwicker in die Kur fahren wird, trifft Käthe im Zug nach Schlangenbad die Bankiersgattin Salinger mit ihrer Tochter. Am Ende der dritten Woche ist ihre Haltung gegenüber der Frau Salinger kritischer geworden: Die gefalle sich »in einem Toilettenluxus, den ich kaum passend finden kann um so weniger, als eigentlich keine Herren hier sind [!]« (GBA 10, 148). Sehr wohl gibt es da aber einen Schotten, Mr. Armstrong, für den Käthe »von Anfang an ein rechtes Attachement« hat (GBA 10, 183). Dass sie sich nicht wirklich auf ihn eingelassen hat, wertet Grawe als ihren Schritt zur Reife. Wenn sie nach ihrer Rückkehr sagt: »Ich habe mir fest vorgenommen, mir ein reines Herz zu bewahren. Und Du mußt mir darin helfen« (GBA 10, 184), dann erscheint sie wohl doch nicht »als bloßes Echo der Gesellschaft ohne alles Selbst-Sein, ohne innere Wahrheit« (Wölfel 1963, 163), sondern scheint sich auf die Bedeutung ihres Taufnamens Katharina besonnen zu haben. Um Lenes Anderssein hervorzuheben, hat Fontane nicht nur Parallel- und Kontrastfiguren geschaffen, sondern auch auf zwei märchenhafte bzw. abgenutzte Muster angespielt, die auf Lene eben nicht zutreffen. Das eine wird Frau Dörr in den Mund gelegt: Frau Nimptsch habe Lene »ja blos angenommen [...] vielleicht is es eine Prinzessin oder so was« (GBA 10, 8). Das wäre das Muster Käthchen von Heilbronn, das in Effi Briest für den Polterabend wieder aufgenommen wird. Das andere wäre das Muster des Bürgerlichen Trauerspiels, das Lene, mit etwas undeutlichem Bezug auf Hebbels Maria Magdalena, ausdrücklich ablehnt: »Ich bin nicht wie das Mädchen, das an den Ziehbrunnen lief und sich hineinstürzte, weil ihr Liebhaber mit einer andern tanzte« (GBA 10, 110), wovon Botho ihr erzählt hat. Eine Besonderheit des Romans liegt ja gerade darin, dass er, ebenso wie Effi Briest, das Danach erzählt: Was wird aus Lene und Botho nach der Trennung und was wird aus Effi und Innstetten nach Duell und Scheidung? Was Lene und Effi über die Standesunterschiede hinweg verbindet (s. Kap. 23, 24), ist beider Natürlichkeit und Wahrhaftigkeit. Effi wird während der Crampas-Affäre zum Lügen gezwungen, gerät »in ein verstecktes Komödienspiel« (199), meint später: »Ich schäme mich bloß von wegen dem ewigen Lug und Trug; immer war es mein Stolz, daß ich nicht lügen könne und auch nicht zu lügen brauche« (258). – Lene setzt bewusst die Verbindung mit Gideon Franke aufs Spiel, wenn sie ihm erzählt, dass sie »zweimal ein Verhältniß gehabt« hat, »und den ersten hätt’ ich ganz gern gehabt und den andern hätt’ ich sehr geliebt und mein Herz hinge noch an ihm« (GBA 10, 141). Dass

der erste Liebhaber Kuhlwein geheißen hat, wissen wir aus dem 17. Kapitel (GBA 10, 132). In einer zeitgenössischen Rezension (von Theophil Zolling?) ist die späte Einführung dieser Information als Kunstfehler gerügt worden (Betz 2002, 112). In Wahrheit handelt es sich hier um eine der zahlreichen »Finessen«, deren Fontane sich gerühmt hat (ebd., 68): Eine frühere Mitteilung hätte der Leserschaft ein Vorurteil über Lene nahelegen können, während man zu diesem Zeitpunkt längst auf ihrer Seite steht. Ferner wird nun deutlich, dass Lene nicht in blinder Verliebtheit dem Baron von Rienäcker ›ihre Unschuld geopfert‹, sondern sich klaren Bewusstseins auf diese Beziehung eingelassen hat. Botho von Rienäcker ist einer der schwachen Helden Fontanes. An der Aufrichtigkeit seiner Liebe zu Lene wird man kaum zweifeln sollen, aber er verschließt die Augen vor seiner Situation und deren Folgen. Sein Kamerad ›Pitt‹ sieht ganz richtig, dass er über seine Verhältnisse lebt und die schon lange geplante Heirat mit der begüterten Cousine die Rettung darstellt (GBA 10, 55). Als Bothos Mutter ihm neue finanzielle Bedrängnisse mitteilt, bleibt ihm gar nichts übrig, als in die Ehe mit Käthe von Sellenthin einzuwilligen. Allein die Zinsen von deren Vermögen kommen den Erträgen aus dem Rienäckerschen Besitzungen fast gleich (GBA 10, 104), und mit Recht stellt Botho fest, dass er nichts Ordentliches gelernt hat, was ihm erlauben würde, sich und Lene zu ernähren (GBA 10, 105). Die endgültige Entscheidung fällt vor dem Denkmal für den ehemaligen Polizeipräsidenten von Hinckeldey, der am 10. März 1856 in einem Duell getötet worden war: »Und warum? Einer Adelsvorstellung, einer Standesmarotte zu Liebe, die mächtiger war, als alle Vernunft« (GBA 10, 107). In Effi Briest wird Innstetten das »uns tyrannisierende Gesellschafts-Etwas« beschwören, das ihm bei seiner Entscheidung für das Duell keine Wahl lasse (278), und Wüllersdorf nennt den Ehrenkultus einen »Götzendienst«, dem man sich aber unterwerfen müsse, solange er gelte (280). Hier ist von einer »Standesmarotte« die Rede, die Botho gleichwohl zur Maxime erhebt: Er überträgt Hinckeldeys Entscheidung »unter kühner Mißachtung von Logik und gesundem Menschenverstand auf die eigene Situation« (Liebrand 1990, 217), indem er das »Herkommen« als verbindlichen Wert zu erkennen glaubt und sich beim Anblick angeblich glücklicher Walzwerkarbeiter zur »Ordnung« bekennt; und: »Ordnung ist Ehe« (GBA 10, 108). Schlüssig ist diese Argumentationskette wohl kaum. In Wahrheit geht es um die Erhaltung des privilegierten Daseins der Familie von Rienäcker mit Hilfe des Sellenthinschen Vermögens.

12 Bezüge zu Irrungen, Wirrungen

Einige Begebenheiten und Personen aus Irrungen, Wirrungen scheinen in Effi Briest weiterentwickelt bzw. variiert zu sein. Ebenso wie die Rienäckers besuchen die Innstettens den Charlottenburger Schlosspark samt Belvedere (GBA 10, 185–186; 244). Dem Ausflug nach Hankels Ablage (Höhe- und Wendepunkt der Geschichte) entspricht in Effi Briest die Schlittenpartie zur und zurück von der Oberförsterei Uvagla. Beide Ereignisse sind genau in der Mitte der Romane platziert: im 12./13. Kapitel von deren 26 bzw. im 19. von 36 Kapiteln. Die stattliche, gütige, aber etwas beschränkte Frau Dörr erscheint höher entwickelt in Roswitha Gellenhagen, während Frau Nimptsch, die fast ins Mythische stilisierte Hüterin des Feuers (vgl. GBA, 10, 155), ihr depraviertes Gegenbild in der nervenkranken Frau Kruse mit ihrem schwarzen Huhn findet. Der Vorabdruck des Romans in der Vossischen Zeitung trug den Untertitel »Eine Berliner Alltagsgeschichte«, und über Effi Briest hat Fontane in einem Brief an Friedrich Spielhagen bemerkt: »Die ganze Geschichte ist eine Ehebruchsgeschichte wie hundert andre mehr« (DÜW 2, 460). Das stimmt für die dem Roman zugrunde liegende Ardenne-Affäre, nicht aber für den Roman selbst, in dem entscheidende Gewichte verschoben sind und das »uns tyrannisierende Gesellschafts-Etwas« (278) darum in sehr trübem Licht erscheint. Der Untertitel zu Irrungen, Wirrungen dürfte als Provokation empfunden worden sein, denn natürlich waren die Vergnügungen der Offiziere nicht unbekannt, nur sollte darüber nicht geschrieben werden, und schon gar nicht mit einer so wenig alltäglichen Protagonistin, der unverkennbar die Sympathie des Erzählers galt. In einem Brief an seinen Sohn Theodor hat Fontane geschrieben: »daß in diesem offnen Bekennen einer bestimmten Stellung zu diesen Fragen ein Stückchen Wert und ein Stückchen Bedeutung dieses Buches liegt. Wir stecken ja bis über die Ohren in allerhand konventioneller Lüge und sollten uns schämen über die Heuchelei, die wir treiben, über das falsche Spiel, das wir spielen« (DÜW 2, 368). Mutatis mutandis gilt das auch für Effi Briest (s. Kap. 8, 13, 14). Literatur Baier, Christian: »Und ›ja‹ ist gerade so viel wie ›nein‹ ...« Die Sprache Botho von Rienäckers in Fontanes ›Irrungen, Wirrungen‹. In: FBl 88 (2009), 137–152. Bauer, Karen: Fontanes Frauenfiguren. Zur literarischen Gestaltung weiblicher Charaktere im 19. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 2002. Bernstein, Max: Theodor Fontane’s ›Irrungen, Wirrungen‹ [1890]. In: FBl 102 (2016), 48–53.

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Klaus Müller-Salget

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unmöglichen Deutungen, nicht zuletzt zur Selbstbesinnung:

Vorbemerkung Eine junge Frau heiratet, findet jedoch nie das ersehnte Glück und stirbt schon nach wenigen Jahren ... am Ende immerhin mit Gott und den Menschen versöhnt. Es spräche einiges dafür, zunächst einmal bei diesem Satz zu bleiben. Denn allen Bemühungen, die Handlung des Romans weiter ausholend oder gar erschöpfend darzustellen, ist stets eines gemeinsam: Sie halten fest, was sich an der Oberfläche abspielt, und können nicht erfassen, was zugleich im Subtext alles aufleuchtet. Erst dort aber ist ein eklatant komplexes, verschlungenes System von Zeichen und Andeutungen zu entdecken (s. Kap. 21, 41), das dafür sorgt, dass der berühmteste deutsche Eheroman sich zu einem Zeitroman erweitert, in dem substanzielle soziale Krisen des 19. Jahrhunderts sichtbar werden (Müller-Seidel 1980, 159; s. Kap. 1–6), und darüber hinaus noch ganz anderes an die Oberfläche kommt, namentlich das Votum, sich mit vorschnellen Urteilen oder Verurteilungen bedachtsam zurückzuhalten. Der auktoriale Erzähler betätigt sich in dieser Hinsicht als Leitfigur (s. Kap. 14, 36). Scheinbar omnipräsent, wirkt er über weite Strecken, wenngleich nie unbeteiligt, doch weder allwissend noch parteiisch. Oft tritt er diskret ganz in den Hintergrund, als könnten Anspielungen auf Literatur (s. Kap. 33), Musik, Kunst (s. Kap. 32), Religion (s. Kap. 30) oder Mythologie und viele andere mehr tiefere Einblicke vermitteln als jeder Kommentar von seiner Seite, und am liebsten lässt er die Figuren selber sprechen; Monologe, Briefe, vor allem aber Dialoge spielen eine wichtige Rolle (vgl. Hamann 1984 und Zalesky 2004) und etablieren eine polyperspektivische Berichterstattung: als Plädoyer, Ambivalenzen geduldig auszuhalten, wo alles andere zuverlässig nur Engstirnigkeit und Intoleranz nach sich ziehen würde. Effi Briest vermittelt ein facettenreiches Bild der Zeit, ein Bild, in dem Aufzeichnungen von Widersprüchen, Hoffnungen und Ängsten, psychischen Dispositionen (s. Kap. 39), sozialen und politischen Faktoren jeden Versuch einer klaren Grenzziehung von Ursachen blockieren oder nicht selten sogar ganz untergraben und somit den zeitgenössischen Diskurs über Werte, über das geltende Ehe- und Familienrecht (s. Kap. 23, 24), über die sozial kodifizierten Ehrvorstellungen (s. Kap. 26) u. a. m. ganz entschieden neu anfeuern. Das Bild drängt zu Kontemplation, zu Besonnenheit gegenüber allen möglichen und

»Was redet man nicht alles, wenn man mit einem Bekannten in einer Tiergartenallee spazieren geht! Immer dicht am Hochverrat vorbei« (Fontane an C. R. Lessing, 23.5.1892 – zu dieser Zeit noch immer mit Effi Briest beschäftigt; hier zit. nach FHb, 90).

Von dieser Einsicht her erklärt sich auch, dass das Zeitgerüst der Handlung, offensichtlich weit weniger bedeutungsschwer, sich keineswegs ohne Weiteres sofort oder gar klar segmentiert erschließt und dass hin und wieder geradezu eine narrative Lotterwirtschaft zu konstatieren ist (vgl. Kloth-Manstetten 2015, 57). Effi Briest ist doch zuallererst ein Eheroman; aber von der Hochzeit zwischen Effi und Geert von Innstetten sowie von markanten Einschnitten im Leben der Titelheldin (Schwangerschaft, Ehebruch) erfährt man so gut wie nichts, während man vergleichsweise umständlich darüber unterrichtet wird, was die Hafenpolizei von Kessin allemal mit der Robbenjagd zu tun hat. Ähnlich verhält es sich mit den Zeitangaben. Jahreszahlen sucht man überhaupt vergeblich, was denn auch dazu geführt hat, dass in der einschlägigen wissenschaftlichen Literatur über Beginn und Ende der Handlung die unterschiedlichsten Versionen kursieren: auf der einen Seite zwischen 1878 und 1881/82, auf der anderen zwischen 1890 und 1894 (die letzten Zahlen, zweifellos unzutreffend, jeweils bei Bender 2009, 368; vgl. dagegen, mit einsichtiger Begründung, Masanetz 2001 und die ebenfalls sorgfältig erstellte Zeittafel von Anke-Marie Lohmeier 2017). Aber dass Effis Tochter an einem 3. Juli, auf den Tag genau neun Monate nach der Hochzeit der Eltern (am 3. Oktober des Vorjahres) zur Welt kommt, das wird angezeigt, es hat mithin wohl was zu bedeuten; und einige wenige Feiertage verweisen, namentlich nach Baron Innstetten, auf in seinem Verständnis wirklich relevante, also nicht (nur) private sondern politische Ereignisse: unter anderen wiederum der 3. Juli (Erinnerung an die Schlacht von Königgrätz), ferner der sogenannte Napoleonstag (15. August) oder auch der Tag von Sedan (2. September). Dass die Handlung in die letzten zwölf Jahre der Amtszeit des Reichskanzlers Otto von Bismarck fällt, ist nicht zu übersehen. Wann immer Bismarck ruft, lässt Innstetten nämlich alles andere unverzüglich liegen und fallen. Andererseits, obgleich das Ende des Romans doch im selben Jahr erfolgt wie Bismarcks Entlassung (nach Meinungsverschiedenheiten mit

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2019 S. Neuhaus (Hg.), Effi Briest-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04874-5_13

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Kaiser Wilhelm II.), also im Jahr 1890, ist von dieser Koinzidenz im Roman zu keinem Zeitpunkt mehr die Rede; als hätte Baron Innstetten nach seiner Scheidung kein Interesse mehr an der Berufslaufbahn und mittlerweile ganz andere Sorgen. Am Ende, das trifft zu, bekümmert ihn längst anderes. Vieles wird in den Gesprächen der Figuren analysiert, reflektiert und kommentiert. Sicher ist hingegen nichts (s. Kap. 41, 42). Wiederholt wird relativiert, was eben noch sich ausgenommen hat, als wäre es klipp und klar und ausgemacht; und so wird nicht nur auf der Handlungsebene erzählt. Denn hin und hin wird der scheinbar festgeknüpfte Handlungsfaden abgeschnitten und alles Licht auf die Fluktuation grundverschiedener Wahrnehmungsraster umgeleitet. Was immer die Figuren wahrnehmen, bleibt also hypothetisch (s. Kap. 14); der Erzähler mischt sich nicht alle Augenblicke ein, mit Wahrnehmungsverzerrungen und Wahrnehmungstäuschungen muss folglich fast permanent gerechnet werden: »Diese Konzentration auf die Verunsicherung der Wahrnehmungsvorgänge weist Effi Briest als Beispiel des Übergangs vom späten Realismus zur frühen Moderne aus: denn es geht darin um die Thematisierung von Weisen der Wirklichkeitserkenntnis, die den Übergang markieren von der Gewissheit verbürgter Zusammenhänge zu einer eher skeptischen Position der perspektivischen Auflösung vermeintlich nachvollziehbarer Sicherheiten« (Brunner 2001, 40).

Die entscheidenden Vorgänge des Romans vollziehen sich denn auch, während gerade (erzähltechnisch) dichter Nebel aufkommt. Noch ein Wort zur Datierung. Fontane begnügt sich, wie erwähnt, mit einzelnen Hinweisen; und einige dieser Hinweise widersprechen einander oder überkreuzen sich. Aber aus einer Unterhaltung, in der über Nobiling gesprochen wird (77), d. h. wohl ganz offensichtlich über das Attentat, das Karl Eduard Nobiling am 2. Juni 1878 auf den 81-jährigen Kaiser Wilhelm I. verübt hat, ist herauszulesen, dass die Handlung im Sommer 1878 einsetzt (vgl. Masanetz 2001, 86 und Hehle 2018, 436 f.). Zwei Jahre später plant das Ehepaar Innstetten in Bayern Urlaub zu machen und die Oberammergauer Passionsspiele zu besuchen: »Es ließ sich aber nicht thun« (245); in diesem Fall kommt einzig und allein das Jahr 1880 in Frage (weil die Spiele in Oberammergau nur alle zehn Jahre stattgefunden haben). – Von weiteren Indizien wird hier noch die Rede sein.

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Die Schaukel in Hohen-Cremmen Schauplatz der ersten Szenen ist ein Herrenhaus zu Hohen-Cremmen, das Haus der Familie Briest. Ein Paradies, mit einem Ziergarten, der auf drei Seiten abgeschlossen ist, während die vierte, die offene Seite an einen kleinen Teich grenzt, an dessen Ufer ein Boot festgemacht und dicht daneben eine Schaukel aufgestellt ist. Effis Schaukel. Mutter und Tochter, beide mit einer Stickerei beschäftigt, im Gespräch – ein Herz und eine Seele. Wäre da nicht auf einer Seite die Friedhofsmauer, und wären da nicht die Pfosten, die der Schaukel Halt geben sollten, aber sichtlich schon ein wenig morsch sind, dann würde nicht das Geringste darauf hindeuten, dass eine derartige Idylle auch einmal leicht zerbrechen kann (s. Kap. 21, 28). Effi, in deren Naturell »Übermut und Grazie« (6) harmonisch sich vereinen, von der Mutter wird sie als »Tochter der Luft« (7) apostrophiert, bekommt Besuch. Drei junge Freundinnen, die Zwillinge Bertha und Hertha, Töchter des Kantors Jahnke, und Hulda, das einzige Kind des Pastors Niemeyer, leisten ihr auf kurze Zeit Gesellschaft, während die Mutter sich ins Haus zurückzieht, da sie ebenfalls einen Gast erwartet. Um eben diesen aber dreht sich mittlerweile schon das Getuschel der vier Mädchen. Denn es ist ein Jugendfreund der Mutter, Geert von Innstetten, Baron Innstetten, Landrat im Kessiner Kreis (irgendwo in Hinterpommern). Er ist so alt wie Effis Mutter, achtunddreißig, womöglich nach wie vor in sie verliebt. Aber Effi kümmert das alles wenig, zumal ihre Mutter am Ende ja doch vernünftigerweise den weit älteren Ritterschaftsrat von Briest dem erst am Anfang seiner Karriere stehenden Liebhaber vorgezogen hat; und so kann sie auch ohne Weiteres blitzartig das Thema wechseln und auf andere Geschichten zu reden kommen, zum Beispiel auf das Los jener armen unglücklichen Frauen, die man in alten Zeiten im Teich versenkt hat, »natürlich wegen Untreue« (14). Bald darauf sind indes alle derart tief schürfenden historischen Fragen zufriedenstellend abgehandelt, sonach wird schließlich nur mehr Versteck gespielt. Effi freilich würde am liebsten einfach weiter und weiter schaukeln. Nur, die Mutter verfolgt ganz andere Pläne, und sie eröffnet Effi im Gartensaal des Herrenhauses, der Besucher aus Kessin habe soeben um ihre Hand angehalten. Effi überfällt stante pede »ein nervöses Zittern« (18; s. Kap. 35), als Innstetten sich kurz darauf vor ihr verbeugt; dann hört sie noch die Zwillinge, Hertha ruft: »Effi, komm« (18), sie kann ihnen je-

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doch schon nicht mehr folgen. Noch am selben Tag ist sie verlobt. Baron Innstetten könnte durchaus ihr Vater sein. Doch Effi, die ihre Freundinnen im Pfarrhaus und im Kantorhaus sogleich über die neue Situation unterrichtet, zerstreut die Befürchtungen, die diese äußern, ob der Verlobte wohl der Richtige sei: »Gewiß ist es der Richtige. [...] Jeder ist der Richtige. Natürlich muß er von Adel sein und eine Stellung haben und gut aussehen« (21). So recht glücklich wirkt sie dabei nicht; und auch Innstetten ist sich seiner Sache nicht ganz sicher, ist ihm doch, während der alte Briest ungeniert pausenlos auf ihn einredet, als höre er zwischendrin den Lockruf wieder und wieder: »Effi, komm« (22). In den folgenden Wochen schreiben die Brautleute einander Briefe, nichtssagende kleine Aufmerksamkeiten. Ernstere Angelegenheiten, Festsetzungen im Hinblick auf die Hochzeit oder die Einrichtung und Ausstattung des Hauses in Kessin regelt Frau von Briest mit Innstetten allein. Schließlich begleitet sie ihre Tochter auch auf einer Einkaufstour, die beide nach Berlin führt und den alten Briest am Ende ziemlich teuer zu stehen kommt. Aber dieser hat unterdessen ein noch weit gröberes Problem zu lösen; muss er doch einen seiner Mitarbeiter fristlos entlassen, einen tüchtigen Menschen noch dazu, der sich jedoch, ausgerechnet in der Erntezeit, auf eine Affäre mit der Gärtnersfrau eingelassen hat. Als Hochzeitstag wird der 3. Oktober festgesetzt. Die Vorbereitungen auf den Polterabend und auf das Leben in Kessin, wo nach Effis Vermutung jahraus jahrein mit »Eis und Schnee« zu rechnen ist (29), laufen längst, aber sie laufen im Großen und Ganzen an der 17-jährigen Braut vorbei; was immer sie sich wünscht, Exotisches, Apartes, einen Pelz, einen japanischen Bettschirm oder eine Ampel für das Schlafzimmer, alles wird ihr von der Mutter, die nichts so fürchtet wie den Tratsch der Nachbarn, sogleich wieder ausgeredet. – Von Liebe ist keine Rede mehr. Effi aber ist im Ohr geblieben was der alte Niemeyer gelegentlich schon einmal über Innstetten geäußert hat ... der Baron sei »ein Mann von Charakter, ein Mann von Prinzipien«, und sie glaubt sich zu erinnern, er habe sogar hinzugefügt: »ein Mann von Grundsätzen«; jetzt sieht sie sich gezwungen einzugestehen: »Ach, und ich ... ich habe keine. Sieh’, Mama, da liegt etwas, was mich quält und ängstigt. Er ist so lieb und gut gegen mich und so nachsichtig, aber ... ich fürchte mich vor ihm« (38). Die Hohen-Cremmer Festtage werfen ihre Schatten voraus.

Sie sind dann, fast unerwartet, trotzdem gut verlaufen, wie der Erzähler später mitteilt. Die Hochzeitsreise führt das Paar über Regensburg, München und Innsbruck nach Italien; nach Verona, Vicenza, Padua, Venedig, schließlich Capri und Sorrent. Innstetten führt seine junge Frau in alle Kirchen und Galerien, die man gesehen haben muss; sie hingegen schickt täglich nach Hohen-Cremmen Karten: »Eure glückliche, aber etwas müde Effi« (47). Ihr Mann erzählt und schwärmt von den Tauben auf dem Markusplatz, sie allerdings würde am Ende lieber die Tauben auf dem Anwesen der Eltern füttern ... und sich auf ihre Schaukel setzen.

Das Spukhaus in Kessin Innstettens Urlaub neigt sich dem Ende zu, Mitte November trifft das Paar in Berlin ein. Von dort geht es mit dem Stettiner Zug bald weiter nach Klein-Tantow, wo Kutscher Kruse die beiden bereits erwartet; während sie, nachdem sie den Gasthof »Zum Fürsten Bismarck« hinter sich gelassen haben, schon auf Kessin zusteuern, unterhalten sie sich über die Menschen, die Effi in der Stadt und auf dem Land begegnen werden: Einwanderer, Kaschuben, viele andere mehr. »Eine ganz neue Welt«, vermutet sie, eine ganz andere Welt als die gewohnte märkische darf sie kennen lernen, »Exotisches [...], vielleicht einen Neger oder einen Türken, oder vielleicht sogar einen Chinesen« (51). Mit einem Chinesen kann Innstetten dann gleich aufwarten; der ist allerdings tot, sein Grab liegt zwischen den Dünen, dicht neben, aber nicht auf dem Friedhof. Eine allem Anschein nach schauerliche Geschichte. Effi winkt augenblicklich ab; noch will sie solche Geschichten nicht hören, zuerst einmal möchte sie doch das Haus, das neue Heim sehen. Es ist ein altes, altmodisches Fachwerkhaus. Etwas sonderbar sind nicht nur die Hausinsassen, die Innstetten sogleich seiner Gattin vorstellt (von Rollo, dem Neufundländer, einmal abgesehen), sonderbar wirkt auch die Einrichtung: Quer über den Flur hängen an drei Balken ein Schiff mit vollen Segeln und Kanonenluken, ein Haifisch und ein Krokodil, und beinah das Einzige, was sofort Effis Gefallen findet, ist ein Blumentisch; den aber hat nicht Innstetten angeschafft, den hat Gieshübler gebracht, der Apotheker und Schöngeist Alonzo Gieshübler. Im obersten Stockwerk des Gebäudes befinden sich neben einem ungenützten Saal, der offenbar schon »etwas multrig und stockig« ist (61), noch vier

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gelb getünchte Zimmer, die ebenfalls fast leer sind. Nur ein paar Binsenstühle stehen da herum; und an einer Stuhllehne ist ein kleines Bildchen befestigt, das einen Chinesen zeigt. – Effi hat dagegen bloß einen verhältnismäßig kleinen Raum zu ihrer Verfügung; und wenn sie den betreten oder verlassen will, muss sie das Arbeitszimmer Innstettens passieren. Kein Wunder, dass sie schon in der ersten Nacht, die sie allein zubringt, sich ängstigt: Sie hört merkwürdige Geräusche aus dem Dachgeschoß, manchmal ist ihr, als tanze man dort oben, aber es sind vielleicht auch nur die alten, viel zu langen Gardinen, die über die Dielen hin und her schleifen und sie inkommodieren ... in jedem Fall, von allem Anfang an flattern Effis Nerven (s. Kap. 35, 45), und ihr Zustand bessert sich auch nicht, als Innstetten, am Morgen nach seiner Rückkehr von Bismarcks Gut, sie beim Frühstück zu beruhigen versucht (90–93). Auf Effis Vorschlag, das oberste Stockwerk zu renovieren, geht Innstetten nicht weiter ein. In seinem Verständnis ist’s doch am allerbesten, alles beim alten zu belassen. Auch, sich einfach abzufinden mit der bei näherer Betrachtung keineswegs exotischen Umgebung: Weder in der Stadt noch unterm Landadel findet Effi Anschluss, überall stößt sie auf das gleiche Mittelmaß; sie atmet hörbar auf, als auch der letzte Antrittsbesuch schlussendlich absolviert ist. Der einzige Mensch unter allen, so formuliert sie ein erstes Resümee, ist und bleibt der Apotheker. Während Innstetten, der die Gunst Bismarcks genießt, alles unternimmt, seine Karriere zu befördern, bleibt Effi mehr oder weniger nur die Unterhaltung mit dem Dienstmädchen Johanna oder mit Frau Kruse, deren gemütskranker Zustand ihr hin und wieder doch Mitleid einflößt. Aber so gut wie nichts mehr trägt dazu bei, ihre Nerven zu beruhigen. Sie schlägt ein altes Buch auf und stößt sofort auf ein Frauenporträt, das ihr immer schon Angst und Schrecken eingejagt hat, das Porträt der »Weißen Frau«. Sie lässt die Hochzeitsreise Revue passieren und denkt ausgerechnet an das Haus der Julia Capulet (und damit an die berühmteste Tragödie Shakespeares), ehe ihr die Augen zufallen. In der Nacht träumt sie, den Chinesen zu sehen (s. Kap. 22). Ausziehen! Ein anderes Haus. Innstetten kann auch dieser Idee Effis nicht viel abgewinnen. Das Spuk-Gerede findet er lächerlich; weit mehr fürchtet er partout das Gerede in Kessin, das unweigerlich einsetzen würde nach einem Umzug, den er nicht um alles in der Welt hinreichend begründen könnte. Zur rechten Zeit ist dann doch Zerstreuung in

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Sicht. Gieshüblers Einladung nämlich zu einer Soirée, in deren Rahmen Marietta Trippelli einen Liederabend gibt. Neue Nahrung für das Bedürfnis nach Exotik. Denn die Trippelli führt doch ein aufregendes Leben; vielleicht weniger als Künstlerin, aber gewiss privat, mit einem Liebhaber, einem Russen, der sie aushält. Auch Innstetten lebt auf, und er organisiert gleich noch eine Schlittenfahrt ... die dann freilich dicht am Grab des Chinesen vorbeiführt, so dass Effi jetzt sich doch auch endlich dessen Geschichte anhören muss, in der von einem Hochzeitsfest, von einer Braut-Entführung und vom Tod des Hauptakteurs die Rede ist. Eine mysteriöse Geschichte, die mehr Rätsel aufgibt, als sie löst: Innstetten ist und bleibt, Effi schätzt ihn gewiss richtig ein, »frostig wie ein Schneemann« (77), ein eigenwilliger Zuchtmeister obendrein (s. Kap. 31). Zu Weihnachten treffen Geschenke ein, vor allem aus Hohen-Cremmen. Innstetten und Gieshübler bieten alles auf, was sie zu kredenzen haben, um einen schönen Heiligen Abend sicherzustellen; Effi ist schwanger. – Am Silvestertag schreibt sie ihrer Mutter. Sie sei einsam, gesteht sie, Innstetten bemühe sich zwar, aber er dürfe nicht sehen, wie es wirklich um sie steht. Alle Hoffnungen seien längst schon auf das Kind gerichtet, sie rechne fest damit, mit dem Kind so bald wie möglich nach Hohen-Cremmen zu kommen, »denn es wird doch wohl fühlen, daß es eigentlich da zu Hause ist« (115) und mitnichten, heißt das, in Kessin; »das Haus, das wir bewohnen, ist ... ist ein Spukhaus« (116). Im Rückblick auf die ersten Wochen in Kessin wird Effi später festhalten, dass nur zwei Ereignisse die ewige Monotonie durchbrochen und sie aufgemuntert hätten, der Trippelli-Abend und der Silvesterball. Im darauf folgenden Frühjahr berichtet Effi nach Hohen-Cremmen (das heißt immer: zuerst einmal ihrer Mutter), ein neuer, offenbar attraktiver Landwehrbezirkskommandeur sei in der Stadt eingetroffen, Major von Crampas, ein Casanova-Typ; in einem Duell sei ihm schon einmal ein Arm zerschmettert worden. Seine Frau sei mächtig eifersüchtig und immer eigentlich verstimmt. Effi gibt sich überzeugt, mit diesem Paar werde es wohl nie zu einer Annäherung kommen. Allerdings, schon nach einem ersten kurzen Gespräch mit Crampas muss sie doch übergangslos festhalten: »Vollkommener Kavalier, ungewöhnlich gewandt« (123). – Ein Todesfall, ein Begräbnis auf dem Kessiner Dünenkirchhof setzt Effi überraschend-gefährlich zu; »nein, ich mag hier nicht sterben«, geht’s ihr durch den Kopf, »ich will hier nicht begraben sein,

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II Autor und Werk

ich will nach Hohen-Cremmen« (128). Aber im nächsten Moment entdeckt sie Roswitha, das Dienstmädchen der Verstorbenen, das ähnlich wie sie weder ein noch aus weiß, »ich will bloß sterben, weil ich nicht leben kann« (131). Effi engagiert Roswitha als Kindermädchen. Am 3. Juli, am Tag von Königgrätz, erblickt KleinAnnie das Licht der Welt; »schade, daß es ein Mädchen ist«, bemerkt Doktor Hannemann ebenso warmherzig wie galant, nicht ohne hinzuzufügen: »Aber das andere kann ja nachkommen, und die Preußen haben viele Siegestage« (135). Am 15. August wird das Kind getauft. Das Festmahl bietet Crampas zum ersten Mal eine gute Gelegenheit, mit Effi zu parlieren und Süßholz zu raspeln. Doch unmittelbar darauf und bis Ende September wohnt Effi wieder in Hohen-Cremmen, mit dem Kind und mit Roswitha, verspielt wie noch im Jahr davor, nach wie vor am liebsten auf der Schaukel. Da sind die Eltern, da sind wieder die Töchter des alten Jahnke; dass Innstetten nie kommt, fällt hier kaum auf, er wird von niemandem vermisst. Herbst in Kessin. Es scheint unausweichlich, dass Innstetten und Crampas, die vor Jahren schon einmal in derselben Brigade gedient haben, sich künftig öfters treffen und unterhalten oder auch zu einem Ausritt verabreden. Effi würde ebenfalls gern reiten. Während Innstetten noch versucht, sie davon abzubringen, kümmert Crampas sich schon um ein Pferd für Effi; ab Mitte Oktober steht gemeinsamen Spazierritten nichts mehr im Wege, Spannungen und Kontroversen können somit nicht lange ausbleiben. Als Crampas vorschlägt, einmal eine Robbenjagd zu veranstalten, verweist Innstetten auf die geltende Gesetzeslage und schwadroniert noch lang und breit über Zucht und Ordnung. Crampas kann darüber nur den Kopf schütteln; und Effi ebenso. – Schon ab Ende Oktober muss Innstetten im Amt zurückbleiben, weil eine Wahlkampagne ansteht. Crampas und Effi aber setzen, davon unbeeindruckt, ihre Ausflüge weiter fort. Und so beginnt, was die Stützen der Gesellschaft eine Affäre nennen.

Der Schritt vom Wege Gieshübler ist ein Diener zweier Herren. Innstetten hat ihn beauftragt, italienische Abende zu organisieren, in der Absicht, jeweils in einem kleinen Kreis Aufzeichnungen über Glanzpunkte der italienischen Kultur zu rekapitulieren. Crampas wiederum, mittlerwei-

le Mitglied des Kessiner Vergnügungskomitees, plant, mit Blick auf die bevorstehenden Weihnachtsfeiertage, ein Theaterstück zu inszenieren, und zwar das Lustspiel Ein Schritt vom Wege von Ernst Wichert, und auch zu diesem Ereignis soll der Apotheker kräftig die Werbetrommel rühren. Letzteres zu annoncieren, das liegt ihm aber auch selber ganz besonders am Herzen; und Effi, die in diesem Stück eine Hauptrolle übernehmen soll, ist geradezu »wie elektrisiert« (168): Ein neues Abenteuer lockt, in einem derartigen Wettstreit kann Italien nicht mithalten. Ein Schritt vom Wege. Die Anspielung auf das Schicksal Effis ist überdeutlich (vgl. Matz 2014). Denn sie hat diesen Schritt längst schon riskiert. Auf gemeinsamen Ausritten, im Schutz der Dünen, hat ihr Crampas nämlich nicht nur Regimentsgeschichten erzählt, sondern auch Charakterzüge von Innstetten dargelegt, namentlich seine Neigung, durch allerlei Spuk sich erzieherisch zu betätigen, und er hat ihr darüber hinaus eine weitläufige Betrachtung über romantische Dichtungen, im besonderen über Heinrich Heine vorgetragen, die ebenfalls nicht wirkungslos geblieben ist (s. Kap. 33). Vor Gieshübler kann Effi denn auch nicht länger verbergen, was ihr zugestoßen ist. Crampas, erläutert sie, sich ständig in Widersprüche verwickelnd, »hat so ’was Gewaltsames, er nimmt einem die Dinge gern über den Kopf fort. Und man muß dann spielen, wie er will, und nicht, wie man selber will« (169). Spätestens nach dem TheaterAbend erweist sich, dass auch Innstetten nicht mehr ganz ahnungslos verfolgt, was sich hinter den Kulissen abspielt. Der Heilige Abend indessen verläuft wie schon gewohnt. Effi allerdings ist unruhig, sie fürchtet, sie habe nicht verdient, dass alle Welt es gut meine mit ihr, Innstetten am meisten. Der tröstet sie: »Damit darf man sich nicht quälen, Effi. Zuletzt ist es doch so: was man empfängt, das hat man auch verdient« (174) – und bringt sie mit diesem Zuspruch, wenig verwunderlich, gänzlich aus der Fassung. Ein paar Tage danach wird eine Schlittenpartie gestartet. Drei Schlitten, geführt von Innstetten, Gieshübler und Crampas, fahren schließlich vor der Oberförsterei Uvagla vor, wo Herr Ring, der Hauswirt, einen wahrhaft fürstlichen Empfang gibt. Die Konversation allerdings streift unentwegt an den Bereich der Peinlichkeit: Während die beiden Töchter des Försters, hübsche Backfische, mit Innstetten und Crampas kokettieren und damit nicht nur Effi ärgern, sondern mehr noch Sidonie von Grasenabb, die umgehend daraus das Fazit zieht: »Keine Zucht. Das ist die Signatur unserer

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Zeit« (176), versucht Güldenklee, der als der beste Redner des Kreises gilt, einen Toast auf den Hausherrn auszubringen; es gäbe viele Ringe, gibt er zu bedenken, Jahresringe, Trauringe usw. usw. – auch eine Geschichte von drei Ringen, »eine Judengeschichte, die, wie der ganze liberale Krimskrams, nichts wie Verwirrung und Unheil gestiftet hat und noch stiftet« (181), es gebe aber nur einen rechten Ring: den Herrn des Hauses. Gleich darauf wird das Preußenlied angestimmt, alle Gäste erheben sich und singen; Innstetten findet diesen Schlussakt einer verspäteten Weihnachtsfeier deplatziert. Es ergibt sich, dass die Schlittenbesatzungen vor der Rückfahrt neu gruppiert werden müssen. Innstetten, der den Gieshüblerschen Schlitten steuern soll, und Effi, die sich weiter der Führung durch Kruse anvertraut, werden dabei getrennt. Unterwegs stößt die Kolonne zudem auf ein neues Hindernis: Der Schloon, für gewöhnlich ein Rinnsal, das sich durch die Dünen zieht und mitunter sogar austrocknet, ist inzwischen unterm Strandsand mit Meerwasser durchsetzt und aufgefüllt, ein Moor, durchaus geeignet, die Pferde abzustoppen und die Schlitten umzukippen. Umwege müssen also in Kauf genommen werden, im Übrigen auch eine neue Zusammensetzung auf den Schlitten und Kutschen; so fügt es sich, dass Crampas und Effi am Ende allein die Weiterfahrt durch eine dichte Waldmasse hindurch in Angriff nehmen ... und Crampas den Glücksfall nützt, seine Begleiterin »mit heißen Küssen« (190) zu überraschen. Innstetten, der Effi später zur Rede stellt, ist kaum mehr zu beruhigen. Aber Effi, im ersten Moment doch noch »wie mit Blut übergossen« (195), als sie Crampas auf dem von Gieshübler ausgerichteten Silvesterball wieder begegnet, arrangiert sich rasch mit der neuen Konstellation, wenngleich sie einsieht, dass jetzt nicht mehr der Chinese, sondern ihr Gewissen spukt. So ergreift sie jeden Strohhalm, der ihr geeignet scheint, sie aufzurichten. Ein Schiff kentert, knapp vor dem Hafen; sie eilt hinaus, um mitzuerleben, wie die Besatzung gerettet wird. Eine Anfrage des Kriegsministeriums an die Stadtbehörden, ob sie grundsätzlich bereit wären, zwei Schwadronen Husaren aufzunehmen, weckt die schönsten Erinnerungen an die Husaren in Hohen-Cremmen, die roten Husaren, »die Hüter von Paradies und Unschuld« (198). – Innstetten muss nach wie vor verschiedenen Einladungen Folge leisten. Effi jedoch entschuldigt sich; der Arzt hat ihr Bewegung und frische Luft empfohlen, sie ist also viel unterwegs, zu Fuß, angeblich allein.

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Berlin, Keithstraße Als Innstetten ihr eröffnet, dass er befördert wird, Ministerialrat, und dass sie demnach umziehen müssten, nach Berlin, fällt Effi ein Stein vom Herzen. Ihre erste Reaktion, rückhaltlos spontan – »Gott sei Dank!« (214) – zwingt sie dann allerdings, sich sofort einen Ausweg auszudenken; und wieder verheddert sie sich heillos, indem sie allein das Spukhaus überzeugend ins Treffen führt. Effi verabschiedet sich persönlich nur von Gieshübler. Crampas bekommt einen kurzen Brief, Abschiedszeilen. Dass er dann am Ufer steht und ernst zu ihr hinüber grüßt, als sie das Schiff besteigt, bestürzt und freut sie doch zugleich. Aber endlich fährt sie, mit Roswitha und Annie, nach Berlin, um gemeinsam mit ihrer Mutter Umschau zu halten nach einer ihrem neuen Status angemessenen Residenz. Mama und Vetter Dagobert, der Effi anhimmelt, jedoch damit nicht sonderlich beeindruckt, erwarten die Ankömmlinge schon auf dem FriedrichstraßenBahnhof, Komplimente fliegen hin und her, es wird sehr viel getratscht, aber auch eine passende Liegenschaft geschwind gefunden, nämlich eine Neubauwohnung in der Keithstraße. Effi denkt keine Sekunde mehr daran, wie verabredet zurückzukehren nach Kessin; somit muss sie eine Krankheit vorschützen und einen Arzt gewinnen, der bereit ist mitzuspielen. Wie immer weiß die Mutter Rat; Geheimrat Rummschüttel, den sie schon seit vielen Jahren kennt, begnügt sich dann auch ohne Weiteres damit, Effis Puls zu fühlen und im Übrigen Ruhe und Wärme zu empfehlen: Ein neues Leben, hofft Effi, kann beginnen. Am 1. April, man schreibt inzwischen das Jahr 1880, tritt Innstetten im Ministerium seinen Dienst an. Johanna und Roswitha halten ihren Herrschaften auch in Berlin die Treue, Johanna weiterhin als Hausmädchen, Roswitha als Küchenhilfe und Kindermädchen. Man macht erste Besuche und ausgedehnte Spaziergänge, Kessin scheint schon fast vergessen. Aber dann sickert doch durch, dass Johanna das Bildchen des Chinesen aus Kessin mitgebracht hat und in ihrem Portemonnaie weiter aufbewahrt, ganz so, als könnte sie Innstetten damit einen Gefallen tun, wenn nicht sogar ihn regelrecht umgarnen. Im Rahmen eines Aufenthalts auf Rügen schließlich stößt Effi auf der Suche nach einer Ferienwohnung auf ein Fischerdorf, das (tatsächlich) Crampas heißt. – Nichts hält sie mehr an diesem Ort, der ohnehin nur ein Substitut für Oberammergau gewesen wäre; die Urlaubs-

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II Autor und Werk

reise der Familie Innstetten wird zur Fluchtbewegung, führt über Kopenhagen, Viborg, Flensburg und Kiel nach Hamburg, für Effi sogar weiter noch zurück nach Hohen-Cremmen (während Innstetten gleichzeitig schon wieder seinen Amtsgeschäften in Berlin nachgeht). – Effis Eltern können sich des Eindrucks nicht erwehren, dass ihre Tochter sich am liebsten immer noch in Hohen-Cremmen aufhält. Die Jahre vergehen. Annie wächst und wächst – sie ist schon »schön wie die Großmutter« (262), meint jedenfalls der alte Briest, ein Brüderlein aber stellt sich nicht mehr ein. Deshalb wird Effi, inzwischen Frau Geheimrätin, von Rummschüttel eine Kur verordnet; sie soll zunächst nach Schwalbach gehen und später noch nach Ems, um zum einen im Hinblick auf die Erbfolgefrage und zum andern mit Rücksicht auf ihre Lunge sich besser als bislang zu wappnen. Die Katastrophe wird durch einen dummen Zufall ausgelöst. Auf der Suche nach Verbandszeug (Annie, übermütig wie ehedem die Mutter, ist gestürzt) brechen Roswitha und Johanna das Schloss von Effis Nähtisch auf und entdecken dort u. v. a. ein kleines Konvolut von längst vergilbten Zetteln und Briefen, zusammengebunden mit einem roten Seidenfaden. Im selben Augenblick kommt Innstetten dazu. – Schon kurz darauf ruft er Ministerialrat Wüllersdorf zu sich, um ihn zu ersuchen, eine Duell-Forderung zu überbringen und ihm hernach als Sekundant zur Seite zu stehen. Zwar, die Sache scheint verjährt, liegen doch mehr als sechs Jahre schon dazwischen, Wüllersdorf versucht denn auch den Freund zurückzuhalten; aber Innstetten hat sich’s überlegt: »Man ist nicht bloß ein einzelner Mensch, man gehört einem Ganzen an« (278). Noch am selben Abend nimmt Wüllersdorf den Nachtzug nach Kessin. Am nächsten Tag folgt Innstetten mit dem gleichen Zug. Crampas und sein Sekundant, sein Freund Buddenbrook, warten schon zwischen den ersten Dünen, nah am Strand, gemeinsam mit Dr. Hannemann; alles geht sehr schnell, Schüsse fallen, Crampas stürzt und stirbt. Wieder in Berlin, gerät Innstetten ins Grübeln. Die Frage der Verjährung quält ihn. Doch er ist sich sicher: Er muss Effi fortschicken und ruinieren, und sich selber auch.

Kein Haus. Nirgends Effi wartet in Bad Ems auf Post, seit Tagen schon. Die Zwicker, Geheimrätin Zwicker, redet und redet über Landpartieen, Moral, Sünde und dergleichen, ohne zu

bemerken, dass Effi sich schon die größten Sorgen macht. Schließlich kommt doch ein dickes Couvert an, eingeschrieben, aus Hohen-Cremmen. Effi öffnet den Brief, sieht Geldscheine, liest nur die ersten Zeilen. Sie kann sich gerade noch zurückziehen, erreicht ihr Zimmer und bricht ohnmächtig zusammen. Was die Mutter ihrer Tochter mitteilt, ist kurz gefasst Folgendes: In wenigen Wochen wird die Scheidung ausgesprochen sein. Annie wird beim Vater zurückbleiben. Effi wird sich gezwungen sehen, eine kleine Wohnung in Berlin zu suchen. Denn die Eltern werden sie wohl unterstützen, aber nicht in HohenCremmen aufnehmen. – Die Zwicker hat, versteht sich, alles das schon lange vorausgesehen; und es ist einzig und allein eine rhetorische Frage, die sie, nach Effis überstürzter Abreise aus Ems, in einem seitenlangen Schreiben an eine Freundin offen lässt: »Wozu giebt es Öfen und Kamine?« (305) Effi findet zunächst in einem Berliner Pensionat eine Bleibe, später übersiedelt sie in eine kleine Wohnung in der Königgrätzerstraße; Garten gibt’s keinen mehr. Nur wenige Menschen halten weiterhin zu ihr, eigentlich nur zwei: Dr. Rummschüttel und Roswitha. Diese, die Ähnliches wie Effi, wenn nicht sogar Schlimmeres erlebt hat, hält von den überkommenen und überholten Reglementierungen im protestantischpreußischen Milieu nicht viel, sie ist katholisch und deshalb mit dem Auf und Ab zwischen Sünde, Reue, Buße und Entlastung (Weber 2009, 103) wohlvertraut; und so überrascht sie Effi gelegentlich vielsagend mit einem Wiener Schnitzel oder einem Mitbringsel, das sie wie mechanisch im Habsburger Hof gekauft hat. – Ein Wiedersehen mit Annie, der mittlerweile zehnjährigen Tochter, endet in einem Desaster; Innstetten, der Schulmeister, hat, so scheint es, sein Kind schon entsprechend präpariert. Rummschüttel macht sich Sorgen um Effi, er registriert ein weit stärker als früher ausgeprägtes Nervenleiden, die Disposition zu einer chronischen Phthisis hat er ja immer schon beobachtet, kurz: er schreibt nach Hohen-Cremmen. Effi, erläutert er in seinem Brief, »siecht hin, weil sie nichts hat als Roswitha. Dienertreue ist schön, aber Elternliebe ist besser« (327). Der alte Briest, dem die Rolle des Großinquisitors längst schon ganz gehörig zusetzt, von den Ansprüchen der »Gesellschaft« gar nicht zu reden – »Ich kann’s aushalten. Der Raps steht gut« – schickt seiner Tochter daraufhin umgehend ein Telegramm: »Effi komm« (328). So lebt Effi, jetzt gemeinsam mit Roswitha, nach Jahren wieder bei ihren Eltern. Aber in ihren Ge-

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sichtszügen und Verhaltensweisen ist keine Verwandtschaft mehr zu sehen mit der sagenhaften Melusine, die Krankheit lässt sie nicht mehr los, und dem Kompliment, das sie, wieder auf ihrer Schaukel, von Niemeyer zu hören bekommt, sie sei noch immer so wie früher, muss sie energisch widersprechen: »Nein. Ich wollte, es wäre so [...], und ich hab’ es nur noch einmal versuchen wollen.« Ob sie wohl einmal doch in den Himmel hineinkomme, fragt sie den Pastor dann unvermittelt. Niemeyer beruhigt sie: »Ja, Effi, Du wirst« (333). – Die Luft, die ihr immer so wohlgetan hat, wird für sie gefährlich. Sie erkältet sich, hat ständig Fieber. Innstetten, von dem in Hohen-Cremmen nie mehr die Rede ist, erhält eines Tages zwei Briefe. Der erste kommt aus dem Ministerium und avisiert ihm die Beförderung zum Ministerialdirektor. Den anderen aber hat Roswitha aufgesetzt: Effi würde sich, schreibt sie, so sehr wünschen, Rollo wieder um sich zu haben. Innstetten, der die Karriere nicht mehr ähnlich hoch taxiert wie früher, überhaupt längst schon weit mehr »schmerzlichen Betrachtungen« (338) nachhängt, willigt ein; Roswitha? – »die ist uns über« (339), vermutet Wüllersdorf. Innstetten findet das übrigens auch. Der Neufundländer ist alt geworden. Aber er weicht seiner Herrin nicht mehr von der Seite. Er begleitet sie auf ihren Spaziergängen, und hin und wieder wirkt Effi, als wäre sie fast glücklich. Der Arzt weiß es allerdings besser, und auch Roswitha äußert vor Frau von Briest ihre Bedenken; »sie spricht immer so still vor sich hin, und mitunter ist es, als ob sie bete [...], mir ist, als ob es jede Stunde vorbei sein könnte« (346). Im letzten Gespräch mit ihrer Mutter kommt Effi indes noch einmal auf Innstetten zurück. Er sollte, meint sie, doch nach ihrem Tod erfahren, »daß er in allem recht gehandelt«, in der Auseinandersetzung mit Crampas wie auch in der Erziehung ihrer Tochter; »er hatte viel Gutes in seiner Natur«, fügt sie noch hinzu, und – wehmütig und spitz zugleich, »und war so edel, wie jemand sein kann, der ohne rechte Liebe ist« (348; vgl. dagegen Kloth-Manstetten 2015, 86: die in diesem Zusammenhang noch von Effis »Großmut und Großherzigkeit« spricht). Einen Monat später hat sich im Ziergarten der Familie Briest »eine kleine Veränderung« (349) vollzogen; die Sonnenuhr auf dem Rondell ist fort, an ihrer Stelle liegt eine weiße Marmorplatte mit der Aufschrift »Effi Briest«. Das Arrangement der Dinge ist sorgfältig wiederhergestellt, als wäre nie etwas passiert (vgl. Wertheimer 1996, 139; s. Kap. 35). Die Eltern

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aber ziehen ihre ganz persönliche Bilanz. »Ob wir sie nicht anders in Zucht hätten nehmen müssen«, gibt die Mutter jetzt zu bedenken. »Denn Niemeyer ist doch eigentlich eine Null, weil er alles in Zweifel läßt.« Der alte Briest ist da freilich in allem anderer Meinung, und dieses Mal, ausnahmsweise, behält er das letzte Wort: »Ach, Luise, laß ... das ist ein zu weites Feld« (350). – Der Erzähler verzichtet auf jeden weiteren Kommentar.

Nachwort Über diesen Schluss gehen die Ansichten in der einschlägigen Fachliteratur nach wie vor weit auseinander. Vermittelt der alte Briest, der befürchten muss, dass jede profunde Diskussion (gerade nach den letzten Äußerungen seiner Gattin) an diesem Punkt nur unerfreulich sich fortentwickeln kann und wahrscheinlich sinnlos ist, doch auch noch eine tiefere Wahrheit (Bender 2009, 418), oder steckt in seiner Redewendung, die er ja immer wieder gerne vorbringt, nichts als eine »dürftige Ausflucht« (Matz 2014, 183)? Es ist nicht ganz ausgeschlossen, dass beides zutrifft. Aber andererseits ist nicht zu übersehen, dass im Knäuel der Wahrnehmungen, die im Laufe der Handlung präsentiert werden, sehr vieles zwangsläufig in Schwebe bleibt: angefangen vom Mutter-Tochter-Verhältnis, das gelegentlich pathologische Züge impliziert (s. Kap. 23, 39, 43), bis hin zu Innstettens Angstapparatur, wie jedenfalls Crampas sie vor Effi aufrollt, oder auch zu all den Anspielungen auf die sozialen Gegebenheiten und (ungeschriebenen) Gesetze in der Ära Bismarck (s. Kap. 1, 4, 5, 26). Immer wieder bleibt einigermaßen offen, wie weit die Figuren selbst die Handlung vorwärtstreiben oder wie weit sie umgekehrt getrieben werden (s. Kap. 36–38). Sind sie Opfer, Täter? »Alle Knotenpunkte der Roman-›Handlung‹ weisen diese Ambivalenz des Aktionsmodus auf« (Helmstetter 1997, 195): Effis Heirat mit Innstetten, ihre Beziehung zu Crampas, sogar ihr Tod (der beinah einem Selbstmord gleichkommt); alles ist nicht allein auf die Intentionen der Figuren zurückzuführen und doch geschieht es auch nicht ganz gegen ihren Willen. Eines ist bestimmt kein Zufall: dass in den letzten drei Kapiteln des Romans am Ende jeweils Figuren zu Wort kommen, die für die Berücksichtigung derartiger Ambivalenzen und mithin für mehr Menschlichkeit in einer manchmal doch schon kalt gewordenen Welt sehr viel übrig haben: nämlich Niemeyer, Wüllersdorf und der alte Briest.

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II Autor und Werk

Effi Briest-Kalender Der Beginn der Handlung lässt sich einigermaßen transparent aus etlichen Hinweisen erschließen: zum ersten aus einer Unterhaltung, in der über Nobiling gesprochen wird (77), also wohl über das Attentat, das Karl Eduard Nobiling am 2. Juni 1878 auf Kaiser Wilhelm I. verübt hat, zum andern aus einer Anspielung auf eine Judengeschichte (181), d. h. Lessings Ringparabel, und den Berliner Antisemitismusstreit (vom Herbst 1879), und zum dritten schließlich aus einer Anzeige der Oberammergauer Passionsspiele (245); in diesem letzteren Fall kommt einzig und allein das Jahr 1880 in Frage (weil die Spiele in Oberammergau nur alle zehn Jahre stattgefunden haben). – Effis Tochter kommt demnach 1879 zur Welt. Das beklemmende Wiedersehen zwischen Mutter und Tochter, Jahre nach Effis Scheidung (319), muss danach auf das Jahr 1889 datiert werden; Annie ist zu diesem Zeitpunkt nämlich zehn Jahre alt. Im darauf folgenden Jahr stirbt Effi: 1890.

November Crampas, der selbsternannte HeineExperte: Exotik und Erotik Dezember Aufführung des Lustspiels Ein Schritt vom Wege 27.12. Schlittenfahrt nach Uvagla. Der Schloon. Beginn der Affäre 31.12. Gieshübler lädt zum Silvesterball 1880

Januar/Feb. Heimliche Treffen zwischen Crampas und Effi Feb./März Effi in Berlin, Suche nach einer neuen Residenz 1.4. Innstetten tritt seinen Dienst als Ministerialrat an August Urlaubsreise nach Rügen, Flucht nach Dänemark September Effi bleibt bis zum Hochzeitstag in Hohen-Cremmen 1886

Juni/Juli 1878

Sommer 3.10. 14.11. 2.12. 14.12. 15.12. 31.12.

Effi ist siebzehn Jahre alt; Verlobung mit Geert von Innstetten Hochzeit in Hohen-Cremmen, anschließend Hochzeitsreise Ankunft des Brautpaars in Kessin; später erste Antrittsbesuche Der letzte dieser Besuche ist absolviert, Effi erleichtert Innstetten bei Bismarck eingeladen; Effi fürchtet sich im Haus Liederabend mit Marietta Trippelli bei Gieshübler Silvesterball: kurze Unterbrechung eines langweiligen Daseins

1879

April Juni 3.7. 15.8. Sommer Herbst

Major von Crampas kommt (mit seiner Familie) nach Kessin Effi engagiert Roswitha als Kindermädchen Annie erblickt das Licht der Welt Annie wird getauft. Erste Annäherung zwischen Crampas und Effi Effi mit Annie und Roswitha in Hohen-Cremmen Ausritte mit Innstetten und Crampas, später allein mit Crampas

Juli/Aug. August

Effi kommt zur Kur nach Schwalbach und nach Ems Innstetten entdeckt Crampas’ Liebesbriefe; Duell Effi, von Innstetten und von den Eltern verlassen, wieder in Berlin

1889

Sommer Herbst

Effis Wiedersehen mit Annie endet in einem Desaster Effi lebt (mit Roswitha) endlich doch wieder bei den Eltern

1890

Mai

Effi ist krank; Innstetten Ministerialdirektor. Beide sind ruiniert August Effi stirbt in Hohen-Cremmen September Effis Eltern sprechen über die Schuldfrage – »ein zu weites Feld« 1895

Oktober

Effi Briest erscheint im Verlag F. Fontane & Co. in Berlin

13 Handlung Literatur Bender, Niklas: Kampf der Paradigmen – Die Literatur zwischen Geschichte, Biologie und Medizin. Flaubert, Zola, Fontane. Heidelberg 2009. Bilgeri, Kathrin: Die Ehebruchromane Theodor Fontanes. Eine figurenpsychologische, sozio-historische und mythenpoetische Analyse und Interpretation. Diss. Freiburg i. Br. 2007. Brunner, Maria E.: »Man will die Hände des Puppenspielers nicht sehen« – Wahrnehmung in ›Effi Briest‹. In: FBl 71 (2001), 28–48. Dieterle, Regina: Theodor Fontane. Biographie. München 2018. Hamann, Elsbeth: Theodor Fontanes ›Effi Briest‹ aus erzähltheoretischer Sicht. Bonn 1984. Helmstetter, Rudolf: Die Geburt des Realismus aus dem Dunst des Familienblattes. Fontane und die öffentlichkeitsgeschichtlichen Rahmenbedingungen des Poetischen Realismus. München 1997. Kloth-Manstetten, Monika: Die versäumte Freiheit. ›Fehltritte‹ in Theodor Fontanes ›Effi Briest‹. In: Euphorion 109 (2015), 57–88. Lohmeier, Anke-Marie: Zeittafel/Datierungen zu Theodor

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Fontanes ›Effi Briest‹ [2017]. In: http://literaturlexikon. uni-saarland.de/fileadmin/Fontane/Zeittafel_Effi_Briest. pdf (24.1.2019). Masanetz, Michael: Vom Leben und Sterben des Königskindes. ›Effi Briest‹ oder der Familienroman als analytisches Drama. In: FBl 72 (2001), 42–93. Matz, Wolfgang: Die Kunst des Ehebruchs. Emma, Anna, Effi und ihre Männer. Göttingen 2014. Müller-Seidel, Walter: Theodor Fontane. Soziale Romankunst in Deutschland. Stuttgart 1980. Neuhaus, Stefan: Geheimrat Zwickers Affären. Zur Funktion einer Nebenfigur in Fontanes ›Effi Briest‹. In: FBl 64 (1997), 124–132. Weber, Max: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus [1904/05]. Köln 2009. Wertheimer, Jürgen: Effis Zittern: ein Affektsignal und seine Bedeutung. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 102 (1996), 134–140 (s. Kap. 35). Zalesky, Bodil: Erzählverhalten und narrative Sprechweisen. Narratologische Untersuchung von ›Effi Briest‹ mit Schwerpunkt in den Dialogen. Stockholm/Uppsala 2004.

Johann Holzner

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II Autor und Werk

14 Figuren Zu Fontanes Figurengestaltung sind seltsame Behauptungen im Umlauf, so, als hätte er seine Personen nur von außen und in Dialogen geschildert: »Darstellung der Innenwelt findet bei Fontane nicht statt. [...] Der Technik des Inneren Monologs oder auch nur der erlebten Rede bedient sich Fontane nicht« (Glaser 1980, 371; bekräftigt z. B. von Kremer/Wegmann 1995, 64). Dieses Fehlurteil muss erstaunen angesichts der vielfältigen Gegenbeispiele gerade im Roman Effi Briest (s. Kap. 36). Durchaus, wenn auch sparsam eingesetzt, liest man klare Erzählerkommentare zur inneren Verfasstheit Effis, Innstettens, des Verführers Crampas, auch des Apothekers Gieshübler (74, 119), der Mutter Briest (19) u. a. Erlebte Rede und Innerer Monolog finden sich ebenfalls, wenn auch sehr ungleich verteilt (Neuse 1979; Hamann 1984, 391–394, 433–436). Die Inneren Monologe (z. B. Effi, 258–259) stehen in Anführungszeichen und sind nicht in der Form des Bewusstseinsstroms gehalten, sondern in normaler Sprechsprache, weshalb man sie auch Selbstgespräche, Soliloquien (Liebrand 1990) nennen kann. Jedenfalls geben sie den Lesern einen klaren Eindruck von der Gemütsverfassung der jeweiligen Person. Andererseits gibt es auffällige Leerstellen, die jenes Fehlurteil mitverursacht haben mögen (s. Kap. 37). Das betrifft vor allem (bis zur Auffindung der Briefe) Innstetten; aber auch Effis tatsächliche Gefühle bei der überfallartigen Verlobung oder während der Affäre mit Crampas bleiben uns verborgen (s. Kap. 35, 45). Der Erzähler arbeitet mit einem auffälligen Wechsel von Außen- und Innensicht, wobei z. B. das Kind Annie in der Tat fast nur von außen gezeichnet wird.

Die Hauptfiguren Als Hauptfiguren gelten hier Effi und jene Personen, die Einfluss auf ihren Lebensweg nehmen: ihre Eltern, ihr Gatte, ihr Verführer und die treue Dienerin Roswitha (wobei des Neufundländers Rollo ehrend zu gedenken wäre). Vorab zu Effi: Phantasievolle Deutungen, denen zufolge Effi die wieder ›aufgetauchte‹ Nina aus der Chinesengeschichte sein soll (Bindokat 1984, 132) oder aber die uneheliche Tochter des preußischen Kronprinzen und nachmaligen Kaisers Friedrich (Masanetz 2001), bleiben hier, als eigenständige Dichtungen, außer Betracht.

Effi Effi von Briest, von der wir nur den Rufnamen erfahren (6), der auch auf ihrem Grabstein stehen wird, und zwar, trotz des ihr vom Erzähler bescheinigten Adelsstolzes (263), ohne das »von«, ‒ Effi Briest also ist unbestreitbar die Zentralfigur des Romans (Grawe 1991, 236). Alle wichtigen Personen (außer dem unsichtbar bleibenden, aber sehr wirksamen Fürsten Bismarck) sind auf sie bezogen. Ausnahmen bilden die Angestellten Innstettens, sein Freund Wüllersdorf und einige Nebenfiguren aus Kessin und Umgebung. Zur Namengebung »Effi« könnte Fontane durch die Gestalt der unglücklichen Effie Deans in dem von ihm gleich zweimal mit großer Bewegung gelesenen Roman Das Herz von Midlothian des von ihm verehrten Sir Walter Scott angeregt worden sein (Neuhaus 1996, 246–249). Mitgespielt haben könnte der Skandal um Effie (Euphemia) Gray, die mit dem Kunstkritiker John Ruskin verheiratet war, 1854 aber ein Verhältnis mit dem Maler John Everett Millais einging, den sie nach der Scheidung 1855 auch heiratete. Fontane schätzte sowohl Ruskin als auch Millais und dürfte spätestens im September 1855, als er für mehrere Jahre nach London übersiedelte, von den Vorgängen erfahren haben. Hubertus Fischer hat darauf aufmerksam gemacht, dass auch die Tochter von Effie und John Everett Millais Effie genannt wurde und der befreundete George Du Maurier auf sie bezogene Zeichnungen in der Zeitschrift Punch veröffentlicht hat, die Fontane gekannt haben könnte (Fischer 2012). Wie auch immer: Fontane, der die Protagonistin zunächst »Betty von Ottersund« hatte nennen wollen, empfand die schließlich gefundene Lösung als »sehr hübsch, weil viel e und i darin ist; das sind die beiden feinen Vokale« (DÜW 2, 443), ‒ die er freilich auch Geert von Innstetten gönnte. Das apokopierte ›e‹ aus ›Effie‹ ist dann auf die (gerne falsch zitierte) Tochter Annie übertragen worden. Bekanntlich hat Fontane sich in gewisser Weise mit seiner Protagonistin identifiziert (s. Kap. 8). Innstettens zunächst in der Provinz Posen angesiedelte Wirkungsstätte hat er an die Ostsee und in eine seinem Kindheitsort Swinemünde sehr ähnliche kleine Badestadt verlegt (Hehle 2002). Auch die Apotheke in Swinemünde galt als Spukhaus, und auf Effi übertragen hat der Autor seine Neigung zum Aparten, seine Lust am Versteckspiel, die Angstlust beim Schaukeln auf einem nicht ganz intakten Gerät und die Affinität zum Wasser (s. Kap. 21, 27, 28). Die Sympathie des Erzählers für die Protagonistin

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2019 S. Neuhaus (Hg.), Effi Briest-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04874-5_14

14 Figuren

ist unübersehbar. Das steigert sich bis zur persönlichen Anrede: »Arme Effi, Du hattest zu den Himmelswundern zu lange hinaufgesehen« (345). Schon zu Beginn teilt er das Entzücken Luise von Briests an der 17-Jährigen und meint: »In allem, was sie that, paarte sich Übermut und Grazie, während ihre lachenden braunen Augen eine große, natürliche Klugheit und viel Lebenslust und Herzensgüte verrieten« (6–7). Später spricht auch die Mutter noch einmal von Effis Herzensgüte, die sie aber offenbar nicht mit moralischem Gutsein gleichsetzt: Effi habe »eine Zug, den lieben Gott einen guten Mann sein zu lassen und sich zu trösten, er werde wohl nicht allzu streng mit ihr sein« (254). Auch der Erzähler weist auf Schwächen der jungen Frau hin. Da geht es nicht nur um ihre Neigung zum »Aparten« (25), vor der Innstetten sie später warnt (100), sondern um eine gewisse Charakterschwäche (198–199), die sie sich auch selbst zuschreibt (84); nach eigener Einschätzung hat sie keine Grundsätze (38). Mit den Worten der Mutter: »Sie läßt sich gern treiben [...]. Kampf und Widerstand sind nicht ihre Sache« (255). In der Tat ist sie ja in die Affäre mit Crampas allmählich und zum Schluss gar buchstäblich ›hineingeschlittert‹. Was sie für Crampas empfindet, ist schwer zu sagen. Nach Annies Besuch beteuert sie, sie habe ihn nicht einmal geliebt (325). Warum aber das rote Bändchen um die Briefe (270)? Die Erzählerkommentare lassen sie vor der Schlittenpartie zur Oberförsterei in einer Art Sog erscheinen (vergleichbar dem Schloon), dem sie sich nicht entziehen kann oder will. Anziehend für sie ist wohl der Umstand, dass Crampas sie nicht als halbes Kind, sondern als Frau behandelt. Die entsprechende Veränderung bemerkt auch Innstetten (211). Andererseits weiß sie doch um die Vergangenheit des »Damenmanns« mit vielen Verhältnissen (122), müsste also doch davon ausgehen, dass auch ihre Verbindung nicht von Dauer sein wird. Da sie und Crampas, während die Affäre im Gang ist, nicht miteinander dargestellt werden, bleibt da einiges offen. Zu Beginn ist sie ein unreifes, übermütiges, unbeschwertes und phantasievolles Kind. Durch die überstürzte Verlobung und Heirat wird sie aus ihrem eigentlichen Zuhause und der ihr gemäßen Lebensweise herausgerissen (s. Kap. 24). Nicht umsonst kehrt sie immer und am Schluss endgültig nach Hohen-Cremmen zurück, bricht im Gespräch mit ihrer Mutter nach der Verlobung in heftiges Weinen aus (35). Mit Recht meint ihr Vater: »Eigentlich ist es so, als wäre dies hier immer noch ihre Heimstätte« (252). Ihr Gatte bleibt ihr im Grunde fremd, so sehr sie

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sich auch bemüht, ihm zu Willen zu leben. Von ihrem Aufenthalt in Hohen-Cremmen nach Annies Geburt heißt es unverblümt: »mehr als einmal [...] war ihr’s ganz aus dem Sinn gekommen, überhaupt verheiratet zu sein. Das waren dann glückliche Viertelstunden gewesen« (138). Ihre Wunschvorstellungen von der Ehe (34–35: »ich bin für gleich und gleich und natürlich auch für Zärtlichkeit und Liebe. Und wenn es Zärtlichkeit und Liebe nicht sein können, [...], dann bin ich für Reichtum und ein vornehmes Haus, ein ganz vornehmes, wo Prinz Friedrich Karl zur Jagd kommt«) erfüllen sich nicht: Innstetten ist kein »Liebhaber« (119) und ein vornehmes Haus ist die Wohnung »Keithstraße 1c, zwei Treppen hoch« (337) natürlich auch nicht. Zwar gewinnt Effi das Wohlwollen der Kaiserin und des Kaisers (262), aber sie wird weder wie Aschenbrödel als Prinzessin erwachen (29) noch wie das Käthchen von Heilbronn als eine solche entdeckt werden (Gilbert 1979). Am Anfang kommentiert Frau von Briest Effis turnerische Darbietungen mit der Kennzeichnung: »Immer am Trapez, immer Tochter der Luft« (7). Ob Fontane da an Raupachs gleichnamiges Schauspiel von 1829 gedacht hat oder an das dem zugrunde liegende Drama La Hija de la Aire von Calderón de la Barca (1652; in beiden Stücken geht es um die sagenumwobene und Verderben bringende assyrische Königin Semiramis) oder doch einfach, wie im 6. Kapitel der damals schon entworfenen Mathilde Möhring, an eine Berliner Trapezkünstlerin (Böschenstein 2006, 78), ist im Grunde gleichgütig. Es geht um die Kennzeichnung des ›Naturkindes‹ (41) als eines auf reine, freie Luft angewiesenen Wesens, die sich leitmotivisch durch den Roman zieht, bis hin zu ihrem immer wachsenden Lufthunger, der ihr schließlich den Tod bringt. Bei der verhängnisvollen Schlittenfahrt mit Crampas, als Innstetten in den Waldweg eingebogen ist, schrickt sie zusammen: »Bis dahin waren Luft und Licht um sie her gewesen, aber jetzt war es damit vorbei« (189). Bei ihren Gängen zu Crampas beruft sie sich auf eine (angebliche?) ärztliche Verordnung: »Bewegung sei alles, Bewegung und frische Luft«[!] (200). Nach ihrem Zusammenbruch nach Annies Besuch empfiehlt Rummschüttel dringend einen Luftwechsel, genauer: eine Rückkehr nach Hohen-Cremmen, was ihr Sterben aber nur hinauszögert. Ihre laut Rummschüttel schon immer vorhandene »Disposition zu Phtisis« (327), zur Tuberkulose also, führt zum Tod (s. Kap. 25). Zum Luftbedürfnis Effis gehört auch das waghalsige Schaukeln »auf dem durch die Luft fliegenden

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Schaukelbrett« (138). Dem Motiv des (Dahin-)Fliegens in diesem Roman hat Peter Demetz ein eigenes Kapitel gewidmet (Demetz 1973, 179–189). Das Schaukeln steht aber auch für eine gewisse Unbestimmtheit in Effis Charakter. Es ergibt einen Sinn, dass sie Crampas beim ersten ausführlicheren Gespräch mit ihm in einem Schaukelstuhl empfängt (144). Später sagt sie: »da fing es an« (257). Vor der überstürzten Verlobung mit dem ehemaligen Liebhaber ihrer Mutter ist sie unter Druck gesetzt worden, insofern Luise von Briest an ihre Klugheit appelliert und ihr einen großen gesellschaftlichen Aufstieg prophezeit hat (18). Mit den oberflächlichen Glücksbekundungen gegenüber ihren Freundinnen (21) scheint sie eher über tatsächliche Unsicherheiten hinwegreden zu wollen. Ähnlich steht es mit ihrer Antwort auf die Frage der Mutter, ob sie Innstetten nicht liebe (»Noch ist es Zeit«): »Ich liebe alle, die’s gut mit mir meinen« (37). Ihr dann folgendes Bekenntnis: »ich fürchte mich vor ihm« (38), bleibt ohne Konsequenzen. In Kessin bekommt ihre Furcht neue Nahrung durch den angeblichen Chinesen-Spuk und Innstettens unklare Haltung dazu (s. Kap. 22). Ohnehin neigt sie zu Visionen und Träumen (51); unter »Albdruck« hat auch ihr Vater zu leiden (87). Dass sie sich gleich beim ersten Mal, als Innstetten sie über Nacht allein (aber ja doch in Gesellschaft der Bediensteten) lässt, so ängstlich echauffiert, wirkt übertrieben. Ob man sie deshalb, auch ihrer Ohnmachten und ihres nervösen Zitterns wegen, als Hysterikerin einstufen soll (Kuhnau 2000; Marquardt 2010), steht dahin (s. Kap. 35, 43, 45). Ein von Beginn bis zum Ende vorherrschender Wesenszug ist ihre immer wieder betonte Liebenswürdigkeit, in deren Bann zu stehen Innstetten noch im Gespräch mit Wüllersdorf bekennt (277). Bei den bigotten Landadligen verfängt aber keine Liebenswürdigkeit. Womit Effi es sich verdient, als »rationalistisch angekränkelt« oder gar als »Atheistin« bezeichnet zu werden (75), bleibt unklar. Unzutreffend ist es in jedem Fall. Kurz vor ihrem Tod meint Effi zwar, sie sei »immer eine schwache Christin gewesen« (345), hofft aber doch auf ein Jenseits. In Berlin faltet sie die Hände zu einem Stoßgebet: »Nun, mit Gott, ein neues Leben! [...]« (239). Am Ende ihrer Gewissenserforschung nach der Rügen-Reise ruft sie ob ihrer unzureichenden Schuldgefühle »Gottes Barmherzigkeit« an (259), und auch in ihrer Verzweiflung nach Annies Besuch wendet sie sich an Gott (325). Vor ihrer Abreise in die Bäderkur hat sie Roswitha gefragt, ob sie denn nie zur Beichte gehe, und gemeint, es sei doch ein Glück, wenn

man sich etwas von der Seele reden könne (264). Hier schimmert ein eigenes Bedürfnis durch, und von daher sind vielleicht auch ihre seltsamen Reden »von den Berliner Modepredigern« zu erklären, von denen die Geheimrätin Zwicker berichtet (305). Effi ist kein reines Naturkind, ist vielmehr »fest protestantisch erzogen« worden (134) und hat ja auch die gesellschaftlichen Normen weitgehend verinnerlicht (s. Kap. 23, 26, 30). Ihre Affinität zu Luft und Wasser verleiht ihr melusinenhafte Züge, aber sie darum gleich ein Elementarwesen zu nennen, das mit dem Eintritt in die Gesellschaft qua Heirat eine entscheidenden Fehler begangen habe (Weber 1966), geht wohl doch nicht an. Den Fehler bei ihrer Heirat begehen Innstetten und Effis Eltern. Innstetten Geert von Innstetten ist die rätselhafteste Figur in diesem Roman. Schon sein Name befremdet: »So heißt doch hier kein Mensch«, sagen Effis Freundinnen (10). Ob Fontane wusste, dass Erasmus von Rotterdam eigentlich Geert Geertsen hieß oder dass es einen Passauer Stadtteil namens Innstadt gibt, ist ungewiss. Renate Böschenstein hat sowohl auf Erasmus als auch auf die mit Fontane bekannte Familie von Inn- und Knyphausen verwiesen (Böschenstein 1996b, 47). Was treibt den Baron dazu, nach einer nur einmaligen Begegnung mit Effi im Hause Belling schon am übernächsten Tag um ihre Hand anzuhalten? Hat er ein Déjà-vu-Erlebnis gehabt (laut Rummschüttel ist Effi vom Gesicht her ja »Ganz die Mama«, 235)? Oder weiß er schon seit längerem von der Existenz Effis und geht planmäßig vor? Wir erfahren es nicht. Jedenfalls wird klar, dass er nach dem Scheitern der Beziehung zu Luise von Belling keineswegs entsagt hat, wie Effi glaubt (9), sondern nun eben statt der Mutter die Tochter nimmt. Effi selbst ist zunächst gar nicht gemeint (Swales 1980, 116). Auf das englische Wort »instead« im Namen »Innstetten« hat Renate Böschenstein hingewiesen (Böschenstein [1988] 2006, 169), und da er sich seinerzeit zwar nicht umgebracht hat, es aber »ein bißchen [...] doch so ›was« gewesen ist (12), kennzeichnen sie und Elsbeth Hamann ihn als Revenant seiner selbst (Hamann 1984, 172; Böschenstein 1996b, 48). Wenn man das nicht wörtlich nimmt, hat es etwas für sich, denn davon, dass er, nach der damaligen Meinung von Luises Bruder, »ein Zärtlichkeitsmensch und unterm Liebesstern geboren« sei (143), ist nicht mehr viel zu spüren (Böschenstein 1996a, 264–265). Nüchtern hält der Erzähler fest: »Innstetten war lieb und

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gut, aber ein Liebhaber war er nicht. Er hatte das Gefühl, Effi zu lieben, und das gute Gewissen, daß es so sei, ließ ihn von besonderen Anstrengungen absehen« (119). Folgt die Schilderung eines ›gewöhnlichen‹ Abends, der mit »ein paar wohlgemeinten, aber etwas müden Zärtlichkeiten« endet, »die sich Effi gefallen ließ, ohne sie recht zu erwidern« (120). Im Entwurf zum Roman hatten zwischen Verlobung und Hochzeit noch ein Besuch des Bräutigams und eine längere Aussprache stattgefunden (394). In der endgültigen Fassung fehlt das, und die Ehe wird schon in der Hochzeitsnacht vollzogen (und Annie gezeugt). Innstetten genießt den ›Besitz‹ einer schönen jungen Frau und sagt ihr zuweilen auch Huldigendes, z. B. nach ihrem Erfolg als Ella in Wicherts Stück Ein Schritt vom Wege (170). Hauptsächlich geht es ihm um seine Karriere, was sich nicht nur in den Besuchen bei Bismarck niederschlägt, sondern auch in seinem Engagement für die »Wahlkampagne« (152), das Crampas die Gelegenheit verschafft, sich Effi weiter zu nähern. Die ist durchaus auch an Innstettens Karriere interessiert, behauptet sogar einmal, sie habe ihn »eigentlich bloß aus Ehrgeiz geheiratet« (95). Was sie vermisst, ist menschliche Wärme. Schwer zu verstehen ist Innstettens Verhalten auf der Rückfahrt von der Oberförsterei: Warum lenkt er den Schlitten nicht wie am Nachmittag um den Wald herum, sondern biegt »in einen schmaleren Weg ein, der mitten durch die dichte Waldmasse hindurch führte« (189; ein der Traumdeutung kaum bedürftiges Bild)? Und wieso dann das Verhör Effis am anderen Morgen? Sein Tun bleibt rätselhaft. Als Effi sich bei der Nachricht von der Übersiedlung nach Berlin mit ihrem emphatischen »Gott sei Dank!« beinahe verrät, ist von seinem ihn seit Wochen immer wieder anfallenden Argwohn die Rede, dessen er aber auf ihre Ausreden hin wieder Herr wird (214–215). Ein hervorstechender Charakterzug Innstettens ist seine Furcht vor Lächerlichkeit. Dass er seine Besuche bei Bismarck nicht mit dem Hinweis auf Effis Spukangst einstellen kann, leuchtet ein (s. Kap. 22). Aber dass er das Haus, das nicht einmal über ein Esszimmer verfügt und auch keinen Platz für Gäste bietet, nicht wechseln könnte, ohne sich lächerlich zu machen, ist nicht einzusehen. Er hätte ja nur auf den größeren Raumbedarf nach der Eheschließung hinzuweisen brauchen (Hanraths 1997, 212). Als Vater Briest sich darüber wundert, dass Innstetten während Effis und Annies sechswöchigem Aufenthalt in Hohen-Cremmen »nicht ’mal Urlaub genommen hat und ’rübergeflitzt ist«, versucht Effi noch, ihn, gegen ihr eigenes

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Gefühl, zu rechtfertigen: »Wenn man zu zärtlich ist ... und dazu der Unterschied der Jahre ... da lächeln die Leute bloß.« »Ja, das thun sie«, sagt Briest: »Aber darauf muß man’s ankommen lassen« (141). – Gilt das nicht auch für Innstettens Angst davor, Wüllersdorf könnte später vielleicht über seine oder Effis Äußerungen lächeln (279–280)? Das ist ja sein letztes Argument für die Entscheidung, Crampas zu fordern, und es ist gar nicht einzusehen, dass Wüllersdorf dann zustimmt (s. u.). In Entwürfen hatte er noch ein Argument, das Innstetten wirklich zur Entscheidung gedrängt hätte: Effi, die er ja aufklären müsse, werde zunächst zwar voller Dankbarkeit sein, sich später aber vielleicht doch fragen, ob er wirklich ein Mann von Ehre sei (Schafarschik 1972/2002, 80). Das hat Fontane gestrichen und damit Platz geschaffen für Innstettens Inneren Monolog nach dem Duell: »Ich mußte die Briefe verbrennen, und die Welt durfte nie davon erfahren« usw. (287). Da ist immer noch das Problem, dass er Wüllersdorf (stellvertretend für ›die Welt‹) ins Vertrauen gezogen hat, nicht aber eine Furcht vor Effis Missachtung. Dieser Innere Monolog widerlegt auch Dieter Krohns Meinung, es gehe gar nicht um Wüllersdorf, sondern Innstetten fürchte Spott und Verachtung von Seiten Effis und ihres Verführers (Krohn 1997, 160–161). Sehr wohl aber ist ihm darin zuzustimmen, dass Innstettens angebliche Freiheit von Hass- und Rachegefühlen (277) nicht bedeutet, dass er (»unendlich unglücklich«, »gekränkt, schändlich hintergangen«) nicht doch voller Aggressionen gegen Crampas und Effi steckt (Krohn 1997, 162). Dazu passt seine Reaktion auf Wüllersdorfs Worte vor dem Duell: »Sie vergessen, es kann auch alles glatt ablaufen«: »Darf nicht« (284). Darum schießt er Crampas nicht kampfunfähig, sondern tötet ihn. Und leidet seither unter dem letzten Blick des Sterbenden, der ihm, wie er meint, die Lächerlichkeit seines Verhaltens vor Augen gestellt hat (287: »halbe Komödie«). Immer wieder zitiert wird Fontanes Brief an Clara Kühnast vom 27. Oktober 1895, in dem er Innstetten gegen den Vorwurf, ›ein alter Ekel‹ zu sein, in Schutz nimmt: »Denn eigentlich ist er (Innstetten) doch in jedem Anbetracht ein ganz ausgezeichnetes Menschenexemplar, dem es an dem, was man lieben muß, durchaus nicht fehlt« (DÜW 2, 452). Offenbar ist hier eine Art Wiedergutmachungswille des Autors gegenüber der ja doch fragwürdiger gezeichneten Romanfigur am Werk. Schon dass die Tochter Annie in beiden Gesprächen mit Wüllersdorf mit keiner Silbe erwähnt wird, obgleich es doch auch um ihre Zukunft geht bzw. sie

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dem Vater doch ein Lichtblick in seinem ›verpfuschten Leben‹ (340) sein könnte, berührt eigenartig. Hat der Autor sie vergessen oder denkt Innstetten nur an sich? Nach dem Duell beauftragt er Johanna, der Tochter allmählich beizubringen, »daß sie keine Mutter mehr hat. Ich kann es nicht« (289). Die Entscheidung darüber, ob man Innstetten als »alten Ekel« beurteilt oder nicht, hängt wesentlich von zwei Einschätzungen ab: Manipuliert er tatsächlich den angeblichen Spuk als »Angstapparat aus Kalkül« (157) und hat er Annie tatsächlich »wie einen Papagei« abgerichtet (325)? Die Mehrzahl der Interpretinnen und Interpreten bejaht diese Fragen, großteils ohne jeden Zweifel. In Wahrheit bleibt die Beziehung Innstettens zu dem ›Spuk‹ ungeklärt (s. Kap. 22) und hinsichtlich Annies hat Elisabeth Hoffmann mit Recht darauf hingewiesen, dass Effi da nur eine Vermutung äußert, dass auch Johanna dem Kind den Satz »O gewiß, wenn ich darf« eingeredet haben könnte oder dass Annie in ihrer Verlegenheit schlicht nichts anderes einfällt (Hoffmann 1994, 78–79); das verlegene Zupfen an der Tischdecke hat der Autor ihr ja aus seinem eigenen Kinderleben mitgegeben (509). Bleibt die Entscheidung für Duell und Scheidung sowie eine strikte Kommunikationssperre gegenüber Effi. Das Natürlichste wäre ja, dass Innstetten nach Bad Ems fährt und Effi zur Rede stellt oder dass er sie per Telegramm zurückbeordert. Das würde aber schon den Verzicht auf das Duell bedeuten, da nach damaligem Usus eine Forderung binnen 24 Stunden nach Kenntnis von der Beleidigung überbracht werden musste. Schon vor der Unterredung mit Wüllersdorf hat Innstetten sich für das Duell entschieden, denn er bittet seinen Gast ja gleich darum, eine Forderung zu überbringen und dann sein Sekundant zu sein: »Und nun Ihre Antwort« (275). Erst auf Nachfrage erklärt er, worum es geht, und versucht alle Gegenargumente abzuwehren. Dass er damit, dass er Wüllersdorf einweiht, das Heft aus der Hand gibt, wird von manchen Interpreten bestätigt: Mit Wüllersdorf sei die Öffentlichkeit informiert (Mittenzwei 1970, 144; Scholter 1999, 53). Das kann man auch anders sehen (Walter-Schneider 1983, 305; Liebrand 1990, 297–298). Mitentscheidend für die Beurteilung von Innstettens Entschluss ist die Frage der sogenannten Verjährung (276, 278, 286–287). Fontane lässt den betrogenen Ehemann die Briefe ja nicht (wie im realen Fall Armand von Ardenne) während der Affäre seiner Frau finden, sondern über sechs Jahre danach. Muss Innstetten als ein Mann, der »nach Grundsätzen handelt« (320), gleichwohl zur Tat schreiten? In den Au-

gen des sterbenden Gegners glaubt er zu lesen: »Innstetten, Prinzipienreiterei ... Sie konnten es mir ersparen und sich selber auch« (287). Dass im wilhelminischen Deutschland Adel und Militär noch an dem längst als zumindest fragwürdig durchschauten Duellwesen festhielten (s. Kap. 26), hat Fontane auch anderweitig (z. B. in Irrungen, Wirrungen) thematisiert (s. Kap. 11, 12). In Effi Briest wird die Fragwürdigkeit durch den großen Zeitabstand zwischen der ›Tat‹ und ihrer Entdeckung noch verschärft. Auch Roswitha, von der Wüllersdorf und Innstetten später sagen: »die ist uns über« (339), meint: »Aber wenn es so lange her ist ...« (292). Eher beiläufig wird mitgeteilt, Innstetten sei ein »Wagner-Schwärmer«, was teils auf seine Nervosität (Kuhnau 2000: Neurasthenie), teils auf »Wagner’s Stellung zur Judenfrage«, sprich: seinen Antisemitismus, zurückgeführt wird (120; s. Kap. 10). Fontane selbst hegte durchaus antisemitische Ressentiments, die in Briefen zuweilen sehr unerfreulich zur Ausdruck kamen (Horch 2000; Müller-Seidel 2002, 134–150). In seinen Dichtungen war er viel zurückhaltender (ebd.; Mecklenburg 2018, 192). In Effi Briest finden sich nur Andeutungen: Güldenklees Polemik gegen Lessings Ringparabel (181), die auch Fontane selbst »der Afterweisheit des vorigen Jahrhunderts« zurechnete (474), ferner Briests Erwartung vom Schwinden christlicher Bankiers (263) und Effis Abneigung gegen den schwarzlockigen Prediger in der Christuskirche (314), den zum Protestantismus übergetretenen Paulus Cassel (s. Kap. 10); die »sehr hübsche galizische Jüdin, von der niemand wußte, was sie eigentlich vorhatte« (308) bleibt ein bloßer Farbtupfer in der Schilderung von Effis zeitweiligem Pensionatsaufenthalt. Auf dem Sterbebett will Effi sich »mit Gott und Menschen« versöhnen (347) und widerruft ihre Anklagen nach Annies Besuch: Innstetten habe in allem Recht gehabt und »war so edel, wie jemand sein kann, der ohne rechte Liebe ist« (348). Das ist, wider Willen, im Grunde eine Verurteilung. Der Anklang an den ersten Brief des Apostels Paulus an die Korinther, den im Stechlin Pastor Lorenzen nahezu wörtlich zitiert (GBA 17, 185: »Und du hättest der Liebe nicht«), ist deutlich. Die Folgerung im Paulus-Brief (»so wäre ich ein tönend Erz oder eine klingende Schelle«) hat auch Thomas Mann (s. Kap. 19) in seiner Besprechung des Fontane-Buchs von Conrad Wandrey aufgegriffen: Innstettens Sprechen gleiche »nur noch einer tönenden Schelle« (zit. nach Schafarschik 2002, 133). Dem toten Herrn von Stechlin ruft Lorenzen nach: »er hatte die Liebe. Nichts Menschliches war ihm

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fremd [...] all das war sein: Friedfertigkeit, Barmherzigkeit und die Lauterkeit des Herzens (GBA 17, 449). An Barmherzigkeit hat Innstetten es in der Tat fehlen lassen. – Man wird aber auch fragen dürfen, gegenüber wem Effi selbst denn »rechte Liebe« empfunden und geübt hat. Effis Eltern Effis Eltern, der Ritterschaftsrat von Briest (18: »ein wohl konservierter Fünfziger«) und seine 38-jährige Frau Luise, geb. von Belling, sind ein für die damalige patriarchalische Gesellschaft atypisches Paar, insofern alle nicht gerade das Landgut betreffenden Entscheidungen von der Gesellschaftsdame Luise getroffen werden. Effi sagt: »Die Mama [...] ist sehr bestimmt und kennt nur ihren eignen Willen. Dem Papa gegenüber hat sie alles durchsetzen können« (219). Sie ist es ja auch, die Effi in die Verbindung mit Innstetten hineindrängt. Zufrieden denkt sie: »sie hatte es nicht sein können, nun war es statt ihrer die Tochter – alles in allem ebenso gut oder vielleicht noch besser. Denn mit Briest ließ sich leben« (19) – besser also für sie selbst. Ob bei ihrem Tun »späte Reue und Wiedergutmachung« gegenüber Innstetten eine Rolle spielen (Grawe 1991, 230), kann nur vermutet werden. An das Wohl ihrer Tochter denkt sie jedenfalls nur im Sinne eines gesellschaftlichen Aufstiegs (s. Kap. 23). Immerhin bemüht sie sich nach der Verlobung, Effis eigene Vorstellungen und Gefühle zu ergründen (37: »Noch ist es Zeit«), aber das Geständnis der Braut, dass sie sich vor Innstetten fürchte, bleibt ohne Konsequenz. Als Briest nach der Hochzeit seine Befürchtung äußert, dass Effi Innstetten nicht recht liebe (42), versucht seine Frau ihn zu beruhigen, fürchtet aber selbst, dass Effis »Hang nach Spiel und Abenteuer« bei Innstetten kein Verständnis und keine Befriedigung finden werde. Auf Liebe sei sie nicht »so recht eigentlich« gestellt: »Wohl möglich, daß es alles ’mal kommt, Gott verhüte es« (43–44) – eine unbewusste Vordeutung auf die Crampas-Affäre. Als nach der Katastrophe Innstetten nicht etwa an Effi, sondern »nach HohenCremmen« geschrieben hat (290), ist es die Mutter, die Effi brieflich das Haus verbietet und über ihr künftiges Leben bestimmt. Nicht nur Innstetten, auch ihre Eltern verweigern ihr jede Möglichkeit zur Erklärung. Briest (dessen Vorname nicht genannt wird) ist mit seinem Geltenlassen, auch mit seinem Hang zu Frivolitäten ein wenig nach dem Bild des Autors selbst oder auch nach dessen Vater gezeichnet (Grawe 1998). Seine Bonhommie (18) und seine Liebe zu Effi sichern

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ihm die Sympathie der Leser. Aber die übereilte Verlobung hätte er verhindern müssen, statt sich in abgenutzten poetischen Bildern zu ergehen. Wenigstens eine Zeit, um einander kennenzulernen, wäre ja sinnvollerweise auszuhandeln gewesen. Seiner Meinung: »Eigentlich war es doch ein Musterpaar« (343), wird man kaum zustimmen können. Mit seinem berühmten Spruch vom (zu) weiten Feld macht er es sich zuweilen zu leicht, setzt damit aber auch ein Signal gegen die Engherzigkeit z. B. der Landadeligen in Hinterpommern. Schließlich ist er es, der die kranke Effi zurück nach Hohen-Cremmen holt und gegen die anhaltenden Bedenken seiner Frau den Vorrang der Elternliebe betont; und: »die ›Gesellschaft‹, wenn sie nur will, kann auch ein Auge zudrücken« (328). Crampas Major von Crampas (auch seinen Vornamen erfahren wir nicht) heißt so nach einem kleinen Badeort auf Rügen, der 1906 nach Sassnitz eingemeindet worden ist. In Vorstufen zum Roman hieß er noch Zinnowitz: nach dem Badeort auf Usedom. Schon früh war also vorgesehen, dass Effi auf einer Ferienreise durch einen Ortsnamen an ihren Ehebruch erinnert werden sollte. Ob Fontane bei der schließlichen Namenswahl auch an die süddeutsch-österreichischen, mit Teufelsfratzen ausgestatteten Krampusse gedacht hat, steht dahin. Jedenfalls hat der Name etwas Zupackendes, »Gewaltsames«, wie Effi sagt (169). Crampas ist sogar fünf Jahre älter als Innstetten, hat eine begreiflicherweise verhärmte Frau und ist Vater von zwei Kindern (bei der Ankunft in Kessin zehn und acht Jahre alt; 122). Er trägt einen rotblonden Sappeur- (= Voll-)Bart (Innstetten, 192) oder Schnurrbart (Johanna, 291) und wohl etwas schütteres Haupthaar (Effi, 144), ist laut Frau von Padden ein »schöner Mann« (196). Er gilt als »ein Mann vieler Verhältnisse« (122), was ihm schon einmal ein Duell und einen seither verkürzten linken Arm eingetragen hat. Im Krieg ist er mit Innstetten in derselben Brigade gewesen. Von seiner Berufung zum Landwehrbezirkskommandeur erhoffen die Innstettens sich eine Belebung des öden Kessiner Daseins und fallen sich bei dieser Nachricht in die Arme, »als könne uns nun nichts Schlimmes mehr in diesem lieben Kessin passieren [!]« (122). Mit seinem Plädoyer für Leichtsinn (151) stellt Crampas sich gegen Innstetten als den Mann der Grundsätze, und nicht nur dieser warnt Effi vor Crampas’ »Spielernatur« (172), sondern auch der Erzähler findet klare

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Worte: »Einem Freunde helfen und fünf Minuten später ihn betrügen, waren Dinge, die sich mit seinem Ehrbegriffe sehr wohl vertrugen« (158). Was Crampas tatsächlich für Effi empfindet, ist schwer zu sagen. Die wenigen Einblicke in sein Inneres deuten darauf, dass die schöne junge Frau für ihn nur eine weitere Eroberung nach bewährtem Muster darstellt (s. Kap. 24). Als er bemerkt, dass Effi sich während der Theaterproben von ihm zurückzieht, heißt es: »er war klug und Frauenkenner genug, um den natürlichen Entwicklungsgang, den er nach seinen Erfahrungen nur zu gut kannte, nicht zu stören« (169). Auf die Duellforderung reagiert er laut Wüllersdorf mit wehmütiger Resignation (282), schlägt als Austragungsort dann hintereinander zwei Stellen vor, an denen er sich mit Effi getroffen hat. Auch sein vielsagend unvollendeter Satz: »Wollen Sie ...« (286) sollte wohl eine Effi betreffende Bitte zum Ausdruck bringen. In einer ersten Fassung dieser Szene war es noch zu einem versöhnlichen Händedruck zwischen Crampas und Innstetten gekommen (Schafarschik 1972/2002, 82). Stattdessen lässt der Erzähler Innstetten ständig unter dem Blick des Sterbenden leiden, den der ›Sieger‹ als Spott über unnötige Prinzipienreiterei verstanden hat (287, 337). Roswitha Die katholische Dienerin und Kinderfrau Roswitha Gellenhagen ist eine Parallel- und Kontrastfigur zu Effi. Auch sie hat für ein unerlaubtes Verhältnis büßen müssen, geht aber daran nicht zugrunde, sondern findet nach wechselhaften Diensten mit der Fürsorge für Annie und später für Effi selbst eine neue Aufgabe. Nach ihrer Erzählung, wie ihr Vater mit der glühenden Stange auf sie losgegangen ist, ruft sie aus: »Ach, gnädigste Frau, die heil’ge Mutter Gottes bewahre Sie vor solchem Elend« (208), was Effi ihr als »ungehörig« verweist; aber auch ihr wird ja das Kind genommen werden. Und tragische Ironie liegt darin, dass Roswitha, indem sie den Nähtisch aufbricht, zu Effis Unglück beiträgt. Effis anfängliche Einschätzung: »Gute braune Augen, die einen treu und zuversichtlich ansehen. Aber ein klein bißchen dumm« (125) bedarf einer Teilkorrektur. Mit Recht sagt Roswitha in der Auseinandersetzung mit Johanna (einem Parallelgespräch zu dem zwischen Innstetten und Wüllersdorf): »ich bin nicht so dumm, wie Sie mich immer machen wollen« (292), und über ihr späteres Zusammenleben mit Effi heißt es, dass sie auf deren Beängstigungen »jedesmal gut zu

antworten« wusste und »immer Trost und meist auch Rat« hatte (313). Nicht umsonst meinen Wüllersdorf und Innstetten nach der Lektüre von Roswithas Bittbrief: »die ist uns über« (339). Ihre schlichte Menschlichkeit steht höher als Innstettens Handeln »nach Grundsätzen« (320). Schon dem toten Chinesen galt ihr Mitleid: »Denn die Chinesen sind doch auch Menschen, und es wird wohl alles ebenso mit ihnen sein, wie mit uns« (205). Erst recht gilt das für Effi, »meine liebe, arme Frau« (291). Roswitha steht »für den gesunden Menschenverstand, ja, sie spricht sogar mit der Stimme der Vernunft« (Sagarra 1995, 53). Bismarck Die Stellung Fontanes zum Reichskanzler Otto von Bismarck war ambivalent, neigte gegen Ende der Kanzlerschaft eher zum Negativen (Müller-Seidel 1967; Loster-Schneider 1986, 236–257). In einem Brief an Maximilian Harden vom 4. März 1894 hat er hervorgehoben, der nach seiner Kürassier-Uniform, aber durchaus mit mephistophelischem Nebensinn benannte »Schwefelgelbe« gehe in allem um, was er seit 1870 geschrieben habe (Grawe 1996, 62). In Effi Briest wird Bismarck, der stets unsichtbar bleibt, zu einer geheimen Hauptfigur, insofern Innstettens Besuche bei ihm zur Entfremdung der Eheleute beitragen. Dass Effi auch dann, »wenn Besuch da war« (79), nicht dazu geladen wird, stellt gesellschaftlich im Grunde einen Affront dar, den der Erzähler aber nicht thematisiert. Dass Fontane den Kanzler zu Lebzeiten nicht gut in einem Roman auftreten lassen konnte, versteht sich. Sehr wohl aber hätte die Möglichkeit bestanden, Innstetten und Effi nachträglich über einen solchen Besuch sprechen zu lassen, wie ja auch die Verlobungsszene und die Theateraufführung nicht selbst dargestellt werden. Offenkundig ging es darum, Bismarck bzw. Innstettens Abhängigkeit von ihm als Gegenpol zu der Beziehung der Eheleute einzusetzen. Schon bei der Ankunft der Frischvermählten in Klein-Tantow wird darauf hingewiesen, dass der Weg sich am Gasthof »Zum Fürsten Bismarck« gabelt: rechts nach Kessin, links zu Bismarcks Gut Varzin (49). Auffällig ist, dass Bismarcks Schatten nur über das erste Kessiner Jahr fällt. Als im 18. Kapitel mitgeteilt wird, dass Innstettens Fahrten wegen der Übersiedlung des Fürsten nach Friedrichsruh künftig entfallen werden (167), ist Effis Beziehung zu Crampas allerdings schon so weit gediehen, dass der nur noch »den

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natürlichen Entwicklungsgang« abzuwarten braucht (169). In Berlin lässt Innstetten sich zwar zum Geburtstag des Kanzlers in eine Gratulationsliste eintragen (242), aber hinfort ist von ihm nicht mehr die Rede. Wir hören von Begegnungen mit dem Kaiserpaar, aber Bismarck verschwindet spurlos. Der Alpdruck ist (scheinbar) gewichen.

Nebenfiguren Die wohl sympathischste Nebenfigur ist der leicht bucklige Apotheker Dr. Alonzo Gieshübler, nach übereinstimmendem Urteil Effis, Innstettens und Crampas’ »der einzige richtige Mensch« (78) bzw. »der einzige vernünftige Mensch hier« (137). Wüllersdorf resümiert: »Es wäre zu wünschen, daß es mehr Gieshübler gäbe« (289). Sein Nachname verweist auf zwei Orte namens Gießhübel bzw. Gießhübl, die für ihr Mineralwasser bekannt waren (429); den Vornamen verdankt er seiner schönen andalusischen Mutter. In dieser Doppelheit kann er als Vorläufer von Thomas Manns Tonio Kröger gelten (s. Kap. 19), übt allerdings selbst keine Kunst aus, fördert aber die Tochter des Pastors Trippel, die als Sängerin Marietta Trippelli Karriere macht (s. Kap. 32). Schon bei seinem ersten Besuch verliebt er sich in die schöne junge Frau, was der Erzähler leicht ironisiert (74). Gieshübler beschenkt sie zu Weihnachten, versorgt sie regelmäßig mit Lesestoff, schickt ihr exotische Früchte und Schokolade und hegt für sie »alle schönen Liebesgefühle durch- und nebeneinander [...], die des Vaters und Onkels, des Lehrers und Verehrers« (119). »Als einziger ohne selbstisches Interesse, wird er für die anderen zum Maßstab humanen Handelns« (Frei 1980, 72). Gerade Gieshüblers Liebenswürdigkeiten lassen Effi aber auch bewusst werden, »was ihr in ihrer Ehe eigentlich fehlte: Huldigungen, Anregungen, kleine Aufmerksamkeiten« (119). Dass Gieshübler ihr zum Sylvesterball Kamelien schickt (114), könnte als eine düstere Vordeutung verstanden werden, denn auch die Kameliendame des Alexandre Dumas jr. stirbt ja an Lungentuberkulose (Liebrand 1990, 165). Nicht auszuschließen ist, dass Fontane auch an die auf dem Stück von Dumas basierende Oper von Giuseppe Verdi gedacht hat: La Traviata, die vom Weg Abgekommene, was ja zum Titel des Stücks von Wichert passen würde (s. Kap. 3, 33). Eine unbewusst die Beziehung zwischen Effi und Crampas vorantreibende Rolle spielt der »unschuldige harmlose Gieshübler«, als er Effi dafür gewinnt, in Ein

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Schritt vom Wege die weibliche Hauptrolle zu übernehmen (168). Gieshübler ist der Einzige, von dem Effi sich nachdrücklich verabschiedet, »als wär’ es für immer«: »Sie waren das beste hier; natürlich, weil Sie der Beste waren« (222). Das negative Pendant zu Gieshübler bildet die bigotte alte Jungfer Sidonie von Grasenabb. Ihren Vornamen teilt sie mit der im Jahre 1620 in Stettin als Hexe hingerichteten Sidonie von Borcke, über die Fontane einen Fragment gebliebenen Text verfasst hat. Mit dieser historischen Person, der auch ein ausschweifendes Liebesleben nachgesagt wurde, teilt das Fräulein von Grasenabb allerdings nur den Hochmut und die Bösartigkeit. Sie erklärt Effi ja zur Atheistin (75), und als Effi vom Meer her etwas wie Gesang zu hören glaubt, meint sie kurzerhand: »Sie sind nervenkrank«; Effis Staunen über ein Nordlicht quittiert sie mit »wir haben uns vor Naturkultus zu hüten« (184–185). Die herrschaftliche Einrichtung in der Oberförsterei verurteilt sie als unangemessen und die Tochter Cora ist ihr »dies unausstehliche Balg« (178). Diese Cora ist eine Spiegelfigur für Effi, die zunächst meint: »so bin ich auch gewesen, als ich vierzehn war«, was Sidonie erfreut aufgreift; dann aber denkt Effi: »so bin ich doch nicht gewesen. [...] ich habe mich nie geziert« (176– 177). Unverhohlen macht der Erzähler sich über Sidonie lustig, wenn er sie mitten im Satz »Das Fleisch ist schwach, gewiß; aber ...« einhalten lässt, um sich ausgiebig mit Roastbeef versorgen zu können (179). Von der hinterpommerschen Adelsgesellschaft im Ganzen hat Effi den Eindruck: »mittelmäßige Menschen, von meist zweifelhafter Liebenswürdigkeit« (75). Wenn »die mitanwesenden Pastoren wie kleine Päpste behandelt wurden, oder sich wohl auch selbst als solche ansahen, dann riß Effi der Faden der Geduld« (118). Innstetten wiederum empfindet es als lästig, mit dem alten Güldenklee auf Papenhagen politisieren und sich Dummheiten über die französische Exkaiserin Eugenie anhören zu müssen (75–77). Von Güldenklees Rede in der Oberförsterei und dem Absingen des Preußenliedes heißt es, dass Innstetten »von solchem Patriotismus nicht viel hielt« (182). Eine sympathische Ausnahmeerscheinung in diesen Kreisen bildet die alte Ritterschaftsrätin von Padden, die ihre wendisch-heidnische Herkunft mit christlich-germanischer Glaubensstrenge auszugleichen sucht, aber auch über den »alten Paddenhumor« verfügt (193–194). Auf dem zweiten Sylvesterball ahnt sie, wie es um Effi steht, und ermuntert sie zum Kampf gegen Anfechtungen. Sie freut sich, als Innstetten ihr

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II Autor und Werk

Effis Grüße aus Berlin überbringt, und sagt fast abwesend: »Ein junges Lämmchen weiß wie Schnee« (241). Effi verfärbt sich, weil sie weiß, wie das Gedicht endet: Das leichtsinnig herumtollende Lämmchen bricht sich ein Bein (485). Für Effis bleibende Verbundenheit mit HohenCremmen stehen neben ihren Eltern ihre Spielkameradinnen, die Zwillinge Hertha und Bertha, Töchter des Kantors Jahnke, und die Pastorentochter Hulda Niemeyer, die der Erzähler ohne jede Rücksicht »langweilig und eingebildet« nennt (8). Effis Eltern finden sie sentimental bzw. albern (44, 45); Briests Zustimmung zu ihrer Darstellung von Kleists Käthchen von Heilbronn verdankt sie einem sehr eng anliegenden Samtmieder (28). Dass Effi sich am ersten einsamen Abend in Kessin sogar nach Huldas Erzählungen von ihren (eingebildeten) Eroberungen sehnt (80), zeigt, wie schlecht sie sich fühlt. Die letzte Nachricht von Hulda besagt, dass sie in Friesack eine allzu langlebige Erbtante pflege und unehrlich zufriedene Briefe schreibe (255–256). Danach verschwindet sie aus dem Roman, auffälligerweise, denn mit ihrem Vater führt Effi ja noch viele Gespräche. Soll man vermuten, dass etwas vorgefallen ist, worüber man besser nicht spricht, so wie Briests Andeutungen über Hulda und den Leutnant Nienkerken (45) es nahelegen? Die Zwillinge Hertha und Bertha, die das bedeutungsschwere »Effi, komm« rufen (18), sind sympathischer dargestellt. Ihr heftiges Schluchzen am Polterabend (39) bezeugt, wie sehr sie an Effi hängen, und die genießt in Hohen-Cremmen nach der Geburt Annies wieder die Spiele mit ihnen. Später heiraten sie jeweils einen Lehrer, und ihr Vater rechnet aus, dass sie beide zum Heiligen Abend vor Weihnachten ihre Niederkunft halten werden (256). Dieser Kantor Jahnke ist nur mit wenigen Strichen gezeichnet: als Verehrer von Fritz Reuter und Anhänger von allem Germanischen. Differenzierter vorgestellt wird Pastor Niemeyer, der es bedauert, seine Wirtschafterin geheiratet zu haben (20), und umso kritikloser an seiner Tochter hängt. Seine Predigt zu Effis Hochzeit wird sehr gelobt; man vergleicht ihn mit dem berühmten Hofprediger Rudolf Kögel, den er an Gefühl sogar übertreffe (40), und Effi erinnert sich später, dass es von ihm »bei jeder größeren Feierlichkeit hieß, er habe das Zeug, an den ›Dom‹ berufen zu werden« (118), aber natürlich nicht mit dieser Frau, über deren »Thorheit und Anmaßung« Luise von Briest sich erregt (32). In ihrer letzten Zeit in HohenCremmen spricht Effi viel mit Niemeyer, der ihr keine Vorhaltungen macht und ihr sogar versichert, sie wer-

de in den Himmel kommen (333). Vor Annies Geburt hatte Effi in ihren Tagträumen am Meer gemeint, in Kessin wolle sie nicht begraben sein; Niemeyer solle sie begraben (128). So kommt es ja auch. Zu den verständnisvollen alten Herren gehört auch Geheimrat Rummschüttel, der »vor etlichen zwanzig Jahren« schon Effis Mutter behandelt hat (234). In Berlin schützt Effi ja eine Erkrankung vor, um nicht noch einmal nach Kessin zurückkehren zu müssen, was der Geheimrat durchschaut: »Schulkrank und mit Virtuosität gespielt; Evastochter comme il faut« (235). Er spielt mit und geht davon aus, dass Effi schon einen triftigen Grund haben werde. Er bleibt ihr Arzt, auch nach der Ehekatastrophe, und er schreibt den entscheidenden Brief an die Mutter, der Briests »Effi komm« bewirkt. Effis Vetter Dagobert von Briest spielt eine ähnliche Rolle wie Innstetten in der Vorgeschichte mit Luise von Belling: Offenbar hätte er Effi gerne geheiratet, klagt (halb im Scherz): Innstetten habe ihn »um diesen Engel gebracht« (212). Sowohl Effis Mutter als später auch Innstetten fragen sie, ob sie den jungen Leutnant denn hätte heiraten mögen. Antworten: »Um Gottes Willen nicht. Er ist ja noch ein halber Junge. Geert ist [...] ein Mann, mit dem ich Staat machen kann und aus dem was wird in der Welt« (37), und: »er ist dalbrig. [...]. Männer müssen Männer sein« (212–213). Von Innstettens Personal gewinnt nur Johanna ein deutlicheres Profil. Die nervenkranke Frau Kruse mit ihrem schwarzen Huhn, die Effis Mitleid erregt, trägt bei zur unheimlichen Atmosphäre des Hauses. Was sie Roswitha über den Chinesen erzählt, wird uns nicht mitgeteilt. Johanna, eine dralle hübsche Blondine, deren Haar Effi bewundert, verhält sich gegenüber der jungen Frau durchaus loyal. Der schlichten Roswitha fühlt sie sich sehr überlegen, ist, laut Innstetten, »immer die brauchbarste gewesen und von einem ausgesprochenen großstädtischen Chic. Vielleicht ein bißchen zu sehr« (241). Einem Kessiner Gerücht zufolge verdankt sie ihre Existenz einer »Größe der Garnison Pasewalk [...], woraus man sich auch ihre vornehme Gesinnung, ihr schönes blondes Haar und die besondere Plastik ihrer Gesamterscheinung erklären wollte« (243), die Frucht also einer illegitimen Beziehung? Nachdem Innstetten ihr erklärt hat, dass Effi nicht wiederkommen werde (»Und daß Roswitha nicht alles verdirbt«), fühlt sie sich in »einer gewissen Intimitätsstellung zum gnädigen Herrn« (289). Auf Roswithas Behauptung, sie sei in Innstetten verliebt, reagiert sie mit ei-

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ner krampfhaften Lache (293), fühlt sich also getroffen. Dass sie Annie zwar in die Königgrätzerstraße begleitet, eine Begegnung mit Roswitha und Effi aber vermeidet und das Kind schon mit ihrem Warten vor der Kirche unter Druck setzt (323–324), darf wohl als Verwerfungsgeste gedeutet werden. Die Pastorentochter und Sängerin Marie(tta) Trippel(li) stellt den Gegentypus zur Ehefrau und Mutter dar, hat, unterstützt von Gieshübler, in Paris bei der berühmten Pauline Viardot-Garcia studiert und ist, gefördert durch den russischen Fürsten Kotschukoff, eine passable Konzertsängerin geworden, die hin und wieder allerdings noch Gieshüblers finanzielle Hilfe braucht (141–142). Ihren Namen könnte Fontane in Anlehnung an denjenigen der damals berühmten, auch in Berlin gefeierten Altistin Zelia Trebelli (1831– 1892) gebildet haben. Der im Hause des Apothekers am Tag nach der angeblichen Spukerscheinung veranstaltete Abend hat vor allem die Funktion, Effi in ihrer Furcht vor dergleichen zu bestärken (s. Kap. 22). Die von der Trippelli vorgetragenen Stücke haben allesamt Gespenstisches und Unheimliches zum Gegenstand (s. Kap. 32) und auf Effis Andeutungen hin behauptet die Sängerin, bei Kotschukoff schon einmal eine Spukerscheinung erlebt zu haben. Auch der Hinweis auf den Psychographen, der ja einer Verbindung mit der Geisterwelt dienen sollte, ist geeignet, die Furcht vor Übersinnlichem zu bestärken (109). – Dass die Trippelli die Gesellschaft einer Quäkerin als Schutz gegen Spuk anführt, findet später ein Echo in Effis Glauben, dass die katholische Roswitha »gegen solche Dinge ›wie da oben‹ besser schütze« (134; Avery 1974, 26). Die Geheimrätin Zwicker, Effis Gefährtin beim Kuraufenthalt in Bad Ems, die laut Briest und dem Erzähler des Schutzes (gegen Versuchungen) bedarf (264), laut Effi »etwas frei, wahrscheinlich sogar mit einer Vergangenheit« ist (265), stellt ebenfalls, wenn auch unauffälliger als die Trippelli, einen Gegentypus dar, insofern sowohl ihr Mann als auch sie selbst es mit der ehelichen Treue offenbar nicht so genau genommen haben, ein Skandal aber ausgeblieben ist, weil nichts davon direkt an die Öffentlichkeit gelangt ist (Neuhaus 1997). Die Geheimrätin ahnt, dass Effi etwas zu verbergen hat, und empfindet trotz ihres Mitleids Genugtuung, als ihre Vermutungen durch den Zeitungsbericht bestätigt werden. Hinsichtlich der von Effi aufbewahrten Briefe meint sie zu Recht: »wozu giebt es Öfen und Kamine? So lange wenigstens wie dieser Duellunsinn noch existiert, darf dergleichen nicht vorkommen« (305).

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Geheimrat Wüllersdorf hat die Aufgabe, alle Argumente gegen Innstettens Duellabsicht vorzubringen und schließlich doch zu kapitulieren, ‒ was er nicht müsste. Durchaus könnte er ins Feld führen, dass Effi sich wohl hüten würde, in seiner Gegenwart über andere Frauen zu richten, und Innstetten seiner immerwährenden Hochachtung versichern. ‒ Hans-Georg Richert hat darauf hingewiesen, dass vieles aus Wüllersdorfs späteren Ratschlägen, »Hülfskonstruktionen« betreffend, sich auch in brieflichen Äußerungen des alten Fontane findet (Richert 1980). Ja, aber als Angebote an einen gesunden Fünfziger ist das doch etwas zu resignativ. Annie von Innstetten scheint fast auf eine einzige Funktion reduziert, nämlich die, mit dem verunglückenden Wiedersehen Effis Anklagegebet und ihren Zusammenbruch auszulösen. Dass Annies Ungestüm und ihr Treppensturz die Entdeckung der verräterischen Briefe zur Folge haben, ist ein Fall von tragischer Ironie; hier ist Johanna mit ihrem Beharren auf der Suche nach der Binde im Nähtisch noch eher verantwortlich. Zuvor spielt Annie eine eher nebensächliche Rolle. Weder Effi noch Innstetten kümmern sich intensiver um sie. Das Kleinkind hebt Effi »stolz und glücklich in die Höhe« (148), und bevor sie selbst an den Ausritten teilnimmt, spielt sie mit dem Kind oder fährt es mit Roswitha spazieren (ebd.). Die Einjährige ist laut Briest »ein Engel« (252), später »schön wie die Großmutter« (262), aber in »die Behandlung und fast auch Erziehung Annie’s« teilen sich Johanna und Roswitha (267). Darüber, dass in Berlin »Annie’s Abwartung und Pflege« Effi zufallen soll, kann Roswitha nur lachen: »Denn sie kannte die jungen Frauen« (243). Als sie nach der Katastrophe bei Effi erscheint und ihre weiteren Dienste anbietet, meint Effi, Roswitha hänge doch an dem Kind, aber »für Annie wird schon gesorgt werden« (311). Dass sie sich dann nach Jahr und Tag leidenschaftlich nach einem Wiedersehen mit Annie sehnt (316) und ihr Verlangen danach sich »bis zum Krankhaften« steigert (318), wirkt beinahe unglaubwürdig, es sei denn man nimmt an, dass sie ihre eigene Lebenszeit schwinden fühlt: »ewig wird es ja wohl nicht dauern« (326). Literatur Anderson, Paul Irving: ›Meine Kinderjahre‹: die Brücke zwischen Leben und Kunst. Eine Analyse der Fontaneschen Mehrdeutigkeit als Versteck-Sprachspiel im Sinne Wittgensteins. In: Hugo Aust (Hg.): Fontane aus neuer Sicht. Analysen und Interpretationen seines Werks. München 1980, 143–182.

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Klaus Müller-Salget

III Rezeption

15 Der Roman im Spiegel der zeitgenössischen Kritik Ein einhelliges Urteil Am 11. November 1895 schreibt Fontane an Paul Schlenther, um sich für die Besprechung des Romans in der Vossischen Zeitung zu bedanken. Schlenther sei, wie er gehört habe, mit seiner Rezension nicht zufrieden, für diese »Selbstkasteiung« gebe es aber keinen Grund: »Ich habe das Buch wie mit dem Psychographen geschrieben. Nachträglich, beim Corrigieren, hat es mir viel Arbeit gemacht, beim ersten Entwurf gar keine. Der alte Witz, daß man Mundstück sei, in das von irgendwoher hineingetutet wird, hat doch was für sich und das Durchdrungensein davon läßt schließlich nur zwei Gefühle zurück: Bescheidenheit und Dank. Letzterer, als ich Ihre Kritik gelesen, nahm eine Doppelgestalt an, und zu dem Dank gegen den lieben Gott gesellte sich der Dank gegen den lieben Schlenther. Verbeugung gegen Jenseits und Diesseits« (HFA IV, 4, 502).

An diesem Dank ist mehreres in Sicht auf die zeitgenössische Rezeption von Effi Briest bedeutsam. Wenig verwundert wird Fontane darüber gewesen sein, dass ausgerechnet Schlenther seinen neuen Roman lobt, ebenso wenig wie dessen gleichsam kongeniale Fähigkeit, den Text im Sinne seines Autors zu verstehen. Denn schon 1882 war der zu diesem Zeitpunkt 28-jährige Schlenther in den literaturkritischen Diskurs über Fontanes Werk eingetreten, mit einer Rezension zu L ’Adultera (am 18.6.1882 in der Tribüne veröffentlicht), die Fontane rückblickend auf die Lektüre von etwa tausend Besprechungen als eine derjenigen sechs lobte, die ihn bzw. sein Werk verstanden hätten (Chambers 2001, 15). In der Folge hatte Schlenther jeden weiteren Erzähltext Fontanes besprochen, damit insgesamt fast eine erste Werkbiographie vorgelegt und sich über den Tod des Romanciers hinaus als sein literaturpolitischer Verbündeter erwiesen; genannt seien hier nur der Nachruf auf Fontane in der Neuen Freien Presse, die erste Herausgabe gesammelter Theaterkritiken (Kritische Causeri-

en über Theater, 1905), die mit Otto Pniower besorgte Briefsammlung (Briefe an die Freunde, 1910) oder das Vorwort zur Jubiläumsausgabe der Werke anlässlich des 100. Geburtstages (1919/20). Im Blick auf Allianzen im literarischen Feld ist überdies von Bedeutung, dass hier der umtriebige Netzwerker Fontane sichtbar wird (s. Kap. 6, 7), hatte er doch selbst bis 1889 für die Vossische Zeitung geschrieben und Schlenther dorthin als Theaterkritiker vermittelt. Überraschender hingegen mag es Fontane erschienen sein, dass Schlenther in diesem Fall nicht nur eine Stimme unter vielen erklingen ließ, sondern die literaturkritische Würdigung von Effi Briest im Wesentlichen einstimmig war. Im Vergleich zu allen früheren Werken, die mehr oder minder kontrovers diskutiert wurden, hinsichtlich ihrer ästhetischen Dignität wie ihrer moralischen Haltung und überhaupt ihrer literarhistorischen Einordnung, fiel das Urteil über Effi Briest einhellig aus. Mehr noch – im Gegensatz zur feuilletonistischen Aufnahme früherer Werke, anlässlich derer Fontane häufig ein falsches oder vergiftetes Lob heraushören wollte (Chambers 2001, 12), entsprach es seiner eigenen Einschätzung. So wie Fontane im eingangs zitierten Brief an Schlenther eine Variante des traditionsreichen poeta vates-Konzepts aufruft, im Bild des Autors, durch den die Welt gewissermaßen wie durch ein Medium hindurchgeht, sah die zeitgenössische Kritik grundsätzlich einen Roman, der (bei aller konzeptionellen Raffinesse) vorrangig von seiner ›Natürlichkeit‹ geprägt sei, fast als sei er dem Leben kunstlos abgeschrieben. Wie groß der Einfluss dieser positiven Kritik auf das breite Publikum war, lässt sich nicht genau evaluieren. In jedem Fall war Effi Briest schon zeitgenössisch Fontanes mit Abstand größter Verkaufserfolg, der Roman bringt es »in weniger als Jahresfrist zu fünf Auflagen«, wie der Autor im Tagebuch zufrieden vermerkt.

Tendenzen der literaturkritischen Rezeption vor Effi Briest Kein Text setzt bekanntlich am Punkt Null an, vielmehr hallen durch die Texte die Echos der Intertextualität (s. Kap. 3, 33). Wie viel mehr gilt dies in zweifacher Weise für ein Spätwerk wie Fontanes Effi

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2019 S. Neuhaus (Hg.), Effi Briest-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04874-5_15

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III Rezeption

Briest, das aufgeladen ist mit gleichermaßen produktions- wie rezeptionsästhetischen Bezügen zum eigenen Werk (s. Kap. 11, 12). Zur präzisen Konturierung der Rezeption des Romans ist es daher nötig, zunächst knapp den langen Marsch Fontanes durch das literarische bzw. literaturkritische Feld nachzuzeichnen, um die Position erkennen zu können, von der aus Effi Briest geschrieben und bewertet wurde (s. hierzu den Überblick bei Chambers 2001, 11–25). Die feuilletonistische Auseinandersetzung mit Leben und Werk Fontanes lässt sich in drei Phasen untergliedern: Die erste Phase, die als Etablierungsphase bezeichnet werden kann, wird gebildet durch einen doppelten Eintritt ins literarische Feld. Einen Namen machte er sich ja erst als epischer Lyriker, als Reiseschriftsteller wie als Theaterkritiker (s. Kap. 6). Namentlich bei der konservativen Presse erarbeitete er sich einen guten Stand, ab den 1860er Jahren etwa war er in der Neuen Preußischen (Kreuz-)Zeitung gleichermaßen als Rezensent wie als Objekt der Rezensionen präsent, ab 1870 dann in einer solchen Doppelrolle auch in der Vossischen Zeitung aktiv, und bildete dergestalt ein tragfähiges Netzwerk aus, das der Romancier Fontane dann bald nutzen sollte. Mit Vor dem Sturm setzte 1878 dann eine zweite Etablierungsphase ein, ab der Fontane zunehmend als Romanautor wahrgenommen wurde. Die Reaktionen fielen gemischt aus, wie es sich für einen Erstling gehört. Ludovica Hesekiel beispielsweise lobte in der Kreuzzeitung: »Es weht eine reine Luft durch diese Blätter, auch vom sittlichen Standpunkt aus«, und verortete diese Sittlichkeit als konsequente Fortführung der national-patriotischen Schriften (wofür sich Fontane übrigens brieflich am 19. Februar 1878 bedankte, wie er es in der Folge immer wieder bei wohlmeinenden Rezensenten tun sollte, auch hier ist der Brief an Schlenther also typisch für seine Pflege der Kritikerbindung). Pietsch hingegen nahm in der Vossischen Zeitung, ebenso wie Julius Rodenberg in der Deutschen Rundschau, trotz positiver Gesamtbewertung eine kritische Haltung ein, indem zwar Lokalkolorit und Stimmungsmalerei gelobt, aber gravierende Mängel im Handlungsaufbau inkriminiert werden. Diese Kritik an der Handlungstektonik sollte in der Folge geradezu topisch für die Rezensionen von Fontanes weiteren Romanen werden. Bezeichnend ist dabei, dass Rodenberg gegen sein eigentlich positives Gesamturteil im Tagebuch notierte, das Buch sei »unglaublich dumm und albern« (Reuter 1968, 960), die Verbündeten schrieben offensichtlich in öffentlichen Resonanzräumen anders als in der intimen Kommunikation.

Mit der Veröffentlichung von Grete Minde lässt sich der Beginn der zweiten (und längsten) Rezeptionsphase ansetzen, die im Zeichen der Konsolidierung von Fontanes Position in der literarischen Öffentlichkeit steht. Gefeiert wurde die Novelle vornehmlich für das lebendige Lokalkolorit wie den Stil, erstmals wird der Erzählton hier mit Begriffen wie »Hauch«, »Duft« oder »Stimmung« belegt (Betz 1986, 52–55), während die moralische Faktur kaum in den Fokus der Rezipienten gerät. In den folgenden Jahren zeigt die konjunkturelle Kurve der Fontaneschen Romane dann einige Ausschläge nach oben und unten, sowohl was den Grad der allgemeinen Aufmerksamkeit als auch die Bewertung der Texte angeht. Grundsätzlich sind sie dabei Objekt im feldstrukturellen Aushandlungsprozess zwischen ›Alten‹ und ›Jungen‹, zwischen den Bewahrern des Status Quo und den Häretikern (um Pierre Bourdieu zu beleihen). Fontanes Position ist dabei nicht statisch, oder andersherum perspektiviert, der Blick der Literaturkritik auf ihn wandelt sich, insofern er zunehmend von den Vertretern des Naturalismus beansprucht wird (neben Schlenther etwa von Otto Brahm, einem weiteren Gründungsmitglied der Freien Bühne). Besonders anschaulich wird der Streit zwischen dem (kultur-) konservativen, traditionalistischen Lager auf der einen und dem progressiven, modernistischen Lager auf der anderen Seite an der Rezeption von Irrungen, Wirrungen, auf dessen Erstabdruck in der Vossischen Zeitung die Leser entrüstet reagiert hatten: Die bürgerliche Kritik schloss sich dieser moralischen Entrüstung an, so kritisiert der Pfarrer Richard Bürkner für das Deutsche Literaturblatt (Jg. 11, Nr. 3, 7.4.1888) vordergründig die Spannungsarmut, zielt aber offenkundig tatsächlich und über Bande gespielt auf eine moralische Aburteilung, wie deutlich genug wird: Denn, so lautet das Fazit, in der Wiedergabe von Lokalkolorit sei der Roman zwar stark, aber notwendig sei durch das Sujet wie den ›Naturton‹ ein »Berliner Sittenbild« entstanden »und keins, das gerade an den Familientisch passt« – offensichtlich hat Fontane nach Ansicht des Rezensenten die Grenzen des Schicklichen überschritten. Für die Partei der Progressiven sieht hingegen Max von Waldberg am selben Tag in der Deutschen Literaturzeitung (Jg. 9, Nr. 14, 7.4.1888) einen von großer »Kunstweisheit« charakterisierten Text, der bis in die kleinsten Details hinein ›trefflich‹ gebaut sei und seinen Verfasser damit geradezu zum ›deutschen Zola‹ aufsteigen lasse: »Die Zolajünger haben von ihrem Propheten zumeist nur den Mantel, nicht aber den Geist geschenkt erhalten [...]. Fontane dagegen weiß mit wahrhaft bedeu-

15 Der Roman im Spiegel der zeitgenössischen Kritik tender Kraft jenes schwer definierbare Berliner Wesen [...] in allen Abstufungen und individuellen Schattierungen zu veranschaulichen und durch kaum sichtbare, aber unzerreißbare Fäden den festen Zusammenhang zwischen Charakter, Handlung und Ort der Handlung herzustellen.«

Ab Unwiederbringlich schließlich tritt Fontane (zumindest aus Sicht der zeitgenössischen Kritik) in seine ›Klassiker‹-Phase ein, insofern nun letztlich kaum noch kritisiert wurde, sondern fast nur noch gelobt, sei es die psychologische Stimmigkeit, die moralische Ausgeglichenheit oder die andeutende Handlungsführung, die zuvor noch häufig moniert worden war. Ihre Fortsetzung fand diese Phase mit Frau Jenny Treibel, in der ebenfalls mehrheitlich ein ›Meisterwerk‹ erkannt wurde – von einem »Meisterstück eines Berliner Sittenbildes spricht etwa die Kölnische Zeitung (3.12.1892) und die »meisterhaften Schilderungen« genießt Robert Lange in den Blättern für literarische Unterhaltung (I, 1892, 808–809) Mit Effi Briest setzt Fontane also seine ›Klassiker‹- oder Meisterphase fort, und wie es die Strukturlogik dieser Phase fast naturgemäß verlangt, überbietet er sich dabei nochmals selbst – aus Sicht der Rezensenten wie aus derjenigen der späteren Rezeptionsgeschichte.

Effi Briest im Spiegel der Literaturkritik Die kurz nach Erscheinen der Buchversion gedruckte Rezension von Felix Poppenberg in der Wochenzeitung Die Nation (Nr. 7, 16.11.1895) ist paradigmatisch für den literaturkritischen Diskurs über Effi Briest bzw. präludiert ihn, sowohl im Allgemeinen in ihrer Modellierung einer Spätwerkästhetik wie im Besonderen in den Topoi und Bewertungen, die sie damit verbindet. Wie es nicht nur zeittypisch, sondern bis heute typisch für die Interpretation von Spät- oder Alterswerken ist, korreliert Poppenberg die Haltung des Textes zur Welt eng mit dem Wissen über den Verfasser bzw. identifiziert sogar die Erzählhaltung mit derjenigen Fontanes. »Weise gütige Augen sehen uns aus Theodor Fontane’s neuem Buche an, Greisenaugen, die die Schärfe der Jugend haben und dazu die Milde des Alters, das viel zu verzeihen gelernt hat.« Mit dieser gütigen Haltung werde also ein Geschehen dargestellt, wie es sich in der »wirklichen Welt« draußen vollziehe, dem strukturbildenden Kontrast von »innerer Tragik« und »äußerer Ruhe« folgend – diese Opposition vergisst keine der weiteren Rezensionen zu

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nennen. Dieser Gegensatz sei prinzipiell charakteristisch für Fontanes Erzählwerk, informiert der Rezensent seine Leser, hier aber sei das »Abgedämpfte, Geklärte, Tiefverstehende [...] zur Vollendung gekommen«. Stärker noch, damit habe der Erzähler Fontane den Literaturolymp erklommen: »Am Eingang seines Buches sollte von seinem Schöpfer stehen, was Heine von Goethe sagt: ›Er ist da immer ruhig lächelnd, und harmlos wie ein Kind, und weisheitsvoll wie ein Greis.‹« Aus dieser Einstellung resultiere erstens eine Gleichgültigkeit gegenüber dem Plot, wie Poppenburg behauptet und sich dabei auf die Autorität des Autors beruft (und zugleich seine Verbundenheit mit ihm demonstriert): In einer »Plauderstunde« habe Fontane ihm nämlich gestanden, dass ihm der Stoff, je älter er werde, »immer gleichgültiger« werde, es komme »nur auf die Darstellung« an und die »psychologische Weise«, in der sich Vorgänge vollziehen. Und zweitens bedingt diese Form der alles verstehenden Altersweisheit eine nachgerade amoralische Übersicht über das Menschliche, Allzumenschliche. »Und wer hat Recht? Und wer hat Schuld? Theodor Fontane schüttelt milde lächelnd den Kopf: Was ist Recht und was ist Schuld? Die Menschen können nicht aus ihrer Haut heraus, Niemand kann sich anders machen als er ist.« Die seelischen Unruhen der Figuren würden daher beim Leser zu einem Gefühl des inneren Friedens führen, weil er sie mit den »gütigen Fontaneaugen« anschauen dürfte. Anders als etwa noch im Fall von Irrungen, Wirrungen wird Fontane hier die Darstellung von moralischen Vergehen nicht mehr zum Vorwurf gemacht, sondern mit ihm akzeptiert, dass es zum Wesen des Menschen gehört, wenn Individualität und Gesellschaft in Konflikt miteinander geraten. Als Rezensent und Leser gehe es entsprechend nicht mehr darum, den Konflikt von einem wertebasierten Standpunkt aus zu bewerten, sondern als Wesen der conditio humana zu verstehen. Nachdem Effi Briest mit diesem starken interpretatorischen Geleitschutz ins literarische Feld geführt worden war, musste der literaturpolitische Bündnisgenosse Schlenther keine feldtaktisch motivierten hermeneutischen Manöver mehr absolvieren, sondern konnte sich einfach in die Phalanx der Bewunderer einreihen. So lautet die Kernstelle seiner Rezension in der Königlich privilegirten Berlinischen Zeitung (Nr. 529, 10.11.1895) ganz im Sinne Poppenbergs: »Der große seelendeutende Dichter, der das Schicksal Effi Briests erzählt, hat in der Weisheit seines hohen Alters und in der kindlichen Unschuld seines Mitempfin-

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dens unendlich zart, unendlich behutsam dafür gesorgt, daß alle rüden Moralbegriffe hier unstatthaft sind. Auch Effis Schuld rächt sich auf Erden. Der Dichter vertheidigt sie nicht. Aber er erklärt, wie alles kam. Nein, er erklärt nicht einmal.«

um einen kümmern, gehören die Gelehrten. Es kann auch anders kaum sein. Sie denken – und meist mit Recht – niedrig von der Gattung und gehen erst ’ran, wenn sie von einem Vertrauensmann geführt werden. Nochmals besten Dank« (21.2.1896; HFA IV, 4, 537).

Ernst Heilborn kann dann wenige Tage später im Magazin für Literatur: Vereinsorgan der Freien Literarischen Gesellschaft (Sonntagsausgabe, 24.11.1895) bereits seine Zustimmung zu diesem noch jungen Konsens verkünden:

Pniowers Besprechung verhält sich insofern diskursgemäß, als sie Fontane als Autor rubriziert, dessen Ziel nicht die Darstellung von Geschehnissen, sondern vielmehr »überwiegend psychologischer Natur« sei: »Auf die feinen Reize des Seelengemäldes hat er es abgesehen.« Einen abweichenden Akzent setzt Pniower jedoch dadurch, dass er sich seinem wissenschaftlich geprägten Habitus gemäß auf eine strukturanalytische Betrachtung des Romans konzentriert, darauf mithin, die »reifste künstlerische Oekonomie« und die »bewunderungswürdige Technik« zu demonstrieren, die Effi Briest ›durchwalte‹. Zudem betont er mit Blick auf die Leerstellen wie die Technik der Andeutung stärker als andere Rezensenten die Rolle des Lesers im Prozess der Sinnbildung:

»Derselbe Wirklichkeitssinn in dem Denken wie dem Dichten Theodor Fontanes. Nirgends Flausen, weder dem Diesseits gegenüber noch dem Jenseits. Und darum tröstet diese Dichtung, trotzdem sie rücksichtslos die Wahrheit findet: tröstet über Menschheitsschwäche mit Menschheitsschwäche – wer das kann, der muß beides sein, ein großer Künstler und ein großer Mensch.«

In vergleichbar hohem Ton und über drei doppelspaltige Seiten feiert Sigmund Schott den Roman in der Beilage zur Allgemeinen Zeitung (14.12.1895) als eines derjenigen Bücher, »welche dem naiven und unverwöhnten Leser ebensoviel Freude machen wie dem verwöhnten«. Bereits in Irrungen, Wirrungen, wird die werkbiographische Linie nachgezogen, habe er »mit Meisterhand« dasjenige verwirklicht, »was die jungen Neuerer vergebens zu erreichen sich abmühten: die treue Wiedergabe der Natur als künstlerisches Portrait, nicht als geistlose Photographie.« Seither habe er dieses literarische Programm mit Frau Jenny Treibel, Stine und Unwiederbringlich fortgesetzt und erklimme nun die Höhe seines Schaffens – zumindest vorläufig, wie der Schluss vermutet: »Effi Briest ist das Werk eines großen, tiefen Seelenkenners, eines Mannes mit einem Herzen voll warmer Menschenliebe. In wenigen Tagen schließt Theodor Fontane sein 76. Lebensjahr ab und bereits ist wieder ein neuer Roman von ihm in Aussicht. Das ist wirklich ein gesegnetes Alter, und da ist der Wunsch hoffentlich nicht vermessen, daß es noch lange so bleiben möge.«

Eher ein akademisches Publikum adressiert der Wilhelm-Scherer-Schüler und Goethe-Forscher Otto Pniower, wofür Fontane wiederum brieflich dankt: »Daß Sie vor einem Gelehrtenpublikum gesprochen, kann mir nur lieb sein. Denn zu denen, die sich zuletzt

»In diesem Sinne wird Fontane in seiner Art anspruchsvoll, indem er die Mitwirkung des Lesers verlangt, die er freilich immer wieder zu reizen weiss. Eine Folge seiner Decenz ist eine überaus fein ausgebildete Kunst des Vor- und Andeutens, die man erst nach wiederholter Lektüre ganz zu würdigen vermag« (ebd.).

Ebenfalls in diesen weitgehend harmonischen Kritikerchor stimmte die deutschsprachige Presse in der Schweiz ein. Beispielhaft für diesen Gleichklang über die Ländergrenze hinweg kann die Rezension von Joseph Viktor Widmann im Sonntagsblatt des Berner Bundes stehen: Gerahmt ist die Auseinandersetzung mit dem Roman von Referenzialisierungen, die so hoch ins Regal der literarhistorischen Nobilitierungen greifen, wie es möglich ist. Zum Auftakt verbindet Widmann den Gedanken einer Spätwerkästhetik mit den Schweizer Meistern, um Fontanes Text zu charakterisieren und zugleich in den angemessenen Rang zu heben: »Wir sind es in der Schweiz von unsern Dichtern Gottfried Keller und C. F. Meyer gewohnt, daß das spätere Alter noch die schönsten Früchte zeitigt. [...] Auch Fontanes neuester Roman ›Effi Briest‹ ist ein solches Buch. Es ist allerdings in Einem Sinne ein Werk des Alters, aber nur im besten Sinne, darin nämlich, daß es eine Milde des Urteils über menschliches Thun bekundet, wie sie meistens nur durch das Alter erlangt wird.«

15 Der Roman im Spiegel der zeitgenössischen Kritik

Auch hier wird also offenkundig der altersweise Autor mit all seiner »hohen Humanität« herangezogen, um die Erzählhaltung des Romans bzw. die von ihm etablierte Axiologie zu evaluieren, mit dem Ergebnis, dass sich hier eine »humane Milde« ausspreche, die jeden Fehltritt verstehen und damit zugleich verzeihen helfe. Der Plot sei dabei nachrangig, weiß sich Widmann mit den Kritikerkollegen einig, und so werden kleinere Mängel in der Handlungsführung fast nur zaghaft angedeutet – einen Meister kritisiert man ja nicht –, konkret komme die Verführung Effis durch den Major »dem Leser doch etwas unerwartet«. Andersherum argumentiert, könne man das alles »nur verstehen und billigen, wenn man es in Fontanes meisterhafter Darstellung liest«. Konsequent schließt Widmann den Rahmen mit einer weiteren Nobilitierung qua Genealogisierung, indem er die Wahlverwandtschaften als Vorgängerroman aufruft und sich in Goethes Gedanken versetzt, der sich bei der Lektüre von Effi Briest freuen würde, »daß seine Aussaat von Gebilden und Gedanken schöner Menschlichkeit eine reiche, köstliche Ernte trägt«. In der Wiener Neuen Freien Presse erschien am 25. Oktober 1895 derweilen eine Kritik des Literarhistorikers Moritz Neckar, die zunächst eine Werkbiographie in der Nussschale skizziert, indem sie den Aufstieg vom eher lokal interessanten wie interessierten »Historiker seiner Heimat« zum »richtigen Realisten« nachzeichnet, »den der Geschmack und Geist der Zeit forderte«. Dergestalt habe Fontane mittlerweile »eine führende Stellung in der neuen Literatur gewonnen«. Bis hierhin hätten die anderen Kritiker der Rekonstruktion wie Positionierung Fontanes sicher zugestimmt, im Gegensatz zu ihnen erkennt Necker aber eine gesellschaftskritische Haltung in Effi Briest, er belässt es also nicht bei der recht vagen Einschätzung, dass für Fontane – bzw. für seinen Erzähler, die Differenz wird in der Diskussion über den Roman ja eingeebnet – alles verstehen auch alles verzeihen heiße. Neckers Besprechung endet hingegen mit einer Interpretation der Leidensverhältnisse im Roman, die sich als dezidierte Kritik der überkommenen Standesgesellschaft lesen lässt: »Indeß er (d. h. Fontane bzw. sein Erzähler) Innstetten freudlos im Dunkel läßt, häuft er auf die schöne Sünderin allen Glanz; er vertheidigt sie nicht, aber er verklärt sie dichterisch. An ihrer Schuld haben ihre Eltern, ihre Erziehung, ihr Stand fast mehr Antheil als sie selbst. Der Roman erweitert sich zu einer Kritik der Gesellschaft. Fontane läßt eine höhere Sittlichkeit ah-

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nen, als die in der Wirklichkeit besteht, und mit diesem starken Gefühle entläßt er die Leser seines Buches. Es ist das wärmste von allen, die er als Erzähler schrieb.«

Eine (vorläufige) Summe der zeitgenössischen Rezeption zieht schließlich die knappe Meta-Rezension in Westermanns Monatsheften gemäß dem Selbstverständnis der Kulturzeitschrift, einem (bildungs-)bürgerlichen Publikum einen Kanon gegenwärtigen Wissens zu vermitteln. Der Roman habe »ungewöhnlich viel Beachtung gefunden«, fasst die Kurzbesprechung eingangs zusammen, »und da die darin gebotenen Vorgänge sehr einfache, die Empfindungen, welche die Hauptpersonen bewegen, ungemein leidenschaftslos ruhige sind, ist es besonders interessant, sich klar zu machen, worin die Wirkung begründet ist«. Als Gründe für den Erfolg wird einerseits die »hohe Vollendung des Stils« identifiziert sowie andererseits, dass es »dem Dichter gelungen sei, wirkliche Menschen aus bevorzugten Ständen, aber ohne die in neuerer Zeit so sehr beliebten künstlerischen oder litterarischen Anhängsel, zu zeichnen«. So gelinge es dem Autor, zu denken zu geben, ohne aufzuregen. Damit nehme er, fällt die Rezension ein salomonisches Urteil im weiter schwelenden Streit zwischen literaturpolitischen Traditionalisten und Modernisten, eine vermittelnde bzw. mittlere Stellung ein: »Theodor Fontane ist in den letzten Jahren häufig von den Vertretern der naturalistischen Richtung als einer der Ihren reklamiert worden; seine ›Effi Briest‹ hält sich in unverkennbarer Absicht von den Ausschreitungen der neuesten Schule fern, aber es wird darin zugleich der Kampf gegen veraltete, starre und hölzerne Vorurteile in ruhiger und sachlicher Weise geführt« (40. Jg., Bd. 80, April bis September 1896, 419).

Auf der Schwelle zur Literaturgeschichte Schwer bestimmen lässt sich generell derjenige Punkt, an dem ein Autor und sein Werk gewissermaßen aus dem Status der Gegenwartsliteratur und Zeitgenossenschaft zu einem Objekt literarhistorischen Interesses werden (s. Kap. 2). Im Fall von Effi Briest lässt sich dieser Übergang datieren: Im Jahr 1896 verfasste Friedrich Spielhagen einen im generischen Graubereich zwischen Kritik, Essay und literaturgeschichtlicher Untersuchung angesiedelten Text, den er Einst und jetzt. Die ›Wahlverwandtschaften‹ und ›Effi Briest‹.

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Eine literar-ästhetische Studie betitelte (erschienen in dem Band: Neue Beiträge zur Theorie und Technik der Epik und Dramatik. Leipzig 1898, 98–119). Dort widmet sich Spielhagen im Anschluss an die skizzierten Rezensionen etwa der ›natürlichen‹ Sprechweise der Figuren, in der es Fontane »weiter gebracht hätte« als alle anderen ›modernen‹ Autoren. Zudem erläutert er tendenziell biographistisch (wie eine spätere Zeit sagen würde), dass ein Stoff wie derjenige, aus dem das Kunstwerk Effi Briest gemacht ist, sich nicht aus den ›Fingern saugen‹ lässt. Vielmehr müsse er ihn selbst erlebt haben, »oder doch ein wirkliches Geschehnis (vorliegen), das ihm von jemand, der dem Geschehnis nahe stand, mitgeteilt wurde und sein Interesse in der nötigen Lebhaftigkeit entfachte«. Diese hermeneutische Grundannahme setzt Spielhagen wohl auch deshalb, weil er denselben historischen Fall als Quelle für einen Roman genommen hat (Zum Zeitvertreib. Leipzig 1898) – eine Duplizität der fiktiven Ereignisse, über die sich Spielhagen und Fontane brieflich ausgetauscht haben (s. Kap. 9). Vor allem ist es ihm aber dem Titel entsprechend darum zu tun, Fontanes Text in die Motivgeschichte anderer großer Ehebruchsromane einzureihen (s. Kap. 3), ausgehend von folgender heuristischer Prämisse: »Die tiefer eindringende Litteraturgeschichte, indem sie uns mit einem Schriftsteller nach dem anderen bekannt macht, aus einer Epoche in die andere hinüberführt, ist nichts anderes und kann nichts anderes sein als eine fortgesetzte Reihe von direkten oder indirekten Vergleichen zwischen einzelnen Litteraturerschei-

nungen, oder ganzen Schulen und Perioden.«

Um abschließend nur ein Beispiel für die Erkenntnisse, die aus dieser intertextuellen Perspektive gewonnen werden, zu nennen: So weist Spielhagen den Gedanken von sich, dass der »Schleier, den er [i. e. Fontane] über die traurige Episode breitete«, aus Prüderie angelegt sei (s. Kap. 24). »Wo es die Sache verlangt«, vergleicht der Motivgeschichtler, »wie in den Wahlverwandtschaften, soll der Dichter auch an das Verfänglichste dreist herantreten und es frank und frei darstellen, wie alles andre. Aber hier verlange es die Sache nicht.« Die Validität dieser hermeneutischen Einsicht mag dahingestellt sein. In jedem Fall initiierte Spielhagens ›Studie‹ eine Vielzahl von ähnlich gelagerten Arbeiten – und führte Effi Briest damit gleichsam von der zeitgenössischen Kritik über die Schwelle zur Literaturgeschichte. Literatur Betz, Frederick (Hg.): Theodor Fontane: Grete Minde. Stuttgart 1986. Chambers, Helen: Theodor Fontanes Erzählwerk im Spiegel der Kritik. 120 Jahre Fontane-Rezeption. Aus dem Englischen übers. von Verena Jung. Würzburg 2001. Ester, Hans: Literaturkritik und Forschung. In: FHb, 906– 927. Herding, Gertrud: Th. F. im Urteil der Presse: ein Beitrag zur Geschichte der literarischen Kritik. Diss. München 1946. Reuter, Hans-Heinrich: Fontane. 2 Bde. Berlin 1968. Schafarschik, Walter: Theodor Fontane: Effi Briest. Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart 2002.

Christoph Jürgensen

16 Die übersetzerische Rezeption

16 Die übersetzerische Rezeption Die Strahlkraft von Effi Briest Aus heutiger Sicht kann man behaupten, dass Theodor Fontane ein europaweit rezipierter Autor ist (s. Kap. 6, 15, 19). Es gibt nur wenige – überwiegend kleine – Nationalsprachen, in denen gar keine Übersetzung des Romans vorliegt. In alphabetischer Reihenfolge sind das: Albanisch, Irisch, Isländisch, Maltesisch, Portugiesisch, Ukrainisch, Weißrussisch. In den meisten Literaturen, in die Texte von Fontane übersetzt wurden, kommt Effi Briest im Gesamtwerk eine Vorrangstellung zu: Es ist fast durchweg das erste, das bekannteste, das am häufigsten übersetzte und auflagenstärkste Werk in fremder Sprachgestalt. In mehreren, vor allem nordeuropäischen Literaturen ist Effi Briest der einzige übersetzte Titel Fontanes. Im Schwedischen hat sich der immens produktive Übersetzer Ernst Lundquist (1851–1938) – das Schwedische Übersetzerlexikon (Håkanson/Rehn 2019) listet eine dreistellige Zahl an Übersetzungen aus sechs verschiedenen Sprachen auf, wobei Effi Briest allerdings fehlt – schon 1902 des Romans angenommen; seine Version wurde zwar 1986 von Eva Liljegren bearbeitet, aber eine unabhängige Neuübersetzung ist bisher nicht erschienen. Der Linguist Alf Lombard hat 1962 eine originelle pädagogische Ausgabe herausgebracht, in der von ihm bearbeitete schwedische Passagen mit original deutschen Textstücken einander abwechseln. Im Finnischen ist laut der verdienstvollen Übersetzungsbibliographie von Derek Glass und Peter Schaefer (Glass/Schaefer 1996) nur eine einzige Auflage einer unter anderem Titel – Nuoren naisen kohtalo (›Schicksal einer jungen Frau‹) – publizierten Übersetzung aus dem Jahr 1924 belegt. Die lettische Version Efija Brīsta (Riga 1970, Übersetzung von Velta Balode) ist zwei Jahre nach der Buchpublikation in einer fünfbändigen Blindenschriftausgabe herausgebracht worden. Für die norwegische Effi Briest zeichnet die prominente und mehrfach mit einschlägigen Preisen ausgezeichnete Übersetzerin Lotte Holmboe (1910–1979), die zuvor auch Goethe, Musil oder Siegfried Lenz übersetzt hatte, verantwortlich (Holmboe 2017). Außerhalb Europas ist zunächst das Türkische zu erwähnen, das bereits im Jahr 1949 über eine vom Übersetzer Nijad Akipek um über 220 Fußnoten angereicherte Version verfügt. Auch die Neuübersetzung von Kasım Eğit (2007) setzt, wenn auch etwas sparsamer, die Tradition der Anmerkungen fort (Gülmüş 2013). Weitere außereuropäische Sprachen, in

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denen Übersetzungen von Effi Briest vorliegen, sind – in zeitlicher Abfolge – Japanisch (1941/42), Chinesisch (1980), Hebräisch (1981) und Koreanisch (1982) (Glass/Schaefer 1996).

Chronologische Schichtung Obwohl Fontane schon in einem Brief vom 25. Januar 1870 an seinen Verleger voller Zuversicht Spekulationen über die Chancen auf übersetzerisches Interesse an seinen Texten seitens der Franzosen und der Briten anstellte (Fontane 1998, 2, 290–291), setzte die Rezeption seiner Werke im Ausland erst verhältnismäßig spät ein. Aus der Perspektive der deutschen Übersetzungsforschung scheint Fontane auch nicht als großer Exportschlager eingeschätzt zu werden: Albrecht/Plack (2018, 347) erwähnen ihn in ihrer Europäischen Übersetzungsgeschichte nur einmal en passant als Briefpartner des Schriftstellers und Übersetzers Paul Heyse. Effi Briest wurde vor dem Ersten Weltkrieg nur in wenige Sprachen übersetzt. Den Anfang machten das Dänische mit einer anonymen Übersetzung und das Russische in Form einer Zeitungsbeilage im Jahr 1897. Die erste französische Version von 1902 wird im Abschnitt über Frankreich noch etwas genauer vorgestellt. Die schwedische Übersetzung von Ernst Lundquist aus demselben Jahr wurde schon erwähnt. Die älteste niederländische Übersetzung von 1912 trug den Titel Het huwelijk van Eefke Briëst (also ›Die Ehe der Effi Briest‹); sie wurde mehrfach aufgelegt. Die erste englischsprachige Version erschien – gekürzt – 1914 in New York (s. u.). Mit dem Ersten Weltkrieg verlor Deutschland viele Sympathien, das Interesse der europäischen Nachbarn an seiner kulturellen Produktion ging unübersehbar zurück. In der Zwischenkriegszeit ist neben der finnischen nur eine tschechische Übersetzung zu registrieren: Manzelství Effi Briestové (›Die Ehe der Effi Briest‹, übersetzt von Josef Menzel) erschien 1933, wurde 1939 neu aufgelegt und 1954 ohne explikativen Zusatz im Titel erneut publiziert. Die während des Zweiten Weltkriegs auf den Markt gelangenden Übersetzungen spiegeln die politischen Allianzen wider. 1941/42 erschien eine japanische Übersetzung in zwei Bänden unter dem kryptischen Titel Tsuminaki isumi (›Unschuldige Schuld‹), die 1972 im Rahmen eines mehrere Romane enthaltenden Bandes erneut veröffentlicht wurde. 1943 kam in Barcelona eine langlebige Übersetzung von F. de Ocampo heraus, die im

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2019 S. Neuhaus (Hg.), Effi Briest-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04874-5_16

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Lauf der Zeit den Titel (aus El secreto de Effi Briest wurde einfach Effi Briest) und mehrfach den Verlag wechselte (zuletzt aufgelegt 1983 in Madrid bei Cupsa). Wesentlich überschaubarer ist das Schicksal der ersten italienischen Version von 1944, denn sie wurde alsbald von mehreren konkurrierenden Fassungen abgelöst (s. u.). Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Effi Briest in verschiedenen europäischen und asiatischen Sprachen zum ersten Mal veröffentlicht (Daten aus Glass/ Schaefer 1996, 131–151 und dem Index translationum, s. Index translationum 2019): Serbokroatisch 1953, Ungarisch 1954, Slowakisch 1961, Bulgarisch 1963, Rumänisch 1965, Polnisch 1974, Italienisch 1974, Estnisch (in einer Relaisübersetzung von Lydia Riikoja aus dem Englischen) 1980, Neugriechisch 1989, Katalanisch 2004. Gleichzeitig erschienen aber auch in mehreren Sprachen schon Neuübersetzungen, die nicht nur veränderten stilistischen Vorlieben, sondern in der Regel vor allem neuen philologischen Erkenntnissen Rechnung trugen.

Akteure der Vermittlung Wenn man nach Informationen über die Übersetzer*innen sucht, so stellt man fest, dass es tendenziell im jeweiligen Land renommierte Vertreter*innen ihrer Zunft waren, die sich der Übersetzung von Effi Briest gewidmet haben. Manchmal sind die personenbezogenen Auskünfte nur in der Landessprache zu bekommen, vielfach finden sich aber auch englische oder deutsche Einträge. Exemplarisch seien einige Übersetzer*innen namentlich vorgestellt. Von der polnischen Kulturschaffenden Izabela Czermakowa (1898–1964), die aus einer Reihe von Sprachen, vorwiegend allerdings aus dem Deutschen übersetzt hat, erfährt man (Czermakowa 2019), dass ihre Effi-Briest-Übersetzung mit »7 editions published between 1974 and 2010 in Polish« zu ihren verbreitetsten Veröffentlichungen gehört. Die litauische Germanistin Eugenija Vengrienė (1913–2015) hat zahlreiche deutsche Werke des literarischen Kanons (Hoffmann, Keller, Storm, Raabe, Böll, Bobrowski etc.) in ihre Muttersprache gebracht; als Übersetzerin von Fontane hat sie eine Monopolstellung inne (außer Effi Briest hat sie noch Schach von Wuthenow übersetzt). Die erste ungarische Übersetzung von Effi Briest geht auf den vielseitigen Schriftsteller István Vas (1910– 1991) zurück, der ein ideologisch bewegtes Leben führte und von Imre Kertész kritisiert wurde, weil er

sich dem kommunistischen Regime zu sehr angedient habe (Vas 2019). In den meisten Literaturen sind die frühesten Übersetzungen in den letzten Jahrzehnten durch neue ersetzt worden. In der Mehrzahl der europäischen Translationskulturen geht der Trend seit mehreren Jahrzehnten zumindest bei kanonischen Texten dahin, philologisch verlässliche, oft auch mit Paratexten (Vor- oder Nachworten, Anmerkungen etc.) versehene Ausgaben herauszubringen. Dies impliziert, dass die von den Verlagen engagierten Übersetzer*innen oft einen fachphilologischen (im konkreten Fall also germanistischen oder komparatistischen) Hintergrund haben, der es ihnen erlaubt, die Ansprüche des Lesepublikums zu erfüllen. Bei der Sondierung der Rezeption ist zu bedenken, dass sich die Medienlandschaft im 20. Jahrhundert stark ausdifferenziert hat. Einige (vorwiegend kleinere) Literaturen haben darauf verzichtet, neue Übersetzungen zu publizieren, weil das Kino den ohnehin kleinen Auflagen zu stark Konkurrenz macht. Auf den Internetseiten kleiner Sprachen wird im Zusammenhang mit Fontane bzw. Effi Briest öfter auf Verfilmungen – insbesondere auf die von Rainer Werner Fassbinder (s. Kap. 20) – als auf Übersetzungen in der eigenen Sprache verwiesen. Das Hörbuch hingegen scheint dank ausgebildeten Sprecher*innen manchmal auch älteren Fassungen das Fortleben zu sichern. So ist die schon etwas in die Jahre gekommene dänische Effi-Briest-Übersetzung des Literaturhistorikers und polyglotten Übersetzers Carl V. Østergaard (1879–1969; Østergaard 2019) aus dem Jahr 1944 heute bei Bechs Forlag Audiotone (Horsens 2019) zwar auch in Buchform, aber zum halben Preis in der von Ellen Dahl Bang (geb. 1962) gelesenen Ausgabe erhältlich. In Sprachräumen mit einem größeren potenziellen Lesepublikum ist die Übersetzungsgeschichte von Werken der Höhenkammliteratur naturgemäß meist ereignisreicher. Für Englisch, Französisch und Italienisch liegen auch rezeptionsrelevante Informationen vor, auf die die folgenden Abschnitte referieren können.

Übersetzungen im englischsprachigen Raum Fontane hatte, vor allem durch seine drei Reisen (Glass 1995, 39), eine enge Beziehung zu Großbritannien, die sich auch in seinem Werk niederschlägt (Neuhaus 1996). Das reziproke Interesse entwickelte

16 Die übersetzerische Rezeption

sich dagegen vergleichsweise langsam und spät und scheint auch heute nur durch einige wenige klingende Namen garantiert. Es entspricht der geistesgeschichtlichen Lage, dass die erste Übersetzung in englischer Sprache 1914 in den USA erschien. Vor dem Ersten Weltkrieg blickte man von Nordamerika aus noch neugieriger auf die kulturelle Produktion Deutschlands als danach. Der deutschen Literatur mochte damals schon das Odium der Pedanterie anhängen, weshalb der Text vom Übersetzer William A. Cooper nicht unbeträchtlich gekürzt wurde. Diese Version wurde auch ein halbes Jahrhundert später noch unverändert aufgelegt. Eine neuere US-amerikanische Übersetzung ist bis heute nicht dokumentiert. Im anglophonen Europa setzte die Rezeptionsgeschichte von Effi Briest erst 1962 mit einer – ebenfalls gekürzten (Glass 1995, 41) – Übersetzung von Walter Wallich ein, die aber fünf Jahre später von einer bei Penguin Books herausgekommenen Taschenbuchausgabe abgelöst wurde. Deren Autor war der hochangesehene, in mehreren Sprachen versierte und am Cambridger Queens’ College lehrende Frankoromanist Douglas Parmée (1914–2008). Die schottische Germanistin Helen Chambers unterzog die Version Parmées einer detaillierten Übersetzungskritik, in der sie zu dem Resultat kam, dass nicht nur »the professional close reader, the comparatist for example« (Chambers 1995, 97) nicht gut mit ihr bedient ist, sondern auch der durchschnittliche Leser um manche Qualitäten betrogen wird. Chambers entdeckte zahlreiche unbewältigte Schwierigkeiten, die einerseits Eigentümlichkeiten der Architektur der deutschen Sprache und andererseits idiolektalen Zügen der Fontaneschen Diktion geschuldet sind. Sie hebt aber auch hervor, dass Parmées Kenntnisse des Deutschen nicht überall ausreichten und dass sich störende Fehler gegen Ende des Romans häufen (Chambers 1995, 106). Ihre Argumente waren offenbar überzeugend: »As a welcome consequence of the London Fontane Symposium a new translation of Effi Briest has been commissioned by Angel Books« (Chambers 1995, 107). Diese angekündigte Neuübersetzung, eine Gemeinschaftsarbeit von Helen Chambers und Hugh Rorrison, erweitert um Anmerkungen und ein Nachwort der Übersetzerin, erschien 1995 und erntete anerkennende Besprechungen (z. B. Sagarra 1997, 160– 161). Es ist davon auszugehen, dass sich diese Version – inzwischen auch in der Reihe Penguin Classics erhältlich – als Standardübersetzung für ein bis zwei Generationen etablieren wird.

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Französische Übersetzungen Nach Russland, das sich nicht der Berner Konvention von 1886, also dem ersten internationalen Abkommen zum Schutz der Urheberrechte, angeschlossen hat (und mit einer Übersetzung von Unwiederbringlich aus dem Jahr 1891 die Chronologie der Übersetzungen von Texten Fontanes anführt; vgl. Glass/ Schaefer 1996, 153), ist Frankreich das zweite Land, das eine Übersetzung eines Texts des deutschen Autors auf den Markt brachte. Entsprechend dem nach dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 erwachten Interesse der Franzosen an militaristischem Schrifttum aus Deutschland handelt es sich allerdings nicht um ein literarisches Werk, sondern um den autobiographischen Bericht Kriegsgefangen, von dem im Dezember 1891 eine Episode in der Revue politique et littéraire und im Jahr darauf eine Teilübersetzung von Jean Thorel in Buchform bei Perrin in Paris unter dem Titel Souvenirs d’un prisonnier de guerre allemand en 1870 erschien (Hermetet/Weinmann 2014, 636). Die Frühphase der übersetzerischen Rezeption von Effi Briest, die von Hermetet/Weinmann (2014, 636– 641) im Band zum 19. Jahrhundert der monumentalen Histoire des traductions en langue française (Chevrel/ D’hulst/Lombez 2014) minutiös nachgezeichnet wird, war von einer Reihe retardierender Faktoren geprägt. Effi Briest ist – und zwar mit Abstand – der erste Roman Fontanes, der in französischer Sprache erschienen ist. Obwohl Fontane der Überzeugung war, aufgrund seiner hugenottischen Abstammung mit der französischen Mentalität gut zu harmonieren, zeigten sich die französischen Verlage äußerst reserviert. Gewissermaßen »aus Versehen« autorisierte er eine französische Interessentin, Cécile und Effi Briest zu übersetzen, wofür er sich seinem Sohn Friedrich gegenüber, der als Verleger die Rechte an den Werken seines Vaters innehatte, mit seinem »altmodischen Gefühl« rechtfertigt (Fontane 1998, 4, 409). Warum der Plan letztlich nicht umgesetzt wurde, geht aus den erhaltenen Dokumenten nicht hervor. Tatsächlich zum ersten Mal ins Französische übersetzt wurde Effi Briest von dem aus Odessa stammenden und 1887 nach Frankreich eingewanderten Multitalent Mikhail Osipovitch Ashkenazi (1851–1914), der unter dem Pseudonym Michel Delines (Delines 2015) zunächst im Sommer 1900 eine stark gekürzte Fassung als Zeitschriftenbeilage herausbrachte, die jedoch nicht in eine Buchpublikation mündete. Da die Suche nach einem französischen Verlag erfolglos ver-

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III Rezeption

lief, versuchte Friedrich Fontane von seinem Berliner Verlag aus das Werk seines Vaters dem frankophonen Publikum zu vermitteln. Der von Hermetet/Weinmann angestellte Vergleich von Original und Übersetzung erweist, dass Delines auch in der Buchfassung vieles weggelassen hat, was er der französischen Leserschaft nicht zumuten zu dürfen meinte: Anspielungen auf deutsche Literatur und zeitgenössische Politik, insbesondere auf den Deutsch-Französischen Krieg und Bismarck. Wie in fast allen älteren fremdsprachlichen Fassungen sind dialektale Elemente standardsprachlich wiedergegeben. Immerhin sind gegenüber der Zeitungsversion die Fehler getilgt, die dadurch entstanden waren, dass Delines Probleme mit der Frakturschrift hatte (weshalb er etwa dort den Namen Crampas als Erampas wiedergegeben hatte). Aus dem von Hermetet/Weinmann ausgewerteten Briefwechsel Friedrich Fontanes geht hervor, dass die französische Übersetzung ein Ladenhüter blieb. Überraschenderweise erfolgte auch der nächste Anlauf zur Verbreitung des Romans in französischer Sprache von Deutschland aus. Der Leipziger Verlag Tauchnitz publizierte 1942 eine Übersetzung von André Cœuroy (1891–1976), der mit bürgerlichem Namen Jean Belime hieß und sich, ähnlich wie Delines, in verschiedenen künstlerischen Sparten betätigte. Laut der Biobibliographie (Cœuroy 2018) war er primär Musikwissenschaftler und -kritiker, er hat aber auch zahlreiche Werke bedeutender deutschsprachiger Autoren wie Goethe, Heine, Mörike oder Max Frisch übersetzt. Cœuroys Fassung wechselte zwar mehrfach den Verlag, sie blieb aber immer verfügbar. Mehrere Ausgaben sind von namhaften Literaturkritikern eingeleitet. Der bei Les Presses d’aujourd’hui (Paris 1981) veröffentlichten Edition geht ein Vorwort Joseph Rovans, des prominenten deutschstämmigen Historikers und Politikberaters sowohl des deutschen Bundeskanzlers Helmut Kohl als auch des französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac voraus. Zweifellos trägt dieses symbolische Kapital zur Festigung der Position dieser Übersetzung bei. Mehr an den Bedürfnissen einer fachlich interessierten Leserschaft orientiert und daher auf dem Buchmarkt weniger präsent ist die nach einem weiteren Intervall von vier Jahrzehnten bei Robert Laffont in Paris erschienene und von Claude David, einem Stargermanisten der Sorbonne, eingeleitete, vier Romane Fontanes enthaltende Edition. Die mit Kommentaren versehene Übersetzung von Effi Briest stammt von Pierre Villain. Die französischen Leser können also heute wählen zwischen einer wissen-

schaftlich aufbereiteten und einer auf die Lektüre durch ein Vorwort vorbereitenden Ausgabe.

Italienische Übersetzungen Obwohl Fontane – anders als zu Großbritannien und Frankreich – zu Italien keine ausgeprägte persönliche Bindung hatte und »[d]ie Bedeutung Fontanes in Italien spät erkannt [wurde]« (Fiandra 2005, 124), kann mittlerweile mit Fug und Recht behauptet werden: »In Italien ist Fontane ein sehr beliebter Autor und erfreut sich eines sehr breiten Leserpublikums« (Bortoli 2011, 11). Allein für Effi Briest lassen sich sechs verschiedene Übersetzungen nachweisen (Eugenio Giovannetti 1944, Erich Linder 1955, Maria Grazia Nasti Amoretti 1956, Carlo de Sinner 1961, Enrico Ganni 1993, Silvia Bortoli 2003). Nicht über alle Übersetzerinnen und Übersetzer sind aussagekräftige Daten zu ermitteln. Die faszinierendste Persönlichkeit unter ihnen ist zweifellos der aus Österreich gebürtige, trotz seiner jüdischen Abstammung seit Jugendjahren im italienischen Verlagsgeschäft äußerst umtriebige und erfolgreiche, seine Identität mehrfach wechselnde Erich Linder (1924–1983; s. Linder 2015), der englische und vor allem deutsche Weltliteratur ins Italienische übersetzt hat. Seine Effi-Briest-Übersetzung wurde teils sukzessive, teils parallel von verschiedenen Verlagen aufgelegt und von Vorworten renommierter Germanisten eingeleitet (1955 Parenti Florenz: Cesare Cases; 1978 Garzanti Mailand: Giuseppe Bevilacqua – diese Ausgabe erreicht eine zweistellige Anzahl an Auflagen; 1994 Principato Mailand). Nahezu alle großen Belletristik-Verlage haben eine Effi-Briest-Übersetzung im Programm (gehabt): neben den schon genannten auch UTET, Editori Riuniti, Feltrinelli und, seit 2003, Mondadori, der mit einer zweibändigen, fast 3000 Seiten umfassenden und von einer einzigen Übersetzerin – Silvia Bortoli (geb. 1946) – verantworteten Version aller Romane Fontanes unternehmerischen Mut bewiesen und Vertrauen in die Zugkraft des deutschen Autors gesetzt hat. Die Übersetzerin wurde 2004 für diese Großtat mit dem prestigeträchtigen Premio Monselice ausgezeichnet. Bemerkenswert erscheint auch die große Zahl an (bearbeiteten) Ausgaben für den Schulunterricht, die häufig zusammen mit CDs angeboten werden. Auffallend im Vergleich zur Editionspraxis in anderen Sprachen ist, dass die italienischen Ausgaben von Effi Briest von Anfang an fast ausnahmslos von Kommentaren oder von Einführungen angesehener

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Fachleute begleitet wurden, deren Originalität und Aufschlusswert von der Literaturkritik auch durchaus wahrgenommen wurde. So vergaß die Rezensentin der Übersetzung Bortolis nicht, »das intelligente Vorwort des Herausgebers Giuliano Baioni, eine[s] der bedeutendsten Vertreter der italienischen Germanistik«, als scharfsichtige »umfassende Gesamtanalyse« (Fiandra 2005, 132) zu würdigen.

Abschließende Beobachtungen In detaillierteren Kommentaren zu Effi-Briest-Übersetzungen finden sich sprachenübergreifend viele Übereinstimmungen. Ältere Übersetzungen ignorieren zumeist die dialektalen bzw. umgangssprachlichen Passagen, die der direkten Figurencharakteristik dienen. Seit einigen Jahrzehnten werden diatopisch markierte Elemente mit Formen des sprachlichen Substandards wiedergegeben. Schwierigkeiten bereiten oft auch die sogenannten Abtönungspartikeln, die in anderen Sprachen vielfach keine lexikalischen Entsprechungen haben. Ein besonderes Sorgenkind von Übersetzern deutscher Texte ist auch das Indefinitpronomen man (Chambers 1995, 98–99). Einige Unstimmigkeiten entstehen durch Unkenntnis geographischer Gegebenheiten, die im Roman eine Rolle spielen. Zusammenfassend lässt sich aus fundierten Übersetzungskritiken schließen, dass heute zumindest in allen größeren europäischen Literatursprachen vollständige und philologisch zuverlässige Übersetzungen des Fontane-Klassikers vorliegen. Übersetzungen [E. B. = Effi Briest; Üs. = Übersetzung] Bulgarisch: E. B. Üs. Dimităr Stoevski. Sofia 1963. Chinesisch: Aifei Bulisite. Üs. Han Shi-zhong. Shanghai 1980. Dänisch: E. B. Üs. NN. Kopenhagen 1897; E. B. Üs. Carl V. Østergaard. Kopenhagen 1944. Englisch: E. B. Üs. William Cooper. New York 1914; E. B. Üs. Walter Wallich. London 1962; E. B. Üs. Douglas Parmée. Harmondsworth 1967; E. B. Üs. Hugh Rorrison/Helen Chambers. London 1995. Estnisch: Effi Brist. Üs. aus dem Englischen von Lydia Riikoya. Tallinn 1980. Finnisch: Nuoren naisen kohtalo. Üs. J. Hollo. Jyväskylä 1924. Französisch: E. B. Üs. Michel Delines. Berlin 1902; E. B. Üs. André Cœuroy. Leipzig 1942; E. B. Üs. Pierre Villain. Paris 1981. Hebräisch: Efi Brist. Üs. Nili Mirsqi. Tel Aviv 1981 Italienisch: E. B. Üs. Eugenio Giovannetti. Rom 1944; E. B.

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Üs. Erich Linder. Florenz 1955; E. B. Üs. M. Grazia Nasti Amoretti. Turin 1956; E. B. Üs. Carlo de Sinner. Rom 1961; E. B. Üs. Enrico Ganni. Mailand 1993; E. B. Üs. Silvia Bortoli. Mailand 2003. Japanisch: Tsuminaki isumi. Üs. Katô Ichirô. Tokyo 1941/42. Katalanisch: E. B. Üs. Núria Petit. Barcelona 2004. Koreanisch: Ep’i Pŭrisŭt’ŭ. Üs. Yŏng-su Kim. Seoul 1982. Lettisch: Efija Brīsta. Üs. Velta Balode. Riga 1970. Litauisch: Efė Briest. Üs. Eugenija Vengrienė. Vilnius 1971. Neugriechisch: Efē Brist. Üs. Angelos Parthenēs. Athen 1989. Niederländisch: Het huwelijk van Eefke Briëst. Üs. J. P. Wesselink-v.Rossum. Amsterdam 1912. Norwegisch: E. B. Üs. Lotte Holmboe. Oslo 1976. Polnisch: E. B. Üs. Izabela Czermakowa. Warschau 1974. Rumänisch: E. B. Üs. Mara Giurgiuca. Bukarest 1965. Russisch: Effi Brist. Üs. V. Naranovič. Sankt Petersburg 1897. Schwedisch: E. B. Üs. Ernst Lundquist. Stockholm 1902. Serbo-Kroatisch: Efi Brist. Üs. Milan Tokin. Novi Sad 1953. Slowakisch: Effi Briestová. Üs. Miroslava Bártová. Bratislava 1961. Spanisch: El secreto de E. B. Üs. F. de Ocampo. Barcelona 1943. Tschechisch: Manželství Effi Briestové. Üs. Josef Menzel. Prag 1933. Türkisch: E. B. Üs. Nijad Akipek. Istanbul 1949; E. B. Üs. Kasım Eğit. Istanbul 2007. Ungarisch: E. B. Üs. István Vas. Budapest 1954.

Forschungsliteratur Albrecht, Jörn/Iris Plack: Europäische Übersetzungsgeschichte. Tübingen 2018. Bortolo, Silvia: Fontane ins Italienische übersetzen. In: Hubertus Fischer/Domenico Mugnolo (Hg.): Fontane und Italien. Würzburg 2011, 11–21. Chambers, Helen: Douglas Parmée’s English Translation of Theodor Fontane’s ›Effi Briest‹. In: Alan Bance/Helen Chambers/Charlotte Jolles (Hg.): Theodor Fontane – The London Symposium. Stuttgart 1995, 95–109. Chevrel, Yves/Lieven D’hulst/Christine Lombez (Hg.): Histoire des traductions en langue française. XIXe siècle (1815–1914). Lagrasse 2014. Fiandra, Emilia: Fontane in Italien. Aus Anlass der neuen italienischen Theodor-Fontane-Ausgabe: ›Romanzi‹. In: FBl 79 (2005), 124–137. Fontane, Theodor: Briefe. 5 Bde. Hg. von Walter Keitel und Helmuth Nürnberger. München 1998 (unveränd. Nachdruck der im Carl Hanser Verlag ersch. Ausg. München 1982). Glass, Derek: Fontane in English Translation: A Survey of the Publication History. In: Alan Bance/Helen Chambers/ Charlotte Jolles (Hg.): Theodor Fontane – The London Symposium. Stuttgart 1995, 15–94. Glass, Derek/Peter Schaefer: Fontane weltweit. Eine Bibliographie der Übersetzungen. In: FBl 62 (1996), 127–153. Gülmüş, Zehra: Theodor Fontanes Roman ›Effi Briest‹ in türkischer Übersetzung: eine übersetzungskritische Betrachtung zu den Anmerkungen der Übersetzer in Fußnoten. In: Von Generation zu Generation: Germanistik. Festschrift für Kasım Eğit. Izmir 2013, 133–154.

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III Rezeption

Hermetet, Anne-Rachel/Frédéric Weinmann: Prose narrative. In: Yves Chevrel/Lieven D’hulst/Christine Lombez (Hg.): Histoire des traductions en langue française. XIXe siècle (1815–1914). Lagrasse 2014, 537–664. Neuhaus, Stefan: Freiheit, Ungleichheit, Selbstsucht? Fontane und Großbritannien. Frankfurt a. M. u. a. 1996. Sagarra, Eda: Rezension von Theodor Fontane: ›Effi Briest‹. Übers. von Hugh Rorrison und Helen Chambers. In: FBl 64 (1997), 160–161.

Internetquellen Cœuroy 2018. In: https://fr.wikipedia.org/wiki/Andr%C3 %A9_C%C5%93uroy (28.2.2019). Czermakowa 2019. In: http://worldcat.org/identities/ lccn-nb2006008709/ (28.2.2019).

Delines 2015. In: https://www.idref.fr/028607244 (28.2.2019). Håkanson, Nils/Mats Rehn 2019. In: https://litteraturbanken. se/%C3%B6vers%C3%A4ttarlexikon/artiklar/Ernst_ Lundquist (28.2.2019). Holmboe 2017. In: https://no.wikipedia.org/wiki/Lotte_ Holmboe (28.2.2019). Index translationum 2019. In: http://www.unesco.org/ xtrans/ (28.2.2019). Linder 2015. In: https://it.wikipedia.org/wiki/Erich_Linder (28.2.2019). Østergaard 2019. In: http://danskforfatterleksikon.dk/ 1850bib/0carlvoestergaard.htm (28.2.2019). Vas 2019. In: http://www.yivoencyclopedia.org/article.aspx/ Vas_Istvan (28.2.2019).

Wolfgang Pöckl

17 Die Rezeption im Drama

17 Die Rezeption im Drama Vorbemerkung Effi Briest gehört zu den am häufigsten für die Bühne bearbeiteten deutschsprachigen Romanen. Die Homepage des Verbandes Deutscher Bühnen- und Medienverlage (http://www.theatertexte.de) verzeichnet 2019 insgesamt 17 zugängliche Textfassungen der Romandramatisierungen, drei dieser Bearbeitungen werden explizit als Dramen für Jugendliche ausgewiesen. Leander Wattig listet für den Zeitraum der Spielzeiten 1998/99 bis 2004/05 insgesamt 23 Inszenierungen mit mindestens 18 unterschiedlichen Urhebern auf (Wattig 2004, 180–184). Die Pressemitteilungen zu den verschiedenen Inszenierungen werden vom TheodorFontane-Archiv in Potsdam gesammelt. Effi Briest wurde erst mit großer Verzögerung für die Bühne adaptiert. Die erste öffentlich zugängliche Romandramatisierung stammt von Kazuko Watanabe und Frank M. Raddatz, die im Düsseldorfer Schauspielhaus am 2. Oktober 1998, unter der Regie von Kazuko Watanabe, uraufgeführt wurde. Alle Bühnenfassungen tragen den Titel Effi Briest und präsentieren sich somit als Bearbeitungen des Romans für die Bühne. Den Anstoß zu den verschiedenen und sich ab 1998 häufenden Adaptionen hat möglicherweise das Drama Effis Nacht von Rolf Hochhuth, 1996 bei Rowohlt erschienen und zwei Jahre später am Prinzregententheater in München unter der Regie von August Everding uraufgeführt, gegeben. Bei Effis Nacht handelt es sich jedoch nicht um eine Dramatisierung der Romanhandlung, sondern, je nach Perspektive, um eine metafiktionale Auseinandersetzung mit den Romanen Fontanes und Spielhagens (Friedrich Spielhagens Stoffbearbeitung des Ardenne-Stoffes erschien 1897 unter dem Titel Zum Zeitvertreib; s. Kap. 7) oder um eine Bearbeitung des den beiden Romanen zugrunde liegenden Elisabeth von Ardenne-Stoffes (s. Kap. 9).

Metafiktionale Dramatisierung: Effis Nacht. Monolog Rolf Hochhuth diente ebenso wie Fontane und Spielhagen die Lebensgeschichte der historisch verbürgten Elisabeth Freiin und Edle von Plotho-Zerben (1853– 1952), verheiratete Elisabeth von Ardenne (s. Kap. 9), als Vorlage seiner literarischen Arbeit. Die Verbindung zwischen der Romanfigur Effi Briest und der von Hochhuth fiktionalisierten Elisabeth von Ardenne

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stellt der Autor über den Titel hinaus bereits zu Beginn seines Dramas in einem dem Nebentext vorangestellten ›Zitat‹ von »›Effi Briests‹ Enkel, Professor Manfred von Ardenne« (Hochhuth 1996, 7) her. Hochhuth verlegt die Handlung seines Stückes in das Jahr 1943. Elisabeth, 90-jährig, wacht am Bett eines sterbenden Soldaten, während sie auf ihr Leben, aber auch auf das Leben ihrer Nation zurückblickt. In dem sich entfaltenden Selbstgespräch werden scheinbar assoziativ private und politische Ereignisse miteinander in Verbindung gesetzt und reflektiert. Als das beide Reflexionsebenen beherrschende Thema arbeitet der Autor die Schuldfrage heraus, indem er die Perspektive des Rezipienten vom Duell zwischen zwei Kontrahenten auf das sanktionierte Töten im Krieg erweitert. So wird die persönliche Katastrophe im Leben der Hauptfigur mit den nationalen Katastrophen Deutschlands durch die »Einsicht in die Mitschuld am Tode vom Mitmenschen verbunden« (Restenberger 2001, 231). In seinen Text arbeitet Hochhuth immer wieder Sprechteile ein, die einen Kommentar zu den literarischen Adaptionen Fontanes und Spielhagens darstellen. So lässt Hochhuth seine Figur beispielsweise Fontanes literarisches Verfahren, dass er »dort abbricht, wenn und wo andere noch weitergehen«, am Ende des Stückes als »moralisch« und als »Rücksichtnahme auf sich, auf andere, ja sogar auf das Leben selbst« (Hochhuth 1996, 87) beschreiben, während andere Verfahren Fontanes deutlich kritisch bewertet werden. So hatte Fontane aus dem Geliebten Elisabeths, dem Amtsrichter und passionierten Maler Emil Hartwich (1843–1886), in seiner Romanfassung einen adligen Major gemacht. In Hochhuths Bearbeitung nimmt Elisabeth hieran Anstoß: »Mein Zorn dann auch gegen Fontane, weil er nicht riskiert hat, meinen Freund sein zu lassen, wer er war; was er war [...]. Warum durfte Hartwich nicht Richter bleiben, sondern mußte Major werden und von Crampas. So stecken wir alle in Konventionen – sogar Fontane. Wenn nicht aus Feigheit, so weil wir umgebungsblind sind. Vor allem aber ahnungslos konventionshörig [...] und Ehebruch schien diesem Dichter schon halb entschuldigt, wenn er wenigstens ›standesgemäß‹ blieb« (ebd. 25, 26–27).

Nach der Uraufführung am Prinzregententheater am 15. Mai 1998 schreibt Birgit Kölgen in der Rheinischen Post in ihrer Rezension mit dem vielsagenden Titel Die Vorlesung des Oberlehrers: »Ganz gleich, was passiert, die alte Dame auf der Bühne muß erklären und

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2019 S. Neuhaus (Hg.), Effi Briest-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04874-5_17

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dozieren. [...] Man hört dieser Frau zu, aber man fühlt nur ganz selten mit ihr« (Kölgen 1998). Anja Restenberger sieht dieses Urteil vor allem in der klischeehaften Darstellung Hochhuths begründet (vgl. Restenberger 2001, 230–232); ebenso Stefan Neuhaus, der urteilt, Effis Nacht sei »in der Tat eine nur schwer erträgliche Ansammlung von ins Extreme gesteigerten Klischees« (Neuhaus 1998, 53). Restenberger kommt zu dem Schluss, die von Hochhuth »beabsichtigte Demontage der literarischen Fiktion Fontanes und Spielhagens« erschöpfe sich in »pauschale[n] Urteile[n]« (Restenberger 2001, 231) und hierin zeige sich die Schwäche seines eigenen literarischen Schaffens.

Dramatisierungen allgemein In der Spielzeit 2018/19 wird Effi Briest am Oldenburgischen Staatstheater in einer Bühnenfassung von Peter Hailer und Bernd Schmidt inszeniert. Zur Uraufführung dieser Fassung, die am 28. Mai 2011 am Staatstheater Darmstadt stattfand, resümiert Marcus Hladek in der Frankfurter Neuen Presse: »Mit der heutigen Welle von Roman-Dramatisierungen ist es ja ein weites Feld. Oft lässt die Kleingläubigkeit dem Drama gegenüber bloß assoziative Bilder zu. Regisseur Hailers und Bernd Schmidts Version bringt wieder in Erinnerung, dass die Theatralisierung epischer Stoffe urdramatisches Vorrecht ist. Ihre Effi Briest hat und behält Anfang, Mitte und Ende, exponiert das Geschehen und treibt es voran, nutzt das verzögernde Moment und schaltet trügerische Hoffnung vor die Katastrophe« (Hladek 2011).

Marcus Hladek verweist hier auf eine grundlegende Schwierigkeit von Romandramatisierungen, die darin besteht, ein komplexes Handlungs-, Figuren- und Symbolnetz (s. Kap. 14) an die besonderen Bedingungen der Bühne und der veränderten Rezeptionssituation anzupassen und damit u. U. je nach Prätext auf unterschiedlichste Formen der Kürzungen angewiesen zu sein. Diese Verfahren führen zu einer Fokussetzung der jeweiligen Inszenierungen, die die Vielschichtigkeit des Ursprungtextes reduzieren kann, indem eine Deutungsperspektive der Vorlage in den Mittelpunkt der Adaption gestellt wird. Die Dichte des Symbolsystems in Effi Briest, welches sich wesentlich über die Beschreibung von Phänomenen der Landschaft, Architektur und Gegenstände äußert (s. Kap. 21, 27, 28), erschwert die dramatische Adap-

tion des Romans deutlich (vgl. Lipinski 2014, 301). Die beiläufige Symbolik der Gegenstände ist »auf der Bühne besonders schwer herzustellen«, so Lipinski, da die Wahrnehmung des Rezipienten sich nicht so unauffällig lenken« (ebd.) lässt. Dies habe zur Folge, dass Dramatisierungen mit einer größeren Eindeutigkeit die Phänomene benennen müssten, als dies im Fall des Erzähltextes möglich sei und damit dessen Uneindeutigkeit unterlaufen (ebd.). Trotz dieser besonderen Herausforderung wird die theatralische Qualität des Romans, die vor allem in seinen vielen Dialogpassagen liegt, innerhalb der Forschung häufig betont, denn die Dialoge dienen nicht nur dem Fortgang der Handlung und der Figurencharakterisierung, sondern liefern zugleich Kommentare zur Handlung (s. Kap. 36). So formuliert Hugo Aust, dass Fontane in erster Linie das Sprachverhalten der Menschen zum Gegenstand seiner Kunst erhebe, die »sich als Widerspiegelung des Lebens im Medium der Sprache verstehe« (Aust 2000, 441), und Norbert Mecklenburg spricht in diesem Zusammenhang von einer »Poetik der Gänsefüßchen« (Mecklenburg 1998, 68). Die szenische Qualität des Romans betont auch Peter Demetz, die er vor allem in jenen Erzählsituationen sieht, in denen, durch das Zurücktreten des Erzählers, die autonome Rede der Figuren bei Annäherung von Erzählzeit und erzählter Zeit dominiert (Demetz 1966, 129). Die literaturwissenschaftliche Forschung zu den Romandramatisierungen ist insgesamt als gering zu beschreiben. Neben der quantitativen Auflistung der Adaptionen, wie sie von Leander Wattig vorgenommen wurde, der Betrachtung der Dialogizität des Romans, die als Kriterium der theatralischen Qualität der Erzählung herangezogen werden kann, sich jedoch in erster Linie auf den Roman konzentriert, liefert Birte Lipinski mit ihrer im Jahr 2014 erschienenen Monographie Romane auf der Bühne. Form und Funktion im deutschsprachigen Gegenwartstheater die umfangreichste Studie zu diesem Themenfeld. Lipinski arbeitet die unterschiedlichen Übertragungs- und Darstellungsverfahren deutlich heraus. Im Zentrum ihrer Arbeit stehen darüber hinaus die Veränderungen zwischen dem Prätext Roman und dem Hypertext Dramatisierung (Lipinski 2014, 293–402). Sie widmet den dramatischen Adaptionen von Effi Briest ein ausführliches Kapitel. Deutlich intensiver ist das metafiktionale Spiel mit dem Theater in Fontanes Roman innerhalb der Forschung kommentiert worden, denn Fontane erhebt das Theater und dessen zeitgenössische Beurteilung nicht nur zum Thema, Motiv und

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zur Metapher seines Romans, sondern nutzt es gleichermaßen im Handlungsverlauf in Gestalt der den Roman durchziehenden Allusionen (vgl. hierzu Plett 1986; Müller-Kampel 1989; s. Kap. 33). Die erarbeiteten Bühnenfassungen haben gemeinsam, dass sie mit erheblichen Kürzungen arbeiten. Diese fallen im Umfang sehr unterschiedlich aus und führen, je nach Rigidität, dazu, dass einzelne Aspekte des Romans in den Vordergrund treten, andere wiederum vernachlässigt oder ganz ausgelassen werden. Die Dramatisierung Amelie Niermeyers (Regisseurin) und Thomas Potzgers (Dramaturg und Schauspieldirektor) wurde für das Weimarer Nationaltheater entwickelt und dort 1999 uraufgeführt. Bei dieser Bühnenfassung handelt es sich im weitesten Sinne um eine sogenannte Strichfassung, deren Dialoganteile sehr nah am Roman orientiert sind. Die Fassung ist in 32 Szenen unterteilt, die die unglückliche Ehe Effis in den Vordergrund stellt und ihre Opferrolle deutlich hervorhebt. Der Ehebruch wird als die Folge einer hartherzigen Erziehung durch Innstetten deutlich markiert. Dramaturgisch nutzen die Verfasser hierzu die Montage zeitlich parallel laufender Szenen an unterschiedlichen Orten, die jedoch zugleich verknüpft werden. Durch dieses Verfahren entsteht der Eindruck einer Kausalität, die im Ehebruch Effis ihre logische Konsequenz und damit zugleich eine gewisse Form der Entschuldigung erfährt. Das Verhalten Innstettens wird in dieser Bearbeitung laut Lipinski mit größerer Eindringlichkeit als »Desinteresse und Kalkül zum eigenen Nutzen sowie als Hartherzigkeit« (Lipinski 2014, 303) inszeniert, als dies im Roman der Fall sei. Dramaturgisch wird dies u. a. in den wiederholt abrupt vorgeführten Abgängen der Figur umgesetzt. Mehrfach bricht Innstetten das Gespräch mit Effi ab und verlässt den Schauplatz; Effi bleibt alleine auf der Bühne zurück (z. B. Niermeyer/Potzger 1999, 11). Aber auch die Darstellungen der Nebenfiguren, die leicht veränderten Handlungsabläufe, der Einsatz der Körper sowie die Auslassungen und die allegorische Nutzung des Raumes untermalen die Opferrolle der Hauptfigur. So verrät beispielsweise Johanna Effis Geheimnis auf eigene Initiative hin an den Hausherren und nicht, wie im Roman, nach dessen Aufforderung (z. B. ebd., 19–20, 27). Die mangelnde Empathie Luise Briests wird stark herausgearbeitet, indem die Passagen, die das Bedauern der Eltern nach Entdeckung des Ehebruchs ausdrücken, ausgelassen werden, ebenso wie die Hinweise auf das strategischen Vorgehen von Major Crampas bei der Eroberung Effis im Drama fehlen. Durch diese Auslassung wird eine

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Deutungsebene in den Vordergrund gerückt, die Crampas stärker als den Liebenden denn als Verführer zeigt. Die Eindeutigkeit, mit der Effis Opferrolle in dieser Adaption vorgeführt wurde, stieß deutlich auf Kritik. Im Spiegel heißt es: »Niermeyer lässt uns vom ersten Moment der Inszenierung an wissen, dass sie Effi [...] für ein Opfer trostloser Umstände hält, bedauernswert und anziehend zugleich« (Schmitter 2003, 158). Doch leider fehle die Anregung zu »Zweifel und Nachdenken, Urteilsbildung und Unsicherheit, Einfühlung und Wehmut«, vielmehr handele es sich bei dieser Adaption um einen »Bilderbogen für Analphabeten« (ebd., 158). Was Niermeyer in der Konstruktion der Figur Crampas nur andeutet, wird von Petra Maria Grühn deutlicher herausgearbeitet, wenn sie den Ehebruch, aber auch die Ehe insgesamt stärker im Liebesdiskurs verortet. In einem ihrer Bearbeitung vorangestellten Kommentar heißt es: »Diese Bühnenfassung des großen Romans von Theodor Fontane fokussiert die Handlung der sechs Hauptpersonen auf eine Gesellschaftsordnung, die von ihnen zwar in Frage gestellt wird, die aber keiner verlassen will. Die strenge Einhaltung der Regeln garantiert soziale Akzeptanz und verspricht ihnen eine erfolgreiche Karriere, nur die Liebe lässt sie an die Grenzen stoßen. Sie werden zu Opfern, Männer wie Frauen [...] (Grühn 2004, 1).

Das von Grühn gewählte Verfahren, durch den Einsatz von Para- und Nebentexten deutliche Interpretationshinweise zu geben, wird auch in anderen Bearbeitungen eingesetzt. Ulrike Dietmann arbeitet ebenfalls mit einem ihrer Adaption vorangestellten Kommentar, der auf die Aktualität der Geschichte verweist. Die Zeitlosigkeit des Stoffes sieht die Autorin vorrangig in der »Verderbtheit der Gesellschaft« (Dietmann 1999, 1) begründet: »Auch der Fortschritt eines Jahrhunderts, meine ich, hat keine wesentlichen neuen Antworten auf dieses Problem« (ebd.). Bei Effi handele es sich um eine Figur, die »neurotisch und labil wie Janis Joplin, Kurt Cobain oder Lady Di« sei und damit einem »Pop-Mythos« angehöre (ebd., 1–2). Dietmann und Grühn arbeiten darüber hinaus beide mit einer Gleichsetzung von Crampas und dem Chinesen über eine Doppelrolle. Bei Dietmann wird diese Parallelsetzung über Toneinspielungen hergestellt, während Grühn dies u. a. durch Pro- und Analepsen sowie die Kostüme in Szene setzt.

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III Rezeption

Mit einer noch größeren Fülle an interpretatorischen Hinweisen in Form der Para- und Nebentexte (er nutzt hierzu Akt- und Szenenüberschriften) arbeitet Matthias Brenner. So ist beispielsweise der dritte Akt, der den längsten Zeitraum umfasst, mit dem Titel »Drei Jahre Weihnachten« (Brenner 2005, 22), und der vierte Akt mit »Berlin heilt alle Wunden« (ebd., 41) versehen. Einzelne Szenen sind zusätzlich mit intertextuellen Verweisen und/oder Wortspielen überschrieben. Die Szene um die Affäre wird z. B. mit »Der Sog« (ebd., 36) oder jene, in der Roswitha ihre Lebensgeschichte erzählt, mit »Vorauseilende Klage« (ebd., 24) tituliert. Auch die Bühnenbearbeitung Holger Teschkes, Autor, Regisseur und Journalist, ist, wie die Arbeit Brenners, geprägt von einem umfangreichen Figurenrepertoire. In insgesamt 29 Bildern treten nicht weniger als 19 Figuren auf. Hieraus resultiert eine starke Konzentration auf die Figurendialoge. Zahlreiche Motive, aber auch Handlungselemente werden von Teschke in die Dialoge eingearbeitet, so wird beispielsweise über den Chinesen einmal gesprochen und auch über das Duell wird ausschließlich retrospektiv berichtet (Teschke 2000, 46). Einzig die Schaukel wird in das Bühnenbild integriert (ebd., 3, 44, 59, 60–61) und findet im Nebentext auch dort dann Erwähnung, wenn sie nicht in den Handlungsverlauf integriert ist, sondern Effis Abwesenheit symbolisiert (ebd., 6).

Bearbeitung deutlich: die Gegenüberstellung des Ehepaares. Diese Darstellung, die auf eine Parallelsetzung der Figurenpaare abzielt, wird durch die dialogische Struktur der Adaption zusätzlich herausgestellt. Der Sprechtext ist fast ausschließlich dem Roman entnommen. Auffällige Veränderungen finden jedoch in der Verteilung und Chronologie statt. Einerseits arbeiten die Autorinnen mit der Collage (z. B. ebd., 22–23) verschiedener Textteile, andererseits werden die Sprechanteile auf andere Sprecher*innen/ Figuren verteilt, als dies im Roman der Fall ist. So wird beispielsweise die Verteidigungsrede Effis vom Erzähler gesprochen, der keine Hinweise darauf gibt, um wessen Meinung es sich handelt (ebd., 15). Der häufige Rollenwechsel, die Achronie in der Reihung der Szenen (die Dramenhandlung setzt beispielsweise mit einer Diskussion der beiden Erzähler ein, deren Sprechteile weitgehend das Gespräch der Eltern während der Reise ihrer Tochter wiedergeben) und die damit verbundenen eingebauten Rückblicke, die häufig kommentierenden Charakter haben, eröffnen verschiedene Formen der Distanzierung. Die Verteilung der Sprech- und Erzähltexte sowie die von den Autorinnen vorgenommenen Auslassungen, die Lipinski herausarbeitet (vgl. hierzu Lipinski 2014, 313–315), konzentrieren den Konflikt insgesamt deutlich auf das Verhalten der Protagonisten.

Romandramatisierungen für Jugendliche Dramatisierungen für eine Darstellerin und einen Darsteller Die Adaption von Sandra Schüddekopf und Alexandra Henkel wurde für eine Schauspielerin und einen Schauspieler erarbeitet. Beide Autorinnen waren in die Inszenierung involviert. Sandra Schüddekopf führte Regie und Alexandra Henkel spielte die weibliche Hauptrolle (bei der Uraufführung in der männlichen Hauptrolle: Dietmar König). Das Figurenpersonal wurde durch die Autorinnen auf drei (bzw. vier) Figuren und zwei Erzähler*innen in Doppelrollen reduziert. Der Schauspieler schlüpft in die Rolle »Erzähler, Innstetten, Crampas« (Schüddekopf/Henkel 2006, 2), während die Schauspielerin die Rollen der »Erzählerin, Effi und Annie« (ebd.) übernimmt. Annie wird jedoch nicht als Sprecherin im Nebentext ausgewiesen, sondern ihre Redeanteile sind, in Anführungszeichen gesetzt, in die Rede Effis (ebd., 32– 33) integriert. Bereits in diesem Figurenarrangement wird ein wesentliches dramaturgisches Element der

Drei Bühnenfassungen des Romans wurden als Adaptionen für Jugendliche erarbeitet (vgl.; Schröder 2010, Erhardt 2012; Schmaering/Wuschek 2018). Die Bühnenbearbeitung von Edith Ehrhardt reduziert das Figurenpersonal ebenso wie Schüddekopf und Henkel auf eine Dame und einen Herren und ist zudem als mobile Produktion für das Klassenzimmer eingerichtet, die Uraufführung fand am 26. September 2003 am Theater Ulm statt, Regie führte die Autorin selbst. In der Datenbank des Verbandes Deutscher Bühnenund Medienverlage heißt es hierzu: »Edith Ehrhardt hat Fontanes Roman sensibel für die Bühne bearbeitet – sie verdichtet die wesentlichen Stationen in Effis Leben zu einem zeitlosen Stück über Träume, Sehnsüchte und Enttäuschungen auf dem Weg zum Erwachsenwerden« (Ehrhardt 2004). Bei der Bearbeitung Ehrhardts handelt es sich um eine zielgruppenorientierte, stark gestraffte Fassung. Die Textfassung umfasst 6700 Wörter und ist laut Paratext für eine Spiellänge von 75 bis 80 Minuten (Ehrhardt 2003, 1) vorgesehen. Die Fi-

17 Die Rezeption im Drama

guren der Annie und der Ehefrau des Majors wurden aus dem Figurenpersonal gestrichen. Die gesamte Handlung wird als ein Gespräch zwischen Freunden konstruiert, in das die Zuschauer z. B. durch direkte Ansprache integriert werden. Die Handlung wurde darüber hinaus deutlich enthistorisiert und an die räumlichen Bedingungen eines Klassenzimmers angepasst. So integriert Ehrhardt beispielsweise die Tafel in die Szenen, auf die Effi im Verlauf der Inszenierung verschiedene Sätze notiert. Dieses Verfahren beschreibt Lipinski als »literarisch-dramatische ›Ergebnissicherung‹ [...]. Durch die schriftliche Fixierung bleiben die Maximen und Sinnsprüche präsent, sind quasi festgeschrieben und veranschaulichen sehr plakativ das sonst unausgesprochene Regelsystem des ›Gesellschafts-Etwas‹, mit dem Effi in Konflikt gerät und nach dem Innstetten so konsequent handelt« (Lipinski 2014, 323). Ehrhardt arbeitet das Spukmotiv als Repressionselement deutlich heraus. Die Vitalität und Jugendlichkeit Effis finden ihre körperliche Entsprechung im Tanz. Als zentral setzt die Autorin somit den Konflikt zwischen Autorität und Eigenständigkeit (s. Kap. 46). Im Drama tritt die gesellschaftliche Komponente, die Innstettens Verhalten maßgeblich bestimmt und die Figur im Roman so widersprüchlich erscheinen lässt (s. Kap. 26), in den Hintergrund, denn Effi rebelliert gegen die als ungerecht empfundenen Erziehungsmethoden ihres Ehemannes (s. Kap. 31) wie gegen die Autorität einer Vater-Figur (ebd., 325). Ehrhardt rückt hier den Generationenunterschied und -konflikt deutlich in den Mittelpunkt ihrer Bearbeitung und findet ein versöhnliches Ende, das durchaus Effis Sehnsucht nach Freiheit und Eigenständigkeit auch in die letzte Szene transportiert (vgl. Ehrhardt 2003, 37). In dieser Konzentration auf die Trias aus Jugendlichkeit, Autorität und Rebellion in Verbindung mit einem versöhnlichen Ende, das keine Konsequenzen für Effi formuliert, bietet diese Adaption ein hohes Maß an Identifikationspotenzial für ein jugendliches Publikum. Auch die Bearbeitung von Oliver Schmaering und Kay Wuschek wurde für Jugendliche ab 15 Jahren konzipiert. In der Dramatisierung, die den Titel Effi trägt – durch die Auslassung des Familiennamens im Titel wird bereits die starke Konzentration der Bearbeitung auf die Hauptfigur vorweggenommen – kommt es zu einer Auseinandersetzung mit der historischen Vorlage und ihren Diskursen im Heute. Diese wird für die Zuschauer*innen in einem Spiel im Spiel sichtbar. Immer wieder verhandeln die Schaupieler*innen in Form des Aus-der-Rolle-Tretens ihr

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Verhältnis zu den jeweiligen Rollen offen. »Dadurch entstehen Szenen und Spielflächen, die zur Auseinandersetzung mit [...] Diskursen, wie Gender, Feminismus, Frauenbildern und Geschlechterverhältnissen einladen« (Stöhr 2018, 5; s. Kap. 43) und nach deren Relevanz für die heutige Zeit fragen. Verzeichnis der Dramatisierungen [Brenner, Matthias]: Effi Briest. In einer Bühnenfassung von Matthias Brenner nach dem Roman von Theodor Fontane. München 2005. (Uraufführung: 15.4.2005, Theater Magdeburg, Regie: Matthias Brenner) [Bultmann, Hilke]: Effi Briest für die Bühne bearbeitet von Hilke Bultmann. Frankfurt a. M. 2017. (Uraufführung: 24.3.2017, Theater Lüneburg, Regie: Achim Lenz) [Dietmann, Ulrike]: Effi Briest. Theaterstück nach dem Roman von Theodor Fontane. Bremen 1999. (Uraufführung: 1999, Theater Basel, Regie: Ricarda Beilharz) [Ehrhardt, Edith]: Effi Briest. Bühnenfassung für 1D/1H von Edith Ehrhardt. Jugend, Schaupiel ab 14 Jahre. Berlin 2003. (Uraufführung: 26.9.2003, Ulmer Theater, Regie: Edith Ehrhardt) [Eppler, Karin]: Effi Briest. Erzähltheatersolo UA. Schauspiel Jugend, ab 14 Jahren für 1D von Karin Eppler nach Theodor Fontane. Tübingen 2012. (Uraufführung: 26.1.2012, Theater Reutlingen, Regie: Karin Eppler) [Göber, Reinhard]: Effi Briest von Theodor Fontane. Dramatisierung von Reinhard Göber. München 2004. (Uraufführung: 24.1.2004, Theater Konstanz, Regie: Reinhard Göber) [Grühn, Petra Maria]: Effie Briest von Theodor Fontane eingerichtet für die Bühne von Petra Maria Grühn. München 2004. (Uraufführung: 20.10.2004, Teamtheater München, Regie: Martina Veh) [Hailer, Peter/Bernd Schmidt]: Effi Briest. Bühnenbearbeitung von Peter Hailer und Bernd Schmidt. Theodor Fontane. Berlin 2013. (Uraufführung: 28.5.2011, Staatstheater Darmstadt, Regie: Peter Hailer und Bernd Schmidt) [Hochhuth, Rolf]: Effis Nacht. Reinbek 1996. (Uraufführung 15.5.1998, Prinzregententheater München, Regie: August Everding) [Müller-Rosen, Christine]: Effi Briest von Theodor Fontane. Bühnenfassung von Christine Müller-Rosen, Regiefassung von Merula Seinhardt-Unseld. Köln 2006. (Uraufführung 8.5.2004, E. T. A. Hoffmann Theater Bamberg) [Niermeyer, Amelie/ Thomas Potzger]: Theodor Fontane: Effi Briest. Fassung von Amelie Niermeyer und Thomas Potzger. Frankfurt a. M. 1999. (Uhraufführung: 1999, Weimarer Nationaltheater, Regie: Amelie Niermeyer) [Philipp, Claudia/Carsten Knödler]: Effi Briest. Schauspiel von Claudia Philipp und Carsten Knödler nach Theodor Fontane. Köln 2001. (Uraufführung: 20.4.2002, Städtische Theater Chemnitz) [Schmäring, Oliver/Kay Wuschek]: Effi nach Theodor Fontane. Schauspiel. Jugend ab 15 Jahre. Berlin 2018. (Uraufführung: 19.9.2018, Theater an der Parkaue Berlin, Regie: Kay Wuschek) [Schröder, Stefan]: Effi Briest. Jugendstück ab 14 nach dem Roman von Theodor Fontane 2D/4H. Hamburg 2010. (Uraufführung: frei)

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III Rezeption

[Schüddekopf, Sandra/Alexandra Henkel:] Effi Briest für einen Schauspieler und eine Schauspielerin. Nach Theodor Fontane. Fassung von Sandra Schüddenkopf und Alexandra Henkel. Wien 2006. (Uraufführung: 2006 Akademietheater/Burgtheater Wien, Regie: Sandra Schüddekopf) [Teschke, Holger:] Theodor Fontane: Effi Briest. Bühnenfassung von Holger Teschke. Reinbek bei Hamburg 2001. (Uraufführung: 4.11.2000, Staatstheater Cottbus, Regie: Christoph Schroth) [Watanabe, Kazuko/Frank M. Raddatz]: Effi Briest. Frankfurt a. M. 2000. (Uraufführung: 2.10.1998, Düsseldorfer Schauspielhaus, Regie: Kazuko Watanabe) [Wüllenweber, Petra]: Effi Briest. München 2016. (Uraufführung: Theater für Niedersachsen Hildesheim, Regie: Petra Wüllenweber)

Forschungsliteratur Aust, Hugo: Kulturelle Traditionen und Poetik. In: FHb, 306–465. Demetz, Peter: Formen des Realismus. Theodor Fontane. Kritische Untersuchungen. München 21966. Hladek, Marcus: Mit der Liebe kommt das Unglück. In: Frankfurter Neue Presse, 30.5.2011 (Feuilleton). Kölgen, Birgit: Die Vorlesung des Oberlehrers. Rolf Hochhuths ›Effis Nacht‹ am Münchner Prinzregententheater von August Everding uraufgeführt. In: Rheinische Post 114, 18.5.1998. König, Anne-Sylvie: Frau Jenny Treibel betritt die Bühne. Theodor Fontanes Roman dramatierstiert für das Palais Lichtenau, Potsdam. In: FBl 19 (2005), 148–150. Lipinski, Birte: Romane auf der Bühne. Form und Intuition von Dramatisierungen im deutschsprachigen Gegenwartstheater. Tübingen 2014 (Forum Modernes Theater, Bd. 43). Mecklenburg, Norbert: Theodor Fontane. Romankunst der Vielstimmigkeit. Frankfurt a. M. 1998.

Müller-Kampel, Beatrice: Theater-Leben. Theater und Schauspiel in der Erzählprosa Theodor Fontanes. Frankfurt a. M. 1983. Müller-Kampel, Beatrice: Fontane dramatisiert. Franz Pühringers ›Abel Hradscheck und sein Weib‹. In: FBl 48 (1989), 60–68. Neuhaus, Stefan: Fontane-ABC. Leipzig 1998. Plett, Bettina: Die Kunst der Allusion. Formen literarischer Anspielungen in den Romanen Theodor Fontanes. Köln/ Wien 1986. Restenberger, Anja: Effi Briest: Historische Realität und literarische Fiktion in den Werken von Fontane, Spielhagen, Hochhuth, Brückner und Keuler. Frankfurt a. M./Berlin/ Bern 2001. Stöhr, Eva: Effi. Nach Theodor Fontane in einer Fassung von Oliver Schmaering und Kay Wuschek. Uraufführung. Begleitmaterial zum Stück. Berlin 2018. Wattig, Leander: Effi im Rampenlicht. In: FBl 78 (2004), 180–184.

Internetquellen Dürr, Anke: Bühnen und Premieren. In: Spiegel.Kultur Extra 5/98, 27–30. In: http://magazin.spiegel.de/Epub Delivery/spiegel/pdf/7710136 (15.1.2019). Ehrhardt, Edith: Effi Briest. In: https://www.theatertexte.de/ nav/2/2/3/werk?verlag_id=theaterverlag_hofmannpaul& wid=1177214073&ebex3=3 (10.3.2019). Schmitter, Elke: Tolles Triebleben. Amélie Niermeyer begeistert als Chefin des Freiburger Theaters die Bürger der Stadt – mit, so zeigt ihre Bühnenversion der ›Effi Briest‹, durchaus groben Effekten. In: Der Spiegel 3 (2003). In: https://m.spiegel.de/spiegel/print/d-26109909. html (21.2.2019). Zapletal, Arnd: Effi Briest. In: https://www.theatertexte.de/ search_general_switch?searchterm=Effi+Briest (19.1.2019).

Iris Meinen

18 Produktive Rezeption: Spuren in anderen literarischen Werken

18 Produktive Rezeption: Spuren in anderen literarischen Werken Einleitung Fontanes Roman Effi Briest hat aufgrund seiner strukturellen, ästhetischen und sprachlichen Besonderheiten, aber auch wegen seiner von Verehrung geprägten Rezeptionsgeschichte immer wieder zu kreativen Weiterentwicklungen gereizt. Schon bei Erscheinen des Werkes waren die Rezensenten sich einig im »Lob der Fontaneschen Darstellungskunst« (Komm., 382). Die Figuren und ihre Einbettung in die historisch-gesellschaftlichen Hintergründe boten sich an, neue Konstellationen zu schaffen oder die dargestellten Charaktere, die aufgrund ihrer Vielschichtigkeit immer auch Deutungsspielräume ließen, neu zu entwerfen oder anders handeln zu lassen. Im Folgenden werden Nachzeichnungen, Überspitzungen und Weiterentwicklungen dargestellt, wobei die Literaturverfilmungen und Dramatisierungen nicht berücksichtigt werden, weil sie an anderer Stelle behandelt werden (s. Kap. 17, 20). Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf Pastiche, Travestie, Satire und Parodie in Christine Brückners Wenn du geredet hättest, Desdemona. Ungehaltene Reden ungehaltener Frauen, Dorothea Keulers Die wahre Geschichte der Effi B., Jan Böhmermanns Letzte Stunde vor den Ferien und Günter Grass’ Ein weites Feld. Es gibt weitere mehr oder weniger bekannte, auch mehr oder weniger auf Fontanes Roman Bezug nehmende Adaptionen, darunter Friedrich Christian Delius’ Die Birnen von Ribbeck, eine Erzählung in einem Satz von 1993, in der auf verschiedenste Werke Fontanes angespielt wird, oder Rolf Hochhuths Dramatisierung Effis Nacht. Monolog von 1996, in der das Vorbild für die Figur Effi Briest, Elisabeth Baronin von Ardenne (s. Kap. 9), die erst 1952 starb, als Krankenschwester im Jahr 1943 am Bett eines Sterbenden ihr Leben Revue passieren lässt (s. Kap. 17).

Christine Brückners Triffst du nur das Zauberwort. Effi Briest an den tauben Hund Rollo als Pastiche In der Monologzusammenstellung Wenn du geredet hättest, Desdemona. Ungehaltene Reden ungehaltener Frauen, die 1983 bei Hoffmann und Campe zuerst erschien, lässt Christine Brückner elf Frauen aus Litera-

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tur oder Geschichte zu Wort kommen, indem sie eine Situation erfindet, in die diese fiktiven ›ungehaltenen Reden‹ eingebettet sind. Effis Monolog richtet sich an ihren tauben Hund Rollo. Diese Situation lässt die Einsamkeit und Ausweglosigkeit der Figur, deren Sprache und Haltung Brückner nachzuahmen versucht, deutlich werden. Effi arrangiert sich zwar mit ihrer Lage, indem sie die gesellschaftliche Situation bis zu einem gewissen Grad anerkennt und Innstetten zugesteht, dass er kein schlechter Mensch sei, aber sie klagt auch an. Die Gesellschaft toleriere einen Mord im Rahmen eines Duells als moralisch korrekt, während auf Liebe die Todesstrafe stehe (vgl. Brückner 1983, 87). Brückner, die versucht, das Bild der Figur Effi, so wie sie Fontane zeichnet, möglichst genau abzubilden und damit ein Pastiche des Originals liefert, ermöglicht durch die Perspektivgestaltung eine kritische Betrachtung der gesellschaftlichen Zustände des 19. Jahrhunderts, indem sie Effi den nicht anwesenden Innstetten ansprechen lässt: »Du hast über mich gerichtet. Aber du bist nicht Gottvater, sondern nur der Baron Innstetten« (Brückner 1983, 89). Durch den Monolog werden die Leerstellen des Fontane-Textes, die durch die Rezipienten gefüllt werden können (s. Kap. 37), verringert, so dass weniger Interpretationsspielraum bleibt.

Dorothea Keulers Die wahre Geschichte der Effi B. als Travestie Dorothea Keuler, geboren 1951, ist Journalistin und freie Autorin. In ihrem 1998 im Haffmanns Verlag erschienenen Roman Die wahre Geschichte der Effi B., den sie im Nachwort als Travestie einordnet, übernimmt sie den Stoff und gestaltet daraus ein Melodram, so dass der Roman wie ein in der Zeitschrift Gartenlaube veröffentlichter Text wirkt. Die Gartenlaube, in der Unterm Birnbaum und Quitt von Fontane erschienen, gilt als eine der ersten deutschen Zeitschriften, die zunächst aufklärerisch versuchte, liberale Gedanken in einem größeren Rahmen zu verbreiten; sie wurde im Laufe der Zeit immer mehr zu einem Massenblatt, das nur noch auf Unterhaltung setzte und zunehmend kommerzialisiert wurde und dessen Name ein Synonym für verkitschte Texte wurde. Dass Eugenie Marlitt, die große Autorin des Melodrams, als Vorbild für die Neubearbeitung diente, erwähnt die Autorin im Nachwort. Sie übernimmt Teile des Inhalts, erweitert ihn und ändert die stilistische Ebene im Sinne des Kolportageromans, so dass eine Travestie

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2019 S. Neuhaus (Hg.), Effi Briest-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04874-5_18

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III Rezeption

entsteht, deren Komik aus dem Vergleich mit dem Original resultiert. In Keulers Roman wird der Stoff erweitert um die Geschichten der vorherigen und der folgenden Generation, so dass Effis Mutter Luise und die Tochter Annie zu wichtigen Gestalten avancieren. Die Beziehung Luises zu Innstetten wird ausgestaltet und überspitzt, indem eine Liebesbeziehung der beiden erzählt wird. Die darauf folgende Schwangerschaft muss wegen gesellschaftlicher Konventionen verborgen gehalten werden. Luise begibt sich mit ihrer Schwägerin Melanie auf eine längere Reise. Das Kind, das sie von Innstetten gebiert, wird als Melanies Sohn Dagobert ausgegeben. Wilhelm Briest, der Luise heiraten möchte, reist ihr nach und entdeckt ihre Schwangerschaft. Er macht ihr einen Antrag, den Luise auf Drängen ihrer Schwägerin annimmt. Die Figur Briest wird ähnlich wie in der originalen Vorlage als pragmatisch und nicht unsympathisch beschrieben. Aber dass er die Zwangslage Luises zur Erreichung seines Zieles ausnutzt, lässt ihn als berechnend erscheinen. Keuler weist in ihrem Nachwort darauf hin, dass die Beziehung Innstettens zu Effi auf ein latentes Inzest-Motiv verweise, wie es in den Familiensagas des Melodrams durchaus üblich sei. Diese Problematik und das Geheimhalten bestimmter Familiengeheimnisse werden bei Keuler zum Motor der Handlung. Effi erfährt später davon, dass Luise und Innstetten ein Kind zusammen haben, und nimmt an, dass sie dieses Kind und demnach nun mit ihrem Vater verheiratet sei. In diesem Glauben verlässt sie Innstetten ohne Kommentar. Dieser sucht für die gesellschaftliche Blamage des Verlassenwerdens eine Begründung und erfindet die Ehebruchsgeschichte. Eine weitere neue Figur, die eine zentrale Rolle spielt, ist das Dienstmädchen Lene, das bei der Hochzeitsreise der Briests mitreist. Lene bekommt mit, dass Luise sich heimlich mit einem Chinesen namens Wang, der sich in Luise verliebt hat, trifft. Luise stößt Lene ins Wasser, da diese um ihr Geheimnis weiß. Lene wird von Wang gerettet, scheint aber für die Welt verschollen zu sein, da sie ihr Gedächtnis verliert und auf einem fremden Schiff von Captain Douglas nach England gebracht wird, wo sie als Näherin Unterschlupf bei einer Familie findet. Da sie sowohl Stimme als auch Gedächtnis verliert, wird sie von Kapitän Douglas Undine genannt. Undine erlebt eine Emanzipationsentwicklung zusammen mit einem gesellschaftlichen Aufstieg. Ihre Liebe zu Kapitän Douglas, die auf Gegenseitigkeit beruht, kann zunächst keine Erfüllung finden, da sie nicht heiraten können, weil

der Kapitän mit einer Wahnsinnigen verheiratet ist. Erst als diese nach sieben Jahren stirbt, kommen die Liebenden endgültig zusammen. Aber das Glück währt nicht lange, weil Douglas ebenfalls bald stirbt. Das Dienstmädchen erinnert an die Lene aus Fontanes Irrungen, Wirrungen (s. Kap. 12). Auch sie wird vor dem Ertrinken gerettet. Die Wassermetaphorik wird an der Gestalt der Lene besonders intensiv dargestellt, da sie Undine genannt wird, ihr Geliebter ein Kapitän ist und sie am Schluss im Meer zu ertrinken droht. Das Melusinen- oder Undinenmotiv taucht sehr häufig in den Texten Fontanes auf und Keuler baut es in ihrem Roman durch neue Handlungsstränge aus. Die Motivik des im Einklang mit der Natur lebenden Wesens, wie es Effi zu Beginn verkörpert (s. Kap. 21), wird in Lene widergespiegelt. Auch Effis Misstrauen gegenüber der Schriftsprache und die Sprachlosigkeit, die ihre Krankheit zum Tod begleitet (vgl. Pfeiffer 1990, 81), finden sich in der Stummheit Lenes wieder. Fontane selbst hat sich in der Namensgebung Effis auf Caroline, den letzten Spross der Familie Briest, bezogen; sie war mit Friedrich de la Motte-Fouqué, dem Autor der Erzählung Undine, verheiratet. Caroline galt als emanzipierte Frau, die auch als Schriftstellerin bekannt war. »Frauen, die eine Emanzipation vor der Emanzipation realisierten, haben Fontane nachweislich fasziniert. Zu schildern vermochte er sie freilich nur unter den Regeln der Moral seiner Zeit. Indessen blieb ihm die Möglichkeit, auf Protoemanzipation anzuspielen« (Schmidt 1998, 180). Keuler greift auf, was im Fontane-Text nur vorsichtig und für ein eingeweihtes Publikum verständlich angedeutet ist, und entwirft daraus einen eigenen Handlungsstrang. Auch der Chinese des Originaltextes (s. Kap. 22) nimmt gewissermaßen Gestalt an, da er als handelnde Figur im Roman erscheint. Die Furcht vor dem Chinesen wird dadurch eher als im Roman greifbar, weil Luise Herrn Wang als verführerisch erlebt. Sie findet ihn attraktiv und geht auf seine Werbung um sie ein. Es bleibt aber bei nur wenigen Treffen. Später wird Herr Wang aufgrund mehrerer Zufälle auch in Kessin wohnen und in der Nacht, in der Lene ihr Gedächtnis wiederfindet, im Meer umkommen. Sein Grab ist außerhalb des Friedhofs in den Dünen, so wie es bei Fontane beschrieben wird (s. Kap. 28). Zu der Zeit, als Effi nach Kessin kommt, ist er bereits tot »und auf einem kleinen eingegitterten Stück Erde begraben, dicht neben dem Kirchhof« (51). Dadurch, dass der Chinese einen Namen erhält und als attraktive Figur gestaltet ist, wird er begehrens- und liebenswert, während bei Fontane Effis Verhältnis zum Chinesen von Ablehnung geprägt ist:

18 Produktive Rezeption: Spuren in anderen literarischen Werken

»Ein Chinese, find’ ich, hat immer was Gruseliges« (52). Stefan Neuhaus weist bereits in der Einleitung dieses Bandes darauf hin, dass Fontanes Roman zeitgenössische Klischees verarbeitet, von denen er sich absetzt. Wang ist es, der Lene als Undine wieder zu ihrer Stimme verhilft. An dieser Stelle wird deutlich, dass Keuler versucht, die aus Figurenperspektive fremdenfeindlichen Töne zu glätten. In Keulers Roman spielt die Liebe, anders als im Original, immer wieder eine zentrale Rolle: Luise liebt Innstetten; Luise verliebt sich in den Chinesen; Lene und Kapitän Douglas verbindet eine tiefe und langanhaltende Liebesbeziehung. Effi stirbt in dem Keuler-Text nicht, sondern erlebt nach der Scheidung eine sehr erfüllende Liebesbeziehung zu der Sängerin Marietta Trippelli. Die Pension, in die sich Effi nach der Scheidung zurückzieht, erhält eine vollkommen andere Bewertung. Während sie bei Fontane ein Raum der gesellschaftlichen Ausgrenzung ist, wird sie im Keuler-Text zu einer Unterkunft, die eine neue Lebensform ermöglicht, da sich hier Lesben und Transpersonen zusammenfinden, die in der Gesellschaft nicht akzeptiert sind. Keuler beschreibt gesellschaftliche Räume, die es auch zur Zeit Fontanes schon gab, aber in den gesellschaftlich anerkannten Texten noch keine positive Rolle spielen durften (s. Kap. 27, 28, 43). Erst über hundert Jahre später ist dies ohne gesellschaftliche Sanktionen möglich. Effi findet hier Liebe und Freundschaft, während die Pension im Fontane-Text ihr den Atem raubt und sie in die Enge treibt: »[...] dennoch wäre Effi, die sich passiv verhielt, über den Druck, den diese geistige Atmosphäre übte, hinweggekommen, wenn nicht, rein physisch und äußerlich, die sich hinzugesellende Pensionsluft gewesen wäre. Woraus sich diese eigentlich zusammensetzte, war vielleicht überhaupt unerforschlich, aber daß sie der sehr empfindlichen Effi den Atem raubte, war nur zu gewiß« (309).

Marietta Trippelli, die Freundin und Geliebte Effis, ist bei Fontane »Anfang der Dreißig, stark, männlich und von ausgesprochen humoristischem Typus« (104). Sie redet frei und offen und wirkt auf Effi äußerst selbstsicher. Keuler baut diese vorhandene Sympathie Effis aus und kreiert daraus eine Liebesbeziehung, die partnerschaftlich gestaltet ist und beide Frauen ihre individuellen Eigenschaften und Vorlieben ausleben lässt. Keulers Roman schließt mit einem Happy End samt Befreiung aus den sozialen Zwängen

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und einer echten Liebe. Es sind viele Züge des Kitschromans wiederzufinden, wie der durch ständige Zufälle vorangetriebene, verschachtelte Handlungsverlauf und nicht zuletzt das dem Original widersprechende Happy End. Ein typisches Element des Kolportageromans kann auch in dem Zufall gesehen werden, der Effi und Marietta davon abhält, die Reise nach Amerika mit der Titanic, die sie ursprünglich gebucht hatten, anzutreten. Dieser Zufall rettet ihnen das Leben. Das Vorbild der Marlitt-Romane ist in dieser Travestie deutlich erkennbar. Allerdings geht der Keuler-Text weiter als eine gewöhnliche Travestie, weil das Happy End erst dort möglich wird, wo die ›Travestie‹, die man auch in der Bedeutung ›Verkleiden‹ und ›Anderssein‹ lesen kann, gesellschaftlich erlaubt und anerkannt ist, so dass der Roman doch wieder über die Erheiterung, die durch das Neuschreiben entsteht, hinausgeht, indem er geächtete Lebens- und Liebesformen in ein positives Licht rückt.

Jan Böhmermanns Letzte Stunde vor den Ferien als Satire Der Satiriker Jan Böhmermann betrachtet in der Reihe Letzte Stunde vor den Ferien bekannte Schullektüren kritisch. 2017 veröffentlicht er einen kurzen Film zu Effi Briest. Dass Böhmermann diesen Text für seine Reihe auswählt, passt zu den Informationen aus der Einleitung des Bandes, der Roman gehöre zu den wenigen aus der deutschsprachigen Literaturgeschichte, die auch im 21. Jahrhundert besonders beachtet und häufig in der Schule gelesen würden. Die große Beachtung, die dem Roman entgegengebracht wird und die schon Thomas Mann ihn als einen der wichtigsten zehn überhaupt einordnen lässt (FHb, 633; s. Kap. 19), wird in dieser Satire kritisiert. Sowohl bei Keuler als auch bei Böhmermann spielt die offensichtliche Unterdrückung der jungen Frau, die einen Mann heiraten soll, den sie nicht kennt und der doppelt so alt ist wie sie selbst, eine zentrale Rolle. In beiden Überarbeitungen nimmt sich Effi größere Freiheiten als in der literarischen Vorlage. Während in der Bearbeitung Keulers eine Emanzipationsentwicklung stattfindet, die zu einer befreiten Sexualität und zur Unabhängigkeit führt und die sich auch im Verhalten der Tochter Effis widerspiegelt, verweist Effi, die in Zuschaueranreden aus ihrer Rolle heraustritt, bei Jan Böhmermann auf die Gegenwart des 21. Jahrhunderts, von der sich die erzählende Effi erhofft, dass

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III Rezeption

sie für die Frauen eine bessere Zukunft verspricht. Hier ergibt sich eine doppelte Ironie, weil die Gegenwart zwar etliche Verbesserungen gebracht hat, aber die endgültige sexuelle Befreiung immer noch ausgeblieben ist (s. Kap. 43). Sieht man von einer Reihe derber sprachlicher Elemente ab, ist der Böhmermann-Text wegen der Gegenüberstellung der Hochsprache des Fontane-Textes mit dem aktuellen Jugendjargon besonders witzig – auch für ein junges Publikum. Die starken Kontraste betonen den satirischen Charakter des Filmtextes. Effi, die ihr Leben mit der Sprache und dem Wissen einer jungen Frau des 21. Jahrhunderts darstellt und kommentiert, lässt die Absurdität der gesellschaftlichen Regeln des endenden 19. Jahrhunderts besonders deutlich werden (s. Kap. 24, 26). So wird die sexuelle Beziehung Innstettens und Effis als fortwährende, sich immer wiederholende Vergewaltigung beschrieben. Der Roman wird in der Einführung eines Erzählers in einem Filmabriss, der wie eine Nachstellung eines Historienfilmes aus den 1970er Jahren erscheint, beschrieben als die »langweiligste und überinterpretierteste Liebestragödie«. Während die Kulisse wie aus einem Kitschfilm mit Schloss, ankommender Pferdekutsche und schöner Landschaft wirkt, stehen im Gegensatz dazu die klaren und deutlichen Angaben des Erzählers, der das Datum 1896 und den Ort als trostloses Brandenburg/Ostdeutschland genau umschreibt. Den sozialgeschichtlichen Hintergrund bringt er äußerst knapp auf den Punkt: eine Zeit, »in der es keinen Unterschied zwischen einvernehmlichem Geschlechtsverkehr und Vergewaltigung« gab (Böhmermann 2017). Der Plot ist dem Original durchaus ähnlich. Dass die Verheiratung Effis mit Innstetten auch unter ökonomischen Gesichtspunkten von den Eltern befürwortet wird, kommentiert die Mutter folgendermaßen, als Effi sich dagegen wehrt, weil Innstetten »voll alt« sei: »Mama und Papa wollen dich an den Herrn Baron verschachern«. Briest antwortet sehr leise und wirkt verunsichert: »Ja, das sehe ich genauso. Ein weites Feld« (ebd.). Allerdings stirbt Effi in dieser Version nicht, sondern tröstet sich, indem sie mit einem Esslöffel eine Familienpackung Eis isst. Der Tod wird nur angedeutet, indem der Hund Rollo ihr eine Pistole bringt, um sie aufzufordern, sich selbst zu töten. Das Alleinsein mit dem Hund Rollo verweist auch auf die Bearbeitung von Brückner. Effis Schlusssatz lautet: »Die Moral von der Geschichte: Am Ende gewinnt der alte, weiße privilegierte Mann und die Frau nicht, aber das

mag ein Problem meiner Zeit sein, in 120 Jahren wird die Welt dann sicher schon weiter sein« (ebd.). Als satirisches Ergebnis könnte man festhalten, dass die Frau im frühen 21. Jahrhundert statt zur Pistole zum Eisbecher greift, aber immer noch die Verliererin ist. Böhmermann unterminiert die gängige Vorstellung der heutigen Jugend, dass die Emanzipation der Frau im 21. Jahrhundert abgeschlossen sei, indem er Verhaltensraster und Lösungsmöglichkeiten einer jungen Frau der Gegenwart kolportiert: Selbstmord, Eis essen, Musik hören und sich zurückziehen. Der Song All By Myself, den Effi am Ende singt und der in unterschiedlichen Variationen seit seiner Veröffentlichung durch Eric Carmen 1975 und durch die Version von Céline Dion einem Millionenpublikum bekannt wurde, verweist auf die Form, in der Frauen im 21. Jahrhundert mit der Freude an der Sexualität umgehen. Indem die Satire die gesellschaftlichen Formen des 19. Jahrhunderts der Lächerlichkeit preisgibt und sie immer wieder darauf verweist, dass die Umstände heute ganz anders seien, lässt sie durch dieses Schlusstableau erkennbar werden, dass die Grundstrukturen einer wenig befreiten Sexualität und die Einsamkeit der Nichtangepassten am Ende sich auch in 120 Jahren nicht grundlegend geändert haben. Die formale Gestaltung der durch einen Erzähler berichteten Realität mit weiten Strecken aus der Perspektive der handelnden Personen versucht Böhmermann nachzugestalten. Es ist eine Satire auf die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts wie auf die nicht gelungene Emanzipation im 21. Jahrhundert. Dies lässt den originalen Text am Ende wieder als aktuell erscheinen, was der Aussage des Erzählers zum Beginn, Fontanes Text sei langweilig, widerspricht und die Bedeutung auch für den Schulunterricht im 21. Jahrhundert hervorhebt.

Günter Grass’ Ein weites Feld als Parodie Die komplexeste Bearbeitung des Fontane-Textes findet sich bei Grass, dessen Wenderoman aus dem Jahr 1995 sich im Titel auf den oft zitierten Ausspruch des alten Briest bezieht: »Ein weites Feld« oder »Das ist ein zu weites Feld«. Theo Wuttke, der als eine Art Wiedergänger von Theodor Fontane in der Zeit nach dem Fall der Mauer beschrieben wird, redet im Fieber über Briest und darüber »wie sich der olle Briest rausredet jedesmal, wenn’s knifflig wird ...« (Grass 2012, 215). In der Version des fiebernden Wuttke erschießen sich Crampas und Innstetten gegenseitig; Effi heiratet wieder und ihr wird bis ins hohe Alter ein

18 Produktive Rezeption: Spuren in anderen literarischen Werken

heiteres Wesen nachgesagt, während Luise dafür büßen soll, dass sie Innstetten und Effi verkuppelt hat. Der alte Briest reist in Wuttkes Version mit Effi und seiner Enkeltochter nach China. Der Grass-Text weist dem Schriftsteller Fontane einerseits einen Platz im kulturellen Gedächtnis der deutschen Literatur zu, aber er weist auch »Tendenzen der ironischen Fontane-Parodie auf« (Bayer 2011, 5). Grass greift einerseits die Verehrung für Fontane auf, indem er ihn als neue Figur gestaltet, andererseits versucht er die Mystifizierung, die seiner Verehrung anhaftet, aufzubrechen, indem er andere Seiten der Figur aufzeigt und ihn in einen aktuellen Kontext stellt. Hans Kügler verweist darauf, dass sich in der Figur Fontane/Fonty ein typisches Muster des Verhältnisses von Schriftsteller*in und Staat wiederhole (vgl. Kügler 1995, 304). Während Fontane noch eine anerkannte Chronistenfunktion habe, bleibe Fonty nur die Randexistenz: »Als isolierter, im Staats- und Wirtschaftsapparat verlorener Schriftsteller, ohne Berufung auf den überlieferten stolzen Auftrag von der Aufklärung und Veränderung der Gesellschaft, ohnmächtig, doch unangepaßt, aufsässig, subversiv, so läßt ihn sein Autor vor unseren Augen verschwinden« (Kügler 1995, 304). Grass setzt durch die Erfindung Fontys die Tradition des Chronisten der Zeitgeschichte in ironischer Brechung fort und setzt sich selbst durch seine Autorschaft an einem Roman, in dem historisch wichtige Zeitereignisse verarbeitet werden, in die Traditionslinie Fontane – Fonty – Grass. Dadurch ironisiert er auch sein eigenes Schreiben, weil er sich in einer Tradition verankert, die er selbst mit erschaffen hat. Die intertextuellen Verschränkungen zwischen den Fontane-Texten und den Grass-Texten, auf die schon Marcel Reich-Ranicki hingewiesen hatte und die er als formales Mittel heftig kritisierte, ironisieren den Autor Grass allerdings nicht nur, sondern sie heben ihn auch in den Bereich der ›musealen‹ Dichter. Man könnte fast von einer Endlosschleife der Musealisierung und gleichzeitigen Ironisierung dieser Musealisierung sprechen, da hierdurch die »unauflösliche Verbundenheit von Fiktion und Faktischem als Phänomen literarischen Sprechens« (Osinski 2015, 315) deutlich aufgezeigt wird, nicht als Kriterium schlechten Schreibens, sondern als Hervorheben der Besonderheit einer gelingenden literarischen Form. »Schulen wurden nach ihm benannt, sogar Apotheken. Und weiterer Mißbrauch. Schon war er in Schulbüchern abgetan, schon galt er als verstaubt« (Grass 2012, 116). Grass wehrt sich mit diesem satirischen Blick gegen eine Musealisierung

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des Dichters und gegen eine falsche Inanspruchnahme. Der Wiedergänger Fonty ist eine Figur »zum Anfassen« (Bayer 2011, 9). Walter Hinck meint, »es wäre unsinnig, Grass und Fontane aneinander zu messen. [...] Grass’ Huldigung ist kein Kniefall. Doch was von Fontane ausgeht, ist eine höchst stimulierende, produktive Faszination« (Hinck 2006, 260). Fontanes Sprachkunstwerk ist genau wie Grass’ Text geprägt durch einen hohen Grad an Selbstreferenz (vgl. Neuhaus 2016, 38), der beiden Texten eine zeitunabhängige Wirkung zukommen lässt, obwohl beide Inhalte in starkem Maße in ihre jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Zeitumstände verflochten sind. Grass sieht Fontane als politischen Schriftsteller und gibt ihm damit wieder den Platz in der Tradition, den Fontane sich selbst gegeben hat, indem er seinen Stechlin als politischen Roman bezeichnet (vgl. Lohr 1998, 73).

Resümee Alle vier Bearbeitungen betrachten Fontane und sein Werk aus der Perspektive der jeweiligen Gegenwart. Der historische Kontext, in dem das Original verortet ist, bleibt weitgehend unberücksichtigt. Am ehesten gelingt die Rekonstruktion einer geschichtlichen Einbettung bei Grass. Die Figur Fonty entspricht nicht mehr der Gestalt des idealisierten Schriftstellers, der keinen Bezug zur Gegenwart hat, sondern Grass entwirft ein vielfältiges Bild und eröffnet damit wieder neue Perspektiven auf den historischen Fontane; alle vier Effi-Figuren werden als Frauen dargestellt, die sich dem Bild der passiven Frau, das in der originalen Effi angelegt ist, entgegenstemmen. Bezeichnend ist auch, dass die Effi-Figuren in der Travestie, der Parodie und der Satire am Ende nicht sterben. Auch in der Version von Brückner lebt Effi noch und der Tod wird lediglich angedeutet. Alle Versionen liefern eine Abmilderung des harten Schlusses. Obwohl Effi in der Fontane-Version am Ende zur Ruhe kommt und ein – scheinbares – Gefühl der Befreiung empfindet, entspricht das Überleben der Protagonistin eher den Leseerwartungen der meisten Rezipienten. Die Figur, die von Fontane so eindringlich gestaltet wurde und die beim Publikum auf so große Resonanz gestoßen ist, wird durch Brückner, Grass, Keuler und Böhmermann ins 20. bzw. 21. Jahrhundert transponiert und damit ins aktuelle kulturelle Gedächtnis aufgenommen. Die Komplexität und Besonderheit der von Fontane geschaffenen Figur wird dadurch

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III Rezeption

nochmals deutlich – auch wenn alle Bearbeitungen an die ästhetischen Feinheiten und die sprachliche Schönheit des Originals nicht herankommen. Literatur Bayer, Frauke Géraldine: Gelebter Mythos als Garant der Unsterblichkeit. Formen individueller und kollektiver Fontane-Verehrung in Günter Grass’ Roman ›Ein weites Feld‹. In: Textpraxis 2, H. 1 (2011). In: https://www. textpraxis.net/sites/default/files/beitraege/frauke-bayergelebter-mythos-als-garant-der-unsterblichkeit.pdf (4.12.2018). Böhmermann, Jan: Letzte Stunde vor den Ferien: Effi Briest. (Film) Deutschland 2017, 11 Minuten. Regie: Neo Magazin Royale. Darsteller*innen: Anna Maria Mühe (Effi), Jan Böhmermann (Innstetten), Ralf Kabelka (Crampas), Bettina Lamprecht (Frau von Briest), Arved Birnbaum (Briest). In: https://www.youtube.com/watch?v=e4Nlbs PY1pQ (4.12.2018). Brückner, Christine: Triffst du nur das Zauberwort. Effi Briest an den tauben Hund Rollo. In: Dies.: Wenn du geredet hättest, Desdemona. Ungehaltene Reden ungehaltener Frauen. Neuausgabe. Berlin 2013, 76–93. Grass, Günter: Ein weites Feld. München 32012. Hinck, Walter: Fontane redivivus. Die Vernetzung literarischer und zeitgeschichtlicher Anspielungen: Günter Grass: ›Ein weites Feld‹ (1995). In: Ders.: Romanchronik des 20. Jahrhunderts. Eine bewegte Zeit im Spiegel der Literatur. Köln 2006, 253–260. Keuler, Dorothea: Die wahre Geschichte der Effi B. Ein Melodram. Zürich 21998.

Kügler, Hans: »In Deutschland ist keine Bleibe mehr.« Fonty und die deutsche Einheit. Zur Zeitkritik und zur Fontanerezeption in Günter Grass’ neuem Roman ›Ein weites Feld‹ – ein Lektürevorschlag. In: Diskussion Deutsch 26, H. 144 (1995), 301–305. Lohr, Stephan: Theo Wuttke alias Fontane. Ein Gespräch mit Günter Grass. In: Der Deutschunterricht 50, H. 4 (1998), 69–73. Motte-Fouqué, Friedrich de la: Undine. Eine Erzählung. In: Die Jahreszeiten. Eine Vierteljahrsschrift für romantische Dichtungen, H. 1 (1811), 1–189. Neuhaus, Stefan: Vom Skandalroman zum modernen Klassiker: Die Rezeption von Günter Grass’ Roman ›Die Blechtrommel‹ im deutschsprachigen Raum. In: Jos Joosten/Christoph Parry (Hg.): The Echo of ›Die Blechtrommel‹ in Europe. Studies on the Reception of Günter Grass’s ›The Tin Drum‹. Leiden/Boston 2016, 22–40. Osinski, Jutta: Aspekte der Fontane-Rezeption bei Günter Grass: ein Vortrag vom Februar 1996 über den Roman ›Ein weites Feld‹. In: Literaturkritik.de Nr. 17, Ausg. 4 (2015), 60–76. Pfeiffer, Peter C.: Fontanes ›Effi Briest‹: Zur Gestaltung epistemologischer Probleme des Bürgerlichen Realismus. In: The German Quarterly 63, H. 1 (1990), 75–82. Schmidt, Michael: Geheimnisse [...] und Anspielungen oder Caroline und Effi von Briest. »Namen-anspielung« und Proto-emanzipation in Theodor Fontanes Roman. In: Nordlit 3 (1998), 143–180. In: https://septentrio.uit.no/ index.php/nordlit/article/view/2181/2034 (6.12.2018).

Helga Arend

19 Theodor Fontane und Thomas Mann

19 Theodor Fontane und Thomas Mann Der »alte Fontane« als ›Ahnherr‹ »Unendliche Liebe, unendliche Sympathie und Dankbarkeit, ein Gefühl tiefer Verwandtschaft (vielleicht beruhend auf ähnlicher Rassenmischung), ein unmittelbares und instinktmäßiges Entzücken, eine unmittelbare Erheiterung, Erwärmung, Befriedigung bei jedem Vers, jeder Briefzeile, jedem Dialogfetzen von ihm, – das ist, da Sie fragen, mein Verhältnis zu Theodor Fontane. Wo in deutscher Prosa gibt es zum zweitenmal eine solche Gehobenheit bei so viel scheinbarer Anspruchslosigkeit? Er war ein Sänger, auch wenn er zu klöhnen schien. Und er ist unser Vater, – die wir, einer überholten, doch zählebigen Ranglehre zum Trotz, dem deutschen Roman als Kunstform die ästhetische Ebenbürtigkeit neben Drama und Lyrik zu erwirken gesonnen sind« (Mann 2002– 2011, 14.1, 244).

Mit diesem erstaunlichen Bekenntnis hat Thomas Mann aus Anlass der Einweihung des Fontane-Denkmals im Berliner Tiergarten am 7. Mai 1910 auf die Frage der BZ am Mittag nach seinem Verhältnis zu dem großen Romancier geantwortet, dessen Tod gerade knapp zwölf Jahre zurücklag. Bereits vorher gab es immer wieder kurze Erwähnungen des »alten Fontane«, so in seiner Antwort auf eine Rundfrage Otto Julius Bierbaums über den französischen Einfluss auf das Werk deutscher Autoren, die am 16. Januar 1904 in der Wiener Wochenschrift Die Zeit erschien (Mann 2002–2011, 14.1, 73–75). Hier feiert Mann Richard Wagner als seinen Meister, nennt aber unter den großen Schriftstellern, die seinen Erzählstil beeinflusst haben, neben Andersen, Jacobsen, Dickens und russischen Erzählern auch Fontane (74): »Ein junger deutscher Erzähler, der beim alten Fontane in die Schule gegangen wäre, dürfte man ihn für zweifel- und makellos deutsch erklären? Die ›Fontanische Gauloiserie‹ ist sprichwörtlich« (75). Sechs Jahre später stellt sich Thomas Mann in die unmittelbare Nachfolge Fontanes als eines modernen Schriftstellers und begründet dies ausführlich in seinem gerade entstehenden Aufsatz Der alte Fontane. Anlass war die Herausgabe der zweiten Sammlung von Briefen Fontanes an Freunde und Zeitgenossen (2 Bde., Berlin 1910). Am 29. Juni 1910 bietet Mann seinen als umfängliche Rezension gedachten Aufsatz

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Maximilian Harden für dessen Zeitschrift Die Zukunft an, der das Angebot bereits am 1. Juli freudig annimmt. Als der Autor den Essay am 21. August einreicht, begleitet er die Sendung mit einem »insbesondere auch um die politische Wirkung besorgten, ungewöhnlich selbstkritischen, ja ängstlichen Kommentar« (Mann 2002–2011, 14.2, 354); vor allem Fontanes Kritik an Bismarck, die ausführlich zitiert wird, könnte den glühenden Bismarck-Verehrer Harden verstimmen. Dessen Reaktion scheint entsprechend ablehnend gewesen zu sein, jedenfalls äußert sich Mann in seinem Brief an Harden vom 30. August »ganz erschrocken«. Die Kehrseite von Fontanes eingestandener »Unzuverlässigkeit« (Harden gebrauchte offenbar den Begriff »Falschheit«) sei allerdings seine unbestreitbare Meisterschaft als Künstler: »Um recht dankbar zu empfinden, was er für den deutschen Roman gethan hat, muß man wohl Romancier sein – und zwar einer mit Bedürfnissen, wie sie in Deutschland nicht häufig sind und wie sie vielleicht nur durch die Fontane’sche Blutmischung, die beinahe auch die meine ist, hervorgebracht werden« (Mann 2002–2011, 21, 459).

Als Beweis für Fontanes Meisterschaft führt Thomas Mann Effi Briest an, »der beste deutsche Roman seit den ›Wahlverwandtschaften‹« (ebd.). Harden druckte den Aufsatz trotz seiner Vorbehalte ungekürzt am 1. Oktober 1910 in seiner Zeitschrift ab; er wurde zu einem der meistgelesenen Essays Thomas Manns und hat die Fontane-Rezeption seit Mitte der 1950er Jahre ganz wesentlich beeinflusst. Wie eine späte Erläuterung zu Hardens Position wirkt eine Passage in der überarbeiteten Neufassung des Aufsatzes, die 1919 in Ernst Heilborns FontaneBuch erschien (Heilborn 1919, 35–62). Sie bezieht sich auf Fontanes künstlerische Physiognomie, die nun offensichtlich im Licht von Manns eigener Poetologie gesehen wird; das zwiespältige Bismarck-Bild, das Hardens Anstoß erregt hatte, wird als Konsequenz einer Synthese aus Konservatismus und Modernität dargestellt: »Mythus und Psychologie: Das sind zwei Dinge; und wo sie in ein und derselben Brust beieinander wohnen, wo Sänger- und Schriftstellertum sich paaren, da kommt es äußerlich zu Widersprüchen. [...] Der Dichter ist konservativ als Schützer des Mythus. Psychologie aber ist das schärfste Minierwerkzeug demokratischer Aufklärung« (Mann 2002–2011, 14,2, 384–385).

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2019 S. Neuhaus (Hg.), Effi Briest-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04874-5_19

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Thomas Manns Urteil über Fontane bleibt in den folgenden Jahrzehnten weitgehend unverändert, so in seiner Rezension der ersten Gesamtdarstellung Fontanes von Conrad Wandrey (Zum hundertsten Geburtstag Theodor Fontanes, Berliner Tageblatt, 25.12.1919, unter dem Titel Anzeige eines Fontane-Buches leicht verändert in Rede und Antwort, Berlin 1922), so in einem Vortrag in der Berliner Lessing-Hochschule, der 1928 als Privatdruck, als Einleitung zu einer Werkausgabe des Reclam-Verlags sowie in dessen Hauszeitschrift Reclams Universum erschien, so in einem Interview vom 17. Oktober 1931 mit der englischen Zeitschrift John O’ London’s Weekly: »Ich glaube meine frühen Arbeiten waren mehr von Theodor Fontane [...] beeinflußt als von irgendeinem anderen Schriftsteller. Meiner Meinung nach hat sein großes Talent nicht genügend Anerkennung gefunden. Sein Roman ›Effie [!] Briest‹ hat das gleiche Niveau wie ›Anna Karenina‹, ›Väter und Söhne‹, ›David Copperfield‹ und andere große Klassiker« (Hansen 1983, 177).

Zuletzt äußert sich Thomas Mann in einer Rezension der 1954 erschienenen Briefe Fontanes an Georg Friedlaender unter dem retrospektiven Titel Noch einmal der alte Fontane über sein Vorbild (Die Weltwoche Nr. 1056, 5.2.1954) und hebt insbesondere dessen Altersradikalismus hervor, der in den Briefen hervortrete (Mann 1990, 9, 816–822, hier 820). Zahlreich sind die positiven Erwähnungen in den Briefen und Tagebüchern Thomas Manns. So schreibt er am 11. Mai 1937 an Joseph Angell, neben dem Stil Kellers sei der Fontanes »der einzige der Epoche zwischen der Romantik und Nietzsche, der meinen eingeborenen artistischen Ansprüchen genügt« (Mann 1979, 2, 23). Und Agnes E. Meyer gegenüber unterstreicht Mann am 12. Mai 1942, Fontane besitze

Am 18. November 1951 vermerkt Mann in seinem Tagebuch: »Beim Abendessen Gespräch mit Erika über ›Effi Briest‹, wodurch veranlaßt ich abends stundenlang darin las, die ganzen Schlußteile. Tiefste Bewegung und Bewunderung. Die Kritik an der Grausamkeit des Gesellschaftssystems jedem menschlichen Anspruch genügend. Die Neigung zum Plebejischen: Roswitha ›ist uns über‹. Spott über ›Zwicker‹, der die soziale Revolution für ›überholt‹ hält. Reue und Resignation Innstettens. Effi’s Tod, Rollo, die zweifelnden Eltern, – ersten Ranges alles, beglückend, beschämend und zum Weinen schön« (Tagebücher 1951–1952; Mann 1977– 1995, 9, 137).

Neben dem Einfluss russischer, skandinavischer und französischer Autoren kommt also Theodor Fontane für Thomas Mann eine kaum zu überschätzende Bedeutung in artistischer wie ethisch-humaner Hinsicht zu. Entsprechend zahlreich sind daher die Bemühungen der Forschung, diese Bedeutung mit Blick auf intertextuelle Spuren in Manns Werk herauszuarbeiten. Im Horizont einer modernen Intertextualitätstheorie sind allerdings die Selbstkommentare Thomas Manns keineswegs unproblematisch: In ihrer »Dialektik von Bekenntnis und Bemäntelung« folgen sie »einer – freilich kontextabhängigen und deshalb kasuistisch zu analysierenden – Systematik, einer Logik und Dramaturgie der Selbstinszenierung« (Reidy 2018, 182). Insofern entspricht diese Tendenz freilich der lange bekannten Einsicht, dass das Prinzip von ›Dichtung und Wahrheit‹ nicht nur das Genre der Autobiographie bestimmt, sondern generell als Voraussetzung für die Interpretation autorbezogener Texte zu gelten hat.

Effi Briest als Meisterwerk »[...] einen artistischen Zauber, für den ich mich immer wieder bis zum Entzücken empfänglich erweise, besonders im Dialog, der meist reine Plauderei, aber von unglaublichem Reiz und einer eigentlich sehr hohen Anmut der Führung und Stilisierung ist. Er entwickelte das merkwürdiger Weise erst im Alter, wurde immer raffinierter, immer mehr Mann des Tonfall-Zaubers und der Un- oder doch Über-Sachlichkeit und erfüllte zuletzt auf die liebenswürdig-anspruchloseste Weise die Forderung Schillers an die Kunst, daß sie den Stoff durch die Form ›verzehre‹. [...] Ich empfehle Ihnen ›Effi Briest‹, sein Meisterwerk, das ich jetzt wieder lese« (ebd., 255).

Neben dem Stechlin, den Thomas Mann als künstlerisch besonders modern vehement gegen Conrad Wandreys Kritik verteidigt hat (Mann 2002–2011, 15.1, 269–273), kann insbesondere Fontanes Effi Briest als Lieblingsroman gelten. Bereits unmittelbar nach dessen Erscheinen berichtet Mann in einem Brief an Otto Grautoff vom 17. Februar 1896, er habe eben »Fontanes neuen Roman ›Effi Briest‹ [gelesen], der ganz vortrefflich ist« (Mann 2002–2011, 21, 73). In seiner Wandrey-Besprechung geht er »lange und beifällig« auf dessen im Mittelpunkt stehende rühmende Besprechung von Effi Briest ein (Mann 2002–2011, 15.1,

19 Theodor Fontane und Thomas Mann

265–269) und zitiert in diesem Zusammenhang auch die bis heute wichtige Studie über Effi Briest der 1944 in Auschwitz ermordeten Helene Herrmann (Die Frau. Berlin, Jg. 20, 1912, 543–554, 610–625, 677–694), die den »positiv-sittliche[n] Sinn und Wert« des »Mangels an Feierlichkeit« für die Gegenwart am »schönsten« erkannt habe (Mann 2002–2011, 15.1, 262; vgl. auch Tagebücher 1918–1921; Mann 1977–1995, 1, 370). Thomas Manns Lob ist geradezu hymnisch: »Eine Romanbibliothek der rigorosesten Auswahl, und beschränkte man sie auf ein Dutzend Bände, auf zehn, auf sechs, – sie dürfte ›Effi Briest‹ nicht vermissen lassen. Heißt es nicht, kein Gebilde aus Menschenhand sei vollkommen? Und doch, so sehr man gestimmt sein mag, der Menschheit Bescheidung anzuraten, – der Satz ist falsch, es gibt das Vollkommene, als Künstler bringt der Mensch es träumerisch zuweilen hervor. [...] Fontane hat als alter Mann das Glück und die Wehmut dieser Konstellation, die das Absolute und Souveräne zeitigt, gekostet. Auch ihre Wehmut. Denn er wußte: das kommt nicht wieder« (ebd., 265–266).

Die Modernität von Effi Briest liege allerdings ‒ anders als im Fall des artistisch vollkommenen Stechlin ‒ vor allem in der Darstellung eines ethischen Problems: »Werke wie ›Effi Briest‹ lassen in ihrem Zwielicht die dichterischen Reize und Möglichkeiten erkennen, die sich aus dem Zweifel, dem in Frage gestellten Glauben, dem bedrängten Konservatismus ergeben, – ja, in ihrem Anblick möchte man sagen, daß weder gläubige Beschränktheit noch auch Freiheit als Libertinage, sondern einzig der Zweifel und die Bedrängnis eigentlich fruchtbar seien. Freiheit, – es gibt sie nicht einmal; und gäbe es sie, so wäre sie steril [...]. Sittlichen Belang hat sie nur, sofern sie wehtut, als äußerste Konzession, als notwendige, dem Wahrheitssinn schmerzlich abzuringende Konsequenz. Freiheit ist gar nichts. Befreiung ist alles« (ebd., 268–269).

Offensichtlich sieht Thomas Mann in Fontane nicht nur stilistisch, sondern auch lebensgeschichtlich einen Vorgänger: Anders als Effi habe er »einen Kunstbau gegen die Leidenschaft« errichten wollen »in der Meinung, dass dessen Zerstörung Selbstzerstörung zur Folge haben müsste« (Mann 2002–2011, 15.2, 165). Für Mann selbst hat in der deutschen Romanliteratur des ausgehenden 19. Jahrhunderts allein Effi Briest europäischen Rang (s. Kap. 3), ohne dass dies angemessen wahrgenommen worden wäre (Die Kunst

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des Romans, 1939; Mann 1990, 10, 360). Hingegen lasse sich Richard Wagners musikalisch-episches Monumentalwerk sehr wohl an die Seite der großen europäischen Romankunst stellen (ebd., 361). Es ist aufschlussreich, dass Fontanes Roman als gleichermaßen wichtig für die Entstehung von Manns Frühwerk erachtet wird wie das ›Dreigestirn‹ Schopenhauer ‒ Wagner ‒ Nietzsche (Borchmeyer 1998; Vaget 1998): Innstettens Wagner-Schwärmerei mit seinem Bezug auf Nervosität und Judenfrage »ist auch seine Achillesferse und die Quelle seines Unglücks«, wobei mit Lohengrin und Walküre thematisch auf das »tyrannisierende Gesellschafts-Etwas« der wilhelminischen Ära verwiesen wird (Vaget 1998, 265). Aber auch Effi kennt Wagner gut, ist geradezu von ihm benommen (Harslem 2000, 61), während sie die Heine-Anspielungen von Crampas zum Teil missversteht. Bereits bei Fontane findet sich also eine Verwendung des Zitats, die symbolisierenden Charakter hat: »Das Zitat wird gleichsam in den Roman als ein ihm genuin Fremdes aufgenommen, aber derart, daß es in seiner Intention mit dem Inhaltlichen eine Einheit ergibt. Das Zitat bei Theodor Fontane ist im Romangefüge die räumliche Vorwegnahme eines (zeitlich-inhaltlichen) Späteren. Damit steht das Zitat in seiner Funktion der werkimmanenten Symbolik zur Seite bzw. ist ein Teil von ihr« (ebd., 72).

Thomas Mann wird diese Form der Intertextualität zum zentralen Instrument seines epischen Werks machen. Es sind also »weniger einzelne Erzählgegenstände«, es ist vor allem »das überlegen gehandhabte Verfahren ihrer zugleich genauen und symbolisch gemeinten Darstellung ‒ wie ihrer ironischen Brechung«, das Thomas Mann Fontane verdankt (Ohl 1977, 342). Dabei steigert und radikalisiert Mann das bei Fontane Gefundene: Der Leitmotivik Fontanes steht Manns musiktheoretisch abgeleiteter Konstruktivismus gegenüber, dem auf humanen Ausgleich zielenden Perspektivismus unter verschärften historischen Bedingungen ein nihilistischer Relativismus (ebd., 339–340).

Produktive Fontane-Rezeption Thomas Mann selbst hat sich bei aller allgemeinen Wertschätzung Fontanes nie über dessen konkreten Einfluss auf einzelne seiner Werke geäußert. In der Forschung hat man aber einhellig auf die stilbildende Bedeutung Fontanes vor allem für Manns Frühwerk

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III Rezeption

hingewiesen. Entscheidend ist in jedem Fall, dass das Erzählwerk sowohl auf gesellschaftliche Wirklichkeit wie auf kulturelle Tradition referiert: »Ob Thomas Mann nun einen Begriff bzw. einen Gedanken zitiert oder ein Sprachbild in sein eigenes Werk übernimmt, in dem Prinzip der Montage liegt immer auch die Anamnesis verborgen. Neben der Mimesis ist somit auch die Anamnesis zentrales Prinzip im Kunstwerk Thomas Manns« (Harslem 2000, 57).

Neben Effi Briest werden in der Forschung auch Irrungen, Wirrungen (Swales 1998; Fischer 2014, 164 u. a.), Frau Jenny Treibel (Harslem 2000, 198–216) und Die Poggenpuhls (insbes. Solheim 2004, 68–77) als Anregungen für Thomas Manns Buddenbrooks genannt; zu Recht hat man aber auch auf eine von Mann selbst zwar nie erwähnte, aber wahrscheinliche Lektüre der Wanderungen durch die Mark Brandenburg hingewiesen (Harslem 2000, 141–161), vor allem auf die Darstellung der Familie Gentz in ihrer Generationenfolge (»Die Grafschaft Ruppin«, Neu-Ruppin Kap. 10 und 11, Gentzrode; ebd., 153–157). Der Familienname Buddenbrook wird meist auf den gleichnamigen Sekundanten beim Duell zwischen Crampas und Innstetten zurückgeführt; aber auch andere Möglichkeiten werden diskutiert (vgl. Braun 2018, 90). Generell scheint vor allem Fontanes dialogischer Erzählstil (s. Kap. 14, 36) auf Manns Werk gewirkt zu haben. Ein Beispiel sind Fontanes Tischgespräche, die dazu dienen, »die Vielfalt, innere Spannung, ja Widersprüchlichkeit eines politischen und gesellschaftlichen Status quo Gestalt werden zu lassen, die Hauptfiguren gewissermaßen unparteiisch inmitten dieses Systems zu platzieren und ihre Konflikte bzw. Katastrophen vorzubereiten« (Wimmer 2000, 123). Thomas Mann, so Wimmer weiter, verwende ähnliche Szenen- und Dialogtypen in Buddenbrooks mit anderer Absicht: Ihm gehe es »um eine erste, durch Gesprächsleichtigkeit halbversteckte Festlegung einer mehrere Generationen betreffenden Deszendenzlinie«. Hier werde »kein Erbe« verwaltet, sondern »eine durchaus bekannte und respektierte Erbmasse neu angelegt und eingesetzt« (ebd., 123). Und weiter: »Die von Fontane bereits zum Stil erhobene Austauschbarkeit von Dialogpositionen wird vom jüngeren Autor spielerisch aufgegriffen [...]. Es kommt zum Dialog der Dialoge. Diese Dialogizität herrscht übrigens auch in einem allgemeineren Sinn, also losgelöst vom engeren Texttypus des Dialogs: Manche Fontane-

passagen lesen sich wie vorweggenommene halbe Kommentare zu Thomas-Mann-Szenen und -Figuren und oft scheint Thomas Mann psychologische Aperçus bei Fontane erzählerisch zu entfalten« (ebd., 125).

Besonders augenfällig wird die produktive Rezeption von Effi Briest in der Erzählung Der kleine Herr Friedemann (dazu Vaget 1975; Psaar 1976; Harslem 2000) und im ersten Roman Buddenbrooks (Struc 1981; Fischer 2014, dessen Darstellung allerdings zu assoziativem Beziehungswahn tendiert). Der liebenswürdige bucklige Apotheker Gieshübler in Effi Briest sublimiert erfolgreich sein Liebesverlangen durch seinen Enthusiasmus für die Kunst. Dieses Vorbild »mußte dazu verlocken, den Fall [...] noch einmal zu verhandeln, und zwar vor einer Instanz, die in Sachen Dekadenz-Psychologie als unbestechlich gelten durfte: nämlich Nietzsche« (Vaget 1975, 457). Auch die Wagner-Schwärmerei von Gieshüblers Antipoden Innstetten, die mit dessen Nervosität und Wagners Stellung zur Judenfrage begründet wird (s. Kap. 10), findet sich radikalisiert in der Novelle wieder. Sogar mit dem Verlagssignet von Leier und Pfeil greift Thomas Mann auf Gieshübler zurück (Seidlin 1967, 389). Vaget resümiert: »[...] durch die erstmalige Koordinierung von erzählerischen Praktiken der Dekadenzpsychologie (Nietzsche) und des Gesellschaftsromans (Fontane) hat Thomas Mann die literarischen Fundamente für die weit mächtigere Struktur der Buddenbrooks gelegt. Es war aber die Entdeckung einer dekadenzpsychologisch fragwürdigen Randgestalt im Roman des alten Fontane, die dem jungen Thomas Mann den Weg zeigte zu einem Gesellschaftsroman auf der Grundlage der Dekadenzpsychologie« (Vaget 1975, 469–470).

Auch der Makler Gosch in Buddenbrooks lässt sich auf Gieshübler zurückführen, ein Schöngeist, der sich auf den Buckligen hin ausspielt. Die Unterschiede der beiden Figuren werden aber deutlich: »Beide sind Außenseiter ihrer Sozietäten, aber aus verschiedenen Gründen. Gieshübler ist bestimmt durch die doppelte Mitgift seiner Natur [...], die Neigung zum Preziösen und Schönen und andererseits das Bürgerlich-Normale, vor allem aber die körperliche Entstellung. Aus der Doppeltheit dieser Anlagen vermag Gieshübler aber dennoch ein Ganzes zu machen, ja er wird, menschenfreundlich und kommunikationsfähig, von allen Romanpersonen als ›der Beste hier‹ anerkannt.

19 Theodor Fontane und Thomas Mann Gosch ist nicht Außenseiter durch körperliche Gegebenheiten oder durch eine ererbte Doppelnatur. Er ist es kraft eigenen Entschlusses. Er wünscht sich das Aussehen eines Verwachsenen, weil er in der Wirklichkeit eine oder besser: mehrere Rollen spielen will. Mit diesem Rückzug auf das Rollenspiel aber verschanzt er sich in sein Inneres, das unkenntlich wird. Der Wirklichkeit, vor allem der mitmenschlichen Umwelt, begegnet er nicht offen, sondern mittels komplizierter Strategien« (Schwan 1990, 323).

Schließlich steht immer wieder Tony Buddenbrook im Mittelpunkt des Interesses. Bereits in der Monographie von Arthur Eloesser erscheint sie als eine Mischung aus Effi Briest und Jenny Treibel (vgl. Harslem 2000, 134 und v. a. 198–216); Tony wird sogar schlechthin als »fontanesche Frauenschöpfung« beschrieben (Harslem 2000, 187–197), als ein »Relikt aus Theodor Fontanes Romanwelt« (191). Nur selten wird dieser Konnex bestritten (Psaar 1976, 41). Besonders enge Verbindungen zwischen Effi Briest und Buddenbrooks stellt Roman Struc (1981) her, sowohl bezüglich des gesellschaftlichen Gehalts als auch der Struktur und einzelner Figuren: »Allen [...] Gestalten ist gemeinsam, daß sie bewußt oder unbewußt, absichtlich oder gegen ihren Willen, ein Dasein führen müssen, das ihnen zuwider ist, das ihrem Charakter oder ihrer Zuneigung nicht entspricht; sie tun sich Gewalt an, und auf die Dauer können sie die ihnen aufgezwungenen Rollen nicht spielen« (47).

Thomas Mann, so das Fazit Michael Scheffels, führe die Gesellschaftsromane des alten Fontane unter den Bedingungen der Moderne fort, »indem er dessen Technik der szenischen Erzählung und dialogischen Facettierung der erzählten gesellschaftlichen Wirklichkeit aufgreift und die schon mit Fontanes Perspektivismus verbundene Gefahr des Sinnverlusts und des Formzerfalls durch einen erklärten und im Vergleich zu Fontane deutlich forcierten ›ästhetischen Konstruktivismus‹ [Ohl 1977] zu meistern versucht« (Scheffel 2000, 1012). Literatur Bludau, Beatrix/Eckhard Heftrich/Helmut Koopmann (Hg.): Thomas Mann 1875–1975. Vorträge in München, Zürich, Lübeck. Frankfurt a. M. 1977. Borchmeyer, Dieter: Fontane, Thomas Mann und das »Dreigestirn« Schopenhauer – Wagner – Nietzsche. In: Eckhard Heftrich u. a. (Hg.): Theodor Fontane und Thomas Mann.

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Die Vorträge des Internationalen Kolloquiums in Lübeck 1997. Frankfurt a. M. 1998, 217–248. Braun, Michael: Figuren. In: Nicole Mattern/Stefan Neuhaus (Hg.): Buddenbrooks-Handbuch. Stuttgart 2018, 89–102. Eloesser, Arthur: Thomas Mann. Sein Leben und sein Werk. Berlin 1925 (Neudruck Hamburg 2013). Ester, Hans: Zwischen Skepsis und Glauben. Die Fontaneforschung im Zeichen der Nachwirkung Thomas Manns. In: Duitse Kroniek 27 (1975), 144–157. Fischer, Hans-Peter: »Der alte Fontane macht Geschichten«. Notizen zu Thomas Manns ›Der kleine Herr Friedemann‹ & ›Buddenbrooks‹. Würzburg 2014. Hansen, Volkmar/Gert Heine (Hg.): Frage und Antwort. Interviews mit Thomas Mann 1909–1955. Hamburg 1983. Harslem, Ralf: Thomas Mann und Theodor Fontane. Untersuchungen über den Einfluß Theodor Fontanes auf das erzählerische Frühwerk von Thomas Mann. Frankfurt a. M. 2000. Heftrich, Eckhard u. a. (Hg.): Theodor Fontane und Thomas Mann. Die Vorträge des Internationalen Kolloquiums in Lübeck 1997. Frankfurt a. M. 1998. Heilborn, Ernst (Hg.): Das Fontane-Buch. Beiträge zu seiner Charakteristik. Unveröffentlichtes aus seinem Nachlaß. Das Tagebuch aus seinen letzten Lebensjahren. Berlin 1919. Köhne, Roland: Der Roman ›Effi Briest‹ in Thomas Manns ›Anzeige eines Fontane-Buches‹. In: Thomas Mann Jahrbuch 13 (2001), 113–122. Mann, Thomas: Tagebücher in zehn Bänden. Hg. von Peter de Mendelssohn und Inge Jens. Frankfurt a. M. 1977–1995. Mann, Thomas: Briefe. Hg. von Erika Mann. 3 Bde. Taschenbuchausgabe. Frankfurt a. M. 1979. Mann, Thomas: Gesammelte Werke in 13 Bänden. Frankfurt a. M. 1990. Mann, Thomas: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher. Hg. von Heinrich Detering u. a., in Zusammenarbeit mit dem Thomas-Mann-Archiv der ETH Zürich. Frankfurt a. M. 2002–2011. Ohl, Hubert: »Verantwortungsvolle Ungebundenheit«: Thomas Mann und Fontane. In: Beatrix Bludau/Eckhard Heftrich/Helmut Koopmann (Hg.): Thomas Mann 1875–1975. Vorträge in München, Zürich, Lübeck. Frankfurt a. M. 1977, 331–347. Psaar, Werner: Alonzo Gieshübler und der kleine Herr Friedemann. Versuch einer Grenzbestimmung. In: Der Deutschunterricht 28 (1976) H. 5, 35–57. Reidy, Julian: Intertextualität. In: Nicole Mattern/Stefan Neuhaus (Hg.): Buddenbrooks Handbuch. Stuttgart 2018, 181–184. Remak, Henry H. H.: Theodor Fontane und Thomas Mann. Vorbereitende Überlegungen zu einem Vergleich. In: FBl 59 (1995), 102–122. Scheffel, Michael: Fontanes Einfluß auf die Literatur des 20. Jahrhunderts. In: FHb (2000), 1008–1024. Schwan, Werner: Der Apotheker Gieshübler und der Makler Gosch. Eine Untersuchung zu zwei Nebenfiguren aus Theodor Fontanes ›Effi Briest‹ und Thomas Manns ›Buddenbrooks‹. In: Gerhard Buhr (Hg.): Das Subjekt der Dichtung. Festschrift für Gerhard Kaiser. Würzburg 1990, 309–328.

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III Rezeption

Schweizer, Ronald: Thomas Mann und Theodor Fontane. Eine vergleichende Untersuchung zu Stil und Geist ihrer Werke. Zürich 1971. Seidlin, Oskar: Der junge Joseph und der alte Fontane. In: Herbert Singer/Benno von Wiese (Hg.): Festschrift für Richard Alewyn. Köln/Graz 1967, 384–391. Solheim, Birger: Zum Geschichtsdenken Theodor Fontanes und Thomas Manns oder Geschichtskritik in ›Der Stechlin‹ und ›Doktor Faustus‹. Würzburg 2004. Struc, Roman S.: Zu einigen Gestalten in ›Effi Briest‹ und ›Buddenbrooks‹. In: Seminar. A Journal of Germanic Studies 17 (1981), 35–49. Swales, Martin: »Nimm doch vorher eine Tasse Tee ...«. Humor und Ironie bei Theodor Fontane und Thomas Mann. In: Eckhard Heftrich u. a. (Hg.): Theodor Fontane und Thomas Mann. Die Vorträge des Internationalen Kolloquiums in Lübeck 1997. Frankfurt a. M. 1998, 135–148.

Vaget, Hans Rudolf: Thomas Mann und Theodor Fontane. Eine rezeptionsästhetische Studie zu ›Der kleine Herr Friedemann‹. In: Modern Language Notes 90 (1975), 448– 471. Vaget, Hans Rudolf: Fontane, Wagner, Thomas Mann. Zu den Anfängen des modernen Romans in Deutschland. In: Eckhard Heftrich u. a. (Hg.): Theodor Fontane und Thomas Mann. Die Vorträge des Internationalen Kolloquiums in Lübeck 1997. Frankfurt a. M. 1998, 249–274. Wimmer, Ruprecht: Theodor Fontane und Thomas Mann im Dialog. In: Eckhard Heftrich u. a. (Hg.): Theodor Fontane und Thomas Mann. Die Vorträge des Internationalen Kolloquiums in Lübeck 1997. Frankfurt a. M. 1998, 113– 134.

Hans Otto Horch

20 Verfilmungen

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in den Adaptionen wiederholt auftauchen, werden nicht eigens im Detail thematisiert.

Einleitende Bemerkungen Die Fontane durch Emma Lessing zugetragene Ehebruchsgeschichte Elisabeth von Ardennes (u. a. Anderson 2015; s. Kap. 9) hat in ihrer literarischen Verarbeitung zum Zeitroman wiederum zahlreichen Filmprojekten als Vorlage gedient, von staatlich geförderten Großproduktionen für ein Kinopublikum bis hin zu Stoffvarianten im Schnelldurchlauf, etwa als Lego-Animationen auf Youtube (z. B. Effi Briest to go, 2015) oder satirischen Kurzfilmen für das Fernsehen (z. B. Letzte Stunde vor den Ferien: Effi Briest, 2017, Neo Magazin Royale). Der Fokus soll hier auf den fünf bisher produzierten Effi Briest-Spielfilmen (1939, 1955, 1970, 1974, 2009) liegen, die alle den Basistext Fontanes im spezifischen Medium Film innerhalb jeweils eigener historischer Kontexte wiedererzählen, d. h. facettenreich adaptieren, aktualisieren, aber auch fokussieren. So sind ›neue Gebilde‹ aus Ton und Bild entstanden, die auch im Kontext von Fontanes Realismus-Konzept betrachtet werden sollten. Der ›Marmorsteinbruch‹ (HFA III, 1, 241) des ›Paratexts‹ (Genette) besteht demnach nicht nur aus der literarischen Vorlage, denn die Entstehungszeit bedingt filmdramaturgische Marmorisierungen und/oder eine Transluzenz des Materials, die die jeweilige Produktionsgegenwart durchscheinen lässt. Werktreue ist in der heutigen Adaptationsforschung kein Wertungskriterium mehr, denn bei Romanverfilmungen sind Komprimierungen und Auslassungen in der Regel notwendige Stufen des Transpositionsprozesses. Zudem sind es gerade die narrativen wie z. T. medial bedingten Unterschiede zwischen literarischer Vorlage und Verfilmung, die potenziell aufschlussreiche Einblicke bieten. Kontrastive Analysen, die den Transpositionsprozess im Kontext historischer Spezifitäten untersuchen, sind für das Verständnis der jeweiligen Adaptation und ihrer politischen, kulturellen und/oder filmgeschichtlichen Bedeutung unerlässlich. Die folgenden fünf Spielfilme werden chronologisch mit Hinweisen auf ihre Entstehung, die Filmhandlung und Dramaturgie sowie ihre Rezeption vorgestellt und im Kontext ihrer Funktion als Effi BriestAdaptionen, soweit in diesem Rahmen möglich, erörtert. Gängige Bildmotive wie Effis Schaukel, die an ihre kindliche Ausgelassenheit erinnert, oder Netze, die die drohende Gefahr der Liebesverstrickung spätestens seit Josef von Sternbergs Heinrich Mann-Verfilmung Der blaue Engel (1930) symbolisieren und die

Der Schritt vom Wege (1938/39) NS-Deutschland, Terra Film, 35 mm, 97 Minuten, schwarzweiß Regie: Gustaf Gründgens Drehbuch: Georg C. Klaren und Eckart von Naso Kamera: Ewald Daub Darsteller*innen: Marianne Hoppe (Effi), Karl Ludwig Diehl (Innstetten), Paul Hartmann (Crampas), Paul Bildt (Herr von Briest), Käthe Haack (Luise von Briest), Max Gülstorff (Alonzo Gieshübler), Hans Leibelt (Ministerialrat Wüllersdorf), Elisabeth Flickenschildt (Marietta Trippelli), Renée Stobrawa (Roswitha) u. a. Der von der Terra-Filmkunst GmbH (Berlin) produzierte und am 9. Februar 1939 im Berliner Capitol-Kino uraufgeführte Film wurde ab September 1938 auf dem Ufa-Gelände in Babelsberg bei Berlin, an der Ostsee sowie auf Schloss Zeesen bei Königs Wusterhausen gedreht. Letzteres hatte der General-Intendant der Preußischen Staatstheater und Star-Schauspieler Gründgens nach der Enteignung der jüdischen Besitzer durch die Nazis als Domizil für sich und Marianne Hoppe günstig erworben. Seine Gattin sollte die Effi spielen, weitere Rollen wurden typgerecht designiert. In dieser Gustaf-Gründgens-Produktion wird trotz der Titeländerung, die als Hinweis auf das adaptive Verfahren bzw. das Spiel im Spiel oder auch als moralische Wertung interpretiert werden könnte, schon im Vorspann auf die Quelle der Filmhandlung hingewiesen: »Nach dem Roman ›Effi Briest‹ von Theodor Fontane.« Diese erste Effi Briest-Adaption beginnt jedoch nicht mit einer Beschreibung des Briestschen Anwesens und der mit Handarbeiten beschäftigten Mutter und Tochter, nicht mit Schaukel und kindlichem Übermut Effis, sondern mit einer Großaufnahme von Effis Grabstein. Mit zunehmender Kameradistanz wird Effis Hund Rollo am Grab liegend erkennbar sowie die auf einer Bank gefasst beisammen sitzenden Eltern Briest. Das Romanende ist hier als Filmhandlungsrahmen gestaltet und die nun sowohl Anfang als auch Ende der Adaptation bestimmende Schuldfrage wird so deutlich betont. Vater Briest erklärt in dieser Anfangssequenz als uneingeschränktes Faktum: »Es ist nicht so viel mit uns, wie wir glauben« (00:01:37; 349). Und Mutter Briest fügt hinzu: »Es vergeht kein

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2019 S. Neuhaus (Hg.), Effi Briest-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04874-5_20

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III Rezeption

Tag, [...] an dem ich mir nicht Vorwürfe mache.« Auf ihre rhetorische Frage, ob Effi doch zu jung war, antwortet Vater Briest mit dem leitmotivischen SchlussSatz des Romans – »Das ist ein weites Feld« (00:02:01) –, der wiederum auch die Filmhandlung abschließt. Auf diese deutliche Bankrotterklärung und Hilflosigkeit, in der »Fragen« (349) zu Selbstvorwürfen werden, folgt Marschmusik, die eine akustische Verbindung zwischen dem von Verlust, Schuld und Tod bestimmten Rahmen und der als Rückblende und so als Binnenerzählung gestalteten eigentlichen Filmhandlung herstellt. Soldaten marschieren am Briestschen Gut vorbei, während die junge, mädchenhafte Effi auf ihrer Schaukel sitzt. Ihre Ausgelassenheit, die sie immer höher schaukeln lässt, indiziert Hybris, kommuniziert aber auch das »Naturkind« (41) Fontanes. Die Assoziation mit dem Militär ist in diesem Kontext nur angedeutet, aber durch die visuellen und auditiven Verbindungen nicht zu übersehen (00:02:06– 00:02:42). Effi wird als sehr junges Mädchen inszeniert, die dem Roman entsprechend die Ehe mit Baron Innstetten auf Druck ihrer Mutter eingeht, da sie gemäß gesellschaftlicher Erwartungen ›klug‹ agieren möchte und Ehrgeiz im Rahmen der ihr gegebenen Möglichkeiten zeigt. Der Film folgt in Hinblick auf die narrativen Hauptstränge der Vorlage und übernimmt zahlreiche Dialoge verbatim. Es sind die aufschlussreichen Abweichungen und Fokussierungen, die hier vor allem Erwähnung finden sollen. Nach der Hochzeit wird die Ankunft im Haus des Landrats durch Rollo und die hier schon als Angestellte des Briestschen Haushalts eingeführte Roswitha erleichtert, doch auch hier leidet Effi unter dem Unheimlichen ihres neuen Zuhauses in Kessin. Gieshübler, »Schöngeist und Original« (00:12:11) und »Seele von einem Menschen« (00:12:17; 58), ist hier kein Buckliger, denn 1939 wäre die positive Konnotation eines ›Behinderten‹ potenziell zensurfähig gewesen. Effis Bedürfnis nach »Zerstreuung« wird durch ihre Langeweile im Ehealltag markiert und ihre Begeisterung über Strand und das Meer, in der Totalen eingeschnitten, wird umgehend von einem den Filmrahmen füllenden und von Innstetten unterzeichneten Verbotsschild überdeckt (00:20:05). Die repressiven Normen reichen bis in den Naturraum, und deren nur scheinbare Polarität entlarvt die Hoffnung auf naturgemäße Selbstbestimmung gemäß der Vorlage als Illusion. Die konzeptionelle Bedeutung dieses Moments wird auch über den Ton als ›Leerstelle‹ oder Fermate unterstrichen, denn hier verstummt beinahe die extradiegetische, sinfonische Musikuntermalung, die sonst im Film fast

durchgehend der stimmungsreichen Emphase des Gezeigten dient. Die Gegenüberstellung von Natur/Emotion/Auflehnung (individueller Identität) und Gesellschaft/ Konvention/Anpassung (gesellschaftlicher Norm; s. Kap. 46) strukturiert als konzeptioneller Gegensatz die Bildsprache des Filmnarrativs auch im Folgenden und betont die Unvereinbarkeit von Freiheit und Aus-/Eingrenzung, Leben und Ausgeliefert- bzw. Gefangensein deutlich stärker als der Roman (s. u.a. Lohmeier 1989, 230–231). Effis wachsende Enttäuschung über den Ehealltag (s. Kap. 24), die sie höchstens durch kurzes Schmollen kommuniziert, wird per Überblendung der Chinesenskulptur in Nahaufnahme gegenübergestellt (00:21:50), die sie hämisch nickend auszulachen scheint und Effis Unzufriedenheit als verdiente Konsequenz gesellschaftskonformen Handelns wertet. Der extradiegetischen Musik wohnt eine wachsende Bedrohung inne und die z. T. klischeehaften Naturaufnahmen bestätigen die drohende Gefahr. Hier wird Crampas erst bei Gieshüblers Liederabend mit Marietta Trippelli Effi vorgestellt; der »Herr Major« gehört hier aber explizit der Vergangenheit an. Crampas tritt im Zivil eines Bürgers auf, wird jedoch als »Cowboy« bezeichnet (00:25:09 und 00:26.51), denn die Darstellung eines Offiziers, der sich ›unehrenhaft‹ verhält und im Duell stirbt, wäre Joseph Goebbels’ Zensur wohl zum Opfer gefallen. Die Ästhetik der Naturaufnahmen in Totalen oder Panoramaeinstellungen, vor allem bei Ausritten Effis und Crampas’ am Meer entlang (z. B. 00:40:39), verweist nicht nur auf die Macht der Natur und ihre Entgrenzung, sondern auf weitere Nazi-Verfilmungen deutscher Literatur wie etwa von Theodor Storms Der Schimmelreiter (1933/34; Regie: Hans Deppe, Curt Oertel; ebenfalls mit Marianne Hoppe) oder Max Halbes Jugend (1937/38; Regie: Veit Harlan). Das gemeinsam in Kessin aufgeführte Bühnenstück ist hier Heinrich von Kleists Käthchen von Heilbronn, das unter Gründgens’ Intendanz in den 1930er Jahren wiederholt auch am Staatstheater Berlin gegeben wurde. Die Ereignisse in Berlin während Effis Kur folgen weitestgehend der Romanhandlung, obgleich durch die deutlichere Polarisierung von Innstetten und Crampas der Tod als Konsequenz des Regelbruchs markiert wird. Nach Annies Besuch folgt Effis Zusammenbruch. Ihr Ekel vor sich selbst, aber noch mehr vor »eure[r] Tugend!« (01:26:11; auch 325–326) wird mit melodramatischer Emphase betont, Effi aber beinahe durchgehend als Opfer stilisiert. Das Agieren bleibt dem Mann vorbehalten und der versagt auf der

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ganzen Linie. Innstetten, der sich selbst als »Narr« bezeichnet (und so die im Roman imaginierte Ermahnung Wüllersdorfs beantwortet; 287), schließt das Narrativ mit den gleichzeitig eintreffenden Nachrichten von seiner Beförderung und dem Tod Effis (01:33:32–01:33:48). Diese Gegenüberstellung von Karriereerfolg und Todesnachricht betont die Tragik der aus Ehrgeiz beider Hauptfiguren getroffenen, folgenschweren Entscheidungen. Manche Auslassungen (Dagobert, Buddenbrook etc.), Straffungen oder Zusammenlegungen von Personen (Max Gülstorff fungiert in der Rolle des Apothekers Gieshübler als Sekundant beim Duell, er ersetzt im Film auch die Figuren des Doktors Rummschüttel und des Pastors Niemeyer; Elisabeth Flickenschildt spielt sowohl die Trippelli als auch Geheimrätin Zwicker) sowie die Umsetzung von literarisch reflektierten Stimmungen anhand von Ding- oder Natursymbolik (Vogelkäfig, Wellen etc.) sind auf Gründgens’ Anweisungen zurückzuführen, jedoch auch adaptationsbedingt, d. h. der Transposition des Romans hin zur Kinoleinwand geschuldet (u. a. Biener 2000, 987) und als Deutungsmittel eng am Roman orientiert (u. a. Lohmeier 1989, 238–239). Andere Veränderungen jedoch geben Hinweise auf die Entstehung des Films im Hitler-Deutschland, wie etwa die Tilgung Heines, die Eindeutschung französischer Begriffe des Romans und, vor allem, der fehlende Hinweis auf den »Angstapparat aus Kalkül« (157) sowie die Auslassung des »tyrannisierenden Gesellschafts-Etwas« (278), also systemische Kritik, die auf die Diktatur der Nationalsozialisten hätte bezogen werden können. Der Schritt vom Wege ist kein Propaganda-Film und lässt im Gegensatz zu zahlreichen anderen Rückgriffen der NS-Filmindustrie auf den Kanon der deutschen Literatur kein Bekenntnis zur nationalsozialistischen Ideologie durchscheinen. Trotz impliziter Hinweise auf ein potenzielles Hadern des Regisseurs Gründgens, der sich karrierefördernd vom Hitler-Regime vereinnahmen und in eine gleichgeschaltete Kulturindustrie integrieren ließ, verdeutlicht der Film – etwa in der Inszenierung des Trippelli-Konzerts – Kultur als deutsch und maskulin. Das französische Liebeslied, das Trippelli singt (00:30:46–00:32:23), wird als vulgär und weiblich konnotiert (Coates 2000, 236). Kritik an der Isolation Effis von ihrem Kind, im Roman von Vater Briest geäußert, wird nun seiner Frau in den Mund gelegt und so das entspannt Menschliche des Vaters zur gesellschaftskonformen Härte (01:19:20–01:19:46; 328). Dualismen und Polaritäten, die den Film strukturieren, orientieren sich

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weitgehend am Roman. Fontanes Gesellschaftskritik jedoch, die im Hinblick auf einen tyrannisierenden Angstapparat nach sechs Jahren Nazi-Herrschaft allzu aktuell gewesen wäre, ist nurmehr als Leerstelle vom Publikum zu erkennen. Unausgesprochen wird Not und Tod Effis so zum Platzhalter. Von der Kritik wurde der mit einigem Aufwand gedrehte Kostümfilm vorwiegend positiv aufgenommen und vor allem die Werktreue und »Gewissenhaftigkeit« der Adaption gelobt, die den Realismus in Fontanes Roman auf die Kinoleinwand zu bringen suchte (z. B. Werner Fiedler, Deutsche Allgemeine Zeitung, 10.2.1939). Vor allem Marianne Hoppe, die seit 1936 mit Gründgens verheiratet war (zum Schutz beider vor Verfolgung als Bi-, bzw. Homosexuelle) und die Effi zurückhaltend und sensibel darstellt, wurde gefeiert. An der Kinokasse war Der Schritt vom Wege ein deutlicher Publikumserfolg. Es ist ein Film, der seine Anpassung an die gleichgeschaltete NS-Kulturindustrie nicht verbergen kann, obgleich das Ringen damit kaum zu übersehen ist, so dass er im Kontext seiner Entstehungszeit betrachtet werden sollte.

Rosen im Herbst (1955) BRD, Divina Film, 35 mm, 103 Minuten, Farbe Regie: Rudolf Jugert Drehbuch: Horst Budjuhn Kamera: Werner Krien Darsteller*innen: Ruth Leuwerik (Effi), Bernhard Wicki (Innstetten), Carl Raddatz (Crampas), Paul Hartmann (Briest), Lil Dagover (Frau von Briest), Günther Lüders (Gieshübler), Hans Cossy (Wüllersdorf), Lola Müthel (Trippelli), Lotte Brackebusch (Roswitha), Margot Trooger (Johanna) u. a. Der in der BRD entstandene und produzierte Film wurde von Mai bis Juli 1955 in den Bavaria-Ateliers in München Geistelgasteig, die Außenaufnahmen wurden in Niedersachsen (Besenhausen bei Göttingen) und auf der Insel Sylt gedreht. Der Film wurde am 29. September 1955 in Nürnberg uraufgeführt. Jugert, der ab 1939 vor allem bei Helmut Käutner das RegieHandwerk gelernt hatte, dessen Filmsprache durchscheint, dreht Rosen im Herbst als z. T. opulenten Farbfilm, der an den Erfolg der Gründgens-Adaptation anzuknüpfen sucht, ohne jedoch eine ›Schuldfrage‹ nur eine Dekade nach Kriegsende in den Vordergrund stellen zu wollen. Zu diesem Zweck arbeitet Horst Budjuhn (Budjuhn 1985) in seinem Drehbuch die

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III Rezeption

Dialoge um und aktualisiert zudem die Filmhandlung durch neue Passagen. Politische Kommentare oder gesellschaftskritische Ansätze werden auf Anordnung des Produktionsleiters, dass »alle Politika zu verschwinden hätten«, strikt vermieden (Heinkel 1958, 55–56; Biener 2000, 990). Jeder Hinweis auf Bismarck wird gestrichen und die ›Unumgänglichkeit‹ des Duells nur angedeutet. Die Adaption ist Liebes- und Heimatfilm, Melodram und ein typisches Produkt der westdeutschen Filmindustrie der 1950er Jahre, die integrativ und eskapistisch wirken und keineswegs provozieren wollte. Auch die Wahl der Schauspieler und des Produktionsteams ist eine damals gängige Mischung aus Nachkriegsstars wie Leuwerik und Wicki, die von altbekannten Größen des Stumm- (Dagover) und vor allem des NS-Films (Raddatz, Hartmann, Dagover etc.) unterstützt werden. Paul Hartmann, der z. B. die Hauptrolle in Karl Ritters unsäglichem Propagandafilm Pour le Mérite (1938) und kurz danach den Crampas in Gründgens’ Der Schritt vom Wege (1939) gespielt hatte, taucht nun in der Rolle des sympathischen Vater Briest auf. Franz Grothe, der schon bei zahlreichen NS-Filmen die Musik bzw. musikalische Leitung übernommen hatte (von Zwei im Sonnenschein, 1933, bis hin zum Überläuferfilm Rätsel der Nacht, 1945), liefert die Breitbandmusik, die zur Melodramatik der Ereignisse beitragen soll. Der Film erzählt die Romanhandlung (s. Kap. 13) und imitiert zudem Elemente der Dramaturgie Gründgens’, deren ambivalente Komplexität jedoch hier abhandengekommen zu sein scheint. Die Emphase der Adaption liegt auf der lebensfrohen und eigentlich nach Selbständigkeit strebenden Effi, die durch eine Mischung aus Ehrgeiz, Abenteuerlust, Schwäche und einen dummen Zufall Leid und Zerstörung über sich und ihre Lieben bringt. Diese oftmals unterschwellige Präsenz einer kritischen Gedächtniskultur im westdeutschen Unterhaltungsfilm der 1950er Jahre wird hier jedoch von der Liebesgeschichte zwischen Innstetten und Effi überlagert, leiser Protest bleibt unspezifisch. Interessant sind in diesem Kontext zwei Hinzufügungen des Drehbuchautors Budjuhn: ein Gespräch zwischen Effi und Crampas am Strand über Heinrich Heine – Jude, politisch Verfolgter, Exilant – und dessen Gedicht Die Heimkehr aus dem Buch der Lieder (00:37:27–00:38:09); und als zentraler Punkt eine Rede des Ministers zum Silvesterfest 1900 [!], das in der Berliner Wohnung der Innstettens prächtig gefeiert wird. Der Minister drückt seine Dankbarkeit für die Fortschritte des letzten Jahrhunderts aus: das Telefon als die Erfindung eines Schotten, die Glühbirne als

die eines Amerikaners sowie Otto Lilienthals »Flugapparat«, der »uns Deutsche noch hoch erhoben [habe], denn so hoch, wie Otto Lilienthal mit seinem Flugapparat ist bisher noch keiner gestiegen!« (01:03:40–01:04:14). Der Hinweis auf die Briten und die USA, wichtige Partner der jungen BRD, und auf den Flugpionier Lilienthal anstatt auf militärische oder politische Größen des 19. Jahrhunderts (z. B. Bismarck) ist bezeichnend, wie auch der Schluss-Satz des Ministers, der allen ein neues Jahrhundert »der Freude, des Fortschritts und [Pause, betont] des Friedens« wünscht. Nach Jahren heftiger Debatten war am 5. Mai 1955 die Wiederbewaffnung der BRD im Zuge des sich verschärfenden Ost-West-Konflikts sowie die Gründung der Bundeswehr von der Adenauer-Regierung beschlossen worden. Adaptionen spielten in der Diskussion eine nicht unbedeutende Rolle, wie etwa die Rezeption der Verfilmungen von Hans Hellmut Kirsts 08/15-Romanen unter der Regie von Paul May (1954/55) verdeutlicht. Die fatale Priorisierung von Karriere und normierendem »Gesellschafts-Etwas« (278), Wohlstand und ›Fassade‹ statt Liebe und Gemeinschaft wird in der Schluss-Sequenz dramaturgisch stark hervorgehoben, als Effis Todesnachricht per Telefonanruf Gieshüblers und die Beförderung zum Staatssekretär per versiegeltem Brief fast gleichzeitig bei Innstetten eintreffen (01:40:50–01:41:15). Die sichtliche Erschütterung Innstettens schließt per klischeehaftem Schnitt zu der nun leeren Schaukel Effis im Nebel und mit gefühlvoll musikalisch unterlegten Meereswogen die Filmhandlung ab. Innstetten, der nur auf konventionelle Handlungsstrukturen zurückzugreifen vermag und ›moralisches Versagen‹ ahnden muss, wirkt hilflos und seine starre Herzenskälte so aufgesetzt wie Leuweriks Romanzitat (sie weicht hier vom Drehbuch ab) kurz vor Effis Ableben, Innstetten habe »viel Gutes in seiner Natur und war so edel, wie jemand sein kann, der ohne rechte Liebe ist« (348; 01:39:35). Denn die Ehe zwischen Effi und Innstetten ist in diesem Unterhaltungsfilm mit melodramatischem Ausgang liebevoller gestaltet als in allen anderen Verfilmungen des Romans, auch wenn Effi in Innstettens Augen erst durch die Geburt des Kindes zur Frau wird. »Liebe ist die höchste Form der Religion«, Zitat der Inschrift des Chinesengrabs in Kessin, wird dem Kinopublikum am Ende von Effi als interkulturelles Motto mit auf den Weg geben, denn die Tragik liegt hier nicht in der Anpassung des Individuums an die herrschende Norm, sondern schlicht im Zerbrechen der Ehe.

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Der Film wurde vor allem als gepflegtes Gefühlskino rezipiert, aber auch als »trivial« (Schmid 1989, 144) abgetan. Die Visualisierung des Romans durch Werner Krien und Gerhard Krüger (Kameraführung), die schon bei der Thomas-Mann-Verfilmung Königliche Hoheit (1953) erfolgreich zusammengearbeitet hatten, wird von der Kritik meist positiv bewertet, wie etwa die Vermittlung von Stimmungen durch Landschaftsaufnahmen oder Lichtgestaltung, jedoch auch als »symbolschäumend« (Der Spiegel, 30.11.1955) kritisiert. Die beliebte Ruth Leuwerik, die als 31-Jährige nicht dem Bild der ausgelassen 17-jährigen Effi Fontanes entsprach, wurde trotzdem für ihre »kluge Charakterzeichnung« hervorgehoben (Schwarz 2016). Die »Mediokrität« (Heinkel 1958, 137; Biener 2000, 991) dieses Unterhaltungsfilms war vor allem einem vorweggenommen Gehorsam bezüglich Geschmack und Sensibilitäten des Nachkriegs- und Wirtschaftswunderpublikums im Konsensdemokratiekino geschuldet.

Effi Briest (1968/69) DDR, DEFA, 35 mm, 125 Minuten, Farbe Regie: Wolfgang Luderer Drehbuch/Szenarium: Wolfgang Luderer, Christian Collin Kamera: Günter Marczinkowsky, Hans Heinrich Darsteller*innen: Angelica Domröse (Effi), Horst Schulze (Innstetten), Dietrich Körner (Crampas), Gerhard Bienert (Briest), Inge Keller (Frau von Briest), Walter Lendrich (Gieshübler), Adolf Peter Hoffmann (Wüllersdorf), Marianne Wünscher (Trippelli), Lissy Tempelhof (Roswitha), Krista Siegrid Lau (Johanna), Lisa Macheiner (Ministerin) u. a. Diese 1968/69 für den Deutschen Fernsehfunk (DFF) der DDR aufwändig gedrehte Effi Briest-Adaptation wurde am 7. März 1970 erstmals im DDR-Fernsehen gesendet, anschließend vom Westfernsehen (rbb) eingekauft und im Folgejahr in der BRD ausgestrahlt. Luderer begann seine Karriere in den 1950er Jahren als Regieassistent bei der DEFA und führte vor allem bei Krimiserien (z.B Fernsehpitaval, 1958–1978) erfolgreich Regie. Seine exportfähige Effi-Briest-Adaption, die oft als die »werkgetreueste« (z. B. Spaich 1992, 348) angesehen wird, entstand im Zuge der deutsch-deutschen »Fontane-Renaissance« nach dem Mauerbau 1961, die die »Grundauffassungen des jeweiligen politischen Systems« (Schwab 2006, 238) anhand des ›Kul-

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turguts Fontane‹ in beiden deutschen Staaten durchscheinen ließ. Deutsche Literatur wurde als wichtiges kulturelles »Erbe« (Rudolph 1972) gerade auch durch Verfilmung staatspolitisch wertvoll in die Öffentlichkeit der DDR integriert. In Luderers Adaption wird dies vor allem in der kritischen Darstellung preußischer Repräsentanten (Bismarck) und Tugenden (Militarismus, Autoritarismus) sowie in der betont positiv gestalteten Rolle Roswithas deutlich, die als Effis treue Freundin und Angestellte mit vorbildlicher Menschlichkeit (klassenlos) gekennzeichnet ist. Das ständische Wertesystem des Romans schafft den konzeptionellen Rahmen (u. a. Schwab 2006, 276). Die von Fontane immer wieder thematisierte legale und soziale Benachteiligung der Frau (s. Kap. 4), die in der patriarchal-konservativen Ständegesellschaft im Zustand der Unmündigkeit zu verharren hat und so zum Opfer wird (s. Kap. 43), bestimmt in dieser DDR-Adaption auch die Interpretation Effis, die visuell und auditiv in der Anfangssequenz dezidiert als Kind (»Naturkind«; 41) dargestellt wird, spiegelt sich aber auch in der positiven Rezeption Trippellis. Patriarchale Strukturen und Machtverhältnisse werden über das dialoglastige Drehbuch, aber auch die Regie, vor allem die Kameraeinstellungen und -bewegungen betont und die kritische Rezeption der wilhelminischen Gesellschaft (deren Repräsentanten oft als Typen ironisch inszeniert werden) samt ihres verlogenen und unmenschlichen Ehrenkodex’ wird in den Fokus genommen. Die Drehbuchautoren Luderer und Collin stellen der vielschichtig gestalteten Effi einen relativ eindimensionalen Innstetten gegenüber. Er wird hier zum Stereotyp des pflichtbewussten und reservierten preußischen Beamten, aber auch die Eltern Briest sind dezidiert Vertreter dieses überholten Systems. Die Heirat, zu der sich die ›kluge‹ Effi gar nicht äußert, wird von ihrem Vater als »beschlossen« (00:04:00) erklärt und ihre zukünftige Aufgabe von ihrem Vater gemäß Roman (19–20) als »Epheu«, der sich um den Stamm ranken muss, beschrieben. Als verwöhntes Mädchen der Oberschicht fehlt ihr die Fähigkeit kritischer Selbstreflexion über standesgemäßes Verhalten und so erklärt Effi ihrem Gemahl bei der Hochzeit: »Ich bin für Reichtum und vornehmes Haus. Für Glanz und Ehre und ...für Zerstreuung. Weißt du, was ich nicht ausstehen kann, ist Langeweile« (00:07:13; »Vergnügungssucht und Ehrgeiz«; 44). Im Folgenden indizieren geschlossene, farblich gedeckte und lichtarme Bildkompositionen Domestizierung und gesellschaftliche Enge. Die oft nahe Kamera kommuniziert Effis Anpassungsschwierigkeiten und öde Einsamkeit

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in Kessin, aber auch ihren gesellschaftlichen Ehrgeiz, der für das Fortkommen ihres Mannes Opfer zu bringen bereit ist. Das Unheimliche ihres Kessiner Heims wird dezidiert mit Exotischem visualisiert und in ihren Träumen dem zutiefst Vertrauten als nostalgische Sehnsucht nach der unbeschwerten Kindheit dem unheimlichen Alltag, geprägt von gesellschaftlichen Pflichten und sozialen Erwartungen, gegenübergestellt. Die Geburt des Kindes (00:49:21) lässt Effi nicht, wie in der Verfilmung von 1955, in den Augen ihres Mannes zur Frau werden und die Enttäuschung des Arztes über das Geschlecht des Kindes im Kontext siegreicher preußischer Militärgeschichte (s. Kap. 5) spiegelt sich in Innstettens Emotionslosigkeit. Im Folgenden werden Ehemann und Liebhaber als Repräsentanten gegensätzlicher Lebensentwürfe charakterisiert, die dominiert werden von Pflicht bzw. »Dienst« (Innstetten) und »Leben« bzw. »Leichtsinn« (Crampas). Effis Bedürfnis nach Zerstreuung und ihre Langeweile in ihrem neuen Zuhause wird so im Kontext gesellschaftskonformen Handelns zwischen ›Sollen‹ und ›Wollen‹ (wie etwa in Frank Wedekinds Frühlings Erwachen) kritisch reflektiert, aber auch ihre marginale Position, bzw. ihr Einvernehmen etwa mit Crampas durch die Kameraführung wiederholt unterstrichen (Schwab 2006, 294–295). Die von Gieshübler geplante Aufführung von Ernst Wicherts Ein Schritt vom Wege wird zur zukunftweisenden Metapher. Der aufgeführte Dialog zwischen Egon (Crampas) und Ella (Effi) aus dem 8. Auftritt des IV. Akts in Wicherts Stück (01:03:34–01:06.19) thematisiert den Wunsch nach Ausbruch »aus dem Regelrechten ins Ungewöhnliche, aus dem Verkünstelten in die Freiheit der Natur, aus dem Konventionellen ins Abenteuerliche«. Ella weiß um die Gefahr des »Fortstürmen[s] ins Ungewisse«, denn als Frau sollte sie »dergleichen Sturm und Drang-Gedanken nicht in sich aufkommen lassen, sie rächen sich an ihr selbst«. Egon bestärkt sie und bewundert, dass »Sie in sich die Stimme der Natur stärker fühlen als die gesellschaftliche Regel, die das Weib zur Sklavin jämmerlicher Rücksichten macht. Warum sollte das Weib nicht frei seinen Neigungen folgen dürfen wie der Mann? Dieser Trieb ins Weite, ins Ferne, ins Regellose, er befreit uns vom Druck der Alltäglichkeit, er führt uns an die Tafel des Genusses...«. Doch Ella weist ihn zurück: »Sie überschätzen meinen Mut und meine Kraft.« Die Aufführung endet mit der Liebeserklärung Egons an Ella, der Vorhang fällt und Innstetten freut sich sichtlich über den karrierefördernden Beifall.

Die scheiternde Integration bzw. Marginalisierung wird auch im Folgenden durch Kameraführung, Montage/Schnitt und musikalische Untermalung kommuniziert. Die Affäre zwischen Effi und dem »Damenmann« (122) Crampas beschränkt sich hier auf die Zeit der Abwesenheit des väterlichen Innstettens aufgrund seiner Reise nach Berlin. Auch hier wird eine sich steigernde Musikuntermalung und bildfeldfüllende Natursymbolik (Meer, Wellen) eingesetzt (s. Kap. 21), um die leidenschaftliche Zusammenkunft von Effi und Crampas zu verdeutlichen, jedoch ist Luderers Bildsprache zurückhaltender und weniger auf melodramatischen Effekt ausgelegt. Ein ›Affektbild‹ (Deleuze) in Form einer Großaufnahme von Effis verunsichert traurigem Gesicht (01:16:41) ist der Anfangspunkt ihres ›Schritts vom Wege‹, doch die Affäre mit Crampas wird nur angedeutet; kurz sieht man die beiden Hand in Hand eine Düne hinauflaufen, die Einstellung beginnt als extreme Nahaufnahme, da die beiden Figuren über die Kamera steigen und so für einen Augenblick ein Moment extremer Nähe (zum Publikum) entsteht (01:17:11), von dem sich Effi und Crampas nun ganz entspannt entfernen. Trotz zunehmender Distanz zur Kamera ist die Berührung ihrer Hände ins Zentrum des Bildfelds gesetzt und so zum weichen Licht des Sonnenuntergangs trotz aller musikalisch unterlegter Romantik durch die sich entfernenden Liebenden in einer unaufdringlichen Natürlichkeit inszeniert (vgl. auch Schmid 1989, 141–142). Nicht die Ehe mit dem pflichtbewussten Ehemann, sondern die Affäre mit dem leidenschaftlichen Crampas macht Effi zur Frau. Innstettens Beförderung zum Ministerialrat wird gemäß der literarischen Vorlage mit Erleichterung von Effi begrüßt, aber auch mit der Klage über Einsamkeit und Innstetten als »Erzieher« quittiert (01:20:52). In Berlin wird Effi als die perfekte Gastgeberin inszeniert, Innstetten ist stolz und glücklich über seine Frau, die schon bald auf den Wunsch der Kaiserin in die Reihe der »Ehrendamen« aufgenommen werden soll (01:27:13). Die folgenden Ereignisse (Effis Kur, Annies Sturz, die Entdeckung der Briefe und ihre Konsequenz) ist gemäß der Vorlage gestaltet und situiert Effi vor allem in natur- und somit auch identitätsfernen Innenräumen. Das Gespräch zwischen Wüllersdorf und Innstetten (01:29:27– 01:32:46) entspricht trotz leichter Kürzungen der Vorlage und übernimmt zentrale Aussagen zum »tyrannisierenden Gesellschaft-Etwas« (278), das »keine Wahl« lässt, »so lange der Götze gilt« (280) wörtlich und betont die Aussagen durch eine auf den Dialog konzentrierte Visualisierung.

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Die Gesichter der beiden Männer in Großaufnahme suggerieren nicht Innehalten, sondern Verkrustung. Die individuellen Konsequenzen der Entscheidung Innstettens werden im Folgenden vor allem auch durch die Farbgestaltung, die nun fast auf Grautöne reduziert ist (Effi trägt schwarz), sowie eine herbstliche Stimmung, aber auch durch die Körpersprache der Figuren (Vater Briest) verdeutlicht. Die Brutalität, mit der sich Effis Hoffnung auf die Wiederaufnahme der Beziehung zu ihrem Kind zerschlägt, wird durch Nahaufnahmen der weinenden Effi betont (01:45:59), die sich zwar mit ihrer Schuld kritisch auseinandersetzt und doch die Strafe als unmenschlich und ungerecht erkennt. Die Stimme Rummschüttels, der an die gesundheitsfördernde Elternliebe erinnert, begleitet den Schnitt nach Hohen-Cremmen zu den Eltern Briest, wo der »Anspruch der Gesellschaft und der Moral« von Effis Mutter noch verteidigt wird, aber der Vater endlich »die Liebe der Eltern zu ihren Kindern« priorisiert (01:47:00). Der »Katechismus« des Romans (328) ist in dieser DDR-Adaption gestrichten, stattdessen tritt der Film das Erbe der humanistischen Literatur an (Rudolph 1972, 145–146; Schwab 2006, 252–253). Der Brief Roswithas jedoch, in dem sie Innstetten um Rollo bittet, ist deutlich im Hinblick auf eine Vorbildfunktion der treuen Hausangestellten und Freundin inszeniert (01:48:16–01:49:35). Die Kamera ruht lange auf den beiden Männern, die standesgemäß mit ihren Zylindern, Krawatten und Stöcken wie Abziehbilder nebeneinander auf der Bank sitzen und den Worten Roswithas nachspüren. Wüllersdorfs Fazit wird sehr langsam und betont gesprochen: »Tja, die ist uns über.« Innstetten wird nun in Nah- bzw. Großaufnahme mit steifem Kragen, Hut und tiefen Falten gezeigt: »Wüllersdorf, mein Leben ist verpfuscht« (01:49:33). Der Schnitt nach Hohen-Cremmen zeigt Effi und ihren Vater im Kahn auf dem See, der Vater rudert nun und als Effi (zurück am Ufer) schaukeln will, bricht sie zusammen. Luderer verkürzt und dramatisiert das Ende, hebt noch einmal Gieshübler als »Genie« (01:50:43) hervor, den Apotheker und Menschen, der auch Künstler bei sich beherbergt, aber er streicht Effis Monolog am Sterbebett. Effis Sterben wird bündig gestaltet, denn der Fokus der Adaption sollte auf der Lebenslust der Protagonistin liegen, die die Effi Angelika Domröses vor allem bestimmt. Effi stirbt versöhnt ohne Schuldbekenntnis und ohne Innstetten zu vergeben. Trotz einer leicht melodramatisch musikalisch unterlegten Überblendung von Effis Gesicht zu ihrem Grabstein, der entsprechend der Vorlage ihren Mädchennamen trägt, liegt die Gewichtung

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dieser sonst eng an der Vorlage gehaltenen Adaption deutlich bei einer kritischen Auseinandersetzung mit einem überholten Gesellschaftsbild. Die Katastrophe des zwanghaften Handelns entsprechend gesellschaftlicher Normen wird in dieser relativ konventionell gestalteten DDR-Adaption eindeutig kommuniziert. Im Fernsehen der DDR und der BRD wurde der Film zum oft gezeigten Dauererfolg.

Fontane Effi Briest (1972–1974) BRD, Tango-Film, 35 mm, 140 Minuten, schwarzweiß Drehbuch und Regie: Rainer Werner Fassbinder Script: Ingrid Caven, Fritz Müller-Scherz Kamera: Dietrich Lohmann (1972), Jürgen Jürges (1973), Standfotos: Peter Gauhe Darsteller*innen: Hanna Schygulla (Effi Briest), Wolfgang Schenck (Innstetten), Ulli Lommel (Major Crampas), Lilo Pempeit (Frau Briest), Heribert Steinmetz (Herr Briest), Ursula Strätz (Roswitha), Irm Hermann (Johanna), Karlheinz Böhm (Wüllersdorf), Hark Bohm (Gieshübler), Rudolf Lenz (Rummschüttel), Barbara Valentin (Marietta Trippelli), Karl Scheydt (Kruse), Theo Tecklenburg (Niemeyer), Barbara Lass (Frau Kruse), Eva Mattes (Bertha), Andrea Schober (Annie), Anndorthe Braker (Frau Paaschen), Peter Gauhe (Dagobert) u. a. Erzählerstimme: Rainer Werner Fassbinder Synchronstimmen: Wolfgang Hess (für Ulli Lommel), Kurt Raab (für Hark Bohm), Renate Küster (für Ursula Strätz), Fred Marie (für Herbert Steinmetz), Rosemarie Fendel (für Lilo Pempeit), Margit Carstensen (für Irm Hermann), Eva Mattes (für Andrea Schober) u. a. Fassbinder, innovativer, manisch produktiver Filmemacher und enfant terrible des Neuen Deutschen Films, hatte sich schon in seiner »antiteater«-Arbeit »gegen den Staat« (Fassbinder 2004) engagiert, der ihm Synonym für repressive, post-faschistische und kriegstreiberische Strukturen war. In einer Zeit der radikalen Erneuerung der Kinokultur im Zuge des Oberhausener Manifests spielte Fassbinder eine zentrale Rolle in der Realisierung eines innovativen und künstlerisch ernstzunehmenden deutschen Films vor allem der 1970er Jahre bis zu seinem frühen Tod 1982. Fassbinder, dessen »persönliche Interessen mehr [...] bei den literarischen Themen oder solchen, die mit Kinoerfahrung arbeiten« (Fassbinder, zit. nach Spaich 1992, 342), lagen, bezeichnete Fontane

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Effi Briest als für ihn selbst äußerst wichtigen Film. Er entwickelt in diesem Projekt zusammen mit seinem Team eine Filmsprache, die – im Kontext seiner Bewunderung für Hollywood-Filme (wie etwa die des Emigranten Detlef Sierk/Douglas Sirk), die Wahrnehmung des Publikums bis in die Kamerabewegungen mitdenken (Elsaesser 2001, 87–88) sowie für Godard und die französische nouvelle vague – den literarischen Text und die Möglichkeiten seiner Umsetzung im Medium Film als Kunst auf ganz eigene Weise auszuloten suchte. Fassbinder wandte sich wiederholt literarischen Vorlagen zu, wie etwa in seiner Marieluise-Fleißer-Adaption Pioniere in Ingolstadt (1971). Der kurz vor Fontane Effi Briest abgedrehte Händler der vier Jahreszeiten (1971) markiert eine Wende im Schaffen Fassbinders hin zu (auf den ersten Blick) einfacher erzählten Geschichten menschlichen Handelns (Töteberg 1990, 177). Der ursprüngliche Titel des Händler der vier Jahreszeiten-Films war »Vieles verletzt – manches tötet« und bezeichnet ein Thema, das Fassbinder in Fontane Effi Briest fortführt: die herrschende Ordnung und die Konsequenzen des Ausschlusses derjenigen, die dem Regelsystem zuwiderhandeln. Fassbinder, der oft einen Film in weniger als zwei Wochen abdrehte und für seine rastlose Arbeitswut bekannt war, plante für seine Effi Briest-Adaption sechzig Drehtage ein, was die Bedeutung des Projekts für den Regisseur und Drehbuchautor unterstreicht. Die Dreharbeiten wurden aber durch eine Erkrankung Wolfgang Schencks verzögert. Als nach einem halben Jahr die Produktion weitergehen sollte, war der Kameramann Dietrich Lohmann anderweitig verpflichtet und musste durch Jürgen Jürges ersetzt werden. Die stilistische Kontinuität stellte eine weitere Herausforderung dar, wurde aber durch Jürges’ sensible Anpassung seines Bildschaffens und die Aufmerksamkeit Fassbinders zusammen mit seinen Regie-Assistenten Fritz Müller-Scherz und dem APO-Aktivisten mit Hippieglamour, Rainer Langhans, weitgehend gewährleistet (Spaich 1992, 343). Die Finanzierung des Films gestaltete sich schwierig, da neben der vom Innenministerium erhaltenen ›Spielfilmprämie‹ von 250.000 DM keine Gelder zur Verfügung standen. Die für Literaturverfilmungen der 1970er Jahre meist übliche Teilfinanzierung durch die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender ließ sich in diesem Fall nicht umsetzen. Die ARD hatte bereits Wolfgang Luderers Effi Briest-Adaption gekauft, das ZDF insistierte auf einer Kollaboration Fassbinders mit einer »Auftragsfirma« sowie auf einem Farbfilm

(Töteberg 1990, 186) – für Fassbinder inakzeptable Forderungen. Er finanzierte den Film mit 500.000 DM selbst mit, leistete sich aber gern diesen »Luxus«, wie er vor den Dreharbeiten zugab (in Brocher 1972; Fassbinder 2004, 246; Töteberg 1990, 186). 1973 sagte Fassbinder: »Es gibt wichtige Filme, nämlich die, die gegen bestimmte Widrigkeiten durchgekämpft worden sind. In dieser Reihe ist Fontanes Effi Briest besonders wichtig. Ich wollte den Film damals in Schwarzweiß machen, und keiner wollte mir dafür eine müde Mark geben. Schwarzweißfilm wollte keiner. Da habe ich gesagt, den mache ich trotzdem und lasse es darauf ankommen. So etwas hat für mich eine Wertigkeit, eine ganz persönliche« (Brocher 1973).

Die Dreharbeiten fanden zwischen September 1972 und November 1973 in München, Wien, Ærøskøbing (DK), Schloss Bredeneck, Neustadt und Brodau in Schleswig-Holstein (filmportal.de) statt. Am 28. Juni 1974 feierte der Film bei den Internationalen Filmfestspielen in Berlin Premiere und wurde für den Goldenen Bären nominiert. Als Adaption, die ab dem 5. Juli 1974 in westdeutschen Kinos zum unerwarteten Publikumsmagneten wurde, ist Fontane Effi Briest ein komplexes Gebilde aus Narrativen, die Fontanes Text in seiner Vielschichtigkeit ausloten, aber dennoch einen klaren Leitgedanken erkennen lassen. Der Film beginnt gemäß dem Drehbuch (Fassbinder 1990, 99–174) mit schwarzer Schrift auf weißem Grund. Der gesamte Titel lautet: »Fontane Effi Briest oder Viele, die eine Ahnung haben von ihren Möglichkeiten und Bedürfnissen und dennoch das herrschende System in ihrem Kopf akzeptieren durch ihre Taten und es somit festigen und durchaus bestätigen«. Schon der Titel verdeutlicht den Fokus dieser Verfilmung, der nicht nur die »Fontanesche Weltsicht auf ein einziges Spektrum« (Schmid 1989, 126) einengt, sondern die Skepsis Fontanes gegenüber der Möglichkeit einer Verwirklichung des Selbst im Kontext gesellschaftlicher Normen facettenreich radikalisiert und letztlich als Utopie verwirft (Lohmeier 1999, 233–234). Wie in den meisten Filmen Fassbinders geht es auch hier um die Frage: Was geschieht mit Menschen, einer Ehe, einer Familie, die innerhalb eines herrschenden repressiven Systems agieren und ihr Verhalten gemäß der vorgegebenen Norm meinen abgleichen zu müssen? Fassbinder lotet das System, vom »Angstapparat aus Kalkül« (157) bis zum »tyrannisierenden Gesellschafts-Etwas« (278), in einer differenzierten und

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kompromisslosen Ästhetik aus, die ihren thematischen Fokus in der Normfrage (Schwab 2006, 301) findet, der wiederum in der kinematographischen Umsetzung reflektiert wird. Daguerreotypen – frühe Fotografien, deren Abbilder auf durch zu Spiegeln polierten versilberten Kupferplatten nach längeren Belichtungszeiten entstanden – bilden den filmästhetischen Ausgangspunkt dieser Adaption (vgl. 00:05:53–00:06:24). Wie ein Daguerreotyp ist die Adaption eine Art Spiegelung und doch immer auch ein ›seitenverkehrtes Abbild‹ der literarischen Vorlage. Dies thematisiert Fassbinder nicht nur durch oftmals im mise-en-scène eingesetzte Spiegel, sondern auch durch die spezifische Lichtgestaltung, Farbgebung sowie durch die Synchronisation der meisten Figuren, die wiederum eine Verdoppelung und Abbild des Lebendigen (in diesem Fall der menschlichen Stimme) ist. Fassbinders Adaption verweist so auf den foto- bzw. filmhistorischen Ausgangspunkt und gleichzeitig auf den Kern des Narrativs. Durch die spezifische Lichtgestaltung, die Gezeigtes oft kontrastarm mit hohem Grauanteil auf weißem Hintergrund erscheinen lässt, entsteht eine Ästhetik, die das chromatische Medium Film mit dem monochromatischen gedruckten Text verschmelzen lässt (Elsaesser 2001, 448; Webber 2017, 29), aber auch die Farblosigkeit und Starrheit der Gesellschaft widerspiegelt. Die Thematik sollte sich nicht nur in der Figurenführung, sondern auch in der Materialität des Films ausdrücken, der stark stilisiert und geradezu »hermetisch« wirken sollte, wie Fassbinder in seinem Interview mit Tony Rayns erklärte (Rayns 2017, 31). Weißblenden »markieren Kapitel« (Spaich 1992, 345) und Zwischentitel oder »Inserts«, wie sie im Drehbuch genannt werden, unterstreichen die Textnähe des Films sowie die Bedeutung der Literatur für die Filmgeschichte. Man sollte »an dem fertigen Film ganz klar merken, dass das ein Roman ist und dass an dem Roman nicht das Wichtige ist, dass er eine Geschichte erzählt, sondern wie er sie erzählt. [...] Es sollte immer spürbar sein, dass das eine von jemand erzählte Geschichte ist. Wie und warum die Geschichte so erzählt worden ist, muss sich durch den Film übertragen« (Fassbinder im Interview; Brocher 1972).

Das Abblenden in papierenes Weiß erinnert an das Blättern in einer Kladde und unterstreicht das Fragmentarische einer Adaption. Auch die Zwischentitel oder Text-Inserts lehnen sich sowohl an den literari-

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schen Text als Zitat als auch an die frühe Filmgeschichte, d. h. den Stummfilm an und lenken gleichzeitig die Aufmerksamkeit der Zuschauer*innen auf Motive des Romans. Alle Inserts – beginnend mit dem ironischbitteren Auftakt »Eine Geschichte mit Entsagung ist nie schlimm« (00:03:01) – werden gemäß des Drehbuchs mit »Aufblende. Schwarze Schrift (Fraktur) auf weißem Grund. Abblende« (Fassbinder 1990, 101) gestaltet. »Eine Art Angstapparat aus Kalkül« (157) erscheint sogar zweimal als Zwischentitel (00:51:53 und 01:00:10) und Fassbinder identifiziert und betont wiederum durch eine Verdoppelung den vernichtenden Kern der gesellschaftlichen Konformierungsmechanismen. Der Zoom hin zu einer leicht verschwommenen Nahaufnahme Effis, die sich im Daguerreotyp zur Weißblende auflöst (00:51:57), leitet die »Angstapparat«-Inserts ein. Fassbinder übernimmt die Rolle des auktorialen Erzählers (s. Kap. 36) und unterstreicht hiermit seine Kontrolle über die Transposition des literarischen Texts auf die Kinoleinwand. Seine ›Stimme aus dem Off‹ gibt als filmische Erzählinstanz Beschreibungen, Dialoge und innere Monologe wieder, der Akt des Lesens und Sprechens geht so im Film eine Überblendung ein. Fassbinder liest aus dem Roman und seine relativ monotone Stimme ergänzt das Narrativ, aber widerspricht oder reibt sich auch an dem Gezeigten. Das Drehbuch beginnt mit der Regieanweisung: »Von Weiß blendet das Haus auf Total. Es darf keineswegs so aussehen wie das Haus, das der Erzähler beschreibt. Lediglich eine Ähnlichkeit sollte bleiben. Das Haus muss schon einen Moment im Bild sein, als der Erzähler beginnt.« Der literarische Text steht also auditiv ebenso im Vordergrund wie die visuelle Umsetzung des Romans, nur für einige Sekunden wird das Medium Film priorisiert. Die beiden Ausdrucksmittel stehen in Konkurrenz oder sogar im Gegensatz zueinander, denn nicht nur an dieser Stelle stimmt das Vorgelesene nicht mit dem Gezeigten im Film überein. Auch Verlangsamungen oder gar Standbilder, die den Betrachtenden die Möglichkeit geben, das Bild im Detail wahrzunehmen und seine Unstimmigkeit zu begreifen, ermöglichen kritische Distanz des Publikums und kommunizieren doch auch direkt, dass Mensch und System nicht im Einklang sind, was nicht nur das Narrativ in Frage stellt, sondern auch die Identität der gezeigten Individuen – mit potenziell katastrophalem Ausgang. Fassbinder und sein Team arbeiten mit einer Reihe von Verfremdungseffekten, die sicherlich auch von Bertolt Brechts ›epischem Theater‹ inspiriert worden

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sind (u. a. Kuhn 1985): die Unterbrechung des Filmnarrativs durch ›Inserts‹ und Weißblenden, die unzuverlässige Erzählinstanz, die distanzierte Haltung der Schauspieler bzw. die ›anti-realistische‹ Schauspielerführung, die Positionierung der Figuren zueinander und im Raum sowie die Synchronisation der einzelnen Schauspieler. Nur Hanna Schygulla (Effi), Wolfgang Schenck (Innstetten) und Karlheinz Böhm (Wüllersdorf) sprechen sich selbst. Oft ist der Blick verstellt, Bildkompositionen werden durch Barrieren, Trennlinien und Fragmentierungen bestimmt. Durch diese das Publikum distanzierenden Inszenierungstechniken wird die literarische Vorlage in ihrer zeitlich entrückten Andersartigkeit zugelassen und gleichzeitig nicht nur das kritische Potenzial des Publikums in Anbetracht der Ereignisse, sondern auch das eigene Sehen als Bedürfnis gesteigert, etwa anhand eines Spitzenvorhangs, durch den Effi fragmentiert, verschleiert und doch sichtbar wird (00:58:10 und 01:02:50). Der Film vermittelt die Tragik dieses kurzen Lebens und rechnet mit Blendwerk und Konvention ab, ohne eine gesellschaftliche oder individualistische Selbstverwirklichungsutopie zu suggerieren. Die Choreographie und Positionierung der Figuren im Innen- und Außenraum, sowie auch zueinander, betont die gesellschaftliche Disziplinierung, der besonders Effi, aber auch alle anderen ausgesetzt sind. Unter diesen Umständen kann die Entwicklung einer vernünftigen Identität noch nicht einmal als Traumbild bestehen. Die Auslassungen geben hier Aufschluss: Das in allen anderen Adaptionen als bedeutungsvoll inszenierte Gespräch zwischen Innstetten und Wüllersdorf über die gefundenen Liebesbriefe und die möglichen Konsequenzen des Fehltritts bzw. über das »tyrannisierende Gesellschafts-Etwas« (278), das den »Götzendienst« (280) einfordert und weder Vernunft noch Liebe, sondern nur gesellschaftliche Norm und »Ehrenkultus« (280) gelten lässt, wird hier teils aus dem Off gelesen (01:36:54–01:44:12), während man schon im Zug nach Kessin sitzt und schließlich das Duell seinen Lauf nimmt. Das sonst als möglicher Wendepunkt markierte Gespräch wird von Fassbinder so letztlich als belangloses Gefasel abgetan, denn die Gefühle, die dann doch dem Götzen geopfert werden, sind es nicht wert, auch noch bildlich affektiv dargestellt zu werden. Die »Utopie einer autonomen Entscheidung des Subjekts« wird zudem durch Spiegelbilder als »leere[r] Schein« entlarvt (Lohmeier 1999, 236). Diese längste aus dem Buch ununterbrochen übernommene, aber eben vornehmlich akustisch

wahrnehmbare Szene endet optisch mit einer Nahaufnahme einer Pistole (01:44:13), die abgedrückt wird. Mit fallendem Schuss, der mit einem auditiv-spektakulären Schlusspunkt das Gespräch zwischen Innstetten und Wüllersdorf beendet, fällt auch schon ein Mann am Strand (01:44:16). Vier Herren mit Zylindern stehen dabei, austauschbare Marionetten, man blickt aus der Distanz auf das Geschehen. Visuell verbindet Fassbinder hier nicht nur die getroffene Entscheidung mit der Konsequenz des ›Götzendienstes‹, sondern durch die Wahl des Drehortes – dem Strand als Ort der Annäherung zwischen Crampas und Effi – implizit auch das Gespräch über den Machtapparat mit der Konsequenz der Nichtkonformität. Die Wertung der Ereignisse folgt im Zwischentitel: »Schuld verlangt Sühne; das hat einen Sinn. Aber Verjährung ist etwas Halbes, etwas Schreckliches.« Hier greift Fassbinder in Fontanes Text ein, dem er sonst, auch in Bezug auf die Chronologie des Geschehens, trotz Kürzungen streng folgt. Er ersetzt Fontanes »etwas Schwächliches« (286) mit »Schreckliches« (gemäß Drehbuch; 01:45:51) und kommentiert so nicht nur Crampas’ unnötigen Tod, sondern bereitet wertend auf das Kommende in dem nun eingeleiteten letzten Teil des Films vor. Normative Strukturen und repressive Moral (s. Kap. 26), die zur Ausgrenzung Einzelner führen (s. Kap. 46), sind wiederholt zum zentralen Thema in Fassbinders Filmen geworden (vgl. Katzelmacher, Warnung vor einer heiligen Nutte, Angst essen Seele auf etc.), aber seine Kritik gilt nicht nur dem »Angstapparat«, sondern auch denjenigen, die gegen die ihnen oktroyierte Opferrolle nicht ankämpfen (Rayns 2017, 22) und in einem Zustand masochistischer Willfährigkeit (Carter 2017, 25) und Entmündigung etwa in einer Vernunftehe verharren. Fassbinder, der die deutsche Geschichte anhand von »Frauenschicksalen« (Spaich 1992, 321; Elsaesser 2001, 118–119, 348) erzählen wollte und dessen Filme meist um eine zentrale Frauenfigur komponiert sind, sagte im Interview ([1981] Fassbinder 2004, 570), dass »das erzwungene Verhalten der Frauen in dieser Gesellschaft, mehr über die Gesellschaft sagt, als das Verhalten der Männer, die gern so leben als wäre alles in Ordnung«, und verdeutlicht die Machtstrukturen sowie deren Auswirkungen durch die Positionierung der Figuren im Raum und zueinander. Effis ›Wollen‹ hängt beinahe vollkommen von den Wünschen anderer ab – ihrer Eltern, vor allem Luise von Briest, die hier von Fassbinders eigener Mutter gespielt wird, sowie natürlich der Männer, insbesondere Innstetten, aber auch Crampas. Effis Einschätzung als

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Frau bleibt oberflächlich und wird durch die Geburt einer Tochter anstatt eines Stammhalters noch mehr unterminiert. Als Mutter tritt Effi kaum in Erscheinung. Das zentrale, sozusagen systemkritische Gespräch über den ›Angstapparat‹ zwischen Effi und Crampas (153–156) am Strand inszeniert Fassbinder betont offen in der Natur, das weite Meer im Hintergrund, ohne Zäune, Netze oder den Blick verstellende Gitter im Vordergrund (00:49:14–00:51:52). Hanna Schygulla, die nach eigenen Aussagen sowohl mit Effis monotoner Diktion als auch mit Fassbinders diktatorischem Regiestil Schwierigkeiten hatte, erkannte in ihrer kontrollierten, geradezu im Korsett befindlichen Diktion die Möglichkeit, die inhärente Spannung der in soziale Konventionen eingegliederten jungen Frau voller Lebenslust und sexueller Bedürfnisse zu verdeutlichen (Carter 2017, 25; s. Kap. 24). Gerade in der Strandszene, die von einer relativen Natürlichkeit ist, vibriert die scharfe Kritik an der bürgerlichen Sexualpolitik mit, doch auch in der weiblichen Hauptfigur, die sich letztlich dem System unterwirft und es so perpetuiert. Wie sehr sie selbst zur Komplizin im Machtapparat der Disziplinargesellschaft (Foucault) geworden ist, dessen System auch und gerade durch die »Mittäterschaft« (Thürmer-Rohr 1987, 38–39) Einzelner legitimiert wird, verdeutlicht Effis tadelnde Reaktion auf Roswithas Flirten mit dem verheirateten Kruse kurz nach ihrem eigenen tête-à-tête mit Crampas im Film. Die Regieanweisung »Roswitha nah. Sie schaut Effi nur an. Schwarzblende« (Fassbinder 1990, 141), die im Film umgesetzt ist (01:15:33), drückt in aller Deutlichkeit den anerzogenen konformistischen Verhaltensimpuls aus und suggeriert die Unfähigkeit der Protagonistin, außerhalb dieser »Normenwelt« (Schwab 2006, 302) zu (über)leben. Das in der literarischen Vorlage vertrauensvolle Gespräch zwischen den zwei Frauen (207–209) wird bei Fassbinder zum Ausdruck der Macht- und Klassenverhältnisse und anhand der Nahaufnahme Roswithas zur kritischen Reflexion der willigen Eingliederung Effis in den ›Apparat‹. Die Nahaufnahme von Roswithas tränennassem Gesicht (01:12:11–01:12:23) im Kontrast zu Effis distanzierter Haltung unterstreicht Effis Versagen, nicht in Anbetracht ihres Ehebruchs, sondern weil sie – deutlich von der Kamera wie sonst Innstetten in Untersicht und naher bzw. amerikanischer Einstellung eingefangen – die Position als Richter und Erzieher einnimmt (01:12:00–01:12:10). Ihr sozialer Status wird so als Blendwerk entlarvt und die damit einhergehende Urteilskraft als unmoralisch entwertet. Jede Einstellung wird von Fassbinder akribisch

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festgelegt, kein Motiv ist beliebig, denn das Sehen, der Blick der Betrachtenden, ist es für den Regisseur ebenso wenig. Eines der zentralen Motive im Film ist der Spiegel, der nicht nur als Dingsymbol fungiert, sondern den gesamten Film strukturiert sowie Fassbinders Interpretation der literarischen Vorlage verdeutlicht. Vor allem Effis Spiegelbild wirkt als Trugschluss und bleibt eitle Oberfläche, sie erscheint klein (die »[entzückende/reizende] kleine Frau« bei Fontane; 170 und 192), angepasst und doch abgetrennt. Rollenkonformes Verhalten lässt Identitätsfindung der jungen Frau unmöglich werden. Kommunikation kommt kaum zustande, in allen Facetten dieses Filmwerks werden das »herrschende System« und eine klar in Gegensatzpaare gegliederte Moral reflektiert. Auch Innstettens Verhalten – etwa zum Hochzeitstag, als er besonders liebenswürdig ist – wird von Effi kommentiert (»Ach Geert, ich kenne ich dich ja gar nicht wieder«, 01:30:18) und durch eine Nahaufnahme der Maske der im Zimmer stehenden Skulptur umgehend als unecht oder zumindest janusgesichtig entlarvt (01:30:39). Diskontinuität, Ambiguität und Effis »beinah« (331) werden bei Fassbinder zur fokussierten Darstellung beschnittener, eingegrenzter Individualität im Kontext des »uns tyrannisierende[n] Gesellschafts-Etwas«. Die bei Fontane angelegte Notwendigkeit der intakten Fassade als potenziell destruktives Element (s. Kap. 41), aus dem es kein Entrinnen gibt, ist auch Fassbinders Angelpunkt, aber deutlich auf die Mechanismen des Apparats ausgerichtet. Er wählt aus, greift aber sonst kaum in den Fontane-Text ein, bis auf wenige Worte, deren Veränderung aber den Fokus seines Films offensichtlich werden lässt. So wird auch Crampas’ Erklärung »dann ist das Haus allein und unbewohnt« (156) im Kontext von Innstettens »Erziehen durch Spuk« zu »unbewacht« (00:51:15; Fassbinder 1990, 128) und dadurch das Agens Einzelner betont. So streicht Fassbinder auch die Passage zu Effis Gefühl, eine »Gefangene« (198) zu sein, und damit diesen wichtigen Hinweis auf ihr Bedürfnis nach Selbstbestimmung, sowie ihre »Beängstigungen« und »Schatten« (262), die im Roman deutlich werden. Unproduktives Selbstmitleid langweilt den Regisseur, dessen Augenmerk den jeweils aktiv an einer Situation Beteiligten gilt. Ihre Selbstkritik zu Beginn des 18. Kapitels in Anbetracht der Ausritte mit Crampas – »Effi war unzufrieden mit sich...« (166) – wird per Erzählerstimme aus dem Off ins Gegenteil gewandt: »Effi war zufrieden mit sich...« (00:55:25; vgl. auch Fassbinder 1990, 130). Effis Auseinandersetzung mit ihrer

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»Schuld« und das Selbstbekenntnis »Ja, Angst quält mich und dazu Scham über mein Lügenspiel« (258) wird von Fassbinder als Erzähler mit einem betont gesprochenen »nur« ergänzt: »[...] dazu Scham nur über mein Lügenspiel« (01:27:19). Gemäß der Regieanweisung bleibt die Kamera »langsam stehen. Effi entfernt sich von der Kamera bis in die Totale« (Fassbinder 1990, 148). Auch im Folgenden widerspricht der gelesene Text – »sie legte den Kopf in ihre Arme und weinte bitterlich« – der Visualisierung, denn Effi geht bei starkem Regen dunkel gekleidet mit Schirm im Park davon, wir sehen sie von hinten; sie geht aufrecht und erscheint weder verängstigt noch zutiefst betrübt (01:27:39). Auch hier wird Effi nicht zum Opfer stilisiert. Eine Hinzufügung durch den Regisseur ist der am Bahnhof stattfindende Abschied von Effis Vetter Dagobert (00:06:27), der dadurch implizit als potenziell alternativer Lebenspartner bzw. Lebensentwurf aufgewertet wird (Schmid 1989, 129). Fassbinders meisterhafte Verfilmung, die die Tragik des zum Scheitern verurteilten Lebens oder individualistischen Glückstrebens im Kontext repressiver (protofaschistischer) gesellschaftlicher Normen thematisiert, entstand in einer Zeit der Radikalisierung der politischen Opposition bzw. der Inhaftierung der ersten RAF-Generation um Andreas Baader und Ulrike Meinhof. Nach Jahren des politischen ›Unbehagens‹ gegenüber der ›Überflussgesellschaft‹ (Marcuse) und ihrer ›verkrusteten‹ Strukturen sowie des Kampfs um Liberalisierung, auch und gerade durch Opposition der Nachkriegsgeneration, wurde die BRD Anfang der 1970er Jahre durch RAF-Anschläge und Verhaftungen von Linksterroristen, Wirtschaftskrise, Protestaktionen und gewaltsam niedergeschlagene Streiks geprägt. Fassbinder richtet sein Augenmerk auf die ›autoritären Persönlichkeiten‹ (Adorno/ Horkheimer) bzw. das Individuum und stellt die Möglichkeit der Selbstbehauptung und Selbstverwirklichung im Kontext repressiver Strukturen sowie die Hoffnung auf Veränderung im Zuge einer kritischen Auseinandersetzung mit dem reaktionären System in Frage. Gleichzeitig betont Fontane Effi Briest jedoch dezidiert die Bedeutung der (kritischen) Betrachtung und Meinungsbildung. Fassbinder will nicht nacherzählen, sondern das literarische Werk im Film der 1970er Jahre neu denken und als Kunstwerk schaffen. Sein Fokus (Joachim Biener kritisiert ihn als »verengt«; vgl. FHb, 1000) ist die künstlerische Verarbeitung einer Zeit der Desillusionierung, als die kreativen Utopien der 1968er-Bewegung in Gewalt oder Resignation zu versumpfen schienen. Die Erfahrung der

Macht des herrschenden Systems auch und gerade in seiner Starrheit zeigte, dass Fontanes Roman nichts von seiner Aktualität eingebüßt hatte. Fassbinders Film bietet durch seine ureigene Ästhetik eine Art »entautomatisierenden Blick«, der Fontanes Konzept jedoch nicht nur adaptiert, sondern radikalisiert (Fontane 1853; Schwab 2006, 303–304). Der Film war »überraschend publikumswirksam« (Helmut Schmitz, Frankfurter Rundschau, 4.10.1974) und brachte Fassbinder das erhoffte Ansehen in Deutschland, obgleich sein Ruf als »Bürgerschreck« durch die Auseinandersetzung mit dem Kanon der deutschen Literatur nicht maßgeblich gemildert wurde. Der Film ist in vielen Schulen Teil des Lehrplans und wird auch heute noch als »geniale Verfilmung« (Greiner 2009) anerkannt.

Effi Briest (2007–2009) Deutschland, Constantin Film, 35 mm, 117 Minuten, Farbe Regie: Hermine Huntgeburth Script/Drehbuch: Nina Kötter und Volker Einrauch Kamera: Martin Langer (Leitung), Daniel Bussmann, Donat Schilling, u. a. Darsteller*innen: Julia Jentsch (Effi), Sebastian Koch (Innstetten), Mišel Matičević (Crampas), Juliane Köhler (Luise von Briest), Thomas Thieme (Herr von Briest), Barbara Auer (Johanna), Margarita Broich (Roswitha), Rüdiger Vogler (Gieshübler), André Hennicke (Wüllersdorf), Sunnyi Melles (Sidonie von Grasenabb) u. a. Der im Spätsommer und Herbst 2007 in Berlin und Umgebung sowie an der Ostseeküste in Lettland und in Polen gedrehte Kostümfilm feierte bei der Berlinale (IFF) am 9. Februar 2009 Premiere und lief anschließend deutschlandweit im Kino. Die weitreichende finanzielle Unterstützung dieses Filmprojekts u. a. durch das Medienboard Berlin-Brandenburg, die Filmförderung Schleswig-Holstein, die Filmförderungsanstalt (FFA) sowie den Deutschen Filmförderfonds (DFFF) zeigt die kulturelle und medienpolitische Bedeutung, die einer Fontane-Adaption für Kino und Fernsehen auch noch im 21. Jahrhundert beigemessen wird. Auch diese jüngste Verfilmung beginnt mit Effi als »Tochter der Luft«, doch Hermine Huntgeburth erzählt Fontanes Roman als ›coming-of-age‹ Geschichte, denn es geht hier in erster Linie um Effi, die von einem pubertierenden Mädchen zur mündigen und

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selbständigen Frau heranwächst. Es ist also eine Art Emanzipationsnarrativ, das die sexuelle Befreiung mit einschließt, aber nicht zentral werden lässt (s. Kap. 43). Sexuelle Erfahrungen sind Teil des Erwachsenwerdens – beginnend mit der schmerzhaften und beängstigenden ›Entjungferung‹ (00:16:58) durch den Baron von Innstetten, der sich gefühllos zielstrebig Effis Körper bedient, für den er schließlich seinen Namen, gesellschaftliche Position und finanzielle Sicherheit per Eheschließung zur Verfügung gestellt hat – wiederum eine Reflexion von Georg Simmels Begriff der »Geldheirat«, die hier als unentrinnbares, der Prostitution nicht unähnliches Tauschgeschäft präsentiert wird (Simmel 1900/89, 520–523) sowie von August Bebels Einschätzung, dass die selbständig arbeitende Prostituierte gegenüber der rechtlosen Ehefrau im Vorteil wäre, da sie einen Kunden wenigstens zurückweisen könnte (Bebel 1879/1911, 95–96). Der sportlich-stattliche Major von Crampas hingegen ist der zärtliche Verführer, der »weiß, was Frauen glücklich macht« (Greiner 2009). Bei ihm schreit Effi zwar auch, aber diesmal vor Lust (01:02:30). Deutlich markiert der Film die konventionelle Ehe als Verirrung, denn schon Effis Mutter liebte zwar Innstetten, heiratete aber Briest aus Vernunft, »damit du hier aufwachsen kannst« (00:10:59), wie sie Effi erklärt. Gesellschaftlicher Status und finanzielle Sicherheit sind die treibenden Faktoren, die Stabilität suggerieren und die »Geldheirat« auch noch eine Generation später als bewährtes Modell der Tochter empfehlen. Effi soll den Heiratsantrag Innstettens annehmen, denn schließlich geht es um Vernunft und nicht um Liebe. Die Konsequenzen einer solchen Entscheidung werden in dieser Adaption unmissverständlich kommuniziert. Der gekonnt in Szene gesetzte Kostümfilm zaubert ein durchaus realistisches Kessin (s. Kap. 27) auf die Kinoleinwand, es ist ein Kaff in der Provinz mit ungepflasterten Straßen, bei Regen sind die Röcke der Frauen ständig mit Matsch bespritzt, die Schuhe versaut (z. B. 00:31:32). Effi, die als naiv, aber wiederholt auch in ihrer Menschlichkeit gekennzeichnet wird, leidet in ihrer Ehe mit dem Macho und Karrieristen Innstetten, der hier von Anbeginn »ohne rechte Liebe« ist. Effis jugendlicher Lebenshunger kontrastiert die eitle Steifheit Innstettens. Dingsymbole dienen wie auch schon in der Gründgens-Adaption der Vermittlung von Gefühlszuständen, verweisen aber auch auf die starren Gesellschaftsstrukturen. Huntgeburths konventionelles Erzählkino reflektiert Effi im Kontext der von Fontane im 20. Kapitel ausgedrückten Wahrnehmung der jungen Ehefrau und Mutter, eine »Ge-

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fangene« zu sein, die »nicht mehr heraus könne« (198). Doch im Gegensatz zur literarischen Vorlage, in der Effi die »starke Natur« sowie »die Nachhaltigkeit« (199) fehlt, befreit sich die junge Frau in dieser Verfilmung und lebt. Natur (Naturräume, aber auch der nackte Körper) wird als Gegenpol zur gesellschaftlichen Existenz (Foucault) inszeniert. Der weibliche Körper signalisiert Befreiung (Crampas: »Das ist Freiheit!«; 01:03:10) durch einen Orgasmus beim ersten Sex mit Crampas, lange bevor Selbstbestimmung dieser nun zur Frau gewordenen Effi auch ihren Lebensentwurf bestimmt, denn ihr Körper existiert hier für einen Moment außerhalb gesellschaftlicher Zwänge und vorgefasster Rollenmodelle. Nachdem sie von Mann und Eltern verstoßen ist, wird Effi nicht wie in den vorangegangenen Verfilmungen als Opfer markiert, sondern die strafende Aktion der ›autoritären Persönlichkeiten‹ wird per Schwarzblende mit der Aktion der jungen Frau und Identifikationsfigur verknüpft. Effi schiebt einen Wagen durch eine Bibliothek, nimmt Bücher aus Regalen, sie arbeitet (01:34:29). Sie hat sich in einem Berliner Hinterhaus eingerichtet, Roswitha ist bei ihr. Nach Jahren trifft sich Effi wieder mit ihren Eltern, in einem Berliner Café (01:43:48–01:45:42). Sie erzählen Effi von Innstetten, dem seine Karriere nichts mehr bedeutet. Effi zeigt Mitleid: »Der Arme, das muss schwer für ihn sein. Er hat ja auch Gutes in sich.« Im Gespräch dieser Schluss-Sequenz mit ihren Eltern wird das tentative Schuldeingeständnis der Mutter (»Vielleicht war es auch unser Fehler«) sofort in den Kontext gesellschaftlicher Normen und repressiver Erziehung, gerade von Mädchen, gestellt: »Wir hätten von Anfang an strenger zu dir sein müssen. Oder warst du wirklich noch nicht reif für die Ehe?« Und Effi ist deutlich in ihrem Verständnis der Ereignisse sowie in der Schuldzuweisung: »Wovon redest du Mama? Mein Leben wurde ausgelöscht. [...] Dabei hab ich ihn noch nicht mal geliebt. Dass Crampas sterben musste, ist einzig und allein Innstettens Schuld! Und Regierung und Justiz machen sich schuldig, weil sie einen Mord mit zwei Wochen Haft durchgehen lassen.« Vater Briest versucht noch durch seinen den Roman und die Vorfilme abschließenden Leitsatz – »Das ist ein weites Feld. Ein zu weites.« – einzulenken, hat es aber »gründlich satt, den Großinquisitor zu spielen« und will, dass Effi »einfach wieder nach Hause« kommt. Doch Effi nimmt diese Einladung nicht zutiefst dankbar an, um dann auch noch gleich zu sterben. »Haben sich auf einmal eure moralischen Maßstäbe verändert?«, fragt sie ihre Eltern, die sich nun

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auf die Gesellschaft verlassen, die »immer ein Auge zu[drückt], wenn sie will«. Aber Effi »[...] kann es nicht« und geht draußen auch an Innstetten vorbei, der vor einer Kutsche wartet (01:46:05). Mit offenem Schal schreitet Effi zum ersten Mal selbstbewusst in ihr Leben und wird so zur Identifikationsfigur. So banal der Schluss des Films in seinem emanzipatorischen Streben erscheinen mag, so effektiv kommuniziert er Effi als Frau einer neuen Generation. Auch ihre Kleidung unterscheidet sich von der ihrer Mutter, sie trägt kein Korsett, das Kleid fällt locker. Die Schluss-Sequenz löst die Polarität von repressiver, gesellschaftlicher Norm und einer ›vernünftigen‹ Identität (nicht nur ›naturhaft‹, sondern selbstbestimmt) in Haltung und Kleidung Effis auf. Erstmals löst sich das adaptive Narrativ vom unausweichlichen tragischen Ausgang und entlässt die Protagonistin in eine selbstgewählte Freiheit – ein Ende à la Hollywood. Hermine Huntgeburth bricht hier mit den literarischen Konventionen vor allem des 19. Jahrhunderts (s. Kap. 2, 3, 11, 12), in denen Untreue meist mit dem Tod gesühnt wird (u. a. Greenberg 1988), wie es auch Dorothea Keuler in ihrem ereignisreichen Unterhaltungsroman Die wahre Geschichte der Effi B. (1998) schon getan hatte (s. Ende des 2. Teils; s. Kap. 18), und erntete damit reichlich Kritik. Auch Ulrich Greiner (2009) vermisst die Tragik des Romanendes und rügt die »unüberbietbare Eindeutigkeit« des Films, der seines Erachtens die Ambiguitäten und Zwischentöne in Fontanes Roman ignoriert. Huntgeburth reduziert die literarische Vorlage tatsächlich und nutzt sie zur Herrschafts- und Gesellschaftskritik im Kontext eines feministisch geprägten Geschlechterdiskurses (s. Kap. 43). Dies mag als zu »hübsch heute« kritisiert werden, denn diese Effi ist unverstellt Sympathieträgerin und scheint manchem »reibungslos der Gegenwart entstiegen« (Pilz 2009). Doch die Hoffnung auf eine Gesellschaft und Justiz, die die Rechte aller Bürger*innen achtet und schützt, ist als Utopie Fontane, dem Vordenker des 20. Jahrhunderts, durchaus verwandt. Der Rückgriff auf den Freiheitsbegriff des 18. Jahrhunderts in diesem Film, der sich von starren Rollenbildern des 19. und 20. Jahrhunderts verabschieden mag, inszeniert diese Effi mit Hoffnung auf Selbstbestimmung als greifbare Utopie im 21. Jahrhundert. Durch diese Aktualisierung beantwortet der Film nicht nur die Frage Fontanes nach der Möglichkeit des »selbstbestimmten Leben[s] des Individuums« innerhalb einer restriktiven Gesellschaft (Neuhaus 2017, 189; s. Kap. 46), sondern erinnert an Fontanes Realis-

mus-Theorie, in der »freudiges Mitgehen« des Publikums, bzw. der Leser*innen nur durch eine Anpassung an die Wirklichkeit der Rezipient*innen gewährleistet werden kann (Schwab 2006, 242–243). Fontanes Effi und Elisabeth von Ardenne, Fiktion und Realität, Vergangenheit und Gegenwart bilden das Palimpsest dieser Romanadaption. Elisabeth von Ardenne starb trotz ihrer Scheidung, der erzwungenen Trennung von ihren Kindern und ihres Ausschlusses von der ›guten Gesellschaft‹ nicht an gebrochenem Herzen, sondern erst im hohen Alter von 99 Jahren (s. Kap. 9). Sie hatte sich nach der Scheidung eine neue Existenz erarbeitet. Im Elisabeth von Ardenne-Fernsehfilm Die Baronin (1981, Regie: Lutz Büscher) wurde sie im Alter von Marianne Hoppe, der Effi der Gründgens-Adaption, verkörpert. Literatur Die vollständige Liste aller Credits und Produktionsdaten findet sich u. a. auf filmportal.de, der Internet-Plattform zum deutschen Film. Anderson, Paul Irving: The Making of ›Effi Briest‹. Stoffe, Entwürfe, Chronologie. In: FBl 105 (2015), 87–120. Bebel, August: Die Frau und der Sozialismus [1879]. Stuttgart 1911. Biener, Joachim: Fontane in den audiovisuellen Medien. In: FHb, 982–1007. Brocher, Corinna: Die Sachen sind so schwer zu verändern. Interview mit Rainer Werner Fassbinder. In: Stuttgarter Zeitung, 1.12.1972. Brocher, Corinna: Fassbinders Fontane. In: Der Tagesspiegel, 11.2.1973. Budjuhn, Horst: Fontane nannte sie ›Effi Briest‹ – Das Leben der Elisabeth von Ardenne. Berlin 1985. Carter, Erica: The Ladies’ Man. In: Sight and Sound, Mai (2017), 25. Coates, Paul: National Socialism and Literary Adaptation: Gustaf Gründgens’s ›Der Schritt vom Wege‹ and Helmut Käutner’s ›Kleider machen Leute‹. In: German Life and Letters 53/2 (2000), 231–242. Elsaesser, Thomas: Rainer Werner Fassbinder. Amsterdam 2001. Fassbinder, Rainer Werner: Fontane Effi Briest. In: Michael Töteberg (Hg.): Fassbinders Filme 3. Frankfurt a. M. 1990, 97–174. Fassbinder, Rainer Werner: Fassbinder über Fassbinder. In: Robert Fischer (Hg.): Die ungekürzten Interviews. Frankfurt a. M. 2004. Fontane, Theodor: Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848 [1853]. In: Ders.: Werke, Schriften und Briefe. Abt. III, Bd. 1: Aufsätze und Aufzeichnungen. Hg. von Jürgen Kolbe. München 1969. Greenberg, Valerie: The Resistance of Effi Briest: An (Un-) told Tale. PMLA 103, H. 5 (1988), 770–782.

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Christiane Schönfeld

IV Themen, Motive und Symbole

21 Natur-, Jahreszeiten- und Wettersymbolik Wetter Mit relativ wenig Aufwand, so erfährt man aus dem Standardwerk zum Thema, erzielt allein die Einbringung des Wetters in die Erzählprosa des Realismus große Wirkung (Delius 1971, 8). Fontane gehört allerdings zu den Autoren, der bei Naturereignissen, Jahreszeiten- oder Wetterbeschreibungen nicht die großen Register ziehen. Dräuende Gewitter, die Schreckliches erahnen lassen, Wolkenbrüche oder gar Naturkatastrophen mit Symbolcharakter wird man in seinen Romanen nicht finden. Trotzdem oder eben deshalb spielen klimatische oder meteorologische Gegebenheiten eine wichtige Rolle bei der Situierung seiner Romanwelt. Solche Markierungen werden eher subtil gesetzt, scheinen auf den ersten Blick ohne Bedeutung und schaffen gerade dadurch eine vertraute Atmosphäre, die Wirklichkeit verbürgt. Ironischerweise herrscht in Effi Briest immer dann schönes Wetter, wenn einschneidende Veränderungen anstehen. So scheint am Beginn des Romans bei der Beschreibung des Elternhauses der Protagonistin nicht nur die Sonne, sondern sie gestaltet den Raum und füllt ihn mit sinngebenden Vorausweisungen: Es »fiel heller Sonnenschein auf die mittagsstille Dorfstraße«, während dieses Licht »einen breiten Schatten« auf die Gartenseite des Herrenhauses wirft. Dort findet man dann jene »Sonnenuhr«, die schon jetzt im Schatten liegt und am Ende des Romans durch Effis Grabstein ersetzt werden wird (6). Der daneben angepflanzte Heliotrop, schon durch seinen Namen eine auf die Sonne ausgerichtete Pflanze, gibt der Szenerie eine zusätzliche Aufladung in diesem Zeichen. Sonnenschein und Schatten gestalten hier einen Raum, der von dem drohenden Verhängnis noch geschützt ist: »an Tagen aber, wo die Sonne niederbrannte, wurde die Gartenseite ganz entschieden bevorzugt« (7). Wie zur Bestätigung treten hier Effis kindliche Freundinnen »mit ihren Sonnenschirmen« auf und zeigen »ihre Sommersprossen« ein letztes Mal (8). Beim Einzug des jungen Ehepaars in Kessin wird der Jahreszeitenwechsel ambivalent thematisiert. Die Ankunft findet nicht mehr zur »Sommerzeit«, sondern

nach dem »1. Oktober« statt, wenn der sommerliche Schiffsverkehr eingestellt ist. Dennoch erscheint der Herbst noch gar nicht als ein solcher: »Und nun war gutes Wetter«, wie der Erzähler ausdrücklich und betont vermeldet (48). Dabei finden in Kessin so gut wie alle Ereignisse von Bedeutung im Winter statt. Hatte Effi sich Kessin vorausahnend als »einen halb sibirischen Ort« (29) vorgestellt, so ist das Leben dort von Anfang an auch mit dem Meer verbunden; als halbmondäner Badeort verfällt Kessin in Winterschlaf, während gleichzeitig ein bewegtes Winterwetter herrscht, »als ob die Wellen hier schlimmer wären als wo anders« (36). Es sieht so aus, als sei Kessin geradezu durch diese Ambivalenz definiert: »Das Wetter ist schön und mild, und ich hoffe, die Veranda nach der Plantage hinaus ist noch in gutem Stande, und wir können uns ins Freie setzen und da das Frühstück nehmen.« Denn »der Kessiner Winter ist wirklich um vier Wochen zu lang« (142). Dabei sieht es meistens ganz anders aus: Die Tage waren schön und blieben es bis in den Oktober hinein« (148). Da erscheint es kaum als ein Zufall, dass Crampas am »27. September« bei »neun Grad« badend, dem Meer entsteigt (144) und »diese kleine Renommage« selbst feiert: »Wer für den Strick geboren ist, kann im Wasser nicht umkommen« (145). Crampas’ Verführungsversuche beginnen am herbstlich aufgewühlten Strand »im Schutze der Dünen, wo’s windstill war« (158). Bei »Sturmzeit« (150) gehen nicht nur die Wellen hoch; eine Robbe zeigt sich als potenzielles Jagdopfer (für die Männer) und zugleich für Effi als »Seejungfrau« (151). So werden denn »die Spazierritte bis in den November hinein« fortgesetzt (151), denn auch hier erscheint die Wettersituation uneindeutig: »Ein Wetterumschlag war freilich eingetreten, ein andauernder Nordwest trieb Wolkenmassen heran, und das Meer schäume mächtig, aber Regen und Kälte fehlten noch, und so waren diese Ausflüge bei grauem Himmel und lärmender Brandung fast noch schöner, als sie vorher bei Sonnenschein und stiller See gewesen waren« (152). »Aber nachdem sich’s ausgetobt, legte sich das Unwetter, und es kamen noch ein paar sonnige Spätherbsttage« (157–158). Im Wetterzustand spiegelt sich die Stimmung Effis, so wie sich am Zustand des Meeres der Stand des Werbungserfolgs von Crampas ablesen lässt: »Über das von den Sturmtagen her noch bewegte Meer goß die schon halb

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2019 S. Neuhaus (Hg.), Effi Briest-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04874-5_21

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winterliche Novembersonne ihr fahles Licht aus, und die Brandung ging hoch« (162). Bei der Heimfahrt »von der oberförsterlichen Rampe her, von der man einen prächtigen Ausblick auf das Meer hatte, ging es, die ziemlich steile Düne hinunter« (183) in Richtung auf den Schloon, wobei Effi eine »menschliche Stimme« hört und das »Nordlicht« sieht (184). Effis innere Erregung hängt nicht zum wenigsten an Witterungsextremen: »Seit Silvesternacht ging ein scharfer Nordost, der sich in den nächsten Tagen fast bis zum Sturm steigerte« (196) und ein Schiff in Seenot geraten lässt: »da muß ich hinaus, das muß ich sehen« (197). Dagegen herrscht in Berlin immer ungetrübtes schönes Wetter, aber nur so lange, wie auch in Effis Ehe eitel Sonnenschein herrscht. Effis einsames Leben nach der Trennung spiegelt sich auch im winterlichen Wetter: »begann Effi ganz schwermütig zu werden. Es war nicht kalt, nur grau und regnerisch« (313), um dann ihr zurückgelassenes Kind im meteorologischen Extrem wiederzusehen: »Es war sehr heiß« (316). Nach drei Jahren lebt die nun alleinstehende Effi in Berlin. Jahreszeiten- und Witterungswahrnehmungen sind durch den Blick aus dem Fenster bestimmt. Dies beginnt mit dem treuen Hund: »saß Rollo und sah nach den Fenstern der Pension hinauf« (313). Es setzt sich fort mit der Rückkehr ins Elternhaus, in dem dieser zurück- und vorausweisende Fensterblick schon vorbereitet wird: »Der um die Fenster sich rankende wilde Wein bewegte sich leis in dem Luftzuge, der ging, und über dem Wasser standen ein paar Libellen im hellen Sonnenschein« (327). Dieses »Luftbedürfnis in einem beständigen Wachsen« (335) knüpft nicht nur an Effis kindliche Schaukeleien als »Tochter der Luft« (7) an, sondern führt weiter: »wie mir die Luft wohltat; mir war, als flög’ ich in den Himmel. Ob ich wohl hineinkomme?« (333) Es endet, nach einigen Spaziergängen Effis, »der freie Luft noch mehr galt als landschaftliche Schönheit« (343), am Fenster »bis über Mitternacht hinaus« (345). Effi stirbt, so wenigstens suggeriert es das Romanende, am Fenster; »heller Sonnenschein« des Romananfangs (5) ist in die »kühle Nachtluft« übergegangen: »und setzte sich an das offene Fenster, um noch einmal die kühle Nachtluft einzusaugen« (348).

Jahreszeiten Auch Fontanes Jahreszeitenangaben in Effi Briest sind niemals zufällig, sondern immer mit Verweisung gesetzt (s. Kap. 13, 41). So findet Effis Verlobung »an

demselben Tage« des erstes Besuchs Innstettens im Hochsommer in Hohen-Cremmen (19) statt, während der »Hochzeitstag (3. Oktober)« schon in der Formulierung des Erzählers einen Schuss Bedrohlichkeit enthält, denn er »rückte näher« (27). Die Zwischenzeit verschwimmt. Seit »Ende August«, so heißt es, war man »unausgesetzt bei den Vorbereitungen zum Polterabend« beschäftigt (27). Ungesagt bleibt, dass dazwischen Effis 17. Geburtstag liegt. Dazwischen liegt auch Effis Wunsch nach einem Pelz, weil sie doch nach ihrer Heirat »auf dem Wege nach Rußland« sei (30); denn den neuen Wohnort Kessin habe man, wenn auch nur in den »Spottreden« Effis, »als einen halb sibirischen Ort aufzufassen« (29). Der »Polterabend« wäre ohne rechte Bedeutung, wenn es sich nicht um einen sinnträchtigen Tag handelte: »Das war am 2. September, daß sie so sprachen, ein Gespräch, das sich wohl fortgesetzt hätte, wenn nicht gerade Sedantag gewesen wäre« (31). Effis Hochzeit (»Der Tag nach der Hochzeit war ein heller Oktobertag«; 40) und Hochzeitsreise fallen in den Oktober; letztere wird durch tägliche Postkarten ins Elternhaus gerafft berichtet. Am 14. November beginnt der Einzug des jungen Paares in Kessin ganz im Zeichen des Jahreszeitenwechsels; denn die »Sommerzeit« ist vorbei; seit »1. Oktober« ist der Fährverkehr »während der Bademonate« eingestellt, obwohl »gutes Wetter« vorherrscht (48). Es folgen die Antrittsbesuche bei den adligen Familien der Umgebung, abgeschlossen am »2. Dezember« (75). Dieser 2. Dezember erinnert den Staatsstreich, der den Napoleonenkel 1852 zum Kaiser der Franzosen machte, was dem pommerschen Adel Anlass zu politischen Kommentaren über die Abhängigkeit des damaligen französischen Kaisers von seiner Frau Eugenie gibt (»Frauenherrschaft«; 76) und Innstetten zur Stellungnahme veranlasst: »diesen Tag müßten wir wohl eigentlich feiern, und ich weiß nur noch nicht womit« (77). Der winterliche Lebenstakt wird jetzt anderweitig vorgegeben: »Eine Woche später war Bismarck in Varzin«. »Zum 14. erfolgte die erste Einladung« (79). Effis Spukerlebnis (s. Kap. 22) und Innstettens fragwürdige Erklärungen leiten über zu den Weihnachtsfeierlichkeiten und dem »Ressourcenball« (113), gipfelnd in Effis Jahresabschlussbrief an ihre Mutter, in dem sie ihre Schwangerschaft mitteilt. Der ansonsten übersprungene Winter wird von dem beginnenden Frühling abgelöst, der so ganz anders aussieht als in Hohen-Cremmen: »So verging der Winter, der April kam, und in dem Garten hinter dem Hofe begann es zu grünen« (120). Die Geburt der

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Tochter Annie »am Morgen des 3. Juli« fällt mit dem »Tag von Königgrätz«, dem Tag der Entscheidungsschlacht im Preußisch-Österreichischen Krieg zusammen; sie wird vom entbindenden Hausarzt auch so kommentiert: »schade, daß es ein Mädchen ist. Aber das andere kann ja nachkommen, und die Preußen haben viele Siegestage« (135). Auch die Taufe des Kindes am 15. August, dem Geburtstag Napoleons I., ist wieder von politischer Bedeutsamkeit: »trotzdem es der Napoleonstag war (was denn auch von seiten einiger Familien beanstandet wurde)« (136; s. Kap. 5). Dergestalt durch die Jahrestage falsch eingespannt, verläuft auch die Bekanntschaft mit dem im April zugezogenen Major Crampas, der noch am »27. September« im Meer badet, obwohl doch die Tage »schön« »bis in den Oktober hinein« bleiben (148). »Mitte Oktober« beginnen die gemeinsamen Ausritte (149), die sich »bis in den November hinein fortsetzten« (152). Der eintretende »Wetterumschlag« hat wieder ein Doppelgesicht, weil er trotz Wetterverschlechterung eine Steigerung der Stimmungslage mit sich bringt: »so waren diese Ausflüge bei grauem Himmel und lärmender Brandung fast noch schöner, als sie vorher bei Sonnenschein und stiller See gewesen waren« (152). In dieser Atmosphäre liefert Crampas seine Interpretation der Spukgeschichte als »Erziehungsmittel« ab (157), die Innstetten endgültig vom Ehemann zum »Erzieher« degradiert (173; s. Kap. 31). Der erste Ausritt zu zweit setzt die Verführung (s. Kap. 24) nicht nur mit Hilfe der Gedichte Heines (s. Kap. 33) in Gang, sondern auch im Zeichen einer hochgradig aufgeladenen Landschaft, in der sich Jahreszeit und Witterung, Landschaft und Beleuchtung verschwistern: »Über das von den Sturmtagen her noch bewegte Meer goß die schon halb winterliche Novembersonne ihr fahles Licht aus, und die Brandung ging hoch« (162). So findet auch der weihnachtliche Ausflug nach Uvagla, mit dem die Affäre einsetzt, unter ausgesetzten Witterungsbedingungen und in einer aufgeladenen Landschaft statt: »begann es zu schneien« (177). Die Gefahr des Versinkens in den Tiefen des »Schloon« macht dieses Phänomen zu einem enigmatischen Ort, der sich einer einfachen Erklärung entzieht: »Denn was der Schloon sei, das war nicht so mit drei Worten zu sagen« (186). »Alles geht nämlich ganz unterirdisch vor sich«. Doch Effis Schrecken hält sich in Grenzen: »und inmitten all ihrer Ängstlichkeit wurde ihr mit einemmale ganz wehmütig-freudig zu Sinn« (187). Ohne zu wissen, was er schreibt, enthält der Brief des Apothekers Gieshübler am nächsten Tag die richtige Erklärung: »Ich weiß nur, daß Sie dem Schloon glück-

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lich entronnen sind: aber es blieb auch durch den Wald hin immer noch Fährlichkeit genug« (192). Mit dem Beginn des neuen Jahres inszeniert Effi ihre Stelldicheins als »verstecktes Komödienspiel« (199) unter dem Vorwand, nach »der ärztlichen Verordnung« täglich »ihren vorgeschriebenen Spaziergang« (200–201) zu unternehmen, zu dem sie sich von ihrem Ehemann sogar absetzen lässt: »In den Dünen ist es immer am schönsten« (200). Dem entspricht ganz die Witterung, freilich mit einiger Beschattung: »Das Wetter war schön, eine milde, frische Luft, der Himmel bedeckt« (201). Beim Abschied von Kessin reden Roswitha und Effi aneinander vorbei, dann aber doch nicht. Zuerst steht Roswithas atmosphärische Wahrnehmung da: »Und immer bloß die Dünen und draußen die See. Und das rauscht und rauscht, aber weiter ist es auch nichts.« Effi greift diese wörtlich auf, fügt ihr aber eine Deutung hinzu: »Es rauscht und rauscht immer, aber es ist kein richtiges Leben. Und dann kommen einem allerhand dumme Gedanken« (220). Im neuen Wohnort Berlin herrscht hingegen immer »das schönste Wetter« (230), als könne nichts die Stimmung trüben. Die Abreise Effis zur Kur nach Bad Ems, vom Hausarzt empfohlen, »der auf dem Gebiete der Gynäkologie nicht ganz ohne Ruf war« (263), wird auf den »24. Juni« festgesetzt, zu dem der Erzähler noch in Klammern »Johannistag« hinzufügt (264). Diese auffällige Betonung ist vielschichtig. So verweist dieser Tag neben seiner christlichen Grundierung durch Johannes den Täufer auf die astronomische Sommersonnenwende, also wieder eine Kippstellung der Jahreszeiten, zugleich aber auch im Brauchtum auf das Johanneskraut und den sogenannten Johannistrieb. Ist es da reiner Zufall, dass auch Innstettens Hausmädchen Johanna heißt? Dazu passt die Begleitung durch die Geheimrätin Zwicker, »sehr reizend, etwas frei« (265), und die Lage von Bad Ems »in einem Kessel«: »Wir leiden hier außerordentlich unter der Hitze« (266). Am Ende der Kurzeit wird Effi den Brief, der ihr das Ende ihrer Ehe verkündet, zum zynisch-trefflichen Zeitpunkt erhalten: »Es war ein herrlicher Morgen« (293).

Jahres-Zeit-Dimensionen Obwohl in Effi Briest keine Jahreszahlen genannt werden, spielt die Chronologie der historischen Ereignisse doch eine gewichtige Rolle (s. Kap. 13, 47). Während der Handlungszeit des Romans, die zwischen 1878 und 1889 anzusetzen ist, steuert der im Hinter-

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grund nicht nur immer wieder aufleuchtende, sondern den gesamten Lebensentwurf Innstettens lenkende Reichskanzler Bismarck auch den jahreszeitlichen Ablauf der Kessiner Landratsfamilie. Der »Fürst« hat seinen nicht sehr weit von Kessin gelegenen Landsitz in Varzin (49) – nur aus märkischer oder Berliner Sicht liegt Kessin also am Rand der zivilisierten Welt, aus politischer Sicht liegt der pommersche Badeort genau im Mittelpunkt politischer Herrschaft. Denn Bismarck steht in dieser Zeit auf dem Gipfelpunkt seiner nationalen Macht und internationalen Bedeutung. Beim Erscheinen des Romans ab 1894 ist Bismarck allerdings längst entlassen und bereits zu einer historischen Figur geworden (s. Kap. 1, 5). Auch dadurch wird die in Effi Briest verhandelte Geschichte (s. Kap. 9) zu einem Fallbeispiel aus der Vergangenheit, das auf Rechtsvoraussetzungen aufruht, die zum Zeitpunkt der Romanlektüre gar nicht mehr gelten (FHb, 634–635). Man muss sich freilich davor hüten, in diesen Setzungen platte Schwarz-Weiß-Zeichnungen Fontanes auszumachen. Denn die von Wetter und Jahreszeit ausgestreuten Zeichen können auch trügen (s. Kap. 41). Als Effi nach ihrem Abschied von Kessin in Berlin eine neue Wohnung gefunden hat, scheinen mit dem Frühjahr am Tiergarten, »dessen Bäume schon überall einen grünen Schimmer zeigten«, alle Schatten der Vergangenheit getilgt zu sein: »Darüber aber ein klarer blauer Himmel und eine lachende Sonne.« Denn Effis Ausruf: »Nun, mit Gott, ein neues Leben! Es soll anders werden« (239), wird sich zugleich erfüllen und dennoch trügen. Auch Innstettens Rückkehr nach Kessin zum Duell mit Crampas findet unter falschen meteorologischen Vorzeichen statt: »das Wetter war herrlich, helle Morgensonne«. Die Erinnerung bricht sich am jahreszeitlichen wie am Wetterkontrast: »ein grauer Novembertag damals, aber er selber froh im Herzen; nun hatte sich’s verkehrt: das Licht lag draußen, und der Novembertag war in ihm« (281). Die Stelle ist nicht nur durch die doppelte Kehrtwende in der Erinnerung bemerkenswert (»mit Effi von der Hochzeitsreise zurückkehrend«), sondern auch durch die Selbsttäuschung des Erinnernden. Schließlich war es damals kein »grauer Novembertag« gewesen, sondern ausdrücklich und sogar durch graphische Hervorhebung bestätigt »gutes Wetter« (48). Bei einer Zwischeneinkehr im Elternhaus vor ihrem »Hochzeitstage« (256) imaginiert Effi ihre sorg-

lose Kindheit, die »erst wenig über zwei Jahre« zurückliegt. Wie sie es allerdings tut, wirft schon ein Licht auf ihr Ende und darüber hinaus (s. Kap. 25). Aus dem hellen Sonnenschein ist ein gespenstisches und zugleich tröstliches Mondlicht geworden: »Neben dem Kirchhof stand der Mond und warf sein Licht auch auf den Rasenplatz mit der Sonnenuhr und den Heliotropbeeten. Alles schimmerte silbern, und neben den Schattenstreifen lagen weiße Lichtstreifen, so weiß, als läge Leinwand auf der Bleiche« (257). Am Ende, als Effis Eltern im Garten vor der »Marmorplatte« (349) mit Effis Namen sitzen und die Schuldfrage thematisieren, ist es »September« geworden. Das schöne Wetter des Romananfangs wird noch einmal aufgerufen, es hat sich allerdings jetzt mit einem »aber« ausgestattet: »Das Wetter war schön, aber das Laub im Parke zeigte schon viel Rot und Gelb, und seit den Äquinoktien, die drei Sturmtage gebracht hatten, lagen die Blätter überall hin ausgestreut« (348–349). Fontanes astronomischer Fachausdruck enthält schon beides, die jahreszeitliche Tag-und-Nacht-Gleiche als ein Ausgleich, der menschliches Fassungsvermögen übersteigt, und die Veränderungen, die davon ausgehen. Es ist eben keine bloß »kleine Veränderung«, wenn die »Sonnenuhr« durch »eine weiße Marmorplatte« ersetzt wird (349) und wenn statt »Canna indica und Rhabarberstauden« um das Rondell (5) jetzt nur mehr der »um die Sonnenuhr herumstehende Heliotrop« (31), »den man geschont, und der den Stein jetzt einrahmte« (349), zu sehen ist. Wenn aus dem »von Briest« des ersten Satzes des Romans nun in der Grabsteininschrift »nichts als ›Effi Briest‹« geworden ist, so die besondere Hervorhebung des Erzählers, wenn der helle Sonnenschein von damals zu einem widersprüchlichen Herbst geworden ist (»schön« – »aber«), dann belegen die Jahreszeitenund Wetterangaben, dass Effi Briest eben nicht kreisläufig endet (s. Kap. 36–38), auch wenn der Roman scheinbar an seinen Ausgangspunkt zurückführt. Literatur Delius, Friedrich Christian: Der Held und sein Wetter. Ein Kunstmittel und sein ideologischer Gebrauch im Roman des bürgerlichen Realismus. München 1971. Grill, Oliver: Die Wetterseiten der Literatur. Poetologische Konstellationen und meteorologische Kontexte im 19. Jahrhundert. Paderborn 2019.

Rolf Selbmann

22 Der Chinesen-Spuk als »ein Drehpunkt für die ganze Geschichte«

22 Der Chinesen-Spuk als »ein Drehpunkt für die ganze Geschichte« In einem immer wieder zitierten Brief an Joseph Viktor Widmann vom 19. November 1895 hat Fontane den Chinesen-Spuk als einen »Drehpunkt für die ganze Geschichte« bezeichnet (DÜW 2, 454), was oft falsch zitiert wird (als ›der Dreh- und Angelpunkt‹). Es geht um einen Drehpunkt, deren es mehrere gibt. Der erste steht ganz am Anfang, wenn Effi überfallartig aus ihrer Kindheitswelt in die Existenz als Braut des Barons von Innstetten katapultiert wird; einen späteren Drehpunkt markiert die Auffindung der Crampas-Briefe. Die balladeske Geschichte des Chinesen besteht hauptsächlich aus Lücken und Widersprüchen. War Nina die Nichte oder die Enkelin von Kapitän Thomsen? Innstetten hält ›Enkelin‹ für unwahrscheinlich, schließt sich in seiner Erzählung aber der Mehrheitsmeinung an (99). Warum wurden zur Hochzeit außer den anderen Kapitänen samt Frauen und Töchtern nur der Konventikler Utpatl und der in kirchlichen Dingen unsichere Kantonist Gieshübler geladen? Wie alt war der Chinese? In ihrem Sylvester-Brief an die Mutter spricht Effi von einem jungen Chinesen (116); hat sie weitere Informationen bekommen oder denkt sie sich das bloß? Da sie im gleichen Brief den »alten Kapitän« Thomsen zu Ninas Vater avancieren lässt (ebd.), ist ihren Angaben schwerlich zu glauben. Gab es eine Beziehung zwischen Nina und dem Chinesen? Roswitha vermutet eine unglückliche Liebe oder eine solche, die jedenfalls unglücklich endete (205). Zu Ersterem nickt Frau Kruse, aber was sie Roswitha anschließend erzählt, wird uns verschwiegen, und selbst wenn wir es erführen, bliebe Kruses Verdikt: »Unsinn is es«, und: »Sie hat immer bloß solche Geschichten in ihrem Kopp« (206). Jahre später, als Innstetten Wüllersdorf vom Chinesen erzählt, meint er, der sei »vielleicht ein Liebhaber« gewesen (284). Natürlich ist es verführerisch, aus dem zeitlichen Nexus von Ninas Verschwinden und dem Tod des Chinesen einen kausalen Zusammenhang zu konstruieren, aber zwingend ist das nicht, da wir über die Todesursache nichts erfahren. Man hat, weil er nicht auf dem Friedhof begraben wurde, Selbstmord vermutet. Dem steht Effis vehemente Zustimmung zum Grab außerhalb des Friedhofs (99) entgegen und auch Innstettens Meinung: »Auf dem Gemeindekirchhof war er natürlich nicht unterzubringen« (97): »natürlich«, weil er kein Christ war.

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Ninas Verschwinden bleibt ungeklärt: Ist sie geflohen, wurde sie entführt, gar ermordet? Nicht einmal das botanische Geschlecht des Bäumchens auf dem Chinesen-Grab ist sicher: Handelt es sich um eine Kiefer (97) oder um eine Tanne (156)? Diese bewusst gesetzten Unklarheiten verlocken zu Klärungsversuchen. Gero von Wilpert hat eine ganze Liste möglicher Zuschreibungen aufgestellt, mit dem Zusatz: »u. a. m.« (Wilpert 1994, 343). Zwischen den Ereignissen und Gestalten in der Geschichte und den Ereignissen und Gestalten in der Haupterzählung gibt es lediglich Teil-Parallelen. Das Grab des Chinesen liegt »zwischen den Dünen« (51); zwischen den Dünen, allerdings an einer ganz anderen Stelle, stirbt Crampas, der damit für ein unstatthaftes Liebesverhältnis büßt (s. Kap. 24), was mancher Interpret auch dem Chinesen nachsagt. In Christian Grawes Führer durch Fontanes Romane heißt es, der Chinese habe »zu Lebzeiten eine sich anbahnende Ehe zerstört« (Grawe 1996, 78), was doch erheblich über das Erschließbare hinausgeht, auch das »Wie« offen lässt und vor allem im Widerspruch steht zur Meinung des Pastors Trippel, »der Chinese sei ein sehr guter Mensch gewesen« (99). Eine andere Teil-Parallele besteht darin, dass sowohl der Chinese als auch Effi außerhalb des Friedhofs begraben werden, Effi aber natürlich in geweihter Erde, denn Pastor Niemeyer hat ihr ja versprochen, dass sie in den Himmel komme (333); auch liegt sie nicht eigentlich ›außerhalb‹, sondern innerhalb des familiären Anwesens, das für sie immer die wirkliche Heimat geblieben ist. Von Effis Aussage her, Innstetten habe sich nach dem Scheitern seiner Beziehung zu Luise von Belling zwar nicht das Leben genommen, aber »ein bißchen« sei es »doch so ’was« gewesen (12), könnte auch eine Parallele zwischen ihm und dem Chinesen gezogen werden: Die geliebte Frau hat einen anderen genommen, was ihn fast tödlich getroffen hat. Darüber, was der Chinese für Effi bedeute, gibt es die einander widersprechendsten Ansichten. Für Ingrid Schuster ist er »das Sinnbild ihrer leidenschaftlichen Sehnsucht« (Schuster 1983, 119); ihr »Wunsch nach leidenschaftlicher Liebe, nach Bewunderung und zärtlicher Fürsorge« steigere sich »zu ihrer Vision vom Chinesen« (ebd., 118). Allerdings erwacht Effi nicht mit einem Lust-, sondern mit einem Angstschrei, entsprechend ihrer vorherigen Lektüre über die »Weiße Frau« der Hohenzollern, vor der sie sich immer gefürchtet hat und die selbst Napoleon entsetzt haben soll (81). Im Übrigen meint sie ja, ein Chinese

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2019 S. Neuhaus (Hg.), Effi Briest-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04874-5_22

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habe »immer was Gruseliges« (52). – Für Holger Ehrhardt hat der Chinese überhaupt nichts Positives, sondern ist die Präfiguration des diabolischen Crampas (Ehrhardt 2008, 240), ‒ wobei der im Volksglauben positiv konnotierte chinesische Drache (als wohlwollender Regen- und Fruchtbarkeitsgeist) umstandslos mit dem biblisch-christlichen Drachen (= Teufel) in eins gesetzt wird (ebd., 175; s. Kap. 30). Eigenartig ist Innstettens Verhältnis zum angeblichen Spuk des Chinesen. Einerseits will er ihn Effi ausreden, andererseits ihn ihr aber als eine Art Adelsauszeichnung einreden (92; wobei ein spukender Chinese in preußischen Adelshäusern wohl doch nicht gerne gesehen worden wäre). Aufschlussreich ist, was Crampas, bevor Effi ihm vom Chinesen erzählt, über Innstettens Verhalten während der gemeinsamen Militärzeit berichtet: seine Neigung, die Kameraden mit Spukerzählungen zu erschrecken, um sich, so Crampas, mit etwas Apartem interessant zu machen (154). Dazu würde passen, dass er drei Jahre vor Beginn der Romanhandlung (73) das in Kessin als Spukhaus geltende Anwesen gekauft hat (s. Kap. 28). Dass er das Obergeschoss, ja schon die dort hinaufführende Treppe (68) verkommen lässt und Effi gegenüber jede Änderung ablehnt (67, 70), könnte darauf deuten, dass er selbst den Saal, in dem damals die Hochzeitsfeier stattfand, mit einer Art Tabu belegt glaubt, selbst nicht ganz frei ist vom Glauben an den Spuk. Auch Effi wundert sich ja darüber, »daß Innstetten alles so ernsthaft nahm, als ob es doch etwas sei« (69). Die Frage, »ob es doch etwas sei«, bleibt im Roman offen. Dass Effi nach ihrer abendlichen Lektüre und bei ihrer Veranlagung zu Visionen und Träumen (51) höchstwahrscheinlich einen Alptraum gehabt hat, wird ein wenig zweifelhaft, wenn es heißt: »in diesem Augenblicke huschte ’was an ihr vorbei, und die nach dem Flur hinausführende Thür sprang auf« (86). Später bestätigen Johanna und Frau Kruse sie darin, »daß es etwas damit ist« (117), und irgendeinen Grund müssen die Kessiner ja gehabt haben für ihre Meinung über das »Spukhaus«, wenn auch »Doktor Gieshübler immer nur darüber lachte« (61). Andererseits tritt der ›Spuk‹ nach der ominösen Nacht ja nie wieder auf, auch nicht, als mit Roswitha und Annie »wer Neues im Hause« erscheint (116). Effis dem widersprechende Behauptungen, als sie sich mit ihrem »Gott sei Dank!« fast verraten hat (214–215), sind ja nicht für bare Münze zu nehmen. Ingrid Mittenzwei ist darin zuzustimmen, dass Innstettens von Effi als nicht teilnahmsvoll genug empfundene Haltung gegenüber ihren Ängsten zur

Entfremdung zwischen den Eheleuten beiträgt (Mittenzwei 1970, 139). Zum »Drehpunkt« wird das Ganze aber erst, als Effi Crampas’ Deutung des angeblichen Spuks übernimmt, dafür die Bezeichnung »eine Art Angstapparat aus Kalkül« findet und im Vorgehen ihres Mannes mangelnde Herzensgüte, fast Grausamkeit zu erkennen glaubt (157). Dass sie sich dann auf den Verführer Crampas einlässt, kann auch als eine Art Racheakt gegen den »Erzieher« Innstetten verstanden werden. Ob Crampas mit seinem Verdacht recht hat oder ob er Effi etwas weismacht (Andermatt 2000, 194), sie auf seine Deutung »hereinfällt« (Aust 1998, 161), ist in der Forschung umstritten. Mit Recht hat Martin Todtenhaupt darauf hingewiesen, dass zu Anfang nicht Innstetten, sondern Effi selbst das Gespräch auf einen Chinesen bringt, auch von ihrer Neigung zu Visionen und Träumen spricht und von ihrem Wunsch, nicht gleich in der Nacht einen Chinesen an ihr Bett treten zu sehen (51; Todtenhaupt 1999). Stutzig macht sie Innstettens Antwort: »Das wird er auch nicht.« Das klinge ja, »als ob es doch möglich wäre« (51). Dass Innstetten von Anfang an den ›Spuk‹ für die Domestizierung seiner Frau benutze, wird man nicht behaupten können, aber dass er sich nach der angeblichen Spukerscheinung Effis Ängste in diesem Sinne zunutze macht, kann nicht ausgeschlossen werden. Seine Weigerung, das Obergeschoss nach Effis Vorstellungen umzugestalten oder wenigstens die Gardinen kürzen zu lassen, spräche dafür. Auch ergeht er sich ohne Not in entsprechenden Andeutungen. Vor seiner berufsentscheidenden Reise nach Berlin sagt er, sie solle sich nicht ängstigen: »es wird ja wohl nicht wiederkommen ... Du weißt schon, das da oben ...« (202). Beim Eintritt in die von Effi und ihrer Mutter eingerichtete Berliner Wohnung sagt er: »kein Haifisch, kein Krokodil und hoffentlich [!] auch kein Spuk« (239). Am Belvedere im Charlottenburger Schlossgarten meint er, an Spuk glaube er schon, an den Kessiner allerdings »nicht recht«, und erzählt umgehend, dass Johanna das Chinesenbildchen aus Kessin mitgenommen hat (244). Effi erwägt eine Art Gegenzauber: Roswitha zu bitten, ein Heiligenbildchen in ihr Portemonnaie zu stecken, lässt es dann aber, denn: »Ich kann es nicht los werden« (258). Für die Entwicklung im Roman ist es letztlich gleichgültig, ob Crampas mit seiner Vermutung oder Unterstellung recht hat. Entscheidend ist, dass Effi ihm glaubt. Man könnte fragen, warum Effi sich denn nicht bei Gieshübler erkundigt, was an dem ominösen Hoch-

22 Der Chinesen-Spuk als »ein Drehpunkt für die ganze Geschichte«

zeitsabend geschehen ist; er war ja dabei und würde ihr sicher alles erzählen, was er weiß und was er darüber denkt. Karla Bindokat glaubt die Antwort zu wissen: Effi brauche gar nicht zu fragen, denn sie selbst sei die wieder ›aufgetauchte‹ Nina, die ›eigentlich‹ eine Nixe sei und nun, als Effi, den einst geliebten Chinesen suche (Bindokat 1984, 132) ‒ eine Phantasie über ein Thema von Theodor Fontane. Literatur Andermatt, Michael: »Es rauscht und rauscht immer, aber es ist kein richtiges Leben.« Zur Topographie des Fremden in Fontanes ›Effi Briest‹. In: Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts. Hg. von Hanna Delf von Wolzogen in Zusammenarbeit mit Helmuth Nürnberger, Bd. 3: Geschichte. Vergessen. Großstadt. Moderne. Würzburg 2000, 189–199. Aust, Hugo: Theodor Fontane. Ein Studienbuch. Tübingen/ Basel 1998. Avery, George C.: The Chinese wall. Fontane’s psychograph of Effi Briest. In: Karl S. Weimar (Hg.): Views and reviews of modern German literature. Festschrift for Adolf D. Klarmann. München 1974, 18–38.

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Bindokat, Karla: ›Effi Briest‹. Erzählstoff und Erzählinhalt. Frankfurt a. M./Bern 1984. Ehrhardt, Holger: Mythologische Subtexte in Theodor Fontanes ›Effi Briest‹. Frankfurt a. M. 2008. Mittenzwei, Ingrid: Die Sprache als Thema. Untersuchungen zu Fontanes Gesellschaftsromanen. Bad Homburg v. d. H./ Berlin/Zürich 1970. Rainer, Ulrike: ›Effi Briest‹ und das Motiv des Chinesen. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 101 (1982), 545–561. Schuster, Ingrid: Exotik als Chiffre: Zum Chinesen in ›Effi Briest‹. In: Wirkendes Wort 33 (1983), 115–125. Todtenhaupt, Martin: Der erste Dialog über den Chinesen in ›Effi Briest‹. In: Dieter Krohn u. a. (Hg.): Beiträge zur Effi-Briest-Forschung. Göteborg 21999 (Germanistische Schlaglichter, Bd. 1), 59–75. Utz, Peter: Effi Briest, der Chinese und der Imperialismus: Eine »Geschichte« im geschichtlichen Kontext. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 103 (1984), 212–225. Warnke, Gisela: Der Spuk als ›Drehpunkt‹ in Fontanes ›Effi Briest‹. Ein Beitrag zur Strukturanalyse des Romans. In: Literatur für Leser 1 (1978), 214–242. Wilpert, Gero von: Theodor Fontane und die Weiße Frau. In: Ders.: Die deutsche Gespenstergeschichte. Motiv – Form – Entwicklung. Stuttgart 1994, 335–345.

Klaus Müller-Salget

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IV Themen, Motive und Symbole

23 Familie Familienkonzepte: Zwischen Adel und Bürgertum Dem Konzept Familie sind Definitions- und Eingrenzungsschwierigkeiten inhärent, weshalb Burkhard Fuhs vorschlägt, von der »Familie im Plural« (Fuhs 2007, 25) zu sprechen. Der häufig anklingende Essentialismus des Begriffs entspringt dem von normativen, sozialen und moralischen Vorstellungen durchdrungenen Konzept der bürgerlichen Kernfamilie, das sich im 19. Jahrhundert kontinuierlich verfestigt (s. Kap. 26). Was heute als Familie gilt, ist in Wahrheit also nicht nur ein historisch variables, sondern auch ein relativ junges Konstrukt, das sowohl diachron als auch synchron divergiert und regionale, historische und schichtspezifische Merkmale aufweist. Das Familienkonzept des Adels unterscheidet sich deutlich von jenem des Bürgertums, proletarische Strukturen formen familiäres Interagieren und Zusammenleben anders als bäuerliche, um nur wenige Beispiele zu nennen. Die ganz großen, das soziale Zusammenleben in neue Bahnen lenkenden Umbrüche haben mit der Industrialisierung, dem Abbau des Feudalwesens und dem schrittweisen Übergang von der Hausgemeinschaft zur Kernfamilie (nicht zu verwechseln mit der Kleinfamilie) zu Ende des 19. Jahrhunderts schon stattgefunden, dennoch kommt es noch immer zu deutlichen Verschiebungen. Die bürgerlichen Revolutionen von 1848/49 in ganz Europa haben auch in den Staaten des Deutschen Bundes eine gesellschaftliche Neustrukturierung eingeleitet (s. Kap. 1, 5), die nicht zuletzt das System Familie erfasst. Die Familie ist historisch betrachtet in erster Linie ein nach außen begrenztes, normiertes Sozialsystem, das Schutz bieten und Fürsorge leisten soll. Die interne Organisation, der Kreis der Zugehörigkeit und die politische sowie juristische Einbettung der Familie in die Gesellschaft sind hingegen im beständigen Wandel begriffen, ein Prozess, der nicht zuletzt in literarischen Familiendarstellungen sichtbar wird. Die Bedeutung von Ehe und Verwandtschaft, Kernkomponenten der Vorstellung von Familie im 20. Jahrhundert, wird hingegen erst mit der durch die Industrialisierung obligat werdenden, geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung konstituierend (s. dazu Hausen 1976; Beck 1986, 161–204). Die schichtspezifischen, feudal geprägten Familienkonzepte verschwimmen zunehmend, wobei sich das Bürgertum als größter Einflussgeber erweist. Sowohl Aristokratie und Großbürgertum als

auch das Proletariat adaptieren zunehmend das Modell der bürgerlichen Kernfamilie, zumindest als Idealvorstellung (Notz 2015, 35). Auch das Familienmodell in Effi Briest zeigt Symptome der für die Zeit typischen Veränderungen und Umbrüche (s. Kap. 2, 4, 43). Bürgerliche Wertvorstellungen setzen sich immer stärker durch und finden Einzug in aristokratische Schichten, ein moralischer Paradigmenwechsel, der das Prinzip des familiären Hauses als über Ehe und verwandtschaftliche Beziehungen hinausgehende, hierarchisch strukturierte Wohngemeinschaft aufweicht und stattdessen »ein[en] moralische[n] Rigorismus von bürgerlicher Genese« installiert, »der eine Neustrukturierung der Familie in dieser Gesellschaftsschicht signalisiert« (Langendorf 1983, 140). Daraus erwächst eine Inkompatibilität, die das Individuum zu tragen hat und die langfristig zur Instabilität des aristokratischen Familiensystems beiträgt. Die von Foucault beschriebene Überlagerung des Allianzdispositivs, dessen strukturelles Zentrum die Familie bildet, durch das Sexualitätspositiv (s. Kap. 24, 42), das durch den geschlechtlichen Körper des Subjekts und das Begehren konstituiert wird (s. Kap. 43), ist ein Prozess der Individualisierung (s. Kap. 46), der das Individuum aus der familiären Verankerung löst (Foucault 1983, 77– 128). Das Prinzip der arrangierten Vernunftehe, das die Zukunft des Hauses und die Repräsentation nach außen sichern sollte, kollidiert mit dem romantischen Liebesideal des Bürgertums (s. dazu auch Luhmann 1994, 163). Doch während der Adel mit seiner auf Öffentlichkeit ausgerichteten Repräsentationspolitik eine freiere Sexualmoral meist stillschweigend duldete und zelebrierte, solange die Eheleute ihrer reproduktiven und repräsentativen Verpflichtung für die Familie nachkamen, ist das romantische Liebesideal der bürgerlichen Kernfamilie nach innen gerichtet und der sexuellen Exklusivität verpflichtet. Ritterschaftsrat von Briest weist in Andeutungen noch Züge dieser aristokratischen Libertinage auf. Darauf angesprochen, was ihr Vater zum Besuch des ehemaligen Verehrers seiner Frau sage, antwortet Effi: »Gar nichts. Der ist nicht so. Und dann kennt er ja doch die Mama. Er neckt sie bloß« (13). Ganz anders reagiert Innstetten auf mögliche Konkurrenz. Wiewohl beide dem Adel angehören, verkörpert Innstetten den preußischen Beamten par excellence. Briest und Innstetten sind nicht nur politische, sondern auch familiäre und weltanschauliche Gegenpole. Wo Innstetten mit seinen Spukgeschichten als Pädagoge agiert (s. Kap. 31), setzt Briest auf das Kreatürliche. Karriereambitionen,

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2019 S. Neuhaus (Hg.), Effi Briest-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04874-5_23

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vor allem »so die Blicke beständig nach oben richten zu müssen« (21), liegen ihm fern. Er wird mehrfach mit der ungebändigten Natur assoziiert und er ist es schlussendlich, der Effi nach Hohen-Cremmen zurückholt. Effi und ihr Vater bilden so eine Opposition zu Frau von Briest und Innstetten, die beide für die Exekution strenger Regelsysteme eintreten. Das zeigt sich paradigmatisch an der Unterhaltung Briests mit seiner Frau, als dieser beschließt, Effi nach Hause zu holen. Während Frau von Briest auf der Bedeutung der Gesellschaft beharrt und ihren Anschluss nicht verlieren möchte, weist Briest indirekt auf die Heuchelei eben jener ›Gesellschaft‹ hin: »Und dann glaube mir, Luise, die ›Gesellschaft‹, wenn sie nur will, kann auch ein Auge zudrücken« (328). Es ist nicht zuletzt dieses Spannungsfeld, in das Effi gerät, das ihre Ehe mit Innstetten scheitern lässt. Die widersprüchlichen Anforderungen an das Subjekt, in der familiäre Struktur und romantischer Code nicht kongruent sind (s. Kap. 41), auch in der Überlagerung des Allianzdispositivs durch das Sexualitätsdispositiv, münden in Effis innerer Zerrissenheit. Sie soll einerseits ihrer Rolle als aristokratische Ehefrau, Hausherrin und Mutter gerecht werden, gleichzeitig verlieren die rationalen und auf Distanz ausgerichteten Regeln des Zusammenlebens zunehmend an Gültigkeit, der Anspruch der romantischen Liebe hält Einzug in die Aristokratenfamilien. Als solche lebt die Familie Briest mit ihrem Sitz Hohen-Cremmen noch nach den Vorstellungen der Familie als Hausgemeinschaft, zu der neben den Eheleuten und der Verwandtschaft auch das Gesinde gehört, so wird Wilke beispielsweise als »das alte Briest’sche Haus- und Familienfaktotum« (13) bezeichnet. Auch in Kessin regelt der Adel noch das familiäre Zusammenleben intern und die sozialen Interaktionen der Ortsgemeinschaft. So verkehrt man gezwungenermaßen mit den ansässigen Adelsfamilien, auch wenn diese Besuche Effi ein Graus sind. Die aristokratische Familie ist ihrer Repräsentationspflicht unterworfen und steht unter ständiger Beobachtung. Sogar der eigene Haushalt ist von der Semiöffentlichkeit der um die Dienstboten erweiterten familiären Hausgemeinschaft geprägt. Totale Privatheit und Rückzug wie im Kleinbürgertum gibt es nicht. So markiert das Sozialsystem Adelsfamilie in Wahrheit eine Zwischenform zwischen dem Staat und der kleinsten Keimzelle, der Familie.

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Eine Briest: Familie und Identität Während Flaubert auf seine Titelheldin Emma Bovary mit ihrem verheirateten Namen referiert (s. Kap. 3), nennt Fontane seinen Roman Effi Briest und nicht etwa Baronin von Innstetten. Effis erster Auftritt erfolgt als eine von Briest und mit der Verewigung ihres Mädchennamens auf ihrer Grabplatte wird ihre Zugehörigkeit zu dieser Herkunftsfamilie für immer festgeschrieben. Dass ihr Mädchenname auf ihrem Grab steht, ist ihr letzter Wunsch. Zwar begründet sie dies damit, »dem andern keine Ehre gemacht« (349) zu haben, doch viel stärker bleibt der Eindruck der Desintegration ins Haus Innstetten, das ohne männlichen Nachfolger ohnehin seinem Ende entgegensieht. Auch in ihrer Kessiner und Berliner Zeit als Baronin von Innstetten löst sich Effi nicht von ihren Eltern, der Übergang von der Herkunftsfamilie zur selbst gegründeten Familie, und damit verbunden vom Kind zur Mutter, gelingt nicht. Effi stellt immerfort Vergleiche mit Hohen-Cremmen an (s. Kap. 27) und sie definiert sich auch in der Ehe mehrmals als eine von Briest, etwa in der Diskussion um den Spuk im Landratshaus (s. Kap. 22): »Und wenn Du von Familien sprichst, denen ihr Spuk so viel wert sei wie ihr Wappen, so ist das Geschmackssache; mir gilt mein Wappen mehr. Gott sei Dank haben wir Briest’s keinen Spuk« (93). Das »Haus Innstetten« weckt in Effi keine identifikatorischen Gefühle, weshalb sein Fortbestand ihr auch nicht am Herzen liegt, »[d]enn so adelsstolz sie war, so war sie’s doch nur für ihre Person« (263). Wenn Effi auf ihre Familie referiert, meint sie damit ausnahmslos ihre Herkunftsfamilie. Innstetten, Effi und Annie wachsen nie als familiäre Einheit zusammen. Als Effi der Brief in Bad Ems erreicht, dass ihre Affäre entdeckt und Crampas im Duell gefallen ist, trägt sie die Aussicht auf Scheidung und den Verlust ihres Kindes zunächst mit Fassung. Sie begibt sich sofort selbst wieder in die Rolle des Kindes: »Ich will sehen, was die Mama darüber schreibt, wie sie sich mein Leben denkt« (301). Erst als sie liest, dass auch ihre Eltern eine Rückkehr ins Elternhaus ausschließen, bricht sie in Tränen aus. Die Ehre des Hauses und des Familiennamens ist immer noch oberstes Prinzip, wie der Brief von Frau von Briest an Effi nach Bekanntwerden ihrer Affäre mit Crampas verdeutlicht: »Und was das Traurigste für uns und für Dich ist (auch für Dich, wie wir Dich zu kennen vermeinen) – auch das elterliche Haus wird Dir verschlossen sein; wir können Dir keinen stillen Platz in Hohen-Crem-

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men anbieten, keine Zuflucht in unserem Hause, denn es hieße das, dies Haus von aller Welt abschließen, und das zu thun, sind wir entschieden nicht geneigt« (301). Zwei Familienkonzepte treten hier in direkten Konflikt miteinander: Effis Mutter argumentiert dynastisch, sie agiert aus ihrer Sicht zum Schutz des Familiennamens. Drei Mal referiert sie in ihrem Brief auf das »Haus« und auf Hohen-Cremmen als Familiensitz. Effi hingegen sehnt sich nach der Familie in ihrer Funktion als emotionaler Schutzraum (s. Kap. 45). Die Konkurrenz betont auch Vater Briest, der sich daran stößt, dass auf dem Polterabend Effis Heirat mit Innstetten als Aufstieg inszeniert wird: »Wir sind doch nun ’mal eine historische Familie, laß mich hinzufügen Gott sei Dank, und die Innstetten’s sind es nicht; die Innstetten’s sind bloß alt, meinetwegen Uradel, aber was heißt Uradel? Ich will nicht, daß eine Briest oder doch mindestens eine Polterabendfigur, in der jeder das Widerspiel unserer Effi erkennen muß – ich will nicht, daß eine Briest mittelbar oder unmittelbar in einem fort von ›Hoher Herr‹ spricht. Da müßte denn doch Innstetten wenigstens ein verkappter Hohenzoller sein, es giebt ja dergleichen. Das ist er aber nicht, und so kann ich nur wiederholen, es verschiebt die Situation« (28).

Wo auf die Bedeutung des Hauses und der Dynastie gepocht wird, bei der Vorbereitung auf die Hochzeit, vor allem aber durch den symbolischen Akt des Verstoßens, der als familiäre Schutzhandlung legitimiert wird, scheint in Wahrheit schon längst die Kernfamilie Einzug gehalten zu haben. Die Abkunft vom real existierenden Briest, »der am Tag vor der Fehrbelliner Schlacht den Überfall von Rathenow ausführte« (73), wie Effi stolz verkündet, ist nur noch historische Folie, die zumindest im erzählten, beschaulichen Alltagsleben der Briests kaum mehr als eine ideelle Rolle spielt. Zum Zeitpunkt, als Fontane auf die märkische Adelsfamilie stieß, existierte diese schon nicht mehr. Dennoch steht die Familie Briest dem fast waisenhaft gezeichneten Innstetten gegenüber, dessen Abstammung nicht näher erläutert wird, was zu seiner seltsamen Beziehungslosigkeit passt. Für Effi steht, trotz ihrer starken Identifikation mit dem Haus Briest, die behütende Funktion der Familie im Vordergrund. Beide Familien stehen indes ohne Erbsohn vor dem Aussterben, was als Hinweis auf die emotionale Dysfunktionalität gelesen werden kann (s. Kap. 5, 35, 45).

Ehebruch und Sexualität im Kontext Familie Auch was die literarische Darstellung und Bewertung des Subjekts als Teil der Familie angeht (s. Kap. 46), ist Effi Briest ein Text, der literatur- und kulturhistorisch zwischen zwei Topoi steht, nämlich dem der Täterschaft und jenem des Opfertums. Die Ehebrecherin ist eine Figur, die bis weit ins 20. Jahrhundert hinein als Gefahr für die Familie und Basis der heteronormativen, arbeitsteiligen Gesellschaftsordnung inszeniert wird (Tanner 1979, 13; Krause 1999, 117), sowohl als Ehefrau, die die eigene Familie gefährdet, als auch als unmoralische Verführerin von außen (s. Kap. 43). Dem Topos konstituierend inhärent ist der Tod der moralischen Delinquentin. Die narrativ verhängte Todesstrafe für moralische Verfehlungen im Feld sexueller Normen und Gebote reicht von der Bestrafung unehelicher Beziehungen im Bürgerlichen Trauerspiel über die Ehebrecherin bis hin zu Verstößen gegen die heteronormative Matrix in Form homophiler Tendenzen oder queerer Körperkonzepte (Schuchter 2012, 156–171). Fontanes Roman fällt in eine Zeit, in der dieser Diskurs zu kippen beginnt. Effi erleidet zwar die narrative »Strafe der psychischen oder physischen Zerstörung« für die »Gefährdung der Familie« (Kanz/Anz 2000, 20) durch ihre Untreue, doch die Strafe erfolgt nicht mehr durch den Erzähler als moralische Instanz, sondern wird der Gesellschaft angelastet. Die Moderne, in der »zunehmende Zweifel an dem Wert der Institution der Ehe und Familie« aufkommen, dämmert schon und »weibliche Subjekte« werden zunehmend von den Verursacherinnen zum »Opfer familiärer Desaster« (ebd., 21). Effi selbst nimmt die Schuld auf sich, die Scheidung und die Tatsache, dass Annie laut Gesetz dem Vater zugesprochen wird, stellt sie weder in Frage noch kämpft sie dagegen an: »Ich bin schuldig, und eine Schuldige kann ihr Kind nicht erziehen« (301). Damit ist auch ein anderer entscheidender Aspekt der Familie angeschnitten, deren Struktur aus den »Grundbausteinen Mutter-Vater-Kind« (Rendtorff 2007, 94) heteronormativ stabilisierend wirkt, Geschlechterrollen entlang den übergeordneten gesellschaftlichen Leitdifferenzen formt und notfalls sanktionierend eingreift. Die Familie ist das pädagogische Regulativ, das Männlichkeit und Weiblichkeit nach dem eigenen Vorbild zu reproduzieren versucht. Sie ist aber auch der Raum, der Sexualität tabuisiert und innerfamiliäres Begehren zu verbergen und unterdrücken versucht. Im Werk Fontanes zeigt sich das im vielfältigen Einsatz des Inzest-Motivs (s. Kap. 39).

23 Familie

Auch in Effi Briest kommt dieses in verschiedenen Konstellationen zum Einsatz, wenn auch versteckter als in anderen Texten, etwa in der Novelle Geschwisterliebe von 1839.

Individuelle Mechanismen Bisher wurde Familie vor allem als im Umbruch befindliches Sozialsystem, und damit durch die gesellschaftspolitische Brille, betrachtet. Ein Blick auf die Eigenheiten der Familien, abseits der gesellschaftlichen, strukturell organisierten Verankerung, ist besonders psychoanalytisch interessant (s. Kap. 39). Fontane setzt auf ein begrenztes Figurenpersonal, sowohl Effis Herkunftsfamilie als auch ihre selbst gegründete mit Innstetten bleiben beschränkt auf die Eltern und ein Kind. Die Ehe der Briests war zwar keine Liebesheirat und ist einem ständischen Modell verpflichtet (s. Kap. 24, 26), dennoch wird die Familie und der familiäre Alltag als durchwegs harmonisch beschrieben. Die Schilderung der liebevollen Beziehung zwischen Effi und ihren Eltern überdeckt nur schemenhaft ein narrativ schon früh evoziertes Unbehagen, das vor allem im Verhältnis der Mutter zu Innstetten und Effis kindlichem Auftreten gründet. Effi wird als spielendes Mädchen eingeführt, das keinesfalls über die Reife verfügt, eine selbstbestimmte Entscheidung über Innstettens Antrag zu fällen. Die Art, wie ihre Mutter Innstettens Antrag übermittelt, lässt ihr kaum Möglichkeit zum Widerspruch, auch ihr Vater greift nicht ein. Drastisch ausgedrückt, steht Effi in der Tradition der verhökerten Tochter in einer Traditionslinie mit Frauenfiguren wie Emilia Galotti und der Marquise von O... (vgl. dazu Kraft 1993), was nur die Frau von Pastor Niemeyer deutlich kommentiert: »Wenn’s die Mutter nicht sein konnte, muß es die Tochter sein« (20). Die Mutter-Tochter-Beziehung ist nur an der Oberfläche eine harmonische. Unter der Fassade ist das Verhältnis in mehrfacher Hinsicht gebrochen und sexuell aufgeladen: Effi ist nicht nur als Braut die erotische Stellvertreterin ihrer Mutter, was sie indirekt in ein Konkurrenzverhältnis katapultiert, auch sie selbst sexualisiert die Mutter, wenn sie im Gespräch mit ihren Freundinnen davon spricht, wenn sie ein junger Leutnant wäre, »so würd’ ich mich in die Mama verlieben« (11). Luise von Briest ist literarhistorisch eine ungewöhnliche Figur. Allein ihre Präsenz ist erstaunlich, gehört die Mutter in der neueren deutschen Literatur doch zu den am stärksten marginalisierten Figuren

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überhaupt (Anz/Kanz 2000, 36). Sie entspricht nicht dem verklärten Bild der entsexualisierten Mutter (Möhrmann 1996, 6), das oft gerade durch ihre Abwesenheit mystifiziert wird, und auch die patriarchale Symbolik ist umgedreht. Nicht der Vater ist der vorrangige Vertreter des patriarchalen Systems, sondern seine Frau. Regina Dieterle weist darauf hin, dass eine vollständige Familie auch im erzählerischen Werk Fontanes eine Ausnahme darstellt (Dieterle 1996, 240), wobei Mütter und Väter gleichermaßen abwesend sind, um durch diese soziale Leerstelle Dynamiken zu initiieren, die sonst gesellschaftlich entweder nicht erforderlich oder nicht akzeptabel wären. Effis Vater reagiert auf die Neuordnung der Familie affirmativ, in kleinen Gesten und Äußerungen verbirgt sich aber auch innere Abwehr. Er reklamiert für sich die Benennung der neuen Familienkonstellation und ihrer Protagonist*innen und bestimmt, dass seine Frau als »Mama« zu bezeichnen sei, was die erotisch aufgeladene Beziehung zwischen Luise und Innstetten untergräbt (Dieterle 1996, 244), er selbst verweigert aber »den Ehrentitel ›Papa‹« (19) und will schlicht als Briest bezeichnet werden. Bei der Schilderung des Familienlebens der Innstettens liegt der Fokus auf der ehelichen Beziehung. Innstettens Beziehung zu seiner Tochter bleibt nebensächlich, seine Rolle als Vater wird ambivalent gezeichnet. Bei einem Weihnachtsfest ist er zu Roswithas Erstaunen »unbefangen und heiter, schien sich seines häuslichen Glücks zu freuen und beschäftigte sich viel mit dem Kinde« (173). Dann wieder agiert er als Vater, ähnlich seiner Rolle als Ehemann, distanziert und unbeholfen. Beim Essen sitzen sich »Innstetten und Annie [...] eine Weile stumm gegenüber«, bis »ihm die Stille peinlich« (272) wird und er pro forma Fragen über Annies Schule stellt. Schon vor der Scheidung, besonders aber in der Zwischenphase, in der Effi im herkömmlichen Sinn familienlos ist, wird die rechtliche und verwandtschaftliche Familie durch eine emotionale ersetzt. Am Ende werden Effis engste Vertraute, Roswitha und Rollo, nach Hohen-Cremmen kommen und damit dem Haus Briest und der erweiterten Kernfamilie angehören. Beide können dem Konzept der sozialen und emotionalen Familie zugeordnet werden. Roswitha ist es, die Annie benennt und mütterliche Funktionen übernimmt, nach der Scheidung entscheidet sie sich, bei Effi zu bleiben, nicht aus rationalen Gründen, sondern aus einem Gefühl der Zugehörigkeit heraus, was der Erzähler in einem seiner spärlich gestreuten auktorialen Kommentare dramaturgisch deutlich hervorhebt und Roswi-

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thas Bedeutung damit unterstreicht. Effis Tochter Annie hingegen wird als Erbtochter der Briest anerkannt, was eine rechtliche familiäre Beziehung herstellt, wo die soziale und emotionale (s. Kap. 35, 45) schon längst verloren ist. Literatur Anz, Thomas/Christine Kanz: Familie und Geschlechterrollen in der neueren deutschen Literaturgeschichte. Fragestellungen, Forschungsergebnisse und Untersuchungsperspektiven (Teil I). In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 32, H. 1 (2000), 19–44. Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a. M. 1986. Brinker-von der Heyde, Claudia/Helmut Scheuer (Hg.): Familienmuster – Musterfamilien. Zur Konstruktion von Familie in der Literatur. Frankfurt a. M. 2004. Dieterle, Regina: Vater und Tochter. Erkundungen einer erotisierten Beziehung in Leben und Werk Theodor Fontanes. Bern u. a. 1996. Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1. Frankfurt a. M. 1983. Fuhs, Burkhard: Zur Geschichte der Familie. In: Jutta Ecarius (Hg.): Handbuch Familie. Wiesbaden 2007, 17–35. Hausen, Karin: Die Polarisierung der ›Geschlechtscharaktere‹. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben. In: Werner Conze (Hg.): Sozialgeschichte

der Familie in der Neuzeit Europas. Stuttgart 1976, 363– 393. Kraft, Helga/Elke Liebs (Hg.): Mütter – Töchter – Frauen. Weiblichkeitsbilder in der Literatur. Stuttgart 1993. Krause, Edith H.: Desire and Denial. Fontane’s Effi Briest. In: The Germanic Review: Literature, Culture, Theory 74, H. 2 (1999), 117–129. Langendorf, Erich: Zur Entstehung des bürgerlichen Familienglücks. Frankfurt a. M. 1983. Luhmann, Niklas: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt a. M. 1994. Martinec, Thomas/Claudia Nitschke (Hg.): Familie und Identität in der deutschen Literatur. Frankfurt a. M. 2009. Matz, Wolfgang: Die Kunst des Ehebruchs. Emma, Anna, Effi und ihre Männer. Göttingen 2014. Möhrmann, Renate (Hg.): Verklärt, Verkitscht, Vergessen. Die Mutter als ästhetische Figur. Stuttgart 1996. Notz, Gisela: Kritik des Familismus. Theorie und soziale Realität eines ideologischen Gemäldes. Stuttgart 2015. Rendtorff, Barbara: Geschlechteraspekte im Kontext Familie. In: Jutta Ecarius (Hg.): Handbuch Familie. Wiesbaden 2007, 94–35. Schuchter, Veronika: Textherrschaft. Zur Konstruktion von Opfer-, Heldinnen- und Täterinnenbildern in Literatur und Film. Würzburg 2012. Tanner, Tony: Adultery in the Novel. Contract and Transgression. Baltimore/London 1979.

Veronika Schuchter

24 Ehe, Erotik und Sexualität

24 Ehe, Erotik und Sexualität Ehe Schon der erste Rezensent stellte fest: Effi Briest »ist ein Ehebuch« (Schafarschik 2002, 115). Mögen die konventionellen oder gar trivialen Romane der Epoche den Erzählverlauf durch eine glückliche Hochzeit als End- und Höhepunkt einer Liebesgeschichte krönen – Fontanes Roman stellt die Ehe an den Anfang. Dabei steht Effis Ehe von diesem Anfang an unter keinem günstigen Stern. Effis Eheschließung wird ohne die eigentlich übliche Anbahnung viel »zu früh« arrangiert (17) und entspringt dem Ehrgeiz der Mutter: »Du wirst deine Mama weit überholen« (18). Während Effi noch um eine Antwort ringt, wird sie mit dem plötzlich auftauchenden Bewerber konfrontiert – der Erzähler führt Innstetten mit einem (von ihm sonst selten benutzten) Gedankenstrich ein, so dass Effi ein »nervöses Zittern« überfällt (s. Kap. 35). Zusammen mit dem vergeblichen Rückruf der Spielkameradinnen: »Effi, komm« (18), gibt es warnende Winke des Schicksals genug, dass bei dieser Eheanbahnung einiges nicht stimmt. Sogar der gegen »alles Abergläubische« eingenommene Innstetten erkennt solche »Zeichen« und ahnt, dass dahinter »mehr als ein bloßer Zufall« stecken könnte (22). »Noch an demselben Tage« (19) findet die Verlobung statt. Der alte Briest, der »joviale Brautvater« (19), rettet sich zur Charakterisierung dieses recht schiefen Bundes durch »poetische Bilder« um die Vornamen der Brautleute: »Geert, wenn er nicht irre, habe die Bedeutung von einem schlank aufgeschossenen Stamm, und Effi sei dann also der Epheu, der sich darum zu ranken habe« (19–20). Seine Frau weist dieses Bild als misslungen zurück: »das liegt jenseits deiner Sphäre« (20); dabei enthält Briests scheinbar missglücktes Bild einen von ihm selbst kaum geahnten Bezug auf die mit Efeu bewachsene »Kirchhofsmauer« (5) der Eingangsszenerie und damit eine präzise Vorausdeutung (s. Kap. 13, 38). Wie sehr diese Ehe aus einer durchsichtigen Motivation der Mutter gespeist ist und den »Charakter einer Ersatzhandlung« trägt (Grawe 1985, 92), gibt Innstetten schon durch seinen Namensanklang (engl. »instead«) und als ehemaliger Verehrer der Mutter kund. Im Spiegel der Erzählung Effis handelt es sich dabei um »eine Liebesgeschichte«, die den »alten Freund aus ihren Mädchentagen her« in die »Entsagung« (8–9) getrieben habe; denn »es war auch gegenseitig« (11). Durch die Entscheidung der Belling-Toch-

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ter zugunsten Briests, »der schon Ritterschaftsrat war und Hohen-Cremmen hatte« (12), entsteht eine vorteilhafte Konventionsehe. Effis kindlicher Kommentar: »es kam, wie’s kommen mußte, wie’s immer kommt« (11), zeigt, dass sie die inneren Verletzungen Innstettens von damals einfach so abtut: »das Leben hat er sich nicht genommen« (12). Während sich für Innstetten an Effis Mutter immer noch »so viel Erinnerungen knüpfen« (13), wird ihm die Tochter von ihrer Mutter, »die unter Umständen auch unkonventionell sein konnte«, in ihrer ganzen verführerischen Kindlichkeit »wie ein Bild frischesten Lebens« präsentiert (17). Die kurze Verlobungszeit des Brautpaars lässt sich nur an seinem Briefwechsel ablesen, dessen Gewohnheitsmäßigkeit man »fast vergessen« (34) kann. Am »Polterabend« (38) verfällt der Brautvater wieder in seine »Zweideutigkeiten«, in denen er Effis Hochzeit mit einer »Jagdpartie« vergleicht: »er sähe darin keinen so großen Unterschied«. Da klingt es geradezu verdächtig, wenn der Erzähler gleichsam als Resümee, eher betulich als begeistert feststellt: »Auch der Hochzeitstag selbst war gut verlaufen« (39). Effi geht in diese Ehe mit gespielter Gleichgültigkeit: »Jeder ist der Richtige« (21). Ihre eigenen Ehevorstellungen sind unklar und höchst konventionell. Blendet Effi Sexualität völlig aus oder nicht (Neuhaus 2002, 151)? Ihr verschämter Kommentar zu ihrer eigenen Zeugung scheint darauf hinzudeuten: »Und das andere, was sonst noch kam, nun, das wißt ihr ... das andere bin ich« (12). Für ihre eigene Konventionsehe lehnt sie eine »Musterehe« ab (34); stattdessen fordert sie: »ich bin für gleich und gleich und natürlich auch für Zärtlichkeit und Liebe« (34–35). Was wie ein aufquellendes frühes weibliches Selbstbewusstsein klingt, ist es freilich nicht, sondern wird sogleich zurückgenommen für »Reichtum und ein vornehmes Haus« (35). Daraus entsteht dann eine Dreieinigkeit in absteigender Reihenfolge: »Liebe kommt zuerst, aber gleich hinterher kommt Glanz und Ehre, und dann kommt Zerstreuung« (35). Auf die konkrete Frage der Mutter: »Liebst Du Geert nicht?«, antwortet Effi zunächst ausweichend, indem sie den Liebesbegriff ausweitet: »Warum soll ich ihn nicht lieben?« – »Ich liebe alle, die’s gut mit mir meinen« (37). Dabei ist Effis Mutter ganz klar, dass ihre Tochter nicht »recht eigentlich auf Liebe gestellt« ist (43–44), sondern nur so spricht, »weil sie [es] irgendwo gelesen hat«: »Aber sie empfindet nicht viel dabei« (44). Gleich daneben steht aber auch schon Effis kaum verborgener Hinweis, dass unter dieser Oberfläche der Konventionalität durchaus verborgene

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2019 S. Neuhaus (Hg.), Effi Briest-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04874-5_24

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Wünsche und Sehnsüchte schlummern: »Ich klettre lieber und ich schaukle mich lieber« (37). In der Deutung der Eltern halten sich bei Effi »Vergnügungssucht und Ehrgeiz« bisher noch die Waage; sie formulieren aber auch eine unbestimmte Furcht vor der Zukunft: »sie hat auch ’was Rabiates und läßt es auf alles ankommen« (44). Ihre eigene Ehe deutet Effi gegenüber ihrem Ehemann in völliger Verkehrung der Realitäten, wer hier wen gewählt hat: »Ich habe Dich eigentlich bloß aus Ehrgeiz geheiratet« (95). Tatsächlich macht sich selbst Effi etwas vor, wenn sie glaubt, sie sei es gewesen, die Innstetten gewählt habe: »Hätte ich sonst Dich?« (78) Dies mag zwar in tröstendem Zusammenhang nach einem Streit gesprochen sein (»Wie gut Du bist, Geert, und wie nachsichtig«; 95), ist aber nur den Vorgaben der Mutter nachgeplappert. Effi greift die Prognose der Mutter bei der Anbahnung dieser Ehe auf: »so stehst Du mit zwanzig Jahren da, wo andere mit vierzig stehen. Du wirst Deine Mama weit überholen« (18). In anderer Formulierung war ihre Mutter zu einer kritischen Einschätzung gekommen: »Innstetten ist ein Carrieremacher« (44). Noch mehr als diese unterschiedlichen Beurteilungen mag die »Inkompatibilität der Persönlichkeiten« (Grawe 1985, 59) für das Misslingen dieser Ehe eine Rolle spielen. Dabei kommt dem Altersunterschied die geringste Rolle zu; schließlich bezeichnet Effi ihren ihr fast gleichaltrigen Vetter Dagobert als »halber Junge« (37), Innstetten hingegen als richtigen Mann: »daß er älter ist als ich, das schadet nichts, das ist vielleicht recht gut« (38). Freilich sind Effi und Innstetten von Anfang an keine gleichwertigen Ehepartner, sondern leben ein asymmetrisches Verhältnis, das eher den Charakter einer Herrschaftsordnung trägt. Auch wenn das dem damaligen Rollenbild der Frau in einer gutbürgerlichen Ehe entspricht, hätte Effi an der Ehe ihrer eigenen Eltern sehen können, dass auch in einer Konventionsehe ein anderes Geschlechterverhältnis der Ehepartner möglich sein kann. Innstetten tritt als alleiniger Taktgeber der Lebensführung auf, der sich nach den gesellschaftlichen Konventionen richtet, da man sich bei Verstoß dagegen von der »Lächerlichkeit« »nie wieder erholen« könne (92). Selbst seine Duellbegründung gilt nur der Ehe als gesellschaftliche Institution, nicht als Liebesbeziehung, obwohl er doch selbst eine solche behauptet: »ich liebe meine Frau, ja, seltsam zu sagen, ich liebe sie noch« (277). Ehebruch ist und bleibt eine Störung der sozialen Ordnung, kein Vertrauensbruch innerhalb einer Liebespartnerschaft.

Innstettens Umgang mit seiner Ehefrau ist entweder in die Koseform »kleine Eva« (36) oder in den Belehrungsgestus wie auf der Hochzeitsreise gekleidet. Immer aber verläuft die Beziehung von oben nach unten, was Effi erst spät und dann im Zorn erkennt und formuliert: »ein Schulmeister war er immer« (325). Nach der (freilich eigennützigen) Deutung von Crampas ist Innstetten »der geborene Pädagog« (156) und arbeitet mit Mitteln der Einschüchterung nicht nur beim Chinesenspuk. Dieser Chinesenspuk (s. Kap. 22) liefert auch eine Parallelgeschichte zur Ehe Effis. An markanter Stelle, im 10. Kapitel, das ein Ehekapitel ist, erfährt der Leser aus dem Munde Innstettens, dass der Chinese in eine »Geschichte« um »Kapitän Thomsen« eingebettet ist, die wie Innstettens Ehe asymmetrisch angelegt ist. Wie Innstetten lässt sich Thomsen in Kessin nieder (»Kurz und gut, er war nun da«; 97) und stellt damit eine Art Vorläufer der eigenen Lebensweise dar: »und kaufte sich ein Haus, dasselbe, drin wir jetzt wohnen« (98). Die Hochzeit von »Thomsens Enkelin« geschieht »nach des Alten Wunsche«; es folgt das Verschwinden der Braut und der Tod des Chinesen. Der den Chinesen beerdigende, bald selbst verstorbene, aus Berlin zugezogene Pastor Trippel verbindet diese Konstellation mit der bei Gieshübler eingeladenen Sängerin Trippelli, denn er ist »der Vater von der Trippelli« (100). Beides verschränkt sich mit Gieshübler, »den sie übrigens ›Onkel‹ nennt«, was von Effi als »reizend« und »was Apartes« (100) aufgegriffen, von Innstetten sofort zurechtgewiesen wird: »Aber hüte Dich vor dem Aparten« (101). Der ungewöhnliche Begriff enthält, im französischen Lehnwort versteckt, freilich schon Effis Seitensprung. In der Figur des Vetters Dagobert deutet der Roman eine denkbare Alternative zu Effis Ehe mit Innstetten an. Der Roman spielt immer wieder mit der Möglichkeit, verwirft sie und hält sie in dieser Verwerfung dann doch offen. Es beginnt mit Effis Kindheitserinnerungen, »als Vetter Briest als Kadett hier war« (15), der sich später als »ein ungemein ausgelassener, junger Leutnant« zeigt, »den Damen für jede dienstfreie Stunde zur Verfügung« steht (23) und für »himmlische Tage« bei allen Berlinaufenthalten sorgt (24). Vetter Dagobert, der sowohl Mutter wie Tochter »anzuregen und aufzuheitern« befähigt ist und immer »gute Stimmung« verbreitet (26), wird so sehr zum Orientierungspunkt der Briests, dass er wie selbstverständlich immer dazu gehört (34), bis es Effis Mutter schwant, er hätte der geeignetere Ehemann für Effi sein können: »Und hättest Du Vetter Briest heiraten

24 Ehe, Erotik und Sexualität

mögen?« (37) Von Effi wird dieses Ansinnen ohne Nachdenken zurückgewiesen, doch ihre Ablehnung belegt eigentlich das Gegenteil: »Er ist ja noch ein halber Junge. Geert ist ein Mann« (37). Diese Feststellung wird von der Mutter später triumphierend aufgegriffen und entstellend vereindeutigt; denn so – Dagobert als »großer Kadett in Leutnantsuniform«, Innstetten als »der Träger aller männlichen Tugenden« – war sie von Effi gar nicht formuliert worden (43). Bei der Rückkehr von der Hochzeitsreise und vor dem Einzug in Kessin macht das junge Paar Zwischenstation in Berlin, bei der Vetter Briest einen »Panoramabesuch« mit anschließendem »Gabelfrühstück« vorschlägt (48), mithin nach Leutnantsart noch einmal die Welt der Großstadt mit dem anzusteuernden Provinznest kontrastiert. In Effis Kessiner Einsamkeit konserviert er das Bild unterhaltsamer Erinnerungen, »wirklich charmant und immer so übermütig« (82). An Festtagen liefert Dagobert sinnige Geschenke und weist in angeheitertem Zustand Innstetten darauf hin, dass er sich selbst durchaus als Ehemann Effis vorstellen könnte: »Wissen Sie Innstetten, daß ich Sie am liebsten fordern und totschießen möchte? Denn Effi ist ein Engel, und Sie haben mich um diesen Engel gebracht« (212). Trotz der Vorausdeutung auf das Duell und Dagoberts ganz anderer Einschätzung der schon ›gefallenenen‹ Effi als »Engel« ändert sich nichts an Effis früherem Urteil über den Vetter als »dalbrig« und wenig männlich: »Männer müssen Männer sein« (212–213). Nach dem fast fluchtartigen Verlassen Kessins erkennt Vetter Briest die Veränderungen an Effi sofort; sie sei »noch hübscher geworden«: »Und mit dem Stürmischen wird es wohl auch noch nicht vorbei sein.« Diese Menschenkenntnis des Vetters wird ihm von Effi abgesprochen, er sei »alles, nur kein Menschenkenner« (227). Zu dieser Fehleinschätzung passt es, dass sich Dagoberts Lektüreerfahrungen aus den »Fliegenden Blättern« und dem »Kladderadatsch« speisen (228) und seine Witze eher »dumm« sind (229). Gleichzeitig gesteht Dagobert auf Vorhaltung, dass »er sich seltener sehen ließ, als vordem und auf die Frage nach dem ›Warum‹ anscheinend ernsthaft versicherte: ›Du bist mir zu gefährlich, Cousine‹« (231). Effi weist diese »Form des Courmachens« zwar als lächerlich zurück (231), verwendet dafür aber einen verräterischen Begriff, den sie später auf Innstetten (»du sprichst ja wie ein Courmacher«; 260) anwenden wird und zuvor für Oberst Goetze (7) gebraucht hatte, um einer ernsthaften Auseinandersetzung in der Sache zu entgehen.

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Erotik und Sexualität Unter solchen Voraussetzungen erscheint der Ehebruch als geradezu natürliche Konsequenz, zumal Crampas neben seinen Verführungskünsten auch die Autorität Innstettens mit einer scheinrationalen Rechtfertigung untergräbt, auf die Effi bereitwillig eingeht: »Und will er mich auch erziehen?« (156) Die Innstetten angekreideten mangelnde Fähigkeiten als »Liebhaber« sind allerdings mit Vorsicht zur Kenntnis zu nehmen, weil sie aus einer Erzählperspektive gesprochen sind, in der sich der Erzähler und Effi bis zur Ununterscheidbarkeit vermischen: »Innstetten war lieb und gut, aber ein Liebhaber war er nicht« (119). Gleiches gilt für die »wohlgemeinten, aber etwas müden Zärtlichkeiten, die sich Effi gefallen ließ, ohne sie recht zu erwidern« (120). Fontane hat in seinen Briefen mehrfach davor gewarnt, aus dieser Effi-Perspektive Innstetten nur als »alten Ekel« zu betrachten (Brief an Anna Witte, 18.10.1895, und an Clara Kühnast, 27.10.1895). Außerdem gibt es noch eine ganz andere Aussage von Effis Onkel, in der ihr Ehemann als »Zärtlichkeitsmensch und unterm Liebesstern geboren« bezeichnet wird (143). Dass man Innstetten als nicht recht erfolgreichen Liebhaber Effis auch ganz anders bewerten kann, zeigt die Untersuchung von Settler, der den Roman gegen den Strich liest und auf diese Weise »eindeutig überzeugende Belege« durch »eine intensive Sprachanalyse« beibringen kann, »daß das Hausmädchen Johanna Innstettens Mätresse ist« (Settler 1999, 7). Der Chinesenspuk (s. Kap. 22), Johannas offen zur Schau gestellte Verehrung Innstettens (293) und ihr merkwürdig distanziertes Verhalten gegenüber Effi erschienen dann in einem ganz anderen Licht. Erotik und Sexualität spart Effi Briest aus, wenn es nicht auf dem Pfad des Zweideutigen transportiert werden kann (Neuhaus 1997). So findet man Erotisches auch beim Verhältnis mit Crampas nur in literarisch verbrämten Anspielungen (s. Kap. 33), etwa verkleidet wie beim »Blaubartskönig« (163) oder beim von Crampas zurückgehaltenen Trinkglas in dem Bemühen, »sich vor der Zeit auf den König von Thule hin auszuspielen«, was von Effi ebenfalls anspielend quittiert wird: »Ich mag nicht als Reimwort auf Ihren König von Thule herumlaufen« (166). Fontane selbst hat in einem Brief an eine Bekannte am 12. Juni 1895 darauf hingewiesen, dass eine direkte Darstellung von Sexualität für ihn prinzipiell nicht in Frage komme, er aber trotzdem in der Darstellung der »Sache« mehr als eindeutig gewesen sei: »Daß ich die Sache im unklaren gelassen hätte, kann ich nicht zugeben, die berühmten

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IV Themen, Motive und Symbole

›Schilderungen‹ (der Gipfel der Geschmacklosigkeit) vermeide ich freilich« (zit. nach Schafarschik 2002, 110). Unter der Oberfläche kann man allerdings auch anderes lesen. Als Effi in einem Brief an ihre Mutter Crampas als »Damenmann« einführt, verrät sie sich unwissentlich. Nicht nur nimmt die Charakterisierung des neuen Ortsbewohners fast den ganzen Brief ein; Effi gebraucht auch gleich zweimal der Begriff »Notstand« (121–122). Diese Einschätzung ist nicht nur ganz weit weg von der realgeschichtlichen Vorlage und dem dortigen Amtsrichter Hartwich; sie widerspricht auch Effis späterem Selbsteingeständnis, dass sie Crampas »nicht einmal liebte und den ich vergessen hatte, weil ich ihn nicht liebte« (325). Ebenfalls unter der Oberfläche des Romans bleibt die auffällige Kinderarmut innerhalb der zentralen Familienkonstellationen gedeckelt – und dies in Zeiten vor einer regelrechten Geburtenplanung (s. Kap. 23). Zwar gibt es Anspielungen darauf in der Ehe der Briests, die von Seiten der Mutter eine Vernunftehe war und mit deren emotionaler Distanz sich der alte Briest anscheinend abgefunden hat. Effi ist jedenfalls, im Unterschied zur historischen Vorlage der Ardenne-Familie (s. Kap. 9), ein Einzelkind geblieben. Die genauen Gründe dafür blendet der Roman aus, will man nicht aus den Spitzen Frau von Briests gegen ihren Ehemann Anspielungen auf den Alltag ihrer Eheführung ablesen. Ebenfalls im Unterschied zur Romanvorlage bleibt es auch in Effis eigener Ehe bei einem Kind. Aus der Geburt der Tochter Annie am 3. Juli lässt sich ein Zeugungsdatum während der Hochzeitsreise errechnen (s. Kap. 13); diese bleibt ansonsten genauso im Dunkeln wie Effis Schwangerschaft, die sie ihrer Mutter zögernd und zuerst verklausuliert mitteilt, dass »unser Hausstand sich mehr belebt« (114). Bei der Geburt Annies – »schade, daß es ein Mädchen ist« – wird vom Hausarzt die Erzeugung eines Stammhalters geradezu eingefordert: »Aber das andere kann ja nachkommen« (135). Ob es dank Innstettens »wohlgemeinten, aber etwas müden Zärtlichkeiten, die sich Effi gefallen ließ, ohne sie recht zu erwidern« (120), nicht zu weiteren Kindern kommt, oder ob es andere Gründe hat, diskutiert der Roman auf einer anderen Ebene. Auch in Hohen-Cremmen sieht man durchaus »eine Wolke« am »klaren Himmel« von Effis Mutterglück (262), dass es nämlich »bei Klein-Annie sein Bewenden haben werde«. Denn nicht nur der alte Briest sorgt sich, dass sowohl das »Haus Innstetten« als auch die Familie Briest »mutmaßlich auf dem Aussterbeetat« stehen: »Ausführungen, die von Innstetten selbst immer mit einer kleinen Verlegenheit, von Frau von Briest mit

Achselzucken, von Effi dagegen mit Heiterkeit aufgenommen wurden« (263). Sogar »der alte Rummschüttel, der auf dem Gebiete der Gynäkologie nicht ganz ohne Ruf war« (263), wird zu Rate gezogen und empfiehlt einen Kuraufenthalt, um dieses Manko bei Effi zu beheben. Dass die Abfahrt dorthin ausgerechnet auf den »Johannistag« (264) fällt, gibt der Episode eine zusätzliche ironische Note (s. Kap. 21). Unter dieser Schwelle lässt sich allerdings eine verborgene Sexualität Effis beobachten, die mit dem Komplex des Schaukelns zusammenhängt, das eine Art Kribbelgefühl hinterlässt und den Gedanken an Absturz immer mit sich führt (37). »Diese Luftbilder sind Signale sexuellen Verlangens« (Böschenstein 2006, 79). Dazu gehört auch das Bedürfnis Effis nach Luft (Tebben) sowie die Anziehungskraft, die Wasser und Meer auf sie haben. Auch der Wunsch nach einem japanischen Wandschirm »im Halblicht einer roten Ampel«, von Effi als »so schön und poetisch gedacht, alles in einem roten Schimmer zu sehen«, von der Mutter als »Unpassendes« und »wohl noch Schlimmeres« abgelehnt (32–33), darf man unter diesem Gesichtspunkt des Unterschwelligen einordnen. Schon Effis Kindheit war ja eingespannt gewesen zwischen »Jungenskittel« und »kurze Kleider«: »setze ich mich auf Oberst Goetze’s Schoß und reite hopp, hopp. Warum auch nicht? Dreiviertel ist er Onkel und nur ein Viertel Kourmacher« (9). Unter sexualtherapeutischer Perspektive lässt sich also durchaus fragen, ob Fontane in seiner Titelfigur schon das Psychogramm einer unbefriedigten und/oder depressiven Frau gezeichnet hat (Greve 1986). Auch Alonzo Gieshübler tritt nicht nur als der gute Onkel und als eine Art platonischer Verehrer Effis auf, sondern lässt sich durchaus als Wegbereiter für Crampas’ Verführungsbemühungen betrachten; vielleicht fungiert er sogar als »unfreiwilliger Kuppler« (Hehle 1999, 146), indem er Crampas’ Theaterpläne fördert (169). Als Einziger durchschaut er, dass nicht der Schloon für Effi eine Gefährdung dargestellt hat, wie Innstetten geträumt hat (»er versank mit Dir«; 190), sondern die »Fährlichkeit« der anschließenden Fahrt durch den Wald (192). Immer wieder bringt der Roman Gieshübler, der »der beste Kerl von der Welt« sein soll, meist redensartlich in Verbindung mit Crampas (160). Innstetten und Effi thematisieren diesen Zusammenhang sogar ausdrücklich, wenn Innstetten äußert, »daß ich Dich lieber mit Gieshübler als mit Crampas sehe«, worauf Effi antwortet: »Weil Du den Crampas zu schwer und den Gieshübler zu leicht nimmst« (193). Schon durch seinen Namen, den auch ein spru-

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delndes saures Mineralwasser trägt, ruft Gieshübler nicht unbedenkliche Assoziationen hervor (Hehle 1999, 148). Mit seinen anspielungsreichen »Huldigungen« setzt Gieshübler Zeichen, etwa wenn er Effi zum »Ressourcenball« (113) an Silvester ausgerechnet »Kamelien« (114) aus seinem eigenen »Treibhaus« schickt (113–114). Alexandre Dumas’ Erfolgstitel Die Kameliendame (Roman 1848, Drama 1852) und Guiseppe Verdis Oper La Traviata (1853) waren zu bekannt, als dass die Anspielung übersehen werden könnte (s. Kap. 14, 33). Zuletzt findet Effi, jetzt aus dem Mund der mit »Bonhommie« ausgestatteten Trippelli, dieselben »Fährlichkeiten« wie bei der nächtlichen Schlittenfahrt auch auf Gieshüblers Sofa mit seinem »Versenkungsprinzip« wieder: man »sinkt ins Bodenlose, jedenfalls aber gerade tief genug, um die Kniee wie ein Monument aufragen zu lassen« (104). Der Erzähler geht über so versteckte Anspielungen sogar hinaus, wenn er anführt, dass Gieshübler nicht nur, »wenn etwas besonders Schönes in seinem Treibhaus blühte«, »alle schönen Liebesgefühle durch- und nebeneinander hatte, die des Vaters und Onkels, des Lehrers und Verehrers« (119). Sogar von ihren Eltern wird Effi mit dieser ihrer »Liebe zum Alchymisten« geneckt, so dass ihr gerade dadurch »zum Bewußtsein kam«, »was ihr in ihrer Ehe eigentlich fehlte« (119). Im vorletzten Kapitel hat Innstettens Ministerialkollege Wüllersdorf seinen großen Auftritt, indem er jenem zuerst den Einfall ausredet, alle Zelte abzubrechen und »unter lauter pechschwarze Kerle, die von Kultur und Ehre nichts wissen«, auszuwandern (340). Dann trägt Wüllersdorf sein eigenes Lebensprinzip zum Trost vor: »Einfach hier bleiben und Resignation üben« (341). Als er dann seine Theorie der »Hülfskonstruktionen« entwickelt (342), gibt Wüllersdorf zum ersten Mal Persönliches preis. Früher hat der Leser schon beiläufig erfahren, dass Wüllersdorf »leider Junggeselle« ist (260). Jetzt steigern sich die Anspielungen, wenn Wüllersdorf den wegen seines verpfuschten Lebens sich selbst bemitleidenden Innstetten bescheidet: »Sie wissen, ich habe auch mein Päckchen zu tragen, nicht gerade das Ihrige, aber auch nicht leichter« (341). Die kryptische Anspielung erhellt sich wenigstens teilweise, wenn Wüllersdorf seine Abendgestaltung bekannt gibt, nämlich Ballettbesuche und anschließendes Betrinken: »Drei Seidel beruhigen jedesmal« (342). Den Höhe- und Endpunkt dieser Bewältigungsstrategie Wüllersdorfs bildet aber »ein kleines Vorsprechen bei Huth, Potsdamerstraße, die kleine Holztreppe vorsichtig hinauf«; in diesem wie verschwörerisch aufgesuchten Lokal findet Wüllersdorf

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dann »verschiedene Stammgäste, Frühschoppler, deren Namen ich klüglich verschweige« (342). Warum verschweigt Wüllersdorf seinem Freund Innstetten diese Namen, noch dazu »klüglich«? Welches »Päckchen«, immerhin »auch nicht leichter« als das Schicksal Innstettens, trägt er mit sich herum? Zu erinnern ist, dass im Kaiserreich Homosexualität nicht nur gesellschaftlich geächtet war, sondern einen veritablen Straftatbestand darstellte (s. Kap. 43). Ausgerechnet dieser »Spezialkollege« Wüllersdorf (245) war also von Innstetten ausersehen worden, »in der Sache selbst« (275) das entscheidende Urteil über einen Ehebruch zu fällen: »Sie sollen selbst entscheiden, Wüllersdorf« (279). Indem Wüllersdorf zuerst abrät (»Alles dreht sich um die Frage, müssen Sie’s durchaus thun?«), sich dann Innstettens Argumentation anschließt (»würde mir vielleicht ebenso gehen«; 277) und zuletzt die entscheidende Formulierung vom »Götzendienst« gebraucht (»wir müssen uns ihm unterwerfen, solange der Götze gilt«; 280), gerät die gesamte Duellfrage in Effi Briest in eine zweideutige Beleuchtung. Literatur Böschenstein, Renate: Verborgene Facetten. Studien zu Fontane. Hg. von Hanna Delf von Wolzogen und Hubertus Fischer. Würzburg 2006. Grawe, Christian: Theodor Fontane: Effi Briest. Frankfurt a. M./Berlin/München 1985. Greve, Gisela: Fontanes ›Effi Briest‹. Die Entwicklung einer Depression. In: Jahrbuch der Psychoanalyse 18 (1986), 195–220. Hehle, Christine: »Ich stehe und falle mit Gieshübler«. Die Verführung der Effi Briest. In: Roland Berbig (Hg.): Theodorus victor. Theodor Fontane, der Schriftsteller des 19. und 20. Jahrhunderts. Eine Sammlung von Beiträgen. Frankfurt a. M. u. a. 1999, 137–162. Kuhnau, Petra: Symbolik der Hysterie. Zur Darstellung nervöser Männer und Frauen bei Fontane. In: Sabina Becker/ Sascha Kiefer (Hg.): »Weiber weiblich, Männer männlich«? Zum Geschlechterdiskurs in Theodor Fontanes Romanen. Tübingen 2005, 17–63. Neuhaus, Stefan: Geheimrat Zwickers Affären. Zur Funktion einer Nebenfigur in Fontanes ›Effi Briest‹. In: FBl 64 (1997), 124–132. Neuhaus, Stefan: Sexualität im Diskurs der Literatur. Tübingen/Basel 2002, 150–152. Schafarschik, Walter: Theodor Fontane. Effi Briest. Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart 22002, 115–140. Settler, Humbert: ›Effi Briest‹ – Fontanes Versteckspiel mittels Sprachgestaltung und Mätressenspuk. Flensburg 1999. Tebben, Karin: Effi Briest, Tochter der Luft. Atem, Äther, Atmosphäre – zur Bedeutung eines Motivs aus genderspezifischer Sicht. In: New German Review 17 (2001/02), 84–106.

Rolf Selbmann

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25 Krankheit und Tod Krankheit und Literatur um 1900 »Wenn in Fontanes Romanen Hauptakteure zu Tode kommen, dann durch Mord und Totschlag (Duelltod einbegriffen), durch Selbstmord oder durch Erkältung« (Gravenkamp 2004), hält Horst Gravenkamp in seiner Studie zu Theodor Fontane als Patient lakonisch fest. In Effi Briest trifft das auf Crampas’ Tod im Duell und, folgt man Gravenkamp, auf Effi selbst zu, hatte sie doch »zu den Himmelswundern zu lange hinaufgesehen und darüber nachgedacht, und das Ende war, daß die Nachtluft und die Nebel, die vom Teich her aufstiegen, sie wieder aufs Krankenbett warfen« (345), was schließlich zu ihrem Tod führt. Nun erliegt Effi natürlich nicht tatsächlich einer Erkältung. Dass die geschwächte junge Frau schlussendlich stirbt, ist nur das konsequente Ende eines ganz anderen, psychosomatischen Leidens. Ihre Überforderung durch den plötzlichen Sprung von der Kindheit in die Ehe, die Desintegration in ihr neues Leben in Kessin und später der Verlust von Autonomie und ihrem Kind führen zu einer seelischen Verwundung, die sich körperlich niederschlägt. Epochen und Jahrhunderte werden durchdrungen und geprägt von Krankheiten, von realen und eingebildeten, vor allem aber von jenen, die sie selber diskursiv hervorbringen. Die Literatur greift diese Krankheitsbilder auf und schreibt gleichzeitig an ihnen mit. Eines der einprägsamsten Beispiele für diese Wechselwirkung ist der Hysterie-Diskurs um 1900 mit seinen literarischen Verarbeitungen und Projektionen. Dem Wesen der Krankheit ist eigentlich das Passive, Unfreiwillige und Erduldende inhärent, die Hysterie aber legt das performative Potenzial der Krankheit offen. Sie fällt dabei auf historisch ungemein fruchtbaren Boden, denn »Kranke bevölkern die Welt der literarischen Jahrhundertwende« (Koopmann 1976, 217), und das nicht zufällig. Schwindsucht, Tuberkulose, Neurasthenie und andere Ausprägungen von Nervenkrankheiten durchziehen die Literatur des 19. Jahrhunderts, der Naturalismus bebildert plastisch und detailliert Krankheiten, die von schlechten hygienischen Zuständen zeugen, und hegt eine Vorliebe für genetische Defekte und Erbkrankheiten, die Moderne schreibt schließlich parallel zum kulturpessimistisch betrachteten gesellschaftlichen Niedergang Geschichten der Degeneration. Dazwischen wird gekurt und Höhenluft geatmet, um Nerven und angeschlagene Lungen zu entlasten. Die Krankheit als Metapher, diesen Topos wird Thomas Mann

kurz nach Fontane auf seinen Höhepunkt treiben: In Buddenbrooks fungiert Krankheit als Spiegel des von Generation zu Generation fortschreitenden Niedergangs der Familie (Max 2009), im Zauberberg als Flucht des überforderten Individuums in die Institutionalisierung. In Der Tod in Venedig kann Aschenbach seinen homoerotischen Neigungen ebenso wenig entkommen wie der damit korrelierenden Cholera. Auch in Fontanes Romanen ist Krankheit ein wiederkehrendes Motiv. Wie Gravenkamp andeutet, sind es allerdings isoliert betrachtet keine gefährlichen Krankheiten, die die Protagonist*innen dennoch ins Grab bringen. Fontane geht es nicht um die realistische Schilderung von Krankheitsverläufen und Symptomen. Krankheit ist vielmehr ein Gradmesser für das Leiden des Individuums an gesellschaftlichen Zurichtungen. Eine für sich gesehen tatsächlich tödliche Krankheit wäre dafür narrativ unproduktiv. Effi Briest, 1894/95 erschienen, kann als Schwellenroman angesehen werden, was den Konnex von Geschlecht und Krankheit/Tod angeht. Und tatsächlich zeigt Effi sowohl Anzeichen der dahinsiechenden femme fragile des 19. Jahrhunderts (Thomalla 1972) als auch der Hysterikerin, die zum Fin de Siècle die Bühne weiblicher Pathologisierungsdiskurse betritt.

Nervenkrankheit und Schnupfen. Effis Krankengeschichte Effis physische Konstitution wird sehr ambivalent gezeichnet. Zwar geht der Übergang von der vor Energie strotzenden, vitalen 17-Jährigen zur nervösen, übersensiblen jungen Frau und schließlich zum körperlichen Verfall einer Todkranken rasant vor sich und lässt sich ätiologisch kaum nachvollziehen. Dennoch verarbeitet Fontane mit der Neurasthenie und der Schwindsucht typische Krankheitsbilder des 19. Jahrhunderts. Die Tuberkulose, im 18. Jahrhundert meist als Schwindsucht bezeichnet, ist eigentlich eine Infektionskrankheit der Lunge, die bei Ausbruch in Kombination mit körperlicher Angeschlagenheit letal endet. Die narrative Anordnung und die Inszenierung des körperlichen Verfalls legen allerdings ein psychosomatisches Leiden nahe. Die wenigen tatsächlich auftretenden körperlichen Krankheitsanzeichen sind Symptome ihrer psychischen Versehrtheit. Auch das ist epochentypisch: »Krankheiten sind Entgrenzungsvorgänge, die in Wirklichkeit nicht stattfinden konnten, abgebogene Tendenzen des Individuums, seine eingeschränkte Individualität aufzugeben« (Koop-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2019 S. Neuhaus (Hg.), Effi Briest-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04874-5_25

25 Krankheit und Tod

mann 1976, 218). Effis Gesundheitszustand ist ein Abbild ihrer jeweiligen familiären und sozialen Situation. In Hohen-Cremmen, dem Ort, den sie am stärksten mit Glück verbindet, ist sie zunächst das blühende Leben. Mit der Heirat und dem Übersiedeln nach Kessin setzt eine durch Innstettens pädagogisches Eingreifen forcierte Zerrüttung der Nerven ein. Ihre Gesundheit leidet zunehmend, sie wirkt anämisch und schwach. Von Schuldgefühlen wegen ihrer Affäre mit Crampas geplagt, verschlechtert sich ihre psychische Befindlichkeit, sie leidet an Angstzuständen und Nervosität (Haberer 2012, 233; zur Nervenkrankheit s. auch Thesz 2010). Erst nach dem Ende der Affäre mit Crampas und dem Umzug nach Berlin beginnt eine Phase der Gesundheit, die nur vom unerklärlichen Ausbleiben weiterer Kinder und von »katarrhalischen Affektionen« (263) gestört wird, wogegen Rummschüttel, ganz Arzt seiner Zeit, einen Kuraufenthalt in Bad Ems verschreibt. In der sozialen Isolation nach dem Ende ihrer Ehe setzt schließlich eine nicht konkret benannte, diffuse Krankheit ein. Dr. Rummschüttel spricht im Brief an Effis Eltern von ihrer »Disposition zu Phtisis« (327), also zur Schwindsucht, und von einer »Nervenkomplikation«. Allerdings weist schon er auf die soziale Komponente von Effis Leiden hin: »Denn, meine gnädigste Frau, was Ihrer Frau Tochter Genesung bringen kann, ist nicht Luft allein; sie siecht hin, weil sie nichts hat als Roswitha« (ebd.). Die scheinbare Erholung in Hohen-Cremmen ist von kurzer Dauer. Fieber, Lungenschwäche, Abnahme des Körpergewichts münden schließlich in Effis Tod.

Krankheitsbilder und Performanz Im Gegensatz zum Tod ist das Motiv der Krankheit fast ausschließlich an Effi geknüpft, bis auf ihre Mutter, die an einem Flimmern vor den Augen leidet, was der in Berlin konsultierte Augenarzt mit einem »Blutdrang nach dem Gehirn« (227) erklärt. Das durch die Krankheit eingeschränkte Blickfeld der Frau von Briest korreliert symbolisch mit ihrer Verblendung und dem Verschließen der Augen vor der konfliktbehafteten Eheschließung zwischen ihrer Tochter und dem ehemaligen Bewerber um ihre Hand. So lässt sie sich dann auch von Effi täuschen, als diese rheumatische Beschwerden vortäuscht. »Es gab also nur ein Mittel: sie mußte wieder eine Komödie spielen, mußte krank werden« (232). Effi instrumentalisiert die Krankheit, um der Rückkehr nach Kessin zu entgehen, die Krankheit wird zum performativen Spiel:

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»Das kam ihr aus mehr als einem Grunde nicht leicht an; aber es mußte sein, und als ihr das feststand, stand ihr auch fest, wie die Rolle, bis in die kleinsten Einzelheiten hinein, gespielt werden müsse« (232). Schon vorher nutzt sie die Anordnung des Arztes, lange Spaziergänge zur Verbesserung ihrer Bleichsucht zu unternehmen, um ihren Geliebten heimlich zu treffen. So wie Innstetten schon der Verehrer der Mutter war, hat auch der herbeigerufene Arzt Geheimrat Rummschüttel Frau von Briest bereits in der Jugend behandelt. Hier fungiert er indes nicht in seiner Profession als Mediziner, sondern als moralischer Richter, der Effis »Komödie mit einer Komödie begegnet« (236), sie aber nicht entlarvt. So stellt er in Konsequenz keine Diagnose, er fällt vielmehr ein »Urteil« und zwar eines zugunsten von Effi: »Hier liegt etwas vor, was die Frau zwingt, so zu handeln, wie sie handelt« (ebd.). Diesen tiefgreifenden Humanismus behält Rummschüttel auch, als Effis Komödie aufgeflogen ist, sie von Ehemann und Eltern verstoßen wird und er nun tatsächlich in seiner Funktion als Arzt handeln muss. Krankheit kommt an zwei Stellen eine handlungsentscheidende Funktion zu: Einmal, als Effi sie einsetzt, um die Rückfahrt nach Kessin und damit den Wiedereintritt in den Einflussbereich ihres ehemaligen Liebhabers Crampas zu vermeiden, ein anderes Mal, als Rummschüttel die Briests über die Krankheit ihrer Tochter in Kenntnis setzt und diese Effi daraufhin nach Hohen-Cremmen holen. Beide Male ist Effis Krankheit ein Ausdruck von weiblicher Ohnmacht. Weil ihr als Frau in ihrer Situation kein Handlungsspielraum bleibt, flüchtet sie sich in die Krankheit. Krankheit dient zunächst als Instrument der Kontrolle und Selbstermächtigung, später wird die Kontrolle und Selbstverantwortlichkeit damit abgegeben und eine infantile Position wiedereingenommen. Mit der Krankheit schließt sich auch der Kreis: Effi kehrt in den Schoß der Familie zurück und wird umsorgt wie ein Kind. Dem aktiven performativen Akt folgt der somatisierte psychische Aufschrei. Im Gegensatz zur Hysterikerin, die ihren Widerstand gegen patriarchale, bürgerliche Normen und weibliche Rollenmuster in einem Ausbruch hypertroph in Szene gesetzter Weiblichkeit bündelt und nach außen trägt, wendet die femme fragile ihr Leiden an gesellschaftlichen Beschränkungen und Anforderungen nach innen. »[T]he death of a beautiful woman is, unquestionably, the most poetical topic in the world« (Poe 1864, 165), konstatierte Edgar Allen Poe, und er wird von der in der Literatur des 19. Jahrhunderts inflationär eingesetzten Figur der Schwindsüchtigen bestätigt. Eine

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IV Themen, Motive und Symbole

solche ist auch Effi, sie schwindet im wahrsten Sinne des Wortes dahin: »Aber so schön das alles war, auf Effi’s Gesundheit hin angesehen, war es doch alles nur Schein, in Wahrheit ging die Krankheit weiter und zehrte still das Leben auf« (329–330). Nicht nur die Tote muss schön sein, auch das Sterben. Fontane schildert Effis langsamen Tod melancholisch und in einer typisch romantisierenden Ästhetisierung weiblichen Sterbens: Effi, wie sie im Nachthemd am offenen Fenster sitzt und den Platanen lauscht, während die Sterne flimmern. Ihre Krankheitstage seien fast ihre schönsten gewesen, ihr Tod hat ein eskapistisches Moment.

Krankheit erzählen Es ist essenziell, bei der Betrachtung der literarischen Darstellung von Krankheit die drei Ebenen der Diegese, der Narration und der Rezeption nicht zu vermischen: Auf der diegetischen Ebene geht es um die Wahrnehmung, Bewertung und Interaktion der Figuren mit der Krankheit respektive der kranken Figur. Auf der narrativen Ebene ist die Ausgestaltung und Einordnung der Krankheit durch die Erzählinstanz relevant, wohingegen auf der Ebene der Textgestaltung und Rezeption der kompositorische Einsatz des Motivs Krankheit und die Interpretation durch die Leser*innen entscheidend ist. Wurde bisher darauf hingewiesen, dass Effis Krankheit psychosomatischer Natur sei und metaphorisch eingesetzt werde, so ist dies das Ergebnis zweier unterschiedlicher Register. Auffällig ist, dass auf der sprachlichen Ebene der Erzählinstanz keine explizite Einordnung der Krankheit stattfindet. Den Konnex von sozialer und emotionaler Situation und Gesundheit bzw. deren Abwesenheit herzustellen, überlässt der Erzähler den Figuren und belässt den kommentierenden Aspekt damit auf der Ebene der Diegese, namentlich bei Dr. Rummschüttel. Er identifiziert sowohl die inszenierte Krankheit als auch die psychosomatischen Auswirkungen der sozialen Isolation. Die Krankheit selbst wird diegetisch aber nie in Frage gestellt oder moralisierend interpretiert und als Folge von Effis Verfehlung gesehen. Einzig das Verhalten von Effis Mutter kann in diese Richtung gedeutet werden, wenn sie an Effis Sterbebett darauf hinweist, dass sie selbst es gewesen sei, die »Euer Leid heraufbeschworen« (347) habe. Obwohl Krankheit sowohl auf der diegetischen als auch auf Erzählebene nicht hinterfragt wird, legt die Gesamtkomposition des Textes eine metaphorische Lesart nahe. Susan Sontag lehnt die Metaphorisierung von

Krankheit in ihrem berühmten Essay Krankheit als Metapher (Sontag 1996) ab. Folgt man Sontags Argumentation, so müsste man auch Fontane vorwerfen, dass durch die Metaphorisierung von Effis Krankheit und Tod eine moralische Schuld Effis impliziert wird und ihr Tod damit eine Legitimierung erfährt, was aber nicht der Fall ist. Die diffuse Symptomatik lässt Raum für Spekulation. Mendes Schlussfolgerung, dass Effi nach Annie keine Kinder mehr bekommt, sei »psychosomatisch am schlüssigsten als unbewusste Weigerung erklärbar« (Mende 1980, 202), ist zwar nachvollziehbar, aber stark spekulativ. Auch wenn Unfruchtbarkeit als Symptom der Hysterie galt, sind dem Werk aufgezwungene Diagnosen immer grenzwertig (s. Kap. 39).

Medizin und Ärzte Fontane hatte nicht nur als häufig Erkrankter eine enge Verbindung zur Medizin, als Apotheker arbeitete er zudem selbst lange als Vertreter einer medizinischen Profession. Auch wenn Fontane noch danach sein Fachwissen in seinem privaten Umfeld beratend einbrachte, weist Gravenkamp darauf hin, dass er »im wesentlichen auf dem medizinischen Wissenstand seiner aktiven Apothekerzeit stehengeblieben sei«, also »der Medizin des Biedermeier« (Gravenkamp 2004, 7). Fontanes biographischer medizinischer Hintergrund ist schon allein deshalb interessant, weil er, der Mann von Fach, literarisch keine positivistische Einstellung zur Krankheit erkennen lässt und auch der Medizin als streng fachlicher Disziplin weniger Bedeutung einräumt als der sozialen Kompetenz des Arztes. Einen kleinen Seitenhieb auf die Ärzteschaft erlaubt sich Fontane in der Figur des Apothekers Gieshübler, »er führt auch den Doktortitel, hat’s aber nicht gern, wenn man ihn dabei nennt, das ärgere, so meint er, die richtigen Doktors bloß, und darin wird er wohl recht haben« (58), erfährt man aus dem Munde Innstettens. Mit Gieshübler und Rummschüttel hat Fontane zwei der weitsichtigsten und emphatischsten Figuren der Medizin zugeordnet. Der derart positiv gezeichnete Rummschüttel wird zwar abschätzig als »›Damendoktor‹« (238) bezeichnet und auch sonst gilt der fachliche Aspekt wenig: »In seiner Wissenschaft soll er nicht gerade glänzen, aber Mama sagt, das sei ein Vorzug. Und sie wird wohl recht haben, wie in allen Stücken. Unser guter Dr. Hannemann war auch kein Licht und traf es doch immer« (240). Dass unter den Arztfiguren in Effi Briest keine fachliche Koryphäe auftaucht, findet seine

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Entsprechung in der narrativen Funktion von Krankheit, die im Metaphorischen liegt. Gestellte Diagnosen bleiben mehr als vage. Sogar kurz vor Effis Tod scheint eine genauere Diagnose als »die Krankheit« (330) nicht von Nöten zu sein.

Tod und Schuld Im Rückblick erweist sich die literarische Inszenierung von Krankheit als Gradmesser für moralische und sozio-kulturelle Diskurse der jeweiligen Zeit (s. Kap. 26, 42). Der Tod ist nicht einfach der kausale Endpunkt von Krankheit, ihm wird narrativ eine andere Funktion zugesprochen, weshalb er auch gesondert betrachtet werden muss. Es gibt fünf Todesfälle in Effi Briest, drei auf der Handlungsebene und zwei, die außerhalb der erzählten Zeit liegen, auf die nur von Figuren referiert wird. Neben Effi und Crampas stirbt noch die verwitwete Frau Registrator Rode, erzählt wird vom Tod des Chinesen und, zumindest in zweifacher Andeutung (209, 265), von Roswithas unehelichem Kind. Der Tod der Registratorenwitwe Rode hat am wenigsten Bedeutung, er dient dazu, die Handlung voranzutreiben und die erste Begegnung Effis mit Roswitha am Friedhof, in Sichtweite zum Grab des Chinesen, herbeizuführen, was ihm dann doch wieder Bedeutung gibt (s. Kap. 22). Betrachtet man das Motiv der Schuld und der Überschreitung der gesellschaftlichen Sexualmoral als zentrales Ordnungsprinzip (s. Kap. 24), nach dem die Figuren sich rund um Effi und Innstetten gruppieren (s. Kap. 14), so sind alle direkt oder indirekt mit dem Tod assoziierten Figuren (mit Ausnahme der Witwe Rode) Effi und damit der Sphäre der Schuld und Überschreitung zugeordnet. Der Tod dient bei Fontane als literarische Strafe, jedoch nicht mit dem moralisch-pädagogischen Gestus der Abschreckung (s. Kap. 31), sondern als ultimatives Symbol der gesellschaftlichen Ächtung. Der Erzähler wird zum Vollstrecker der impliziten gesellschaftlichen Gewalt. Alle genannten Tode im Kreise Effis sind vorzeitig und erscheinen sinnlos. Bis auf Crampas’ Fall im Duell bleiben die genauen Umstände im Dunkeln. Roswithas Baby sei verhungert, der Tod des Chinesen bleibt wie er selbst ein Mysterium und Effis Krankheit bewegt sich zwar im Rahmen zeitgenössischer Pathologien, ist aber dennoch nicht somatisch motiviert. Der Tod als Sanktion für den Ehebruch und das Ausbrechen aus den rigiden bürgerlichen Moralvorstellungen von Sexualität und weiblicher Subordination ist ein weit verbreitetes Motiv, das so schillernde

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und tragische Frauenfiguren wie Effi Briest, Anna Karenina und Emma Bovary zu Schwestern im Geiste macht, wie u. a. Wolfgang Matz herausgearbeitet hat (Matz 2014): »Im sechzehnten Jahrhundert war eine Ehebrecherin ein Monster, aber kein Problem, vielleicht eine Hexe, aber kein gesellschaftlich interessanter Fall. Im neunzehnten steht auf Ehebruch, sieht man die Fälle Bovary, Karenina, Innstetten, zwar nicht juristisch, doch literarisch die Todesstrafe« (Matz 2014, 69).

Ähnliches trifft auf das Motiv der Krankheit zu. Während in der Literatur des 18. Jahrhunderts Krankheit als moralisches Resultat von Verstößen gegen gesellschaftliche Normen skizziert wird, dreht das 19. Jahrhundert diese Denkbewegung um und interpretiert die Krankheit als Reaktion auf gesellschaftliche Missstände (Sauder 2000, 10). Effis Sterben wird schließlich zum selbstverklärten Akt der Buße und Erlösungssehnsucht und somit zur Provokation für die Rezeption (s. Kap. 15, 18, 20). In der Himmelsmetaphorik, der in einer Art Beichte mündenden Selbstreflexion und der Vergebung schwingen christlichtranszendente Motive mit (s. Kap. 30). Effi fügt sich am Ende dem gesellschaftlichen Narrativ (s. Kap. 36). Ausgerechnet ihre Mutter und damit die dogmatische Vertreterin jener sozio-kulturellen Ordnung, die Effis Leid erst herbeigeführt hat, wird zum unbarmherzigen, auf Effis Schuld beharrenden ›Beichtvater‹. Zweifel kommen ihr erst an Effis Grab. Am Ende ist es aber Rollo, Inbegriff der von Briest beschworene Kreatur, der am Grabstein liegt und am meisten trauert.

Topographische Todesmetaphorik Mit dieser Szene schließt sich der Kreis. Eine konsistente Todesmetaphorik entwickelt Fontane in Effi Briest hauptschlich topographisch. Grabstätten und ihre Lage ziehen sich als mit dem Tod verknüpftes Leitmotiv durch den Text. Damit verbunden ist ein System von Vorausdeutungen und Ahnungen. Gleich zu Beginn bei der topographischen Beschreibung des Herrenhauses und seiner Umgebung wird auf den angrenzenden Kirchhof hingewiesen – ein Kirchhof, auf dem Effi allerdings nicht ihre letzte Ruhestätte finden wird. Wie der Chinese wird auch Effi außerhalb des Friedhofes beerdigt. Die Berliner Wohnung nach der Scheidung befindet sich ebenfalls in Sichtweite zu einem Kirchhof, was Effi nur mit »Ich sehe gern Kirch-

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IV Themen, Motive und Symbole

höfe« (307) kommentiert. Von Crampas’ letzter Ruhestätte wird nicht berichtet, seinen Tod im Duell findet er passenderweise in den Dünen, am Schauplatz der Affäre mit Effi. Retrospektiv gibt es mehrere Hinweise auf Effis frühen Tod (s. Kap. 21). Keine Einführung verabsäumt es, auf die Sonnenuhr in Hohen-Cremmen als Symbol der Vergänglichkeit hinzuweisen, die später durch Effis Grab ersetzt werden sollte. Auch der Konnex von Tod als Bestrafung wird schon zu Beginn eingeführt, wenn Effi im Spiel mit ihren Freundinnen kokettierend davon erzählt, dass »arme unglückliche Frauen versenkt worden sei[e]n, natürlich wegen Untreue« (14). Deutlich subtiler bindet Fontane die Herthasage ein, die Effi und auch Innstetten bei ihrem Besuch auf Rügen Unbehagen bereitet. Die Sage, die unter anderem von der Untreue einer jungen Priesterin erzählt, die zur Strafe hingerichtet werden sollte und im letzten Moment von der Göttin selbst Rettung erfährt, wird nicht erzählt, doch Effi scheint sie zu kennen. Sie erschrickt umso mehr über die Opfersteine am Herthasee, da sie zuvor auf den Ortsnamen Crampas stößt, den sie vor Innstetten verheimlichen will, was eine direkte Verbindung zu ihrer eigenen Schuld und ihrer daraus erwachsenden Todesangst herstellt. Diese Todesangst, im Übrigen ein typisches Symptom der Neurasthenie (s. Kap. 35, 39, 45), erfährt Effi schon vor ihrer Affäre, wenn sie frischverheiratet wie aus dem Nichts von einer Vorahnung ergriffen wird: »Nein, nein, ich mag hier nicht sterben, ich will hier nicht begraben sein, ich will nach Hohen-Cremmen. Und Lindequist, so gut er ist – aber Niemeyer ist mir lieber; er hat mich getauft und eingesegnet und getraut, und Niemeyer soll mich auch begraben« (128).

Literatur Anz, Thomas: Gesund oder krank? Medizin, Moral und Ästhetik in der deutschen Gegenwartsliteratur. Stuttgart 1989. Gravenkamp, Horst: »Um zu sterben muß sich Hr. F. erst eine andere Krankheit anschaffen«. Theodor Fontane als Patient. Göttingen 2004. Haberer, Anja: Zeitbilder. Krankheit und Gesellschaft in Theodor Fontanes Romanen ›Cécile‹ (1886) und ›Effi Briest‹ (1894). Würzburg 2012. Jagow, Bettina von/Florian Steger (Hg.): Literatur und Medizin. Ein Lexikon. Göttingen 2005. Koopmann, Helmut: Gegen- und nichtnaturalistische Tendenzen in der deutschen Literatur zwischen 1880 und 1900. In: Helmut Kreuzer (Hg.): Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, Bd. 18: Jahrhundertende, Jahrhundertwende, Teil 1. Wiesbaden 1976, 189–224. Matz, Wolfgang: Die Kunst des Ehebruchs. Emma, Anna, Effi und ihre Männer. Göttingen 2014. Max, Katrin: Erbangelegenheiten. Medizinische und philosophische Aspekte der Generationenfolge in Thomas Manns Roman ›Buddenbrooks‹. In: Björn Bohnenkamp/ Till Manning/Eva-Maria Silies (Hg.): Generation als Erzählung. Neue Perspektiven auf ein kulturelles Deutungsmuster. Göttingen 2009, 129–147. Mende, Dirk: Frauenleben. Fontane aus heutiger Sicht: Analysen und Interpretationen seines Werkes. München 1980, 183–213. Poe, Edgar Allan: The Philosophy of Composition. In: Graham’s Magazine, April (1864), 163–167. Sauder, Gerhard: Sinn und Bedeutung von Krankheitsmotiven in der Literatur. In: Dietrich von Engelhardt/Hansjörg Schneble/Peter Wolf (Hg.): »Das ist eine alte Krankheit«. Epilepsie in der Literatur. Stuttgart 2000, 1–12. Sontag, Susan: Krankheit als Metapher. Frankfurt a. M. 1996. Thesz, Nicole: Marie Nathusius’ ›Elisabeth‹ and Fontane’s ›Effi Briest‹: Mental Illness and Marital Discord in the »Century of Nerves«. In: The German Quarterly 83, H. 1 (2010), 19–37. Thomalla, Ariane: Die »femme fragile«: Ein literarischer Frauentypus der Jahrhundertwende. Düsseldorf 1972.

Veronika Schuchter

26 Bürgerlichkeit und Gesellschaft

26 Bürgerlichkeit und Gesellschaft Nach der gängigen literaturhistorischen Einordnung werden die Romane Fontanes dem bürgerlichen bzw. poetischen Realismus zugerechnet (s. Kap. 2, 6, 7). Einige exponierte und heute noch bekannte Werke dieser Epoche stellen Protagonisten vor, die ihre Konturen in erster Linie als gesellschaftliche Außenseiter gewinnen, sei es, dass sie sich von Anfang an in diesem Sinne verhalten, wie etwa der Titelheld in Gottfried Kellers Der grüne Heinrich, sei es, dass sie mehr und mehr in diese Rolle geraten, wie Hauke Haien in Theodor Storms Der Schimmelreiter. Effi Briest enthält geradezu einen Gegenentwurf zu diesen Charakterisierungen (s. Kap. 3, 11, 12, 15, 18), denn insbesondere die Hauptfiguren des Romans bewegen sich bewusst und gezielt in den Bahnen, die ihnen durch ihr soziales Umfeld vorgegeben werden. Das gilt zunächst einmal in Bezug auf die äußeren Konventionen des geselligen Lebens: Innstetten und Effi pflegen in ihrer Ehe die persönlichen Kontakte, die ihrer Stellung angemessen sind, und beteiligen sich – wenn auch nicht jederzeit mit größter Begeisterung – an den entsprechenden Vergnügungen. Wichtiger noch ist die innere Einstellung. Der Gedanke, man müsse sein Leben unter Umständen auch gegen die Macht sozialer Konventionen oder zumindest in zeitweiligem Konflikt mit ihnen führen, der in der deutschen Literatur spätestens seit Goethes Jugendroman Die Leiden des jungen Werthers (1774) an Bedeutung gewonnen hat, ist Fontanes Protagonisten völlig fremd. In der Forschungsliteratur ist dieser Einklang mit dem, was fraglos gilt, immer wieder registriert worden, und die entsprechende Beobachtung taucht so häufig auf, dass man beinahe von einem Leitmotiv sprechen kann: Der »Klassiker des Gesellschaftsromans« (Aust 1998, 25), als der Fontane gilt, zeigt demnach in seinem populärsten Werk, wie dessen Figuren sich »in den konventionalisierten Schablonen ihrer Gesellschaftsklasse« (Degering 1978, 34) bewegen; es besteht nicht der geringste Zweifel daran, »dass sie sich mehr oder weniger an die gesellschaftlich vorgegebenen Handlungsmuster halten« (Scheuer 2008, 8). In Walter Müller-Seidels Standardwerk Theodor Fontane. Soziale Romankunst in Deutschland findet sich eine ebenso schlichte wie schlagende Erklärung dafür, wie man solche Beobachtungen in einen größeren Zusammenhang einordnen kann: Es gehe Fontane darum, »eine an sich private Ehegeschichte ins Gesellschaftlich-Allgemeine zu überführen« (Müller-Seidel 1994, 360–361).

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Freilich gibt es, was diesen Aspekt der Figurenschilderung betrifft, ein paar Ausnahmen, die aber allesamt nicht im Zentrum des Geschehens stehen und in einem anderen sozialen Bereich angesiedelt sind als die Familien Briest und Innstetten. Effis Kindermädchen Roswitha blickt auf eine wild bewegte Vergangenheit zurück. Sie hat ihr offenbar keine solchen Handlungsmuster vermitteln können, und so zeichnet sich Roswitha durch ungewöhnliche Aktivitäten aus, die ihr sogar ein gewisses Maß an Anerkennung bei denjenigen eintragen, die ein wenig spöttisch auf sie herabblicken. Ihre Treue zu Effi erscheint eindrucksvoll. Als es ihr am Ende des Romans gelingt, Innstetten zur Übergabe des Hundes Rollo an Effi zu bewegen, führt der entsprechende Brief dazu, dass Innstettens Freund Wüllersdorf sich zwar »amüsiert«, aber auch anmerkt, Roswitha sei »uns über« (339). Äußerst unkonventionell wirkt in Kessin der Auftritt der Sängerin Trippelli; man mag darüber diskutieren, ob dies mit einer speziellen Form von Individualismus zu begründen ist oder damit, dass diese Künstlerin einem Milieu angehört, welches eigenen, den biederen Einwohnern Kessins aber fremd und suspekt erscheinenden Lebensregeln folgt. Im Gegensatz dazu heben die Hauptfiguren an mehreren Gelenkstellen der Handlung ausdrücklich hervor, dass sie allgemein akzeptierten Normen und Werten folgen und Rücksicht auf die Einstellungen und Überzeugungen in ihrer Umgebung nehmen müssen bzw. wollen. Als Effi in Kessin vorschlägt, das ihr unheimlich erscheinende Haus zu verkaufen und nach einem anderen Wohnsitz zu suchen, antwortet Innstetten, das komme nicht in Frage, denn er könne »hier in der Stadt die Leute nicht sagen lassen«, der Landrat gebe der Angst seiner Frau vor einem »aufgeklebten kleinen Chinesen« nach; eine derartige »Lächerlichkeit« (92) werde seine Karriere für immer zerstören (s. Kap. 22). Jahre später, da er Effis Ehebruch entdeckt hat (s. Kap. 24), erläutert Innstetten gegenüber einem Freund, er fühle sich zwar in seinem »letzten Herzenswinkel zum Verzeihen geneigt« (277), weil er seine Frau weiterhin liebe, wolle dem aber nicht folgen, denn die gesellschaftlichen Konventionen verlangten eine gegenteilige Reaktion. Nachdem die Eltern von Effis lange zurückliegendem Fehltritt erfahren haben, verweigert die Mutter ihr zunächst die Rückkehr nach Hohen-Cremmen mit dem Argument, sie wolle »Farbe bekennen [...] vor aller Welt« (301–302) in der »Verurteilung Deines Thuns« (302). Letztlich liegt auch schon der Eheschließung zwischen Effi und Innstetten die Dominanz kollektiver Überzeugungen zugrunde (s. Kap. 1, 2, 5). Die Mutter

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2019 S. Neuhaus (Hg.), Effi Briest-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04874-5_26

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preist, als sie ihrer Tochter den Heiratsantrag überbringt, Innstettens Vorzüge an. Sie gipfeln darin, dass diese Verbindung Effi ermöglichen werde, schon »mit zwanzig Jahren« da zu stehen, »wo andere mit vierzig stehen«. Es kommt also darauf an, sich gemäß den Kategorien der gesellschaftlichen Hierarchisierung möglichst rasch möglichst weit oben zu etablieren, und dieses Kriterium wird von der »klugen Effi« (18) denn auch so sehr akzeptiert, dass noch an demselben Tag die Verlobung stattfindet. Man muss bedenken, dass Effi über Innstetten zwar aus den Erzählungen ihrer Eltern einiges weiß, bis zu diesem Augenblick aber keinerlei Möglichkeiten hatte, ihn persönlich näher kennenzulernen; es ist also fast ausschließlich die von der Mutter aufgedrängte Übernahme allgemeiner Vorstellungen zu einer sinnvollen Eheschließung, die Effi leitet (s. Kap. 14). In diesem Detail findet sich übrigens ein Unterschied zu der Figur Tony Buddenbrook in Thomas Manns berühmtem Roman (s. Kap. 19), die zweimal mit ähnlichen Zielen heiratet wie Fontanes junge Frau und deshalb oft mit ihr verglichen wird: Tonys Ehen scheitern ebenfalls, aber sie kommen erst zustande, nachdem – vielleicht kann man hinzufügen: obwohl – Tony mit den künftigen Männern persönlich Bekanntschaft geschlossen hat. Die Unterwerfung individueller Entscheidungen gegenüber dem gesellschaftlich Vorgegebenen akzentuiert Fontane gelegentlich durch ein besonderes erzählerisches Verfahren: »Der Moment der Entscheidung wird ausgeblendet« (Schmiedt 2000, 205), ihr Inhalt erst nachträglich bzw. mit Hilfe des übergreifenden Zusammenhangs vermittelt. Man ist nicht dabei, als Effi der vorgeschlagenen Verlobung explizit zustimmt. Als Innstetten mit seinem Freund bespricht, was aus seiner Ehe werden soll, hat er die Entscheidung darüber längst getroffen; sie fiel offenbar während eines stundenlangen Spaziergangs, über den der Erzähler aber nichts Näheres mitteilt. Das, was in diesen Situationen beschlossen wird, stellt Weichen im Hinblick auf das weitere Geschehen, aber indem der Erzähler hier mit Leerstellen arbeitet, unterstützt er den Eindruck, dass die Figuren selbst eigentlich gar nichts zu bestimmen haben. Wer der »Welt« (302) – im Sinne Frau von Briests – angehören will, muss sich auszeichnen durch ein in jeder Hinsicht ordentliches Verhalten, durch Kultiviertheit und Selbstdisziplin. Es gilt, nichts zu tun, mit dem die eigene Ehre in Zweifel gezogen werden könnte. Man bewegt sich routiniert und souverän in den Kreisen, in die hinein man geboren wurde (s. Kap. 23), und wenn etwas ganz und gar Unübliches geschieht, hält man sich

an Richtlinien, die auch für diesen Fall eine passende Reaktion vorsehen: Als Innstetten Effis Vergehen entdeckt, weiß er sofort, was er zu tun hat, und Effi erkennt – abgesehen von einigen Situationen spontanen Zweifelns – die Angemessenheit seines Vorgehens ihr gegenüber ebenso an wie Crampas das Recht Innstettens, ihn zum Duell auf Leben und Tod zu fordern. Im Grundsätzlichen ist vor allem der Eindruck wichtig, dass man sich sittlich stets einwandfrei verhält (s. Kap. 24). Hier muss man allerdings eine erhebliche geschlechtsspezifische Differenzierung vornehmen: An Frauen werden strengere Anforderungen gestellt als an Männer. Dass der verheiratete Crampas völlig zu Recht als »Damenmann«, als »Mann vieler Verhältnisse« (122) gilt, führt keineswegs zu seinem Ausschluss aus der vornehmen Kessiner Gesellschaft; sogar für den tugendhaften Innstetten bleibt er noch im Rückblick über mehrere Jahre hinweg »mein Freund [...] oder doch beinah« (276). In Bezug auf Frauen gilt diese tolerante Sicht auf erotische Eskapaden jenseits der Institution Ehe allerdings ganz und gar nicht, wie Effi erfahren muss, die nach der Entdeckung ihres Vergehens in eine umfassende gesellschaftliche Isolation getrieben wird und sogar darum kämpfen muss, die eigene Tochter einmal zu Gesicht zu bekommen. Begriffe wie Ehre, Treue und Sittlichkeit gelten – auch darin verhalten sich die Romanfiguren gemäß weit verbreiteten Vorstellungen – in Bezug auf Männer ganz anders als bei Frauen (s. Kap. 43). Fragt man nach der literarischen Vorgeschichte dieser Ideale tugendhaften Verhaltens, so ergeben sich bemerkenswerte Konstellationen und Verschiebungen. Fontanes Hauptfiguren sind allesamt Adelige, und manches, was sie tun – z. B. das Austragen eines streng ritualisierten Zweikampfs –, ist in der Tat ein Privileg dieser Klasse. Bei literaturhistorischer Betrachtung fällt jedoch ins Auge, dass die skizzierten Leitlinien ihres Handelns bereits in der Literatur des 18. Jahrhunderts in gewichtigen Zusammenhängen ganz anderer Art auftauchen. Sie werden dort, wie die Forschung gezeigt hat, mit Vorstellungen zur geschichtlich überfälligen Emanzipation des Bürgertums in Verbindung gebracht und immer wieder in Abgrenzung zur damaligen Aristokratie herbeibeschworen. Die sozialen Dramen des Sturm und Drang, etwa Die Soldaten von Jakob Michael Reinhold Lenz (1776) und Die Kindermörderin von Heinrich Leopold Wagner (1776), und bürgerliche Trauerspiele wie Lessings Emilia Galotti (1772) und Schillers Kabale und Liebe (1784) präsentieren bürgerliche Familien, die sich bedroht sehen, weil lüsterne Adelige nach den attraktiven Töchtern greifen und da-

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mit nicht nur deren Unschuld, sondern auch das Ansehen der gesamten Familie gefährden. Das Gebot strikter Tugendhaftigkeit als Bestandteil bürgerlichen Bewusstseins wird in Stellung gebracht gegen eine zu beträchtlichen Teilen lasterhafte Aristokratie; in Emilia Galotti beispielsweise geht die jungfräuliche Titelfigur lieber in den Tod, als sich auch nur der Gefahr auszusetzen, den Verführungskünsten eines Prinzen zu erliegen, während dieser keinerlei Skrupel empfindet, der neuen Leidenschaft zu frönen, obwohl er sich in Kürze mit einer anderen Frau vermählen wird. Die Autoren dieser Werke geben sich, wie das Beispiel zeigt, keinen Illusionen bezüglich der raschen Durchsetzbarkeit bürgerlich-emanzipatorischer Ansprüche hin. Fast immer enden die Konfrontationen mit einer Katastrophe für die Mädchen bürgerlicher Provenienz. Sie bezahlen den Umstand, dass sie begehrt werden und sich nicht hinreichend wehren können oder wollen, mit dem Tod oder zumindest dem Ausschluss aus der Gesellschaft, und selbst die wenigen vornehmen Herren, die es ernst mit ihnen meinen, sind nicht in der Lage, dieses düstere Ende zu verhindern. Im letzten markanten, schon aus dem 19. Jahrhundert stammenden bürgerlichen Trauerspiel, Friedrich Hebbels Maria Magdalena (1844), gibt es den Adel als Gefährder bürgerlicher Tugend nicht mehr; umso aggressiver richtet sich der Tugendrigorismus gegen interne Verstöße, so dass hier die unverheiratete schwangere Tochter eines redlichen Handwerkers lieber Selbstmord begeht, als den Vater mit den Folgen ihrer Sünde zu konfrontieren. Bei Fontane sind solche Vorstellungen nun also in der Welt des Adels angekommen (s. Kap. 11, 12). Die Beobachtung, er lasse »den Automatismus der gesellschaftlich verbindlichen Wert- und Normensysteme in ihrer Gesetzmäßigkeit ablaufen« (Hamann 1988, 8), bezieht sich demnach auf eine Erbschaft, die ein Jahrhundert zuvor gerade gegen jene Klasse gerichtet war, in der sie nun zum Maß aller Dinge wird. Man hat diese Entwicklung, die natürlich nicht nur an Fontanes Roman zu beobachten ist, mit der langfristig gewaltigen Prägekraft der bürgerlichen Vorstellungen begründet: Die zuvor im Dritten Stand hochgehaltenen und seinen Wert bestätigenden Ideale wirkten im Zuge der politischen, sozialen und kulturellen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts weit über das Feld ihrer Herkunft hinaus und veränderten den einst literarisch beschworenen gesellschaftlichen Feind in der Substanz – ein Siegeszug, der im Hinblick auf das früher immer wieder inszenierte Scheitern der bürgerlichen Figuren besonders auffällt.

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Ein solches Scheitern ist nun allerdings auch den Figuren in Effi Briest beschieden. Die Titelfigur erlebt den Zusammenbruch ihrer Ehe sowie eine längere schmerzhafte Trennung von ihrer Herkunftsfamilie und stirbt in jungen Jahren. Ihr zeitweiliger Liebhaber wird erschossen. Effis Eltern sehen sich enttäuscht in den Hoffnungen, die sie in ihr Kind gesetzt haben. Der nach außen stets souverän agierende Innstetten ahnt, als er sich von Effi trennt, dass er damit auf sein persönliches Glück verzichtet, und bestätigt am Ende des Romans, einer ansehnlichen beruflichen Karriere zum Trotz: »Mein Leben ist verpfuscht« (340). Haben schon die literarischen Figuren des 18. Jahrhunderts darunter gelitten, dass ihre hehren Ideale sich gegen die Widerstände des gesellschaftlichen Alltags nicht durchsetzen ließen – damals wohl auch ein dramaturgisches Mittel, um die Dringlichkeit notwendiger Veränderungen vor Augen zu führen –, so machen jetzt ihre adeligen Nachfolger bei Fontane ähnliche Erfahrungen. Die Neigung der Schriftsteller des Realismus, den Blick auf die Welt nicht mit allzu viel Härte und Unerbittlichkeit auszustatten, führt allerdings dazu, dass dieses Scheitern des Einzelnen relativ dezent und schonend vermittelt wird (s. Kap. 2). Der Vergleich sowohl mit den genannten Werken des 18. Jahrhunderts als auch mit denen aus der benachbarten Epoche des Naturalismus zeigt die Tendenz sehr deutlich. So sah der Stürmer und Dränger Wagner für die Schlussszene der ›Kindermörderin‹ vor, dass eine junge Mutter ihr Kind tötet, indem sie ihm auf offener Bühne eine Nadel in die Stirn drückt, und in Gerhart Hauptmanns Rose Bernd (1903) erwürgt die Titelfigur in allergrößter Verzweiflung ihr Neugeborenes; da nimmt sich die Effi auferlegte Trennung von ihrer Tochter, so schlimm sie ihr auch erscheinen mag, doch eher glimpflich aus. Emilia Galotti verliert ihren Bräutigam durch einen Mord und wird von ihrem Vater, ebenfalls auf offener Bühne, erstochen, und in Die Familie Selicke (1890), dem typischen Werk des naturalistischen Dramas, stirbt ein kleines Mädchen ausgerechnet in der Weihnachtsnacht an einer Lungenkrankheit, ohne dass sich an den desaströsen Beziehungen der übrigen Familienmitglieder irgendetwas ändert; über Effi erfährt der Leser dagegen, dass sie von ihren Eltern schließlich wieder aufgenommen wird, ihre Krankheitstage als »doch fast meine schönsten« wahrnimmt, Innstetten nunmehr viel Verständnis entgegenbringt und kurz vor ihrem Tod von einem »Gefühl der Befreiung« (348) erfasst wird, während ihre Eltern am Ende in fast idyllisch anmutender Zweisamkeit beieinander sitzen und sich auf dieselbe Weise unterhal-

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IV Themen, Motive und Symbole

ten, wie sie es immer schon getan haben. So harmonisch und sanft erscheint dieses Finale, dass manch ein Kommentator es nicht ohne ästhetisches Fragezeichen hat akzeptieren wollen: »Fontanes Verklärungsstrategie überschreitet hier eindeutig die Grenze zur Sentimentalität, vielleicht auch zum Kitsch« (Sprengel 1998, 355). Vielleicht kann der kritische Leser das alles aber auch sozusagen gegen den Strich lesen: als eine nur scheinbare Harmonisierung, die umso drastischer auf die deprimierende Grundkonstellation verweist. Fontane setzt allerdings noch einen Akzent, den es in den älteren Werken nicht gibt: Er weist einigen seiner Figuren ein Bewusstsein oder zumindest eine Ahnung davon zu, dass sie an einem außerordentlich prekären Spannungsverhältnis zwischen ihrem individuellen Glücksanspruch und der für notwendig gehaltenen Erfüllung gesellschaftlicher Anforderungen leiden (s. Kap. 46). Es tritt in den alten Dramen beispielsweise zutage, als Odoardo Galotti in völligem Einklang mit dem von ihm und seiner Tochter verinnerlichten Tugendrigorismus Emilia ersticht, um sie vor den Nachstellungen des Prinzen zu bewahren, und im nächsten Moment entsetzt ist über das, was er getan hat; auf den Gedanken, die Herrschaft des Moralsystems, nach dem er handelt, und damit auch dieses selbst in Frage zu stellen, kommt er jedoch nicht. Der Zwang, gesellschaftlichen bzw. standesspezifischen Konventionen unbedingt zu folgen, wird von den handelnden Figuren im 18. Jahrhundert selbst dann kaum jemals in Zweifel gezogen, wenn sie schreckliche Erfahrungen damit machen. Es bleibt dem Leser und Zuschauer aufgetragen, im Blick auf den Gang der Ereignisse Qualität und Geltungsanspruch der Richtlinien zu beurteilen. In Effi Briest verhält es sich keineswegs völlig anders, aber es gibt immerhin Stellen, die eine gewisse Skepsis der Figuren gegenüber den von ihnen akzeptierten Leitlinien zeigen und damit auf die Möglichkeit verweisen, eigene »Handlungsspielräume zu erkunden« (Mecklenburg 2018, 4). Wenn Effis Mutter nach Effis Tod überlegt, ob »wir nicht doch vielleicht schuld sind«, und die Frage anschließt, ob die Tochter bei ihrer Vermählung nicht »vielleicht zu jung war« (350), deutet sich im späten Rückblick zumindest eine Ahnung davon an, dass die ausschließliche Rücksichtnahme auf kollektive Gebote falsch sein könnte, da diese zu streng sind und für die angemessene Berücksichtigung des Einzelfalls keinen Platz lassen (s. Kap. 36, 39, 41–44). Am deutlichsten werden die Schattenseiten des gesellschaftlichen Zwangs von Innstetten erkannt und

benannt, als er mit Wüllersdorf darüber spricht, wie er auf die Entdeckung von Effis Ehebruch reagieren soll (s. Kap. 24). Er hätte die Möglichkeit gehabt, das Geheimnis für sich zu behalten und das familiäre Leben fortzusetzen, aber er führt, indem er den Freund einweiht, eine Situation herbei, in welcher der unverzeihliche Fehltritt tendenziell öffentlich wird. Von den persönlichen Empfindungen her, teilt der betrogene Gatte mit, könne er auf einschneidende Reaktionen verzichten; das Vergehen sei lange her, und er liebe Effi weiterhin. Aber man sei nun einmal »nicht bloß ein einzelner Mensch, man gehört einem Ganzen an, und auf dieses Ganze haben wir beständig Rücksicht zu nehmen«; das »uns tyrannisierende Gesellschafts-Etwas, das fragt nicht nach Charme und nicht nach Liebe« (278), und so müsse er sich dessen Regeln gemäß von Effi trennen und Crampas zum Duell fordern, auch wenn er es eigentlich gar nicht wolle und seinem Leben damit eine absehbar unglückliche Wendung gebe. Dieser Kommentar stellt einen Gipfel der kritischen Reflexion über die heikle Rolle sozialer Zwänge dar. Allerdings zieht er keinerlei praktische Konsequenzen nach sich, denn Innstetten hat die Gültigkeit der Zwänge so sehr verinnerlicht, dass er dann doch uneingeschränkt das tut, was die Konvention verlangt. Literatur Aust, Hugo: Theodor Fontane. Ein Studienbuch. Tübingen/ Basel 1998. Degering, Thomas: Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft in Fontanes ›Effi Briest‹ und Flauberts ›Madame Bovary‹. Bonn 1978. Hamann, Elsbeth: Theodor Fontane. Effi Briest [1988]. München 31997. Mecklenburg, Norbert: Theodor Fontane. Realismus, Redevielfalt, Ressentiment. Stuttgart 2018. Müller-Seidel, Walter: Theodor Fontane. Soziale Romankunst in Deutschland [1975]. Stuttgart/Weimar 31994. Scheuer, Helmut: Singularität und Typik – Epische Planspiele zwischen Adel und Bürgertum in Theodor Fontanes ›Effi Briest‹. In: Matthias Luserke-Jaqui (Hg.): Deutschsprachige Romane der klassischen Moderne. Berlin/New York 2008, 1–18. Schmiedt, Helmut: Die Ehe im historischen Kontext. Zur Erzählweise in ›Effi Briest‹. In: Hanna Delf von Wolzogen (Hg.): Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts. Internationales Symposium des Theodor-Fontane-Archivs zum 100. Todestag Theodor Fontanes. 13.–17. September 1998 in Potsdam, Bd. II. Würzburg 2000, 201–208. Sprengel, Peter: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1870–1900. Von der Reichsgründung bis zur Jahrhundertwende. München 1998.

Helmut Schmiedt

27 Geographie und Architektur

27 Geographie und Architektur Hohen-Cremmen Effi Briest eröffnet mit einer detaillierten Beschreibung des Herkunftsortes, die von Anfang an keinen Zweifel daran lässt, wie bedeutsam Schlossanlage und Parkgestaltung von Hohen-Cremmen für den Romanverlauf sein werden. Fontane hat diesen Initialcharakter eines gelungenen Anfangs ausdrücklich hervorgehoben: »Der Anfang ist immer das entscheidende; hat mans darin gut getroffen, so muß der Rest mit einer Art von innerer Nothwendigkeit gelingen« (an Mathilde von Rohr, 3.6.1879; DÜW 2, 294). Noch deutlicher formuliert er gegenüber Gustav Karpeles im Brief vom 18. August 1880: »das erste Kapitel ist immer die Hauptsache und in dem ersten Kapitel die erste Seite, beinahe die erste Zeile [...]. Bei richtigem Aufbau muß in der ersten Seite der Keim des Ganzen stecken« (DÜW 2, 279–280). Der Roman beginnt mit einer merkwürdigen Formulierung (»In Front des«), die nicht nur Fontanes anglophile Neigung durchblicken lässt (»in front of«), sondern auch eine Konfrontation sichtbar macht – das Wort »Front« kommt auf der ersten Seite gleich dreimal vor. Hohen-Cremmen ist durch diese Gegensätzlichkeit in mehrfacher Hinsicht ausgezeichnet: von hellem »Sonnenschein« auf der Frontseite und dem »vollen Schatten« auf der Gartenseite; vom Viereck, das den »quadrierten Fliesengang« (5) und den dort in häuslicher Arbeit hergestellten Altarteppich »aus Einzelquadraten« (6) kennzeichnet, bis hin zu Kreisformen innerhalb des Parks, einem »Rondell«, das »Hochparterre« mit dem »runden Tisch« (ebd.) und einem Teich. Daneben zeichnet Effis »Schaukel« durch zwei »Pfosten« und ein »horizontal gelegtes Brett« (5) in seinen Umrissen ebenfalls wieder ein Viereck. Deshalb sieht der Park von Effis Elternhaus so aus, als bilde er einen »kleinen Ziergarten, einen hortus conclusus (vgl. Schuster 1978), eine Art Paradies der behüteten Kinderzeit Effis. Die gesamte Anlage formt zugleich auch ein »Hufeisen« mit »offener Seite« (5) zu Teich und Schaukel; beides enthält mit der unregelmäßigen Seite der U-Form, einer mit Efeu bewachsenen »Kirchhofmauer«, gleich mehrfache Vorausdeutungen auf den Ausgang (s. Kap. 21, 36). Alle Sätze dieser Beschreibung (der überlange erste Satz ist ein Musterbeispiel dafür) laufen durch umständliche Inversionen, Einschübe und höchst nebensächliche Detailinformationen sehr verzögert auf den Kern der Aussage zu: Warum sollen wir wissen,

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dass auf dem Rondell »Canna indica« wächst, während wir von dem ebenfalls hier wachsenden, aber höchst sinnbildlichen »wundervollen Heliotrop« erst deutlich später erfahren (31)? Der Erzähler von Effi Briest scheint uns mit reinen Sachinformationen auszustatten; in Wahrheit knüpft er um uns ein dichtes Netz von Verweisungen (s. Kap. 41). Der erste Satz des Romans eröffnet mit der Einführung des Schlosses von Hohen-Cremmen, eines »schon seit Kurfürst Georg Wilhelm von der Familie von Briest bewohnten Herrenhauses« (5), scheinbar ganz kulturgeschichtlich. Diese alte brandenburgisch-märkische Familientradition sticht von der Herkunftslinie Innstettens ab, der nur »entfernte Vettern von der Mutter Seite« (13) nachweisen kann und sich nicht als Glied einer dynastischen Ordnung definiert, sondern als Einzelperson, die sich durch Vergangenheitslosigkeit und reine Gegenwärtigkeit auszeichnet. Später wird, da es in der Ehe Effis keinen männlichen Stammhalter gibt, sogar noch Zukunftslosigkeit hinzukommen (s. Kap. 5): »Haus Innstetten (denn es gab nicht einmal Namensvettern) stand also mutmaßlich auf dem Aussterbeetat« (263). Innstetten legitimiert sich stattdessen durch seine Nähe zu Bismarck und die preußisch-kaiserliche Tradition: »Bismarck halte große Stücke von ihm und auch der Kaiser« (12). Folgt man nur den Verben des ersten Abschnitts der Parkbeschreibung, dann erkennt man eine Perspektivierung Fontanes, die von den Vorgängen ablenkt – es gibt keine handlungsintensiven Verben – und zu Wahrnehmungen um und auf Gegenstände hindeutet: Sonnenschein fällt auf etwas, eine Mauer läuft entlang, ein Turm ragt auf, Gebäudeteile bilden die Form eines Hufeisens. Dann gibt sich sogar ein bisher versteckter Erzähler zu erkennen, der diese Wahrnehmungsvorgänge noch thematisiert: »gewahr wurde«. Erst danach dürfen Dinge als solche existieren und die Platanen einfach nur da sein: »standen ein paar mächtige alte Platanen« (5). Selbst diese »Platanen« werden mit einer Markierung des Gegensatzes zum zuvor Gesagten angeschlossen (»aber«), denn sie fungieren schon als Vorausdeutung auf Effis Ende in Hohen-Cremmen. Dort werden dieselben Platanen wieder auftauchen, und zwar eingebunden in den Prozess der subjektiven Wahrnehmung: »Aber je länger sie hinaushorchte, desto deutlicher hörte sie wieder, daß es wie ein feines Rieseln aus den Platanen niederfiel« (348).

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2019 S. Neuhaus (Hg.), Effi Briest-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04874-5_27

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Kessin Im hinterpommerschen Kessin hingegen ist die Landschaft reichhaltig und offen, sie wird nur von Effi Briest nicht so wahrgenommen. Kessin ist bekanntlich ein fiktiver Ort, zusammengesetzt aus dem Namen eines südlich von Rostock gelegenen Orts und Fontanes Jugenderinnerungen an Swinemünde. Fontane betont beides, die starke Aufladung dieses Kompositorts, der zugleich der wichtigste Schauplatz der Romanhandlung ist (Neuhaus 1999, 25), und die autobiographische Erinnerung: »dem rätselvollen Kessin, dem ich die Szenerie von Swinemünde gegeben habe« (Brief an eine Bekannte, 12.6.1895; zit. nach Schafarschik 2002, 110). Dieses Kessin wird von Anfang an durch Effi denunziert, obwohl oder weil sie es überhaupt nicht kennt: »es liegt eine hübsche Strecke von hier fort, in Pommern, in Hinterpommern sogar« (12), »auf dem Wege nach Rußland« (30): »Sie gefiel sich nämlich darin, Kessin als einen halb sibirischen Ort aufzufassen, wo Eis und Schnee nie recht aufhörten« (29). Auch durch diese ständigen Vorverurteilungen setzt Fontane alles daran, Kessin und Umgebung als »dichte Symbollandschaft« erstehen zu lassen (Grawe 1985, 65) und den Ort mit einer Aura auszustatten, die keine Grundlage in den Realitäten hat. Das junge Paar steuert Kessin von seiner Hochzeitsreise aus an; der Roman ist hier merkwürdig wortkarg und lässt erhoffte Informationen geradezu systematisch aus: »sie waren bis Capri und Sorrent gekommen« (47). Über einen kurzen Zwischenaufenthalt in Berlin, wo man auf Vorschlag des Vetters Dagobert die Zeit »zum Besuche des St. Privat-Panoramas« nutzt (48), geht es in den zukünftigen Wohnort – ein dezenter Hinweis Fontanes, dass mit der Schaustellung dieses Schlachtengemäldes aus dem erfolgreichen Deutsch-Französischen Krieg auch die ungebundene Zeit der italienischen Kunsthochzeitsreise vorbei ist. Effis Ehe wird wieder in reichsdeutsches Siegerbewusstsein zurückgeführt, wie überhaupt diese Ehe ein »Analogon zur Gründung des Deutschen Reiches« darstellt (Andermatt 1987, 160). So vollzieht sich die Annäherung an das Landratshaus in Kessin in konzentrischen Kreisen, die sich, so wenigstens kommt es Effi vor, immer enger ziehen. Wie seine Vorlage Swinemünde ist Kessin ein saisonaler »Badeort« (»alles da herum ist Badeort«; 12), freilich weit ab in der Provinz Hinterpommerns, zwischen den Kreisen Stolp und Lauenburg-Bülow gelegen, in einem Gebiet, das erst durch die 1. polnische Teilung 1772 an Preußen gefallen war. Bei seinem

Kurzbesuch in Kessin erkennt Wüllersdorf diese Doppelgesichtigkeit des Badeorts: »Wenn man bedenkt, daß Kessin ein Nest ist, ist es erstaunlich, ein so gutes Hotel hier zu finden« (282). Die dort indigenen slawischen Kaschuben gelten den Berliner Preußen als Musterbeispiel für Rückständigkeit; sie nehmen an den allgemeinen gesellschaftlichen und politischen Prozessen nicht teil. Dank des preußischen Dreiklassen-Wahlrechts sind die politische Macht des Adels und die ultrakonservative politische Ausrichtung ungebrochen, obwohl die Bedingungen der dortigen Landwirtschaft schlecht sind und große Teile der Bevölkerung abwandern. Unter der Oberfläche schlummern freilich die ungelösten Konflikte, verstärkt durch die Gegensätze zwischen den kaschubischen und polnischen Katholiken und den preußischen Protestanten (s. Kap. 1, 30). Der erste Schritt der tatsächlichen Annäherung an Kessin vollzieht sich über das Gasthaus »Zum Fürsten Bismarck«, das nicht zufällig genau an einer Weggabelung angesiedelt ist, dessen einer Ast eben nach Kessin, der andere aber nach Varzin führt, wo der nur angespielte Bismarck (»die Varziner Herrschaften«; 49) seinen Landsitz hat. Innstettens Leben und auch das Effis wird sich während fast der gesamten Kessiner Zeit an diesem reichspolitischen Schwerpunkt ausrichten. Wie der Ort des Gasthauses ist auch sein Wirt an einer Art Schwelle angesiedelt. Der Gastwirt Golchowski ist nach Innstettens Aussage »ein halber Pole« (49). Wegen seiner zur Schau gestellten unterwürfigen Bismarck-Hörigkeit ist er für Innstetten »ein ganz unsicherer Passagier, dem ich nicht über den Weg traue«; er gilt ihm als »widerlich«. Doch trotz dieses Misstrauens ist Innstetten aus politischen Gründen auf ihn angewiesen: »Wir dürfen es nicht mit ihm verderben, weil wir ihn brauchen« (49). Dabei zeichnet sich Golchowski in der erzählten Berichterstattung durch ein ganz gegenteiliges Verhalten aus. Er sieht nicht nur »gut aus«, er »gilt auch für wohlhabend«, nimmt an allen gesellschaftlichen Ereignissen teil (»wenn wir hier Wahl haben oder eine Jagd«), »hat hier die ganze Gegend in der Tasche« und verhält sich in Geldgeschäften geradezu typisch unpolnisch (»was sonst die Polen nicht thun«; 49–50). Innstettens Erklärung, dass dieser »Schlag Menschen« im Unterschied zu den Bewohnern von Effis Heimat in Altmark (»sehen unscheinbarer aus und verdrießlicher«) eine ästhetische Oberfläche präsentieren, die nicht ihrem eigentlichen Wesen entspricht (50), muss Effis Begriffe verwirren. Ihr kommt nicht nur Kessin als eine »ganz neue Welt« vor, die »Exotisches« bietet (51); die Charakterisierung

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bleibt an der Oberfläche und tritt in krassen Gegensatz zu Innstettens Urangst, die sich nur unter dieser Oberfläche zeigt: »Hier ist alles unsicher« (50). Obwohl Innstettens Präsentation des Orts fast nur negativ eingefärbt ist, weckt sie Effis Neugier: »Es klingt erst spießbürgerlich und ist doch hinterher ganz apart« (53). Nur der abendliche Mondschein, »unter weißem, aber rasch hinschwindendem Gewölk«, beleuchtet die Szenerie »gespenstig«: »Kupferfarben stand die große Scheibe hinter einem Erlengehölz und warf ihr Licht auf eine breite Wasserfläche« (53–54). Diesen langen und durch Innstettens Erläuterungen noch hinausgezögerten Anfahrtsweg (»dann siehst du schon den Turm von Kessin«) macht sogar die Satzkonstruktion mit: »Eine halbe Stunde später hielt der Wagen an der ganz am entgegengesetzten Ende der Stadt gelegenen landrätlichen Wohnung« (54). Überhaupt tut der Roman alles, um die Topographie von Effis Elternhaus und Innstettens Kessiner Wohnung in einen Gegensatz zu stellen. Während der Roman geradezu programmatisch mit einer Beschreibung von Schloss und Park HohenCremmen eingesetzt hatte, widmet er der Darstellung der Kessiner Unterkunft in der Mitte des 6. Kapitels kaum einen Satz: »einem einfachen, etwas altmodischen Fachwerkhause, das mit seiner Front auf die nach den Seebädern hinausführende Hauptstraße, mit seinem Giebel aber auf ein zwischen der Stadt und den Dünen liegendes Wäldchen, daß die ›Plantage‹ hieß, hernieder blickte« (54–55). Vielleicht mag es weit hergeholt sein, diese »Plantage« mit den »Platanen« in Effis elterlichem Park kurzzuschließen. Aber auch in Kessin gibt es eine »Front« des Wohnhauses, nur tut die Erzählstimme alles, um die wahre topographische Lage zu verschleiern. Während das Schloss in HohenCremmen trotz seiner Eigenschaft als Repräsentationsbau für den altmärkischen Adel die familiäre Intimität geradezu inszeniert hatte, ist das Haus in Kessin »nur Instettens Privatwohnung«; daneben gibt ja noch »das eigentliche Landratsamt«. Während Innstettens Haus »schräg gegenüber« auf eine »Hauptstraße« hinausgeht (55), die immerhin zu mehreren »Seebädern« führt, muss sich das elterliche Schloss Effis mit einer »Dorfstraße« begnügen. Effi wird später von ihrem »Schlafzimmer« aus (125) das rege Badeleben von Kessin geradezu als ein »Schauspiel« (137) betrachten können. Ist es in Hohen-Cremmen der Park, in dem das Familienleben stattfindet, so dient in Kessin dazu die »Veranda« des Hauses, »vielleicht richtiger ein Zelt«, von der aus Effi neugierig die Neuankömmlinge in Kessin beobachtet. Die Veranda »be-

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stand aus einem großen gedielten Podium, vorn offen, mit einer mächtigen Markise zu Häupten, während links und rechts breite Leinwandvorhänge waren«, immerhin ein »reizender Platz« (142). Von hier wird sie den aus »Renommisterei« noch im Spätherbst badenden Crampas erblicken: »Aber kommt da nicht Crampas?« (144) Genau so wird Effi dann die »Bilder aus den Kessiner Tagen« erinnern: »das landrätliche Haus mit seinem Giebel und die Veranda mit dem Blick auf die Plantage« (257). Kessin, von Effi als halb sibirisch vermutet und für »Mitte November« (47) als herbstlich dunkel erwartet, ist es nicht (s. Kap. 21). Tatsächlich herrscht »gutes Wetter« (48), was Effi nicht hindert, »so was Unheimliches« herbei zu phantasieren, wenn sie die Mondbeleuchtung bei der Anfahrt nach Kessin mit derjenigen Venedigs vergleicht (54). Während bei der Vorstellung Hohen-Cremmens »heller Sonnenschein« die dortige Szenerie beleuchtete (5), herrscht im abendlichen Kessin das künstliche Licht vor (»geblendet von der Fülle von Licht«): »In der vorderen Flurhälfte brannten vier, fünf Wandleuchter, die Leuchter selbst sehr primitiv, von bloßem Weißblech, was aber den Glanz und die Helle nur noch steigerte.« Dazu kommen freilich zwei »mit roten Schleiern bedeckte Astrallampen« und »sehr Sonderbares«, nämlich ein an der Decke aufgehängtes »Schiff mit vollen Segeln«, ein »Haifisch« und ein »Krokodil« (56–57). Bei Tageslicht betrachtet sieht dann alles ganz anders aus: »wenn ich mich hier umsehe, daneben ist unsere ganze Hohen-Cremmener-Herrlichkeit ja bloß dürftig und alltäglich« (63). Wenn Effi imaginiert, ihr Ehemann sehe wie ein residierender »persischer oder indischer Fürst« aus, dann entstammt dieser Einfall zwar ihrer »Bilderbuch«Welt, ist aber auch der Rolle Kessins als eines Seebads geschuldet, in der eine »Welt von Flaggen« weht (65), wodurch »alles so was Fremdländisches hier« hat (66). Bei der erst jetzt nachträglich veranstalteten »Musterung im Hause« (68) zeigt das landrätliche Wohnhaus dann erneut ein Doppelgesicht. Auf der einen Seite stellt sich heraus, dass das von der Herrschaft bewohnte »Vorderhaus« aus einer Vielzahl »leer« stehender Zimmer besteht, darunter auch dasjenige, in dem sich das »Bildchen« mit dem Chinesen befindet (68–69). Schließlich stammt das Kessiner »Haus, dasselbe, drin wir jetzt wohnen« (98), von Kapitän Thomsen, so dass sich auf der anderen Seite Effi und Innstetten als dessen Nachbesitzer begreifen müssen. Im Brief an ihre Mutter wird Effi diese Doppelung dann aufgreifen. Zunächst spricht Effi dann von den Zimmern als »Rumpelkammern« und bezeichnet das gesamte Kessiner

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Haus als »Spukhaus« (116), dann verbessert sie sich zu einer anderen Kontrastierung, das Haus sei »sonderbarer Weise gemütlich und unheimlich zugleich« (117). In Hohen-Cremmen hatte der Leser niemals einen Blick in das Innere des Schlosses tun dürfen. Die Atmosphäre in Kessin ist durch die Leitfarbe Gelb gekennzeichnet. Die Spukzimmer (s. Kap. 22) des ersten Stocks sind natürlich »alle gelb getüncht«, der dort aufgeklebte Chinese ist »mit gelben Pluderhosen« versehen (69). Nach der Rückkehr von einem Zwischenaufenthalt im Elternhaus fällt Effi auf, dass hier ein »etwas fahles Licht« herrscht, das sie »mit einemmal wieder bang« macht: »Solch fahles, gelbes Licht giebt es in Hohen-Cremmen gar nicht« (138). So überrascht es auch nicht, dass bei Effis Strandausflug mit Crampas diese Farb- und Lichtsignale nicht nur die erlebte Landschaft prägen, sondern sich so verdichten, dass sie sich gleichsam selbst thematisieren: So gießt »die schon halb winterliche Novembersonne ihr fahles Licht aus« und »das helle Gelb der Immortellen hob sich, trotz der Farbenverwandtschaft, von dem gelben Sande, darauf sie wuchsen, scharf ab« (162). Über Hoppensacks Hotel weht natürlich immer »eine gelbe Flagge« (224). Offensichtlich sind auch die Vorausweisungen auf die Blumen, die sich Innstetten vor dem Duell mit Crampas ins Knopfloch stecken wird: »Die Immortellen nachher« (285). Auch Effis Briefe, die ihre Entlarvung auslösen, werden dann diese Farbe tragen: »die sahen ja schon ganz gelb aus, so lange ist es her« (291).

Berlin Kein größerer Kontrast ist möglich als der zwischen der repräsentativ gelegenen Berliner Wohnung »Keithstraße 1c« (238) mit dem »breiten aufgemauerten Balkon« (ebd.), von dem man einen Ausblick auf »Kanalbrücke« und »Tiergarten« hat (239), und Effis späterer Behausung, eine kleine, aber »apart hübsche Wohnung« im dritten Stock »in der Königgrätzerstraße, zwischen Askanischem Platz und Halleschem Thor: ein Vorder- und Hinterzimmer, und hinter diesem die

Küche mit Mädchengelaß, alles so durchschnittsmäßig und alltäglich wie nur möglich« (306). Von dort hat Effi den Blick über »die verschiedenen Bahndämme, drei, nein vier« und auf den »Matthäikirchhof« (306– 307). Der verständnisvolle Arzt Rummschüttel versucht sogar, diesem Blick aus dem »Hinterzimmer« die Vorteile einer lieblichen Aussicht abzugewinnen, doch seine Euphemismen bleiben durchsichtig: »Sehen Sie doch nur die verschiedenen Bahndämme, drei, nein vier, und wie es beständig darauf hin und her gleitet«. Dann tröstet er Effi über die Tristesse des Wohnquartiers hinweg: »und wenn dann erst die kahle Stelle da hinten mehr in Grün stehen wird« (307). Literatur Andermatt, Michael: Haus und Zimmer im Roman. Die Genese des erzählten Raums bei E. Marlitt, Th. Fontane und F. Kafka. Bern u. a. 1987. Grawe, Christian: Theodor Fontane: Effi Briest. Frankfurt a. M./Berlin/München 1985. Haberer, Anja: Zeitbilder. Krankheit und Gesellschaft in Theodor Fontanes Romanen ›Cécile‹ (1886) und ›Effi Briest‹ (1894). Würzburg 2012. Hehle, Christine: Von Krotoschin nach Kessin. Zu Landschaft und Mythos der Ostsee in Theodor Fontanes Roman ›Effi Briest‹. In: FBl 73 (2002), 71–87. Hoffmann, Nora: Photographie, Malerei und visuelle Wahrnehmung bei Theodor Fontane. Berlin 2011. Neuhaus, Stefan: Kessin. Zur Topographie eines literarischen Ortes in Fontanes ›Effi Briest‹. In: Germanistische Schlaglichter. Eine Reihe des Instituts für deutsche Sprache der Universitäten Göteborg und Uppsala. Göteborg 21999, 23–47. Parr, Rolf: Kongobecken, Lombok und der Chinese im Hause Briest. Das »Wissen um die Kolonien« und das »Wissen aus den Kolonien« bei Theodor Fontane. In: Konrad Ehlich (Hg.): Fontane und die Fremde, Fontane und Europa. Würzburg 2002, 212–228. Schafarschik, Walter (Hg.): Theodor Fontane: Effi Briest. Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart 22002. Scherpe, Klaus R.: Ort oder Raum? Fontanes literarische Topographie. In: Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts, Bd. 3. Hg. von Hanna Delf von Wolzogen. Würzburg 2000, 161–169. Schuster, Peter-Klaus: Theodor Fontane: ›Effi Briest‹. Ein Leben nach christlichen Bildern. Tübingen 1978.

Rolf Selbmann

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28 Räume Poetik des Raums Der engbegrenzte Raum Preußens, den der FontaneLeser gewohnt ist, wird auch in Effi Briest kaum verlassen. Topographisch ist der Roman in einem Dreieck von Effis Elternhaus im altmärkischen Hohen-Cremmen, der Landratswohnung in Kessin an den östlichen Ausfransungen Preußens ins slawisch-wendische Kulturland und der Reichshauptstadt Berlin angesiedelt, nur marginal ausgeweitet durch die Hochzeitsreise der Innstettens, die standes- und erwartungsgemäß nach Italien führt, und eine Urlaubsreise nach Rügen, die nach Kopenhagen abdriftet (s. Kap. 13, 27). Zuletzt kommt noch Effis Kuraufenthalt in Bad Ems hinzu, der den geographischen Bezugspunkt für die Entlarvung des Ehebruchs liefert (s. Kap. 24). Ferne Welten erscheinen im Roman nur mittelbar und dann in merkwürdiger Brechung, etwa in der Herkunft des Chinesen (s. Kap. 22), Effis Imagination ihres Ehemannes als orientalischer Fürst oder Innstettens Vision, seinen gescheiterten Lebensentwurf mit im »Urwald-Umherkriechen oder in einem Termitenhügel nächtigen« und zwischen »Kongo« und »Kamerun« beenden zu wollen (341). Die letzte Hoffnung auf Effis Genesung durch einen Aufenthalt in Mentone kommt nicht mehr zustande (s. Kap. 25). Spätestens seit Gaston Bachelards Poetik des Raumes wissen wir, dass es weniger auf die objektiven räumlichen Gegebenheiten ankommt als vielmehr auf deren emotionale Ausstattung durch ihre Benutzer (Bachelard 1975). Wie stark beides miteinander verzahnt ist und dabei in gegenseitige Schwingungen gerät, demonstrieren Fontanes Romane, die allesamt geographisch genau situiert und räumlich strukturiert sind. Räume, so suggeriert dieses Verfahren, verbürgen die Wirklichkeitsverpflichtung des Geschehens, auch wenn es sich um teilweise oder vollständig erfundene Szenerien handelt. Dabei stellen alle Räume des Romans Schwellenräume dar, an denen Grenzbereiche übertreten werden können und in denen unterschiedliche Lebenswelten zusammenstoßen. So sieht Hohen-Cremmen durch seine Abgeschlossenheit auf den ersten Blick wie ein Paradies aus, bei näherem Zusehen deutet vieles auf Untergang und Tod voraus (s. Kap. 21, 25, 36): Effis vielgenutzte Schaukel, die die »Furcht« »nieder[zu]stürzen« geradezu notwendig enthält (37); die in die Schlossparkumgrenzung integrierte »Kirchhofmauer« (5); die Zwillinge »Bertha und Hertha« (8), deren Namen ein Anspielungsfeld

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aufreißen, das von der spielerischen Versenkung von Stachelbeerschalen im Schlossteich bis zur übereindeutigen Vorausdeutung, noch dazu aus dem Munde Effis, reicht, hier sei »Schuld versenkt« worden: »so vom Boot aus sollen früher auch arme unglückliche Frauen versenkt worden sein, natürlich wegen Untreue« (14). Fontanes Romanwelt zeigt sich also nicht nur geographisch beschränkt, sondern in dieser geographischen Beschränkung auch jederzeit vorhersehbar. Unverhofftes ist nicht zu erwarten. So erfährt der Leser erst ganz am Ende, dass sich hinter dem winkelig in U-Form abgezirkelten Schlosspark von HohenCremmen eine weite Kulturlandschaft erstreckt: »An solchen Tagen ging sie wohl auch auf die Felder hinaus und ins Luch, oft eine halbe Meile weit« (335).

Hohen-Cremmen und Kessin Zugleich definieren sich Schloss und Park HohenCremmen aber auch als Räume mit altpreußischer Tradition »schon seit Kurfürst Georg Wilhelm« (5). Das »Denkmal«, die »verrostete Pyramide mit einem gegossenen Blücher in Front und einem dito Wellington auf der Rückseite«, das »Briests Großvater zur Erinnerung an die Schlacht von Waterloo hatte aufrichten lassen« (139), ist so verweisungsstark (s. Kap. 5), dass es gleich auf mehreres hindeutet: Napoleons endgültige Niederlage, dann die enge Verbindung zu England, die die märkische Familiengeschichte in die Gegenwart überführt. Die beiläufige Hinleitung auf die ganz andere räumliche Situation an Effis neuem Wohnort Kessin liefert der Vater: »Hast Du nun solche Spaziergänge auch in Kessin?« (139) Die Frage kontrastiert die Lebensverhältnisse der Briests und Innstettens also unter topographischer Perspektive. Innstetten hat trotz adeliger Herkunft kein Herrenhaus, sondern immer nur Wohnungen, die an wechselnde Funktionen gebunden sind, keine örtlichen oder räumlichen Bindungen zulassen und auf eine historische Heimat- und Geschichtslosigkeit hindeuten. Sein preußischer Raum reicht nur bis zu Bismarcks Reichsgründung und hat keine historisch tiefen Wurzeln wie derjenige der Briests, der märkische Traditionen »seit Kurfürst Georg Wilhelm« mit der Anfangsgeschichte Preußens familiengeschichtlich zu verknüpfen vermag. Innstetten unterwirft sich dem Wechselspiel der Konventionen; er hat keinen festen Stand-Ort wie der alte Briest, dessen Lieblingsfloskel vom »weiten Feld« (47, 140, 144, 350) man nicht nur als ausweichendes Nichtfestlegen verstehen kann oder als mehr oder we-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2019 S. Neuhaus (Hg.), Effi Briest-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04874-5_28

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niger tiefgründige Lebensweisheit (Rösel 1997), sondern auch als Versuch einer Orientierung im Raum bei gleichzeitiger Entgrenzung. Auch deshalb kann Effi ihren Umzug nach Kessin nicht als Gewinn eines eigenen Hausstandes erleben, sondern als Verbannung in Kälte und eine gespenstische Räumlichkeit, so dass sie dort immer eine »Fremde im eigenen Raum« bleiben wird (Scheiding 2012, 258). In der heimatlichen Welt scheinbarer Behütetheit wird der Brautwerber Innstetten als Eindringling angesehen, der bei seinem ersten Auftreten über die »Gartensalonschwelle« (18) auch in einen Raum eindringt, dem er nicht zugehört. Dabei ist Innstettens Wohnort Kessin ebenfalls in einem solchen Schwellenraum angesiedelt, in dem sich wendisch-slawische Überlieferungen und preußische Gebietsnahme durchmischt haben, in dem vorchristliche Traditionen weiterleben, alles nur oberflächlich durch preußische Militärstaatlichkeit und einen kämpferischen Protestantismus domestiziert. Kessin mag ja hinterste Provinz sein, Effi nennt ihn »einen halb sibirischen Ort« (29), und die Mutter ergänzt: »wo nachts kaum eine Laterne brennt« (33). Kessin ist aber auch Ferien-, Touristen- und Badeort mit internationalem Publikum, freilich nur Sommerbetrieb; in der Winterzeit verfällt es in seinen provinziellen Winterschlaf. Man mag einen solchen Ort in Anlehnung an eine Begriffsprägung von Foucault als »Heterotopie« bezeichnen, also als einen Ort, der außerhalb aller Orte liegt, obwohl man ihn jederzeit lokalisieren kann (Wichard 2012, 16). Effis Lieblingsort in Kessin, die »Veranda nach der Plantage hinaus«, ist ebenfalls ein solcher Übergangsraum, wie schon seine ausführliche Beschreibung betont: »Die Veranda, von der Effi gesprochen, und die vielleicht richtiger ein Zelt genannt worden wäre, war schon im Sommer hergerichtet worden, drei, vier Wochen vor Effi’s Abreise nach Hohen-Cremmen, und bestand aus einem großen gedielten Podium, vorn offen, mit einer mächtigen Markise zu Häupten, während links und rechts breite Leinwandvorhänge waren, die sich mit Hülfe von Ringen an einer Eisenstange hin und her schieben ließen. Es war ein reizender Platz, den ganzen Sommer über von den Badegästen, die hier vorüber mußten, bewundert« (142).

Sowohl die (kaum adäquat nachvollziehbare) Baukonstruktion als auch die Zeiteinordnung, die Abschottung dieses Beobachtungsplatzes als auch die bereitwillige Zurschaustellung ihrer Benutzer (»reizender Platz«) erheben diese Veranda zu einer Art Kippfigur.

Von diesem Platz aus wird Effi den dem herbstlichen Meer entstiegenen Crampas sehen (144), von hier aus beobachtet sie nicht nur den Strom der Badegäste und die Beerdigung von Roswithas bisheriger Herrschaft, von hier aus führt auch der Weg in die »Plantage«, dem Ort der späteren Stelldicheins Effis. Genauso werden sich »die Bilder aus den Kessiner Tagen« in Effis Erinnerung einnisten, dass nämlich diese »Veranda« auch syntaktisch genau an diesem Kipppunkt zu stehen kommt: »das landrätliche Haus mit seinem Giebel und die Veranda mit dem Blick auf die Plantage« (257).

Schwellenräume Kontrastiv zur Ausgangssituation sind auch die Urlaubsorte des Ehepaares Innstetten angelegt. Zwar zerschlägt sich der geplante »Urlaub« in Oberammergau; dass die dortigen »Oberammergauer Spiele« (245) Passionsspiele sind und damit eine Vorausdeutung enthalten, überlässt der Roman dem kundigen Leser. Der Ersatz dafür, ein Aufenthalt auf Rügen (246), scheint in eine freundlichere Richtung zu gehen. Genauso formuliert Effi auch ihre Begeisterung: »das ist ja Capri, das ist ja Sorrent« (246). Die Erinnerung an die Hochzeitsreise, die genau dort geendet und gewendet hatte (47), verdüstert sich jedoch bald, als Effi auf einen Ort mit Namen »Crampas« (247) und auf »Opfersteine« zum heidnischen »Herthadienst« (248– 249) stößt – die bedrohlichen Zeichen verdichten sich auch deshalb, weil Effi ihre Ängste und Befürchtungen in die Räume hineinprojiziert. Jetzt erscheint ihr Rügen ganz anders, nämlich als ein »Sorrent, als ob es sterben wollte« (249). Effis Sehnsucht »nach etwas Vergnüglichem« (250) führt sie nach Kopenhagen und scheint die beängstigenden Eindrücke ganz zu verwischen. Das aber scheint nur so, denn Innstetten gibt seiner Frau mit einer Formulierung recht, die er sehr ähnlich zur Charakterisierung des Chinesengrabes in Kessin gebraucht hatte: »Es war wirklich alles schwermütig, so schön es war« (250). Damals hieß es, als der Chinese (s. Kap. 22) eingeführt wurde: »Es ist sehr schön und sehr schauerlich« (51). In einen Schwellenraum, der von Kontrasten lebt, führt auch der Kuraufenthalt Effis, der den Umschlagpunkt des Romans markiert. Wegen des ausbleibenden männlichen Erben, der Roman nennt dies die »Erbfolgefrage« (263), wird für Effi ein Kuraufenthalt in Bad Ems angesetzt. Die Abreise erfolgt am »Johannistag«, der Erzähler hebt dies besonders hervor (264). Man mag im Kopf haben, dass es sich beim Na-

28 Räume

men dieses kirchlichen Festtags auch um eine sexuelle Anspielung auf den Johannistrieb handelt (s. Kap. 21); vielleicht darf man auch den Namen von Innstettens Hausmädchens mithören. Ganz eindeutig ist allerdings der Hinweis auf den Namen des Kurorts Bad Ems ausgelegt. Schließlich war von diesem Lieblingsbad des preußischen Königs 1870 die sogenannte Emser Depesche ausgegangen, die den Deutsch-Französischen Krieg und damit den Aufstieg Preußens zum Kaisertum einläutete. Die postalische Kommunikation steuert denn auch die Beziehung zu diesem Kurort. Effi erhält zwar kein Telegramm; ihr weiteres Schicksal wird aber durch die Post bestimmt: »die Adresse von der Handschrift der Mutter. Von Innstetten, es war der fünfte Tag, keine Zeile« (299). Der »Schloon« bildet in mehrfacher Hinsicht ebenfalls einen Schwellenraum. Topologisch ein Mischgebiet aus Sand und Wasser, gaukelt er Festigkeit vor und entzieht sie zugleich. Damit bildet der Schloon eine Art Steigerung der Dünenwelt, dieses Grenzraums zwischen Festland und Meer, in dem sich Effi besonders gern aufhält. Selbst die Einheimischen haben mit der Erklärung dieses Schloons ihre Schwierigkeiten: »Denn was der Schloon sei, das war nicht so mit drei Worten zu sagen« (186). Aus der »Verlegenheit« (186), dieses Phänomen sprachlich in den Griff zu kriegen, hilft ausgerechnet die »furchtbare« Sidonie von Grasenabb (176), deren überkritische Kommentare »mit beinahe ungezogener Eindringlichkeit« (185) bis an die Grenze der Beleidigung Effi bisher übel aufgestoßen waren. Sidonie liefert eine Erklärung, die die Naturerscheinung des Schloons geradezu dramatisch aufbaut, um schon auf die Fallhöhe vorzubereiten: »dieser Schloon ist eigentlich bloß ein kümmerliches Rinnsal« (186), doch dann und wann »drückt der Wind das Meerwasser in das kleine Rinnsal hinein, aber nicht so, daß man es sehen kann. Und das ist das schlimmste an der Sache, darin steckt die eigentliche Gefahr. Alles geht nämlich unterirdisch vor sich, und der ganze Strandsand ist dann bis tief hinunter mit Wasser durchsetzt und gefüllt« (187). Ohne dass sie es wissen kann, bestätigt Sidonie Innstettens frühere Aussage bei der Einfahrt nach Kessin: »Hier ist alles unsicher« (50). Effis Betroffenheit (»Mein Gott«; 186) wird von der Angst ausgelöst, die der »Soog« hervorruft, der zum »Versinken« führt, »drin man mit Mann und Maus zugrunde gehen muß« (186). Sidonies dramatische Inszenierung stößt aber ins Leere, denn die Schlittenfahrer weichen der Sogkraft des Schloons aus, übrigens durch eine Entscheidung Innstettens, »das friedlichere Mittel eines Umwegs zu wählen«

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(188). Während also auf der Ebene der Romanhandlung der Schloon gar keine Bedrohung darstellt, weist der Erzähler auf die Treffgenauigkeit von Sidonies »Kassandrablick« (180) hin: »Also genau das, was Sidonie gleich anfangs in Sicht gestellt hatte« (188). Dabei geht die Bedrohung Effis gar nicht vom Schloon aus, die erotische Verführung findet bei der Fahrt durch den Wald statt – eine Streckenführung, die wiederum von Innstetten selbst angestoßen wurde: »bog er, statt den Außenweg zu wählen, in einen schmaleren Weg ein, der mitten durch die dunkle Waldmasse hindurch führte« (189). Effis erliegt also nicht dem befürchteten unterirdischen Sog des Schloons, sondern einer »Fährlichkeit« – so wenigstens formuliert es Gieshübler in seinem »Billet«; er hat die Situation offenbar intuitiv genau richtig erfasst (192). Richtet man sein Augenmerk bei der Lektüre von Effi Briest auf Grenzüberschreitungen und Raumausweitungen, dann kann man sogar den Titel des von Crampas inszenierten Theaterstücks »Ein Schritt vom Wege« so lesen – vor allem dann, wenn dieser Schritt auch »wirklich zu stande« kommt (169). Ähnliches gilt für den Lebensraum des Oberförsters Ring. Schon der Wohnort liegt in einem nicht nur topographischen Grenzgebiet »zwischen Kessin und Uvagla (wo, der Sage nach, ein Wendentempel gestanden)« (175). Der ganze Hausstand ist durch solche Raumdurchmischungen bestimmt, wirkt »herrschaftlich, weit über oberförsterliche Durchschnittsverhältnisse hinaus«. Das liegt an der Ehefrau, die, »so scheu und verlegen sie war, aus einem reichen Danziger Kornhändlerhause stammte« (178), während es dem »überaus eitlen« Oberförster (176) gelungen ist, seine beiden Töchter, »bildhübsche Backfische«, nach seinem Vorbild zu erziehen, was sofort von Sidonie von Grasenabb bemängelt wird: »Keine Zucht. Das ist die Signatur unserer Zeit« (176). Diese »beinahe an Glanz streifende Wohlhabenheit« der Rings (178) kontrastiert nicht nur mit der Kritik Sidonies, die im Hause Rings eine »Bankrutterklärung« vor dem »Geist der Zeit« am Werk sieht (179), sondern schafft auch eine allgemeine Schieflage, in der die »gesellschaftlichen Ordnungen« aus den Fugen geraten sind: »benimmt er sich nicht, als ob er von dem [schwedischen Sagenkönig Sigurd Ring] abstamme« (180). Rings Vermögenslage erlaubt freie Lebensformen jenseits eingefahrener Konventionen, vom konservativen Adel kritisch beäugt und neidisch bespöttelt. Als Grenzüberschreitungen darf man auch die Charakterisierung Effis durch ihre Mutter als »Tochter der Luft«, als »Kunstreiterin« und »immer am Trapez« (7)

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IV Themen, Motive und Symbole

lesen. Denn »etwas eigentümlich Prickelndes«, ein »Schauer süßer Gefahr« geht ja weniger von der Beschleunigung »auf dem durch die Luft fliegenden Schaukelbrett« aus, sondern eher von der Erwartung: »jetzt stürz’ ich« (138). Effi durchlebt mit ihrer undamenhaften Leichtlebigkeit nicht nur kindliche Naivität, wenn sie sich »auf Oberst Goetze’s Schoß« setzen will und »hopp, hopp« reiten möchte (7), während Rings Tochter Cora sich tatsächlich »auf ›Onkel Crampas’‹ Schoß« setzen wird (181). Effis »kittelartiges Leinwandkleid« zur Durchführung ihrer »Heil- und Zimmergymnastik« in der frischen Luft (6) ist gleichzeitig auch »Matrosenkostüm« (15), das sowohl auf ihr zukünftiges Leben am Badeort Kessin als auch auf die Verlockungen des wässrigen Elements hindeutet: »Stille Wasser sind tief« (ebd.). Ihr Ausreiten am Meer versteht sie daher entsprechend als »Passion« (149). Sehr bald wird Effi, die ehemalige »Tochter der Luft«, in den Augen des Arztes längst »bleichsüchtig« (200) geworden, »sich um freie Luft und lichte Sonne gebracht haben« (301) und bei jeder Gelegenheit nach Luft ringen. Dabei funktioniert dieses »Luftbedürfnis« (333) zugleich als »Vergessenheitsquelle« (334), so dass jeder Spaziergang zu einer Art Raumdurchquerung wird, wobei es auf diesen Raum gar nicht ankommt: »Effi, der freie Luft noch mehr galt, als landschaftliche Schönheit« (343). Der medizinisch-psychiatrische Befund ist schnell klar (s. Kap. 25); was allein »Genesung bringen kann, ist nicht Luft allein« (327), sondern Heimkehr und damit Rückkehr in den Raum der Kindheit. Doch die räumliche Rückkehr enthält keine zeitliche, wie sich bei Effis Wiederaufnahme des kindlichen Schaukelns »wie in Glück und Übermut« am heimatlichen Ort zeigt. Auch wenn der väterliche Freund meint: »Effi, Du bist doch noch immer, wie Du früher warst«, so lässt sich die Vergangenheit auf diese Weise nicht zurückholen. Der Roman und sein Erzähler sehen genauer hin: es ist eben kein »Glück und Übermut«, sondern nur »wie in Glück und Übermut«. Selbst Effi weiß es: »Nein. Ich wollte, es wäre so, aber es liegt ganz zurück, und ich hab’ es nur noch einmal versuchen wollen« (333). Innstetten bedient sich einer ganz anderen Bewältigungsstrategie (s. Kap. 14). Diese zeichnet sich durch räumliche Abschließung aus: »Mir ist eben alles verschlossen« (340). Auch ein sinnloser Ausbruchswunsch (»ich möchte aus dieser ganzen Geschichte heraus«; 340) à la »Quer durch Afrika«, zum »Kongo«

oder nach »Kamerun« kann daran nichts ändern (341). Effi hingegen versteht ganz im Sinne ihres Bewegungsdrangs jeden Ortswechsel auch als eine innerliche Veränderung. Den Umzug nach Berlin, der ihre Ehebruch-Verstrickung durch Raumänderung auflösen soll, feiert sie euphorisch als »neues Leben! Es soll anders werden« (239). So vollzieht sich Effis Sterben, das der Roman nicht direkt darstellt, als Wahrnehmung der Bewegung der »Nachtluft« im Raum: »im Parke regte sich kein Blatt« (348). Auch die Bewältigung ihres Todes durch die Eltern vollzieht sich räumlich, nämlich durch »eine kleine Veränderung« innerhalb der Parkgestaltung, des Austauschs der Sonnenuhr durch eine »Marmorplatte« mit Effis Namen (349). Insofern erscheint der gesamte Roman Effi Briest zwischen zwei topographischen Markierungen eingespannt: Er beginnt mit »In Front des« und endet mit »ein zu weites Feld«. Literatur Bachelard, Gaston: Poetik des Raumes. Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1975. Dennerlein, Karin: Narratologie des Raumes. Berlin/New York 2009. Drude, Otto: Fontane und sein Berlin. Personen, Häuser, Straßen. Frankfurt a. M./Leipzig 1998, 324–331. Dunker, Axel: »Unter lauter pechschwarze Kerle, die von Kultur und Ehre nichts wissen«. Theodor Fontane: ›Effi Briest‹. In: Ders.: Kontrapunktische Lektüren. Koloniale Strukturen in der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts. München 2008, 151–165. Günzel, Stephan: Raum – Topographie – Topologie. In: Ders. (Hg.): Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften. Bielefeld 2007, 13–29. Hannes, Hellmut: Auf den Spuren Theodor Fontanes in Swinemünde. Ein Stadtrundgang durch Šwinoujšcie. Schwerin 2009. Quabius, Richard: Die Gestaltung des Raumes in Theodor Fontanes Roman ›Effi Briest‹. In: Acta Germanica 5 (1970), 133–152. Rösel, Manfred: »Das ist ein weites Feld«. Wahrheit und Weisheit einer Fontaneschen Sentenz. Mit einem Vorwort von Helmuth Nürnberger. Frankfurt a. M. u. a. 1997. Scheiding, Katrin: Raumordnungen bei Theodor Fontane. Marburg 2012. Volkov, Evenij: Zum Begriff des Raumes in Fontanes später Prosa. In: FBl 63 (1997), 144–151. Wichard, Norbert: Erzähltes Wohnen. Literarische Fortschreibungen eines Diskurskomplexes im bürgerlichen Zeitalter. Bielefeld 2012. Wilhelm, Gisela: Die Dramaturgie des epischen Raumes bei Theodor Fontane. Frankfurt a. M. 1981.

Rolf Selbmann

29 Philosophie

29 Philosophie Präliminarien Eingebettet in die vom Umfang her weiter gefasste Forschungsliteratur zum Thema ›Fontane und die Philosophie‹ (FHb) ist der Rahmen für die ›Philosophie in Effi Briest‹ selbstverständlich bereits vorgegeben. Es lassen sich vor diesem Hintergrund zum einen (mindestens) drei – nicht scharf zu trennende – Perspektiven unterscheiden, nach denen die philosophischen Einflüsse in Effi Briest untersucht werden können: 1. Hinsichtlich der Philosophen, die im Kontext der (bürgerlichen) Allgemeinbildung oder auch durch populäre Debatten gemeinhin bekannt waren und die also a priori Fontanes Schreibtätigkeit und sein Denken beeinflussten. Dazu zählen, um nur einige zu nennen, Schiller, Goethe, Schelling, Kleist, Feuerbach, Mainländer; die Namen ›Leibniz‹, ›Spinoza‹, ›Schlegel‹ etc. waren zumindest über die Pseudonyme der ›Tunnel‹Mitglieder Lazarus und Löwenstein bekannt. 2. Ausgehend von den in Briefen, Memoiren oder Romanen explizit genannten Philosophen oder gar direkten Bekanntschaften. Hier lassen sich u. a. Hume, Smith, Kant, Herder, Fichte, Hölderlin, die Frühromantiker, Heine, Schopenhauer, Marx, Mill, Bahnsen, von Hartmann, Nietzsche anführen; außerdem Paulsen, mutmaßliche Besuche mit Wolfsohn bei den Brüdern Bakunin sowie im Berliner Kreis ›Die Freien‹ (Ruge, die Brüder Bauer, Stirner...), direkter Verkehr mit Mauthner, Lektüre einer Biographie von Zeller zu D. F. Strauß’ Leben und Werk und mehrere Konzepte, die durch die Lektüre der Werke Schopenhauers bekannt gewesen sein müssen. 3. In freier Assoziation zu Philosophemen, die zur Gestaltung einzelner Textpassagen beigetragen haben könnten (Rousseau, Diderot, Hegel, Kierkegaard, Emerson, Thoreau...); immerhin prägt die Tätigkeit des Sinnierens maßgeblich die Figuren in Effi Briest, wodurch die Zuordnung von einschlägigen Topoi zu zeitgenössischen Fachdiskursen durchgeführt werden kann. Zum anderen sollen philosophische Ausführungen späterer Autoren a posteriori, in nachträglichem Bezug auf den Text thematisiert werden. Die genannten Kategorien fließen im Weiteren sukzessive in die Untersuchung der im Roman genutzten philosophischen Disziplinen ein: Biographie und Bibliographie (s. Kap. 13), Ontologie und Poetologie (s. Kap. 14, 32, 36–38), Epistemologie und Semiotik (s. Kap. 41–45), Moralphilosophie. Den losen Exzerpten von Hoof (1998) wird damit eine wissenschaftlichere Ausrichtung zur Seite gestellt; trotz der

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berechtigten Vermutung einiger mystischer Zentren und tiefenpsychologischer Topoi im Text (s. Kap. 39) muss der ›etymmystische‹ Zugang (Fränzel 1993) zu Effi Briest an anderer Stelle aufbereitet werden. Lektüre, Bekanntschaften, Briefwechsel können heute u. a. mittels Berbigs Chronologie (2010) gezielt überprüft werden.

Biographie und Bibliographie Im Fontane-Handbuch wird das Denken des Autors als empirisch-realistisch beschrieben, das der idealistischen Philosophie im Wege stehe (vgl. FHb, 394). Dabei muss zusätzlich betont werden, dass die Art und Weise des Philosophierens bei Fontane wesentlich durch die sogenannte »sokratische Methode« (Berg-Ehlers 1995, 246) durchdrungen bleibt, die sein Vater bereits in Gestalt anschaulicher Anekdoten statt in Form abstrakter Lehrsätze auf die Werte und Normen des gesellschaftlichen Verhaltens anwandte (s. Kap. 13); ganz so, wie es seit Kants kritischen Methodenlehren bis in das heutige ›Philosophieren mit Kindern‹ hinein befürwortet wird. Dr. phil. h. c. Fontane, als Schüler eher ein Bildungsmuffel (vgl. ebd.; s. Kap. 31), wusste durchaus um die Lücken in seiner philosophiegeschichtlichen Gelehrtheit und verarbeitete diese Selbsteinschätzung ironistisch: »je mehr man liest, je dümmer wird man« (HA IV, 4, 372; vgl. dazu auch den Ausspruch Roswithas; 269). Und so endet auch Effi Briest selbst in einem symbolischen Autodafé, nämlich der Aufgabe des Lesens und der damit einhergehenden schleichenden Zurücknahme ihres Willens zum Leben (s. Kap. 25). Zuvor hält sie sich am Bücherregal fest (325) oder lenkt sich durch Lesen von ihren Ängsten ab (80): »Ja, darin will ich lesen; es giebt nichts Beruhigenderes als solche Bücher.« Die philosophischen Fragen in Effi Briest bedürfen aufgrund der vorgenommenen KoTextualisierung freilich nicht zwingend historischer Vorbilder: Die Suche nach dem Sinn des Lebens, das Staunen über die metaphysischen Zusammenhänge und daran angelehnte soteriologische Ausflüchte bilden das menschliche, zutiefst faustische Streben nebst Zweifel und Verzweiflung multidimensional ab: »Sagen Sie, Freund, was halten Sie vom Leben?« (332). In toto fasst der Text gewissermaßen alle Methoden der Hegelschen Enzyklopädie (vgl. Hegel 2015, Bd. 6, 118), denn einige Figuren philosophieren in einem analytischen Geist, wie er beim Erscheinen des Romans in Cambridge (durch G. E. Moore u. a.) ent-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2019 S. Neuhaus (Hg.), Effi Briest-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04874-5_29

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stand, andere Figuren werden durch ein Spannungsfeld von Widersprüchen angetrieben (vgl. Neuhaus 1998, 159 und 220 mit Hinweis auf HA IV, 3, 213: »Beständig wechseln die Anschauungen, auch die sittlichen [...]«), wieder andere suchen ihr Heil in der Spekulation. Doch eine derart eng gefasste Ausleuchtung der zeitgenössischen Denkungsarten soll hier »noch lange nicht [bedeuten], daß das begabte Individuum einfach ein Produkt der Epoche, der sozialen Struktur, der Klassenlage ist« (Lukács 1967, 121); vielmehr zeigt sich auch hier die ausgezeichnete Beobachtungs- und Reflexionsgabe Fontanes, der diese bloß formalen Schemata in eine inhaltliche Dynamik versetzt (s. Kap. 34, 36).

Ontologie und Poetologie Der Aufbau von Effi Briest gleicht in dieser Dynamik einem Fraktal (vgl. Haberland 2014, 123: Fontanes Werk als Teil eines Zersetzungsprozesses und vgl. Neuhaus 1998, 28–29 zur Vorliebe Fontanes für Bruchstücke). Welche Aufgabe ein Roman aus Sicht Fontanes insgesamt zu erfüllen habe, kann direkt abgeglichen werden mit dem realistischen Verständnis der gesellschaftlichen Bedingungen. Der Anfang mutet dabei schon naturalistisch an, indem Umgebung, Kontext und Milieu detailliert aufbereitet werden, um dem Leser eine soziale Einfassung der Menschen in Materie, Arbeit und Klasse zu liefern. Kurz, man könnte Hegels Idiom aus den Grundlinien der Philosophie des Rechts (Hegel 2015, Bd. 5, 15) auf Fontanes Spätwerk übertragen: Die Literatur ist ihre Zeit in Gedanken erfasst. Der Befund, Fontane sei ein typischer Realist (s. Kap. 2), kann jedoch durch eine nähere Analyse der epistemologischen Präsuppositionen in Effi Briest nur bedingt bestätigt werden: Die Wirklichkeit jedes einzelnen Protagonisten ist aus dessen eigener empirischer Wahrnehmung konstituiert (s. Kap. 41), wodurch also vielmehr ein idealistisches Paradigma in den Roman implementiert wird, nämlich das der ›Mind-Dependency‹ bzw. das der Relationalität der lebensweltlichen Erscheinungen und Werturteile zum jeweiligen Bewusstsein der Figuren (s. Kap. 14), respektive zum Bewusstsein des Erzählers (s. Kap. 36). Damit arbeitet im Hintergrund des Textes also eine zusätzliche Perspektive, durch die der aus dem ›off‹ sprechende Erzähler auf die unterschiedlichen Erste-Person-Perspektiven (Erlebensmomente, Emotionen, Hoffnungen...) zugreifen und die Geschehnisse aus einem ›view from nowhere‹ –

allerdings durchsetzt durch eigene rhetorische und emotive Fragen (vgl. 307) – in größere Zusammenhänge einordnen kann. Die hierin angelegte märchenhafte Mantik der Erzähler-Perspektive verweist sowohl auf innertextliche als auch auf außertextliche Repräsentamen und wird selbst quasi-intersubjektiv konstituiert durch die Interdependenz der Protagonistenperspektiven, die überkreuz die Charakterzüge der Anderen beschreiben (vgl. Schmauks 2000, 42–43). Im Zuge dieser epistemologischen Mutualität legen die Figuren einander Ideenkleider über, die meist auf den Überhang je eines bestimmten Vermögens im Wesen der Anderen anspielen. Diese charakterologischen Aussagen führen dann dazu, dass die bezeichneten Individuen in diesen jeweiligen ›Framings‹ wahrgenommen und weitergestaltet werden. Ein erstes von Schopenhauer übernommenes Lehrstück zeigt dem Leser folglich, dass der Zugang einer Person zu ihrem eigenen angeborenen Charakter nicht (intuitiv) privilegiert ist. Stattdessen muss man in einer Welt der subjektiven Vorstellungen auch sich selbst, seine eigene Personalität auf dem Weg der Erfahrung kennenlernen, wie dies seit Berkeley, Locke u. a. für die Identität rationaler, selbstbewusster Lebewesen diskutiert wurde. So können dann aber eben auch die »erzählten Reflexionsgespräche« (Hamann 1984, 382; vgl. auch Steinecke 1984, 11 zur Romanpoetik und -poetologie im 19. Jahrhundert) der Figuren über ihre Träume, Emotionen etc. durchaus als rekursiver Zugang des Lesers zu deren Standpunkten und nicht zu einer rein objektivierten Welt eines Laplaceschen Dämons verstanden werden (vgl. dazu Hamann 1984, 81–82). Man kann in dieser Hinsicht bei der realistischen Programmatik (vgl. Bloch 1985, 106) durchaus von einer gezielten narrativen Arbeit am Erleben des Lesers sprechen (vgl. Steinecke 1984, 29; Renz 1999, 20–21; Hamann 1984, 20–21, 80 und 90): »Das Bemühen des historisch-realen Autors um Mitteilbarkeit einer Erzählkonzeption bildet die Grundlage für die Funktion des fiktiven Erzählers. In seinem Erzählen konkretisiert sich eine Wirklichkeit, die immer eine durch ihn gedeutete ist; denn ›der Erzähler‹ ist der Bewertende, der Fühlende, der Schauende‹« (ebd.).

Der Impuls der sogenannten ›Lebensphilosophie‹ in Effi Briest kann dementsprechend so nachgezeichnet werden, dass die ›Intuition‹ im Sinne Bergsons wieder (zumindest) gleichberechtigt neben die bloß abstra-

29 Philosophie

hierenden wissenschaftlichen Weltbetrachtungen zu stellen ist, ganz so wie das Leben und Bewusstsein in der Forschung Diltheys zur »Erlebnisdichtung« (Sauerland 1972, 19; vgl. auch Zuberbühler 1997; vgl. dazu aber auch Dilthey 2005, Bd. 26, selbst in Das Erlebnis und die Dichtung) besondere Berücksichtigung finden. Aus den singulären Erlebnismomenten entspringen damit je neue Inertialsysteme und – noch weiter an die Philosophie der Physik dieser Zeit angelehnt – vierdimensionale Relationengefüge, die ein gesamtes Netz an Verweisungen entfalten. Fontane markiert in diesen Diskursen regelmäßig Nicht-Orte und Heterotopoi (s. Kap. 42), in denen Geschmacksurteile (Kunstschönes) und dromologische Technisierung (Züge, Dampfer...), Wissenschaft (Genealogie, Ontogenese, Evolutionstheorie...) und das Naturschöne kombiniert werden (Schloon, Opfersteine, Grab des Chinesen...). Im Schrecken der heidnischen Opfersteine und einer damit verbundenen Vision der Hingabe des Individuums – Effi als Opferlamm, Innstetten als Werkzeug der Sittlichkeit – überlappen die Wirkkräfte von Vernunft, Neigungen, Gesellschaft und Natur (s. Kap. 21, 22, 30). Der Eskapismus Innstettens und auch eine ggf. auf die Diagnose ›Hysterie‹ angelegte Charakterologie Effis (vgl. dazu aber Haberer 2012; s. Kap. 35, 45) reflektieren den unausgesprochenen inneren Konflikt der Menschheit gleichsam auf das Außerdichterische und Elementare – man denke hierbei an die Darstellung Effis als Avatar einer Luftelfe (Elf-riede und Brise, Schaukel...) und Wasserfee (Melusinensymbolik; vgl. Ernst 1951, 220). Die Verklärung durch diese mythischen Subtexte (vgl. Ehrhardt 2008, 55; Ohl 1979, 277 und 291) kann daher nicht als einfache »Widerspiegelung alles wirklichen Lebens« (ebd., 293) verstanden werden, sondern muss als eine fundamentalkomplexe Inversion von Reflexbögen (in das Fraktal selbst hinein) miterlebt werden (vgl. ebd., 300: »Fontane hat in Effi aber auch eine Figur entworfen, die selbst das Opfer jener Verwirrungen wird, die sie stiftet«).

Epistemologie und Semiotik Ganz im Zuge dieser Komplexität werden den mechanistischen Naturwissenschaften durch den sogenannten ›Ignorabimus-Streit‹ deutliche Grenzen aufgezeigt (vgl. dazu etwa Du Bois-Reymond in Bayertz u. a. 2012). Neue Erklärungsansätze wie die Evolutionstheorie – beispielsweise von Spencer, Haeckel u. a. mit verheerenden Auswirkungen auch in den Vergleich

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von biologischen und gesellschaftlichen Prozessen integriert – stoßen in dieses Vakuum oder die »Ratlosigkeit« (Mazur 2003, 72–73) vor und beanspruchen im Verlauf des 19. Jahrhunderts, die ›Welträtsel‹ mit neuen dynamischen Prinzipien angehen zu können; doch im Kleinen, so zeigt Fontane in Effi Briest deutlich auf, herrschen nach wie vor Traditions- und Aberglaube (vgl. Begemann 2018, 217 mit Hinweisen auf Comte, Tylor u. a.). Dem Anschein eines aufgeklärten ›Multikulturalismus‹ der Kessiner Öffentlichkeit stehen die immer wieder thematisierte Fremde und insbesondere das Gruselige des Fernöstlichen entgegen. Die epistemologischen Eckpfeiler des ›Bürgerlichen Realismus‹ werden dabei anhand einer hybriden Semiotik gestaltet (s. Kap. 41), in der eine Art ›Ideal-Realismus‹ zwar alles aus der Empirie stammende in möglichst sensualistischem Duktus zu halten versucht, aber die doch gleichzeitig darauf angelegt ist, zu verklären und neu zu schaffen. In dieser Ambivalenz arbeiten die Felder der Natur und der Kultur, der natürlichen Eigentlichkeit und der sozialen Identität (Hegels ›objektiver Geist‹) mit den Figuren selbst und mit ihren rollenspezifischen Ausdrucksweisen. Die Dichtung scheint also ihrer Funktion nach die Philosophie ablösen (vgl. Pfeiffer 1990, 75, Sp. 1) und ihrerseits über Erkenntnis, Sein und vor allem Erleben urteilen zu wollen – »Effi Briest kann somit als ein Roman gelesen werden, der die epistemologischen Probleme behandelt, mit denen sich die künstlerische Praxis des Bürgerlichen Realismus konfrontiert sah« (ebd., 77, Sp. 1). Diese kreative Praxis wird häufig so gelesen, dass sie dem spekulativen Moment in Hegels Enzyklopädie gegenübergestellt werden sollte. Es ist allerdings abwegig, den Realismus so naiv zu deuten, dass die Literatur nun versuchte, Ausdruck und Ausgedrücktes in direkte ›realistische‹ Abbildung zu bringen (vgl. ebd., 76, Sp. 2). Vielmehr nimmt nach Fontane die ›Verklärung‹ die zentrale Rolle der realistischen Literatur ein (vgl. ebd., 76 passim; vgl. dazu auch FHb, 399). Im Wechselspiel zwischen Innenleben und äußerem Ausdrucksverhalten wird daher von den Figuren im Text regelrecht befürchtet, dass Sprache und (moralisches) Empfinden zusammenfallen könnten (vgl. Pfeiffer 1990, 78, Sp. 2). In diesem verklärenden Spannungsverhältnis von Innen und Außen ist nun in Effi Briest der – fatalerweise als ›Drehpunkt‹ des gesamten Romans ausgegebene – Spuk angelegt (s. Kap. 22). Der Chinese geht wieder beim Wehen weißer Gardinen in der Oberstube und in der Okkupation durch die (zunächst unbewussten) Ängste in der »überheizten Stube« (dabei Frau Kruses schwarzes Huhn, s. Kap. XII), gleicher-

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maßen im Portemonnaie und auf dem Stuhlbein. Liest man Kessin daher selbst im o. g. Sinne als einen Heterotopos, so trägt der Ort zwar offensichtlich die Züge von Swinemünde, evoziert jedoch möglicherweise durch eine zusätzliche Assoziation auch den eigentlichen Spuk: Eine chinesische ›Denkungsart‹ in Philosophie und Gelehrsamkeit Europas kann spätestens seit den Ausführungen von Leibniz und Wolff, insgesamt seit der sogenannten ›Chinoiserie‹ des 18. Jahrhunderts nachgezeichnet werden; so könnte eine Parallele zur ostpreußischen Hafenstadt Königsberg hier den Chinesen umtreiben lassen, da doch Nietzsche Kant als den »großen Chinesen von Königsberg« (Nietzsche 1988, Bd. 5, 144) bezeichnet.

Moralphilosophie Als Inbegriff für die Disziplinierung überschwänglicher Leidenschaften verkörpert Innstetten geradezu die praktische Philosophie Kants, die für eine Moralisierung des Individuums (s. Kap. 46), für inständige Tugend, Anstand und Verstand wirbt. Jedoch vernachlässigt er auch an einigen Stellen die Achtung der Person (vgl. zur Auseinandersetzung Annas 1984 für und Baron 1988 gegen die verheerenden Auswirkungen der Kantischen Ethik). Effi Briest entwickelt eine regelrechte Kartographie, gar eine literarische Phänomenologie solcher Moralkriterien: das richtige Gefühl (258) und an anderer Stelle die richtige Erkenntnis, das Worthalten (259–260), Affektion versus Selbstbeherrschung, Reue, Schuld, Gewissen, äußere Machtverhältnisse (Stand, Milieu, Genealogie/Erbfolge). Doch die Traditionen und Gewohnheiten beginnen in ihren öffentlichkeitswirksamen Funktionen zu wanken. Der sichere Familien-, Preußo- und Eurozentrismus (s. Kap. 5, 26) wird auf diese Weise empfindlich gestört durch den transkulturellen Einbruch exotischer Importe (japanischer Schirm, Krokodil, chinesischer Drache, russischer Nihilismus; s. Kap. 44). Das Individuum erkennt durch diese Einflüsse nach und nach die Relativität der geltenden gesellschaftlichen Normen und Wertvorstellungen und sucht mitunter verzweifelt nach Halt und nach festen Orientierungspunkten. Die Nachricht vom Tode Gottes greift in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts um sich (vgl. Nietzsche 1988, Bd. 3, 480: Der tolle Mensch und vgl. Dostojewskis Die Brüder Karamasov, Buch 6, 3). Die »metaphysische Obdachlosigkeit der positivistischen Epoche« (Mazur 2003, 72) mündet in einem Bewusstsein des materiellen Verfalls der Lebewesen und der Relativierung des

Menschen durch das Tierliche, während in der gehobenen Bourgeoisie aber der Anschein der Normalität gewahrt wird. Bezeichnenderweise dient im Roman eine Episode zu Heine als Rahmen für den Abgleich zweier Moralkonzepte: Die Textklammer ›Fitzliputzli-Titzewitz‹ greift eine Stelle aus Schopenhauers Preisschriften (vgl. Schopenhauer 1999, Bd. 3, 490) auf, in deren nächsten Absätzen der Aberglaube des Kategorischen Imperativs enttarnt werden soll. Es fügt sich dem die Silvesterfeier an (193), bei der Frau von Titzewitz über das Ringen mit den natürlichen Anlagen des Menschen und den jubelnden Engeln beim Obsiegen der Vernunft philosophiert – doch diese Einsicht versperrt sich Effi durch das Auftreten des Verführers (vgl. Kobel 1994; zur Nähe Crampas’ zu Kierkegaards ›Verführer‹ vgl. Allen 2016 und zu Effis Reise durch die »Kierkegaardian spheres of existence« vgl. Stewart 2012). Der Erzähler bekräftigt seine Sicht dadurch, dass er als Zäsur ein Schopenhauer-Idiom setzt – »Die Kugel war im Rollen« (199; vgl. darüber hinaus Wolzogen 2017 zu Spuren Schopenhauers in Fontanes Werk), wodurch die Notwendigkeit der Abläufe hervorgehoben wird. Eine Verschärfung der Situation tritt durch diese Weltanschauung ein: Wenn es keine Vernunftbestimmung gibt, ist alles entschuldigt. Ein intrigantes Netz übler Nachrede überdeckt das Ideal des aufgeklärten Individuums und bigotte Reden von Zucht und Sitte (179) haben lediglich strategische, aber keine moralischen Motive (176) – dies führt in der Persiflage des Zeitgeistes im Kontext des Gesprächs zwischen Effi und Sidonie von Grasenabb bis zur antisemitisch aufgeladenen Schmährede gegen Lessings Nathan der Weise (181). Die Frage nach der richtigen Erziehung und nach den dazu erlaubten Mitteln lassen vor diesem Hintergrund die Pädagogik des 19. Jahrhunderts von Pestalozzi bis Steiner in einem Licht der Manipulation erscheinen (s. Kap. 31). Im Streben nach (der eigenen) Glückseligkeit werden die Protagonisten in Effi Briest unerbittlich in den Strudel eines ›Sittlichkeitsschloons‹ hineingezogen, der jedoch letztlich von den Figuren selbst konstruiert wird. Damit transferiert Fontane den philosophischen Diskurs, wie er von Schopenhauer entwickelt und dann von v. Hartmann, »mit dessen Schriften er sich ›immer in Übereinstimmung‹ [...] wusste« (vgl. Mecklenburg 2018, 197–198), sowie Nietzsche weitergedacht wurde, in den Bereich der schönen Künste hinein. Aus philosophischer Sicht bestimmen vor allem diese drei Namen den ethischen Einschlag in Effi Briest, wobei Schopenhauer zeit seines Lebens bekennender Kantianer bleibt und lediglich für den Bereich der praktischen Philosophie do-

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kumentiert, dass ein Änderungsbedarf am quasichristlichen ›top-down‹-Konzept freier menschlicher Wesen besteht: Die empirische Beobachtung könne eine autonome Anleitung menschlicher Wesen durch die Vernunft schlichtweg nicht stützen. Die Triebfedern für die Gestaltung von Handlungen bestehen nach Schopenhauer stattdessen aus egoistischen, boshaften oder von Mitleid geprägten Motiven. Der Wille ist daher nie frei, sondern durch ein entsprechendes Motiv bestimmt, wobei sich immer das stärkste Motiv Bahn bricht. Dieses Motiv ist selbstverständlich abhängig vor allem vom Charakter, aber auch von den natürlichen und sozialen Umständen, in denen sich das Individuum befindet. Lediglich in der Wahl der Mittel und Handlungsweisen ist der Mensch relativ frei; daher kann der Grad der Erkenntnis, mithin auf der höchsten Stufe, eine metaphysische Einsicht zur Entscheidung führen, den Willen zum Leben vollständig zu verneinen, da Leben für alle beteiligten Wesen Leiden bedeute. Diese hinduistische und in letzter Hinsicht buddhistische Erleuchtung – Fontane selbst kennt diese Lebensmüdigkeit eher als pathologisches Phänomen – führt zu einer Drosselung des Willens zum Leben bis hin zum Übergang des Individuums ins erlösende Nichts. Solange wir noch handeln wollen, ist diese höchste Einsicht noch nicht erreicht. Auf dieser Ebene ist einzig und allein das Mitleid von moralischer Geltung, entweder als gefühlsmäßiger Zustand eines mitleidenden Charakters oder, was noch höher zu bewerten ist, als metaphysische Erkenntnis. Im Gegensatz zu egoistischen Handlungen, die als ›Telos‹ das eigene Wohl haben, und boshaften Handlungen, die auf das Leiden der Anderen bei eigenem Lustempfinden abzielen, will das Mitleid ausschließlich das Wohl anderer. Formuliert man dies als moralische Faustregel, so ruft man sich im Zweifelsfall in Erinnerung (vgl. Schopenhauer 1999, Bd. 3, 568): »Schade niemandem!« (für gerechtes Handeln mit negativ-utilitaristischem Zungenschlag) und »Hilf allen, soweit Du es kannst!« (hier als christliche Agapé, angelehnt an Rousseaus Mitleid und Smiths ›sympathy‹; vgl. zur Vertrautheit Fontanes mit Smith: Fontane 2016, 26). Lediglich in der formalen Rolle des Erzählers findet man in Effi Briest dieses Mitleid als ›tat twam asi‹ (›das bist auch Du‹) und lediglich in Effi nimmt sich der Wille zum Leben am Ende ganz zurück. Alle anderen Normen und Werte, die das Handeln der Personen im Text bestimmen, müssten ganz im Sinne Schopenhauers auf Egoismus und Bosheit zurückgeführt werden. Doch gegen dieses Konzept als solches wendet sich

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eben der seinen Charakter bis zur Tugendhaftigkeit zivilisierende von Innstetten. Er hält das Kantische – allerdings vom preußischen Militärwesen durchtränkte – Pflichtverständnis eines autonomen Wesens aufrecht, das sich paradoxerweise selbst dazu bestimmt, das zu wollen, was es tun soll. Entsprechend hat er die gesamte Verantwortung für seine Welt zu tragen und tritt gegen seine Neigungen und Dünkel im Duell mit Crampas an (s. Kap. 14). Dieser verschreibt sich einem dritten Moralkonzept: dem Amor fati und der Amour fou einer dionysischen Bejahung des Lebens – hier wirkt nach Nietzsche die große Vernunft, nämlich der Instinkt, der Leib/Körper, durch ein unbedingtes Primat, während intelligible Moral und Gewissen als eine christliche Erfindung der inneren Selbstzerfleischung anzusehen sind (vgl. Nietzsche 1988, Bd. 5, 321). Die heteronome Moral dient gewissermaßen als Trojaner von Verwaltungsinstitutionen, um die Herrschaft über das Innenleben der Individuen zu gewinnen (s. Kap. 43, 46). Einige Figuren nehmen den Menschen in einem Hobbesschen Sinne als ehrsüchtige und habsüchtige Lebewesen an und interpretieren die ›Herrenmoral‹ Nietzsches auch in diese Richtung. Andere sehen die Menschen als von Natur aus gute Wesen, die durch die gesellschaftlichen, kapitalistischen Bedingungen zu Egoisten werden. In Effi Briest wird deutlich, dass nur die ›großen Menschen‹ wahrhaft zur Autonomie taugen (vgl. dazu den von Fontane sehr verehrten Carlyle in On Heroes (1906) und daran anknüpfend Emerson in Representative Men (1904) sowie Lukács (1967, 127) zum Thema ›Übermensch‹ in der Gewichtung von Bismarck in Effi Briest; vgl. Ryan 2000, 367). Die Auseinandersetzungen der Moralkonzepte und ihre Wirkungen auf das ideologische Selbstverständnis der Individuen werden in Fontanes Spätwerk auf den Punkt gebracht. Es existiert bei diesem Konflikt moralischer Anschauungen und Menschenbilder keine metaethische Instanz, die als absoluter Maßstab herangezogen werden könnte. In diesen horror vacui hinein setzt Nietzsche eine zweite Umwertung der Werte, die die christliche Umkehr von einer Herrenmoral (einzelne vornehme Charaktere) zur Sklavenmoral (Mittelmaß, christliche Moral, Demokratie, Anarchie, Kommunismus) erneut umkehrt. Der aus dieser Metanoia hervorgehende ›freie Geist‹ setzt sich selbst Werte und Ideale, um über sich hinaus gehen zu können (›Übermensch‹). Da Effi etwa gefangen ist in den negativen Wirkungen der Intrige Crampas’, kann sie keine Authentizität im Sinne Nietzsches kultivieren. Doch gerade anhand dieses negativen Aspekts de-

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IV Themen, Motive und Symbole

monstriert der Roman die Bedingung der Möglichkeit von Moralität überhaupt, nämlich dass kein vernünftiges Wesen eine solche Lügenkulisse wollen kann, da sie Schritt für Schritt in eine Selbstzerstörung führt – vielmehr sogar, dass die Lüge noch nicht einmal als Grundlage der zwischenmenschlichen Verbindlichkeit gedacht werden kann, da sie sich im Moment ihrer Äußerung selbst aufhebt. Es bleibt daher ganz besonders zu beachten, dass Innstettens Leumund die gesamte Affäre um seine untreue Gattin unbeschadet übersteht, auch wenn er selbst an der martialischen Pflichterfüllung zerbricht (vgl. 259). Recht (formelle Sanktionen) und Sitte (informelle Sanktionen) schränken das Leben des Individuums derart ein, dass dem privaten Willen eine intersubjektive Öffentlichkeit zur Seite gestellt wird, deren Aufgabe es ist, die Freiheit des Einzelnen zu schützen (vgl. Leslie Miller 1981, 383). Da die Exekutive allerdings selbst wieder – und wie sollte es anders sein (vgl. Kant 1900, Bd. 8, 23) – durch Menschen vertreten wird, kommen Phänomene wie Billigkeit und Beliebigkeit, Güte und Gnade sowie nicht weiter zu rechtfertigende Ausnahmen in diesem System vor (vgl. etwa die Begnadigung Innstettens). Es wäre sicherlich zu hoch gegriffen, Fontane über diesen Gesamtzusammenhang philosophischer Gedanken in die Nähe der ›freien Geister‹ zu rücken, doch zumindest zeigt sich, dass es in Effi Briest für die eigentliche Moralität unerheblich ist, unter welchen Bedingungen man lebt – der Augenblick enthält keine Gesetze (vgl. 150–151). So bestätigt der moralische Vortrag Effis (157) durch Verweise auf Gieshüblers Tugenden – dieser erinnert wiederum bis hin zur Liaison mit ›der‹ Trippelli an Schopenhauers Lebenswandel und Überzeugungen –, dass sie sich in der Theorie mit diesen Fragen der Ethik (Tugenden, Prinzipien oder Glück) auseinandergesetzt hat. Für die Verfolgung eines glücklichen Lebens müssen die individuellen Umstände – vor allem die Bildung – durchaus Berücksichtigung finden. Dass also andere Entscheidungen und Wege ganz einfach zum Glück aller Beteiligten geführt hätten (deshalb wohl auch Innstettens provozierende Frage nach der Verjährung von Schuld), spielt im preußischen Beamtenumfeld aber nicht die ausschlaggebende sittliche Rolle. Loster-Schneider (1986, 264–265 und 271) weist Fontane zwar mehrfach Argumente für moralische Prinzipien und gegen den reinen Utilitarismus nach, doch wird der Utilitarismus also hier und auch bei Solheim (2004, 27 und 40) gar nicht erst als Ethik, sondern als pragmatische Politik interpretiert. Dass diese Interpretation der

Auffassung Fontanes entgegenkommen könnte, dokumentiert möglicherweise seine Kritik an Mills liberalen Forderungen (vgl. Fontane 1996, Bd. 1, 481– 482). Es ist jedoch nicht von der Hand zu weisen, dass zumindest Mills spätere Ausführungen aus The Subjection of Women (Mill 1969, Bd. XXI) einen nachhaltigen Einfluss auf das Frauenbild in Effi Briest geübt haben (vgl. zum Frauenbild auch Plett 1995 und Tresnak 2011). Hier weicht Fontane dann doch von v. Hartmanns Phänomenologie (1924, 418) ab. Weder Effi noch Innstetten können die sozialen Missstände verdecken, die aus dem Gefälle des Standesdenkens in allen möglichen Herr-Knecht-Relationen (vgl. Hegel 2015, Bd. 2, 109) entstehen (vgl. dabei Krause/Hicks 1999 zu Fontane und Hegel im Allgemeinen): a) zwischen Herrschaft und Bediensteten, b) zwischen Mann und Frau und c) zwischen dem zivilisierten Menschen und dem (ganz) Anderen. Zu a) Weder die Langschläferin Effi (59–60) mit ihren unzumutbaren Extrawünschen (von Innstetten zugespitzt auf den Tee nach Mitternacht; 171) noch der Frühaufsteher Innstetten können die Schlussfolgerung vertuschen, dass die oft nicht eigens markierten Bediensteten im Hintergrund immer bereits wirken: Dem eifrigen Beamten wird beim Dienstbeginn der fertige Kaffee gereicht etc. (60). Zu b) Die Männer beurteilen Effis Wesen nach ihren eigenen Maßstäben: Innstetten und Vater Briest urteilen über Effis wechselhafte Phantasien, Stimmungen und Launen (327–328; vgl. außerdem zu Ehe und Familie als Institutionen: Hamann 2001, 8; vgl. aber auch Fontane zu Effis »Gewöhnung« in Nürnberger 2004, 123). Zu c) Die Unterdrückung der so sehr unterschätzten Tiere (vgl. etwa das ›weise‹ Kopfschütteln Rollos bei der Frage nach Effis Schuld; 350), der fremden Kulturen, peripheren Religionen – all diese Ungerechtigkeiten der Zeit spuken in der Fuge von Wirklichkeit und bloßer Vorstellung durch den Roman (vgl. 97) – diese ›weiten Felder‹ werden jedoch schließlich von Vater Briest dekonstruiert: »Soll ich hier bis an mein Lebensende den Großinquisitor spielen? Ich kann dir sagen, ich hab’ es seit lange satt...« (327–328) Er will, anders als seine Frau, Elternliebe vor Gesellschaftsmeinungen und Recht und Moral gelten lassen. Lukács spricht Fontane wegen solcher Figuren (bewusst »vereinfachend«) eine bis zum Nihilismus reichende (vgl. Lukács 1967, 132) »tiefe Skepsis« und »feine Empfänglichkeit für noch nicht deutlich hervortretende Entwicklungstendenzen von Typen« (ebd., 129) zu und überträgt dies auch auf Fontanes ständige »Selbstkritik«:

29 Philosophie »So entsteht bei Fontane ein weiter Spielraum der Schwankungen mit äußerst verschwommenen Grenzen zwischen den Extremen: Bejahung der kapitalistischen Entwicklung und Abscheu vor dem Bourgeoistum, Vorliebe für den Adel und (zuweilen) klare Einsicht in seine historische Überlebtheit. Es versteht sich, daß hier nur eine Konkretisierung, Ausbreitung und Vertiefung des bereits festgestellten Zwiespalts zwischen Öffentlichem und Privatem vorliegt« (ebd., 129).

Die zeitliche Ordnung im Rahmen der Öffentlichkeit, d. i. gesellschaftliche Ereignisse und Festakte, werden entsprechend so inszeniert, dass einmalige Vorkommnisse aus dem Rückblick des Erzählers oder durch Erlebensmomente von Betroffenen en passant referiert werden. Der zyklische Ablauf der Natur hingegen, die Jahreszeiten, die Ernte, die Landschaftsbilder und die (Luft-)Temperaturen geben einen klaren großen Rhythmus vor, dem sich alles andere zu beugen hat (s. Kap. 21). Das Große (Natur), das Mittlere (Gesellschaft) und das Kleine (persönliche Erlebnisse) bilden damit (Atmo-)Sphären, bei denen die je kleinere Einheit den größeren künstlich eingearbeitet ist und deren notwendigen Bedingungen (wieder: fraktal) untersteht. Da sind die Verlobung, Weihnachten, Silvester etc., bei denen, folgt man den geradezu naturalistisch anmutenden Beschreibungen (178–179), nach außen stets eine Fassade der Normalität gewahrt bleibt, die doch im unruhigen Erlebnishorizont Effis so keine Entsprechung finden. Unter Voraussetzung des Satzes vom Grunde bzw. eines protestantischen Verständnisses der Prädestinationslehre spiegelt der Erfolg die göttliche Gunst wider, und es bleibt – umgekehrt – als einziger Ausweg die Auf- und Übergabe der eigenen Verantwortung und Schuld an den großen Weltenlauf: »Was man empfängt, das hat man auch verdient« (174; Innstetten). Literatur Allen, Julie K.: Theodor Fontane: A Probable Pioneer in German Kierkegaard Reception. In: Jon Stewart (Hg.): Kierkegaard’s Influence on Literature, Criticism, and Art. London/New York 2016, 61–78. Annas, Julia: Personal Love and Kantian Ethics in ›Effi Briest‹. In: Philosophy and Literature 8 (1984), 15–31. Baron, Marcia: Was Effi Briest a Victim of Kantian Morality? In: Philosophy and Literature 12, H. 1 (1988), 95–113. Bayertz, Kurt/Myriam Gerhard/Walter Jaeschke (Hg.): Der Ignorabimus-Streit. Hamburg 2012. Begemann, Christian: ›Ein Spukhaus ist nie was Gewöhnliches ...‹ Das Gespenst und das soziale Imaginäre in Fontanes ›Effi Briest‹. In: Uwe Peter Hohendahl/Ulrike Vedder

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Werner Moskopp

30 Religion

30 Religion Fontanes Religiosität Während die Bedeutsamkeit der Religion für das Werk Fontanes nicht von der Hand zu weisen ist und in der Forschung – sowohl in der theologischen als auch in der germanistischen – in vielen Arbeiten hervorgehoben wird, verhält es sich in Bezug auf Fontanes persönliches Verhältnis zu Religion und Kirche anders. Wenngleich mit Grete Röder festgestellt werden kann, dass eine »biographische Deutung [...] dem Stellenwert der Religion in den Romanen nicht gerecht [wird]«, weil Autorenansicht und Erzählerrede »nicht automatisch gleichgesetzt werden« können (Röder 2017, 55), so ist die biographische Bedeutung der Religion von der poetologischen doch nicht völlig zu trennen. Hugo Aust weist in Bezug auf die Wichtigkeit der Religion für Fontane auf zahlreiche Spannungen hin: »schärfste Ablehnung wechselt mit respektvollem Interesse, zumal dort, wo Persönlichkeiten eine Begegnung vermitteln« (Aust 2000, 381). »Fontane, mit zehn Jahren fest entschlossen, Professor für Geschichte zu werden, entwickelte von Kindesbeinen an eine ausgeprägte Vorliebe für die Historie, nicht zuletzt die Kirchen- und Religionsgeschichte« (Faber 2012, 9) und nutzte gerade das evangelische Pfarrhaus als »Quelle für historische Recherchen und lokales Kolorit« (Hüffmeier 1998, 251). Gleichzeitig äußerte er gerade in seinen Briefen eine »Kritik von Kirche und Pastorenschaft, Protestantismus [...] und christlichem Glauben [...], die ihresgleichen sucht« (Hüffmeier 1998, 252) – und die auch Eingang in sein literarisches Werk fand. Ihren Ursprung hatte sie in der Unionspolitik König Friedrich Wilhelms III. und ihren Folgen (Aust 2000, 384). Der Sohn hugenottischer Eltern, der zeitlebens der französisch reformierten Kirche angehörte, hatte ein differenziertes Verhältnis zu Kirche und Religion, das sein Biograph Cord Beintmann kurz und bündig so zusammenfasst: »Inwieweit Fontane gläubig gewesen ist, läßt sich nicht klären, besonders religiös war er nicht« (Beintmann 1998, 13), während Helmuth Nürnberger 1968 in seiner Darstellung Fontanes auf dessen »oft unterschätzte Religiosität« (Nürnberger 1968, 13) hinweist (s. Kap. 6). Selbstverständlich lässt sich hier nachhaken und der Versuch, aus Äußerungen in autobiographischen Texten stichfeste Behauptungen über Fontanes Religiosität herauszukristallisieren, wurde bereits mehrfach angestellt. Am überzeugendsten analysiert Grete Röder die Entwicklung des Religionsverständnisses bei Fontane,

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weil sie – mit Rückgriff auf eine These Hans-Heinrich Reuters (Reuter 1968) – eine biographische Strukturierung vornimmt, die »manche Widersprüche in seinen Äußerungen auf[löst]« (Röder 2017, 21). Die Entstehung von Effi Briest fällt in die dritte Phase, die sich an »[r]eligiöse Erziehung und Sozialisation (bis in die fünfziger Jahre)« und »Religion als Sinnstiftung in persönlichen Lebenskrisen [...] (bis Anfang/Mitte der achtziger Jahre« anschließt (Röder 2017, 21). Diese Phase bezeichnet sie als jene, in der ein »Wandel in der persönlichen Lebenseinstellung [...] [v]om Heitersehen zum Pessimismus« (Röder 2017, 21) stattgefunden habe und in der sich Fontanes Distanz zur Kirche und ihren Lehren immer deutlicher zeigte: »Seine Urteile lassen erkennen, dass er das Erscheinungsbild der Kirche und ihrer Vertreter für antiquiert und mit modernem Denken für unvereinbart hält. Diese späten Äußerungen muss man auf dem Hintergrund einer ›umfassenden Veränderung aller Lebensbereiche‹ in der Phase der Hochindustrialisierung und der ›zunehmenden Säkularisierung des öffentlichen Lebens‹ sehen« (Röder 2017, 40). Was Stefan Neuhaus für Fontanes »eher positive Einstellung zu Geistlichen« konstatiert, nämlich dass »[d]er Glaube selber« dafür »nicht sehr wichtig« sei (Neuhaus 1998, 159), lässt sich auf den gesamten Themenkomplex übertragen. Oder anders gesagt: »Fontanes großes Interesse für kirchliche und religiöse Themen [...] kann [...] nicht als ein Bekenntnis zum Christentum ausgelegt werden« (Röder 2017, 55). Das Werk dient nicht der Vermittlung der persönlichen Überzeugungen des Autors, sondern vielmehr ganz vielfältiger Ansichten, die »so dargeboten werden, dass der Leser an ihnen seine eigenen prüfen kann und soll« (Mecklenburg 2018, 194). Dass Effi Briest nicht nur von religiösen Bezügen durchzogen ist, sondern dass der Aufbau des Romans selbst einem religiösen Muster folgt, erschließt sich vielen heutigen Leser*innen nicht mehr auf Anhieb. Im Folgenden wird exemplarisch auf einige wichtige Beispiele eingegangen, wobei nicht jegliches christliches Motiv erwähnt, nicht jegliche Bezugnahme auf die Bibel analysiert werden kann. Bezüge zu Kirche und Religion finden sich in Effi Briest in verschiedenster Form und mit verschiedensten Funktionen. Der Grad der Deutlichkeit ist unterschiedlich und reicht »vom massiven, wörtlichen Zitat über jene Andeutung, deren Säkularisationscharakter im einzelnen oft nur hypothetisch ist [...], bis hin zur Anspielung von so leiser und verborgener Art [...], daß schon die bloße Benennung ihrer Verweisfunktion das zarte Gewebe

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2019 S. Neuhaus (Hg.), Effi Briest-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04874-5_30

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der Bezüge überdehnt und den Sachverhalt verzeichnet« (Schöne 1958, 26). Ein Beispiel für religiöse Bezüge in Effi Briest sind etwa die christlichen Feiertage und Feste, die u. a. zur Gliederung des Textes dienen (s. Kap. 21). Darunter stechen das Weihnachtsfest sowie der Johannistag (24. Juni) hervor, »der im christlich geprägten Volksaberglauben als Tag der Wende, Glücks- oder Unglückstag galt« (Delf von Wolzogen/Hehle 2006, 11) und der im Roman zum Wendepunkt wird: An Johanni 1879 beobachtet Effi den »schwarz verhangene[n] Wagen« (125), der die verstorbene »Frau Registrator Rode« (ebd.) zum Dünenfriedhof überführt, und stellt noch am selben Tag deren Dienerin, die »kattolsch[e]« (130) Roswitha als Kindermädchen ein. Etliche Jahre später steht die Erwähnung des Johannistages wieder in Verbindung mit Roswitha: Kurz vor Effis Abreise zur Kur hilft Roswitha »der gnädigen Frau beim Packen und Aufschreiben der Wäsche« (264) und die Frauen führen ein Gespräch über die katholische Beichte (264–265). Die Taufe Annies findet am 15. August statt, der nicht nur »Napoleonstag« (136), sondern nach kirchlichem Kalender auch der Tag der Aufnahme Mariens in den Himmel ist. Es ist nicht unbedeutend, dass Effi gerade an diesem Tag erstmals einige Worte mit Crampas wechselt. Weshalb gerade marianische Feiertage in Effi Briest eine besondere Rolle spielen, wird sich noch zeigen. Man muss aber nicht derart im Detail suchen, um auf christliche Motive zu stoßen. Effi Briest kann als Kritik Fontanes an einer im Umbruch befindlichen Gesellschaft gelesen werden, die sich nach wie vor über christliche Werte legitimiert, sie aber zugleich permanent unterwandert (s. Kap. 26, 41). Als funktionierende Mitglieder der Gesellschaft sind die handelnden Hauptfiguren (s. Kap. 14) ihrer Rolle entsprechend jeweils einer christlichen Leitfigur verpflichtet (die Frau als Mutter Maria, der Mann Josef von Nazareth). Nur entsprechen die Leitbilder im 19. Jahrhundert nicht mehr der Wirklichkeit, genauso wie die Institution der Ehe spätestens durch die Einführung der Zivilehe in Preußen 1874 immer mehr ihren christlichen Hintergrund eingebüßt hat (s. Kap. 24). Doch obwohl der Staat diese Zuständigkeit übernimmt, bleibt ein »Verstoß [...] gegen die ›säkularisierte‹ Ehe im offiziellen Verständnis der Zeit noch immer ein Verstoß gegen eine gottgefügte Ordnung« (Schuster 1978, 66) und an die Stelle der überholt scheinenden christlichen Leitbilder treten keine neuen. Dass Effi an dieser Ambiguität zugrunde gegangen ist, scheint im Roman einzig ihre Mutter zu erkennen, wenngleich

sie den Schluss daraus zieht, dass strengere religiöse Erziehung und weniger »Zweideutigkeit« des Vaters, also eine stärkere Einhaltung der gesellschaftlichen Normen statt einer Öffnung oder Änderung, der Tochter gut getan hätten: »›Ob wir sie nicht anders in Zucht hätten nehmen müssen. Gerade wir. Denn Niemeyer ist doch eigentlich eine Null, weil er alles in Zweifel läßt. Und dann, Briest, so leid es mir thut ... Deine beständigen Zweideutigkeiten ...‹« (350).

Topographie und Religion Peter-Klaus Schuster hat den Roman in seiner Studie Effi Briest – Ein Leben nach christlichen Bildern ausgehend von der bzw. mit Rückgriff auf die bildende Kunst interpretiert (s. Kap. 32) und überträgt den Begriff »disguised symbolism«, der auf Erwin Panofsky zurückgeht, auf die Literaturwissenschaft. Er bezeichnet damit ein hermeneutisches Modell der Interpretation, das »z. B. die vielen Gebrauchsgegenstände, die die Darstellung einer Stube schmücken, in der die Verkündigung stattfindet, nicht aus reiner Freude an der Schilderung eines Interieurs« (Büttner/Gottdang 2006, 104) erklärt, sondern ihre Symbolhaftigkeit herausstellt. Das Bedeutende, so lässt es sich vereinfacht sagen, steckt also im Beiläufigen (s. Kap. 34, 36). Schuster folgend kann man das erste Kapitel des Romans als Verkündigungsszene und Vorausdeutung auf die Passion lesen. Damit ist der weitere Handlungsverlauf schon bestimmt, schreibt doch auch Fontane in einem Brief an Georg Friedlaender: »an den ersten drei Seiten hängt immer die ganze Geschichte« (Fontane 1954, 260). Geschildert wird zunächst die Topographie von Hohen-Cremmen (s. Kap. 27), die die Marienrolle Effis unterstreicht. Der Gartenbereich, in dem die erste Szene angesiedelt ist, erhält durch die unmittelbare Nachbarschaft zu Kirche und Kirchhof eine »religiöse Aura« (Schuster 1978, 3), die durch die Tätigkeit Effis unterstrichen wird: »Beide, Mutter und Tochter, waren fleißig bei der Arbeit, die der Herstellung eines aus Einzelquadraten zusammenzusetzenden Altarteppichs galt« (6). Beides, der geschlossene Garten und die Teppichstickerei, verweist auf traditionelle Marienvorstellungen und lässt eine Deutung dieser Szene als Verkündigungsszene zu: »Maria, so heißt es in den apokryphen Evangelien, sei für den Tempeldienst erzogen worden, ihre Hauptbeschäftigung [...] sei die Herstellung liturgischer Textilien für das Gotteshaus gewesen. Bei dieser Beschäf-

30 Religion tigung [...] sei Maria vom Engel der Verkündigung überrascht worden. [...] Auf zahlreichen altdeutschen Bildern [...] erfolgt die Verkündigung zuweilen in dem verschlossenen Garten, oder wenigstens in einem Zimmer, das unmittelbar an den ringsummauerten blumenvollen Garten stößt. Dieser Garten ist Symbol der Jungfräulichkeit und unbefleckten Empfängnis« (Schuster 1978, 3–4).

Der Dialog mit der Mutter, in dem diese Effi eröffnet, dass Innstetten um ihre Hand angehalten habe, findet schließlich auch im Garten statt. Die Reaktion Effis erinnert an jene Mariens, wie sie im Lukasevanglium geschildert wird: »Und der Engel kam zu ihr hinein und sprach: Sei gegrüßt, du Begnadete! Der Herr ist mit dir! Sie aber erschrak über die Rede und dachte: Welch ein Gruß ist das?« (Lk 1,28–29). Auch Effi erschrickt über die ›Verkündigung‹: »›Ich muß Dir nämlich sagen, meine süße Effi...‹ und sie nahm ihres Kindes beide Hände ... ›ich muß Dir nämlich sagen ...‹ ›Aber Mama, was hast Du nur? Mir wird ja ganz angst und bange‹« (17). Die Mutter überbringt anstelle des Engels Gabriel die Nachricht, doch auch auf ihn – und damit auf die Verkündigungsszene – wurde einige Seiten vorher angespielt, als Hulda den Garten betritt: »Sieht sie nicht aus, als erwarte sie jeden Augenblick den Engel Gabriel?« (8). Die Kleidung Effis in Weiß und Blau verweist ebenso auf die Keuschheit Mariens wie die ganz in weiß gestrichene Pforte der Kirchhofsmauer, durch die Effis Freundinnen, allesamt Pastoren- und Kantorstöchter, in den Garten kommen. Auch die Pflanzen lassen sich ganz im Sinne des ›disguised symbolism‹ lesen: der »kleinblättgrige [...] Epheu« (5) als »Sinnbild des neuen Lebens in Christus« (Schuster 1978, 5), der Wein (»von wildem Wein umrankte Fenster«, 6) und vor allem das »Feigenblatt«, das beim Versteckspiel erwähnt wird (16), im zweiten Kapitel verweisen ebenfalls auf die Bibel, insbesondere auf die Passion Christi – womit die Ambiguität der Rolle Effis angedeutet wird. Wurde sie eben noch als Marienfigur eingeführt, die im ›hortus conclusus‹, dem Garten ihres Elternhauses, »in völliger Unschuld zusammen mit ihren Gespielinnen ihre Mädchenzeit verlebt« (Schuster 1978, 7), folgt gleich der Hinweis auf ihren ›Sündenfall‹. Effis Name alludiert nicht nur Efeu, sondern ebenso Eva und es kommt wohl nicht von ungefähr, dass Innstetten seine Frau dann auch häufiger so nennt: »›Liebe Effi...‹ So fängt es nämlich immer an, und manchmal nennt er mich auch seine ›kleine Eva‹« (36).

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So ist Hohen-Cremmen zugleich der Hortus conclusus Marias und das Paradies, aus dem Eva vertrieben wird, so, wie die Figur Effi auf Maria und komplementär dazu auf Eva hin ausgerichtet ist. In Effi treffen sich die »verbindlichen Tugend-Lastervorbilder [...] der herrschenden Gesellschaft« (Schuster 1978, 80– 81), sie vereint das »diabolisch Sündhafte und die anbetungswürdige Reinheit, als die polaren Seiten im Wesen der Frau« (ebd., 83). Durch ihr junges Alter werden sowohl die Unschuld als auch das Verführerische unterstrichen. Das Abweichen von der ihr gesellschaftlich vorgeschriebenen Rolle als Ehefrau und Mutter (also von der Marienrolle) wird gesellschaftlich nicht akzeptiert, wie der Lauf der Handlung zeigt. Die Wandlung Effis von Maria zu Eva vollzieht sich weiter in der nächsten ›Station‹, in Kessin. »Eng und klein ist meine Hütte« (58), sagt Innstetten von seinem Haus und Effi stimmt ihm in einem Brief an Luise zu: »[...] unser landrätliches Haus, das [...] eigentlich gar kein richtiges Haus ist, sondern nur eine Wohnung für zwei Menschen, und auch das kaum« (116). In diesem Haus feiern Effi und Innstetten bald Weihnachten, »[a]uch eine Krippe war da mit hübschen Transparenten und Inschriften, deren eine sich, in leiser Andeutung, auf ein dem Innstetten’schen Hause für nächstes Jahr bevorstehendes Ereignis bezog« (112). Die frisch Vermählten erwarten also ein Kind und die Analogie von Kessin und Bethlehem drängt sich auf: »Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge« (Lk 2,7). Das bereits erwähnte erste Zusammentreffen von Effi und Roswitha am Johannistage (129–133), dem Geburtstag des Sohnes der Elisabeth, spielt auf die Begegnung Marias mit Elisabeth an. Es findet am Dünenkirchhof statt und Effi bittet Roswitha gleich, als Kindermädchen bei ihr zu bleiben. Roswitha freut sich – und erkennt, anders als die Landadeligen, die Effi von Beginn an auf ihre Eva-Natur festlegen (»einfach Atheistin, kein Zoll breit weniger« (75), urteilt etwa Sidonie von Grasenabb), die Marienrolle Effis: »O du lieber Gott, o Du heil’ge Jungfrau Maria« (132). Nach der Geburt des Kindes ist es Roswitha, die den Namen vorschlägt, den es dann auch trägt: Annie. Mit gleicher Vokaländerung wie »Effi« gegenüber dem biblischen Vorbild Eva verweist »Annie« auf die Großmutter (die Mutter Marias und somit die Großmutter Jesu heißt Anna) und gibt einen Hinweis auf Luise von Briest, um deren Hand Innstetten erfolglos angehalten hatte und die doch eigentlich »viel besser in diese Ehe gepaßt hätte« (Schuster 1978, 93). Die Taufe Annies findet am

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15. August statt, dem Tag von »Mariä Aufnahme in den Himmel«. Mit Mariä Tod endet auch Effis »[...] bisher so duldsam übernommene Marienrolle. Vom hinterpommerschen Landadel hierin ohnehin stets angezweifelt [...], wird Effi genau in jener Evarolle aus ihrem Jugendparadies nach Kessin zurückkehren, die ihr bereits ständig unterstellt wurde. Denn nicht anders kann diese Gesellschaft mit ihren überkommenen christlichen Denkkategorien eine leichtere Lebensart begreifen [...], als im Bild der sündigen Eva« (Schuster 1978, 93).

Dass sie während der Tauffeier auch erstmals einige Worte mit Crampas wechselt, ist in diesem Zusammenhang nicht unwichtig, beginnt doch damit ihr ›Sündenfall‹. Noch einmal wechselt Effi ihren Wohnort. »Da sollst Du’s in Berlin besser haben« (216), sichert Innstetten ihr zu und schildert das Interieur der künftigen Wohnung ganz im Sinne des ›disguised symbolism‹. Der Umzug nach Berlin soll nicht nur größere und luxuriösere Räumlichkeiten bringen, sondern Effi in ihre frühere Rolle zurückführen, von Eva wieder hin zu Maria: »hohe bunte Glasfenster, Kaiser Wilhelm mit Zepter und Krone oder auch was Kirchliches, heilige Elisabeth oder Jungfrau Maria. Sagen wir Jungfrau Maria, das sind wir Roswitha schuldig« (216). Schuster sieht in der Schilderung der Wohnung eine Rückwendung der Romanhandlung auf ihren Beginn in Hohen-Cremmen (vgl. Schuster 1978, 99), und tatsächlich ist es ein 25. März, der Tag der Verkündigung des Herrn, an dem Effis »Herz jubelte« (238) und sie beschließt, in Berlin zu bleiben: »Nun, mit Gott, ein neues Leben! Es soll anders werden« (239). Doch auf den Sündenfall folgt die Passion. Auf sie wird mehrfach hingewiesen, u. a. beiläufig von Rummschüttel, der beim Blick aus einem Fenster der Wohnung in der Königgrätzerstraße erwähnt: »Ich höre von einer Terrassierung des Kreuzbergs sprechen, Gott segne die Stadtverwaltung, und wenn dann erst die kahle Stelle da hinten mehr in Grün stehen wird« (307). Auch das schließlich nicht verwirklichte Vorhaben, zu den Passionsspielen nach Oberammergau zu reisen (245), kann als ein Hinweis gelesen werden. Der eigentliche Leidensweg Effis beginnt mit dem Sturz Annies im Treppenhaus (269–270) und der anschließenden Suche nach Verbandszeug in Effis Nähtisch, die »ein kleines Konvolut von Briefen [...], mit einem roten Seidenfaden umwickelt« (270), zu Tage fördert und damit ihr Geheimnis ans Licht bringt. Ein späteres

Wiedersehen mit Annie – geschildert im 33. Kapitel – hat Anklänge an die biblische Geschichte der Wiederfindung des zwölfjährigen Jesus im Tempel. Wie Jesus den Schriftgelehrten keineswegs mehr in Wissen und Verständnis unterlegen ist, so ist auch Annie eine gute Schülerin: »›Worin hast Du denn die beste Zensur?‹«, fragt die Mutter. Und Annie antwortet: »›In der Religion‹« (323). Auch ihr formelhaft geäußertes »O gewiß, wenn ich darf« (324), das Effi schnell durchschaut – »und ehe er das Kind schickt, richtet er’s ab wie einen Papagei und bringt ihm die Phrase bei ›wenn ich darf‹« (325) –, passt in diese Deutung. Schließlich gehört Annie zu Innstetten wie Jesus zu seinem Vater: »Und er sprach zu ihnen: Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist?« (Lk 2,49). Nachdem Annie Effi verlassen hat, greift Effi – das einzige Mal im Roman – zur Bibel. Sie sucht »[...] nach etwas, das ihr beistehe. Und sie fand auch ’was in der Not ihres Herzens. Da neben dem Fenster war ein Bücherbrett, ein paar Bände von Schiller und Körner darauf, und auf den Gedichtbüchern [...] lag eine Bibel und ein Gesangbuch. Sie griff danach, weil sie ’was haben mußte, vor dem sie knieen und beten konnte, und legte Bibel und Gesangbuch auf den Tischrand, gerade da, wo Annie gestanden hatte, und mit einem heftigen Ruck warf sie sich davor nieder und sprach halblaut vor sich hin: ›O Du Gott im Himmel, vergieb mir, was ich gethan [...]‹« (325).

Was als Gebet beginnt, endet in einer wütenden Anklage: »›Mich ekelt, was ich gethan; aber was mich noch mehr ekelt, das ist Eure Tugend. Weg mit Euch. Ich muß leben, aber ewig wird es ja wohl nicht dauern‹« (325–326). Effi bekennt sich zu ihrer Schuld, aber nicht zu der Härte der Strafe, die ihr die Gesellschaft erteilt: »[A]ber das ist zuviel. Denn das hier, mit dem Kind, das bist nicht Du, Gott, der mich strafen will, das ist er, bloß er!« (325) Das Kapitel endet mit der Rückkehr Roswithas und es heißt: »Effi [lag] am Boden, das Gesicht abgewandt, wie leblos« (326). Neben den drei Wohnorten Effis, die also symbolisch für die Vertreibung aus dem Paradies und die Passion stehen, gibt es weitere topographische Hinweise, die religiöse Bezüge aufweisen. Leitmotivisch eingesetzt wird etwa die Geschichte von der Gottesmauer, die Effi Crampas erzählt und die auf das gleichnamige Gedicht Clemens Brentanos verweist: »›eine alte Witwe, die sich vor dem Feinde mächtig fürchtete, betete zu Gott, er möge doch ›eine Mauer um sie bau-

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en‹, um sie vor dem Landesfeinde zu schützen‹« (177; s. Kap. 33). Als sie neben Crampas auf dem Schlitten sitzt, sind es eben diesen Worte, die Effi gebetsartig wiederholt, damit sie sie, gleich einer Gottesmauer, vor der Verführung bewahren: »wie das Mütterchen, so betete auch sie jetzt, daß Gott eine Mauer um sie her bauen möge. Zwei, drei Male kam es auch über ihre Lippen, aber mit einemmal fühlte sie, daß es tote Worte waren« (198). Crampas nahm ihre Hand und »überdeckte sie mit heißen Küssen« (190). Hier ist auf die Mauer bzw. den Turm als Keuschheitsmotiv hinzuweisen (vgl. Schuster 1978, 1). Religiöse Orte sind weiters der Dünenkirchhof, Gräber (allen voran das Effis am Romanende) sowie die immer wieder erwähnten Kirchtürme, die als geographische, nicht aber als geistige Orientierungspunkte zu dienen scheinen, da die Kirchen nur von außen wahrgenommen werden: »›Sonntags, beim Abendgottesdienst, wenn die Fenster erleuchtet sind, sehe ich ja immer hinüber; aber es hilft mir auch nichts, mir wird dann immer noch schwerer ums Herz.‹ ›Ja, gnädige Frau, dann sollten Sie ’mal hineingehen. Einmal waren Sie ja schon drüben‹« (314).

Religiöse Bezüge in der Figurencharakterisierung Am konkretesten manifestieren sich Kirche und Religion in Effi Briest wie überhaupt im Werk Theodor Fontanes in den Pastoren- und Pfarrersfiguren, denen in der Forschung schon etliche Untersuchungen gewidmet wurden (u. a. Drehsen 1997 und Zuberbühler 2006, wobei Letzterer sich ausführlich mit Pastor Lorenzen aus dem Stechlin beschäftigt). Hüffmeier sieht das Interesse Fontanes an Kirche und Theologie überhaupt »in ihren markanten Einzelpersönlichkeiten« sowie im »evangelischen Pfarrhaus als Quelle für historische Recherchen und lokales Kolorit« (Hüffmeier 1998, 251) begründet. Es verwundert demnach nicht, dass sie im »Figurenensemble des Erzählwerks« eine »exponierte Rolle« spielen (Delf von Wolzogen/Hehle 2006, 9), gehören sie doch schließlich »[i]nstitutionell gesehen [...] zum Leben schlechthin; Taufe, Konfirmation, Hochzeit, Tod geben ihnen das Stichwort zum Auftritt; aber auch sonst sind sie da, wo immer Gespräch not tut« (Aust 2000, 386). In Effi Briest sind verschiedene Exponenten des Berufsstands vertreten, die – mit Ausnahme Niemeyers – häufig »wie kleine Päpste behandelt wurden, oder sich auch wohl selbst als solche ansahen« (118) und teilweise Effis Geduld stra-

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pazieren: ein Rationalist, Niemeyer, Land- und Kleinstadtpfarrer, Lindequist und Trippel sowie ein konvertierter Jude, Paulus Cassel (vgl. Delf von Wolzogen/ Hehle 2006, 9). Mit Rudolf Kögel (1829–1896) findet auch eine historische Figur Eingang in den Roman. Mit ihm, dem Hof- und Domprediger in Berlin und Seelsorger Kaiser Wilhelm I., wird Niemeyer von einem Gast nach der Hochzeit Effis mit Innstetten verglichen: »›Wenn ich bedenke, dieser Niemeyer, ein alter Dorfpastor, der anfangs aussah wie ein Hospitalit ... ja, Freund, sagen Sie selbst, hat er nicht gesprochen wie ein Hofprediger. Dieser Takt und diese Kunst der Antithese, ganz wie Kögel und an Gefühl ihm noch über‹« (40). Überhaupt nimmt Niemeyer unter den Geistlichen in Effi Briest wie auch im Gesamtwerk Fontanes eine Sonderrolle ein. Stefan Neuhaus sieht ihn in der Reihe der »erfreulicheren Erscheinungen, die sich nach Kräften ihrer Mitmenschen an- und ihre seelsorgerischen Pflichten ernstnehmen. Als Einziger ist Niemeyer verheiratet – nicht sehr glücklich« (Neuhaus 1998, 157). Er wird als »immer zurückhaltend und anspruchslos« (118) geschildert und trotzdem hieß es bei jeder größeren Feierlichkeit, »er habe das Zeug, an den ›Dom‹ berufen zu werden« (ebd.). Als Pastor in Hohen-Cremmen steht er mit seinem Patronatsherrn Briest auf freundschaftlichem Fuß (28), hat Effi getauft und konfirmiert und vollzieht auch ihre Trauung mit Innstetten. Dass er dem Leben einiges und orthodoxen Lehren im Sinne von Traditionalismus weniger abgewinnen kann als viele seiner Kollegen, zeigt etwa seine Bemerkung über Frauen, die Effi Innstetten gegenüber referiert: »›Wir müssen verführerisch sein, sonst sind wir gar nichts...‹« (144). Auf Innstettens Frage hin, ob Effi das aus sich habe, antwortet sie: »›Ich könnt’ es wohl auch aus mir haben. Aber ich hab’ es von Niemeyer...‹« (ebd.). Unorthodox sind wohl auch die feste Zusicherung Niemeyers, dass Effi in den Himmel kommen werde (333), und die Betonung des Gefühls: »›Und das hat mir der alte Niemeyer in seinen guten Tagen noch, als ich noch ein halbes Kind war, ’mal gesagt: auf ein richtiges Gefühl, darauf käme es an, und wenn man das habe, dann könne einem das schlimmste nicht passieren [...]‹« (258–259). Nur in Anbetracht des Altersunterschieds verwunderlich scheint die Aussage Effis, die ihren frühen Tod vorauszuahnen scheint: »›Nein, nein, ich mag hier nicht sterben, ich will hier nicht begraben sein, ich will nach Hohen-Cremmen. Und Lindequist, so gut er ist – aber Niemeyer ist mir lieber; er hat mich getauft und eingesegnet und getraut, und Niemeyer soll mich auch begraben‹« (128).

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Auf die biblischen Bezüge in der Figur Effi wurde bereits ausführlich hingewiesen. Komplementär dazu nimmt Geert von Innstetten die Rolle Gottes oder jedenfalls die seines irdischen Stellvertreters ein. Effi spricht ihn öfters als ihren »hohen Herrn« (91) an und beschreibt ihn als »so lieb und gut gegen mich und so nachsichtig, aber ... ich fürchte mich vor ihm« (38). Die zahlreichen Besuche »irgend eine[r] Kirche ›Santa Maria‹ mit einem Zunamen« (46) auf der Hochzeitsreise nach Italien verweisen zurück auf die Verkündigungsszene. Ein weiteres, wichtiges Symbol, das im Zuge der Hochzeitsreise erwähnt wird, sind die Tauben: »Ich freue mich sehr auf Venedig. [...] Geert hat mir schon von den Tauben auf dem Markusplatze vorgeschwärmt, und daß man sich da Tüten mit Erbsen kauft und dann die schönen Tiere damit füttert. Es soll Bilder geben, die das darstellen, schöne blonde Mädchen, ›ein Typus wie Hulda‹, sagte er« (46).

Die Tauben sind nicht nur ein Symbol für den Heiligen Geist, sondern stehen auch für die eheliche Keuschheit:

tik am Protestantismus bzw. eine Würdigung des Katholizismus (zu Fontanes Verhältnis zum Katholizismus vgl. Beutel 2003, 58–93). Figuren aus der katholischen Bevölkerung, »seit 1870 eine Minderheit im neuen Reich [...], in die Welt der Fiktion zu überführen hieß für Fontane, ein Motiv zu wählen, das ›zur Aufklärung dient, zur Entlarvung von Vorurteil und Intoleranz‹ (Sagarra)« (Aust 2000, 387). Auf den Anspielungsreichtum in der Namensgebung von Crampas sei abschließend nur kurz hingewiesen (s. Kap. 27). So hieß zum einen ein inzwischen Sassnitz eingemeindeter kleiner Ort an der Ostküste von Rügen Crampas (wohin Effi und Innstetten übrigens stattdessen reisen, als die Fahrt nach Oberammergau nicht zustande kommt). Zum anderen ist der Krampus vor allem im Alpenraum als böser Widersacher, als Teufelsfigur in der Begleitung des Nikolaus bekannt. Während der Teufel in der christlichen Glaubensvorstellung mit einem Pferdefuß auftritt, ist Crampas’ linker Arm bei einem Duell zerschmettert worden (122).

Die Bibel als Bezugssystem »Die Turteltaube lehret durch ihr eigenes Exempel / wie man das Ehebett / oder eheliche Liebe und Treu zu keiner Zeit verunreinigen oder beflecken und brechen / sondern allein mit der jenigen / so man Anfangs gleich zu seiner Ehegemahlin außersehen und erwaehlet hat / reden und umbgehen solle« (Ripa 1669, 152).

Ein Symbol der ehelichen Treue ist der Hund Rollo (Büttner/Gottdang 2006, 104), der weiters aber auch als »Unglücks- und Todeszeichen« (Lurker 1983, 308) gedeutet wird, was sich insofern nicht ausschließt, da der Ehebruch in Effi Briest direkt (Crampas) wie indirekt (Effi) zum Tod führt (s. Kap. 25). Dass eine der wenigen Personen, die sich nach Effis gesellschaftlicher Ausgrenzung nicht von ihr abwenden, die katholische Bedienstete Roswitha ist, ist kein Zufall. »Der Katholizismus und die Katholiken kommen vielfach als Exponenten einer Gegenwelt zum lutherischen Staatskirchentum vor, als Angehörige der Unterschicht« (Delf von Wolzogen/Hehle 2006, 8). Roswitha ist die Einzige (oder eine der Wenigen), die sich nicht aufgrund der Konvention von Effi abwendet, sie stellt die christliche Nächstenliebe über die gesellschaftliche Konformität, wofür sie von Wüllersdorf in einer beiläufigen Bemerkung auch geadelt wird: »›Ja,‹ [...], ›die ist uns über‹« (339). Über die Figurencharakterisierung Roswithas erfolgt indirekt eine Kri-

»Als ein Werk der Weltliteratur, das wie kein anderes die Dichtung aller ihr folgenden Epochen beeinflusste, prägte und inspirierte, ist die Bibel das am meisten literarisch ausgeschöpfte Buch« (Gellner 2004, 9). Wenngleich biblische Bezüge, wie oben dargelegt, in Effi Briest äußerst präsent sind und den Roman prägen, sind direkte Bibelzitate nicht allzu häufig. Die Form ihrer Übernahme in den Roman variiert. Neben wenigen direkten Zitaten sind Zitatvarianten, Paraphrasen oder Parodierungen zu finden; bereits genannt wurden Transfigurationen und freie dichterische Gestaltungen (zu den Rezeptionsformen der Bibel in der Literatur vgl. Stauffacher 1977 und Lermen 1999). Die Bibelzitate dienen in Effi Briest hauptsächlich der Typisierung von Figuren. So wird z. B. Hulda häufig in einem biblischen Kontext genannt. Sie zitiert aus den Sprüchen Salomonis (Spr 16,18): »Man soll sein Schicksal nicht versuchen; Hochmut kommt vor dem Fall« (9), und weist Effi, die sagt, sie würde sich als junger Leutnant in ihre Mama verlieben, entsetzt darauf hin: »Das ist ja gegen das vierte Gebot« (11). Hulda ist es auch, die aussieht, »als erwarte sie jeden Augenblick den Engel Gabriel« (8), womit auf die Verkündung Mariens (Lk 1,26–38) hingewiesen wird, und die Innstetten später mit den Tauben am Markusplatz in Verbindung bringt (46).

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Auch die Pastoren werden mit Rückgriff auf biblische Zitate charakterisiert. Auf das 1. Buch Mose bezieht sich der Vergleich Niemeyers mit Lot (31). Sidonie von Grasenabb bemerkt abschätzig über Pastor Lindequist, »er ist ein Halber, einer von denen, die verworfen sind, weil sie lau sind« (136); dies bezieht sich auf die Offenbarung des Johannes (Offb 3,16), wo es heißt: »Weil du aber lau bist und weder warm noch kalt, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde.« Wenig verwunderlich, dass die sich streng gläubig gebende adelige Dame »das Bibelwort hier nicht wörtlich zitieren [mag]« (136). Überhaupt ist häufig sie es, die auf die Bibel anspielt: »Eingreifen, lieber Pastor, Zucht. Das Fleisch ist schwach, gewiß; aber...« (179; Mk 14,38 und Mt 26,41). Und auch außerhalb der Figurenrede wird in Zusammenhang mit Sidonie von Grasenabb parodierend aus der Bibel zitiert: »Sidonie, jedesmal bereit, irgend ’was Schreckliches zu prophezeien, wenn sie, vom Geist überkommen, die Schalen ihres Zornes ausschüttete [...]« (180; Offb 16,1 sowie Lk 1,35 u. a., vgl. dazu auch Komm., 473). Passend zur Vertreibung Evas aus dem Paradies, bzw. dem »Sündenfall« Effis, ist auch der von Crampas angestellte Vergleich des Spuks mit einem »Cherub mit dem Schwert« (156) – nach 1 Mose 3,24 also mit einem Engel, der das Paradies nach der Austreibung von Adam und Eva bewacht. Religion dient Fontane als Material, das er »nach seinen Formprinzipien bearbeitet und gestaltet« (Nüchtern 1998, 529), so wie andere Stoffe auch. Das mag die Bedeutung der Religion in Effi Briest einerseits relativieren (vgl. ebd.), andererseits prägen Kirche und Religion den Roman auf so deutliche Weise, dass man ihnen doch ein besonderes Gewicht beimessen muss. Es wurde aufzuzeigen versucht, wie die Religion für den Roman eine kompositionelle bzw. strukturierende Funktion erfüllt, und ebenso, wie sie zur Charakterisierung von Figuren und als Motiv eingesetzt wird. In Bezug auf die religiösen Anschauungen der einzelnen Figuren, die im Roman zum Teil ausführlich wiedergegeben werden, kann festgestellt werden, dass das Spektrum an vorgestellten Ansichten und religiösen Anschauungen äußerst breit und konfessionell nicht eingeschränkt ist. Literatur Aust, Hugo: Fontane und die Religion (und Kirche). In: FHb, 381–394. Bachl, Gottfried: Die Bibel als Literaturerlebnis. In: Heinrich Schmidinger (Hg.): Die Bibel in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts, Bd. 1: Formen und Motive. Mainz 1999, 15–38.

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IV Themen, Motive und Symbole

Studien zur Dichtung deutscher Pfarrersöhne. Göttingen 1958. Schuster, Peter-Klaus: Theodor Fontane: Effi Briest – Ein Leben nach christlichen Bildern. Tübingen 1978. Stauffacher, Werner: Die Bibel als poetisches Bezugssystem. Zu Alfred Döblins ›Berlin Alexanderplatz‹. In: Sprachkunst 8 (1977). Zuberbühler, Rolf: Pastor Lorenzen und der christliche

Sozialismus. In: Hanna Delf von Wolzogen/Hubertus Fischer (Hg.): Religion als Relikt? Christliche Traditionen im Werk Fontanes. Internationales Symposium veranstaltet vom Theodor-Fontane-Archiv und der Theodor Fontane Gesellschaft e. V. zum 70-jährigen Bestehen des Theodor-Fontane-Archivs. Würzburg 2006, 135–156.

Irene Zanol

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Zur narrativen Bedeutung der pädagogischen »Kind«-Metapher

Vorbemerkung Skepsis gegenüber (formalen) Bildungsprozessen angesichts des Lebens ist typisch für viele Romane Fontanes: »Arme Bildung, wie weit bleibst du dahinter zurück« – gemeint ist das Leben (Fontane 1997, 167). Diese Skepsis ist verständlich bei einem Autor, dessen »Schuljahre« (Nürnberger 1997, 53–59) weder regelmäßig noch ergiebig waren. Welche Struktur und Funktion hat nun aber die Thematisierung von Bildungsprozessen im Roman Effi Briest, in dem die Amme Roswitha sagt: »Das Fräulein sei eine dumme Gans; das käme davon, wenn man zuviel gelernt habe« (269)? Die Thematisierung der Bildung, als Praxis sowie als regulative Idee pädagogischer Prozesse, ist nicht als nur mögliche, perspektivische Lesart zu verstehen. Vielmehr werden Bildungsfragen vom Text als konstitutives Moment ausgewiesen: Der handlungstragende Konflikt entsteht (1) aus der Frage nach der Reife Effis angesichts der sich mit Ehe (s. Kap. 24) und Familie (s. Kap. 23) stellenden Aufgaben, (2) aus dem Zusammentreffen der (regulativen) Idee der Pädagogik und der Idee der Ehe/Liebe. Innerhalb des pädagogischen Verhältnisses von Innstetten und Effi (3) konfligieren zwei sich einander ausschließende Erwartungen an Ziel und Methode von Bildungsprozessen. Die Bildungsbiographie Effis – der individuelle Aspekt der Bildung – verweist (4) auf ein problemhaltiges ElternKind-Verhältnis und seine Folgen. Der gesellschaftliche Aspekt der Bildung wird (5) vom Romanpersonal oder Erzähler als Frage nach dem Zusammenhang von Bildung und Leben gestellt (s. Kap. 13, 14, 36). Eine genaue Analyse dieser bildungstheoretisch relevanten Konfliktlagen im Hinblick auf ihre Funktion im Roman ist in der Forschung bisher ein Desiderat. Dabei wäre zu bedenken, dass in Fontanes Realismuskonzept Literatur die erfahrbare Welt nicht abbilden, sondern die »wahren Kräfte« (Fontane 1963, 13) der Wirklichkeit herausarbeiten soll, wobei es »des Wirklichen, zu allem künstlerischen Schaffen« (ebd., 12) als Material bedarf. So entstünden Fiktionen, die lebensweltlichen Erfahrungen gleichen, aber so, dass sie im Unterschied zur bloß erlebten Wirklichkeit (= Erfahrung) als »Interessenvertretung« (Fontane 1963, 13; vgl. Rothenberg 1977) bedeutsame Wirklichkeit (= Wahrheit) präsentieren. In Effi Briest wird dieses ästhetische Programm von Innstetten angesprochen: »Es ist merkwürdig, was alles zum Zeichen wird und Geschichten ausplaudert, als wäre jeder mit dabei gewesen« (288).

Zu (1): Auslöser und Klammer der Romanhandlung ist der zu Fontanes Zeiten rechtlich mögliche (Große-Boymann 1994), aber schon damals pädagogisch problematisierte Usus, Mädchen im Alter von 17 Jahren zu verheiraten: Aus dieser »Verfrühung« (pädagogische Diskussion in Bone 1918, 118–120) entsteht der handlungstragende Konflikt, wie die Rahmung der Romanhandlung (Neuhaus 2017, 194) zeigt: In der Exposition heißt es über die bei der Mutter noch ganz infantil spielende Effi: »Man nannte sie die ›Kleine‹« (7). Am Romanende äußert Effis Mutter: »[...] und zuletzt, womit ich mich selbst anklage [...], ob sie nicht doch vielleicht zu jung war?« (350) Auf der für Fontanes Erzählen stets bedeutsamen Symbolebene wird diese Problemexposition gespiegelt, wenn der Erzähler Effi in Eingangsszene und Endsituation ein »blau und weiß gestreiftes, halb kittelartiges Leinwandkleid« (6, vgl. 330) tragen lässt: »[...] wieder, wie damals an ihrem Verlobungstage mit Innstetten« (330). Effi war zu jung: »›Und Du bist noch so jung, liebe Effi.‹ [...] ›Freilich bin ich noch jung. Aber das schadet nichts‹« (346–347) – eine Feststellung, aus der ihre Unreife spricht. An über 100 Textstellen wird diese Verfrühung und daher emotionale und kognitive Überforderung Effis angesichts der zeitüblichen Handlungsherausforderungen thematisiert – oft auch unter der Chiffre »Kind«: Noch als Braut ist Effi von »kindlicher Heiterkeit« (20). Bei der Einrichtung der ehelichen Wohnung benennt ihre Mutter explizit den handlungstragenden Grundkonflikt: »Du bist ein Kind. [...] Die Wirklichkeit ist anders« (33). Effi übernimmt diese Fremdeinschätzung: »Aber ich ... Ich bin ein Kind und werd’ es auch wohl bleiben« (82). Innstetten erwähnt die pathologische Dimension des Problems; er habe Effi daran erinnert, dass sie »noch halb in die Kinderstube gehöre. Diese Vorstellung verläßt mich nicht (Geert meint, es sei krankhaft)« (115). Diese bis zum Tod (s. Kap. 25) nicht behobene emotionale (s. Kap. 35, 45) und kognitive Unreife gegenüber dem Leben führt zum Romankonflikt. Sie perpetuiert sich in der Tochter Effis (und ihrem als Zeichen zu verstehenden Namen) exemplarisch als »Erziehung des Weibes« (Hanraths 1997, 128–135). Man »nannte das Kind ohne Weiteres ›Lütt-Annie‹, was der jungen Mutter als ein Zeichen galt. [...] und so wurde schon von Klein-Annie gesprochen, lange bevor der Tauftag da war« (135–136). Nichts wird sich ändern.

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2019 S. Neuhaus (Hg.), Effi Briest-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04874-5_31

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IV Themen, Motive und Symbole

Der tragische Konflikt zwischen Liebesehe und »pädagogischem Bezug« Zu (2): Es wäre zu erwarten, dass die Ehe von Innstetten und Effi unter dem Anspruch von Liebe (»Huldigungen, Anregungen, kleine Aufmerksamkeiten«; 119) oder zumindest »Schätzung« (253) stehen sollte. Es zeigt sich aber für alle Beteiligten, dass das Verhältnis stattdessen (»ein Liebhaber war er nicht«; 119) in seiner Grundstruktur durch etwas reguliert wird, was bildungstheoretisch als »pädagogischer Bezug« (Begriffsgeschichte bei Giesecke 1999) zu erfassen ist: Innstetten »operiert nämlich immer erzieherisch, ist der geborene Pädagog« (156). Und Effi fragt selbst: »Und will er mich auch erziehen?« (156; vgl. 173, 215). Der Text weist als Problem aus, dass hier das pädagogische Verhältnis die für eine Ehe konstitutive emotionale Idee überlagert, wenn der Erzähler Innstetten in signifikanter Zeichensetzung Effis Worte zitieren lässt, dass er »mehr ein ›Erzieher‹ als ein Ehemann sei« (240–241). Die Verschiedenheit der regulativen Ideen von Ehe und Bildung wird theoretisch konstatiert, die Inkompatibilität der Diskurse aber entfaltet sich als Romanhandlung. Sie demonstriert die Zerstörung der ehelichen Beziehung durch den pädagogischen Bezug. Die Verkennung der Inkompatibilität zweier an sich unverzichtbarerer Ideen (Ehe/Liebe und Bildung) begründet die Interpretation, dass im Roman ein (im antiken Sinne) tragischer Konflikt vorliegt.

Bildungstheoretisch begründete Erwartungen der Hauptfiguren Zu (3): Ist bereits der pädagogische Diskurs an sich ungeeignet, Ehe- und überhaupt Lebensverhältnisse zu regulieren, so verstärken die unterschiedlichen Konzepte, die Innstetten und Effi von Bildungsprozessen haben, diesen tragischen Konflikt. Wenn Effi über Innstetten sagt: »ein Schulmeister war er immer« (325), und Crampas ihn zwischen den Aufklärungspädagogen Johann Bernhard Basedow (1724–1790) und den im Leben gescheiterten Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827) positioniert (156), ist hinreichend angedeutet, dass Innstetten ein den Menschen verzweckendes, funktionalistisches, also vorhumanistisches Bildungskonzept repräsentiert. Bildung ist für ihn nicht Aufforderung zur Selbsttätigkeit, sondern Belehrung. Er hält gerne »einen seiner kleinen moralischen Vorträge« (151; vgl. 278); setzt taktlose

»Erziehungsmittel« (157) in einem »Angstapparat aus Kalkül« (157) ein. An Innstettens parapädagogischen Absichten und Handlungen ließe sich erarbeiten, was die historische Bildungsforschung als normative und affirmative »Aufklärungspädagogik der deutschen Philanthropen« (Böhm 2004, 65–67) versteht: Die Absicht, den zu Erziehenden, »natürlich unter meiner Führung« (66), zu einem vorab festgelegten und aus den Normen der Gesellschaft abgeleiteten Verhalten zu manipulieren: »Eingreifen [...] Zucht« (179), »um dich in Ordnung zu halten« (157; vgl. 95) – wie Effi es von Crampas übernimmt. Freilich sieht Innstetten am Ende den grundlegenden Fehler seiner normativen Erziehungsabsicht ein: »Dazu muß man selber intakt sein« (340) – aber welcher Mensch ist das schon? Effi ist anfangs durchaus bereit, die parapädagogisch begründete Führungsfunktion ihres Gatten, des »große[n] Erzieher[s]« (202), zu akzeptieren: »Wie gut Du bist, Geert [...]. Denn ich muß Dir ja kindisch oder doch wenigstens sehr kindlich vorgekommen sein« (95). Sie teilt auch den affirmativen Anspruch Innstettens: »Man muß doch immer dahin passen, wohin man nun ’mal gestellt ist« (82). Ihr durchweg infantiles Bildungsinteresse zielt dabei auf Zerstreuung: »Ich bin so leicht Eindrücken hingegeben« (108) und Flüchtigkeit, ist lediglich »Neugier« (153), während »gebildet[e]« Damen es »längst verlernt [hatten], neugierig zu sein« (308). Sie will zwar manches wissen, aber nicht zu genau, nicht zu gründlich, nicht zu breit. Kennzeichnend für ihre frühe weibliche »Bildungsbiographie« (Krüger/Marotzki 2006; Pott 1995, 174– 176) ist die Abgabe von Verantwortung für die eigene Bildung: »Von wem hab’ ich es? Doch nur von Dir. Oder meinst Du von Papa?« (7) Später wird es von Annie heißen, die als Tochter auch etwas von Effis Art geerbt zu haben scheint: »das Sonderbare, das hat sie von der Mama; aber das Ernste, das ist ganz der Papa« (317) – dabei sind die Formulierungen Anspielung auf eine längst sprichwörtliche (allerdings die Originalität des Einzelnen verteidigende) Zahme Xenie von Goethe: »Vom Vater hab’ ich die Statur...« (Goethe 1974, 329). Bildung wird nicht nur bei Effi als Anlage und Begabung verstanden: »wo’s drin steckt, da geht es auch«, sagt das Dienstmädchen Afra (295). Effi reduziert sich zum Werk äußerer Bildungsmächte: »so wenigstens bin ich von meinem Vater und auch von meiner Mutter her erzogen« (73): Zwar gibt es ein Selbstbekenntnis: »Aber nein, nein, ich war kein Kind, ich war alt genug, um zu wissen, was ich that« (325), aber es wirkt oberflächlich angesichts des Romanschlusses, an dem sie sich erneut in die Abhängigkeit fügt (344–348).

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Obwohl der Erzähler Effi »natürliche Klugheit« (7) attestiert und viele Interpreten Lukács folgten, der in ihr ein »menschliche[s] Kräftereservoir« (Lukács 1967, 156), also die Idee des richtigen Lebens symbolisiert sah, sind Belege für diese Einschätzung im »process by which Effi’s character is formed – her Bildung« (Walker 2011, 129) spärlich. Im Gegenteil (Pott 1995, 174–175): Die Prognose, die »kluge [...] Effi« stünde »mit zwanzig Jahren da, wo andere mit vierzig stehen« (18) und werde ihre Mutter »weit überholen« (18), erweist sich als grundfalsch, denn: »Sie läßt sich gern treiben« (255). So zeigt sich bei ihr statt Selbsttätigkeit ein flüchtiges Interesse daran, »sorglos in einer weichen Stimmung hinträumen zu können« (255), an Oberflächlichkeiten und Halbheiten. Nicht nichts, aber auch nicht zu viel: »Midshipman« (15) – wie sie es als Metapher für sich selbst formuliert. Sie saugt Bildungsbemühungen »halb begierig« (53) ein, ist »wegen der Rechtschreibung in Zweifel« (45), und Fremdworte sind für sie kein »Bildungselement« (Khalil 1978, 384–399), so dass sie den Unterschied zwischen Konsul und Liktor »nicht ganz« (65) kennt. Sie ist »zu jung, um eine große Menschenkennerin zu sein« (155), aber sie weiß: »Andalusierinnen sind immer schön« (73). »[...] wenn Deine Geographie so weit reicht« (95), ironisiert Innstetten diesen Zustand der Halbbildung. Die (klassische) italienische Bildungsreise (45–47) empfindet sie vorrangig als »anstrengend« (45), und die Eltern vermuten nicht zu Unrecht, dass Innstetten Effi »mit seinem Kunstenthusiasmus etwas quälen wird« (41). Effi erinnert nicht die Namen von Figuren aus Opern, die sie nacherzählen will (153), fragt bei literarischen Texten zuerst, ob sie »lang« sind (160), verwechselt literarische Figuren (228), bestellt Bücher, über deren Auswahl sich ihr Kindermädchen »geniert« (233), und bekennt: »ich habe nicht viel gelesen« (346; vgl. 53); »ich kenne überhaupt nur wenig« (160). Sie benutzt »Redensarten« (Mittenzwei 1970, 143; zur affirmativen Sprache: ebd., 133–145), scheitert kognitiv »trotz aller Mühe« (229) an einfachen sprachlichen Doppeldeutigkeiten und kommt beim Zeichnen nicht »über eine unterste Stufe des Dilettantismus« (315) hinaus. Selbst die Bediensteten wundern sich »im stillen, daß die gnädige Frau an all dem dummen Zeuge so viel Gefallen« (135) findet. Im gesellschaftlichen Leben fühlt sie sich, »als stünd’ ich schlecht vorbereitet in einem Examen« (115). Und sie resümiert: »Es ist komisch, aber ich kann eigentlich von vielem in meinem Leben sagen ›beinah‹« (331). Statt Bildung hat Effi »Einbildungen« (134; vgl. 184, 140) und sich jagende »Gedanken

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und Bilder« (189), statt Einstellungen hat sie »Vorstellungen« (177); »ihr fehlte die Nachhaltigkeit« (199). Im tiefsten aber ist Kennzeichen ihrer Halbbildung, keinerlei Selbstständigkeit entwickelt zu haben. Und so symbolisiert ihr letzter Wunsch, dass sie sich nicht genügend entwickelt hat, sondern dorthin zurückkehrt, von wo aus alles ausging: »Ich möchte auf meinem Stein meinen alten Namen wieder haben« (349). Hier zeigen sich die Strukturen einer patriarchalischen Gesellschaft, die Frauen zur Passivität und zu einer ornamentalen (Halb-)Bildung verurteilt (s. Kap. 24, 25, 26, 43). Am Ende scheitern beide; Innstetten – weil er Effi zwar verändern, aber nicht bilden möchte; Effi – weil sie sich vielleicht bilden, nicht aber verändern möchte. Normative Idealvorstellungen einerseits und subjektivistisches Identitätsbeharren andererseits konfligieren unversöhnlich (und daher tragisch; s. Kap. 46). Idealvorstellung und Identitätsbeharren erweisen sich in der pädagogischen Beziehung Innstetten – Effi als inkompatibel und sind daher als pädagogische Leitbegriffe nicht geeignet.

Das pädagogische Eltern-Kind-Verhältnis Zu (4): In der Diskussion um die (Mit-)Schuld (350) am Scheitern ihrer Tochter offenbart sich das pädagogische Verhältnis von Eltern und Kind – das gleich zu Beginn fixiert wurde: »›Du bist schuld. [...] Warum machst Du keine Dame aus mir?‹ - ›Möchtest Du’s ?‹ ›Nein‹« (7). Die Eltern erziehen unentschieden: »Ich glaube beinah, daß Du so was möchtest« (7), mit Nachsicht, hilflos reflektierend: »Wenn Du so philosophierst [...], Briest, dazu reicht es bei Dir nicht aus« (349), zwischen Zärtlichkeit und Strenge schwankend: »Briest gab sich als zärtlicher Großvater, warnte vor zu viel Liebe, noch mehr vor zu viel Strenge, und war in allem der alte« (252). Zwar bezieht sich diese Bemerkung auf die Tochter Effis, aber der Nachsatz zeigt die Kontinuität des Briestschen Eltern-Kind-Verhältnisses. Effi teilt diese Sicht: »Vielleicht hat es mir auch an Zucht gefehlt [...]. Man war zu Haus zu gütig gegen mich, man liebte mich zu sehr« (176). Aus dieser Unentschiedenheit folgt Effis Halbbildung und Lebensuntüchtigkeit, was die Mutter ahnt: »Die, die Dir ungewogen sind, [...] sprechen von schlechter Erziehung« (33). Aus diesem Erziehungskonzept fällt auch nicht die (sozial begründete) Weigerung der Eltern, Effi nach der schuldhaften Scheidung ins Elternhaus zurück-

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IV Themen, Motive und Symbole

zuholen. Sie realisieren jetzt ein lebensweltliches Verhältnis gegenüber Effi, das aber an Effis Bildungs- und Lebensunfähigkeit scheitert: »weil ich das Harte des Lebens noch nicht kannte« (310) – so dass sie erneut jenes fürsorgliche Verhältnis entwickeln, das schon einmal misslungen war, weil es das Kind infantil belässt: »›Liebe der Eltern zu ihren Kindern. [...]‹ - ›Dann ist es vorbei mit Katechismus und Moral und mit dem Anspruch der ›Gesellschaft‹« (328). Die pädagogische Unentschiedenheit der Eltern gibt Effi – gesteigert durch leibliche Abwesenheit – in der Beziehung zu ihrer Tochter weiter: Noch vor der Geburt ihrer Tochter stellt sie ein Kindermädchen ein und teilt mit ihr »fast auch [die] Erziehung« (267; auch: 243): »für Annie wird schon gesorgt werden« (311). Es geht nicht um Bildung oder elterliche Liebe, sondern um Versorgung. So bleibt nur festzustellen: »Annie wuchs heran« (262), mit dem bekannten parapädagogischen Trugschluss: Das »hast Du von der Mama« (271).

Bildungs- als Kulturkritik Zu (5): Durchgehend thematisiert der Roman (oft in perspektivisch wertender Figurenrede) »Bildungsinsuffizienz beim Adel« (Mommsen 1973, 19–38) und thematisiert allgemein mangelnde Bildung: »Der Eindruck, den Effi empfing, war überall derselbe: mittelmäßige Menschen« (75), »durchschnittsmäßig« (306), »ein klein bißchen dumm« (125), »Knut sei dumm und verstehe nichts von der Sache« (187), Hulda ist »für eine Pastorstochter nicht ganz auf der Höhe« (217). Gleichaltrige wissen »nichts von Geschichte« (163) – »Die andern fanden alles schön« (312). Die Unzulänglichkeit musischer Bildung wird immer wieder aufgezeigt: »[...] aber von Kunst und ähnlichen Sachen versteht er gar nichts, von Musik gewiß nicht, wiewohl er Messen und Oratorien komponiert« (105) – Kunst wird, zumindest humoristisch, in die Nähe zum Konsumgut gerückt: »Erst Kunst und dann Nußeis, das ist die richtige Reihenfolge« (106; s. Kap. 32), wie überhaupt der geschilderte Umgang mit Literatur dilettantisch ist (s. Kap. 33). Ihr Surrogat, die Presse, die auch zu Effis bevorzugter Lektüre gehört, weiß stattdessen »immer alles« (290): »Und das lesen nun die Menschen« (291) und glauben, so gibt der Erzähler zum Weiterzudenken des Satzes auf, dass das, was die Medien präsentierten, die Wirklichkeit wäre. Die wahren Kräfte der epochentypischen Unbildung (und der durch sie hervorgebrachten gesell-

schaftlichen Verhältnisse) werden in den fehlenden Erziehungsbemühungen (die Vokabel Zucht meinte fachsprachlich damals Erziehung) vermutet: »Keine Zucht. Das ist die Signatur unserer Zeit« (176). Die wenigen Einsichtigen verzichteten darauf, »Aufklärungen zu geben, die doch zu nichts geführt haben würden« (195), und sind zynisch: »was weiß man nicht alles und handelt doch, als ob man es nicht wüßte. Das kann nie ’was werden« (207). Längst hat selbst Effi erkannt: »Das, was man gute Sitte nennt, ist doch immer noch eine Macht ...« (296). So bestätigt sich der ironische Satz Sidonies: »Alles ist schief und verfahren von Anfang an« (180). Eine ungebildete Gesellschaft – das konstruiert der Erzähler als Signatur der Zeit (s. Kap. 26, 36). Für Fontane aber liegen mit solchen Analysen gerade nicht »die Kräfte der deutschen Erneuerung [...] völlig außerhalb seines dichterischen Horizontes« (Lukács 1967, 158); denn er glaubt, dass die literarische Aufklärung hierüber das System künftig (vgl. Neuhaus 2017, 197) verändern könne: »In Wahrheit aber schlummern hier die Keime einer sozialen Revolution« (298). Literatur Böhm, Winfried: Geschichte der Pädagogik. Von Platon bis zur Gegenwart. München 2004. Bone, Karl: Frühreife. In: Lexikon der Pädagogik, Bd. II. Hg. von Ernst M. Roloff. Freiburg i. Br. 1918, 118–120. Fontane, Theodor: Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848. In: Ders.: Sämtliche Werke. Nymphenburger Ausgabe, Bd. XXI,1: Literarische Essays und Studien. Erster Teil. München 1963, 7–15. Fontane, Theodor: Irrungen, Wirrungen. Roman. In: GBA. Das erzählerische Werk, Bd. X. Bearb. von Karen Bauer. Berlin 1997. Giesecke, Hermann: Die pädagogische Beziehung. Pädagogische Professionalität und die Emanzipation des Kindes. Weinheim/München 21999. Goethe, Johann Wolfgang von: Gedichte. Hg. und kommentiert von Erich Trunz. München 111974 (Hamburger Ausgabe, Bd. I). Große-Boymann, Andreas: Heiratsalter und Eheschließungsrecht. Münster 1994. Hanraths, Ulrike: Bilderfluchten: Weiblichkeitsbilder in Fontanes Romanen und im Wissenschaftsdiskurs seiner Zeit. Aachen 1997. Khalil, Iman Osman: Das Fremdwort im Gesellschaftsroman Theodor Fontanes. Frankfurt a. M./Berlin/Las Vegas 1978. Krüger, Heinz-Hermann/Winfried Marotzki (Hg.): Handbuch erziehungswissenschaftliche Biographieforschung. Wiesbaden 22006. Lukács, Georg: Der alte Fontane. In: Ders.: Die Grablegung des alten Deutschland. Essays zur deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts. Reinbek bei Hamburg 1967, 120–159. Mittenzwei, Ingrid: Die Sprache als Thema: Untersuchungen

31 Bildung zu Fontanes Gesellschaftsromanen. Bad Homburg v. d. H./ Berlin/Zürich 1970. Mommsen, Katharina: Gesellschaftskritik bei Fontane und Thomas Mann. Heidelberg 1973. Neuhaus, Stefan: Theodor Fontane: Effi Briest. In: Ders.: Grundriss der Neueren deutschsprachigen Literaturgeschichte. Tübingen/Basel 2017, 187–198. Nürnberger, Helmuth: Fontanes Welt. Berlin 1997.

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Pott, Hans-Georg: Literarische Bildung. Zur Geschichte der Individualität. München 1995. Rothenberg, Jürgen: Realismus als »Interessenvertretung«. Fontanes ›Effi Briest‹ im Spannungsfeld zwischen Dichtungstheorie und Schreibpraxis. In: Euphorion 71 (1977), 154–168. Walker, John: The Truth of Realism. A Reassessment of the German Novel 1830–1900. London 2011.

Volker Ladenthin

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IV Themen, Motive und Symbole

32 Kunst und Musik Kunst und Musik spielen in Fontanes Effi Briest, verglichen mit der Literatur, eine sehr viel bescheidenere Rolle. Die zu Recht umstrittene These Peter-Klaus Schusters, Fontane habe Effis Leben »nach christlichen Bildern« gestaltet (s. Kap. 30), bleibt hier unberücksichtigt. Schuster selbst stellt fest, dass zu Fontanes Zeit »die Vorstellungen von der Frau, der Ehe und der Familie« »seit langem schon« »auf christliche Leitbilder hin ausgerichtet waren« (Schuster 1978, VII). Hiernach musste Fontane also nur einen scharfen Blick auf die gesellschaftlichen Zustände richten und bedurfte nicht bildkünstlerischer Reminiszenzen.

Kunst Als einziges Gemälde eines namhaften Künstlers wird in Effi Briest Arnold Böcklins Die Gefilde der Seligen (bei Fontane: »Die Insel der Seligen«) erwähnt und von Vetter Dagobert zur Vorbereitung Effis auf die Ehe empfohlen (24). Das Gemälde ist seit 1945 verschollen; es gibt nur Schwarz-Weiß-Fotografien (Schmid 1922, Tafel 53). Erhalten geblieben ist die Ölskizze, die Böcklin 1877 der preußischen Landeskunstkommission vorlegte, die ihm dann den Auftrag für die Nationalgalerie erteilte, offenbar ohne zu ahnen, welche Entrüstung das Bild ein Jahr später bis hinauf ins Kaiserhaus auslösen sollte. Die Skizze befindet sich heute im Kunst Museum Winterthur/Reinhart. In der antiken Vorstellung war das Elysium (die Gefilde der Seligen) den Seelen der Heroen, der Weisen und der Frommen vorbehalten. Dass Jungverstorbene dort auch der Liebe pflegten, scheint eine spätere Vorstellung gewesen zu sein (so in Tibulls dritter Elegie). Böcklin hat den Akzent auf die Erotik gelegt: Ein Kentaur mit einer nahezu nackten Nymphe auf dem Rücken schickt sich an, einen breiteren Bach (den Styx) zu überqueren; am anderen Ufer schaut ihnen ein Paar entgegen und im Hintergrund wird ein Reigen getanzt. Hinter dem Kentaur tanzen und singen zwei weitere Nymphen im Wasser am Uferrand. – Böcklin hat zehn Jahre später die gleichen Motive in dem Bild Die Lebensinsel (als Pendant zur berühmten Toteninsel) variiert (Swales 1980, 114; Ostini 1904, Abb. 101). Im Sprachgebrauch der Familie Fontane stand die »Insel der Seligen« für die vermuteten Freuden Frischvermählter in den Flitterwochen (Marthe Fontane an die Mutter, 1.5.1881) oder für Sexualität überhaupt. So überträgt Briest den Begriff auf das Verhältnis des In-

spektors Pink mit der Gärtnersfrau (26) und Graf Haldern, in Stine, meint, bei jedem Zug aus der Zigarre sehe er »die Gefilde der Seligen oder, was dasselbe sagen will, die Houris im Paradiese« (GBA 11, 30). – Wie Effi auf das Gemälde reagiert hat, erfahren wir nicht. Aber sie schweigt sich ja auch über die italienischen Kunstschätze aus, und einer italienischen Pantomime im Kopenhagener Tivoli gibt sie den Vorzug vor den Schätzen des Thorwaldsen-Museums (251). Während sich im Hause des unermüdlichen Museumsbesuchers von Innstetten kein einziges Bild zu befinden scheint, gibt es in der Oberförsterei Uvagla deren mehrere, die weitgehend der Herkunft der Förstersfrau aus einer wohlhabenden Danziger Familie zu verdanken sind (178), darunter der Remter (das Refektorium) in der Marienburg und eine gute Kopie von Hans Memlings Altarbild Das Jüngste Gericht, die Fontane beide sehr schätzte. Memlings Gemälde könnte man als eine letzte Warnung an Effi deuten (wenngleich sein Titel nicht genannt wird). Im Kloster Oliva (das sowohl in Öl als auch in Kork dargestellt ist) wurde am 3. Mai 1660 zum Abschluss eines schwedisch-polnischen Krieges ein Frieden geschlossen, der auch die Anerkennung der Souveränität des damaligen Herzogtums Preußen brachte. In jedem Fall patriotisch begründet ist die Existenz des nicht besonders gelungenen und stark nachgedunkelten Porträts »des alten Nettelbeck«, der im Jahre 1807 gemeinsam mit Gneisenau und Schill die Stadt Kolberg gegen die Franzosen verteidigt hatte. Dem fragwürdigen Zustand des Bildes entspricht derjenige des verrosteten Waterloo-Denkmals im Garten von Hohen-Cremmen (139). Dieser abwertende Gestus findet sich sogar bezüglich zweier Bilder in Effis Zimmer im Elternhaus; sie stellen den »Sturm auf Düppel« (1864) sowie »König Wilhelm und Graf Bismarck auf der Höhe von Lipa« (1866) dar (257). Effi möchte sich andere Bilder ausbitten: »ich kann so ’was Kriegerisches nicht leiden« (ebd.). Gleichwohl hat sie sich nach der Hochzeitsreise in Berlin das St. Privat-Panorama ansehen müssen (48); es war einem sehr verlustreichen deutschen Sieg im August 1870 gewidmet. Wülfing hat darauf aufmerksam gemacht, dass dieses Panorama nicht schon 1878, sondern erst ab Februar 1881 zu besichtigen war, und hat den Anachronismus als versteckten Hinweis auf das Ende von Effis Privatleben gedeutet (Wülfing 1998, 74). Die Bilder im Vorzimmer der Ministersgattin, Guido Renis Zug der Aurora und Benjamin Wests König Lear im Unwetter auf der Heide (319), spiegeln Effis Zustand zwischen Hoffnung und Verzweiflung.

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2019 S. Neuhaus (Hg.), Effi Briest-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04874-5_32

32 Kunst und Musik

Auf Rügen möchte Innstetten »Irgend’was Idyllisches mit einer Geisblattlaube« finden (248). Eine Geißblattlaube hatte es auch bei der Swinemünder Apotheke gegeben (Meine Kinderjahre; NFA 14, 33), aber im Zusammenhang des Romans geht es wohl um eine Erinnerung Innstettens an den Besuch in der Münchner Pinakothek (45), an das Bild, das Peter Paul Rubens und seine Frau Isabella Brant in einer solchen Laube darstellt und von der innigen Verbundenheit der beiden zeugt. Das Geißblatt, auch »Je länger je lieber« genannt, steht für Treue (Schuster 1978, 54). Offenbar markiert die Reminiszenz eine Wunschvorstellung Innstettens, während Effi am gleichen Tag über den Ortsnamen Crampas (247) an ihre Untreue erinnert worden ist.

Musik Fontane hat mehrmals betont, dass er unmusikalisch sei (Horch 1991, 34–35). Gertrud George-Driessler hat das ein wenig zurechtgerückt: Fontane sei ein Liebhaber von »Umgangsmusik« gewesen, vergleichbar der Figur des Thomas Buddenbrook in Thomas Manns Roman (George-Driessler 1990, 3–4). Der ›Hochmusik‹ seiner Zeit hat er sich nicht gewachsen gefühlt, schon gar nicht den Werken Richard Wagners, zu denen er sich auch nur bezüglich ihrer Texte geäußert hat, und zwar, mit Ausnahme der Meistersinger, negativ (Horch 1991, 49–54). Aus einer ParsifalAufführung in Bayreuth ist er geflohen und hat auf Weiteres verzichtet (ebd., 45). Im Roman gibt es den Wagnerianer Innstetten und dessen junge Frau, die einen Flügel besitzt und in der Lage ist, Klavierauszüge aus Lohengrin und Die Walküre zu spielen (120; s. Kap. 10), später, auf einem Pianino, auch die Nocturnes von Chopin (313–314). Dafür müsste sie einen recht guten Klavierunterricht genossen haben, was aber nicht erwähnt wird, wie wir ja auch über ihre Schulzeit nur Bruchstückhaftes erfahren (14: Kandidat Holzapfel, 323: Mythologie). Das wesentliche musikalische Ereignis im Roman ist der Abend mit der Trippelli – und da gibt es Probleme. Zum einen verwechselt Fontane offenbar Heines Ritter Olaf (den Carl Loewe nicht vertont hat) mit einem Text aus Arnim/Brentanos Des Knaben Wunderhorn: Herr Oluf (Loewes Op. 2, Nr. 2), den Herder schon in den Stimmen der Völker in Liedern (1778/79) veröffentlicht hatte, dort unter dem Titel Erlkönigs Tochter. Heines Gedicht hat zwar auch ein trauriges Ende (der Ritter, der die Königstochter vor der Hoch-

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zeit verführt hat, darf sie zwar heiraten, wird aber noch am gleichen Tag um Mitternacht hingerichtet), entbehrt aber des die anderen Stücke kennzeichnenden Gespenstischen, Unheimlichen. Herr Oluf dagegen gerät am Tag vor seiner Hochzeit ins Reich des Erlkönigs, weigert sich, mit dessen Tochter zu tanzen, worauf sie ihm einen Schlag versetzt, an dessen Folgen er am Hochzeitsmorgen stirbt. Die von der Trippelli abgelehnten Glocken von Speyer bilden im 4. Kapitel von Frau Jenny Treibel die Glanznummer von Adolar Krola, hätten aber auch vom Inhalt her nicht gepasst; denn gerade auf die Inhalte ist es Fontane offenbar angekommen. Ausdrücklich verweist die Trippelli ja darauf, dass sie über eine Altstimme verfügt (106), aber weder Wagners Der Fliegende Holländer noch Hérolds Zampa (der untreue Korsar wird von der zum Leben erwachenden Statue seiner verlassenen Geliebten in die Tiefe gezogen) verfügen über eine tragende Alt- oder Mezzosopran-Partie. Man müsste davon ausgehen, dass Gieshübler Transkriptionen der Sopranpartien (Senta bzw. Camille) in die Stimmlage seiner Freundin besitzt. Aber auch das funktioniert nicht beim Heideknaben (der Knabe träumt seinen Tod im Voraus), denn Robert Schumann hat dieses Hebbel-Gedicht gar nicht »vertont«, wie die Kommentare behaupten, sondern es zu einer Szene für Sprechstimme [!] und Klavier gestaltet (Op. 122, Nr. 1: Ballade vom Heideknaben). Die Stimmlage der Trippelli hat Fontane offenbar darum gewählt, weil er sich eine zu den gespenstischen Geschichten passende dunkle Stimme vorgestellt hat. Über die praktische Ausführung scheint er sich keine Gedanken gemacht zu haben. – Auch die von Effi genannten Opernrollen (107), die Chriemhild in H. L. E. Dorns Die Nibelungen und die Julia in Spontinis La Vestale, sind Sopran-Partien. Nur der Orpheus in Glucks Orfeo ed Euridice würde passen. Als Ella in Wicherts Ein Schritt vom Wege müsste Effi übrigens zu Beginn des III. Aufzugs selbst singen, allerdings hinter der Bühne (könnte sich also auch vertreten lassen). Welche Sonaten sie auf dem Palisanderflügel in Bad Ems spielt (293), wird uns nicht verraten. Die Mitteilung gilt eher der Absetzung ihres Darstellungsvermögens gegen das der Geheimrätin Zwicker, die »dann und wann einen Walzer« spielt, aber als ganz unmusikalisch bezeichnet wird (ebd.). Ein eigener (nicht literarisch vermittelter) Ausdruckswert wird den Nocturnes von Frédéric Chopin zugesprochen, die Effi in Berlin auf dem Pianino spielt: »immer so ›was Trauriges«, wie Roswitha meint

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IV Themen, Motive und Symbole

(315), und der Erzähler hält fest, diese Stücke seien »auch nicht angethan« gewesen, »viel Licht in ihr Leben zu tragen« (314). Außerdem hat Rummschüttel ihr das viele Spielen verboten, weil es sie zu sehr anstrengt (ebd.), ihre Krankheit verschlimmert. (Ob die Leser mitbedenken sollen, dass auch Chopin an Tuberkulose gestorben ist, steht dahin.) Im letzten Gespräch mit Innstetten empfiehlt Wüllersdorf dem Freund zur Abendunterhaltung den Besuch von Balletten: Taglioni/Hertels Sardanapal oder Coppelia von Saint-Léon/Délibes (342), leichtere Kost also als die Opern Richard Wagners. Literatur Dieterle, Regina: Fontane und Böcklin. Eine Recherche. In: Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts. Hg. von Hanna Delf von Wolzogen in Zusammenarbeit mit Helmuth Nürnberger, Bd. I: Der Preuße. Die Juden. Das Nationale. Würzburg 2000, 269–283. Fontane, Theodor: ›Stine‹. In: GBA, Bd. 11. Hg. von Christine Hehle. Berlin 2000. Fontane, Theodor: Meine Kinderjahre. Christian Friedrich Scherenberg und das literarische Berlin von 1840 bis 1860.

Mein Erstling: Das Schlachtfeld von Groß-Beeren. Hg. unter Mitwirkung von Kurt Schreinert und Jutta Neuendorff-Fürstenau. In: NFA 14. München 1961. George-Driessler, Gertrud: Theodor Fontane und die »tonangebende Kunst« (Eine späte Wiedergutmachung). Phil. Diss. Augsburg 1990. Horch, Hans Otto: Annäherungen an ein Jahrhundertereignis. Theodor Fontanes Verhältnis zu Richard Wagner und zum Wagnerismus: ein Thema mit Variationen nebst Introdukion und Koda. In: Robert Leroy/Eckart Pastor (Hg.): Deutsche Dichtung um 1890. Beiträge zu einer Literatur im Umbruch. Bern u. a. 1991, 31–73. Ostini, Fritz von: Böcklin. Bielefeld/Leipzig 1904. Salmen, Walter: Das Klavier und das Klavierspielen bei Theodor Fontane. In: FBl 93 (2012), 106–123. Schmid, Heinrich Alfred: Arnold Böcklin. München 21922. Schuster, Peter-Klaus: Theodor Fontane: Effi Briest – Ein Leben nach christlichen Bildern. Tübingen 1978. Swales, Erika: Private mythologies and public unease: On Fontane’s ›Effi Briest‹. In: The Modern Language Review 75 (1980), 114–123. Wülfing, Wulf: »Aber nur dem Auge des Geweihten sichtbar«: Mythisierende Strukturen in Fontanes Narrationen. In: FBl 65/66 (1998), 72–86.

Klaus Müller-Salget

33 Literatur

33 Literatur Auf den ersten Blick scheint Effi Briest nur beiläufig mit Literatur getränkt – doch dieser Eindruck täuscht. Bei genauerem Hinsehen ist Effi Briest so dicht von Literaturzitaten, -anspielungen und -anklängen durchzogen, dass man sogar von einem Roman sprechen könnte, der hauptsächlich von Literatur handelt oder von den Texten, die Fontane selbst gelesen hat (Aust 1999). Dabei reiht sich die Titelfigur nicht in den Reigen der kaum mehr zählbaren Romanheldinnen des 19. Jahrhunderts ein (s. Kap. 3), die durch exzessive Romanlektüre (meist unter Benutzung der Leihbibliotheken) für das wirkliche Leben untauglich geworden sind und deshalb scheitern. Effi wechselt zwar im Verlauf des Romans ihr Leseverhalten vom naiv-identifikatorischen Lesen, wonach sich »eine freundliche Vorstellung« mit dem verbindet, »was man persönlich erfahren hat« (177), zu einem therapeutischen (325). Doch bleibt Effi in allen Fällen eine oberflächliche Leserin, so dass für sie die Literatur immer ein erhöhtes Spiegelbild möglicher Lebenszuschnitte darstellt.

Parallelführungen auf der Ebene der Romankonzeption Fontane war bekanntlich nicht der Einzige, der den ›Fall‹ Ardenne als Vorlage für seinen Roman verwendete. Friedrich Spielhagens Zum Zeitvertreib erschien erst 1897; der Roman konnte weder an den Publikumserfolg von Effi Briest heranreichen noch zeitgenössische Literaturkritik überzeugen; erst recht hielt er Fontanes Konkurrenz im Kanonisierungsprozess der Literaturgeschichte nicht stand. Spannend ist ein Vergleich aber trotzdem, weil Spielhagen natürlich Effi Briest gelesen hatte und sich zugleich als Romantheoretiker verstand, der seinen »Roman des Nebeneinander« zum Maßstab für die literaturgeschichtliche Einordnung auch von Fontanes Roman machen wollte (s. Kap. 15).

Gattungswechsel innerhalb der Romanhandlung Der Begriff der »Komödie« geistert wie ein verstecktes Leitmotiv durch Effi Briest. Theater, auch im übertragenen Sinn, findet im Roman als Komödie oder in komödialen Inszenierungen statt. Für Effis Polterabend gibt man die »Holunderbaumszene« aus Heinrich von

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Kleists Käthchen von Heilbronn in einer »Mischung von Kleist und Niemeyer«, als handle es sich um eine Komödie mit dem Ziel, dem Stück »die verschämte Nutzanwendung auf Innstetten und Effi hinzuzudichten« (27). Effi bekommt von den Vorbereitungen nichts mit; dann erlebt sie eine »Theateraufführung«, die sie an den Besuch des Berliner Lustspiels Aschenbrödel erinnert. Entscheidend ist bei beiden Komödien der Selbstbezug: »Da hätte sie wirklich selber mitspielen mögen« (29). Im Umfeld der Trippelli, die zwar »lediglich Konzertsängerin« ist (107), verliert das Komödiantische seine Unschuld als kindliches Spiel: »Und nun gar erst auf dem Theater, vor dem ich übrigens glücklicher Weise bewahrt geblieben bin. Denn so gewiß ich mich persönlich gegen seine Versuchungen gefeit fühle – es verdirbt den Ruf, also das beste, was man hat« (108). So ist es kein Zufall, dass die Kessiner Aufführung des Lustspiels Ein Schritt vom Wege von Ernst Wichert seinen Lustspielcharakter verliert, weil es durch die »Regie« von Crampas den Akteuren enteignet wird (»man muß dann spielen, wie er will, und nicht, wie man selber will«) und durch den Erzähler selbst zu einer schwergewichtigen und doppeldeutigen Vorausdeutung aufgewertet wird: »Der ›Schritt vom Wege‹ kam wirklich zu stande« (169). Dazu passt es, dass Crampas laut Innstetten auch sonst eine »Spielernatur« ist, die Spielwelt und Wirklichkeit nicht auseinanderhält: »Er spielt nicht am Spieltisch, aber er hazardiert im Leben in einem fort« (172). In Berlin spielt Effi ihrem Arzt Rummschüttel die »Komödie« einer angeblichen Krankheit vor, die dieser nicht nur als »Virtuosität« einer »Evastochter comme il faut« sofort durchschaut (235), sondern seinerseits »ihrer Komödie mit einer Komödie begegnet«. Der Erzähler übernimmt zur Bewertung dieses Vorgangs sogar die innere Stimme Effis: »Denn gab es nicht zu respektierende Komödien, war nicht die, die sie selber spielte, eine solche?« (236) Auch ihre Treffen mit Crampas hatte Effi vor sich als »verstecktes Komödienspiel« bezeichnet (199). Auf dem Höhepunkt des Konflikts, in seinen Reflexionen bei der Rückkehr vom Duell, charakterisiert dann selbst Innstetten seine Entscheidungsfindung für das Duell und gegen die Idee einer »Verjährung« als »Komödie«. Indem er die Vernunftentscheidung der Prosa zuordnet (»das Vernünftige ist meist prosaisch«; 286), gerät seine Entscheidung für das Duell auf das Feld des Fiktiven und Poetischen, dann des Komödiantischen, woraus sich eine Eigendynamik entwickelt: »So aber war alles einer Vorstellung, einem Begriff zu Liebe, war eine ge-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2019 S. Neuhaus (Hg.), Effi Briest-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04874-5_33

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machte Geschichte, halbe Komödie. Und diese Komödie muß ich nun fortsetzen« (287).

Literatur, die im Roman ausdrücklich vorkommt Dazu zählen die naiven Liebhaberaufführungen zur Vorbereitung von Effis Hochzeit, die situationsbezogene Aktualisierung von Das Käthchen von Heilbronn und andere Verseschmiedereien, die »Sinniges« (27) vorbringen wollen. Während Bertha und Hertha in Anspielung auf die literarische »Fritz-Reuter-Passion« ihres Vaters »natürlich plattdeutsch« auftreten, soll Effis Freundin Hulda »das Käthchen von Heilbronn in der Holunderbaumszene darstellen«, zusammen mit »Leutnant Engelbrecht von den Husaren als Wetter vom Strahl«, erweitert durch die von Pastor Niemeyer hinzugedichtete »verschämte Nutzanwendung auf Innstetten und Effi« (27). Geradezu parodistisch verschoben (»es verschiebt die Situation«) kritisiert der alte Briest an dieser »Mischung von Kleist und Niemeyer« die schiefe Parallele auf das Verhältnis von Effi und Innstetten, weil in Huldas Käthchen »jeder das Widerspiel unserer Effi erkennen muß«. Dabei stößt sich Briest aber beileibe nicht am asymmetrischen Charakter dieser neuen Partnerschaft, sondern am unterschiedlichen Adelsrang der beiden Familien. Auf die bei Kleist wiederholte Anrufung des »hohen Herrn«, die der alte Briest in seinem ›historischen‹ Adelsstolz kritisiert (28), wird Effi nach ihrer Gespenstervision in Kessin anspielen: »wobei mir Hulda unterm Holunderbaum einfällt« (91). Beides, das geprobte Amalgam »ganz wie ein Märchen« mit Bezug auf »Aschenbrödel« (29) und Effis Erwartungen, stellen Vorausdeutungen dar, die aber den handelnden Figuren nicht bewusst werden. Die eigentliche Aufführung, von der der Erzähler rückblickend ironisch berichtet, »war gut und glatt verlaufen, fast über Erwarten«, wobei allerdings Bertha und Hertha »so heftig geschluchzt« hatten, »dass Jahnke’s plattdeutsche Verse so gut wie verloren gegangen waren«, nur noch übertroffen von »Vetter Briest in seiner selbstgedichteten Rolle« als Geschenklieferant einer überdimensionierten »Riesenbonbonniere« (39). In diesem spaßigen Umfeld hat Literatur keinen Platz. Das Liedrepertoire der in Kessin halb zu Besuch weilenden, halb gastierenden Trippelli ist natürlich auf Lieder beschränkt, die zur häuslichen Klavierbegleitung gesungen werden können (s. Kap. 32). Aber auch hier gibt es drei ganz unterschiedliche Po-

sitionen im Umgang mit Literatur. Die Trippelli verlässt sich auf die Vorschläge, die Gieshübler hervorzaubert (»ganze Schränke voll Noten«; 106). Während Effi Opernhaftes (»Orpheus oder Chrimhild oder die Vestalin«) ins Spiel bringt (107), lehnt die Trippelli Gieshüblers Vorschläge des bekannten Liedguts, nämlich den »Erlkönig«, »Löwe’sche Balladen«, z. B. die »Glocken von Speyer«, als »geschmacklos und abgestanden« ab; sie seien »nicht gerade das Neueste«; nur »Ritter Olaf« – »nun, das geht« (107). Vom »Heideknaben« (von Schumann, nach Friedrich Hebbels Ballade) ist Effi »wie benommen«, nicht ohne in ihrer Ergriffenheit sofort auf ihre eigene »Gespenstergeschichte« mit dem Chinesen zu kommen, während die Künstlerin »dem Gespenstischen« wenig abgewinnen kann, wenn es nicht »durch die Ballade geht« (108). Dabei bleibt es vorläufig, während die für den Silvesterball von Gieshübler geschickten »Kamelien« (114) aus dem eigenen »Treibhaus« (113–114) eine neue Spur auslegen, in der sich Effis Geschichte vorausdeutend spiegeln kann – zuerst in Alexandre Dumas Roman Die Kameliendame von 1848, den er selbst 1852 wegen des großen Erfolgs dramatisiert hat, dann in der darauf fußenden, noch wirkungsmächtigeren Oper Guiseppe Verdis La Traviata von 1853. Die Beteiligten merken davon nichts. Von hier aus ist der Weg nicht weit zu den Verführungsversuchen des Majors Crampas, die ganz im Zeichen der Lyrik Heinrich Heines ablaufen. Effis aus Unwissenheit dahingeplauderten Hinweis auf »Vineta« (»Nein, das kenne ich nicht«) greift Crampas mit der Nennung von Heines Gedicht Seegespenst aus dessen Buch der Lieder wie beiläufig auf (»verzeihen Sie, wenn ich Ihnen so ohne weiteres den Inhalt hier wiedergebe«; 160), indem er seine Inhaltsangabe so zuschneidet, dass sie für seine Zwecke passt: »Alles ist Leben, und vor allem versteht er sich auf die Liebe« (161). Heines Gedicht hatte freilich auf anderes gezielt. Mit seinem Hinweis auf »das Romantische« bei Heine »in seinen späteren Gedichten« kommt Crampas dann auf Heines »Romanzen« – namentlich Karl I. und Vitzliputzli – zu sprechen, was von Effi zunächst noch als »indecent und degoutant« zurückgewiesen wird (161), dann aber doch mit der Figur von »Pedro dem Grausamen«, einer »Art Blaubartskönig« (163), ihr Interesse weckt, zumal mit dem Vorkommen eines Neufundländers namens »Rollo« weiteres Identifikationspotenzial aufkommt: »Rollo schlug an, als er seinen Namen hörte, und wedelte mit dem Schweif« (164). Crampas’ Erzählung der drastischen Romanzenhandlung »mit der heimlichen Lie-

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be« und dem abgeschlagenen Kopf lässt Entscheidendes aus und findet innerhalb der balladesken Handlung ein verharmlosendes Ende in der Zustimmung Effis (»das ist in seiner Art sehr schön«; 165). Derart entstellte literarische Texte erlauben es sogar Effi, das von Crampas zurückbehaltene Trinkglas literaturgeschichtlich einzugemeinden (»so haben Sie vor, sich vor der Zeit auf den König von Thule hin auszuspielen«), ohne zu bemerken, wie sehr sie Crampas’ Ende vorwegnimmt, auch wenn sie nur die darin enthaltenen erotischen Konsequenzen zurückweist: »Ich mag nicht als Reimwort auf Ihren König von Thule herumlaufen« (166). Noch kann sich Effi gegen Crampas’ Einlullung durch die Heine-Gedichte mit dem christlichen märchenhaften Gedicht Gottesmauer von Clemens Brentano »schützen«: »Crampas war sichtlich betroffen und wechselte das Gespräch« (177). In der Dunkelheit des nächtlichen Waldes aber »war es damit vorbei«, »Gedanken und Bilder jagten sich«; dann hat das Gedicht seine Schutzkraft verloren: »so betete auch sie jetzt, daß Gott eine Mauer um sie her bauen möge. Zwei, drei Male kam es auch über ihre Lippen, aber mit einemmal fühlte sie, daß es tote Worte waren« (189). Im 18. Kapitel, die Halbierung und der Wendepunkt des Romans in einem, prallen Innstettens Vorschlag, die Kunstbesichtigungen der italienischen Hochzeitsreise »an der Hand seiner Aufzeichnungen, noch einmal durchmachen« zu wollen (167), mit Crampas’ Theaterprojekt zur Aufführung von Ernst Wicherts erfolgreichem Lustspiel Ein Schritt vom Wege zusammen. Der sprechende Titel weist ja nicht nur auf Effis Ehebruch hin (s. Kap. 24), sondern auch auf das Stolpern Annies, das die Enthüllung dieser Verfehlung mit sich bringen wird (Roth 2012, 213). Effis Parteinahme gegen die abgestandene »Rekapitulation« (167) der Hochzeitsreise zugunsten des praktischen Bühnenauftritts ist eindeutig: »Effi war nicht für Aufgewärmtheiten, Frisches war es, wonach sie sich sehnte« (168). »Die künstlerischen Gegenwelten der beiden Männer – die Bilderbegeisterung des ›Kunstfex‹ Innstetten und die literarischen Bedürfnisse des ›Dichters‹ Crampas – werden von Fontane so aufeinander bezogen, daß sie sich wechselseitig erschließen müssen« (Grawe 2002, 365). Schon zuvor war Crampas durch den Vorschlag aufgefallen, possenhafte Lustspiele wie Krieg im Frieden von Gustav von Moser und Franz von Schönthan, Monsieur Herkules von Georg Belly, Jugendliebe von Adolf Wilbrandt oder Euphrosyne von Otto Franz Gensichen in durchsichtiger Anspielung aufführen zu wollen: »Sie die Euphrosine, ich der alte

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Goethe« (147). Indem Effi nun die weibliche Hauptrolle der Ella von Schmettwitz im versöhnlich endenden Stück Ein Schritt vom Wege übernimmt, Crampas aber nicht die entsprechende männliche Rolle, sondern »nur die Regie«, entsteht eine viel anspielungsreichere Schiefstellung. Denn nicht nur »zerspielt Ernst Wicherts Stück den problematischen Zusammenhang zur gefahrlosen Posse« (Pütz 1989, 183). Die von Crampas inszenierte Arrangierung des Stücks nimmt Effi ihre Eigeninitiative: »Und man muß dann spielen, wie er will, und nicht, wie man selber will« (169). Schon bevor Crampas, »klug und Frauenkenner genug«, »den natürlichen Entwicklungsgang« sich frei entfalten lässt, stellt der Erzähler doppeldeutig-eindeutig fest: »Der Schritt vom Wege kam wirklich zu stande« (169). Nicht umsonst ist Crampas ein »Seelenleser«, dessen »Lesekunst« über das hinausgeht (137), was Effi unter Lektüre versteht: »Aber es ist doch alles bloß, wie wenn ich ein Buch lese« (314; s. Kap. 14).

Offene Literaturzitate Wie im Bildungsbürgertum am Ende des 19. Jahrhunderts werfen auch die Figuren in Fontanes Romanen mit Zitaten aus den deutschen Klassikern um sich, noch bevor diese ›Geflügelten Worte‹ als herabgesunkener Ausweis ästhetischer Bildung zum Allgemeingut geworden sind (Hess 2011). Man lebt geradezu in »Zitatkulissen« (Neumann 2011, 139). Wie sehr diese fast zeitgenössische Literatur fester Bestandteil des Alltagslebens geworden ist, zeigt die Vorliebe des Kantors Jahnke für den niederdeutschen Dichter Fritz Reuter, »der denn auch, unter Anlehnung an seinen mecklenburgischen Landsmann und Lieblingsdichter und nach dem Vorbilde von Mining und Lining, seinen eigenen Zwillingen die Namen Bertha und Hertha gegeben hatte« (8). So zitiert der alte Briest wie beiläufig Schillers Wallenstein (»Spät kommt Ihr, doch Ihr kommt«; 27), während ihm selbst erdachte »poetische Bilder« wie bei der Verlobung, wenigstens nach Aussage seiner Frau, nicht recht gelingen wollen: »das liegt jenseits Deiner Sphäre« (20). In den Adelsfamilien Kessins zitiert man zwar Lessings Ringparabel aus dem Drama Nathan der Weise als »Geschichte, die wir alle kennen«, aber beileibe nicht als literarisches Zitat, sondern als abwegige Verschiebung ins Tagespolitische: »eine Judengeschichte, die, wie der ganze liberale Krimskrams, nichts wie Verwirrung und Unheil gestiftet hat und noch stiftet« (181; s. Kap. 10).

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Sogar Innstetten, obwohl doch wenig literarisch interessiert und eher »Kunstfex« (41) als Literaturkenner, zitiert. Auf der Hochzeitsreise in Padua wird das von ihm aufgerufene bekannte Faust-Zitat (V. 2925) allerdings plötzlich durchsichtig, weil dieser Mephisto-Satz »Er liegt in Padua begraben« in Effis Brief an die Eltern durch ihre offen zur Schau gestellte Unbildung in schillernde Beleuchtung gerät. Innstetten, nach Effi trotz dieser Teufelssentenz »engelsgut gegen mich«, »war überrascht, als er von mir vernahm, daß ich diese Worte noch nicht gehört hätte. Schließlich aber sagte er, es sei eigentlich ganz gut und ein Vorzug, daß ich nichts davon wüßte« (46). Auch Effi zitiert, freilich in merkwürdiger Verschiebung. Der Vorname des Kessiner Apothekers Alonzo Gieshübler ist für sie »ein romantischer Name, ein Preziosa-Name« (73). Die darin enthaltene Anspielung auf das romantische Theaterstück Preziosa des bekannten Goethe-Schauspielers Pius Alexander Wolff liefert dabei nur die eine Hälfte der Spur. Die andere wird durch eine Aufführungsbesprechung Fontanes vom 18. Dezember 1886 gelegt, in der Fontane das Stück als altmodisch und sentimental, dadurch aber zugleich auch als märchenhaft gefühlvoll bezeichnete. Im Roman findet sich sowohl der Angesprochene angemessen charakterisiert (»Gieshübler lächelte mit einem ganz ungemeinen Behagen«) als auch Effis (einzige) emotionale Bindung an den schaurigen neuen Wohnort vorgeprägt (73).

Versteckte Literaturzitate Versteckte Literaturzitate zeichnen sich dadurch aus, dass sie erst auf den zweiten Blick zu erkennen sind. Schon an der Grenze zum versteckten Zitat steht die Geheimrätin Zwicker in Bad Ems; diese erweist sich nicht nur als »belesen« (265), weil sie Émile Zolas als skandalös gebrandmarkten Roman Nana von 1880 kennt. Sie kann auch auf die Frage, ob »es denn wirklich so schrecklich sei«, mit noch Stärkerem aufwarten: »Da giebt es noch ganz anderes« (266). Als Innstetten und Effi in Kessin die dortigen Honoratioren durchhecheln, findet Innstetten zu deren Charakterisierung die Formulierung: »gute Menschen und schlechte Musikanten« (64). Erst wenn man diese Charakterisierung als Zitat erkennt, durchschaut man sie auch als Vorausdeutung. Das Zitat aus Brentanos Lustspiel Ponce de Leon ist durch Heine bekannt geworden, der es im 13. Kapitel seiner Ideen. Das Buch Le Grand zitiert. Im Zeichen genau dieser

Konstellation von Brentano und Heine wird dann Crampas’ Verführungsversuch ablaufen. Die Ritterschaftsrätin von Padden zitiert gegenüber Innstetten »halblaut und beinahe wie abwesend« einen Vers aus den volkstümlichen sentimentalen Wiegenliedern von Friedrich Johann Justin Bertuch: »Ein junges Lämmchen weiß wie Schnee«. Das Zitat verfehlt seine anspielungsreiche Wirkung auf Effi nicht, so »daß sie sich verfärbte« (241). Über das Hausmädchen Johanna, »prall und drall«, und die korpulente Roswitha witzeln Innstettens Hausgäste mit dem Zitat eines »alten Weisheitssatzes« (»Laßt fette Leute um mich sein«), angeblich von dem »Menschenkenner« Cäsar, vermutlich nicht wissend, dass es sich dabei um ein etwas verfälschtes Zitat aus Shakespeares Cäsar-Drama handelt (266–267). Wenig später zeigt sich der Zitierende selbst als Dichter, als er die Begrüßungsverse für die heimkehrende Effi verfertigt, deren »Schönheit beziehungsweise Nicht-Schönheit« innerhalb des Hausstandes diskutiert wird, ebenfalls nicht ahnend, dass die Kernaussage dieser Verse schon am nächsten Tag für Innstetten nicht mehr zutreffen wird: »Denn die gattin- und mutterlose Zeit / Ist endlich von ihm genommen« (268). Diese und andere Literaturanspielungen gehen an den Beteiligten vorbei, etwa wenn Effi vor ihrer Audienz bei der Ministerin einen der englischen »Kupferstiche« an den Wänden zwar betrachtet, die literarische Vorausdeutung auf ihre eigene Situation aber nicht erkennt: »Eines der Bilder war König Lear im Unwetter auf der Heide« (319). Fontane lässt auch im Unklaren, ob Effi, wenn sie eine am Strand beobachtete Robbe als »Seejungfrau« wahrnimmt (151), Hans Christian Andersens Märchen Die kleine Meerjungfrau von 1837 im Kopf hat. Fontane macht sich aber auch den Spaß, den scheinbar so trockenen und humorlosen Ministerialbeamten Wüllersdorf an der einzigen Stelle, »als er sich so expektoriert« (342) und aus sich herausgeht (»Sie wissen, ich habe auch mein Päckchen zu tragen«; 341), sinngemäß ein Fontane-Gedicht zitieren zu lassen. Als Wüllersdorf seine Lebensphilosophie der Pflichterfüllung vorträgt (»hierbleiben und Resignation üben«; »aushalten, bis man fällt«), ergänzt er sie mit dem, was er »das Leben« nennt: »Vorher aber im kleinen und kleinsten soviel herausschlagen wie möglich, und ein Auge dafür haben, wenn die Veilchen blühen oder das Luisendenkmal in Blumen steht oder die kleinen Mädchen mit hohen Schnürstiefeln über die Korde springen« (341). In Fontanes Gedicht Was mir gefällt von 1885 stehen kaum andere Zusammenstellungen als Antwort auf die Frage: »ob mir in

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dieser Welt / Überhaupt noch was gefällt?« (GBA, Gedichte I, 44).

Verräterische Literaturvorlieben Die leichte und oberflächliche Lebensart des Vetters Briest, »ein ungemein ausgelassener, junger Leutnant«, zeigt sich auch daran, dass er die »Fliegenden Blätter« abonniert hat, »über die besten Witze Buch führte« (23) und Anekdoten aus dem »Kladderadatsch« zum Besten gibt (228). Effi hingegen liest aus Langeweile oder wenn sie ein »Gefühl der Einsamkeit« überfällt; sie wählt nach dem Zufallsprinzip aus: »Und so suchte sie nach einem Buche. Das erste, was ihr zu Händen kam, war ein dickes, rotes Reisehandbuch« (80). Die Ablenkung funktioniert allerdings selten: »ich muß es aufgeben, mich durch Lektüre beruhigen zu wollen« (82). Dieses Leseverhalten ändert sich auch während ihres Berliner Lebens kaum. Effis Versorgung aus der »Leihbibliothek« fördert eine »Auswahl« von Romanen zu Tage, die allesamt zu den Lieblingsbüchern des Autors Fontane zählen, nämlich Ivanhoe und Quentin Durward von Sir Walter Scott, Der Spion von Cooper, David Copperfield von Charles Dickens und Die Hosen des Herrn von Bredow von Willibald Alexis (233). Der Arzt Rummschüttel verbietet der angeblichen Kranken jede Lektüre (»keine Lektüre«), lässt aber Sir Walter Scott zu (»nichts einzuwenden«) und empfiehlt dann selbst als Therapie die Lektüre von »Reisebeschreibungen« (236). Effis sozial gescheitertes und verlöschendes Leben am Ende des Romans spiegelt sich auch in der hilflosen und vergeblichen Suche »nach etwas, das ihr beistehe. Und sie fand auch ’was in der Not ihres Herzens«. Gemeint ist das »Bücherbrett, ein paar Bände von Schiller und Körner darauf, und auf den Gedichtbüchern, die alle die gleiche Höhe hatten, lag eine Bibel und ein Gesangbuch« (325). Doch sowohl diese Literaturauswahl als auch der Umgang damit (»Sie griff danach, weil sie ’was haben mußte, vor dem sie knieen und beten konnte«) erbringen keinen Trost, sondern führen die daran geknüpften Hoffnungen des Gebets in selbstzerstörerische Fragen nach »Schuld«, »Ehre« und »Dummheit« und enden im körperlichen Zusammenbruch (325–326). Mit der Rückkehr nach Hohen-Cremmen endet auch noch der spärlichste Umgang Effis mit Literatur: »Lesen aber und vor allem die Beschäftigung mit den Künsten hatte sie ganz aufgegeben« (330).

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Verborgenes, Umstrittenes Schon Friedrich Spielhagen hatte 1896 in seinem Aufsatz Einst und jetzt. Die ›Wahlverwandtschaften‹ und ›Effi Briest‹. Eine literar-ästhetische Studie Fontanes Effi Briest neben Goethes Eheroman Die Wahlverwandtschaften gestellt, dabei Fontane als den im Sinn von Spielhagens Erzähltheorie moderneren Schriftsteller ausgemacht – und dennoch Fontanes Einwände hervorgerufen (s. Kap. 15). Tatsächlich gibt es zwischen Goethes Wahlverwandtschaften und Fontanes Effi Briest eine Vielzahl struktureller Entsprechungen, die man nicht dem Zufall zuschreiben mag. Offensichtlich hat Fontane seinen Roman in präziser Analogie zu Goethes Eheroman aufgebaut. Den zweimal 18 Kapiteln der Wahlverwandtschaften entsprechen 36 Kapitel bei Effi Briest, wobei das 18. Kapitel dort eine Art Wendepunkt darstellt – der Roman benennt dies ausdrücklich und kaum verklausuliert: »Der ›Schritt vom Wege‹ kam wirklich zu stande« (169). Zudem unterliegt Effi Briest einer noch weitergehenden Gliederung im Dreierschritt der Kapitel; so kann man den Roman als vier Teile à neun Kapitel oder als sechs mal sechs Kapitel lesen. Wie sehr der Ehebruchroman Effi Briest in vielfachen Motiv- und Strukturbezügen auf dem noch berühmteren Roman Emma Bovary von Gustave Flaubert aufruht, ist längst und hinreichend gezeigt worden (Glaser 1980). Literatur Aust, Hugo: Fontanes Lektürewerk – eine einflußgeschichtliche Skizze. In: Roland Berbig (Hg.): Theodorus victor. Theodor Fontane, der Schriftsteller des 19. und 20. Jahrhunderts. Eine Sammlung von Beiträgen. Frankfurt a. M. u. a. 1999, 31–50. Glaser, Horst Albert: Theodor Fontane: ›Effi Briest‹ (1894). Im Hinblick auf Emma Bovary und andere. In: Horst Denkler (Hg.): Romane und Erzählungen des Bürgerlichen Realismus. Neue Interpretationen. Stuttgart 1980, 362–377. Grawe, Christian: ›Effi Briest‹: Crampas und sein Lieblingsdichter Heine. In: Ders.: »Der Zauber steckt immer im Detail«. Studien zu Theodor Fontane und seinem Werk 1976–2002. Dunedin/Neuseeland 2002, 363–384. Hess, Günter: Vom Flug der Worte und Bilder. Büchmanns ›Citatenschatz‹ als Medium deutscher Bildungs- und Ideologiegeschichte im 19. und 20. Jahrhundert. In: Ders.: Panorama und Denkmal. Studien zum Bildgedächtnis des 19. Jahrhunderts. Würzburg 2011, 381–426. Neumann, Gerhard: Theodor Fontane. Romankunst als Gespräch. Freiburg/Berlin/Wien 2011. Pütz, Peter: Wenn Effi läse, was Crampas empfiehlt... Offene und versteckte Zitate im Roman. In: Heinz Ludwig Arnold

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IV Themen, Motive und Symbole

(Hg.): Theodor Fontane (Sonderbd. Text + Kritik). München 1989, 174–184. Roth, Denise: Das literarische Werk erklärt sich selbst. Theodor Fontanes ›Effi Briest‹ und Gabriele Reuters ›Aus guter Familie‹ poetologisch entschlüsselt. Berlin 2012. Wagner, Wolf-Rüdiger: Effi Briest und ihr Wunsch nach

einem japanischen Bettschirm. Ein Blick auf die Medienund Kommunikationskultur in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts. München 2016 (bes. 120–138: Effi und die Literatur).

Rolf Selbmann

V Theoretische Zugänge

34 Literatur und Theorie Was ist Literatur? Effi Briest gehört zu den bekanntesten Romanen der deutschsprachigen Literatur (s. Kap. 3, 15, 19). Literatur im allgemeinen Sinn meint allerdings zunächst einmal alles Geschriebene, also auch Kochbücher, Gebrauchsanweisungen, Mails etc. Es gibt einen engeren Literaturbegriff, der sich kulturell entwickelt und insbesondere in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts seine bis heute weitgehend gültige Ausprägung erhalten hat. Ihn legt die Literaturwissenschaft zugrunde, die sich vor allem mit fiktionaler Literatur beschäftigt, also mit Belletristik, und auch dies in einer engen Auswahl. Angesichts der konstant hohen Zahl von neuen Titeln – von den ca. 80.000 Neuerscheinungen in deutscher Sprache gehören, je nach Rechnung und nach Jahr, mehrere zehntausend Titel zur Belletristik – ist eine Auswahl von Texten, über die sich ein gemeinsames Gespräch unter Literaturkundigen entspannen kann, zu einer Notwendigkeit geworden. Die literarische Wertung nach historisch gewachsenen, wenn auch immer wieder diskutierten und angepassten Kriterien hat eine Kanonisierung von Titeln zur Folge, die als grundlegend für die deutschsprachige Literatur gesehen werden – dies können auch internationale Titel in Übersetzung sein, man denke etwa an die Dramen William Shakespeares. Angesichts der Entwicklung der Mediennutzung hat sich die Frage nach dem, was wir lesen sollen, weiter verschärft (Neuhaus/Schaffers 2016). Studierende scheinen immer weniger von den Texten zu kennen, die früher für ein bildungsbürgerliches Publikum als Allgemeinwissen vorausgesetzt wurden, auch wenn die tatsächlich gelesene Literatur immer geringer gewesen sein dürfte als jene, die in bildungsbürgerlichen Haushalten im Regal stand (Neuhaus 2009, 38). Die Einführung des Zentralabiturs mit festgelegten Lektüren, aber auch die stärkere Normierung des Studiums im Zuge des Bologna-Prozesses dürften mit dazu geführt haben, dass es wieder eher bzw. dann auch nur einige wenige »Klassiker« sind (ebd., 170), die als allgemein bekannt vorausgesetzt werden können. Effi Briest gehört zweifellos dazu. So wirbt eines der Online-Portale, die um die Gunst der Lehrer*innen buh-

len und durchaus auch ökonomische Interessen verfolgen, mit dem Satz: »Der Roman ›Effi Briest‹ ist ein zentraler Gegenstandsbereich der Oberstufe im Fach Deutsch. Sie kommen also kaum an diesem Stoff vorbei!« (Schul- und Studienportal 2018). Solche Seiten und auch Schülerhilfen sind aus literaturwissenschaftlicher Sicht allerdings nicht zielführend, weil sie dazu tendieren, rezeptartige Vorschläge zu machen und die Bedeutungsdimensionen von komplexen Texten zu arretieren. Fragen nach literarischer Wertung und Kanonbildung sind in der Literaturwissenschaft aber erst seit den 1950er Jahren virulent geworden. Der Romanist Hans Robert Jauß hat in seinem wirkmächtigen Aufsatz Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft festgestellt, dass der bisherige Kanon der Literatur(-geschichte), verstanden als chronologische Folge von Autorennamen und Werken, keine Gültigkeit beanspruchen kann: »Denn Qualität und Rang eines literarischen Werks ergeben sich weder aus seinen biographischen oder historischen Entstehungsbedingungen noch allein aus seiner Stelle im Folgeverhältnis der Gattungsentwicklung, sondern aus den schwer faßbaren Kriterien von Wirkung, Rezeption und Nachruhm« (Jauß 1970, 147). Das »Kunstwerk« wird dabei stets »gegen den Hintergrund anderer Kunstwerke wahrgenommen«, deshalb gilt »Innovation als entscheidendes Merkmal« für die Qualität eines Texts (ebd., 190). Das Neuartige des Texts ist dabei untrennbar mit seiner »Vermittlung« verbunden (ebd., 191): »Das Neue ist also nicht nur eine ästhetische Kategorie. [...] Das Neue wird auch zur historischen Kategorie, wenn die diachronische Analyse der Literatur zu der Frage weitergetrieben wird, welche historischen Momente es eigentlich sind, die das Neue einer literarischen Erscheinung erst zum Neuen machen [...]« (ebd., 193). Für die Differenz zwischen dem Bekannten und dem Neuen aus Sicht der Leser*innen hat Jauß den Begriff des »Erwartungshorizonts« geprägt; seine weiter ausgearbeitete und veröffentlichte Konstanzer Antrittsvorlesung Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft gehört zu den einflussreichsten Texten der Literaturtheorie (ebd., 200). Die Bewertung eines Texts wird gesteuert von den subjektiven oder kollektiven Erwartungen, inwiefern der Text

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2019 S. Neuhaus (Hg.), Effi Briest-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04874-5_34

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V Theoretische Zugänge

»den begrenzten Spielraum des gesellschaftlichen Verhaltens auf neue Wünsche, Ansprüche und Ziele erweitert, und damit Wege zukünftiger Erfahrung eröffnet« (ebd., 202). Dies gilt aber wohl eher für den ›professionellen Leser‹ (Neuhaus 2009, 15). Jurij M. Lotman geht in Die Struktur literarischer Texte von durchschnittlichen Leser*innen aus, die Innovation gar nicht so sehr schätzen: »Der Leser ist daran interessiert, die notwendige Information mit dem geringsten Aufwand an Mühe zu erlangen (der Genuß an der Verlängerung der Bemühung ist der typische Autor-Standpunkt). Wenn daher der Autor bestrebt ist, die Anzahl der Kodesysteme und die Kompliziertheit ihrer Struktur zu erhöhen, so ist der Leser geneigt, sie auf das, wie ihm scheint, ausreichende Minimum zu reduzieren« (Lotman 1993, 418–419).

Die geringere oder größere »Kompliziertheit« der Texte entscheidet, ob sie zur »Massenkultur« gehören (ebd., 419). Der größere Teil der Literatur gilt unter Experten als trivial: »Deutschland besaß nicht nur tausend ›Dichter‹, sondern mindestens 100.000 Männer und Frauen der Feder. Mindestens 99 % dieser Schriftsteller fallen für die Literaturgeschichtsschreibung aus« (Schenda 1977, 35). Gerade die Trivialliteratur hat dazu gedient, »nationale Meinungen, Vorurteile oder Aversionen in bezug auf andere Objekte« zu schaffen oder zu festigen (ebd., 493). Die mit Handlungsspannung erzeugte »Angst« wird »mit Lust genossen [...], weil man gewiß sein darf, die Gefahr durchzustehen und die sichere Geborgenheit bald wieder zu erreichen« (Nusser 1991, 119). Für »schnelle Orientierung« sorge das »Mittel der bipolaren Anordnung von Figuren« etwa nach dem Gut-BöseSchema. Die »Anpassung an den Erwarungshorizont des Lesers« (ebd., 145) kann als »Regression ins Unkomplizierte« gesehen werden (ebd., 136). In der Fontane-Forschung hat es sich daher eingebürgert, zwischen Effi Briest und Friedrich Spielhagens auf dieselben realen Begebenheiten zurückgehendem Roman Zum Zeitvertreib (1897) qualitativ zu unterscheiden und den letztgenannten Text als trivial einzustufen (s. Kap. 15, 33). Ähnlich wird heute differenziert zwischen Theodor Fontane als Autor kanonisierter ›Höhenkamm‹-Werke und dem epigonalen, aber 1910 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichneten Paul Heyse als Autor zumindest trivialitätsnaher Texte. Die zu solchen Bewertungen führenden Prozesse sind komplex und wären eigens zu untersuchen. Deutungsvielfalt wird als konstitutiv für ›ernst-

zunehmende‹ Literatur angesehen. Mit Roland Barthes kann jede Interpretation als eine Möglichkeit neben anderen gelten. Jede Interpretation verwendet eine eigene Sprache und ›verdoppelt‹ als Text über Literatur die Sprache des literarischen Texts. Diesen auf eine Bedeutung festzulegen ist für Barthes dem Eingreifen einer »Polizei« vergleichbar: »Jeder Versuch, aus dem Material der Sprache literarischer Werke eine zweite Sprache zu schaffen, eröffnet allerdings einen Weg voller unkontrollierbarer Relais, das unendliche Spiel der Spiegel, und diese Aussicht ist verdächtig« (Barthes 1967, 23). Der literarische Text provoziert Interpretationen, denn »die Regeln der Lektüre sind nicht die der Buchstäblichkeit, sondern die der Anspielung« (ebd., 64). Aufgabe der »Wissenschaft« ist es, »die Variationen der in den Werken angelegten und gewissermaßen anlegbaren Bedeutungen« in ihrer Bandbreite darzustellen (ebd., 68). Barthes spricht sich daher für eine Untersuchung des Prozesses der »Bedeutungszuschreibung« aus (ebd., 67). Der Interpret eines literarischen Texts kann nur »eine bestimmte Bedeutung ›zeugen‹, indem er sie von einer Form, die das Werk ist, ableitet« (ebd., 75). Und weiter: »Der Kritiker [Interpret] hat zu berücksichtigen, daß im literarischen Werk alles bedeutungsvoll ist« (ebd., 77). Effi Briest bestätigt diesen Befund bereits auf den ersten Seiten auf eindrucksvolle Weise – die Schilderung des Gartens ist nicht nur die Schilderung eines Gartens, sie ist in allen Einzelheiten symbolisch und deutet auf die weitere Handlung, auf die Charakterisierungen und Schicksale der Figuren voraus (Neuhaus 2017, 110–114). Kunst ist, so hat Niklas Luhmann festgestellt, nicht Information, sondern Mitteilung. Schon die »Formen« werden »als Mitteilung verstanden, ohne Sprache, ohne Argumentation«. Und weiter: »Anstelle von Worten und grammatischen Regeln werden Kunstwerke verwendet, um Informationen auf eine Weise mitzuteilen, die verstanden werden kann« (Luhmann 1997, 39). Kunst sagt etwas anderes als Alltagssprache, sie zeichnet sich durch »einen zweckentfremdeten Gebrauch von Wahrnehmungen« aus (ebd., 41) und stellt neue Bedeutungskontexte her: »Die ›Aussage‹ eines Gedichts läßt sich nicht paraphrasieren, nicht in der Form eines Satzes zusammenfassen, der dann wahr oder falsch sein kann. Der Sinn wird über Konnotationen, nicht über Denotationen vermittelt, über [...] die ornamentale Struktur der sich wechselseitig einschränkenden Verweisungen, die in der Form von Worten auftreten, aber nicht über den Satzsinn [...]« (ebd., 45–46).

34 Literatur und Theorie

Ein guter Text »[...] bietet die Chance, auch bei wiederholtem Durchgang immer wieder etwas Neues zu entdecken, was dann um so überraschender kommt« (ebd., 85). Auch Luhmann geht davon aus, dass das entscheidende Kriterium zur Beurteilung »Neuheit« ist, als »Abweichung« zu dem, was vorher da war (ebd., 327). So lässt sich auch für Effi Briest konstatieren, dass die gezeigten Probleme, etwa der Ehebruch (s. Kap. 24) oder das Duell, schon in früheren Texten eine Rolle spielten (s. Kap. 3, 11, 12), allerdings hier – in der konkreten Verbindung der Themen und Motive und in einer besonderen, stark symbolhaften Sprache – in einem neuen Licht erscheinen. Ein Blick in die Forschung zeigt, dass es unterschiedliche Deutungen gibt, etwa die Frage der Verteilung von Schuld zwischen Effi und Geert von Innstetten betreffend (s. Kap. 14). Auch kann jede neue Lektüre zu neuen oder anderen Befunden führen (s. Kap. 41). Die auf zusätzliche Bedeutung zielende Fragerichtung beginnt schon beim Titel: Obwohl die Handlung kurz vor Effis Verlobung einsetzt und ihre Ehe im Mittelpunkt steht, heißt der Roman nicht Effi von Innstetten, sondern Effi Briest. Soll damit angedeutet werden, dass nicht erst die Affäre, sondern bereits die Ehe ein ›Schritt vom Wege‹ war?

Wozu dient und was ist Literaturtheorie? Literatur ohne Theorie zu interpretieren ist zwar möglich, führt aber nur zur Äußerung von Gefühlen und Gedanken, die mit dem Text selbst eher wenig zu tun haben. Theorie gilt als »[...] Etikett für all jene Schriften, denen das gelingt, das Denken auf anderen, offenbar auch wesensfremden Feldern herauszufordern und in neue Bahnen zu lenken« (Culler 2002, 12). Insofern lässt sich ergänzen: »Theorie ist ein ganzes Bündel von (zumeist ausländischen) Namen« (ebd., 10). Auf neue Bahnen kommt das Denken nur, weil das, was als bekannt und gültig angesehen wird, »hinterfragt« wird (ebd., 13). Theorie ist daher ein »Versuch zu zeigen, dass das, was wir als unmittelbar einsichtig und vernünftig akzeptieren, nichts anderes ist als ein historisches Konstrukt« (ebd., 14). Mit Michel Foucault lässt sich ergänzen, »daß eben jener Mut zum Wissen darin besteht, die Grenzen der Erkenntnis zu erkennen« (Foucault 1992, 18) und damit auch den Konstruktionscharakter von Wissen wie von Wahrnehmung überhaupt. Eine zentrale Leistung ›guter‹ Literatur ist es, genau darauf aufmerksam zu machen. Literatur und Theorie

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treffen sich in dem Wissen über die Relativität allen Wissens. Da Literatur im referierten Verständnis immer fiktionale Literatur ist, kann sie zwar auf Wissen in der ›Realität‹ referieren. Doch wird dieses Wissen, indem es in einen fiktiven Kontext gestellt wird, selbst fiktiv und verweigert so jeden ontologischen Status. Bismarck in Effi Briest ist nicht der ›reale‹ Fürst, sondern eine Figur. Aus der Sicht der Theorie ist allerdings zu ergänzen (deshalb die einfachen Anführungszeichen), dass auch der Bismarck, der im 19. Jahrhundert gelebt hat und maßgeblich an der Gründung des Zweiten Deutschen Kaiserreichs beteiligt war, nur eine Konstruktion von Biographen und Historikern ist, die bestmöglich versuchen, sich einer historischen Realität anzunähern – einer Realität, weil es möglich ist, Bismarck unter ganz vielen verschiedenen Blickwinkeln näher zu betrachten. Schon der von Fontane gelesene und verehrte Friederich Schiller, seines Zeichens Schriftsteller und Historiker, wusste um die Relativität solchen Wissens. Im Prolog zum Wallenstein heißt es über die Titelfigur, dies könnte man auch auf Bismarck beziehen: »Von der Parteien Gunst und Haß verwirrt, / Schwankt sein Charakterbild in der Geschichte« (Schiller 1981, 273). In der Literaturwissenschaft hat sich im Laufe der Jahrzehnte ein immer wieder erweiterter und in der Gunst der Interpreten wechselnder Kanon von Theorien gebildet, die aus unterschiedlichen Perspektiven unterschiedliche Fragen an literarische Texte stellen und, wie zu erwarten, zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen.

Literaturtheoretische Zugänge zu Effi Briest Eine zusammenhängende, etwa narrativ organisierte Interpretationsgeschichte von Fontanes berühmtestem Roman kann an dieser Stelle nicht geschrieben werden, auch wenn ein solches Unterfangen mit Roland Barthes als Vermessung des Deutungsspielraums gesehen werden könnte. Man kann aber durchaus sagen, dass der vorliegende Band, gegliedert nach Themen und Aspekten und im Rahmen seiner Möglichkeiten, eine kaleidoskopartige Vermessung vornehmen wird; er wird entsprechend durch eine Bibliographie abgerundet. Auch eine Interpretationsgeschichte nach Theorien lässt sich nicht schreiben, allerdings aus einem anderen Grund: Interpretationen pflegen zumeist nicht Theorien in der Weise auszuwählen, wie sie hier eingangs skizziert worden sind. Dass solche theoriegeleitete In-

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V Theoretische Zugänge

terpretationen für den vorliegenden Band in Auswahl vorgenommen werden, ist der gewählten Systematik geschuldet und immer noch die Ausnahme von der Regel, auch wenn sich dieses Vorgehen, zumindest in Einführungen oder Handbüchern, immer häufiger finden lässt. Interpretationen bedienen sich in der Regel eines traditionellen hermeneutisch-werkimmanenten oder hermeneutisch-sozialgeschichtlichen (also entweder auf das Verstehen der internen Organisation des Textes, also vor allem der Rhetorik und Symbolik, oder auf das Verstehen der sozialgeschichtlichen Zusammenhänge gerichteten) Konzepts, das in den allermeisten Fällen nicht reflektiert, sondern aus einer erlernten Praxis heraus angewendet wird. Einer der ersten und wenigen Aufsätze, dazu noch ein gemessen an seiner Wirkung überraschend kurzer, stammt von Jürgen Wertheimer (Effis Zittern. Ein Affektsignal und seine Bedeutung) und wird nachfolgend mit wenigen redaktionellen Änderungen nachgedruckt (s. Kap. 35), und dies nicht, weil die Hinweise auf Effis ›Krankheit‹ korrekt gedeutet würden, soweit man überhaupt von einer korrekten Deutung sprechen kann (zu einer Kritik und anderen Deutung vgl. Marquardt 2010, 110 und 113). Wertheimers bereits 1996 erschienener »Labor«-Beitrag in der Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik ist insofern paradigmatisch zu nennen, als er etwas vorwegnimmt, das man als Emotionsforschung bezeichnen wird (s. Kap. 45). Emotionen von Figuren wird zwei Jahre später Thomas Anz in seiner erfolgreichen Studie Literatur und Lust. Glück und Unglück beim Lesen untersuchen, 2003 folgt die einflussreiche Arbeit von Simone Winko über Kodierte Gefühle, 2012 der von Sandra Poppe herausgegebene Sammelband Emotionen in Literatur und Film. Wertheimer entfaltet am Beispiel eines bestimmten Textsignals, wenn auch auf dem knappen Raum nur umrisshaft, eine theoriegeleitete Interpretation des Romans und kommt zu einem Ergebnis, dem auch in dem vorliegenden Handbuch Rechnung getragen werden soll: »Fontane dekliniert hier eine Grammatik der Gefühle, deren Rigorismus nur ex negativo zu erschließen ist, deren Präzision und Unerbittlichkeit nur verdeckt zu erkennen sind. Die perfide Unauffälligkeit der mörderischen Strategie wird erst im Vergleich mit anderen Strategien der Affektdeklination ersichtlich, wie beispielsweise in den Ehebruchsgeschichten der Madame Bovary, der Anna Karenina« (Wertheimer 1996, 139 und im Handbuch 224).

Hier wird weniger auf die intertextuelle Verweisstruktur als vielmehr auf ein allgemeines Verfahren der Codierung hingewiesen, wie es in komplexer Erzählliteratur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts weit verbreitet gewesen ist (s. Kap. 2, 3). Um eine solche »Grammatik der Gefühle« und ihre ›unauffällige‹ Codierung aber überhaupt erkennen zu können, sind einige theoretische Grundannahmen und ist ein umfangreiches theoretisches Vorwissen notwendig, wie es mit den Hinweisen auf Jauß, Barthes und Luhmann nur angedeutet werden konnte. Theoriegeleitet interpretieren heißt also stets, auch andere Theorien und Konzepte zu kennen. In der Praxis bedeutet es sogar, aus der Kenntnis von solchen Theorien und Konzepten einen Theorie-Mix zusammenzustellen, der dazu dient, die leitende Forschungsfrage, das Erkenntnisinteresse, möglichst genau und zielführend beantworten zu können. Dies ist wohl auch der Grund, weshalb es wenige Interpretationen gibt, die sich einem theoretischen Zugang verschreiben. Dazu kommt eine Schwierigkeit, die Culler bereits angedeutet hat: Theorien sind keine homogenen Denkschablonen, eher im Gegenteil. Die Diskurstheorie beispielsweise hat ganz unterschiedliche Vertreter und Richtungen; so unterscheiden sich die Konzepte von Jürgen Habermas und Michel Foucault gravierend (Nennen 2000, X). Grundlegend für die insbesondere seit den 1960er Jahren sich immer weiter ausdifferenzierenden Ansätze dürften, in einem allgemeinen Sinn verstanden, das hermeneutische Grundstreben des Menschen sein, seinem Leben (und damit allem, was mit ihm zu tun hat) einen Sinn zu geben, und die konstruktivistische Erkenntnis (nach Kant), dass nichts einfach so ist, wie es ist, sondern dass es aus bestimmten (und nicht immer oder nur schwer zu ermittelnden Gründen) so geworden ist. Den Poststrukturalismus (s. Kap. 41) gegen die Hermeneutik (s. Kap. 37) auszuspielen macht daher – im Wortsinn – wenig Sinn. Solche Bewegungen der Entgegensetzung und eines ›Sich-Absetzens von‹ sind allerdings Teil des Theoriespiels, gilt es doch, die eigene theoretische Position gegenüber anderen mindestens zu behaupten und idealerweise noch überzeugender zu gestalten. Mit Begriffen wie Hermeneutik oder Poststrukturalismus wird aber nicht nur ein allgemeiner Referenzrahmen aufgespannt, auch sind mit dem Begriff unterschiedliche ›Sub‹-Konzepte verbunden. Wer allerdings glaubt, dass vielleicht die Auswahl eher auf den literarischen Text bezogener Konzepte einen Königsweg darstellen könnte, der irrt. Die eigene kognitive Karte der Theorie muss viele Orte und Wege ver-

34 Literatur und Theorie

zeichnen. Obwohl es ›die‹ Erzähltheorie nicht gibt, so kann die Beschäftigung mit Konzepten des Erzählens – Erzähler, Figuren, Handlungsaufbau etc. – als grundlegend für jede Interpretation gesehen werden (s. Kap. 36). Die Auswahl der theoretischen Zugänge richtet sich nach dem vermuteten, angesichts der nicht zu leugnenden Subjektivität jeder wissenschaftlichen Position diskutierbaren, Ertrag für die Interpretation des gewählten Romans. Wie sich zeigen wird, können die nachfolgend vorstellten Konzepte aus ihren spezifischen Blickwinkeln einen interpretatorischen Mehrwert erzielen. Die bisherigen Kapitel haben bereits ein interpretatorisches Raster über den Roman gelegt und dabei freilich auch immer die Offenheit und Anschlussfähigkeit für weitere Forschung betont. Diese beschreibend-interpretierenden Versuche sind state of the art, insofern sie im Laufe der Entwicklung der Literaturwissenschaft breit akzeptierte Erkenntnisse – etwa zu rhetorischen Strategien und zur Symbolik des Textes, zur Unterscheidung von Autor, Erzähler und Figur, zur Codiertheit oder Zeichenhaftigkeit der fiktionalen Welt mit ihren Realitätsreferenzen – ganz selbstverständlich voraussetzen können. Die nun folgenden Kapitel bauen auf diesem soliden Fundament auf und betonen ausgewählte Themen aus einem jeweils besonderen Blickwinkel, ohne damit andere Perspektiven auf den Text ausschließen zu wollen. Alle Perspektiven zusammen demonstrieren den auch hier bei weitem nicht ausgeschöpften Deutungsreichtum dieses Romans. Einerseits ist es erfreulich festzustellen, wie breit in der sogenannten Community der Konsens geworden ist, dass man Literatur nicht voraussetzungslos lesen sollte, wenn man ihr Deutungspotenzial wahrnehmen möchte, und wie viel dafür notwendiges theoretisches Vorwissen heute selbstverständlich geworden ist. Andererseits wird mit einem solchen Handbuch vielleicht wieder mehr ein spezialisiertes Publikum angesprochen, weil die Schere zwischen professionellen und nicht-professionellen Leser*innen (Neuhaus 2009, 7–8) immer weiter auseinandergeht, also zwischen beruflichen Vielleser*innen wie Literaturkriker*innen und -wissenschaftler*innen auf der einen Seite und dem nicht beruflich mit Literatur beschäftigten Lesepublikum auf der anderen Seite. Das Zeitfenster für den Konsum von Literatur wird durch die Entwicklung der Neuen Medien und ihrer Technologien (Smartphone, Tablet) immer kleiner. Das Internet lässt es zu, dass die Grenzen zwischen professionellen und nicht-professionellen Leser*innen immer mehr diffundieren, nicht nur, weil mit der pro-

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fessionellen Beschäftigung mit Literatur ohne institutionelle Verankerung heute kein Blumentopf mehr zu verdienen ist. Ein Beispiel für eine solche Grenzverwischung ist die am 5. Februar 2019 erschienene und damit erste auf Amazon veröffentlichte Kundenbewertung des Ende 2018 erschienenen BuddenbrooksHandbuchs (Mattern/Neuhaus 2018), in der es heißt: »Ich betone immer, dass ich nur subjektive Rezensionen schreibe, aus Sicht eines limitierten Lesers, ganz ohne Ironie. Da gibt es Bücher, die verdienen 5 Sterne, aber sie gefallen mir nicht, dann gibt es halt Abzug. Als erstes ist mir aufgefallen, dass die Herausgeber an der Uni Landau arbeiten (ich wohne um die Ecke), und ganz viele Autoren von dort eingespannt haben, das freut mich sehr. Für mich zum Leidwesen wurde das Werk in einem hochwissenschaftlichen Duktus zusammengestellt, ich bin überfordert und halte die Lektüre nicht durch. Schon alleine die Überschriften kündigen das Niveau an: ›Materialität als Diskurs‹, ›Elemente einer Materialitätsarchäologie‹, ›Zum Medialitätsregime‹. Im Text geht es entsprechend hardcore-mäßig zur Sache. Ich möchte keine Literaturwissenschaft studieren. Den Roman kann ich trotzdem genießen. Also subjektiv die 3 Sterne« (Openuser 2019).

Erstens möchte ein Roman andere Lesebedürfnisse bedienen als ein Handbuch. Zweitens ist tatsächlich nur einer der Beiträger*innen am Campus Landau der Universität Koblenz-Landau tätig, mehrere arbeiten am Campus Koblenz und der größte Teil stammt von anderen Universitäten, auch aus Irland, Österreich und der Schweiz. Drittens zitiert der »Top 1000 Rezensent« (so wird er von Amazon über der Kundenbewertung vorgestellt) Zwischenüberschriften eines relativ kurzen Beitrags. Die meisten Überschriften und Zwischenüberschriften des Handbuchs dürften allgemein verständlich sein. Nun zeigen die Beiträge in diesem Handbuch aber auch, dass die sogenannte etablierte Forschung nicht frei ist von Fehleinschätzungen, man denke etwa an Klaus Müller-Salgets Hinweis auf Karla Bindokats durch den Text ungedeckte Interpretation des Chinesen-Motivs (Bindokat 1984; s. Kap. 22). Literarische Texte eröffnen Deutungsspielräume, sie schließen aber auch andere aus. Die Interpretation von Literatur ist voraussetzungsreich, so wie es jedes andere ›Gewerbe‹ ist. Niemand wird eine große Expertise im Kochen erlangen, wenn sie oder er sich nicht vorher ein großes Wissen über Zutaten und ihre Verwendung angeeignet hat. Mit der Literatur ist es wie mit dem Es-

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V Theoretische Zugänge

sen, wer sich näher damit beschäftigt, steigt in einen Expertendiskurs ein. Handbücher sind dazu da, Türen in einen solchen Diskurs zu öffnen. Da geht es nicht ohne Theorie, aber mit einer angemessenen Klärung ihrer Voraussetzungen. Literatur Anz, Thomas: Literatur und Lust. Glück und Unglück beim Lesen. München 1998. Barthes, Roland: Kritik und Wahrheit. Frankfurt a. M. 1967. Berger, Peter L./Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Mit einer Einleitung zur deutschen Ausgabe von Helmuth Plessner. Übers. von Monika Plessner. Frankfurt a. M. 161999. Bindokat, Karla: ›Effi Briest‹. Erzählstoff und Erzählinhalt. Frankfurt a. M. 1984. Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt a. M. 2001. Culler, Jonathan: Literaturtheorie. Eine kurze Einführung. Aus dem Engl. von Andreas Mahler. Stuttgart 2002. Eco, Umberto: Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte. Frankfurt a. M. 1977. Foerster, Heinz von: Das Konstruieren einer Wirklichkeit. In: Paul Watzlawick (Hg.): Die erfundene Wirklichkeit. Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben? Beiträge zum Konstruktivismus. München/Zürich 182006, 39–60. Foucault, Michel: Was ist Kritik? Aus dem Franz. von Walter Seitter. Berlin 1992. Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Aus dem Franz. von Walter Seitter. Frankfurt a. M. 1994. Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses. Aus dem Franz. von Walter Seitter. Mit einem Essay von Ralf Konersmann. Frankfurt a. M. 72000. Franck, Georg: Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf. Ungekürzte Ausgabe. München 2007. Glasersfeld, Ernst von: Konstruktion der Wirklichkeit und des Begriffs der Objektivität. In: Heinz von Foerster u. a.: Einführung in den Konstruktivismus. München/Zürich 41998, 9–39. Grimm, Gunter E. (Hg.): Literatur und Leser. Theorien und Modelle zur Rezeption literarischer Werke. Stuttgart 1975. Iser, Wolfgang: Der implizite Leser. Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett. München 1972. Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. München 41994. Jauß, Hans Robert: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft. In: Ders.: Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt a. M. 1970, 144–207.

Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte. München 1993. Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1997. Lyotard, Jean-Franςois: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Hg. von Peter Engelmann. Wien 52005. Marquardt, Franka: Effi Krampfig? Paolo Mantegazzas ›Das nervöse Jahrhundert‹ und Theodor Fontanes ›Effi Briest‹. In: FBl 89 (2010), 109–118. Mattern, Nicole/Stefan Neuhaus (Hg.): BuddenbrooksHandbuch. Stuttgart 2018. Nennen, Heinz-Ulrich (Hg.): Diskurs. Begriff und Realisierung. Würzburg 2000. Neuhaus, Stefan: Literaturvermittlung. Wien 2009. Neuhaus, Stefan: Grundriss der Literaturwissenschaft. Tübingen/Basel 52017. Neuhaus, Stefan/Uta Schaffers (Hg.): Was wir lesen sollen. Kanon und literarische Wertung am Beginn des 21. Jahrhunderts. Würzburg 2016. Nusser, Peter: Trivialliteratur. Stuttgart 1991. Openuser: Den Roman zu lesen ist amüsanter. In: https:// www.amazon.de/Buddenbrooks-Handbuch-NicoleMattern/product-reviews/3476046494/ref=cm_cr_dp_d_ show_all_btm?ie=UTF8&reviewerType=all_reviews (10.3.2019). Poppe, Sandra (Hg.): Emotionen in Literatur und Film. Würzburg 2012. Schenda, Rudolf: Die Lesestoffe der kleinen Leute. Studien zur populären Literatur im 19. und 20. Jahrhundert. München 1976. Schenda, Rudolf: Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770–1910. München 1977. Schiller, Friedrich: Dramen II. In: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. 2. Darmstadt 1981. Schul- und Studienportal. Effi Briest, Theodor Fontane. Landesabitur Deutsch, aktuelles Prüfungsmaterial. In: http:// www.schule-studium.de/Deutsch/Landesabitur-Deutsch/ Effi-Briest-Landesabitur-Inhaltlicher-Schwerpunkt.html (10.12.2018). Warning, Rainer (Hg.): Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis. München 21979. Winko Simone: Kodierte Gefühle: Zu einer Poetik der Emotionen in lyrischen und poetologischen Texten um 1900. Berlin 2003. Wertheimer, Jürgen: Effis Zittern. Ein Affektsignal und seine Bedeutung. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 102 (1996), 134–140 (s. Kap. 35). Wittmann, Reinhard: Geschichte des deutschen Buchhandels. München 1999.

Stefan Neuhaus

35 Theoriegeleitet Fontane interpretieren: »Effis Zittern: ein Affektsignal und seine Bedeutung« 221

35 Theoriegeleitet Fontane interpretieren: »Effis Zittern: ein Affektsignal und seine Bedeutung« In ihren Ungehaltene[n] Reden ungehaltener Frauen lässt Christine Brückner auch Effi Briest verspätet zur Sprache kommen; zur Sprache über sich selbst (s. Kap. 18). Brückners Effi erinnert sich dabei an ein – seinerzeit kaum beachtetes – kleines Symptom, das im nachhinein als Warnsignal zu interpretieren gewesen wäre: »Als ich Innstetten zum ersten Mal sah, überfiel mich ein nervöses Zittern. Als ob mein Körper sich hatte wehren wollen. Aber ich kannte die Äußerungen meines Körpers nicht« (Brückner 1989, 75). Obwohl im Sprachusus gut nachempfunden, stoßen in Brückners Rede doch zwei Sprach- und Kultursysteme aufeinander, die eine nahezu 100-jährige Distanz trennt: Schließt hier an den neurologisch beschreibbaren Befund die generalisierte Selbstanalyse an, so wird bei Fontane genau an derselben Stelle die Perspektive der Introspektion abgebrochen, wird seiner Effi die Möglichkeit der Innenschau genommen: »Effi, als sie seiner ansichtig wurde, kam in ein nervöses Zittern; aber nicht lange, denn im selben Augenblicke fast, wo sich Innstetten unter freundlicher Verneigung ihr näherte, wurden an dem mittleren der weit offen stehenden [...] Fenster die rotblonden Köpfe der Zwillinge sichtbar, und Hertha, die Ausgelassenste, rief in den Saal hinein: ›Effi, komm‹« (Fontane 1974, 18).

Doch Effi wird zu spät kommen. Wenn sie, nur wenig später, mit den ›kichernden und lachenden‹ Freundinnen zusammentrifft, wird der fatale, in seinen Konsequenzen tödliche Ehebund bereits geschlossen sein. Was dann folgt, ist häufig als Rollen- und Normenkonflikt beschrieben worden. Danach ist es Fontane weniger um eine verklärende Sehweise eines tragischen Missverständnisses zu tun, als um die Demaskierung bürgerlicher Entfremdungserfahrung. Ich möchte im Folgenden diesen Vorgang der systematischen Destruktion des Individuums über das Verfahren der Affektverweigerung in groben Zügen rekonstruieren. Ein Lehrstück über kopierte und kupierte – beschnittene – Gefühle (s. Kap. 45). Zunächst ist es überraschend festzustellen, dass Effi sich – im Gegensatz zu ihrer gewiss nicht eben hypersensiblen Umwelt (Freundinnen, Mutter, Innstetten) und im Gegensatz auch zu ihrer eingangs geschilder-

ten Instinktreaktion – in den Stunden, Wochen und sogar Monaten nach ihrem Verlöbnis und vor der Heirat (Fontane ist hier chronologisch sehr genau: in der Zeit zwischen August und 3. Oktober) in einem harmonisch-apathischen Gesamtzustand wähnt: »Ganz gut« und allenfalls nur »ein bißchen genant« (ebd., 20–21), antwortet sie auf die neugierig angeregten Fragen der Zwillinge, ›wie es ihr eigentlich sei‹. Und unbekümmert, geschäftig und zufrieden (»Ach, wie wohl ich mich fühle«; Fontane 1974, 29) präsentiert sie sich inmitten der materiellen Vorbereitungen ihrer hierüber ein wenig irritierten Mutter. Die Suche nach ›aparten‹ Dingen – eine Effi Briestsche Leitvokabel – hält sie vollständig absorbiert: Auf die Frage nach Glück wünscht sie sich einen Pelz (ebd., 28), auf dem Herzen liegt ihr der einzige Wunsch nach einem ›japanischen Bettschirm‹ und einer ›roten Ampel für das Schlafzimmer‹ (ebd., 30). Und auf die mütterlich-interessierte Frage nach der emotionalen Substanz der anvisierten Ehe antwortet sie pragmatisch-sicher, mit: »Ich bin [...] für Zärtlichkeit und Liebe. Und wenn es Zärtlichkeit und Liebe nicht sein können [...], dann bin ich für Reichtum und ein vornehmes Haus, ein ganz vornehmes [...]« (ebd., 32). Es ist nicht nur Resultat jener hinreichend oft missverstandenen Fontaneschen Ironie, wenn er das anschließende fünfte Kapitel bereits mit einem retrospektiven Diskurs des Elternpaares nach der Abreise der effizient verehelichten Tochter einsetzen lässt – beträchtlich später, zu spät. Vielmehr dokumentiert der Erzähler damit, welch präzise funktionierenden Strategien sich hinter den unverbindlich scheinenden Causerien des Gesellschaftstones der Figuren verbergen (s. Kap. 36). Insbesondere ist auffällig, dass nun exakt jene Problematik ausdiskutiert wird, bei der man eben – im Dialog mit der Betroffenen – ausgeblendet hatte. Genauer: beinahe jene Problematik. Denn über vieles reden Briest und seine Frau, auch darüber, ob Effi Innstetten lieben würde, wie stark sie dies tue, und wie stark es richtig sei, nicht jedoch über ihre Angst. Mag sein, dass unter der wie selbstverständlich von Frau Briest en passant hingesagten Formel: »Jeder quält seine Frau« (ebd., 37), solche Erwägungen als eher nebensächlich erscheinen. Für Effi hingegen erweist sich das Phänomen der Angst als der zentrale Parameter, die eigentliche ideelle und affektische Konstante ihres Daseins: ›Gruselige‹ Eindrücke markieren ihren Einzug ins neue Haus in Kessin (s. Kap. 22), ein panikartig verlaufender Angst-Anfall begleitet die erste Nacht, die sie dort ohne ihren Mann verbringt. Auch jetzt freilich bestätigt sich symptoma-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2019 S. Neuhaus (Hg.), Effi Briest-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04874-5_35

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tisch jene Indifferenz der Umwelt, die bereits früher zu beobachten war. Auf Effis Bekenntnis: »Ich habe solche Angst«, antwortet die Dienerin Johanna mit einer beschwichtigend-relativierenden Phrase (»Ach, das gibt sich, gnäd’ge Frau; ebd., 74), und Effis größte Sorge wird es sein, die Spuren des Angst-Anfalls vor ihrem Mann zu verbergen, denn er »will immer, daß ich tapfer [...] bin, so wie er. Und das kann ich nicht« (ebd., 74). Die Maske eines ›lethargischen Schlafs‹ (ebd.) ist die Tarn-Antwort auf den selbstauferlegten Imperativ der Gefühlsabstinenz. Im anschließenden morgendlichen Gespräch mit Innstetten gelingt es Effi nicht, ihm die substantielle Qualität ihrer Angstempfindung zu vermitteln und die rationalistischen Verdächtigungen (Stimmungen, Spuk, Gespenster-Lust etc.) abzuwehren. Weder damit noch mit ästhetisch stilisierten Formen des Spiels mit Momenten und Motiven der Angst, des Grauens als dosierter Schocktherapie (man denke an die Figur des Chinesen; vgl. z. B. ebd., 45–46) ist ihr Zustand gleichzusetzen. Ihre ganz spezifische Angst entspricht dem nach Ingeborg Bachmann nicht disputierbaren Phänomen (vgl. Bachmann 1978, 406), für das weder eine Grammatik, um es zu beschreiben, noch Kategorien, um seine Ursachen zu bestimmen, zur Verfügung stehen. Eben hierin – im nahezu sprachlosen Ausgeliefertsein an den Affekt – unterscheidet sich Effi von den anderen Figuren (s. Kap. 14). Sowohl Trippelli wie auch Innstetten verfügen über eine reflektierte Metasprache in bezug auf die von ihnen inszenierte Gefühlssphäre. So dechiffriert Innstetten einen Dankbrief der Sängerin zum Erstaunen Effis als ›berechnete Komödie‹ und zeigt sich »entzückt [über] die Echtheit« (Fontane 1974, 96) der Fälschung. Ein ästhetisches Raffinement, dem sich die junge Frau noch nicht gewachsen zeigt. Wenn nun zudem diesselbe Instanz als moralische Autorität im Bewusstsein Effis fungiert, kommt es notwendig zu einer nicht auflösbaren Gegenläufigkeit der Denk- und Empfindungsbewegungen. Lebensweltlich gefordert sind offensichtliche Artefakte von Affekten, gleichsam Gefühls-Kopien. Effi hingegen betont von Beginn an, dass es ihr stets um lebendiges, spontanes, unmittelbares Empfinden zu tun sei. Um unter den gegebenen Umständen gesellschaftlich überleben zu können, bedarf es also der Entwicklung einer Tarnsprache der Gefühle. Unter dem Leitsatz des ›Innstetten darf nicht davon wissen‹, ›Innstetten darf es nicht sehen‹ etc. kaschiert Effi die Elemente des eigenen, authentischen Gefühlsinventars, um dafür – imitierend, kopierend – gesellschaftsadäquate Gefühlswerte anzunehmen. Der au-

thentische Teil der Identität wird zugunsten des sozietätskonformen Verhaltensschemas ausgetrieben, was eine Verödung der eigenen Persönlichkeit zur Konsequenz hat (folgerichtig steht das gesellschaftliche Leben Effis unter dem Motiv der ›Langeweile‹; vgl. hierzu etwa Kristeva 1992). All dies durchaus mit Billigung, ja als Forderung der Gesellschaft (s. Kap. 26). Auf dieser Basis kann das eigentliche Problem so lange vertagt werden, bis von außen ein – im Sinne Effis – destabilisierendes Element eintritt. Genau diese Lücke aber wird Crampas füllen, und so ist es kein Zufall, dass dieser leitmotivisch mit der Aura des – erfundenen – ›Gefährlichen‹, d. h. Gefahrbringenden, also Angstauslösenden in Verbindung gebracht wird und zugleich den Ordnungsmythos Innstettens auflöst (s. Kap. 31). Neben dem der Angst figuriert dabei als zweiter Affektparameter derjenige der Erziehung: Von ›erzieherischem Operieren‹ ist dabei ebenso die Rede wie von »Erziehungsmittel« und einem »Angstapparat aus Kalkül« (Fontane 1974, 133–134). Innstettens Welt der Gefühle aus zweiter Hand wird gleichermaßen zum Instrument der Repression wie der Selbst-Befriedigung. So ist es kein Zufall, dass Effi vor Innstettens Plan zurückschreckt, die gemeinsame Italienreise nun noch einmal – auf der Basis von Fotos, Prospekten etc. – ›durchzumachen‹, während ihr Mann von der Idee der Besichtigung der konservierten Erlebnisreste nachgerade enthusiasmiert erscheint. Für ihn gilt es, das – nur flüchtig – Erlebte in der Rekonstruktion bewusstseinsmäßig zu sichern und als ›Besitz‹ zugänglich zu machen. Die Gruppe, die er hierbei einzubeziehen plant, erweist, dass dies nicht als individuelle Marotte, sondern als schichtspezifisches Verhaltensmuster zu begreifen ist. Demgegenüber nutzt Effi auch hier die sich zunächst bietende Gelegenheit, sich der vereinnahmenden Kraft dieses Systems zu entziehen (s. Kap. 46), genauer: Ihre Affekte versuchen, sie den bürgerlichen Gefühlskoordinaten zu entziehen: »Effi war wie elektrisiert; [...] Sie war nicht für Aufgewärmtheiten; Frisches war es, wonach sie sich sehnte, Wechsel der Dinge« (ebd., 144). Ist im vorliegenden Fall das Übernehmen einer Rolle in einer Komödie gemeint (s. Kap. 36), so gilt diese Aussage analog für die Begegnung mit Crampas. Während der hierfür entscheidenden Schlittenfahrt – im Zentrum des Romans – werden jene Gefühlssignale, Affektmarken gesetzt, wird jene (der Gesellschaft suspekte) Verbindung von Schrecken und Zauber thematisiert, deren verbindender Körperausdruck wiederum das sparsam verwendete Mittel des symp-

35 Theoriegeleitet Fontane interpretieren: »Effis Zittern: ein Affektsignal und seine Bedeutung«

tomatischen Zitterns ist: »Effi schrak zusammen. [...] Ein Zittern überkam sie [...]. Sie fürchtete sich und war doch zugleich wie in einem Zauberbann und wollte auch nicht heraus. ›Effi‹, klang es jetzt leis an ihr Ohr, und sie hörte, daß seine Stimme zitterte« (ebd., 161–162). Im Dialog der Körpersignale – gleichgültig, ob sie authentisch oder gespielt sind – werden die entscheidenden Reaktionsweisen abgerufen (s. Kap. 45). Dabei ist es nicht unerheblich festzustellen, dass Fontane seine Protagonistin durchaus nicht als unbefangenes Naturwesen darstellt (s. Kap. 21), sondern sie stets in Reaktionsabhängigkeit, als eine Systemgebundene, im Kontext eines spezifischen Systems komplex Agierende zeigt: Dazu gehört ihr Wissen um ihre Gebundenheit an jenen Bereich des Verbotenen, der erst durch das Verbot tabuisiert und mithin für sie selbst reizvoll zu werden vermag. Erst im dialektischen Zwischenspiel von diktierter Gefühlsunterdrückung und individuellem Aufbegehren entwickelt sich allmählich ein differenziertes Inventar an Ausweichstrategien, deren Effi sich sehr bewusst zu bedienen weiß; zutreffend ist davon die Rede, dass sie sich mehr und mehr »in ein verstecktes Komödienspiel [hineinlebte]«, weil »das Geheimnisvolle [...] Macht über sie« (ebd., 169) bekommen habe. Im Grenzbereich zwischen fingierter Anpassung und gespielter Übertretung vollzieht sich eine allmähliche Verwandlung des ehedem intakten Affektsystems Effis. Als Virtuosin des Rollenspiels operiert Effi mit selbstinszenierten, selbstgeschaffenen Augenblicken der Gefährdung am Rande der existenziellen Vernichtung: Die Kreation authentischer Affekte auf der Basis inszenierter Situationen ist ihre Antwort auf die gesellschaftliche Forderung nach einer akzeptablen Gefühlskultur. Dabei geraten die auf künstlicher Basis erarbeiteten ›echten Gefühle‹ professionell überzeugender, als die unkoordinierten Emotionsüberfälle der früheren Phase. Mehrfach wird sie mit Befriedigung feststellen, dass sie ›gelernt‹ hat, selbst jenen für sie kennzeichnendsten Reflex des Zitterns im öffentlichen Raum zu kontrollieren. Anfangs kommt es noch zu Reaktionen wie der folgenden: »Effi sagte kein Wort, und nur ihre Augen wurden immer größer, um ihre Mundwinkel war ein nervöses Zucken, und ihr ganzer zarter Körper zitterte« (ebd., 182). Wenig später wird Effi sich bereits völlig in Kontrolle ihrer Reaktionen wähnen und bis zum Ende dieses Kapitels wird aus ihren »äußersten Anstrengungen, das Zittern ihrer Stimme zu bezwingen« das Gefühl entstehen, »aus einer selbstgeschaffenen Gefahr sich glücklich befreit zu haben [...]« (ebd., 183).

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Effis wachsende Kompetenz im Umgang mit der inszenierten Welt ihrer Affekte bestätigt sich eindrucksvoll im Verlauf der nachfolgenden Episode. Um die drei Wochen bis zur Abreise nach Berlin zu überbrücken, wählt sie gleichsam automatisiert und nicht ohne Anspruch auf Perfektion den Weg der Flucht in eine fingierte Krankheit, wobei auch hier die Termini der Bühne bemüht werden: »Es gab also nur ein Mittel: sie mußte wieder eine Komödie spielen, mußte krank werden. [...] und als ihr das feststand, stand ihr auch fest, wie die Rolle, bis in die kleinsten Einzelheiten hinein, gespielt werden müsse« (ebd., 197).

Mit den Begriffen der dramatischen Aufführung wird dabei ein mittelbar wirkender Diskurstypus umschrieben, der die Akzeptanz der kontrollierenden Gesellschaft gewährleistet und den Pakt der stillschweigend vereinbarten Lüge sichert (s. Kap. 42): Einer (respektierten) Komödie, der Ehe, mit einer anderen (respektierten) Komödie, dem Theater, zu begegnen – wie es wenig später umschrieben wird. Einzig dem Zufallsfund der halbvergessenen Crampas-Briefe, die Innstetten in Effis Abwesenheit entdeckt, ist es zuzuschreiben, dass der nahezu institutionalisierte und immer mehr perfektionierte Pakt zwischen Effi und den Repräsentanten der Gesellschaft aufgekündigt wird. Die Kündigung des Pakts, d. h. die Ächtung der Ehebrecherin, erfolgt zum einen durch die Partei Innstettens, zum anderen – und mit gleicher Konsequenz – durch die Partei der eigenen Eltern (s. Kap. 23). Der heftige Weinkrampf Effis während der Lektüre dieses Briefes ist nahezu der letzte Ausdruck von Gefühlen, der im Roman geschildert wird. Mit Ausnahme eines spontanen Wutanfalls beim Besuch ihrer entfremdeten und dressierten Tochter gleitet die ehedem emotional so sensible Figur in einen Zustand affektischer Lähmung; eine lethargisch-apathische Gefühlsleere begleitet ihr Weiterexistieren in den nachfolgenden Jahren. Im gleichen Maß, wie so über körperliche Veränderung nach außen ihr Leiden – als ›Siechtum‹ diagnostiziert – und ihre Persönlichkeit sich reduziert zeigen, erweist sich die Gesellschaft zu Konzessionen bereit: Der Besuch der Tochter, die Rückkehr ins Elternhaus, schließlich das Überlassen des Hundes Rollo als Ersatz-Gefährten sind in die Reihe dieser einfühlsamen Zugeständnisse zu rechnen, wobei Scham mit Respekt, Krankheit mit Anerkennung, Tod mit Versöhnung vergolten wird (s. Kap. 25).

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Effi wird wieder im gleichen Maße ›gesellschaftlich‹, d. h. als soziales Wesen zur Kenntnis genommen, wie sie körperlich reduziert, später transzendiert oder – noch produktiver und überzeugender – liquidiert wird. Ihr dezentes Hinscheiden koinzidiert mit spiritueller Aussöhnung nach außen (Innstetten) und innen (›Befreiung/Ruhe‹) sowie mit dem Maximum des Affektstillstandes: »[...] sie lag auf einer Chaiselongue, die neben dem Fenster stand. Frau von Briest schob einen kleinen schwarzen Stuhl mit drei goldenen Stäbchen in der Ebenholzlehne heran, nahm Effi’s Hand und sagte: ›Wie geht es Dir, Effi? [...] Bist du so ruhig über Sterben, liebe Effi?‹ ›Ganz ruhig, Mama‹« (ebd., 346).

Effis quietistisch-ästhetisiertes Ableben – dessen Darstellung im Übrigen ausgeklammert bleibt – wirkt als soziales Sedativum von hohem befindlichkeitsstabilisierenden Wert. Entscheidendes Signal hierfür ist das Intaktbleiben der Dingwelt des Interieurs (s. Kap. 28): Dass dem Dekorum und Material des Stuhls hier so eminentes Gewicht zukommen kann und die Aura der Kostbarkeit des Ambientes vom Sterbelager bis zur idyllischen Grabplatte intakt bleibt, kann nur so zu verstehen sein. Die emotionale und geistige Dekomposition der Figur wird durch die Komposition, das Arrangement der Objekte überblendet. Das Gefühl der ›Befreiung‹ dominiert in der Schlusssequenz dieser éducation sentimentale im Sinne der Zerstörung der Gefühle (vgl. Ariès/Duby 1995).

Fontane dekliniert hier eine Grammatik der Gefühle, deren Rigorismus nur ex negativo zu erschließen ist, deren Präzision und Unerbittlichkeit nur verdeckt zu erkennen sind. Die perfide Unauffälligkeit der mörderischen Strategie wird erst im Vergleich mit anderen Strategien der Affektdeklination ersichtlich, wie beispielsweise in den Ehebruchsgeschichten der Madame Bovary, der Anna Karenina (s. Kap. 3). Dieser Vergleich muss einer anderen Gelegenheit vorbehalten bleiben. Literatur Ariès, Philippe/Georges Duby (Hg.): Geschichte des privaten Lebens. 5 Bde. Frankfurt a. M. 1995. Bachmann, Ingeborg: Der Fall Franza. In: Dies.: Werke. 4 Bde, Bd. 3. Hg. von Christine Koschel und Inge von Weidenbaum. München/Zürich 1978, 339–482. Brückner, Christine: Wenn Du geredet hättest, Desdemona. Ungehaltene Reden ungehaltene Frauen. Frankfurt a. M./ Berlin 1989. Fontane, Theodor: Effi Briest. In: HFA, Abt. I, Bd. 4. München ²1974. Kristeva, Julia : Soleil noir. Dépression et mélancholie. Paris 1992.

Jürgen Wertheimer Durchgesehener Nachdruck des Beitrags: Jürgen Wertheimer: Effis Zittern: ein Affektsignal und seine Bedeutung. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 102 (1996), 134–141.

36 Erzähltheorie/Narratologie

36 Erzähltheorie/Narratologie Voraussetzungen Im Rahmen seiner als eine Kunst des Verstehens konzipierten Hermeneutik (s. Kap. 37) hat der Theologe und Philosoph Friedrich Schleiermacher (1768–1834) seinerzeit zwischen einer ›grammatischen‹ und einer ›psychologischen‹ oder auch ›divinatorischen‹ Seite des Auslegens von Texten unterschieden (vgl. Schleiermacher 1835, 360–361). Zugleich hat er die Notwendigkeit des Zusammenspiels dieser beiden Arten des Verstehens betont, um nicht der allzu einseitigen Haltung eines ›Pedanten‹ oder aber ›Nebulisten‹ zu verfallen (vgl. ebd., 376). In dieser Tradition gesehen, ist eine erzähltheoretisch akzentuierte Analyse des Romans Effi Briest zuallererst dem verpflichtet, was Schleiermacher das ›grammatische‹ Verstehen nennt. Ihr primäres Ziel ist es, sich dem Roman nach dem Prinzip einer textorientierten, letztlich phänomenologischen Beschreibung zu nähern und zunächst einmal die ihm als ein Erzählwerk eigene Erzählform zu erfassen. Zu diesem Zwecke vernachlässigt sie bewusst sowohl den biographischen (s. Kap. 6, 7) als auch den literatur-, kultur- und sozialgeschichtlichen (s. Kap. 1–5, 8–10) Kontext des Romans. In der Tradition von Formalismus und Strukturalismus interessiert sich eine solche Analyse vielmehr in erster Linie für den Aufbau (s. Kap. 13), d. h. die Art und Weise der ›Konstruiertheit‹ des als ein Produkt der menschlichen Einbildungskraft und damit als ein so und so gestaltetes ›Artefakt‹ verstandenen literarischen Werks. Eine sinnvolle, über die Haltung des ›Pedanten‹ hinausführende narratologische Analyse wird dabei aber immer auch eine ›divinatorische‹ Seite des Verstehens zu berücksichtigen haben und im Einzelfall überdies auch kontextuelle Aspekte des Textes einbeziehen – abgesehen davon, dass auch diese Art der Lektüre dem Prinzip des hermeneutischen Zirkels und einer bestimmten Vorurteilsstruktur des Verstehens unterliegt. Schon die Anwendung eines entsprechenden, allgemein und systematisch angelegten Beschreibungsmodells auf den Einzelfall eines konkreten Textes und seine spezifische Gestalt erfolgt notwendigerweise im Zeichen eines gewissen Vorverständnisses dieses Werks. Und nicht nur das. Die Ausrichtung auf die besondere Erzählform und Struktur des Textes ist kein Selbstzweck im Sinne eines sich selbst genügenden Formalismus, sondern sollte anschlussfähig für andere Ansätze sein, die ihrerseits z. B. kontextorientiert sind, und am Ende sollte sie jedenfalls immer auch zu einem besseren,

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d. h. umfassenderen, die Ignoranz eines ›Nebulisten‹ vermeidenden Verständnis des Werks beitragen. Methodologisch ist die folgende narratologische Analyse dem Ansatz eines pragmatisch angelegten »low structuralism« (vgl. Scholes 1974, 157–158) verpflichtet. Dieser geht davon aus, dass der Wert aller analytischen Kategorien immer nur ein operativer ist. Daraus folgt, dass zur vorliegenden Analyse grundsätzlich die Offenheit für ein möglichst breites Spektrum des begrifflichen Instrumentariums gehört, das die neuere narratologische Forschung zur Verfügung stellt. In concreto werden allerdings nur solche Begriffe und Konzepte zur Anwendung kommen, die sich im spezifischen Fall von Effi Briest als heuristisch fruchtbar erweisen. Die Basis der Analyse bildet ein Beschreibungsmodell, das nicht eine beschränkte Zahl von Erzählformen, sondern einen prinzipiell erweiterbaren Katalog von frei miteinander kombinierbaren Merkmalen vorsieht. Im Anschluss an dieses offene, dem integrativen und zugleich textbasierten Ansatz einer unterdessen zuweilen als ›klassisch‹ bezeichneten Narratologie folgende Modell (Martínez/ Scheffel, 2016) ist die Untersuchung in zwei Teile gegliedert. Sie entsprechen dem fundamentalen Gegensatz zwischen dem ›Wie‹ und dem ›Was‹ eines narrativen Textes, d. h. zwischen dem erzählerischen Medium mitsamt den jeweils verwendeten Verfahren der Präsentation einerseits und dem Erzählten (der Handlung, der erzählten Welt) andererseits.

Das ›Wie‹: Darstellung Die Art und Weise der Darstellung des Geschehens in Effi Briest steht offensichtlich im Zeichen einer berühmten Forderung ihres Autors, der zufolge jeder Roman »unter Vermeidung alles Übertriebenen und Häßlichen, eine Geschichte erzählen« solle, »an die wir glauben. [...] er soll uns eine Welt der Fiktion auf Augenblicke als eine Welt der Wirklichkeit erscheinen [...] lassen« (HA III, 1, 316–317). Eine solche Poetik der ›Illusionsbildung‹ und ›Verklärung‹ erfordert zuallererst eine besondere Gestalt der das Erzählte vermittelnden Instanz. In Effi Briest ist sie so konzipiert, dass sie auf scheinbar natürliche, tatsächlich aber höchst artifizielle Weise Subjektivität und Objektivität, Individualität und Kollektivität, Zeitgebundenheit und Zeitlosigkeit vereint. Als eine Art persönlicher Zeuge des erzählten Geschehens und berichtende ›Stimme‹ ist die Figur eines Erzählers nahezu durchgehend präsent. Scheinbar unmittelbar ist sie Teil der

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2019 S. Neuhaus (Hg.), Effi Briest-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04874-5_36

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erzählten Welt und eines Geschehens, das sie gleichwohl mit zeitlicher und sachlicher Distanz zu den handelnden Figuren wohlgeordnet vermittelt. Dem Prinzip einer solchen, im vorliegenden Fall auf besondere Weise »fiktionale[n], illusionistische[n], autorund erzählerverleugnende[n], aliozentrische[n] Autorerzählung in dritter Person« (Weber 1998, 95) entspricht bereits der erste Satz der Erzählung: »In Front des schon seit Kurfürst Georg Wilhelm von der Familie von Briest bewohnten Herrenhauses zu Hohen-Cremmen fiel heller Sonnenschein auf die mittagsstille Dorfstraße, während nach der Park- und Gartenseite hin ein rechtwinklig angebauter Seitenflügel einen breiten Schatten erst auf einen weiß und grün quadrierten Fliesengang und dann über diesen hinaus auf ein großes, in seiner Mitte mit einer Sonnenuhr und an seinem Rande mit Canna indica und Rhabarberstauden besetztes Rondell warf« (5).

Nahezu unvermittelt wird hier in eine Szenerie eingeführt (s. Kap. 21), die historische (Kurfürst Georg Wilhelm) und fiktive Namen (von Briest, HohenCremmen) ebenso wie Vergangenheit (»seit Kurfürst Georg Wilhelm«) und Handlungsgegenwart (»fiel heller Sonnenschein auf die mittagsstille Dorfstraße«) vereint und die im Rahmen einer gewissen ›Übersicht‹ (Martínez/Scheffel 2016, 68) verschiedene Standorte der Wahrnehmung vor und hinter einem »Herrenhaus« verbindet (»In Front [...] während nach der Park- und Gartenseite hin«) – wobei die Stimme einer mit den örtlichen Gegebenheiten offenbar gut vertrauten, am aktuellen Geschehen aber gleichwohl nicht beteiligten ›heterodiegetischen narrativen Instanz‹ (Martínez/Scheffel 2016, 86–89) die Adverbien »erst« und »dann« für die Beschreibung eines unterschiedlich, nämlich sowohl zeitlich als auch räumlich zu verstehenden Sachverhalts nutzt: (1) Der Schatten des »Seitenflügel[s]« ist erst kurz und wird durch das Wandern der Sonne dann länger (was eine Form des zeitraffenden oder auch summarischen Erzählens wäre); (2) der Schatten wird in einem bestimmten zeitlichen Augenblick (»mittagsstille Dorfstraße, während«) mit Hilfe einer – avant la lettre – Art ›camera eye-Technik‹ in seiner räumlichen Ausdehnung vom »Fliesengang« ausgehend bis hin zum »Rondell« verfolgt (was dann eine Form des zeitdeckenden Erzählens wäre). Mit Hilfe einer solchen Ambivalenz im Blick auf das Verhältnis von Erzählzeit und Erzählter Zeit und damit die ›Dauer‹ der Erzählung ist mittelbar das auch in der »Sonnenuhr« veranschaulichte Thema

der vergehenden Zeit und des Verhältnisses von Zeit und Erzählung reflektiert – abgesehen davon, dass hier insgesamt, d. h. unabhängig von der Lesart des letzten Satzteils, eine Form der visuellen Wahrnehmung dominiert und der Eindruck einer (Vor-)Form des »filmischen Erzählens« und der »Effekt eines visuell-greifbaren und konkreten diegetischen Raums« (Brössel 2014, 98–99) entsteht. An diesem mit weiteren Sätzen der narrativen Instanz noch genauer skizzierten und mit Hilfe größerer zeitlicher Raffungen zu unterschiedlichen Zeiten und an verschiedenen Tagen (»gewährte bei bewölktem Himmel«; 5; »an Tagen aber, wo die Sonne niederbrannte«; 5–6) vorgestellten Ort und innerhalb eines geschützten, auf der »Gartenseite« wie ein »umschließendes Hufeisen« (5) angelegten, von außen nicht einsehbaren Raums (s. Kap. 28) werden dann mit »Frau und Tochter des Hauses« (ebd.) zwei weibliche Figuren eingeführt, »die denn auch heute wieder auf dem im vollen Schatten liegenden Fliesengange« (ebd.) sitzen und die sich »der Herstellung eines aus Einzelquadraten zusammenzusetzenden Altarteppichs« (ebd.) widmen. Es folgt eine Darstellung im ›dramatischen Modus‹ (Martínez/Scheffel 2016, 52), die Mutter und Tochter bei der Handarbeit zeigt, wobei die mit dem »Rufnamen Effi« (6) eingeführte Tochter ihren Teil der Arbeit wiederholt durch körperliche Übungen im Sinne eines »ganzen Kursus der Heil- und Zimmergymnastik« (ebd.) unterbricht. Was sich hier andeutet, wird über den Verlauf der gesamten Erzählung fortgesetzt: Dominant ist – wie in allen Erzählungen Fontanes – nicht das Prinzip der »eigentlichen«, sondern das der »szenische[n] Erzählung« im Sinne Otto Ludwigs (Ludwig 1900, u. a. 304) sowie – zumindest im Ansatz – der von Friedrich Spielhagen ausformulierten »Theorie des ›objektiven‹ Erzählens« (zu Fontanes Weg von einer »schroffe[n] Ablehnung« dieser seinerzeit einflussreichen Theorie hin zu einer »differenzierten Annahme unter gewissen Vorbehalten« immer noch informativ: Greter 1973, 74–78, hier 74). Zu dieser Erzählform und einer wiederholt nahezu unmittelbaren Übereinstimmung der Zeit von Erzählung und Geschichte gehört das Prinzip einer scheinbar unvermittelten Präsentation von Figurenrede (s. Kap. 14), die über z. T. längere Dialogpassagen hinweg auch auf verba dicendi verzichtet (so z. B. im Fall des über mehrere Seiten hinweg geführten Gesprächs von Effis Eltern am »Tag nach der Hochzeit«; 40–45; aus linguistischer Sicht dazu z. B. Yos 2003, besonders 366–367). Außerhalb von sozial akzeptierten Sprechsituationen, zu denen auch das Schreiben von

36 Erzähltheorie/Narratologie

Briefen gehört – vgl. z. B. Effis »Schreibebrief« über ihr »Gefühl des Alleinseins« (114) an die Mutter oder aber später die von Innstetten mit »halblauter Stimme« vorgelesenen Auszüge der Liebesbriefe von Crampas an Effi; 274–275 –, wird das ›Innere‹ der Figuren dabei nur zurückhaltend und jedenfalls nicht über die Grenze des sprachlich Bewussten hinaus geöffnet (so dass man z. B. so gut wie nichts über Effis ›wirkliche‹, aber nicht ausgesprochenen Gefühle gegenüber ihrem Liebhaber Crampas erfährt). Neben kürzeren Gedankenzitaten finden sich nur wenige längere ›Innere Monologe‹ der Figuren, die nach dem Modell des Bühnenmonologs angelegt sind. Sie werden in der Regel mit entsprechenden Inquit-Formeln wie »sagte sie« (258) oder »und sprach halblaut vor sich hin« (325) als eine Art Selbstgespräch eingeführt, in wohlgeordneter Sprache gehalten und sind zumeist an Konflikt- und Entscheidungssituationen gebunden – hervorzuheben sind hier Effis Reflexionen über »die Schuld auf meiner Seele« (258) oder auch Innstettens ›Grausamkeit‹ (325) auf der einen Seite und auf der anderen Innstettens Überlegungen zur Frage seiner Schuld, unmittelbar nachdem er den Verführer seiner Frau im Duell erschossen hat (286–287). Weiterhin gehört zu der in Effi Briest verwirklichten Form des szenischen Erzählens, dass längere Rückblenden, Vorgriffe oder erläuternde Exkurse eines allmächtigen Erzählers ebenso unterbleiben wie explizite Hinweise auf die Vermitteltheit oder gar Fiktionalität des Erzählten. Der Schöpfungs-, Erzähl-, Schreib- oder Leseprozess ist nahezu vollkommen ausgeblendet (zu den wenigen Ausnahmen Zalesky 2004, 108–109), und die Zeitadverbien in Formulierungen wie »auch heute wieder« (6), »Eben hatte sich Effi wieder erhoben« (7), oder »Schon im nächsten Augenblicke trat Effi [...] in den großen Gartensaal« (17) schwächen das epische Präteritum und fördern den Eindruck einer unmittelbaren Gegenwart des Erzählten. Wie auf einer Bühne wird das Geschehen geradlinig fortlaufend in seinem zeitlichen und pragmatischen Zusammenhang vergegenwärtigt, wobei der weitgehend an den Wissensstand der Figuren sowie an den Raum und die Zeit der jeweils erzählten Szene gebundene Standort des Erzählers dessen leibliche Gegenwart im Kreis der Figuren suggeriert (zu den offensichtlichen Parallelen einer solchen Form des Erzählens zur Malerei vgl. Schuster 1978; zu den Bezügen zum zeitgenössischen Theater vgl. Scheffel 1996). Zu den Folgen dieser Art von vermittelter Unmittelbarkeit zählt, dass auch für die Leserinnen und Leser die Illusion entsteht, nahezu körperlich in die er-

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zählte Welt eingebunden zu sein. Die offensichtliche Präsenz einer ordnenden und vor allem den Kontext der dargestellten Szenen erläuternden Vermittlungsinstanz trägt zur Stabilität der erzählten Welt bei und vermittelt den Eindruck von Übersichtlichkeit, Klarheit und zuverlässiger Orientierung. Zugleich bewirkt die im Übrigen praktizierte Zurückhaltung dieser Instanz, dass Bewertungen des Geschehens sowie Charakterisierungen der handelnden Figuren in wesentlichen Punkten figural erfolgen. Das wiederum begünstigt, dass der Roman im Blick auf bedeutende Details der erzählten Welt sowie den Charakter und das Handeln seiner Figuren geradezu systematisch einen weiten Auslegungsspielraum eröffnet. Das Prinzip einer für viele Werke Fontanes typischen »dialogische[n] Facettierung« des Erzählten (Ohl 1968, z. B. 156) führt auch in Effi Briest zu erheblichen Ambiguitäten, ohne dass diese von einer aus der Übersicht und mit der übergeordneten, weil »logisch privilegierten« Autorität einer »Stimme der absoluten Wahrheit« (Martínez/Scheffel 2016, 102) urteilenden narrativen Instanz aufgelöst oder auch nur bewertet würden – wobei zu einer im Verlauf von Fontanes erzählerischem Schaffen zunehmend komplexen »Romankunst der Vielstimmigkeit« (Mecklenburg 1998) gehört, dass es in Effi Briest zahlreiche Interferenzen zwischen Erzählerund Figurenrede gibt und sich die genauen Grenzen in vielen Fällen kaum bestimmen lassen (zu einem mit »Hybridformen« der Figurenrede verbundenen »fluktuierenden Erzählverhalten« in Effi Briest vgl. Zalesky 2004, bes. 128–138). Blickt man auf das Verhältnis von Erzählzeit und Erzählter Zeit, so fällt auf, dass sich die Erzählgeschwindigkeit im Verlauf der Erzählung verändert und dass die zu jeder Erzählung notwendig gehörenden Auslassungen im vorliegenden Fall offenbar grundsätzlich auch bestimmte Sachverhalte und Ereignisse der erzählten Geschichte betreffen. Körperliche und insbesondere sexuelle Handlungen bleiben in Effi Briest weitgehend ausgespart oder werden zumindest im Rahmen starker Raffungen nur indirekt thematisiert (s. Kap. 24, 26). Die Geburt von Effis Tochter Annie wird so z. B. ebenso knapp behandelt (»[...] und am Morgen des 3. Juli stand neben Effi’s Bett eine Wiege«; 135) wie ihre erste Verführung durch Crampas (»Es war ihr, als wandle sie eine Ohnmacht an«; 190) oder auch ihre heimlichen Zusammenkünfte mit ihm am Kessiner Strand. So vermerkt die narrative Instanz nach einer längeren Trennung der beiden Figuren z. B. nur lakonisch in Gestalt einer summarischen Erzählung: »Die Spaziergänge nach dem Strand

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V Theoretische Zugänge

und der Plantage, die sie während Crampas in Stettin war, aufgegeben hatte, nahm sie nach seiner Rückkehr wieder auf und ließ sich auch durch ungünstige Witterung nicht davon abhalten« (204). Unabhängig von solchen thematisch bedingten Ellipsen und Raffungen werden den einzelnen Abschnitten der insgesamt einen Zeitraum von gut zwölf Jahren umfassenden Erzählten Zeit sehr unterschiedliche Umfänge von Erzählzeit gewidmet (s. Kap. 13): Die Ereignisse am Anfang der Geschichte, d. h. sowohl die knapp drei Monate zwischen Innstettens Werbung um Effis Hand und der Hochzeit in Hohen-Cremmen als auch die anderthalb Jahre von Effis Eheleben in Kessin werden vergleichsweise ausführlich dargestellt; mit der Übersiedlung der Familie Innstetten nach Berlin erhöht sich die Erzählgeschwindigkeit, d. h. von den verbleibenden rund zehn Jahren von Effis Leben wird nun in einem sehr viel stärkeren Ausmaß ausschnittweise und wiederholt auch nur summarisch erzählt (zwei detaillierte Schemata zur Zeitverteilung bietet Hamann 2001, 63 und 65): »Drei Jahre waren vergangen, und Effi bewohnte seit fast eben so langer Zeit eine kleine Wohnung in der Königgrätzerstraße [...]« (306). Bemerkenswert ist überdies, dass das Prinzip einer chronologischen Erzählung nach der zufälligen Entdeckung von Crampas’ Briefen dominant bleibt, nun aber in besonderer Weise fortgeführt wird. Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass der Roman ab diesem Zeitpunkt und der durch Effis Kuraufenthalt schon zuvor eingeleiteten räumlichen Trennung der Figuren keine persönliche Begegnung und keinen Dialog zwischen den Eheleuten mehr vorsieht. Die – soweit sie denn noch dargestellt werden – Erlebnisse von Innstetten und Effi müssen nunmehr also als zwei voneinander getrennte Geschehensfolgen und damit letztlich nacheinander erzählt werden, sind durch Orts- und Szenenwechsel aber so miteinander verknüpft, dass auch jetzt kaum Anachronien entstehen. Dabei gibt es eine geschlechtsspezifische Hierarchie in der Anordnung und Folge der das Verhalten der beiden Figuren betreffenden Szenen: Zunächst erfolgt die Geschichte des handelnden, alle weiteren Situationen herbeiführenden Mannes, d. h., ab dem 27. Kapitel, Innstettens Gespräch mit Wüllersdorf, sein Duell mit Crampas in Kessin und seine Rückkehr nach Berlin; anschließend folgt als zweite, mit einer nur minimalen zeitlichen Überschneidung angeschlossene Szenenfolge die Geschichte der von nun an weitgehend passiven, von dem Handeln des Mannes unmittelbar betroffenen, aber von ihm nie mehr (nicht einmal brieflich) direkt angesprochenen Frau, d. h., ab dem 30. Kapitel, Effis Kur-

aufenthalt in Bad Ems, der Empfang des »elterliche[n] Absagebrief[s] aus Hohen-Cremmen« (308) und ihr anschließendes vereinsamtes Dasein als »schuldig« (301) Geschiedene zunächst in einem Berliner »Pensionat« (knapp erzählt im Rahmen einer Analepse mit geringer Reichweite und Umfang; 308–309), dann in einer »kleine[n] Wohnung in der Königgrätzerstraße« (306), schließlich – unterbrochen nur durch einen kleinen Wechsel zu Innstettens Dasein in Berlin (336– 344) – bis zu ihrem Tod wieder in Hohen-Cremmen.

Das ›Was‹: Handlung Auch wenn es nicht zu einer narratologischen Analyse im strengen Sinne gehört, so ist ein Blick auf die historische Vorlage der in Effi Briest erzählten Geschichte doch aufschlussreich. Und zwar deshalb, weil ein Vergleich der jeweiligen Akteure und Handlungszusammenhänge veranschaulicht, was den Roman als eine fiktionale Erzählung auszeichnet und in welchem Sinne er eine Figurenkonstellation und ein Geschehen auf besondere Weise gestaltet. Auslöser und historische Vorlage für Fontanes in ersten Entwürfen vermutlich 1888/89 begonnenen Roman ist bekanntlich ein Vorfall aus dem Jahr 1886, die sogenannte ›Ardenne-Affäre‹ (s. Kap. 9). Ohne auf die entsprechenden historischen Hintergründe und die Details dieses in Berlin seinerzeit vielfach kommentierten Skandals näher einzugehen (detailliert dazu Komm., 353–362), gehören zu dieser »Affäre« im Kern folgende Akteure und zur Zeit der Niederschrift des Romans bekannte Handlungen: Ein adliges, ohne ihren früh verstorbenen Vater aufwachsendes Mädchen wird im Alter von etwa fünfzehn Jahren von einem fünf Jahre älteren, ebenfalls adligen Mann umworben, der als Fähnrich in der Nähe ihres ländlichen Wohnsitzes dient; sie erteilt ihm zunächst eine Absage, aber rund drei Jahre später und nach seiner ruhmreichen Verwundung im Deutsch-Französischen Krieg ist ihr Widerstand überwunden; bald darauf erfolgt zunächst die Verlobung und rund zwei Jahre später die Hochzeit; der Mann macht eine Karriere, die ihn an verschiedene Dienstorte und bis in den preußischen Generalstab führt. An einem dieser Orte beginnt die noch junge, aber längst volljährige Ehefrau, unterdessen Mutter von zwei Kindern, ein Verhältnis mit einem ebenfalls verheirateten, als Amtsrichter, aber auch Maler, Musiker und Sportler tätigen guten Freund der Familie; später, nachdem die Familie in Berlin lebt, findet ihr Mann Briefe, die die-

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ses Verhältnis offenlegen; er stellt seine Frau zur Rede, die alles zugibt, und fordert seinen Rivalen zu einem Pistolenduell; dieser akzeptiert und erliegt, nachdem er selbst in die Luft geschossen hat, einer bei diesem Duell erlittenen schweren Verletzung – womit auch die vorhergehende Affäre öffentlich wird; die Ehe wird von einem Ehegericht geschieden und die Frau für schuldig erklärt; die Kinder werden dem Vater zugesprochen, der, nach kurzer Inhaftierung und nur rund ein Jahr darauf (1888), zum zweiten Mal heiratet und seine Karriere bis zum Generalsrang fortsetzt; seine geschiedene Frau wiederum flüchtet sich für einige Zeit zu einer ihrer Schwestern; später macht sie eine Ausbildung als Krankenpflegerin und arbeitet in diesem Beruf. Blickt man von hier auf die in Effi Briest erzählte Geschichte, so zeigen sich in aller Deutlichkeit die Konsequenzen einer weiteren berühmten Forderung Fontanes, der zufolge »zwischen dem erlebten und dem erdichteten Leben kein Unterschied« sein solle, »als der jener Intensität, Klarheit, Übersichtlichkeit und Abrundung und infolge davon jener Gefühlsintensität, die die verklärende Aufgabe der Kunst ist« (HA III, 1, 568–569). Neben der erzählerischen Darstellung sind auch die Gestaltung und Komposition der erzählten, auf eine überschaubare Zahl von Orten verteilten Handlung dem Prinzip der »Klarheit«, »Übersichtlichkeit« und »Abrundung« verpflichtet. In ihrem Zeichen hat so z. B. Innstettens Werben um Effis Hand in seiner »kaum achtzehn Jahre zurückliegende[n]« (19) Liebe zu Effis Mutter eine einfache, diese Werbung motivierende Vorgeschichte, wobei die Ehe von Effis im Alter ungleichen Eltern wiederum als eine Art Spiegelung der jetzt geschlossenen Ehe zwischen Effi und Innstetten dient; der gegenüber den Eltern noch einmal vergrößerte Altersunterschied der Protagonisten und die Art ihrer ebenso plötzlichen wie unvermittelten Verbindung wiederum trägt zur Motivierung des Scheiterns der Ehe bei: Die 17-jährige Effi ist zum Zeitpunkt der innerhalb von nur drei Monaten recht schnell aufeinanderfolgenden Verlobung und Hochzeit noch in einem fast kindlichen Alter; Innstetten ist bei Eheschließung mit der ihm vorher kaum bekannten Effi nicht nur als Landrat bereits ein hoher Beamter, sondern mit »Achtunddreißig« (11) immerhin einundzwanzig Jahre älter als seine Frau und auf den Tag genau so alt wie deren Mutter; Effis Affäre mit dem ebenfalls sehr viel älteren Offizier Crampas wird als eine vorübergehende, bald auch wieder abgeschlossene Episode im Leben einer immer noch sehr jungen Frau dar-

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gestellt; auf die späte Entdeckung des rund sechs Jahre zurückliegenden Ehebruchs, das Duell zwischen Ehemann und früherem Liebhaber, die Scheidung und drei Jahre Leben in sozialer Abgeschiedenheit folgen am Ende die Rückkehr der Tochter zu ihren noch lebenden Eltern und Effis die Geschichte ›abrundender‹ Tod in Hohen-Cremmen. Der Aufbau der skizzierten, in wesentlichen Punkten fiktiven Handlung wiederum ist auch im engeren Sinn einem spezifischen poetologischen Prinzip verpflichtet. Tatsächlich bestimmt eine gewisse Nähe zu Drama und Theater nicht allein Fontanes Form des Erzählens, sondern auch die Gestalt der in seinem Roman erzählten, im Sinne der aristotelischen Poetik als ein ›Ganzes‹ mit Anfang, Mitte und Ende angelegten Geschichte (vgl. Martínez/Scheffel 2016, 130). Im Einzelnen liegt dieser Geschichte ein Schema zugrunde, zu dem auch Komplikationen, Wendepunkte und Lösungen gehören. Was Fontane an den Romanen von Willibald Alexis lobte, »nämlich de[n] klare[n], gutgegliederte[n] Aufbau, in dem sich die Pyramide der drei oder fünf Akte erkennen läßt« (HA III, 1, 410), ist ebenfalls prägend für die Komposition von Effi Briest (wie übrigens auch für viele andere Erzählungen und Romane Fontanes). Berücksichtigt man die entscheidenden Entwicklungsstufen innerhalb des erzählten Geschehens, so findet sich der seinerzeit von Gustav Freytag in seinem vielbeachteten Werk Die Technik des Dramas (1863) geforderte und letztlich aus dem Vorbild des antiken Dramas und der Poetik des Aristoteles abgeleitete, in diesem Fall fünfaktige »pyramidale Bau« (Freytag 1983, 105) in der folgenden Form in Effi Briest wieder (vgl. hier auch die in nur wenigen Details abweichenden Darstellungen in Hamann 2001, 22; sowie Haberer 2012, 158–160; die entsprechende Begrifflichkeit findet sich bei Freytag 1983, 105–125): I

Exposition (Kapitel 1–5): Effi und ihr Leben als »Tochter der Luft« (7) im Elternhaus in HohenCremmen; Auftritt von Innstetten, Verlobung, Vermählung und Hochzeitsreise nach Italien; II Steigerung (Kapitel 6–14): Effis Eheleben in Kessin; das »Gefühl des Alleinseins« und der Beginn eines Familienlebens durch die Geburt der Tochter Annie; Auftritt von Crampas; III Höhenpunkt (Kapitel 15–22): Effis zunehmend enge Bindung an Crampas; ihre Verführung während einer Schlittenfahrt und weitere regelmäßige Treffen bis zur räumlichen Trennung und ihren »Abschiedszeilen« (223);

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V Theoretische Zugänge

IV Fall oder Umkehr (Kapitel 23–29): Effis Leben unter veränderten Umständen in der Großstadt Berlin; ihre vorgetäuschte Krankheit, um eine Rückkehr nach Kessin zu vermeiden; Hoffnung auf Vergessen und Neubeginn; Annies Unfall, die Entdeckung der Liebesbriefe, Duell und Tod von Crampas; Innstettens Mitteilung an Johanna »die Frau kommt nicht wieder« (289); V Katastrophe und Katharsis (Kapitel 30–36): »Schlechte Nachrichten« (299): Effis Zusammenbruch, ihre Verstoßung durch Eltern und Gesellschaft; Wiedersehen und Scheitern des Kontakts mit der eigenen Tochter; Wiederaufnahme durch die Eltern in Hohen-Cremmen und Tod; Wache des Hundes Rollo an Effis Grab und abschließendes Gespräch der Eltern mit dem Kommentar »das ist ein zu weites Feld« (350). Im Unterschied zum prinzipiell vielfältigen und heterogenen Geschehen des, mit Fontane gesprochen, ›erlebten Lebens‹ ist die Form des in Effi Briest zu findenden ›erdichteten Lebens‹ also insofern ›abgerundet‹, als sie eine nach bestimmten Prinzipien komponierte »in sich abgeschlossene, gänzlich vollendete Handlung« (Freytag 1983, 123) bietet. Oder anders gewendet: Das in Effi Briest zu findende Geschehen ist auf eine besondere Weise in eine Geschichte überführt und durch eine überlieferte, kulturell signifikante narrative Struktur im Sinne eines spezifischen, so der Theoretiker der Geschichtsschreibung Hayden White, ›Emplotment‹ (White 1973, z. B. 7) oder auch einer, so der Philosoph und Theoretiker der Erzählung Paul Ricœur, ›Synthesis des Heterogenen‹ (Ricœur 1988, z. B. 106) überformt (s. Kap. 29). Eine Folge davon ist, dass ein wesentliches Ereignis wie der Tod der Protagonistin im Kontext der vorliegenden Geschichte nicht als Zufall, sondern als eine Folge von anderen Ereignissen und damit in einen übergreifenden Ursache-Wirkungs-Zusammenhang eingebettet erscheint (s. Kap. 25). Dabei finden sich in diesem Zusammenhang drei grundsätzlich zu unterscheidende Arten der möglichen Motivierung (Martínez/Scheffel 2016, 116–125). Zu nennen ist erstens eine ›kausale Motivierung‹, die es in dieser Form auch im ›erlebten Leben‹ gibt bzw. geben könnte: Effi stirbt, weil sie krank ist, d. h. weil sie an Tuberkulose leidet und sich überdies, wie der Arzt Rummschüttel aus Berlin an die Eltern schreibt, ihre Nerven ›aufzehren‹ (327), so dass ihr Tod also nicht zuletzt als die Folge einer psychischen Erschöpfung und allgemeinen Lebensmüdigkeit erscheint, die ihre Ursache wiederum in

den zerstörerischen Konsequenzen des von ihr selbst als »Schuld« empfundenen Ehebruchs hat. Zweitens erfolgt eine ›ästhetisch-kompositorische Motivierung‹: Die Figur Effi stirbt, pointiert formuliert, weil es das Handlungsschema der Erzählung, d. h. das Prinzip einer »in sich abgeschlossene[n], gänzlich vollendete[n] Handlung« erfordert. Drittens findet sich eine ›finale Motivierung‹: Effi stirbt, weil es in der erzählten Welt eine notwendige Verbindung von ›Schuld‹ und ›Sühne‹ gibt, d. h., weil es ihr ›Schicksal‹ ist und weil es einer höheren, im Einzelnen unterschiedlich zu begründenden Ordnung entspricht – in diesem Sinne werden sowohl ihr ›Sündenfall‹ (s. Kap. 30) als auch ihr Tod (s. Kap. 25) durch zahlreiche Vorausdeutungen und proleptische Motive innerhalb der erzählten Geschichte von Anfang an mehr oder minder deutlich signalisiert (zu den vielfältigen biblischen Anspielungen und einer möglichen christlichen Folie der Geschichte einer auf widersprüchliche Weise den Leitbildern von Maria und Magdalena folgenden Figur vgl. Schuster 1978; allgemein zu den »Vorwegnahmen des Handlungsgangs« durch Vorausdeutungen und wiederkehrende Motive, einem Überblick über die Forschung und einem Versuch der erzähltheoretischen Einordnung, Zalensky 2004, bes. 92–108 und 110–121, Zitat 116). Rückt man die ›finale Motivierung‹ in den Vordergrund, so veranschaulicht Fontanes Roman letztlich ein geschlossenes »Schicksalsmodell«, demzufolge ein Individuum, das die soziale Ordnung verletzt, notwendig einen Preis zahlen muss: Nach ihrem – so der sprechende Titel des unter Crampas’ Leitung zusammen mit Effi aufgeführten Theaterstücks – »Schritt vom Wege« (168) wird Effi durch ein sich im Schicksal aktualisierendes Gesetz zu Ordnung und Einsicht gebracht (grundsätzlich zu dieser Lesart Schlaffer 1966). Blickt man auf das Handlungsschema des Romans, so sind aber auch noch andere Aspekte von Interesse. Grob besehen, wird hier eine Lebensgeschichte erzählt, die von der Adoleszenz über eine Hochzeit und die Gründung einer Familie (s. Kap. 23) bis hin zum Tod der Protagonistin reicht. So schematisch betrachtet enthält auch die in Effi Briest erzählte Handlung, was zu den Grundelementen eines Bildungs- und/ oder Entwicklungsromans gehört. Mit einem wesentlichen Unterschied: In Effi Briest wird weniger von der Vorgeschichte und Schließung einer Ehe sowie dem Aufbau einer neuen Familie als von deren Zerstörung erzählt, und Effis Geschichte führt in einer Kreisbewegung aus dem Elternhaus in die Welt der Gesellschaft und von dort wieder in ihr Elternhaus

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zurück. Effi Briest enthält einerseits also durchaus, wie schon in Christian Friedrich von Blanckenburgs sogenanntem Versuch über den Roman (1774) gefordert, »ein vollkommen dichterisches Ganzes, eine Kette von Ursach und Wirkung« (Blanckenburg 1965, 10). Andererseits erzählt Fontanes Roman aber gerade nicht – wie es Blanckenburgs für die Geschichte und Programmatik des deutschsprachigen Romans so grundlegendes Werk vorsieht – von der Bildung eines Charakters, nicht die Lebensgeschichte eines sich aus bestimmten Gründen auf spezifische Weise entwickelnden und auf einer höheren Ebene zu sich selbst kommenden Subjekts. Was sind die Gründe dafür, dass eine solche Entwicklung unterbleibt und gegen Ende der Geschichte vielmehr das genaue Gegenteil in Gestalt einer Art Regression erfolgt? Betrachtet man die Anordnung der Handlungselemente und die Verteilung der Erzählzeit genauer, so ist auffällig, dass zum Schwerpunkt der Erzählung offensichtlich die Anfangszeit von Effis Ehe, d. h. die ersten anderthalb Jahre ihres Ehelebens in Kessin gehören. Berücksichtigt man Effis Lebensalter, so liegt dieser Schwerpunkt zugleich vor dem Alter der im Deutschen Reich seit 1876 (gemäß Reichsgesetz vom 17.2.1875) mit dem vollendeten einundzwanzigsten Lebensjahr eintretenden »Großjährigkeit« und damit immer noch in der Zeit der Adoleszenz. Geht man von dem in der Regel eine männliche Figur in den Blickpunkt rückenden Handlungsmodell des Bildungsromans aus, so fallen in diese Lebensphase der Auszug aus dem Elternhaus, die Entdeckung der Liebe sowie erste Liebeswirren, die herkömmlicherweise später, so jedenfalls im Fall populärer Romanhelden wie Wilhelm Meister in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96) oder Anton Wohlfart in Gustav Freytags von Fontane als »Verherrlichung des Bürgertums« (HA III, 1, 302) gefeiertem Werk Soll und Haben (1855), in eine Eheschließung münden. Diese Reihenfolge ist in Effi Briest nun aber umgekehrt: Bar jeder Erfahrung mit dem anderen Geschlecht (und sei es auch nur dank eines gewissen Kontakts zu ihrem künftigen Ehemann) wird die eingangs u. a. durch das gemeinsame Spiel im Garten mit ihren Freundinnen als noch recht kindlich und als »Naturkind« (41) eingeführte Effi mit dem längst erwachsenen Landrat Innstetten verlobt und verheiratet – und macht erst anschließend infolge der Begegnung mit dem Offizier und »Damenmann« (122) Crampas die Erfahrung eines ernsthaft und persönlich um sie werbenden Mannes. Räumlich und zeitlich besehen, findet der Übergang von einem geschützten Raum der Kindheit (ver-

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anschaulicht in dem zu Beginn des Romans skizzierten und wie ein ›hortus conclusus‹ angelegten Briestschen Park und Garten) in den Raum der Erwachsenen und der Gesellschaft (veranschaulicht in dem »Gartensaal«, in dem Effi ihrem künftigen Ehemann begegnet; 17) allzu umstandslos, d. h. ohne jede Möglichkeit von irgendwelchen mit diesem Übergang verbundenen persönlichen Erlebnissen statt. Verantwortlich dafür wiederum ist nicht zuletzt, dass vor allem Effis Mutter im Blick auf das Leben ihrer Tochter das Prinzip des Schutzraums bewahren und die Zeit gewissermaßen beschleunigen will. So möchte sie Effi – möglicherweise in Erinnerung an ihr eigenes Verhältnis zu ihrem früheren Verehrer Innstetten – einen vielleicht schmerzhaften, notwendig mit Risiken behafteten und in seinem Ausgang ungewissen Entwicklungsprozess ersparen und ihr von heute auf morgen eine vielversprechende soziale Existenz und glänzende Zukunft sichern: »[...] und wenn Du nicht ›Nein‹ sagst, was ich mir von meiner klugen Effi kaum denken kann, so stehst Du mit zwanzig Jahren da, wo andere mit vierzig stehen. Du wirst Deine Mama weit überholen« (18). Eine – zumindest im Ansatz – selbstständige Entscheidung, wie Luise von Belling sie seinerzeit für den älteren, mit dem Besitz Hohen-Cremmen ausgestatteten Ritterschaftsrat von Briest und gegen den gleichaltrigen, um sie werbenden, aber besitzlosen Offizier Innstetten treffen konnte, ist für Effi damit nicht mehr möglich (bezeichnenderweise bleibt die nicht wirklich offen gestellte Frage der Mutter denn auch ohne Antwort: »Effi schwieg und suchte nach einer Antwort. Aber ehe sie diese finden konnte, hörte sie schon des Vaters Stimme [...]«; 18). Dass Effi später, trotz eines offensichtlich hohen Risikos und der ehrlichen Hoffnung auf einen ›Neubeginn‹ sowie die Überwindung ihrer »Schuld«, Crampas’ Briefe bei ihren persönlichen Unterlagen bewahrt, spricht am Ende weniger für den herausragenden Wert eines anderen Mannes in ihrem Leben als vielmehr für die einmalige Bedeutung der mit ihm verbundenen Möglichkeit einer eigenständigen Erfahrung. Da diese Erfahrung aber im Verborgenen bleiben muss und ein sie in irgendeiner Weise verarbeitender sozialer Dialog nach ihrer Entdeckung ebenso wenig mehr möglich ist wie der Kontakt zu einer in Effis Augen angemessenen Gesellschaft, kann sich die Protagonistin auf der Basis einer solchen nicht zu erzählenden Erfahrung auch später nicht entwickeln. Das berühmte und oft gedeutete »Effi komm« gewinnt in diesem Zusammenhang eine eigene, je nach Kontext verschiedene Bedeutung (was auch die unterschiedli-

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V Theoretische Zugänge

che Schreibweise mit und ohne Komma signalisiert): Das erste »Effi, komm« (18) zu Beginn der erzählten Geschichte wird von einer Spielkameradin übermütig in den Raum der Gesellschaft gerufen und ermuntert in aller Unschuld zur Rückkehr eines Mädchens in den zu dieser Zeit (noch) angemessenen, schützenden Raum der Kindheit. Das zweite, telegraphierte »Effi komm« (328) lässt ein alter Vater seiner schwerkranken, über einen längeren Zeitraum hinweg verstoßenen Tochter mit allzu großer Verspätung vom ländlichen Hohen-Cremmen in die Hauptstadt des Deutschen Kaiserreichs übermitteln (s. Kap. 27). Wenn diese seinem Aufruf folgt, dann bedeutet das nun, viele Jahre später und angesichts des zurückliegenden Geschehens, die Rückkehr einer längst erwachsenen Frau in einen familiären und räumlichen Kontext, der keinerlei Hoffnung auf ein anderes und neues Leben (mehr) eröffnet (s. Kap. 28). Effis veränderter Situation als »schuldig« geschiedene Ehefrau und kindlose Mutter lässt sich jetzt nur noch um den Preis der persönlichen Regression und einer bewusst in Kauf genommenen sozialen Isolation auch ihrer Herkunftsfamilie entsprechen (so jedenfalls das Gespräch der Eltern nach dem Erhalt von Rumschüttels Brief und seiner dringenden Bitte, Effi wieder bei sich in Hohen-Cremmen aufzunehmen; 327–328). In diesem Sinne gelesen, ist die Aufforderung »Effi komm« an zwei Gelenkstellen der Handlung platziert, zu denen ein Wandel ihres Verstehensrahmens gehört. Ihre leicht variierende Wiederholung markiert diesen Wandel ebenso wie den bereits mit dem ersten Satz des Romans reflektierten, in seinem weiteren Verlauf durch das Prinzip des chronologischen Erzählens veranschaulichten, unaufhaltsamen und nicht zu hintergehenden Gang der Zeit. Vor diesem Hintergrund gestalten die in Effi Briest erzählten, auf nur scheinbar ›natürliche‹ Weise zu einer »Kette von Ursach und Wirkung« zusammengefügten Szenen das Drama einer jungen Frau und »Tochter der Luft«, die in der Gesellschaft ihrer Epoche älter werden, aber nicht reifen konnte. Literatur Blanckenburg, Christian Friedrich von: Versuch über den Roman. Faksimiledruck der Originalausgabe von 1774, mit einem Nachwort von Eberhard Lämmert. Stuttgart 1965. Brössel, Stephan: Filmisches Erzählen. Typologie und Geschichte. Berlin/Boston 2014.

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Michael Scheffel

37 Hermeneutik

37 Hermeneutik Die Hermeneutik, »die Kunst, die Rede eines andern [...] richtig zu verstehen« (Schleiermacher 1977, 71), entwickelte als eine der frühesten Literaturtheorien erstmals Methoden, die eine dem literarischen Gegenstand angemessene und nicht an die Naturwissenschaften angelehnte Interpretation und Analyse literarischer Texte ermöglichte. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass sie als Grundlage aller späteren Literaturtheorien starken Einfluss auf die Praxis ebenso wie auf die Theorie literaturwissenschaftlicher Textinterpretationen genommen hat – auch wenn sie heute nur noch vereinzelt als eigenständige Theorie angewendet wird und sich einzelne Theorien, etwa verschiedene Formen des (Post-)Strukturalismus, explizit von hermeneutischen Verfahren abgegrenzt haben (s. Kap. 41). Kritisch gesehen wird an der Hermeneutik vor allem die grundlegende Annahme Schleiermachers, dass es einen (einzigen) Textsinn gebe, den es zu entschlüsseln gelte. Sieht man von dieser aufgrund der Polyvalenz belletristischer Texte nicht haltbaren These ab, weist die Hermeneutik auch heute noch große Relevanz auf, da sie sich als universeller Verstehensversuch grundsätzlich auf jeden Text anwenden lässt, indem sie es sich zum Ziel setzt, einen Text in seiner Gesamtheit sowie in seinem Entstehungskontext zu berücksichtigen, was auf viele spätere Literaturtheorien, die sich Einzelaspekten widmen (beispielsweise Gender Studies oder Intertextualität), nicht mehr zutrifft. Ursprünglich wurde die Hermeneutik von Friedrich Schleiermacher als ein philologisches Interpretationsverfahren für die Auslegung des Neuen Testaments geprägt und von Wilhelm Dilthey sowie später auch von Hans-Georg Gadamer fruchtbar gemacht (vgl. zur Geschichte der Hermeneutik Gadamer 1960, 162–205). Die Hermeneutik bezeichnet die Kunst des Auslegens bzw. Verstehens – ein Ausdruck, der bereits ein dem künstlerischen Text vergleichbares künstlerisches Interpretationsverfahren impliziert (vgl. Schleiermacher 1977, 80–82). Dies äußert sich auch darin, dass die »glückliche Auslegung der Kunst« laut Schleiermacher »auf dem Sprachtalent und dem Talent der einzelnen Menschenkenntnis« (ebd., 81) basiert. Dilthey erweitert diesen Aspekt, indem er feststellt, »daß das Verstehen auf einer besonderen persönlichen Genialität beruht« (Dilthey 1959, 216). Das Ziel der verschiedenen hermeneutischen Interpretationsverfahren besteht im Textverstehen, wobei davon ausgegangen wird, dass es einen im Text zu entschlüsselnden Sinn gibt, der über das Textver-

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ständnis des Autors hinausgeht, was in Schleiermachers vielzitiertem Ziel deutlich wird, »die Rede zuerst ebensogut und dann besser zu verstehen als ihr Urheber«, da der Autor »auf der objektiven Seite [...] auch hier keine andern Data als wir« hat (Schleiermacher 1977, 94). Dies geschieht – in den Worten Diltheys – ausgehend vom Sichhineinversetzen »in einen Menschen oder ein Werk« (Dilthey 1959, 214) bzw. vom Nacherleben (vgl. ebd., 214) durch verstehende Auslegung (vgl. ebd., 217). Schleiermacher unterscheidet zwei Interpretationsverfahren, die in einem Verhältnis »vollkommene[r] Gleichheit« (Schleiermacher 1977, 79) zueinander stehen und die dementsprechend stets gleichzeitig zur Anwendung kommen sollen: die grammatische und die psychologische Interpretation. Bei der grammatischen Interpretation, die in Diltheys Verständnis von Hermeneutik aufgrund des Anspruchs, den jeweiligen historischen Kontext auf Basis eines literarischen Textes zu erschließen, zweitrangig ist (vgl. Dilthey 1959, 85, 207, 219), geht es darum, einen Text auf der sprachlichen Ebene zu verstehen. Schleiermacher spricht hierbei vom »qualitative[n]« Verstehen »des Inhalts« und dem »quantitative[n]« Verstehen »des Tons« (Schleiermacher 1977, 93). Die psychologische Interpretation bezieht darüber hinaus Informationen über den Autor, auch Selbstaussagen über einen konkreten literarischen Text, seine Lebensumstände, den historischen Entstehungskontext des Textes usw. mit ein. Sie wird von Dilthey weiter expliziert, indem er von »historische[r] Vorarbeit« spricht, die dazu dient, gegenwärtige Leser*innen »in die Lage eines Lesers aus der Zeit und der Umgebung des Autors zu versetzen« (Dilthey 1959, 219). Gadamer spricht diesbezüglich von ›Horizontverschmelzung‹ und meint damit, dass der je gegenwärtige Horizont der Leser*innen mit dem historischen Entstehungshorizont des Textes verbunden werden soll, um ein umfassendes historisches Bild zu gewinnen (vgl. Gadamer 1960, 286–290). Dass diese beiden Verfahren einen unabschließbaren Interpretationsprozess implizieren, erschließt sich einerseits daraus, dass für die Vollendung der grammatischen Interpretation »eine vollkommene Kenntnis der Sprache« sowie für die psychologische Interpretation »eine vollständige Kenntnis des Menschen« (Schleiermacher 1977, 81) gegeben sein müsste. Andererseits ergibt sich die Unabschließbarkeit hermeneutischer Verfahren aus dem hermeneutischen Zirkel, bei dem sich das Ganze aus seinen Teilen und vice versa ergibt. Das betrifft den Text in seiner

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2019 S. Neuhaus (Hg.), Effi Briest-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04874-5_37

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V Theoretische Zugänge

Gesamtheit ebenso wie seine Einzelteile – mit dem Einzelnen meint Schleiermacher bereits das einzelne Wort, dessen Bedeutung im Kontext der es umgebenden Worte untersucht werden müsse (vgl. ebd., 116), aber auch das Wechselverhältnis von Vor- und Textverständnis. Das Vorverständnis, das sich bei der Relektüre eines Textes auch aus dem bereits vorhandenen Textverständnis ergibt, beeinflusst dabei das Textverständnis, wodurch es zu einem zirkulären und mithin zu einem unabschließbaren Interpretationsprozess kommt. Für Dilthey bedeutet das Verhältnis vom Einzelnen bzw. Besonderen und Ganzen das Verhältnis von literarischem Einzeltext und historischem, sozialem sowie politischem Kontext (vgl. Dilthey 1959, 211–212, 220).

Warum sich Effi Briest für eine hermeneutische Interpretation anbietet Fontanes Effi Briest bietet sich nun in zweierlei Hinsicht für eine hermeneutische Textanalyse an: Erstens verdeutlicht die bisherige Interpretationspraxis Fontanescher Texte, dass neben der Analyse des jeweiligen Textes häufig auch biographische und weitere entstehensrelevante Aspekte (vgl. zum historischen Kontext u. a. FHb, 103–191) ebenso wie solche, die der Zuordnung Fontanes zum Realismus entsprechen, miteinbezogen wurden. Der Kerngedanke der theoretischen und poetologischen Überlegungen realistischer Verfahren besteht darin, »›das Essentielle‹ aus dem empirisch Gegebenen zu extrahieren« (Pfeiffer 1990, 75). Dadurch wird eine Lesart und Interpretationsweise gefordert, die den realen Kontext und den realen Kern realistischer Literatur zu berücksichtigen sucht. So weiß man über »Fontanes Arbeitsweise [...], dass er seine Stoffe nie erfand, sondern in der Realität vorfand« (Anderson 2018, 87), weshalb in der Forschungsliteratur in der einen oder anderen Variante immer wieder von »sein[em] Prinzip des Findens statt Erfindens« (ebd., 94) gesprochen wird. Dass die Texte Fontanes eindeutig dem Realismus zuzuordnen sind (s. Kap. 2), der sich durch ein konkretes Wechselverhältnis von Realität und Fiktion auszeichnet, erfordert mithin eine Interpretation, die außerfiktionale Informationen notwendigerweise einbezieht. Allerdings verdeutlicht Rudolf Helmstetter, indem er die Publikations- und Rezeptionsbedingungen, unter denen Fontane geschrieben hat (s. Kap. 6–8, 15) und die für sein Verständnis von Realismus eine entscheidende Rolle gespielt haben (vgl. auch FHb, 417–418; 420; Berbig 2000, 192–255),

im Detail in den Blick nimmt, bereits implizit, dass eine ganzheitliche, alle Aspekte eines menschlichen Lebens berücksichtigende, psychologische Interpretation, wie Schleiermacher sie vorsah, nicht auch nur in Ansätzen leistbar ist (vgl. Helmstetter 1997). Die Interpretationsund Forschungspraxis der Fontaneschen Texte und insbesondere von Effi Briest zeigt, dass dieses Projekt tatsächlich niemals abgeschlossen werden kann – und belegen somit die Beobachtung von der Unabschließbarkeit entsprechender (hermeneutischer) Interpretationen. Zweitens zeigt sich mit Blick auf den hermeneutischen Zirkel, dass sich der Roman Effi Briest für eine hermeneutische, insbesondere eine grammatische, Interpretation aufgrund seiner formalen und strukturellen Spezifika besonders eignet. Das meint vor allem seine vielen Implikationen. Jedoch wird diese Spezifik des Romans erst bei einer erneuten Lektüre offensichtlich und erst dadurch bedeutsam: »Vieles [...] erschließt sich [...] erst bei wiederholter Lektüre, denn – entsprechend den Forderungen ›realistischer‹ Poetik – liegen die Hinweise verborgen an und unter der Oberfläche [...]« (Komm., 362). Da die Relektüre ein zentrales Moment des hermeneutischen Zirkels ist, insofern das erste Textverständnis bei der Relektüre zu einem Teil des Vorverständnisses wird und das erneute Textverständnis wiederum prägt und unter Umständen sogar verändert, und Effi Briest mehrfach gelesen werden muss, um ein umfassendes Verstehen zu ermöglichen, liegt auch hier eine hermeneutische Interpretation nahe.

Probleme der Forschung Effi Briest setzt als Roman des Realismus auf eine starke Nähe der fiktiven Ereignisse zu realen Geschehnissen. Interessant für einen psychologischen Interpretationsansatz (s. Kap. 39) ist deshalb Fontanes Reaktion entsprechender Lesarten, da er sich über Leser »mokierte und ärgerte [...], die [...] in der fiktionalen Welt die genaue Abbildung der außerliterarischen Wirklichkeit erkennen wollten« (ebd., 388). Denn Fontane ging es nur insofern um das reale Leben, als er es als Ausgangspunkt jedes künstlerischen Ausdrucks verstand (vgl. FHb, 415). Er verstand Realismus somit nicht als Imitation von Welt, denn er »wußte besser als die meisten seiner Interpreten, daß Realität ein soziales Konstrukt ist [...]« (Helmstetter 1997, 10). Bevor nun zu einer hermeneutisch-psychologischen Lesart übergegangen werden kann, gilt es des-

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halb zu reflektieren, ob es im Sinne der Hermeneutik zulässig ist, den Entstehungskontext, der im Falle von Effi Briest reale Ereignisse zur Grundlage hat, zu berücksichtigen, wenn der Autor ein entsprechendes Vorgehen vielleicht nicht explizit ablehnte, aber auch nicht befürwortete. (Der Zirkelschluss dieses Gedankens darf dabei nicht unberücksichtigt bleiben: Denn die Frage nach der Notwendigkeit oder gar der Legitimation einer solchen Lesart ergibt sich aus den Selbstaussagen des Autors, die erst berücksichtigt werden, wenn eine entsprechende Lesart als Ausgangspunkt gewählt wurde.) Der Entstehungskontext des Romans ist sehr genau erforscht. Betont wird dabei häufig das Zusammenspiel einerseits sich überschneidender und andererseits stark differierender Einzelheiten zwischen Effi Briest und den historischen Vorlagen des Romans (vgl. FHb, 636–637; Anderson 2018; Komm., 360– 362). Paul Irving Anderson nennt neben der bekanntesten Vorlage – der Ardenne-Affäre (s. Kap. 9), von der Fontane durch Emma Lessing erfahren hat und die er aufgrund dieser Erzählung rund um den Satz ›Effi komm‹ entwickelt hat (vgl. u. a. Anderson 2018, 87) – noch zwei weitere Quellen, den Bethmann-Stoff und den Hülsen-Stoff (vgl. ebd., 93–106). Dabei zeigt sich – vor allem mit Blick auf die Ardenne-Affäre –, dass weder die Figuren mit ihren realen Vorlagen viel gemein haben noch ihre Verhältnisse vergleichbar sind (vgl. Komm., 360–362). Lediglich die Struktur der Dreiecksbeziehung sowie das Duell und die Scheidung finden sich in Effi Briest. Dass Fontane so gravierende Veränderungen vornahm und aus den historischen Ereignissen eine völlig neue Geschichte entwickelte, ist für die Interpretation jedoch eine gewinnbringende Erkenntnis. Denn Fontane ging es nicht um Einzelschicksale, sondern um Gesellschaftszustände, die solchen Einzelschicksalen zugrunde liegen (vgl. ebd., 361–362). Er stellte darüber hinaus fest: »Alle Kunst ist ein schöner Schein, und es kommt nur darauf an, daß man ihn für Wahrheit nimmt« (Fontane 1896, zit. nach ebd., 389). Ihm ging es somit nicht darum, dass ein Roman die Realität in all ihren Einzelheiten darzustellen habe – gleichgültig, wie viel reale Ereignisse zu seiner Entstehung geführt haben –, sondern um einen weitaus abstrakteren Realitätsbezug: »Das wird der beste Roman sein, [...] daß wir in Erinnerung an eine bestimmte Lebensepoche nicht mehr genau wissen, ob es gelebte oder gelesene Figuren waren [...]« (Fontane, zit. nach FHb, 449; vgl. zu Fontanes ›Poetik‹ FHb, 306–465). Dies wird Fontane zufolge u. a. durch präzise Figuren- und Schauplatz-

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beschreibungen (vgl. ebd., 420), durch die Darstellung alltäglicher »Durchschnittsmenschen« (ebd., 424) sowie durch eine realitätsnahe Sprachverwendung (vgl. ebd., 424, 441–442) möglich. Diese Intention Fontanes (s. Kap. 8) bzw. des Realismus (s. Kap. 2) ebenso wie die eingangs zitierte Kritik Fontanes an seinen zu ›detektivischen‹ Leser*innen berücksichtigend, müssten die genannten Forschungsergebnisse rund um den Entstehungskontext von Effi Briest stärker reflektiert werden. Auch ein Blick auf jene Forschungsliteratur, die sich mit dem Status Effi Briests als realistischem Roman auseinandersetzt, führt zu ähnliche Überlegungen. Betrachtet man beispielsweise den umfangreichen Anhang zur großen Brandenburgischen Ausgabe von Effi Briest, der neben unzähligen Anmerkungen Begriffe nicht nur erklärt, sondern sie in einen realen Kontext verortet, dann scheinen entsprechende Überlegungen, die nicht nur für eine hermeneutische Interpretation des Romans zentral sind, nicht berücksichtigt worden zu sein. Im Sinne Schleiermachers und Diltheys geht es im Rahmen der Hermeneutik nicht um Erkenntnisse über eine konkrete Einzelperson, d. h. es geht beiden nicht um den Autor (was bereits Schleiermachers Ziel, den Text besser zu verstehen, als der Autor ihn selbst verstanden hat, impliziert), sondern um Rückschlüsse von einem konkreten Text auf historische, soziale und politische Umstände. Obwohl es Schleiermacher über diesen ›Umweg‹ des Kontextes um den Textsinn ging, während dieser Umweg für Dilthey gerade das Ziel war – für Dilthey war ein literarischer Text insbesondere als Objektivation des Lebens zentral (vgl. Dilthey 1959, 219) –, ist ihnen doch gemeinsam, dass die Entschlüsselung der Autorintention niemals das Anliegen der Hermeneutik war, denn das »wahrhaft große[] Kunstwerk [...] will vom Autor überhaupt nichts sagen« (ebd., 207). Deshalb spricht Dilthey auch davon, dass der »Vorgang des Verstehens selbst als Induktion aufzufassen« (ebd., 220) sei. Problematisch ist jedoch weniger, dass viele Interpretationen von Effi Briest nicht hermeneutisch verfahren (das wäre es lediglich dann, wenn sie einen entsprechenden Anspruch erheben), sondern dass vielfach die Textanalyse zugunsten der Lebensumstände Fontanes und der Quellen seiner Texte, d. h. zugunsten der Autorintention und der detektivischen Suche nach weiteren realen Vorlagen in den Hintergrund rückt, was der Autorintention aber wiederum widerspricht (vgl. FHb, 447). Dies wurde in der FontaneForschung selbst bereits reflektiert (vgl. Neuhaus 1996, 9–11) und kritisiert, u. a. von Helmstetter: »Will

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V Theoretische Zugänge

man keine Literaturgeschichte der Intentionen des Autors schreiben – wie dies häufig getan wird –, muß man nun einmal die Texte selbst lesen und interpretieren« (Helmstetter 1997, 88). Besonders ertragreich wird die Analyse des Romans zudem erst, wenn das Postulat der Schleiermacherschen Hermeneutik, die eine absolute Gleichwertigkeit und Gleichzeitigkeit von psychologischer und grammatischer Interpretation vorsieht, eingehalten wird, was im Folgenden versuchsweise geschehen soll.

Eine hermeneutische Interpretation des Romans Eingangs wurden bereits die formalen und strukturellen Spezifika von Effi Briest angesprochen, die vor allem Implikationen des Romans meinen. Diese vielen Implikationen äußern sich auf vermeintlich widersprüchliche Weise. Denn einerseits steckt Effi Briest voller Vorausdeutungen, andererseits voller Unbestimmtheits- bzw. Leerstellen (vgl. Ingarden 1931, 250–259; Iser 1994, 267–315). Zwar handelt es sich dabei um Begriffe der Rezeptionsästhetik, sie treffen jedoch auch aus Sicht einer hermeneutischen Interpretation den Kern der Fontaneschen Schreibweise und sollen deshalb hier Anwendung finden: »Unstrittig ist, daß Fontanes sublime Kunst auf einer Finessen›Technik‹ beruht, die eine Gratwanderung zwischen zeigenden und verbergenden Kunstgriffen vollzieht« (FHb, 445). Der Roman verrät entsprechend schon vieles an früherer Stelle, lässt anderes aber wiederum völlig unerwähnt. Die vielen Anspielungen und Vorausdeutungen erwecken von Anfang an eine zumeist düstere Ahnung davon, was noch kommen wird (s. Kap. 21). Interessanterweise wird dieser Umstand der vielen Vorausdeutungen und auch der vielen Realitätsbezüge von Innstetten selbst thematisiert: »Es ist merkwürdig, was alles zum Zeichen wird und Geschichten ausplaudert, als wäre jeder mit dabei gewesen« (288). Auch bei solchen impliziten selbstreflexiven Aussagen handelt es sich, wie die weitere Analyse zeigen wird, um ein Spezifikum des Romans, das es zu berücksichtigen gilt (vgl. zur Selbstreflexivität Effi Briests Helmstetter 1997, 11, 166–168, 202–204, 212–214). Die ersten Vorausdeutungen finden sich bereits im viel zitierten Anfang des Romans bzw. seinem ersten Kapitel (vgl. zur Bedeutung, die Fontane dem Beginn eines Textes beimaß: FHb, 445), in dem »die wesentlichen Motive und Entwicklungen des Romans in äu-

ßerster Verdichtung« (Komm., 363) ebenso wie die drei historischen Quellen (vgl. Anderson 2018, 111– 112) bereits enthalten sind. Eine der bedeutsamsten Ahnungen, die jedoch nicht durch den Erzähler erfolgt, hat Innstetten nach dem berühmt gewordenen Satz ›Effi, komm‹: »Er glaubte nicht an Zeichen und Ähnliches, im Gegenteil [...]. Aber er konnte trotzdem von den zwei Worten nicht los, und [...] [es] war [...] ihm beständig, als wäre der kleine Hergang doch mehr als ein bloßer Zufall gewesen« (22). Konkreter und expliziter werden die Vorausdeutungen in Bezug auf Effis Affäre. Dass Crampas zum ersten Mal, noch namenlos, in einem von Effis Briefen ganz beiläufig auftaucht, da Effi »beinah’ vergessen« (121) hätte, ihn zu erwähnen, lässt sich aufgrund der Komposition des Romans als Vorausdeutung darauf lesen, dass er noch eine entscheidende Rolle spielen wird. Sein Äußeres wird von Beginn an als dämonisch beschrieben, »der linke Arm wurde ihm dicht unter der Schulter zerschmettert« (122) und auch sein Name impliziert eine entsprechende Lesart (vgl. Komm., 368). Auch sein Charakter wird als risikofreudig, leichtsinnig und rücksichtslos beschrieben, er wird deshalb auch als »Damenmann« (122) und als »Spielernatur« (172) bezeichnet (vgl. zu den von Crampas angeführten Heine-Gedichten, die auf Effis Verführbarkeit hinweisen: Komm., 369; s. Kap. 14, 33). Auch Formulierungen wie »in Front Innstetten und Crampas, Effi zwischen ihnen« (149) implizieren die zu diesem Zeitpunkt noch uneindeutige Dreiecksbeziehung bereits plastisch. Dass Effi froh ist, als sie Crampas für einige Zeit nicht sehen muss, und sich dazu »beglückwünschte [...], daß das alles nun mutmaßlich hinter ihr läge« (167; Herv. I. M.), verweist auf die zu diesem Zeitpunkt noch zukünftige Affäre. Neben der Affäre, die immer wieder angedeutet wird, noch bevor es dazu kommt, lässt sich auch das unglückliche Ende des Romans aus zumindest zwei Abschnitten schon zu einem früheren Zeitpunkt erschließen: Da ist einerseits die Erzählung Roswithas von der Geburt ihres unehelichen Kindes, von der sie Effi zum ersten Mal berichtet, als die Affäre schon einige Zeit andauert (vgl. 209), und andererseits die Aussage von Effis Vetter, dass er Innstetten »am liebsten fordern und totschießen möchte«, da er ihn »um diesen Engel gebracht« (212) habe. Diese Aussage dreht die Ereignisse jedoch um, insofern Dagobert Innstetten aus Liebe fordern würde, während dieser, wie später noch auszuführen sein wird, gerade nicht aufgrund eigener Gefühle die Entscheidung trifft, sich mit Crampas zu duellieren und Effi zu verstoßen. Un-

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klar bleibt, ob Effis und Crampas’ Affäre tatsächlich etwas mit Liebe zu tun hat – Effi selbst streitet dies sich selbst gegenüber ja ab (vgl. 325). Dass Effi ihre Vergangenheit einholen wird, erweist der schicksalhaft anmutende Zufall, dass sie nach ihrem Umzug nach Berlin mit Innstetten u. a. ein Dorf bereist, das den Namen ›Crampas‹ trägt (vgl. 247; Komm., 370). Insgesamt erwecken viele Ereignisse den Eindruck, als wäre Effis Weg von Beginn an unausweichlich: Dafür spricht, dass Effis Eltern schon vor der Hochzeit Zweifel daran haben, dass dies der richtige Weg für Effi ist (vgl. 37, 42, 44). Eine entsprechende Lesart lässt sich auch dadurch begründen, dass Effi schon zu Beginn des Romans feststellt: »[w]as ich nicht aushalten kann, ist Langeweile« (35), die während ihrer Kessiner Zeit auch zu ihren Angstzuständen beiträgt (vgl. zu einer historischen Deutung des Chinesenmotivs FHb, 181; Haberer 2012, 216–223; vgl. zur vielseitigen Symbolik des Chinesenmotivs FHb, 643–647; s. Kap. 22, 35, 45), die Innstetten bewusst schürt (s. Kap. 31) und die Crampas später wiederum nutzt (vgl. 152–156), um Innstetten in ein schlechtes Licht zu rücken. Auch dass Innstetten immer wieder Zweifel daran äußert, dass Crampas ein guter Umgang für seine Frau ist (vgl. u. a. 171–172, 191–193), dennoch aber nichts dagegen unternimmt – bzw. indirekt sogar für die Affäre mitverantwortlich ist, indem er sie vernachlässigt, »bis Effi plötzlich den Wunsch äußerte, mit ausreiten zu dürfen« (148), und indem er – was sich auch als Test Innstettens an Effis Charakterstärke und Treue verstehen lässt – Crampas darum bittet, zu Effi in den Schlitten zu steigen, und einen dunklen Waldweg einschlägt (vgl. 187–190) –, spricht für diese Lesart und somit auch dafür, dass viele Ereignisse bereits frühzeitig das Ende vorwegnehmen. Auch die wiederkehrende Kritik am Roman nimmt dieser selbst im Übrigen schon vorweg, als sich ›die Zwicker‹ darüber mokiert, dass Effi Crampas’ Briefe nicht verbrannt hat: »Wozu giebt es Öfen und Kamine?« (305) Neben den Vorausdeutungen finden sich unzählige Leer- bzw. Unbestimmtheitsstellen bzw. Aussparungen »entscheidender Ereignisse der Handlung«, die »den meisten Rezensenten als Gipfel erzählerischer Meisterschaft« (Komm., 382) galten bzw. gelten. Die durch diese Leerstellen entstehenden Lücken lassen sich vielfach erst im Laufe der weiteren Lektüre sinnvoll befüllen, viele können jedoch lediglich spekulativ befüllt werden. Sie schlagen sich beispielsweise in Briests wiederkehrendem Ausspruch ›Das ist ein weites Feld‹ nieder – man könnte hier sogar von einer

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selbstironischen Brechung sprechen. Ironie ist hier jedoch nicht im Sinne Fontanes als Spöttelei oder Persiflage zu verstehen (vgl. FHb, 433). Ein Blick auf Fontanes Realismusverständnis (s. Kap. 8) hilft dabei, die Bedeutung dieser Leerstellen zu erschließen, da »zur Wirklichkeit, wie sie Fontane widerspiegelt, insbesondere Normen [...] gehören« (ebd., 423). Dieses Verständnis plausibilisiert, dass viele handlungszentrale und z. T. auch pikante Stellen des Romans – die »Nachtseiten der menschlichen Natur« (Fontane, zit. nach ebd., 421) – Leerstellen bleiben, insofern sie auch im gesellschaftlichen Kontext der Zeit, in der Fontane lebte und schrieb, Leerstellen waren. Die gesellschaftliche (vor allem die bürgerliche) Realität des Endes des 19. Jahrhunderts zeichnet sich vielfach gerade durch das Schweigen über gewisse Themen aus (vgl. zum ›Verdacht der Tabuisierung‹ bestimmter Themen wie Sexualität oder Krankheit im Realismus FHb, 421–422). Deshalb ist auch nicht die Frage bzw. die Beantwortung der Frage danach, ob Effi Innstetten betrogen hat oder nicht, relevant, sondern die Art und Weise, wie die Figuren mit der Möglichkeit des Betrugs umgehen. Darüber hinaus stellt die Quantität dieser Leerstellen selbstreflexiv die Komplexität der Realität, die sich niemals zur Gänze darstellen lässt, aus. Insofern stellt Fontane damit gesellschaftliche Konventionen (vgl. Helmstetter 1997, 165, 177–197; FHb, 643; s. Kap. 42) und Geschlechterverhältnisse (vgl. Helmstetter 1997, 192–197, 222–226; Haberer 2012, 169–181; s. Kap. 43), die als Leerstellen gerade zu einem zentralen Thema des Romans werden, aus. Alle Figuren des Romans unterliegen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, was sich am deutlichsten an den beiden Hauptfiguren zeigt: Effi wird, ohne eine realistische Vorstellung von Liebe oder Ehe zu haben (vgl. Helmstetter 1997, 194–195; FHb, 637–639), mit einem Mann verheiratet, der sie als Ersatz für ihre Mutter nimmt (vgl. ebd., 640–641; vgl. zu den diesbezüglich Implikationen seines Namens: Komm., 364). Auch die Affäre mit Crampas nimmt ursprünglich ihren Anfang ohne Effis Zutun oder eindeutigen Willen. Denn die zentrale Szene im Schlitten (vgl. 189–190), in der es zu den ersten körperlichen Annäherungen kommt, ist markiert durch die Dominanz ihrer männlichen Umgebung: Weder kann Effi sich gegen ihren Mann stellen, der die Rahmenbedingungen erst erzeugt, noch gegen Crampas, was an früherer Stelle in einem gänzlich anderen Kontext bereits expliziert wird: »[...] der Major [...] nimmt einem die Dinge gern über den Kopf fort. Und man muß dann spielen, wie er

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will, und nicht, wie man selber will« (169). Zwar lässt sie sich später willentlich auf die Affäre ein, dennoch ist sie nicht aufgeklärt genug, um entsprechende Situationen überhaupt beurteilen und eine fundierte Entscheidung treffen zu können. Dass die Affäre öffentlich wird, liegt konsequenterweise nicht nur an Effis Naivität, aufgrund derer sie die Briefe nicht verbrennt, und an den zufälligen Umständen, die dazu führen, dass Innstetten die Briefe in die Hände fallen (ein Ereignis, das aufgrund seiner Komplexität die Kontingenz der Ereignisse ausstellt), sondern liegt wohl auch daran, dass Effi nicht ein zweites Mal schwanger wird. Dies ist aber wiederum nur insofern problematisch, als ihr erstes Kind eine Tochter ist. Auch ist sie nicht vor Ort, als Annie sich verletzt, was zum Finden der Briefe führt (vgl. zum ›Opferdasein der Frauen‹ in Fontanes Gesamtwerk FHb, 180–181). Innstetten, der in der Kritik vielfach negativ wahrgenommen wurde und wird, was nicht zuletzt durch Fremdcharakterisierungen als emotionsloser »Schneemann« (vgl. 77), als Erzieher (vgl. 156) oder als Streber (vgl. 325) befördert wird, ist von gesellschaftlichen Zwängen dominiert, aus denen er ebenso wenig wie Effi ausbrechen kann (vgl. Haberer 2012, 182–191). Er ist 38, als er Effi heiratet, bis zu diesem Zeitpunkt lebt er alleine (vgl. 143). Dementsprechend geht auch er die Ehe mit Effi unaufgeklärt ein und ist dabei – ebenso wie Effi – geprägt von falschen Vorstellungen, insofern er in Effi ein Abbild ihrer Mutter sieht. Die Formulierung des Erzählers, »[v]on deutlichem Erkennen konnte keine Rede sein« (273), als Innstetten Crampas’ Briefe findet, versinnbildlicht diese ›Blindheit‹. Besonders deutlich wird der Umstand der gesellschaftlichen Zwänge (s. Kap. 26) in seinem ersten Gespräch mit Wüllersdorf. Die ›Angelegenheit‹ wird hochgradig abstrahiert und theoretisiert erörtert, was sich insbesondere in der Sprachverwendung der beiden Figuren ausdrückt: »Es giebt eine Verjährungstheorie, natürlich, aber ich weiß doch nicht, ob wir hier einen Fall haben, diese Theorie gelten zu lassen« (276). Deshalb nennt Innstetten auch zuerst das Argument der Zeit und der damit im Kontrast stehenden »unsühnbare[n] Schuld«, bevor er »als zweites« (277) anführt, dass er Effi liebe (vgl. zu Innstettens gesellschaftlich aufgebürdeter Emotionslosigkeit Haberer 2012, 162). Sein eigenes Empfinden, das ebenso wie Effis Empfinden Innstetten und Crampas gegenüber unklar bleibt, steht demnach in eindeutigem Kontrast zu dem, was ihm die Konventionen – dieses »uns tyrannisierende Gesellschafts-Etwas« (278) – vorschreiben. Deshalb »sanktioniert er sich selbst«, »bevor andere ihn

sanktionieren« (Helmstetter 1997, 190). Wüllersdorf stellt entsprechend resignierend fest, dass »unser Ehrenkult [...] ein Götzendienst [ist], aber wir müssen uns ihm unterwerfen, so lange der Götze gilt« (280; vgl. zur Bedeutung von Schuld und Strafe für die Darstellung gesellschaftlicher Verhältnisse bei Fontane FHb, 436–439). Wie auch in der (text-)intentionalen Auslassung des Verhältnisses von Effi und Crampas geht es bei Innstettens Entscheidung nicht darum, was tatsächlich ist, sondern darum, was (gewesen) sein könnte. Tatsächlich stellt Helmstetter jedoch fest, »daß Instetten [sic] sich selbst und Wüllersdorf« einredet, »wie die Welt ist. [...] Was Diagnose sein soll, wird so zur Handlungsdirektive«, denn »im Sprechen wird Gesellschaft (re)produziert und ratifiziert« (Helmstetter 1997, 184–185). Innstetten spricht sogar davon, ›Komödie‹ zu spielen (vgl. 287; vgl. Helmstetter 1997, 214–215), was schließlich sogar so weit führt, dass er hypothetische Überlegungen darüber anstellt, aus der Gesellschaft auszubrechen (vgl. 340–341). Dass Effi in dieser Sache nicht mitzureden hat, sondern dass über sie entschieden wird, zeigt sich darin, dass sie vom 27. Kapitel, in dem Innstetten die Briefe entdeckt, bis zum 31. Kapitel, in dem bereits die Bediensteten und mit ihnen die Öffentlichkeit von den Ereignissen wissen, nicht ein einziges Mal auftritt (vgl. Haberer 2012, 162). Dabei handelt es sich entsprechend um eine weitere Leerstelle. Doch welche zentralen Ereignisse werden darüber hinaus ausgespart (s. Kap. 13)? Bereits von Effis und Innstettens Hochzeit wird sehr komprimiert erzählt. Bezeichnenderweise schweigt Effi dazu, als ihr ihre Mutter von Innstettens Heiratsantrag erzählt (vgl. 18). All ihre späteren Aussagen zu ihrer bevorstehenden Hochzeit sind Allgemeinplätze wie »[g]ewiß ist es der Richtige. [...] Jeder ist der Richtige. Natürlich muß er von Adel sein und eine Stellung haben und gut aussehen. [...] Wenn man zwei Stunden verlobt ist, ist man immer ganz glücklich. Wenigstens denk’ ich es mir so« (21). Gerade dieser letzte Satz verdeutlicht, wie oben bereits erwähnt, dass Effi keine realistische Vorstellung von Liebe und Ehe hat, was auch ihre Mutter wenig später explizit feststellt: »Du bist ein Kind. Schön und poetisch. Das sind so Vorstellungen. Die Wirklichkeit ist anders [...]« (33). Ebenso ausgespart wird Effis Schwangerschaft, von der lediglich in Abwandlung von ›dem, was ihr bevorsteht‹ (vgl. u. a. 127) gesprochen wird, und Annies Geburt wird lediglich nebenbei erwähnt: »schade, daß es ein Mädchen ist« (135; Komm., 367; vgl. zu den Vorausdeutungen, die Annies Name hervorruft: Komm.,

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368). Auch die Affäre bleibt – mit Ausnahme der ersten Verführungsversuche von Crampas im Schlitten – unexpliziert, lediglich kurze Passagen aus den Briefen Crampas’, von denen die Leser*innen erfahren, als Innstetten sie liest, verdeutlichen die Affäre. Bezeichnenderweise erhalten wir auch keinen Einblick in Effis Briefe mit Ausnahme ihres Abschiedsbriefs an Crampas (vgl. 223). All diese Ereignisse bleiben jedoch aus einem konkreten Grund Leerstellen: Es sind Themen, über die Effi nicht spricht. Die viel besprochene und im Detail analysierte Arbeitsweise Fontanes, in kürzester Zeit eine Idee für einen literarischen Text auf Basis verschiedener realer Ereignisse entwickelt, konzipiert und niedergeschrieben zu haben, um dann Wochen, Monate und bei Effi Briest sogar jahrelang mit der stilistischen Überarbeitung beschäftigt gewesen zu sein (vgl. Helmstetter 1997, 84–86; FHb, 444–445), macht die Annahme plausibel, dass all diese Implikationen in Effi Briest nicht zufällig sind, sondern intentional und sehr überlegt konzipiert wurden. Immer wieder ist in der entsprechenden Forschungsliteratur deshalb auch von »Fontanes Kreativitätsformel ›Psychographie und Correktur‹ (Fontane 1885, zit. nach Anderson 2018, 90)« (ebd., 90) die Rede. Schließlich stehen Crampas’ letzte Worte, die er nicht mehr sprechen kann, bevor er stirbt (vgl. 286), sinnbildlich für die Unbestimmtheitsstellen, die den gesamten Roman auszeichnen (s. Kap. 41). Literatur Anderson, Paul Irving: The Making of ›Effi Briest‹. Stoffe, Entwürfe, Chronologie. In: FBl 105 (2018), 87–120. Aust, Hugo: Kulturelle Traditionen und Poetik. In: FHb, 306–465. Berbig, Roland: Fontane und das literarische Leben seiner Zeit. In: FHb, 192–305. Dilthey, Wilhelm: Die Entstehung der Hermeneutik. In:

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Ilona Mader

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V Theoretische Zugänge

38 Werkimmanente Interpretation Werkimmanenz als Irrtum? Peter J. Brenner hat die »Kunst der Interpretation«, also die sogenannte werkimmanente Methode, als Geschichte eines Irrtums bezeichnet (Brenner 1998, 65). Sie geht zurück auf die klassische Idee vom autonomen Kunstwerk, das frei ist und keinen anderen Gesetzen als denen der eigenen Kunst unterworfen. Die Germanistik in ihren historischen Anfängen – die mit Fontanes Spätwerk zusammenfallen – hat daraus eine ›Erlebnisdichtung‹ abgeleitet, die das Problem der Interpretation entschärft. Dem wiederum haben der russische Formalismus und der tschechische Strukturalismus eine deskriptive Betrachtung entgegengesetzt, die das Werk vom Autor trennt. Doch die einseitige Reduktion auf den Text ist ein konstruierter Vorwurf der Gegner der Werkimmanenz. Die Hauptvertreter dieser Methode in der Germanistik, Wolfgang Kayser (1948) und Emil Staiger (1951), haben die zeitlichen und geistesgeschichtlichen Kontexte nie ganz ausgeblendet, vermochten aber mit ihrer ›Methode‹ für die Autorenphilologien keine dauerhaften Wege der Forschung zu öffnen; Kaysers Vorschlag, die Struktur des »Raumromans« aufgrund der »Verschiedenheit und Fülle der Räumlichkeiten« (Kayser 1954, 436) vom Figuren- und Handlungsroman abzusetzen, fand in der Fontane-Forschung keine Resonanz.

Close readings der Bauformen des Erzählens Im Sinne des New Criticism, des amerikanischen Vorläufers der Werkimmanenz (hier ist vor allem T. S. Eliot zu nennen), kommt es vielmehr auf ein close reading an, in dem Stil und Struktur des Werkes vor dessen Gattung und dessen Epoche rangieren (Gruber 2009, 773–774). In der Fontane-Forschung ist dieses close reading vor allem in Dissertationen praktiziert worden. Bossharts bei Emil Staiger in Zürich entstandene Dissertation (1957) untersucht die stilistische und symbolische Funktion von Entfernungs- und Raumdimensionen in Fontanes Erzählungen. Hervorzuheben sind die Dissertationen von Lämmert (1955), Delius (1971) und Mittenzwei (1970). Lämmert und Mittenzwei haben die ästhetische Leitfunktion der Dialoge in Fontanes Romanen entdeckt: Es sind keine Aufbau- oder Handlungsdialoge, sondern strukturelle Bögen, die sich über die jeweilige Familiengeschichte

wölben. Gespräche runden das Bild einer »guten Gesellschaft«, in der die Sitte Literatur wird (vgl. Demetz 1964, 249), und dienen der Konsumierbarkeit von Fontanes Fortsetzungsgeschichten (Ester 2018, 73). Auch das Wetter in Fontanes Romanen lenkt die Spannung und kann den Gegenstand der Handlung erhöhen (Delius 2011, 111; s. Kap. 21). So dient der Schneefall im zentralen Wendekapitel (19.) in Effi Briest nicht nur der Steigerung der weihnachtlichen Stimmung, sondern auch der Illustration von Effis Schutzmauer-Gedicht und der Begründung des fatalen Schlittentausches, durch den Effi neben ihren Verführer Crampas zu sitzen kommt.

Zitate und Briefe im Roman: Reden mit fremder Stimme Die präzisen Lektüren des Romans, die sich an dessen Aufbau, Stilkunst, an seinen Motivbildungen und metaphorischen Klammern orientieren, sind bis heute maßgeblich für die Fontane-Forschung. Besonders wichtig ist das Gespräch (s. Kap. 14, 36). Was Lämmert an den Poggenpuhls nachweist (Lämmert 1955, 226), gilt verstärkt für Effi Briest: über die Hälfte des Romans besteht aus Dialogen, hinzu kommen Zitate aus Briefen und Literatur, Telegramme (210, 233, 238), Rezepte (235), Leselisten (233) und natürlich Bücher (vor allem die von Effi gelesenen und die von Crampas empfohlenen; vgl. Pütz 1989), so dass für die äußeren Aktionen und Vorfälle nur ein kleiner Teil der Erzählbreite bleibt. Es sind die Briefe, die unter dem Blickwinkel der Werkästhetik eine besondere Betrachtung lohnen. Sie machen den Roman »komplexer, reichhaltiger, vieldimensionaler und auch vieldeutiger« (Mecklenburg 2018, 134). Briefe sind zunächst eine Art des schriftlichen Gesprächs im mündlichen Gespräch, ein Monolog, der in den Dialog kommt. Briefe strukturieren das Zeit- und Raumgerüst des Romans (Honnefelder 1973, 15); sie dienen der Vorausdeutung und rückwirkenden Erklärung; sie charakterisieren die Personen, die Briefe schreiben, ebenso wie die, die Briefe lesen; sie konturieren die Distanz des Erzählers zu seinen Figuren, deren Emotionen und deren Aktionen. Unter den Bauformen des Erzählens gehören die Briefe in den Bereich des »Redens mit fremder Stimme« (Mecklenburg 2018, 133). Wenn eine Figur in einer anderen Form oder mit einer anderen Stimme redet als ihr, mit Luther gesagt, der Schnabel gewachsen ist, dann zitiert sie andere Figuren (aus ihrem Lebensumkreis oder aus

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2019 S. Neuhaus (Hg.), Effi Briest-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04874-5_38

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der Literatur) oder schlüpft in eine andere Sprech- und Leserolle. Fontane hat dieses Spiel mit, je nach Adressatenbezug und Zielrichtung, wechselnden Briefschreibrollen in seinem umfänglichen Briefwerk souverän und kunstvoll gespielt (Jurgensen 2000, 774) und seinen Figuren manche ihm vertraute, womöglich nahe Redensart – als »Bruchstücke einer großen Konversation« – in den Mund gelegt (Reich-Ranicki 1977). Historisch gesehen, ist der Brief seit 1800 zwar ein Ausdruck von produktiver Intimität und zeigt die Emanzipation eines bürgerlichen Selbstgefühls, das sich selbst wichtig zu nehmen gelernt hat. Aber zugleich steht der Brief auch in einem öffentlichen Netzwerk, in dem das private Schreiben, insbesondere von Frauen, unter Beobachtung, ja Kontrolle steht. Das zeigt der Briefroman seit Goethes Werther (1774), der bis in den Roman des bürgerlichen Realismus ausstrahlt. In Effi Briest endet die verbotene Liebe zwar nicht damit, dass sich einer mit einem Abschiedsbrief das Leben nimmt. Aber unter den moralischen Augen einer ›guten Gesellschaft‹ (s. Kap. 26) kann das Liebespaar, obwohl nur ein paar Schritte voneinander entfernt, sein Stelldichein nur postalisch, nicht mündlich, arrangieren. Liebesbriefe regeln diskrete Orte und verabredete Uhrzeiten. Im Code des amour physique (im Sinne Stendhals) zwischen Effi und Crampas ist diese Liebesverabredung so intim, dass sie als stillschweigendes Wissen, als tacit knowledge, vom Erzähler vorausgesetzt und nur bruchstückhaft nach der Entdeckung der Briefe mitgeteilt werden kann (274–275). Einerseits werden viele der Briefe in Fontanes Effi Briest im stillen Kämmerlein geschrieben, andererseits werden sie vor Mithörern vorgelesen; es sind »ostensible« Briefe in einem regen »sittlichen und literarischen Verkehr« im Sinne Goethes (Schöne 2015, 17). Fontane hat – so der Forschungskonsens – den ästhetischen Einsatz des Briefs im Roman ausgereizt. Die Briefe in Thomas Manns Roman Buddenbrooks (1901) zollen dem noch Respekt (s. Kap. 19); im Roman des 20. Jahrhunderts aber wird der Brief meist durch Inneren Monolog und Erlebte Rede ersetzt; als Medium ist er von Zeitung, Schreibmaschine, Telefon und später der E-Mail beinahe »vernichtet« worden (Görner 2008, 26–27).

Effis Hochzeitsbriefwechsel In fast der Hälfte der 36 Kapitel in Effi Briest kommen Briefe vor. Sie werden vollständig oder in Auszügen wiedergegeben, manchmal zum Zeitpunkt der Nie-

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derschrift, manchmal beim Öffnen, Lesen oder Vorlesen, wenige Male als Erzählerbericht (304–305). Alle Briefe drehen sich um Effi, die meisten tragen ihre Handschrift. Eine nicht ganz unwesentliche Rolle spielen auch die Dienstboten, die die Briefe bringen (33, 93), und die Dienstbriefe, die Innstetten vorrangig liest (so den Ernennungsbrief zum Ministerialdirektor; 337) und gewohnheitsmäßig »schnell erledigt« (247). Sie setzen soziale Prioritäten. Der erste Brief steht im 4. Kapitel, er kommt von Innstetten und ist an Effi gerichtet. Doch obwohl die Hochzeitsvorbereitungen des bereits verlobten Paars in vollem Gange sind, steckt Effi den Brief beiseite und redet solange drum herum, bis ihre Mutter ihr befiehlt: »Lies« (36). Es ist also ein Vorlese-Brief, kein intimer Liebesbrief, sondern ein Dokument mit rechtem Maß ganz nach dem Geschmack der Mutter, die als verpasste ehemalige Geliebte Innstettens nur zu gerne hört, was er ihrer Tochter geschrieben hat. Und das ist durchgehend gehalten im Genus mediocre, auf mittlerer Stilebene, ohne Pathos und Liebesschwüre, bis auf den »zärtlichsten Kuß« in der Conclusio (36). Die Captatio, der zweite von fünf Schritten in der klassischen Briefrhetorik, fällt aus. Anstatt pathetischen Aufwand beim Werben um Partnergunst zu betreiben, beginnt Innstetten mit einem Vorwurf: »Je näher wir unserem Hochzeitstage kommen, je sparsamer werden Deine Briefe« (36). Ein Kapitel später lesen wir mit den Eltern Effis ihre Karten von der Hochzeitsreise. Es sind Sehnsuchtskarten, in denen der Ehemann standardisiert als »engelsgut« (46) bezeichnet wird. Doch Effi ist hier eine affektabhängige, unsichere Briefschreiberin; sie kritzelt und deutet Namen »nur mit zwei Buchstaben« an (45). In Kessin schreibt Effi Briefe an ihre Mutter und an ihre Freundinnen, von denen wir nichts Inhaltliches erfahren (74). Aber dann kommt, im 10. Kapitel, ein neuer Briefschreiber ins Spiel. Gieshüblers Einladungsbrief zu einer musikalischen Soiree dient zunächst dazu, die Spannung aufzulösen, die sich zwischen dem Ehepaar nach der Spuknacht aufgebaut hat. Sodann trägt das Billet, das in »wundervoller Kanzleihandschrift« (93) geschrieben ist und stilistisch ins Genus sublime passt, eine symbolische Signatur. Statt des Siegels hat es ein Bild mit einer Lyra, in der ein Stab steckt, den man auch als (Liebes-)Pfeil ansehen kann. Wenn Effi ihrem Mann das Billet vorliest, dann ist die – für Innstetten unbedenkliche – Union von Liebe und Kultur mit dem hagestolzen, aber harmlosen Apotheker Gieshübler, der für Effi die Ge-

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V Theoretische Zugänge

fühle des »Vaters und Onkels, des Lehrers und Verehrers« hegt (119), besiegelt. Das 12. Kapitel enthält Effis langen Silvesterbrief an die Mutter. Es ist ein Seelenöffnungsbrief, der längste im Roman (114–118). Effi ist für sich, allein im Haus. Sie schüttet der Mutter ihr Herz aus, spricht von der bevorstehenden Geburt als »frohe[m] Ereignis« (115) und vom »Spukhaus« (116), bittet aber dabei um Geheimhaltung: »Innstetten darf nicht davon wissen« (115). Im 13. Kapitel, inzwischen ist Februar, bekommt die Mutter einen weiteren Brief, aus dem der Erzähler nur den Schluss wiedergibt. Es geht um den neuen Landwehrbezirkskommandeur Crampas und dessen Frau. Crampas’ Biographie und sein Familienleben enthalten hier schon wichtige Vorausdeutungen auf den Fortlauf der Handlung: Er ist ein »Mann vieler Verhältnisse« (122), »[v]ollkommener Kavalier« (123), trägt eine backstory wound aus einem Duell mit sich und seine Frau bringt Effi in »eine ganze Verlegenheit« (123). Effi schreibt parteiisch, latent verliebt, verräterisch.

Briefe aus Berlin Nach dem Ehebruch (s. Kap. 24) und Effis Umzug nach Berlin (s. Kap. 27) werden die mitgeteilten Briefe kürzer, situationsgebundener und ernster, auch strenger im Ton. Im 22. Kapitel, Innstetten hat gerade seine Berufung ins Ministerium erhalten, empfängt Effi beim späten Frühstück einen Brief der Mutter. Sie hat aus einer Berliner Mietwohnung geschrieben. Ihr Brief beginnt verschnupft, weil sie von Innstettens Beförderung erst »von einem Dritten erfahren« habe (218). Effi liest den Brief (ob laut oder leise, bleibt offen), der ein zweites Mal den Ruf »Effi [...] komme« (218) enthält, diesmal nicht als Rück- und Wegruf der Freundinnen, sondern als Hinruf nach Berlin. Das Kapitel endet mit Effis Abschiedsbrief an Crampas (223). Sie redet ihn mit »Sie« an, die Salutatio, die Anrede, entfällt. Es ist der einzige Brief, von dem wir hören, dass sie ihn persönlich abgibt (223), und es ist der wohl ehrlichste, einsichts- und reuevollste Brief, den sie schreibt. Das kann man von den nächsten Briefen nicht sagen. Nachdem der noch in Kessin weilende Innstetten im 23. Kapitel ungeduldig, fast »spitz« (231) geschrieben hat, flieht Effi in eine Krankheitskomödie und ruft dann Innstetten nach Berlin. Sie schreibt hier einen Brief mit »advokatorischen Kniffen« (Kafka 1983, 85). Die Narratio (der dritte Teil der Briefstruktur) ist ihre Krankheitslüge, die Petitio gilt ihrem Fern-

Abschied von Hohen-Cremmen. Der Brief ist sachlich gehalten und dennoch suggestiv und zielbewusst in seiner Absicht, das Medium zu »beschleunigen« (238): Effi bringt den Brief selbst zur Post. Im letzten Drittel des Romans wachsen die Briefe den Figuren über den Kopf. Sie treiben zu Handlungen an, die weder im Bewusstsein noch in der Intention ihrer Schreiber und Empfänger waren. Den Brief, den Effi an Innstetten aus ihrer Emser Kur schreibt, liest dieser deshalb »ein wenig mißmutig« (266), weil er ihren Umgang mit der Geheimrätin Zwicker missbilligt. Diese wiederum hat mit Effi über Zolas Kurtisanen-Roman Nana (1880) gesprochen. Effis Brief (am Anfang des 26. Kapitels) ist der einzige Brief, der in Fontanes Roman in indirekter Rede wiedergegeben wird – Zeichen für eine leicht ironische Distanzierung des Erzählers von seiner Hauptfigur. Den nächsten Brief, den Innstetten von seiner Frau aus Ems bekommt, kann er bezeichnenderweise seiner Tochter nicht vorlesen (271). Kein Wunder, geht es doch um Effis Rückkehr, die sich aufgrund des Funds der Liebesbriefe von Crampas an Effi erübrigt. Dieser Fund hat sich, zufällig, im 26. Kapitel ereignet, und im nächsten sehen wir Innstetten mit Crampas’ Briefen an Effi. Die Szene, eigentlich eine Enthüllungs- und Entscheidungsszene, wird mit einer verzögernden »Regieanweisung« (Renz 1999, 31) eingeleitet. Innstetten betrachtet den Lampenschirm, in den Bilder seiner Frau von der Privataufführung des Wichert-Stücks Ein Schritt vom Wege eingelassen sind. Das Medium des Bildes geht dem der Schrift voraus – und deutet zurück auf den Anfang vom Ende eines scheinbaren »Musterpaar[s]« (343). – Innstetten hat das »Briefpaket« in eine für ihn und den Leser passende Ordnung gebracht und liest »noch einmal mit halblauter Stimme« (274) drei exemplarische Briefe vor. Darin geht es um den Anfang der Affäre, um einen verworfenen Neubeginn (mit der Erwägung einer »Flucht«; 275) und um die unausweichliche Trennung. Den Absagebrief ihrer Mutter erhält Effi im 30. Kapitel. Es ist ein Einschreiben, »mit zwei großen Siegeln gesiegelt und ein dickes Couvert« (299), darin Geld. Obwohl später nur der Schluss des Briefes mitgeteilt wird (301–302), ist zu vermuten, dass dieser Brief der mit der wohl stärksten emotionalen Wirkung im Roman ist. Effi fällt darüber in Ohnmacht (300) und beschließt dann, sofort abzureisen. Der Brief hat seine Funktion, Effi zu vereinsamen, erfüllt; sie hat Eltern, Ehemann, Tochter und Liebhaber verloren, dazu die ›gute Gesellschaft‹ in Berlin und Hohen-Cremmen, die ihren Eltern noch so wichtig scheint. Fontane lässt es dabei aber nicht bewenden – und das für Effi so fa-

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tale 31. Kapitel mit einem comic relief ausklingen, indem er aus einem Frauenbrief zitiert, der an die romantische Schule briefschreibender Frauen erinnert. Die Geheimrätin Zwicker stellt in einem Brief an eine »befreundete [...] Berliner Dame« (304) Vermutungen über die »wirkliche Geschichte« hinter Effis Abreise an, als sie durch den Zeitungsboten mit der Nachricht über Crampas’ Tod im Duell auf den neuesten Stand gebracht wird. Das Medium im Medium wird als Postscriptum mitgeteilt; eine »Nachschrift« (305) zum Vorgefallenen, aber auch zu Sinn und Zweck des Briefeschreibens im Zeitalter beschleunigter Kommunikation: »So lange wenigstens wie dieser Duellunsinn noch existiert, darf dergleichen nicht vorkommen; einem kommenden Geschlecht kann diese Briefschreibepassion (weil dann gefahrlos geworden) vielleicht freigegeben werden« (305). Die letzten Briefe stehen im Zeichen von Begütigung und Versöhnung. Im 33. Kapitel erhält Effi einen Brief der Ministerin mit der von ihr erwirkten Erlaubnis Innstettens, dass Effi ihre Tochter wiedersehen darf; im 34. Kapitel liest Luise von Briest ihrem Mann einen Brief von Dr. Rummschüttel vor, Effis Hausarzt, der den Eltern dringend rät, die Tochter zu ihrem eigenen Wohl wieder zu Hause aufzunehmen; und im 35. Kapitel ist es die treue Haushälterin Roswitha, die nach Wüllersdorfs Worten allen »über« ist (339), die einen stilistisch und rhetorisch unsicheren, doch in der Bittabsicht zielsicheren Brief an Innstetten schreibt: Der Hund Rollo soll zu der todkranken Effi. Roswithas letzte Briefworte, die auf die letzten Worte der Haushälterin Sesemi Weichbrodt in Manns Buddenbrooks vorausweisen, enthalten ein Schlüsselwort zum Verständnis des Romanendes: Gnade. Es ist kein Zufall, sondern der Toleranz und Ironie des Briefschreibers Fontane geschuldet (vgl. Jurgensen 2000, 785), dass sich das ›Gnädige‹ hier, im vorletzten Kapitel von Effi Briest, hinter der förmlich unangemessenen Adressatur »Sr. Wohlgeboren [...]« (337) und der stilistisch ungelenken Briefanrede »Gnäd’ger Herr!« (339) verbirgt. Literatur Bosshart, Adelheid: Theodor Fontanes historische Romane. Phil. Diss. Winterthur 1957. Brenner, Peter J.: Das Problem der Interpretation. Eine Einführung in die Grundlagen der Literaturwissenschaft. Tübingen 1998. Delius, Friedrich Christian: Der Held und sein Wetter. Ein

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Michael Braun

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V Theoretische Zugänge

39 Psychoanalyse Einführung Der psychoanalytische Zugang zur Literatur gründet auf der Prämisse, dass jedes Kunstwerk, also auch jeder literarische Text, »Ergebnis einer psychischen Aktivität« (Schönau 1991, 81) ist und damit auch mit psychologischen Instrumenten analysiert werden kann. Nicht alle Möglichkeiten, psychoanalytische Zugänge und Theoreme literaturwissenschaftlich fruchtbar zu machen, können hier dargestellt werden. Prinzipiell zu unterscheiden sind drei Bereiche: Zum einen ist das der kreative Schaffensprozess, der sich auf psychologische Aspekte der Biographie des Autors und der Entstehung des Kunstwerks, in diesem Fall des Textes, erstreckt. Dazu gehört Sigmund Freuds Theorie der Sublimierung, die davon ausgeht, dass sexuelle Triebenergien in künstlerische Produkte umgeformt und dabei aufgewertet und gesellschaftlich akzeptabel werden (Freud 1974). Der zweite Bereich betrifft die Prozesse der Rezeption, also Wechselwirkungen zwischen Leser*in und Text. Der dritte Bereich schließlich ist die psychoanalytische Interpretation literarischer Texte, in den auch die beiden ersten Bereiche einfließen können. Eine wichtige Unterscheidung diesbezüglich ist jene zwischen endopoetischen und exopoetischen Herangehensweisen. Während die endopoetische Methode das psychoanalytische Instrumentarium nur werkimmanent anwendet, bezieht die exopetische Methode textexterne Elemente wie biographisches Wissen über den Autor in die Analyse und Interpretation mit ein. Gerade im Fall Fontanes neigte die Forschung bisher stark zu Letzterem, was auch mit den umfangreichen und gut erschlossenen Selbstaussagen Fontanes in Form von Briefen und Tagebüchern zu tun hat. Eine solche auf den Autor konzentrierte Interpretation berücksichtigt Informationen über Kindheit und Familie, soziale Einbettung und zeitgeschichtliche Einflüsse, was, wie noch gezeigten werden soll, nicht unproblematisch ist. Eine logische Nähe der Psychoanalyse zur Literatur und ihrer Interpretation findet sich strukturell, liegt es doch im Wesen beider, dass das Entscheidende nicht an der Oberfläche, sondern in der Tiefenstruktur liegt und erst dechiffriert werden muss. Eine besondere Position wurde hier der Traumdeutung beigemessen. So kann der Traum in seiner Verwandtschaft zum Phantasieren und zum Tagtraum als Analogie zum literarischen Text gesehen werden (Schönau 1991, 85). Unstrittiger als dieser Vergleich, der

die Intentionalität von Literatur ignoriert, ist, dass Freuds Traumtheorie zwei entscheidende Fragestellungen mit der literarischen Interpretation von Texten teilt: Zum einen die »Rekonstruktion der Traumarbeit«, die der Analyse eines Textes entspricht, zum anderen die »Rückübersetzung des manifesten Inhalts auf den latenten Gedanken« (ebd., 88), wozu die Entschlüsselung von Symbolen und Metaphern, die für Literatur und Traum demselben kollektiven Erfahrungshorizont entspringen, substanziell ist. Weiters wird gerne auf psychoanalytische Theoreme rekurriert, um im Rückgriff auf das Unterbewusste das Verhalten von Figuren zu erklären, was mitunter – auch im Falle von Effi – in einer fragwürdigen Pathologisierung mündet und ein häufig vorgebrachter Kritikpunkt an der psychoanalytischen Literaturinterpretation ist.

Kritik Psychoanalytische Literaturinterpretationen waren sowohl innerhalb der Literaturwissenschaften als auch unter Schriftsteller*innen immer schon umstritten. Robert Musil wies etwa darauf hin, dass »Gestalten eines Dichters [...] keine Seele« hätten; sie »wie lebende Menschen« zu behandeln, sei »die Naivität eines Affen, der in den Spiegel greift« (Musil zit. nach Anz 1997, 389). Auch Arthur Schnitzler, der ob seiner Bekanntschaft mit Freud und seinen Kenntnissen von dessen Forschung häufig als der Autor der Psychoanalyse bezeichnet wird, warnte vor Willkürlichkeit und Überinterpretation (Schnitzler 1987, 96; Le Rider 2007, 52). Finden sich zweifellos psychoanalytische Theoreme in seinen Texten, stand er Freuds Theorien nichtsdestoweniger sowohl im therapeutischen als auch im literarischen Sinne skeptisch gegenüber. Ein weiterer, häufig vorgebrachter Kritikpunkt ist die mangelnde Befähigung der Interpret*innen, was zu einer »bedenkliche[n] Form ›wilder Analyse‹« und einer »›Laienanalyse‹ in mehr als einer Bedeutung des Wortes« (Schönau 1997, 81) führt. So verfügen viele Literaturwissenschaftler*innen nur über eine begrenzte psychologische Qualifikation, während in den Interpretationen von Pschychoanalytiker*innen das Instrumentarium der Literaturwissenschaften missachtet oder nur rudimentär eingesetzt wird. Die Grenzen der Interpretation werden dabei überschritten und Figuren mit Patient*innen verwechselt. Aus diesem Grund verfahren beide Gruppen oftmals hochgradig spekulativ, was nicht zuletzt zum schlechten Ruf der psychoanalyti-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2019 S. Neuhaus (Hg.), Effi Briest-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04874-5_39

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schen Literaturwissenschaft beigetragen hat. Eine Interpretation, die alle Aspekte der »korrekten analytischen Deutung (den genetischen, den dynamischen, den topischen, den ökonomischen und den adaptiven Gesichtspunkt)« (Schönau 1991, 91) erfasst, ist äußerst selten. Eine solche näher vorzustellen, würde den Rahmen dieses Artikels sprengen, bei Schönau findet sich aber eine prägnante Übersicht (ebd., 82–85). Häufig werden nur populäre psychoanalytische Elemente isoliert übernommen und im Text identifiziert, was wenig Erkenntnisgewinn mit sich bringt. Besonders das Freudsche Instanzenmodell von Es, Ich und Über-Ich und der Ödipuskomplex haben es den Interpret*innen angetan, wie Anz kritisiert: »Ein weiterer [Kritikpunkt] liegt in jenem reduktionistischen Schematismus psychoanalytischer Literaturinterpretationen, der in jedem analysierten Text immer das findet, was er sucht: das ödipale Drama oder, in jüngerer Zeit bevorzugt, als Basis narzißtischer Größenoder Verschmelzungsphantasien das Drama der frühkindlichen Ablösung von der Mutter« (Anz 1997, 378).

Fontane im Kontext der psychoanalytischen Literaturinterpretation Es gibt keinen Hinweis darauf, dass Fontane bewusst psychoanalytische Theoreme in seinen Texten verarbeitet hat. Es erscheint auch unwahrscheinlich, läutet das Ende seiner Schaffenszeit doch erst den Beginn der Blütezeit der Psychoanalyse ein. Nichtsdestoweniger war Fontane ein Zeitgenosse Freuds, und auch wenn er die Psychoanalyse nicht aktiv rezipiert haben sollte, wovon auszugehen ist, so war er doch mit eben jenen, schon vor der Jahrhundertwende virulent werdenden, gesellschaftlichen und psychologischen Phänomenen konfrontiert, mit denen die Psychoanalyse in Wechselwirkung stand. Die Industrialisierung, die bürgerlichen Revolutionen und viele andere Prozesse setzen das Subjekt massiven Veränderungen und widersprüchlichen Anforderungen aus. Familiensysteme und Geschlechterrollen werden brüchig, das Individuum sieht sich aus kollektiven Identitätssystemen zunehmend isoliert, was Freiheit und Fluch gleichzeitig bedeutet. Dies schlägt sich in psychischen und somatischen Beschwerden wie der Neurasthenie und der Hysterie nieder (s. Kap. 25). Fontanes Romane sind präzise Beobachtungen der Zurichtungen des Individuums durch soziale Zwänge und die Unbarmherzigkeit ihrer Exekution. Besonders schön zeigt sich dies

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an der Transformation des dem Roman zugrundeliegenden Falls Ardenne (s. Kap. 9) von einer zwar zeittypischen, aber psychologisch nicht sonderlich interessanten Begebenheit in ein komplexes gesellschaftliches und individuelles Psychogramm. Es nimmt daher nicht Wunder, dass Fontanes Werk eine Fundgrube für die psychoanalytische Literaturwissenschaft war und ist. Fontanes Beschreibung seiner Autorschaft wird in der psychoanalytischen Rezeption als Legitimierung für die Konzentration auf das Unterbewusste ins Feld geführt (u. a. Dyck/Wurth 1985, 619; Greve 1986, 195). Fontane beschreibt, dass er »das Ganze träumerisch und fast wie mit einem Psychographen geschrieben« habe (Brief an Hans Hertz, 2.3.1895, zit. nach Greve 1986, 195). Im gleichen Brief schreibt er, alles sei »wie von selbst gekommen, ohne rechte Überlegung und ohne alle Kritik« (ebd.). Da Fontane sein Vorgehen allerdings gleichzeitig als durchdacht präsentiert – ein Beispiel dafür sind die skandalauslösenden Briefe, wie gleich noch näher gezeigt werden soll – und nicht etwa wie Franz Kafka, der einen Text in einem Zug im nächtlichen Schreibrausch zu Papier brachte, wirkt diese Argumentation reduktionistisch. Dennoch kommt Fontanes literarisches Prinzip, sein realistisches, in Wirklichkeit aber hochgradig artifizielles und verdichtetes Schreiben, in dem das Entscheidende in ein komplexes Verweissystem unter der Oberfläche verborgen wird (s. Kap. 13, 14, 34, 36, 41), psychoanalytischen Herangehensweisen entgegen. Wie schon erwähnt, liefern Fontanes Biographie (s. Kap. 6, 7) und seine Lebensdokumente (s. Kap. 8) vielen Interpret*innen Ansatzpunkte für eine (nicht immer, aber oft) Überbetonung des genetischen Aspektes, in deren argumentativem Zentrum Fontanes Depressionen (u. a. Greve 1986; Gravenkamp 2004) und angebliche inzestuöse Gefühle zu seiner Tochter stehen. Beides fließt in psychoanalytische Lesarten von Effi Briest ein. In den unzähligen Interpretationen werden sowohl einzelne Elemente herausgegriffen und psychoanalytisch verortet, es gibt aber auch solche, die die Werkstruktur unter psychoanalytischen Gesichtspunkten betrachten. Dabei kristallisieren sich folgende thematische Komplexe heraus, die besonders häufig behandelt wurden: das Mutter-Tochter- und VaterTochter-Verhältnis unter dem Gesichtspunkt von Inzest und ödipaler Begehrensstruktur (s. Kap. 43), Effis Krankheit und ihre unterschiedlichen psychologischen Ätiologien, die vorzeitig beendete Adoleszenz sowie das Unbewusste und seine verschiedenen Ebenen, wofür beispielsweise die Figur des Chinesen (s. Kap. 22) besonderes Interesse auf sich gezogen hat.

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Spekulationen Mitunter neigen psychoanalytische Interpretator*innen dazu, die von Umberto Eco aufgezeigten »Grenzen der Interpretation« (Eco 1992) zu überschreiten und ins Spekulative abzudriften. Diese Gefahr wohnt natürlich jeder Form von Interpretation inne, doch durch den Fokus auf das Unbewusste in seinen verschiedensten Ausprägungen ist die psychoanalytische Interpretation besonders gefährdet respektive gefordert. Ein Beispiel dafür ist die Erklärung für Effis schwer zu rationalisierendes Verhalten, die entlarvenden Briefe ihres ehemaligen Liebhabers Crampas jahrelang in der gemeinsamen Familienwohnung aufzubewahren, wodurch sie jederzeit Gefahr laufen muss, dass die Briefe entdeckt werden. Dies steht im Widerspruch zu Effis verzweifeltem Versuch, die Affäre zu beenden und eine Rückkehr nach Kessin zu verhindern, wobei sie dabei sogar so weit geht, wochenlang eine Krankheit vorzutäuschen (s. Kap. 25). Dieser logische Bruch wurde häufig angemerkt und auch Fontane war sich dessen bewusst, fand aber andere Plotwendungen noch unwahrscheinlicher und entschied sich daher für diese, wiewohl er sie selbst wenig originell fand: »Ja, die nicht verbrannten Briefe in ›Effi‹! Unwahrscheinlich ist es gar nicht. Dergleichen kommt immerzu vor. Die Menschen können sich nicht trennen von dem, woran ihre Schuld haftet. Unwahrscheinlich ist es nicht, aber es ist leider trivial. Das habe ich von allem Anfang an sehr stark empfunden, und ich hatte eine Menge anderer Entdeckungen in Vorrat. Aber ich habe nichts davon benutzt, weil alles wenig natürlich war, und das gesucht Wirkende ist noch schlimmer als das Triviale. So wählte ich von zwei Übeln das kleinere« (Brief an Hermann Wichmann, 24.4.1896, DÜW 2, 461).

Wo die Kritik einen ärgerlichen Fehler bemängelte und Fontane einen zwar trivialen, aber eben durchaus nicht unwahrscheinlichen Zufall sah (s. Kap. 8, 15), orten Dyck und Wurth eine objektbeziehungspsychologische Bruchstelle. Sie setzen sich über Fontanes Eigenaussauge hinweg und beziehen sich auf Fontanes Charakterisierung seiner Arbeit an Effi Briest, wonach man beim Schreiben »Mundstück sei, in das von irgendwoher hineingetutet wird« (ebd.). Damit legitimieren sie ihre in eine andere Richtung gehende Interpretation der Briefentdeckung: Fontanes »literarische Produktivität« sei »ganz vom eigenen Unbewußten

getragen«, was wiederum »unser Verfahren legitimiert [...], den Grund für Effis scheinbar so realitätsfremden ›Leichtsinn‹ dort zu suchen, wo er seine Heimat hat: in den unbewußten Schichten, auf die sich ihre Charakterstruktur gründet« (ebd.). Die folgende Interpretation, wonach Effi in Anlehnung an Michael Balints in Angstlust und Regression (Balint 1959) entworfener Objekttheorie als Philobatin zu charakterisieren sei, die Lustgewinn aus dem Risiko zieht, ist zwar durchaus nachvollziehbar und passt sowohl zu ihrer Affäre als auch zum Leitmotiv des Schaukelns. Die Autoren geben zu, dass »das Moment der Gefahr« gering sei, »[a]ber es war latent vorhanden und konnten den thrill nähren, auf den es Effi ankam« (Dyck/ Wurth 1985, 631). Dennoch wird bedenkliches Terrain betreten, wenn das Unbewusste des Autors und das Unbewusste der Figur als argumentative Interpretationsgrundlage herhalten muss, schon allein deshalb, weil das impliziert, dass der Deutungshorizont eines Textes allein an den Autor geknüpft ist und Interpretationen, die nicht der Intention des Autors entsprechen, legitimiert werden müssen. Das Unbewusste lässt sich schlecht negieren. Gisela Greve hingegen sieht in den Briefen die Schuld aller Beteiligten manifestiert, die der Eltern, die »ihre Tochter zur Befriedigung eigener Bedürfnisse benutzt hatten«, Crampas’, »dessen genitale Wünsche nur der eigenen narzißtischen Bestätigung dienten«, Innstettens, »der als Ersatzobjekt jede gesunde Individuation Effis verhindern wollte«, und schließlich Effis eigene »Inzestschuld«, die zu einem »Bestrafungswunsch« (Greve 1986, 209) führt. Die angeführten Punkte sind jeder für sich nachvollziehbar, sie messen den Briefen aber eine zu große Bedeutung zu. Ähnliches gilt, um noch ein zweites Beispiel zu nennen, für Dirk Mendes Interpretation, dass Effis Kinderlosigkeit einen psychosomatischen Ursprung habe und eine »unbewusste Weigerung« (Mende 1980, 202) darstelle. Beides ist durchaus möglich, doch der Text selbst liefert keine eindeutigen Hinweise darauf.

Mutter-Tochter-Verhältnis Das oberflächlich harmonische, in Wahrheit aber hochgradig konfliktbehaftete Verhältnis zwischen Effi und ihrer Mutter wird in vielen Interpretationen als Ausgangspunkt für Effis unglückliche Entwicklung bis hin zu ihrem Tod gesehen. In den ersten Szenen des Romans wird eine »narzißtische Mutter-Tochter-Be-

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ziehung« (Greve 1986, 197) entworfen, in der Effi für die Mutter als Phallus fungiert. Ihr jungenhaftes, androgynes Verhalten wird von der Mutter bewundernd affirmiert, während Effi selbst gespalten bleibt, wenn sie die Mutter zunächst fragt »Warum machst Du keine Dame aus mir?« (7), im nächsten Satz diesen Wunsch aber, ganz im Sinne der Mutter, negiert. Die Mutter dient als Idealbild und Lustobjekt zugleich: »Wenn ich ein junger Leutnant wäre, so würd’ ich mich in die Mama verlieben« (11). In psychoanalytischen Theorien ist die Mutter nur aus der Perspektive des Kindes präsent. Die Verbindung zur Mutter ist eine, die überwunden werden muss. Erst im Bruch mit der Mutter, der für Freud ein durchaus aggressiver sein kann, kommt es zu einem Reifungsprozess und zur Subjektwerdung. Das stellt die Mutter (zumindest die gute) vor ein nicht auflösbares Dilemma: Sie muss den Bruch zum Wohl des Kindes akzeptieren, gleichzeitig besteht für Freud ihr Lebensinhalt nur in ihrem Kind, wie von feministischer Seite kritisiert wurde (Hirsch 1989, 167–169). Luise von Briest ist wesentlich komplexer gezeichnet. Ihr Verhältnis zu ihrer Tochter ist gespalten. Effi wird von der Tochter zur erotischen Stellvertreterin der Mutter und für diese damit indirekt zur Konkurrentin. Gleichzeitig fungiert Luise als Kupplerin und nimmt als solche den Blick des zukünftigen Liebhabers ein, wie Edith H. Krause in Rückgriff auf Laura Mulveys Theorie des male gaze festhält: »Under the power of Luise’s penetrating look, which stands in for Innstetten’s appropriating gaze, Effi is transformed into an icon that serves the pleasure of the other« (Krause 2003, 437). Luise begutachtet das »jugendlich reizende Geschöpf, das, noch erhitzt von der Aufregung des Spiels« (17), vor ihr steht. Entgegen ihrem Ordnungssinn interveniert sie nicht und lässt Effi sich nicht zurechtmachen, weil das Aufreizende ihrem Ziel, Effi für Innstetten attraktiv zu machen, entgegenkommt. Nach erfolgter Eheanbahnung hingegen reagiert sie auf sexuell konnotierte Wünsche Effis abweisend. Als sich diese »eine Ampel für unser Schlafzimmer, mit rotem Schein« (32) wünscht, macht Luise ihr fast Angst vor dem Eheleben: »Die Wirklichkeit ist anders, und oft ist es gut, daß es statt Licht und Schimmer ein Dunkel giebt« (33), was möglicherweise auf ihre eigenen Erfahrungen verweist. Wie ihr Ehemann verdrängt auch sie Unliebsames, was sich später symbolisch in ihrem Augenleiden zeigt (227; s. Kap. 25). Die Probleme ignorierend, die sie im Gespräch mit Briest schon vorhersieht, schickt sie ihre Tochter in eine Ehe mit einem nicht nur wesentlich älteren, vor allem aber charakter-

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lich nicht zu Effi passenden Mann, obwohl sie und ihr Mann sich einig sind, dass sie selbst viel besser zu Innstetten gepasst hätte, ein Eingeständnis der eigenen, zumindest emotional gescheiterten Ehe. Die Mutter in Effi Briest wird immer Effis Mutter bleiben. Sie selbst bringt zwar ein Kind zur Welt, doch die vorzeitig abgebrochene Adoleszenz und die Fixierung auf ihre eigene Mutter verhindern, dass sie ihre Rolle jemals aktiv annehmen wird.

Der topische Aspekt und das Unbewusste Die Anwendung von Freuds Strukturmodell der Psyche, das oftmals nur psychoanalytisches Vokabular einsetzt, um redundant schon lange beschriebene Dinge zu benennen, ohne einen substanziellen, interpretatorischen Mehrwehrt zu bringen, kann als Bestätigung der überraschenden Umkehrung des patriarchalen Systems in der Familie Briest dienen. Freuds zweites topisches Modell, das Drei-Instanzen-Modell (Freud 1923), zusammengesetzt aus dem regulierenden Über-Ich, dem kontrollierten, in der Realität verhafteten Ich und dem unbewussten Es, entwickelte Freud 1923 als Modifizierung des ersten topischen Modells, in dem er noch von dem Bewussten, dem Vorbewussten und dem Unbewussten sprach. Dieses Modell beschreibt den Aufbau der menschlichen Psyche des Individuums, es wird aber häufig metaphorisch interpretiert und literarisch umgesetzt, außerdem findet es auch für soziologische Prozesse Anwendung. Gilt der Vater traditionell als personifiziertes Über-Ich, kommt diese Position in Effi Briest der Mutter zu, während der Ritterschaftsrat von Briest als Vertreter des Naturprinzips und des Kreatürlichen dem Es viel nähersteht. Auch hier zeigt sich die Korrelation von Luise und Innstetten, denn in der zweiten Konstellation, auf die sich der topische Aspekt anwenden lässt, repräsentiert Effis Ehemann das regulierende Über-Ich, während Crampas an Effis Triebe appelliert. Die Rezeption des Romans erfolgt meist durch konventionalisierte, phallogozentrisch gelenkte Blickwinkel (s. Kap. 15), die auf der Ebene des Unbewusstseins genau das erblicken wollen, was kollektive Decodierungsmuster als Entschlüsselungsinstrumente bereitstellen. So wird Effis Vater häufig als patriarchal interpretiert (u. a. Dieterle 1996, 245), wofür seine gesellschaftliche Stellung spricht, nicht aber sein Verhalten. Die Verbindung von Natur und Trieb, die Betonung des Unerklärlichen, wie es sich in seinem leitmotivischen Satz »Das ist ein weites Feld« findet, so-

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wie die Opposition zur tatsächlich in einem patriarchalen Rahmen agierenden Mutter lässt ihn im Kontext der Zeit hingegen deutlich weibliche Züge tragen, nicht im Sinne einer Effeminierung, sondern als Entessentialisierung von Geschlecht in der Nachfolge Nietzsches. Effis Ich und damit ihre Bindung an das kontrollierte Realitätsprinzip ist in Folge ihrer abgebrochenen Adoleszenz und der nicht erfolgten Ablösung von der Mutter schwach ausprägt und daher für libidinöse Reize empfänglich. Zunächst wendet sie sich dem erschreckenden, aber auch lustbesetzten Gruseln vor dem Chinesen zu und damit dem paradigmatisch Unbewussten und Unheimlichen. Der Chinese bleibt die große Unbekannte in Fontanes realistischem Roman (s. Kap. 22). Später ersetzt sie diesen Reiz durch die Affäre mit Crampas. Interessant ist, dass das Unbewusste topographisch über Effi angesiedelt wird, nämlich im Saal des oberen Geschosses, von wo es Effi nächtlich ängstigt. Das dem Es zugeordnete Unheimliche verbindet sich damit mit dem Über-Ich und mit Innstettens angedeuteter pädagogisch-manipulativer Instrumentalisierung von Effis Ängsten.

Väterliche Verhältnisse: Inzestphantasien Auf den genetischen Aspekt fokussierte Interpretationen sehen in Effi Briest Fontanes inzestuöse Veranlagung abgebildet. Dieterle befindet, dass »Fontane, wie viele andere Väter, in inzestuöse Verstrickungen geriet« (Dieterle 1996, 135). Sie interpretiert weiter: »Möglich wäre, dass gerade die kreative Umsetzung, die Sublimierung des Konflikts, einen Vater überhaupt davor bewahrt, in jene Extremposition zu geraten, die den latenten Inzestwunsch umkippen lässt in einen realen Übergriff« (ebd., 136). Sie greift dabei auf Freuds Theorie zurück, »[u]nbefriedigte Wünsche sind die Triebkräfte der Phantasien« (Freud 1978, 130). Fontanes Faszination für das Inzest-Motiv lässt sich kaum bestreiten, es findet sich in verschiedenen Konstellationen (Bruder-Schwester, Ziehvater-Tochter, Vater-Tochter) in mehreren Texten. In Dieterles Ansatz zeigt sich jedoch wieder ein Problem der psychoanalytischen Interpretation. Der literarische Text wird als Beweis für die Triebsublimierung des Autors vorgebracht, gleichzeitig gilt die Biographie des Autors als Beweis für verborgene inzestuöse Strukturen im Text. Solche Interpretationen begeben sich dabei gleich mehrfach auf dünnes Eis. Zum einen ist es immer problematisch, biographisch auf diegetischer Ebene zu argumentieren, zum anderen ist das Inzest-

Motiv zwar sehr präsent, dieses aber vornehmlich in der Beziehung zum Vater zu sehen, erscheint als heteronormative Projektion. Mit etwas Willen lassen sich natürlich versteckte Hinweise finden: »Briest gab sich als zärtlicher Großvater, warnte vor zu viel Liebe, noch mehr vor zu viel Strenge, und war in allem der alte. Eigentlich aber galt all’ seine Zärtlichkeit doch nur Effi, mit der er sich in seinem Gemüt immer beschäftigte, zumeist auch, wenn er mit seiner Frau allein war« (252). Vor allem der Nachsatz »wenn er mit seiner Frau allein war« kann sexualisiert interpretiert werden, weil er, wenn er sich nur auf eine rein väterliche Zärtlichkeit beziehen würde, nicht nötig wäre. Gleichzeitig ist Effi ihm aber zu fixiert auf ihr Elternhaus, »dabei thut sie als wäre Hohen-Cremmen immer noch die Hauptsache für sie, und Mann und Kind kämen gegen uns beide nicht an« (ebd.). Einen Hinweis auf Vater-Tochter-Inzest gibt es, er betrifft aber nicht Effi und ihren Vater, sondern Niemeyer, den Vater Briest zu Luises Empörung mit Lot vergleicht: »Unerhört. Und was soll es nur heißen? Erstlich weiß er nicht, wie Lot ausgesehen hat, und zweitens ist es eine grenzenlose Rücksichtslosigkeit gegen Hulda. Ein Glück, daß Niemeyer nur die einzige Tochter hat, dadurch fällt es eigentlich in sich zusammen« (31–32). Die Anspielung bezieht sich auf Lots Töchter, die im Buch Mose in Ermangelung anderer Männer ihren Vater betrunken machen, »daß wir Samen von unserem Vater erhalten« (1. Mose 19,32). Die kulturelle Rezeption, insbesondere die künstlerische, stellt im Gegensatz zum biblischen Text Lot als sexuellen Impulsgeber dar. Langendorf weist darauf hin, dass der Hinweis auf Lot sich eigentlich auf Innstetten bezieht, der »für Effi Vater und Mann gleichzeitig sein« wird (Langendorf 1983, 144). Auch in dieser Inzest-Konstellation spielt Effis leiblicher Vater keine Rolle, wohl aber ihre Mutter, die mit Effi und Innstetten ein inzestuöses Dreieck bildet (ebd., 145). Dieterle hingegen sieht in der Rückholung Effis durch ihren Vater einen Hinweis auf »das rückbindend-inzestuöse Verhalten des Vaters« (Dieterle 1996, 242), das besiegelt wird mit ihrem Grab im väterlichen Garten. Auffällig ist die Häufung von väterlichen Figuren am Rande der erotischen Grenzüberschreitung.

Homoerotik und Androgynität Es ist bezeichnend, dass das Inzest-Motiv in psychoanalytischen Interpretationen fast nur auf die VaterTochter-Beziehung projiziert wurde, obwohl Effis Be-

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gehren der Mutter gegenüber sehr viel deutlicher geschildert wird als das inzestuöse Verlangen des Vaters nach seiner Tochter. Bis auf wenige Ausnahmen von der Forschung, vor allem aber für die pädagogische Aufbereitung in Einführungen und Lektüreschlüsseln übergangen wurden die den Text durchziehenden weiblichen homoerotischen Elemente. Dieser blinde Fleck ist nicht nur für die Rezeption von Effi Briest typisch. Während Homoerotik zwischen Männern in literarischen Texten sehr häufig identifiziert wird, wurde weibliche Homosexualität literarhistorisch übersehen oder relativiert. Dabei bleibt es nicht bei versteckten, schwer zu dechiffrierenden Hinweisen oder spezifischen Codes, die man kennen muss, um auf Frauen gerichtetes sexuelles Begehren in Effi Briest zu vermuten, wie Bailey Gluckman detailliert darlegt (Bailey Gluckman 2012, 323–324). Effi selbst äußert sich mehrmals sehr deutlich zu ihrem homoerotischen Begehren, auch abseits der schon erwähnten Bemerkungen bezüglich ihrer Mutter. Um ihre auf Frauen gerichtete sexuelle Attraktion artikulieren zu können, zieht sie sich auf die sichere Position einer imaginativen Männlichkeit zurück. Mehrere Male schwärmt sie von Frauen und gibt an, sie würde diese begehren oder sich sogar in sie verlieben, wäre sie ein Mann, ohne dass dies auf großen Widerspruch stößt. Empört sich Hulda über Effis Aussage, sie würde sich in ihre Mutter verlieben, so sie »ein junger Leutnant wäre« (11), dann in Bezug auf das Vierte Gebot, also auf die familiäre Beziehung, nicht auf das homoerotische Moment der Aussage. Auch ihre spielerisch vorgebrachte Schwärmerei, sie wolle mit Hulda den Mastbaum erklimmen und sie oben küssen, wird nur ob der koketten Sprache gerügt, bleibt indes inhaltlich unwidersprochen, und es fügt Hulda auch hinzu, »Ich werde mich aber hüten, Dir nachzuklettern, ich bin nicht so waghalsig« (15). Mit ihrem Ehemann liefert Effi sich sogar einen verbalen Wettstreit um die schöne Thora, in dem sie aus ihrer zuvor eingenommenen imaginativen Männerrolle, »wenn ich ein Mann wäre, so verliebte ich mich in sie« (251), ausbricht und nicht eifersüchtig auf Innstettens scherzhaft vorgebrachtes Begehren Thora gegenüber reagiert, sondern ihn als Konkurrenten sieht. Bis auf ihre Freundschaften mit älteren, sexuell (scheinbar) nicht bedrohlichen Vaterfiguren hat Effi keine tiefgehenden Beziehungen zu Männern. Weder Innstetten noch Crampas liebt sie, Innstetten empfindet sie als »fremd«, vor seinen Zärtlichkeiten fürchtet sie sich sogar, wie sie der Mutter gesteht (254). Die Mutter und später Roswitha sind Effis emotionales Zen-

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trum. Hirsch geht sogar so weit, beide als »the actual object of Effi’s desire« (Hirsch 1984, 40) zu bezeichnen. Wenn Effi gleich zu Beginn des Romans den Leitsatz ihres Vaters »Weiber weiblich, Männer männlich« (9) wiederholt, hebt das Effis Überschreitung einer dichotom organisierten Subjekt- und Begehrensstruktur hervor, ohne sie zu pathologisieren. Im Kontext von Verstößen gegen die heteronormative Matrix kann auch Effis Verhältnis zu Marietta Trippelli gelesen werden. In die Darstellung der androgynen Opernsängerin lassen sich zeittypische homoerotische und queere Codes identifizieren (Bailey Gluckman 2012, 321). So wird diese als »stark, männlich« (104) beschrieben, was zu ihrer Stimmlage Alt passt, jener Frauenstimme, die für Hosenrollen vorgesehen ist. Effis nervöser Vorschlag, die Trippelli möge Glucks Orpheus zum Besten geben, lässt diese »in Abgründe« (107) sehen. Welche das sind, wird dem Leser vorenthalten, doch gilt Orpheus als effeminierte Figur, die sowohl von Männern als auch von Frauen gesungen werden kann und die Geschlechtergrenzen aufhebt. »Effi is envisioning Trippelli in a role that ›creates an erotic tension between women who both are and are not women‹« (Bailey Gluckman 2012, 322). Wird doch auf Effis Androgynität und ihr auf Frauen gerichtetes Begehren Bezug genommen, so werden dafür mitunter recht umständliche psychoanalytische Erklärungen gesucht. Dyck und Wurth sehen die »sexuelle Ambivalenz« Effis, die sich im besagten Leutnant-Satz äußert, in ihrem philobatischen Charakter begründet, dem eine männliche und heroische Seite inhärent sei (Dyck/Wurth 1985, 625). Mende hingegen erklärt Effis Jungenhaftigkeit mit dem nicht überwundenen Wunsch des kleinen Mädchens, »ein Mann zu sein, um die Mutter besitzen zu können« (Mende 1990, 288, zit. nach Kaarsberg Wallach 1993, 106).

Ätiologien: Zwischen Depression und verkürzter Adoleszenz Die psychoanalytische Literaturwissenschaft sucht naturgemäß nach anderen Ätiologien für Effis Krankheit als die Medizin, für die Effi an Tuberkulose verstirbt (s. Kap. 25). Die Ärztin und Psychoanalytikerin Gisela Greve zeichnet hingegen in einer endopoetischen Interpretation akribisch »die Entwicklung einer Depression« nach, worunter sie »ein Spektrum verschiedener klinischer Zustandsbilder von der leichten depressiven Verstimmung während der Schwanger-

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schaft bis hin zur schweren melancholischen Depression vor dem Tod« (Greve 1986, 195–196) versteht. Effis »nervöses Zittern«, das sie fortan des Öfteren befallen wird (s. Kap. 35), tritt zum ersten Mal auf, »als sie seiner [Innstettens] ansichtig wurde« (18). Effi trägt zweifellos alle Anlagen, die als entscheidende Disposition für die Hysterie galten, in sich (s. Kap. 25, 35, 45). Sie wird als äußerst lebhaft und interessiert beschrieben, ihr spielerisches Verhalten mit ihren Freundinnen lässt abenteuerlichen Entdeckergeist erkennen. Typisch ist auch ein abrupter Übergang von der adoleszenten in die erwachsene Sphäre, was in Effi Briest ein zentrales, pointiert herausgearbeitetes Motiv ist. Vera King sieht in Effi Briest eine »eindrucksvolle, geradezu paradigmatische und metaphorische Schilderung einer verkürzten weiblichen Adoleszenz« geschildert, die dazu führe, dass »aus der Kindheit adoleszente Themen in die Phase des Erwachsenenalters verschoben und in verstellter Form im erwachsenen Leben ausgelebt werden« (King 2001, 247). Die hysterische Symptomatik ist durch »eine eigenartige, fehlende Stabilität in den Eigenschaften« (Foucault 1973, 292) so schwammig, dass man sie auf eine Vielzahl von literarischen Frauenfiguren, von Jeanne d’Arc bis Fräulein Else, anwenden kann, was auch inflationär passiert. Effis nervöse Stimmungsschwankungen und ihr im Theater ausgelebter Hang zur dramatischen Expression könnten ebenfalls als Anzeichen gedeutet werden (s. Kap. 36). Doch die Hysterie als somatisierter Protest gegen patriarchale Zwänge findet sich in Effi Briest nicht. Fontane wählt einen anderen Weg, die angedeuteten Rebellionen verlaufen sich, ihr Widerstand bleibt ein heimlicher. Schon von der Übermittlung des Heiratsantrags an ist es nicht in Effis Interesse, anzuecken und sich gesellschaftlichen Vorkehrungen zu widersetzen. Sie leidet, aber sie begehrt nicht offen auf. Die daraus erwachsenden Konflikte wendet sie nicht wie die Hysterikerin nach außen, sondern nach innen, was für Greves Interpretation einer Depression spricht. Effis Rückkehr nach Hohen-Cremmen ist schließlich eine Rückkehr in die abgebrochene Adoleszenz, topographisch versinnbildlicht im Motiv des Gartens, Stätte ihrer Jugend und ihres Grabes gleichermaßen. Doch die Zeit dazwischen hat ihre Spuren hinterlassen, Effi wird zur Kindfrau: »Wenn Effi – die wieder, wie damals an ihrem Verlobungstag mit Innstetten, ein blau und weißgestreiftes Kittelkleid mit einem losen Gürtel trug – rasch und elastisch auf die Eltern zutrat, um ihnen einen guten

Morgen zu bieten, so sahen sich diese freudig verwundert an, freudig verwundert, aber doch auch wehmütig, weil ihnen nicht entgehen konnte, daß es nicht die helle Jugend, sondern eine Verklärtheit war, was der schlanken Erscheinung und den leuchtenden Augen diesen eigentümlichen Ausdruck gab« (330).

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Veronika Schuchter

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V Theoretische Zugänge

40 Erinnerungs- und Gedächtnistheorien Kommunikatives und kulturelles Gedächtnis Innerhalb der kulturwissenschaftlichen Theorien und Konzepte zum kollektiven oder sozialen Gedächtnis prägten Jan und Aleida Assmann, unter Berücksichtigung der Überlegungen von Aby Warburg und Maurice Halbwachs, die Begriffe ›kommunikatives‹ und ›kulturelles Gedächtnis‹, welche sich bis heute aufgrund ihrer Trennschärfe als äußerst produktiv erwiesen haben. Im Gegensatz zu Termini wie ›Tradition‹ oder ›kollektives Gedächtnis‹ liegt hier das Augenmerk weder einseitig auf einer dinglichen Perspektive auf das Tradierte noch auf einer mystischen kollektiven Psyche. Vielmehr wird die rekonstruktive Sinnproduktion in der Gegenwart betont, da vor allem dasjenige bewahrt und erinnert wird, was in der Gegenwart Relevanz besitzt, aber vergangen oder abwesend ist (J. Assmann 1999, 16). Das kommunikative Gedächtnis ist dabei in einen Zeithorizont von drei bis vier Generationen, also von 80 bis 100 Jahren eingebunden und zeichnet sich durch Alltagsinteraktion über die Geschichtserfahrungen der Zeitgenossen aus, deshalb sind die Inhalte veränderlich und bekommen auch keine feste Bedeutung zugeschrieben (Erll 2017, 25). Die Teilhaber des kommunikativen Gedächtnisses erinnern und deuten insofern ihre gemeinsame Vergangenheit. In Abgrenzung dazu wird das kulturelle Gedächtnis institutionell und artifiziell realisiert (J. Assmann 2005, 24), denn nach der Schwelle des kommunikativen Gedächtnisses, der sogenannten floating gap, muss das, was dauerhaft erinnert werden soll, geformt werden und eine Verbindlichkeit erhalten, damit über die Zeit- und Gesprächszeugen hinaus eine Bewahrung von Vergangenheit stattfinden kann. Dadurch ist das Risiko bzw. die Gefahr der Verformung und des Missbrauchs gegeben, allerdings ist eine Weitergabe von Erinnerungen ohne kulturelle Formung und Festigung nicht möglich (J. Assmann 1999, 32). Mit der Schrift als externalisiertem Gedächtnis sei, so Jan Assmann, einerseits eine enorme Ausdehnung kulturellen Sinns eingetreten, andererseits aber auch Vergessen durch Auslagerung sowie Verdrängung durch »Manipulation, Zensur, Vernichtung, Umschreibung und Ersetzung« möglich geworden (ebd., 22–23). Das kulturelle Gedächtnis fundiert und konstruiert für die jeweilige Kultur bzw. Gesellschaft ein entsprechendes

Selbstbild und stiftet so Zugehörigkeit durch gemeinsame Erzählungen über eine gemeinsam bewohnte Vergangenheit, gemeinschaftliche Regeln und Werte (ebd., 16–17). Die Identität einer Gruppe wird somit über die konnektive Struktur des kulturellen Gedächtnisses gewährleistet (ebd.). Insbesondere speist sich die kulturelle Identität aus dem von Aleida Assmann so genannten Funktionsgedächtnis, das diejenigen Erinnerungen beherbergt, die eine Funktion oder eine Bedeutsamkeit in der Gegenwart besitzen. Jedoch kann im Rahmen von Mythomotorik auch eine im von Aleida Assmann so genannten Speichergedächtnis ausgelagerte Erinnerung wieder als kontrapräsentische Gegenerinnerung zum Vorschein kommen (ebd., 24; Erll 2017, 27–28). Bereits am Erzählanfang (s. Kap. 21, 36) kommen Aspekte des kulturellen Gedächtnisses zum Tragen, wenn die Beschreibung des Briestschen Anwesens in Hohen-Cremmen von der Erzählinstanz damit eingeleitet wird, dass die Familie dieses bereits seit Kurfürst Georg Wilhelm bewohne (5). Mit dem einleitenden datierenden Hinweis auf eine Regierungszeit, die von Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges geprägt war und diese durch eine unentschlossene Politik förderte (Komm., 407), wird auf das Schicksal der titelgebenden Protagonistin vorausgedeutet (s. Kap. 5). Auch die Benennung der Familie mit dem Namen Briest, der auf eine historische, aber ausgestorbene havelländische Familie zurückgeht (ebd.), weist bereits in diesem Erinnerungsakt auf das Aussterben der fiktiven Familie Briest und das tödliche Schicksal der Heldin hin. Doch damit nicht genug: Das erste Kapitel ist förmlich durchzogen von kulturellen Gedächtnis-Aspekten. Wenn Effi namentlich erstmals genannt wird, ergeht sie sich in diversen Übungen der Heil- und Zimmergymnastik (6), eine Bewegungstherapie, welche von einem Schweden, Pehr Henrik Ling, begründet wurde. Damit betätigt sie sich im Turnen, das in der Restaurationszeit in Preußen aus politischen Motiven verboten und erst während der Erziehungsreform als Teil des Schulunterrichts wieder eingeführt wurde, bei jungen Frauen allerdings immer noch nicht gesellschaftlich akzeptiert war (Komm., 409). Indem Effi von Beginn an mit diesen Assoziationen bedacht wird, beginnt bereits die Auseinandersetzung des Romans mit gesellschaftlichen Repressalien und Zensur. Dadurch wird ebenso auf erinnerungskulturelle und -politische Prozesse gedeutet. Wenn dann Effi ihren Freundinnen Hulda, Bertha und Hertha von der Geschichte um ihre Mutter Luise

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2019 S. Neuhaus (Hg.), Effi Briest-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04874-5_40

40 Erinnerungs- und Gedächtnistheorien

und Geert von Innstetten erzählt, weist Hulda sie zurecht, dass ihr unkonventionelles Kompliment an das junge Äußere ihrer Mutter gegen das vierte Gebot verstoße (11), was einen intertextuellen Verweis auf ein nach diesem Gebot benanntes Volksstück des Wiener Dramatikers Ludwig Anzengruber darstellen dürfte. Da dieses Stück den elterlichen Einfluss und deren Entscheidungen über die Zukunft ihrer Kinder hinterfragte, was von der österreichischen Zensur bemängelt wurde, ist auch darin ein vorausdeutender Kommentar zum Ausgang der Handlung enthalten (Komm., 412–413). Bei der Rekapitulation von Innstettens Werdegang vor den Freundinnen wird der ›siebziger Krieg‹ erwähnt, womit der Deutsch-Französische Krieg von 1870/71 aufgerufen wird, und seine preußische Kriegsauszeichnung, das Eiserne Kreuz, betont (12). Mit diesem Andenken korrespondiert die Anerkennung von Bismarck und Kaiser Wilhelm I. (12). Ja, sogar der ganze Besuch von Innstettens stehe, so Effi, unter dem Zeichen der Erinnerung: »Aber er hat hier entfernte Vettern von der Mutter Seite her, und vor allem hat er wohl Schwantikow und das Belling’sche Haus wiedersehen wollen, an das ihn so viel Erinnerungen knüpfen« (13). Dass von Innstetten sich entsprechend von der gemeinsamen Erinnerung mit Luise von Briest, geborene Belling, nicht lösen kann oder will und an die gemeinsame Vergangenheit gekoppelt bleibt, bringt denn folglich die weitere Handlung in Gang, zumal mit der Vertreterin Effi an die Vergangenheit angeknüpft werden kann. Effi zögert die weitere Handlung zunächst durch Gespräche mit ihren Freundinnen hinaus, welche die Teilnahme am kommunikativen Gedächtnis verdeutlichen (15). Thema sind die emotionalen Erinnerungen an die gemeinsamen Schulstunden, insbesondere an die Äußerungen des Kandidaten Holzapfel (14). Aus diesen Anekdoten über die gemeinsam verlebte Vergangenheit resultiert ein Zugehörigkeitsgefühl für die vier Mädchen, das sich mit der Ehe Effis rasch ändern wird, das zunächst aber noch einmal in Herthas berühmten Ruf: »Effi, komm« (18), mündet, der die Freundin zurück in die Gemeinschaft ihrer Schulkameradinnen und Freundinnen im Garten zu bringen beabsichtigt und den auch Innstetten als schlechtes Vorzeichen der Ehe hätte wahrnehmen können (22; Szabó 2000, 61–62). Dieser Ruf, der nach Fontanes eigenen Äußerungen erst zu der Fiktionalisierung des Ehebruch- bzw. Ardenne-Stoffs geführt habe (s. Kap. 8, 9), kehrt ja tatsächlich gerade die Rufrichtung um und daher kann die Geschichte als bewusstes

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oder unbewusstes Spiel mit Erinnerungs- und Vergessensprozessen gelesen werden (Komm., 358–360). Die unguten Vorzeichen, unter denen die Verheiratung Effis und Innstettens steht, nehmen zu, wenn Effi ihrer Mutter Luise von ihren nördlichen Vorstellungen von einem kalten Kessin erzählt (30), dies bringt die voraussichtliche emotional-zwischenmenschliche Kälte und fehlende Geborgenheit zum Ausdruck (Neuhaus 1998, 31; s. Kap. 35, 45). Das Gespräch mit Luise, die die merkwürdigen Vorstellungen Effis lediglich belächelt, wird allerdings unterbrochen, wodurch ein Aufgeben der Hochzeitspläne noch unwahrscheinlicher wird, da gerade eine Parade zum Gedenken an den Sedanstag an ihnen vorüberzieht (31). Der Sedanstag war eine nationale Feier zur Erinnerung an die Gefangennahme Napoléons III. bei Sedan am 2. September 1870, die immer stärkere militärische Züge aufwies (Komm., 420). Insofern handelt es sich um einen institutionell geformten Gedenktag, also ein Element des kulturellen Gedächtnisses. Effi, die zwar von dem Umzug gehört, ihn aber vor lauter Hochzeitsplänen »wieder vergessen hatte« (31), beobachtet nun den Gesichtsausdruck eines kleinen Tambourmajors, der die Schlacht bei Sedan zu vergegenwärtigen scheint. Auch der zweite Nationalgedenk- bzw. -feiertag des deutschen Kaiserreichs, der Geburtstag Kaiser Wilhelms I. am 22. März, gehört zur Strukturierung des Jahres in Hohen-Cremmen. Effi berichtet Innstetten von den schwarz-weißen, höchstens schwarz-weiß-roten Flaggen, die dort gehisst werden. Die preußischen Flaggen und die des Deutschen Reiches symbolisieren die jeweiligen Identitätsbekundungen. Effi jedoch empfindet diese Flaggen nicht stolz als feierlich, sondern als eintönig und bewundert die bunten Kessiner Flaggen dagegen, die ihr als aufregendes, internationales Abenteuer und damit als Teil des sie faszinierenden Aparten erscheinen (65). Hingegen stellt sich Effi Gieshübler gegenüber stolz als Nachfahrin desjenigen Landrats von Briest vor, der für die schwedischen Offiziere von Rathenow ein Festmahl ausrichtete, um sie vom Nahen der brandenburgischen Truppen abzulenken, wodurch am darauffolgenden Tag die entscheidende Fehrbelliner Schlacht von Kurfürst Friedrich Wilhelm gewonnen werden konnte (73; Komm., 432). Wie Effi Gieshübler weiterhin erzählt, scheint dieses auf den Vorfahren zurückgehende Ereignis im kommunikativen Familiengedächtnis bedeutsam für die Identität und Zugehörigkeit der Briestschen Familie sowie deren Adelsstolz zu sein, zumal es in unzähligen Erinnerungsakten vergegenwärtigt wird: »Eine Briest also. Und mein Vater,

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V Theoretische Zugänge

da reichen keine hundertmale, daß er zu mir gesagt hat: Effi (so heiße ich nämlich) Effi, hier sitzt es, bloß hier, und als Froben das Pferd tauschte, da war er von Adel, und als Luther sagte ›hier stehe ich,‹ da war er erst recht von Adel« (74). Wie die Bemerkung zu Luther verdeutlicht, wird in solchen Erinnerungsakten die vergangene Geschichte der Familie mit der allgemeinen Geschichte verknüpft. Und auch Gieshübler bestätigt, nicht nur von Effis Ahnen einmal gehört zu haben, sondern weist sich sogar als Spezialist für dieses (familien-)geschichtliche Ereignis aus (74). Weitere Bekanntschaften, wenn auch weniger erfreuliche, hat Effi nun zu machen auf der zweiwöchigen ›Tournee‹, die gerade am ›2. Dezember‹ nach einem Besuch der Güldenklees endet (75). Dieses Datum ist wiederum eines, das im kulturellen Gedächtnis des 19. Jahrhunderts Bedeutsamkeit beansprucht, so dass es auch in Papenhagen bei den Gastgebern zum Gesprächsstoff wird (76). So erinnern sich die von Innstettens und Güldenklees des Staatsstreichs von Charles Louis Napoléon Bonaparte am 2. Dezember 1851, als er die Verfassung der Zweiten Republik außer Kraft setzte. Dies ging mit einem durch die Truppen angerichteten Blutbad einher, wonach Charles Louis sich ein Jahr später als Napoléon III. zum Kaiser der Franzosen erklärte (Komm., 435). Nicht Gegenstand des Gesprächs werden zwei weitere historische Ereignisse, die ebenfalls an diesem Datum stattfanden und somit lediglich mitschwingen: Die Schlacht bei Austerlitz aus dem Jahr 1805 sowie die Abdankung des österreichischen Kaisers Ferdinand I. zugunsten Franz Josephs, seines Neffen, im Jahr 1848 (ebd.). Güldenklee, der zwar das Blutbad auf die »Pariser Kanaille« (76) zu verzeihen geneigt ist, kann aber die ›anmaßende‹ französische Kriegserklärung an Preußen im Jahre 1870 nicht vergessen oder vergeben, da dies seinen preußischen Nationalstolz zu kränken scheint. Dass Bismarck von ihm als »[u]nser Alter da oben« (76) bezeichnet wird, macht dann auch deutlich, dass er am Bismarck-Kult teilhat und den Reichskanzler verehrt. Von Innstetten nimmt Güldenklee nicht ernst, wie die Erzählinstanz zeigt: »Innstetten, der klug genug war, auf solche Philistereien anscheinend ernsthaft einzugehen« (ebd.). Auch als sich später die Gesellschaft bei Oberförster Ring trifft, reagiert Innstetten, »der von solchem Patriotismus nicht viel hielt« (182), auf das angestimmte Preußenlied, eine Art Nationalhymne der Preußen, und die Sentimentalitäten Borckes eher ablehnend. Er betont, dass andere Länder eine eigene Kultur besitzen, die gegenüber der preußischen nicht abzuwerten sei (ebd.; s. Kap. 5).

Weitere Daten des kulturellen Gedächtnisses sind im Zusammenhang mit der Erzählhandlung und deren symbolischer Datierung zu nennen. So wird mehrfach der Johannistag, 24. Juni, genannt, zunächst, wenn dieser Tag für das Eintreffen der Gäste zur Badesaison in Kessin steht. Dies bedeutet für Effi eine Abwechslung von dem Winter-»Nest« (51; 123). Damit bringt das Fest Johannes des Täufers tatsächlich einen Wendepunkt; der Blick in die glückliche oder unglückliche Zukunft, den der Tag gewährt (Komm., 449), lässt sich auf den Inhalt des Briefes, den Effi kurz zuvor an ihre Mutter schreibt, beziehen, denn in diesem berichtet sie erstmals vom Eintreffen Crampas’ (122). Am Johannistag reist Jahre später Effi ab (264), um eine Kur zu machen, in deren Verlauf dann Innstetten die Briefe von Crampas an Effi findet, die der Ehe das jähe Ende bereiten (s. Kap. 23, 24). Annie wird nicht nur exakt neun Monate nach der Hochzeit, sondern auch am Tag von Königgrätz geboren (135). An diesem Datum, dem 3. Juli im Jahr 1866, schlugen die preußischen Truppen die österreichischen und sächsischen, was den Ausgang des Krieges entschied. Der Arzt Doktor Hannemann moniert dann auch gleich, dass an diesem im kulturellen Gedächtnis Preußens glorreich verankerten Tag mit Annie ein Mädchen zur Welt kommt, und empfiehlt Effi, an einem anderen preußischen Siegestag einen Jungen zu gebären (135), jenen Jungen, der nach ihrer Kur eigentlich von ihr erwartet wurde (263), sofern der Fund der Briefe dies nicht verhindert hätte. Als Verstoßene bezieht Effi eine kleine Wohnung in der Königgrätzerstraße, was nicht gerade einem Siege gleichkommt, wenn man vor Augen hat, wie unglücklich und kränklich Effi dort ist. Die Taufe der kleinen Annie findet denn am 15. August, dem Geburtstag Napoleons, statt, was innerhalb der Gesellschaft teilweise auf Widerwillen stößt. Allerdings ist der 15. August zugleich ein katholischer Feiertag, Mariae Himmelfahrt, also die Aufnahme Mariens in den Himmel, was wiederum als sehr passend erscheint, da Effi zunehmend Trost und eine Rettungshoffnung mit Roswitha und dem katholischen Glauben verbindet (Komm., 451). Auch ist es Effi wichtig, in den Himmel zu kommen (345), wonach sie kurz vor dem Erzähl- und ihrem Lebensende Pastor Niemeyer fragt, was dieser dann auch bejaht (333). Auf der Taufe wird denn auch der Felsen Petri der Katholiken beschworen (137), auf den Effi bauen zu können hofft und der ebenfalls als Argument des päpstlichen Führungsanspruchs auf den Kulturkampf Bismarcks anspielt (Komm., 453; Hehle 2002, 83).

40 Erinnerungs- und Gedächtnistheorien

Direkt nach der Taufe reist Effi zurück zu ihren Eltern und weg von dem sie ängstigenden Kessin (s. Kap. 27, 28). Bei ihren Spaziergängen mit Briest kommt sie, so erwähnt die Erzählinstanz, an einem Denkmal vorbei, das bereits Briests Großvater »zur Erinnerung an die Schlacht von Waterloo hatte aufrichten lassen« (139). Die Pyramide, die Blücher vorne und Wellington auf der Rückseite zeigt, unter deren Führung die verbündeten preußischen und britischen Truppen Napoléon I. besiegten, erinnert demnach an diejenige Schlacht, die die napoleonische Vorherrschaft in Europa endgültig beendete (Komm., 454). An diesem Denkmal kultureller Identität beginnt sich eine Unterredung zu entfalten, in der deutlich wird, dass die Ehe der von Innstettens überschattet wird von der geringen Zärtlichkeit Geerts und den Spukereignissen, so dass sich Rollo im Gespräch als der eigentliche treue Gefährte Effis herausstellt (140). Bevor es zu der Affäre mit Crampas kommt, ist Effi glücklich, da sie mit Beendigung der gemeinsamen Ausflüge meint, der Verführung durch Crampas noch einmal entkommen zu sein. In dieser Zeit plant Innstetten, mit Effi zusammen die Hochzeitsreise zu rekapitulieren und sich gemeinsam durch Aufzeichnungen und Photographien der Flitterwochen zu erinnern (167). Innstetten, der sich von den Erinnerungen an die gemeinsam verbrachte vergangene Zeit eine verstärkte Bindung der beiden erhofft, trifft Effis Wunsch damit allerdings nicht, da sie lieber neue Ereignisse den alten hinzufügen würde (168). Diese treten denn auch ein mit dem Lustspiel Ein Schritt vom Wege, das sich ebenfalls um eine Hochzeitsreise dreht und das ihr Crampas wieder näher bringt (168).

Individuelles Gedächtnis Lange Zeit war es eine gängige Vorstellung, dass Ereignisse im Gedächtnis so abgespeichert würden, dass sie dann mit dem richtigen Aufrufebefehl wieder abgerufen werden könnten (Welzer 2011, 20). Erkenntnisse der neurowissenschaftlichen Hirn- und Gedächtnisforschung und der Bewusstseinspsychologie besagen jedoch, dass sich das menschliche Gedächtnis ausschließlich in der Kommunikation mit anderen Menschen entwickelt. Es ist damit abhängig von Sprache und Interaktion (J. Assmann 1999, 15). Deshalb bezeichnet Harald Welzer das individuelle, allerdings in Kommunikation sich bildende und befindliche Gedächtnis wie Assmann als kommunikatives. Damit einher geht, dass das individuelle Gedächtnis die

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Wahrnehmung von Realitätserfahrungen interpretiert und daraus mentale Repräsentationen anlegt, Erinnerungsengramme aus Neuronenmustern (Welzer 2011, 20). Diese fragmentarischen Muster werden bei emotionaler oder lebensgeschichtlicher Bedeutsamkeit reaktiviert, wobei allerdings nach dem Montageprinzip Lücken möglichst plausibel aufgefüllt werden (ebd., 38–39). Die Zuverlässigkeit und Authentizität von Erinnerungen ist daher nicht so uneingeschränkt, wie lange vermutet wurde. Entspricht die emotionale Färbung der Erinnerungssituation derjenigen des Einspeicherns, kann die Präzision erhöht werden, was mit dem Begriff der affektiven Kongruenz bezeichnet wird (ebd., 36). Ist das Ereignis mehrfach Gesprächsgegenstand, wird jede Kommunikationssituation mit erinnert und in das Engramm integriert, so dass ein ungewolltes Ausschmücken bei wiederholtem Erzählen, die sogenannte Konfabulation, eintreten kann (ebd., 43). Besitzt ein Erlebnis jedoch keinerlei oder wenig emotionale oder biographische Relevanz, verblassen die neuronalen Verbindungen wieder und lösen sich schließlich in Vergessen auf (ebd., 21). Kurz nach der Verlobung erreicht Effi in HohenCremmen Post aus Kessin. Innstetten hat ihr wieder einmal einen Brief geschrieben, den sie allerdings während des Gesprächs mit ihrer Mutter zwar wahrnimmt, aber dann ungelesen zur Seite legt (33). Während sie in Gedanken abschweift und sich einen Tanz mit Dagobert auf einer Schifffahrt nach Schweden vorstellt, erinnert ihre Mutter, die Innstettens Worte kaum erwarten zu können scheint, sie an dessen Brief, den Effi »fast vergessen« hätte und nun lediglich überfliegt (34). Da Luise die Reaktion ihrer Tochter auf die Nachricht Innstettens als zu unemotional und zu wenig erfreut empfindet, hakt sie bei Effi noch einmal nach, was ihre Gefühle Innstetten gegenüber angeht, bevor sie es allerdings nicht mehr auszuhalten scheint und Effi auffordert, ihr die sehnsüchtig erwarteten Worte Innstettens vorzulesen. Auf den vierfach drängenden Imperativ folgt noch einmal das eindringliche: »Du sollst ja lesen« (36). Dem kommt Effi denn auch endlich nach, wenngleich sie den Brief direkt nach dem Vorlesen wieder zusammenfaltet und in das Kuvert zurücksteckt (36). Luise, der der Brief ausgesprochen gut gefällt, kann nicht umhin, diese nüchterne Reaktion abermals zu bemerken, weshalb sie ihr die explizite Frage nach ihrer Liebe zu Innstetten stellt. Effi, die daraufhin zeigt, dass sie keine eigentliche Vorstellung von Liebe hat, sondern vielmehr von einem Liebhaben spricht, bringt allerdings bei der Frage nach ihrer Zuneigung zu Dagobert eine Intensivierung dieses Gefühls zum Ausdruck:

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V Theoretische Zugänge

»Ja, sehr. Der erheitert mich immer« (37). Ihn zu heiraten kann sie sich allerdings nicht vorstellen, da sie, so wie sie es im Vorbild der Eltern kennengelernt hat, Ehe mit Karriere verbindet (37). Am Tag nach der Hochzeit der Innstettens kommt es zu einem, wohl zu späten, Gespräch zwischen den Briestschen Eltern, da auch Briest nicht von der Richtigkeit der Ehe und der Liebe Effis überzeugt ist. In diesem Gespräch erzählt Luise ihrem Gatten von der Briefempfangsszene und davon, dass sie Effi eine Viertelstunde nach Erhalt des Briefes an ebendiesen habe erinnern müssen (43). Sie bekennt ebenfalls, dass ihr bei Effis Vorlesen ohne jegliche Mimikänderung »bang’ ums Herz« geworden sei (43). Die Schlussfolgerungen verbleiben allerdings im Floskelhaften, was beide Eltern wohl wahrnehmen (43–44). Briest stellt fest, dass Innstetten zwar Effis Ehrgeiz nachkommen wird, keinesfalls aber ihrem Drang, sich zu amüsieren, doch wird das Gespräch kurz darauf von Wilke unterbrochen. Die (Erinnerungs-)Spuren der Affäre scheinen sich nicht nur in Effis Gedächtnis, sondern auch in Effis Körper einzuschreiben, wie eine Markierung eines Traumas (s. Kap. 39), einer dauerhaften Wunde, die nicht verarbeitet werden kann (A. Assmann 1999, 241–264; A. Assmann 2002, 36; Butzer 2005, 16; Öhlschläger 2005, 231–233). So verändern sich Effis Gesichtszüge, aus denen alles verbliebene Kindliche verschwindet (204). Das, was in Effis Mimik von Crampas geweckt wurde, lobt Innstetten, sobald er zurück ist, freudig als erwachsene Weiblichkeit, die ihm entsprechend vorher gefehlt zu haben scheint (211). Auch Crampas’ körperliche Einschränkung, die durch das erste Duell entstand, markiert und zeichnet ihn auf den ersten Blick und stellt damit eine dauerhaft bleibende Erinnerungsspur an die entsprechende außereheliche Vereinigung dar (122). Wenn Effi von Innstetten erfährt, dass die Zeit in Kessin ein Ende haben wird und sie nun nach Berlin ziehen werden, erfährt das Erinnern und Vergessen eine neue Bedeutsamkeit für sie. Zunächst verabschiedet sie sich herzlich und endgültig von ihrem Freund Gieshübler mit den ausdrücklichen Worten, dass sie ihn niemals vergessen werde, selbst wenn sie hundert Jahre alt würde (222). Anschließend schreibt sie Crampas einen Abschiedsbrief, in dem sie ihn zuletzt inständig darum bittet, das Geschehene und sie selbst zu vergessen, da ihr der Umzug als gutes Zeichen gilt, dass sie doch »noch zu Gnaden angenommen werden kann« (223). Crampas vergisst sie jedoch nicht, sondern findet sich zu ihrer Abreise auf der Landungsbrücke »in vorderster Reihe« ein, um sie zu ver-

abschieden, worüber sie zwar erschrickt, sich aber gleichzeitig freut (223; Szabó 2000, 62). Doch auch Effi kann die Geschehnisse und Crampas erst einmal nicht vergessen. In Hohen-Cremmen, wo sie länger als ihr Gatte verweilt, überkommen sie am Abend vor ihrem Hochzeitstag beim Blick auf den Garten zunächst Erinnerungen an den Tag der Verlobung, der ja ebenfalls in diesem Garten begann (257). Gleich darauf bedrängen sie Erinnerungen an die Zeit in Kessin und den Anfang ihrer besonderen Beziehung zu Crampas. Diese plötzlichen bildlichen Erinnerungen treten »mit einemmale«, »ungerufen [...] vor ihre Seele« (257), so dass sie diesen nachhängt. Diese mémoire involontaire vermag Effi nicht loszuwerden (258). Genauso wenig ist es Innstetten nach dem Duell möglich, den Blick von Crampas zu vergessen. Auf seiner Rückreise vergegenwärtigt er sich diesen wieder, während er mit seiner Entscheidung hadert und sich zuletzt eingestehen muss, dass dieser Blick mit seiner Anklage ihn verfolgt und ihm nun stets vor Augen steht (287). Somit erweist sich die Entscheidung für das Duell und gegen das Verbrennen der Briefe als falsch, was sich ja dann später auch zeigt, wenn Innstetten an allem, was zuvor so wichtig war, nichts mehr liegt (337–340). Effis Kurgefährtin Zwicker wundert sich in einem Brief an eine Freundin denn auch darüber, dass Effi sich der Briefe nicht entledigt habe, zumal in Zeiten von Duellforderungen (305). Dieser berechtigte Einwand lässt sich ebenfalls mit Blick auf Erinnerung beantworten: Effi, die doch große Angst vor einer Entdeckung der längst vergangenen Affäre hegt (258), bewahrt die Briefe sicherlich einerseits als Erinnerung an die Aufregung und die einzige süße Ablenkung in Kessin auf, andererseits aber auch als Mahnung, in Berlin, wo ihr bald alles wie in einem anderen Leben vorkommt (262), ein neues Leben ohne Seitensprung zu führen (239). Später versucht Effi gezielt zu vergessen, was vorgefallen ist und was ihr das Leben so schwer gemacht hat, weshalb sie auch auf das Lesen verzichtet, da sie diese Tätigkeit in ihren traurigen Tagen betrieben hat und erneutes Lesen die Erinnerung an diese schwarzen Tage wieder hervorbringt (330). Da Intertextualität in der Erinnerungs- und Gedächtnistheorie auch als »Gedächtnis der Literatur« bezeichnet wird, scheint Effis Abwendung vom Lesen als Vergessenstherapie nur folgerichtig (Erll/Nünning 2005, 1). Therapeutisch vorteilhafter scheint für sie der stundenlange Blick auf den Garten zu sein, der sie vor der Ehe beheimatete und der ihr hilft, das Erlittene zu vergessen oder auch zu verdrängen (330).

40 Erinnerungs- und Gedächtnistheorien

Erinnerungsmetaphorik Aleida Assmann betont, dass zwischen den Medien und den Metaphern des Gedächtnisses eine enge Verbindung besteht, da Medien wie Schrift, Bild oder Film die Vorstellung des abstrakten Gedächtnisses und der Erinnerungsprozesse prägen und verdeutlichen (A. Assmann 1999, 149). Dabei sind die Metaphern auf einem Kontinuum angeordnet, mit den Assoziationen der Stabilität des Gedächtnisses und dem unproblematischen Abruf von dauerhaft zugänglichen Erinnerungen auf der einen Seite und Diskontinuität, Vergessen, Rekonstruktion und (vorübergehender) Unverfügbarkeit auf der anderen Seite. Assmann gliedert die Metaphern innerhalb des Kontinuums insbesondere in räumliche und zeitliche Metaphern, wobei Erstere eher dauerhafte Präsenz und Zugänglichkeit und Letztere vor allem die Aspekte Nachträglichkeit und Unverfügbarkeit implizieren (ebd., 151). Die Raummetaphern haben ihren Ursprung in der seit Simonides bestehenden Verbindung zu Raum bzw. Gebäude in der antiken Mnemotechnik, in der die Erinnerung der Sitzplätze zur Rekonstruktion der dazugehörigen Gäste verhalf. Zu den zeitlichen Metaphern zählt unter anderem die Geisterbeschwörung, verbunden mit den Elementen Wasser und Feuer, welche beide eine ambivalente Bedeutung besitzen. Während der unterweltliche Lethefluss alles, auch Sprache und Erinnerung der Toten, wegspült und mit dem Vergessen einhergeht, sprudelt das Wasser, dem Gedächtniskraft zugeschrieben wird, aus Kastalia, der heiligen Quelle Delphis, die zur Zeit der Römer zum Dichterquell wurde, da die Musen Töchter der Erinnerungsgöttin, der Mnemosyne, sind (ebd., 171). Die Erinnerung an die Toten geht wiederum mit dem Bildfeld der Wiederbelebung bzw. -erweckung einher (ebd., 172). Dazu bedarf es des Erinnerungsfunkens, um das Vergangene als Gegenwärtiges zurückzuholen, während die Naturgewalt Feuer nicht nur eine plötzliche, unverfügbare Erkenntnis symbolisieren, sondern als versengende Flamme auch für Vergessen und Verwüstung durch die Zeit stehen kann (ebd., 173). Unfreiwillige und zwanghaft auftretende Erinnerungen werden in diesem Zusammenhang im Bild der Gespenster ausgedrückt, die nach Freud als Metapher der Wiederkehr des Verdrängten fungieren (ebd., 174). Harald Weinrich hat den Begriff des »unbefriedeten Vergessens« in Bezug auf die ruhelosen, weil ermordeten oder nicht adäquat begrabenen Toten geprägt, die als Wiedergänger zurückkommen (ebd., 175). Unerledigte Dinge, unbefriedete oder

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traumatische Vergangenheit werden zum Anlass der Heimsuchung (ebd.), möglicherweise, um unterbliebene Trauerarbeit herauszufordern (ebd., 177) – eine Konzeption unwillkürlicher Erinnerung, die besonders seit der Literatur der Romantik vorzufinden ist (Butzer 2005, 12). Die schriftlichen Metaphern befinden sich im Kontinuum zwischen den räumlichen (s. Kap. 28) und den zeitlichen, da sie einerseits die Prägung einer unvergänglichen Spur voraussetzen, andererseits aber vorübergehenden Verlust, Vergessen und den Aufwand der Wiederherstellung zum Thema machen können (A. Assmann 1999, 177). In Effis heimischem Garten in Hohen-Cremmen befindet sich ein Teich, also ein stillstehendes Gewässer ohne die Tiefe, die ein See aufweisen würde (5). Wie bei einem Stausee als Ort, an dem etwas untergegangen ist (Schmitz-Emans 2012, 208), versenken Effi und ihre Freundinnen Hulda, Hertha und Bertha vom Boot aus Stachelbeerschalen und erinnern sich dabei einer Geschichte, die Kandidat Holzapfel ihnen in der Geographiestunde erzählte. Dass vom Boot aus vor Zeiten untreue Frauen versenkt wurden, hat bezeichnenderweise Effi behalten, auf deren Ehebruch in der »Seestadt« Kessin (15) die Geschichte bereits vorausweist (14; Szabó 2000, 59). Auch den Herthasee und die Opfersteine wird Effi später nicht vergessen können (249). Wenn Effi dann nach der Hochzeitsreise am Bahnhof Klein-Tantow ankommt, wählt Innstetten für die beiden aufgrund der Jahreszeit nicht den Wasserweg des kleinen Flusses Kessine, sondern die Kutsche (48). Das symbolische Fließen des Wassers (s. Kap. 21) wird Effi somit verwehrt, weshalb die Flüchtigkeit und der Fluss der Zeit auch nicht eintreten und ihre Affäre somit zwangsläufig wieder ans Ufer kommen wird. Auf dieser ersten Kutschfahrt erfährt Effi auch zum ersten Mal von dem toten Chinesen, der nicht auf dem Kirchhof beigesetzt, sondern in einem Grab zwischen den Dünen bestattet wurde, von wo aus das unüberschaubare Meer stets zu hören ist (51; 99). Die »Immortellen«, die sein Grab umgeben, weisen bereits darauf hin, dass der tote Chinese ein Wiedergänger ist, der die Kessiner Gesellschaft und ganz besonders Effi heimsuchen wird. Kein Wunder also, dass Effi bald bemerkt, wie »gespenstig« (54) sie es dort findet. Nachts hört Effi bald schon Geräusche, die sie mit einer Hochzeit assoziiert, obwohl sie anfangs noch nichts von den nebulösen Vorkommnissen um die Hochzeit Ninas, nach der die Braut verschwindet und der Chinese stirbt, weiß (60–61; Begemann 2018, 209–210). Das

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V Theoretische Zugänge

lässt darauf schließen, dass Effis eigene Hochzeit für sie ein traumatisches Erlebnis war, so dass sie die unbefriedete Vergangenheit nun einholt. Innstetten, der den Zustand der Vorhänge ohne großen Aufwand schnell ändern könnte, tut dies nicht (66; 117) und setzt seine junge Frau weiterhin den gespenstischen Geräuschen aus, die ihre Nerven angreifen (61), was die Parallele Furcht vor Innstetten und Furcht vor dem Chinesen noch dezidierter hervortreten lässt (38; 60). Sehnsucht nach Geborgenheit und Angst gehen somit Hand in Hand (85). Bei der Führung durch das obere Stockwerk des Innstettenschen Hauses, das Speicheroder Latenzgedächtnis des Dachbodens (Begemann 2018, 233), findet sich dann sogar das Bildchen eines Chinesen auf einem der drei Stühle, die auf die Dreieckskonstellationen Nina – Bräutigam – Chinese, Luise – Innstetten – Effi bzw. Effi – Innstetten – Crampas (Begemann 2018, 226) verweisen (69). In der ersten Nacht allein im Haus versucht sich Effi wohlweislich zunächst mit Lesen abzulenken, was aber nicht gelingt, da sie so auf die gruselige »weiße Frau« stößt, deren Auftreten Unheil ankündigt und die mit verschiedenen Frauen in Verbindung gebracht wird, wie einer verwitweten Gräfin von Orlamünde, die ihre einer zweiten Ehe im Wege stehenden Kinder ermordet haben soll, oder der unglücklich verheirateten Bertha (!) von Rosenberg (Komm., 438–439). Wie Effi liest, soll die weiße Frau aus dem Rahmen ihres, auch symbolisch zu verstehenden, nachgedunkelten Porträts gestiegen sein, während Napoleon in dem Schloss Eremitage übernachtete (81). Nachdem Effi, wiederum um auf andere Gedanken zu kommen, reflektiert, dass sie selbst im Gegensatz zu ihrer Mutter nicht nach Kessin, zum Haus und zu Innstetten passt (82), huscht schließlich etwas an ihr und ihrem Bett vorbei, das sie ängstigt und das sie mit dem sie heimsuchenden Chinesen identifiziert (86–87). Effi, die das »verwunschene«, mit Freud gesprochen un-heimliche Haus gerne aufgeben möchte, wird von Innstetten dem Vorwurf der Lächerlichkeit preisgegeben und muss wohl oder übel mit den spukenden Überresten der Vergangenheit leben (91–92). Das Nicht-Vergehen des Spuks durch die selbsttätige Wiederkehr des Chinesen-Geistes (108; FHb, 647) und das Nicht-Vergehen bzw. Nicht-Vergessen der Affäre korrespondieren, so wie durch die Situierung in den Dünen das Grab des Chinesen, die Affäre von Effi und Crampas und das Duell zwischen Innstetten und Crampas enggeführt werden oder wie Effi den eifersüchtigen Verdacht Innstettens, ihre Erleichterung, Kessin zu verlassen, beziehe sich auf eine Affäre, mit dem Spuk ausräumt (214–215)

und nicht nur das Gespenst in Form des Chinesenbildchens nach Berlin mit umzieht (245), sondern auch die Briefe von Crampas (270; 273). Die Wiederkehr schuldbesetzter verdrängter Vergangenheiten wird parallelisiert (Begemann 2018, 223, 227–228). Die ersten Ausritte von Innstetten, Crampas und Effi finden denn auch am Meer statt und Gesprächsthema wird neben Abwechslung im Zusammenhang mit der Ehe der kastalische Quell, so dass die bleibende Erinnerung an die Affäre denn auch gewiss ist (147). Zudem kommt es in den Gesprächen zwischen Effi und Crampas zu einer Anreicherung durch das Sirenenoder Seejungfrauen-Motiv. Es kommt einer Lockung in den Abgrund gleich, so dass Effi folgerichtig kurz vor der Verführung durch Crampas vermeint, eine solche zu hören (151, 160, 184). Erinnerungsmetaphorisch auffällig ist auch, dass Innstetten durch Brände, also Feuer, verhindert wird, die beiden weiter zu begleiten (158). Zuletzt, als die gefährlich erkrankte Effi die ihr nicht vergehen wollende, problematische Vergangenheit kaum noch hinter sich lassen kann, wird ihr das Vergessen, natürlich in Form von Wasser, verordnet: »›Reine Luft und freundliche Eindrücke, die das Alte vergessen machen...‹ ›Lethe, Lethe.‹ ›Ja, Lethe,‹ lächelte Wiesike. ›Schade, daß uns die alten Schweden, die Griechen, bloß das Wort hinterlassen haben und nicht zugleich auch die Quelle selbst...‹« (334). Effi, die aber nicht an die Riviera reisen, sondern in Hohen-Cremmen am heimischen Gartenteich bleiben möchte, findet schließlich dort bei Ziehbrunnen und Trögen den Frieden eines »süßen Vergessen[s]« (344). Literatur Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999. Assmann, Aleida: Gedächtnis als Leitbegriff der Kulturwissenschaften. In: Lutz Musner/Gotthard Wunberg (Hg.): Kulturwissenschaften. Forschung – Praxis – Positionen. Wien 2002, 27–45. Assmann, Jan: Kollektives und kulturelles Gedächtnis. Zur Phänomenologie und Funktion von Gegen-Erinnerung. In: Ulrich Borsdorf/Heinrich Theodor Grütter (Hg.): Orte der Erinnerung. Denkmal, Gedenkstätte, Museum. Frankfurt a. M. 1999, 13–32. Assmann, Jan: Einleitung. In: Ders.: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 52005, 15–25. Begemann, Christian: ›Ein Spukhaus ist nie was Gewöhnliches...‹ Das Gespenst und das soziale Imaginäre in Fontanes ›Effi Briest‹. In: Peter Uwe Hohendahl/Ulrike Vedder (Hg.): Herausforderungen des Realismus. Theodor Fontanes Gesellschaftsromane. Freiburg 2018, 203–241. Butzer, Günter: Gedächtnismetaphorik. In: Astrid Erll/Ansgar Nünning (Hg.): Gedächtniskonzepte der Literaturwis-

40 Erinnerungs- und Gedächtnistheorien senschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Berlin 2005, 11–29. Downes, Daragh: Das Erzählwerk. Effi Briest. Roman. In: FHb, 633–651. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart 32017. Erll, Astrid/Ansgar Nünning: Literaturwissenschaftliche Konzepte von Gedächtnis. Ein einführender Überblick. In: Dies. (Hg.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Berlin 2005, 1–9. Hehle, Christine: Von Krotoschin nach Kessin. Zu Landschaft und Mythos der Ostsee in Theodor Fontanes Roman ›Effi Briest‹. In: FBl 73 (2002), 71–87. Neuhaus, Stefan: Kessin. Zur Topographie eines literarischen Ortes in Fontanes ›Effi Briest‹. In: Dieter Krohn/ Bengt Sandberg/Martin Todtenhaupt (Hg.): Beiträge zur Effi-Briest-Forschung. Göteborg 1998 (Germanistische Schlaglichter, Bd. 1), 23–47.

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Öhlschläger, Claudia: Gender/Körper, Gedächtnis und Literatur. In: Astrid Erll/Ansgar Nünning (Hg.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Berlin 2005, 227– 248. Schmitz-Emans, Monika: Stillgestelltes Wasser. Photographierte Gewässer als Metaphern der Photographie, der Zeit und der Erinnerung. In: Kurt Röttgers/Monika Schmitz-Emans (Hg.): Wasser – Gewässer. Essen 2012, 207–221. Szabó, Erzsébet: ›Vergessen Sie das Geschehene, vergessen Sie mich‹: Die Unlöschbarkeit der Zeichen in Fontanes ›Effi Briest‹. In: Hanna Delf von Wolzogen (Hg.): Theodor Fontane: Am Ende des Jahrhunderts, Bd. 3: Geschichte, Vergessen, Großstadt, Moderne. Würzburg 2000, 57–64. Welzer, Harald: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München 32011.

Anna Braun

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V Theoretische Zugänge

41 Konstruktivismus und Dekonstruktion Zwischen Kant und Barthes Ein Lemma ›Konstruktivismus und Dekonstruktion‹ im Effi Briest-Handbuch? Das mag so manchen Leser*innen grob anachronistisch erscheinen. Als Theodor Fontane zwischen 1888 und 1894 Effi Briest schrieb, war dergleichen postmoderne Theoriebildung schließlich noch vollkommen unbekannt; erst mehr als ein halbes Jahrhundert nach Fontanes Tod sollten Denker*innen wie Jacques Derrida, Hélène Cixous oder Roland Barthes beginnen, vehement auf die Fluidität von Zeichen und den grundlegenden Konstruktionscharakter jeglicher Realität (ein Begriff, der seitdem von vielen grundsätzlich in Anführungszeichen gedacht wird) hinzuweisen. So neu die Dekonstruktion insbesondere im Kontrast zur Sinnsuche der Hermeneutik (s. Kap. 37) auch erscheinen konnte, so steht sie doch in der langen philosophischen Tradition des Nominalismus, reagiert mithin auf ihre Weise auf das schon seit der Antike diskutierte Universalienproblem. Die Frage, ob, was wir für gegeben halten, nicht eigentlich durch Wahrnehmung beeinflusst oder gar konstruiert sein könnte, stellte sich ja nicht erst den Zeitgenoss*innen des 20. Jahrhunderts, sondern besitzt eine lange philosophiegeschichtliche Tradition (s. Kap. 29). Auch die Erkenntnistheorie der späten Frühen Neuzeit war intensiv mit dieser Frage befasst und konstatierte eine grundlegende Beschränktheit menschlicher Erkenntnisfähigkeit. So fand Johann Martin Chladenius mit dem Begriff des ›Sehepunktes‹ 1742 eine Formel dafür, dass Interpret*innen unaufhebbar von ihrer jeweils spezifischen Perspektive auf den Gegenstand der Erkenntnis geprägt sind. Die kopernikanische Wende der Metaphysik sollte dann Immanuel Kant auslösen, indem er 1781 in seiner Kritik der reinen Vernunft argumentierte, dass wir nie das ›Ding an sich‹ erkennen können sondern immer nur das ›Ding für uns‹. Die Frage, inwiefern die Realität, die wir wahrnehmen, von eben dieser Wahrnehmung selbst abhängig ist, hat sich Fontane also allemal bereits gestellt. Dass Effi Briest, wie hier gezeigt werden soll, tatsächlich nicht zuletzt ein Roman über epistemologische Probleme dieser Art ist, lässt sich dann vor dem Hintergrund von Konstruktivismus und Dekonstruktion, in der Rückschau also, umso deutlicher erkennen. Ideengeschichtlich zwischen Kant und Barthes stehend,

kann Fontane mitunter gar manche spätere Erkenntnis der Poststrukturalist*innen literarisch vorwegnehmen. Auch sozialwissenschaftliche Befunde zur Konstruktion von Wirklichkeit bis hin zum sogenannten radikalen Konstruktivismus scheint Effi Briest zu präfigurieren, ebenso ergeben sich Kontinuitäten zur Wissenssoziologie von Peter L. Berger und Thomas Luckmann (Berger/Luckmann 1966). Im Folgenden soll plausibel gemacht werden, dass Effi Briest jene Zeichenhaftigkeit der Welt vorführt, über die schon lange vor Fontane nachgedacht wurde, die aber erst ab den späten 1950er Jahren explizite Theorieform erhalten sollte. Barthes zeigt in Mythen des Alltags, dass sich alles als Zeichen lesen lässt, woran kulturell konstituierte Bedeutung haftet: eine Rose, ein Citroën, die Tour de France. Am Beispiel eines schwarzen Kieselsteines veranschaulicht Barthes den entsprechenden Mechanismus: »Nehmen wir einen schwarzen Kieselstein: Ich kann ihn auf mehrere Weisen bedeuten lassen, er ist ein bloßer Signifikant; doch wenn ich ihn mit einem bestimmten Signifikat versehe (dem eines Todesurteils zum Beispiel bei einer anonymen Abstimmung), wird er zu einem Zeichen« (Barthes 2010, 256).

Die Bedeutung eines Signifikanten ist also niemals gegeben, gefragt wird daher danach, wie eine solche entsteht, wie der Kieselstein, der zunächst einmal überhaupt nichts bedeutet, zum Zeichen werden kann. Das Ziel ist also, wie Barthes in Die strukturalistische Tätigkeit erläutert, »ein ›Objekt‹ derart zu rekonstruieren, daß in dieser Rekonstitution zutage tritt, nach welchen Regeln es funktioniert (welches seine ›Funktionen‹ sind)« (Barthes 1966, 191). Während in der Hermeneutik gefragt wurde, was ein literarisches Werk bedeutet, sucht poststrukturalistisch inspirierte Literaturwissenschaft danach, wie es funktioniert und rekonstruiert seine Struktur: »Der strukturale Mensch nimmt das Gegebene, zerlegt es, setzt es wieder zusammen [...]« (ebd.). Dabei – so Barthes’ Auffassung – treten die Funktionen des zerlegten Objektes zutage. Das Wesentliche einer literarischen Landschaftsschilderung wäre demnach nicht in der Landschaft selbst oder in einem Abgleich von Text und Landschaft zu suchen, sondern in der Form des literarischen Textes (s. Kap. 21, 27, 28), weil – so Barthes – »das menschliche Denken sich nicht in der Analogie von Kopie und Modell ausdrückt, sondern in der Genauigkeit der Anordnungen« (ebd., 194). Das bedeutet nicht, dass Kunst keine Bedeutungen transportiert. Ganz im

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2019 S. Neuhaus (Hg.), Effi Briest-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04874-5_41

41 Konstruktivismus und Dekonstruktion

Gegenteil definiert Barthes die Menschheit als »ungeheure[] Maschine [...], die unermüdlich an der Schöpfung von Bedeutung arbeitet« (ebd., 195). Wie aber diese Bedeutungsmaschine funktioniert, das interessiert Barthes mehr als die Bedeutungen, die aus ihr hervorgehen. Und gerade das, die Bedeutungsmaschine Mensch und ihr Funktionieren, führt Fontanes Roman vor (s. Kap. 13, 14). An der Schwelle zur Moderne stehend (vgl. dazu Maria E. Brunners Befund, dass Effi Briest durchaus Gemeinsamkeiten mit Texten wie Hugo von Hofmannsthals Brief an Lord Chandos oder Rilkes Malte Laurids Brigge aufweist; Brunner 2001, 31; s. Kap. 2), liegen Effi Briest gleichsam sozialkonstruktivistische und dekonstruktivistische Einsichten in den Konstruktions- und Zeichencharakter von Realität zugrunde. Dass epistemologische Fragen, wie sie im Zentrum dieses Artikels stehen, für Fontanes Literatur überhaupt und konkret in Effi Briest eine Rolle spielen, ist in der Forschung bislang eher punktuell diskutiert worden. Grundlegend ist Ulf Eiseles nicht auf Fontane beschränkte Einsicht in die »erkenntnistheoretische Problematik des Realismus« (Eisele 1977, 162). Brunner liest Effi Briest als einen Roman, der Fragen der Wahrnehmung thematisiert, und kommt dabei zu dem Befund: »Die Wirklichkeit des Möglichen macht u. a. den Realismus Fontanes aus, der sich als eine Form literarischer Erkenntnis erweist, die Fiktionen der Realität und Modalitäten ihrer Fabrikation aufdeckt« (Brunner 2001, 31). Damit sind auch die epistemologischen Fragen angesprochen, die hier interessieren. Einen diesbezüglich äußerst produktiven Ansatz verfolgt Peter C. Pfeiffer, der die Bedeutung der Ardenne-Referenz (s. Kap. 9) für seine Lektüre relativiert. Es gehe in Effi Briest vielmehr darum, »Konflikte darzustellen zwischen verschiedenen Arten, Zeichen zu lesen und die Beunruhigung über den arbiträren Zeichencharakter der Wirklichkeit erschließenden Sprache sprachlich zu gestalten« (Pfeiffer 1990, 76– 77). Pfeiffer liest Effi Briest als einen Roman, »der die epistemologischen Probleme behandelt, mit denen sich die künstlerische Praxis des Bürgerlichen Realismus konfrontiert sah« (ebd., 77). Diese epistemologischen Probleme verlagert Fontane in die Ebene der Romanhandlung, auf der mit Effi und Innstetten zwei unterschiedliche Zeichensysteme zur Disposition stehen. Der berühmte Ruf »Effi, komm« erhält bei Pfeiffer so neue Bedeutung, »denn in dieser kleinen Szene stoßen die beiden grundsätzlich nicht zu vereinbarenden Zeichensysteme aufeinander: das konventionell

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arbiträre Innstettens und das magische, mit sich selbst identische, das sich um Effi findet« (ebd.).

Effi im Reich der Zeichen Pfeiffers Hinweis, dass in Effi Briest zwei Zeichensysteme kollidieren, ist wegweisend. Allerdings kann der genauere Blick in den Roman zeigen, dass die Spannung zwischen diesen beiden Zeichensystemen – einem magischen, vor-konventionellen und dem kulturell konstruierten arbiträren – eine ist, die weniger zwischen Effi und Innstetten besteht, sondern sich mehr oder weniger in allen Figuren findet. Für Effi beschreibt Pfeiffer diesen Konflikt letztlich auch selbst, indem er zeigt, dass Effi am Anfang des Romans als »sowohl das ›Naturkind‹ [...], die Tochter der Luft« präsentiert wird, als eben auch »die standesbewußte junge Adlige, die Staat machen will [...]« (Pfeiffer 1990, 77). Effi stehe, so Pfeiffer, »im Spannungsfeld zwischen ›natürlicher‹, beinahe vorsprachlicher Identität mit sich selbst und dem sozial bestimmten, daher zugleich beliebigen und durch Tradition festgeschriebenen Zeichensystem der gesellschaftlichen Konventionen und der Sprache« (ebd.). Unbedingt hinzuzufügen ist nun, dass der Entwurf Effis als »Naturkind« (eine Bezeichnung, mit der auch Briest seine Tochter belegt; 41), das sich gesellschaftlichen Konventionen entzieht, selbst schon Geschlechterklischees entspricht. Dass sie als »Tochter der Luft« nur scheinbar eine Position jenseits der Konventionen inne hat, wird in den Überlegungen deutlich, die Frau von Briest darüber anstellt, in welcher Aufmachung sie Effi Innstetten präsentieren möchte. Effi hat es verpasst, sich rechtzeitig zurechtzumachen und wird zunächst gescholten: »›Nun bist Du doch noch in Deinem Kittel, und der Besuch ist da. Nie hältst Du Zeit‹« (16). Als sich dann aber Effi »›in fünf Minuten‹« umziehen, ja »›in eine Prinzessin‹« verwandeln will (17), hält die Mutter sie auf: »Frau von Briest aber, die unter Umständen auch unkonventionell sein konnte, hielt plötzlich die schon forteilende Effi zurück, warf einen Blick auf das jugendlich reizende Geschöpf, das, noch erhitzt von der Aufregung des Spiels, wie ein Bild frischesten Lebens vor ihr stand, und sagte beinahe vertraulich: ›Es ist am Ende das Beste, Du bleibt wie Du bist. Ja, bleibe so. Du siehst gerade sehr gut aus. Und wenn es auch nicht wäre, Du siehst so unvorbereitet aus, so gar nicht zurecht gemacht, und darauf kommt es in diesem Augenblicke an [...]‹« (17).

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V Theoretische Zugänge

Die Passage führt vor, wie auch das Authentische jederzeit Teil einer Inszenierung werden kann (s. Kap. 36). Auch als »Naturkind« ist Effi Teil eines kulturellen Zeichensystems, in dem sie als »ein Bild frischesten Lebens« gerade nicht mit sich identisch ist. Ihre Natürlichkeit ist, wenn nicht selbst bereits Inszenierung und Rollenspiel, doch jederzeit instrumentalisierbar im konventionalisierten Kontext der Eheanbahnung. Die Bemerkung, dass Frau von Briest »unter Umständen auch unkonventionell sein konnte«, sollte nicht, auch wenn dies sicherlich nahe liegt, vorschnell und einseitig als Beleg dafür gelesen werden, dass der Erzähler ihr Verhalten in dieser Situation auch tatsächlich als unkonventionell bewertet wissen will. Vielmehr wird mit der Parenthese die komplizierte Frage nach der Konventionalität oder Unkonventionalität ihres Verhaltens ohne Vorgabe der Antwort allererst aufgeworfen. Mithin kann auch gemeint sein, dass Frau von Briest zwar unkonventionell sein konnte, es hier nun aber gerade nicht ist. Die Romanfiguren, auch das »Naturkind« Effi, sind also in kulturelle Bedeutungssysteme verstrickt, denen selbst zunächst Uninszeniertes nicht entgeht: Effi bewegt sich in einem unhintergehbaren Reich der Zeichen. Dieses wird schon mit den berühmten ersten Sätzen des Romans konstituiert: »In Front des schon seit Kurfürst Georg Wilhelm von der Familie von Briest bewohnten Herrenhauses zu Hohen-Cremmen fiel heller Sonnenschein auf die mittagsstille Dorfstraße, während nach der Park- und Gartenseite hin ein rechtwinklig angebauter Seitenflügel einen breiten Schatten erst auf einen weiß und grün quadrierten Fliesengang und dann über diesen hinaus auf ein großes in seiner Mitte mit einer Sonnenuhr und an seinem Rande mit Canna indica und Rhabarberstauden besetztes Rondell warf. Einige zwanzig Schritte weiter, in Richtung und Lage genau dem Seitenflügel entsprechend, lief eine, ganz in kleinblättrigem Epheu stehende, nur an einer Stelle von einer kleinen weiß gestrichenen Eisenthür unterbrochene Kirchhofsmauer, hinter der der Hohen-Cremmener Schindelturm mit seinem blitzenden, weil neuerdings erst wieder vergoldeten Wetterhahn aufragte« (5).

Was wie eine detailrealistische Schilderung aussieht, ist auch eine subtile Verhandlung epistemologischer Fragen. Erst im close reading (s. Kap. 38) wird wohl auffallen, dass die Eisentür in der Kirchhofsmauer, die an den Garten des Briestschen Hauses angrenzt, »weiß gestrichen[]« ist – und dass der Wetterhahn auf dem

Kirchturm »neuerdings erst wieder vergoldet[]« worden ist. Dass das Tor weiß ist und der Wetterhahn golden – es sind für Unschuld, Reinheit sowie Pracht und Glanz stehende, also mit dem Themenkomplex Ehe, Ehebruch, sozialer Status assoziierbare Farben – wird damit als reiner Oberflächeneffekt, als Zeichen, als kulturelle Leistung offengelegt. Wie leicht hätte Fontane die Tür schlicht als weiß und den Wetterhahn als golden beschreiben können! Dass er das nicht tut, ist signifikant und für die Frage nach Konstruktivismus und Dekonstruktion von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Die Formulierungen »weiß gestrichen[]« und »neuerdings erst wieder vergoldet[]« machen deutlich, dass – auch uns Leser*innen – lediglich die Ebene der Zeichen, das Ergebnis kultureller und (»neuerdings erst wieder«) stets zu erneuernder Leistungen zugänglich ist. So lackiert denn auch Kruse in einer späteren kleinen Szene das Sielenzeug, indem er Roswitha gegenüber kommentiert: »›Gott, [...] viel hilft es ja nicht, es nieselt in einem weg, und die Blänke vergeht doch wieder. Aber ich denke, alles muß seine Ordnung haben‹« (205). Ein Reich jenseits, vor oder nach den Zeichen begegnet im Roman nur auf der phantasmagorischen Ebene. Darunter leiden Fontanes Figuren auf unterschiedliche Weise. Immer wieder wird in Effi Briest die Frage nach möglichen Auswegen aus der arbiträren Zeichenwelt thematisch. Ausgerechnet der Konventionen so stark unterworfene Innstetten, dem das »›Gesellschafts-Etwas‹« (278) in der Schicksalsfrage seines Lebens, wie er sich zum Ehebruch seiner Frau verhalten soll, die höchste Instanz ist, wird gegen Ende des Romans den radikalen Bruch mit eben dieser Gesellschaft erwägen. Wüllersdorf gesteht er, er habe sich »als ein bestes herausgeklügelt: weg von hier, weg und hin unter lauter pechschwarze Kerle, die von Kultur und Ehre nichts wissen. Diese Glücklichen! Denn gerade das, dieser ganze Krimskrams ist doch an allem schuld. Aus Passion, was am Ende gehen möchte, thut man dergleichen nicht. Also bloßen Vorstellungen zuliebe ... Vorstellungen! ... [...]« (340–341).

Innstetten irrt sich natürlich, wenn er glaubt, dass man in Afrika »›von Kultur und Ehre‹« nichts wüsste; Afrika als Kontinent im Rousseauschen Naturzustand ist eine reine – und zwar eurozentristische, mithin kulturell vorgegebene – Projektion (s. Kap. 44). Indem Innstetten nicht einmal in der Lage ist, eine andere Kultur als solche zu erkennen, zeigt sich seine unlösbare Verstricktheit in das, was er »›Krimskrams‹«

41 Konstruktivismus und Dekonstruktion

nennt, umso deutlicher. Seine Einsicht, dass er Crampas »›bloßen Vorstellungen zuliebe‹« getötet und seine Frau aus denselben Gründen verstoßen hat, ist gleichwohl valide. Es ist bemerkenswert, dass der Moment dieser Einsicht mit einem sprachlichen Stolpern Innstettens zusammenfällt, das ihm an keiner anderen Stelle unterläuft: Der von Auslassungspunkten gerahmte Ausruf »›Vorstellungen!‹« unterbricht den Redefluss, mithin deutet sich hier subtil etwas wie eine das Gesagte performativ unterstreichende MicroSprachkrise an. Afrika als Ausweg wird für Innstetten, dem Wüllersdorf diesen Plan sogleich ausredet, das Phantasma bleiben, das es ohnehin schon war. Stattdessen schlägt Wüllersdorf eine Politik der »›Resignation‹« (341) vor, die ihrerseits durch punktuelle Fluchten – nicht nur aus dem Alltag, sondern auch aus den Zusammenhängen »›von Kultur und Ehre‹« – erträglich gemacht wird. »[...] Da haben wir ›Sardanapal‹ oder ›Coppelia‹ mit der del Era, und wenn es damit aus ist, dann haben wir Siechen. Nicht zu verachten. Drei Seidel beruhigen jedesmal. Es giebt immer noch viele, sehr viele, die zu der ganzen Sache nicht anders stehen wie wir, und einer, dem auch viel verquer gegangen war, sagte mir ›mal: ›Glauben Sie mir, Wüllersdorf, es geht überhaupt nicht ohne »Hülfskonstruktionen«‹ [...]« (342).

Der größere Zusammenhang, in den Wüllersdorf Innstettens Schicksal hier stellt (seine Probleme betreffen auch ihn selbst und darüber hinaus »viele, sehr viele«), macht deutlich, dass eine Lektüre als Ehebruchsroman Effi Briest gleichsam verharmlost. Nicht nur Innstetten bedarf der »Hülfskonstruktionen«, der ihrerseits konventionalisierten Versuche also, dem »Gesellschafts-Etwas« zu entkommen. Wüllersdorf bietet hier Kunst einerseits, Rausch andererseits an. Sardanapal und Coppelia sind beides Ballette, Letzteres nach E. T. A. Hoffmanns Der Sandmann. Es ist also explizit nichtsprachliche und romantische Kunst, die Wüllersdorf empfiehlt (s. Kap. 32, 33). Sie wird durch Alkoholgenuss, durch Rausch ergänzt. So sind das Bierhaus Siechen und das Weinhaus Huth, dessen Besuch Wüllersdorf am Ende des Gespräches ankündigen wird, wohl Äquivalente jener »Vergessenheitsquelle« (334), derer auch Effi bedürfte. Doktor Wiesike empfiehlt im Gespräch mit Briest, Effi auf Reisen zu schicken »›nach der Schweiz oder nach Mentone. Reine Luft und freundliche Eindrücke, die das Alte vergessen machen ...‹« (334). Eine Anregung, die Briest mit »›Lethe, Lethe‹« (ebd.) kommentiert, der Anspie-

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lung also auf jene mythologische Quelle, durch deren Wasser sich die Verstorbenen der Erinnerung an ihr Leben entledigen. Während Wiesike und Briest darüber scherzen, »›daß uns die alten Schweden, die Griechen, bloß das Wort hinterlassen haben und nicht zugleich die Quelle selbst ...‹« (ebd.), erschließt sich als Subtext des Gespräches ein anderer, letzter Ausweg: der Tod. Nur dieser garantiert letztlich das Entkommen aus der Zeichenwelt, das dem Menschen – anders als der Kreatur, für die Rollo einsteht – lebend nicht gegeben ist. Ganz wie Konstruktivismus und Dekonstruktion entwirft auch Effi Briest den Menschen als unhintergehbar in kulturelle Bedeutungssysteme verstricktes Wesen. Das wird nicht zuletzt im Rahmen des im Roman immer wieder thematisierten und problematisierten Komödienspiels (s. Kap. 36) und der Maskerade deutlich.

Maskerade und Komödie: Identität als Rollenspiel Schon der allererste Auftritt von Fontanes Protagonistin ist bei Licht betrachtet geeignet, das in der Forschung tradierte Klischee von Effi als »Naturkind« mit Zweifeln zu versehen. Effi unterbricht die gemeinsam mit ihrer Mutter im Garten vorgenommene Handarbeit, »um unter allerlei kunstgerechten Beugungen und Streckungen den Kursus der Heil- und Zimmergymnastik durchzumachen« (6). Zwar spricht das für ihre kindliche Bewegungslust, allerdings sind die vorgenommenen Übungen konventionalisiert, mithin »kunstgerecht[]«, d. h. nicht nur artistisch, sondern eben auch artifiziell. Gerade diese Künstlichkeit stellt Effi wohl aus, indem sie die Übungen zwar »mit ganz besonderer Liebe« absolviert, diese aber eben auch »absichtlich ein wenig ins Komische« zieht (6). Was sich hier andeutet, entfaltet sich weiter im Gespräch zwischen Mutter und Tochter: »›Effi, eigentlich hättest Du doch wohl Kunstreiterin werden müssen. Immer am Trapez, immer Tochter der Luft. Ich glaube beinah, daß Du so was möchtest.‹ / ›Vielleicht, Mama. Aber wenn es so wäre, wer wäre schuld? Von wem hab’ ich es? Doch nur von Dir. Oder meinst Du von Papa? Da mußt Du nun selber lachen. Und dann, warum steckst Du mich in diesen Hänger, in diesen Jungenskittel? Mitunter denk’ ich, ich komme noch wieder in kurze Kleider. Und wenn ich die erst wieder habe, dann knix’ ich auch wieder wie ein Backfisch, und wenn dann die Rathenower herüber kom-

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V Theoretische Zugänge

men, setze ich mich auf Oberst Goetze’s Schoß und reite hopp, hopp. Warum auch nicht? Dreiviertel ist er Onkel und nur ein Viertel Kourmacher. Du bist schuld. Warum kriege ich keine Staatskleider? Warum machst Du keine Dame aus mir?‹« (7)

Frau von Briests Äußerung zu Beginn des Gespräches situiert Effi erneut in einem Spannungsfeld von Natürlichkeit, Spontaneität und unkonventioneller Gefahrensuche und Artifizialität (s. Kap. 46); nicht einfach eine Reiterin, sondern eben eine »›Kunstreiterin‹« hätte Effi werden müssen. Weitreichendere Aussagen trifft dann Effi selbst. Es ist die Kleiderwahl der Mutter, der Effi identitätsbildende Wirkung zuschreibt. Der »›Jungenskittel‹« (für eine genaue Analyse der vestimentären Details vgl. Geppert 1998, 244) verantwortet Effis Wildheit, es wäre alleine eine Frage der Kleiderwahl, aus ihr eine erwachsene, gesellschaftsfähige Frau werden zu lassen: »›Warum machst Du keine Dame aus mir?‹«. Hier wird, mit Gerhard Neumann gesprochen, »ganz offensichtlich, daß ihr [Effis, I. H.] Leben aus einem Repertoire von ungeprüften und unerlebten Klischees erwächst – als eine Individualitätskarriere, wenn man es denn so nennen will, die nichts weiter ist als Imitation, eine Replik, ein Fake, der Lebensweg einer femme copie in einer ›Culture of the Copy‹« (Neumann 2014, 229). Das im Gespräch zwischen Mutter und Tochter skizzierte Modell von Geschlechtsidentität ist, mit den Begrifflichkeiten der Genderforschung gesprochen (s. Kap. 43), ein performatives. Effi drückt hier keine als Kern der Persönlichkeit verstandene, als gegeben gedachte Geschlechtsidentität aus, sondern performiert, was ihr von der Autoritäts- und Sozialisationsinstanz der Mutter nahegelegt wird. Als Dame, so könnte man es in Anlehnung an Simone de Beauvoir formulieren, wird man nicht geboren. Schon auf den ersten Seiten trifft der Roman damit eine Aussage über geschlechtliche und soziale Identität: Sie ist vor allen Dingen Rollenspiel. Effi, Frau von Briest und die anderen Romanfiguren wissen das, gehen aber jeweils unterschiedlich mit diesem Wissen um. Frau von Briest legt Wert darauf, die Inszenierung als solche undurchschaubar zu halten. Deshalb rät sie Effi vom Tragen eines Pelzes ab: »›Ein Pelz ist für ältere Personen, selbst Deine alte Mama ist noch zu jung dafür, und wenn Du mit Deinen siebzehn Jahren in Nerz oder Marder auftrittst, so glauben die Kessiner, es sei eine Maskerade‹« (30). Maskerade ist freilich jede Ausstattung, auch wenn sie nicht als solche wahrgenommen wird. Frau von Briest weiß um die soziale Bedeutung von Bekleidungskon-

ventionen, die bedingen, dass paradoxerweise gerade Effis eigenster Wunsch von Dritten als Maskerade, als besonders unauthentische Bekleidung wahrgenommen zu werden droht. Auch hier lohnt der genaue Blick auf die Formulierung; Frau von Briest bezeichnet den gewünschten Pelz nicht selbst als Maskerade, sondern gibt nur zu bedenken, dass dieser als solche gesehen werden dürfte (»›es sei eine Maskerade‹«). Es gilt also nicht, die Maskerade als solche zu vermeiden – sondern nur jene, die als Maskerade rezipiert wird. Neben dem Begriff der Maskerade spielt in Effi Briest eine weitere Theatermetapher eine wiederkehrende Rolle; immer wieder ist die Rede vom Komödienspiel (s. Kap. 36). Zunächst wird der Begriff im Zusammenhang mit der Trippelli eingeführt. Die unkonventionelle Sängerin, die Effi bei Gieshübler kennengelernt hat, schreibt Effi einige Tage nach dem gemeinsam verbrachten Abend ein Telegramm: »Innstetten war entzückt und gab diesem Entzücken lebhafteren Ausdruck als Effi begreifen konnte. / ›Ich verstehe Dich nicht, Geert.‹ / ›Weil Du die Trippelli nicht verstehst. Mich entzückt die Echtheit; alles da, bis auf das Pünktchen überm i.‹ / ›Du nimmst also alles als eine Komödie?‹ / ›Aber als was sonst? Alles berechnet für dort und für hier, für Kotschukoff und für Gieshübler. Gieshübler wird wohl eine Stiftung machen, vielleicht auch bloß ein Legat für die Trippelli‹« (111–112).

Bemerkenswert ist hier zweierlei. Zum einen, dass die Komödie gerade an der »Echtheit« erkennbar zu sein scheint – auf den ersten Blick durchaus ein innerer Widerspruch. Dass Innstetten und Effi im Gespräch über den binären Gegensatz Echtheit/Authentizität versus Komödie/Verstellung hinausgehen, zeigt ein avanciertes Verständnis von sozialem Rollenspiel an: Auch eine Komödie kann eben echt sein – et vice versa. Gleichwohl ist ein medisanter Unterton Innstettens unverkennbar, wenn er Effi darlegt, wie berechnend die Trippelli nach seiner Einschätzung vorgeht. Das aber sagt vielleicht mehr über Innstetten selbst aus als über Trippelli. Immerhin scheint Innstetten sogar seine Ehe nicht ohne ein gewisses Maß der Berechnung geschlossen zu haben, wie aus seiner an Effi gerichteten Frage, ob sie »›populär werden‹« und ihm »›die Majorität sichern‹« werde, wenn er »›in den Reichstag will‹«, hervorgeht (78). Dass eben auch Innstetten sich auf Komödienspiel versteht, glaubt auch Crampas. Er berichtet Effi, dass Innstetten in früheren Tagen gerne Spukgeschichten erzählte: »›[...] Und wenn er uns dann in große Auf-

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regung versetzt und manchen auch wohl geängstigt hatte, dann war es mit einemmale wieder, als habe er sich über alle die Leichtgläubigen bloß moquieren wollen. Und kurz und gut, einmal kam es, daß ich ihm auf den Kopf zusagte: ›Ach was, Innstetten, das ist ja alles bloß Komödie. Mich täuschen Sie nicht [...]‹« (153). Hier dient der Vorwurf eines Komödienspiels Crampas dazu, Innstetten vor Effi, die den Begriff später gedanklich aufgreifen wird (»Der große Erzieher! Aber hatte er nicht recht? War die Komödie nicht am Platz?«; 202), in ein zweifelhaftes Licht zu rücken. Eine Einsicht in den grundsätzlichen Rollencharakter des Sozialen ist damit – wie auch mit dem »versteckte[n] Komödienspiel« (199) von Effis Affäre – noch nicht verbunden. Diese wird erst spät im Roman von Innstetten selbst formuliert, wenn er, wie bereits diskutiert wurde, als Ausweg aus der Kontingenz sozialer Konventionen die Auswanderung nach Afrika erwägt. Fontane macht deutlich, dass die Figuren, ganz wie es Erving Goffman in Wir alle spielen Theater beschreibt, je nach Situation und Kontext unterschiedliche Rollen einnehmen. So reagiert Innstetten, als Effi ihm die Hand küssen will, mit Verweis darauf, dass hier eine Rollenkonfusion vorliege: »›Nein, Effi, um Himmels willen nicht, nicht so. Mir liegt nicht daran, die Respektsperson zu sein, das bin ich für die Kessiner. Für Dich bin ich ...‹ ›Nun was?‹ ›Ach laß. Ich werde mich hüten, es zu sagen‹« (58). So bleibt für Effi unklar, welche Rolle ihr Ehemann ihr gegenüber einnehmen möchte – wie auch sie selbst sich, als sie zum ersten Mal in Kessin aufwacht, erst mühsam in ihre auch nach sechs Wochen (62) noch neue Identität hineinfindet: »Wo war sie? Richtig, in Kessin, im Hause des Landrats von Innstetten, und sie war seine Frau, Baronin Innstetten« (59). Die Frage »Wo war sie?« wird unausgesprochen ergänzt durch eine andere: ›Wer war sie?‹ Obwohl sie sich ihrer neuen Rolle als Baronin Innstetten besinnt, gelingt es ihr an diesem Morgen nicht, dem Dienstmädchen Johanna gegenüber »so ohne weiteres von ihrem ›Manne‹ zu sprechen« (60). Spätestens jetzt ist Effi nicht-identisch mit sich selbst, ein Problem, das auch die wiederholten Spiegelszenen des Romans motiviert. Überall zeigt sich der Konstruktionscharakter von Realität und die Rollenhaftigkeit von Identität (s. Kap. 46). So werden auch Effis Antrittsbesuche bei den Kessiner Familien vom Erzähler als »Tournee« (75) bezeichnet, es handelt sich also um eine Reihe von Auftritten; Roswitha ist für Johanna »einfach die komische Figur« (135) und Innstetten gibt Effi bei Ankunft in Kessin ein »Personenverzeichnis« (52) der dort lebenden Men-

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schen, das auch als dramatis personae verstanden werden kann. Geheimrat Rummschüttel erkennt in Berlin, dass Effis Krankheit gespielt ist, und lässt sich auf das Spiel ein, was Effi nicht entgeht: »sie hatte recht gut bemerkt, daß er ihrer Komödie mit einer Komödie begegnet war« (236). Aus der Rollen- und Zeichenhaftigkeit der Figuren ergibt sich ein entsprechender Interpretationsbedarf und die Möglichkeit, das Komödienspiel bzw. die Performanz, wie man mit einer dem performative turn zu verdankenden Begrifflichkeit sagen könnte, auch fehl zu deuten. So missversteht Crampas eine scherzhafte Äußerung Effis und nimmt diese für Ernst, was zu dem folgenden kleinen Dialog zwischen beiden führt: »›Ich habe Sie doch für einen besseren Seelenleser gehalten.‹ ›Ach, meine Gnädigste, bei schönen, jungen Frauen, die noch nicht achtzehn sind, scheitert alle Lesekunst‹« (137). Effis Beziehung zu Crampas, hier sollte man sich nicht täuschen, ist nicht jenseits der sozialen Zwänge angesiedelt. Auch sie verläuft nach einem vorgegebenen Schema, inszeniert Crampas doch das Stück Ein Schritt vom Wege gleichsam als Skript des folgenden Ehebruches. Während der Affäre lebt Effi sich, wie der Erzähler ausführt, »in ein verstecktes Komödienspiel mehr und mehr hinein« (199). Das muss nicht nur hinsichtlich der Lügen, zu denen Effi sich Innstetten gegenüber nun gezwungen sieht, gültig sein: Auch die Affäre selbst ist letztlich Komödie, d. h. soziales Rollenspiel. Das gilt selbst für Innstettens Reaktion auf den Fund der Briefe. Denn noch bei Innstettens Forderung an Crampas handelt es sich, wie er sich am Abend des Duelltages eingesteht, um eine »›halbe Komödie‹«: »›Und diese Komödie muß ich nun fortsetzen und muß Effi wegschicken und sie ruinieren, und mich mit ...‹« (287). Was bei Rummschüttels Reaktion auf Effis Schulkrankheit noch wie eine – Effi durchaus peinliche, gleichwohl aber menschenfreundliche – Ausnahme erscheint, dass nämlich der eine der Komödie der anderen mit einer Komödie begegnet, wird nun als grundlegendes Paradigma des Sozialen mit allen bitteren Konsequenzen durchgespielt (s. Kap. 36).

Die Briefe Mit Bedauern stellt Innstetten fest, dass er anders mit den gefundenen Liebesbriefen hätte umgehen und diese verbrennen müssen (287). Die Bedeutung der Briefe (s. Kap. 38), deren Fund zum Duell, zum Tod Crampas’ und letztlich auch Effis führt, ist damit als arbiträr markiert. Als Innstetten die Briefe nach An-

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V Theoretische Zugänge

nies Sturz findet – eigentlich will er gerade aufräumen, was Johanna und Roswitha auf der Suche nach Verbandszeug aus Effis Nähkasten genommen haben –, fällt ihm »das kleine, mit einem roten Faden zusammengebundene Paket, das mehr aus einer Anzahl zusammengelegter Zettel, als aus Briefen zu bestehen schien«, auf (273). »Er fuhr, als wäre es ein Spiel Karten, mit dem Daumen und Zeigefinger an der Seite des Päckchens hin und einige Zeilen, eigentlich nur vereinzelte Worte, flogen dabei an seinem Auge vorüber« (ebd.). Die Briefe erscheinen Innstetten wie ein Kartenspiel und in der Tat kommt es, wie auch bei einem Kartenspiel, nun ganz darauf ein, wie Innstetten mit ihnen umgeht, welche Karten er spielt. Der Wert eines Blattes ist beim Kartenspiel nicht per se gegeben, wie auch die Bedeutung von Innstettens Fund nicht ohne Weiteres klar ist. Die Gespräche, die Innstetten mit Wüllersdorf führt, zeigen, dass der Zeichencharakter der Briefe durchaus kompliziert ist. Es liegt eben nicht auf der Hand, wofür die Briefe stehen – für Verjährung etwa und damit für die Konsequenz, dass der so lange zurückliegende Ehebruch zu verzeihen ist? Oder ganz im Gegenteil für eine Verfehlung, auf die als unvermeidbare Konsequenz ein Duell mit Crampas und die Verstoßung Effis folgen muss? In einem über fünf Seiten gehenden Gespräch diskutieren das Innstetten und Wüllersdorf. Ihr am Schluss gefundener Konsens, dass man sich dem »›Ehrenkultus‹« zu unterwerfen habe (280), ist nur ein vorläufiger. Schon am Abend des Duells stellen sich bei Innstetten Zweifel ein und die Erkenntnis, dass er die Briefe hätte verbrennen müssen. Die Briefe entsprechen Barthes’ schwarzem Kieselstein, ihre Bedeutung erhalten sie erst in einem aktiven und kontroversen, von Fontane komplex dargestellten, Prozess der Bedeutungszuschreibung. Als Zeichen bleiben die Briefe, so gesehen, kontingent.

hat immer was Gruseliges‹«; 52) als Projektionsfläche ihrer Ängste an, kann sie doch, dass sie sich vor ihrem eigenen Ehemann fürchtet, nur ihrer Mutter gegenüber zum Ausdruck bringen (»›... ich fürchte mich vor ihm‹«; 38). Als Effi etwas später, beim ersten Rundgang durch Innstettens Haus, das kleine, an einer Stuhllehne angebrachte Klebebild mit der Abbildung eines Chinesen entdeckt (69), verstärkt dies ihre Ängste und bald glaubt Effi, dass er ihr nächtlich erscheint (87). So wird der Chinese, der eigentlich eine konstruierte Verbindung des Bildchens mit der sehr offen bleibenden verstorbenen Figur darstellt, zu einer wichtigen Größe in Effis Leben. Dabei erfährt weder Effi noch die Leser*innenschaft, was genau es mit dem tatsächlichen Chinesen, der in Kessin gelebt hat, auf sich hatte. Trotzdem – oder gerade deshalb – bietet sich die Figur als Spiegel für Effis unglückliche Liebesgeschichte an. Die kontingente Figur des Chinesen wird, wie die Forschung bereits herausgearbeitet hat, zum Zeichen, mithin zum Signifikanten ohne Signifikat:

Der Chinese

Literatur

Immer wieder – um zuletzt noch auf eine zentrale Chiffre des Romans zu sprechen zu kommen – begegnet in Effi Briest ein Chinese (s. Kap. 22). In Kessin gibt es ein Grab eines Chinesen, der – aber das wird Innstetten erst im zehnten Kapitel erzählen (97–100) und Effi wird das wenig später ihrer Mutter schriftlich weitergeben (116–117) – unter ungeklärten Umständen und im Zusammenhang mit dem Verschwinden einer Braut von ihrer Hochzeit zu Tode gekommen ist. Für Effi bietet sich dieser Chinese (»›Ein Chinese, find’ ich,

»Der Chinese erscheint als eidolon, als ein transportables Klebebild gewissermaßen, ein bald als Geräusch, bald als Wort- und bald als Bild-Klischee auftauchendes Gemenge von trüben, unentzifferbaren Motiven: Eros – Verführung – Fremdheit – Flucht – Tod. Mit anderen Worten: Das Bildchen fungiert als Fetisch, als fremdes Zeichen, das Verleugnung und Anerkennung des Fremden zugleich ist [...]« (Neumann 2014, 233).

Effi Briest ist, so legt die Zusammenschau der hier dargelegten Befunde nahe, weniger ein Ehebruchsroman als ein Roman, der das Verstricktsein des Menschen in kulturelle Zeichensysteme zum Thema hat. Ein Jenseits der Konstruktionen ist Fontanes Figuren nicht erreichbar. Indem der Roman das vorführt, macht er den Leser*innen jenes »Drehmoment, das die Kultur in Natur umkehrt« (Barthes 2016, 203), wahrnehmbar. Barthes, Roland: Die strukturalistische Tätigkeit. In: Kursbuch 5, Mai (1966), 190–196. Barthes, Roland: Mythen des Alltags. Aus dem Französischen von Horst Brühmann. Berlin 2010. Barthes, Roland: S/Z. Frankfurt a. M. 72016. Berger, Peter L./Thomas Luckmann: The Social Construction of Reality: A Treatise in the Sociology of Knowledge. New York 1966. Brunner, Maria E.: »Man will die Hände des Puppenspielers nicht sehen«: Wahrnehmung in ›Effi Briest‹. In: FBl 71 (2001), 28–48. Eisele, Ulf: Realismus-Problematik: Überlegungen zur Forschungssituation. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Lite-

41 Konstruktivismus und Dekonstruktion raturwissenschaft und Geistesgeschichte 51, H. 1 (1977), 148–175. Geppert, Hans Vilmar: »A cluster of signs«: semiotic micrologies in nineteenth-century realism; ›Madame Bovary‹, ›Middlemarch‹, ›Effi Briest‹. In: The Germanic Review 73, H. 3 (1998), 239–250. Goffman, Erving: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. München 71998.

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Neumann, Gerhard: Zitierte Authentizität in Stifters ›Nachsommer‹ und Fontanes ›Effi Briest‹: Hegel – Bergson – Barthes. In: Ders.: Kulturwissenschaftliche Hermeneutik. Freiburg i. Br. 2014, 215–239. Pfeiffer, Peter C.: Fontanes ›Effi Briest‹: zur Gestaltung epistemologischer Probleme des Bürgerlichen Realismus. In: The German Quarterly 63 (1990), 75–82.

Irmtraud Hnilica

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42 Diskursanalyse Zur Theorie Wer liest, wie Effi Briest aus dem Paradiesgarten heraustritt, ihre kindliche Unschuld und Natürlichkeit verliert und letztlich dem biblischen Verbot und der Sterblichkeit erliegt, tut dies vor dem Hintergrund religiöser Symbolik (s. Kap. 30). Sobald, allgemeiner betrachtet, der Text als zu analysierender Ausdruck für etwas in ihm Verborgenes gelesen wird, sei es anthropologischer, politischer, psychologischer (s. Kap. 39) oder mythologischer Natur, ist der Fokus gemeinhin auf die hermeneutische Frage seiner Bedeutung gerichtet (s. Kap. 37). Ideengeschichtlich werden für Autor und Text philosophische Einflussgrößen (s. Kap. 29), literarische Vorbilder (s. Kap. 33) und kunstgeschichtliche Auseinandersetzungen (s. Kap. 32) bis hin zur Frage des Epochenspezifischen diskutiert (s. Kap. 2), während sich eine zeichentheoretisch inspirierte, strukturalistische Vorgangsweise (s. Kap. 41) besonders für die Stellung von Fontanes Erfolgsroman in seinem Werk interessiert. Dabei lassen sich, nahe am Text forschend, komplex konstruierte semantische Netzwerke ablesen und als Strukturen (des Gesamtwerks) beschreiben. Vertreter der Diskursanalyse nun setzten sich dezidiert von der hermeneutischen Suche nach einer aufzudeckenden Bedeutung ab, wie sie verborgen zwischen den Zeilen liege, kritisierten Unzulänglichkeiten der Begriffe Autor, Werk und Epoche und wandten sich gegen die Vorstellung eines Zeitgeistes, gegen eine Reduktion auf bestimmende Ideen und Denker. Damit griffen sie eine explizite Kritik Michel Foucaults an Hermeneutik, Ideengeschichte und Strukturalismus auf. Geäußert hatte er diese aus der Position des Philosophen und Historikers in Die Archäologie des Wissens, seiner theoretischen Schrift zu Diskursen, mit der er sein praktisches Tun als Forscher zu konzipieren versucht. Neben dieser negativen Bestimmung lässt sich eine positive am ehesten wie folgt formulieren: Ein diskursanalytischer Ansatz, als Teil kulturwissenschaftlicher Zugänge, sucht nach spezifischen Aussagefeldern, nach der Streuung von Aussagen im Kontext sich wandelnder, heterogener Diskursformationen. Der Begriff der Aussage (énoncé), zu verstehen als Einheit von Diskursen, bleibt dabei unscharf. Foucault umschreibt ihn exemplarisch, indem er ihn von dem der logischen Proposition, der Grammatik und dem Sprechakt abtrennt. Allgemeiner Gegenstand der Diskursanalyse ist die

mit diesen Aussagefeldern vollzogene Konstruktion von Wissen – etwas weiter gefasst auch dessen Transformation am Knotenpunkt unterschiedlicher Disziplinen –, wobei das historisch kontingente Wissen den Effekt praktischer Tätigkeiten darstellt: Wissen ist so als Praxis konzipiert; Diskurse erzeugen als soziale Praktiken sowohl ihre Gegenstände als auch ihre Sprecher*innen. Keine Bestimmung sollte allerdings darüber hinwegtäuschen, dass es nicht nur, wie oft betont, an einer einheitlichen Bestimmung des Foucaultschen Diskursbegriffes, sondern schlicht an gemeinsamen Richtlinien für die Diskursanalyse fehlt. Thematische Handbücher beziehen sich nicht auf die Literaturwissenschaft, sondern besprechen die kritische, linguistische oder psychologische Diskursanalyse. Die Gemeinsamkeit philologisch interessierter Ansätze wie z. B. der historischen Diskursanalyse (Bogdal), der medientheoretischen Diskursanalyse (Kittler) oder der Interdiskursanalyse (Link) erschöpft sich weithin im Bezug auf die Philosophie Foucaults und auf dessen wiederum heterogene Rede von Diskursformationen. Beispielanalysen verbindet am ehesten die Bemerkung, dass Einzeltexte diskursanalytisch nicht zu fassen seien. Zudem geht Foucault von den Versuchen der Begriffsbestimmung und der Konzentration auf die Materialität der Diskurse in Die Archäologie des Wissens in seiner Antrittsvorlesung Die Ordnung des Diskurses auf Fragen der Kontrolle über, um dann im Rahmen seines Genealogie-Projekts Fragen historischer Machtverhältnisse zu betonen. Allerdings lässt sich hier zwar grob, aber dennoch treffend formulieren: »Nicht der Diskurs oder die Macht sind die Leitbegriffe der Foucaultschen Theorie, sondern das in jeder Schrift neu geordnete Verhältnis von Diskurs, Wissen, Macht und Subjekt« (Geisenhanslücke 2007, 68). In diesem Sinn sind die folgenden Punkte unter Berücksichtigung der genannten Restriktionen zu lesen. Die Analyse eines Textes erfolgt in der Diskursanalyse nicht als möglichst autonome Ausdeutung für sich, wie dem New Criticism zugeschrieben, sondern vor dem Hintergrund einer jeweils spezifischen historischen Organisation von Wissen, Macht und Begehren, manifest in den mündlichen und schriftlichen Aussagen unterschiedlicher Diskurse. Auf diese instabile Organisation beziehen sich Foucaults Metaphern der Streuungen, der Felder von Aussagen, der Diskursformationen, der übergeordneten Netze (Dispositive) und der Archive. Paradox formuliert, werden über sie Möglichkeiten der Abgrenzung bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung von Differenz diskutiert. Aufgegriffen werden in konkreten Diskurs-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2019 S. Neuhaus (Hg.), Effi Briest-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04874-5_42

42 Diskursanalyse

analysen aber auch Foucaults Analysen der Machtbeziehungen als Bedingungen von Aussagen sowie seine Kritik am Subjektbegriff. Die Diskursanalyse kann heute nicht mehr so wie in der frühen Phase jenseits der Spezifika des literarischen Diskurses erfolgen, etwa indem literarische Aussagen anderen (wissenschaftlichen, philosophischen, religiösen) einfach unterschiedslos angeschlossen würden. Denn damit würden, nicht ohne Ironie, die in Die Archäologie des Wissens diskutierten Unterschiede zwischen den Formen des Wissens ignoriert. Das Verhältnis von Literatur zu anderen Diskursen wie Wissenschaft, Philosophie oder Religion lässt sich exemplarisch an den Sphären der Kriminalliteratur und der Strafjustiz festmachen: »[K]eine bildet die andere ab, sondern beide stehen im Rahmen eines kulturellen Prozesses [der Wissensproduktion], den sie mitprägen und von dem sie selbst geprägt sind« (Neumeyer 2004, 180). Foucaults Ablehnung der Hermeneutik bezieht sich unmittelbar auf seine historische Analyse der Diskurse als Orte von Wissen. Das ist nicht unmittelbar auf die Beschäftigung mit Literatur übersetzbar, wo die Frage der Allegorie oder der Metaphorik sich anders stellt als in einer Geschichte des Rechts, der Medizin, des Wahnsinns oder der Sexualität. Bedeutender als die in der heutigen Dominanz kulturwissenschaftlicher Ansätze ohnedies reichlich abgenutzte Geste einer selbstherrlichen Absage an die Tradition der Textausdeutung ist die Verschiebung der Blickrichtung von der zu kommentierenden Bedeutung zu ästhetischen Verfahrensweisen innerhalb diskursiv erzeugter, machtbesetzter Wissenskomplexe. Die spezifische Streuung der Aussagefelder im Text lässt sich so – in ihrer jeweiligen Differenz – im Kontext der betreffenden Diskursformationen betrachten, und zwar unter Berücksichtigung des Besonderen des literarischen Diskurses. Zugeschrieben werden dabei literarischen Texten in der Diskursanalyse nicht zuletzt die Funktionen der Bestätigung, Kritik oder Subversion herrschender Diskurse mit poetischen Mitteln, was allerdings zu einer naiven Vorstellung der Repräsentation verführen kann. Als nuancenreicher, vielschichtig komponierter Text enthält Effi Briest zahlreiche (verstreute) Kreuzungspunkte zu bedeutenden Diskursen des ausgehenden 19. Jahrhunderts, zu denen prominent der Diskurs zu Sexualität sowie Liebe und Liebesheirat (s. Kap. 24), zu Medizin (s. Kap. 25), zu Formen des Wissens und der Kultur, zu sozialer Hierarchie (s. Kap. 26) und der Kunstdiskurs (s. Kap. 32) zählen.

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Die Verknüpfung textanalytischer mit diskurstheoretischen Überlegungen – die Freilegung textimmanenter Aussagefelder – kann dazu beitragen, die komplexe Schichtung des Romans als Ort der Überschneidung heterogener Diskurse sichtbar zu machen. Durch eine synoptische Beschreibung der genannten Felder zeigen sich die Punkte, wo Diskursanalysen zum Text ansetzen können. Jede literarische Analyse, so die Theorie, ist durch die Wahl der Diskursformation bestimmt, auf die sie sich bezieht.

Sexualität, Liebe, Liebesheirat und der medizinische Diskurs der Zeit Die Anknüpfungspunkte Effi Briests zum Liebes-, Ehe- und Sexualitätsdiskurs des ausgehenden 19. Jahrhunderts reichen von übergeordneten Themen wie einer impliziten Kulturgeschichte der Verführung über Fragen der Beziehung zur zeitgenössischen Psychologie (s. Kap. 39) und zur entstehenden Psychoanalyse zu eher punktuellen Themen, wie sie u. a. die Rechtslage des außerehelichen Geschlechtsverkehrs oder des Duells darstellen. Sie betreffen ebenso die soziale Ordnung und die zeitgenössischen Wertvorstellungen, mit dem Begriff der Ehre (vgl. Neuhaus 2002, 95) und den herrschenden Geschlechterrollen (s. Kap. 43), wie Entwürfe zu Freiheit und Subjektivität (s. Kap. 46). Dazu lassen sich bürgerliche Identitätskonstrukte (mit Karriere und Liebe als Eckpfeiler) beobachten, allgemeinere Fragen der Subjektivität abgrenzen, wie sie die diskursive Schaffung von Innenräumen (einschließlich des Diskurses zur Affektregulierung) darstellt (s. Kap. 35, 45), oder man kann die spezifische Frage von Effis Auflösung am Ende als eine des subjekt- bzw. identitätslosen Status formulieren. Nicht nur über die Fragen der Geschlechterdifferenz ist der Liebesdiskurs von Formen der (intimen) Macht besetzt. Eine spezifische Sichtweise wird durch den Hintergrund der Humoralpathologie (Lehre von den Körpersäften) und des medizinischen Diskurses der Zeit zur Schwindsucht entfaltet. Zur komplexen sozialen Ordnung zählt die gesellschaftliche Position Effis nach Innstettens Aufdeckung ihres früheren Verhältnisses mit Crampas. Der soziale Ausschluss ist als Folge des öffentlichen Bekanntwerdens ihrer sexuellen Regelüberschreitung bezeichnet. Bereits zu Beginn des Romans werden das biblische Verbot und die mythologische Vertreibung aus dem Paradies metaphorisch anzitiert, Effis konkrete Situation nach dem Fall dagegen wird eher vorausgesetzt

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als erläutert. Dennoch greift Effi Briest – auf eine für den Roman charakteristische Weise der Betonung durch Ausblendung – soziale Regeln des Ausschlusses auf, stellt sie in ihrem tödlichen Ausgang dar und hinterfragt sie zugleich kritisch. Die Akzeptanz der den Figuren bekannten Regeln – Teil eines komplexen Ehrenkodex – ist dabei unterschiedlich und Interesse erregend: Effi stört, Kleists Natalie aus dem Prinz von Homburg nachfolgend, die seelische Grausamkeit, mit der das Recht vollzogen wird. Besonders trifft sie die menschliche Entfremdung ihrer Tochter Annie zugunsten einer abstrakten Regelwelt. Roswitha setzt sich als ›einfache Katholikin‹ zweifach über den ihr fremd bleibenden Ausschluss hinweg, zunächst, indem sie bei Effi bleibt, und dann, wenn sie in ihrem Brief an Innstetten für Effi um den Hund Rollo bittet. Innstetten, der – wenn auch widerwillig – seiner Pflicht folgt, fühlt sich durch diesen Brief, durch seine naive Direktheit und durch das deutliche Zeichen von Liebe sichtlich getroffen, was auf mythologischer Ebene mit dem Ansatz von Innstetten als Pluto korrespondiert (vgl. Breuer 2009). Unterschieden wird die Ebene von Liebe und Emotion von einer letztlich reflexiven Lösung des Geschehens, wie sie Innstetten getroffen hatte, wenngleich, wiederum kleistisch, durch Übereilung. Er hält den Ausschluss bis zuletzt aufrecht, einer sozialen Norm folgend, über die er sich nicht wie Roswitha hinwegsetzen kann und über die auch die Eltern sich erst nach einem warnenden Brief von Effis Berliner Arzt, Geheimrat Rummschüttel, hinwegsetzen. Dass ihre Position zwischen Roswitha und Innstetten einzuordnen ist, gehört zu den sozialen Spielregeln, denen der Text folgt. Um die diskurskritischen Elemente des Textes bezogen auf die einzelnen Prozesse und Regeln nachvollziehen zu können, ist Innstettens Position im Diskurs von größerem Interesse als die Frage nach dem Charakter der Figur. In der Rezeption wird zu Fall und Ausschluss auf sympathiesteuernde Erzählverfahren zugunsten Effis hingewiesen, wodurch das kritische Potenzial gestützt wird. Was sich ereignet, ist ein Ausschluss der liebenswerten Figur, der »schönen Seele« (Rohse 1998, 205), für deren Fall ein Arsenal von Gründen nahegelegt wird, um sie mit rezeptiver Anteilnahme an den Regeln der Zeit scheitern zu lassen, wozu auch die Verzögerung in der Aufdeckung und die sprachliche Ausklammerung des Geschehens dienen. Für die Systeme der Macht und der Strafe lässt sich der soziale Ausschluss im Kontext einer der bekanntesten Thesen Foucaults lesen, nämlich, dass die Macht ihr Erscheinungsbild verändert habe, in dem

Wandel von einer strafenden äußeren Instanz zu Prozessen der Regulierung eines (zu erzeugenden) komplexen Selbst. Moralischen Erwägungen kommt im Roman nur eine Randposition zu, auch hier wirkt die zeitliche Verschiebung der Aufdeckung unterstützend. Für die ebenfalls kaum präsente Schuldfrage (vgl. Kloth-Manstetten 2015, 57–58) ist der Blick auf den medizinischen Diskurs erhellend. Eine Neigung zu Leidenschaftlichkeit wird über Effis Konstitution als Sanguinikerin nahegelegt, womit die alte Rede vom (Sünden-)Fall in den Wissensdiskurs der Moderne überführt wird. Effis Tod durch Auflösung bietet Anknüpfungspunkte an einen literarischen Topos der Moderne (vgl. Pfeiffer 1997, 187) sowie an den zeitgenössischen medizinischen Diskurs der Schwindsucht, wozu auch die Vorstellung des Todes durch Entrückung – ein Freisetzen der Seele – zählt (vgl. Max 2012, 345). Während ihre eigenwillige Rückkehr zur Natur den Gegensatz zur sie ausstoßenden Zivilisation betont, ist für das Feld der Internalisierung von Strafe von Interesse, wie sie mit einer Art Einwilligung in ihre Auflösung stirbt und ihrer eigenen Auslöschung zustrebt (vgl. Neumann 2009, 225). Zugleich wird diese Einwilligung, wenn auch ironisch, als Sehnsucht nach der himmlischen Heimat literarisiert: ein kunsthistorisches Motiv, das nicht zuletzt in seiner philosophischen Form bei Schopenhauer Freuds Konzept vom Todestrieb prägen wird. Die soeben angesprochene Schwindsucht (s. Kap. 25), deren erotische Metaphorik als Krankheit der Brust bereits von Foucault aufgezeigt wurde – in der Einzigartigkeit des Morbiden entfalte sie ihr »unverwechselbares Geheimnis« als Passion (Foucault 1991, 185) – findet im medizinischen Diskurs der Jahrhundertwende ihre Erklärung über toxisch bakteriell bedingte Rauschzustände, mit dem Ausgangspunkt tradierter Konzepte von der Schwindsucht als konstitutionell bedingter Krankheit (vgl. Max 2012, 346). Konstitutionell bedingt, bedeutet im Falle Effis, der »Tochter der Luft« (7), ihre Verfasstheit als Sanguinikerin, wodurch ihr Verhältnis mit Crampas motiviert wird. Denn in der humoralpathologischen Deutung steht Effi, wenngleich im Roman durchaus indirekt gezeichnet, auch im Zeichen der den Sanguinikern »zugeschriebenen Promiskuität, Leidenschaftlichkeit und Leichtfertigkeit« (ebd., 340). Rummschüttel spricht zudem von einem zweiten Leiden neben der »Disposition zur Phtisis [Schwindsucht]«: »[Z]u diesem alten Übel hat sich nun ein neues gesellt: ihre Nerven zehren sich auf« (327). Auch die Hysterie zählt zur in Effi Briest diskutierten Krise der körper-

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medizinischen Betrachtungsweise (vgl. Link-Heer 1988, 384). Insgesamt wird über Epochen- und Diskursgrenzen in Effi Briest etwas eingeleitet, was sich ganz offensichtlich im fachlichen Diskurs der Psychoanalyse spiegelt, aber auch im literarischen Diskurs – prominent an der Figur Moosbrugger in Musils Mann ohne Eigenschaften – wiederfinden wird: die medizinische Reflexion des normabweichenden Verhaltens, der das Gesellschafts- und insbesondere das Rechtssystem nicht mehr gerecht wird. So wie diskursanalytische Beobachtungen den Blick auf die spezifische Medizinisierung unterschiedlicher Diskurse wie dem der Sexualität freilegen, machen interkulturelle Vergleiche differente Metaphorisierungen psychiatrischer Felder sichtbar. In jüngerer Zeit wurden u. a. am Beispiel Fontane (und dessen Vorbehalten gegenüber objektivierbaren Diagnosen) die wechselnden Konzepte der Hysterie im Kontext eines culture-bound syndrome beschrieben (vgl. Max 2017). Als Normverstoß zählt der Ehebruch zur Frage der Normalisierung durch Normierung und Individualisierung (s. Kap. 24, 26, 46), mit der Drohung des gesellschaftlichen Falls für Positionen außerhalb der Gesetzlichkeiten, denen Crampas Langeweile zuschreibt, um ihnen dennoch letztlich zu erliegen. Es geht damit auch um Grenzen und Grenzziehung, um Mechanismen von Ein- und Ausschluss sowie um einen Ort jenseits dieser Operationen, wofür Afrika als Chiffre für Zivilisationskritik steht (vgl. Gretz 2014, 200). Kulturgeschichtlich bildet die (zurückgedrängte) Frage nach Effis Schuld einen Teil der Umstellung von der Beurteilung der Tat – der Sünden-Fall – zur Beurteilung bzw. Exploration der Täter*innen. Dazu zählen die Erläuterung der Situation mit den möglichen Gründen und das extensive Aufrollen von Vorgeschichte und Erinnerung, womit den Innenräumen eines so konzipierten Selbst besondere Bedeutung zukommt. Vollzogen wird das nicht juristische Urteil des sozialen Ausschlusses, dessen Komplexität die traditionelle Strafe ersetzt. Der Akt korrespondiert mit einer Wendung gegen das eigene Selbst. Zu den Auslassungen im Text zählt die Ausklammerung des Sexuellen mit dem auffälligen Verschweigen des eigentlichen Aktes der Untreue, auch nur der näheren Umstände, sich mit einer losen Umrahmung des Geschehens begnügend. Wie Hochzeit und Schwangerschaft ist der Ehebruch der rezeptiven Ausgestaltung überlassen, selbst die einschlägigen Gefühle für Crampas bleiben auf Andeutungen und wenige (indirekte) Äußerungen in dem an ihn gerichteten Brief sowie im Kommentar zu seiner Abfassung be-

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schränkt: »Sie überflog die Zeilen noch einmal, am fremdesten war das ›Sie‹, aber auch das mußte sein; es sollte ausdrücken, daß keine Brücke mehr da sei« (223). Die feineren Mechanismen dieses Verschweigens sind zugleich ein zentrales Merkmal der poetischen Konzeption des Romans. »Anders als sonstige Verbote sind sexuelle Verbote regelmäßig mit der Verpflichtung verbunden, die Wahrheit über sich selbst zu sagen« (Foucault 2005, 966). In Effi Briest geht es allerdings um die Wahrheit rund um das Verbot herum, um Fragen der Grenzziehung – nach wie vielen Jahren ist Untreue noch relevant? – und um ein Aufeinanderprallen der Kulturgeschichte des Verbots mit den sozialen Regeln der Zeit. Der angesprochene Geständniszwang scheint, wenn überhaupt, im Gespräch Effis mit Roswitha über eine mögliche Erleichterung durch die Beichte auf. Deren Verführungsgeschichte hebt sie interessiert von der eigenen Affäre ab, die als nicht besprechbar gezeichnet ist. Das dabei exponierte Schweigegebot im Privaten steht der von Foucault betonten Forcierung des Sexuellen im Feld des Wissens gegenüber. Im Hintergrund des Romans ist dennoch bereits die entstehende Psychoanalyse erkennbar. Sie wird die Aussprache des Selbst (gegenüber einem Dritten) in das familiale Feld einführen und das bereits im 18. Jahrhundert begonnene Eindringen des Beichtrituals in die Pädagogik und Psychologie für die verfeinerte Produktion von Innenräumen nutzen, deren differenzierte Ausdeutung bereits das Geschehen von Effi Briest prägt. Teil der diskursiven Erzeugung von Innenräumen sind der Diskurs über Affekte und die bürgerliche Ehekonzeption. Zum Komplex des Begehrens zählen die variantenreich formulierten Sehnsüchte Effis, die sich zunächst auf das Fremde beziehen und um deren Eindämmung Mutter und Ehemann im Sinne einer Affektregulierung bemüht sind (vgl. Wertheimer 1996; s. Kap. 35, 45). Die Technologien der Machtausübung zur Kontrolle des Selbst beziehen sich neben der Affekt- auf die Triebwelt, deren Codierung sich über die Mehrfachcodierung des Spukes mit dem Aberglauben vermischt – diese Codierung umschließt neben den Diskursen zu Sexualität, Krankheit und Kolonialpolitik (s. Kap. 44) ein Gegenüber zu rationalen Wissensformen (s. u.). Über das Motiv des Zitterns lässt sich eine Geschichte der Affektregulierung, eine Entwicklung vom Wechselspiel »diktierter Gefühlsunterdrückung und individuellem Aufbegehren« bis hin zur »affektischen Lähmung« der Hauptfigur nachzeichnen (ebd., 137–138), und zwar im Sinne einer Erziehung zur Zerstörung der Gefühle. Allerdings

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V Theoretische Zugänge

wäre im Sinne einer Diskursanalyse die einer solchen Vorstellung zugrundeliegende Differenz von authentischem und gesellschaftlichem Ich ebenfalls als Effekt diskursiv erzeugter Gegenstände zu verstehen. Für den Ort der Familie (s. Kap. 23) wird über den Topos der bürgerlichen Liebesheirat (s. Kap. 26) ein eigenwilliger Liebesdiskurs präsentiert, der zum einen als literarischer ausgemacht wird – Effi rede von Liebe mit »einem gewissen Überzeugungston, aber doch nur, weil sie irgendwo gelesen hat, Liebe sei »nun ’mal das Höchste, das Schönste, das Herrlichste« (44) – und zum anderen in einer Spannung zur Altersdifferenz und zu Effis gesellschaftlichen Ambitionen als Adelige steht. Das romantische Konzept der Liebe wird zwar zitiert und in den Text eingewoben (s. Kap. 24), zugleich aber als uneigentlich demaskiert, wobei Effi Briest die auftretenden Widersprüche zwischen Liebes- und Abstammungs- bzw. Erfolgsnarrativ eher andeutet denn unterstreicht. Wenngleich der Roman in der Adelsschicht spielt, wird ein bürgerlicher Diskurs zu Liebe, Liebesheirat und Kernfamilie präsentiert, bei dem das Feld der Literatur den Gegenstand sichtlich miterzeugt hat. Zwar geht es mit der familialisierten Liebe auch um Normierungsmacht und um (klassifizierbares) Wissen zu Sexualität, mehr aber um die Stellung eines Affekts innerhalb der sozialen Organisation. Im Hintergrund steht eine zunehmende Privatisierung und Individualisierung mit dem Topos des Einzelkindes und den besonderen Beziehungen zwischen den Angehörigen der Kernfamilie, was sich wieder im Bezug zum Diskurs der Psychoanalyse verdeutlichen lässt, wo auf eben diese Beziehungen abgestellt wird, um sie in den Kontext sexualmedizinischer Pathologien einzufügen. Durchgängiges Thema ist die Verführung als Diskurselement, das sexuell Ungesetzliche, das in seiner kunst- und kulturgeschichtlichen Position durch zahlreiche (neu kontextualisierte) Intertexte, von der Genesis über das Faust-Narrativ bis zu Zolas Nana, präsent ist. Diskursanalytisch werden für Effi Briest tradierte Weiblichkeitsentwürfe und dysfunktionale Männlichkeitsbilder vorwiegend im Kontext der zeitgenössischen Aussagefelder untersucht (s. Kap. 43). Für Konzepte der Männlichkeit wird – im Rahmen einer umfassenden Studie zu Männerfiguren Fontanes unter Bezugnahme auf den herrschenden Diskurs – eine kritische Position festgestellt, es wird gezeigt, wie sie nicht zuletzt gegen sich selbst gerichtet sind (vgl. Razbojnikova-Frateva 2012). Nahe liegt die Verbindungslinie zum imperialen und kolonialen Diskurs (s. u.). Die Vollkommenheit Effis als Naturkind und

als weibliches Idealbild in Konfrontation mit dem sozialen Raum wird erörtert als Produkt einer widersprüchlichen Männerphantasie (vgl. Rohse 2007), während über die Lesart von Effi als Knabenmädchen und als ewiges Kind (vgl. Roebling 2010, 268–269) auf einen Topos der literarischen Moderne Bezug genommen wird. Das Zwangsverhältnis zwischen den Geschlechtern und die Zwangslage der Frauen in der Ehe artikuliert im Roman Briest im Dialog mit seiner Frau zur Geschlechterposition in der Ehe in Sorge um seine Tochter. Luise Briest intensiviert ihren Kommentar dazu durch Wiederholung: »Mir gegenüber hast Du’s immer bestritten, immer bestritten, daß die Frau in einer Zwangslage sei« (47). Erzähltechnisch ist dafür das Motiv des einzigen Kindes wichtig.

Kunstdiskurs und Selbstreflexion Wenn Crampas äußert: »alles bloß Citat oder noch richtiger façon de parler« (145), so beschreibt die Figur damit indirekt die Anlage der Liebes- und Ehebruchsgeschichte als fortlaufendes Zitat (vgl. Neumann 2009), das als stetes Spiel der Andeutungen analysiert wurde (vgl. Masanetz 2001, 240). Der Roman als fachlich und chronologisch mehrschichtige Diskursüberlagerung – nicht zu verwechseln mit der Rede vom Treffpunkt der Diskurse im Sinne der Interdiskursanalyse Jürgen Links – wird so zum Ausdruck für Verschiebungen von Diskursformationen, was vorrangig die Kultur- und besonders die Kunstgeschichte betrifft. In nuce und für den Bereich des Ehebruchs findet sich damit etwas, was die Romane der literarischen Moderne prägen wird – besonders deutlich zu sehen an Thomas Manns Doktor Faustus (s. Kap. 19) und an Michail Bulgakovs Der Meister und Margarita –, nämlich ihre Konzeption als vielschichtige Kulturgefäße, die als Zitat die Kulturgeschichte in sich aufnehmen. Wenn dabei dem Verführer im Vergleich zur Verführten kaum intertextuelle und intermediale Aufmerksamkeit geschenkt wird, so zeigt das, wie sich auch in diesen kulturgeschichtlichen Aspekten der Text vorwiegend für seine Titelfigur interessiert. Für die Achse der Zeit lassen sich die zwei Verfahrensweisen der Antizipation und der Retrospektive unterscheiden, mit dem ausgeklammerten Moment der sexuellen Beziehung von Crampas und Effi in der Mitte des Textes. Indirekt wird es vorher erzählerisch angesteuert und hinterher im Rückblick beleuchtet. Das unbewusste Aussprechen des Kommenden und die vielfältigen Vorahnungen bewegen sich dabei zwischen ei-

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nerseits überlieferten Wissensformen und andererseits zeitgenössischer Psychologie bzw. Medizin (s. Kap. 25, 39). Als Beispiele zu nennen sind die charakterliche Bestimmung fehlender Festigkeit und der oben geschilderte medizinische Diskurs (s. Kap. 25) ebenso wie die Spukgeschichte des Chinesen (s. Kap. 22) bzw. der weißen Frau oder andere intratextuelle Erzählungen privater (Roswitha) wie kulturgeschichtlicher Natur. Die retrospektive Rückschau eröffnet einen spezifischen Erinnerungsdiskurs (s. Kap. 40), betont das Bleibende und Hartnäckige des Ereignisses in so unterschiedlichen Formen wie dem Aufenthalt am Hertha-See, dem zufälligen Namen Dorf Crampas (s. Kap. 27), dem mitgenommenen Bild des Chinesen in Johannas Portemonnaie oder den Gesprächen mit Roswitha über deren Verfehlung. Eingebettet ist diese Struktur von Antizipation und Retrospektive in ein »Gewebe von Subtexten«, mit denen der Roman aufgebaut wird und über die so insgesamt die einzelnen Diskurse gesteuert werden (Hehle 2002, 75). Außerhalb der Verfahren der Andeutung und Rückschau stehen das umkreiste Ereignis selbst sowie seine Aufzeichnung in den Briefen (s. Kap. 38) und als zweites Ereignis deren Auffindung, die dramaturgisch einen Fall der Hauptfigur inszeniert und eine neue Kette des Rückblicks in Gang setzt (s. Kap. 13). Dazu zählt Innstettens Übereilung, benannt im Gespräch mit Wüllersdorf, zählen die Gespräche der Eltern Briest mit dem abweisenden Brief an Effi und dem späteren Telegramm, das in seiner Zeichenhaftigkeit der Wiederholung von »Effi komm« (328) das Spiel zwischen Innen (soziale Regeln) und Außen (Natur) aufgreift (s. u.; s. Kap. 41). Selbst in einem letzten Gespräch mit der Mutter werden das Ereignis und dessen Aufdeckung mit den Worten »eigentlich hast Du doch Euer Leid heraufbeschworen« zwar angedeutet, aber nicht ausgesprochen (347). Wenngleich das Geschehene also ausgeklammert ist und keine direkten Gespräche dazu stattfinden, sind die Diskurselemente aus zwei Richtungen um Effis ›Verfehlung‹ verstreut. Eine Art Selbstreflexion als literarischer Text erfolgt mithilfe über sich selbst hinausweisender Sätze, deren zeichenhafte Bedeutung den eigentlichen Kontext überschreitet (s. Kap. 41). Von Beginn an, bereits mit Effis Erzählung aus dem Geographieunterricht über die tödliche Bestrafung gefallener Frauen in Konstantinopel, zeigt sich das Spezifische des literarischen Diskurses in der auffälligen Häufung aufgeladener Zeichen und scheinbar zufälliger Anordnungen, deren Bedeutung sich erst vor dem Gesamt des Geschehens erschließt. Das wiederholte ahnungslose

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Aussprechen des eigenen Schicksals pendelt, charakteristisch für Effi Briest, zwischen mythischem Diskurs und der zeitgenössischen Rede vom Unbewussten (vgl. Fick 1993, 75–104). Es gehört als situationsübergreifendes Sprechen ebenso zu den Möglichkeiten des literarischen Diskurses wie die im Roman reichlich genutzte Zurschaustellung des SymbolischAllegorischen. Durch das Auftauchen von Wissen, das über die Figuren hinausgeht, und durch sein unbeabsichtigtes Aussprechen entsteht ein doppelter Boden des Textes, der nicht zuletzt auf seine eigene Zeichenhaftigkeit verweist. Während das schicksalhafte Vorausdeuten literargeschichtlich an die attische Tragödie anknüpft, ist es aktualisiert, indem es als unbewusstes Aussprechen durchgeführt bzw. als literarisches Tun markiert wird, und zeigt sich so als ein Moment der oben angesprochenen Diskursüberlagerung. Der Suche nach dem eigentlich Gemeinten in der Rezeption (s. Kap. 15) entspricht der Bedeutungsproduktion im Text über Aussagen, deren Streuung aus der Überlagerung unterschiedlicher Diskurse entsteht. Über das Sprechen und das Gesprochen-Werden der Figuren wird eine sprachliche »Welt der Uneigentlichkeit« erzeugt (Neumann 2009, 223). Dem Individuellen der Figuren, wie als Lockvogel für die Rezeption angelegt, steht dabei der im Roman allgegenwärtige, überindividuelle literarische und kunsthistorische Diskurs (s. Kap. 32, 33) ebenso gegenüber wie die soziale Regelwelt (s. Kap. 26), in die die Figuren eingetaucht sind. Alternativ zu einer psychoanalytischen Betrachtung der Figuren müsste eine diskursanalytische die vielfältigen Überschneidungslinien des Textes mit der Entstehung der Psychoanalyse und ihrer Konzepte abgleichen, was hier weniger familiale Prozesse, Ereignisse der konstruierten Innenräume oder die Vorstellung einer Seelenzergliederung betrifft, sondern Verfahren der Bedeutungsproduktion in der Literatur und im therapeutischen Gespräch.

Zu Formen der Wissensproduktion und zur Spaltung in Leben und Kultur Neben den Diskursen zu Religion, Mythos und Mythologie, Sagenwelt und (Kunst-)Geschichte wird im Roman über die umschließende Thematik des Spukes ein Diskurs zum Aberglauben als dem Anderen des aufgeklärten Wissens geführt, teils entlarvt als erzieherische Strategie zur Verhaltensregulierung. An allen Ecken und Enden sichtbar ist die Auseinandersetzung

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mit der Differenz von einerseits Leben vs. andererseits Wissen und Kultur im Sinne eines prominenten Diskurses um die Jahrhundertwende, der gerne mit den Namen Schopenhauer und besonders Nietzsche verbunden und mit dem Etikett Lebensphilosophie versehen wird (s. Kap. 29). So wie das (nicht der Kultur unterworfene) Leben in Frank Wedekinds Drama Frühlings Erwachen (1891) als Gegenüber für das Feld der (scheiternden) Erziehung entworfen ist, taucht es in Effi Briest als Gegenüber zu gesellschaftlichen Konventionen auf. Abzulesen ist es am Topos des Verlusts der Einfachheit, am Wunsch nach dem unzivilisierten ›Primitiven‹– literarisch dekonstruiert in Kafkas Bericht für eine Akademie (1917) –, was in Innstettens Dialog mit Wüllersdorf als Diskurs der Sehnsucht geführt wird. Auch Effi, durchaus fähig der Berechnung und der Reflexion, wird als imaginiertes Naturkind Teil einer Sehnsucht, die in Korrespondenz mit dem Stichwort des ›literarischer Primitivismus‹ um 1900 steht. Das Herausgerissen-Werden aus dem anfänglichen Paradiesgarten in die Ordnung der Kultur ist über den Ruf »Effi, komm« (22), dessen Zeichenhaftigkeit so nachhaltig betont wird, als eines von der freien Natur – als solche durchaus problematisiert – in die geschlossene Gesellschaft markiert. Von der anfänglichen Darstellung von Effis unbefangener Kindheit bis zu Innstettens Dialog mit Wüllersdorf über die Sehnsucht nach dem unzivilisierten Afrika wird auf individueller und gesellschaftlicher Ebene das Regelsystem der Subjektivierung aufgegriffen und mit einer Sehnsucht nach dem Anderen (Fremden) konfrontiert (s. Kap. 44). Selbst noch die Unterscheidung von Protestantismus vs. Katholizismus (s. Kap. 30), die im literarischen Diskurs bereits u. a. bei Kleist und Hebbel in ähnlicher Form auftritt, wird in die Opposition menschliche Naivität vs. kulturalisiertes Wissen eingetragen. Es ist die einfache katholische Roswitha, die Innstetten mit ihrer offenen Bitte um Rollo beschämt und die mit Kindlichkeit, Weiblichkeit und unzivilisiertem Afrika in eine Reihe tritt. Die Differenz zwischen Leben und Kultur, wie sie den zeitgenössischen Diskurs prägt (vgl. Fick 1993, 8), ist allerdings auch ein Teil sich überlagernder Aussagenfelder und keinesfalls als unkritische Dichotomie zu sehen. In einer Überschneidung mit dem Sexualitätsund Liebesdiskurs ist auch Heines für den Roman so wichtige Liebeslyrik als Ausdruck des Lebens codiert (s. Kap. 24, 33). Während der Heine zitierende Crampas als ›Leichtfuß‹ auftritt, der Gesetze und Regeln überschreitet, werden Innstetten (innere) Sehnsüchte

nach dem Leben und der Einfachheit zugeschrieben, die Wüllersdorf als nicht tragfähig für seinen Charakter zurückweist. Das Leben anstelle der Reproduktion von gesellschaftlichem Schein ist anders als in Frühlings Erwachen nicht als Alternative, sondern als Ort der Sehnsucht markiert, wo sich koloniale Phantasien über das Fremde und Zivilisationskritik sowie kindliche Weiblichkeit – Weiblichkeit als Natürlichkeit (vgl. Gretz 2014, 200) – und naive Unmittelbarkeit begegnen. In der Opposition von Kultur und Natur als Diskurs der Jahrhundertwende (vgl. Breidbach 1998) wird die Beherrschung des Natürlichen, des Wilden, nach dem sich Innstetten sehnt, als Zerstörung an Effi sichtbar, wobei den lieblichen und naiven Gefühlen zur bloßen Konvention erstarrtes Recht gegenübersteht. Effis Sehnsucht nach der offenen Natur am Ende des Romans und ihre Beziehung zu ihr als letztem Gegenüber steht, in dieser Konstruktion, den beschnittenen Gefühlen gegenüber, der sozialen oder kulturellen Beengung des gesellschaftlichen, aber auch des familialen Systems. Das nomadenhaft Herumstreifende, gebunden an die offene Natur, bildet einen Kontrapunkt zur familiären Triade und wird als diskursives Bild noch den Anti-Ödipus von Deleuze/Guattari prägen. Zur Codierung dieses Gegensatzes trägt Briest bei, der anlässlich der Hochzeitsreise kritisch anmerkt, Innstetten sei ein »Kunstfex« und Effi ein »Naturkind« (41). Effis Rückkehr zur Natur (nach ihrer Sozialisierung als Ehefrau) in Hohen-Cremmen ist nicht familial, sie ist nicht zuletzt durch die nomadische Sehnsucht nach dem Tod markiert, die erst auf den Fall folgt. Effi als Gegenüber zum Beamten, Lenker und Lehrer Innstetten mit seinen epigonalen Sehnsüchten, über den Crampas äußert, er würde sie mit seiner Spukgeschichte in einer Ordnung festhalten, vermag nur über den Tod eine entsozialisierte, desubjektivierte Position anzusteuern.

Soziale Hierarchien Ein weiteres Aussagefeld betrifft den Diskurs zu sozialen Hierarchien, wie sie im Text über Figurenbeziehungen und deren Rede dargestellt, erzeugt und diskutiert werden. Das Selbstverständnis Effi von Briests als Baronin von Innstetten bezieht sie auf ihre Zugehörigkeit zu altem Adel innerhalb wohl beachteter ständischer Unterschiede. Deren rigide Einhaltung, wie sie sich in der Kritik der tadelsüchtigen Sidonie von Grasenabb am die gesellschaftlichen Ordnungen

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gefährdenden Reichtum des Oberförsters Ring äußert, der als Oberförster eben nur ein Oberförster sei, wird als konservativ dargestellt. Zugleich wird diese Ordnung als Normalität von den Figuren getragen, erwartet und diskursiv erzeugt. Zu beobachten ist deutlich der Topos der treuen Dienerschaft als zugeschriebene Subjektposition in einer Welt, in der soziale Kontakte über Hierarchien bestimmt sind. Auffällig ist die Abwesenheit der zeitgenössisch intensiv diskutierten ›sozialen Frage‹, die hier aus dem literarischen Diskurs ausgeschlossen scheint. Besonders weil sich die Gespräche wie unberührt von sozialen Konflikten zeigen, fällt die Referenz auf Émile Zolas Nana auf (s. Kap. 3), wenn Effi in ihrem Emser Brief auf die Ablehnung der zeitgenössischen Tendenzen durch Innstetten zu reden kommt. Sie fällt auf, auch wenn an Nana im Kontext des Romans zunächst das FrivolSkandalöse interessiert – vermittelt durch die Figur der Sophie Zwicker (vgl. Neuhaus 1997) –, dann die literarisch-kulturgeschichtliche Position und zuletzt erst die soziale Frage, die bei Zola für die Prostituierte Nana über das Milieu ihrer Herkunft präsent ist. Wiederholt finden sich ›vergötternde Aussagen‹ der Bediensteten gegenüber der Herrschaft. Formuliert wird die Liebe zu deren Kindern, wie sie ähnlich auch in Buddenbrooks geschildert ist, und die Bewunderung für Höhergestellte, der besonders Effi als attraktive Baronin zuteilwerden soll. Von Dienertreue, die freilich Elternliebe nicht ersetzen könne, spricht auch der Arzt Rummschüttel mit Bezug auf Roswitha. So wie sich in Tolstois zeitnah erschienener Erzählung Herr und Knecht (1895) der Diener, dem eine einfachere psychische Struktur zugeschrieben ist, als gewappneter gegenüber der Katastrophe erweist, versteht auch die Katholikin Roswitha mit ihrer Vergangenheit zu leben. Ihr gegenübergestellt ist Johanna, die sich zur höheren Dienerin berufen fühle. Möglichkeiten der Subjektivierung im Kontext der Etablierung von gesellschaftlicher Ordnung werden, so der allgemeine Hintergrund, diskursiv erzeugt und subvertiert, wobei literarisch (und filmisch) erzeugten Narrativen hier eine besondere Aufgabe zukommt. Die Beziehung zwischen Individuum und Sozialem, zentrales Thema (der Soziologie) des 19. Jahrhunderts, wird in der Rezeption von Effi Briest in vielfältiger Weise untersucht (s. Kap. 46). Dem Gespräch der preußischen Beamten Innstetten und Wüllersdorf wird die Diagnose der Pathographie der Gesellschaft abgelesen (s. Kap. 5), die dem Hurra-Patriotismus Wilhelms II. gegenüberstehe (vgl. Grawe 2009, 21). Über das Konzept der Abbildung imperialer, patriar-

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chaler und kolonialer Beziehungen im Zwangssystem der Ehe wird versucht, einen politischen Diskurs des Romans zu rekonstruieren: Effi als ethnologischer Roman (vgl. Helmstetter 2011, 376 und 384) und als social oder colonial novel (vgl. Ryan 2000). Ein wichtiger Fokus gilt dabei Bismarck als Figur im Roman. Im Diskurs zum Orientalen wird die Spannung aus heimlichen (kolonialpolitischen) Wünschen und dem Topos der ›gelben Gefahr‹ als Spiel von Anziehung und Abstoßung beobachtet (s. Kap. 44). Der Roman sei so als Gegenstimme innerhalb des »master discourse of power« zu lesen (ebd., 384). Wie im medizinischen Diskurs ist also auch in der Verfolgung politischer Aussagefelder der Chinesen-Spuk von zentralem Interesse. Fontanes Äußerung vom Chinesen als Drehpunkt des Romans (s. Kap. 22) galt bereits in den frühen 1980ern als viel zitiert, bleibt jedoch durch die komplexe Chiffrierung in Effi Briest bedeutungsoffen. Die »kaltblütige[] Grausamkeit des Chinesen« (Utz 1984, 217) wird als europäischer Topos der Literatur und der Politik rekonstruiert, neben den Angstklischees werden dabei die Spuren der zeitgenössischen Chinapolitik Deutschlands im Text verfolgt. Der Roman Effi Briest bedient sich gerade zur Konzeption seiner Hauptfigur der herrschenden Diskurse, um sie zu untergraben, teils auch zu zersetzen. Dabei zeigt er sich weniger als Ort der Vereinigung von Diskursen zur Stiftung von Einheit in einer sich ausdifferenzierenden Gesellschaft, sondern als Überschneidungspunkt zahlreicher Diskurse, ihrer Heterogenität, Streuung und Offenheit, wobei besonders über die kulturgeschichtlichen Schichten das strikt Zeitgenössische immer wieder durchbrochen wird. Literatur Breidbach, Olaf: Monismus um 1900 – Wissenspraxis oder Weltanschauung. In: Stapfia 56 (1998), 289–316. Breuer, Dieter: Unterwelten. Heines Proserpine und Fontanes ›Effi Briest‹. In: Mark H. Gelber/Jakob Hessing/Robert Jütte (Hg.): Integration und Ausgrenzung. Studien zur deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Berlin 2009, 139– 152. Fick, Monika: Sinnenwelt und Weltseele. Der psychophysische Monismus in der Literatur der Jahrhundertwende. Tübingen 1993. Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a. M. 1976. Foucault, Michel: Die Archäologie des Wissens. Frankfurt a. M. 1981. Foucault, Michel: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks. Frankfurt a. M. 1991. Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses. Mit einem Essay von Ralf Konersmann. Frankfurt a. M. 2000.

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dert am Beispiel der Hysterie. In: KulturPoetik 17, H. 1 (2017), 100–121. Neuhaus, Stefan: Geheimrat Zwickers Affären. Zur Funktion einer Nebenfigur in Fontanes ›Effi Briest‹. In: FBl 64 (1997), 124–132. Neuhaus, Stefan: Sexualität im Diskurs der Literatur. Tübingen/Basel 2002. Neumann, Gerhard: »Eigentlich war es doch ein Musterpaar«. Die trübe Passion der Effi Briest. In: Karl Heinz Götze u. a. (Hg.): Zur Literaturgeschichte der Liebe. Würzburg 2009, 221–240. Neumeyer, Harald: Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft (Diskursanalyse, New Historicism, ›Poetologien des Wissens‹). Oder: Wie aufgeklärt ist die Romantik? In: Ansgar Nünning/Roy Sommer/Stella Butter (Hg.): Kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft. Disziplinäre Ansätze – theoretische Positionen – transdisziplinäre Perspektiven. Tübingen 2004, 177–194. Pfeiffer, Joachim: Tod und Erzählen. Wege der literarischen Moderne um 1900. Tübingen 1997. Razbojnikova-Frateva, Maja: »Jeder ist seines Glückes Schmied.« Männer und Männlichkeiten in Werken Theodor Fontanes. Berlin 2012. Rohse, Heide: Arme Effi. Widersprüche geschlechtlicher Identität in Fontanes ›Effi Briest‹. In: Johannes Cremerius u. a. (Hg.): Widersprüche geschlechtlicher Identität. Würzburg 1998, 202–216. Roebling, Irmgard: »Effi komm« – Der Weg zu Fontanes berühmtester Kindsbraut. In: Malte Stein/Regina Fasold/ Heinrich Detering (Hg.): Zwischen Mignon und Lulu. Das Phantasma der Kindsbraut in Biedermeier und Realismus. Berlin 2010, 267–313. Ryan, Judith: The Chinese Ghost. Colonialism and Subaltern Speech in Fontane’s ›Effi Briest‹. In: William Collins Donahue/Scott Denham (Hg.): History and Literature. Essays in Honor of Karl S. Guthke. Tübingen 2000, 367– 384. Utz, Peter: Effi Briest, der Chinese und der Imperialismus. Eine »Geschichte« im geschichtlichen Kontext. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie 103 (1984), 212–225. Wertheimer, Jürgen: Effis Zittern. Ein Affektsignal und seine Bedeutung. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 26/102 (1996), 134–140 (s. Kap. 35).

Helmut Grugger

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43 Gender Studies (De)Gendering Effi: Die Kategorie ›Gender‹ als wichtige Analysekategorie Mit der Bezeichnung ›Gender Studies‹ werden Ansätze zusammengefasst, die sich – unter Einbeziehung von Sichtweisen eines ›dekonstruktiven Feminismus‹ – mit der literarischen und kulturellen Konstruktion von Geschlechtsidentitäten (gender) und den Machtverhältnissen zwischen den Geschlechtern auseinandersetzen (vgl. Kanz 2002, 152–154). Ausgangspunkt der Gender Studies ist die These, dass die von jeder Person gelebte, täglich neu reproduzierte Geschlechtsidentität (gender) nichts anderes ist als ein kunstvoll-künstliches Gewebe von Vorstellungen, Projektionen, Zuschreibungen und Bildern. Vorstellungen des ›Weiblichen‹ und des ›Männlichen‹ gehen in natur-, sozialund kulturwissenschaftliche sowie mythische, religiöse oder künstlerische Diskurse ein (vgl. Hof/Bußmann 1995, 18; vgl. Braun/Stephan 2000, 1). Dass es gerade auch literarische Texte sind, in denen sich geschlechtsspezifisches Bewusstsein ausprägt und in denen Geschlechterbilder reproduziert, aber auch hinterfragt werden, legt nahe, gender als eine zentrale Analysekategorie in den Blick zu nehmen. Wichtig ist die Einsicht, dass Geschlechterzuschreibungen stets als kulturelle Konstrukte zu verstehen sind. Das bedeutet, dass sie je nach Kultur unterschiedlich sind und dass sie sich im Laufe der Zeit verändern. Die Kategorie ›Geschlecht‹ ist somit eine der zentralen historischsozialen Kategorien. ›Männlich‹ und ›weiblich‹ sowie ›divers‹ sind konstruierte Attribute, die äußeren Faktoren unterworfen und damit letztlich auch veränderbar sind, wie es Deborah Cameron auf den Punkt brachte: »Gender is not something women and men have, it is a sedimentary effect of the things they do« (Cameron 1995, 145). Es gibt keine konstante, sexuelle, geschlechtliche und sogar körperliche Identität. Vielmehr ist Geschlecht das Ergebnis »unterschiedlicher Inszenierungen, zeitlich befristeter Identitätskonstellationen und wechselnder Subjekt-Positionen« und weder weibliche noch männliche Identität lässt sich auf klar umrissene Bilder, auf psychische Einheiten oder auf bestimmte Rollenerwartungen reduzieren, sondern beide verweisen »nur noch auf den komplizierten Prozeß, in dem geschlechtliche Identität und Geschlechtlichkeit selbst hergestellt werden« (Erhart/ Herrmann 1997, 512). In dieser Perspektive interessieren sich Gender Studies insbesondere für »eine gegen den Strich gelesene, ›verkehrte‹ Sexualität, um die se-

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mantische Offenheit und Instabilität aufzuzeigen, aufgrund derer Sexualität ebenso wenig auf eindeutige binäre Codierungen festzulegen ist wie Körper und Geschlecht« (ebd., 514). Bezogen auf literarische Texte sind ›Männlichkeit‹ und ›Weiblichkeit‹ »diskursive Effekte« und »rhetorische Figuren« und ist ›Geschlecht‹ als »ein Ensemble von Positionen und Beziehungen, die sich je nach Kontext anders entfalten und anders gruppieren«, zu denken (ebd., 512). Die Reflexion jener Kategorien, die das Paradigma der Geschlechterdifferenz ergänzen und durchkreuzen, wie Ethnizität, Nationalität, soziale Herkunft, Alter und sexuelle Orientierung, ist mittlerweile auch im deutschsprachigen Raum innerhalb der Gender-Studien zum Standard geworden. Einer geschlechterkritischen Analyse ist an der Sichtbarmachung eines »geschlechtsspezifischen Feldes literarischer Verfahrensweisen« gelegen, »das alle Bedeutungsebenen mit einbezieht«. Zum Vorschein soll dabei nicht immer wieder aufs Neue eine feste (binäre) Geschlechter-Differenz kommen, sondern viel eher eine »Vielfalt an Differenzen« (ebd., 498).

Die literarische Figur der Effi – traditionell und gegen den Strich gelesen Traditionell gelesen ist Effi den sozialen Normen ihrer Zeit unterworfen (s. Kap. 26), muss dementsprechend z. B. ihre Reise- und Aufbruchsphantasien aufgrund ihres eingeschränkten Rechts auf Mobilität verdrängen und wird am Ende dafür bestraft, dass sie sich als Frau auf »ein zu weites Feld« (350) vorgewagt hat. Die Zwänge des preußischen Adels lassen solche Ausbrüche aus dem Alltag, sei dieser auch noch so eintönig, für das weibliche Geschlecht (noch) nicht zu. Der Niedergang, die negative Entwicklung von Effi, einem »Naturkind« (41) und einer »Tochter der Luft« (7) mit Ambitionen zur »Kunstreiterin« (7), ausgestattet mit »lachenden braunen Augen« (6–7) und »viel Lebenslust« (7), zu einer gegen die Konventionen ihrer Zeit verstoßenden Ehebrecherin, dann aus der preußischen Adelswelt und ihrer Familie exkludierten Ehefrau, Mutter und Tochter bis hin zu einer zunehmend passiven, ›schwermütige[n]‹ (313), zuletzt bettlägerigen Frau, die ihre ›Krankheitstage‹ als ihre »schönsten« bezeichnet und den nahenden Tod wie eine »Befreiung« erlebt (348), macht den Leser*innen vor allem eines deutlich: Hier wird ein junges Mädchen zum Opfer eines lust- und frauenfeindlichen Regelwerks einer moralisch-rigiden, bereits Ende des

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2019 S. Neuhaus (Hg.), Effi Briest-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04874-5_43

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19. Jahrhunderts zunehmend anachronistisch anmutenden Gesellschaft. Vordergründig ist das zu ›weite Feld‹ (45), auf dem sich Effi mit ihrer außerehelichen Affäre bewegt, dementsprechend mit dem eingeschränkten, benachteiligten sozialen Status der Frau im 19. Jahrhundert konnotiert (s. Kap. 4), wo, zumal in Hinterpommern (s. Kap. 27), kein Platz ist für Verstöße gegen die an sich schon damals überkommenen Konventionen, Normen und Ideale und damit auch nicht für eine »geistreiche[] kleine[] Person« (44) und Frau mit gesundem Empfinden und Menschenverstand wie Effi. Die soziale Ächtung und Verstoßung aus ebendieser Gesellschaft und der eigenen Familie erscheint vor diesem Hintergrund nur als logische Konsequenz der preußisch-steifen, wenig humanen Gegebenheiten, die alles Nicht-Standes- und Nicht-Geschlechterrollengemäße als regelwidriges Verhalten ohne jede Empathie sanktioniert. Zugleich wirkt Effi, die, wiederum von ihrer Mutter, als »wild« und »leidenschaftlich« (7) charakterisiert wird und der bereits als Kind »’was Rabiates« anhaftete, die »es auf alles ankommen« ließ (44), mit ihrem »Ledergürtel« und »Matrosenkragen« (6) sowie einem ausgeprägten »Hang nach Spiel und Abenteuer« (44), noch kurz vor der Heirat wie ein »Schiffsjunge« (14) bzw. »Midshipman« (15) und nicht wie eine typische höhere Tochter ihrer Zeit. Auch als verheiratete junge Frau wird sie ihren Sinn für »Apartes« (25; 100), ihre Abenteuerlust und einen gewissen Grad an Fernweh (vgl. 103 u. a.) nicht verlieren. Vielmehr versucht sie all dies zunächst in kolonialen Phantasien, einem Faible für alles Exotische – sie imaginiert »Giraffen« (24), einen Türken, ein Krokodil, und lässt sich von fernen Ländern wie Afrika und Japan inspirieren (s. Kap. 44) oder von Geschichten über einen spukenden Chinesen (vgl. 99 u. a.) ablenken (s. Kap. 22) – und schließlich in ihrer Liebesaffäre mit einem gewissenlosen, oberflächlichen Abenteurer (Major Crampas) zumindest ansatzweise auszuleben (s. Kap. 24). Damit entspricht die »arme Effi« (41) so gar nicht den normativen Charaktereigenschaften ihres Geschlechts im 19. Jahrhundert, zumindest nicht auf der Textoberfläche. Auf einer subtileren Textebene hingegen spiegelt diese Kunstfigur sämtliche traditionellen Weiblichkeitsstereotype seit dem Zeitalter der Aufklärung wider: ›Die‹ Frau verkörpert demnach mythische ›Weiblichkeit‹, das wilde Naturwesen, das Fremde und Andere – also all jene Eigenschaften, die ihr spätestens seit dem 18. Jahrhundert zugeschrieben worden sind und die poten-

ziell furchterregend oder jedenfalls ›fremd‹ sind für ›den‹ Mann (vgl. Weigel 1987). Denn sie entsprechen nicht dem Bild der bürgerlich-sorgenden Hausfrau, wie es die »Polarisierung der Geschlechtscharaktere« als Folge der »Dissoziation von Familienund Erwerbsleben« produziert hatte und im Lauf der Zeit diskursiv zementierte (vgl. Hausen 1976; Duden 1977). Der »Angstapparat aus Kalkül« (157), den Innstetten – u. a. mit Hilfe seiner Geschichten über »Gruseliges« (52, vgl. auch 98–101 u. a.) – installiert, lässt sich als Antwort auf diese ›wilde‹ Seite Effis lesen. Der »Spuk als Erziehungsmittel« (157) muss als ein Disziplinierungsversuch verstanden werden (s. Kap. 31). Der Fokus auf die Machtverhältnisse (s. Kap. 42) zwischen den Geschlechtern in Effi Briest legt somit den Blick frei auf ein ›Liebesmodell‹ aus Furcht und Schrecken, in dem Effi zu einer Gefangenen in einem unentrinnbaren Gespinst aus Verwirrung, Unsicherheit, Angst, Gehorsam degradiert wird und der so lange funktioniert, wie die Frau, hier: Effi, ihre (emotionale, soziale, ökonomische) Abhängigkeit nicht durchbrechen kann. Die Angst der Frau, so wird deutlich, kommt dem Mann im hegemonialen Machtsystem sehr oft gelegen. So schürt er sie immer wieder, um sie für seine Zwecke einzusetzen – ein Motiv, das noch im 20. Jahrhundert, u. a. in Ingeborg Bachmanns Todesarten-Projekt, ein zentrales Thema sein wird (vgl. Kanz 1999, 103–104). »Wenn jemand Furcht verbreitet, kann er nicht frei von Furcht sein« (Bachmann 1995, 68), wird der Protagonistin in Bachmanns Fragment Das Buch Franza bewusst, und sie bringt damit jene Instrumentalisierung der Angst von Frauen auf den Punkt, wie sie zur Aufrechterhaltung hegemonialer Machtverhältnisse nötig ist, innerhalb derer allein Männern autonome Subjekthaftigkeit zugestanden wird. Eine solche kritische Reflexion ist ihrer literarischen Vorläuferin Effi noch nicht gegeben. Erst recht ist es ihr nicht möglich, die Konsequenz daraus zu ziehen und dieses Furchtsystem zu verlassen – zumindest nicht als Lebende. Wie bereits Lessings Emilia Galotti im Jahrhundert zuvor (s. Kap. 26) kann sich auch Effi erst im Angesicht des Todes von ihrem Objekt- und Opferstatus lösen: »Ein Gefühl der Befreiung überkam sie. ›Ruhe. Ruhe‹« (348). Wie so viele literarische Frauenfiguren stirbt auch sie am Ende ihrer »Passion« einen »ästhetisch-schönen Erlösungstod« (Gleixner 2014, 384).

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Ungleiche Geschlechterbeziehungen (1): Effi Briest – Innstetten Die Beziehung zwischen Effi Briest und Baron Geert von Innstetten, den sie an ihrer Mutter »Statt« heiraten muss, da diese »es nicht [hatte] sein können« (19), steht von Beginn an im Zeichen von Innstettens Überlegenheit (s. Kap. 14). Bereits auf der Hochzeitsreise manifestiert sich nicht nur der signifikante Alters- und Bildungsunterschied als unüberbrückbare Diskrepanz, sondern es offenbaren sich auch Effis und Geerts geradezu konträre Interessen und Charaktere, wie die an die Eltern gerichteten Berichte über gemeinsame Besuche in Galerien, Kirchen und Museen zeigen, bei denen Innstetten ihr »alles« geduldig »erklärt« (45). Während Innstetten sich als ein kunstbeflissener, belesener, kultivierter, an Bildung interessierter Geist bzw. »Kunstfex« (41) erweist, empfindet Effi derartige Kulturprogramme als »anstrengend« und ermüdend (vgl. 45), und sie absolviert sie dementsprechend wie eine Pflicht – »es muß ja sein« (46). Effis »Ehrgeiz« (44) beschränkt sich allein auf die Erhöhung ihres sozialen Status mittels Heirat und, vor allem später in ihrer Rolle als Ehefrau eines Landrats im Dienst Bismarcks, auf ihre äußere Erscheinung und Wirkung auf andere. Auf der persönliche Ebene zeigt sie wenig Ehrgeiz sich zu bilden, etwa zu lesen (vgl. 45–46), und auch »mit der Schrift hat sie es nicht« (Vinken 2016, 516). So versucht sie nicht, einen ihr unbekannten Begriff hinzuschreiben, weil sie »wegen der Rechtschreibung in Zweifel« ist (45). Ihre Bequemlichkeit oder gar Trägheit auf der geistigen Ebene steht einer Weiterentwicklung ihrer Persönlichkeit diametral im Weg und trübt das Verhältnis zu ihrem Ehemann. Auch in ihren sonstigen Verhaltensweisen könnten die Neuvermählten unterschiedlicher nicht sein, was bereits vor der Hochzeit deutlich thematisiert wird. So halte Effi »nie« die »Zeit« (16) ein, Innstetten hingegen immer »genau Zeit und Stunde« (47). Solche Verhaltensunterschiede sowie ihre gegensätzlichen Ambitionen tragen zu einem Verhältnis bei, wie es eher für Vater und Tochter oder Lehrer und Schülerin charakteristisch ist als für Ehepartner oder gar ein Elternpaar (s. Kap. 31). Obgleich die lediglich ab und an erwähnte Tochter Annie von einer sexuellen Begegnung zeugt, ist ihre Beziehung offensichtlich nicht von Zärtlichkeit oder wenigstens von Respekt und Zuneigung geprägt. So sehr Effi und der adlige ältere Mann auch sozial kompatibel sein mögen, so wenig sind sie es auf der emotionalen, psychischen und körperlichen Ebene. Faktisch bedeutet ihre Vermählung

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mit dem Baron zwar einen gewaltigen sozialen Aufstieg für Effi, und sie steht, so sieht es die Mutter, »mit zwanzig Jahren da, wo andere mit vierzig stehen und wird mithin ihre »Mama weit überholen« (18), doch ist Innstetten eben ganz ›gewiß‹ nicht »der Richtige« (21). Effis stoisch-mechanische Reaktion auf alle mitgeteilten und eigenen Bedenken (selbst seitens der Mutter; 31–38) wurde ihr offenbar von Kind an eingetrichtert: »Jeder ist der Richtige. Natürlich muß er von Adel sein und eine Stellung haben und gut aussehen« (21). Schließlich überkommt selbst Baron von Innstetten –«ein Mann von Charakter, von Stellung und guten Sitten« (18), der eigentlich nicht »an Zeichen und Ähnliches« glaubt (22), ein leiser Zweifel ob der rasch geplanten Vermählung. Eine spielerisch hingeworfene Bemerkung von Effis Freundinnen, »Effi, komm« (18; 22), ist es, die ihm irgendwie zu denken gibt, zumindest »war es ihm beständig, als wäre der kleine Hergang doch mehr als ein bloßer Zufall gewesen« (22). Doch auch Effi selbst folgt dem unbewussten Warnhinweis der Freundinnen nicht. Im Ehealltag mit Effi in der eher trostlosen, jedenfalls unwirtlichen Kleinstadt Kessin (s. Kap. 27) demonstriert Innstetten immer wieder seine Überlegenheit. Bei mehreren Gelegenheiten scheint er den moralischen Zeigefinger gegenüber Effi zu erheben (s. Kap. 31). Kleine Gesten und Vorkommnisse solcher Art spiegeln die ungleichen Machtverhältnisse in der Beziehung sowie Innstettens fehlende Anerkennung Effis als gleichwertige Partnerin wider. Er ist seiner Frau gegenüber jedoch nicht nur respekt-, sondern auch empathielos. Von Beginn ihrer Ehe an stellt er seine Arbeit für den Kanzler Bismarck über sie und ihre Beziehung. Bereits direkt nach ihrer Heirat lässt er sie öfter allein im fremden Haus in der Trostlosigkeit Kessins zurück. Seine Pflichten und Aufgaben werden mit der Zeit so schwerwiegend sein, dass Effi fast allabendlich alleine ist, sie sich gänzlich entfremden und Effi zunächst in Ersatzbeziehungen (zum Apotheker Gieshübler, zum Hund Rollo) Zuflucht, Ansprache, Empathie, Trost zu finden versucht. Der Hund Rollo wird es am Ende sein, der aufgrund seiner ›menschlichen‹ Reaktionen die herzlose Rigidität der preußischen Adelszirkel entlarvt und mithin die permanent implizierte Gesellschaftskritik des Romans verstärkt. Er ist es auch, der den behäbig-bräsigen Vater Briest immerhin zu einer Art selbstkritischen Einsicht veranlasst: »Ja, Luise, die Kreatur. Das ist ja, was ich immer sage. Es ist nicht so viel mit uns, wie wir glauben. Da reden wir immer von Instinkt. Am Ende ist es doch das beste« (349). Seine Frau, die ihn da-

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raufhin, wie so oft, in die Schranken weist, bleibt bis hin zum tragischen Ende Effis weitgehend unbelehrbar und fast emotionslos. Effi hingegen ist eine emotionale Person, die trotz »ihr[es] Hang[s] nach Spiel und Abenteuer« (44) eine durchaus ängstliche Seite zeigt, und sie ersehnt sich eine liebevolle Umgebung, während Innstetten rational, kühl, distanziert ist. So sind der weibliche und der männliche Hauptcharakter hier beide ganz entsprechend der »Polarisierung der Geschlechtscharaktere« gezeichnet, wie sie Karin Hausen im historischen Bürgertum im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts verortete (Hausen 1976). Es ist offensichtlich, dass Innstetten nicht der Mann ist, der diese oder andere vitalen Bedürfnisse Effis befriedigen kann. Effi entbehrt liebevolle Nähe schon bald nach der Hochzeit so sehr, dass sie sich schon über kleine Anzeichen von Zuneigung übermäßig freut. Neben dem fehlenden emotionalen Aspekt fehlt ihr in ihrem Leben buchstäblich körperlich vor allem eines: Aufregung (s. Kap. 45). Sie klagt bereits kurz nach ihrer Ankunft ständig über Langeweile und darüber, dass sie im unwirtlichen Kessin niemanden zum Reden hat. Da die Beziehung trotz sozialer Kompatibilität von Anfang an zum Scheitern verurteilt ist, erscheint Effis Ehebruch zunächst als ganz logischer Ausbruchsversuch (s. Kap. 24), und die weiteren Brüche bis hin zum drastischsten Beziehungsschisma – dem Verstoß aus dem Haus und der Familie (s. Kap. 23) sowie der Entzug der eigenen Tochter – wirken wie zeittypische Konsequenzen. Dennoch liegt zugleich die jeweils alternative Handlungsoption stets wie ein Wink mit dem Zaunpfahl auf der Hand. Der Baron entscheidet sich trotzdem letztlich für die Unterwerfung unter eherne Gesellschaftspflicht und Prinzipientreue und damit für das Männlichkeitsritual schlechthin, das Duell, welches schon damals anachronistisch, doch zur Rettung seiner männlichen Ehre notwendig ist (vgl. Frevert 1991) – auch wenn es um den Preis vollzogen wird, dass Innstetten seine Ehe und die Familie gänzlich zerstört und sich zugleich zu einer bloßen Marionette überkommener gehobener Gesellschaftskreise macht. Er verzichtet nicht nur auf sein persönliches, privates Glück im Kleinen, sondern auch auf Menschlichkeit, einen tieferen humanen Sinn, was ihm selbst durchaus nicht unverborgen bleibt. Er, der ältere, weiße, westliche, wohlhabende, überlegene Mann bleibt zumindest auf der gesellschaftlichen Ebene unbeschadet, während die von allen sozialen Zugehörigkeiten enthobene Effi zunächst das psychische, dann das

körperliche Siechtum und letztlich die ›poetische Strafe‹ des Todes ereilt (s. Kap. 25, 39).

Ungleiche Geschlechterbeziehungen (2): Effi Briest – Major Crampas Effi ist, das legt der Text durchgängig nahe, eine sich nicht nur nach Zuneigung, Zärtlichkeit, sondern auch nach »Spiel und Abenteuer« (44) sehnende Frau. Ihre berechnende Mutter attestiert ihr neben einem gesellschaftlichen »Ehrgeiz« sogar »Vergnügungssucht« (44). Der Major und »Damenmann« Crampas, »schlank, brünett und von militärischer Haltung« (18), der »ein Mann vieler Verhältnisse« sein soll (122) und für »Leichtsinn« ist (151), bereits durch ein früheres Duell mit einem »etwas verkürzten Arm« gezeichnet (151) und noch älter ist als Innstetten, nützt die sich ihm bietende Gelegenheit und gibt ihr genau all das. Die ›Verführung‹ Effis findet an einem Nicht-Ort (non-lieu, im Sinne Marc Augés) außerhalb der Gesellschaft statt, während einer Schlittenfahrt, die Effi in eine prekäre »Lage« bringt. Denn: »Es war unmöglich für sie, sich seine Gegenwart zu verbitten« (189). All das weist darauf hin, dass es sich zum einen um eine typische »Zwangslage« der Frau (47) handelt und zugleich um eine gesellschaftliche Entgleisung. Es handelt sich um ein klassisches Dilemma, aus dem Effi sich weder körperlich noch psychisch befreien kann: »Sie fürchtete sich und war doch zugleich wie in einem Zauberbann und wollte auch nicht heraus« (189). Mit ihrem ›Seitensprung‹ kommt Effi buchstäblich vom richtigen Weg ab, wie bereits der Titel des gemeinsam aufgeführten Theaterstücks nahelegt: »Ein Schritt vom Wege« nach »einem Crampas’schen Plane« soll tatsächlich realisiert werden (168), wobei bereits die symbolische Konnotation der nächtlichen Schlittenfahrt deutlich gemacht hätte, dass Crampas sie tatsächlich sexuell überwältigt. Doch macht der – durch einen entsprechend bedeutungsschwangeren Absatz markierte – Text dies nochmal explizit: »Dann nahm er ihre Hand und löste die Finger, die sie noch immer geschlossen hielt, und überdeckte sie mit heißen Küssen. Es war ihr, als wandle sie eine Ohnmacht an. / Als sie die Augen wieder öffnete, war man aus dem Walde heraus [...]« (190). Obwohl – nicht zuletzt durch den markant platzierten Absatz im Text – ziemlich deutlich wird, dass hier eine sexuelle Annäherung stattfindet und es sich dabei eher um eine Nötigung als um einvernehmliche Intimität handelt, wird sich Effi auf eine Affäre

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mit Crampas einlassen. Doch wird Crampas auch zu einer Art ›Lebenshelfer‹ werden, der ihr gute Ratschläge erteilt, wenn sie auch anderer Art sind als die des altruistischen Romantikers Gieshübler. Ebenso wie Effi ist Crampas gegen Langeweile (vgl. 150). Einerseits ein Bonvivant und Abenteurer, so verfügt er auf der anderen Seite doch über Eigenschaften, derer Effi Briests Ehegatte entbehrt: Er scheint durchaus warm und offen zu sein; er hört zu und geht auf Effi ein. Kurzum: Er gibt sich als »Frauenkenner« und -versteher (189). Letztlich aber ist er ein leichtsinniger, gewissenloser Verführer, dem im Text denn auch poetische Gerechtigkeit widerfährt, tötet ihn doch bereits der erste Schuss aus Innstettens Waffe. Denn als der lebenserfahrene, ältere Mann, der durchaus um Sitten und Normen der gehobenen Gesellschaft weiß, hat er mit dem Feuer gespielt – und der Ehre Effis. Diese ist ihm letztlich nicht wichtig genug, ihr aus Liebe zu ›entsagen‹, und wird somit zu einer ›gefallenen Frau‹.

Ungleiche Geschlechterbeziehungen (3): Effi Briest – Gieshübler Der Apotheker Gieshübler wird für Effi zum echten Zuhörer, Trostspender, Ratgeber – kurzum: zu einer Art ›Lebensapotheker‹. Dabei entwickelt er durchaus mehr als bloße Sympathie ihr gegenüber, muss sich aber zurücknehmen und – als Buckliger mit einem romantischen Charakter – der ›Liebe entsagen‹ (vgl. 9). Mit ihm ist Effi eine kindlich-spielerische Phantasieebene möglich, eine ›magische‹, vielleicht sogar spirituelle Ebene, die sie offenbar vermisst und benötigt. Eine »Liebesgeschichte mit Entsagung [...] ist nicht so schlimm« (9), wie sie bereits als Mädchen zu wissen meint. So gut Effi der Umgang mit ihm auch tut: Auf einer anderen – mentalitätskritischen – Ebene bleibt auch Gieshübler im Grunde hinter seinen Möglichkeiten zurück, denn er »hat keinen rechten Mut, [...] kein Vertrauen zu sich selbst, [...] wagt kaum, eine Dame zum Tanz aufzufordern« (72). Ähnlich wie Effi entspricht er folglich nicht dem gesellschaftlich geforderten, normativen Geschlechterideal seiner Zeit. Mit seinen als ›weiblich‹ konnotierbaren Zügen ist es ihm nicht möglich, Effi auch als ›wahrer‹ Mann – und möglicher Partner – zu begegnen.

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Ungleiche Geschlechterbeziehungen (4): Frau von Briest – Herr von Briest Auch Vater Briest, ein liebenswert-beschränkter, eher phlegmatischer, Charakter, »ein wenig prosaisch« (19), aber doch mit einem Hang zu ›poetische[n] Bildern‹ (20), für den fast alles »ein zu weites Feld« (350) ist, der sämtliche existenziellen Entscheidungen seiner Gattin überlässt, unternimmt nichts gegen den Niedergang seiner Tochter, mischt sich nicht ein in deren Verschacherung an den ehemaligen Liebeskonkurrenten Innstetten. Er wirkt in merkwürdiger Weise stets unentschieden und unreflektiert. So ist ihm zwar klar, dass seine Frau Luise »besser zu Innstetten gepaßt« hätte als seine »arme Effi« und bedauert kurz nach der Hochzeit, dass es für Luise und Innstetten »nun [...] zu spät« (41) sei, doch beneidet er Effi zugleich um die Hochzeitsreise, die ihm und seiner Frau (von deren Vater) versagt worden sei (vgl. ebd.). Er macht in diesem Kontext sein eigenes Fernweh deutlich: »Aber Effi macht nun eine Hochzeitsreise. Beneidenswert. Mit dem Zehn-Uhr-Zug ab. Sie müssen jetzt schon bei Regensburg sein« (ebd.), um ein wenig später über die »verwünschte Reiserei« Effis (47) zu schimpfen. Seine ewigsenile Sentenz vom ›weiten Feld‹ (41, 350 u. a.) ist nicht nur Ausdruck der eigenen geistigen Beschränktheit und wohl auch »Hilflosigkeit« (Neuhaus 1998, 52), sondern viel mehr noch ein Sich-Zufriedengeben mit den engen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, an denen sich beide Eltern bis zum bitteren Ende hin orientieren, ohne jemals grundsätzlich ihre eherne Haltung zu wandeln. Vielmehr verschließen sie oft genug Augen, Ohren und Herzen gegenüber der eigenen Tochter. Dieses offensichtliche Versagen der Eltern passt zur grundsätzlichen Kritik des Romans an der Beschränktheit seiner Figuren und deren Gefangensein in einem viel zu engen, überkommenen gesellschaftlichen Korsett, aus dem sie sich nicht zu befreien vermögen (s. Kap. 1–5, 24–26).

Geschlechtercodierte E/Motionen: Äußere und innere (Nicht-)Bewegung und deren Geschlechtsspezifik Die äußere Bewegung bzw. Mobilität (Berlin, Italien, Kessin, Schiffsreise, Bad Ems) bestimmt trotz der erstarrten Haltung der Charaktere, die sich innerlich wenig bis gar nicht weiterentwickeln, den Fortgang der Handlung (s. Kap. 13). Der Aufbruch Effis aus Hohen-Cremmen, das nur auf der Textoberfläche ein Ort

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der Harmonie, Beschaulichkeit und Friedlichkeit ist, zwischen den Zeilen freilich bereits im meist als ›Kern‹ des Romans bezeichneten Eingangskapitel als täuschendes Idyll gezeichnet wird, in dem die zur Schau gestellte Gutbürgerlichkeit zumindest Risse aufweist, stellt den Beginn ihres fortschreitenden Niedergangs dar. Trotz sommerlicher Stimmung ist das gutbürgerliche Idyll von einer religiösen, dunklen, fast unheimlichen Sphäre geprägt. Nicht nur wird der Kirchhof erwähnt (5), sondern die Mädchen spielen an diesem sonnenreichen Tag ein Begräbnisspiel und Effi erwähnt »arme unglückliche Frauen«, die »wegen Untreue« ertränkt worden sein sollen (13). Die eigenen dunklen Vorahnungen innerhalb einer in die ›Idylle‹ hineinragenden, unheimlich anmutenden Räumlichkeit erweisen sich spätestens am Romanende im Nachhinein als ›Realangst‹ (im Sinne Freuds, der diese der neurotischen Angst gegenüberstellte) oder zumindest als realistische Warnhinweise. Der Familiensitz der Briests in Hohen-Cremmen grenzt z. B. an eine »nur an einer Stelle [...] unterbrochene Kirchhofsmauer« (7). Im Garten fällt die »schief« hängende Kinderschaukel neben einem »angekettelte[n] Boot« (ebd.) auf. So wird bereits zu Beginn des Textes darauf hingewiesen, dass Effis Kinderwelt im Begriff ist, aus den Fugen zu geraten. Nicht nur die Assoziationen an aus dem Leben scheidende »unglückliche Frauen« (13), auch Effis körperliche und psychische Reaktionen – ihr wird u. a. »ganz angst und bange« (17), als die Mutter sie über den bevorstehenden Heiratsantrag des unbekannten Barons unterrichtet, und es überkommt sie ein »nervöses Zittern«, als sie »seiner« erstmals »ansichtig« wird (18) – weisen auf die zukünftigen Schicksalsschläge voraus. Das Zittern gehört dabei zu den für Effi typischen »Affektsignalen« (s. Kap. 35, 45), wobei dies möglicherweise nicht etwa ein Hinweis auf ihre authentische Gefühlslage und damit auch kein wirkliches »Warnsignal« ist, sondern viel eher eine Geste aus dem ihr zur Verfügung stehenden, im Laufe ihrer Sozialisation als Mädchen und Frau längst internalisierten, geschlechtsspezifisch kodierten Repertoire an Gefühlsgesten für Frauen des 19. Jahrhunderts sein könnte (Wertheimer 1996, 134; s. Kap. 35). Denn Effi ist bereits (wie auch ihre eigene Tochter Annie später) viel eher Papagei oder Automat als das von ihrer Mutter inszenierte Naturwesen. Dramaturgisch schließt sich der Kreis am Textende, wenn Effi eben das erwähnte Schicksal der Ehebrecherinnen geteilt haben wird und nur mehr im Angesicht des Todes nach Hohen-Cremmen zurückkehren darf. Die Vorzeichen

des zukünftigen Schicksals, des Todes der Titelfigur werden somit im Eingangskapitel gesetzt, und ganz in der Manier des Realismus wird die Idylle von Beginn an als eine brüchige markiert. Diese räumliche Kreisbewegung mit dem als Gegenort zum ›Idyll‹ HohenCremmens gezeichneten Schreckensort (locus terribilis) Kessin als Katalysator der Krise und des Untergangs strukturiert die tragische Handlung von der Harmonie über die Krise in die Katastrophe. Dabei wäre einmal genauer zu reflektieren, inwieweit die immer wieder im Zentrum des Geschehens – im konkreten Wortsinn meist: stehenden – oder aber vorbeifahrenden Fortbewegungsmittel Schlitten, Kutsche, Schiff, Zug mit inneren Bewegungsmomenten (Emotionen, von lat. emovere) korrelieren. Nicht zu vernachlässigen ist in diesem Zusammenhang auch die Stadt/Dorftopographie bzw. der Großstadt/Kleinstadt-Topos (Kessin – Berlin) im Kontext der beschriebenen Transportfahrzeuge und deren je spezifischen, sozialen, politischen, mentalitätshistorischen Situierungen (vgl. dazu auch die einschlägige Arbeit zur Eisenbahnreise von Schivelbusch 1989). Fragen nach den Konstruktionen von ›Raum‹ (s. Kap. 27), ›Heimat‹ und ›Nation‹ (s. Kap. 5) könnten in diesem Zusammenhang mit Fragen der Geschlechteridentitätspolitik zusammengeführt werden. Zu reflektieren wäre vor diesem Hintergrund in jedem Fall, inwiefern die Verknüpfungen von Reisevehikel und Konstruktionen von Geschlechtsidentitäten jeweils Signale des langsamen Verharrens (restaurative Tendenzen, Tradition) bzw. der Stagnation oder aber des (zu?) schnellen Fortschreitens (Moderne) darstellen und was sie darüber hinaus mit dem augenfälligen »Bedürfnis« Effis »nach frischer Luft« zu tun haben könnten, »denn die Luftbewegung war gering« in Kessin (96). Inwiefern außerdem, und das wäre allerdings eine Frage nach den Zusammenhängen von Wissensformationen und Geschlecht, lässt sich dieses beständige Verlangen Effis »nach frischer Luft« im zeitgenössischen wissens-, insbesondere medizinhistorischen Kontext der Forschung über die Gewinnung von »Sauerstoff« situieren, auf dessen »Entdeckung« durch »Scheele« der Apotheker Fontane seine kenntnisreiche Figur Innstetten an exponierter Stelle (im Kapitel 24) explizit hinweisen lässt, wenn dieser Effi die Insel Rügen als Ferienort schmackhaft zu machen versucht (246)? Was ist hier der gemeinsame Erfahrungsraum von Wissenschaft und Literatur, in dem ›Luft‹ einen so zentralen Stellenwert einnimmt? Das ›zu weite Feld‹ (350) – Mobilität, Luft und Raum –

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und deren Einschränkung in Effi Briest jedenfalls ist deutlich verknüpft mit Effis permanentem übergroßen »Bedürfnis nach frischer Luft« (96) und räumlicher Freiheit und ihren zunehmenden Angstzuständen innerhalb einer schauerlichen Umgebung. »Die Angst, lateinisch angor, sowie angere, das (krankhafte) Zusammenschnüren (der Kehle), sind von angustia, Enge, abgeleitet. Die Angst schnürt nicht nur die Kehle zu, wie die metaphorische Rede sagt, sie staut sich in der Enge« (Jurzik 1985, 24). Innstetten wäre wohl »nie an einer Sache erstickt« (280), selbst der Entscheidungsprozess für und wider das Duell und das Duell selbst wird er letztlich physisch unbeschadet überstehen (286). Die Einschränkungen hingegen, denen Effi innerhalb des von Innstetten installierten Furchtsystems in Kessin ausgesetzt ist und die einer Fortbewegung im buchstäblichen wie auch übertragenen Sinne entgegenstehen, d. h. sie zur Passivität verdammen – sie kann, anders als ihr Gatte, gar keine eigenständigen Entscheidungen fällen –, spiegelt sich im Stillstehen oder Vorbeifahren von Fortbewegungsmitteln – vom in exotische Weiten führenden Schiff über die zwar in Richtung von, aber an Hohen-Cremmen vorbeifahrende Eisenbahn bis hin zum Pferdebahnwagen in Berlin, in dem Effi nicht sitzenbleibt, weil sie Furcht hat, von ihrem eigenen Kind gesehen zu werden (vgl. 317). Welche jeweilige Funktion diese Fortbewegungsmittel in Bezug auf die Genderkonstruktionen im Text haben und wie sie diesbezüglich bewertet werden, wird damit ansatzweise deutlich: Statt (innere und äußere) Mobilität der Titelfigur wird deren Stagnation und »Zwangslage« als Frau (47) bis zuletzt deutlich. Da können selbst die Malstunden einen »Wendepunkt zum Guten« (316) allerhöchstens zart anklingen lassen. Real gibt es am Ende keine guten Möglichkeiten mehr für Effi, da »die Welt« für sie nun »so zu ist« (315). Vor dem Hintergrund der Reflexion derartiger Zusammenhänge lässt sich schließlich die Frage nach der ›Realität‹ inter- und transkultureller bzw. -nationaler Konzepte im Realismus neu stellen (s. Kap. 2, 3, 5, 44). Eine ausführliche genderkritische Analyse in Verknüpfung mit einer postkolonialen Perspektive (mit Fokus auf den Türken, den Chinesen, das Krokodil; s. Kap. 22) in Verbindung mit wissenshistorischen Kontextualisierungen (s. Kap. 42), aber auch den zeitgenössischen politisch-kolonialen Expansionsversuchen durch Bismarck (s. Kap. 44), kann auf einen so vielinterpretierten Text wie Effi Briest neue Perspektiven eröffnen.

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Effi Briest als genderstereotypisierender Schauerroman Auch die Frage der Gattung in Verknüpfung mit der Geschlechterfrage ist eine produktive: Der Text trägt durchaus »Elemente eines Schauerromans« (Neuhaus 1998, 31). Nicht nur scheint es auf dem Dachboden des Landratshauses in Kessin selbst zu spuken, auch ist das »unchristliche Grab des Chinesen in den Dünen [...] ein unheimlicher Ort« (ebd.). Der Chinese selbst (s. Kap. 22) wird, so der allgemeine Konsens in der Forschung, als »Chiffre für Effis Eheprobleme und deren psychische Auswirkungen auf die junge Titelheldin« lesbar (vgl. Neuhaus 1998, 32), kommt zugleich ihrem Sinn für das Aparte und Abenteuerliche entgegen. Bezüglich einer geschlechterorientierten Lektüre des Romans ist die Betrachtung der geschlechtsspezifischen Konstruktion von Angst und Gender hinsichtlich solcher Kontexte unerlässlich, denn auch in ihren Inversionen noch unterliegt das Geschlechterstereotyp von der ›ängstlichen Frau‹ versus dem ›mutigen Mann‹ spätestens seit Kant einer Geschlechterdichotomie (vgl. zum Folgenden Kanz 2013, 122–123). Der deutsche Schauerroman und die englische Gothic Novel bilden ein ganz eigenes Genre, die Literarisierung von Frauen- und Männerängsten betreffend. In der Forschung zum Schauerroman wird gelegentlich eine geschlechtsspezifische Differenzierung von terror und horror vorgenommen. Mit Maria Porrmann ist hier auf die von Ann Radcliff vorgenommene, innerhalb der Schauerroman-Forschung inzwischen gängige Differenzierung zwischen dem »letztlich befreienden« terror (»unbestimmte Angst, gepaart mit gespannter Erwartung«) und horror (»mit Ekel vermischtes Grauen«) hinzuweisen (Porrmann 1998, 170). Gelegentlich wird Terror-Gothic der Frau (als Autorin und auch als literarischer Figur) zugeordnet und Horror-Gothic dem Mann (vgl. Fiedler 1987, 109, 116, 118), da die »Überwindung von horror in Richtung auf terror [...] an den Selbsterhaltungstrieb gebunden [ist], der den Schock der Konfrontation mit dem Sublimen schließlich in pleasure verwandelt. Und ihn besitzen Männer in besonders starkem Maß« (Gunzenhäuser 1993, 106). Hier liegt insofern auch eine theoretische Konnotation von Weiblichkeit mit Angst vor, als terror eher einer gewissen Lust an der Angst entspricht und entsprechend der obengenannten Aufteilung also weibliche Angstlust konnotiert. Horror dagegen ist mit der Scheußlichkeit handgreiflicher Schrecken und Gefahren verbunden; er ist lebensbedrohlich. Um angesichts von horror zur er-

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V Theoretische Zugänge

wünschten Erhabenheit zu gelangen, ist mehr Bewältigungsarbeit zu leisten als in der terror-Situation. Die Fähigkeit dazu wird seit Kant bis heute eher ›dem Mann‹ zugetraut. Auch hier scheint Effi Briest gängige Geschlechterstereotype zu zementieren, zumal sie durchaus auch ein Faible für Angstlust hat, wie sich zeigt, wenn sie angesichts des Mondes über Kessin ganz gemäß ihrer Geschlechterrolle »wie benommen« feststellt: »wie schön; aber es hat zugleich so ’was Unheimliches« (54).

Effi Briests Lethargie und Stagnation – eine »Zwangslage der Frau«? Auf einer weiteren – verborgenen – Textebene scheitert die Kunstfigur Effi am eigenen Charakter. Gegen den Strich gelesen, hat hier ein junges Mädchen die falsche Entscheidung getroffen und zugunsten der zeitgenössischen Werte und Normen gegen die eigenen Bedürfnisse gehandelt (s. Kap. 39): Insbesondere die außereheliche Affäre stellt letztlich den Kulminationspunkt ihres Drangs nach ›Erlösung‹ (wenn auch nur durch den »Damenmann« Crampas) von der häuslichen Einengung und ehelichen »Langeweile« (44) dar – gepaart mit einer immer öfters sich einstellenden »Sehnsucht« (47) nach ihrem Kindheitszuhause bzw. Geborgenheit, Verständnis und menschlicher Wärme. Ihr sind darüber hinaus, wie ihrem liebenswert-beschränkten Vater, gewisse »Felder« einfach »zu weit«: Da Effi keinen persönlichen Ehrgeiz hat und Bildung und Lesen als anstrengende Zeitverschwendung ansieht, entwickelt sie sich nicht weiter, obgleich die Möglichkeiten dazu nicht allzu fernliegen. Dass diese Kunstfigur in Fontanes Text Sympathieträgerin ist und er sie wegen ihrer »Natürlichkeit« zu jenen »Frauengestalten« mit einem »Knacks« zählt, die es ihm »angetan« haben, legt zumindest ein Brief vom 10. Oktober 1895 an Colmar Grünhagen nahe (DÜW 2, 357). Effis »Knacks« liegt wohl auch darin, dass sich ihr Ehrgeiz auf Äußerlichkeiten, ihre Wirkung auf andere sowie den sozialen Status beschränkt und sich nicht auf ihre eigene persönliche Entwicklung richtet. Wie alle anderen Figuren im Text bleibt sie hinter ihren eigenen Möglichkeiten zurück, obgleich die zeitgenössischen sozialen Entwicklungen in eine andere Richtung wiesen, wie Fontane, u. a. angesichts der Suffragetten- und Frauenbewegung, keineswegs entgangen sein kann. Dass Effi nicht belesen ist und auch ihre Schwierigkeiten mit der Orthographie nicht zu beheben ver-

sucht (vgl. 45; vgl. dazu auch Vinken 2016, 516) zeigt ihren offensichtlich fehlenden Drang, sich weiterzubilden (s. Kap. 31). Insbesondere auf ihrer Hochzeitreise führt sie dies selbst vor. Der Bildungs- und Belehrungseifer des väterlichen Gatten während der gemeinsamen Besuche von Galerien, Museen und Kirchen macht sie vor allem ›etwas müde‹ und ruft nichts anderes als ein »Ziehen in den Füßen« hervor (46). Die Bildungstour strengt sie an, und sie »gäbe ’was drum«, wenn sie mit den Freundinnen in Hohen-Cremmen auf dem »Hof auf einer Wagendeichsel sitzen und unsere Tauben füttern könnte« (ebd.), anstatt weiter zu den Tauben und Bildungsgütern Venedigs zu reisen. Effi zieht aus solchen sich ihr immerhin bietenden Möglichkeiten keineswegs den Drang, selbst zu lesen und sich weiterzubilden, und so besteht bei ihr, anders als bei so vielen ihrer literarischen Geschlechtsgenossinnen bereits im 18. Jahrhundert, keine Gefahr, aus ›Lesesucht‹ dem Wahnsinn anheimzufallen. Effi liest höchstens ab und an Reisebeschreibungen oder Bücher von Sir Walter Scott, die »keine geistigen Anstrengungen« fordern (235–236). Dieses Zurückbleiben hinter ihren Möglichkeiten, die fehlende aktive Persönlichkeitsentwicklung und Bildung – das Fehlen eines persönlichen Sinns – ist es, was Effi schwächt, sie auch auf einer persönlichen Ebene stagnieren und sie letztlich scheitern lässt – ganz anders als ihr reales historisches Vorbild, Elisabeth von Plotho, die als junge Frau aus altem magdeburg-brandenburgischen Adel gegen ihren Willen und lediglich auf Wunsch ihrer Eltern 1873 einen Baron ehelichte, mit ähnlichen Folgen wie bei der literarischen Kunstfigur Effi (s. Kap. 9). Doch sah ihr Leben am Ende ganz konträr aus: Sie hatte sich als Krankenschwester ausbilden lassen, um selbsttätig ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können, und wurde schließlich 98 Jahre alt. Ihr Fall aus dem Jahre 1886 inspirierte Theodor Fontane zu seinem Roman, doch erkannte er seiner Kunstfigur offenbar höchst bewusst ein ganz anderes Ende zu. Ein Mädchen, dem von der eigenen Mutter »Vergnügungssucht« sowie ein »Hang nach Spiel und Abenteuer« (44) bescheinigt wird, stimmt der Einschränkung ihrer Freiheit durch eine arrangierte Ehe mit einem viel älteren »Carrieremacher« aus »Ehrgeiz« (ebd.) zu: Das ist schon damals nicht stimmig und muss dementsprechend ein fatales Ende nehmen. Letztlich bleibt Effi also persönlich (psychisch wie geistig) hinter ihren Möglichkeiten und Fähigkeiten zurück – so wie alle anderen Hauptcharaktere des Textes auch, wie dies insbesondere die kongeniale Verfilmung durch Rainer Werner Fassbinder von 1974 auf

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den Punkt bringt (s. Kap. 20), lautet doch dessen vollständiger Titel nicht von ungefähr: »Fontane Effi Briest oder Viele, die eine Ahnung haben von ihren Möglichkeiten und ihren Bedürfnissen und trotzdem das herrschende System in ihrem Kopf akzeptieren durch ihre Taten und es somit festigen und durchaus bestätigen« (Fassbinder 1974, 0:33). Dies ist umso mehr der Fall, je mehr man sich die gesellschaftlichen Entwicklungen der Zeit vor Augen hält, die bereits in eine andere, frauenemanzipatorische Richtung wiesen (Frauenbewegung, von Frauen verantwortete Frauenjournale, Forderung des Frauenwahlrechts und des Rechts auf höhere Bildung für Frauen etc.). Die mangelnde Persönlichkeitsentwicklung Effis seitens des Verfassers ist in dieser Perspektive mithin intendiert und nicht etwa einer restaurativen, traditionellen Perspektive geschuldet, sondern sie stellt vielmehr einen (gesellschafts- und mentalitäts-)kritischen Gestus dar, ganz der späteren filmischen Auslegung Fassbinders entsprechend (s. Kap. 20). Die Forschung ist sich freilich bezüglich Fontanes Haltung zum Thema Gleichberechtigung, Emanzipation der Frau nach wie vor uneins, zumal diese offenbar je nach Kontext schwankte. Gerade was das Wahlrecht für Frauen angeht, ist Fontanes dezidierte kritische Ablehnung derselben überliefert, die sich in einem Brief an seine Frau vom 6. Mai 1870 äußert. Hierin zeigt er sich »amüsiert« darüber, womit sie »die Debatte über Frauen-Stimmrecht coupirte«, und er verweist darauf, dass die Frauen im 14. Jahrhundert auch »kein Stimmrecht« besessen und sich »leidlich wohl dabei befunden« hätten, »jedenfalls besser als jene Unglücklichen, die sich ›in Erfüllung ihrer Bürgerpflicht‹ an die Wahlurne drängen« (HFA, Briefe 2, 301; vgl. Neuhaus 1998, 59). Auf der anderen Seite schien Fontane selbstbewusste Frauen durchaus zu schätzen, wie aus einem Brief an seine Schwester Elise von 1863 deutlich wird, in dem er sich über eine Cousine mokiert und diese sogar als »Schaf« bezeichnet, da sie von ihrem Mann »tyrannisiert« und »verächtlich behandelt« werde und trotzdem »immer noch nicht von ihm fortwollte« (HFA, Briefe 2, 95–96; vgl. Neuhaus 1998, 60). Die Frage bleibt daher, warum Fontane eine immer passiver werdende, sich nicht entwickelnde Frauenfigur schuf, die er – ganz konventionell – an gebrochenem Herzen zugrunde gehen lässt, damit ein Frauenschicksal präsentierend, wie es für die historische Moderne Ende des 19. Jahrhundert europaweit realiter nicht mehr zeitgemäß war (s. Kap. 2, 3). Obgleich der ›Zeitungsmensch‹ Fontane am aktuellen Tagesgeschehen ›hautnah dran‹ war (s. Kap. 6) und ihm mit Sicher-

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heit die gesellschaftlichen Entwicklungen nicht entgingen, inklusive der sich etablierenden ersten Frauenbewegung und Gründung von Frauenjournalen, die von Frauen für Frauen herausgegeben wurden – die damit auch ein emotionales Netzwerk etablierten, z. B. in Wien von Auguste Fickert (1855–1910) oder in Paris von Helmina von Chézy (1783–1856), die mit den Französische Miscellen bereits 1803 an die Öffentlichkeit getreten war. Die bildungsunwillige Kunstfigur Effi jedoch frönt ihrer »Langeweile« (44), scheint insgesamt in einen »lethargischen Schlaf« (88) zu fallen und bleibt genau wie ihre Mutter in ihrer persönlichen Entwicklung stehen. Da ihre Mutter ohnehin davon ausgeht, »daß die Frau in einer Zwangslage sei« (47) und sie ihre Tochter darum an den eigenen Liebhaber früherer Tage verschachert, obwohl ihr selbst »bang’ ums Herz dabei« ist (43), wie Effi sich gegenüber Innstetten verhält, und sie doch weiß, dass ihre Tochter »ein ganz eigenes Gemisch« (42) ist und dass Innstetten sich vermutlich nie »recht mit der Frage beschäftigen« werde, »wie das wohl anzufangen sei«, Effi ein wenig zu »amüsieren« und die »Langeweile«, die »Todfeindin einer geistreichen kleinen Person«, zu bekämpfen (44), versucht sie – entgegen ihrem Instinkt – das Beste für sich wie für ihre Tochter aus der Karriere ihrer beider im Grunde ungeliebten Ehemänner herauszuschlagen, anstatt auf andere Möglichkeiten – gar auf persönliche Weiterentwicklung und einen eigenen Lebenssinn – zu setzen. Zu dieser, bereits Ende des 19. Jahrhunderts nicht mehr recht zeitgemäßen, persönlichen Beschränktheit passen die ebenso anachronistisch erscheinenden Ehrvorstellungen des Barons, welche auf einem geschlechterdifferenten »Verständnis von Scham und Peinlichkeit« beruhen. Was »in der weiblichen Sozialisation seit langem eingeübt« und anhand der Kunstfigur Effi vorgeführt wird – dass und wie eine im 19. Jahrhundert »Ehre und Achtung« verliert, »wenn sie die Gebote weiblicher Schamhaftigkeit und Keuschheit« verletzt (vgl. Frevert 2009, 201) –, das wird von der männlichen Kunstfigur quasi geschlechterdichotomisch gespiegelt: Innstetten »ist ja ein Mann von Ehre« (140), und er will dies auch bleiben. Dementsprechend muss er seine männliche Ehre retten, auch wenn er damit gegen seine wahren Gefühle – und damit gegen seine im Prinzip gegebenen Möglichkeiten – verstößt. Denn: »Für Männer galten diese Gebote nicht; ihrer Ehre machte stattdessen ›unmännlicher Feigheit‹ den Garaus« (Frevert 2009, 201). So oder so lässt sich das traurigen Schicksal der »arme[n] Effi« (41) als Teil des Massenphänomens ›Ehebrecherin‹ im 19. Jahrhundert und im Kontext ande-

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V Theoretische Zugänge

rer Ehebruchsszenarien (am berühmtesten: Anna Karenina von Leo Tolstoi und Madame Bovary von Gustave Flaubert) lesen (s. Kap. 3), und es formuliert damit wie diese, ob intendiert oder nicht, eine Kritik an hegemonialen Machtverhältnissen (s. Kap. 42), in denen alles Weibliche marginalisiert, verdrängt, exkludiert und nicht anerkannt wurde und in dem die meisten Menschen hinter ihren eigenen Möglichkeiten zurückblieben (s. Kap. 46). Literatur Bachmann, Ingeborg: Das Buch Franza. In: Dies.: ›Todesarten‹-Projekt. Kritische Ausgabe. 4 Bände in 5 Bänden, Bd. 2. Unter Leitung von Robert Pichl hg. von Monika Albrecht und Dirk Göttsche.München 1995. Braun, Christina von/Inge Stephan: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Gender Studien. Eine Einführung. Stuttgart/Weimar 2000, 9–15. Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a. M. 1991. Cameron, Deborah: Verbal Hygiene for Women. Performing Gender Identity. In: Ursula Pasero/Friederike Braun (Hg.): Konstruktion von Geschlecht. Pfaffenweiler 1995, 143–152. Duden, Barbara: Das schöne Eigentum. Zur Herausbildung des bürgerlichen Frauenbildes an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. In: Kursbuch (1977) 47, 125–139. Erhart, Walter/Britta Herrmann: Feministische Zugänge – ›Gender Studies‹. In: Heinz Ludwig Arnold/Heinrich Detering (Hg.): Grundzüge der Literaturwissenschaft. München 21997, 498–515. Fassbinder, Rainer W.: Fontane Effi Briest. Spielfilm, Deutschland 1972–1974; Drama/Literaturverfilmung. Arthaus 2005. Fiedler, Leslie A.: Liebe, Sexualität und Tod. Amerika und die Frau. Frankfurt a. M./Berlin 1987. Frevert, Ute: Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft. München 1991. Gleixner, Ulrike: Geschlechtergeschichte verändert Geschichtsbilder: Das zweifache Leben der ›Effi Briest‹. In: Sandra Maß/Xenia von Tippelskirch (Hg.): Faltenwürfe der Geschichte. Entdecken, entziffern, erzählen. Frankfurt a. M./New York 2014, 366–384.

Gunzenhäuser, Randi: Horror at Home. Genre, Gender und das Gothic Sublime. Essen 1993. Hausen, Karin: Die Polarisierung der »Geschlechtscharaktere« – Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbsund Familienleben. In: Werner Conze (Hg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue Forschungen. Stuttgart 1976, 363–393. Hof, Renate: Entwicklung der Gender Studies. In: Dies./ Hadumod Bußmann (Hg.): Genus. Zur Geschlechterdifferenz in den Kulturwissenschaften. Stuttgart 1995, 2–33. Jurzik, Renate: Der Stoff des Lachens. Studien über Komik. Frankfurt a. M. 1985. Kanz, Christine: Angst und Geschlechterdifferenzen. Ingeborg Bachmanns ›Todesarten‹-Projekt in Kontexten der Gegenwartsliteratur. Stuttgart/Weimar 1999. Kanz, Christine: Differente Männlichkeiten. Kafkas ›Das Urteil‹ aus gendertheoretischer Perspektive (Gender Studies). In: Oliver Jahraus/Stefan Neuhaus (Hg.): Kafkas ›Das Urteil‹ und die Literaturtheorie. Stuttgart 2002, 152– 175. Kanz, Christine: Gender-Theorie der Angst. In: Lars Koch (Hg.): Angst. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart 2013, 116–129. Neuhaus, Stefan: Fontane-ABC. Leipzig 1998. Porrmann, Maria: Angst – Flucht – Hoffnung. Von der ›Gothic novel‹ zum utopischen Roman. In: Hiltrud Gnüg/ Renate Möhrmann (Hg.): Frauen Literatur Geschichte. Stuttgart/Weimar 21998, 166–188. Schivelbusch, Wolfgang: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 1989. Vinken, Barbara: ›Schlusen‹. Effi Briest und ›die rechte Liebe‹. In: Ulla Haselstein (Hg.): Allegorie. DFG-Symposion 2014. Berlin 2016, 499–527. Weigel, Sigrid: Die nahe Fremde – Das Territorium des Weiblichen. Zum Verhältnis von ›Wilden‹ und ›Frauen‹ im Diskurs der Aufklärung. In: Thomas Koebner/Gerhart Pickerodt (Hg.): Die andere Welt. Studien zum Exotismus. Frankfurt a. M. 1987, 171–199. Wertheimer, Jürgen: Effis Zittern. Ein Affektsignal und seine Bedeutung. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 102 (1996), 134–139 (s. Kap. 35).

Christine Kanz

44 Alterität

44 Alterität Einleitung Auf der Reise zu ihrem neuen Wohnort erklärt die frisch verheiratete, 17-jährige Effi ihrem neuen Ehemann, dem preußischen Landrat Innstetten, sie wünsche sich etwas Exotisches für ihr neues Leben in dem hinterpommerschen Provinznest Kessin: »einen Neger oder einen Türken, oder vielleicht sogar einen Chinesen« (51). Bei ihrem ersten Gespräch über den Chinesen, der angeblich im Haus Innstettens in Kessin herumspukt, sagt sie: »Ein Chinese, find’ ich, hat immer was Gruseliges« (52). An diesen beiden Textstellen lassen sich zwei Bedeutungsebenen von Alterität in Fontanes Roman Effi Briest aufzeigen. Zum einen unterliegt Effis Erklärung ein Blick auf das Fremde als Exotisches oder Apartes und damit als Gegenbild zum Selbstverständnis des imperialistischen und zugleich provinziellen Preußen Ende des 19. Jahrhunderts (s. Kap. 1, 5). Dabei ist hier eine »Ambivalenz« spürbar, die den Blick auf das Fremde in diesem Roman wie auch in Fontanes übrigen Erzähltexten kennzeichnet (Mecklenburg 2018, 56; vgl. Ziegler 2002). Zum anderen repräsentiert das Fremde als ein Unheimliches oder Bedrohliches eine innere Befremdung der Protagonistin Effi, aber auch Innstettens, deren Projektion in den äußeren Raum darin Fremdheitsmomente und Widersprüche im Sinne Julia Kristevas (1990) oder Bernhard Waldenfels’ (1997) erzeugt. Fontane selbst weist in einem Brief an Joseph Viktor Widmann vom 19. November 1895 auf »das Spukhaus und den Chinesen« in dieser Kombination hin (s. Kap. 8) und betont, dass dieser Komplex in Effi Briest »ein Drehpunkt für die ganze Geschichte« sei (HA IV, 4, 506). Mehr noch als Fontanes Hinweis hat die starke Präsenz des spukenden Chinesen als Leitmotiv im Roman (s. Kap. 22) dazu geführt, dass er in der Forschung besondere Aufmerksamkeit erhalten hat. In 24 der insgesamt 36 Kapitel wird in irgendeiner Form auf den Spuk hingewiesen, von dem das Haus Innstettens in Kessin heimgesucht wird (vgl. Rainer 1982, 546). Beiträge zum Thema haben sich mit diesem Motiv im Hinblick auf seine psychologischen, erotischen, sozialen und kolonialgeschichtlichen Funktionen beschäftigt (u. a. Avery 1974; Rainer 1982; Schuster 1983; Sittig 2003; Utz 1984; s. Kap. 22). Ein neueres Beispiel ist Christian Begemanns (2018) Analyse der sozialen Funktion des Spuks in einem realistischen Roman, auf die im Verlauf der weiteren Über-

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legungen noch Bezug genommen wird. Im Folgenden stehen die beiden oben angesprochenen Ebenen im Mittelpunkt: der Chinese bzw. der Spuk des Chinesen als Motiv oder Diskurs der Fremdheit – wobei dies in Zusammenhang mit der Funktion anderer Fremdbilder im Roman gebracht werden soll. Nimmt der Chinese zwar eine Sonderrolle in der Erzählung ein, so gehört er zu einer Reihe fremdartiger Bewohner Kessins, von denen Innstetten seiner jungen Frau noch vor ihrer Ankunft in ihrer neuen Heimat erzählt. Damit erfüllt sich einerseits Effis Wunsch nach Exotik, so dass sie jene abgelegene Welt an der Ostsee »aufs höchste interessiert« (49). Andererseits wirken sie befremdlich, zum Teil sogar bedrohlich auf das Mädchen: der Pole Golchowski, der aussieht wie ein Starost (49), ein polnischer Dorfvorsteher, in Wahrheit aber ein ›widerlicher‹ Wucherer sei (ebd.); die slawischen Kaschuben im Kessiner Hinterland oder der Schotte Macpherson. Auch der Apotheker Alonzo Gieshübler reiht sich durch seinen »fremdartig klingenden Vornamen« (58) für Effi zunächst in diese Gruppe laut Innstetten unverlässlicher Kessiner ein. Bald stellt er sich jedoch als einziger Vertrauter Effis heraus, was wiederum Effis Außenseiterstatus in Kessin verdeutlicht. Dass Gieshübler der Inhaber der »Mohrenapotheke« (78) in Kessin ist und seinen Diener nach einem afrikanischen »Räuberhauptmann« Mirambo genannt hat (94), verstärkt seine anfängliche Fremdheit in den Augen Effis und des Lesers noch. Das gilt auch für den Vorbesitzer von Innstettens Kessiner Haus: ein dänischer oder englischer Kapitän Thomsen, der, so wird erzählt, von einer seiner Chinafahrten den besagten Chinesen als Freund und Diener mit nach Kessin brachte. Effi erfährt von Innstetten, dass Thomsens Nichte oder Enkelin am Abend ihrer standesgemäßen Hochzeit mit einem anderen Kapitän mit allen Gästen tanzte, »zuletzt auch mit dem Chinesen. Da mit einemmal hieß es, sie sei fort, die Braut nämlich. Und sie war auch wirklich fort, irgend wohin, und niemand weiß, was da vorgefallen. Und nach vierzehn Tagen starb der Chinese« und bekam ein Grab zwischen den Dünen. Der Pastor Trippel habe gesagt: »Man hätte ihn auch ruhig auf dem christlichen Kirchhof begraben können, denn der Chinese sei ein sehr guter Mensch gewesen und gerade so gut wie die anderen« (99–100), und später meint Effis einfache, aber herzensgute Kinderfrau Roswitha: »[...] die Chinesen sind doch auch Menschen, und es wird wohl alles ebenso mit ihnen sein, wie mit uns« (205). An diesen Beispielen wird ein narratives Grundverfahren Fontanes deutlich, das in

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2019 S. Neuhaus (Hg.), Effi Briest-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04874-5_44

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V Theoretische Zugänge

Effi Briest wie auch in anderen seiner Romane und Erzählungen Anwendung findet. In den Äußerungen verschiedener Figuren kommen stereotype Wahrnehmungsmuster des kulturell Fremden zum Ausdruck, die Einstellungen der im Roman dargestellten preußischen Gesellschaft am Ende des 19. Jahrhunderts repräsentieren. Dazu gehört ein imperialistischer Diskurs der neuen Kolonialmacht, der gängige Ansichten über die erworbenen oder begehrten Kolonien in Afrika und China reflektiert (vgl. Parr 2002), zusammen mit einem Kulturprotestantismus (s. Kap. 30), der mit Antislawismus und Antisemitismus, einem gewissen Misstrauen gegenüber den »Katholschen« (Sagarra 1995, 53) wie auch gegenüber sozialdemokratischen Bestrebungen der Arbeiterschicht Hand in Hand geht. Der Autor Fontane fungiert insofern als »Seismograph« (Ehlich 2002, 9) seiner Gesellschaft, die zum einen im zeitgenössischen Preußen als Region, zum anderen im Deutschen Reich als politisch-staatlichem Gebilde ihren Rahmen sieht. Diese stereotypen Wahrnehmungsmuster des Fremden werden aber, wie im obigen Zitat zur Menschlichkeit der Chinesen, in einem Verfahren der »Objektivierung« und »Differenzierung« gebrochen und ironisch unterlaufen. Durch das Nebeneinanderstellen widersprüchlicher Aussagen von Figuren entstehe so eine »Vielstimmigkeit« im Sinne Bachtins (Mecklenburg 2002, 101). Diese korreliert auf einer anderen Ebene mit der auffälligen Vielzahl fremdartiger Gestalten als Bewohner eines Ortes, der dem Leser durch seine Provinzialität und düstere Atmosphäre wie auch den für die Region typischen Namen kaum mit Internationalität oder Weltoffenheit vereinbar scheint (vgl. Hehle 2002, 79; Neuhaus 1998).

Zum theoretischen Zugang Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive ist das Fremde das, was nicht der eigenen Identität (s. Kap. 46) zugeordnet wird und ungewöhnliche und befremdliche Emotionen weckt (s. Kap. 45). Was als ›fremd‹ definiert wird, hängt von subjektiven Erlebnissen und Kriterien ab, die relativ, perspektivisch und standortgebunden, d. h. stark von der eigenen Kultur geprägt sind. Das Verhältnis zwischen Identität und Alterität ist überwiegend ein hierarchisches, in dem das Fremde abgewertet oder ausgegrenzt wird, um auf diese Weise die eigene Identität zu festigen. Kulturtheorien, die sich mit dem Phänomen Alterität beschäftigen, richten

den Blick auf kollektive Selbst- und Fremdbilder – Auto- und Heterostereotype –, welche die individuelle Wahrnehmung codieren, meist ohne dass ihr von unbewussten Interessen und Projektionen geleiteter Konstruktcharakter von Individuen oder Gruppen durchschaut wird. Diese Selbstbilder können sich zu »images« eines »national character« verdichten (Leerssen 2007, 27). In den entsprechenden Fremdbildern sind oft verschiedene Arten von Fremdheit miteinander gekoppelt. So lässt sich in zahlreichen Texten des okzidentalen Modernismus (Müller-Funk 2017, 249) eine Koppelung von sexueller mit ethnischer oder ›rassischer‹ Fremdheit feststellen. Das trifft in bestimmtem Maße auch auf realistische Texte des späten 19. Jahrhunderts zu. In Effi Briest und anderen Erzählungen Fontanes werden Fremdheitskomplexe wie Katholizismus (s. Kap. 30) und Slawismus oder das Fremdbild der Juden (s. Kap. 10) mit einer modernen Kapitalwirtschaft gekoppelt und durch spezifische Erzählverfahren zumindest punktuell wieder entkoppelt. Das gilt auch für die Koppelung des afrikanischen oder orientalischen Fremden mit einem den Kolonien zugeordneten, ehrlosen Räuberleben. Umgekehrt werden durch den diskursiven Umgang mit solchen Bildern diese mitgeformt und dabei zum Teil (bewusst oder unbewusst) verändert. Dem liegt zum einen Foucaults Diskurstheorie zugrunde (s. Kap. 42); zum anderen sind Theorien, die ›imaginäre‹ Identitätskonstrukte nach dem Us-Them-Schema über ein dichotomisch-hierarchisierendes Polaritätsmodell definieren, in unterschiedlichem Maße von Einsichten der Soziologie (Simmel), Philosophie (Levinas, Waldenfels) und Psychoanalyse (Freud, Lacan, Kristeva) beeinflusst. Richtet sich das Interesse von Kulturtheorien der Gegenwart insgesamt auf kulturell vorgegebene, tiefenstrukturelle Wahrnehmungs- und Werteparadigmen, welche die Differenzen zwischen Eigenem und Fremden motivieren (Hoeschen 1998, 10), befasst sich die neuere Imagologie (vgl. Dyserinck 1982; Leerssen 2007) vor allem mit dem diskursiven Umgang mit den kollektiven Denkmustern entsprechenden Bildern in spezifischen Texten und Medien. Ein solcher Ansatz lässt sich auch als eine kritische Diskursanalyse im Sinne Jürgen Links verstehen. Danach haben literarische Texte aufgrund ihrer poetischen Reflexivität ein besonderes Potenzial, stereotype Bilder oder images auf der Textebene zu reflektieren, zu dekonstruieren oder zu verschieben (vgl. Link/Link-Heer 1990; Leerssen 2007, 26), wobei die breitere Wirkung literarischer Diskurse ein eigenes Problemfeld darstellt. Fremdes und Eigenes sind dabei nicht notwendig als binäre Op-

44 Alterität

positionen zu begreifen, sondern als Pole einer grundlegenden Relation und damit Teil des kulturellen Prozesses, der sich Georg Simmel zufolge durch Wechselwirkungen wie Verbinden und Trennen, Einschluss und Ausschluss bestimmt (vgl. Müller-Funk 2017, 15). Dagegen fordern ›symbolisch‹ geprägte Alteritätsmodelle der postkolonialen Literaturkritik (Fanon, Hall, Spivak, Saïd, Bhabha) seit Beginn der 1960er Jahre die Möglichkeit der kulturellen Alterität ein, sich ideologiekritisch mit eigener ›Stimme‹, d. h. der des Kolonisierten, an einem interkulturellen Dialog zu beteiligen (Hoeschen 1998, 11). Das setzt prinzipiell binäre Oppositionen voraus. So hat Edward Saïd mit ›Orientalismus‹ im gleichnamigen Buch von 1978 einen binären Schlüsselbegriff für die postkoloniale Literaturtheorie geliefert. Er bezeichnet einen vom Okzident entwickelten Diskurs über den Orient, der durch die abwertende Darstellung des Anderen die eigene Identität formuliert und privilegiert, um imperiale Hegemonieansprüche auf die so abgegrenzte Welt zu rechtfertigen. Allerdings beziehen die späteren Texte Saïds und neuere postkoloniale Arbeiten zunehmend heterogene Beziehungsgeflechte, Hybridität (Bhabha) sowie ein breiteres Spektrum politischer und historischer Strukturen mit ein. Dagegen konzentriert sich die neuere postkoloniale Literaturkritik im deutschsprachigen Raum, die methodisch u. a. mit der interkulturellen Germanistik im Austausch steht, auf die Analyse der »literarischen Encodierung« der kolonialen Ideologie in Texten (Reckwitz 2000, 31). Hier gibt es zahlreiche Anknüpfungspunkte zu Norbert Mecklenburgs interkultureller Interpretation des Romans mit Hilfe von Bachtins Begriff der Vielstimmigkeit (1979) oder »Redevielfalt« (Mecklenburg 2018). Letztere ist ein Grundmerkmal von Fontanes Erzählverfahren, das Elemente des poetischen Realismus und des bürgerlichen Gesellschaftsromans zusammenbringt (s. Kap. 2, 26, 36).

Exotik Diversität kennzeichnet auch die Darstellung des Chinesen, in diesem Fall seine Geschichte (s. Kap. 22). Denn die Pointe der Geschichte des Chinesen ist, »daß sie überhaupt nie erzählt wird« (Helmstetter 1998, 213). Was der Leser zu wissen glaubt, weiß er aus zahlreichen Splittern und Varianten der Geschichte, die über den Text verstreut sind. Diese finden sich überwiegend in Redeakten der Figuren, sind also jeweils perspektivisch gebrochen. Insofern ist eine Deutung

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des Chinesen als Motiv der Fremdheit durchaus zutreffend (vgl. Yang 2001), da es verschiedene Funktionen von Alterität im Roman hervorhebt. Dabei erscheint der Chinese nicht nur in seiner späteren Form als Gespenst, sondern bereits als konkreter Bewohner Kessins aufgrund seiner gelben Farbe und exotischen Kleidung als deutlich Anderes. Dass seine Kleidung (»blauer Rock mit gelben Pluderhosen und einen flachen Hut auf dem Kopf«; 69) – sichtbar auf einem Abziehbild, das Effi immer wieder im Haus findet – eher lächerlich wirkt, impliziert, dass seine Bedrohlichkeit als Projektion Effis zu verstehen ist. Allerdings steht das einer zumindest phasenweisen Identifikation des Lesers mit ihr als Wahrnehmungsinstanz nicht im Weg (vgl. Utz 1984, 214). Zugleich reflektiert der Chinese – in seiner konkreten Gestalt und als Gespenst – kollektive Ängste vor einer »Gelben Gefahr«, die Wilhelm II. 1900 in seiner »Hunnenrede« anlässlich des chinesischen ›Boxeraufstandes‹ beschwört (Utz 1984, 215; Mecklenburg 2002, 90). Bereits Nietzsche mache 1884 unter dem Titel »Die zahme Barbarei« den Chinesen zum egalitären Anti-Modell seines Übermenschen und greife dabei das zeitgenössische Klischee des Chinesen als Muster von sklavischer Arbeitsamkeit bzw. Verschlagenheit und den chinesischen Staat als Sinnbild von Despotie und Reaktion auf (zit. nach Utz 1984, 214– 215). China wird zum Anderen europäischer Werte, wobei diese nicht unbedingt mit Fontanes Werten übereinstimmen. So habe sich Fontane in Briefen positiv über das große Wissen der Chinesen ausgesprochen (Mecklenburg 2018, 182). Seine Briefe und Romane zeugen eher von einer Skepsis gegenüber größeren europäischen oder globalen Zusammenhängen, damit auch kolonialen Unternehmungen, und geben stattdessen einem »natürlichen Regionalismus« den Vorzug (Mecklenburg 2002, 97; Sittig 2003, 546). Dementsprechend beginnt die Fremde für Effi schon in Hinterpommern. Auch das Afrikabild in Effi Briest folge trotz aller Skepsis und Ironie in zentralen Passagen dem zeitgenössischen Kolonialdiskurs, wie ihn Edward Saïd beschrieben hat. Als ein »Formationssystem« von Aussagen im Sinne Foucaults ordne der Kolonialdiskurs die Welt durch Vertextungsmuster, die zum einen andere Welten und Völker nach europäischen Vorstellungen entwerfen, zum anderen die Subjektposition des kolonisierenden Europäers präzisieren. Demnach sei es falsch, Effi Briest als »einen kritischen Roman des Imperialismus« zu lesen oder von einer Opfer-Solidarität zwischen Effi und dem Chinesen auzugehen

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V Theoretische Zugänge

(Sittig 2003, 547). Stattdessen seien sowohl die Darstellung des Chinesen als auch von Gieshüblers unsichtbarem, »schwarz codiert[en]« Kohlenprovisor Mirambo als Konstrukte inferiorer Alterität aus einer kolonialen Perspektive zu verstehen (ebd., 554). Der historische Kontext dafür seien deutsche Aktivitäten in dem Gebiet, das 1891 zum Schutzgebiet DeutschOstafrika wurde. Als Innstetten nach einer möglichen Alternative zu dem Duell sucht, da er selbst das System der Ehre, das er damit verteidigt, als ausgehöhlt empfindet, bietet dieses Afrika aufgrund seiner kolonialen Unterlegenheit für ihn keine Alternative. Die Flucht würde eine vollständige Desintegration der eigenen Person in einem amorphen, ungeordneten Leben unter »pechschwarze[n] Kerle[n]« (340) bedeuten. Fontane selbst steht der kolonialistischen Ideologie einer legitimisierenden Vormundschaftspflicht des europäischen Kolonisators kritisch gegenüber (ebd., 562). Und Innstetten rechtfertigt seine Entscheidung zum Duell mit dem ehemaligen Geliebten seiner Frau am Ende damit, dass man einem diffusen, »uns tyrannisierende[n] Gesellschafts-Etwas« unterworfen sei (278; vgl. auch Begemann 2018, 203), dessen Imperative sich die Individuen zu eigen gemacht haben. Ein Leben außerhalb dieser Gesellschaft scheint unmöglich, und darum muss man sich fügen. Auf der Diskursebene des Romans (s. Kap. 42) wäre Sittig hier zuzustimmen. Trotzdem werden auch im Gespräch Innstettens mit Wüllersdorf schematische Fremdbilder auf der Gesprächsebene, wenn auch nur in begrenztem Maße, durch den fatalistischen Ton und die wiederholten Fragen Innstettens unterlaufen, der die Verteidigung der eigenen Ehre damit in gar nicht allzu großer Entfernung vom völligen Untergang in Afrika eingeordnet. Auch für die Positionierung Effis innerhalb der kolonialen Dichotomie lassen sich Verschiebungen feststellen, die diese Dichotomie durchkreuzen. Trägt Effis Reise nach Kessin anfangs noch Züge einer Besitzergreifung des neuen Wohnorts im Sinne eines kolonialen Territoriums, wird dies durch ihre Vorliebe für Apartes, wie den »japanische[n] Bettschirm« (32), ergänzt, aber auch relativiert. Ihr unbeschwert-naiver Umgang mit stereotypisierenden Exotismen wie auch ihre sinnliche Wahrnehmungsweise charakterisieren sie als »Naturkind« (41), das sich abseits (»á part«) des Gewöhnlichen und der Norm bewegt und innerhalb der Gesellschaft eine Außenseiterposition einnimmt (vgl. Begemann 2018, 204; Ziegler 2002). Dadurch verschiebt sich die Dichotomie zum »Neger« oder »Chinesen« als kolonialem Subjekt. Denn Effi wird auf den

Platz dieses Subjekts verschoben, das aus kolonialer Sicht generell als minderwertiges Anderes der eigenen, vermeintlich überlegenen Kultur betrachtet, oder zum Ideal des reinen, unverdorbenen Naturmenschen stilisiert wird. Weitere Techniken der ironischen Differenzierung umfassen das Spiel mit Namen oder sentenzhaften Allgemeinaussagen über Fremde. Der Wechsel zwischen auktorialem Plauderton und perspektivischem Berichten (s. Kap. 36) schafft ein Geflecht der Verweise durch beziehungsschaffende Bilder und Gegenbilder. Häufig werden Vorurteile gegen bestimmte Fremde durch direkte oder versteckte Parallelen entlarvt. So hält Crampas bei einem Gespräch mit Effi der von ihr kommentierten Grausamkeit mexikanischer Sitten die der alteuropäischen Ritter entgegen (vgl. Mecklenburg 2002, 90). Das trifft auch auf den Vergleich zwischen wendischen Menschenopfern und den ›eigenen‹ »germanischen« bei einem anderen Gespräch zu (Hehle 2002, 82). Das Bekenntnis zum Eigenen, sei es zu Deutschland, Preußen oder dem Germanischen, und die Kritik am Eigenen halten sich die Waage. Historische und kulturelle Alterität relativieren sich an übergreifenden patriarchalischen Strukturen, und Effis Positionierung als Fremde innerhalb dieser Strukturen ist nicht von ihrer Weiblichkeit zu trennen. Dabei konstituiert die Kritik am Eigenen bei Fontane letztlich eine konservative Kulturkritik, die eine – antisemitisch gefärbte – Kapitalismuskritik einschließt (vgl. Mecklenburg 2002, 92). Dass diese Kulturkritik ein Versuch ist, sich in zeitgemäßer Weise auf die humanistische Tradition zu berufen, wird auch an humanistisch-universalistischen Äußerungen von Figuren deutlich, wie der weiter oben zitierten Roswithas, während Innstettens pluralistische Replik auf die Prussomanie seiner Umgebung (»in anderen Ländern hat man ’was anderes«; 182) liberale Töne anschlägt, die im gesamten Diskurs des Romans aber eher marginal bleiben. Der kulturelle Code in Preußen bzw. im Deutschen Reich zu Fontanes Zeit grenzt dieses nicht nur von Chinesen und ›Negern‹, sondern auch von Juden (s. Kap. 10), Slawen und Sozialdemokraten ab. Dabei ist der Antislawismus, der in Effi Briest anklingt, durchaus im Kontext des Kolonialdiskurses zu sehen – auch im Hinblick auf die Rolle Ostpreußens und Pommerns als Festung gegen den wilden Osten im Hinblick auf das katholische »Polen als Mittelvolk zwischen westlicher Civilisation und orientalischer Naturliebe schwankend« (Anonym 1849, zit. nach Fischer 2002, 267). Auf Effis Frage, ob sie Gespenster für

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möglich halte, zeichnet die mit Gieshübler befreundete und aus Kessin stammende, sich aber mit Paris als Kulturstadt identifizierende Sängerin Trippelli (s. Kap. 32) das deutlich generalisierende Bild eines dubiosen Osteuropas, wo »schlechte Menschen« ebenso zur Normalität gehören wie Spuk: »[...] wenn man so alt ist wie ich und so viel ’rumgestoßen wurde und in Rußland war und sogar auch ein halbes Jahr in Rumänien, da hält man alles für möglich. Es giebt so viele schlechte Menschen, und das andere findet sich dann auch, das gehört dann so zu sagen mit dazu« (109). Diese negative Bewertung des Östlichen korrespondiert mit der Darstellung von Polen als unzuverlässig in der Rede verschiedener Figuren: von dem seine Frau betrügenden und Effi bedrängenden »halbe[n] Pole[n]« (172) Crampas bis hin zum Wucherer Golchowski. Das dadurch entstehende antislawische Fremdbild wird zwar durch die Inszenierung von Konversationen, in denen solche Aussagen als Platitüden oder interessegeleitet und wenig fundiert erscheinen, bis zu einem gewissen Punkt dekonstruiert. Durch das Wissen des Lesers um das von Effi vor ihrer Reise als »halbsibirische[r] Ort« weit nördlich liegend beschriebene (29; Hehle 2002, 79) und von Innstetten und Effi als »fremd« (51) wahrgenommene Kessin (s. Kap. 27) als Herkunftsort der Sängerin wird Trippellis abwertende Aussage weiter relativiert und damit auch die darin vermittelte Fremdheit des slawischen Osteuropas an sich. Trotzdem bildet dieses Fremdbild aber eine Konstante in Effi Briest. Denn ebenso wie andere Aussagen, ob über den Spuk im Haus Innstettens oder über jeweils sprechende, als fremd wahrgenommene konkrete Figuren oder Orte, ist die Erklärung der Sängerin Teil einer »wabernden Kommunikationswolke, die den imaginativen Raum zwischen den Figuren ausfüllt«, wie Begemann in seiner Studie zum Phantastischen in Effi Briest feststellt: »Kommuniziert wird nur die Kommunikation, nicht ihr Inhalt« (Begemann 2018, 212). Dass diese »Wolke« als Erzählprinzip in Effi Briest, wenn auch in weniger starker Ausprägung, nicht nur die Geschichte um den spukenden Chinesen, sondern ein breites Spektrum von Themen umfasst (wie das ebenfalls leitmotivische »weite Feld« als kommunikative Leerstelle andeutet; ebd., 213), verhindert eine Vielstimmigkeit im Sinne Bachtins und damit auch die Dekonstruktion bestimmter stereotyper Fremdbilder wie das des Slawischen, Orientalischen oder Afrikanischen. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen Jannidis und Lauer in ihrer Untersuchung des Umgangs mit antisemitischen Stereo-

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typen in Fontanes Stechlin. Das ständige Spiel mit Gegensätzlichem, wie fremd und vertraut, alt und neu, großer Welt und Provinz führe nicht zur Dekonstruktion von im wilhelminischen Deutschland verbreiteten Wahrnehmungsweisen, sondern sei als zentrales Ordnungsprinzip des Romans ein Selbstzweck im Sinne eines zu Fontanes Zeit gepflegten spielerischen Konversationsmusters (vgl. Jannidis/Lauer 2002, 116–117). Das erkläre auch den nur scheinbaren Widerspruch zwischen der von Mecklenburg diagnostizierten Redevielfalt in den Erzähltexten und den deutlich antisemitischen Aussagen Fontanes in Briefen, der in der Forschung intensiv diskutiert wurde.

Unheimliches Dass Effi das Haus Innstettens entsprechend Freuds Begriff des Unheimlichen als »gemütlich und unheimlich zugleich« (117) erlebt, eröffnet eine weitere Bedeutungsebene von Fremdheit im Roman. Alltagsgegenstände werden als fremd empfunden (Waldenfels 2006) und erhalten sogar unheimliche Züge als etwas auf psychologischer Ebene aus dem Eigenen Verdrängtes (Kristeva 1990). Effi erfährt die neue Heimat als un-heimliches »Spukhaus« (116, 155, 254, 284), was auf das Scheitern ihrer Ehe als Institution der von gesellschaftlichen Regeln bestimmten preußischen Welt, in der sie sich in Kessin findet, und den damit verbundenen Heimatverlust vorausdeutet. Darin spiegelt sich aber auch ihre tiefe Unsicherheit angesichts des Neuen in ihrer bisher auf Vertrautes reduzierten Welt – im Gefühl, das als Fremdheit auf den äußeren Raum projiziert wird. Zunächst ist Effi vom exotischen Zauber ihres neuen Kessiner Zuhauses »wie gebannt« (56). Sie ist fasziniert von »[s]onderbare[n]« (56) Einrichtungsgegenständen, die Hinterlassenschaften des Kapitäns sind, wie der riesige, an der Decke angebrachte Haifisch und das Krokodil, die mit vertrauten Gegenständen und Hochzeitsgeschenken, wie den zwei mit roten Schleiern bedeckten Astrallampen, ein beunruhigendes Ganzes bilden. Darauf folgt die erste Nacht, die sie mit den unheimlichen Geräuschen aus dem Obergeschoss zubringen muss und die sie mit dem spukenden Chinesen in Verbindung bringt, von dessen Geschichte ihr Innstetten später erzählt. Was Effi nicht bewusst ist: Auch darin geht es um eine verbotene Affäre, die Transgression gesellschaftlicher Grenzen durch eine aus Sicht der Gesellschaft fremd anmutende Figur, eines Außenseiters, der an diesem Akt der Transgression scheitert. Das

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V Theoretische Zugänge

kann Innstetten auf einer sinnlichen Ebene erst deutlicher wahrnehmen, als seine Ehe gescheitert ist und er mit seinem Freund Wüllersdorf noch einmal nach Kessin zurückkehrt, um sich mit Crampas, dem ehemaligen Liebhaber seiner Frau, zu duellieren. Als er an seiner ehemaligen Wohnstätte vorbeikommt, überfällt ihn selbst »das Gefühl des Unheimlichen, das Innstetten an Effi so oft bekämpft oder auch wohl belächelt hatte« (284). Das Spukhaus fungiert hier als Raum der Erinnerung, in dem eine selbstständige Wiederkehr des Vergessenen oder Verdrängten im Sinne Marcel Prousts, John Lockes oder Denis Diderots möglich ist (vgl. Begemann 2018, 223). Bereits vor Innstettens Rückkehr nach Kessin zu dem Duell, das für ihn das Festhalten an den alten Werten bedeutet (s. Kap. 26), wird der scharf akzentuierte Gegensatz zwischen dem rationalen preußischen Landrat und ›Prinzipienreiter‹ (287) Innstetten und seiner jungen Frau, die als »phantastische kleine Person« (32), unvernünftige »Tochter der Luft« (7), und sinnliches »Naturkind« (41) in die Nähe des Fremden gerückt wird, ansatzweise in Frage gestellt. Auch hier durchkreuzt der Roman die vorher aufgebaute Dichotomie (s. Kap. 41). Denn Innstetten verkörpert die Werte der preußischen Gesellschaft, während Effi auch durch diesen Gegensatz als Außenseiterin der Gesellschaft erkennbar wird. Allerdings ist Innstettens Haltung gegenüber der Spukgeschichte mehrdeutig. Das wird u. a. anhand einer seiner Erklärungen des Spuks deutlich, in der die intendierte Aussage bereits auf sprachlicher Ebene durch die Einfügung von »übrigens« und »eigentlich« in Frage gestellt wird: »Übrigens ist es eigentlich gar nichts« (97). Ebenso deute Innstettens Reaktion (»wie gebannt«; 22) auf den Ruf Effis durch ihre Freundinnen bei der ersten Begegnung der beiden »auf ein magisch-mythisches Element in der preußischen Normalwelt« (Begemann 2018, 214). Umgekehrt antwortet Effi, als ihre Mutter ihr die »Musterehe« mit Innstetten anpreist (34): »Ich fürchte mich vor ihm« (38; vgl. Neuhaus 1998, 32). Ihrem Gefühl entspricht die zunehmende Kälte und Dunkelheit in Kessin als Ausdruck einer Stimmungslandschaft, die jeglichem Heimatgefühl entgegensteht. Nach Angela Isenberg lässt die Darstellung innerer Befremdung durch Projektion in den äußeren Raum Fremdheitsmomente und Widersprüche erkennen. So erzeugt auch die Berührung mit dem Fremden im Rahmen kolonialer Handelsbeziehungen, auf die u. a. der Haifisch und das Krokodil im neuen Haus verweisen, neue Impulse, die von außen in den ansonsten be-

grenzten gesellschaftlichen Raum dringen, einerseits die Öffnung und Ausweitung des eigenen Lebensraums ankündigen und andererseits zur Verunsicherung des Einzelnen, in diesem Fall Effis, führen (vgl. Isenberg 2002, 9–10). Begemann erklärt den Aberglauben als Ausdruck eines für das 19. Jahrhundert bezeichnenden epistemologischen Widerspruchs. Das Fortleben von erratischen Partikeln einer älteren Kulturstufe fülle neu entstehende Sinnlücken, die die Wissenschaft nicht füllen könne (Begemann 2018, 218). In beiden Fällen werden heterogene Wirklichkeitskonzepte im Raum sichtbar, die die Widersprüchlichkeit oder Porosität des modernen Bewusstseins verdeutlichen. Das zeigt sich besonders an dem leeren, gespenstischen Tanzsaal. Dieser ist ein »Raum des Anderen, Irrealen und Irrationalen, ein eingeschlossenes Ausgeschlossenes, das man vergeblich zu leugnen oder zu bearbeiten sucht, weil es sich immer wieder zur Geltung bringt« – »eine Art ›inneres Ausland‹ der Moderne« (ebd., 225). Hier lässt sich eine Verbindung zum Selbstverständnis Fontanes als »Seismograph« oder, in seinen eigenen Worten, »Psychograph« herstellen (s. Kap. 39), als ein Apparat, der als Medium Stimmen aus dem Jenseits aufzeichnet – sowohl fremde Stimmen aus der gesellschaftlichen Redevielfalt als auch die aus dem eigenen Unbewussten (Mecklenburg 2018, 189). Literatur Albrecht, Corinna: Fremdheit. In: Alois Wierlacher/Andrea Bogner (Hg.): Handbuch interkulturelle Germanistik. Stuttgart 2003, 232–238. Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation. Frankfurt a. M./New York 1996 21991 (engl. 1983). Avery, George C.: The Chinese wall. Fontane’s psychograph of Effi Briest. In: Karl S. Weimar (Hg.): Views and reviews of modern German literature. Festschrift for Adolf D. Klarmann. München 1974, 18–38. Bachtin, Michail M.: Die Ästhetik des Wortes. Hg. und eingeleitet von R. Grübel. Frankfurt a. M. 1979. Begemann, Christian: »Ein Spukhaus ist nie was Gewöhnliches ...«. Das Gespenst und das soziale Imaginäre in Fontanes ›Effi Briest‹. In: Peter Uwe Hohendahl/Ulrike Vedder (Hg.): Herausforderungen des Realismus. Theodor Fontanes Gesellschaftsromane. Freiburg 2018, 203–241. Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur. Tübingen 2000. Bossinade, Johanna: Die Stimme des Anderen. Zur Theorie der Alterität. Würzburg 2011. Dunkel, Alexandra: Figurationen des Polnischen im Werk Theodor Fontanes. Berlin/Boston 2015. Dyserinck, Hugo: Komparatistische Imagologie jenseits von ›Werkimmanenz‹ und ›Werktranszendenz‹. In: Synthesis 9 (1982), 27–40. Ehlich, Konrad: Preußische Alterität. Statt einer Einleitung.

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Sabine Egger

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45 Emotionsforschung Arme Effi? »Ja, die arme Effi!«, schreibt Fontane an seinen Verleger Hans Hertz (2.3.1895; DÜW 2, 448; s. Kap. 8). Was ist damit eigentlich gemeint? Die Figur sagt das mehrfach über sich selber (z. B. 57, 312), ihr Vater bestätigt sie (41), der Hausarzt bescheinigt ihr dies (306), und am Ende tönt der Erzähler ins gleiche Horn (345). Kein Zweifel, das Schicksal einer »der liebenswürdigsten und rührendsten Frauengestalten der deutschen Literatur« (Downes 2000, 637) weckt selbst bei kritischen Lesern »Interesse und Neugier, und vor allem auch Sympathie und Mitgefühl« (Matz 2014, 14). Vielleicht aber ist gerade das auch eine der ironischen Finessen Fontanes. Er lässt seinen Erzähler einmal Effis Gefühle mit dem Satz kommentieren: »Das alles war auch richtig, aber doch nur halb« (24). Der »armen jungen Frau«, die am Ende wirklich nur noch das hat, was man ihr gibt (312), geht ja immerhin die »erste Frau der Stadt« Kessin (71) voraus, die alles hat, was sie erwünscht: ein Herrenhaus, mehrere Bedienstete und einen »Mann von Charakter, von Stellung und guten Sitten« (18). »Arm« ist ein Gefühlsattribut aus der Mitleidsästhetik. Aber warum sollte man es beim Bedauern für die »arme Effi« belassen, die einem Kindheitstrauma oder einem oberlehrerhaften Ehemann (s. Kap. 31) oder einer redensartlich oberflächlichen Gesellschaft (vgl. Aust 1998, 157; s. Kap. 26) zum Opfer fällt? Schon Fontane amüsierte sich über zeitgenössische Leser, die ihre Sympathien einseitig Effi schenkten und ihren Mann ein »alte[s] Ekel« schalten (an Clara Kühnast, 27.10.1895; DÜW 2, 452; s. Kap. 8). Das sollte angesichts der diffizilen Gefühlsregie, die in Effi Briest geführt wird, zu denken geben. Im Roman des bürgerlichen Realismus ist der mitleidigste und der bemitleidenswerteste Mensch, anders als bei Lessing, eben nicht unbedingt der beste Mensch, und gerade »Fontane’s ethisch modernstes Werk«, das Thomas Mann 1919 kanonisch anpries (Mann 1990, X, 579; s. Kap. 19), spielt mit den Emotionen seiner Hauptfigur ein durchaus ambivalentes, ja listiges Spiel. Nochmals: So arm, wie sie ihr Autor, dem Liebe »zu schwer« und die Frau »noch schwerer« zu definieren war (Fragebogen, zit. nach Dieterle 2018, 648), gerne machen wollte, ist Effi womöglich gar nicht, oder sie ist es in einem anderen, übertragenen Sinne. Was ist mit Effis Affekten vor, während und in der Ehe, und welche Emotionen spielen bei ihrer mehrmonatigen

Affäre mit Crampas eine Rolle? Wie werden die Emotionen erzählt? Und wofür ist diese literarische Affektdarstellung gut? Für solche Fragen ist die Emotionsforschung zuständig.

Was sind Emotionen? Emotionen sind – so ein Minimalkonsens, der sich seit den 1980er Jahren herausgebildet hat – sozial erlernbar, kulturell kodiert und historisch wandelbar. ›Emotion‹ soll hier im Folgenden als ein Metabegriff verstanden werden (s. Kap. 34), der die Frage zu beantworten versucht: »wer wann mit welcher Autorität über Gefühle sprechen« kann (Plamper 2012, 22). In der Fontaneforschung waren – wie allgemein in der Literaturwissenschaft (Labouvie 2011, 82; vgl. dazu Anz 2007) – Gefühle als Thema meist verpönt. Dem Autor wurde eine zu große »Gefühlsbeteiligung« unterstellt (Martini 1974, 745). Effi Briest wurde als »Roman der Leidenschaftslosigkeit« verstanden, in dem die Gesellschaft »das richtige Gefühl« verhindere (Müller-Seidel 1975, 370–371; anders erst Wertheimer 1996; s. Kap. 35). Das ist im Übrigen gar nicht so verkehrt. Effi Briest erzählt »von der Auslösung, Ablenkung und Verhinderung von Leidenschaft« (Helmstetter 1998, 232). Im Sinne Kants, dessen Emotionstheorie in das lange 19. Jahrhundert ausstrahlte (s. Kap. 29), dominieren in Effi Briest keine tiefschürfenden Leidenschaften, sondern unüberlegte, unbeherrschbare Affekte: »Der Affekt wirkt wie ein Wasser, was den Damm durchbricht; die Leidenschaft wie ein Strom, der sich in seinem Bette immer tiefer eingräbt« (Kant 1977, 581). Die Zurückhaltung gegenüber der Analyse von Emotionen im Roman hat sich inzwischen verändert. Mit den Arbeiten von Begemann (2018), Graevenitz (2004), Helmstetter (1998), Neumann (2009), Reinhardt (1979) u. a. liegen wegweisende Studien zur Erforschung der »emotionalen Kraft« (Zimmermann 2019, 378) in Fontanes Romanen vor. Sie befassen sich, so kann man generell sagen, mit der narrativen Inszenierung und der ästhetisch-rhetorischen Konstruktion psychophysischer Reaktionen auf Reize aus dem urbanen Milieu der guten Gesellschaft (s. Kap. 25, 39). Wie und warum Effi errötet (112, 141), weshalb Innstetten schweigt oder in welcher Weise sich Crampas’ Verlegenheit zeigt, das folgt einem literarischen Code der Zeit (s. Kap. 41), der Gefühle als Repräsentationen von Stimmung, Motorik und Physiognomie darstellt und auf entsprechende empathische Wirkun-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2019 S. Neuhaus (Hg.), Effi Briest-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04874-5_45

45 Emotionsforschung

gen bei Leserin und Leser abzielt (vgl. Winko 2003). Wie diese Einfühlungsästhetik funktioniert, hat Fontane in einem Brief an Karl Zöllner erklärt: »daß es in aller Kunst – wenn sie mehr sein will als Dekoration – [...] auf etwas Seelisches, zu Herzen Gehendes ankommt, und daß alles was mich nicht erhebt, oder erschüttert oder erheitert oder gar gedanklich beschäftigt [...] keinen Schuß Pulver werth ist« (Brief vom 31.10.–3.11.1874; HFA IV.2, 486–487).

Mit dem Bekenntnis zum movere stellt sich Fontane in die Schreiblinie des genus sublime, das in der klassischen Stilebenenlehre der Affekterzeugung diente. Für die Gartenlauben-Ästhetik war das ein probates Mittel. Nun hat Fontane seinen Roman aber nicht in dieser illustrierten Massenzeitschrift unterbringen können, in der es auf Mitleid und Empathie der Leser ankam, sondern in der ungleich anspruchsvolleren Deutschen Rundschau, und er hat, wie die Vorstufen des Romans zeigen, nicht nur mit einem »Psychographen« geschrieben (Brief vom 2.3.1895; DÜW 2, 448), sondern auch viel Mühe auf die Formung seines Stoffes verwandt (s. Kap. 14, 36).

Emma leidet, Anna liebt, Effi lügt Im europäischen Vergleich hinkt Effi Briest den vorhergehenden Ehebruchsromanen von Gustave Flaubert (Madame Bovary, 1856/57) und Leo Tolstoi (Anna Karenina, 1877/78) zumindest literaturgeschichtlich hinterher (s. Kap. 3). Fontane sei, so heißt es, kein »immuner Erzähler« wie Flaubert (Koppenfels 2007), und wir würden Anna Karenina viel häufiger über ihre Gefühle nachdenken sehen als Effi (Wood 2011, 101). Die Unterschiede zwischen den drei großen Frauenromanen des 19. Jahrhunderts hat Wolfgang Matz auf den emotionalen Punkt gebracht: Während Emma an ihrer Passion leide und Anna wahrhaft liebe, betreibe Effi ein Spiel von affektiven Selbsttäuschungen und Lügen. Matz liest Fontanes Figuren gegen den Strich. »Effi ist zwar jung und charmant, aber weder klug noch sympathisch; sie spielt und verliert.« »Innstetten spielt nicht. Vielleicht ist er so trocken, wie ein Ministerialrat nun einmal sein muss, aber er ist klug, er ist lernfähig und er verdient jede Sympathie.« Crampas ist »frauenverschleißender Bonvivant, aber auch liebevoll-ernster Verantwortungsethiker« (Matz 2014, 186, 192). In diesem Sinne ist man gut beraten, den Gefühlen, die Fontanes Figuren zeigen und aus-

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sprechen, nicht unbesehen zu trauen. Sie sind »unterhaltlich«, aber »unzuverlässig« (157) und können Gegenteiliges, ja Widersprüchliches bedeuten. Diese vielstellige emotionale Symbolik ist eine Spur zur literarischen Modernität Fontanes (s. Kap. 34, 41).

Effis bewegliches Gemüt Alles Wesentliche über Effi Briests Gefühle wird im Grunde schon im Eingangskapitel gesagt, von ihr selbst, von ihren Eltern und ihren Freundinnen und vom Erzähler. Sie hat »Übermut und Grazie« (6), »natürliche Klugheit und viel Lebenslust und Herzensgüte« (7), sie will »immer ’was neues« (35) und ist sich der Wirkung ihres koketten Auftretens durchaus bewusst. Im Nu kann sie sich von einem Aschenputtel in eine Prinzessin, von einem »Midshipman« (15) im Matrosenkittel in eine Dame verwandeln. Fontane spart nicht mit sympathetischen Vorschusslorbeeren für seine kaum 18-jährige Heldin. Die Frage ist, wie viel »kluger Berechnung« diese Gefühle (29) bedürfen. Das »Naturkind« (41) Effi ist fasziniert von romantischen Kunstballaden und Schauergeschichten, »halb ängstlich, halb begierig« (53) sind ihre Lektüren im Sinne der joy of grief, der Wonne der Wehmut. Sie ist »mitteilsam und verschlossen zugleich« (42), sie hat »’was Rabiates« und ist dennoch »weich und nachgiebig« (44). Sie empfindet nicht viel, wenn sie von »Zärtlichkeit und Liebe« (35) spricht, und liebt immer das, »was liebenswert ist« (72); sie bekennt, dass sie »keine« Grundsätze hat (38), und spielt Versteck nicht nur aus Spaß, sondern später auch, um ihre Affäre mit Crampas zu verbergen. Lachen folgt oft in einem Atemzug mit Weinen. Das Einzige, was sie »nicht aushalten kann, ist Langeweile« (35). Effi, das »arme Kind«, ist eine an Gefühlen und »Sehnsucht« reiche Person (47), ein »Simultanbild« (Graevenitz 2004, 603) »beweglichen Gemüts« (103), die »allerhand Widerstreitendes« (202) in ihrer emotionalen Erscheinung und Selbstwahrnehmung aufweist.

Emotionale Turbulenzen am Ehebett Ehebruch und -vollzug im Roman des bürgerlichen Realismus waren eingebettet in ein symbolisches Verweissystem (s. Kap. 24). Dass Effi im Ehebett möglicherweise Gewalt hätte erdulden und mit Crampas sexuelle Erfüllung hätte finden können, hat Hermine Huntgeburth mit ihrer Verfilmung des Romans (2009)

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in expliziten Liebesszenen gezeigt (s. Kap. 20). »Dieses Gefühl«, sagt Effi, nachdem sie zum ersten Mal mit Crampas geschlafen hat, »ist das jetzt Liebe?« »Nein«, sagt Crampas, »das ist Freiheit« (Huntgeburth 2009, 1:04:25–34). Über die Reduktion der Komplexität des literarischen Gefühls auf einen Liebeswortwechsel in Großaufnahme – die eine Affektaufnahme ist – lässt sich gewiss streiten. Interessant ist indessen, wie Fontane seine Figuren an entscheidenden Stellen des Romans emotional behandelt und wie er damit die fiktionalen Emotionen der Figuren wie auch die Artefakt-Emotionen – damit ist Wertschätzung oder Kritik am Kunstwerk gemeint – steuert (Tan 1994; Poppe 2012, 12). Das 18. Kapitel markiert die Glückswende. Es spielt vor der ›Katastrophe‹, also vor dem Ehebruch. In diesem Kapitel findet eines der Ehe-Gespräche statt, in denen der Erzähler den Gefühlen Effis weitgehend freien Lauf lässt. Ähnliche Gespräche sind über den ganzen Roman verteilt, sie werden mit Effi (mit der Mutter im 4. und 36., mit dem Vater im 15. Kapitel) und ohne sie (im Elterndialog im 5. und 34. Kapitel) geführt. Gerade – so die Handlung – ist das Ehepaar von Innstetten von einem geselligen Abend heimgekehrt. Effi hat die Hauptrolle bei einer Privataufführung von Wicherts Volksstück Ein Schritt vom Wege (1871) gespielt. Der Titel des Stücks – den Gustaf Gründgens 1939 leicht abgewandelt als Titel für die erste Effi Briest-Verfilmung gewählt hat (Der Schritt vom Wege) – ist natürlich ein Wink mit dem Zaunpfahl. Doch die Bedeutung des »Schritts vom Wege« liegt jenseits eines übercodierten »Kassandrablick[s] in die Zukunft« (180). Effi hat in ihrer Bühnenrolle durchaus überzeugt, sie hat reizend ausgesehen, wirkungsvoll gespielt, und um genau diese Artefakt-Emotion, um die emotionale Wirkung des Spiels im Roman, geht es in dem Ehe-Gespräch. Es ist nach Mitternacht, Effi ist müde, Innstetten setzt sich an ihr Bett und nimmt ihre Hand. Diese Details sind für die Handlung eigentlich wenig relevant, sie stehen sozusagen außer Dienst (Wood 2000, 81), und sie sagen nicht unbedingt etwas über die Liebesgefühle der Figuren aus, umso mehr aber über die Vieldeutigkeit dieser Gefühle. Innstetten lobt seine Frau. Das scheint ehrlich gemeint zu sein, wenn auch übertrieben und eine Spielart von Stendhals amour de vanité: Er besitzt seine »schöne Frau, wie man ein schönes Pferd besitzt« (Neumann 2001, 55). Effi hingegen fühlt sich umlauert. Der Subtext dieses Gesprächs ist eine Vertrauens- und Gewissensprobe. Effis Angst spielt mit und Innstettens Absicht, sie zum ›richtigen Gefühl‹ zu erziehen. Innstetten ist da-

bei recht gönnerhaft, aber er ist kein »Liebhaber« (119) und ein Angstmacher nur aus Crampas’ Sicht (156). Es ist schon merkwürdig, wie ungeschützt Innstetten vor seiner Frau von der Passion des »armen Crampas« für seine Frau spricht. Ist er sich Effis so sicher, dass er blindes Vertrauen über seine Eifersuchtsanwandlungen stellt (vgl. 215)? Unterschätzt er Effis erotisch-emotionales Potenzial? Das gibt sein Abwärtsvergleich von Effi mit Crampas’ Frau zu erkennen: »Du könntest ja auch so sein wie die arme Frau Crampas« (171). Crampas’ Frau ist krank, sie hat aber der Aufführung von Wicherts Stück offenbar beigewohnt (»der arme Crampas war wie befangen dadurch und mied Dich immer und sah Dich kaum an [...], er traute sich heute nicht, er fürchtete sich vor seiner Frau«, sagt Innstetten; 171) und dabei offensichtlich das getan, was Innstetten nicht will: des Partners potenziellen Schritt vom Wege argwöhnisch beobachten. Effi indessen nimmt den Vergleich an – und ihr Schicksal im Grunde vorweg, wenn sie ihrem Mann antwortet: »Die arme Majorin ist unglücklich« (171).

Effis Unglück im Glück Unglücklichsein ist die andere Seite der Sehnsucht nach Glück. Auch das Glück hat eine Geschichte. In Fontanes Roman steht es an einem Wendepunkt. Glück wird literarisch ein Sehnsuchtswort, das, abgelöst von einem übergeordneten Glücksziel, dem »richtigen Gefühl«, von dem Fontane nur noch die Theologen und Pfarrer reden lässt (258), nunmehr ins Individuum versenkt und mit wechselnden Affektivitäten gefüllt wird (Wellbery 2008, 31). Effi durchlebt einen vielfachen Kursus an Emotionen. In der zweiten Romanhälfte wird auf dem Weg von Schuld, Angst, »schlechte[m] Gewissen« (174), Scham über ihr »Lügenspiel« (258), Fehlen rechter Reue, Tugendekel (vgl. 325), Hass gegenüber ihrem Ex-Mann und ihrer Tochter bis zum Verzeihen und zur Versöhnung kaum ein Gefühl ausgelassen, das in einem Liebespassionsleben möglich ist. Effis Sehnsucht besteht in ihrem Hang zu Abenteuer und Risiko wie auch in ihrer Lust an Geselligkeit, in ihrem Heimweh nach Hohen-Cremmen und zugleich in ihrem Fernweh (sie sieht gerne fahrende Züge), im Erreichen ehrgeiziger Ziele, aber auch im Anspruch, geliebt und zärtlich behandelt zu werden. Das alles ist bezeichnend für die im ernsten wie auch ironischen Sinn ›arme Effi‹. Der Roman Effi Briest ist nach Goethes Wahlverwandtschaften (1809), mit dem er schon zu Lebzeiten Fontanes verglichen

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wurde, der vielleicht reichste Roman in der Geschichte des Gefühls im 19. Jahrhunderts. Wenn der Erzähler, selten genug, von Effis wahrhaft glücklichen Gefühlen spricht, benutzt er übrigens das Attribut »schön«. Ein »schönes Gefühl« (197) bemächtigt sich ihrer, als sie die Rettung schiffbrüchiger Seeleute zwei Tage nach Neujahr beobachtet; und ein ähnliches »schönes Gefühl« (214) wird ihr zugestanden, als sie bei der Nachricht ihres Umzugs nach Berlin, der ja den Wegzug von Crampas bedeutet, vor Innstetten niederkniet und »in einem Ton, wie wenn sie betete«, sagt: »›Gott sei Dank!‹« Hier wird das Schuldbekenntnis mit einer religiösen Formel verkappt, die weniger sagt, als sie sagen kann – ähnlich wie Kleists Marquise von O... (1808) –, aber mehr sagt, »als sie sagen durfte« (214).

Nervöse Gefühle in Geschichten Was Effi sagen kann von ihren Gefühlen, wird oft ausgelagert in Geschichten und Inszenierungen (s. Kap. 14, 36). Diese Gefühlsgeschichten sind »Lehrstück[e] über kopierte und kupierte – beschnittene – Gefühle« (Wertheimer 1996, 134; s. Kap. 35). Die »zitatgezündeten Passionen« Effis seien trübe Wunschmuster der spätbürgerlichen Gesellschaft, »Imitation, Replik, ›Fake‹ eines abwesenden Originals«, argumentiert Neumann (2009, 226). So wird die emotionale Vorgeschichte ihrer Ehe – ihre Mutter hatte Innstetten seinerzeit aus Standesgründen abgewiesen – abgeschoben in eine »Liebesgeschichte mit Held und Heldin, und zuletzt mit Entsagung« (9). Das »ist ja wie sechs Romane« (53), sagt Effi über die interkulturelle Gesellschaft in der Provinzresidenz Kessin: »Es klingt erst spießbürgerlich und ist doch hinterher ganz apart« (53). Vor dem »Aparten« solle Effi sich hüten (100–101), heißt es wiederum an anderer Stelle, es raube einem das Glück. Effi reagiert empathisch auf Lektüren (s. Kap. 33), von einem Liederabend ist sie »wie benommen« (107; s. Kap. 32), nach Lektüre des Trennungsbriefs von ihrer Mutter bricht sie »ohnmächtig zusammen« (300), eine Kapitulation des Gefühls vor der sozialen Praxis. Im Liebescode der deutschen Realismus-Literatur (s. Kap. 2, 24) sind es solche gestische Formeln von Unsicherheit und Labilität, die eine Sprache für die Gefühle stiften. Effis Zittern auf der Schlittenfahrt mit Crampas im 19. Kapitel ist eines der auffälligsten Zeichen (vgl. Wertheimer 1996; s. Kap. 35). Es gehört in die Registratur der nervösen Charaktere, die wenige

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Jahre nach Effi Briest die Literatur um 1900 bevölkern, bei Thomas Mann und Arthur Schnitzler etwa. Mit dem ›nervösen‹ Innstetten (120) beginnt die neurasthenisch interessierte Moderne. Die Verwandlung des schneidigen Husaren, der von Effis Onkel als »Zärtlichkeitsmensch« (143) gewürdigt wird, in den frostigen Landrat mit kantischem Pflichtethos (s. Kap. 29) vollzieht sich hinter den Kulissen einer nervösen Moderne. Nervös ist auch der Apotheker Gieshübler, der nach dem Antrittsbesuch bei Effi ihr »nun am liebsten gleich eine Liebeserklärung gemacht und gebeten [hätte], daß er als Cid oder irgend sonst ein Campeador für sie kämpfen und sterben könne. Da dies alles aber nicht ging und sein Herz es nicht mehr aushalten konnte, so stand er auf, suchte nach seinem Hut, den er auch glücklicherweise gleich fand, und zog sich, nach wiederholtem Handkuß, rasch zurück, ohne weiter ein Wort gesagt zu haben« (74).

Der Chinese und die ›ängstliche Moderne‹ Gieshübler ist vielleicht der einzige Mann in Fontanes Roman, der Effi liebt, aber er hat keine Worte für seine Gefühle. Die hätte er von der Psychoanalyse (s. Kap. 39) bekommen können. In der Forschung herrscht Einigkeit darüber, dass Fontane Freuds Erkenntnisse literarisch vorweggenommen hat (Chambers 2003, 104–107). In kulturhistorischer Form nimmt das Graevenitz’ These von der ängstlichen Moderne auf. Er geht davon aus, dass Fontane die Angst seiner Zeit vor der Modernisierung und dem Tempo des sozialen Wandels nur auf der Oberfläche, nicht in der Tiefenstruktur dargestellt habe, dass aber auf dieser Oberfläche Spuren eines ›kollektiv Imaginären‹ haften, die aus der Phantasie, der Imagination und der Vorstellungskraft entspringen. Fontane gestalte dieses ›kollektive Imaginäre‹ als Medium einer ängstlichen Moderne, die in »kleinen Symptomen« das Erschrecken der Gesellschaft vor den großen Modernisierungsschüben zeige: »Ein Zuruf, ein Stück Verbandsstoff, ein verwehtes Balladenzitat, ein groteskes Bonmot sind in Fontanes beiden Hauptwerken Effi Briest und Der Stechlin die mikroskopischen Symptome unentrinnbarer Angst und allgegenwärtiger Schrecken« (Graevenitz 2004, 42–43). In diese ›Angst-Psychologie‹ des Imaginären gehört auch die Geschichte des Chinesen in Effi Briest, der »Effis psychische Disposition, ihr Befinden in Hohen-Crem-

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men und in Kessin, das Dreiecksverhältnis zwischen ihr, ihrem Mann und ihrem Liebhaber, diese[n] als Eindringling in ihre Ehe und später ihre Schuld« (Grawe 1998, 112) darstellt. Der Chinese (s. Kap. 22) übt die stärksten und am meisten ambivalenten Gefühlsreize auf Effi aus, er ängstigt und fasziniert sie, er ist Medium der Emotionskontrolle für Innstetten und zugleich Kalkül der Verführung von Crampas (vgl. Dotzler 2011), ein mächtiges Relikt aus dem »imaginären Tiefenraum der Gesellschaft« (Begemann 2018, 241) und ein Testfall für das Immunsystem einer ängstlichen Moderne.

Am Ende zu viel Gefühl? Fontanes Roman endet mit der Beruhigung der Emotionen, »Ruhe, Ruhe« sind Effis letzte Worte (348), bevor sie zur ewigen Ruhe in den elterlichen Garten gebettet wird. Dem Schlusskapitel sind oft sentimentale Verklärung und resignative Versöhnung vorgehalten worden. Und das ist nicht ganz falsch. Das letzte Gespräch der Eltern über ihr totes Kind ist eine Kapitulation jenes Gefühls, dem im 32. Kapitel als »natürlichem, wohl dem schönsten unserer Gefühle« Recht gesprochen wird (320): der elterlichen, genauer gesagt: der mütterlichen Kindesliebe. Effis Eltern sind ratlos und wortlos, es bleibt der treue Hund Rollo, den der Erzähler den Kopf »schütteln« lässt (350). Mit anderen Worten: Alle Gefühle, die der romantischen Liebe in der Ehe vorbehalten waren, sind nun zum Faktor des ›kollektiv Imaginären‹ geworden. Aber es geht auch anders. Hermine Huntgeburths Effi Briest-Film lässt Effi überleben und als selbstbewusste Frau das Geschehen – und ihre Vergangenheit – verlassen (s. Kap. 20). Wir sehen in der ersten Schluss-Sequenz Effi im Berliner Kurcafé Unter den Linden. Ihre Eltern offerieren ihr Verzeihung und Heimkehr ins Elternhaus. Effi zündet sich unter den perplexen Blicken ihrer Eltern eine Zigarette an und lehnt das Angebot ab: »Kann schon sein, dass die Gesellschaft auch schon mal ein Auge zudrücken kann, Papa. Ich kann es nicht!« (Huntgeburth 2009, 1:46:16– 21) Die zweite Schluss-Sequenz zeigt Effi, wie sie die Allee Unter den Linden überquert (ebd., 1:47:00– 1:48:06). Ihrem beschwingten Gang, dem erhobenen Haupt und dem offenen roten Schal kann man das neu gewonnene Selbstbewusstsein ablesen. Im kurzen Gegenschnitt sieht man Innstetten neben seiner Kutsche, zugeknöpft, dunkel gekleidet wie am Anfang, den starren Blick auf Effi gerichtet (ebd., 1:47:34–37), die

ihn ihrerseits keines Blickes würdigt. Aus Innstettens Perspektive, also aus der ›alten Zeit‹, sehen wir am Ende, wie Effi unter den Passanten auf der gegenüberliegenden Straßenseite verschwindet. Diese Assoziationsmontage entwirft eine moderne Effi, die in ein neues Leben und eine neue Zeit geht. Der Film zeigt die Bilder dieser Emanzipation, für die der Roman 1895 noch kein Vokabular hatte. Literatur Anz, Thomas: Kulturtechniken der Emotionalisierung. Beobachtungen, Reflexionen und Vorschläge zur literaturwissenschaftlichen Gefühlsforschung. In: Karl Eibl/ Katja Mellmann/Rüdiger Zymner (Hg.): Im Rücken der Kulturen. Paderborn 2007, 207–239. Aust, Hugo: Theodor Fontane. Ein Studienbuch. Tübingen/ Basel 1998. Begemann, Christian: »Ein Spukhaus ist nie was Gewöhnliches ...«. Das Gespenst und das soziale Imaginäre in Fontanes ›Effi Briest‹. In: Peter Uwe Hohendahl/Ulrike Vedder (Hg.): Herausforderungen des Realismus. Theodor Fontanes Gesellschaftsromane. Freiburg 2018, 203–241. Chambers, Helen: Fontanes Erzählwerk im Spiegel der Kritik. 120 Jahre Fontane-Rezeption. Würzburg 2003. Dieterle, Regina: Theodor Fontane. Biografie. München 2018. Dotzler, Bernd: »diese ganze Geistertummulage«. Thomas Mann, der alte Fontane und die jungen Medien. In: Ders.: Diskurs und Medien III. Philologische Untersuchungen von Medien und Wissen in literaturgeschichtlichen Beispielen. München 2011, 196–211. Downes, Daragh: Effi Briest. In: FHb, 633–651. Grawe, Christian: Theodor Fontane: Effi Briest. Frankfurt a. M. 71998. Graevenitz, Gerhart von: Theodor Fontane: ängstliche Moderne. Über das Imaginäre. Konstanz 2014. Helmstetter, Rudolf: Literarisch induzierte Liebe und »salonmäßig abgedämpfte Liebe«. Theodor Fontanes ›Effi Briest‹. In: Reingard M. Nischik (Hg.): Leidenschaften literarisch. Konstanz 1998, 229–251. Huntgeburth, Hermine: Effi Briest. Film. Deutschland 2009. Kant, Immanuel: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798). In: Ders.: Werkausgabe Bd. XII. Hg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt a. M. 1977, 399–693. Koppenfels, Martin von: Immune Erzähler. Flaubert und die Affektpoetik des modernen Romans. München 2007. Labouvie, Eva: Leiblichkeit und Emotionalität: Zur Kulturwissenschaft des Körpers und der Gefühle. In: Friedrich Jaeger/Jörn Rüsen (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 3: Themen und Tendenzen. Stuttgart/Weimar 2014, 79–91. Mann, Thomas: Anzeige eines Fontane-Buches (1919). In: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. XI: Reden und Aufsätze 2. Frankfurt a. M. 1990, 573–584. Martini, Fritz: Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus 1848–1898. Stuttgart 31974. Matz, Wolfgang: Die Kunst des Ehebruchs. Emma, Anna, Effi und ihre Männer. Göttingen 2014.

45 Emotionsforschung Müller-Seidel, Walter: Theodor Fontane. Soziale Romankunst in Deutschland. Stuttgart 1975. Neumann, Gerhard: Lektüren der Liebe. In: Heinrich Meier/ Gerhard Neumann (Hg.): Über die Liebe. Ein Symposion. München 2001, 9–80. Neumann, Gerhard: »Eigentlich war es doch ein Musterpaar«. Die trübe Passion der Effi Briest. In: Karl Heinz Götze u. a. (Hg.): Zur Literaturgeschichte der Liebe. Würzburg 2009, 221–240. Plamper, Jan: Geschichte und Gefühl. Grundlagen der Emotionsgeschichte. München 2012. Poppe, Sandra: Emotionsvermittlung und Emotionalisierung in Literatur und Film. In: Dies. (Hg.): Emotionen in Literatur und Film. Würzburg 2012, 9–29. Reinhardt, Hartmut: Die Wahrheit des Sentimentalen. Bemerkungen zu zwei Romanschlüssen bei Theodor Fontane (›Frau Jenny Treibel‹ und ›Effi Briest‹). In: Wirkendes Wort 29, H. 5 (1979), 318–326.

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Michael Braun

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46 Subjekt- und Identitätstheorien Perspektive Wer Effi Briest aus Sicht der Subjekt- und Identitätstheorien lesen oder interpretieren will, steht zunächst einmal vor der Herausforderung, welchen Subjektbegriff er dafür benutzt. Eine Möglichkeit, Fontane zu lesen, wäre, den Subjektbegriff zu nehmen, der seiner Zeit wohl am nächsten kommt. Das würde heißen, Effis Identitätsentwicklung entlang einer Subjektvorstellung zu rekonstruieren, die sich – ganz im Zeichen der ersten Moderne – an Parametern wie »Einheit«, »Kohärenz«, »Kontinuität«, »Erwartbare Normalbiographie«, »geschlechtsspezifische Arbeitsteilung«, »Soziale Sicherungssysteme« oder »klar definierte Geschlechterrollen« orientiert (vgl. Keupp/Hohl 2006, 8). Aus dieser Perspektive gelesen, gehört Effis »Identitätsbegehren« (Keupp, zit. nach Huber 2008, 12) in eine Zeit, in der der moderne Mensch sein Leben noch mehr als »Pilger« (vgl. Bauman 1997, 136) gemeistert hat, geprägt von Fleiß und starken Normen. Und wenn sein Leben auch nicht leicht war, so war es doch an einem Ziel orientiert. Der Lohn dafür: gesellschaftliches Ansehen sowie die Planbarkeit der eigenen Biographie inklusive der Planbarkeit einer Karriere, eingebettet in klaren gesellschaftlichen Bedingungen und Erwartungen. Baron von Innstetten – der »Mann von Grundsätzen« (38) – verkörpert diesen Typus eines Subjekts der ersten Moderne en détail. Eine solche Perspektive lässt jedoch den gegenwärtigen Leser außen vor, dessen Identitätsbewegung – folgt man den aktuellen Subjektdiskursen (vgl. Keupp/Hohl 2006) – mehr dem Bild eines ›Flaneurs, Spielers und Touristen‹ (Bauman 1997) gleicht. Er muss seine Identität nämlich innerhalb einer zweiten Moderne realisieren. Und hier gilt es im Rahmen einer lebenslangen »Identitätsarbeit« (Keupp/Höfer 1997) eine eigene Passung zwischen individuellem Identitätsbegehren und den sich ständig wandelnden gesellschaftlichen Bedingungen auszuhandeln. Kritiker dieser gesellschaftlichen Zustände beobachten zunehmend unvorhersehbare biographische Fallhöhen und die Erwartung, seine Passung immer flexibler gestalten zu müssen, was zur Folge hat, dass das Subjekt der zweiten Moderne nicht nur Gefahr läuft, sich im Strudel vielfältiger, locker angelegter Identitätsentwürfe und -projekte zu verlieren, sondern auch eine »Fixeophobie« (Bauman 1997, 194) auszubilden, eine chronischen Angst, sich festlegen zu müssen. Denn was dem Subjekt der ersten Moderne das normative Sollen in Bezug auf Gehorsam-

keit und Anstand war, ist dem Subjekt der zweiten Moderne das strukturelle Sollen an Flexibilität und Anpassung, ohne dass es dabei auf lange Erfahrungen der vorhergehenden Generationen zurückgreifen kann. Es muss sich notwendigerweise tastend in seiner Lebenswelt einrichten und seine soziale Verortung improvisieren und immer wieder neu ausloten. Während Subjektkonzepte, die mehr in die Entstehungszeit von Fontantes Effi Briest zeigen, noch eine Identität mit einem ›Kernsubjekt‹ kennen, verweisen gegenwärtige Identitätskonzepte mehr auf die Situation der »Kontingenz«, der »Diskontinuität«, der »Fragmentierung« und der »Reflexivität« (vgl. Keupp/Hohl 2006, 15). Im Diskurs der Subjekttheorien ist diese Diskussion noch nicht abgeschlossen. Aber wir werden sehen, dass Fontanes Effi – aus Sicht einer spätmodernen Lesart – durchaus zwischen beiden Polen oszilliert, und genau das macht Effi Briest auch für den gegenwärtigen Leser immer noch zu einem interessanten und ergiebigen Schauplatz, an dem sich die Frage der Identität verhandeln lässt (s. Kap. 1, 4, 20, 24, 26, 34, 40).

Welche Effi? Bevor wir uns exemplarisch verschiedenen Modellen widmen, mit deren Hilfe sich Effis Identitätsbegehren rekonstruieren lässt, sei vorab noch ein methodischer Fokus gesetzt. Die Frage ist, ob man Effis Identität als ›papercase‹ behandelt, d. h. ihr Leben wie eine erzählte, verschriftete Biographie liest und interpretiert, oder ob man auch die Ebene mit berücksichtigt, wie Fontane die Figur ›Effi‹ im Rahmen seiner Erzählung konstruiert, d. h. mit welchen Ausdrücken und Begriffen er sie in Szene setzt und welche Entwicklungsräume er Figur und Erzähler lässt (s. Kap. 28, 41). Auch wenn beide Aspekte in einem kunstvollen Werk fast bis zur Unsichtbarkeit ineinander verwoben sind, so ist die Perspektive doch je eine andere. Im ersten Fall analysieren wir an Effi Briest exemplarisch die Grenzen der Identität als Frau im Kontext preußischer Gesellschaft (s. Kap. 4, 43). Wer so auf den Roman blickt, beschreibt anhand von Effis Schicksal in erster Linie die Grenzen und Möglichkeiten des Frau-Seins innerhalb einer bestimmten Gesellschaft, nicht aber die Intention des Autors oder die Konstruktion von Identität im Werk. Im zweiten Fall analysieren wir, wie der Autor (mutmaßlich) will, dass sich Effi in der Geschichte entwickelt und welche formalen und inhaltlichen Kunst-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2019 S. Neuhaus (Hg.), Effi Briest-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04874-5_46

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griffe er dafür benutzt. Die Frage muss also heißen: Welche Effi lesen wir? Effi, die ›Eine von Briest‹ war, zur ›Baronin von Innstetten geb. Briest‹ wurde und am Ende wegen eines fast verjährten Ehebruchs als Effi Briest ohne ›von‹ gestorben ist? Oder die von Fontane inszenierte ›Effi Briest‹, der an ganz bestimmten Stellen andere Figuren, Räume, Gegenstände, Attribute oder Bezeichnungen zur Seite gestellt werden, um so ihre Identität zu konstruieren? Nur letztere Perspektive wird auch hinreichend Aufschluss darüber geben, wie sich auch der (spätmoderne) Leser in die Geschichte hineinerzählen kann, wie auch er seine Identität unbewusst im Roman zur Verhandlung bringen kann. Die folgenden Darstellungen wollen daher exemplarisch Effis Identitätskonstruktion aus Sicht verschiedener Identitätsmodelle und -theorien vorstellen, vorbehaltlich dessen, ob Fontanes ›Kunstgriffe‹ im Einzelnen eher bewusster oder unbewusster Natur waren. Eine ausführliche Untersuchung, wie sich personale Identität im Spannungsfeld zwischen autobiographischer Erzählung und ihrer Passung mit einem bestimmten literarischen Werk gestaltet, habe ich bereits an anderer Stelle vorgelegt (vgl. Huber 2008).

Erzählte Identität Ein erster Zugang und eine gut erforschte Methode, Identität zu rekonstruieren, bietet sich aus der Sicht der narrativen Psychologie. »Auf die Frage ›wer?‹ antworten, heißt [...] die Geschichte eines Lebens erzählen«, weiß Paul Ricœur (1991, 395) und beschreibt damit die Essenz des narrativen Paradigmas, das davon ausgeht, dass Subjekte einen Großteil ihres Erlebens in Form von Geschichten strukturieren, speichern und verarbeiten (s. Kap. 36, 37, 38, 40). Erzählen ist in gewisser Weise der Modus, in dem wir unsere Identität verhandeln, immer dann, wenn wir z. B. davon sprechen, dass diese oder jene Zeit ein besonderes Kapitel unseres Lebens beschreibt. Weniger klar ist in diesem Diskurs, ob wir diese Narrative als sogenannte »root metaphor« (Sarbin, zit. nach Huber 2008, 34) benutzen, um unsere Erlebnisse zum besseren Verständnis für uns und andere aufzubereiten, oder ob unser Gehirn Erlebnisse tatsächlich in narrativen Strukturen organisiert, wie Barbara Hardy es formuliert, wenn sie schreibt: »Wir träumen narrativ, tagträumen narrativ, erinnern, antizipieren, hoffen, verzweifeln, glauben, zweifeln, planen, revidieren, kritisieren, konstruieren, klatschen, hassen und lieben in narrativer Form« (zit. nach Huber 2008, 34).

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Wenn man also davon ausgeht, dass Identität grundsätzlich narrativ strukturiert und konstruiert wird, lassen sich auch die Erfahrungen der Erzählforschung – vor allem der autobiografischen Erzählforschung (vgl. Lucius-Hoene/Deppermann 2004) – auf die Rekonstruktion von Identität anwenden. So lässt sich Effis Identität beispielsweise auf die Frage der ›Erzählbarkeit‹ hin analysieren. Denn Identität, so die Annahme, die sich nicht nur in Verstehbarkeit, sondern auch in Anerkennung hineinerzählen will, muss bestimmte formale und inhaltliche Regeln erfüllen, damit sie für andere verhandelbar bleibt. Dabei kommt dem Zuhörer eine wesentliche Rolle zu. So werden die anderen Figuren im Text, denen Effi ihr Leben – resp. Ausschnitte davon – erzählt, zum Co-Autor ihrer Identitätserzählung und ihre Erwartungen schreiben Effis Identitätsempfinden wesentlich mit. Ein schönes Beispiel, wie diese narrative Verhandlung von Anerkennung in Effi Briest konstruiert wird, liefert Kapitel  30, in dem Effi und die Geheimrätin Zwicker auf ihrer Kur in Ems sich jeweils in vorsichtiger Annäherung »schmerzliche« (297) Kapitel ihres Leben anvertrauen – eine Szene, die nicht zufällig dadurch unterbrochen wird, dass Effi durch einen Brief von dem Bruch mit ihrem bisherigen Leben in Kenntnis gesetzt wird. Eine Zäsur, die sich plötzlich nicht so einfach und offen erzählen lässt und hier auch die Grenzen der Erzählbarkeit und damit der gesellschaftlichen Anerkennung deutlich macht. Dem Wissen der autobiographischen Erzählforschung folgend (vgl. Lucius-Hoene/Deppermann 2004) ließe sich weiter fragen, ob Effi überhaupt Autorin, zumindest Co-Autorin oder aber nur Darstellerin ihrer eigenen Identitätsgeschichte ist und inwieweit andere Charaktere wie ihr Ehemann, soziale Zwänge oder psychisch verinnerlichte Repräsentanzen wie das Wertebild ihrer Mutter ihre Identität mitschreiben. So erhält die Szene, in der sich Effi als Hauptdarstellerin im Bühnenstück (168) hervorbringt, aus Sicht der Identitätstheorie eine ganz eigene Bedeutung. Denn in der Rolle als Ella kann sie sich zum ersten Mal im Erwachsenenleben in einer anderen als den bisher bekannten Rollen als Frau erfahren und Identität – zumindest vorübergehend – als etwas Spielerisches und Formbares erleben, mit dem sie sich sogar in die Anerkennung der Gesellschaft hineinerzählen kann. Sie kann spielerisch sein, ohne ein ›Kind‹ zu sein, was ihr häufig genug indirekt oder direkt in der Erzählung attestiert wird. Doch dort auf der Bühne gehen Spiel und Anerkennung zusammen. Nimmt man diese Szene der gesellschaftlich gedulde-

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ten Wandelbarkeit als Ausdrucksform einer Probehandlung von Identität ernst, zeigt sich, dass nicht allein die frühe eheliche Bindung oder die systemische Bürde, die Fortsetzung der Liebesgeschichte ihrer Mutter mit Innstetten zu sein, eine schicksalsbahnende Funktion in der Erzählung haben, sondern eben auch das temporäre Erleben eines anderen Identitätsgefühls. Denn sowohl auf der Bühne als auch in Crampas’ Armen kann sich Effi anders erleben als in ihren alltäglichen Rollenzwängen – durchaus eine Verführung für eine Frau, die das ›Aparte‹ liebt. Nach preußischer Denkart wäre die Schwäche Effis also nicht allein im Ehebruch zu finden (s. Kap. 24), sondern in dem für spätmoderne Leser ganz normalen Habitus, Identitäts- und Rollenbilder ausprobieren und erproben zu wollen. Sie hätte freilich darin nicht eine Brücke von der Bühne in den Wald oder die Dünen bauen müssen, in denen sie sich intim mit Crampas getroffen hat. Und doch hat sie getan, was für den spätmodernen Leser im Sinne seiner »playing identity« (Melucci, zit. nach Keupp/Hohl 2006, 16) fast schon zur ›Normalbiographie‹ gehört: Das Ausloten einer anderen, möglichen Identität. Und genau das hat ihr Schicksal mitbestimmt. Den Habitus der ›Schauspielerin‹ wird sie beibehalten, wenn sie später die ›Komödie‹ der rheumakranken Patientin spielt, um nicht wieder nach Kessin zurückkehren zu müssen. Aus der Not heraus, niemand anderes sein zu können, hat sich also aufbauend auf dem Talent der Kindheit eine Teilidentität entwickelt, die zeitweise die Rollenerwartungen boykottiert, um noch einen Rest Handlungsfreiheit am Leben zu halten.

Effis Rondell Eine andere Perspektive auf Effis Identitätsentwicklung zeigt sich, wenn man die Zuschreibung von Rollen denen von Teilidentitäten gegenüberstellt. Während soziale Rollen stark an der geltenden Norm orientierte und schwer veränderbare Identitätsschablonen sind, spiegeln Teilidentitäten mehr das persönliche Identitätsgefühl wider und bilden das vielfältige Konstrukt um eine biographische »Kernerzählung« von Identität (vgl. Keupp u. a. 1999, 217). Das eingangs im elterlichen Garten sorgfältig beschriebene Rondell, das in der Erzählung die Klammer von Effis Kindertagen bis zur Gedenkplatte nach ihrem Tod spannt, stellt hier eine treffende Metapher dar (s. Kap. 21, 28). Denn ähnlich wie das Rondell einen Innenraum von einem äußeren abgrenzt, grenzt das Kon-

zept der Rolle durch soziale Zwänge und Erwartungen den Bewegungsraum dessen ein, der im Rondell steht. Was für den Einen Sicherheit bedeutet, weil es ihm einen klar definierten Standort zuweist, kann für eine andere Natur zur seelischen Belastung werden. Effis Schicksal ließe sich so anhand ihres Identitätsbegehrens auch entlang des Rondells als Metapher für einen Konflikt rekonstruieren, der sich eben genau zwischen jenen fest zugeschriebenen sozialen Rollen und dem persönlichen Identitätsbegehren, dem Erkunden und Entwerfen anderer Teilidentitäten aufspannt. Dafür ist es notwendig, Fontanes Zuschreibung für Effis Rollen und Identitätsbilder genauer zu analysieren. Es sei der Überschaubarkeit dieses Artikels geschuldet, dass im Folgenden nur die verwendeten Substantive und diese auch nur exemplarisch genannt sind. Eine zusätzliche Analyse der verwendeten Adjektive und Adverbien würde das Bild noch feiner rekonstruieren. Fontane verwendet im Roman u. a. folgende Beschreibungen, um seine Figur im sozialen Raum zu positionieren: »Tochter« (6), »gnädiges Fräulein« (13), »Baronin Innstetten« (47), »gnädige Frau« (59), »Hausfrau« (70), »jugendliche Dame« (75), »Große Dame« (82), »Landrätin« (ebd.), »junge Frau« (83, 124), »Frau Baronin von Innstetten geb. von Briest« (93), »gnädigste Frau« (108), »Dame« (171), »Frau von Innstetten« (260), »Frau Geheimrätin« (262), »Gattin und Mutter« (268), »Frau Landrat von Innstetten« (273), »Rätin« (290), »Junge Baronin« (305); alles Zuschreibungen, die in erster Linie den begrenzten Bewegungsraum mit all seinen sozialen Vor- und Nachteilen innerhalb des preußisch angelegten Gesellschafts-Rondells markieren. Darüber hinaus findet sich eine Reihe von Zuschreibungen, die in der Konstruktion mehr Teilidentitäten, Identitätsentwürfe oder -projekte Effis zum Ausdruck bringen (s. Kap. 41). Zum Beispiel: »Prinzessin Effi« (23, ihr Vater), »phantastische kleine Person« (32), »ein Kind, schön und poetisch« (33), »kleine Eva« (36), »Naturkind« (41), »ich armes kleines Ding« (57), »Fremde« (71), »Kind« (82), »Madame la Baronne d’Innstetten née de Briest« (111), wie eine »Gefangene« (198), »Gönnerin« (202), »verwöhntes Kind« (211), »wie eine Frau« (211), »Engel« (212), »Schuldige« (301), »schwache Christin« (345, sie selbst). Folgende Skizzen können, darauf aufbauend, exemplarisch die konstruierte Spannung von Effis Identität anhand der verwendeten Zuschreibungen verdeutlichen. Da ist zum einen die wiederkehrende Beschreibung als ›Kind‹, die zwar im erzählerischen Rückblick auf

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Kindertage passt, mit dem Eintritt in die gesellschaftliche Rolle als ›Baronin‹ jedoch ein Spannungsfeld zwischen der Erwartung der sozialen Rolle und Effis Persönlichkeit aufbaut. Selbst wenn es an der einen oder anderen Stelle spielerisch neckend oder liebevoll verwendet wird, so kommt es doch im Verlauf der Erzählung durchgehend als Beschreibung vor, bis zur Selbstbeschreibung »Ich Kindskopf!« (157), so dass an der Figur das ›Kind‹ am Ende haften bleibt. Und wenn ihr Mann ihr sagt, sie sehe aus »wie eine Frau« (211), betont das wie den Vergleich, den man aber offenbar stellen muss, weil für gewöhnlich das ›Kind‹ in ihr noch stärker ist. Ein weiterer Spannungsaufbau – ja, vielleicht gar die Essenz des Identitätskonfliktes – findet sich in der Zeitungsmeldung nach dem Duell, in dem die »Rätin« (290) im selben Atemzug als »schöne, noch sehr junge Frau« (ebd.) beschrieben wird. Würde der Leser nur diese Sequenz lesen, hätte er schon einen guten Eindruck der möglichen intendierten Konstruktion von Identität. Denn diese Meldung steht nahezu symbolisch für das Drama einer Spannung von ›sehr jung‹ und ›Rätin‹ in der Identitätskonstruktion, die am Ende vielleicht doch zu hoch war und das Immunsystem bis zum Kollaps und Effis frühem Tod herausfordert. Ein anderes Beispiel ist die soziale Rolle der ›Mutter‹, die normalerweise im Identitätsgefühl ›Mama‹ ihren individuellen Ausdruck findet (s. Kap. 23). Interessanterweise kommt Effis Zuschreibung als Mutter erst recht spät in der Erzählung zum Ausdruck, explizit das erste Mal wird »Mama« (268) in der Beziehung zwischen Effi und ihrer Tochter im Kapitel  26 erwähnt, und auch dort nur indirekt in Form eines Gedichts, das Annie für die Wiederkunft ihrer Mama vorbereitet hat. Zuvor war der Begriff Mutter immer für die Mutter-Tochter-Beziehung von Effi und ihrer Mutter reserviert. Selbst Effis Schwangerschaft wurde elegant umschrieben und nicht ausführlich behandelt. Effi wirkt dadurch in der Rolle als Mutter wie ausgeblendet. Auch der Name des Kindes kommt bezeichnenderweise nicht von ihr, sondern von ihrer Kinderfrau Roswitha (vgl. 135). Als dann das Wort Mutter im erwähnten Gedicht zum ersten Mal fällt, kommt es in der Verneinung vor: »[...] denn die gattin- und mutterlose Zeit / ist endlich von ihm genommen« (268), und steht in Bezug auf Effis Mann. Die direkte Ansprache Effis als ›Mutter‹ wird daraufhin explizit diskutiert und Johanna gibt zu bedenken, dass sie sich persönlich als »Gattin und Mutter verletzt fühlen [würde]« (269). Wenn hier noch mit dem Begriff ›Mutter‹ als anstößige Beschreibung zwischen der

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Verwendung für die eigene Tochter und dem Ehemann jongliert wird, taucht er in Kapitel 29 explizit in Bezug auf Annie – und wieder in der Verneinung – auf, wenn Geert von Innstetten seine Haushälterin anweist, Annie »allmählich bei[zu]bringen, dass sie keine Mutter mehr hat« (289). Das Verhältnis von Effi zu ihrer gefühlten Teilidentität als Mutter wird also rein sprachlich als schwierig konstruiert und erinnert in den auffälligen Verneinungen an den Begriff Martin Bubers, der im Versuch, seinen frühen Mutterverlust zu beschreiben, ein neues Wort erfinden muss, um die Negation – oder besser: die Leerstelle – seiner Erfahrung zum Ausdruck bringen zu können, und er wird dafür den Begriff ›Vergegnung‹ finden. Effi wird in ihrer Rolle als ›Mutter‹ also sehr ambivalent dargestellt. Es scheint, als mochte sie in diese Rolle nicht so recht hineinwachsen, sei es, weil sie selbst noch zu sehr ein ›Kind‹ war und ein eigenes Kind aus Sicht ihres Mannes für sie am ehesten »ein liebes Spielzeug« (115) wäre, oder ob es aus Sicht des Autors zu wenig spannungsfördernd gewesen wäre, wenn Effi in dieser Hinsicht ganz eine erwachsene Frau gewesen wäre. Dann hätte sie vielleicht mehr Verantwortung übernommen und es wäre gar nicht bis zur Tragödie gekommen. Die Erzählung will es anders wissen. Effis Identität lässt sich also recht gewinnbringend allein anhand der Zuschreibungen im Text analysieren. Aus dieser Perspektive erscheinen die Zuschreibungen dann als expliziter Kunstgriff, um Effis Identität aufzuspannen. Ein letztes Beispiel sei hier die als soziale Rolle markierte Beschreibung »Frau Baronin von Innstetten geb. von Briest« (93), der einige Seiten später die französische Übersetzung an die Seite gestellt wird: »Madame la Baronne d’Innstetten née de Briest« (111). Während Erstere klar eine soziale Rolle beschreibt, hat die französische Variante eine bestimmte konstruktive Funktion, denn sie stammt nicht von irgendeiner Person, sondern ist das Anschreiben der Künstlerin Trippelli an Effi nach der Soiree bei Gieshübler (s. Kap. 32). Sicherlich war das, was wir heute als ›Manieriertheit‹ bezeichnen, damals in pseudointellektuellen oder künstlerischen Kreisen üblich und es wäre nicht der Erwähnung wert, würde sie nicht das Identitätsempfinden Effis in ihren engen und trostlosen Tagen in Kessin kontrastieren. Denn der französische Titel ist direkt an unsere Hauptdarstellerin ›adressiert‹ und setzt damit ihre soziale Rolle in einen anderen Ton. Die Sängerin Trippelli ist als Frau nicht nur

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ein Gegenentwurf zu Effis Situation, sondern vor allem eine Frau, die offen sagen kann: »Freilich bin ich auch nie eingepreßt; Brust und Lunge müssen immer frei sein, und vor allem das Herz [...] das ist die Hauptsache« (110). Damit stellt Fontane Effi einen ganz bestimmten Typus weiblicher Identität gegenüber, der Effis Spannung in ihrem Identitätsbegehren verstärkt. Denn nach ›freiem Herzen‹ leben und sich – aus Sicht des spätmodernen Lesers – ganz als Lebenskünstlerin immer wieder neu entwerfen zu können, wäre eine andere vorstellbare Konstruktion von Identität, der Gegenentwurf einer Frau, die zwar finanziell abhängig von Mäzenen ist, aber eben doch im Herzen und in ihrem Habitus frei. Die französische Anrede Effis deutet dem Leser also an, wer Effi als Frau noch alles sein könnte, wäre da die nicht die Begrenzung des Rondells, denn ihr Schicksal ist ein anderes als das der Trippelli. Und doch zeichnet Fontane Effis Identität von Anfang an als eine kreative mit, wenn er sie als verspieltes »Naturkind« (41) einführt, eben »ein Kind, schön und poetisch« (33), das auch Anteile von einem »kleinen Genie« (239) hat. Trippellis Anrede ist genau an jene Teilidentität Effis adressiert und wenn sie später im Theater zur kleinen Heldin im Kessiner Winterprogramm der höheren Gesellschaft wird, schreibt sich diese Teilidentität fort. Auch nach dem Bruch mit Innstetten leuchtet dieser Teil von Effis Identität temporär noch einmal als Rettungsanker auf, wenn sie sich – verzweifelt von den noch schärferen Begrenzungen, die das Rondell einer geschiedenen Frau zeigt – als »Malerin« (315) entwirft, um ihre Not der sozialen Isolation zu kompensieren. Das Detail der französische Adressierung Effis wird somit zur unterstützenden Funktion in der Erzählung, um die Spannung im Identitäts-Rondell, in dem sich Effi eben auch als »Fremde« (71), »Gefangene« (198) und »Schuldige« (301) erlebt, weiter auszubauen.

Effis Zittern Verfolgt man das Konzept der Teilidentitäten (vgl. Keupp u. a. 1999, 117–125) weiter in die psychosomatische Ebene, bietet sich auch die Perspektive der EgoState-Therapie an (vgl. Fritzsche/Hartmann 2016). Konzipiert für die psychotherapeutische Praxis, geht dieses Identitätsmodell davon aus, dass unsere Psyche nicht aus einem Kernselbst besteht, sondern vielmehr eine Ansammlung von verschiedenen ›Teilen‹ ist, die sich durch einmalige Erfahrungen wie Traumatisie-

rungen oder durch kontinuierliche Prägung gebildet haben und auch unterschiedliche somatische Reaktionen zeigen. Diese Perspektive drängt sich deswegen auf, weil mit Effis ›Zittern‹ ein stark symptomassoziierter Ego-State beschrieben wird, der sich immer dann zeigt, wenn sich Umbrüche in ihrer Biographie andeuten. Jürgen Wertheimer ist diesem Phänomen (s. Kap. 35, 45) bereits in ersten Spuren nachgegangen. Es wird im Roman schon zu Anfang der Erzählung als »nervöses Zittern« (18) eingeführt, das sich dort »aber nicht auf lange« (ebd.) hält, weil die Ablenkung der gleichaltrigen Freundinnen dort noch als entspannendes Regulativ greift. Man könnte mit Blick auf die Psychosomatik also sagen: In der Zeit vor ihrer Eheschließung hatte Effi schon einen unbewusst und unwillkürlich erregbaren Persönlichkeitsanteil ausgebildet, der sich aber (noch) rasch regulieren ließ. Folgt man diesem Anteil durch Effis Identitätsentwicklung im weiteren Verlauf der Erzählung, lässt er sich als Muster in unterschiedlichen Szenen wiederfinden – z. B. in der Erinnerung an die Spuknacht im Kessiner Haus: »so zittere ich« (108) – und erinnert den Leser daran, dass es da einen Wesenszug in Effi gibt, der schon sehr lange in ihrer Identität beheimatet ist und seine eigene Geschichte hat. Die Tatsache, dass die Erzählung offen lässt, wann dieses Phänomen zum ersten Mal in Effis Leben erschienen ist, kann durchaus als Beispiel für eine der in diesem Werk so kunstvoll gesetzten Leerstellen interpretiert werden. Als Effis Identität mit der Teilnahme am Theaterstück in Richtung einer ›Patchwork-Identität‹ (Keupp 1999) dann in Bewegung kommt, zeigt sich ein leicht verändertes Symptom. Effi fühlt sich bei der Einladung, Ella zu spielen, »wie elektrisiert« (168). Möglicherweise ist dieser Ausdruck sorgfältig unterschieden vom Zittern, so als würde sich hier noch einmal die Chance auf eine Veränderung ergeben, deren Einladung Effi schicksalhaft bis in die Affäre mit dem »Damenmann« (122) Crampas folgt. Und der Leser könnte das Symptom als Vorwegnahme einer Körpererfahrung deuten, der man sich hingeben muss, weil sie sich nicht mehr steuern lässt. Das nächste Mal taucht das Zittern bei der winterlichen Waldfahrt auf, bei der sich Crampas im Moment der Gefahr, im Schloon steckenzubleiben, ihres Schlittens annimmt (vgl. 189). Und jetzt springt das Symptom auch auf ihn über, denn auch seine Stimme »zitterte« (190) hier zum ersten Mal und ein letztes Mal, als er vom Duell erfährt (vgl. 282), das sein Leben beenden wird. Das Symptom hat sich hier zum ersten Mal übertragen.

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Zurück zu Effi. Als schließlich der Umzug nach Berlin feststeht, »zitterte« (214) »ihr ganzer zarter Körper« (ebd.) und an der Schwelle zur neuen Wohnung taucht das Zittern »vor Erregung« (239) erneut auf. Zittern ist also ein Schwellensymptom, das sich immer dann zeigt, wenn ein Umbruch in Effis Leben bevorsteht. Im Berliner Alltag angekommen gibt es dann immer noch Augenblicke der Rückschau, wo es »in ihr nachzitterte« (244). Auf der gemeinsamen Reise mit ihrem Mann in den Norden wechselt dann das Symptom. Jetzt ist es die Landschaft, die ›zittert‹, die »stille, vom Mondschein überzitterte Bucht« (246). Was auf den ersten Blick, isoliert betrachtet, als eine nicht so ganz gelungene lyrische Beschreibung einer Landschaft anmutet, zeigt sich hier möglicherweise als bewusst gewähltes Detail. Denn der Mond – Ursymbol des Weiblichen – hat jetzt das individuelle Symptom aufgenommen. Es ist, als wollte der Roman, indem er das individuelle ›Symptom‹ auf die Landschaft erweitert, sagen: Jetzt hat sich das innere Schicksal Effis bis zum Himmel erhoben. Ihm ist damit nicht mehr zu entfliehen. Und es ist das letzte Mal, dass das Zittern noch erwähnt wird. Doch jeder Mondschein und jede Nacht, die sie später alleine verbringen wird, wird geprägt sein vom Spiegel dieses Zitterns. Der Mond hat sich ihrer angenommen. Ihr Schicksal ist in der großen Mutter, der Mondin – würde Rilke sagen – aufgegangen. Dass Crampas fast gleichzeitig als Name einer Ortschaft in der Nähe erwähnt wird, bestätigt die Annahme, dass diese Externalisierung des ›Symptoms‹ Zittern ein bewusst gewählter Akt der Symbolisierung ist. Das intime Schicksal der amourösen, privaten Verbindung ist damit Teil der öffentlichen Realität geworden und die Folgen haben sich bis in die nicht mehr verdrängbare Materie fortgeschrieben. Ein Mond bleibt ein Mond, ein Ort ein Ort und beide erinnernde Mahnmale der Romantik.

Effis Stufen Im Gegensatz zur spätmodernen Vorstellung einer dynamischen »Identitätsarbeit« (vgl. Keupp/Höfer 1997) fokussieren klassische Identitätstheorien wie die von Erikson (1988) eine Ausbildung von Identität im Rahmen einer gewissen Entwicklungsstufe. Auch wenn sich der Identitätsdiskurs heute weitgehend von diesem Modell verabschiedet hat, weil sich Identität im spätmodernen Lebensparcours mehr als lebenslanger Prozess zeigt, lässt sich aus Eriksons Perspektive, der den Fokus auf verschiedene unterscheidbare

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Stufen der psychischen Entwicklung legt, doch etwas Entscheidendes für die Interpretation von Effis Identität gewinnen, nämlich dort, wo Erikson davon ausgeht, dass nicht bewältigte oder erfahrene Entwicklungen auf einer Stufe die weitere Entwicklung negativ beeinflussen. Subjekte tragen das Defizit mit in die nächste Entwicklungsstufe und die Erfahrungen der vorhergehenden Stufen entscheiden dann, ob die Adoleszenz und das folgende Erwachsenenleben von einem Gefühl der kohärenten Identität oder mehr von einer Identitätsdiffusion geprägt sind. Im Text wird diese Ahnung mit folgenden Worten vorweggenommen: »[...] wenn Du nicht ›Nein‹ sagst, [...] so stehst Du mit zwanzig Jahren da, wo andere mit vierzig stehen« (18). Was sich hier für den Leser im ersten Moment wie eine glückliche Fügung anhört, wird aus Sicht der Eriksonschen Identitätstheorie zum tragischen Moment. Denn natürlich hinterlässt es Spuren, wenn man Entwicklungsstufen überspringt. Zwanzig Jahre, die fehlen, sind möglicherweise zwanzig Jahre, in die man sonst in sein Leben hätte hineinwachsen können. Man hätte sich in seinem Leben ›einrichten‹ oder es eben ›aufbauen‹ können und dadurch der Beziehung und dem Status vielleicht noch mehr seine eigene Handschrift geben können. Und Fontane lässt diesen Schluss zu, wenn er Effi mit Blick auf ihren Stand innerhalb der hohen Gesellschaft sagen lässt: »[...] als stünd’ ich schlecht vorbereitet vor einem Examen« (115). Passenderweise spitzt sich das Drama in der Erzählung in jenem Moment zu, als Effis Tochter Annie in kindlichem Leichtsinn die Stufen hinauf (!) stürzt und sich einen »tiefe[n] Riß« (271) an der Stirn zufügt. In dieser Szene ist Effis Identitätsdrama – aus Sicht der Eriksonschen Identitätstheorie – in einem einzigen Bild symbolisiert: Der viel zu schnelle soziale Aufstieg vom Kind ›schön und poetisch‹ zur ›Baronin von Innstetten geb. von Briest‹ und später zur ›Rätin‹. Es ist nämlich Annies Sturz, der im Anschluss auf der Suche nach Verbandsmaterial erst die versteckten Liebesbriefe und damit den Ehebruch ans Licht bringt. Annies ›Riß‹ auf der Stirn besiegelt damit auch den Riss in Effis Beziehung zu ihrem Mann und in der Folge den Riss in ihrer Beziehung zum Elternhaus, zur Gesellschaft und nicht zuletzt zu ihrer Tochter. Dass Annies Verletzung bezeichnenderweise an der Stirn ist, könnte zusätzlich als symbolische Konstruktion gedeutet werden, dass man doch klüger hätte sein können und die Briefe verbrannt hätte, so wie es eine andere Dame im Text der Erzählung explizit als Handlungsoption für heimliche Affären zum Ausdruck

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bringt. In dieser Hinsicht erscheint Effi naiv, denn auch andere Damen der hohen preußischen Gesellschaft haben Wege gefunden, Identitätsbegehren und soziale Rolle zu vereinen. Aber sie haben vermutlich auch mehr Zeit und Gelegenheiten gehabt, sich dort Schritt für Schritt, Stufe für Stufe in dieser Identität einzurichten. Effis Identitätsdrama, wenn man es als solches bezeichnen wollte, strukturiert sich also nicht allein über die fehlenden Spiel- und Bewegungsräume innerhalb der preußischen Gesellschaft, sondern – entwicklungspsychologisch betrachtet – auch wesentlich über die übersprungenen ›Stufen‹ der Identitätsentwicklung. Denn es sind eben gerade die Entwicklungsschritte, die einem Subjekt fehlen oder ihm genommen werden, wenn es sich sozial zu früh, zu stark, zu weit ›nach oben‹ bindet, die ein diffuses Gefühl von Identität begünstigen. »Warum machst Du keine Dame aus mir?« (7), fragt Effi verspielt ihre Mutter während der Turnübungen im Garten, worauf diese antwortet: »Möchtest Du’s?« (ebd.). Und Effi sagt: »Nein« (ebd.). Wenig später sagt sie ›Ja‹ und ist eine ›Dame‹, verheiratet mit einem über zwanzig Jahre älteren Mann. Damit hat sie eine oder mehrere Stufen übersprungen und ihrer Mutter vertraut, die weiß: »[...] wenn Du nicht ›Nein‹ sagst, [...] so stehst Du mit zwanzig Jahren da, wo andere mit vierzig stehen« (18). Aber Effi hatte gerade eben noch ›Nein‹ gesagt und der Leser fragt sich, ob Effi durch das viele Schaukeln den Blick für Stufen verloren hat. Denn dort, wo Schaukelbewegungen über den Dingen eine durchgehende Bewegung in die Luft zeichnen, verlangt das Leben auf der Erde Stufen der Entwicklung und der Anerkennung, die man sich Stück für Stück auch in der preußischen Gesellschaft erarbeiten muss. Spätestens mit dem ›Riss‹ auf Annies Stirn ist Effi auf dem Boden der sozialen Realität aufgeschlagen. »Waghalsig« (15) wie sie ist und es immer selbst beschworen hat: »[...] ich schaukle mich lieber, und am liebsten immer in der Furcht, daß es irgendwo reißen oder brechen und ich niederstürzen könnte« (37).

Ausblick Wie die oben genannten Darstellungen exemplarisch zeigen wollen, gibt es viele Sichtweisen, Effis Identität im Rahmen der Erzählung zu rekonstruieren (s. Kap. 41). Nicht behandelt wurde hier der psychoanalytisch-symbolische Zugang, weil er an anderer Stelle in diesem Buch schon zur Sprache kommt

(s. Kap. 39). Nur so viel sei dazu gesagt: Insofern das ›Haus‹ als unbewusste Repräsentanz von Identität gelten kann (vgl. Leuner 1994, 90–99), wäre auch ein Zugang denkbar, Effis Identität anhand der verschiedenen Beschreibungen der Wohnsituationen zu analysieren bzw. davon ausgehend zu beschreiben, wie Fontane Effis Identität im Rahmen ihrer Häuslichkeit konstruiert (s. Kap. 28). Für das Haus in Kessin gibt es ja zahlreich detaillierte Beschreibungen vom »Spukhaus« (116) bis zur Bemerkung, dass die oberen Räume einer »Rumpelkammer« (ebd.) gleichen und man nicht einmal Platz für Gäste hat, da es ein Gästezimmer vermissen lässt. Über dem Flur schwebende Raubtiere, Krokodil und Hai, die Effi vom ersten Tag an ängstigen, lassen weitere Assoziationen zu. So wird die junge Braut atmosphärisch zur ›Beute‹ eines Mannes, der – wenn man der Beschreibung anderer Figuren glaubt – schon die Mutter haben wollte: »Wenn’s die Mutter nicht sein konnte, muß es die Tochter sein« (20). Auch das Elternhaus ist detailliert beschrieben. Und in Berlin gibt es zwei Wohnungen, dazu noch die Situation in der wohnungslosen Zeit, in der Effi in einer Pension weilt. Auch wäre es spannend, Effis Positionierung zwischen den Männern genauer zu untersuchen (s. Kap. 43). Zum Beispiel in ihrer Position zu ihrem Vater, einem Mann der »Zweideutigkeiten« (350), der gerade dadurch Figur und Leser viel Raum lässt, sich zu positionieren, weil ihm vieles »ein zu weites Feld« (ebd.) ist. Ihm gegenüber steht Baron von Innstetten, »ein Mann von Grundsätzen« (38). Darüber im Dreieck der Männer der »Seelenleser« (137) Crampas, dem alle »Gesetzlichkeiten [...] langweilig [sind]« (150).

Zusammenfassung Folgt man also verschiedenen Identitätstheorien, mit deren Hilfe sich weiter in die Figur und ihre Beziehung zur Konstruktion im Text ›hineinblicken‹ lässt, zeigt sich ein differenziertes Bild von Effi Briest. Effis Schicksal ist demnach nicht allein durch die rigiden preußischen Normen gezeichnet. Diese Deutung wäre aus subjekt- und identitätstheoretischer Sicht zu einfach. Effis Identität ist mindestens genauso durch das systemische Erbe herausgefordert, denn sie lebt die Fortsetzung einer anderen Identität, nämlich die Liebesgeschichte zwischen Geert von Innstetten und ihrer Mutter. Und eine Fortsetzung zu sein, ist eine gewaltige Bürde. Des Weiteren zeigt sich das Überspringen von Ent-

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wicklungsstufen als tragisches Element. Denn andere Frauen, die in ebenso engen normativen Verhältnissen aufgewachsen sind, haben, wenn auch mit anderem Temperament, Zeit genug gehabt, in diese Herausforderung hineinzuwachsen und – um es mit Ernst Bloch zu sagen – sich in dieser Welt ›einzurichten‹. Effi scheint das nie so richtig gelungen zu sein. Ob sie es je wollte, ist eine andere Frage. Geradezu postmodern wirkt Fontanes Roman dort, wo er Effi viele verschiedene Charakterseiten zuschreibt. Gerade die Gegensätze darin lassen mehr an die Vorstellung einer vielfach oszillierenden und wenig festen ›Patchwork-Identität‹ (Keupp 1999) denken als an ein kohärentes Kernselbst der ersten Moderne. Wenn man Fontane zusätzlich aus der Perspektive der lebenslänglich notwendigen ›Identitätsarbeit‹ liest, verstärkt sich dieser spätmoderne Duktus. Effis Schicksal ist hier – wenn auch mit anderen Details – eine gute Schablone für den spätmodernen Leser. Als verstoßene Ehefrau nicht ins elterliche Haus zurück zu können und alleine sein Fortkommen unter schlechten Bedingungen suchen und finden zu müssen, bietet gerade dem spätmodernen Leser eine Übertragungsschablone für seine eigene Identitätserzählung an, z. B. dort, wo biographische und existenzielle Sicherheit keine Selbstverständlichkeit und geschlossene Ehen keine unauflösbaren Verbindungen mehr sind. Geradezu verklärend hingegen wirken postmoderne Beschreibungen der neueren Stoff-Bearbeitung wie die Filmfassung von 2009 (s. Kap. 20), wenn sie Effis Identität mit folgenden Worten zusammenfasst: »In einer Welt voller Zwänge entschied sie sich für die Freiheit« (Effi Briest, DVD 2009). Denn postmoderne Identitätsarbeit bedeutet für die meisten Menschen nicht,

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seinen Platz in der Gesellschaft frei wählen zu können, sondern ihn durch die flexiblen Herausforderungen der Gegenwart immer wieder neu wählen zu müssen. In dieser Dramatik wirkt Fontanes Werk postmoderner als die Einladung gegenwärtiger Identitätsinszenierungen von Effi Briest auf der Leinwand, auch wenn diese Effi am Ende als Vorläuferin eines emanzipierten Frauenbildes in Szene setzen. Trotzdem möchte man am Ende telegraphieren: Effi komm! Komm in die Spätmoderne, dort kannst Du dich austoben, ausprobieren und dich vor allem: erholen. Hier kannst Du ganz Du sein, in allen deinen Facetten. Literatur Bauman, Zygmunt: Flaneure, Spieler und Touristen. Hamburg 1997. Erikson, Erik: Jugend und Krise. München 1988. Fritzsche, Kai/Hartman Woltemade: Einführung in die EgoState-Therapie. Heidelberg 2016. Huber, Florian: Durch Lesen sich selbst verstehen. Bielefeld 2008. Keupp, Heiner/Höfer Renate (Hg.): Identitätsarbeit heute. Frankfurt a. M. 1997. Keupp, Heiner/Joachim Hohl (Hg.): Subjektdiskurse im gesellschaftlichen Wandel. Bielefeld 2006. Keupp u. a. (Hg.): Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne. Reinbek bei Hamburg 21999. Leuner, Hanscarl: Lehrbuch der Katathym-imaginativen Psychotherapie. Bern 31994. Lucius-Hoene, Gabriele/Arnulf Deppermann (Hg.): Rekonstruktion narrativer Identität. Ein Arbeitsbuch zur Analyse narrativer Interviews. Wiesbaden 32004. Ricœur, Paul: Zeit und Erzählung, Bd. III. Die erzählte Zeit. München 1991.

Florian Huber

Anhang

Zeittafel

1806 14. Oktober: Preußische Niederlage gegen

Frankreich; Preußen verliert rund die Hälfte seines Territoriums. Die beiden Schlusskapitel von Schach von Wuthenow spielen jeweils vor und nach dieser Niederlage. 1813–1815 Befreiungskriege. 17. März 1813: Der preußische König Friedrich Wilhelm III. ruft sein Volk dazu auf, sich am Befreiungskampf gegen Napoleon zu beteiligen. Vor dem Sturm spielt zwischen Weihnachten 1812 und Frühjahr 1813 und schildert den Angriff dörflicher Landsturmeinheiten auf das französisch besetzte Frankfurt/Oder. 16. bis 19. Oktober 1813: Die Völkerschlacht bei Leipzig endet mit Sieg der russisch-preußischösterreichischen Koalition über Napoleon. 1815 Gründung des Deutschen Bundes. 1819 Karlsbader Beschlüsse (Verbot der Burschenschaften, Einführung der Zensur, Überwachung der Universitäten). Henri Théodore (Theodor) Fontane am 30. Dezember als Sohn des Apothekers Louis Henri Fontane und seiner Frau Emilie Fontane geb. Labry in Neuruppin geboren. 1827 Umzug der Familie nach Swinemünde, wo Fontanes Vater die Adler-Apotheke gekauft hat. 1832 Eintritt in die Quarta des Gymnasiums Neuruppin. 1833 Aufnahme in die Gewerbeschule von Karl Friedrich Klöden in Berlin. 1836 Abschluss der Gewerbeschule mit dem Einjährigen-Zeugnis. Beginn der Apothekerlehre in der Apotheke »Zum weißen Schwan« in Berlin. 1839 Die Novelle Geschwisterliebe erscheint als erste Veröffentlichung Fontanes im Berliner Figaro. 1840 Fontane besteht die Apothekergehilfen-Prüfung. Gedichte im Berliner Figaro. Eintritt in den Platen-Klub und den Lenau-Verein. Ab Oktober Apothekergehilfe in Burg bei Magdeburg. 1841 Fontane fährt (von Letschin nach Leipzig) zum ersten Mal mit dem Zug (erste deutsche Eisenbahn 1835 von Nürnberg nach Fürth). Eintritt in die Apotheke »Zum weißen Adler« in Leipzig. Mit-

glied im »Herwegh-Klub«. Gedichte in Die Eisenbahn. 1842 Gehilfe in der Salomonis-Apotheke in Dresden. Feuilleton-Korrespondent der Eisenbahn. 1843 Defektar in der väterlichen Apotheke in Letschin. Erster Kontakt mit dem literarischen Sonntagsverein »Tunnel über der Spree«. Übersetzung von Shakespeares Hamlet und Gedichte im Morgenblatt. 1844 Beginn des einjährig-freiwilligen Militärdienstes in Berlin. 25. Mai bis 11. Juni: erste Englandreise. 4. bis 6. Juni: Schlesischer Weberaufstand; in seiner letzten Theaterrezension 1894 bespricht Fontane Die Weber von Gerhart Hauptmann. 29. September: Aufnahme in den »Tunnel«. 1845 Eintritt in die »Polnische Apotheke« in Berlin. 8. Dezember: Verlobung mit Emilie RouanetKummer (geb. am 14. November 1824). 1847 Approbation als Apotheker erster Klasse. Eintritt in die Apotheke »Zum schwarzen Adler« in Berlin. Trennung der Eltern. 1848 Revolution in Deutschland. 18. März: Verwicklung Fontanes in die Berliner Straßenkämpfe, möglicherweise Beteiligung am Barrikadenbau. 1. Mai: Fontane wird zum Wahlmann für die Wahl der deutschen Nationalversammlung in Frankfurt am Main gewählt. Vier Aufsätze in der Berliner Zeitungs-Halle. 15. September: Pharmazeutischer Ausbilder im Diakonissenkrankenhaus Bethanien. Dezember: König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen oktroyiert eine Verfassung mit einem Dreiklassenwahlrecht. 1849 März: Beschluss einer liberalen Reichsverfassung, die Preußen und Österreich ablehnen. Juli: Endgültiges Scheitern der Revolution. Ende der Tätigkeit Fontanes in Bethanien. Arbeit als freier Schriftsteller. Ab November Berliner Korrespondent der Dresdner Zeitung (bis April 1850). 1850 1. August: Mitarbeiter des »Literarischen Cabinets« der preußischen Regierung. 16. Oktober: Heirat mit Emilie Rouanet-Kummer. Veröffent-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2019 S. Neuhaus (Hg.), Effi Briest-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04874-5

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lichung der ersten beiden Bücher: Männer und Helden. Acht Preußenlieder und Von der schönen Rosamunde. 1851 14. August: Geburt des Sohnes George Emile. 1. November: Mitarbeiter der neuen staatlichen »Centralstelle für Preßangelegenheiten«. 1852 April bis September Korrespondent der Preußischen [Adler-]Zeitung in London, danach Wiedereintritt in die »Centralstelle«. 1853 Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848. Geburt des Sohnes Peter Paul (verstorben April 1854). 1854 Ein Sommer in London. Lektor der englischen Zeitungen in der »Centralstelle«. 1855 29. Mai: Geburt des Sohnes Ulrich (nach wenigen Tagen verstorben). Im Auftrag der »Centralstelle« soll Fontane in London eine deutsch-englische Pressekorrespondenz aufbauen. 10. September: Abreise nach London. 1856 1. April: Einstellung der Pressekorrespondenz. Bestellung zum Presseagenten der preußischen Regierung in London. 3. November: Geburt des Sohnes Theodor (gestorben 1933). 1857 Übersiedlung Emilies mit den beiden Söhnen nach London. 1858 9. bis 24. August: Reise mit Bernhard von Lepel nach Schottland. Kündigung der Stelle als Presseagent. 1859 Januar: Rückkehr nach Berlin. Versuche einer beruflichen Neuorientierung scheitern. Juli: Wieder Mitarbeiter der »Centralstelle« (Entlassung am Jahresende). 18. bis 23. Juli: Auftakt der Wanderungen mit einer Reise nach Neuruppin und Umgebung. 1860 21. März: Geburt der Tochter Martha (gestorben 1917). 1. Juni: Eintritt in die Redaktion der Neuen Preußischen (Kreuz-)Zeitung, dort zuständig für die Berichterstattung aus England. Buchveröffentlichungen: Aus England, Jenseit des Tweed, Balladen. 1861 Erscheinen des ersten Bandes der Wanderungen durch die Mark Brandenburg (bis 1889 fünf Bände). 1862 28. April: Fontane kandidiert ohne Erfolg als Wahlmann der Altkonservativen bei der Wahl des preußischen Abgeordnetenhauses. 23. September: Bismarck wird preußischer Ministerpräsident. 1864 5. Februar: Geburt des Sohnes Friedrich (gestorben 1941). Deutsch-Dänischer Krieg. April: Niederlage der Dänen bei den Düppeler Schanzen. Mai und September: Fontane reist zu den schles-

wig-holsteinischen und dänischen Kriegsschauplätzen. 1866 Der Schleswig-Holsteinsche Krieg im Jahre 1864. Deutscher Krieg zwischen Preußen mit Verbündeten und Mitgliedern des Deutschen Bundes unter der Führung von Österreich und dem Deutschen Bund. 3. Juli: Sieg Preußens über Österreich bei Königgrätz. 12. August: Fontane reist zu den böhmischen Kriegsschauplätzen. 18. August: Gründung des Norddeutschen Bundes unter preußischer Führung. 1867 31. März: Letzter Besuch beim Vater in Schiffmühle. 5. Oktober: Tod des Vaters. 1869 Der deutsche Krieg von 1866. 13. Dezember: Tod der Mutter in Neuruppin. 1870 Aufgabe der Stellung bei der Kreuzzeitung, ab August fester Theaterkritiker der Vossischen Zeitung. Juli: Beginn des Deutsch-Französischen Krieges. 29. September: Fontane reist zum französischen Kriegsschauplatz. 5. Oktober: Verhaftung als vermeintlicher Spion in Domrémy und Kriegsgefangenschaft bis zum 24. November. 1871 18. Januar: König Wilhelm I. von Preußen zum Deutschen Kaiser ausgerufen, Gründung des Deutschen Reiches als konstitutionell-monarchischer Bundesstaat. Bismarck Reichskanzler. Kriegsgefangen. Erlebtes 1870. April/Mai: Fontane reist zu Recherchen in das besetzte Nordfrankreich. Aus den Tagen der Occupation. 1872 Der Krieg gegen Frankreich 1870–1871 (letzter Teilband 1876). 1874 30. September bis 19. November: Italienreise mit Emilie. 1875 3. bis 23. August: Reise über die Schweiz nach Oberitalien. 1876 29. Februar: Erster Sekretär der Berliner Akademie der Künste. 28. Mai: Kündigung durch Fontane, 31. Oktober: Entlassung. 1878 Vor dem Sturm. Roman aus dem Winter 1812 auf 13. 1880 Grete Minde. 1881 Ellernklipp. 1882 L’Adultera; Schach von Wuthenow. 1884 Graf Petöfy. 1885 Unterm Birnbaum. 1887 Cécile. Tod des Sohnes George. 1888 Irrungen, Wirrungen. Dreikaiserjahr: Tod Kaiser Wilhelms I., kurze Regierungszeit Kaiser Friedrichs III. und Regierungsantritt Kaiser Wilhelms II. 1889 22. Oktober: Besprechung von Gerhart Hauptmanns Drama Vor Sonnenaufgang. Zum Jahres-

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ende Aufgabe der Kritikertätigkeit; jährliche Pension der Vossischen Zeitung in Höhe von 1500 Mark. 1890 Stine; Quitt. Die Sozialdemokratie mit 1,5 Mio. Wählern bei den Reichstagswahlen erstmals stimmstärkste Partei. Im Stechlin (1898) unterliegt der Konservative Dubslav von Stechlin dem Sozialdemokraten Torgelow. 1891 Schiller-Preis. Unwiederbringlich. 1892 Schwere Erkrankung (Influenza, versehentliche Vergiftung mit Morphium). Frau Jenny Treibel. 1893 Meine Kinderjahre.

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Ehrendoktor der Universität Berlin. Effi Briest. Die Poggenpuhls. Von Zwanzig bis Dreißig. 30. Juli: Tod Bismarcks. Fontanes Gedicht Wo Bismarck liegen soll erscheint am 3. August auf Seite 1 der Vossischen Zeitung. 20. September: Tod Theodor Fontanes. Der Stechlin. 1902 18. Februar: Tod Emilie Fontanes in Berlin. 1906 Mathilde Möhring. 1894 1895 1896 1898

Cord Beintmann

Auswahlbibliographie Handbücher und Nachschlagewerke Berbig, Roland: Theodor-Fontane-Chronik. 5 Bde. Berlin 2010. Chambers, Helen: Fontanes Erzählwerk im Spiegel der Kritik. 120 Jahre Fontane-Rezeption. Würzburg 2003. Grawe, Christian: Fontane-Chronik. Stuttgart 1998. Grawe, Christian: Führer durch Fontanes Romane. Ein Lexikon der Personen, Schauplätze und Kunstwerke. Stuttgart 1996. Grawe, Christian/Helmuth Nürnberger (Hg.): FontaneHandbuch. Stuttgart 2000. Nürnberger, Helmuth/Dietmar Storch: Fontane-Lexikon. Namen – Stoffe – Zeitgeschichte. München 2007. Biographien Beintmann, Cord: Theodor Fontane. München 1998. Dieterle, Regina: Theodor Fontane. Biografie. München 2018. Nürnberger, Helmuth: Fontanes Welt. Berlin 1997. Nürnberger, Helmuth: Theodor Fontane. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek 262004. Reuter, Hans-Heinrich: Fontane. 2 Bde. München 1968. Ziegler, Edda/Gotthard Erler: Theodor Fontane. Lebensraum und Phantasiewelt. Eine Biographie. Berlin 1996. Zimmermann, Hans Dieter: Theodor Fontane. Der Romancier Preußens. München 2019. Monographien Aust, Hugo: Theodor Fontane. Ein Studienbuch. Tübingen/ Basel 1998. Bauer, Karen: Fontanes Frauenfiguren. Zur literarischen Gestaltung weiblicher Charaktere im 19. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 2002. Bilgeri, Kathrin: Die Ehebruchromane Theodor Fontanes. Eine figurenpsychologische, sozio-historische und mythenpoetische Analyse und Interpretation. Diss. Freiburg i. Br. 2007. Bindokat, Karla: ›Effi Briest‹. Erzählstoff und Erzählinhalt. Frankfurt a. M. 1984. Budjuhn, Horst: Fontane nannte sie ›Effi Briest‹. Das Leben der Elisabeth von Ardenne. Berlin 1985. Craig, Gordon A.: Über Fontane. Aus dem Amerik. übers. v. Jürgen Baron von Koskull. München 1998. Degering, Thomas: Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft in Fontanes ›Effi Briest‹ und Flauberts ›Madame Bovary‹. Bonn 1978. Demetz, Peter: Formen des Realismus: Theodor Fontane. Kritische Untersuchungen [1964]. Frankfurt a. M./Berlin/ Wien 1973.

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Auswahlbibliographie Mecklenburg, Norbert: Theodor Fontane. Romankunst der Vielstimmigkeit. Frankfurt a. M. 1998. Mende, Dirk: Frauenleben. Fontane aus heutiger Sicht: Analysen und Interpretationen seines Werkes. München 1980. Meyer, Susanne: Literarische Schwestern: Ana Ozores – Effi Briest. Studien zur psychosozialen Genese fiktionaler Figuren. Diss. Göttingen. Aachen 1993. Mittenzwei, Ingrid: Die Sprache als Thema. Untersuchungen zu Fontanes Gesellschaftsromanen. Bad Homburg v. d. H./ Berlin/Zürich 1970. Müller-Seidel, Walter: Theodor Fontane. Soziale Romankunst in Deutschland. Stuttgart 21980. Neuhaus, Stefan: Fontane-ABC. Leipzig 1998. Neuhaus, Stefan: Freiheit, Ungleichheit, Selbstsucht? Fontane und Großbritannien. Frankfurt a. M. u. a. 1996. Neumann, Gerhard: Theodor Fontane. Romankunst als Gespräch. Freiburg i. Br./Berlin/Wien 2011. Plett, Bettina: Die Kunst der Allusion. Formen literarischer Anspielungen in den Romanen Theodor Fontanes. Köln/ Wien 1986. Renz, Christine: Geglückt Rede. Zu Erzählstrukturen in Theodor Fontanes ›Effi Briest‹, ›Frau Jenny Treibel‹ und ›Der Stechlin‹. München 1999. Restenberger, Anja: Effi Briest: Historische Realität und literarische Fiktion in den Werken von Fontane, Spielhagen, Hochhuth, Brückner und Keuler. Frankfurt a. M./Berlin/ Bern 2001. Rösel, Manfred: »Das ist ein weites Feld«. Wahrheit und Weisheit einer Fontaneschen Sentenz. Mit einem Vorwort von Helmuth Nürnberger. Frankfurt a. M. u. a. 1997. Roth, Denise: Das literarische Werk erklärt sich selbst. Theodor Fontanes ›Effi Briest‹ und Gabriele Reuters ›Aus guter Familie‹ poetologisch entschlüsselt. Berlin 2012. Scheiding, Katrin: Raumordnungen bei Theodor Fontane. Marburg 2012. Schuster, Peter-Klaus: Theodor Fontane: Effi Briest – Ein Leben nach christlichen Bildern. Tübingen 1978. Settler, Humbert: ›Effi Briest‹ – Fontanes Versteckspiel mittels Sprachgestaltung und Mätressenspuk. Flensburg 1999. Thomé, Horst: Autonomes Ich und »Inneres Ausland«. Studien über Realismus, Tiefenpsychologie und Psychiatrie in deutschen Erzähltexten (1848–1914). Tübingen 1993. Tyrrell, Thomas: Theodor Fontanes ›Effi Briest‹ und Friedrich Spielhagens ›Zum Zeitvertreib‹. Zwei Dichtungen zu einer Wirklichkeit. Houston/Texas 1986. Voss, Lieselotte: Literarische Präfiguration dargestellter Wirklichkeit bei Fontane. Zur Zitatstruktur seines Romanwerks. München 1985. Wagner, Wolf-Rüdiger: Effi Briest und ihr Wunsch nach einem japanischen Bettschirm. Ein Blick auf die Medienund Kommunikationskultur in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts. München 2016. Wandrey, Conrad: Theodor Fontane. München 1919. Wilhelm, Gisela: Die Dramaturgie des epischen Raumes bei Theodor Fontane. Frankfurt a. M. 1981 (Saarbrücker Beiträge zur Literaturwissenschaft, Bd. 4). Zalesky, Bodil: Erzählverhalten und narrative Sprechweisen. Narratologische Untersuchung von ›Effi Briest‹ mit Schwerpunkt in den Dialogen. Stockholm/Uppsala 2004.

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Autorinnen und Autoren

Helga Arend, Prof. Dr., Universität Koblenz-Landau,

Iris Meinen, Dr., Universität Koblenz-Landau, Cam-

Campus Koblenz (18. Produktive Rezeption: Spuren in anderen literarischen Werken) Hugo Aust, Prof. Dr., Universität zu Köln (3. Effi und ihresgleichen) Cord Beintmann, Stuttgart (6. Theodor Fontane: Leben und Werk; 7. Bekanntschaft mit anderen Autoren; Zeittafel) Lothar Bluhm, Prof. Dr., Universität Koblenz-Landau, Campus Landau (2. Das literarische (Um-)Feld) Anna Braun, Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz (40. Erinnerungs- und Gedächtnistheorien) Michael Braun, Prof. Dr., Universität zu Köln/Konrad-Adenauer-Stiftung, Berlin (38. Werkimmanente Interpretation; 45. Emotionsforschung) Sabine Egger, Dr., Mary Immaculate College Limerick (44. Alterität) Christian Geulen, Prof. Dr., Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz (1. Das späte 19. Jahrhundert) Helmut Grugger, PD Dr., Mary Immaculate College Limerick (42. Diskursanalyse) Irmtraud Hnilica, Dr., FernUniversität in Hagen (41. Konstruktivismus und Dekonstruktion) Johann Holzner, Prof. Dr., Leopold-Franzens-Universität Innsbruck (13. Handlung) Hans Otto Horch, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen (10. Anmerkungen zur ›Judenfrage‹; 19. Theodor Fontane und Thomas Mann) Florian Huber, Dr., Bad Endorf (46. Subjekt- und Identitätstheorien) Christoph Jürgensen, Prof. Dr., Bergische Universität Wuppertal (15. Der Roman im Spiegel der zeitgenössischen Kritik) Christine Kanz, Prof. Dr., Universität Gent (43. Gender Studies) Volker Ladenthin, Prof. Dr., Rheinische FriedrichWilhelms-Universität Bonn (31. Bildung) Ilona Mader, Dr., Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz (37. Hermeneutik)

pus Koblenz (4. Die soziale Stellung der Frau; 17. Die Rezeption im Drama) Werner Moskopp, PD Dr., Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz (29. Philosophie) Klaus Müller-Salget, Prof. Dr., Leopold-FranzensUniversität Innsbruck (12. Bezüge zu Irrungen, Wirrungen; 14. Figuren; 22. Der Chinesen-Spuk als ein »Drehpunkt für die ganze Geschichte«; 32. Kunst und Musik) Stefan Neuhaus, Prof. Dr., Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz (Einleitung; 5. Nation und Nationalismus; 11. Effi und Cécile: Bezüge zu Figuren und Motiven in Fontanes Werk; 34. Literatur und Theorie; Auswahlbibliographie) Wolfgang Pöckl, Prof. Dr., Leopold-Franzens-Universität Innsbruck (16. Die übersetzerische Rezeption) Michael Scheffel, Prof. Dr., Bergische Universität Wuppertal (36. Erzähltheorie/Narratologie) Christiane Schönfeld, Dr., Mary Immaculate College Limerick (20. Verfilmungen) Helmut Schmiedt, Prof. Dr., Universität KoblenzLandau, Campus Koblenz (26. Bürgerlichkeit und Gesellschaft) Veronika Schuchter, Dr., Leopold-Franzens-Universität Innsbruck (23. Familie; 25. Krankheit und Tod; 39. Psychoanalyse) Rolf Selbmann, Prof. Dr., Ludwig-Maximilians-Universität München (8. Selbstzeugnisse; 9. Die Ardenne-Affäre; 21. Natur-, Jahreszeiten- und Wettersymbolik; 24. Ehe, Erotik und Sexualität; 27. Geographie und Architektur; 28. Räume; 33. Literatur) Jürgen Wertheimer, Prof. Dr., Eberhard-Karls-Universität Tübingen (35. Theoriegeleitet Fontane interpretieren: »Effis Zittern: ein Affektsignal und seine Bedeutung«) Irene Zanol, Mag., Leopold-Franzens-Universität Innsbruck (30. Religion)

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2019 S. Neuhaus (Hg.), Effi Briest-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04874-5

Personenregister

A Akipek, Nijad 107 Alas, Leopoldo (gen. Clarín) 13, 17, 21 Alexis, Willibald 9, 211, 229 Andersen, Hans Christian 125, 210 Anderson, Benedict 31 Anderson, Paul Irving 235 Angell, Joseph 126 Anz, Thomas 218, 245 Ardenne, Armand Léon Baron von 61 Ardenne, Elisabeth von 54, 58, 61–62, 113, 131, 144, 284 Ardenne, Manfred Baron von 61 Arendt, Hannah 7 Aristoteles 45, 229 Arnim, Achim von 205 Ashkenazi, Mikhail Osipovitch (Pseudonym Michel Delines) 109 Aust, Hugo 114, 191 B Baader, Andreas 142 Bachelard, Gaston 179 Bachmann, Ingeborg 222 Bachtin, Michail 288–289, 291 Bahnsen, Julius 183 Baioni, Giuliano 111 Bakunin, Michail Alexandrowitsch 183 Balint, Michael 246 Balzac, Honoré de 10, 13, 16–18 Balzer, Bernd 9 Bang, Ellen Dahl 108 Barthes, Roland 216, 218, 260, 266 Bauer, Bruno 183 Bauer, Edgar 183 Becker, Sabina 9 Begemann, Christian 287 Beintmann, Cord 191 Belly, Georg 209 Benjamin, Walter 8 Berbig, Roland 183 Berger, Peter Ludwig 260 Bergson, Henri 184 Berkeley, George 184 Bertuch, Friedrich Johann Justin 210 Bhabha, Homi K. 289 Bierbaum, Otto Julius 125 Bindokat, Karla 155

Bismarck, Otto von 30–31, 33, 42, 65, 76, 83, 89, 92, 110, 125, 135, 150, 152, 175, 217, 275, 279 Blanckenburg, Christian Friedrich 231 Bleibtreu, Karl 43 Böcklin, Arnold 33, 71, 204 Böhm, Karlheinz 140 Böhmermann, Jan 119, 121, 123 Bölsche, Wilhelm 6 Bortoli, Sivlia 110 Brahm, Otto 55, 102 Brandenburg, Friedrich Wilhelm von 32 Brandstetter, Gabriele 49 Brecht, Bertolt 43, 139 Brenner, Matthias 116 Brenner, Peter J. 240 Brentano, Clemens 205, 210 Briest, Caroline 120 Brückner, Christine 119, 123, 221 Buber, Martin 303 Budjuhn, Horst 133 C Calderón de la Barca, Pedro 87 Carlyle, Thomas 187 Cervantes, Miguel de 35 Chambers, Helen 109 Chladenius, Johann Martin 260 Chopin, Frédéric 205 Cixous, Hélène 260 Cobain, Kurt 115 Cœuroy, André 110 Collin, Christian 135 Cooper, James Fenimore 211 Courths-Mahler, Hedwig 71 Craig, Gordon Alexander IX, 66 Czermakowa, Izabela 108 D Dagover, Lil 133 Darwin, Charles Robert 5 David, Claude 110 Deleuze, Gilles 274 Délibes, Léo 206 DeLillo, Don 21 Delius, Friedrich Christian 119 Derrida, Jacques 260

Diana, Princess of Wales 115 Dickens, Charles 10, 125, 211 Diderot, Denis 183, 292 Dieterle, Regina 159 Dietmann, Ulrike 115 Dilthey, Wilhelm 185, 233, 235 Dominik, Emil 49 Domröse, Angelika 137 Dorn, Heinrich Ludwig Egmont 205 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 10, 186 Dumas, Alexandre 165, 208 E Eco, Umberto 246 Eğit, Kasım 107 Ehrhardt, Edith 116 Eisele, Ulf 261 Eliot, T.S. 240 Emerson, Ralph Waldo 183, 187 Erikson, Erik 305 Everding, August 113 F Fassbinder, Rainer Werner 137–140, 142, 284 Feuerbach, Ludwig 183 Fichte, Johann Gottlieb 27, 183 Fischer, Hubertus 86 Flaubert, Gustave 10, 13, 20, 157, 211, 286, 295 Fleißer, Marieluise 138 Fontane, Emilie 39–41, 43, 47–48 Fontane, Friedrich 58, 110 Fontane, Louis Henri 39 Fontane, Martha 40, 42–43 Fontane, Theodor 43, 210 Ford, Ford Madox 19 Foucault, Michel 156, 217–218, 268, 270–271, 288–289 Freud, Sigmund 4, 244, 247, 270, 288, 291, 297 Frevert, Ute 4 Freytag, Gustav 11, 42, 46, 229, 231 Friedlaender, Georg 42, 56, 192 Friedrich III. 30, 86, 191 Frisch, Max 110 Fuhs, Burkhard 156

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2019 S. Neuhaus (Hg.), Effi Briest-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04874-5

Personenregister G Gadamer, Hans-Georg 233 Geiger, Arno 21 George, Stefan 10 Glass, Derek 107 Gluck, Christoph Willibad 205 Gluckman, Bailey 249 Goethe, Johann Wolfgang von 10, 41, 59, 103, 105, 110, 171, 183, 200, 209– 211, 231, 296 Goffman, Erving 265 Graevenitz, Gerhart von 297 Grass, Günter 119, 122–123 Gravenkamp, Horst 166 Grawe, Christian 153 Greiner, Ulrich 144 Greve, Gisela 246 Grothe, Franz 134 Grühn, Petra Maria 115 Gründgens, Gustaf 131–134, 143–144, 296 Grünhagen, Colmar 44, 284 Guattari, Félix 274 Guðmundsdóttir, Björk 21 Gutzkow, Karl 9–10 H Habermas, Jürgen 218 Haeckel, Ernst 6 Hailer, Peter 114 Halbe, Max 132 Harden, Maximilian 92, 125 Hardy, Barbara 301 Hardy, Thomas 16 Harlan, Veit 132 Hartmann, Eduard von 66, 183, 188 Hartmann, Paul 133 Hartwich, Emil 61, 113 Hauptmann, Gerhart 41–42, 51, 54– 55, 173 Hawthorne, Nathaniel 13 Hebbel, Friedrich 74, 173, 205, 208, 274 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 5, 183–185 Hehle, Christine 64 Heilborn, Ernst 104, 125 Heine, Heinrich IX, 66, 103, 110, 127, 134, 151, 183, 205, 208, 210, 274 Helmstetter, Rudolf 234–235 Henkel, Alexandra 116 Herder, Johann Gottfried 183, 205 Hérold, Ferdinand 205 Herrmann, Helene 127 Hertel, Peter Ludwig 206 Hertz, Hans 56, 294 Hertz, Wilhelm 52 Herwegh, Georg 51 Hesekiel, George 51 Hesekiel, Ludovica 102

Heyse, Paul 40, 42–43, 51, 107, 216 Hinck, Walter 123 Hinckeldey, Karl Ludwig Friedrich von 74 Hitler, Adolf 133 Hitzig, Friedrich 42 Hladek, Marcus 114 Hobbes, Thomas 187 Hochhuth, Rolf 113, 119 Hoffmann, E.T.A. 263 Hofmannsthal, Hugo von 10, 261 Hölderlin, Friedrich 183 Holmboe, Lotte 107 Holz, Arno 42 Hoppe, Marianne 131–133, 144 Horch, Hans Otto 42 Hume, David 183 Huntgeburth, Hermine 142–144, 295, 298

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Krüger, Gerhard 135 Kühnast, Clara 89

J Jacobs, Jürgen Carl 11 Jacobsen, Jens Peter 125 Jauß, Hans Robert 215, 218 Jeanne d’Arc 250 Jelinek, Elfriede X Jolles, Charlotte 70 Joplin, Janis 115 Jugert, Rudolf 133 Jürges, Jürgen 138

L Lacan, Jacques 288 Lamarck, Jean Baptiste 5 Lange, Robert 103 Langhans, Rainer 138 Lazarus, Moritz 42, 47 Leibniz, Gottfried Wilhelm 183 Lenau, Nikolaus 73 Lenz, Jakob Michael Reinhold 172 Lepel, Bernhard von 40, 51, 62 Lessing, Emma 131, 235 Lessing, Gotthold Ephraim 64, 69, 84, 172, 186, 209, 278 Leuwerik, Ruth 133, 135 Levinas, Emmanuel 288 Lilienthal, Otto 134 Liljegren, Eva 107 Lindau, Paul 41, 51 Linder, Erich 110 Link, Jürgen 272, 288 Lipinski, Birte 114 Locke, John 184, 292 Loewe, Carl 208 Lohmann, Dietrich 138 Lombard, Alf 107 Lotman, Jurij 216 Luckmann, Thomas 260 Luderer, Wolfgang 135–136, 138 Ludwig, Maximilian 41 Ludwig, Otto 226 Luhmann, Niklas VIII, 216, 218 Lukács, Georg 184, 187–188, 201 Lundquist, Ernst 107

K Kafka, Franz IX, 245, 274 Kant, Immanuel 5, 183, 186–187, 218, 260 Kästner, Erich 43 Käutner, Helmut 133 Kayser, Wolfgang 240 Keller, Gottfried 42, 53, 126, 171 Kertész, Imre 108 Keuler, Dorothea 119, 123, 144 Keupp, Heiner 300, 302 Kierkegaard, Søren 183 King, Vera 250 Kirst, Hans Hellmut 134 Kleist, Heinrich von 132, 183, 207, 270, 274, 297 Kögel, Rudolf 94, 195 Körner, Theodor 211 Koselleck, Reinhart 3 Krause, Edith H. 247 Krien, Werner 135 Kristeva, Julia 287–288 Kröner, Adolf 56

M Mainländer, Philipp 183 Malory, Thomas 13 Mann, Heinrich 131 Mann, Thomas VII, VIII, 9–10, 90, 121, 125–129, 135, 166, 172, 205, 241, 272, 297 Manteuffel, Otto Theodor von 40 Marlitt, Eugenie 119 Marx, Karl 183 Mauthner, Fritz 183 May, Paul 134 Mecklenburg, Norbert 42, 114, 289 Memling, Hans 204 Mende, Dirk 246 Metternich, Klemens Wenzel Lothar von 30 Meyer, Agnes E. 126 Meyer, Conrad Ferdinand 53 Mill, John Stuart 183, 188 Millais, John Everett 62, 86 Mittenzwei, Ingrid 154 Mörike, Eduard 110

I Ibsen, Henrik 41, 55 Immermann, Karl Leberecht 9 Inoue, Yasushi 19 Isenberg, Angela 292

322

V Anhang

Moser, Gustav von 209 Motte-Fouqué, Friedrich de la 120 Müller-Salget, Klaus IX Müller-Scherz, Fritz 138 Müller-Seidel, Walter 171 Mulvey, Laura 247 Musil, Robert 244, 271 N Napoleon Bonaparte 30–31, 151, 179 Napoleon III. 150 Neckar, Moritz 105 Neumann, Gerhard 49, 264 Niermeyer, Amelie 115 Nietzsche, Friedrich 127–128, 183, 186–187, 248, 274, 289 Nobiling, Karl Eduard 84 Nürnberger, Helmuth 191 O Ocampo, F. de 107 Østergaard, Carl Viktor 108 P Panofsky, Erwin 192 Parmée, Douglas 109 Paulsen, Friedrich 183 Pestalozzi, Johann Heinrich 186 Pfeiffer, Peter C. 261 Pniower, Otto 104 Poe, Edgar Allen 167 Poppe, Sandra 218 Poppenberg, Felix 103 Potzger, Thomas 115 Proust, Marcel 292 R Raddatz, Carl 133 Raddatz, Frank-Michael 113 Radecke, Gabriele 52 Rayns, Tony 139 Reich-Ranicki, Marcel 123 Remak, Henry H. 65 Reni, Guido 204 Reuter, Fritz 94, 209 Reuter, Hans-Heinrich 191 Richert, Hans-Georg 95 Richter, Karl 43 Ricœur, Paul 301 Rilke, Rainer Maria 261 Ritter, Karl 134 Rodenberg, Julius 51, 53, 56, 59, 102 Rohr, Mathilde von 42, 53 Rorrison, Hugh 109 Rousseau, Jean-Jacques 183, 262 Rovan, Joseph 110 Rubens, Peter Paul 205

Ruge, Arnold 183 Ruskin, John 62, 86 S Saïd, Edward 289 Saint-Léon, Arthur 206 Samosch, Siegfried VII Sand, George 13 Schaefer, Peter 107 Scheffel, Michael 129 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 183 Schenck, Wolfgang 138, 140 Scherenberg, Christian Friedrich 51 Scherer, Wilhelm 104 Schiller, Friedrich 72–73, 172, 183, 209, 211, 217 Schlaf, Johannes 41–42 Schlegel, Friedrich 183 Schleiermacher, Friedrich 225, 233– 235 Schlenther, Paul 57, 101–103 Schmaering, Oliver 117 Schmidt, Bernd 114 Schmidt, Julian 46 Schnitzler, Arthur 19, 244, 297 Schönau, Walter 245 Schönthan, Franz von 209 Schopenhauer, Arthur 44, 127, 183– 184, 186–187, 270, 274 Schott, Sigmund 45, 52, 104 Schüddekopf, Sandra 116 Schumann, Robert 205, 208 Schuster, Peter-Klaus 192, 204 Schygulla, Hanna 140–141 Scott, Sir Walter IX, 30, 34, 40, 86, 211, 284 Seiffert, Hans Werner 62 Selbmann, Rolf 11 Sengle, Friedrich 10 Shakespeare, William 16, 30, 210, 215 Simmel, Georg 288–289 Smith, Adam 183 Sontag, Susan 168 Spielhagen, Friedrich IX, 51, 53, 58, 63, 75, 105, 113, 207, 211, 216 Spinoza, Baruch de 183 Spontini, Gaspare 205 Staiger, Emil 240 Steiner, Rudolf 186 Stephany, Friedrich 44, 55 Sternberg, Josef von 131 Stirner, Max 183 Stoecker, Adolph 66 Storm, Theodor 42–43, 51–53, 132, 171

T Taglioni, Paul 206 Teschke, Holger 116 Thoreau, Henry David 183 Tintoretto, Jacopo 68 Tolstoi, Leo 10, 13, 41, 275, 286, 295 Trebelli, Zelia 95 Treitschke, Heinrich von 64, 66 Tschernyschewski, Nikolai Gawrilowitsch 16 Tucholsky, Kurt 43 Turgenjew, Iwan 10, 42, 47 V Vas, István 108 Vengrienė, Eugenija 108 Verdi, Giuseppe 93, 165, 208 Villain, Pierre 110 W Wagner, Heinrich Leopold 172 Wagner, Richard 16, 64–66, 90, 125, 127–128, 205–206 Waldberg, Max von 102 Waldenfels, Bernhard 287–288 Walleinstein, Albrecht Wenzel Eusebius von 72 Wallich, Walter 109 Wandrey, Conrad VII, 90, 126 Watanabe, Kazuko 113 Wedekind, Frank 274 Weerth, Georg 9 Werner, Anton von 42 Wertheimer, Jürgen 218 West, Benjamin 204 Wichert, Ernst IX, 42, 80, 89, 136, 205, 207, 209, 296 Wichmann, Hermann 43 Wicki, Bernhard 133 Widmann, Joseph Viktor 58, 104, 287 Wilbrandt, Adolf 41, 209 Wildenbruch, Ernst von 41 Wilhelm, Georg 32 Wilhelm I. 30, 33, 77, 84, 195 Wilhelm II. 30, 77, 275, 289 Wilpert, Gero von 153 Winko, Simone 218 Wolff, Pius Alexander 210 Wolfsohn, Wilhelm 40, 42, 183 Wuschek, Kay 117 Z Zola, Émile 42, 46–47, 102, 210, 242, 272, 275 Zöllner, Karl 52 Zorilla, José 17

Sach- und Werkregister

0–9 08/15 (Hans Hellmut Kirst) 134 1848 3, 10, 30, 39, 156 A Adaption 115, 131, 137, 139, 143 Adel 4, 11, 32, 42, 44, 61, 68, 74, 90, 154, 156, 172, 176, 181, 274, 277, 279, 284 Adoleszenz 230, 245, 249 Affäre 74, 78, 80, 136, 157, 167, 217, 236, 246, 278 Affekte 222–223, 271–272 Affektverweigerung 221 Afrika 288, 290 Afrikabild 289 Alles fließt (Friedrich Spielhagen) 54 Alles über Sally (Arno Geiger) 21 Allgemeine Zeitung 104 All is full of love (Björk Guðmundsdóttir) 21 Allusionen 115 Altarbild 204 Alterität 287–290 Ambiguität 144, 193, 227 Ambivalenz 287 Androgynität 249 Angela (Friedrich Spielhagen) 54 Angst 221 Angst essen Seele auf (Rainer Werner Fassbinder) 140 Anna Karenina (Leo Tolstoi) 13–14, 18, 20, 169, 218, 224, 286, 295 Anspielungen 236 Anti-Ödipus (Gilles Deleuze/Félix Guattari) 274 Antisemitismus 31, 64–65, 90, 288, 291 Antisemitismusstreit 84 Antislawismus 288, 290 Apotheker 30, 39, 168, 287 Arbeiterschicht 288 Archibald Douglas (Theodor Fontane) 51 Architektur 175 Ardenne-Affäre IX, 58, 61, 75, 90, 119, 228, 235 Ardenne-Stoff 113 Aristokratie 4 Aufklärung 3, 9, 64, 196 Aufklärungspädagogik 200 Aus den Tagen der Occupation (Theodor Fontane) 31 Aus England (Theodor Fontane) 30 Auslassung 238 Auslegekunst 233 Außerparlamentarische Opposition (APO) 138

Aussparungen 237 Autobiographie 61, 126 Autonomie 11 Autorschaft 245 B Bad Ems 82, 95, 151, 157, 167, 179–180, 205, 228 Balladen 39, 297 Ballade vom Heideknaben (Robert Schuhmann) 208 Bayreuth 65 Bayreuther Blätter 66 Bayreuther Festspiele 66 Befreiungskriege 30 Begehren 249, 268, 271 Beiträgen zur Theorie und Technik des Romans (Friedrich Spielhagen) 58 Bericht für eine Akademie (Franz Kafka) 274 Berlin 39, 64, 81, 94, 136, 142, 150–151, 163, 178–179, 194, 223, 242, 298, 305 Berliner Nationalzeitung 49 Berliner Tageblatt 10 Berliner Zeitungs-Halle 39 Berner Konvention 109 Bethlehem 193 Bethmann-Stoff 235 Bewusstseinsstrom 86 Bibel 13, 90, 154, 192, 194, 196, 211, 248 Bibelzitate 196 Biedermeier 10 Bildung 25, 183, 199–200, 202 Bildungsreise 201 Bildungsroman 11, 230 Blätter für die Kunst 10 Blätter für literarische Unterhaltung 103 Brief an Lord Chandos (Hugo von Hofmannsthal) 261 Briefe 11, 43, 82, 136, 161, 178, 238, 240, 246, 265 Buch der Lieder (Heinrich Heine) 134, 208 Buchmarkt 11 Buddenbrooks (Thomas Mann) VII, 9, 128, 166, 172, 205, 241, 275 Bühnenfassungen 115 Bundesrepublik Deutschland (BRD) 142 Bürgerlicher Realismus 9–11 Bürgerlichkeit 7, 171 Bürgertum 3, 11, 23, 25, 28, 64, 141, 156, 172

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2019 S. Neuhaus (Hg.), Effi Briest-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04874-5

324

V Anhang

C Cäsar (William Shakespeare) 210 Cécile (Theodor Fontane) 44–45, 49, 68–69, 71, 109 Centralstelle für Preßangelegenheiten 40 China 288–289 Chinese 7, 34, 58, 78, 81, 86, 88, 92, 94, 120–121, 134, 153, 155, 162–163, 169, 171, 177, 179, 185, 208, 222, 237, 245, 248, 266, 275, 278, 283, 287, 289, 291, 297 Christentum 191 Christliche Motive 192 Close reading 240, 262 Comic relief 243 Coppelia (Arthur Saint-Léon/Léo Délibes) 206, 263 D Darwinismus 5 Das Friedensfest (Gerhart Hauptmann) 55 Das Herz von Midlothian (Sir Walter Scott) 86 Das Jagdgewehr (Yasushi Inoue) 19 Das Judenthum in der Musik (Richard Wagner) 65 Das Jüngste Gericht (Hans Memling) 204 Das Käthchen von Heilbronn (Heinrich von Kleist) 74, 87, 132, 207–208 Das Tagebuch der Redegonda (Arthur Schnitzler) 19 David Copperfield (Charles Dickens) 211 Dekadenz 128 Dekonstruktion 260 Depression 250 Der alte Fontane (Thomas Mann) 125 Der blaue Engel (Josef von Sternberg) 131 Der deutsche Krieg von 1866 (Theodor Fontane) 41 Der Fliegende Holländer (Richard Wagner) 205 Der grüne Heinrich (Gottfried Keller) 171 Der kleine Herr Friedemann (Thomas Mann) 128 Der Krieg gegen Frankreich 1870–1871 (Theodor Fontane) 31, 41 Der Meister und Margarita (Michail Bulgakov) 272 Der Sandmann (E. T. A. Hoffmann) 263 Der Schimmelreiter (Hans Deppe/Curt Oertel) 132 Der Schimmelreiter (Theodor Storm) 132, 171 Der Schleswig-Holsteinsche Krieg im Jahre 1864 (Theodor Fontane) 31, 41 Der Schritt vom Wege (Ernst Wichert) 230 Der Schritt vom Wege (Gustaf Gründgens) 131, 133–134, 296 Der Spion (James Fenimore Cooper) 211 Der Stechlin (Theodor Fontane) 5, 41–42, 44, 48–49, 64, 68, 123, 126, 297 Der Tod des Tizian (Hugo von Hofmannsthal) 10 Der Tod in Venedig (Thomas Mann) 166 Der tolle Mensch (Friedrich Nietzsche) 186 Der Tower-Brand (Theodor Fontane) 39, 51 Der Zauberberg (Thomas Mann) 166 Des Knaben Wunderhorn (Achim von Arnim/Clemens Brentano) 205 Determinismus 4 Deutsche Demokratische Republik (DDR) 135, 137 Deutsche Literaturzeitung 102 Deutscher Bund 30 Deutsche Rundschau 10, 43, 48, 53, 56, 59, 102, 295

Deutsches Kaiserreich 4, 7, 30, 217, 232 Deutsches Literaturblatt 102 Deutsches Reich 231, 288, 290 Deutsch-Französischer Krieg 109–110 Deutsch-Ostafrika 290 Die Archäologie des Wissens (Michel Foucault) 268–269 Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (Rainer Maria Rilke) 261 Die Balinesenfrauen auf Lombok (Theodor Fontane) 31 Die Baronin (Lutz Büscher) 144 Die Birnen von Ribbeck (Friedrich Christina Delius) 119 Die Brück‘ am Tay (Theodor Fontane) VII, 43 Die Brüder Karamasov (Fjodor Michailowitsch Dostojewski) 186 Die Eisenbahn (Theodor Fontane) 39 Die Familie Selicke (Arno Holz/Johannes Schlaf) 173 Die Frau von dreißig Jahren (Honoré de Balzac) 13, 16–18, 20 Die Gefilde der Seligen (Arnold Böcklin) 33, 71, 204 Diegese 168, 226 Die Grandidiers (Julius Rodenberg) 53 Die Heimkehr (Heinrich Heine) 134 Die Hosen des Herrn von Bredow (Willibald Alexis) 211 Die Kameliendame (Alexandre Dumas d. J.) 93, 165, 208 Die Kindermörderin (Heinrich Leopold Wagner) 172 Die Klavierspielerin (Elfriede Jelinek) X Die kleine Meerjungfrau (Hans Christian Andersen) 210 Die Leiden des jungen Werther (Johann Wolfgang von Goethe) 171 Die Marquise von O... (Heinrich von Kleist) 159, 297 Die Nation 103 Die Nibelungen (Heinrich Ludwig Egmont Dorn) 205 Die Ordnung des Diskurses (Michel Foucault) 268 Die Poggenpuhls (Theodor Fontane) 44, 49, 64, 128, 240 Die Ritter vom Geiste (Karl Gutzkow) 10 Dies Blatt gehört der Hausfrau 54 Die Soldaten (Jakob Michael Reinhold Lenz) 172 Die strukturalistische Tätigkeit (Roland Barthes) 260 Die Struktur literarischer Texte (Jurij Lotman) 216 Die Technik des Dramas (Gustav Freytag) 229 Die Traumdeutung (Sigmund Freud) 4 Die Wahlverwandtschaften (Johann Wolfgang von Goethe) 125, 211 Die wahre Geschichte der Effi B. (Dorothea Keuler) 119, 144 Die Walküre (Richard Wagner) 205 Die Weber (Gerhart Hauptmann) 55 Die Welträtsel (Ernst Haeckel) 6 Die Zukunft 125 Disguised symbolism 192, 194 Diskurs 65–66, 158, 169, 185, 200, 223, 268–275, 287–288, 290, 300 Diskursanalyse 268 Disziplinargesellschaft 141 Doktor Faustus (Thomas Mann) 272 Don Juan Tenorio (José Zorilla) 17 Don Juan (Wolfgang Amadeus Mozart) 71 Don Quixote (Miguel de Cervantes) 35 Drama 209 Dramatisierungen 116 Dreiklassen-Wahlrecht 176

Sach- und Werkregister Dresdner Zeitung 40 Duell 3, 16–17, 44, 62, 68–69, 71, 74, 82, 89, 91, 113, 119, 128, 140, 152, 157, 165, 169, 174, 178, 187, 207, 217, 227– 228, 269, 283, 292, 303 E Effi Briest – Ein Leben nach christlichen Bildern (Peter-Klaus Schuster) 192 Effi Briest (Hermine Huntgeburth) 142, 298 Effi Briest (Wolfgang Luderer) 135, 138 Effis Nacht. Monolog (Rolf Hochhuth) 113, 119 Ego-State-Therapie 304 Ehe 44 Ehealltag 132 Ehebruch 13, 15, 68–69, 76, 115, 120, 158, 162–163, 174, 179, 182, 217, 223, 229–230, 242, 262, 271–272, 277, 280, 295 Ehebruchsgeschichte 224 Ehebruchsroman 106 Eheroman 21, 76, 211 Ehre 3, 17, 44, 269–270, 285 Einigungskriege 30 Einsame Menschen (Gerhart Hauptmann) 55 Ein Schritt vom Wege (Ernst Wichert) IX, 42, 49, 80, 89, 93, 136, 181, 205, 207, 209, 265, 296 Ein Sommer in London (Theodor Fontane) 30, 40 Einst und jetzt. Die ›Wahlverwandtschaften‹ und ›Effi Briest‹. Eine literar-ästhetische Studie (Friedrich Spielhagen) 106, 211 Ein weites Feld (Günter Grass) 119, 122 Elisabeth (Theodor Storm) 53 Ellernklipp (Theodor Fontane) 44, 68 Emanzipation 122, 144, 298 Emilia Galotti (Gotthold Ephraim Lessing) 69, 172, 278 Emma Bovary (Gustave Flaubert) 157, 169, 211 Emotionale Distanz 164 Emotionen 184, 218, 221, 236, 240, 281, 294, 298 Emotionen in Literatur und Film (Sandra Poppe) 218 Emotionsforschung 218, 294 Emser Depesche 181 England 30, 39, 42, 179 Entfremdungserfahrung 221 Entwicklungsroman 230 Enzyklopädie (Georg Wilhelm Friedrich Hegel) 185 Epische Theater 139 Epochenbegriff 9 Erfolgstitel 165 Erinnerung 256, 273 Erinnerungsmetaphorik 257 Erlkönig (Johann Wolfgang von Goethe) 208 Erlkönigs Tochter (Johann Gottfried Herder) 205 Erotik 27, 44, 161, 163 Erster Weltkrieg 3, 30 Erzähler 300 Erzählform 225 Erzählforschung 301 Erzählperspektive 19 Erzählte Zeit 227 Erzähltheorie 211, 219, 225 Erzählung 230

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Erzählverfahren 270 Erzählverhalten 227 Erzählzeit 227–228 Erziehung 143, 151, 202, 222 Erziehungskonzept 201 Ethik 188 Evolution 6 Evolutionstheorie 185 Exotik 136, 287, 289 F Familienkonzepte 156 Faust (Johann Wolfgang von Goethe) VIII, 11, 210 Faust-Motiv 183 Faust-Narrativ 272 Feminismus 277 femme fragile 70, 166–167 Feuer 257 Feuilleton 101 Figurengestaltung 86 Fiktionalität 227 Film 298 Filmfestspiele 138 Fin de Siècle 3, 6, 9, 166 Finessen 65, 74 Fliegende Blätter 163 Fontane-Buch (Ernst Heilborn) 125 Fontane Effi Briest (Rainer Werner Fassbinder) 137–138, 142, 285 Formalismus 225 Fortschritt 8 Frankreich 43, 110 Französische Revolution 3, 23, 31 Frauenbewegung 6, 28, 284 Frau Jenny Treibel (Theodor Fontane) 44, 53, 68–69, 103– 104, 128, 205 Fräulein Else (Arthur Schnitzler) 250 Freie Bühne 102 Freiheit 4–5, 8, 31, 144, 188, 269 Fremdbilder 287–288, 290 Fremde 288, 290, 292 Fremdheit 287–289 Frühlings Erwachen (Frank Wedekind) 274 Frühromantiker 183 Führer durch Fontanes Romane (Christian Grawe) 153 Fürst 30 G Gartenlaube 119, 295 Gartenlaube 56 Gedächtnis 252 Gedicht 210 Geflügelte Worte 209 Gefühlskultur 223 Gender 23, 283 Gender Studies 264, 277 Geschlechterdifferenz 23, 26, 269, 277 Geschlechterdiskurs 144 Geschlechterhierarchien 23 Geschlechterverhältnisse 237

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V Anhang

Geschlechtsidentität 264, 277 Geschwisterliebe (Theodor Fontane) 39 Gesellschaftsroman 4, 9 Gleichberechtigung 23 Glocken von Speyer (Carl Loewe) 208 Gothic Novel 283 Gottesmauer (Clemens Brentano) 209 Graf Petöfy (Theodor Fontane) 44 Grammatik 268 Grete Minde (Theodor Fontane) 43, 68, 102 Großbritannien 30, 110 Grundlinien der Philosophie des Rechts (Georg Wilhelm Friedrich Hegel) 184 H Habitus 302 Händler der vier Jahreszeiten (Rainer Werner Fassbinder) 138 Handlung 226, 232 Handlungsschema 230 Hauptfiguren 86, 115 Heiliges Römisches Reich deutscher Nation 30 Herkunft 8 Hermeneutik 218, 225, 233 Hermeneutischer Zirkel 233–234 Herr-Knecht-Relationen 188 Herrnhuth 69 Herr Oluf (Johann Gottfried Herder) 205 Herr und Knecht (Leo Tolstoi) 275 Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland (Theodor Fontane) 43 Herwegh-Klub 39 Heterotopie 180 Heterotopoi 185 Hierarchie 275 Hinterpommern 91, 278 Histoire des traductions en langue française (Yves Chevrel/ Lieven D’hulst/Christine Lombez) 109 Historischer Roman 68 Hollywood 138, 144 Homoerotik 249 Homosexualität 249 Horizontverschmelzung 233 Hortus conclusus 175, 193, 231 Hülsen-Stoff 235 Humor 49 Hybridität 289 Hysterie 4, 44, 166–168, 185, 245, 250, 270–271 I Idealismus 9 Ideen. Das Buch Le Grand (Heinrich Heine) 210 Identität 65, 222, 252, 261, 265, 277, 288–289, 300, 302–304 Identitätsarbeit 300, 305, 307 Identitätsbegehren 300 Identitätsentwicklung 306 Identitätserzählung 301 Identitätskonstruktion 301, 303 Identitätstheorie 301 Ideologie 289

Ideologiekritik 289 Image 288 Imagologie 288 Imperialismus 3, 288–289 Implikationen 236 Impressionismus 45 Indiana (George Sand) 13, 16 Individuum 11 Industriegesellschaft 6 Innerer Monolog 86 Inszenierung 116, 262, 264 Interdiskursanalyse 268, 272 Interkulturalität 289 Intertextualität 116, 123, 127 Inzest-Motiv 120, 158, 248 Ironie 69, 95, 149, 221, 237, 243 Irrungen, Wirrungen (Theodor Fontane) 44, 49, 73, 75, 90, 102–104, 120, 128 Italien 43, 110, 201 Ivanhoe (Sir Walter Scott) 211 J Jahreszeiten 149–150, 152 Jahrhundertwende 270 Jenseit des Tweed (Theodor Fontane) 30, 40 Johannistag 193 John Maynard (Theodor Fontane) 43 Judenemanzipation 64 Judenfrage 64, 66, 128 Judentum 42, 64, 66, 290 Jugendliebe (Adolf Wilbrandt) 209 Jugend (Max Halbe) 132 Jugendroman 171 Jugendstil 45 Jugend (Veit Harlan) 132 Junges Deutschland 9 Jungfrau von Orleans (Friedrich Schiller) 73 Justiz 269 K Kabale und Liebe (Friedrich Schiller) 172 Kaiser 195 Kaiserreich 33, 44 Kanon 108, 215 Kapitalismus 5 Kapitalismuskritik 290 Karl I. (Heinrich Heine) 208 Kastalia 257 Katholizismus 31, 196, 274 Katzelmacher (Rainer Werner Fassbinder) 140 Kernfamilie 156 Keuschheit 196 King Lear (William Shakespeare) 210 Kirche 191, 195, 197 Kitsch 121–122 Kladderadatsch 163, 211 Klassik 9 Klassiker 103 Klassische Moderne 9, 11 Kleinfamilie 23, 25

Sach- und Werkregister Klerus 42 Klischee 15, 34 Kodierte Gefühle (Simone Winko) 218 Kölnische Zeitung 103 Kolonialdiskurs 289–290 Kolonialismus 7, 30, 275, 289 Kolonialpolitik 271 Kolonien 288 Komödie 151, 208, 222–223, 264–265 Konfabulation 255 Kongruenz 255 Königgrätz 32, 80, 151, 254 König Lear im Unwetter auf der Heide (Benjamin West) 204 Königliche Akademie der Künste 42 Königliche Hoheit (Harald Braun) 135 Königliche Hoheit (Thomas Mann) 135 Königliches Schauspielhaus 41 Königlich privilegirten Berlinische Zeitung 103 Königsberg 186 König von Thule (Johann Wolfgang von Goethe) 209 Konstruktivismus 260 Konventionen IX, 132, 136, 162, 179, 181, 237, 261–262, 264, 277 Kopenhagen 179 Körper 256 Krankheit 70, 120, 166–169, 207, 223, 237, 271 Krieg im Frieden (Gustav von Moser/Franz von Schönthan) 209 Kriegsgefangen (Theodor Fontane) 31, 41, 109 Kriminalliteratur 269 Kritik der reinen Vernunft (Immanuel Kant) 260 Kulturelles Gedächtnis 123 Kulturkampf 31 Kulturkritik 290 Kulturwissenschaft 268 Kunst 204 Kurfürst 32 Kurtisanen-Roman 242 L L’Adultera (Theodor Fontane) 16, 44, 48, 64, 68–69 Lady Chatterley’s Lover (David Herbert Lawrence) 13 La Hija de la Aire (Pedro Calderón de la Barca) 87 La Regenta (Leopoldo Alas, gen. Clarín) 13, 16–17, 21 La Traviata (Giuseppe Verdi) 93, 165, 208 La Vestale (Gaspare Spontini) 205 Leerstellen 86, 119, 132, 236–237, 239, 291 Leipzig 39 Leitmotiv 3, 207 Le Morte Darthur (Thomas Malory) 13 Lenau-Verein 39 Lesepublikum 64 Lethefluss 257 Letzte Stunde vor den Ferien (Jan Böhmermann) 119, 121 Liebe 52 Liebesbriefe 140, 227 Liebesehe 27, 33, 200 Liebesheirat 269, 272 Liebesideal 156 Literarische Cabinet 40

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Literarisches Feld 102 Literarische Wertung 215 Literaturbegriff 215 Literaturgeschichte 105 Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft (Hans Robert Jauß) 215 Literaturkritik 101–103, 289 Literaturtheorie 215, 217 Literatur und Lust (Thomas Anz) 218 Lohengrin (Richard Wagner) 127, 205 London 30, 39, 51 Lot 248 Lustspiel IX, 209–210 M Macht 140–142, 186, 268, 277–278 Madame Bovary (Gustave Flaubert) 13–14, 17–19, 21, 218, 224, 286, 295 Magazin für Literatur\Vereinsorgan der Freien Literarischen Gesellschaft 104 male gaze 247 Männer und Helden (Theodor Fontane) 39 Männlichkeitsbilder 272 Mann ohne Eigenschaften (Robert Musil) 271 Märchen 71, 210 Maria Magdalena (Friedrich Hebbel) 74, 173 Maria Stuart (Friedrich Schiller) 72 Marienrolle 192 Marxismus 5 Mathilde Möhring (Theodor Fontane) 42, 44–45, 64, 87 Mätresse 69 Medien 257 Medizin 168, 269–270, 273, 275 Meine Kinderjahre (Theodor Fontane) 42–43, 56, 205 Meistersinger (Richard Wagner) 205 Melusine 185 Melusinenmotiv 120 mémoire involontaire 256 Mesmerismus (Friedrich Spielhagen) 54 Militär 4, 33, 62, 90, 132, 136, 154, 180, 187, 279 Militarismus 135 Mnemotechnik 257 Moderne 3, 9–10, 129, 158, 166, 261, 270, 297, 300, 307 Modernität 7 Monsieur Herkules (Georg Belly) 209 Montageprinzip 255 Moral 6, 8, 11, 27, 44, 82, 137, 140, 156, 167, 169, 186–187, 222 Moralphilosophie 186 Movere 295 Musik 76, 204–205 Mutter-Tochter-Verhältnis 246 Mythen des Alltags (Roland Barthes) 260 Mythologie 76 Mythomotorik 252 Mythos 273 N Nana (Émile Zola) 210, 242, 272, 275 Narration 168

328

V Anhang

Narrative Psychologie 301 Narratologie 225 Narzissmus 246 Nathan der Weise (Gotthold Ephraim Lessing) 64, 186, 209 Nationalismus 3, 30, 32, 34 Naturalismus 9–11, 41, 45, 166 Naturzustand 262 Nebenfiguren 93, 115 Nebentext 116 Nervenleiden 82 Neue Freie Presse 105 Neue Preußische (Kreuz-)Zeitung 40 Neuer Deutscher Film 137 Neurasthenie 166, 245 Neuronenmuster 255 Neuruppin 39 New Criticism 240, 268 Nicht-Ort 185, 280 Nihilismus 188 Noch einmal der alte Fontane (Thomas Mann) 126 Nocturnes (Frédéric Chopin) 205 Normenkonflikt 221 Nouvelle vague 138 Novelle 10 O Oberammergau 180, 194 Oberammergauer Passionsspiele 77, 84 Ökonomie 65 Okzident 289 On Heroes (Thomas Carlyle) 187 Oper 165 Ordnung 7–8, 23, 269, 275 Ordnungsmythos 222 Orfeo ed Euridice (Christoph Willibad Gluck) 205 Orient 289 Orthodoxie 195 Österreich 30, 32 Ostsee 142 Othello (William Shakespeare) 16 P Pädagogik 25, 199, 271 Palimpsest 144 Paradies 179, 193–194, 197 Paratext 131 Parodie 123, 196 Passion 192, 194 Pastor 195, 197 Patchwork-Identität 304, 307 Patriarchat 27 Patriotismus 34, 65 Performative turn 265 Phänomenologie (Eduard von Hartmann) 188 Philosophie 183, 185–186, 268–269, 288 Physik 185 Pioniere in Ingolstadt (Marieluise Fleißer) 138 Platen-Klub 39 Players (Don DeLillo) 21 Poeta vates 101

Poetik 47 Poetik (Aristoteles) 229 Poetik des Raumes (Gaston Bachelard) 179 Poetischer Realismus 9–11 Poetologie 184 Polen 142, 176 Ponce de Leon (Clemens Brentano) 210 Postkolonialismus 289 Postmoderne 307 Poststrukturalismus 218 Pour le Mérite (Karl Ritter) 134 Preisschriften (Arthur Schopenhauer) 186 Preußen 30, 32–34, 40, 42, 65, 136, 288, 290 Preußentum 35 Preziosa (Pius Alexander Wolff) 210 Prinz von Homburg (Heinrich von Kleist) 270 Produktive Rezeption 128 Projektion 292 Proletariat 4 Prostitution 143 Protestantismus 31, 88, 180, 191, 196, 274 Psychoanalyse 4, 159, 244, 269, 271–273, 288, 297 Psychoanalytische Interpretation 244, 248 Psychologie 69, 128, 269, 271, 273 Punch 86 Q Queer 249 Quentin Durward (Sir Walter Scott) 211 Quitt (Theodor Fontane) 44, 56, 119 R Rassismus 7, 288 Raum 89, 179–180, 182, 226 Raumroman 240 Realismus 9–11, 20, 45–47, 131, 144, 171, 173, 185, 199, 234, 237, 241, 294–295 Realismusbegriff 9 Realist 184 Realitätsbezüge 236 Religion 76, 191, 195, 197, 268–269, 273 Religiöse Orte 195 Repräsentationspflicht 157 Representative Men (Ralph Waldo Emerson) 187 Revue politique et littéraire 109 Rezension 103 Rezeption 102, 168, 244 Rezeptionsgeschichte 103 Ringparabel (Gotthold Ephraim Lessing) 65, 84, 209 Ritter Olaf (Heinrich Heine) 205, 208 Rolle 144, 265 Rollenerwartungen 25 Rollenkonflikt 221 Roman X, 34–35, 205, 208 Romandramatisierungen 113 Romane auf der Bühne (Birte Lipinski) 114 Romantik 9, 11, 45, 136, 305 Rose Bernd (Gerhart Hauptmann) 173 Rosen im Herbst (Rudolf Jugert) 133 Rote Armee Fraktion (RAF) 142

Sach- und Werkregister Rügen 91, 179–180 Russischer Formalismus 240 S Sachsen 32 Säkularisierung 191 Salon für Literatur, Kunst und Gesellschaft 53 Sardanapal (Paul Taglioni/Peter Ludwig Hertel) 206, 263 Satire 122–123 Sattelzeit 3 Schach von Wuthenow (Theodor Fontane) 30, 43–44, 68 Schauerroman 283 Schauspieler 210 Scheidung 62, 74, 77, 121, 144, 157–159, 201 Schottland 30, 39 Schrift 252 Schuld 113, 132, 137, 217, 231 Schwellenraum 180–181 Schwindsucht 166, 269–270 Seebad 177 Seegespenst (Heinrich Heine) 208 Seitensprung X, 13, 27, 162 Selbstaussagen 56 Selbstdisziplin 4 Selbstironie 237 Selbstreflexion 3, 273 Selbstreflexivität 236–237 Semiotik 185 Sexualität IX, X, 6, 27, 44, 49, 122, 141, 143, 156, 158, 161, 163–164, 181, 227, 237, 247, 269, 271–272, 274, 277, 280 Sexualpolitik 141 Sittlichkeit 185–186 Skandal 73, 95 Slawismus 290 Soll und Haben (Gustav Freytag) 11, 231 Sonntagsblatt des Berner Bundes 104 Sozialdarwinismus 5 Sozialdemokratie 5, 288, 290 Soziale Frage 5, 275 Soziale Identität 185 Soziale Isolation 232 Soziale Norm 270 Soziale Ordnung 162 Soziale Praktiken 268 Sozialer Aufstieg 279 Soziale Stellung 23 Sozialgeschichte 3 Sozialisation 25, 27, 264 Soziologie 275, 288 Spätmoderne 307 Sprechakt 268 Spuk 34, 58, 78, 86, 88–90, 95, 141, 151, 153–154, 156–157, 162, 178, 185, 222, 273, 275, 278, 287, 291–292, 304 Stereotyp 278, 288, 291 Stimmen der Völker in Liedern (Johann Gottfried Herder) 205 Stine (Theodor Fontane) 44, 104 Struktur 252 Strukturalismus 225, 240 Stufen 305

329

Sturmflut (Friedrich Spielhagen) 54 Subjekt 225, 249, 268–269, 275, 300 Sublimierung 244 Suffragettenbewegung 284 Sündenfall 193–194, 197 Swinemünde 39, 86, 176, 186 Symbolik 268 Symbolismus 45 T Tabu 223 Tess of the d’Urbervilles (Thomas Hardy) 16 Teufelsfigur 196 The Abbott (Sir Walter Scott) 34 Theater 114 Theaterkritik 101 The Good Soldier (Ford Madox Ford) 19 Theodor Fontane als Patient (Horst Gravenkamp) 166 Theodor Fontane. Soziale Romankunst in Deutschland (Walter Müller-Seidel) 171 The Scarlet Letter (Nathaniel Hawthorne) 13–15, 17–20 The Subjection of Women (John Stuart Mill) 188 Times 40 Tonio Kröger (Thomas Mann) 93 Topographie 192, 194 Topos 183 Traditionalismus 195 Trauma 256, 304 Travestie 123 Tristan und Isolde (Richard Wagner) 16 trivial 135 Trivialliteratur 216 Tuberkulose 166, 230 Tugend 173, 186 Tunnel über der Spree 39, 42, 51–52 U Übersetzungen 107, 110 Unbestimmtheitsstellen 236–237, 239 Undine (Friedrich de la Motte-Fouqué ) 120 Undinenmotiv 120 Ungehaltene Reden ungehaltener Frauen (Christine Brückner) 221 Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848 (Theodor Fontane) VIII, 46, 52 Unterm Birnbaum (Theodor Fontane) 44, 56, 119 Unwiederbringlich (Theodor Fontane) 43–45, 53, 64, 69, 103–104 Urheberrecht 109 Utilitarismus 188 Utopie 144 V Verfilmungen 131 Verführer 115, 240 Verführung 151, 163, 227, 272, 298 Vergessen 255, 257 Vergewaltigung 122 Verklärung 46–47, 49, 225 Versorgungsehe 33

330

V Anhang

Verstehen 233 Versuch über den Roman (Christian Friedrich von Blanckenburg) 231 Vitzliputzli (Heinrich Heine) 208 Von Zwanzig bis Dreißig (Theodor Fontane) 40, 42–43, 51– 53 Vorausdeutungen 236 Vor dem Sturm (Theodor Fontane) 30, 41–43, 68, 102 Vormärz 3, 9, 45 Vor Sonnenaufgang (Gerhart Hauptmann) 55 Vossische Zeitung 41, 49, 61, 73, 75, 102 W Wahlverwandtschaften (Johann Wolfgang von Goethe) 59, 105, 296 Wahnsinn 269 Walküre (Richard Wagner) 127 Wallenstein (Friedrich Schiller) 72, 209, 217 Wanderungen durch die Mark Brandenburg (Theodor Fontane) 34, 39, 41, 64, 128 Warnung vor einer heiligen Nutte (Rainer Werner Fassbinder) 140 Was mir gefällt (Theodor Fontane) 210 Was tun? Erzählungen von neuen Menschen (Nikolai Gawrilowitsch Tschernyschewski) 16 Weiblichkeit 26

Wenn du geredet hättest, Desdemona (Christine Brückner) 119 Werkästhetik 240 Werkimmanenz 240 Westermanns Monatshefte 105 Wetter 149, 151–152 Wiegenlieder (Friedrich Johann Justin Bertuch) 210 Wiener Kongress 30 Wilhelm Meisters Lehrjahre (Johann Wolfgang von Goethe) 10, 231 Wilhelm Meisters Wanderjahre (Johann Wolfgang von Goethe) 10 Wir alle spielen Theater (Erving Goffman) 265 Wissen 217, 268–269, 271 Wunde 256 Z Zampa (Ferdinand Hérold) 205 Zeichencharakter 266 Zeichensystem 76, 261–262, 266 Zeitroman VIII, 43, 68, 76, 131 Zittern 250, 304 Zivilisationskritik 271 Zug der Aurora (Guido Reni) 204 Zum Zeitvertreib (Friedrich Spielhagen) IX, 54, 58–59, 106, 113, 207, 216 Zur linken Hand getraut (Hedwig Courths-Mahler) 71