Edmund Husserl - Martin Heidegger: Phänomenologie (1927) [1 ed.]
 9783428492961, 9783428092963

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RENATO CRISTIN (Hg.)

Edmund Husserl · Martin Heidegger Phänomenologie (1927)

Philosophische Schriften Band 34

Edmund Husserl · Martin Heidegger Phänomenologie (1927)

Herausgegeben von

Renato Cristin

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme

Edmund Busserl, Martin Heidegger - Phänomenologie (1927) I hrsg. von Renato Cristin. - Berlin : Duncker und Humblot, 1999 (Philosophische Schriften ; Bd. 34) ISBN 3-428-09296-1

E. Husserl: Phänomenologische Psychologie; S.277-301, 256-263, 600-603 E. Husserl: Briefwechsel, Bd. II, S. 180-184; Bd. III, S. 233-235 M. Heidegger: Akademische Mitteilungen der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br., IX. Sem., 1929, S. 46-47 Copyright© Kluwer Academic Publishers B.V. 1962, 1990 Dordrecht, The Netherlands und Copyright © Hermann Heidegger, Stegen (für M. Heidegger s. o.) Alle Rechte vorbehalten © 1999 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-6053 ISBN 3-428-09296-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 0

Inhalt Renato Cristin Die Phänomenologie zwischen Husserl und Heidegger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Edmund Husserl Phänomenologie

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Martin Heidegger Brief an Edmund Husserl vom 22. X. 1927

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Martin Heidegger Einleitung: Die Idee der Phänomenologie und der Rückgang auf das Bewußtsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Edmund Husserl Brief an Roman lngarden vom 19. XI. 1927

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Martin Heidegger Edmund Husserl zum siebenzigsten Geburtstag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Edmund Husserl Brief an Alexander Pfänder vom 6.1. 1931 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Textnachweise E. Husserl: Phänomenologie. Der Encyclopaedia-Britannica-Artikel. - Aus: E. Husserl, Phänomenologische Psychologie, hrsg. von W. Biemel, Husserliana IX, Den Haag 1962, s. 277 - 301. M. Heidegger: Brief an E. Husserl vom 27. X. 1927. -Aus: E. Husserl, Phänomenologische Psychologie, hrsg. von W. Biemel, Husserliana IX, Den Haag 1962, S. 600 - 603. M. Heidegger: Die Idee der Phänomenologie und der Rückgang auf das Bewußtsein. Aus: E. Husserl, Phänomenologische Psychologie, hrsg. von W. Biemel, Husserliana IX, Den Haag 1962, S. 256 - 263. E. Husserl: Brief an R. lngarden vom 19.XI.1927. - Aus: E. Husserl, Briefe an Roman Ingarden, hrsg. von R. Ingarden, Den Haag 1968, S. 40- 41. Wiederabgedruckt in: E. Husserl, Briefwechsel, hrsg. von K. u. E. Schuhmann, 10 Bde., Dordrecht 1990, Bd. III, S. 233 - 235. M. Heidegger: Edmund Husserl zum siebenzigsten Geburtstag.- Aus: Akademische Mitteilungen der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br., Vierte Folge, IX. Sem., Nr. 3 (14.5.1929), s. 46- 47. E. Husserl: Brief an A. Pfänder vom 6.1.1931.- Aus: H. Spiegelberg, E. Ave-Lallemant (Hg.), Pfänder-Studien, Den Haag 1982, S. 345 - 349. Wiederabgedruckt in: E. Husserl, Briefwechsel, hrsg. von K. u. E. Schuhmann, 10 Bde., Dordrecht 1990, Bd. II, s. 180- 184.

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Die Phänomenologie zwischen Busserl und Heidegger 1 I. Die Frage In einer der ersten Stunden der Marburger Vorlesung des Sommersemesters 1927 sagte Heidegger seinen Hörern: "Das Grundstück der phänomenologischen Methode im Sinne der Rückführung des untersuchenden Blicks vom naiv erfaßten Seienden zum Sein bezeichnen wir als phänomenologische Reduktion. Damit knüpfen wir dem Wortlaut, nicht aber der Sache nach an einen zentralen Terminus der Phänomenologie Husserls an. Für Busserl ist die phänomenologische Reduktion [... ] die Methode der Rückführung des phänomenologischen Blickes von der natürlichen Einstellung des in die Welt der Dinge und Personen hineinlebenden Menschen auf das transzendentale Bewußtseinsleben und dessen noetisch-noematische Erlebnisse, in denen sich die Objekte als Bewußtseinskorrelate konstituieren. Für uns bedeutet die phänomenologische Reduktion die Rückführung des phänomenologischen Blickes von der wie immer bestimmten Erfassung des Seienden auf das Verstehen des Seins (Entwerfen auf die Weise seiner Unverborgenheit) dieses Seienden". 2 In wenigen Worten bezeichnet hier Heidegger genau das Problem, um das es in seiner Beziehung zum Denken Husserls geht: Um das Verständnis der phänomenologischen Reduktion, als Möglichkeit einer radikalen Veränderung des Denkens, das von einer naiven bzw. wissenschaftlich-natürlichen Erfassung der Welt als Welt der seienden Dinge in ein phänomenologisches Verständnis der Welt als Phänomen übergeht. Das, was hier Heidegger entschleiert, ist seine eigentümliche Auslegung der phänomenologischen Methode, nach der die Reduktion als Welteinklammerung nicht nur das Feld des transzendental-konstitutiven Bewußtseins erschließt, sondern auch die Möglichkeit eines Verständnisses des Seins selbst (und nicht der bloßen I Herrn Prof. Dr. Samuel Ijsseling und Herrn Prof. Dr. Rudolf Bemet, dem damaligen und dem heutigen Direktor des Husserl-Archivs in Löwen, danke ich für die Genehmigung, die Texte aus den Husserliana wiederabzudrucken. Herrn Dr. Hermann Heidegger danke ich für die freundliche Genehmigung, die Texte seines Vaters zu publizieren. Sehr herzlich möchte ich schließlich Herrn Curd Ochwadt und Herrn Dr. Hans Rainer Sepp für ihre in sprachlicher und inhaltlicher Hinsicht liebenswürdige Hilfe bei der Ausarbeitung der vorliegenden einführenden Betrachtungen danken. 2 M. Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, hrsg. von F.-W. von Herrmann, GA 24, Frankfurt am Main 1975, S. 29.

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Seienden). Dies kann aber nur um den Preis einer Transformation der Reduktion selbst geschehen. In den zitierten Worten lassen sich alle die Probleme aufzeigen, die Heideggers Auseinandersetzung mit Husserl impliziert und die mit folgenden Stichworten zu bezeichnen sind: Welt, Ich, Erlebnis, Bewußtsein, das Transzendentale und das Empirische, Sein, Faktizität, Existenz, Transzendenz, noetisch-noematische Korrelation. Das, was mit diesen Worten in Frage gestellt wird, ist die Phänomenologie selbst mit ihrem methodischen Statut, ihren Zielen und ihrer Zukunft. Die Frage betrifft also die Phänomenologie als Möglichkeit der Philosophie. Hinter jeder Kritik, die beide, Husserl und Heidegger, aneinander richten, steht immer die Philosophie im ganzen. Deshalb geht es in der Beziehung zwischen beiden Denkern m. E. um Grundlegendes, und zwar nicht nur für die Philosophie des XX. Jahrhunderts, sondern für die Zukunft des philosophischen Denkens überhaupt, weil es sich nicht um eine Auseinandersetzung um bestimmte und begrenzte Probleme handelt, sondern um eine Herausforderung des Wesens und der Existenz der Philosophie. Eine Anekdote erzählt, daß Husserl in den zwanziger Jahren jenen, mit denen er im Vertrauen war, oft sagte: "Die Phänomenologie, das sind ich und Heidegger, sonst niemand". 3 Dieser Ausspruch bezeugt die hohe Achtung, die er für die philosophische Arbeit Heideggers empfand, obwohl Heidegger kein direkter Schüler von ihm war. Heidegger ist Husserl im Jahr 1916 begegnet, als er bereits junger Privatdozent war. Aufgrund des tiefen Einflusses, den das Husserlsche Denken auf Heidegger in der Zeitspanne fast eines Jahrzehnts ausgeübt hat, kann man mit einem gewissen Recht von einer Lehrer-Schüler-Beziehung sprechen. Diese Beziehung stellt ein zentrales Problem in der Philosophiegeschichte des XX. Jahrhunderts dar, das bis auf den heutigen Tag zu denken gibt. Es handelt sich um eine hermeneutische Schwierigkeit, die Hans-Georg Gadamer veranlaßt hat, von einem Dialog zwischen Heidegger und Husserl zu reden, der nie eigentlich realisiert wurde.4 Hier möchte ich die These erläutern, daß einerseits Husserl wie auch Heidegger ein gewisses Unverständnis für einander gehabt haben und daß andererseits Heidegger einen Bezug zur phänomenologischen Denkweise bis in seine letzten Jahre bewahrt hat. In der vorliegenden Einleitung beschränke ich 3 Das erzählt H. Spiegelberg, The Phenomenological Movement, Den Haag 1960, Bd. I, S. 352. Nach D. Caims habe Husserl im Februar 1928 zu Heidegger gesagt: "Sie und ich sind die Phänomenologie". Vgl. D. Caims, Conversations with Husserl and Fink, Den Haag 1976, S. 9. 4 Vgl. H.-G. Gadamer, Die Phänomenologische Bewegung, Philosophische Rundschau, 10, 1963, jetzt in: Gesammelte Werke, Tübingen 1987, Bd. 3, S. 105- 146. Gadamer meint, daß es zwischen Husserl und Heidegger "fundamentale inhaltliche Differenzen" gibt, "die wohl von früh an sich melden und Heideggers eigenen Einsatz bezeugen". Trotzdem besteht "die philosophische Aufgabe [Heideggers) gegenüber Husserls transzendentaler Phänomenologie nicht in einer dialektischen Überwindung der , sondern in der beständigen Konfrontierung mit der phänomenologischen Forschungsgesinnung" (a.a.O., S. 139- 141).

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mich auf die Zusammenarbeit zwischen Husserl und Heidegger für den Encyclopaedia-Britannica-Artikel und auf Husserls Lektüre von Sein und Zeit. 5 Nachdem Husserl im Sommersemester 1928 seine Unterrichtszeit in Freiburg auf die Hälfte reduzierte, trat er im Winter desselben Jahres von seinem Lehrstuhl zurück. Sein von ihm selbst benannter Nachfolger war Heidegger. Die philosophischen und persönlichen Beziehungen zwischen Husserl und Heidegger waren in den Jahren von 1916 bis 1929 am lebhaftesten. 1916 wurde Heidegger, der 1913 bei Arthur Schneider promovierte und sich im Juli 1915 bei Ricken in Freiburg habilitierte, zum Mitarbeiter Husserls. Im Wintersemester 1915/16las er schon als Privatdozent, und am 10. Oktober 1916 beantragte Husserl für ihn einen Lehrauftrag, der bis 1923 verlängert wurde, bis zu dem Jahr, als Heidegger einen Ruf nach Macburg erhielt. Am 21. Januar 1919 stimmt die Fakultät einem Antrag Husserls zu, den Privatdozenten Heidegger zum Assistenten zu ernennen. Für einige Jahre stehen beide in häufigem und fruchtbarem Kontakt: Heidegger vertieft die phänomenologische Methode und gibt Husserl kritische Anregungen. 6 Als Heidegger nach Macburg geht, schwächt sich der fruchtbare Austausch ab, aber Heidegger bleibt der phänomenologischen Methode noch nah. Das meint zumindest Husserl, der in jener Zeit die Arbeit Heideggers noch im Rahmen seiner eigenen, transzendental-konstitutiven Phänomenologie lokalisiert. Paul Natorp gegenüber lobt Husserl die "bedeutenden Qualitäten" Heideggers, seine "ganz originelle Persönlichkeit" und "seine Weise phänomenologisch zu sehen, zu arbeiten", die er in seinen Vorlesungen entfaltet, wo er über das spricht, "was ihn tiefschürfende phänomenologisch-geistesgeschichtliche Forschung lehrt". 7 Es gibt nur sehr wenig dokumentarische Nachweise für die ersten Jahre dieser Beziehung. Es sind auch nur wenige Briefe, die Husserl und Heidegger miteinander wechselten, und noch weniger besitzen eine philosophische Bedeutung. Im Jahr 1919 schrieb Husserl an Johannes Dauben: "Ein ausgezeichneter Mitarbeiter ist mir in meinem jungen Kollegen Dr. Heidegger herangewachsen". 8 Husserl schätzt seinen Schüler so, daß er ihn schon 1920 Natorp für einen zu besetzenden Lehrstuhl in Macburg vorschlägt: "Er ist in den beiden letzten Jahren mein wertvollster philo5 Vgl. die dokumentationsreiche und ausführlichere Darstellung bei T. Sheehan, Husserl and Heidegger: The Making and Unmaking of a Relationship, in: E. Husserl, Psychological and Transeendental Phenomenology and the Confrontation with Heidegger, transl. by T. Sheehan and R. E. Palmer, Dordrecht 1997, S. 1 - 32. Für die Entwicklungsphasen des Encyclopaedia-Britannica-Artikels vgl. T. Sheehan, The History of the Redaction of the Encyclopaedia Britannica Article, in: E. Husserl, Psychological and Transeendental Phenomenology and the Confrontation with Heidegger, a. a. 0 ., S. 35 - 68; W. Biemel, Einleitung des Herausgebers, in: E. Husserl, Phänomenologische Psychologie, Husserliana IX, Den Haag 1962, S. XIII - XXVIII (im folgenden zitiert als HUA IX). 6 Den frühen Freiburger Vorlesungen sind diese phänomenologischen Sesinnungen Heideggers zu entnehmen. Vgl. HGA 56/57 bis 63. 7 E. Husserl, Brief an P. Natorp vom 1. II. 1922, in E. Husserl, Briefwechsel, hrsg. von K. und E. Schuhmann, 10 Bde., Dordrecht 1990, Bd. V, S. 150 (im folgenden zitiert als BW). 8 E. Husserl, Brief an J. Daubert vom 10. VIII. 1919, BW, II, S. 77.

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sophischer Mitarbeiter, ich habe von ihm, als akademischen Lehrer und philosophischen Denker, die allerbesten Eindrücke und setze auf ihn große Hoffnungen. Seine Seminarübungen sind ebenso besucht wie die meinen, u. er versteht es zugleich Anfänger und Fortgeschrittene zu fesseln. Auch seine, sehr gerühmten Vorlesungen, formvollendet und doch tiefgründig, sind sehr stark besucht (etwa 100 H). Mit größter Energie hat er sich in die Phänomenologie eingearbeitet und strebt überhaupt nach sicherster Fundamentierung für sein philosophisches Denken. Seine Gelehrsamkeit ist weitreichend. Eine gediegene Persönlichkeit". 9 Auch in mehr persönlich, nicht offiziell gehaltenen Briefen stoßen wir auf diesseihe Tonart: Heidegger hat seine Ausbildung weiter entwickelt; er "hat seine kraftvoll merkwürdige Eigenart auch weitergebildet u. wirkt stark. Was auch immer in ihm wird, es wird ein Hochwertiges sein". 10 Auch von Heidegger haben wir ähnliche Zeugnisse der Wertschätzung und Freundschaft Husserl gegenüber. 1919 etwa - obwohl Heidegger sich beklagt, daß ihm "wenig Zeit bleibt bei der intensiven Arbeit mit Husserl"- zeigt er sich doch zufrieden, weil seine Arbeit "sehr konzentriert, prinzipiell u. konkret" ist: "straffes Eingestelltsein auf intensive, qualitativ hochwertige akademische Wirksamkeit, ständiges Lernen in der Gemeinschaft mit Husserl". In diesem philosophischen Kontext gibt es auch für die Freundschaft Raum: "Mein Leben ist still aber reich [... ] Und was ich in der Freundschaft geben u. nehmen kann, ist mir selbst eine Erhöhung des Lebens". 11 So sind die Voraussetzungen für eine fruchtbare Zusammenarbeit gegeben. Die erste Marburger Vorlesung Heideggers trägt einen unzweideutigen Titel: "Einführung in die phänomenologische Forschung". In dieser Zeit war Heidegger vielleicht der beste Kenner des Husserlschen Denkens. 12 Aber zugleich war er ein Philosoph, der seinen eigenen Weg schon gefunden hatte, der, wie Gadamer behauptete, sein "einer Weg" wurde. Deshalb brauchte er aus der Phänomenologie nur das zu nehmen, was sie ihm in Hinblick auf seinen Weg geben konnte. Die Vorbemerkung zur Vorlesung ist nahezu programmatisch, sie besitzt nicht nur dokumentarischen Wert, sondern auch einen bedeutsamen theoretischen Gehalt. Deshalb soll sie hier fast vollständig wiedergegeben werden: Heidegger legt Gewicht darauf, "folgende Fehlerwartungen abzustreifen": "1. Keine journalistische Auskunft über Phänomenologie und Verraten eines E. Husserl, Brief an P. Natorp vom 11. 2. 1920, BW, V, S. 140. E. Husser1, Brief an R. lngarden vom 24.XII.1921, BW, III, S. 215. 11 M. Heidegger, Briefe an E. Blochmann vom 14. I. 1919 und 1. V. 1919, in: M. Heidegger, E. Blochmann, Briefwechsell918-l969, hrsg. von J. W. Storck, Macbach am Neckar, 1990, s. 12 u. 16. 12 Wie Heidegger selbst notiert, hielt er "vom WS 1920/21 bis SS 1923 jeweils Privatseminare über die V. und VI. L[ogische] U[ntersuchung) am Samstagvormittag". Vgl. F.-W. von Herrmann, Nachwort des Herausgebers, in: M. Heidegger, Einführung in die phänomenologische Forschung, hrsg. von F.-W. von Herrmann, GA 17, Frankfurt am Main 1994, S. 329. 9

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Tricks der Wesensschau. 2. Gefährlicher, weil fester eingesessen: Hier wird keine Grundlegung, kein Programm oder System gegeben: nicht einmal Philosophie ist zu erwarten. Es ist meine Überzeugung, daß es mit der Philosophie zu Ende ist. Wir stehen vor völlig neuen Aufgaben, die mit der traditionellen Philosophie nichts zu tun haben. Diese Ansicht ist aber nur ein Leitfaden. Von Bedeutung sind allein die Tatbestände; Abgrenzung, Einreihung, Deutung und Auseinandersetzung sind von sekundärem Belang. Die Aufgabe der folgenden Betrachtungen ist eine dreifache: 1. Aufklärung des Ausdrucks "Phänomenologie"; 2. Vergegenwärtigung des Durchbruchs der phänomenologischen Forschung in Husserls "Logische Untersuchungen"; 3. Vergegenwärtigung der Ausbildung der Phänomenologie von hier aus, wie weit sie festgehalten, wie weit sie abgebogen oder am Ende in ihrer entscheidenden Bedeutung aus der Hand gegeben wird. Wortgeschichte: mVOjlEVOV und Myoc:; - zwei ursprüngliche Worte der griechischen Philosophie; aus deren Bedeutungswandel wird die Entstehung der spezifischen Bedeutung verständlich. Sofern diese Worte "Dasein" aussprechen, bewegen wir uns mit ihrer Verdeutlichung in der Daseinsgeschichte der abendländischen Menschheit und der Geschichte ihrer Selbstauslegung. Aus Husserls Selbstauslegung der "Phänomenologie" gleich nach den "Logischen Untersuchungen" wird verständlich, wie er die phänomenologische Forschungsaufgabe faßt und weiterbildet. Vorweisend fixieren wir als Hauptthema: Dasein, d. h. Welt, Umgang in ihr, Zeitlichkeit, Sprache, Eigenauslegung des Daseins, Möglichkeiten der Daseinsauslegung. Keine Voraussetzung an philosophischen Kenntnissen. Dagegen drei Voraussetzungen: Leidenschaft des echten und rechten Fragens. Die Leidenschaft fallt nicht beliebig zu, sie hat ihre Zeit und ihr Tempo. Es muß die Bereitschaft da sein, die besteht in: 1. Bekümmerung um eine instinktsichere Vorurteilsüberlegenheit; 2. Sorge um das Heimischwerden in einer bestimmten Wissenschaft; 3. Gefaßtheit darauf, daß das Leben dem erkennenden Fragen zu allem anderen eher verhilft als zu einer seelischen Behäbigkeit, der sogenannten theoretischen Betrachtung. Ad 1. Nicht Vorurteilslosigkeit, die eine Utopie ist. Die Meinung, kein Vorurteil zu haben, ist selbst das größte Vorurteil. [... ] Nicht frei von Vorurteilen, sondern frei für die Möglichkeit, im entscheidenden Moment aus der Auseinandersetzung mit der Sache heraus ein Vorurteil aufzugeben. Das ist die Existenzform des wissenschaftlichen Menschen. Ad 2. Wissenschaft, aufgefaßt als bearbeitete Materialsammlung, hat Überdruß an Erkenntnis zu Folge. [... ]Man flieht vor einer fundamentalen Daseinsmöglichkeit, die uns heute allerdings verloren zu gehen scheint. Die Wissenschaften sind eine Möglichkeit des Daseins und seiner Auseinandersetzung mit sich selbst. Wenn jeder an seinem Platz vor seiner Wissenschaft an bestimmten Fragen erfahren hat, daß er sich hier mit sich selbst und der Welt auseinandersetzt, dann ist verstanden, was Wissenschaft heißt.

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Ad 3. Die Bereitschaft des Fragens besteht in einer gewissen Reife der Existenz: nicht abfallen in Surrogate; [... J Dazu ist gefordert, sich von einer Tradition frei zu machen, die in der griechischen Philosophie echt war: wissenschaftliches Verhalten als Theorie." 13 Diese Äußerungen enthalten nicht nur die ersten in programmatischer Form ausgedrückten Grundgedanken der Marburger Vorlesungen und von Sein und Zeit, sondern werfen auch ein Licht auf die Vorgeschichte der gesamten Beziehung, die Heidegger zu Husserl in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre unterhielt. Ferner erklären diese Seiten implizit auch die Inhalte seiner Mitarbeit an Busserls Encyclopaedia-Britannica-Artikel und der zu ihr gehörigen Auseinandersetzung mit seinem Verfasser, deren wichtigste Dokumente mit einigen zusätzlichen Texten im vorliegenden Buch vorgestellt werden. In den frühen Freiburger und den Marburger Vorlesungen wandte Heidegger die phänomenologische Methode kritisch an, indem er zu einer fruchtbaren Zwiespältigkeit gelangte: zu Distanz und Nähe. Mit großer Klarheit charakterisiert Walter Biemel diese Besonderheit: "Was unter phänomenologischen Übungen von Heidegger angeboten wurde, hatte wenig mit Busserls Konstitutions- und Reduktionsanalysen zu tun, aber sehr viel mit seiner Devise Zu den Sachen selbst- in der Weise, daß hier plötzlich Philosophen, die längst «überwunden» zu sein schienen, zu neuem Leben erwachten, ihr Denken so ursprünglich gegenwärtig gemacht wurde, daß es geradezu revolutionär wirkte". 14 II. Chronik einer Zusammenarbeit Wie Jacques Derrida in seiner Besprechung des Bandes IX der Husserliana, der die verschiedenen Fassungen des Encyclopaedia-Britannica-Artikels enthält, schrieb, "kann man", indem man diese Texte liest, "den Spuren derjenigen Zusammenarbeit folgen, die in einem gewissen Moment zwischen Husserl und Heidegger geschieht". 15 Im Frühjahr 1927 bekam Husserl von James Louis Garvin die Einladung, für die XIV. Auflage der Encyclopaedia-Britannica den Artikel "Phenomenology" zu schreiben. Von Anfang an will Husserl Heidegger als Mitarbeiter für die Abfassung des Artikels, die sich von Oktober 1927 bis März 1928 erstreckt, gewinnen. Die von Husserl begonnene Lektüre von Sein und Zeit findet bei dieser Zusammenarbeit eine Konkretisierung in einem wirklichen Gespräch. Obwohl Husserl schon einige Zweifel an der Tendenz von Sein und Zeit äußerte, 16 will er die Differenz beider Standpunkte, die die Trennung ihrer Vertreter bedeutete, nicht M. Heidegger, Einführung in die phänomenologische Forschung, a. a. 0 ., S. 1 - 3. W. Biemel, Martin Heidegger, Reinbek bei Hamburg, 1973, S. 33. 15 J. Derrida, Besprechung zu: E. Husserl, Phänomenologische Psychologie, Les Etudes Philosophiques, 1963, S. 203. 13 14

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wahrhaben: "Ich wollte mir, angesichts der für meine Denkungsart so schwer zugänglichen Theorien, nicht eingestehen, daß in ihnen die Methode meiner phänomenologischen Forschung[ .. .] preisgegeben sei". 17 Husserls Hoffnung war, die Zukunft seiner Phänomenologie in den Händen Heideggers belassen zu können. Noch 1926 schreibt er an Heidegger: "Niemand hat einen größeren Glauben an Sie als ich". 18 Anfang August 1927 stellt Husserl seinem Freund Heidegger das Projekt des Artikels, 19 der dank seines Veröffentlichungsorts eine internationale Resonanz haben sollte, vor. Bis dahin hatte Husserl kaum etwas von seiner umfangreichen handschriftlich niedergelegten Forschungsarbeit publiziert; mit diesem Artikel erhielt er die Gelegenheit, Hauptinhalte seiner transzendentalen Phänomenologie synthetisch darzustellen. Husserl redigierte im September 1926 eine erste Fassung, die er zunächst gegen Mitte Oktober mit Heidegger in Freiburg diskutiert und dann später Heidegger nach Meßkirch schickt. Heidegger notiert einige Bemerkungen dazu und verfaßt eine neue Fassung des ersten, einführenden Teils. Die zweite Fassung des Artikels besteht demnach in einer von Heidegger geschriebenen Einführung und in drei nachfolgenden, von Husserl abgefaßten Abschnitten. Ergebnis von Heideggers Überprüfung der zweiten Fassung sind einige Randbemerkungen und vor allem ein Brief an Husserl, in dem Heidegger seine Einwände erläutert. Husserl akzeptiert diese kritischen Bemerkungen Heideggers jedoch nicht und schreibt eine dritte Fassung, die keine Spur der vorausgehenden Auseinandersetzung und der Heideggerschen Position enthält und zu einer vierten, letzten Fassung führt. Nach der Auseinandersetzung mit Heidegger will Husserl den Artikel so gestalten, "daß er als einigermaßen brauchbarer Leitfaden dient für die Kette weiterfolgender Publikationen, vor allem der Stücke von Ideen ll" .Z0 Von der theoretischen Vorarbeit der drei ersten Fassungen verrät die endgültige Version nichts mehr. Anfang Dezember 1927 informiert Husserl Heidegger über den Abschluß des Artikels: "Die Neuarbeitung des Londoner Artikels, nun sehr sorgfältig durchdacht und geordnet, fiel schön, doch ganz anders aus, als Sie es annehmen möchten, obschon Wesentliches erhalten blieb. Schließlich war und blieb es zu groß, aber nun wollte ich nichts mehr damit zu tun haben, und kürzen ließ es sich nicht mehr". 21 16 "Sie wissen, wie hoch ich ihn [Heidegger] schätze als aufrechte, durchaus echte Persönlichkeit und als Denker von einer ganz einzigen Originalität. Das sagt ja noch nicht, daß ich sachlich und methodisch ohne weiteres mit ihm gehe". E. Husserl, Brief an D. Mahnke vom 26.XII. l927, BW, 111, S. 457. 17 E. Husserl, Brief an A. Pfänder vom 6. I. 1931, BW, II, S. 181; s. unten, S. 68. 18 E. Husserl, Brief an M. Heidegger Dezember 1926, BW, IV, S. 140. 19 Vgl. M. Heidegger, Brief an K. Löwith vom 20. VIII. 1927, in D. Papenfuss, 0. Pöggeler (Hg.), Zur philosophischen Aktualität Martin Heideggers, 3 Bde., Frankfurt am Main 1990, Bd. II, S. 33 f. 2o E. Husserl, Brief an R. Ingarden vom 26. XII. 1927, BW, III, S. 237. 21 E. Husserl, Brief an M. Heidegger vom 8.XII. 27, BW, IV, S. 149.

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Der von Husserl geschriebene und von Christopher V. Salmon ins Englisch übersetzte Artikel .,Phenomenology" wurde in der Encyclopaedia Britannica bis 1956 gedruckt. Dann wurde er durch einen gleichnamigen Artikel von John N. Findlay und seit 1966 durch einen von Herbert Spiegelberg ersetzt. 1974 wurde die Phänomenologie in einem Artikel von Walter Biemel dargestellt, der nicht nur die Husserlsche Phänomenologie, sondern die phänomenologische Bewegung überhaupt analysiert, und 1986 hat das Redaktionsteam der Encyclopaedia den BiemelArtikel durch einen kürzeren Text ersetzt. 22 Die Zusammenarbeit von Husserl und Heidegger an diesem Artikel stellt auch den Trennungspunkt zwischen der transzendentalen Phänomenologie Husserls und der hermeneutischen Ontologie Heideggers dar. Alle Themen der Auseinandersetzung zwischen diesen Positionen sind dabei involviert: Die Subjekt- und Weltauffassung, der Begriff des Transzendentalen, die Reduktion. In der ersten Fassung schrieb Husserl: .,Die Phänomenologie ist antimetaphysisch, sofern sie jede in leer formalen Substruktionen sich bewegende Metaphysik ablehnt"?3 Und Heidegger bemerkt am Rande: .,oder und erst recht sofern man unter Metaphysik die Darstellung eines Weltbildes versteht, das in der natürlichen Einstellung vollzogen und je nur auf sie in bestimmten historischen Situationen des Lebens - seiner gerade faktischen Erkenntnismöglichkeiten - zugeschnitten ist". 24 Nach Husserl führt die Phänomenologie notwendig zu einer .,universalen Ontologie", indem sie von einer transzendentalen Ursprünglichkeit ausgeht. Für Heidegger aber sind diese Begriffe metaphysisch, weil sie sich auf eine Denkfigur (das transzendentale Ego) beziehen, die noch in der Seinsvergessenheit steht. Als Beispiel kann eine Randbemerkung Heideggers zitiert werden, die die ganze Problemweite der Auseinandersetzung ausdrückt. Zuerst aber sei die Stelle Husserls angeführt, auf die Heidegger sich bezieht: .,[Meine Fragestellung] fordert [... ] Reduktion auf denjenigen Geltungsboden, den diese Frage als solche voraussetzt: die reine Subjektivität als Sinnes- und Geltungsquelle. Ich habe so als transzendentaler Phänomenologe nicht mein ego als Seele, ein Wort, das schon in seinem Sinne seiende oder mögliche Welt voraussetzt, sondern dasjenige transzendental reine ego, in dem auch diese Seele mit ihrem transzendentalen Sinn sich aus verborgenen Bewußtseinsleistungen den Sinn und die Geltung verschafft, die sie für mich hat".25 Erst durch die Reduktion kann der Phänomenologe das Ursprung22 Walter Biemel ist der Herausgeber des Bandes IX der .,Husserliana", der die verschiedenen Fassungen des Artikels und den Brief Heideggers enthält, und er war der erste (im Jahr 1950), der die Bedeutung dieser Zusammenarbeit untersuchte. Vgl. W. Biemel, Husserls Encyclopaedia-Britannica-Artikel und Heideggers Anmerkungen dazu, Tijdschrift voor Filosofie, 12, 1950, S. 246- 280. 23 E. Husserl, Der Encyclopaedia-Britannica-Artikel, HUA IX, a. a. 0., S. 253, erster Entwurf. 24 Ebd. zs a. a. 0., S. 273 f.

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liehe erreichen. Stellt man die Reduktion in Frage, verschattet man wiederum den transzendentalen Grund. Aber Heidegger verdächtigt gerade dieses Spiel von Erhellung und Verbergung: ..Gehört nicht eine Welt überhaupt zum Wesen des reinen ego? Vgl. Unser Todtnauberger Gespräch über das •.In-der-Weltsein" (Sein und Zeit, I,§ 12, § 69) und den wesenhaften Unterschied zum Vorhandensein ..innerhalb" einer solchen Welt". 26 Diese Fragen beantwortet Heidegger negativ, Husserl hingegen betont eine gewisse Zweideutigkeit: ..Das so reduzierte ego ist freilich mein Ich, in der ganzen Konkretion meines Lebens, aber direkt erschaut in der transzendental reduzierten inneren Erfahrung- und nun wirklich das konkrete ego, das absolute Voraussetzung ist für alle Transzendenz, die für ..mich" geltende ist". 27 Wie kann aber - wirft Heidegger ein - das faktische Subjekt seine existenzialen Züge ..psychisch und somatisch" verlieren und sich noch .,in der totalen Konkretion des Lebens" befinden? Das phänomenologische Paradox der Subjektivität zeigt sich hier in seiner ganzen Fraglichkeit. Hier wird diejenige besondere Situation des menschlichen Subjekts gekennzeichnet, die Husserl in der Krisis der europäischen Wissenschaften das ..Paradox" des menschlichen Individuums nennt, das Subjekt für die Welt und zugleich Objekt in der Welt ist. Diese doppelte Identität des Subjekts stellt sich in einer doppelten Funktion gegenüber der Welt und damit in einer doppelten Einstellung gegenüber der Erkenntnistheorie dar. Heidegger lehnt diese Doppelheit ab, weil sie zum einen den ontologischen Raum der menschlichen Existenz begrenzt und zum anderen die hermeneutische Rolle des Seinsverständnisses im Ausgang vom menschlichen Dasein verengt. So könnte man mit Heidegger fragen: Ist das die Reduktion verwirklichende Subjekt gleich dem transzendentalen Subjekt, das durch die Reduktion entdeckt wird? Die Husserlsche Zweideutigkeit, die trotzdem die einzige Weise bleibt, um phänomenologisch den Bezug zwischen Ich und Welt zu denken, wird von Heidegger aufgebrochen: Das existierende Subjekt bzw. das Dasein ist unabtrennbar. Es soll in seinem Sein ausgehend von seinem Sein selbst bzw. von seinem Seinsverständnis aus verstanden werden, was seinerseits nur geschehen kann, wenn sich das menschliche Subjekt als Seiendes auslegt, dessen wesentliche Züge die Existenz und die Transzendenz sind. Die hermeneutische Zirkularität der Daseinsanalytik erscheint hier in ihrem ganzen ontologischen Sinn. Den egologischen Ansatz Husserls kann Heidegger nicht übernehmen, da er keinen Ausweg aus der transzendental-subjektiven Weltauffassung bietet, sondern im Gegenteil diese in Husserls Sicht immanent fordert. Die Egologie nimmt zwar bei Husserl einen bedeutenden Platz ein, ihre Funktion ist aber nicht so eindeutig. Mit Recht behauptet Eugen Fink, daß .,die ganze Transeendentale Egologie vorläufige Phänomenologie" ist, die ihre Erfüllung in der monadologischen Theorie der Intersubjektivität findet: Sie ist ..eine Seinssphäre, die in einem profunden Sinne 26 27

Ebd.

a. a. 0., S. 275.

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aller Intersubjektivität vorgeordnet ist". Es ist eben diese "Vorläufigkeit", die das Wesen der Egologie ausmacht: "Das schließt aber nicht aus, daß in dieser «solipsistischen Einstellung» Wesenserkenntnisse überhaupt gewonnen werden, ja sie ist einzig und allein der konkrete Boden für die rechtmäßige Ausweisung der Grunderkenntnisse der Phänomenologie, auf denen alle anderen irgendwie ruhen und auf sie zurückbezogen sind". Fink fügt aber hinzu, daß die Egologie bei Busserl zwar "eine Abstraktion", "aber eine notwendige und nicht nur mögliche Abstraktion" sei. Das heißt, daß die Egologie kein geschlossenes System ist, sondern den einzig möglichen Weg zur Welt- und Wesenserfassung bahnt: "In der Egologie, der transeendentalen Wissenschaft vom Ich und dem was zum Ich wesenhaft gehört, kommt gerade der existenzielle Sinn der Philosophie zum Durchbruch: Philosophie als Befreiung ist nicht von anderen zu übernehmen, sondern ist Tathandlung des Einzelnen"?8 Dagegen meint Beidegger, daß die egologische Position eine Sackgasse ist, die ein ontologisches Verständnis des Mitseins nicht gestattet. Diese Verschiedenheit in der Fragestellung war schon in Sein und Zeit deutlich hervorgetreten, worauf sich Beidegger in seinem Brief an Busserl vom 22. Oktober bezieht, um einige entscheidende Stellen seines Buches zu klären: Er will "die wesentlichen Punkte fixieren", um "die grundsätzliche Tendenz von «Sein und Zeit» innerhalb des transzendentalen Problems zu kennzeichnen". 29 Das Gespräch mit Busserl wird die Gelegenheit für mehrere solcher Klärungen bieten. Busserl meint, daß durch die Reduktion "sogar mein psychologisches Tun, meine ganze wissenschaftliche Arbeit, kurz alles und jedes mir rein subjektiv Zugehörige" zu gewinnen sei. 30 Und Beidegger wirft ein: "Vorhandenes! Aber das menschliche Dasein "ist" so, daß es, obzwar Seiendes, nie lediglich vorhanden ist".31 Als ein Vorhandenes: So erscheint ihm das Busserlsehe Subjekt. Wo sich Busserl am stärksten konzentriert, um das Phänomen durchsichtig zu machen, dort bemüht sich Beidegger, seine unumgehbare Verschattung zu zeigen, die eines besonderen methodischen Aufweises bedarf, um patent zu werden. Die von Busserl hier benutzte Reduktionsmethode entfaltet sich in folgender Weise: "Es ist die prinzipielle Eigenart der transzendentalen Reduktion, daß sie vorweg und mit einem Schlage, in einem universalen theoretischen Willen diese transzendentale Naivität, die noch in der reinen Psychologie herrscht, inhibiert, daß sie das ganze aktuelle und habituelle Leben mit diesem Willen umgreift: Dieser Wille gebietet, keine transzendentale Apperzeption, keine wie immer beschaffene 28 E. Fink, Zettel, unveröffentliche Manuskripte aus dem Eugen Fink-Archiv Freiburg i. Br., Z- IV, 26a- 26b, um 1928. Frau Susanne Fink danke ich für die freundliche Genehmigung, aus den nachgelassenen Manuskripten Eugen Finks, die von Ronald Bruzina für eine Veröffentlichung vorbereitet werden, zu zitieren. 29 M. Heidegger, Brief an E. Husserl vom 22. X. 1927, in E. Husserl, HUA IX, S. 600, s. unten, S. 51. 3o E. Husserl, HUA IX, S. 274. 3! Ebd.

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transzendente Geltung zu betätigen, sie «einzuklammern» und nur zu nehmen als was sie in sich selbst ist, als rein subjektives Apperzipieren, Meinen, als geltend Setzen usw. Tue ich so für mich selbst, so bin ich also nicht menschliches Ich, obschon ich nichts vom eigenwesentlichen Gehalt meiner reinen Seele (also vom rein Psychologischen) verliere. Eingeklammert ist nur diejenige lngeltungsetzung, die ich in der Einstellung «ich, dieser Mensch» und «meine Seele in der Welt» vollzogen hatte, nicht aber dieses Setzen und lngeltunghaben als Erlebnis". 32 Zum Ausdruck "Ich bin kein menschliches Ich" bemerkt Heidegger: "Oder vielleicht gerade solches, in seiner eigensten «wundersamen» Existenzmöglichkeit Vgl. S. 27 unten, wo Sie von einer «Art Änderung der Lebensform» sprechen". 33 Die Reduktion - sagt Busserl - umgreift "das ganze aktuelle und habituelle Leben mit diesem Willen", 34 und Heidegger vermerkt dazu: "Und dieser Wille selbst?"35 Durch die Reduktion bin ich kein "menschliches Ich", aber Beidegger fragt: "Warum nicht? Ist dieses Tun nicht eine Möglichkeit des Menschen, aber eben weil dieser nie vorhanden ist, ein Verhalten, d.h. eine Seinsart, die eben von Hause aus sich selbst verschafft, also nie zur Positivität des Vorhandenen gehört". 36 Wie Derrida in der erwähnten Besprechung bemerkt, ist das transzendentale Ich "radikal unterschieden" vom natürlichen und menschlichen Ich und doch unterscheidet es sich gar nicht von diesem, nicht in einem natürlichen und habituellen Sinn. Indem Derrida implizit Rimbaud zitiert, sagt er: ,Jch (transzendental) ist kein Anderes. Vor allem ist es kein metaphysisches oder formales Gespenst des empirischen Ich". 37 Auf der Spitze des Paradoxes balancierend behauptet Busserl, daß es sich in der Reduktion "doch um «Seelen» und Zusammenhänge zwischen Seelen, Seelen immer vorausgesetzter, nur zeitweise außer theoretischem Betracht bleibender Körper" handelt. 38 Diese Lösung bleibt aber für Heidegger unklar: "Was ist das für ein «außer Betracht setzen»? Die Reduktion? Wennja-dann habe ich eben dann in der reinen Seele gerade nicht das Apriori von Seele überhaupt".39 Die erkenntnistheoretische Wendung der Reduktion bleibt für Beidegger unberechtigt, wenn sie das transzendentale Ego vom existierenden Dasein trennen muß. Er kann nicht der transzendentalphilosophischen Abschneidung des reinen Ich vom menschlichen Ich zustimmen. Er meint, daß der Weg der Reduktion nicht zu beschreiten ist, weil jene Trennung nicht durchführbar ist.

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a. a. 0 ., S. 274 f .

a. a. 0., S. 275. a. a. 0 ., S. 274. Ebd.

a. a. 0., S. 275.

J. Derrida, a. a. O., S. 205. E. Husserl, HUA IX, S. 272. Ebd.

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Mit der Reduktion wird das von Descartes entdeckte ego cogito zum "Universum reiner Subjektivität", die "nicht als Ich, dieser Mensch, genommen sein darf', weil sie "das Seiende ist, das in seiner immanenten Geltung in aller positiven Erkenntnis vorausgesetzt ist, also ihr gegenüber das an sich erste ist". 40 Die Reduktion aber darf nicht - so Heidegger - vom menschlich-existierenden Dasein bzw. von der "Menschheit" absehen, die "als Wesen des Menschen verstanden" werden soll.41 Wenn die Reduktion abgelehnt wird, modifiziert sich damit das ganze phänomenologische Projekt als transzendentales. Husserl meint nämlich, daß "die transzendentale Reduktion eine Art Änderung der ganzen Lebensform" ist, "die alle bisherige Lebenserfahrung völlig übersteigt". 42 An der Idee der Reduktion als totaler Lebensänderung hat Husserl bis zum Schluß festgehalten. In der Krisis bezeichnet er sie als "eine völlige personale Wandlung", die "die Bedeutung der größten existenziellen Wandlung in sich birgt, die der Menschheit als Menschheit aufgegeben ist". 43 Nach Heidegger fehlt aber dieser Auffassung die Transzendenz in die Faktizität der Existenz. Das "Aufsteigen" der Epoche ist kein Sprung in die Transzendenz, sondern eine "Aszendenz (Hinaufstieg), die doch «immanent» bleibt, d. h. eine menschliche Möglichkeit, in der der Mensch gerade zu sich selbst kommt".44 Nach Husserl soll dem ersten Schritt dieses Aufsteigens, das von der natürlichen zur phänomenologischen Einstellung bzw. von der empirischen zur phänomenologischen Psychologie führt, der Schritt der Reduktion folgen, d. h. der Entdeckung des transzendentalen Horizontes der Subjektivität. Wenn in der phänomenologischen Psychologie "das Reich der reinen Seelen systematisch erschlossen" wird, "so hat man implizit und auch schon inhaltlich den Gehalt der parallelen transzendentalen Sphäre. Es bedarf nur der zu ihrer Umdeutung ins Transzendentale berufenen Lehre von der transzendentalen Reduktion". 45 Aber Heidegger hegt den Verdacht, daß dieser Übergang nur eine transzendentale und keine faktische Welt erschließt (obwohl für Husserl "transzendental" und "faktisch" nicht Gegensätze sind), und er erwidert Husserl: "Aber ist diese «Umdeutung» nicht doch nur die «ergänzende» Anwendung der transzendentalen Problematik, die Sie unvollständig a. a. 0., S. 249, erste Fassung. Ebd., Anm. 2. 42 a. a. 0., S. 276. 43 E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, hrsg. von W. u. M. Biemel, Husserliana VI, Den Haag 1954, S. 140. 44 E. Husserl, HUA IX, S. 276, Anm. 1. 45 a.a.O., S. 277, zweite Fassung. Mit Recht bemerkt Klaus Held, daß im Encyclopaedia-Britannica-Artikel die phänomenologische Psychologie "die Vorstufe der transzendentalen Phänomenologie" ist: "Es bedarf nach Husserl nur einer , durch die das Bewußtsein nicht mehr mundan, sondern transzendental aufgefaßt wird, um diese neue Art von Psychologie in Transzendentalphilosophie zu überführen". K. Held, Einleitung zu E. Husserl, Ausgewählte Texte, hrsg. von K. Held, 2 Bde., Stuttgart 1985, Bd I, Die phänomenologische Methode, S. 48. 40 41

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in der reinen Psychologie finden, sodaß mit dem Einrücken des Psychischen als eines selbst Transzendenten nunmehr alles Positive transzendental problematisch wird - alles - das Psychische selbst und das in ihm sich konstituierende Seiende (Welt)". 46 Diese transzendentale Umdeutung ist aber keine Perspektivenänderung, wie sie Heidegger fordert. Für ihn gibt es etwas, das nicht zu reduzieren ist: das Dasein in seiner Seinsverfassung und das Sein als solches. Die sich in dieser quälenden Zusammenarbeit entfaltende Auseinandersetzung zentriert sich auf der Seite Heideggers in der Frage nach dem Sein. Alles kreist um den Begriff des Seins, wie Biemel es schon sah: "«Ist» ist für Husserl synonym mit weltlich seiend, und da alles Weltliche eingeklammert werden muß, muß zugleich der Begriff des ist eingeklammert werden. Heidegger wiederum zeigt, wie in dem Setzen des transzendentalen Ego ein «ist» vorausgesetzt ist - das also gerechterweise auch eingeklammert werden müßte, insofern als jedes Positive (Gesetzte) aufgehoben ist". Aber das «ist» bzw. das Sein des Ego ist unreduzierbar, weil es kein Seiendes ist, sondern das Sein selbst. Deshalb kritisiert Heidegger "im Grunde genommen die Undifferenziertheit des «ist» bei Husserl, sowie die Trennung des transzendentalen Ego vom faktischen Ich". 47 In Heideggers Brief vom 27. Oktober sind die Spuren seiner gesamten kritischen Durcharbeitung der Husserlschen Phänomenologie über mehr als ein Jahrzehnt hinweg aufzufinden. Am 21 . Oktober schrieb Heidegger an Elisabeth Blochmann: "Seit dem 10. Oktob[er] hatte ich in Freiburg zu arbeiten mit Husserl, so daß ich seit September wenig freie mehr Zeit hatte; denn ich mußte für diesen Aufenthalt bei H[usserl] oben noch Mss. [Manuskripte] von ihm durcharbeiten". 48 Hier macht Heidegger den Versuch, den Husserlschen Subjektbegriff auf die Ebene der faktischen Existenz des Daseins zurückzubringen. Der Weg·der Reduktion bzw. der Neutralisierung der Welt hinsichtlich des transzendentalen Ich schließt die Welt als wesentlich konstitutives Element der Existenz aus. Die Welt ist nicht durch eine Weltvernichtung wiederzugewinnen; nur in Anbetracht ihrer Seinsverfassung kann sie für das Seinsverständnis als solche gültig sein. Mit Husserl stimmt Heidegger darin überein, daß "das Seiende im Sinne dessen, was Sie «Welt» nennen, in seiner transzendentalen Konstitution nicht aufgeklärt werden kann durch einen Rückgang auf Seiendes von ebensolcher Seinsart." Hier aber beginnen die Differenzen: "Damit aber ist nicht gesagt, das, was den Ort des 46 M. Heidegger, Bemerkung in E. Husserl, HUA IX, S. 277, Anrn. 1. Im Todtnauberger Seminar 1962 über Zeit und Sein erwähnt Heidegger die transzendentale Wendung Husserls, der den ontologischen Weg der Phänomenologie geschaut, aber nicht durchgehalten hatte: "Er geriet unter den Einfluß Natorps und vollzog die Wendung zur transzendentalen Phänomenologie, die ihren Höhepunkt in den ,Ideen' erreichte. Damit war das Prinzip der Phänomenologie preisgegeben" (M. Heidegger, Zur Sache des Denkens, Tübingen, I %9, S. 47). 47 W. Biernel, Husserls Encyclopaedia-Britannica-Artikel und Heideggers Anmerkungen dazu, a.a.O., S. 279f. 48 M. Heidegger, Brief an E. Blochmann vorn 21. X. 1927, a. a. 0., S. 21.

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Transzendentalen ausmacht, sei überhaupt nichts Seiendes - sondern es entspringt gerade das Problem: welches ist die Seinsart des Seienden, in dem sich «Welt» konstituiert? [... ] Es gilt zu zeigen, daß die Seinsart des menschlichen Daseins total verschieden ist von der alles anderen Seienden und daß sie als diejenige, die sie ist, gerade in sich die Möglichkeit der transzendentalen Konstitution birgt". 49 Die Seinsfrage übersteigt die subjektive Sphäre der Konstitution, weil sie "universal [... ] auf Konstituierendes und Konstituiertes bezogen" ist.5° Das Sein darf also nicht in Klammern gesetzt werden, und ebensowenig das Dasein: Der faktische Mensch ist "als solcher - als Seiendes nie eine «weltlich reale Tatsache», weil der Mensch nicht nur vorhanden ist, sondern existiert". 51 Auf diese Auffassung gründet sich die von Heidegger verfaßte Einleitung der zweiten Fassung, die Husserl mit großer Aufmerksamkeit las. Er erkannte die Bedeutung von Heideggers Bemerkungen, die dieser stenographisch auf einer Kopie des Artikels transkribiert, aber zugleich sah er in ihnen eine Gefahr, so daß er sowohl diese Bemerkungen als auch den ganzen, von Heidegger verfaßten einleitenden Teil aus der endgültigen Fassung, die er im Februar 1928 abschloß, verbannte. Ende Dezember 1927 schreibt er an Ingarden: "Der neue Encycl[opaediaBritannica-]Artikel hat mir auch viel Mühe gemacht, hauptsächlich weil ich meinen prinzip[iellen] Gang nochmals ursprünglich durchdachte und in Rücksicht den Umstand zog, daß Heid[egger], wie ich nun glauben muß, diesen Gang u. somit den ganzen Sinn der Methode d. ph[änomenologischen] Reduction nicht erfaßt hat". 52 Was aber ist Heideggers Auffassung, als er den ersten Teil der zweiten Fassung verlaßt? Will er sich von der Phänomenologie verabschieden, indem er sie als Metaphysik verwirft? Oder will er sie umwandeln, indem er ihre innere Struktur zu verändern versucht? Oder will er nur seinen eigenen Denkweg beschreiten? Eine Antwort auf diese Fragen mag allen drei darin genannten Aspekten Rechnung tragen: Die Zusammenarbeit mit Husserl und die ihr folgende Auseinandersetzung sind ein konkretes Beispiel dafür, daß Heidegger einen selbständigen Weg ging, der die grundlegenden Intentionen der Phänomenologie miteinbezieht Das hatte Husserl wohl gesehen, wenn er mit einer gewissen Enttäuschung sagt, daß "selbst die besseren Schüler [... ], statt meine Ansätze zu vollenden, lieber immerzu eigene Wege gehen wollten. So auch Heidegger, diese geniale Kraftnatur, die die ganze Jugend mit sich fortreißt". 53 Diese Deutung wird auch von Heidegger selbst indirekt bestätigt, wenn er sagt, daß die Forschungsarbeit der Marburger Zeit eine "Übergangsarbeit" darstellt, die der Findung des eigenen Wegs gewidmet ist: 49 M. Heidegger, Brief an Husserl vom 27.X.1927, in E. Husserl, HUA IX, S. 601, s. unten, S. 52. 50 a. a. 0., S. 602, s. unten, S. 53.

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E. Husserl, Brief an R. Ingarden vom 26. XII. 1927, BW, III, 236 f.

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Ebd.

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"Daraus, daß Husserl das Ganze befremdend findet und es in der üblichen Phänomenologie «nicht mehr unterbringt», schließe ich, daß ich de facto schon weiter weg bin, als ich selbst glaube und sehe".54 Rückblickend sagte Heidegger in den fünfziger Jahren: "Indessen kam es mir weder auf eine Richtung innerhalb der Phänomenologie noch gar auf das Neue an. Ich versuchte vielmehr umgekehrt, das Wesen der Phänomenologie ursprünglicher zu denken, um sie auf diese Weise eigens in ihre Zugehörigkeit zur abendländischen Philosophie zurückzufügen". 55 Der Rahmen von Heideggers Auseinandersetzung mit der Tradition der westlichen Metaphysik umgreift also auch die Kontroverse mit der Husserlschen Phänomenologie. Wie Otto Pöggeler formuliert, ist Heideggers Aufgabe "die Auseinandersetzung mit dem Ursprung, nicht mehr mit dem aus ihm Entspringenden". 56 Daran ist die Zusammenarbeit Husserls mit Heidegger gescheitert. Zur Auseinandersetzung bemerkt Ludwig Landgrebe: "Im Rückblick auf sie muß wohl gesagt werden, daß keiner der beiden Philosophen die Position des anderen in ihrem ganzen Umfang überblicken konnte, so daß sich auf beiden Seiten für manche kritische Äußerungen leicht nachweisen ließe, wie sie auf einer Fehlinterpretation beruhen". 5 7 Wie aber Landgrebe selbst erklärt, bedeutet diese hypothetische gegenseitige Fehldeutung keineswegs, daß es keinen sachlichen Grund für den Gegensatz gab. Doch auch die These eines mehrfachen Mißverständnissses ist aufgrund der Äußerungen beider Denker plausibel. Pfänder gegenüber spricht Husserl von "grobem Mißverständnis", das die Kritik Heideggers belastet. Im Nachwort zu den Ideen I behauptet er weiter, daß die Einwände gegen seine Phänomenologie "auf Mißverständnissen" beruhen, "und letztlich darauf, daß man meine Phänomenologie auf das Niveau zurückdeutet, das zu überwinden ihren ganzen Sinn ausmacht". 58 Genauer gesagt, beruhen die Mißverständnisse darauf, daß "man das prinzipiell Neuartige der «phänomenologischen Reduktion» und somit den Aufstieg von der mundanen Subjektivität (dem Menschen) zur «transzendentalen Subjektivität» nicht verstanden hat". 59 Nach Abschluß der Zusammenarbeit wird noch einmal auf den EncyclopaediaBritannica-Artikel Bezug genommen: Aus Anlaß der Drucklegung seiner Vorlesungen vom Sommersemester 1905 über die Phänomenologie des Zeitbewußtseins schreibt Husserl an Heidegger: "In dem Umschlag der Zeit-Msc. [... ) liegen 54 M. Heidegger, Brief an K. Jaspers vom 24. V. 1926, in: Martin Heidegger, Kar! Jaspers, Briefwechsel 1920-1963, hrsg. von W. Biemel und H. Saner, Frankfurt am MainMünchen-Zürich 1990, S. 64. 55 M. Heidegger, Unterwegs zur Sprache, hrsg. von F.-W. von Herrmann, GA 12, Frankfurt am Main 1985, S. 91. 56 0. Pöggeler, Der Denkweg Martin Heideggers, Pfullingen 1963/1983, S. 79. 57 L. Landgrebe, Der Weg der Phänomenologie, Gütersloh 1963, S. 28. ss E. Husserl, Nachwort zu meinen "Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie", Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, 11. Band, 1930, S. 550. 59 Ebd.

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einige Blätter aus der engl Bearbeitung meines Encycl Artikels: Salmon'sche Schreibmaschblätter, denen ich Correcturen beigefügt hatte. Ich bitte Sie diese Blätter mit dem bloßen Vermerk ihrer Provenienz als meiner Korrekturen direct an Chr. V. Salmon, Oxford, 14 St. Giles zu senden". 60 Und zwei Monate später informiert er Heidegger: Ich "arbeitete meine Holländer Vorlesungen aufgrund des angeblichen Encycl-Artikels aus (also 3. Ausarbeitung!), wodurch die Gedanken auch an Tiefe und Weite gewannen".61 Danach folgt nichts mehr. Bis 1929 war die Beziehung zwischen Husserl und Heidegger noch soweit intakt, daß Heideggger sagen konnte: "Vergangenen Sonntag ging ich zu Fuß nach Freiburg u. hatte noch einen schönen reichen Tag mit Husserl";62 und: "Dann kam Husserls Geburtstag, der sehr würdig gefeiert wurde. [... ] Elfeide hatte bei Verehrern u. Freunden Husserls gesammelt für den Ankauf der Büste, die der junge Rickert vor einigen Jahren modelliert hat. Husserl war darüber sehr erfreut und überrascht". 63 Auch die Rede Heideggers zum siebzigsten Geburtstag von Husserl ist eine Bezeugung dieses guten Verhältnisses. 64 Dann aber verliert diese freundschaftliche Beziehung an Kraft, die Mißverständnisse werden zunehmend größer, und, wie Husserl es empfand, "Unverständlichkeit schließt Freundschaft aus". 65

111. Busserl als Leser von Sein und Zeit Am 8. April 1926, aus Anlaß des 67. Geburtstages Husserls, bringt Heidegger dem· Lehrer "eine mit Blumen geschmückte Rolle, die die Widmung «Edmund Husserl in dankbarer Verehrung und Freundschaft» seines eben vollendeten Werkes enthielt".66 Es handelte sich um das fast vollständige Manuskript von Sein und Zeit, dessen Problematik Heidegger mit Husserl zu Ostern 1926 diskutierte. Im August desselben Jahres wird Heidegger von Husserl nach Silvaplana eingeladen, wo er eine Woche bleibt, um mit ihm erneut Fragen seines Buches zu besprechen.67 So kann Husserl einige marginale Korrekturen vor'schlagen, die von Heidegger aufgegriffen werden. Das von Heidegger Husserl überreichte Exemplar des endgültigen Textes trägt das Datum des 8. April1927. E. Husserl, Brief an M. Heidegger vom 5. III. 1928, BW, IV, S. 152. E. Husserl, Brief an M. Heidegger vom 9. V.l928, BW, IV, S. 154. 62 M. Heidegger, Brief an E. Blochmann vom ll. I. 1928, a. a. 0., S. 23. 63 M. Heidegger, Brief an E. Blochmann vom 12. IV. 1929, a. a. 0., S. 30. 64 Vgl. unten, S. 64ff. 65 E. Husserl, Brief an A. Pfänder vom 6.1.1931, BW, II, S. 184; s. unten, S. 67ff. 66 Malvine Husserl, Brief an R. Ingarden vom 16. IV. l926, BW, III, S. 230. Vgl. auch den Brief von M. und E. Husserl an G. Albrecht vom 28. IV.l926, BW, IX, S. 65, wo Heidegger als ,,Lieblingsschüler" bezeichnet wird. 67 Vgl. M. Heidegger, Brief an K. Jaspers vom 31. VII.l926, a.a.O., S. 66; und E. Husserl, Brief an J. Rosenberg vom 3. IX. 1926, BW, IX, S. 351. 60

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Für das Studium von Sein und Zeit unternahm Husserl mehrere Leseanläufe. Die wiederholte Lektüre präzisierte sein kritisches Urteil gegenüber Heidegger. Die von ihm notierten Randbemerkungen bezeugen sein nachhaltiges Interesse an dieser Lektüre. Diese zwischen März 1927 und August 1929 (zumeist aber im Juli und August 1929 während eines Urlaubsam Corner See) verfaßten Bemerkungen sind ein Dokument für die unterschiedlichen philosophischen Ansätze Husserls und Heideggers und für die Distanz, die sich allmählich zwischen beiden Denken auftat. 68 Husserl beginnt mit Interesse das Werk zu lesen, aber von vomherein hat er Schwierigkeiten, es sich in seiner Komplexität anzueignen. Was ihm Unbehagen bereitet, ist der besondere Denk- und Sprachstil des Buches. Am 14. Dezember 1927 bittet er Heidegger um Hilfe bei der Lektüre: "So wäre es mir freilich eine große Hilfe. Vorläufig hilft [Oskar] Becker sehr eifrig durch ein systematisches Referat über den Gang des Werkes und durch eine genaue Erörterung der wichtigsten Grundbegriffe und der durch sie bezeichneten Grundlehren. Ich sehe jetzt erst, wie viel mir zum Verständnis fehlte, da ich die Kapi über Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit noch nicht richtig hatte". 69 Einige Tage danach richtet Husserls Frau Malvine an Heidegger diesseihe Bitte: "Mein Mann möchte gerne, [. .. ] daß Sie einen ganzen Tag für eine wissenschaftliche Unterhaltung über Ihr Buch ihm widmen könnten. Er beschäftigt sich die ganzen Ferien ausschließlich mit dessen Studium und empfindet es als eine Notwendigkeit, sich mit Ihnen über mancherlei belehren zu lassen, das ihm nicht ganz klar werden will". 70 Folgtman schrittweise den Randbemerkungen Husserls, werden die Schwierigkeiten seiner Lektüre nachvollziehbar. Äußerungen wie "unklar", "nicht so klar, wie es scheint", "was bedeutet das aber?", "was heißt das?", wiederholen sich, durchsetzt mit Fragezeichen an den Rändern des Textkorpus. Die sprachliche Kühnheit Heideggers bedeutet für ihn von Anfang ("Aber was heißt Grundverfassung des Seins des Seienden?"71 ) bis Ende ("Ist das eine konkrete Rede?"72) ein besonderes Problem. Husserl erscheint. Heideggers Ansatz unangemessen, um transzendental begründete Erkenntnis zu gewinnen. Zugleich meint er, Elemente seiner Phänomenologie hinter den Begriffen des Heideggerschen Ansatzes wiederzuerkennen. Husserls Randbemerkung zu Heideggers Beschreibung der Aufgabe der existenzialen Analytik ist dafür beispielhaft. Heidegger: "Sofern nun aber Existenz das Dasein bestimmt, bedarf die ontologische Analytik dieses Seienden je schon immer einer 68 Die Randbemerkungen sind zusammen mit denen zum Heideggerschen "Kantbuch" von R. Breeur veröffentlicht worden: Randbemerkungen Husserls zu Heideggers "Sein und Zeit" und "Kant und das Problem der Metaphysik", Husseri-Studies, 11, 1-2, 1994, S. 3 - 61 (zitiert als RB). 69 E. Husserl, Brief an M. Heidegger vom 14.XII. 1927, BW, IV, S. 149. 7o Ma1vine Husserl, Brief an M. Heidegger vom 30.XII.1927, BW, IV, S. 150. 71 E. Husserl, RB, S. 12; zu Sein und Zeit, Halle 1927, S. 10. z. 25f. 72 a. a. 0 ., S. 48; zu Sein und Zeit, S. 426, Z. 7 f.

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vorgängigen Hinblicknahme auf Existenzialität. Diese verstehen wir aber als Seinsverfassung des Seienden, das existiert. In der Idee einer solchen Seinsverfassung liegt aber schon die Idee von Sein überhaupt. Und so hängt auch die Möglichkeit einer Durchführung der Analytik des Daseins an der vorgängigen Ausarbeitung der Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt".73 Und am Rande bemerkt Husserl dazu: "Heidegger transponiert oder transversiert die konstitutiv-phänomenologische Klärung aller Regionen des Seienden und Universalen, der totalen Region Welt ins Anthropologische; die ganze Problematik ist Übertragung, dem Ego entspricht das Dasein etc. Dabei wird alles tiefsinnig unklar und philosophisch verliert es seinen Wert".74 Für beide Philosophen markiert die Phänomenologie die Methode bzw. die Möglichkeit des Denkens. Wenn jedoch Heidegger seinen Begriff von Phänomenologie erläutert, geht Husserl sogleich auf Distanz. Heidegger: "«Phänomenologie» nennt weder den Gegenstand ihrer Forschungen, noch charakterisiert der Titel deren Sachhaltigkeit. Das Wort gibt nur Aufschluß über das Wie der Aufweisung und Behandlungsart dessen, was in dieser Wissenschaft abgehandelt werden soll".75 Husserls kritische Replik: "So sage ich auch, aber in einem ganz anderen Sinn". In der Tat, "nimmt man Phänomen als Erscheinung-von, so ist die universale Wissenschaft von den Erscheinungen, die notwendig universale von dem Erscheinenden als solchen wird, zugleich äquivalent mit Phänomenologie im anderen Sinn, oder was gleichkommt, Ontologie (da Heidegger Phänomen «positiv» definiert 31)". 76 Von hier aus ergibt sich die Schwierigkeit einer gemeinsamen Bestimmung des Bezugs zwischen Dasein bzw. Subjekt und innerweltlichem Seienden. Wenn Heidegger im § 12 das In-der-Welt-sein analysiert, zeigt er, daß das Dasein dem Objekt begegnet, weil sich das Objekt im Welthorizont offenbart: "Die heute vielgebrauchte Rede «der Mensch hat seine Umwelt» besagt ontologisch solange nichts, als dieses «Haben» unbestimmt bleibt. Das «Haben» ist seiner Möglichkeit nach fundiert in der existenzialen Verfassung des In-Seins. Als in dieser Weise wesenhaft Seiendes kann das Dasein das umweltlieh begegnende Seiende ausdrücklich entdecken, darum wissen, darüber verfügen, die «Welt» haben"?1 Husserls Bemerkung hierzu gilt gerade dem Begriff der Begegnung: "Aber begegnen kann nur, was sich konstituiert hat, und das gibt die tieferen Strukturen einer Welthabe, eines weltlichen Seins, eines Ich.[... ] In der Konstitution des Menschen liegt als Konstitution einer Realität, die in sich persönlich ist, die Schwierigkeit, M. Heidegger, Sein und Zeit, a. a. 0 ., § 4, S. 13, Z. 3 - 10. (zitiert als S. u.Z.). E. Husserl, RB, S. 13. 75 M. Heidegger, S. u.Z., § 7, S. 34f., Z. 34- 39 u. 1 - 5. 76 E. Husserl, R~. S. 16 - 17. Zu den hier erwähnten Differenzen in der Phänomenologieauffassung vgl. 0. Pöggeler, Heideggers Neubestimmung des Phänomenbegriffs, in Neuere Entwicklungen des Phänomenbegriffs, hrsg. von E.-W. Orth, Phänomenologische Forschungen, 9, Freiburg/München 1980, S. 124- 162; F.-W. von Herrmann, Der Begriff der Phänomenologie bei Heidegger und Husserl, Frankfurt am Main 1981. 77 M. Heidegger, S. u.Z., § 12, S. 57f., Z. 39- 41 u. 1 - 4. 73 74

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die nur durch AufbeBung der Konstitution und phänomenologischen Reduktion überwunden werden kann". Und kurz vorher notiert er: "Nur ein Ich kann begegnen, ein Mensch kann einem anderen und Dingen begegnen, weil er ein reales verweltlichtes Ich ist mit allen dazugehörigen monadischen Strukturen". Mit Heideggers Forderung nach einem neuen Weltbegriff und einem neuartigen Subjekt-Objekt-Bezug stimmt Husserl überein, aber den fundamentalontologischen Weg dahin kann er nicht akzeptieren: "Diese ganze Auslegung kann ich nicht mitmachen". 78 Heidegger unternimmt eine implizite Kritik der Phänomenologie, indem er die erkenntnistheoretischen Grundlagen der Metaphysik kritisiert. Im § 13 schreibt er: "Zwar hört man jeweils die Versicherung, das Innen und die «innere Sphäre» des Subjekts sei gewiß nicht gedacht wie ein «Kasten» oder ein «Gehäuse». Was das «Innen» der Immanenz aber positiv bedeutet, darin das Erkennen zunächst eingeschlossen ist, und wie der Seinscharakter dieses «lnnenseins» des Erkennens in der Seinsart des Subjekts gründet, darüber herrscht Schweigen. Wie immer aber auch diese Innensphäre ausgelegt werden mag, sofern nur die Frage gestellt wird, wie das Erkennen aus ihr «hinaus» gelange und eine «Transzendenz» gewinne, kommt an den Tag, daß man das Erkennen problematisch findet, ohne zuvor geklärt zu haben, wie und was dieses Erkennen denn überhaupt sei, das solche Rätsel aufgibt"?9 Indem Husserl sich in diese Kritik einbezogen fühlt, wirft er energisch ein: "Aber doch nicht in der Phänomenologie", die die Rätselhaftigkeit der Erkenntnis und ihrer innersubjektiven Wege nicht außer acht läßt. Und er fügt hinzu: "Aber wie kann all das anders geklärt werden als durch meine Lehre von der Intentionalität (Geltung) und zunächst der erfahrenden?". 80 Er scheint also sagen zu wollen: Was ist die Daseinsanalytik anderes, wenn nicht ein direkter Ausfluß der intentional-phänomenologischen Analyse? Heideggers Transformation der Phänomenologie ist jedoch nicht als eine bloße Verschiebung der Denkoperationen von der bewußtseinsmäßigen auf die existenziale Ebene zu verstehen. Es ist Fink, der darauf aufmerksam macht: "Es ist eine beliebte Manier, Heideggers Begriff des menschlichen Daseins als eine «Konkretisierung» des abstrakten Bewußtseinsbegriffs von Husserl zu erläutern. Damit wird man beiden Denkern ungerecht. Das Menschenwesen ist bei Heidegger von Grund auf anders gedacht. Es geht nicht primär um die intentionale Bezogenheil eines wissenden Subjektes auf umgebende Gegenstände, sondern um die vorgängige Offenheit des Menschen zum Sein".81 Wenn man den Begriff der "Transposition" bzw. Übertragung als Leitbegriff für die Interpretation verwendet, ist zu ersehen, daß die Seinsfrage keine bloße E. Husserl, RB, S. 19. M. Heidegger, S. u.Z., § 13, S. 60f., Z. 39- 47 u. 1 - 5. 80 E. Husser1, RB, S. 20. 81 E. Fink, Welt und Geschichte, in Husserl et Ia Pensee Modeme/Husserl und das Denken der Neuzeit, hrsg. von H. L. van Breda u. J. Taminiaux, Nijhoff, Den Haag 1959, S. 154. 78

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Wiederholung und auch keine totale Umkehrung der phänomenologischen Grundbegriffe ist. In diesem Licht erscheinen auch Husserls Bemerkungen, von denen wir hier einige weitere Beispiele anführen, nicht als anmaßend. Heidegger: "Alle Ontologie [... ] bleibt im Grunde blind und eine Verkehrung ihrer eigensten Absicht, wenn sie nicht zuvor den Sinn von Sein zureichend geklärt und diese Klärung als ihre Fundamentalaufgabe begriffen hat". 82 Husserl: "Das wäre Reproduktion meiner Lehre, wenn «geklärt» besagte konstitutiv-phänomenologisch geklärt". 83 Heidegger: "Wie anders soll Geschichtlichkeit in ihrem Unterschied vom Ontischen philosophisch erlaßt und «kategorial» begriffen werden, es sei denn dadurch, daß «Ontisches» sowohl wie «Historisches» in eine ursprünglichere Einheit der möglichen Vergleichshinsicht und Unterscheidbarkeil gebracht werden?". 84 Und Husserl: "War die konstitutive Phänomenologie nicht da?".85 Husserl meint also, daß bereits die konstitutive Analyse die ursprüngliche Dimension der Zeit bzw. der Geschichte eröffnet hat. Deshalb kann er notieren: "Was da gesagt ist, ist meine eigene Lehre, nur ohne ihre tiefere Begründung". 86 Eine indirekte, vorweggenommene Antwort Heideggers auf diese Kritik ist an einer Stelle des § 21 zu finden: Nur "wenn die Analytik des Daseins die im Rahmen dieser Problematik wichtigsten Hauptstrukturen des Daseins durchsichtig gemacht hat, wenn dem Begriff des Seins überhaupt der Horizont seiner möglichen Verständlichkeit zugewiesen ist und so auch erst Zuhandenheil und Vorhandenheil ontologisch ursprünglich verständlich werden, dann läßt sich erst die jetzt vollzogene Kritik der cartesischen und grundsätzlich heute noch üblichen Weltontologie in ihr philosophisches Recht setzen". Erst dadurch kann man "das positive Verständnis der Problematik der Welt" erreichen, den "Ursprung ihrer Verfehlung" zeigen und den "Rechtsgrund einer Zurückweisung der traditionellen Weltontologie" beweisen. 87 Auch bei Heideggers Hinweis auf Descartes sieht Husserl sich selbst kritisiert, so daß er ausruft: "Also meine Phänomenologie wäre traditionelle Weltontologie". 88 Er meint, daß dies nicht nur "ungerechte Einwände gegen Descartes" sind, 89 sondern auch gegen seine Phänomenologie. Heidegger scheint sich selbst der Überzeichnung dieser Kritik bewußt zu sein, wenn er wenige Zeilen danach schreibt: "Wenn wir aber daran erinnern, daß die Räumlichkeit offenbar das innerweltlich Seiende mitkonstituiert, dann wird am Ende doch eine «Rettung» der cartesiscben Analyse der «Welt» möglich".90 Am Rande dieser Stelle merkt 82 83 84

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M. Heidegger, S.u.Z., § 3, S. II, Z. 20 - 24. E. Husserl, RB, S. 12. M. Heidegger, S.u.Z., § 77, S. 403, Z. 23 - 30. E. Husserl, RB, S. 46. a. a. 0., S. 20. M. Heidegger, S.u.Z., § 21, S. 100, Z. 20- 28 u. 41 - 44. E. Husserl, RB, S. 24. a. a. 0., S. 15; zu S.u.Z., § 6, S. 24, Z. 10 - 15. M. Heidegger, S.u.Z., § 21 , S. 101, Z. 8- 11.

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Husserl an: "Das muß Heidegger also doch zugestehen". 91 So bleibt auch eine gewisse "Rettung" von Husserls Ansatz für Heidegger noch möglich. 92 Husserl versteht den Sinn der von Heidegger gestellten Seinsfrage nicht, wenn er die durch die Hermeneutik der Faktizität ausgearbeitete ontologische Analyse als "philosophische Anthropologie" bezeichnet. Die Kritik der positiven Wissenschaften und der traditionellen Metaphysik ist seiner Meinung nach erst durch die Einklammerung des In-der-Welt-seins und die darauffolgende neue transzendentale Gründung möglich: "Wir müssen ihn [den positiv-wissenschaftlichen Entwurf] erst haben, ihn erst begründen, aber nicht durch solche vage Allgemeinheilen Heideggers".93 Die Ursprungsdimension des Grundes gilt es auch für Husserl zu erreichen: "Aber zuerst habe ich die Intentionalität, und zuerst habe ich die zu befragen, ihre Wesensgestalt herauszustellen, und dann kann ich sehen, daß im «Entwurf» der Intentionalität beschlossen ist das Apriori, eine Wesensgestalt, die, wenn ich sie konstituiert habe, nachher wissenschaftlich leitend werden kann". 94 Heidegger: "Die These, daß alle Erkenntnis auf «Anschauung» abzweckt, hat den zeitlichen Sinn: alles Erkennen ist Gegenwärtigen. Ob jede Wissenschaft und ob gar philosophische Erkenntnis auf ein Gegenwärtigen zielt, bleibe hier noch unentschieden. - Husserl gebraucht zur Charakteristik der sinnlichen Wahrnehmung den Ausdruck «Gegenwärtigen». [... ] Die intentionale Analyse der Wahrnehmung und Anschauung überhaupt mußte diese «zeitliche» Kennzeichnung des Phänomens nahelegen. Daß und wie die Intentionalität des «Bewußtseins» in der ekstatischen Zeitlichkeit des Daseins gründet, wird der folgende Abschnitt zeigen". 95 So kann Husserl seinen Standpunkt näher bestimmen: "Die Thematisierung ist die unbekannte intentionale Leistung des vorwissenschaftliehen Tuns auf dem Grunde der vorgegebenen passiven Intentionalität. Wird sie aufgeschlossen in der notwendigen Systematik der Leitfaden, so kommt man zur konkreten Subjektivität und Intersubjektivität und ihrer apriorischen Verfassung. Zuletzt findet man die Konstitution der Personalität, die natürlich von Anfang an das Subjekt-Sein E. Husserl, RB, S. 24. n Zu dem bestrittenen Punkt der Ontologie kritisierte auch Max Scheler die Husserlsche Wesenslehre, aber in einer Gegenrichtung, weil sie eben keine ontologische Lehre im traditionellen Sinne sei. In einer "Gegen Husserl" betitelten Notiz von 1927 schrieb Scheler: "Richtig ist an Husserls Lehre nur, das Wesen (im Unterschied zum mathematischen Gegenstand) sei kein ens fictum, es sei keine >". So geschah es auch. (Vgl. M. Heidegger, Spiegel-Gespräch, in: Antwort. Martin Heidegger im Gespräch, a. a. 0., S. 89 f.).

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Phänomenologie Letzte Fassung des Encyclopaedia-Britannica-Artikels "Phänomenologie" bezeichnet eine an der Jahrhundertwende in der Philosophie zum Durchbruch gekommene neuartige deskriptive Methode und eine aus ihr hervorgegangene apriorische Wissenschaft, welche dazu bestimmt ist, das prinzipielle Organon für eine streng wissenschaftliche Philosophie zu liefern und in konsequenter Auswirkung eine methodische Reform aller Wissenschaften zu ermöglichen. Zugleich mit dieser philosophischen Phänomenologie, aber zunächst von ihr nicht geschieden, erwuchs eine neue, methodisch und inhaltlich ihr parallele psychologische Disziplin, die apriorische reine oder "phänomenologische Psychologie", die den reformatorischen Anspruch erhebt, das prinzipielle methodische Fundament zu sein, auf dem allein eine wissenschaftlich strenge empirische Psychologie zu begründen ist. Die Umschreibung dieser dem natürlichen Denken näher stehenden psychologischen Phänomenologie ist als propädeutische Vorstufe wohl geeignet, um zum Verständnis der philosophischen Phänomenologie emporzuleiten. I. Die reine Psychologie, ihr Erfahrungsfeld, ihre Methode, ihre Funktion 1. Reine Naturwissenschaft und reine Psychologie

Die neuzeitliche Psychologie ist die Wissenschaft vom "Psychischen" im konkreten Zusammenhang der raumzeitlichen Realitäten, also von in der Natur sozusagen ichartig Vorkommendem mit all dem, was untrennbar dazugehört als psychisches Erleben (wie Erfahren, Denken, Fühlen, Wollen), als Vermögen und Habitus. Die Erfahrung bietet das Psychische als bloße Seinsschicht an Menschen und Tieren. Die Psychologie ist danach ein Zweig der konkreteren Anthropologie bzw. Zoologie. Animalische Realitäten sind zunächst einer Grundschichte nach physische Realitäten. Als das gehören sie in den geschlossenen Zusammenhang der physischen Natur, der Natur im ersten und prägnantesten Sinn, welche das universale Thema einer reinen Naturwissenschaft ist, d. i. einer in konsequenter Einseitigkeit von allen außerphysischen Bestimmungen der Realitäten absehenden objektiven Wissenschaft von der Natur. In diese ordnet sich die wissenschaftliche 3 Sbd. Cristin

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Erforschung der animalischen Körper ein. Soll nun demgegenüber die animalische Welt hinsichtlich ihres Psychischen zum Thema werden, so ist zunächst zu fragen, wiefern in Parallele mit der reinen Naturwissenschaft eine reine Psychologie möglich ist. In einem gewissen Ausmaß ist eine rein psychologische Forschung selbstverständlich zu betätigen. Ihr verdanken wir die Grundbegriffe vom Psychischen nach seinen eigenwesentlichen Bestimmungen, Begriffe, die in die übrigen, die psychophysischen Grundbegriffe der Psychologie mit eingehen müssen. Keineswegs klar ist aber von vornherein, inwiefern die Idee einer reinen Psychologie als einer in sich scharf geschiedenen psychologischen Disziplin und als einer wirklichen Parallele zur rein physischen Naturwissenschaft einen rechtmäßigen und dann notwendig zu verwirklichenden Sinn hat.

2. Das rein Psychische der Selbsterfahrung und Gemeinschaftserfahrung Die universale Deskription intentionaler Erlebnisse

Für eine Begründung und Entfaltung dieser Leitidee bedarf es als ein Erstes der Klärung des Eigentümlichen der Erfahrung und insbesondere der reinen Erfahrung von Psychischem und dieses rein Psychischen selbst, das sie offenbart und das zum Thema der reinen Psychologie werden soll. Wir bevorzugen naturgemäß die unmittelbarste Erfahrung, die uns je unser eigenes Psychisches enthüllt. Die Einstellung des erfahrenden Blickes auf unser Psychisches vollzieht sich notwendig als eine Reflexion, als Umwendung des vordem anders gerichteten Blickes. Jede Erfahrung läßt solche Reflexion zu, aber auch jede sonstige Weise, in der wir mit irgend welchen realen oder idealen Gegenständen beschäftigt sind, etwa denkend oder in der Weise des Gemüts und Willens wertend, strebend. So, geradehin uns bewußt betätigend, sind in unserem Blick ausschließlich die jeweiligen Sachen, Gedanken, Werte, Ziele, Hilfsmittel, nicht aber das psychische Erleben selbst, in dem sie als solche uns bewußt sind. Erst die Reflexion macht es offenbar. Durch sie erfassen wir statt der Sachen schlechthin, der Werte, Zwecke, Nützlichkeiten schlechthin die entsprechenden subjektiven Erlebnisse, in denen sie uns "bewußt" werden, uns in einem allerweitesten Sinne .,erscheinen". Sie alle heißen daher auch .,Phänomene", ihr allgemeinster Wesenscharakter ist es, zu sein als "Bewußtsein-von", "Erscheinung-von" - von den jeweiligen Dingen, Gedanken (Urteilsverhalten, Gründen, Folgen), von den Plänen, Entschlüssen, Hoffnungen usw. Daher liegt im Sinne aller Ausdrücke der Volkssprachen für psychische Erlebnisse diese Relativität beschlossen, wahrnehmen von etwas, sich erinnern oder denken an etwas, etwas hoffen, befürchten, erstreben, sich entscheiden für etwas usw. Erweist sich dieses Reich der "Phänomene" als mögliches Feld einer reinen, ausschließlich auf sie bezogenen psychologischen Disziplin, so versteht sich nun deren Kennzeichnung als phänomenologische Psychologie. Der terminologisch aus der Scholastik herstammende Ausdruck für jenen Grundcharakter des

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Seins als Bewußtsein, als Erscheinung von etwas ist Intentionalität. In dem unreflektierten Bewußthaben irgendwelcher Gegenstände sind wir auf diese "gerichtet", unsere .,intentio" geht auf sie hin. Die phänomenologische Blickwendung zeigt, daß dieses Gerichtetsein ein den betreffenden Erlebnissen immanenter Wesenszug ist, sie sind "intentionale" Erlebnisse. Überaus mannigfaltige Artungen und Besonderungen fallen unter die Allgemeinheit dieses Begriffs. Bewußtsein von etwas ist nicht ein leeres Haben dieses Etwas, jedes Phänomen hat seine eigene intentionale Gesamtforrn, zugleich aber einen Aufbau, der in der intentionalen Analyse immer wieder auf Komponenten führt, die selbst intentionale sind. So führt z. B. die im Ausgang von einer Wahrnehmung (etwa eines Würfels) geübte phänomenologische Reflexion auf eine vielfältige und doch synthetisch vereinheitlichte Intentionalität. Es treten die kontinuierlich sich abwandelnden Unterschiede in den Erscheinungsweisen wechselnder "Orientierung" hervor, des Rechts und Links, der Nähe und Ferne mit den zugehörigen Unterschieden der "Perspektive". Ferner Erscheinungsunterschiede zwischen der jeweils "eigentlich gesehenen Vorderseite" und der "unanschaulichen" und relativ "unbestimmten", jedoch "mitgemeinten" Rückseite. Im Achten auf das Strömen der Erscheinungsweisen und die Art ihrer "Synthesis" zeigt sich, daß jede Phase und Strecke schon für sich "Bewußtsein-von" ist, aber so, daß sich im stetigen Auftreten neuer Phasen das synthetisch einheitliche Bewußtsein von dem einen und selben Gegenstand herstellt. Der intentionale Aufbau eines Wahrnehmungsverlaufes hat seine feste Wesenstypik, die in ihrer außerordentlichen Komplikation notwendig verwirklicht werden muß, wenn ein körperliches Ding schlicht wahrgenommen sein soll. Ist das selbe Ding in anderen Weisen anschaulich, z.B. in der Weise der Wiedererinnerung, der }>hantasie, der abbildliehen Darstellung, so kehren gewissermaßen alle intentionalen Gehalte der Wahrnehmung wieder, aber alle in entsprechenden Weisen eigentümlich abgewandelt. Auch für jede sonstige Gattung psychischer Erlebnisse gilt Ähnliches: das urteilende, das wertende, das strebende Bewußtsein ist nicht ein leeres Bewußthaben der jeweiligen Urteile, Werte, Ziele, Mittel. Sie konstituieren sich vielmehr in einer strömenden Intentionalität mit einer ihnen entsprechenden und festen Wesenstypik. - Für die Psychologie eröffnet sich hier die universale Aufgabe: die typischen Gestalten der intentionalen Erlebnisse, ihrer möglichen Abwandlungen, ihrer Synthesen zu neuen Gestalten, ihres strukturellen Aufbaus aus elementaren Intentionalitäten systematisch zu durchforschen und von da aus zu einer deskriptiven Erkenntnis des Ganzen der Erlebnisse, des Gesamttypus eines Lebens der Seele fortzuschreiten. - Offenbar liefert die konsequente Verfolgung dieser Aufgabe Erkenntnisse, die nicht nur für das eigene seelische Sein des Psychologen Gültigkeit haben. Seelenleben ist uns nicht nur zugänglich durch Selbsterfahrung sondern auch durch Fremderfahrung. Diese neuartige Erfahrungsquelle bietet nicht nur Gleichartiges mit der Selbsterfahrung sondern auch Neues, sofern sie die Unterschiede des "Eigenen" und "Fremden", sowie die Eigenheiten des Gemeinschaftslebens für uns alle bewußtseinsmäßig und zwar als Erfahrung begründet. 3•

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Eben damit ergibt sich die Aufgabe, auch das Gemeinschaftsleben phänomenologisch nach all den zugehörigen Intentionalitäten verständlich zu machen. 3. Das abgeschlossene Feld des rein PsychischenPhänomenologische Reduktion und echte innere Erfahrung Die Idee einer phänomenologischen Psychologie ist durch die ganze Weite des aus der Selbsterfahrung und der in ihr fundierten Fremderfahrung entspringenden Aufgabenkreises umzeichnet. Aber es ist noch nicht klar, ob eine in Ausschließlichkeit und Konsequenz fortgeführte phänomenologische Erfahrung uns ein derart abgeschlossenes Seinsfeld verschafft, daß eine ausschließlich darauf bezogene, von allem Psychophysischen reinlich abgelöste Wissenschaft erwachsen kann. Hier bestehen in der Tat Schwierigkeiten, welche den Psychologen selbst nach Brentanos Entdeckung der Intentionalität die Möglichkeit einer solchen rein phänomenologischen Psychologie verdeckt haben. Sie betreffen schon die Herstellung einer wirklich reinen Selbsterfahrung und damit eines wirklich rein psychischen Datums. Es bedarf einer besonderen Zugangsmethode zum rein phänomenologischen Feld. Diese Methode der ,.phänomenologischen Reduktion" ist also die Grundmethode der reinen Psychologie, die Voraussetzung aller ihrer spezifisch theoretischen Methoden. Letztlich beruht alle Schwierigkeit auf der Art, wie schon die Selbsterfahrung der Psychologen überall mit äußerer Erfahrung, der vom außerpsychischen Realen, verflochten ist. Das erfahrene "Äußere" gehört nicht zur intentionalen Innerlichkeit, obschon doch die Erfahrung selbst dazu gehört als Erfahrung vom Äußeren. Ebenso für jederlei sonstiges Bewußtsein, das auf ein Weltliches gerichtet ist. Es bedarf also einer konsequenten eltOXTJ des Phänomenologen, wenn er sein Bewußtsein als reines Phänomen gewinnen will, einzelweise, aber auch als das Ganze seines reinen Lebens. D. h. er muß im Vollzug der phänomenologischen Reflexion jeden Mitvollzug der im unreflektierten Bewußtsein betätigten objektiven Setzungen inhibieren und damit jedes urteilsmäßige Hereinziehen der für ihn geradehin "daseienden" Welt. Die jeweilige Erfahrung von diesem Haus, von diesem Leib, von einer Welt überhaupt ist und bleibt aber ihrem eigenen Wesensgehalt nach, also unabtrennbar, Erfahrung ,. von diesem Haus", diesem Leib, dieser Welt, und so für jederlei Bewußtseinsweise, die objektiv gerichtet ist. Es ist ja unmöglich, ein intentionales Erlebnis zu beschreiben, auch wenn es ein illusionäres ist, ein nichtiges Urteilen und dgl., ohne das in ihm Bewußte als solches mit zu beschreiben. Die universale Epoche hinsichtlich der bewußt werdenden Welt (ihre ,.Einklammerung") schaltet aus dem phänomenologischen Feld die für das betreffende Subjekt schlechthin seiende Welt aus, aber an ihre Stelle tritt die so und so bewußte (wahrgenommene, erinnerte, beurteilte, gedachte, gewertete etc.) Welt ,.als solche ", die ,. Welt in Klammem" oder, was dasselbe, es tritt an die Stelle der Welt bzw. des einzelnen Weltlichen schlechthin der jeweilige Bewußtseinssinn in seinen verschiedenen Modis (Wahrnehmungssinn, Erinnerungssinn usw.).

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Damit klärt und ergänzt sich unsere erste Bestimmung der phänomenologischen Erfahrung und ihrer Seinssphäre. Im Rückgang von den in der natürlichen Einstellung gesetzten Einheiten auf die mannigfaltigen Bewußtseinsweisen, in denen sie erscheinen, sind, als von diesen Mannigfaltigkeiten unabtrennbar, auch die Einheiten - aber als "eingeklammerte" - dem rein Psychischen zuzurechnen und dann jeweils in den Erscheinungscharakteren, in denen sie sich darbieten. Die Methode der phänomenologischen Reduktion (auf die reinen "Phänomene", das rein Psychische) besteht danach 1) in der methodischen und streng konsequenten E3tOXl] bei jeder in der seelischen Sphäre auftretenden objektiven Setzung, sowohl am einzelnen Phänomen als an dem ganzen seelischen Bestand überhaupt; 2) in der methodisch geübten Erfassung und Beschreibung der mannigfaltigen "Erscheinungen" als Erscheinungen ihrer gegenständlichen Einheiten und der Einheiten als Einheiten der ihnen jeweils in den Erscheinungen zuwachsenden Sinnbestände. Es zeigt sich damit eine doppelte "noetische" und "noematische" Richtung der phänomenologischen Beschreibungen an. - Die phänomenologische Erfahrung in der methodischen Gestalt der phänomenologischen Reduktion ist die einzig echte "innere Erfahrung" im Sinne jeder wohlbegründeten psychologischen Wissenschaft. In ihrem eigenen Wesen liegt offenbar die Möglichkeit, kontinuierlich unter methodischer Erhaltung der Reinheit fortgeführt zu werden in infinitum. Die reduktive Methode überträgt sich von der Selbsterfahrung auf die Fremderfahrung, sofern im vergegenwärtigten Leben des Anderen die entsprechende Einklammerung und Beschreibung nach Erscheinung und Erscheinendem im subjektiven Wie ("Noesis" und "Noema") vollzogen werden kann. In weiterer Folge reduziert sich die in der Gemeinschaftserfahrung erfahrene Gemeinschaft nicht nur auf die seelisch vereinzelten intentionalen Felder sondern auf die Einheit des intersubjektiven, sie alle verbindenden Gemeinschaftslebens in seiner phänomenologischen Reinheit (intersubjektive Reduktion). So ergibt sich die volle Erweiterung des echten psychologischen Begriffes von "innerer Erfahrung". Zu jeder Seele gehört nicht nur die Einheit ihres mannigfaltigen intentionalen Lebens mit all den von ihm als einem "objektiv" gerichteten unabtrennbaren Sinneseinheiten. Unabtrennbar ist von diesem Leben das in ihm erlebende Ichsubjekt als der identische, alle Sonderintentionalitäten zentrierende "/chpol" und als Träger der ihm aus diesem Leben zuwachsenden Habitualitäten. So ist dann auch die reduzierte Intersubjektivität, in Reinheit und konkret gefaßt, eine im intersubjektiven reinen Bewußtseinsleben sich betätigende Gemeinschaft von reinen Personen. 4. Die eidetische Reduktion und die phänomenologische Psychologie als eidetische Wissenschaft

Inwiefern sichert die Einheit des phänomenologischen Erfahrungsfeldes die Möglichkeit einer darauf ausschließlich bezogenen, also rein phänomenologischen Psychologie? Nicht ohne weiteres einer empirisch reinen, einer von allem Psycho-

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physischen abstrahierenden Tatsachenwissenschaft Anders steht es mit einer apriorischen Wissenschaft. Jedes in sich abgeschlossene Feld möglicher Erfahrung gestattet eo ipso den universalen Übergang von der Faktizität zur Wesensform (Eidos). So auch hier. Wird die phänomenologische Faktizität irrelevant, dient sie nur exemplarisch und als Unterlage für eine freie aber anschauliche Variation der faktischen Einzelseelen und Seelengemeinschaften in a priori mögliche (erdenkliche) und richtet sich nun der theoretische Blick auf das sich in der Variation notwendig durchhaltende Invariante, so erwächst damit bei systematischem Vorgehen ein eigenes Reich des "Apriori". Es tritt damit der wesensnotwendige Formstil hervor (das Eidos), der durch alles mögliche seelische Sein in den Einzelheiten, den synthetischen Verbänden und abgeschlossenen Ganzheiten hindurchgehen muß, wenn es überhaupt "denkmöglich", das ist anschaulich vorstellbar soll sein können. Psychologische Phänomenologie ist in dieser Art zweifellos als "eidetische Phänomenologie" zu begründen, sie ist dann ausschließlich auf die invarianten Wesensformen gerichtet. Z.B. die Phänomenologie der Körperwahrnehmung ist nicht ein Bericht über die faktisch vorkommenden oder zu erwartenden Wahrnehmungen, sondern Herausstellung des invarianten Strukturensystems, ohne das Wahrnehmung eines Körpers und eine synthetisch zusammenstimmende Mannigfaltigkeit von Wahrnehmungen als solchen eines und desselben Körpers undenkbar wären. Schuf die phänomenologische Reduktion den Zugang zu den "Phänomenen" wirklicher und dann auch möglicher innerer Erfahrung, so verschafft die in ihr fundierte Methode der "eidetischen Reduktion" den Zugang zu den invarianten Wesensgestalten der rein seelischen Gesamtsphäre. 5. Die prinzipielle Funktion der rein phänomenologischen Psychologie für eine exakte empirische Psychologie

Die phänomenologisch reine Psychologie ist das unbedingt notwendige Fundament für den Aufbau einer "exakten" empirischen Psychologie, die nach dem Vorbild der exakten rein physischen Naturwissenschaft seit deren neuzeitlichen Anfangen gesucht worden ist. Der prinzipielle Sinn der Exaktheit dieser Naturwissenschaft liegt in ihrer Fundierung auf das apriorische, in eigenen Disziplinen (reine Geometrie, reine Zeitlehre, Bewegungslehre usw.) entfaltete Formensystem einer denkmöglichen Natur überhaupt. Durch die Verwertung dieses apriorischen Formensystems für die faktische Natur gewinnt die vage induktive Empirie Anteil an der Wesensnotwendigkeit und die empirische Naturwissenschaft selbst den neuen methodischen Sinn, für alle vagen Begriffe und Regeln die diesen notwendig zu unterlegenden rationalen Begriffe und Gesetze zu erarbeiten. So wesentlich naturwissenschaftliche und psychologische Methode auch unterschieden bleiben, darin besteht ihre notwendige Gemeinsamkeit, daß auch die Psychologie, wie jede Wissenschaft, ihre "Strenge" ("Exaktheit") nur schöpfen kann aus der Rationalität des "Wesensmäßigen". Die Enthüllung der apriorischen Typik, ohne die Ich, bzw. Wir, Bewußtsein, Bewußtseinsgegenständlichkeit und somit seelisches Sein über-

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haupt undenkbar wäre - mit all den wesensnotwendigen und wesensmöglichen Formen von Synthesen, die von der Idee einer einzelseelischen und gemeinschaftsseelischen Ganzheit unabtrennbar sind - schafft ein ungeheures Feld der Exaktheit, das sich, und hier sogar unmittelbar (ohne das Zwischenglied der Limes-Idealisierung), in die empirische Seelenforschung überträgt. Allerdings ist das phänomenologische Apriori nicht das vollständige der Psychologie, sofern der psychophysische Zusammenhang als solcher sein eigenes Apriori hat. Es ist aber klar, daß dieses Apriori das der rein phänomenologischen Psychologie voraussetzt, wie nach der anderen Seite das reine Apriori einer physischen (und speziell organischen) Natur überhaupt. Der systematische Aufbau einer phänomenologisch reinen Psychologie erfordert: I) die Deskription der zum Wesen eines intentionalen Erlebnisses überhaupt gehörigen Eigenheiten, wozu auch das allgemeinste Gesetz der Synthesis gehört: jede Verknüpfung von Bewußtsein mit Bewußtsein ergibt ein Bewußtsein. 2) die Erforschung der Einzelgestalten intentionaler Erlebnisse, die in einer Seele überhaupt in Wesensnotwendigkeit auftreten müssen oder auftreten können; in eins damit die Erforschung der Wesenstypik der zugehörigen Synthesen, der kontinuierlichen und diskreten, der endlich geschlossenen oder in offener Unendlichkeit fortzusetzenden. 3) die Aufweisung und Wesensdeskription der Gesamtgestalt eines Seelenlebens überhaupt, also die Wesenart eines universalen "Bewußtseinsstromes". 4) eine neue Untersuchungsrichtung bezeichnet der Titel "Ich" (noch unter Abstraktion von dem sozialen Sinn dieses Wortes) hinsichtlich der ihm zugehörigen Wesensformen der "Habitualität", also das Ich als Subjekt bleibender "Überzeugungen" (Seinsüberzeugungen, Wertüberzeugungen, Willensentscheidungen usw.), als personales Subjekt von Gewohnheiten, von wohlgebildetem Wissen, von Charaktereigenschaften. Überall führt schließlich diese "statische" Wesensdeskription zu Problemen der Genesis und zu einer universalen nach eidetischen Gesetzen das ganze Leben und die Entwicklung des personalen Ich durchherrschenden Genesis. So baut sich auf die erste "statische Phänomenologie" in höherer Stufe die dynamische oder genetische Phänomenologie. Sie behandelt als erste fundierende Genesis die der Passivität, in der das Ich als aktives unbeteiligt ist. Hier liegt die neue Aufgabe einer universalen eidetischen Phänomenologie der Assoziation, eine späte Rehabilitation der großen Vorentdeckungen D. Humes, mit dem Nachweis der apriorischen Genesis, aus der für eine Seele eine reale Raumwelt in habitueller Geltung sich konstituiert. Es folgt die Wesenslehre der Entwicklung personaler Habitualität, in der das rein seelische Ich innerhalb invarianter Strukturformen als personales Ich ist und seiner in habitueller Fortgeltung bewußt ist als sich immerzu fortbildendes. Eine besondere zusammenhängende Untersuchungsschicht höherer Stufe bildet die statische und dann die genetische Phänomenologie der Vernunft.

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Edmund Husserl II. Phänomenologische Psychologie und transzendentale Phänomenologie 6. Descartes' transzendentale Wendung und Lackes Psychologismus

Die Idee einer rein phänomenologischen Psychologie hat nicht nur die soeben dargelegte reformatorische Funktion für die empirische Psychologie. Aus tiefliegenden Gründen kann sie als Vorstufe für die Freilegung des Wesens einer transzendentalen Phänomenologie dienen. Auch historisch ist diese Idee nicht aus den eigenen Bedürfnissen der Psychologie selbst erwachsen. Ihre Geschichte führt uns bis auf J. Lackes denkwürdiges Grundwerk zurück und auf die bedeutsame Auswirkung der von ihm ausgehenden Impulse durch J. Berkeley und D. Hume. Schon bei Locke war aber die Beschränkung auf das rein Subjektive von außerpsychologischen Interessen bestimmt. Die Psychologie stand im Dienste des durch Descartes erweckten Transzendentalproblems. In seinen meditationes war der Gedanke zu dem für die erste Philosophie leitenden geworden: daß alles Reale und schließlich diese ganze Welt für uns seiende und soseiende nur ist als Vorstellungsinhalt unserer eigenen Vorstellungen, als urteilsmäßig vermeinte und bestenfalls evident bewährte unseres eigenen Erkenntnislebens. Hier lag die Motivation zu allen, ob echten oder unechten Transzendentalproblemen. Descartes' Zweifelsmethode war die erste Methode der Herausstellung der "transzendentalen Subjektivität", sein "ego cogito" führte auf deren erste begriffliche Fassung. Bei Locke wandelt sich Descartes' transzendental reine mens in die reine Seele (human mind), deren systematische Erforschung durch innere Erfahrung Locke in transzendentalphilosophischem Interesse in Angriff nimmt. Er ist so der Begründer des Psychologismus als einer Transzendentalphilosophie durch eine Psychologie aus innerer Erfahrung. Das Schicksal der wissenschaftlichen Philosophie hängt an einer radikalen Überwindung jedes Psychologismus, die nicht nur seinen prinzipiellen Widersinn bloßlegt, sondern auch seinem transzendental bedeutsamen Wahrheitskern genugtut. Die Quelle seiner beständigen historischen Kraft schöpft er aus einer Doppeldeutigkeit aller Begriffe von Subjektivem, die alsbald mit der Aufrollung der transzendentalen Frage erwächst. Die Enthüllung dieser Zweideutigkeit bedeutet in eins mit der scharfen Trennung zugleich eine Parallelisierung der rein phänomenologischen Psychologie (als der wissenschaftlich strengen Gestalt der Psychologie rein aus innerer Erfahrung) und der transzendentalen Phänomenologie als der echten Transzendentalphilosophie. Zugleich rechtfertigt sich so die Vorausschickung der reinen Psychologie als Zugangsmittel zur echten Philosophie. Wir beginnen mit der Klärung des echten Transzendentalproblems, das in der zunächst unklaren Labilität seines Sinnes so sehr geneigt macht (und das trifft schon Descartes), es auf ein abwegiges Geleise zu verschieben.

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7. Das transzendentale Problem Zum wesentlichen Sinn des transzendentalen Problems gehört seine Universalität, in der es die Welt und alle sie erforschenden Wissenschaften in Frage stellt. Es erwächst in einer allgemeinen Umwendung jener ,.natürlichen Einstellung", in der wie das gesamte alltägliche Leben so auch die positiven Wissenschaften verbleiben. In ihr ist uns die Welt das selbstverständlich seiende Universum der Realitäten, beständig vorgegeben in fragloser Vorhandenheit. So ist sie das allgemeine Feld unserer praktischen und theoretischen Betätigungen. Sowie das theoretische Interesse diese natürliche Einstellung aufgibt und in einer allgemeinen Blickwendung sich auf das Bewußtseinsleben richtet, in dem die Welt für uns eben "die" Welt, die für uns vorhandene ist, sind wir in einer neuen Erkenntnislage. Jeder Sinn, den sie für uns hat (dessen werden wir nun inne), ihr unbestimmt allgemeiner wie ihr nach realen Einzelheiten sich bestimmender Sinn, ist in der Innerlichkeit unseres eigenen wahrnehmenden, vorstellenden, denkenden, wertenden Lebens bewußter und sich in unserer subjektiven Genesis bildender Sinn; jede Seinsgeltung ist in uns selbst vollzogen, jede sie begründende Evidenz der Erfahrung und Theorie in uns selbst lebendig und habituell uns immerfort motivierend. Das betrifft die Welt in jeder Bestimmung, auch in der selbstverständlichen, daß, was ihr zugehört, ,. an und für sich" ist, wie es ist, ob ich oder wer immer seiner zufällig bewußt wird oder nicht. Ist einmal die Welt in dieser vollen Universalität auf die Bewußtseinssubjektivität bezogen worden, in deren Bewußtseinsleben sie eben als "die" Welt des jeweiligen Sinnes auftritt, so erhält ihre gesamte Seinsweise eine Dimension der Unverständlichkeit bzw. Fraglichkeit. Dieses "Auftreten", dieses Für-uns-sein der Welt als der nur subjektiv zur Geltung gekommenen und zur begründeten Evidenz gebrachten und zu bringenden, bedarf der Aufklärung. Das erste Ionewerden der Bewußtseinsbezogenheil der Welt in seiner leeren Allgemeinheit gibt kein Verständnis dafür, wie das mannigfaltige, kaum erschaut ins Dunkel zurücksinkende Bewußtseinsleben es zu solchen Leistungen bringt, wie es das sozusagen macht, daß in seiner Immanenz irgend etwas als an sich seiend auftreten kann und nicht nur als Vermeintliches sondern als sich in einstimmiger Erfahrung Ausweisendes. Offenbar überträgt sich das Problem auf jederlei "ideale" Welten und ihr "Ansich-sein" (z. B. die der reinen Zahlen oder der "Wahrheiten an sich"). Die Unverständlichkeit greift in besonders empfindlicher Weise unsere Seinsart selbst an. Wir (Einzelne und in Gemeinschaft) sollen es sein, in deren Bewußtseinsleben die reale Welt, die für uns vorhanden ist, als solche Sinn und Geltung gewinnt. Wir als Menschen sollen aber selbst zur Welt gehören. Nach unserem weltlichen Sinn werden wir also wieder auf uns und unser Bewußtseinsleben verwiesen, als worin sich für uns dieser Sinn erst gestaltet. Ist hier und überall ein anderer Weg der Aufklärung denkbar als der, das Bewußtsein selbst und die in ihm bewußt werdende "Welt" als solche zu befragen, da sie eben als von uns je gemeinte nirgendwoher sonst als in uns Sinn und Geltung gewonnen haben und gewinnen kann?

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Machen wir noch einen wichtigen Schritt, der das "transzendentale" (den bewußtseinsrelativen Seinssinn des "Transzendenten" betreffende) Problem auf die prinzipielle Stufe erhebt. Er liegt in der Erkenntnis, daß die aufgewiesene Bewußtseinsrelativität nicht nur das Faktum unserer Welt angeht, sondern in eidetischer Notwendigkeit jede erdenkliche Welt überhaupt. Denn variieren wir in freier Phantasie unsere faktische Welt, sie in beliebige erdenkliche Welten überführend, so variieren wir uns, deren Umwelt sie ist, unweigerlich mit, wir wandeln uns je in eine mögliche Subjektivität, deren Umwelt je die erdachte Welt wäre, als Welt ihrer möglichen Erfahrungen, möglichen theoretischen Evidenzen, ihres möglichen praktischen Lebens. Diese Variation läßt freilich die rein idealen Welten der Art, die ihr Sein in der eidetischen Allgemeinheit haben, zu deren Wesen ja die Invarianz gehört, unberührt; aber es zeigt sich doch in der möglichen Variierbarkeit des solche ldentitäten erkennenden Subjekts, daß ihre Erkennbarkeit, also ihre intentionale Bezogenheit nicht nur unsere faktische Subjektivität angeht. Mit der eidetischen Fassung des Problems wandelt sich auch die erforderliche Bewußtseinsforschung in eine eidetische.

8. Die psychologistische Lösung als transzendentaler Zirkel Die Herausarbeitung der Idee einer phänomenologisch reinen Psychologie hat die Möglichkeit erwiesen, in konsequenter phänomenologischer Reduktion das Eigenwesentliche der Bewußtseinssubjekte in eidetischer Allgemeinheit zu enthüllen, nach allen seinen möglichen Gestalten. Das befaßt auch diejenigen der Recht begründenden und bewährenden Vernunft und damit alle Gestalten möglicherweise erscheinender und als an sich seiend durch zusammenstimmende Erfahrung auszuweisender und in theoretischer Wahrheit zu bestimmender Welten. Danach scheint diese phänomenologische Psychologie in ihrer systematischen Durchführung die gesamte Korrelationsforschung für Sein und Bewußtsein und von vomherein in prinzipieller (eben eidetischer) Allgemeinheit in sich zu fassen, also die Stätte aller transzendentalen Aufklärungen zu sein. Demgegenüber darf aber nicht übersehen werden, daß die Psychologie in allen ihren empirischen und eidetischen Disziplinen "positive Wissenschaft" ist, Wissenschaft in der natürlichen Einstellung, in der die schlechthin vorhandene Welt der thematische Boden ist. Was sie erforschen will, sind die in der Welt vorkommenden Seelen und Seelengemeinschaften. Die phänomenologische Reduktion dient als psychologische nur dazu, das Psychische der animalischen Realitäten in seiner reinen Eigenwesentlichkeit und seinen rein eigenwesentlichen Zusammenhängen zu gewinnen. Es behält, auch in der eidetischen Forschung, den Seinssinn von weltlich Vorhandenem, nur bezogen auf mögliche reale Welten. Der Psychologe ist auch als eidetischer Phänomenologe transzendental naiv, er nimmt die möglichen "Seelen" (Ichsubjekte), ganz dem relativen Wortsinn gemäß, als solche schlechthin als vorhanden gedachter Menschen und Tiere einer möglichen Raumwelt Lassen wir aber anstau des natürlichweltlichen das transzendentale Interesse theoretisch maß-

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gebend werden, so erhält die gesamte Psychologie den Stempel des transzendental Problematischen, sie kann also der Transzendentalphilosophie keinerlei Prämissen beisteHen. Die Bewußtseinssubjektivität, die als seelische ihr Thema ist, kann nicht diejenige sein, auf die transzendental zurückgefragt werden soll. Um an diesem entscheidenden Punkte zu einsichtiger Klarheit zu kommen, ist der thematische Sinn der transzendentalen Frage scharf im Auge zu behalten und zu erwägen, wie sich ihm gemäß die Regionen des Fraglichen und Unfraglichen scheiden. Das transzendentalphilosophische Thema ist eine konkrete und systematische Aufklärung jener mannigfaltigen intentionalen Bezogenheiten, die einer möglichen Welt überhaupt als Umwelt einer entsprechenden möglichen Subjektivität wesensmäßig zugehören, für die sie die vorhandene, praktisch und theoretisch zugängliche wäre. Diese Zugänglichkeil bedeutet für die Subjektivitäten hinsichtlich aller Kategorien für sie vorhandener Weltobjekte und Weltstrukturen Regelungen ihres möglichen Bewußtseinslebens, die in ihrer Typik erst enthüllt werden müssen. Solche Kategorien sind "leblose Dinge", aber auch Menschen und Tiere mit ihren seelischen Innerlichkeiten. Von hier aus soll sich der volle und ganze Seinssinn einer möglichen vorhandenen Welt im Allgemeinen und hinsichtlich aller für sie konstitutiven Kategorien klären. Wie jede sinnvolle Frage setzt diese transzendentale einen Boden unfraglichen Seins voraus, in dem alle Mittel der Lösung beschlossen sein müssen. Dieser Boden ist hier die Subjektivität desjenigen Bewußtseinslebens, in dem eine mögliche Welt überhaupt als vorhandene sich konstituiert. Andererseits ist es eine selbstverständliche Grundforderung vernünftiger Methode, daß dieser als unfraglich seiend vorausgesetzte Boden nicht mit solchem vermengt wird, was die transzendentale Frage in ihrer Universalität als in Frage stehend meint. Das Reich dieser Fraglichkeil ist das gesamte der transzendentalen Naivität, umfaßt also jede mögliche Welt als die in natürlicher Einstellung schlechthin in Anspruch genommene. Danach sind alle positiven Wissenschaften transzendental einer Epoche zu unterwerfen so wie alle ihre Gegenstandsgebiete, also auch die Psychologie und das gesamte in ihrem Sinne Psychische. Es wäre also ein transzendentaler Zirkel, die Beantwortung der transzendentalen Frage auf die Psychologie zu stützen, einerlei ob auf empirische oder eidetisch-phänomenologische. Die Subjektivität und das Bewußtsein - hier stehen wir vor der paradoxen Zweideutigkeit -, auf das die transzendentale Frage rekurriert, kann also wirklich nicht diejenige Subjektivität und das Bewußtsein sein, von dem die Psychologie handelt. 9. Die transzendental-phänomenologische Reduktion und der transzendentale Schein der Verdoppelung

"Wir" sollten also doppelt sein, psychologisch als wir Menschen Vorhandenheilen in der Welt, Subjekte seelischen Lebens und zugleich transzendental als die Subjekte eines transzendentalen weltkonstituierenden Lebens? Diese Doppelheit klärt sich durch evidente Aufweisung. Die seelische Subjektivität, das konkret gefaßte "ich" und "wir" der alltäglichen Rede, wird in ihrer reinen psychischen

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Eigenheit erfahren durch die Methode phänomenologisch-psychologischer Reduktion. In eidetischer Abwandlung schafft sie den Boden für die rein phänomenologische Psychologie. Die transzendentale Subjektivität, auf die im transzendentalen Problem hingefragt und die in ihm als Seinsboden vorausgesetzt ist, ist keine andere als wiederum "ich selbst" und "wir selbst", aber nicht als die wir uns in der natürlichen Einstellung des Alltags und der positiven Wissenschaft vorfinden, apperzipiert als Bestandstücke der für uns vorhandenen objektiven Welt: vielmehr als Subjekte des Bewußtseinslebens, in dem sich diese und alle Vorhandenheit für "uns"- durch gewisse Apperzeptionen "macht". Als Menschen, seelisch wie leiblich in der Welt vorhanden, sind wir für "uns"; wir sind Erscheinendes eines sehr mannigfaltigen intentionalen Lebens, "unseres" Lebens, worin sich also dieses Vorhandene apperzeptiv mit seinem ganzen Sinnesgehalt "für uns" macht. Das vorhandene (apperzipierte) Ich und Wir setzt ein (apperzipierendes) Ich und Wir voraus, für das es vorhanden ist, das aber nicht selbst wieder im selben Sinn vorhanden ist. Zu dieser transzendentalen Subjektivität haben wir direkten Zugang durch eine transzendentale Erfahrung. Wie schon die seelische Erfahrung zur Reinheit einer reduktiven Methode bedarf, so auch die transzendentale. Wir wollen hier so vorgehen, daß wir die "transzendentale Reduktion" einführen als aufgestuft auf die psychologische Reduktion, als eine weitere an dieser jederzeit zu vollziehende Reinigung und abermals mittels einer gewissen Epoche. Diese ist eine bloße Konsequenz der universalen Epoche, welche zum Sinn der transzendentalen Frage gehört. Fordert die transzendentale Relativität jeder möglichen Welt deren universale "Einklammerung", so fordert sie auch die der reinen Seelen und der auf sie bezogenen rein phänomenologischen Psychologie. Dadurch verwandeln sich diese in transzendentale Phänomene. Während also der Psychologe innerhalb der für ihn natürlich geltenden Welt die vorkommende Subjektivität auf die rein seelische Subjektivität- in der Welt- reduziert, reduziert der transzendentale Phänomenologe durch seine absolut universale Epoche diese psychologisch reine auf die transzendental reine Subjektivität, auf diejenige, welche die Weltapperzeption und darin die objektivierende Apperzeption "Seele animalischer Realitäten" vollzieht und in sich in Geltung setzt. Z. B. meine jeweiligen reinen Wahrnehmungserlebnisse, Phantasieerlebnisse usw. sind psychologische Gegebenheiten der psychologischen inneren Erfahrung in der Einstellung der Positivität. Sie verwandeln sich in meine transzendentalen Erlebnisse, wenn ich die Welt, mein Menschsein inbegriffen, durch radikale Epoche als bloßes Phänomen setze und nun dem intentionalen Leben nachgehe, worin die gesamte Apperzeption "der" Welt, im besonderen die Apperzeption meiner Seele, meiner psychologisch realen Wahrnehmungserlebnisse usw. sich gestaltet. Der Gehalt dieser Erlebnisse, ihr Eigenwesentliches bleibt dabei voll erhalten, wenn schon er nun sichtlich ist als Kern einer vordem psychologisch immer wieder betätigten aber nicht in Rechnung gezogenen Apperzeption. Für den Transzendentalphilosophen, der durch einen vorausgehenden universalen Willensentschluß in sich die feste Habitualität der transzendentalen "Einklammerung" gestiftet hat, ist auch diese in der natürlichen

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Einstellung nie fehlende Verweltlichung des Bewußtseins ein für allemal unterbunden. Demgemäß ergibt für ihn die konsequente Bewußtseinsreflexion immer wieder transzendental Reines, und zwar anschaulich in der Weise einer neuartigen, der transzendentalen "inneren" Erfahrung. Aus der methodischen transzendentalen Epoche entsprungen, eröffnet sie das endlose transzendentale Seinsfeld. Es ist die Parallele zum endlosen psychologischen Feld, sowie seine Zugangsmethode die Parallele ist zur rein psychologischen, derjenigen der psychologisch-phänomenologischen Reduktion. Und wieder ebenso ist das transzendentale Ich und die transzendentale Ichgemeinschaft, gefaßt in der vollen Konkretion des transzendentalen Lebens, die transzendentale Parallele zum Ich und Wir im gewöhnlichen und psychologischen Sinn, wieder konkret gefaßt als Seele und Seelengemeinschaft mit dem zugehörigen psychologischen Bewußtseinsleben. Mein transzendentales Ich ist also evident , verschieden' vom natürlichen Ich, aber keineswegs als ein zweites, als ein davon getrenntes im natürlichen Wortsinn, wie umgekehrt auch keineswegs ein in natürlichem Sinne damit verbundenes oder mit ihm verflochtenes. Es ist eben das (in voller Konkretion gefaßte) Feld der transzendentalen Selbsterfahrung, die jederzeit durch bloße Änderung der Einstellung in psychologische Selbsterfahrung zu wandeln ist. In diesem Übergang stellt sich notwendig eine Identität des Ich her; in transzendentaler Reflexion auf ihn wird die psychologische Objektivierung als Selbstobjektivierung des transzendentalen Ich sichtlich, und so findet es sich als wie es in jedem Moment natürlicher Einstellung sich eine Apperzeption auferlegt hat. Ist der Parallelismus der transzendentalen und psychologischen Erfahrungssphären als eine Art Identität des Ineinander des Seinssinnes aus bloßer Einstellungsänderung verständlich geworden, so auch die daraus sich ergebende Folge des gleichen Parallelismus und des im Ineinander implicite Beschlossenseins der transzendentalen und der psychologischen Phänomenologie, deren volles Thema die doppelsinnige reine Intersubjektivität ist. Es ist dabei nur in Rechnung zu ziehen, daß die rein-seelische Intersubjektivität, sowie sie der transzendentalen Epoche unterworfen wird, ebenfalls zu ihrer Parallele, der transzendentalen Intersubjektivität führt. Offenbar besagt der Parallelismus nichts weniger als theoretische Gleichwertigkeit. Die transzendentale Intersubjektivität ist der konkret eigenständige absolute Seinsboden, aus dem alles Transzendente (darunter alles real weltlich Seiende) seinen Seinssinn schöpft als Sein eines in bloß relativem und damit unvollständigem Sinne Seienden, als den einer intentionalen Einheit, die in Wahrheit ist aus transzendentaler Sinngebung, einstimmiger Bewährung und wesensmäßig zugehöriger Habitualität bleibender Überzeugung. 10. Die reine Psychologie als Propädeutik zur transzendentalen Phänomenologie

Durch die Aufklärung der wesensmäßigen Doppeldeutigkeit der Bewußtseinssubjektivität und der auf diese zu beziehenden eidetischen Wissenschaft wird die historische Unüberwindlichkeit des Psychologismus aus tiefsten Gründen ver-

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ständlich. Seine Kraft liegt in einem wesensmäßigen transzendentalen Schein, der unenthüllt fortwirken mußte. Verständlich wird auch durch die gewonnene Aufklärung auf der einen Seite die Unabhängigkeit der Idee einer transzendentalen Phänomenologie und ihrer systematischen Durchführung von derjenigen einer phänomenologisch reinen Psychologie, auf der anderen Seite doch die propädeutische Nützlichkeit eines vorausgeschickten Entwurfes reiner Psychologie für ein Aufsteigen zur transzendentalen Phänomenologie, eine Nützlichkeit, die die vorliegende Darstellung geleitet hat. Was das eine anlangt, ist es offensichtlich, daß sich an die Aufdeckung der transzendentalen Relativität sogleich die phänomenologische und eidetische Reduktion knüpfen läßt, und so erwächst die transzendentale Phänomenologie direkt aus der transzendentalen Anschauung. In der Tat war dieser direkte der historische Weg. Die reine phänomenologische Psychologie als eidetische Wissenschaft in der Positivität lag ja überhaupt nicht vor. Was fürs Zweite den propädeutischen Vorzug des indirekten Weges zur transzendentalen Phänomenologie über die reine Psychologie anlangt, so bedeutet die transzendentale Einstellung eine Art Änderung der ganzen Lebensform, die alle bisherige Lebenserfahrung völlig übersteigt, also vermöge ihrer absoluten Fremdartigkeit schwer verständlich sein muß. Ähnliches gilt für eine transzendentale Wissenschaft. Die phänomenologische Psychologie, obschon auch relativ neu und in der Methode intentionaler Analyse ganz neuartig, hat immerhin doch die Zugänglichkeit aller positiven Wissenschaften. Ist sie mindest der scharf präzisierten Idee nach einmal klar geworden, so bedarf es nur der Klärung des echten Sinnes transzendentalphilosophischer Problematik und der transzendentalen Reduktion, um sich der transzendentalen Phänomenologie als einer bloßen Wendung ihres Lehrgehaltes ins Transzendentale zu bemächtigen. In diese zwei Stufen verteilen sich die zwei Grundschwierigkeiten des Eindringens in die neue Phänomenologie, nämlich die des Verständnisses der echten Methode "innerer Erfahrung", die schon zur Ermöglichung einer "exakten" Psychologie als rationaler Tatsachenwissenschaft gehört, und die des Verständnisses der Eigentümlichkeit transzendentaler Fragestellung und Methode. An sich betrachtet ist allerdings das transzendentale Interesse das höchste und letzte wissenschaftliche Interesse, und so ist es das Richtige, wie historisch so weiterhin, die transzendentalen Theorien im eigenständigen absoluten System der Transzendentalphilosophie auszubilden und in ihr selbst mit der Aufweisung der Wesensart natürlicher gegenüber transzendentaler Einstellung die Möglichkeit der Umdeutung aller transzendentalen phänomenologischen Lehren in solche der natürlichen Positivität herauszustellen.

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111. Transzendentale Phänomenologie und Philosophie als universale Wissenschaft in absoluter Begründung 11. Die transzendentale Phänomenologie als Ontologie

In Erwägung der Tragweite der transzendentalen Phänomenologie ergeben sich merkwürdige Konsequenzen. In ihrer systematischen Durchführung verwirklicht sie die Leibnizsche Idee einer universalen Ontologie als systematischer Einheit aller erdenklichen apriorischen Wissenschaften, aber in einer neuen, den "Dogmatismus" durch die transzendentalphänomenologische Methode überwindenden Begründung. Die Phänomenologie als Wissenschaft von allen erdenklichen transzendentalen Phänomenen und zwar je in den synthetischen Gesamtgestalten, in denen sie allein konkret möglich sind - denen von transzendentalen Einzelsubjekten, verbunden zu Subjektgemeinschaften - ist eo ipso apriorische Wissenschaft von allem erdenklichen Seienden; aber dann nicht bloß von dem All des objektiv Seienden und nun gar in einer Einstellung natürlicher Positivität, sondern in voller Konkretion von dem Seienden überhaupt, als wie es seinen Seinssinn und seine Geltung aus der korrelativen intentionalen Konstitution schöpft. Das befaßt auch das Sein der transzendentalen Subjektivität selbst, deren erweisbares Wesen es ist, transzendental in sich und für sich konstituierte zu sein. Demnach ist eine durchgeführte Phänomenologie gegenüber der nur scheinbar universalen Ontologie in der Positivität die wahrhaft universale - eben dadurch die dogmatische Einseitigkeit und damit Unverständlichkeit der ersteren überwindend, während sie doch deren rechtmäßige Gehalte in sich befassen muß als in der intentionalen Konstitution ursprünglich begründet. 12. Die Phänomenologie und die Grundlagenkrisis der exakten Wissenschaften

Überlegen wir das Wie dieses Enthaltens, so ist damit gemeint, daß jedes Apriori in seiner Seinsgültigkeit festgelegt ist als transzendentale Leistung, also in eins mit den Wesensgestalten ihrer Konstitution, der Arten und Stufen ihrer Selbstgebung und Bewährung und der zugehörigen Habitualitäten. Darin liegt, daß in und mit der Feststellung des Apriori die subjektive Methode dieser Feststellung durchsichtig gemacht ist, daß es also für die apriorischen Disziplinen, die innerhalb der Phänomenologie zur Begründung kommen (z. B. als mathematische Wissenschaften) keine "Paradoxien", keine "Grundlagenkrisen" geben kann. Hinsichtlich der historisch gewordenen apriorischen Wissenschaften, geworden in transzendentaler Naivität, ergibt sich als Konsequenz, daß nur eine radikale phänomenologische Begründung sie in echte, methodisch sich völlig rechtfertigende Wissenschaften verwandeln kann. Eben damit aber hören sie auf, positive (dogmatische) Wissenschaften zu sein und werden zu unselbständigen Zweigen der einen Phänomenologie als universaler eidetischer Ontologie.

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13. Die phänomenologische Begründung der Tatsachenwissenschaften und die empirische Phänomenologie

Diese unendliche Aufgabe, das vollständige Universum des Apriori in seiner transzendentalen Rückbezogenheit auf sich selbst und damit in seiner Eigenständigkeit und vollendeten methodischen Klarheit darzustellen, ist ihrerseits eine Funktion der Methode für die Erzielung einer universalen und dabei voll begründeten Wissenschaft von der empirischen Faktizität. Innerhalb der Positivität fordert echte (relativ echte) empirische Wissenschaft die methodische Fundamentierung durch eine entsprechende apriorische Wissenschaft. Nehmen wir das Universum aller möglichen empirischen Wissenschaften überhaupt und fordern eine radikale, von allen Grundlagenkrisen befreite Begründung, so führt das auf das universale Apriori in der radikalen, das ist phänomenologischen Begründung. Die echte Gestalt einer universalen Wissenschaft der Faktizität ist also die phänomenologische, als das ist sie universale Wissenschaft von der faktischen transzendentalen Intersubjektivität auf dem methodischen Fundament der eidetischen Phänomenologie als Wissenschaft von einer möglichen transzendentalen Subjektivität überhaupt. Danach versteht und rechtfertigt sich die Idee einer empirischen, der eidetischen nachkommenden Phänomenologie. Sie ist identisch mit dem vollständigen systematischen Universum der positiven Wissenschaften, wofern wir sie nur von vomherein methodisch absolut begründet denken durch die eidetische Phänomenologie. 14. Die vollständige Phänomenologie

als universale Philosophie

Eben damit reshtmert sich der ursprünglichste Begriff der Philosophie als universaler Wissenschaft aus radikaler Selbstrechtfertigung - die im alten platonischen und wiederum im cartesianischen Sinn allein Wissenschaft ist. Die streng systematisch durchgeführte Phänomenologie des vorhin erweiterten Sinnes ist identisch mit dieser alle echte Erkenntnis umspannenden Philosophie. Sie zerfallt in die eidetische Phänomenologie (oder universale Ontologie) als Erste Philosophie und in die Zweite Philosophie, die Wissenschaft vom Universum der Fakta oder der sie alle synthetisch beschließenden transzendentalen Intersubjektivität Die Erste Philosophie ist das Universum der Methode für die Zweite und ist auf sich selbst zurückbezogen in ihrer methodischen Begründung. 15. Die "höchsten und letzten" Probleme als phänomenologische

In der Phänomenologie haben alle vernünftigen Probleme ihre Stelle, also auch die traditionell sich als in irgend einem besonderen Sinn als philosophisch bezeichnenden; aus den absoluten Quellen transzendentaler Erfahrung bzw. eidetischer

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Anschauung erhalten sie erst in der Phänomenologie ihre echte Formulierung und die gangbaren Wege ihrer Lösung. In ihrer universalen Selbstbezogenheil erkennt die Phänomenologie ihre eigene Funktion in einem möglichen transzendentalen Menschheitsleben. Sie erkennt die aus ihm herauszuschauenden absoluten Normen, aber auch seine ursprüngliche teleologisch-tendenziöse Struktur in Richtung auf die Enthüllung dieser Normen und ihre praktische bewußte Auswirkung. Sie erkennt sich dann als Funktion der universalen Selbstbesinnung der (transzendentalen) Menschheit im Dienste einer universalen Vernunftpraxis, das ist im Dienste des durch die Enthüllung frei werdenden Strebens in Richtung auf die im Unendlichen liegende universale Idee absoluter Vollkommenheit oder, was dasselbe, in Richtung auf die- im Unendlichen liegende - Idee einer Menschheit, die in der Tat und durchaus in Wahrheit und Echtheit sein und leben würde. Sie erkennt ihre selbstbesinnliche Funktion für die relative Verwirklichung der korrelativen praktischen Idee eines im zweiten Sinne echten Menschheitslebens (dessen Wesensgestalten und praktische Normen sie zu erforschen hat), nämlich als eines bewußt und willentlich auf jene absolute Idee gerichteten. Kurzum die metaphysisch teleologischen, die ethischen, die geschichtsphilosophischen Probleme nicht minder wie selbstverständlich die Probleme der urteilenden Vernunft liegen in ihrem Rahmen, nicht anders wie alle sinnvollen Probleme überhaupt und alle in ihrer innersten synthetischen Einheit und ihrer Ordnung als solche der transzendentalen Geistigkeit. 16. Die phänomenologische Auflösung aller philosophischen Gegensätze

In der systematischen, von den anschaulichen Gegebenheiten zu den abstrakten Höhen fortschreitenden Arbeit der Phänomenologie lösen sich von selbst und ohne Künste einer argumentierenden Dialektik und ohne schwächliche Bemühung und Kompromisse die altüberlieferten vieldeutigen Gegensätze philosophischer Standpunkte auf, Gegensätze wie die zwischen Rationalismus (Platonismus) und Empirismus, Relativismus und Absolutismus, Subjektivismus und Objektivismus, Ontologismus und Transzendentalismus, Psychologismus und Antipsychologismus, Positivismus und Metaphysik, teleologischer und kausalistischer Weltauffassung. Überall berechtigte Motive, überall aber Halbheiten oder unzulässige Verabsolutierungen von nur relativ und abstraktiv berechtigten Einseitigkeiten. Der Subjektivismus kann nur durch den universalsten und konsequentesten Subjektivismus (den transzendentalen) überwunden werden. In dieser Gestalt ist er zugleich Objektivismus, sofern er das Recht jedweder durch einstimmige Erfahrung auszuweisenden Objektivität vertritt, aber freilich auch ihren vollen und echten Sinn zur Geltung bringt, an dem sich der vermeinte realistische Objektivismus in seinem Unverständnis der transzendentalen Konstitution versündigt. Der Relativismus kann nur durch den universalsten Relativismus überwunden werden, den der transzendentalen Phänomenologie, die die Relativität alles "objektiven" Seins als transzendental 4 Sbd. Cristin

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konstituierten verständlich macht, aber in eins damit auch die radikalste Relativität, die der transzendentalen Subjektivität auf sich selbst. Eben dies weist sich aber als der einzig mögliche Sinn des "absoluten" Seins aus - gegenüber allem zu ihm relativen "objektiven" Sein - nämlich als "Für-sich-selbst"-Sein der transzendentalen Subjektivität. Wieder: der Empirismus kann nur durch den universalsten und konsequentesten Empirismus überwunden werden, der für die beschränkte "Erfahrung" der Empiristen den notwendig erweiterten Erfahrungsbegriff der originär gebenden Anschauung setzt, die in allen ihren Gestalten (Anschauung vom Eidos, apodiktische Evidenz, phänomenologische Wesensanschauung usw.) durch phänomenologische Klärung Art und Form ihrer Rechtgebung erweist. Die Phänomenologie als Eidetik ist andererseits rationalistisch; sie überwindet aber den beschränkten dogmatischen Rationalismus durch den universalsten der auf die transzendentale Subjektivität, auf Ich, Bewußtsein und bewußte Gegenständlichkeit einheitlich bezogenen Wesensforschung. Ebenso hinsichtlich der anderen mitverflochtenen Gegensätze. Die Zurückführung alles Seins auf die transzendentale Subjektivität und ihre konstitutiven intentionalen Leistungen läßt, um noch eins zu erwähnen, keine andere als eine teleologische Weltbetrachtung offen. Und doch erkennt die Phänomenologie auch einen Kern der Wahrheit dem Naturalismus (bzw. Sensualismus) zu. Indem sie nämlich die Assoziationen als ein intentionales Phänomen sichtlich macht, ja als eine ganze Typik von Gestalten passiver intentionaler Synthesis mit einer Wesensgesetzmäßigkeit transzendentaler und rein passiver Genesis, weist sie im Rumeschen Fiktionalismus, insbesondere in seiner Lehre vom Ursprung der Fiktionen Ding, verharrende Existenz, Kausalität Vorentdeckungen nach, verhüllt in absurden Theorien. Die phänomenologische Philosophie sieht sich in ihrer ganzen Methode als reine Auswirkung der methodischen Intentionen an, die schon die griechische Philosophie seit ihren Anfängen bewegen; vor allem aber der noch lebendigen Intentionen, die von Descartes in den beiden Linien des Rationalismus und Empirismus über Kant und den deutschen Idealismus in unsere verworrene Gegenwart hineinreichen. Reine Auswirkung methodischer Intentionen besagt wirkliche Methode, die die Probleme in die Bahnen konkret handanlegender und erledigender Arbeit bringt. Diese Bahn ist in der Weise echter Wissenschaft eine unendliche. Demnach fordert die Phänomenologie vom Phänomenologen, für sich dem Ideal eines philosophischen Systems zu entsagen und doch als bescheidener Arbeiter in Gemeinschaft mit anderen für eine philosophia perennis zu leben.

MARTIN HEIDEGGER

Brief an Edmund Busserl vom 22. X.1927 Meßkirch, 22. Okt. 27. Lieber väterlicher Freund! Ich danke Ihnen und Ihrer verehrten Frau Gemahlin herzlich für die verflossenen Freiburger Tage. Ich hatte wirklich das Gefühl wie ein Sohn aufgenommen zu sein. Erst in der wirklichen Arbeit werden die Probleme offenbar. Daher bringt die Behaglichkeit bloßer Feriengespräche nichts hervor. Diesmal stand alles unter dem Druck einer dringenden und wichtigen Aufgabe. Und erst in den letzten Tagen begann ich zu übersehen, inwiefern Ihre Betonung der reinen Psychologie den Boden gibt, die Frage der transzendentalen Subjektivität und ihres Verhältnisses zum rein Seelischen zu klären, bezw. allererst in voller Bestimmtheit aufzurollen. Der Nachteil ist freilich, daß ich die konkreten Untersuchungen der letzten Jahre nicht kenne. Die Einwände erscheinen daher leicht als formalistisch. Auf den beiliegenden Blättern versuche ich noch einmal, die wesentlichen Punkte zu fixieren. Das gibt auch Gelegenheit, die grundsätzliche Tendenz von "Sein und Zeit" innerhalb des transzendentalen Problems zu kennzeichnen. Die Blätter S. 21-28 sind wesentlich konziser geschrieben als der erste Entwurf. Der Aufbau ist durchsichtig. Die stilistischen Kürzungen und Glättungen habe ich gleich nach wiederholteT Durchprüfung im Text angebracht. Die rot umrandeten Randbemerkungen betreffen sachliche Fragen, die ich in Anlage I dieses Briefes kurz zusammenfasse. Anlage II betrifft Dispositionsfragen für die genannten Seiten. Für den Artikel ist es allein wichtig, daß die Problematik der Phänomenologie in der Form des knappen, ganz unpersönlichen Referats zum Ausdruck kommt. So sehr für die Klarheit der Darstellung im Grunde letzte Klärung der Sachen Voraussetzung bleibt, so muß doch Ihr Augenmerk bezw. des Artikels auf eine klare Darstellung des Wesentlichen beschränkt bleiben. Praktisch hat der Verlauf unserer Gespräche gezeigt, daß Sie mit den größeren Publikationen nicht mehr warten dürfen. Sie bemerkten in den letzten Tagen wiederholt: eigentlich gibt es noch keine reine Psychologie. Nun - die wesentlichen Stücke liegen in den drei Abschnitten des von Landgrebe getippten Ms. 4*

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Martin Heidegger

Diese Untersuchungen müssen zuerst erscheinen und zwar aus zwei Gründen: 1. daß man die konkreten Untersuchungen vor Augen hat und nicht als versprochene Programme vergeblich sucht; 2. daß Sie selbst Luft bekommen für eine grundsätzliche Exposition der transzendentalen Problematik. Ich möchte Sie bitten, den zweiten Entwurf für die "Studien" festzuhalten als Leitfaden. Ich habe ihn jetzt noch einmal durchgelesen und halte mein Urteil im vorigen Brief aufrecht. Gestern bekam ich von meiner Frau den Brief Richters (in Anlage III die Abschrift davon). Mahnke habe ich geschrieben. Hier komme ich natürlich nicht zu eigener Arbeit. Das wird ein schönes Gedränge werden mit der Vorlesung und den zwei Übungen und den Vorträgen in Köln und Bonn und dazu Kuki. Aber die nötige Aufgeregtheit für die Probleme ist geweckt und das Übrige muß erzwungen werden. Ich fahre nächste Woche von hier aus zu Jaspers, bei dem ich mir noch einige taktische Ratschläge holen werde. Ich wünsche Ihnen einen glücklichen Abschluß des Artikels, der als Anlauf zu den weiteren Publikationen viele Probleme in Ihnen wach erhalten wird. Indem ich Ihnen und Ihrer verehrten Frau Gemahlin nochmals herzlich danke für die schönen Tage, grüße ich Sie in treuer Freundschaft und Verehrung Ihr Martin Heidegger. Anlage I Sachliche Schwierigkeiten

Übereinstimmung besteht darüber, daß das Seiende im Sinne dessen, was Sie "Welt" nennen, in seiner transzendentalen Konstitution nicht aufgeklärt werden kann durch einen Rückgang auf Seiendes von ebensolcher Seinsart. Damit aber ist nicht gesagt, das, was den Ort des Transzendentalen ausmacht, sei überhaupt nichts Seiendes - sondern es entspringt gerade das Problem: welches ist die Seinsart des Seienden, in dem sich "Welt" konstituiert? Das ist das zentrale Problem von "Sein und Zeit" - d. h. eine Fundamentalontologie des Daseins. Es gilt zu zeigen, daß die Seinsart des menschlichen Daseins total verschieden ist von der alles anderen Seienden und daß sie als diejenige, die sie ist, gerade in sich die Möglichkeit der transzendentalen Konstitution birgt. Die transzendentale Konstitution ist eine zentrale Möglichkeit der Existenz des faktischen Selbst. Dieses, der konkrete Mensch ist als solcher - als Seiendes nie eine "weltlich reale Tatsache", weil der Mensch nie nur vorhanden ist, sondern

Brief an Edmund Husserl vom 22. X. 1927

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existiert. Und das "Wundersame" liegt darin, daß die Existenzverfassung des Daseins die transzendentale Konstitution alles Positiven ermöglicht. Die "einseitigen" Betrachtungen der Somatologie und reinen Psychologie sind nur möglich auf dem Grunde der konkreten Ganzheit des Menschen, die als solche primär die Seinsart des Menschen bestimmt. Das "rein Seelische" ist eben schon gar nicht im Blick auf die Ontologie des ganzen Menschen erwachsen, d. h. nicht in Absicht auf eine Psychologie - sondern es entspringt von vornherein seit Descartes erkenntnistheoretischen Überlegungen. Das Konstituierende ist nicht Nichts, also etwas und seiend - obzwar nicht im Sinne des Positiven. Die Frage nach der Seinsart des Konstituierenden selbst ist nicht zu umgehen. Universal ist daher das Problem des Seins auf Konstituierendes und Konstituiertes bezogen. Anlage II betr. Disposition von S. 21 ff. Das erste in der Darstellung des transzendentalen Problems ist die Klärung dessen, was "Unverständlichkeit" des Seienden besagt. In welcher Hinsicht ist Seiendes unverständlich? d. h. welcher höhere Anspruch von Verständlichkeit ist möglich und notwendig. Im Rückgang worauf dieses Verständnis gewonnen? Was heißt absolutes ego im Unterschied vom rein Seelischen? Welches ist die Seinsart dieses absoluten ego-in welchem Sinn ist es dasselbe wie das je faktische Ich; in welchem Sinn nicht dasselbe? Welches ist der Charakter der Setzung, in der das absolute ego Gesetztes ist? Inwiefern liegt hier keine Positivität (Gesetztheit) vor? Die Universalität des transzendentalen Problems.

Anlage III "Ich habe die Freude, Ihnen mitteilen zu können, daß mein Herr Minister sich entschlossen hat, Ihnen die planmäßige ordentliche Professur für Philosophie an der dortigen Universität zu übertragen. Unter Berücksichtigung Ihrer gegenwärtigen Bezüge würde Ihr Grundgehalt auf 6534 RM. jährlich festgesetzt werden, wie üblich steigend von 2 zu 2 Jahren bis zum Endgehalt 9630 RM.

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Indem ich Sie bitte, zu dieser Regelung Stellung zu nehmen, beehre ich mich gleichzeitig mitzuteilen, daß auf die bisher von Ihnen besetzte Professur Privatdozent Dr. Mahnke aus Greifswald berufen worden ist. In ausgezeichneter Hochachtung"

Anlage I und II liegen in einer stenographischen Abschrift Husserls bei, dazwischen ein Blatt in gleichem Schriftduktus und gleicher Tinte: Der Mensch in der Welt - ihr zugehörend, einer für den anderen vorhanden, als wie Dinge vorhanden sind für jedermann. Aber zu diesen Vorhandenheiten gehört, daß es Ichsubjekte sind, die Bewußtsein haben von den Vorhandenheiten, von ihnen Vorstellung, Wissen, daß sie begehrendes und wollendes "Bewußtsein" haben, sich als Bewußtseinssubjekte in solchen Weisen auf ihnen Bewußtes strebend, wertend, handelnd beziehen - auch auf Andere als Menschen, als Vorhandenheiten, Realitäten, die eben nicht nur da und dort sind und reale Eigenschaften haben welcher Art immer, sondern Bewußtseinssubjekte etc. wie soeben gesagt. Diese besonderen Eigenheiten sind aber Eigenheiten von Realitäten in der Welt. Und so auch die meinen, der ich Mensch bin und mich als das vorfinde. Ontologie als Wissenschaft von der Welt und einer möglichen Welt überhaupt. Seinsverfassung der Welt. Universale Weltstrukturen - der Vorhandenheiten. Die Seinsstruktur der Subjekte und der Nichtsubjekte.

MARTIN HEIDEOGER

Einleitung: Die Idee der Phänomenologie und der Rückgang auf das Bewußtsein Versuch einer zweiten Bearbeitung des Encyclopaedia-Britannica-Artikels Das All des Seienden ist das Feld, aus dem die positiven Wissenschaften von Natur, Geschichte, Raum jeweils ihre Gegenstandsgebiete gewinnen. Geradehin auf das Seiende gerichtet übernehmen sie in ihrer Gesamtheit die Erforschung alles dessen, was ist. So scheint für die Philosophie, die seit der Antike als Fundamentalwissenschaft gilt, kein Feld möglicher Untersuchung zu bleiben. Aber macht nicht gerade die griechische Philosophie seit ihren entscheidenden Anfängen das "Seiende" zum Gegenstand des Fragens? Gewiß, aber nicht um dieses oder jenes Seiende zu bestimmen, sondern um das Seiende als Seiendes, das heißt hinsichtlich seines Seins zu verstehen. Die Fragestellung und damit die Antworten blieben lange in Unklarheiten verstrickt. Gleichwohl zeigt sich schon in den Anfängen ein Merkwürdiges. Die Philosophie sucht die Aufhellung des Seins auf dem Wege einer Besinnung auf das Denken des Seienden (Parmenides). Platos Enthüllung der Ideen orientiert sich am Selbstgespräch (Logos) der Seele mit sich selbst. Die aristotelischen Kategorien entspringen im Hinblick auf das aussagende Erkennen der Vernunft. Descartes fundiert ausdrücklich die Erste Philosophie auf die res cogitans. Kants transzendentale Problematik bewegt sich im Felde des Bewußtseins. Ist diese Umwendung des Blickes vom Seienden auf das Bewußtsein zufällig oder am Ende von der Eigenart dessen gefordert, was unter dem Titel Sein als Problemfeld der Philosophie ständig gesucht wird? Die grundsätzliche Klärung der Notwendigkeit des Rückgangs auf das Bewußtsein, die radikale und ausdrückliche Bestimmung des Weges und der Schrittgesetze dieses Rückgangs, die prinzipielle Umgrenzung und systematische Durchforschung des auf diesem Rückgang sich erschließenden Feldes der reinen Subjektivität heißt Phänomenologie. Die letzte Klärung des philosophischen Seinsproblems und die methodische Zurückführung auf wissenschaftlich erledigende philosophische Arbeit überwinden die undefinierte Allgemeinheit und Leere des traditionellen Philosophierens. Fragestellung, methodische Forschung und Lösung folgen der prinzipiellen Gliederung des geradehin "Seienden" der Positivität nach allen seinen Arten und Stufen. Aber ist diese selbe Aufgabe nicht schon seit Locke von der Psychologie übernommen? Fordert eine radikale Grundlegung der Philosophie anderes als nur eine methodisch

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konsequent auf innere Erfahrung sich einschränkende Psychologie der reinen Bewußtseinssubjektivität? Jedoch die grundsätzliche Besinnung auf den Gegenstand und die Methode einer reinen Psychologie kann vor Augen legen, daß sie grundsätzlich außer Stande ist, die Fundamente beizustellen für die Philosophie als Wissenschaft. Denn sie ist selbst positive Wissenschaft und läßt nach der Forschungsart positiver Wissenschaften überhaupt die sie alle in gleicher Weise betreffende Frage nach dem Seinssin ihrer Seinsgebiete unberührt. Der Rückgang auf das Bewußtsein, den alle Philosophie mit wechselnder Sicherheit und Klarheit sucht, erstreckt sich daher über das Gebiet des rein Psychischen zurück in das Feld der reinen Subjektivität. Weil in dieser das Sein alles dessen, was für das Subjekt in verschiedener Weise erfahrbar ist, das Transzendente im weitesten Sinne, sich konstituiert, heißt sie transzendentale Subjektivität. 1 Die reine Psychologie als positive I Auf der Rückseite des Blattes 2 (Orig.-Pag. des Manuskriptes) von BI (Heideggers Versuch einer zweiten Bearbeitung) steht folgender stenographische Text von Husserl, der sich auf Heideggers Worte "transzendentale Subjektivität" bezieht (Husserliana IX, S. 257,

z. 21):

"Gegenständlicher Sinn und Gegenstand. Mögliche Wahrnehmung, mögliche Wahrnehmungserscheinung. Exemplarisch. Mannigfaltigkeilen der Wahrnehmungen -der Wahrnehmungserscheinungenvon demselben. Die ,Mannigfaltigkeit'. Die Erscheinung, kontinuierlich verlaufend- zunächst in Passivität. Die Aktivität in der Erscheinungsabwandlung. Die Einseitigkeit und AllseitigkeiL Die Allseitigkeil und die entsprechende Einheit. Mannigfaltigkeit höherer Stufe, deren Einzelheiten selbst schon Einheiten von Mannigfaltigkeilen sind. Das anschauliche Ding, einseitig wahrgenommen. Allseitige Oberflächenwahrnehmung. Frage: welche Wege, welche konstituierende ,Methode' muß ich einschlagen, damit der exemplarische und in exemplarischer Ausgangsanschauung angeschaute Gegenstand ,zu Tage tritt', nach allen seinen Eigenschaften oder vielmehr Eigenschaftsichlungen ,sich zeigt'. Die Evidenz. Der wahrgenonunene Gegenstand als solcher- als X unenthüllter Horizonte, diese bezogen auf korrelative Richtungen des Ich kann (oder Wir können). Ich- Zentrum aller Möglichkeiten des Ich kann, des Tunkönnens, des Mich-bewegen-könnens - Zentrum des ,überschaubaren' Systems solcher Bewegungsmöglichkeiten, Zentrum des Jetzt und Ich-bewege-mich zeitlich durch die Ordnungsform der Vergangenheit, durchlaufe meine Vergangenheiten und meine Künftigkeiten- in Antizipation in der Weise des leeren sich durchlaufend Denkens. Ich hier- ich denke mich hinein in ein von mir nach allen Orientierungsrichtungen Fortgehen. Von jedem Jetzt und Hier, das ich richtig denke, kann ich dasselbe wieder und immer wieder tun, getan denken. Regel eines Tuns von jeder exemplarischen Richtung aus - wenn - so, Erscheinungen als motiviertes Sein - aber auch frei erzeugbarer Konstruktionen: System von Denkhandlungen als konstruierend, immer wieder vollziehbar - korrelativ die vorhandenen Erzeugnisse. Erzeugnisse zu einer Einheit verbunden schließlich Idee eines universalen Gesamterzeugnisses (,Mannigfaltigkeit'), für das alle gewonnenen und zu gewinnenden Erzeugnisse Abschlagszahlungen, ,Erscheinungen' sind. Ein Gegenstand - vermeint- erfahren und doch selbst als erfahrener noch vermeint, mit offenem Horizont. Aufweckung des Horizonts, Aufweckung meines ,Ich-kann-Systems' und meines zugehörigen ,So' werde ich finden. ,So' wird zu Tage treten. Das Problem der Vollständigkeit hinsichtlich der Horizontenthüllungen - , was ist das', wie enthülle ich seinen vollständigen Sinn - seine Sinnesform, die die Regel aller möglichen aktuellen Enthüllungen ist. Was die Wahrnehmung bringen wird, weiß ich nicht, und

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Wissenschaft vom Bewußtsein weist zurück in die transzendentale Wissenschaft von der reinen Subjektivität. Sie ist die Verwirklichung der Idee der Phänomenologie als wissenschaftlicher Philosophie. Umgekehrt verschafft erst die transzendentale Wissenschaft vom Bewußtsein die volle Einsicht in das Wesen der reinen Psychologie, ihre fundamentale Funktion und die Bedingungen ihrer Möglichkeit. I. Die Idee einer reinen Psychologie Alle Erlebnisse, darin wir uns geradehin zu Gegenständen verhalten (Erfahren, Denken, Wollen, Werten), lassen eine Blickwendung zu, durch die sie selbst Gegenstände werden. Die verschiedenen Erlebnisweisen offenbaren sich als dasjenige, worin alles, wozu wir uns verhalten, sich zeigt, "erscheint". Die Erlebnisse werden daher Phänomene genannt. Die Umwendung des Blickes auf sie, die Erfahrung und Bestimmung der Erlebnisse rein als solcher ist die phänomenologische Einstellung. In dieser Redeweise wird der Ausdruck phänomenologisch noch in einem vorläufigen Sinne gebraucht. Mit der Umwendung des Blickes auf die Phänomene eröffnet sich eine universale Aufgabe, die Mannigfaltigkeiten der Erlebnisse, ihre typischen Formen, Stufen und Stufenzusammenhänge systematisch zu durchforschen und als ein in sich geschlossenes Ganzes zu verstehen. Den Erlebnissen zugewendet machen wir die Verhaltungsweisen der "Seele", das rein Psychische zum Gegenstand. Rein Psychisches wird es genannt, weil im Hinsehen auf die Erlebnisse als solche abgesehen ist von allen seelischen Funktionen im Sinne der Organisation der Leiblichkeit, das heißt vom Psychophysischen. Die genannte phänomenologische Einstellung verschafft den Zugang zum rein Psychischen und ermöglicht die thematische Untersuchung desselben im Sinne einer reinen Psychologie. Die Aufklärung des Verständnisses der Idee einer reinen Psychologie erfordert die Beantwortung dreier Fragen: 1. was gehört zum Gegenstand der reinen Psychologie; 2. welches ist die Zugangs- und Behandlungsart, die dieser Gegenstand gemäß seiner eigenen Verfassung verlangt; 3. welches ist die grundsätzliche Funktion der reinen Psychologie? 1. Der Gegenstand der reinen Psychologie

Wodurch ist überhaupt das Seiende, das durch die phänomenologische Blickwendung zum Gegenstand wird, als solches charakterisiert? In allen reinen seelidoch weiß ich, was Wahrnehmung bringen kann. Das Wesen, die Essenz. I) Was ich als Wesen z. B. dieses Dinges herausstellen kann, das Allgemeine, das alle seine Seinsmöglichkeiten beschließt. 2) das individuelle Wesen, das Individuelle des Allgemeinen, die Idee der Vereinzelungen, die ein Gedanke ist aber nicht die konstruierbare Allgemeinheit."

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sehen Erlebnissen (im Wahrnehmen von etwas, in der Erinnerung an etwas, im Sicheinbilden von etwas, im Sichfreuen an etwas, im Urteilen über etwas, im Wollen von etwas, im Hoffen auf etwas usw.) liegt von Hause aus ein Gerichtetsein auf.... Die Erlebnisse sind intentionale. Dieses Sich-beziehen-auf... wird dem Psychischen nicht erst nachträglich und zuweilen als eine zufallige Relation angeknüpft, gleich als könnten die Erlebnisse sein, was sie sind, ohne die intentionale Beziehung. Vielmehr bekundet sich mit der Intentionalität der Erlebnisse die Wesensstruktur des rein Psychischen. Das Ganze eines Erlebniszusammenhangs, eines seelischen Lebens existiert jeweils im Sinne eines Selbst (Ich) und als dieses lebt es faktisch in Gemeinschaft mit Anderen. Das rein Psychische wird daher zugänglich sowohl in der Selbsterfahrung als in der intersubjektiven Erfahrung fremden Seelenlebens. Unter den in der Selbsterfahrung sich bekundenden Erlebnissen hat zunächst jedes für sich seine eigene Wesensform und die ihm zugehörigen möglichen Weisen der Abwandlung. Die Wahrnehmung z. B. eines Würfels hat dieses eine Ding selbst im originär erfassenden Blick. Gleichwohl ist sie ihrerseits als Erlebnis nicht ein einfaches leeres Da-haben des Dinges. Dieses stellt sich vielmehr in der Wahrnehmung durch mannigfaltige "Erscheinungsweisen" dar. Der Zusammenhang dieser, der gerade erst die Wahrnehmung konstituiert, hat seine eigene Typik und eine eigene typische Regelung seines Ablaufes. Die Erscheinungsmodi in der Wiedererinnerung an dasselbe Ding sind die gleichen und doch erinnerungsmäßig abgewandelt. Ferner zeigen sich Unterschiede und Grade der Klarheit, der relativen Bestimmtheit und Unbestimmtheit des Erfassens, solche der Zeitperspektive, der Aufmerksamkeit usw. So ist z. B. das in einem Urteil Geurteilte bald als evidentes, bald als nicht evidentes bewußt. Das nicht evidente Urteilen wiederum kann auftreten als bloßer Einfall oder es kann sich schrittweise auseinanderlegen. Entsprechend sind die Erlebnisse des Wollens und Wertens immer Einheiten von verborgen fundierenden "Erscheinungsweisen". In solchen Erlebnissen erscheint jedoch das Erlebte nicht einfach als Identisches und Verschiedenes, Individuelles und Allgemeines, als Seiendes und nicht Seiendes, möglicherweise und wahrscheinlich Seiendes, als Nützliches, Schönes, Gutes, sondern es bewährt sich als Wahres bzw. Unwahres, Echtes bzw. Unechtes. Die Wesensformen der einzelnen Erlebnisse aber sind eingebettet in eine Typik möglicher Synthesen und Abläufe innerhalb eines geschlossenen seelischen Zusammenhangs. Er hat als Ganzes die Wesensform von seelischem Leben eines einzelnen Selbst überhaupt. Dieses existiert auf Grund seiner bleibenden Überzeugungen, Entscheidungen, Gewohnheiten, Charaktereigenschaften. Und dieses Ganze der Habitualität des Selbst zeigt wiederum Wesensformen der Genesis, seiner jeweiligen möglichen Aktivität, die ihrerseits in die assoziativen Zusammenhänge eingelagert bleibt, deren spezifische Geschehensform mit jener durch typische Wechselbezüge einig ist. Faktisch lebt das Selbst jeweils in Gemeinschaft mit Anderen. Die sozialen Akte (mich an den Anderen wenden, mit ihm verabreden, seinen Willen beherrschen usw.) haben nicht nur für sich ihre eigene Form als Erlebnisse von Gruppen, Stämmen, Körperschaften und Bünden, sondern auch eine Typik ihres Geschehens,

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ihrer Auswirkung (Macht und Ohnmacht), ihrer Entwicklung und ihres Verfalls (Geschichte). Dieses in sich durch und durch intentional gebaute Ganze des Lebens der Einzelnen in den möglichen Gemeinschaften macht das Gesamtfeld des rein Psychischen aus. Auf welchem Wege vollzieht sich der sichere Zugang zu diesem Gebiet und welches ist die Art seiner angemessenen Enthüllung?

2. Die Methode der reinen Psychologie Die Wesensbestandstücke der Methode bestimmen sich aus der Grundverfassung und der Seinsart des Gegenstandes. Wenn das reine Psychische wesenhaft intentional und zunächst in der Selbsterfahrung des Einzelnen zugänglich ist, muß die phänomenologische Blickwendung auf Erlebnisse so vollzogen werden, daß sich diese in ihrer Intentionalität zeigen und bezüglich ihrer Typik erlaßbar werden. Der Zugang zu dem seiner Grundverfassung nach intentionalen Seienden vollzieht sich auf dem Wege der phänomenologisch-psychologischen Reduktion. In der reduktiven Einstellung verweilend vollzieht sich die eidetische Analyse des rein Psychischen, das heißt die Herausstellung der Wesensstrukturen der einzelnen Erlebnisarten, ihrer Zusammenhangs- und Geschehensformen. Sofern Psychisches in der Selbsterfahrung und intersubjektiven Erfahrung zugänglich wird, gliedert sich entsprechend die Reduktion in die egologische und die intersubjektive. a) Die phänomenologisch-psychologische Reduktion Die Umwendung des Blickes aus der unreflektierten Wahrnehmung z. B. eines Naturdinges auf dieses Wahrnehmen selbst hat das Eigentümliche, daß sich in ihr die zuvor auf das Ding gerichtete Erfassungstendenz aus der unreflektierten Wahrnehmung zurückzieht, um sich auf das Wahrnehmen als solches zu richten. Diese Rückführung (Reduktion) der Erfassungstendenz aus der Wahrnehmung heraus und die Umstellung des Erlassens auf das Wahrnehmen ändert an der Wahrnehmung so wenig etwas, daß die Reduktion gerade die Wahrnehmung als das, was sie ist, zugänglich macht, nämlich als Wahrnehmung von dem Ding. Zwar ist das Naturding selbst wesenhaft nie möglicher Gegenstand einer psychologischen Reflexion, gleichwohl zeigt es sich für den reduzierenden Blick auf das Wahrnehmen, da dieses wesenhaft Wahrnehmung von dem Ding ist. Das Ding gehört zur Wahrnehmung als ihr Wahrgenommenes. Die intentionale Beziehung des Wahrnehmens ist ja nicht eine frei schwebende und ins Leere gerichtete Relation, sondern als intentio hat sie ein ihr wesenhaft zugehöriges intentum. Mag das in der Wahrnehmung wahrgenommene Ding selbst vorhanden sein oder nicht, das intentionale Vermeinen der Wahrnehmung richtet sich gleichwohl seinem eigenen Erfassungssinne nach auf Seiendes als Ieibhaft vorhandenes. Jede Trugwahrnehmung macht das deutlich. Nur weil das Wahrnehmen als intentionales wesenhaft sein intentum hat, kann es sich modifizieren zu einer Täuschung über etwas. Durch

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den Vollzug der Reduktion wird der volle intentionale Bestand eines Erlebnisses allererst sichtbar. Weil nun alle reinen Erlebnisse und ihre Zusammenhänge intentional gebaut sind, gewährleistet die Reduktion den universalen Zugang zum reinen Psychischen, das heißt zu den Phänomenen. Die Reduktion heißt daher phänomenologische. Was jedoch im Vollzug der phänomenologischen Reduktion zunächst zugänglich wird, ist das rein Psychische als einfaktisch einmaliger Erlebniszusammenhang desjeweiligen Selbst. Wird nun über die erzählende Charakteristik dieses jeweils einmaligen Erlebnisablaufes hinaus eine echte wissenschaftliche, das heißt objektiv gültige Erkenntnis des Psychischen möglich? b) Die eidetische Analyse Wenn die Intentionalität die Grundverfassung aller reinen Erlebnisse ausmacht und bezüglich der einzelnen Erlebnisgattungen verschieden ist, dann erwächst als mögliche und notwendige Aufgabe die Herausstellung dessen, was z.B. zu einer Wahrnehmung überhaupt, zu einem Wollen überhaupt je nach ihrem vollen intentionalen Strukturbestand gehört. Also muß die reduktive Einstellung auf das reine Psychische, das sich zunächst als individuell faktischer Erlebniszusammenhang gibt, absehen von aller psychischen Faktizität. Diese dient nur exemplarisch als Unterlage für die freie Variation der Möglichkeiten. So ist z. B. die phänomenologische Analyse der Wahrnehmung von räumlichen Dingen keineswegs ein Bericht über die faktisch vorkommenden oder empirisch zu erwartenden Wahrnehmungen sondern die Herausstellung des notwendigen Struktursystems, ohne das eine Synthesis mannigfaltiger Wahrnehmungen als Wahrnehmung von einem und demselben Ding undenkbar wäre. Die in reduktiver Haltung vollzogene Aufweisung des Psychischen zielt demnach ab auf die in den Variationen hervortretende Invariante, den notwendigen Formstil (Eidos) des Erlebnisses. Die reduktive Einstellung auf das Psychische fungiert demnach in der Weise einer eidetischen Analyse der Phänomene. Die wissenschaftliche Erforschung des reinen Psychischen, die reine Psychologie, vermag sich nur als reduktiv - eidetische, als phänomenologische zu verwirklichen. Die phänomenologische Psychologie ist deskriptiv. Das besagt: die Wesensstrukturen des Psychischen werden in der Methode der Variation direkt-intuitiv aus diesem herausgelesen. Alle phänomenologischen Begriffe und Sätze fordern die direkte Ausweisung an den Phänomenen selbst. Sofern die Reduktion in dem gekennzeichneten Sinne lediglich den Zugang zu dem je eigenen Seelenleben vermittelt, heißt sie egologische. Weil jedoch jedes Selbst mit anderen in Einfühlungszusammenhang steht und dieser sich in intersubjektiven Erlebnissen konstituiert, bedarf es einer notwendigen Erweiterung der egologischen Reduktion durch die intersubjektive. Die in ihrem Rahmen zu behandelnde Phänomenologie der Einfühlung führt bei der Aufklärung der Art, wie Einfühlungsphänomene meines rein seelischen Zusammenhangs im Modus einstimmiger Bewährung verlaufen können, nicht nur zur Deskription dieses Typus von Synthesen als solcher meiner Seele. Was sich hier in einer besonderen Evidenzgestalt

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bewährt, ist Mitdasein eines konsequent und mit immer neuem Bestimmungsgehalt indizierten konkreten anderen Selbst - mit da mit einer in meiner eigenen Bewußtseinssphäre original und einstimmig erfahrenen Körperlichkeit. Andererseits aber ist dieses fremde Selbst nicht originaliter da wie das je eigene in seiner originalen Beziehung auf seine Körperlichkeit. Die Durchführung der phänomenologischen Reduktion in meinem wirklichen und möglichen in Geltung Setzen "fremden" Seelenlebens in der Evidenzform einstimmiger Einfühlung ist die intersubjektive Reduktion. Auf dem Grunde der egologischen Reduktion macht sie das in ihr ursprünglich sich bewährende fremde Seelenleben in seinen rein psychischen Zusammenhängen zugänglich. 3. Die grundsätzliche Funktion der reinen Psychologie

Die Reduktion eröffnet den Weg zum reinen Psychischen als solchen. Die eidetische Analyse enthüllt das so reduktiv Zugängliche in seinen Wesenszusammenhängen. Jene ist das notwendige, diese das mit jener hinreichende Bestandstück der phänomenologischen Methode der reinen Psychologie. In der reduktiv eidetischen Untersuchung des reinen Psychischen erwachsen demnach die Bestimmungen, die zum reinen Psychischen als solchen gehören, das heißt die Grundbegriffe der Psychologie, sofern diese als empirische Wissenschaft vom psychophysischen Ganzen des konkreten Menschen ihr zentrales Gebiet im reinen Seelenleben als solchen hat. Die reine Psychologie liefert das notwendige apriorische Fundament für die empirische Psychologie im Hinblick auf das rein Seelische. Wie es zur Begründung einer "exakten" empirischen Naturwissenschaft einer systematischen Enthüllung der Wesensformen einer Natur überhaupt bedarf, ohne die Natur, spezieller gesprochen, ohne die Raum- und Zeitgestalt, Bewegung, Veränderung, physische Substantialität und Kausalität undenkbar wären, so bedarf es für eine wissenschaftlich "exakte" Psychologie einer Enthüllung der apriorischen Typik, ohne die Ich (bzw. Wir), Bewußtsein, Bewußtseinsgegenständlichkeit und somit ein Seelenleben überhaupt undenkbar wäre, mit all den Unterschieden und wesensmöglichen Formen von Synthesen, die von der Idee einer einzelseelischen und gemeinschaftsseelischen Ganzheit unabtrennbar sind. Wenngleich der psychophysische Zusammenhang als solcher sein eigenes Apriori hat, das durch die reinen psychologischen Grundbegriffe noch nicht bestimmt wird, so bedarf doch das psychophysische Apriori einer grundsätzlichen Orientierung am Apriori des reinen Psychischen.

EDMUND BUSSERL

Brief an Roman lngarden vom 19. XI.1927

Freiburg, den 19. XI. 1927 Lieber Freund. Ich beantworte Ihren Brief sogleich, er hat mich gar sehr erfreut und gerührt auch ich danke dem nun endlich gütigen Geschick, das Sie nach so vielen Jahren mir doch für einige schöne Wochen zugeführt hat. Ich durfte mit Ihrer Entwicklung gar sehr zufrieden sein, vor Allem für mich selbst und mein einsamer gewordenes Philosophieren. Es ist doch kaum noch unter meinen Schülern ein solches Verständnis für die großen Horizonte meiner langjährigen Arbeit zu finden, als wie bei Ihnen. Alle Gespräche mit Ihnen waren für mich anregend u. durchaus erfreulich. Sie waren für mich auch innere Stärkungen. Ich war der Notwendigkeit der von mir eingeschlagenen Wege, der von mir erfaßten Probleme zwar stets völlig sicher; und doch lag es mir oft schwer auf der Seele, daß man selbst im Phänomenotogenkreise diese Notwendigkeit nicht sehen u. jeder eigene neue Wege gehen wollte. Mein ganzes Leben war auf die Ermöglichung einer phil perennis gerichtet und eben darum auf die universale Einheit der Strukturnotwendigkeiten, in denen das System aller echten Probleme oder Problemdimensionen für alle wirkliche Forscherarbeit - als erledigende Arbeit - vorgezeichnet sein mußte. Im Alter glaube ich diese allgemeine Problemgeographie errungen zu haben, und nun habe ich das Gefühl, damit ziemlich allein zu stehen. Sie müssen wiederkommen, u. für Weihnachten will ich doch noch hoffen. Ihr Brief brachte interessante Berichte - Heidegger ist mir zum nahen Freund geworden, u. ich gehöre zu seinen Bewunderern, so sehr ich es gerade darum bedauern muß, daß sein Werk (u. dann wohl auch seine Vorlesungen) methodisch und sachlich wie etwas von meinen Werken u. Vorlesungen wesentlich Verschiedenes erscheinen u. wenigstens jetzt noch keine den beiderseitigen Schülern zugängliche Brücke zwischen dem Einen u. Anderen geschlagen ist. Es hängt für die weitere Philosophie viel davon ab, wie und ob er sich zu einem Erfassen meiner universalen Intuitionen durcharbeitet. Ich hatte ja leider seine philos. Ausbildung nicht bestimmt, offenbar war er schon in Eigenart, als er meine Schriften studierte. Nun, er ist eine Potenz, absolut redlich und nicht ehrgeizig, rein auf die

Brief an Roman Ingarden vom 19. XI. 1927

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Sachen gestellt. Jede große Einseitigkeit, die von echten Selbstdenkem, bricht Neuern die Bahn. Hoffen wir also. [ ... ]

Seien Sie herzliehst gegrüßt. Mit allen guten Wünschen Ihr alter Freund u. Lehrer E. Husserl [ ... ]

MARTIN HEIDEOGER

Edmund Husserl zum siebenzigsten Geburtstag Am 8. April d. J. feierte Herr Geh. Hofrat Professor Dr. E. Husserl seinen siebenzigsten Geburtstag. S. Magnifizenz der derzeitige Rektor Herr Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Uhlenhuth überbrachte die Glückwünsche der Gesamtuniversität und gab eine lebendige Schilderung der wissenschaftlichen Laufbahn des Gefeierten, die jetzt zur Freude und zum Stolz aller an unserer Universität sich auswirke. Als Vertreter des Dekans der philosophischen Fakultät, die den Gefeierten seit 1916 zu den Ihrigen zählt, sprach Herr Prof. Dr. Dragendorff in warmer Herzlichkeit und dankte dem nunmehrigen Emeritus für sein stets lebendiges Interesse, das er den wissenschaftlichen Aufgaben der Fakultät entgegengebracht habe. Hieran schloß sich die Beglückwünschung durch die Herren Dekane der übrigen Fakultäten und die Überreichung der Festschrift, die als Ergänzungsband des von Husserl herausgegebenen Jahrbuchs für Philosophie und phänomenologische Forschung erschienen ist. Herr Geh. Rat Husserl dankte in bewegten Worten, die zum Bekenntnis wurden, daß sein Philosophieren, inmitten einer völligen Ratlosigkeit, der geistigen Selbsterhaltung seiner Existenz entsprungen sei. Verehrer und Freunde des Philosophen ließen ihm seine Büste überreichen, die Prof. Amold Rickert vor einigen Jahren geschaffen hat. Es war kein Tag der bloßen Erinnerung an Gewesenes, sondern ein starker Augenblick der Besinnung auf die Größe der Arbeit, in die Husserl die philosophische Forschung und Lehre an unserer Universität hineingezwungen hat, um sie noch heute in Bewegung zu halten. Jetzt in knappen Umrissen über Husserls Veröffentlichungen und seine Philosophie im ganzen berichten zu wollen, scheitert nicht erst an der Schwierigkeit der Aufgabe. Solches Berichten, das in seiner Auswirkung notwendig unlebendig bleibt, müßte die Besinnung gerade von dem ablenken, was es zur Stunde und künftig allein zu wissen gilt: daß Husserl als lebendige Kraft unter uns ist und in dieser Wirkung seine wahre Wirklichkeit sich erwirken will. Das sagt aber: Philosophie muß die wirkliche Weckung der Freiheit zur letzten Besinnung auf die innere Notwendigkeit werden, vor die jedes menschliche Dasein gebracht ist. Diese Freiheit kann nicht das Ergebnis der wissenschaftlichen Bildung sein, sondern ist die Voraussetzung für ihre mögliche Aneignung.

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Daß dieser Geist der inneren Freiheit der Universität erhalten und in ihr stark werde, muß das schweigende Gelöbnis eines jeden werden, der Recht und Sinn einer solchen Feier begriffen hat. Was damit den Lehrenden und Lernenden aufgegeben ist, das mögen die Worte andeuten, die bei der Überreichung der Festschrift gesprochen wurden: Die Feier dieses Tages ist für Ihre Schüler die Quelle einer seltenen und reinen Freude. Und das so sehr, daß wir dieser Stunde nur gewachsen bleiben können, wenn wir zuerst und zuletzt die Verpflichtung zum Dank die Grundstimmung sein lassen. Einem schönen Brauche folgend, bringen wir Ihnen heute ein kleines Bündel kleiner Arbeiten als Festgabe. Es kann nicht die Gegengabe sein für das, was Sie als Lehrer an uns weggeschenkt, in uns geweckt und gepflegt haben. Manche werden in diesen Tagen versuchen, Ihre philosophische Arbeit zu überschauen, deren Anstöße und Auswirkungen nach mancherlei Maßstäben abzuschätzen. Vieles wird dabei in die Erinnerung zurückgeholt, was ihr nicht entgleiten sollte. Und doch- dieses Verteilen geistiger Wirkungen, solches Verrechnen literarischer Einflüsse greift keineswegs das Wesentliche, wofür wir jetzt zu danken haben. Nicht als wäre dies eher getroffen, wenn wir der Erfolge Ihrer akademischen Lehrtätigkeit gedenken. Diese ist - solange es noch gelingt, die deutsche Universität vor dem Schicksal der verödenden Fachschule zu bewahren - Glück und Vorrecht jedes akademischen Lehrers. Was aber Ihre Führerschaft zu dem werden ließ, was sie ist, das liegt in einem anderen beschlossen: der Gehalt und die Art Ihres Fragens zwingen unmittelbar zur letzten Auseinandersetzung und fordern jederzeit die Bereitschaft der Umkehr oder Abkehr. Keiner von uns ist freilich dessen gewiß, ob es ihm beschieden wurde, den Weg dahin zu finden, wohin ihn das Vorbild Ihrer Arbeit - unauffällig genug- ständig zu lenken suchte: in die Gelassenheit, reif zu werden für die Probleme. Und so sind auch die Arbeiten, die wir Ihnen überreichen, nur eine Bezeugung dessen, daß wir Ihrer Führerschaft folgen wollten, nicht ein Beweis dafür, daß die Gefolgschaft gelungen. Aber eines verwahren wir als bleibenden Besitz: Sie haben, hochverehrter Lehrer, jeden, der in Ihrer Führung mitgehen durfte, vor die Wahl gestellt, zum Verwalter wesentlicher Dinge zu werden oder aber diesen entgegenzuhandeln. Wenn wir dieser Stunde der Feier einen solchen Hinblick auf Ihre philosophische Existenz geben, dann gewinnen wir auch die festen Richtpunkte für die wahre Schätzung Ihrer philosophischen Arbeit. Lag es an dem, daß vor mehreren Jahrzehnten neben herrschenden Richtungen in der Philosophie eine neue aufstrebte und sich Einfluß erzwang, daß zu bisherigen Methoden sich eine neue gesellte, daß bislang vergessene Problembezirke eine Bearbeitung erfuhren? 5 Sbd. Cristin

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Lag es an dem, daß der gleichsam vorhandene Raum des philosophischen Fragens nur ausgefüllter und mannigfaltiger wurde? Oder hat Ihre Forschung nicht allererst einen ganz neuen Raum philosophischen Fragens geschaffen, mit neuen Ansprüchen, veränderten Einschätzungen, mit einem neuen Blick für die verborgenen Kräfte der großen Überlieferung der abendländischen Philosophie? In der Tat! Ein solcher Durchschlag in eine neue Dimension des Philosophierens ist das Entscheidende Ihrer Arbeit geworden, nicht aber diese oder jene Antwort auf diese oder jene Frage. Doch dieser Durchschlag ist nichts Geringeres als das Tieferlegen des Philosophierens, d. h. das Einbiegen in die verborgene Bahn seines eigentlichen Geschehens, wie sie sich im inneren Verkehr der großen Denker bekundet. Nicht Lehre ist dann Philosophie, nicht bloßes Schema der Weltorientierung, überhaupt nicht Mittel und Werk des menschlichen Daseins, sondern dieses selbst, sofern es in Freiheit aus seinem Grunde geschieht. Wer sich in forschender Arbeit bis zu diesem Selbstverständnis der Philosophie gebracht hat, dem fällt die Grunderfahrung alles Philosophierens zu: je weiter und ursprünglicher sich das Forschen ins Werk setzt, um so sicherer ist es "nur" die Verwandlung derselben wenigen und einfachen Fragen. Doch wer verwandeln will, muß die Kraft der bewahrenden Treue in sich tragen. Keiner aber wird diese Kraft in sich steigen fühlen, der nicht bewundert. Keiner wird bewundern können, der nicht an die äußersten Grenzen des Möglichen gewandert. Nie aber wird einer zum Freund des Möglichen werden, der nicht offen bleibt für die Zwiesprache mit den wirkenden Kräften des ganzen Daseins. Das aber ist die Haltung des Philosophen: das Hineinhören in den Vorgesang, der in allem wesentlichen Weltgeschehen vernehmbar wird. Und in solcher Haltung wird der Philosoph dessen inne, was es um das ist, was ihm aufgegeben. Plato wußte darum und hat in seinem siebenten Brief davon kunde gegeben:

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