Strategen in Roben (German Edition) [1. Aufl. 2024] 3658438673, 9783658438678

Gibt es andere Maßstäbe für die Entscheidungen, die Verfassungsrichter treffen, als das geltende Recht und Präzedenzfäll

112 15 2MB

German Pages 257 [251] Year 2024

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Strategen in Roben (German Edition) [1. Aufl. 2024]
 3658438673, 9783658438678

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
1 Das Bundesverfassungsgericht als Gegenstand der Forschung
1.1 Forschungsfrage
1.2 Stand der Forschung
1.2.1 Rechts- und sozialwissenschaftlicher Forschungsstand zum Bundesverfassungsgericht
1.2.2 Forschungsstand zum U.S. Supreme Court
1.2.3 Literatur zu den Einflussfaktoren auf die Rechtsprechung an den U.S. Courts of Appeals
1.3 Forschungslücke
2 Modelle zu Einflüssen auf das Verhalten von Verfassungsrichtern und zu richterlichen Strategien
2.1 Der akteurzentrierte Institutionalismus
2.2 Für Richterverhalten entworfene Modelle
2.2.1 Das legal model
2.2.2 Das attitudinal model
2.2.3 Das strategic model
2.3 Weitere Modelle
2.4 Implikation für die Untersuchung
3 Auswahl der für die Forschungsfrage relevanten Einflussfaktoren und zu prüfende Hypothesen
3.1 Externe Faktoren
3.1.1 Öffentliche Meinung
3.1.2 Präferenzen der Exekutive
3.1.3 Präferenzen der Legislative
3.1.4 Amicus curiae
3.1.5 Verfahrensbeteiligte
3.2 Interne Faktoren
3.2.1 Annahmeverfahren
3.2.2 Wissenschaftliche Mitarbeiter
3.2.3 Parteipolitische Zusammensetzung der Senate
3.2.4 Entscheidung mit oder ohne mündliche Verhandlung
3.2.5 Informelle Institutionen
3.2.6 Präzedenzentscheidungen
3.2.7 Plenum als „Damoklesschwert“
3.2.8 Individuelle Nutzenmaximierung durch den einzelnen Richter
3.2.9 Berichterstatter
3.3 Empirische Forschungsfragen
4 Gang der Untersuchung
4.1 Quantitative Untersuchung
4.1.1 Umfang der Datenerfassung
4.1.2 Ausgestaltung der Datenauswertung
4.2 Qualitative Untersuchung
4.2.1 Leitfadengestützte Experteninterviews
4.2.2 Freiräume im institutionellen Gefüge, deren Beschaffenheit und deren strategische Inanspruchnahme
5 Gesetzgeberhypothese
5.1 Das richterliche Normenkontrollrecht
5.2 Existenz und Beschaffenheit richterlicher Freiräume
5.3 Art und Umfang der Nutzung der von den Richtern am Bundesverfassungsgericht selbst geschaffenen Freiräume
5.4 Empirische Untersuchung
5.4.1 Ebene der Stattgabe
5.4.2 Ebene der mit der Verwerfung verbundenen Eingriffsintensität
6 Justizhypothese
6.1 Das Verhältnis von Bundesverfassungsgericht und Fachgerichten
6.2 Empirische Überprüfung
7 Sozialisierungshypothese
7.1 Genese der derzeitigen Aufgabenteilung zwischen den Senaten
7.2 Empirische Untersuchung
8 Agendahypothese
8.1 Existenz und Beschaffenheit richterlicher Freiräume in Bezug auf die inhaltliche Agenda des Bundesverfassungsgerichts
8.2 Empirische Untersuchung: Art und Umfang der Nutzung bestehender Freiräume
9 Mitarbeiterhypothese
9.1 Existenz und Beschaffenheit verfassungsrichterlicher Freiräume in Bezug auf die Wissenschaftlichen Mitarbeiter
9.1.1 Die Wissenschaftlichen Mitarbeiter und die gesetzliche Normierung ihrer Tätigkeit
9.1.2 Der Richter und sein Dezernat
9.2 Empirische Untersuchung: Art und Umfang der Nutzung bestehender Freiräume
9.2.1 Das Senatsvotum
9.2.2 Das Kammervotum
10 Konsenshypothese
10.1 Existenz und Beschaffenheit richterlicher Freiräume im institutionellen Gefüge im Rahmen der Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht
10.1.1 Die abweichende Meinung
10.1.2 Das Plenum
10.2 Empirische Untersuchung: Art und Umfang der Nutzung bestehender Freiräume
10.2.1 Die abweichende Meinung
10.2.2 Das Plenum
11 Bewertung der Ergebnisse und offene Forschungsfragen
12 Interviewfragebogen
Literatur

Citation preview

Martina Schlögel

Strategen in Roben

Strategen in Roben

Martina Schlögel

Strategen in Roben

Martina Schlögel Berlin, Deutschland

ISBN 978-3-658-43867-8 ISBN 978-3-658-43868-5 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-43868-5 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Die Förderung des Vorhabens erfolgte im Rahmen des interdisziplinären Promotionskollegs „Politik- und Parteienentwicklung in Europa“ der Hanns-Seidel-Stiftung aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung und durch ein Promotionsstipendium im Rahmen des Programms zur „Förderung besonders begabter Nachwuchswissenschaftlerinnen der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg“. Ein Forschungsaufenthalt am John W. Kluge Center an der Library of Congress in Washington DC, das „Bavarian Library of Congress Fellowship“, wurde mit Mitteln des Bayerisches Staatsministeriums für Wissenschaft und Kunst gefördert. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2024 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Marija Kojic Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany Das Papier dieses Produkts ist recyclebar.

Inhaltsverzeichnis

1

2

Das Bundesverfassungsgericht als Gegenstand der Forschung . . . . 1.1 Forschungsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Stand der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Rechts- und sozialwissenschaftlicher Forschungsstand zum Bundesverfassungsgericht . . . . . 1.2.2 Forschungsstand zum U.S. Supreme Court . . . . . . . . . 1.2.2.1 Literatur zum Vergleich von Bundesverfassungsgericht und U.S. Supreme Court . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2.2 Sozialwissenschaftliche Literatur zum U.S. Supreme Court . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2.2.1 Externe Einflussfaktoren auf die Rechtsprechung am U.S. Supreme Court . . . . . . . . . . . 1.2.2.2.2 Interne Einflussfaktoren auf die Rechtsprechung am U.S. Supreme Court . . . . . . . . . . . 1.2.3 Literatur zu den Einflussfaktoren auf die Rechtsprechung an den U.S. Courts of Appeals . . . . . 1.3 Forschungslücke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Modelle zu Einflüssen auf das Verhalten von Verfassungsrichtern und zu richterlichen Strategien . . . . . . . . . . . . . 2.1 Der akteurzentrierte Institutionalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Für Richterverhalten entworfene Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1 1 7 7 13

14 16

16

20 26 27 29 30 33

V

VI

Inhaltsverzeichnis

2.3 2.4 3

2.2.1 Das legal model . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Das attitudinal model . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Das strategic model . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weitere Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Implikation für die Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Auswahl der für die Forschungsfrage relevanten Einflussfaktoren und zu prüfende Hypothesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Externe Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Öffentliche Meinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Präferenzen der Exekutive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Präferenzen der Legislative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.4 Amicus curiae . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.5 Verfahrensbeteiligte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.5.1 Einzelperson oder Personengruppe . . . . . . . . 3.1.5.2 Involviertes Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Interne Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Annahmeverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1.1 Freie Annahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1.2 Gesetzlicher Richter oder Wissenschaftlicher Mitarbeiter . . . . . . . . . . . . 3.2.1.3 Spruchkörper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Wissenschaftliche Mitarbeiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.1 Auswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.2 Übertragene Aufgaben und Grad der Einbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Parteipolitische Zusammensetzung der Senate . . . . . . . 3.2.4 Entscheidung mit oder ohne mündliche Verhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.5 Informelle Institutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.5.1 Sondervoten oder die „Norm des Konsenses“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.5.2 Allianzen unter den Richtern . . . . . . . . . . . . . 3.2.5.3 Kollegialer Einfluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.5.3.1 Einfluss innerhalb der Senate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.5.3.2 Einfluss zwischen den Senaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.6 Präzedenzentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

34 35 38 42 43 45 50 50 54 55 58 60 60 61 63 63 64 65 66 67 68 68 69 71 72 72 73 74 74 74 75

Inhaltsverzeichnis

VII

3.2.7 3.2.8

76

3.3 4

5

Plenum als „Damoklesschwert“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Individuelle Nutzenmaximierung durch den einzelnen Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.8.1 Politische Präferenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.8.2 Harmonie im Kollegenkreis . . . . . . . . . . . . . . 3.2.8.3 Arbeitsaufwand und Arbeitsbelastung . . . . . . 3.2.8.4 Anerkennung im Kollegenkreis . . . . . . . . . . . 3.2.8.5 Anerkennung in der wissenschaftlichen Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.8.6 Weitere Karrierechancen . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.9 Berichterstatter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.9.1 Auswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.9.2 Einfluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.9.3 Abstimmen des Mehrheitsvotums . . . . . . . . . 3.2.9.4 Sonderfall: Berichterstatter trägt Mehrheitsmeinung nicht mit und veröffentlicht ein Sondervotum . . . . . . . . . . . Empirische Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Quantitative Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Umfang der Datenerfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Ausgestaltung der Datenauswertung . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Qualitative Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Leitfadengestützte Experteninterviews . . . . . . . . . . . . . 4.2.1.1 Planung und Ablauf der Interviews . . . . . . . . 4.2.1.2 Struktur und Ausgestaltung des Gesprächsleitfadens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Freiräume im institutionellen Gefüge, deren Beschaffenheit und deren strategische Inanspruchnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesetzgeberhypothese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Das richterliche Normenkontrollrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Existenz und Beschaffenheit richterlicher Freiräume . . . . . . . . . 5.3 Art und Umfang der Nutzung der von den Richtern am Bundesverfassungsgericht selbst geschaffenen Freiräume . . . . 5.4 Empirische Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

78 78 79 79 80 81 81 82 82 83 85

86 86 91 92 92 93 99 99 99 102

104 107 107 113 116 126

VIII

Inhaltsverzeichnis

5.4.1 5.4.2 6

7

8

9

Ebene der Stattgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ebene der mit der Verwerfung verbundenen Eingriffsintensität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

126 131

Justizhypothese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Das Verhältnis von Bundesverfassungsgericht und Fachgerichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Empirische Überprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

137

Sozialisierungshypothese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Genese der derzeitigen Aufgabenteilung zwischen den Senaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Empirische Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

147

Agendahypothese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Existenz und Beschaffenheit richterlicher Freiräume in Bezug auf die inhaltliche Agenda des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Empirische Untersuchung: Art und Umfang der Nutzung bestehender Freiräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mitarbeiterhypothese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1 Existenz und Beschaffenheit verfassungsrichterlicher Freiräume in Bezug auf die Wissenschaftlichen Mitarbeiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1.1 Die Wissenschaftlichen Mitarbeiter und die gesetzliche Normierung ihrer Tätigkeit . . . . . . . . . . . . . 9.1.2 Der Richter und sein Dezernat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2 Empirische Untersuchung: Art und Umfang der Nutzung bestehender Freiräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2.1 Das Senatsvotum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2.2 Das Kammervotum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

10 Konsenshypothese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1 Existenz und Beschaffenheit richterlicher Freiräume im institutionellen Gefüge im Rahmen der Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1.1 Die abweichende Meinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1.2 Das Plenum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Empirische Untersuchung: Art und Umfang der Nutzung bestehender Freiräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

137 142

147 152 153

157 164 173

175 175 176 178 183 188 197

197 197 200 202

Inhaltsverzeichnis

IX

10.2.1 Die abweichende Meinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2.2 Das Plenum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

205 214

11 Bewertung der Ergebnisse und offene Forschungsfragen . . . . . . . . .

219

12 Interviewfragebogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

225

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

229

1

Das Bundesverfassungsgericht als Gegenstand der Forschung

1.1

Forschungsfrage

Verfassungsgerichte nehmen in demokratischen Regierungssystemen spezifische und ihnen exklusiv zugewiesene Funktionen wahr. Im Falle des Bundesverfassungsgerichts ist dies die Wahrung der Verfassung, indem Akte der Exekutive, der Legislative und der Judikative von den Richtern1 in letzter Instanz auf ihre Vereinbarkeit mit der Verfassung überprüft und gegebenenfalls verworfen werden. Das Gericht agiert seit seiner ersten Entscheidung am 9. September 1951 als verbindlicher Letztinterpret des Grundgesetzes und seine Entscheidungen erwachsen nach der Maßgabe des § 31 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) in Gesetzeskraft. Die Verfassung gewährt dem Bundesverfassungsgericht eine große Machtfülle. Es besitzt bei der Interpretation des Grundgesetzes das letzte Wort, das als „Macht zur verbindlichen Verfassungsinterpretation zwangsläufig die Macht einschließt, die Grundlagen der eigenen, in der Verfassung niedergelegten Kompetenzen autoritativ – und das heißt mit Rechtswirkung für und gegen alle sonstigen Konkurrenten – feststellen zu können.“ (Jestaedt 2011: 82)

1

In der vorliegenden Arbeit soll im Interesse einer besseren Lesbarkeit auf die Verwendung geschlechtergerechter Sprache verzichtet und deshalb nicht ausdrücklich in geschlechtsspezifischen Personenbezeichnungen differenziert werden. Die gewählte männliche Form schließt eine adäquate weibliche Form gleichberechtigt ein. © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2024 M. Schlögel, Strategen in Roben, https://doi.org/10.1007/978-3-658-43868-5_1

1

2

1

Das Bundesverfassungsgericht als Gegenstand der Forschung

Die sechzehn Verfassungsrichter2 können vom demokratisch legitimierten Gesetzgeber erlassene Gesetze für verfassungswidrig und nichtig erklären, wenn diese im Rahmen eines in Karlsruhe anhängigen Verfahrens3 auf dem Prüfstand stehen. Damit nimmt das Gericht mittelbar auch eine politikgestaltende Rolle ein (Kranenpohl 2010:19). Doch das Eingreifen von Verfassungsgerichten in demokratische Prozesse ist theoretisch wie faktisch umstritten (Kneip 2009: 95). In Frage gestellt werden im Rahmen dieser Debatte nicht die klassischen verfassungsgerichtlichen Aufgabenfelder wie Organstreitverfahren oder föderative Streitverfahren, in deren Rahmen das Gericht als Wächter der Demokratie und der demokratischen Prozesse die Funktion eines Schiedsrichters (Limbach 2001:7) einnimmt. Da die Richter in Verfahren, die Kompetenzkonflikte zum Inhalt haben, nicht oder allenfalls nur indirekt über politische Inhalte entscheiden, werden sie dort als neutraler Dritter wahrgenommen. Problematischer ist die Wahrnehmung von judicial review, also die juristische Kontrolle und Nachprüfung von Parlamentsentscheidungen und Exekutivakten. Hier geraten die Verfassungsrichter in die Kritik, wenn sie mit ihrer Judikatur den Anschein erwecken, sie wollten Politik gestalten oder sich die Rolle eines „Ersatzgesetzgebers“ anmaßen. Der ehemalige Richter am Bundesverfassungsgericht, Dieter Grimm, differenziert zwischen dem Gegenstand, den Wirkungen und dem Prozess der Verfassungsrechtsprechung (Grimm 2019: 86). Nur den letzten hält er für genuin juristisch, weshalb er auch den in der Rechts- und Politikwissenschaft so oft unternommenen Versuch der Abgrenzung der beiden Sphären – der politischen und der juristischen – für irreführend4 hält: „An der politischen Bedeutung der Verfassungsrechtsprechung ist also gar nicht zu zweifeln. Verfassungsgerichte können politisches Handeln unter Berufung auf die Verfassung sowohl verhindern als auch verlangen. Das ist keine Grenzüberschreitung, 2

Am Bundesverfassungsgericht sind 16 Richter tätig, die – verteilt auf den Ersten und den Zweiten Senat mit je acht Mitgliedern – für eine einmalige Amtszeit von zwölf Jahren berufen werden. 3 Wie alle deutschen Gerichte wird auch das Bundesverfassungsgericht nur auf Antrag tätig (Antragsprinzip) und ein Handeln ex officio in Form eines an sich Ziehens bestimmter Verfahren ist durch das Bundesverfassungsgerichtsgesetz ausgeschlossen. Eine zumindest theoretisch existierende Ausnahme dieses Prinzips, die von den Richtern im Rahmen eines obiter dictums erwähnt wurde, wird in Kapitel 3 näher erläutert. 4 Grimm: „Könnte es sein, dass sich Recht und Politik bei der Ausübung verfassungsgerichtlicher Kontrolle nicht ausschließen, sondern nebeneinander bestehen mit der Folge, dass jede Disziplin einen wichtigen Aspekt ihres Gegenstands übersieht, wenn sie auf der Dichotomie beharrt?“ (Grimm 2019: 87).

1.1 Forschungsfrage

3

es ist Sinn der Sache. Ein Verfassungsgericht, das politischen Fällen aus dem Weg ginge, verriete seine Aufgabe. Ein unpolitisches Verfassungsgericht gibt es nicht.“ (Grimm 2019: 88)

Bereits Ende der 1920er Jahre prägte Hans Kelsen für Verfassungsgerichte den Begriff des „negativen Gesetzgebers“: Wenn diesen qua Verfassung die Kompetenz zur Normenkontrolle übertragen worden sei, so könnten sie mit ihren Entscheidungen zwar bestehende Gesetze für nichtig erklären, ihrerseits aber keine neuen Gesetze erlassen (Kelsen 1929: 30 ff.). Für das Bundesverfassungsgericht muss diese Aussage relativiert werden, da es sowohl die Möglichkeit hat, im Rahmen einer Kassation dem Gesetzgeber inhaltliche Vorgaben für eine mögliche Neunormierung zu machen, als auch – als ultima ratio bis zur erfolgten Modifikation von mit der Verfassung nicht in Einklang stehenden Normen – inhaltlich konkret ausgeformte Übergangsbestimmungen in einer Entscheidung vorzugeben. Der in solchen Fällen geradezu vorprogrammierte Konflikt wird in der US-amerikanischen Literatur unter dem Stichwort counter-majoritarian difficulty5 diskutiert. Die Debatte lässt sich auf die Frage zuspitzen: Ist es demokratisch legitim, dass eine anti-majoritäre Institution das Ergebnis parlamentarischer Beschlussfassung revidieren kann? Das Bundesverfassungsgericht befindet sich in ständiger Interaktion mit anderen Verfassungsorganen und Akteuren, sei es mit der Regierung, der Opposition, dem Bundes- oder einem Landesgesetzgeber, den Medien oder mit Gerichten – sowohl auf deutscher als auch auf europäischer Ebene –, um nur die wichtigsten Beispiele zu nennen. Da das Bundesverfassungsgericht als oberste Instanz über die Einhaltung der Verfassung wacht, sie durch seine Rechtsprechung auslegt und den sich wandelnden gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, sozialen und politischen Gegebenheiten immer wieder anpasst (Höreth 2008: 11), sollte es weit mehr in den Fokus politikwissenschaftlicher Untersuchungen rücken als dies bislang der Fall war. Es wäre bedauerlich, würde die Politikwissenschaft die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Bundesverfassungsgericht – wie in einem Bonmot des ehemaligen Richters am Bundesverfassungsgericht Dieter Grimm überliefert – „in einer Art vorauseilendem Gehorsam allein den Juristen überlassen“ (Grimm 1976: 703), wie es bis zum Beginn der 1990er Jahre überwiegend der Fall war. Der Richter am Bundesverfassungsgericht Udo Steiner konstatierte in einem Beitrag: „Das BVerfG braucht die ständige Qualitätskontrolle durch die Rechtswissenschaft, und durch die politische Wissenschaft gewiss nicht weniger“ (Steiner 2001: 2920). 5

Vgl. etwa Bickel 1986. Kritisch zur Diskussion des Begriffs im Zusammenhang mit posttotalitären Verfassungsgerichten Möllers 2011: 289.

4

1

Das Bundesverfassungsgericht als Gegenstand der Forschung

In den letzten Jahren wurde in mehreren Publikationen angeregt, die politikwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Bundesverfassungsgericht zu vertiefen, da eine erhebliche Kluft zwischen dem tatsächlichen Einfluss und dem Grad der wissenschaftlichen Aufarbeitung des Bundesverfassungsgerichts konstatiert wird. Roland Sturm etwa plädiert dafür, dass die Politikwissenschaft die Interaktion von Politik und Verfassungsgericht stärker beachten sollte und mit einer vergleichenden Perspektive zu neuen Fragen die „inzwischen wenig originelle Beschäftigung mit den Grundfunktionen eines deutschen Verfassungsgerichts näher an die politischen Auseinandersetzungen heranführen“ könnte (Sturm 2009: 60). Die in der deutschen Rechtswissenschaft vorherrschende Vorstellung vom unabhängigen Richter, der seine Entscheidungen ausschließlich durch die Betrachtung und Beurteilung der Fakten des zur Entscheidung vorliegenden Falles und unter Heranziehung der für die Entscheidung einschlägigen Normen und Präzedenzfälle trifft, verkennt die Realität sowohl des richterlichen als auch des gesellschaftlichen und politischen Alltags. Diese juristisch-konservative Sichtweise wurde von Christoph Möllers in einem Beitrag anlässlich des 60. Geburtstags des Bundesverfassungsgerichts dargestellt. In seinem Versuch die Grenzen der Selbstlegitimierung des Gerichts zu beschreiben, offenbart sich eine durch die eingenommene Perspektive entstehende Selbstbeschränkung: „Die erste und wichtigste Grenze dürfte in dem Umstand liegen, dass auch Verfassungsgerichte ihre Akzeptanz in aller Regel dem rechtlichen Charakter ihres Handelns verdanken: Sie gewähren Recht in der Form des Rechts. Unparteilichkeit, Unabhängigkeit, rechtsbezogenes Begründen sind typische Eigenschaften rechtlicher Verfahren, die auch die Akzeptanz eines ganz untypischen Gerichts wie des Bundesverfassungsgerichts begründen.“ (Möllers 2011: 306)

Die Rechtswissenschaft scheint stark an ihre eigenen Paradigmen gebunden zu sein, so dass eine umfassende und gemeinsame Erforschung des Bundesverfassungsgerichts von Rechts- und Politikwissenschaft noch aussteht. Möllers führte in seinem Beitrag weiter aus: „Auch normale Gerichte schauen auf die Folgen ihrer Entscheidung, dies dürfte sogar zur richtig verstandenen juristischen Urteilsmethodik gehören, solange die Folgenbetrachtung normativ angeleitet ist (Lübbe-Wolff 1981). Nur ist die Folgenbetrachtung im Fall der Verfassungsgerichtsbarkeit eben global und damit politisiert. Solche Strategien sind an dieser Stelle nicht im Einzelnen weiterzuverfolgen. Sie verführen oftmals auch nur zu Spekulationen über das Innenleben des Gerichts, die

1.1 Forschungsfrage

5

sich durch qualitative Interviews (Vanberg 2005; Kranenpohl 2009) nicht methodisch überzeugend belegen lassen.“ (Möllers 2011: 306)

Dieses Festhalten an den juristischen Prämissen erscheint besonders vor dem Hintergrund der folgenden Aussage eines Verfassungsrichters zum vermeintlich apolitischen Image (Kranenpohl 2010: 409) des Bundesverfassungsgerichts als Anachronismus: „Sie machen mit Rechtsentscheidungen immer auch Politik. Wenn Sie, wie ich, der Auffassung sind, dass Konkretisierung auch heißt, etwas Unbestimmtes in Bestimmtes zu verwandeln, was nicht durch Erkenntnis, sondern durch Entscheidung geht, wenn Sie sagen: „Entscheidungsmacht ist Zeichen der Politik“, dann bedeutet das, dass ein Richter in diesem Sinne auch Inhaber politischer Möglichkeiten ist. (Interview Nr. 20).“ (Kranenpohl 2010: 409)

Wenn nun aber Verfassungsrichter nach eigenem Bekunden mit ihren Entscheidungen auch Politik betreiben und sich dessen bewusst sind, dass sie mit ihren Entscheidungen die gesellschaftliche Ordnung mitgestalten, so liegt die Frage nahe, ob sie dann – ähnlich wie andere politische Akteure – ebenfalls Einflüssen ausgesetzt sind. Falls ja, schließt sich die Frage an, welche Einflüsse dies sein könnten, welche Bedeutung ihnen zukommt und wie sich die Richter zu diesen Einflüssen verhalten. Die sozialwissenschaftliche Forschung zum U.S. Supreme Court, die auch zahlreiche Modelle zur Erklärung und Wirkung von Einflüssen auf höchstrichterliche Rechtsprechung offeriert, befasst sich intensiv mit der Frage nach den Einflussfaktoren auf die Rechtsprechung am U.S. Supreme Court. Sie hat sich über Jahrzehnte entwickelt und ist äußerst umfangreich und differenziert. Der Begriff des Einflusses soll im Rahmen der vorliegenden Arbeit nach Ruth Zimmerling (1991) wie folgt verwendet werden: „Wird in einem Prozessverlauf durch das Verhalten eines Akteurs eine Veränderung bewirkt, so sagt man, das Verhalten des Akteurs habe den Prozess beeinflusst. Um zu einer Antwort auf die Frage nach den Einflussmöglichkeiten externer Akteure kommen zu können, ist es zweckmäßig, sich als erstes darüber klar zu werden, wovon generell der Verlauf politischer oder – noch allgemeiner – sozialer Prozesse (…) abhängt. (Zimmerling 1991: 169)

Damit ist klar, dass im Rahmen dieser Untersuchung nach Raum für Veränderungen und nach den diese Veränderungen hervorrufenden Akteuren oder auch

6

1

Das Bundesverfassungsgericht als Gegenstand der Forschung

Lebenssachverhalten gesucht und dann die Art der Veränderung identifiziert werden muss, die im weitesten Sinne aus einem Tun, Dulden oder Unterlassen bestehen kann. Entsprechend hat die vorliegende Untersuchung drei miteinander verbundene Stoßrichtungen. Sie vergleicht zunächst Bundesverfassungsgericht und U.S. Supreme Court. Wobei ein umfassender systematischer Vergleich der beiden Gerichte nicht das Ziel ist, sondern der Vergleich eine heuristische Funktion hat. In einem nächsten Schritt wird untersucht, welche Informationen und Daten zur Arbeit des Bundesverfassungsgerichts für dessen Erforschung zugänglich sind und welches der amerikanischen Grundmodelle für das Bundesverfassungsgericht am ehesten geeignet ist. In einem dritten Schritt wird die Forschungsfrage in konkrete Hypothesen überführt und untersucht, wie stark die Evidenz für die untersuchten Einflussfaktoren – und deren tatsächlicher Einfluss – und für das gewählte Modell ist. Und so lautet die Fragestellung der vorliegenden Arbeit: Welche Faktoren – jenseits von Gesetz und Recht – üben Einfluss auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aus, und wie können diese Faktoren und ihre Auswirkungen unter Zugrundelegung des strategischen Modells bestimmt und interpretiert werden? Neben den üblichen Quellen – also der Literatur zum Bundesverfassungsgericht und zum U.S. Supreme Court und den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts – dienen als Empirie die von der Verfasserin geführten leitfadengestützen Experteninterviews mit ehemaligen Wissenschaftlichen Mitarbeitern am Bundesverfassungsgericht und die Ergebnisse eines Forschungsprojekts6 , an dem die Verfasserin beteiligt war. Die Arbeitsaufteilung innerhalb des Projekts war dergestalt organisiert, dass dessen Leiter7 für alle Fragen der Datenbankprogrammierung und Datenauswertung und das Bilden von statistischen Modellen zum Testen von Hypothesen zuständig war. Die Verfasserin war mit allen inhaltlichen Fragen betraut, die den Untersuchungsgegenstand Bundesverfassungsgericht 6

Das Projekt hatte die Erfassung und Auswertung der in den Bänden der amtlichen Entscheidungssammlung des Bundesverfassungsgerichts abgedruckten Senatsentscheidungen der Jahre 1980 bis 2020 zum Gegenstand. Mithilfe dieser Daten soll versucht werden, Einflüsse auf die Rechtsprechung zu erkennen. Diese Erhebung entstand in einer Kooperation der Autorin mit Michael Grottke, Professor am Lehrstuhl für Statistik und Ökonometrie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen/ Nürnberg, und wurde mit Mitteln der HansFrisch-Stiftung gefördert, die die stundenweise Beschäftigung studentischer Hilfskräfte zur Unterstützung der Erfassung der Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen in einer hierfür entworfenen Datenbank ermöglichten. 7 Michael Grottke, Professor am Lehrstuhl für Ökonometrie an der Friedrich AlexanderUniversität Erlangen/ Nürnberg.

1.2 Stand der Forschung

7

und dessen Rechtsprechung einschließlich der Erfassung in einer Datenbank betrafen. Getestet wurden die von der Verfasserin entwickelten Hypothesen. Sie interpretierte und bewertete auch die Ergebnisse.

1.2

Stand der Forschung

Wie in der Forschungsfrage bereits angelegt, soll zur Beantwortung der Frage nach den Einflussfaktoren auf das Bundesverfassungsgericht und seine Rechtsprechung neben der einschlägigen deutschen Literatur zum Bundesverfassungsgericht auch auf die sozialwissenschaftliche US-amerikanische Literatur zum U.S. Supreme Court – und in geringem Umfang zu den Courts of Appeals – zurückgegriffen werden. Deshalb wird im Folgenden die Literatur zum Verhalten von Richtern an obersten Verfassungsgerichten in Deutschland und in den USA dargestellt. Da das Bundesverfassungsgericht an der Schnittstelle zwischen Recht und Politik anzusiedeln ist, soll die fachspezifische Analyseperspektive eines jeden Bereichs ebenso berücksichtigt werden wie dessen jeweilige Eigenlogik (Kranenpohl 2010: 40).

1.2.1

Rechts- und sozialwissenschaftlicher Forschungsstand zum Bundesverfassungsgericht

In der rechtswissenschaftlichen Literatur finden sich Monographien zum Bundesverfassungsgericht8 , Lehrbücher zum Verfassungsprozessrecht (u. a. Benda/ Klein 2011; Gersdorf 2010; Hillgruber/Goos 2011; Sachs 2010 und Fleury 2009) und eine große Zahl an Lehrbüchern zum Staatsorganisationsrecht, den Grundrechten und anderen nahe verwandten Rechtsgebieten. Die juristische Literatur zum Bundesverfassungsgericht stellt dogmatische Fragen in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen, in denen „sozusagen per definitionem der Faktor Politik ebenso wenig eine Rolle spielen kann und darf wie der Faktor Persönlichkeit“ (van Ooyen 2008: 516). Deshalb soll auf eine Darstellung der seitens der Staatsrechtslehre zum Bundesverfassungsgericht verfassten Literatur wegen der geringen Relevanz für die Forschungsfrage verzichtet werden. Einige juristische Dissertationen und Monografien werfen allerdings (aus juristischer Perspektive) 8

Politikwissenschaftliche Monographien zum Bundesverfassungsgericht stammen u. a. von Horst Säcker (2003) und Marcus Höreth (2014).

8

1

Das Bundesverfassungsgericht als Gegenstand der Forschung

Fragen auf, deren Beantwortung für die Forschungsfrage durchaus von Bedeutung sein können9 , denn eine politikwissenschaftliche Analyse des Bundesverfassungsgerichts unter völliger Ausblendung des Rechts scheint nicht nur – nach Christpoh Hönnige und Thomas Gschwed (2010) – nicht erstrebenswert, sondern schlichtweg nicht möglich. Der bisherige Blickwinkel der Forschung war primär darauf gerichtet, welche Auswirkungen die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf andere Akteure im politischen System hat10 . Ein häufig zugrunde liegendes Forschungsparadigma ist die These der zunehmenden Justizialisierung der Politik11 : Nach dieser wird die Sphäre der Politik vermehrt eingeschränkt durch die „Ausrichtung der Rechtsordnung […] am Grundgesetz als Prozess der Verfassungskonkretisierung und damit der freiheitlich-demokratischen Werteverwirklichung, […] [während] bei kritischer Lesart der Verlust des Selbstbestandes des Gesetzesrechts (und damit des Politischen) hervortritt und der politische Wettbewerb sich in bloßem Verfassungsvollzug zu erschöpfen droht“ (Jestaedt 2011: 86). Eine dazu völlig konträre Position wurde von Hans-Peter Schneider in seinem Beitrag „Der Kotau von Karlsruhe – Zur Kapitulation des Bundesverfassungsgerichts vor der Politik“ (2006) in Bezug auf dessen Entscheidung zur Frage der Verfassungswidrigkeit der vorzeitigen Auflösung des 15. Bundestags eingenommen. Schneider glaubt im vermeintlichen Abschied des Gerichts von seiner Kontrollverantwortung eine „bedingungslose Kapitulation vor der Politik“ (Schneider 2006: 142) zu erkennen. Ewert und Hein (2016) haben ebenfalls die zur Justizialisierung gegenläufige These der Politisierung von Gerichtsentscheidungen untersucht. Sie sehen im Rahmen ihrer vergleichenden Untersuchung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland, Bulgarien und Portugal neben den Faktoren der vermeintlichen Beeinflussung der Verfassungsrichter durch politische Akteure, der Richterwahl, dem richterlichen Rollenverständnis und den Strategien der Verfahrensbeteiligten, vor allem die Verfahrensarten und die damit verbundenen rechtlichen Anforderungen an die Antragstellung eines Verfassungsgerichts als zentrale Variable für

9

Vgl. etwa Seyfarth 1998, Rau 1996, Rohloff 2008, Kreutzberger 2007, Graßhof 2003 oder Anzenberger 1998. 10 Vgl. für die Auswirkungen der Verfassungsrechtsprechung auf parlamentarische Willensbildung und soziale Realität, Landfried 1984 und 1988, und für deren Wirkung auf die Politik, Lhotta 2003. 11 Die These der „Judicalization of Politics“ wird ungleich intensiver in der USamerikanischen Literatur diskutiert, vgl. den Sammelband von C. Neal Tate und Torbjörn Vallinder (1995) mit dem Beitrag von Christine Landfried zu Deutschland oder Shapiro/ Stone Sweet (2002).

1.2 Stand der Forschung

9

die Politisierung von Rechtsprechung (Ewert/ Hein 2016: 54). Damit nehmen sie eine institutionalistische Perspektive ein: „Diese regeln den Entscheidungszugang, die Entscheidungsmaterien und die Entscheidungsfolgen verfassungsgerichtlicher Arbeit. Sie definieren mithin, wer ein Verfassungsgericht unter welchen Umständen und in Bezug auf welche rechtlichen Probleme anrufen darf und welche juristischen Folgen eine Gerichtsentscheidung nach sich zieht (Benda et al. 2012). Damit konfigurieren die Verfahrensarten den verfassungsgerichtlichen Prozess maßgeblich.“ (Ewert/ Hein 2016: 54)

Gawron und Rogowsik (2007:127) hingegen vertreten die Justizialisierungsthese und führen die Verrechtlichung der Politik auf die vielfältigen Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichts zurück. Von diesen Überlegungen ausgehend gibt es einige sozialwissenschaftliche Studien, die sich entsprechend mit der Interaktion von Bundesverfassungsgericht, Regierung und Opposition befassen (Hönnige 2007) und mit der freiwilligen Selbstbeschränkung von Gericht und Gesetzgeber aufgrund der Antizipation der Reaktion der jeweils anderen Gewalt (Vanberg 2005, dessen Idee weiterentwickelnd Sieberer 2006). Zudem wurden das Klageverhalten der Oppositionsparteien des Deutschen Bundestags vor dem Bundesverfassungsgericht und dessen Gründe erforscht12 . Der Sammelband von Robert Chr. Van Ooyen und Martin H.W. Möller (2015) geht der Frage der Verortung des Bundesverfassungsgerichts im politischen System der Bundesrepublik Deutschland nach. Die Autoren untersuchen sowohl historische Konfliktlagen als auch die Rolle des Bundesverfassungsgerichts im politischen Prozess und im internationalen Umfeld. Sascha Kneip (2009) hat bei seiner Untersuchung des Beitrags des Bundesverfassungsgerichts zur Qualität der bundesdeutschen Demokratie dem Einfluss der Öffentlichkeit zentrale Bedeutung beigemessen. Ebenfalls den Einfluss der Öffentlichkeit auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts haben Sternberg, Gschwend, Wittig und Engst untersucht (2015). Nach einer Analyse der von den Senaten entschiedenen abstrakten Normenkontrollen und BundLänder-Streitigkeiten aus den Jahren 1974 bis 2010 gelangten sie zu dem Ergebnis, dass die Richterinnen und Richter in ihren Entscheidungen nachweislich von der öffentlichen Meinung beeinflusst werden. Sternberg et al. schlossen daraus, dass

12

Vgl. Flick 2009, Stüwe 1997 und 2001 und Vanberg 1998.

10

1

Das Bundesverfassungsgericht als Gegenstand der Forschung

„je größer die spezifische Unterstützung der Antragsinhalte der Opposition in der öffentlichen Meinung [ist], desto wahrscheinlicher entscheidet das Bundesverfassungsgericht auch im Sinne der Opposition und beanstandet das betreffende Gesetz.“ (Sternberg et al. 2015: 591)

Krehbiel (2016) setzt sich ebenfalls mit dem Einfluss der Öffentlichkeit auf das Bundesverfassungsgericht auseinander. Er untersucht die Rolle öffentlicher mündlicher Anhörungen auf die Bereitschaft der Verfassungsrichter, sich mit ihren Entscheidungen in Widerspruch zu den Auffassungen und Wünschen gewählter politischer Vertreter zu setzen. Auf der Basis der empirischen Untersuchung von Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen der Jahre 1995 bis 2014 und unter Hinzunahme des Datensatzes von Georg Vanberg (2005) sieht er seine Vermutung bestätigt, dass eine mündliche Verhandlung als Legitimitätsreserve dient und die Bereitschaft der Richter zu einer inhaltlichen noncompliance steigert. Die Autoren Engst/ Gschwend/ Sternberg (2020) sind in einer weiteren Untersuchung der Frage nachgegangen, ob die Besetzung des Bundesverfassungsgerichts ein Spiegel gesellschaftlicher Präferenzen ist und zu dem Ergebnis gekommen, dass die „momentanen institutionellen Bedingungen (…) die Wahl von Verfassungsrichterinnen und -richtern in Deutschland bisher vor einer politisch-populistischen Dominanz“ schützen (Engst/ Gschwend/ Sternberg 2020: 57). Schließlich haben Engst, Gschwend, Schaks, Sternberg und Wittig (2017) den Versuch einer quantitativen Untersuchung zum Einfluss der Parteinähe auf das Verhalten der Bundesverfassungsrichter unternommen. Hierfür haben die Autoren Entscheidungen aus den Jahren 2005 bis 2016 ausgewertet und ein besonderes Augenmerk auf die veröffentlichten Sondervoten gelegt, da sich in diesen einzelne Richter – gelegentlich auch zwei oder mehrere gemeinsam – namentlich und dezidiert positionieren. Sie kommend zu dem Ergebnis, dass sich richterliches Verhalten zumindest nicht pauschal auf die politische Prägung zurückführen lassen kann. Ein Meilenstein der politikwissenschaftlichen Forschung zum Bundesverfassungsgericht ist die Untersuchung des internen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesses des Bundesverfassungsgerichts von Uwe Kranenpohl13 , der 13

Auf dessen ebenso akribische wie spezifische Auflistung des Forschungsstandes zum Bundesverfassungsgericht unter den Aspekten „Das Bundesverfassungsgericht zwischen Recht und Politik“, „Die politischen Funktionen des Bundesverfassungsgerichts“, „Politikwissenschaftliche Befunde zu Entstehungs- und Wirkungsbedingungen der Verfassungsrechtsprechung“, „Die Macht des Bundesverfassungsgerichts aus politikwissenschaftlicher Perspektive“ und „Entscheidungshintergründe“ sei hier verwiesen (Kranenpohl 2010: 21–40).

1.2 Stand der Forschung

11

hierfür fünfzehn amtierende und fünfzehn ehemalige Richter befragt hat. Manche Aspekte, der im Rahmen der Abhandlung zitierten Interviews mit ehemaligen und amtierenden Karlsruher Richtern14 , können wichtige Hinweise für die Beantwortung der hier aufgeworfenen Forschungsfrage liefern und sollen deshalb auch – in begrenztem Umfang – für deren Beantwortung herangezogen werden. In einigen Publikationen wurde die Untersuchung der Beziehung des Gerichts zu anderen Akteuren, wie der Regierung, der Opposition (Hönnige 2007), anderen Gerichten oder den Bürgern angeregt (Hönnige/ Gschwend 2010: 522). Unter dem provokanten Titel „Sind Verfassungsrichter rationale Trottel“ hat sich Thorsten Hüller (2014: 6) mit den Untersuchungen von Vanberg (2003 und 2005) und Hönnige (2007) auseinandergesetzt. Er moniert, den Verfassungsrichtern würde unterstellt, sie würden opportunistisch und populistisch agieren, „indem sie den Schulterschluss mit der öffentlichen Meinung suchen oder gar Parteipolitik machen“. Weniger die Empirie und die getesteten Theorien rufen seinen Widerspruch hervor, als vielmehr das den beiden rational choice-basierten Untersuchungen zugrundeliegende Richterbild, dem er widerspricht: „Angelpunkt ist nicht der interessensorientierte Richter, sondern Böckenfördes Vorstellung eines gemeinwohlorientierten Richters, der komplexe und damit auch normativ und empirisch unterbestimmte Rechtsfragen zu beurteilen hat“ (Hüller 2014: 16).

Zahlreiche Fragen zur Europäisierung des deutschen Rechts entbrannten in den vergangenen Jahren aufgrund Aufsehen erregender Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, in denen die Richter ihre Vorstellungen bzw. ihr Verständnis des Verhältnisses von deutschen Grundrechten zu europäischem Recht und von der Zuständigkeit deutscher und europäischer Institutionen darlegten. Davon inspiriert wurde auch die Frage erörtert, wie das Bundesverfassungsgericht im europäischen und internationalen Umfeld zu verorten (Wahl 2001) und wie der Einfluss des Bundesverfassungsgerichts in international vergleichender Perspektive zu bewerten ist – eine Frage, die mit der Formel „herausragend, aber nicht einzigartig“ (Kneip 2013: 89) beantwortet wurde. Diskutiert wurde weiterhin, ob Karlsruhe Europa „ausgeliefert“ (Krahnenpohl 2013: 103) sei, wobei die 14

Sofern in der vorliegenden Arbeit aus Gründen sprachlicher Varianz die Formulierung „die Richter in Karlsruhe“, „das Karlsruher Gericht“ oder verwandte Formulierungen verwendet werden, so sind damit immer die Richter am Bundesverfassungsgericht gemeint und nicht die Richter am Bundesgerichtshof, der seinen Sitz ebenfalls in Karlsruhe hat. Sollte auf den Bundesgerichtshof Bezug genommen werden, so würde dieser immer mit vollem Namen benannt werden, um Verwechslungen zwischen beiden Gerichten auszuschließen.

12

1

Das Bundesverfassungsgericht als Gegenstand der Forschung

vom Bundesverfassungsgericht gewählten Strategien kritisch gesehen wurden. Wegen des Beitritts der EU zur Europäischen Menschenrechtskonvention wird ein Bedeutungszuwachs der Europäischen Gerichtsbarkeiten erwartet. Die Entscheidungen zum Lissabon-Vertrag und zum Euro-Rettungsschirm wurden als Beleg dafür genommen, dass die Machtbalance zwischen Politik und verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung durch das Bundesverfassungsgericht gewahrt würde (Klotz 2012). Unter Zugrundelegung des Veto-Spieler-Ansatzes von Tsebelis haben Brouard und Hönnige (2017) in vergleichender Analyse das Bundesverfassungsgericht, den U.S. Supreme Court und den französischen Conseil constitutionnel untersucht. Uwe Kranenpohl ist in einem Beitrag erneut der Feststellung von Patzelt (2005), warum „die Deutschen Karlsruhe [lieben]“ (Kranenpohl 2009: 436), nachgegangen und identifiziert drei Quellen für das hohe Ansehen des Gerichts: Dies sind die Legitimation, die es als Symbol des Rechtsstaatsprinzips erhält, das apolitische Image des Gerichts und die „charismatische Legitimation“ durch die „Aura des Geheimnisvollen“ (Krahnenpohl 2009: 452), die allerdings – weil mit einem hohen Maß an Intransparenz verbunden – problematisch ist und eine sozialwissenschaftliche Untersuchung des Gerichts in zahlreichen entscheidenden Punkten erschwert oder ausschließt. Zwar wurden im Jahr 2017 Akten des Bundesverfassungsgerichts, die im Bundesarchiv in Koblenz aufbewahrt werden, interessierten Personen zugänglich gemacht, doch unterliegen die Prozessakten einer Sperrfrist von 30 Jahren und die Handakten der Richter, in denen deren Entwürfe und Voten enthalten sind, einer Sperrfrist von 60 Jahren (Darnstädt 2017). Das hat, wie der weitere Verlauf dieser Untersuchung zeigen wird, signifikante Auswirkungen auf die Möglichkeiten der sozialwissenschaftlichen Analyse des Verhaltens einzelner Richter. Kaum Aufmerksamkeit wurde bislang den Wissenschaftlichen Mitarbeitern am Bundesverfassungsgericht zuteil, die sich selbst als Dritten Senat (Lamprecht 2001: 420) bezeichnen. Die Politische Wissenschaft hat sich noch nicht mit ihnen, ihren Aufgaben und ihrem Wirken befasst. Die wenigen Beiträge zum Dritten Senat stammen aus juristischen Federn. Dort werden sie als „black box of research“ (Massing 2002: 209) bezeichnet, als Juristen, die sich „im Arkanum des Kammer-Gerichts“ (Zuck 2002: 287) bewegen. In den Publikationen wurde ihr Einfluss entweder pauschal als außer Frage stehend bedeutsam eingestuft (Zuck 2006: 290), ohne diesen Einfluss je genauer zu untersuchen, oder als weitestgehend marginal bezeichnet (Masing 2002: 209). Einigkeit besteht zumindest darin, dass die Zahl von etwa 5.000 bis 6.000 eingehenden Anträgen pro Jahr ohne die Hilfe der rund 64 Wissenschaftlichen Mitarbeiter in Karlsruhe nicht mehr zu

1.2 Stand der Forschung

13

bewältigen wäre. Rüdiger Zuck (2002: 288) geht so weit zu behaupten, in vielen Fällen würde der die Entscheidung unterzeichnende Richter lediglich das Votum seines Mitarbeiters, nicht aber den Inhalt der dem Fall zugrundeliegenden Akte kennen. Das lässt vermuten, dass hier eine potentielle Einflussmöglichkeit auf die Rechtsprechung bestehen könnte. Ein ehemaliger Wissenschaftlicher Mitarbeiter moniert die wenig transparente Auswahl der Mitglieder des Dritten Senats, die unausgewogene regionale Verteilung und lässt die Einflussmöglichkeiten der Wissenschaftlichen Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht erahnen (Hiéramente 2020). Ebenfalls an der hohen Zahl der Verfahrenseingänge setzt die Untersuchung von Engel (2017) an, der zu dem Schluss kommt, dass das Bundesverfassungsgericht – in Ermangelung eines freien Annahmeverfahrens – eine Sammlung an Maßnahmen geschaffen hat, wie mit der hohen Zahl umgegangen, wie Verfahren kanalisiert und wie Ressourcen sinnvoll verwendet werden können. Die Rechtssoziologie15 sieht im Bundesverfassungsgericht bedauerlicherweise keinen bevorzugten Gegenstand der Forschung (Hesse 2006: 87). Ältere Untersuchungen aus den 1960er und 1970er Jahren hatten sich mit der Frage befasst, welchen Einfluss die Herkunft von Richtern generell – also nicht nur der Richter an obersten Bundesgerichten – auf deren richterliche Entscheidungen hat16 , ohne zu signifikanten Ergebnissen zu gelangen. Thomas Gawron und Ralf Rogowski (2007) legen in ihrer Monographie eine rechtssoziologische Wirkungsanalyse der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vor. Sie beleuchten in ihrer Arbeit den Einfluss der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf fünf von ihnen definierte Adressatenfelder, nämlich Gerichte, Gesetzgeber, Verwaltung, Verbände/ Parteien und Unternehmen/ Privatpersonen. Die Einflüsse, denen das Gericht selbst ausgesetzt ist, waren nicht Gegenstand der Untersuchung.

1.2.2

Forschungsstand zum U.S. Supreme Court

Ebenso wie bei der Darstellung des Forschungsstandes zum Bundesverfassungsgericht wird im Folgenden auf eine Bestandsaufnahme der rechtswissenschaftlichen Literatur, die sich in juristischer Betrachtungsweise mit dem U.S. Supreme Court auseinandersetzt, auf Lehrbücher zum Verfassungsrecht17 und 15

Zur Einführung hier: Struck 2011. Vgl. Feest 1964, Riegel/ Werle/ Wildenmann 1974 und Werle 1977. 17 Obgleich dem deutschen Leser mit Interesse am Verfassungsrecht und der Verfassungsgerichtsbarkeit der USA die Studien von Winfried Brugger (Brugger 1987 und 2001) eine 16

14

1

Das Bundesverfassungsgericht als Gegenstand der Forschung

auf Kommentarliteratur (abgesehen von dem Kommentar zur US-Verfassung des Congressional Research Service der Library of Congress, Killian/ Costello/ Thomas 2004) verzichtet. Auch auf deskriptive Beschreibungen einzelner Courts18 oder Richter19 soll nicht weiter eingegangen werden. Anders als in Deutschland vorstellbar, stoßen manche populärwissenschaftlichen Darstellungen des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten auf breites öffentliches Interesse und können den Status eines Bestsellers mit entsprechender Auflage erreichen20 . Zudem gibt es Studien, die sich mit den Spezifika und den policies einzelner Courts in ausgewählten Bereichen befassen21 , die jedoch keinen relevanten Bezug zur Forschungsfrage aufweisen.

1.2.2.1 Literatur zum Vergleich von Bundesverfassungsgericht und U.S. Supreme Court In der Literatur, die sich mit dem Bundesverfassungsgericht und dem U.S. Supreme Court aus vergleichender Perspektive befasst, findet sich eine überschaubare Zahl an Monographien und Aufsätzen22 . Marcel Kau hat im Rahmen seiner Dissertation (Kau 2007) untersucht, welchen vorbildhaften Einfluss der U.S. Supreme Court in institutioneller Hinsicht auf die Errichtung des Bundesverfassungsgerichts hatte. Unter Einflüssen versteht er nicht notwendigerweise die

interessante Lektüre wären (auch und gewissermaßen als Pionier: Loewenstein 1959). Zu den prominentesten englischsprachigen Darstellungen zählen: Epstein/ Walker (2010), Baum (2010), Hall (2005), Stern/ Gressman/ Shapiro (1986), Meese (2005), Epstein/ Walker (2004), Murphy/ Pritchett/ Epstein/ Knight (2006), Emanuel (2004), Barron/ Dienes (2003), Nowak/ Rotunda (2007), Kommers/ Finn/ Jacobsohn (2004), Fisher/Harriger (2009) und Ivers (2002). Hilfreiche Fallsammlungen bzw. nach Jahrgang der Entscheidung oder Topos geordnete Fallsammlungen sind: Pilon/ Shapiro/ Levy/ Lynch (2010), O’Brian (2008), Hall (1999), Hartman/ Mersky/ Tate (2007); unabdingbar zum Verständnis der englischsprachigen Darstellungen ist Black’s Law Dictionary (Garner 2004). 18 Die verschiedenen Zeitabschnitte einer Ära am U.S. Supreme Court werden in den USA nach dem Namen des Vorsitzenden Richters benannt, so etwa der Burger Court (Lamp/ Halpern 1991), der Rehnquist oder Warren Court. 19 Vgl. Lamb/ Swain/ Farkas 2010. 20 So etwa das Buch von Jeffrey Toobin mit dem prägnanten Titel: The Nine. Inside the Secret World of the Supreme Court (Toobin 2007), die Monographien des ehemaligen Chief Justice William H. Rehnquist (Rehnquist 1987 und 2002) oder Rosen (2006). 21 So etwa „Explaining the Burger Court’s Support for Civil Liberties“ (Baum 1987), “Comparing the Policy Positions of Supreme Court Justices from Different Periods” (Baum 1988) oder auch Dorff/Brenner 1992, Malzman/ Wahlbeck 1996 und Spriggs 1996. 22 So etwa Bornkamm 2004, Finck 1997, Häberle 2006, Katz 1954, Knechtle 2000, Morris 1987, Pünder 2009, von Hoff 2007 und Wieland 1990.

1.2 Stand der Forschung

15

vollständige oder weitgehende Übernahme von Normen oder Organisationsstrukturen, sondern auch das Phänomen, dass „die letztlich verabschiedeten Regelungen in Auseinandersetzung mit den Vorschriften oder Befugnissen eines anderen Verfassungsmodells erarbeitet wurden, ohne dass die betreffenden Bestimmungen danach in die neue Verfassung eingegangen sind“ (Kau 2007: 3). Aus ähnlicher Perspektive – nämlich als inspirierendes Vorbild – wird der Supreme Court auch im Kontext der von der Benda-Kommission23 durchgeführten Untersuchung zur Entlastung des Bundesverfassungsgerichts von der immer größer werdenden Zahl jährlicher Verfahrenseingänge24 betrachtet. Ebenfalls hilfreich für das Verständnis von organisatorischen Ähnlichkeiten und Unterschieden zwischen beiden Gerichten ist der Sammelband von Ralf Rogowski und Thomas Gawaron (Rogowski/ Gawaron 2002). In der juristischen Literatur finden sich einige Dissertationen, die Bundesverfassungsgericht und U.S. Supreme Court vergleichend erörtern und dabei Aspekte aufgreifen, die auch für eine politikwissenschaftliche Untersuchung von Interesse sind. So etwa die Frage nach selbst entwickelten Grenzen in der Rechtsprechung beider Gerichte unter der besonderen Berücksichtigung der political question doctrine25 oder des judicial self-restraint26 in den USA, die auch im Zusammenhang mit dem Agieren des Bundesverfassungsgerichts in der deutschen Diskussion Beachtung finden (Rau 1996). Die Frage, wie unter Heranziehung von Forschungserkenntnissen zum U.S. Supreme Court mögliche Einflussfaktoren auf das Entscheidungsverhalten des Bundesverfassungsgerichts untersucht werden können, wurde bislang noch nicht umfassend betrachtet.

23

Vgl. Bericht der Kommission „Entlastung des Bundesverfassungsgerichts“, Herausgegeben vom Bundesministerium der Justiz im Jahre 1997 und Benda/ Klein 2001, S. 148 ff. 24 Mit der gleichen Frage befasst sich auch die Dissertation von Zeno Anzenberger (Anzenberger 1998). 25 Der U.S. Supreme Court lehnt die Entscheidung von political questions ab, wobei hierunter nicht Fragen zu verstehen sind, die politisch bedeutsam oder umstritten sind, sondern vielmehr solche Fälle, in denen der U.S. Supreme Court aus Gründen des Verfassungsrechts oder aus funktionellen oder pragmatischen Erwägungen keine Entscheidung trifft, sondern diese dem Kongress oder dem Präsidenten zuweist (Brugger 2001: 21). 26 Unter judicial self-restraint wird das Postulat richterlicher Zurückhaltung verstanden, das mit der Vorstellung verbunden ist, Richter sollten sich auf die Rechtsanwendung beschränken und nicht ihre verfassungsrechtlichen Vorstellungen im Wege der Verfassungsauslegung und -interpretation an die Stelle des Verfassungstextes setzen (Rau 1996: 126).

16

1

Das Bundesverfassungsgericht als Gegenstand der Forschung

1.2.2.2 Sozialwissenschaftliche Literatur zum U.S. Supreme Court Die in den vergangenen achtzig Jahren entstandene sozialwissenschaftliche Literatur zum U.S. Supreme Court scheint bei erster Betrachtung von geradezu undurchdringlicher Fülle zu sein. Bislang gibt es noch keine Kategorisierung der vorhandenen Forschung jenseits der sehr rudimentären Einteilung in Literatur bzw. Modelle, die sich mit rechtlichen Einflussfaktoren auf die Rechtsprechung, und solchen, die sich mit extralegalen Einflüssen befassen27 . Auch die von der Autorin gewählte Differenzierung zwischen internen und externen Faktoren wird an ihre Grenzen stoßen, da in Einzelfällen eine trennscharfe Zuordnung der Faktoren nicht möglich sein wird. Dennoch soll sich der folgende Überblick – nach der Darstellung des Forschungsstands zu Modellen und Strategien – an der Kategorisierung nach internen und externen Einflüssen orientieren und innerhalb dieser Einteilung nach den sich aus der zugrundeliegenden Fragestellung ergebenden Topoi angeordnet werden. Der überwiegende Teil der Literatur widmet sich einzelnen Einflussfaktoren (wie etwa der Öffentlichkeit, Lobby-Gruppen, Präzedenzfällen oder richterlichen Policy-Präferenzen), Teilaspekten von Einflussfaktoren auf die Rechtsprechung oberster Verfassungsgerichte (z. B. die Unterstützung des Supreme Court durch Afro-Amerikaner, Gibson/ Caldeira 1992) oder den Auswirkungen des Zusammentreffens mehrerer unterschiedlicher Faktoren.

1.2.2.2.1 Externe Einflussfaktoren auf die Rechtsprechung am U.S. Supreme Court Von den Faktoren, die von außen auf den U.S. Supreme Court als Gesamtheit oder auch auf den einzelnen Richter bei der Entscheidungsfindung einwirken, wurde der Einfluss der öffentlichen Meinung am umfangreichsten erforscht28 . Empirische Untersuchungen widmen sich beispielsweise den Fragen, ob und inwieweit 27

Vgl. auch Interview mit Georg Vanberg vom Januar 2011. Die von Christoph Hönnige im Rahmen der Aufarbeitung des Forschungsstandes bei seiner Dissertation vorgenommene Differenzierung in Attitudinalists, Rational Chioce/ Strategische Ansätze und Soziologische/ Historische Ansätze vermag nicht zu überzeugen, weil sich diesen Kategorien nur ein geringer Teil der existierenden Forschung zuordnen lässt, der wesentlich größere Teil der Modelle zur Erklärung von Einflüssen auf höchstrichterliches Verhalten so aber unberücksichtigt bliebe (Hönnige 2007: 30 f.). 28 Vgl. Baum 2006, Caldeira 1986 und 1987, Caldeira/ Gibson 1992, Gibson/ Caldeira/ Kneyatta 2003a und 2003b, Handberg/ Maddox 1992, Hetherington/ Smith 2007, Mishler/ Sheehan 1994 und 1996, McGuire/ Stimson 2004, Page/ Shapiro/ Dempsey 1987, Peters 2007, Stimson/ MacKuen/ Erikson 1995, Hoekstra 2003 und Tannhaus/ Murphy 1981.

1.2 Stand der Forschung

17

sich die neun Richter durch die öffentliche Meinung in ihren Entscheidungen beeinflussen lassen (u. a. Mishler 1994, Caldeira 1987, Caldeira/ Gibson 1992), und ob und inwieweit die ideologische Ausrichtung getroffener Entscheidungen Auswirkungen auf die Zustimmung und Unterstützung der Bevölkerung für den Supreme Court hat (Hetherington/ Smith 2007). So konnte in einer Untersuchung der Daten aus den Jahren 1956 bis 1996 nachgewiesen werden, dass die Richter – neben dem Wunsch nach der Durchsetzung ihrer eigenen Policy-Präferenzen – bei ihren Entscheidungen in höchstem Maße responsiv auf die öffentliche Meinung reagieren und sich von dieser bei ihren Entscheidungen leiten lassen (McGuire/ Stimson 2004). Auf dieser Forschung aufbauend wurde eine Theorie der Interaktion von Judikative und Legislative entworfen, die das Maß der öffentlichen Unterstützung für die eine oder andere Gewalt als zentralen Einflussfaktor identifiziert (Nelson/ McGuire 2017). Die öffentliche Meinung in den USA wird wiederum stark von den Medien, insbesondere von Nachrichtenkommentatoren, im Fernsehen auftretenden Experten und von populären Präsidenten beeinflusst (nicht aber von unpopulären Präsidenten oder speziellen Interessengruppen, vgl. Page/ Shapiro/ Dempsey 1987). Es bestehen – in entgegengesetzter Richtung und beim Vorliegen bestimmter Bedingungen – allerdings auch Einflussmöglichkeiten der Richter auf die öffentliche Meinung29 . Einen weiteren signifikanten Einfluss auf die Rechtsprechung des U.S. Supreme Court stellen die inhaltlichen Präferenzen des Präsidenten und des Kongresses dar30 . Der Einfluss des Präsidenten auf den U.S. Supreme Court ist in mehrfacher Hinsicht maßgeblich: Neben seinen Policy-Präferenzen kann er vor allem durch sein Vorschlagsrecht bei der Berufung neuer Richter die ideologische Ausrichtung des Supreme Court bestimmen31 . Die Strategie von Präsidenten ist hier eine langfristige: Mit der Berufung von Richtern auf Lebenszeit, deren politische Präferenzen und moralische Wertvorstellungen mit denen des berufenden Präsidenten und dessen Partei übereinstimmen, soll der Grundstein für eine Doktrin des U.S. Supreme Court gelegt werden (Gellner/ Kleiber 2007: 121). Um die Gefahr zu umgehen, der Außenpolitik des Präsidenten inhaltlich zuwiderzulaufen, befasst sich der Supreme Court äußerst selten mit außenpolitischen Fragen, und 29

Vgl. Stoutenborough/ Haider-Markel/ Allen 2006. Vgl. Bergara/ Richman/ Spiller 2003; zu einem gegenteiligen Ergebnis gelangend: Segal 1997. Zum generellen Verhältnis von Parlament und Verfassungsgericht: Stone Sweet 2002. 31 Vgl. Gellner/ Kleiber 2007: 120 ff.; Fraenkel 1981, Heun 2007: 240, Shell 2007: 121 und Whitmeyer 2006. 30

18

1

Das Bundesverfassungsgericht als Gegenstand der Forschung

stärkt – falls eine solche Entscheidung unumgänglich erscheint – dem Präsidenten in der großen Mehrheit der Fälle den Rücken (King/ Meernik 1999). Das Verhältnis von Legislative und U.S. Supreme Court wurde unter anderem dahingehend untersucht, inwiefern Versuche der Legislative, mit ihrer Gesetzgebung den Spielraum des Gerichts einzudämmen, erfolgreich sein können (Mark/ Zillis 2019). Der solicitor general32 , der hinsichtlich der ihm übertragenen Aufgaben mit dem Generalbundesanwalt verglichen werden kann, ist ein weiterer wichtiger Akteur und eine weitere indirekte Möglichkeit des Präsidenten, Einfluss auf den Supreme Court zu nehmen (Epstein/ Walker 2010: 39). Der solicitor general ist derjenige, der die Regierung in Verfahren vor dem Supreme Court vertritt (und gelegentlich auch als „der zehnte Richter“33 bezeichnet wird), und dies mit einer überragend hohen Annahmequote von 70 bis 80 Prozent der von ihm eingereichten Verfahren34 . Hierbei ist es unerheblich, ob er in einem Verfahren als Bevollmächtigter der Vereinigten Staaten agiert, oder ob er sich indirekt durch das Einreichen eines so genannten amicus curiae briefs35 beteiligt. Für die hohe Annahmequote seiner Anträge und die hohe Quote der Berücksichtigung seiner amicus curiae briefs werden seitens der Wissenschaft mehrere erklärende Faktoren genannt: Zum einen wird vermutet, dass die Richter um die Sanktionsmöglichkeiten der Exekutive wissen und deshalb den solicitor general in einem Verfahren anhören, um die Position der Regierung im zu entscheidenden Fall zu erfahren (Johnson 2003). Zum anderen verlassen sich die Richter in gewisser Weise auf die Expertise des solicitor general und sehen diesen als geeigneten Filter, da sie unterstellen, dass er sich nur in bedeutsamen Verfahren engagieren wird (Epstein/ Walker 2010: 17). Schließlich haben der solicitor general und seine Mitarbeiter durch die häufige Beteiligung an Verfahren vor dem Supreme Court die größte Routine im Verfassen qualitativ hochwertiger Anträge, was sich positiv auf deren Annahmewahrscheinlichkeit auswirkt (Epstein/ Walker 2010: 17). 32

Vgl. Rebecca Mae Salokar (1992): The Solicitor General. The Politics of Law. Philadelphia. 33 So etwa im Beitrag von Bailey/ Kamoie/ Maltzman 2005. 34 Im Vergleich dazu liegt die Annahmequote von Anträgen am U.S. Supreme Court – ähnlich dem Bundesverfassungsgericht – generell im Promille-Bereich, vgl. Epstein/ Walker 2010: 17. 35 Der lateinische Begriff amicus curiae (Übersetzt handelt es sich um einen „Freund des Gerichts“) beschreibt das Phänomen, dass eine außenstehende Person oder Gruppe, die nicht Partei eines Verfahrens ist, aus eigener Initiative oder auf Bitten des Gerichts hin eine eigene inhaltliche Stellungnahme in einem Verfahren abgibt, an dem diejenige ein persönliches Interesse hat, vgl. Garner 2004.

1.2 Stand der Forschung

19

Amicus curiae briefs haben einen besonders großen Einfluss auf den Inhalt einer Entscheidung, wenn die Richter grundsätzlich mit der Position der einreichenden Gruppe sympathisieren und in ihnen neue und unerwartete Argumente genannt werden (Manzi/ Hall 2017). Zu weiteren Einflüssen von außen zählen Lobbygruppen, die ihre Klientel und eigene Policy-Ziele sowohl in der Politik als auch vor Gerichten offensiv und bisweilen auch aggressiv verfolgen. In Bürgerrechtsfragen sind beispielsweise die American Civil Liberties Union (ACLU) (Sears/ Osten 2005) und die National Association for the Advancement of Coloured People (NAACP) häufig Parteien in Verfahren vor dem U.S. Supreme Court. Auch wenn diese Gruppen in einem Verfahren nicht den Status einer Verfahrenspartei besitzen, können sie sich durch die Übermittlung eines amicus curiae briefs beteiligen und versuchen, inhaltlich Einfluss zu nehmen36 . Es besteht ein Zusammenhang zwischen der Wahrscheinlichkeit, dass der U.S. Supreme Court einen Antrag zur Entscheidung annimmt und dem Vorhandensein bzw. der Anzahl eingereichter amicus curiae briefs, die vor der Entscheidung über die Annahme bei Gericht eingehen. Je größer die amicus curiae Beteiligung in einem Verfahren ist, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Supreme Court das Verfahren zur Entscheidung annimmt (Caldeira/ Wright 1988). Zudem besteht ein Zusammenhang zwischen den in den briefs vorgetragenen Argumenten und dem Inhalt der gerichtlichen Entscheidung (Collins 2004), wobei die Interessengruppen mit Erfolg zu einer taktischen Vorgehensweise tendieren und ihre Informationen in Form von amicus curiae briefs bevorzugt in solchen Verfahren anbieten, in denen die Informationslage der Richter besonders spärlich ist (Hansford 2004). Diese lange vermuteten Zusammenhänge zwischen den Policy-Präferenzen großer Interessengruppen und der inhaltlichen Ausrichtung der Rechtsprechung des Supreme Court werden mittlerweile kritisch betrachtet und die methodischen Präferenzen der Richter – neben deren gegenläufigen inhaltlichen Vorstellungen – als erklärender Faktor in den Vordergrund gestellt (Fischman 2015). Auch die Qualität der von den Parteien eingereichten schriftlichen Anträge hat Auswirkungen auf den Entscheidungsinhalt. So konnte mittels des Einsatzes von Plagiatssuche-Software nachgewiesen werden, dass besonders gute Argumente und Formulierungen aus den Anträgen in den Urteilstext des Gerichts übernommen wurden37 . Auch der mündliche Vortrag des Anwalts beeinflusst die Richtung der Entscheidung. Zwar werden in den Verfahren vor dem Supreme Court 36

Zu den verschiedenen Gruppen und dem Umfang ihres Einflusses vgl. Caldeira/ Wright 1990a. 37 Vgl. Corley 2008 und Wedeking 2010.

20

1

Das Bundesverfassungsgericht als Gegenstand der Forschung

sämtliche, ein Verfahren betreffende Unterlagen mit dem eigentlichen Antrag eingereicht, so dass es in der mündlichen Verhandlung selten einen neuen Sachvortrag gibt. Dennoch wächst die Wahrscheinlichkeit vor dem Supreme Court Recht zu bekommen signifikant mit der Qualität des anwaltlichen Vortrags und der Güte der vorgebrachten Argumente (Johnson/ Wahlbeck/ Spriggs 2006). Und obgleich Justitia neben der Waage und dem Schwert stets als Zeichen ihrer Objektivität und Unparteilichkeit mit verbundenen Augen dargestellt wird, konnte der Nachweis geführt werden, dass es in Verfahren vor dem U.S. Supreme Court verschiedene Gruppen von Klägern gibt und sich deren Erfolgsquoten stark voneinander unterscheiden (Sheehan/ Mishler 1992). Auch konnten Epstein, Landes und Posner (2010) den Nachweis erbringen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass eine Partei das Verfahren verlieren wird, umso größer ist, je öfter die Richter an deren Anwalt in der mündlichen Verhandlung Fragen richten und je länger (gemessen in Worten pro Frage) diese Fragen sind.

1.2.2.2.2 Interne Einflussfaktoren auf die Rechtsprechung am U.S. Supreme Court Zu den internen Faktoren, die die Rechtsprechung und die Entscheidungsfindung der Richter am U.S. Supreme Court potentiell beeinflussen können, gibt es einen umfangreichen Fundus an Literatur. Bei diesen Faktoren kann es sich um juristische Doktrinen, tatsächliche Gegebenheiten (wie etwa die Zahl der eingegangenen Verfahren), informelle Übereinkünfte oder individuelles Vorgehen (etwa beim strategic voting) handeln. Da beim U.S. Supreme Court jährlich etwa 10.000 Anträge eingereicht werden, liegt ein Interessenschwerpunkt wissenschaftlicher Untersuchungen auf den Kriterien, nach denen die Richter die weniger als einhundert Fälle, die sie nach freiem Ermessen auswählen können, zur Entscheidung annehmen38 . Hinsichtlich der Auswahl der anzunehmenden Fälle gilt: The judges „[are] setting the nation’s legal agenda“39 . Die Möglichkeiten eines durch den U.S. Supreme Court betriebenen agenda setting sind inhaltlich lediglich begrenzt durch die vor das Gericht gebrachten Sachverhalte. Es wird diskutiert, ob die Richter nicht sogar mittelbar – durch ihre Entscheidungen und die von ihnen zur Entscheidung angenommenen 38

Auf die stetig steigende Anzahl von Verfahrenseingängen am U.S. Supreme Court hat der US-Kongress reagiert, indem er in den Jahren von 1891 bis 1988 sukzessive die verpflichtende Annahme von Verfahren in eine Annahme nach freiem Ermessen der Richter umgewandelt hat (Jucewicz/ Baum 1990). 39 Vgl. Perry 1991 und Epstein/ Segal/ Spaeth (2020): Setting the Nation’s Legal Agenda: Case Selection on the U.S. Supreme Court.

1.2 Stand der Forschung

21

Anträge – Einfluss darauf nehmen können, welche Anträge eingereicht werden und welche nicht (Baird 2004). Einen ersten Filter bei der Auswahl stellt die so genannte discuss list dar, auf die etwa 20 bis 30 Prozent der Anträge gelangen. Bei der Auswahl spielen formelle und informelle Kriterien eine Rolle, etwaige amicus curiae briefs und die aktuelle ideologische Ausrichtung des Gerichts40 . Welche Faktoren Einfluss auf die Auswahl der Fälle haben, wird unter anderem mit dem Konzept der issue salience diskutiert. Hier wird davon ausgegangen, dass prominente Themen leichter die Aufmerksamkeit der Richter gewinnen werden können, als diejenigen, die zum Zeitpunkt der Auswahl weniger relevant oder aktuell erscheinen, wobei die Aufmerksamkeit, die die Medien bestimmten Topoi widmen, ein geeigneter Gradmesser für deren Prominenz sein kann (Epstein/ Segal 2000). Weitere Untersuchungen haben ergeben, dass die Richter bei Sachverhalten mit geringer issue salience deutlich mehr auf die Argumente eingehen, die von den beteiligten Anwälten vor und während der mündlichen Verhandlung vorgebracht werden (McAtee/ McGuire 2007). Je bedeutsamer ein Themenkreis ist, umso ausgeprägter sind die richterlichen Policy-Präferenzen und umso weniger gehen sie in ihrer Entscheidung auf den anwaltlichen Sachvortrag ein. Jüngere Forschung bemüht sich darum, mit dem Konzept der so genannten latenten Salienz die Messung der Salienz über die punktuelle mediale Aufmerksamkeit für eine Entscheidung im Zeitpunkt deren Verkündung hinaus zu messen und auch bereits davor vorhandene Informationen einzubeziehen (Clark/ Lax/ Rice 2015). Bei der Bearbeitung der großen Anzahl an Verfahrenseingängen wird jeder Richter von wissenschaftlichen Mitarbeitern – so genannten law clerks – unterstützt. Ihnen kommt beim Verfassen von bewertenden Zusammenfassungen zu eingereichten Anträgen ein nicht unwesentlicher Einfluss zu, da sich der Richter in der Regel – soweit es sich nicht um einen Fall von überragender Bedeutung handelt – auf die Einschätzung seines Mitarbeiters verlassen wird. In der Forschung wurde eine zunehmende ideologische Polarisierung konstatiert, da sich die Richter vermehrt solche Mitarbeiter suchen, die ihre politischen Einstellungen und ideologischen Präferenzen teilen (Ditslear/ Baum 2001). Die neuere Forschung zum U.S. Supreme Court entdeckte die law clerks als Forschungsgegenstand, betrachtet sie als eine wichtige Informationsquelle – und damit als Einfluss auf die Richtung der Entscheidung der neun Richter – und weist ihnen zwei zentrale Rollen zu: Als Zeit-Sparer und als Berater des Richters, dem sie zugewiesen sind (Kromphardt 2015).

40

Vgl. Caldeira/ Wright 1990 und Caldeira 1981.

22

1

Das Bundesverfassungsgericht als Gegenstand der Forschung

Wenn ein Sachverhalt zur Entscheidung vorliegt, stellt die Doktrin des stare decisis eine relative Schranke richterlicher Entscheidungsfreiheit dar. Hinter dem Begriff stare decisis steht das Gebot, dass Richter an die Inhalte früher getroffener Entscheidungen (precedent41 ) gebunden sind, wenn in einem aktuell anhängigen Verfahren Aspekte entscheidungserheblich sind, über die in vorangegangenen Verfahren schon entschieden wurde42 . Da dieses Gebot nicht absolut ist, wurde untersucht, unter welchen Voraussetzungen eine inhaltliche Abkehr von früheren Entscheidungen stattfindet. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn zwischen der ideologischen Zusammensetzung der amtierenden Richterschaft und der ideologischen Ausrichtung der Richterschaft zu Zeiten der Präzedenzentscheidung ein großer Unterschied besteht (Spriggs/ Hansford 2001). Wollen Richter einer Entscheidung ein besonders großes Gewicht verleihen, nehmen sie verstärkt Bezug auf vorangegangene Entscheidungen und versuchen auf diese Weise ihrem eigenen Judikat eine zusätzliche Rechtfertigung zu geben (Spriggs/ Hansford 2002). Die Frage, ob und inwieweit bestimmte Aspekte eines aktuell anhängigen Verfahrens bereits entschiedenen Sachverhalten ähneln, eröffnet den Richtern einen weiten Interpretationsspielraum. Anhänger des legal model sehen sich in ihrer Betrachtungsweise bestätigt, da Präzedenzfälle zu den rechtlichen Aspekten der Entscheidungsfindung zählen (Brenner/ Stier 1996). Empirische Untersuchungen kamen zu einem differenzierten Ergebnis (Segal/ Spaeth 1996a und 1996b). Richter fühlen sich dann nicht an vorangegangene Entscheidungen gebunden, wenn sie inhaltlich nicht mit diesen übereinstimmen. Unumstritten ist zumindest, dass es sich bei stare decisis um ein Konzept handelt, das strukturierenden Einfluss auf richterliche Entscheidungen entfalten kann (Knight/ Epstein 1996). Neben den Präzedenzfällen beeinflussen sich die neun Richter am Supreme Court auch untereinander – so genannter collegial influence43 –, wobei von einem Wechsel in der Besetzung des Gerichts – in der Literatur diskutiert unter dem Stichwort membership change – der größte Einfluss ausgeht. Empirische Untersuchungen ergaben, dass sich durch einen Wechsel in der Zusammensetzung der Informationsfluss innerhalb des Spruchkörpers verändert und langfristige kollegiale Koalitionen ebenso einem Wandel unterworfen sind wie kurzfristige strategische Kalkulationen einzelner Richter (Meinke/ Scott 2007). Membership 41

Zu Präzedenzfällen und ihrer Bedeutung für die richterliche Entscheidungsfindung am U.S. Supreme Court vgl. auch Lim 2000, Schwartz 1992, Hansford/ Spriggs 2006 und Spaeth/ Segal 1999. 42 Vgl. Black’s Law Dictionary, Garner 2004. 43 Für den Einfluss von Kollegialität an den United States Courts of Appeals vgl. Edwards 2003.

1.2 Stand der Forschung

23

change ist einer der Hauptgründe für einen grundlegenden Wandel im Abstimmungsverhalten der Richter am U.S. Supreme Court (Baum 1992). Zum eben erörterten Prinzip des stare decisis besteht insofern ein Bezug, als sich neue Richter erst stark an diese Doktrin gebunden fühlen und diese Bindung dann mit zunehmender Amtsdauer nachlässt (Hurwitz/ Stefko 2004). Welche Ziele verfolgen nun die Richter, wenn sie sich zur Annahme eines Falles entschlossen haben, bei dessen weiterer Bearbeitung? Wie und wann kommen ihre persönlichen Anschauungen und politischen Überzeugungen zum Ausdruck? Und unterliegen diese Überzeugungen während der sich oft über mehrere Jahrzehnte erstreckenden Amtszeit einem Wandel? Lawrence Baum hat potentielle richterliche Ziele in Abbildung 1.1 zusammengefasst.

Eine „unvollständige Typologie richterlicher Ziele“ nach Lawrence Baum I.

Inhalt der Entscheidungen Inhalte der Politik konsistent zu den richterlichen Politikpräferenzen gestalten Genauigkeit, Klarheit und Konsistenz in der Rechtsinterpretation erreichen II. Leben am Gericht Harmonie mit den Kollegen und anderen Mitwirkenden am Gericht Sicherung des Einflusses innerhalb des Gerichts Begrenzung der Arbeitslast Maximierung des richterlichen Einkommens und der gerichtlichen Ressourcen III. Karriere Beibehalten der aktuellen Richterposition Aufstieg an ein höheres Gericht (nicht von Relevanz für Richter am U.S. Supreme Court) Erlangen attraktiver nicht-richterlicher Positionen IV. Persönliche Reputation Zuspruch und Bekanntheit in der rechtswissenschaftlichen Community Zuspruch und Bekanntheit im gesamten Umfeld Selbstachtung Abbildung 1.1 Typologie richterlicher Ziele. (Quelle: Abbildung nach Baum 1994: 752, eigene Übersetzung)

Die Forschung zum Supreme Court konzentriert sich auf die Richter und ihre Interaktion mit ihren Kollegen und der Öffentlichkeit, auf ihre juristische

24

1

Das Bundesverfassungsgericht als Gegenstand der Forschung

Ausrichtung und ihre Wertvorstellungen im Allgemeinen44 sowie ihre Ambitionen und Rollenvorstellungen45 . Möglich ist dies, weil – anders als im Falle des Bundesverfassungsgerichts – neben vielen anderen Aspekten die Ergebnisse der Abstimmung über die Annahme eines Falles, die Zwischenabstimmungen in den Sitzungen der Richter und das abschließende Votum jedes Richters über Dekaden dokumentiert sind. Erst das macht Forschung zu jedem einzelnen Richter und zu dessen Entscheidungsverhalten möglich46 , wobei die Einteilung der Richter nach ihren ideologischen Präferenzen auf einer Skala, die sich zwischen den Polen „konservativ“ und „moderat“ bewegt, auch einer erneuten Überprüfung standgehalten hat (Epstein/ Landes/ Posner 2013 und 2015). Darüber hinaus konnte nachgewiesen werden, dass sich die richterlichen Präferenzen und damit verbunden ihr Abstimmungsverhalten im Laufe der Amtszeit ändern können (Epstein/ Hoekstra/ Segal/ Spaeth 1998). „To date, most scholars have assumed that the policy positions of Supreme Court justices remain consistent throughout the course of their careers and most measures of judicial ideology – such as Segal and Cover scores – are time invariant. […] However, it is also possible that the worldviews, and thus the policy positions, of justices evolve through the course of their careers. In this article we use a Bayesian dynamic ideal point model to investigate preference change on the U.S. Supreme Court. […] The results are striking – 14 of these 16 judges exhibit significant preference change“ (Martin/ Quinn 2007: 365).

Neben dem Einstellungswandel des einzelnen Richters wurden zudem inhaltliche Änderungen der Rechtsprechung des gesamten Gerichts und hier insbesondere die Fragen der Konzeptionalisierung und Messung von inhaltlichem Wandel untersucht47 . Welchem Richter die Aufgabe zufällt, in einem Verfahren das Mehrheitsvotum zu verfassen (opinion assignment), bestimmt der Vorsitzende Richter, der chief justice. Dieses Recht gehört zu seinen Privilegien, womit er über eine bedeutsame Möglichkeit des mittelbaren agenda setting verfügt (Maltzman/ Wahlbeck

44

Vgl. zum Einfluss der richterlichen Wertvorstellungen auf die Entscheidungsfindung und das Abstimmungsverhalten Songer/ Lindquist 1996 und Segal/ Epstein/ Cameron/ Spaeth 1995. 45 Hier kommen vor allem die Rollenvorstellungen der Richter in Betracht, die einen Rückschluss auf das richterliche Verhalten und seine Anschauungen erlauben, vgl. Gibson 1978. 46 Vgl. für viele: Helmke/ Sanders 2006, Grossman 1968, Baum 1994. 47 Vgl. Baum 1988, McGuire/ Vanberg/ Smith/ Caldeira 2009 und Segal 1985. Zum Einfluss von legal change auf judicial politics vgl. Wahlbeck 1997.

1.2 Stand der Forschung

25

2004). Dabei wird er im Wesentlichen von zwei Überlegungen geleitet: Welcher Richter wird ein Votum verfassen, dessen Inhalt von der Mehrheit der Richterkollegen – jenseits kleinerer Änderungswünsche – mitgetragen werden wird (Wahlbeck 2006)? Und mit welcher Auswahl wird der chief justice organisatorischen Gegebenheiten und Notwendigkeiten gerecht (Maltzman/ Wahlbeck 1996)? Über den Inhalt des Mehrheitsvotums wird in mehreren Sitzungen der Richter verhandelt48 , in denen außer ihnen niemand zugegen sein darf. Generell wird davon ausgegangen, dass der Richter, der das Votum verfasst, Einfluss auf dessen Inhalt nehmen kann. Konkurrierend dazu gibt es aber auch die Figur des so genannten median justice49 , an dessen Policy-Position sich der Inhalt einer Entscheidung ausrichtet: „Once the median is proposed, no other proposal will beat it, and it becomes the outcome“ (Bonneau/ Hammond/ Maltzman/ Wahlbeck 2007: 890). Die inhaltliche Freiheit, die sich die Richter bei ihren Voten nehmen, betrifft die Auswahl und die inhaltliche Gewichtung der erörterten Topoi, was in der US-amerikanischen Literatur unter dem Stichwort issue fluidity (Palmer 1999) erörtert wird. So können Richter Aspekte, die der zu erörternde Sachverhalt nicht zwingend aufwirft, dennoch in ihrer Entscheidung ausführen. Dieses Phänomen gibt es auch bei deutschen Gerichtsentscheidungen (obiter dictum) und wird als issue discovery bezeichnet. Im Gegenzug können Fragen, denen Richter ungern Raum geben möchten, nicht oder nur peripher behandelt werden, was unter dem Begriff issue suppression firmiert (McGuire/ Palmer 1995); in etwa der Hälfte aller Entscheidungen verfahren die Richter am Supreme Court nach einem der beiden Prinzipien. Suchen die Richter nach einem Weg, eine Entscheidung hinauszuzögern, wird eine zweite mündliche Verhandlung angesetzt, was in der Wissenschaft als delaying justice bezeichnet wird (Hoekstra/ Johnson 2003). Dies ist bislang selten geschehen, erfolgte aber immer dann, wenn es sich um Verfahren von höchster politischer Brisanz handelte, wie beispielsweise die Entscheidung, die zur Aufhebung der Rassentrennung an Schulen führte (Brown vs. Board of Education, 1954) oder die nach wie vor polarisierende Entscheidung zur Abtreibung (Roe vs. Wade, 1973). Scheuen die Richter eine Entscheidung – was aufgrund der Annahme nach freiem Ermessen selten vorkommen wird – so flüchten sie sich 48

Vgl. Spriggs/ Maltzman/ Wahlbeck 1999 und Wahlbeck/ Spriggs/ Maltzman 1998. Zum Begriff des legislative bargaining vgl. Vanberg 1998. 49 Zum median justice und der Darstellung dessen Position in so genannten spatial models vgl. Clark/ Lauderdale 2010. Zum median voter theorem vgl. Martin/ Quinn/ Epstein 2005.

26

1

Das Bundesverfassungsgericht als Gegenstand der Forschung

im Mehrheitsvotum gelegentlich in sehr vage und deutungsoffene Ausführungen (value of vagueness, vgl. Stanton/ Vanberg 2008), wobei dieses Vorgehen auf den ersten Blick im Widerspruch zu den oben vorgestellten Modelltypen steht und nur dann angewandt wird, wenn die Richter vermeiden wollen, mit ihrer Policy-Position Widerstand seitens des Gesetzgebers zu erzeugen. Um einem Votum in solchen Fällen zu zusätzlicher Legitimität und Überzeugungskraft zu verhelfen, greifen Richter verstärkt zu bekannten Zitaten oder Texten, die ihre Argumentation untermauern sollen50 .

1.2.3

Literatur zu den Einflussfaktoren auf die Rechtsprechung an den U.S. Courts of Appeals

Auch wenn die Forschung zu den Courts of Appeals nicht so umfassend und umfangreich ist wie die zum U.S. Supreme Court, sind zahlreiche Aspekte, die das Verhalten dieser Richter betreffen, Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung geworden51 . Da sich die Courts of Appeals in organisatorischer Hinsicht in einigen wesentlichen Punkten vom U.S. Supreme Court unterscheiden, stehen hier Aspekte wie die richterliche Ambition, erneut in das Amt gewählt zu werden und nicht durch unpopuläre abweichende Meinungen aufzufallen, im Fokus (Gann Hall 1987). Gerade die Kombination aus einer zeitlich befristeten Amtszeit, der Möglichkeit einer Wiederwahl und der Option, gewissermaßen als Krönung der eigenen Karriere zum Richter am Supreme Court gewählt zu werden, beeinflusst das Entscheidungsverhalten der Richter an den Courts of Appeals nachhaltig (Gann Hall 1992). Ein weiterer Aspekt in der Forschung stellt die Interaktion zwischen den Courts of Appeals und dem U.S. Supreme Court dar. Etwa die Bereitschaft der untergeordneten Richter, sich an die rechtlichen Vorgaben in

50

Vgl. Hume 2006 oder zum gezielten Einsatz von Zitaten aus den Federalist Papers, Corley/ Howard/ Nixon 2005. 51 So etwa Studien zum Wahlverhalten von Richtern zu Beginn, während und gegen Ende ihrer Amtszeit (Kaheny/ Brodie Haire/ Benesh 2008), zu Fragen der Nominierung von Kandidaten für das Richteramt (Asmussen 2011) und zu einem Spezifikum an den Courts of Appeals – das eine Analogie zum deutschen Verfahren der abstrakten Normenkontrolle darstellt, die vor dem U.S. Supreme Court aufgrund des case or controversy criterions nicht existiert – den judicial advisory opinions, die von den High Courts in 11 Bundesstaaten von der Legislative bei schwebenden Gesetzgebungsverfahren in Form richterlicher Expertisen erbeten werden können, seitens der Richter aber nicht zwingend erstellt werden müssen (Rogers/ Vanberg 2002).

1.3 Forschungslücke

27

Form von Präzedenzfällen aus Washington zu halten oder Umgehungsversuche zu unternehmen52 . Die erste Instanz in den Vereinigten Staaten sind die 94 District Courts (Heun 2007: 237). Die zwölf Courts of Appeals bilden die nächste Instanz. Es besteht ein Rechtsanspruch auf Appellation vor den Courts of Appeals für alle Endurteile der District Courts. Zudem haben die Courts of Appeals die Zuständigkeit für Appellationen gegen Einzelentscheidungen bestimmter Verwaltungsbehörden (Heun 2007: 237). Der U.S. Supreme Court ist schließlich das oberste Appellationsgericht im System der U.S. Gerichtsbarkeit. Ob die Courts of Appeals mit den Gerichtshöfen des Bundes im deutschen System verglichen werden können kann dahin gestellt bleiben. Interessant für die vorliegende Untersuchung ist vielmehr die Erforschung der Interaktion zwischen Gerichten verschiedener Ebene, die es in der deutschen politikwissenschaftlichen Literatur bislang nicht gibt. Es gibt Studien, in deren Rahmen strategic models (Hettinger/ Lindquist/ Martinek 2004) auf die Courts of Appeals angewendet wurden, zudem Studien zu richterlichen Policy-Präferenzen (Baum 1977) und zum decision making (Emmert 1992) an den Courts of Appeals. Ebenfalls kann zur Beantwortung der Forschungsfrage immer dann der Rückgriff auf die sozialwissenschaftliche Literatur zu den Courts of Appeals weiterhelfen, wenn es um die Frage geht, welche strategischen Erwägungen der Richter am Bundesverfassungsgericht eine Rolle spielen könnten, sollten sie befürchten, dass ihre Entscheidungen durch ein anderes Gremium – beispielsweise das Plenum des Bundesverfassungsgerichts oder durch den Europäischen Gerichtshof – revidiert oder modifiziert werden.

1.3

Forschungslücke

Betrachtet man die Forschung zum U.S. Supreme Court, so ist augenfällig, dass Vergleichbares für das Bundesverfassungsgericht fehlt (Van Ooyen 2008). Zwar gibt es erste Analysen der Interaktion des Bundesverfassungsgerichts mit der Öffentlichkeit (Sternberg et al. 2015), mit der Regierung und der Opposition (Hönnige 2007) oder mit dem Gesetzgeber (Vanberg 2005). In diesen Studien wurde wissenschaftlich aufgearbeitet, wie das Bundesverfassungsgericht und ein weiterer Akteur interagieren, wobei hier als abhängige Variable der „output“ des Gerichts – also dessen Rechtsprechung – herangezogen wurde. Und es 52

Vgl. etwa Songer/ Segal/ Cameron 1994 und Westerland/ Segal/ Epstein/ Cameron/ Comparato 2010.

28

1

Das Bundesverfassungsgericht als Gegenstand der Forschung

gibt die wegweisende Untersuchung der internen Entscheidungsprozesse auf der Basis einer Befragung amtierender und ehemaliger Richter von Uwe Kranenpohl (2010). Bislang wurde aber noch nicht umfassend untersucht, welche inneren (jenseits der von Kranenpohl genannten) und äußeren Faktoren auf das Bundesverfassungsgericht Einfluss nehmen können (Vanberg 2005: 209). Beispielsweise wurde noch nicht näher beleuchtet, wie sich die Interaktion des Bundesverfassungsgerichts mit dem Bundesgesetzgeber im Vergleich zu der mit den Landesgesetzgebern darstellt und worin diese sich gegebenenfalls unterscheidet. Ebenfalls noch nicht näher betrachtet wurde die Interaktion des Gerichts mit anderen Akteuren innerhalb der Justiz. Es wäre aufschlussreich herauszufinden, ob es einen Unterschied zwischen dem Umgang des Bundesverfassungsgerichts mit den Bundesgerichten im Vergleich zu dem mit den nachgeordneten Gerichten gibt. Darüber hinaus gibt es für das Bundesverfassungsgericht bislang keine Studie, die sich aus sozialwissenschaftlicher Perspektive mit den Wissenschaftlichen Mitarbeitern befasst. Weder wurden sie als Informationsquelle für die Abläufe am Gericht generell, für die Abläufe im Senat, in dem sie tätig sind, noch als Experten für das Dezernat des Richters, dem sie zugeordnet sind, wahrgenommen. Darüber hinaus sollten die Wissenschaftlichen Mitarbeiter – aufgrund der ihnen übertragenen Aufgaben – als Personenkreis, der Einfluss auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nehmen könnte, Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung werden. Im Folgenden soll nun versucht werden, diese Lücke zu verringern. Dafür sollen im Wesentlichen zwei Fragestellungen in den Blick genommen werden. Erstens: Welche inneren und äußeren Einflüsse wirken auf die Richter ein? Und zweitens soll dadurch, dass das strategische Modell zugrunde gelegt wird, versucht werden zu erklären, weshalb sich die Richter unter den identifizierten Einflüssen auf die beobachtete Weise verhalten und mit den festgestellten Einflüssen umgehen.

2

Modelle zu Einflüssen auf das Verhalten von Verfassungsrichtern und zu richterlichen Strategien

Wie weit sozialwissenschaftliche Modelle von der juristischen Betrachtungsweise und damit von den bislang in der Forschung häufig eingenommenen rechtswissenschaftlichen Perspektiven auf die Arbeit des Bundesverfassungsgerichts entfernt sind, zeigt folgendes Zitat: „Alle Strategien der Selbstlegitimierung, die sich nicht auf Recht gründen, sind deshalb höchst prekär, wenn sie durchschaubar werden. Wenn das Gericht als strategisch handelnder Akteur jenseits seiner Kompetenzbindung sichtbar wird, verliert es an Akzeptanz. Das ist ein entscheidender Unterschied zu politischen Organen. Legitimität verweist auf Legalität.“ (Möllers 2011: 306)

Die Sozialwissenschaft nimmt hierzu eine konträre Perspektive ein, die der richterlichen Realität ungleich näherkommt, wie die Forschungsergebnisse für den U.S. Supreme Court zeigen. Es gibt sozialwissenschaftliche Ansätze, die gerade auf der Annahme basieren, dass Richter strategisch handeln und dass dies keineswegs zu einem Akzeptanzverlust führt. Die Analyse verfassungsgerichtlichen Handelns könnte mit Hilfe eines allgemeinen Modells aus der Handlungs- und Entscheidungstheorie erfolgen oder mit einem spezifischen Modell, das für die sozialwissenschaftliche Untersuchung verfassungsrichterlichen Verhaltens entworfen wurde. Beide Varianten sollen hier zunächst betrachtet werden, um dann zu entscheiden, welcher analytische Rahmen für die zugrundeliegende Forschungsfrage den größten Erkenntnisgewinn verspricht.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2024 M. Schlögel, Strategen in Roben, https://doi.org/10.1007/978-3-658-43868-5_2

29

30

2.1

2

Modelle zu Einflüssen auf das Verhalten von Verfassungsrichtern …

Der akteurzentrierte Institutionalismus

Hinter dem Begriff des Neo-Institutionalismus verbirgt sich kein einheitlicher Zugang, sondern ein Bündel von Ansätzen. Im Wesentlichen lassen sich drei Gruppen unterscheiden: der historische Institutionalismus, der Rational-ChoiceInstitutionalismus und der soziologische Institutionalismus (Hall/ Taylor 1996). Der akteurzentrierte Institutionalismus, der im Folgenden dargestellt werden soll, ist Teil der Bewegung des Neo-Institutionalismus und steht – insbesondere in der gewählten Variante von Scharpf (Scharpf: 2000) – dem Rational-ChoiceInstitutionalismus sehr nah, wenn er auch Institutionen noch größere Bedeutung zuweist (Treib 2015: 278). Ausgangspunkt des akteurzentrierten Institutionalismus ist die Annahme, dass zur Erklärung von Policy-Entscheidungen die Eigenschaften der beteiligten Akteure und die Einflüsse des institutionellen Kontextes, innerhalb dessen Entscheidungen stattfinden, von Bedeutung sind (Treib 2015: 278). Zu den theoretischen Grundbausteinen des akteurzentrierten Institutionalismus zählen also die Akteure, die Akteurskonstellationen, die Interaktionsformen sowie die jeweiligen institutionellen Einflüsse (Treib 2015: 279 ff.). Unter dem Begriff der Institution versteht der akteurzentrierte Institutionalismus „formelle und informelle Regelsysteme (…) die einer Gruppe von Akteuren offenstehende Handlungsabläufe strukturieren“ (Scharpf 2000: 77). Nach Scharpf fallen hierunter sowohl „formale rechtliche Regelungen, die durch das Rechtssystem und den Staatsapparat sanktioniert sind“, als auch „soziale Normen, die von den Akteuren im Allgemeinen beachtet werden und deren Verletzung durch Reputationsverlust, soziale Missbilligung, Entzug von Kooperation und Belohnung oder sogar durch soziale Ächtung sanktioniert wird (Scharpf 2000: 77). Das Konzept des Akteurs bezieht sich im akteurzentrierten Institutionalismus auf Individuen und auf Personengruppen, so genannte komplexe Akteure, die als mehr oder weniger einheitlich handelnd betrachtet werden (Treib 2015: 279). Bei den als komplexe Akteure bezeichneten Ansammlungen von Individuen unterscheidet Scharpf zwischen kollektiven Akteuren, die von den Präferenzen ihrer Mitglieder abhängig sind und von diesen kontrolliert werden, und korporativen Akteuren (Scharpf 2000: 101). Die letzteren verfügen über ein hohes Maß an Unabhängigkeit von den letztendlichen Nutznießern ihres Handelns und ihre Aktivitäten werden von Arbeitnehmern ausgeführt, deren eigene Interessen durch Arbeitsverträge neutralisiert werden (Scharpf 2000: 101). Scharpf selbst sagt über die beiden Kategorien:

2.1 Der akteurzentrierte Institutionalismus

31

„Es muss jedoch angemerkt werden, dass die Unterscheidung zwischen kollektiven und korporativen Akteuren analytischer Art ist und Zwischenformen recht häufig vorkommen.“ (Scharpf 2000: 106)

Eine entsprechende Zuordnung des Bundesverfassungsgerichts zu den beiden Kategorien hat bereits Kneip vorgenommen. Hierzu führt er aus: „Zum einen agieren Verfassungsgerichte als (kollektive) Akteure innerhalb des institutionellen Rahmens eines demokratischen politischen Systems, der Handlungsmöglichkeiten und -grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit definiert. Die einzelnen Richter wiederum sind eingebunden in die institutionelle Ordnung ihrer Organisation, also in die formalen wie informellen Normen richterlichen Handelns (das beispielsweise durch die Geschäftsordnung des Gerichts oder die Erwartungshaltungen der Kolleginnen und Kollegen definiert ist).“ (Kneip 2009: 91)

Verfassungsgerichte sind aber auch korporative Akteure, denn sie sind „handlungsfähige, formal organisierte Personenmehrheiten, die über zentralisierte, also nicht mehr den Mitgliedern individuell zustehende Handlungsressourcen verfügen, über deren Einsatz hierarchisch oder majoritär entschieden wird“ (Kneip 2009: 91). Dieser Einordnung sei insoweit widersprochen, als die Richter am Bundesverfassungsgericht mit den ihnen zugeordneten wissenschaftlichen Mitarbeitern sehr wohl über eine ihnen individuell zustehende Handlungsressource verfügen. Andere Ressourcen, wie etwa die Macht gesetzgeberische Normen für verfassungswidrig zu erklären, sind in der Tat zentralisiert und können nur mittels einer mindestens majoritären Entscheidung genutzt werden. Nach dem akteurzentrierten Institutionalismus haben die Akteure Präferenzen. Dieses Konzept der Akteurspräferenzen hat vier Dimensionen, wobei die drei ersten stark von Institutionen beeinflusst sind, nämlich Interessen, Normen und Identitäten. Die vierte Dimension sind die Interaktionsorientierungen (Scharpf 2000: 116). Das institutionelle Eigeninteresse unterstellt, dass die Akteure grundsätzlich danach streben, als unabhängige Einheiten zu überleben, ihre institutionelle Ausstattung zu verbessern und ihren Einfluss zu erweitern (hier und die folgenden Ausführungen zu Präferenzen siehe Treib 2015: 282ff). Den Akteuren werden zudem normative Rollenerwartungen unterstellt, die institutionell definiert sind. Weiterhin geht das Konzept davon aus, dass alle Akteure Identitäten haben, die sie zu verteidigen suchen und die den Kern dessen bilden, was einen kollektiven oder korporativen Akteur antreibt. Der vierte Aspekt, die Interaktionsorientierungen, werden in fünf Facetten unterteilt: Individualismus, Solidarität, Wettbewerb, Altruismus und Feindschaft. Nach Scharf sind Altruismus und Feindschaft als

32

2

Modelle zu Einflüssen auf das Verhalten von Verfassungsrichtern …

Interaktionsorientierungen in Politikgestaltungsprozessen eher unwahrscheinlich, Individualismus, Solidarität und Wettbewerb hingegen häufig zu finden (Treib 2015: 283). Bei den Interaktionsformen, also dem prozeduralen Modus, in dem Akteure in gegebenen Akteurskonstellationen getrennte oder gemeinsame Entscheidungen treffen, wird zwischen vier Formen unterschieden, die jeweils bestimmte institutionelle Kontexte voraussetzen und zu unterschiedlichen Ergebnissen führen (Treib 2015: 287). Dies sind einseitiges Handeln, Verhandlung, Mehrheitsentscheidung und hierarchische Steuerung (Treib 2015: 288f). Beim einseitigen Handeln werden keine Absprachen getroffen, vielmehr handelt jeder Akteur für sich, obgleich die Handlungen Auswirkungen auf andere Akteure haben (Treib 2015: 288). Beim Verhandlungsmodus schließen die Akteure auf Grundlage einstimmiger Entscheidungen gemeinsame Abkommen (Treib 2015: 288). Vorteilhafte Bedingungen für diese Handlungsvariante liegen in „netzwerkförmigen Kontexten vor, in denen Akteure dauerhaft miteinander interagieren, sodass Verhandlungslösungen aufgrund des wechselseitigen Vertrauens leichter gefunden werden können“ (Treib 2015: 289). Eine solche Konstellation lässt sich bei den mit je drei Richtern besetzten Kammern am Bundesverfassungsgericht finden. Sie können nur einstimmig entscheiden. Sind die Mitglieder einer Kammer dazu nicht in der Lage, so gelangt das Verfahren in den Senat, um dort von allen acht Richtern entschieden zu werden, wobei hier eine Mehrheit von fünf von acht Stimmen genügt. Bei der hierarchischen Steuerung kann ein Akteur ohne die Zustimmung der anderen Entscheidungen treffen, die für alle Beteiligten bindend sind, von diesen als bindend anerkannt und notfalls auch mit Zwang durchgesetzt werden können (Treib 2015: 290). Den Begriff „Verhandeln im Schatten der Hierarchie“ hat Scharpf für eine besondere Konstellation geprägt, die ebenfalls der Realität am Bundesverfassungsgericht nahekommt: „(...) der besondere Charme der vom AZI [akteurzentrierter Institutionalismus (Anm. MS)] vorgeschlagenen Unterscheidung zwischen institutionell vorhandenen Autoritätsstrukturen und tatsächlich eingesetzten Koordinationsmechanismen [liegt (Anm. MS)] darin, dass konsensorientierte Interaktionsformen auch unter institutionellen Bedingungen zum Einsatz kommen können, die grundsätzlich hierarchische oder mehrheitsbasierte Entscheidungen zulassen.“ (Scharpf 2000: 323)

Für seine Arbeit zum Einfluss des Bundesverfassungsgerichts auf die Qualität der Deutschen Demokratie hat Sascha Kneip den akteurzentrierten Institutionalismus als analytischen Rahmen zugrunde gelegt (Kneip 2009). Es waren für ihn im

2.2 Für Richterverhalten entworfene Modelle

33

Wesentlichen vier Gründe, weshalb er dessen Anwendung auf die Untersuchung des Agierens und Interagierens des Bundesverfassungsgerichts sinnvoll fand. Dies war erstens das Einnehmen einer Mehrebenenperspektive bei der Betrachtung der Interaktionsformen zwischen den beteiligten korporativen oder auch individuellen Akteuren (Kneip 2009: 91). Zum zweiten trägt der akteurzentrierte Institutionalismus der Tatsache Rechnung, dass das Bundesverfassungsgericht zwar auf der Makroebene in eine komplexe Akteurskonstellation eingebunden ist, es aber nur dann zu einem „Mitspieler“ wird, wenn es durch andere Akteure angerufen wird (Kneip 2009: 91). Drittens kommt – wenn institutionelle Faktoren und der situative Kontext das beobachtbare Tun und Lassen eines Akteurs nicht ausreichend erklären – der Handlungsorientierung der Akteure Bedeutung zu (Kneip 2009: 91). Mayntz und Scharpf (Mayntz/ Scharpf 1995: 50) beziehen die Mikroebene richterlichen Handelns ein und integrieren so auch die Perspektive anderer mikrotheoretischer Erklärungsansätze. Und viertens – basierend auf der Überlegung, wann das Bundesverfassungsgericht zum Mitspieler wird – entscheiden die institutionellen Rahmenbedingungen darüber, ob und wenn ja wann Faktoren wie die Akteurskonstellation oder die Handlungsorientierung der Akteure Bedeutung für die Erklärung verfassungsgerichtlichen Handelns haben (Kneip 2009: 92).

2.2

Für Richterverhalten entworfene Modelle

Um das Verhalten und die Entscheidungen von Richtern am U.S. Supreme Court erklären zu können, sind in der sozialwissenschaftlichen US-amerikanischen Literatur seit den 1940er Jahren zahlreiche Modelle entwickelt worden. Fast alle fußen entweder auf dem legal model, dem attitudinal model oder dem strategic model, die in zeitlicher Abfolge entwickelt wurden und auf den gleichen Grundannahmen basieren. In ihrer Monographie „Strategy on the United States Supreme Court“ (Brenner/ Whitmeyer 2009) nehmen Saul Brenner und Joseph M. Whitmeyer nicht nur eine Unterteilung in diese Grundmodelle vor, sondern differenzieren auch nach den Abschnitten, in die sich die Verfahren vor dem U.S. Supreme Court (certiorari, conference vote on the merits, majority opinion, final vote on the merits1 ) einteilen lassen. So entsteht eine matrixartige Darstellung 1

Zu den verschiedenen Abstimmungen bei der Entscheidungsfindung und den dort vorkommenden strategischen Interaktionen der Supreme Court Richter vgl. Maltzman/ Spriggs/ Wahlbeck 2000.

34

2

Modelle zu Einflüssen auf das Verhalten von Verfassungsrichtern …

verfassungsgerichtlicher Verfahrensabschnitte, innerhalb derer das richterliche Entscheidungsverhalten Einflüssen unterliegen könnte. Wegen ihrer grundlegenden Bedeutung für alle existierenden Einzelmodelle zum Verhalten der Richter am U.S. Supreme Court, werden die drei Grundmodelle – und einige eng daran knüpfende Fortentwicklungen – im Folgenden kurz beschrieben.

2.2.1

Das legal model

Dem legal model liegt die Vorstellung zugrunde, dass sich der Inhalt höchstrichterlicher Entscheidungen aus den einschlägigen gesetzlichen Normen erklären lässt (Segal/ Spaeth 2002: 48). Durch die Subsumption des jeweiligen Sachverhalts unter die einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen und unter Zuhilfenahme der bestehenden Auslegungsmethoden gelangen die Richter zu ihrer Entscheidung, wobei für ihre persönlichen Präferenzen und Einstellungen kein Raum bleibt. Ein Vertreter dieses Modells ist Ronald Dworkin (Dworkin 1978, 1986), der zwei Grundannahmen dieser Position formuliert hat: Zum einen seien die Richter im amerikanischen Recht durch Präzedenzentscheidungen gebunden und müssten sich ähnelnde Fälle entsprechend der vorangegangenen Entscheidungen bewerten. Zum anderen seien die Richter durch die dem Rechtssystem innewohnende Systematik beschränkt, weshalb Dworkin hier ebenfalls keinen Spielraum für persönliche Präferenzen zu sehen glaubt. Jeffrey A. Segal und Harold Spaeth (Segal/ Spaeth 1993 und 2002) bringen gegen das legal model vor, dass Inhalt und Bedeutung von Rechtsnormen nicht a priori feststünden, sondern durch Auslegung ermittelt werden müssten und deshalb auch für unterschiedliche Auslegungsergebnisse offen seien. Zudem halte die angenommene Vorprägung durch das Prinzip des stare decisis in der postulierten Absolutheit einer empirischen Untersuchung nicht stand (Segal/ Spaeth 2002: 83). Zwar würde das legal model in zutreffender Weise die Prinzipien der Rechtsfindung beschreiben, es ließe sich vorab jedoch nicht erschließen, ob, und wenn ja, welche Prinzipien im konkreten Fall für die Entscheidungsfindung herangezogen würden. Obgleich die Postulate des legal model normativ anmuten, könnte man versuchen, das faktische Handeln von Richtern im Rahmen einer empirischen Analyse dahingehend zu untersuchen, welche Maßstäbe der Verfassung, des einfachen Rechts und des Gewohnheitsrechts instruktiv für die Entscheidung der Richter waren. Jedoch – wie schon von Segal und Spaeth beschrieben – eröffnet diese retrospektive Betrachtungsweise keinen Weg, um – etwa im Wege

2.2 Für Richterverhalten entworfene Modelle

35

von outcome prediction strategies2 – auf den Inhalt zukünftiger Entscheidungen schließen zu können. Saul Brenner und Joseph M. Whitmeyer (Brenner/ Whitmeyer 2009: 4) verorten in ihren Ausführungen die Schwierigkeiten des legal model an einem früheren Punkt der Analyse. Auch sie weisen darauf hin, dass die von den Richtern im jeweiligen Fall auszulegenden Normen vieldeutig sind. Am Beispiel der Bestimmung des 18. Zusatzartikels zur US-Verfassung (U.S. Const. am.18.), der unter anderem das Verbot grausamer und ungewöhnlicher Strafen („cruel and unusual punishment“) normiert, gehen sie der Frage nach, wie die Richter nach den Prämissen des legal model bei der Entscheidung, ob die Hinrichtung mit einer tödlichen Injektion eine solche grausame und ungewöhnliche Art der Bestrafung darstellt, vorgehen müssten. Wenn sich die Richter – im Sinne der Interpretationsweise des original intent – auf den Text der Verfassung konzentrieren würden, so würde sich die Frage stellen, welche Bedeutung des 18. Zusatzartikels den Überlegungen zugrunde gelegt werden soll: Die Bedeutung, die das U.S. Const. am.18. zum Zeitpunkt seines Inkrafttretens hatte, oder die, die ihm nach heutiger Sichtweise zukommt. Unabhängig davon, für welchen Zeitpunkt sie sich entscheiden, ist dann fraglich, welche Quellen herangezogen werden sollten, um die Bedeutung der Norm festzulegen. Soll hierfür die öffentliche Meinung maßgeblich sein, die Auffassung von Eliten oder die Interpretation derer, die die Verfassung entworfen haben? Entscheidet man sich für die letztgenannte Gruppe, so ist wiederum offen, wer zu den Urhebern des Verfassungsentwurfs zählen soll: Ist dies die Person, die den Wortlaut der Verfassung niedergeschrieben hat, oder sind es diejenigen, die über die Verfassung abgestimmt haben, sei es während des Verfassungskonvents oder später in den Bundesstaaten? Bereits diese Überlegungen machen deutlich, dass ein Modell, das derart unbestimmt ist und so viele wesentliche Faktoren nicht genau determinieren kann, nicht zur Reduktion von Komplexität geeignet ist.

2.2.2

Das attitudinal model

Das attitudinal model hat seinen Ursprung in der Bewegung der legal realists der 1920er Jahre und war in der Folgezeit den Einflüssen der behavioristischen, der psychologischen und der ökonomischen Schule unterworfen (Segal/ Spaeth 2002: 87). C. Herman Pritchett entwarf im Jahre 1948 in seiner Monographie 2

Brenner/ Whitmeyer/ Spaeth 2006, Caldeira 2004, Martin/ Quinn/ Ruger/ Kim 2004, Segal 1984 und Spaeth 1979. Kritisch dazu: Baum 1992.

36

2

Modelle zu Einflüssen auf das Verhalten von Verfassungsrichtern …

„The Roosevelt Court: A Study of Judicial Politics and Values“ ein attitudinal model als Reaktion auf die Schwächen des bis dahin dominierenden legal model (Pritchett 1948). Dieses Modell war in der juristischen und politikwissenschaftlichen Debatte in den Vereinigten Staaten von den 1950er Jahren bis zum Ende der 1990er Jahre bestimmend und wird bis heute von Jeffrey A. Segal und Harold Spaeth (Segal/ Spaeth 1993 und 2002) vertreten. Nach dem attitudinal model beruhen richterliche Entscheidungen – neben dem Einfluss juristischer Vorgaben – auch auf den persönlichen Präferenzen und Policy-Positionen der Richter (Lindquist/ Klein 2006). Das bedeutet, dass die Richter die ihnen zur Entscheidung vorgelegten Fälle im Lichte ihrer persönlichen Einstellungen und Präferenzen beurteilen, zudem der Situationskontext einfließt und zu den Zielen der Richter auch die Durchsetzung eigener PolicyVorstellungen gehört (Hagle/ Spaeth 1991). Die Begrenzung im Versuch eigene Policy-Ziele zu realisieren, findet jeder Richter in den eventuell abweichenden Präferenzen seiner Kollegen. Denn nur wenn eine bestimmte Policy-Position im Richtergremium auch mehrheitsfähig ist, wird sie sich verwirklichen lassen. Die richterlichen Präferenzen und ihre Auswirkungen auf die Rechtsprechung werden von Teilen der Literatur in so genannten personal attribute models zusammengefasst (Tate/ Handberg 1991). Neal C. Tate kam zu der Einschätzung, mit einem Set von sieben Variablen 70 bis 90 Prozent der Varianz in der Bürgerrechtsrechtsprechung nach dem II. Weltkrieg erklären zu können: „Seven variables representing six meaningful and easily interpretable concepts achieve this success. The concepts are Judge’s Party Identification, Appointing President, Prestige of Prelaw Education (economics only), Appointed from Elective Office, Appointment Region (civil liberties only), Extensiveness of Judicial Experience, and Type of Prosecutional Experience“ (Tate 1981: 355).

In der Forschung zum U.S. Supreme Court findet die Grundannahme des attitudinal model breite Zustimmung. Die persönlichen Einstellungen bzw. Gesinnungen der Richter sind ein wesentlicher Faktor, um die Frage beantworten zu können, weshalb ein Teil der Richter am U.S. Supreme Court im jeweils zu entscheidenden Fall für ein „liberales“ Ergebnis votiert und der andere Teil zu einer „konservativen“ Entscheidung3 tendiert. So spricht sich auch Lawrence Baum dafür aus, dass der vom attitudinal model gesetzte Schwerpunkt auf die Policy-Präferenzen der Richter der Realität des Entscheidungsverhaltens sehr nahekommt: 3

Die hier zitierten Studien legen ihren Überlegungen rechts-links-Dichotomien zugrunde, wobei links für liberal und rechts für konservativ steht.

2.2 Für Richterverhalten entworfene Modelle

37

„Of all the considerations that could influence the Supreme Court decisions [at the final vote on the merits], I have given primarily emphasis to the justices’ policy preferences. The application of the law to the Court’s cases is usually ambiguous, and constraints from the Court’s environment are generally weak. As a result, the justices have considerable freedom to take positions that accord with their own conceptions of good policy.“ (Baum 2009: 147f.)

Für eine empirische Untersuchung impliziert das attitudinal model, dass der Entscheidungsprozess und die gerichtsinternen Abläufe in die Analyse des Handelns von Gerichten einbezogen werden müssen. Die Forschung zu jurisprudential regimes versucht die Synthese aus rechtlichen Regimen und politischen Einstellungen: „We look for the influence of law in the form of “jurisprudential regimes”. Jurisprudential regimes structure Supreme Court decision making by establishing which case factors are relevant for decision making and/or by setting the level of scrutiny or balancing the justices are to employ in assessing case factors (i.e. weighting the influence of various factors). […] At the same time, we do not reject the importance, or even dominance, of attitudinal influences on the Court’s decisions.“ (Richards/ Kritzer 2002: 305).

In einigen Punkten stößt das attitudinal model allerdings an seine Grenzen. Ergehen Entscheidungen einstimmig, hat das Modell einen sehr geringen Erklärungswert. Da insbesondere in den Jahren vor 1941 die weit überwiegende Mehrheit aller Supreme Court Entscheidungen einstimmig getroffen4 wurde und kaum Sondervoten veröffentlicht wurden, kann das Modell erst für die Rechtsprechung nach 1941 Erklärungskraft entfalten. Hendershot und Kollegen kamen im Rahmen ihrer Untersuchung zu dem Ergebnis, dass mehrere Faktoren zusammengespielt haben müssen, damit am Supreme Court ab den 1940er Jahren einstimmige Entscheidungen zur Ausnahme wurden, etwa ein Wechsel in der ideologischen und altersmäßigen Zusammensetzung des Richtergremiums und ein Wandel in der Fallauswahl des Gerichts (Hendershot/ Hurwitz/ Lanier/ Pacelle 2015). Auch gegen das attitudinal model werden Einwände erhoben. So bringen Kritiker vor, es erkläre lediglich dass, nicht aber weshalb der eine Richter eine liberale Entscheidung präferiert, während sein Kollege im gleichen Fall eine konservative Entscheidung vorzieht. Darüber hinaus ist das Modell nicht in der Lage zu erklären, weshalb manche Richter am U.S. Supreme Court im Laufe ihrer 4

Diese Einstimmigkeit wird in der Forschung unter dem Stichwort „the norm of consensus“ diskutiert, vgl. Epstein/ Segal/ Spaeth 2001.

38

2

Modelle zu Einflüssen auf das Verhalten von Verfassungsrichtern …

Amtszeit ihre Policy-Präferenzen grundlegend ändern, denn ein Wandel der Einstellungen einzelner Richter ist im Modell nicht vorgesehen. Auch Lee Epstein und Jack Knight üben Kritik am attitudinal model und wenden sich gegen die ihm zugrundeliegende Vorstellung, dass die Richter am U.S. Supreme Court bei ihren Entscheidungen einzig von ihren ideologischen Präferenzen und inhaltlichen Einstellungen geleitet seien: „Justices may be primarily seekers of legal policy, but they are not unconstrained actors who make decisions based only on their own ideological attitudes.“ (Epstein/ Knight 1998: 10)

2.2.3

Das strategic model

Unter den Prämissen des strategic model werden Richter – analog zu den Grundannahmen rational-choice-theoretischer Modelle5 – als strategische Akteure betrachtet, die alternative Ziele, Werte und Strategien in einer Präferenzordnung gewichten können, und entsprechend diejenige Vorgehensweise wählen, die ihnen größtmöglichen Nutzen bei dem Erreichen ihrer Ziele verspricht. Das strategische Handeln kann sowohl auf der intrainstitutionellen Ebene – hinsichtlich der Interaktion der Richter untereinander – als auch auf der interinstitutionellen Ebene – unter Betrachtung der Beziehungen eines Gerichts zu anderen Akteuren im politischen Prozess – untersucht werden. Zudem wird angenommen, dass die Strukturen, in die die Richter eingebunden sind, bestimmte Handlungsanreize setzen (Epstein/ Knight 1998: 10 ff.). Darüber hinaus wird aber auch davon ausgegangen, dass die Richter in der Lage sind, jenseits der bloßen Nutzenmaximierung aus strategischen Erwägungen auch second-best-Optionen zu wählen, etwa wenn sie davon ausgehen müssen, dass sich ihre erste Präferenz nicht durchsetzen lässt6 oder die Kosten für das Verfolgen eigener Ziele in einem bestimmten Fall bzw. in einer bestimmten Konstellation zu hoch sind. Das strategic model kann als Fortentwicklung des attitudinal model verstanden werden. Lee Epstein und Jack Knight beschreiben es wie folgt:

5

Deren Anwendung ist in der Politikwissenschaft nicht unumstritten, vgl. Green, Donald P./ Shapiro, Ian (1994): Pathologies of Rational Choice Theory. A Critique of Applications in Political Science. New Haven. Für die in der deutschen Literatur zu rational choice Modellen geäußerte Kritik: Hüller 2014. 6 Vgl. etwa die Untersuchung von Baybeck/ Lowry 2000.

2.2 Für Richterverhalten entworfene Modelle

39

„On our account, which we call a strategic account, justices may be primarily seekers of legal policy, but they are not unsophisticated characters who make choices merely on their own political preferences. Instead, justices are strategic actors who realize that their ability to achieve goals depends on a consideration of the preferences of others, of the choices they expect others to make, and of the constitutional context in which they act. In other words, the choices of justices can best be explained as strategic behavior, not solely as responses to either personal ideology or apolitical jurisprudence.“ (Epstein/ Knight 1998: XIII).

Obgleich das strategic model auf der Überlegung basiert, dass Richter prinzipiell eigene Policy-Positionen durchsetzen wollen, findet dieses Bestreben seine juristische Beschränkung in entgegenstehenden rechtlichen Bestimmungen oder Präzedenzfällen7 . Der ursprüngliche strategic account wurde von den beiden oben bereits zitierten Autoren Lee Epstein und Jack Knight entwickelt (Epstein/ Knight 1998). Beide geben zu bedenken, dass die Richter unter einem gewissen Druck stünden, den durch Präzedenzfälle geschaffenen Erwartungen gerecht zu werden (Epstein/ Knight 2004: 186). Ihren strategic account bezeichnen die Autoren selbst als eine „Perspektive“ (Epstein/ Knight 2004: XIV), die eingenommen werden kann, um den Prozess der juristischen Entscheidungsfindung zu analysieren. Diese Perspektive soll es ermöglichen, Theorien zur Erklärung zu entwickeln. Der strategic account will lediglich ein Konzept anbieten, erhebt aber nicht den Anspruch, selbst eine umfassende Erklärung zu liefern. Im Wesentlichen basiert der strategic account auf drei Grundideen (Epstein/ Knight 2004: 10 f.): 1. Das Handeln der Richter ist darauf gerichtet, bestimmte inhaltliche Ziele zu erreichen. 2. Die Richter handeln strategisch. 3. Institutionen strukturieren die Interaktion der Richter. Zu der ersten Grundidee zählt, dass Epstein und Knight davon ausgehen, dass die Richter Entscheidungen treffen, die im Einklang mit ihren Zielen und Vorstellungen stehen. Soweit argumentieren generell auch rational choice-theoretische Modelle. Darüber hinaus wird im Rahmen des strategic account davon ausgegangen, dass die Richter in der Lage sind, verschiedene Szenarien in ihre Überlegungen einzubeziehen, diese nach ihrer Attraktivität zu bewerten und zu antizipieren, welche Vorgehensweise zu welchem Ergebnis führen würde 7

Vgl. das von Tracy E. George und Lee Epstein vorgeschlagene „integrated model of Supreme Court decision making“, das politische Faktoren, Umweltfaktoren und rechtliche Beschränkungen zusammenführt, George/ Epstein 1992.

40

2

Modelle zu Einflüssen auf das Verhalten von Verfassungsrichtern …

(Epstein/ Knight 2004: 11). An diesem Punkt wendet sich der strategic account von den rational choice-Annahmen ab, da davon ausgegangen wird, dass die Richter – neben der Tatsache, dass sie sich wünschen, dass die Rechtsprechung des Supreme Court möglichst ihre Vorstellungen einer idealen policy widerspiegeln möge – auch andere Ziele verfolgen, wie etwa die Wahrung der Integrität und des Ansehens der Institution, der sie angehören. Ein Beweggrund hierfür ist nach Epstein und Knight die Erkenntnis, dass der U.S. Supreme Court nur dann Recht setzen kann, das andere Institutionen, die Gliedstaaten und die Öffentlichkeit als verbindlich betrachten, wenn das Gericht über ein ausreichendes Maß an Autorität verfügt (Epstein/ Knight 2004: 12). Unter „strategischem Handeln“ verstehen Epstein und Knight, dass ein Richter erkennt, dass die Frage seines Obsiegens oder Scheiterns nicht nur von den eigenen Vorstellungen und Handlungen abhängt, sondern auch davon, welche Präferenzen die anderen involvierten Akteure haben und welche Vorgehensweisen er von diesen erwartet (2004: 12): „For justices to maximize their preferences, they must act strategically in making their choices. By strategic we mean that judicial decision making is interdependent. (…) To say that a justice acts strategically is to say that she realizes that her success or failure depends on the preferences of other actors and the actions she expects them to take, not just on her own preferences and actions.“ (Epstein/ Knight 2004: 12)

Das bedeutet, dass sich diese strategischen Erwägungen nicht nur auf die Frage beziehen, wie sich die Richterkollegen verhalten werden, sondern auch auf das Handeln anderer Akteure, wie beispielsweise der Öffentlichkeit, des Präsidenten oder des Kongresses. Zur Frage der Bedeutung von Institutionen führen Epstein und Knight aus: „According to the strategic account, we cannot fully understand the choices justices make unless we also consider the institutional context in which they operate. By institutions, we mean sets of rules that „structure social interactions in particular ways“. Under this definition, institutions can be formal, such as laws, or informal, such as norms and conventions.“ (Epstein/ Knight 2004: 17)

Als eine Institution verstehen die Autoren beispielsweise die Berufung in das Richteramt auf Lebenszeit. Auch hierin sehen sie einen Einflussfaktor auf richterliches Handeln. Da die Richter am U.S. Supreme Court nicht nach der

2.2 Für Richterverhalten entworfene Modelle

41

Maximierung ihrer Chancen auf eine Wiederwahl streben müssen8 , sind sie frei darin, sich der Maximierung ihrer Policy-Ziele zu widmen (Epstein/ Knight 2004: 17). Zusammenfassend kommen Epstein und Knight zu folgendem Schluss: „We argue that it suggests that law, as it is generated by the Supreme Court, is the result of short-term strategic interactions among the justices and between the court and other branches of government.“ (Epstein/ Knight 2004: 18)

In der Literatur gibt es nicht nur ein strategisches Modell, vielmehr existieren verschiedenste Modelle, die auf den gleichen Grundannahmen beruhen, deren Fokus aber variiert9 . Allen gemein ist, dass sie davon ausgehen, dass die Entscheidungen, die Richter treffen, im Einklang mit ihren Zielen und Interessen stehen. Die weit verbreitete Grundannahme, dass die Richter in erster Linie versuchen, ihre eigenen politischen Wertvorstellungen und Präferenzen in ihrer Interpretation des Rechts zu verwirklichen, wurde von den Schöpfern des strategic account im Jahr 2013 im Rahmen einer Sekundärdatenanalyse in Frage gestellt, kritisch untersucht und relativiert (Epstein/ Knight 2013): “As we said at the outset, we remain committed to the strategic model as the basic assumption about how judges reason about their cases. But this is merely to say that judges act in such a way as to best achieve their goals, whatever their goals might be in a particular case. Judges want to be efficacious; they want to accomplish their goals in the most efficient way possible. Strategic reasoning accommodates a wide array of possible motivations.“ (Epstein/ Knight 2013: 24)

Die Autoren argumentieren, dass es wichtig für die Richter ist, ihre knapp bemessene Zeit sinnvoll zwischen ihren richterlichen Aktivitäten – also etwa Anhörungen, dem Formulieren von Entscheidungen, der Interaktion mit Kollegen und Mitarbeitern – und nicht-richterlichen Aktivitäten – beispielsweise der Teilnahme an Konferenzen, dem Verfassen von Büchern oder eventuell der Lehre – aufzuteilen (Epstein/ Knight 2013: 18 f.). 8

Hierin besteht eine Ähnlichkeit zum Bundesverfassungsgericht, dessen Richter zwar nicht mehr – wie in den Anfangsjahren des Gerichts – auf Lebenszeit berufen werden, deren Wiederwahl aber ausgeschlossen ist, so dass auch sie keinen Anpassungszwängen unterliegen, um sich eine Wiederwahl zu sichern. 9 Unter dem Oberbegriff des strategic voting finden sich zahlreiche Studien, so etwa Armstron/ Johnson 1982, Arrington/ Brenner 2004, Brenner/ Krol 1989, Boucher/ Segal 1995, Cameron/ Segal/ Songer 2000, Johnson/ Spriggs/ Wahlbeck 1996 und Maltzman/ Wahlbeck 1996c.

42

2.3

2

Modelle zu Einflüssen auf das Verhalten von Verfassungsrichtern …

Weitere Modelle

Zu den richterlichen Strategien am U.S. Supreme Court sind zahlreiche weitere Monographien und Aufsätze10 erschienen, die auf den drei referierten Modelltypen zumindest in Teilen basieren und versuchen, daraus eigene Erklärungsmodelle11 zu entwickeln. Jenseits dieser drei Modelltypen zeichnete sich in den 1990er Jahren innerhalb der Forschung eine neue Richtung ab, deren Vertreter die bestehenden Grenzen zwischen dem juristischen Forschungsparadigma, dass Richter allein aufgrund rechtlicher Regelungen und Prinzipien und unter der Berücksichtigung von Präzedenzfällen zu ihren Entscheidungen gelangen, und der – teilweise als externe Betrachtungsweise bezeichneten – politikwissenschaftlichen Anschauung, dass Richter bei ihren Entscheidungen (auch) von ihren Anschauungen und ihren Präferenzen geleitet werden, mit Hilfe des interpretativen Strukturalismus (Feldman 2005) oder des Neo-Institutionalismus12 in der US-amerikanischen Ausprägung zu überwinden suchen. Um zu versuchen, die Ergebnisse zukünftiger Entscheidungen vorhersagen zu können, wurden von einigen Wissenschaftlern so genannte outcome-prediction strategies13 entwickelt, denen statistische Modelle zugrunde liegen. Im vergleichenden Test mit rechtswissenschaftlichen Experten, die im Rahmen eines Versuchs gebeten wurden, unter Zuhilfenahme gegebener Informationen zu den einzelnen Fällen eines Jahres am U.S. Supreme Court vorab eine Einschätzung zu treffen, welche Fälle der U.S. Supreme Court bestätigen und welche er zurückweisen wird, konnten die Modelle in 75 Prozent aller Fälle die Ergebnisse vorhersagen, wohingegen die befragten Experten lediglich auf eine Quote von 59,1 Prozent kamen (Ruger/ Kim/ Martin/ Quinn 2004). Separation of Powers-Modellen liegt schließlich die Annahme zugrunde, dass Richter potentielle Reaktionen der Präsidenten und des Kongresses auf ihre Entscheidung

10

Vgl. etwa Hammond/ Bonneau/ Sheehan 2005, Murphy 1964 und Posner 2008. Vgl. Dempster 1998, Epstein/ Knight 2000 und 2004, Ho/ Quinn 2010, Kornhauser 1992a und 1992b und Sirovich 2003. Interessant ist die Abhandlung des Richters am United States Court of Appeals for the Seventh Circuit Richard A. Posner, der in “How Judges Think” anhand von neun Theorien sein eigenes Modell richterlichen Handelns entwirft (Posner 2008). 12 Vgl. Clayton/ May 1999, Epstein/ Knight 1997, Gann Hall/ Brace 1989 und 1992, Gillman 1997, Miles/ Sunstein 2008, Smith 1988, Clayton/ Gillman (1999) und Sterling-Folker 2000. 13 Brenner/ Whitmeyer/ Spaeth 2006, Caldeira 2004, Martin/ Quinn/ Ruger/ Kim 2004, Segal 1984 und Spaeth 1979. Kritisch dazu: Baum 1992. 11

2.4 Implikation für die Untersuchung

43

antizipieren und entsprechend ihr Verhalten strategisch an diesen Reaktionen ausrichten14 .

2.4

Implikation für die Untersuchung

Das legal model und das attitudinal model können die Realität richterlicher Entscheidungsfindung nur sehr begrenzt abbilden. Die gegen diese Modelle vorgebrachten Bedenken überzeugen. Unbestritten sind beide Modelle aber wichtige Vorläufer und Wegbereiter des strategic model, das aus der kritischen Auseinandersetzung mit deren Prämissen entstanden ist. Sowohl strategic model als auch akteurzentrierten Institutionalismus unterscheiden zwischen formellen und informellen Institutionen. Die Untersuchung informeller Institutionen am Bundesverfassungsgericht und deren Bedeutung und Auswirkungen wäre ein neuer Untersuchungsgegenstand. Kneip nimmt in seiner Arbeit die Sanktionsgewalt gesellschaftlicher Normen als Beispiel für eine informelle Institution und setzt sie diesbezüglich rechtlichen Normen gleich (Kneip 2019: 89). Er befasst sich zwar mit informellen Institutionen, führt dazu aber lediglich aus, dass die Legitimation eines Verfassungsgerichts nicht nur auf seinen formalen Kompetenzen beruhen würde, sondern auch auf dem Vertrauen, das ihm entgegengebracht würde (Kneip 2019: 93). Weitere informelle Institutionen zieht er allerdings nicht in Betracht. Denkbar wäre beispielsweise die Existenz informeller Absprachen der Richter, sei es mit ihren Mitarbeitern, mit den Kollegen in der Kammer, im Senat oder allen Richterkollegen am Bundesverfassungsgericht. Ebenfalls vorstellbar sind sozialisierende Effekte der Arbeit am Bundesverfassungsgericht, beispielsweise durch eine bestimmte Konstellation oder durch die Art der übertragenen Aufgaben. Auch diese könnten in informelle Normen münden. Hier führt der strategic account weiter, indem er informelle Institutionen oder Normen als zentrales Element in die Analyse und die Erklärung richterlichen Verhaltens einbezieht. Widersprochen werden soll Kneip, wenn er statuiert, die Wirkung informeller Normen sei „schwer zu belegen und allenfalls durch Plausibilitätsbeweise zu unterfüttern; das Hauptaugenmerk der Analyse verfassungsgerichtlichen Agierens muss (und wird) daher auf den formellen Institutionen und Anreizsystemen liegen.“ (Kneip 2019: 93)

14

Vgl. Sala/ Spriggs 2004 und Owens 2010.

44

2

Modelle zu Einflüssen auf das Verhalten von Verfassungsrichtern …

Eine solche Analyse ist sehr wohl möglich, sie bedarf nur einer besonderen Untersuchungsweise. Nach Treib gehört zu den Nachteilen und Beschränkungen des akteurzentrierten Institutionalismus, dass er auf der Annahme beruht, politische Konflikte würden entlang organisatorischer Grenzen verlaufen, also beispielsweise zwischen Bundesländern oder Ministerien (Treib 2015: 297): „Schwierigkeiten hat der AZI mit Situationen, in denen die Konfliktlinien innerhalb solcher organisatorischer Entitäten verlaufen etwa, wenn Parteien oder Verbände in unterschiedliche Flügel gespalten sind oder Ministerien in verschiedene Abteilungen mit divergierenden Zielvorstellungen zerfallen. Grundsätzlich wären solche Situationen auch mit dem AZI modellierbar, allerdings sind dann institutionelle Informationen deutlich weniger hilfreich, um die Komplexität solcher Situationen zu reduzieren, insbesondere hinsichtlich der Präferenzen der Akteure.“ (Treib 2015: 298)

Für die hier angestrebte Untersuchung, beispielsweise wie die einzelnen Richter in ihrem Dezernat die Zusammenarbeit mit den Wissenschaftlichen Mitarbeitern organisieren oder wie sie ihre Interessen innerhalb der Kammer, des Senats oder des Bundesverfassungsgerichts insgesamt durchsetzen, ist diese Begrenzung gerade nicht geeignet. Der akteurzentrierte Institutionalismus soll aus diesen Gründen der folgenden Untersuchung nicht zugrunde gelegt werden. Bei genauer Betrachtung stehen der akteurzentrierte Institutionalismus und das strategische Modell in keinem fundamentalen Widerspruch. Die Ausführungen zum akteurzentrierten Institutionalismus machen vielmehr deutlich, dass das strategische Modell auch als Spezifikation und als Anwendung des durch den akteurzentrierten Institutionalismus Vorgedachten – heruntergebrochen auf die spezielle Situation eines Verfassungsgerichts – betrachtet werden kann. Die im strategic model beobachteten Ebenen – sowohl die Mikro- als auch die Meso- und die Makroebene – und die damit verbundenen Perspektiven versprechen ein hohes Maß an Erkenntnisgewinn. Die Grundannahmen der Heuristik sind hinreichend abstrakt. Das bedeutet, dass das strategic model nicht an die institutionellen Gegebenheiten des obersten US-Gerichts gebunden ist. Es kann auf das Bundesverfassungsgericht übertragen werden, auch wenn es dort organisatorische Unterschiede gibt. Diese haben keine Auswirkungen auf die grundsätzliche Anwendbarkeit des Modells.

3

Auswahl der für die Forschungsfrage relevanten Einflussfaktoren und zu prüfende Hypothesen

Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit Untersuchungen zu Einflussfaktoren auf die Rechtsprechung des U.S. Supreme Court – und in eingeschränktem Maße auch zu den U.S. Courts of Appeals – auf das Bundesverfassungsgericht übertragen werden können. Die heuristische Orientierung an der US-Literatur soll allerdings nicht zu einem verengten Blick führen. Für die vorliegende Untersuchung muss deshalb auch berücksichtigt werden, welche Besonderheiten in der Organisation und der institutionellen Einbettung des Bundesverfassungsgerichts Auswirkungen auf dessen Rechtsprechung haben könnten. Die gesetzlichen Verfahrens- und Entscheidungsregelungen geben den Richtern zwar bis zu einem gewissen Grad Vorgaben für Verfahrensabläufe. Sie legen die Richter in ihrem Handeln jedoch nicht gänzlich fest, sondern lassen ihnen organisatorische und rechtliche Gestaltungsräume. Diese Auseinandersetzung mit potentiellen Faktoren soll zu Hypothesen führen, die im weiteren Verlauf der Arbeit auf ihre Gültigkeit überprüft werden. Mit dem Begriff des Faktors soll nicht impliziert werden, dass alle im Folgenden genannten Einflüsse auf einer Ebene liegen. Vielmehr handelt es sich um Faktoren, Mechanismen und formelle oder informelle Normen, ohne damit alle Einflüsse abschließend kategorisieren zu wollen. Die im Rahmen dieser Arbeit angestellten Überlegungen implizieren nicht, dass die Richter sich nicht an geltendes Recht halten oder sich aufgrund nicht juristischer Erwägungen außerhalb der Rechtsordnung bewegen würden. Zugrunde gelegt werden soll immer die Grundaussage des strategic model: „justices are primarily seekers of legal policy“ (Epstein/Knight 1998: 10). Der Fokus soll vielmehr darauf gerichtet sein, die Handlungs- und Entscheidungsspielräume zu identifizieren, die den Richtern innerhalb des Spektrums des juristisch Vertretbaren offenstehen, und deren tatsächliche Beschaffenheit und Nutzung zu untersuchen. Das als Heuristik zugrunde gelegte strategische Modell bietet bei © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2024 M. Schlögel, Strategen in Roben, https://doi.org/10.1007/978-3-658-43868-5_3

45

46

3

Auswahl der für die Forschungsfrage relevanten Einflussfaktoren …

der Auswahl möglicher Faktoren und deren Untersuchung nicht nur Erklärungsansätze dafür, weshalb Richter Freiräume auf die eine oder andere Weise nutzen. Es offeriert auch Ansätze, um das richterliche Verhalten unter der Einwirkung bestimmter Einflussfaktoren zu deuten. Das wichtigste Argument für die Heranziehung US-amerikanischer Forschung bei einer politikwissenschaftlichen Untersuchung des Bundesverfassungsgerichts liegt nicht in den organisatorischen Ähnlichkeiten zwischen den beiden Gerichten, sondern in der von der amerikanischen Forschung eingenommenen Perspektive: „Für politikwissenschaftliche Fragestellungen können insofern […] Studien, die die US-amerikanische Diskussion rezipieren, hilfreicher sein, da diese die Rolle der Verfassungsrechtsprechung nicht durch klar trennbare Sphären des Politischen und des Rechtlichen zu trennen versuchen.“ (Haltern 1998: 93 ff.)

Vor diesem Hintergrund müssen bei der forschungsleitenden Zugrundelegung der Literatur zum U.S. Supreme Court im Rahmen der vorliegenden Arbeit zahlreiche Aspekte beachtet werden, wie etwa die organisatorischen Gemeinsamkeiten und Unterschiede, die Einbettung in verschiedene politische Systeme und Rechtskreise mit dem jeweiligen Rahmen aus Akteuren und dem – wie aus der Darstellung des Forschungsstandes ersichtlich – stark unterschiedlichen Grad der sozialwissenschaftlichen Durchdringung der Funktionsweisen beider Gerichte und der unterschiedlichen Möglichkeiten hierzu. Zu den wesentlichen organisatorischen Unterschieden gehören die Zuständigkeiten der beiden Gerichte: Der nach dem so genannten Einheitsmodell organisierte Supreme Court hat eine Doppelzuständigkeit, die es ihm erlaubt, zum einen die verfassungsrechtlichen Aufgaben eines Verfassungsgerichts auszuüben, zum anderen aber auch als höchstes Gericht in einfachrechtlichen Streitigkeiten zu fungieren (Kau 2007: 87). Das nach dem Trennungsmodell organisierte Bundesverfassungsgericht hingegen hat ausschließlich über die Einhaltung bzw. Verletzung der Verfassung zu entscheiden (Kau 2007: 87). Auswirkungen hat dieser organisatorische Unterschied in erster Linie auf die Einheitlichkeit der Rechtsprechung, wobei der Vorteil der Einheitlichkeit im amerikanischen Rechtssystem dadurch relativiert wird, dass auch unteren Gerichten das Recht der Verfassungsauslegung zukommt, das nach deutschem Recht in letzter Verbindlichkeit allein dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten ist (Kau 2007: 266). Hinzu kommt, dass der U.S. Supreme Court – bei einer ähnlich hohen Zahl von Verfahrenseingängen wie am Bundesverfassungsgericht – ein freies Ermessen

3

Auswahl der für die Forschungsfrage relevanten Einflussfaktoren …

47

bei der Auswahl der zu entscheidenden Fälle hat, was dem Bundesverfassungsgericht trotz entsprechender Forderungen bisher so nicht zugestanden worden ist. Vielmehr muss das Bundesverfassungsgericht nach dem Bundesverfassungsgerichtsgesetz alle eingehenden Anträge prüfen. Und während der U.S. Supreme Court aus einem einzigen Spruchkörper mit neun auf Lebenszeit berufenen Richtern besteht, die stets im Plenum entscheiden, kann das Bundesverfassungsgericht in drei „Aggregatformen“ entscheiden: Als so genanntes Zwillingsgericht besteht das Bundesverfassungsgericht aus zwei Senaten. Seit 1970 kann das Bundesverfassungsgericht auch in mit je drei Richtern besetzten Kammern entscheiden. Und schließlich kann das Bundesverfassungsgericht im Plenum aller sechzehn Richter zur Entscheidung zusammentreten, wenn ein Senat gegen den Willen des anderen Senates von dessen Rechtsprechung abweichen möchte. Andererseits gibt es auch wesentliche Gemeinsamkeiten und Parallelen zwischen beiden Gerichten, die einen Transfer wissenschaftlicher Fragestellungen, theoretischer Ansätze und Methoden rechtfertigen. Zu ihnen zählt, dass beide Gerichte als letzte Instanz tätig sind und ihre Entscheidungen an sich auch von keinem anderen Gericht mehr aufgehoben werden können1 . Zu den relevanten Gemeinsamkeiten der deutschen und der USamerikanischen Verfassungsgerichtsbarkeit zählt zudem, dass die jeweiligen 1

Für das Bundesverfassungsgericht steht diese Aussage allerdings unter dem Vorbehalt möglicherweise abweichender Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, so dass „der vielberufene Himmel über Karlsruhe nicht mehr völlig frei, sondern teilweise besetzt“ ist (Wahl 2001: 52). Für die Rechtsuchenden bedeutet die Existenz von EuGH und Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte, dass sie Rechtsschutz auch vor Gerichten außerhalb der Bundesrepublik erlangen können (Wahl 2001: 52). Es besteht – nach der Erschöpfung des nationalen Rechtswegs, die sicherstellen soll, dass dem Nationalstaat die Möglichkeit gegeben wurde, eine Rechtsverletzung zu beseitigen – die Beschwerdemöglichkeit zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und zum Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen. In diesen Verfahren bleibt eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zwar formal das „letzte Wort“ (Benda/ Klein 2001: 31) darüber, ob der angegriffene Rechtsakt rechtmäßig ist, aber es gilt zu differenzieren. Zum Verhältnis des Bundesverfassungsgerichts zu den europäischen Gerichten vgl. auch Sturm/ Pehle 2005: 131 ff. und Kranenpohl 2013: 90 ff. Für die Analyse von Einflussfaktoren auf die Rechtsprechung bedeutet das, dass es zumindest möglich wäre, dass die Richter als strategische Erwägung – in einer analogen Anwendung des Modells der gegenseitigen Antizipation der Reaktionen von Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber von Georg Vanberg (Vanberg 2001) – zumindest auch eine mögliche Reaktion internationaler Gerichte auf die von ihnen zu treffende Entscheidung in ihre Überlegungen einbeziehen. Was dies unter dem Gesichtspunkt möglicher Einflüsse auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bedeuten kann, soll im Hinblick auf den nationalstaatlichen Fokus dieser Arbeit jedoch nicht weiterverfolgt werden.

48

3

Auswahl der für die Forschungsfrage relevanten Einflussfaktoren …

Entscheidungen jedenfalls zum Teil in Gesetzeskraft erwachsen und insgesamt rechtlich bindend sind, allerdings weder in den USA noch in Deutschland von den Verfassungsgerichten selbst vollstreckt2 werden können, weshalb sie beide bei der Implementierung ihrer Entscheidungen auch auf die beiden anderen Staatsgewalten – Parlamente und Regierungen – angewiesen sein können. Schließlich ist an beiden Gerichten eine erhebliche Zahl von Wissenschaftlichen Mitarbeitern an der Bearbeitung eingehender Anträge, der Erstellung von Entscheidungsvorlagen und dem Abfassen von Entscheidungen selbst beteiligt, was sicherlich die Frage rechtfertigt, wie groß die Einfluss- und Entscheidungsmöglichkeiten der Mitarbeiter an den beiden Gerichten sind. Impulse für eine politikwissenschaftliche Untersuchung des Bundesverfassungsgerichtes lassen sich trotz aller Unterschiede schließlich auch aus der Literatur zu den U.S. Courts of Appeals ableiten, etwa aus den Analysen, die den Zusammenhängen zwischen dem richterlichen Abstimmungsverhalten und den richterlichen Karriereambitionen nachgehen. In den vergangenen Jahrzehnten war das Amt des Richters am Bundesverfassungsgericht eines am Ende einer herausragenden juristischen Laufbahn. Allerdings wurden in den vergangenen Jahren zunehmend jüngere Richter nach Karlsruhe berufen, deren berufliche Laufbahn nicht mit dem Ende ihrer Amtszeit am Bundesverfassungsgericht enden wird, so dass die Frage nach dem obigen Zusammenhang, die für die Richter an den Courts of Appeals aufgeworfen wurde, möglicherweise auch auf das Bundesverfassungsgericht übertragen werden könnte. Es gibt also zahlreiche Anknüpfungspunkte für eine Zugrundelegung sozialwissenschaftlicher Aspekte aus der Forschung zum U.S. Supreme Court für die Untersuchung des Bundesverfassungsgerichts. Deshalb sind es letztlich auch weniger die oben skizzierten Unterschiede zwischen den beiden Gerichtshöfen, als die unterschiedliche Datenlage, die einen Erkenntnistransfer erschweren. Während im Supreme Court Compendium (Epstein et al. 2003) eine beinahe grenzenlose Fülle an Informationen und Zahlen zum Gericht, zu seinen Entscheidungen, zu den einzelnen Richtern und deren Abstimmungsverhalten vorliegt, gibt es 2

Für das Bundesverfassungsgericht bedarf diese Aussage der Relativierung. Nach § 35 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung bestimmen, wer sie vollstreckt und im Einzelfall kann es auch die Art und Weise der Vollstreckung regeln. Das Bundesverfassungsgericht selbst geht von einem weiten Vollstreckungsbegriff aus, wird dafür aber in der Literatur stark kritisiert, die neben § 31 BVerfGG, dem Erwachsen in Gesetzeskraft von Teilen der Entscheidung, keinen Raum für Vollstreckungsmaßnahmen sieht (Benda/ Klein 2001: 556). Problematisch bleibt das faktische Nichtrespektieren der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, gegen das sich Betroffene aber – sogar mit einer Verfassungsbeschwerde – zur Wehr setzen können.

3

Auswahl der für die Forschungsfrage relevanten Einflussfaktoren …

49

jenseits der in Karlsruhe geführten Statistik zu den Eingangs- und Verfahrenszahlen keine vergleichbare empirische Aufarbeitung zum Bundesverfassungsgericht. Dies gilt beispielsweise für Fragen nach der öffentlichen Zustimmung zu einzelnen Entscheidungen (Vorländer 2002 und Sternberg/ Gschwend/ Wittig/ Engst 2015), die Ermittlung der öffentlichen Unterstützung vor und nach Bekanntgabe der Entscheidung und für das Abstimmungsverhalten einzelner Richter. Die Praxis, am Ende einer Senatsentscheidung das Stimmverhältnis (allerdings ohne Namensnennung) mitzuteilen, fand zwar mit der vierten Änderungsnovelle zum BVerfGG vom 21. Dezember 1970 Eingang in das BVerfGG. Der § 30 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG normiert: „Die Richter können in ihren Entscheidungen das Stimmverhältnis mitteilen“. Für die Entscheidungspraxis in Karlsruhe bedeutet das allerdings, dass das Stimmverhältnis nicht zwangsläufig angegeben wird, sondern nur bei einer geringen Zahl der veröffentlichten Senatsentscheidungen. Bei diesen wird gelegentlich sogar das Abstimmungsverhältnis zu einzelnen Rechtsfragen oder Teilaspekten der Entscheidung mitgeteilt. Bei der einstweiligen Anordnung zum Volkszählungsgesetz etwa hieß es: „Die Entscheidung zu I ist einstimmig, zu II mit 6 zu 1 Stimmen ergangen“ (BVerfGE 64, 67 (70)). Häufig wählen die Richter allerdings den „Rückzug zum Palladium für die Unabhängigkeit“ (Reissenberger 2003: 164). Nicht vom Bundesverfassungsgericht bekanntgegeben wird, welche Richter gegen die Entscheidung der Mehrheit gestimmt haben. Dies ist nur zu erkennen, wenn Richter ihre von der Mehrheit verschiedene Rechtsauffassung in einem Sondervotum veröffentlichen. Das hat zur Folge, dass Forschungsfragen aus dem Kontext des U.S. Supreme Court, die auch für das Bundesverfassungsgericht von großem Interesse wären, deshalb nicht untersucht werden können, weil die dafür erforderlichen Informationen entweder nicht erhoben werden oder in dem für eine wissenschaftliche Aufarbeitung erforderlichen Umfang nicht zugänglich sind. Insbesondere verhindern das sehr weit verstandene Beratungsgeheimnis und die unzureichende Datenlage wissenschaftliche Untersuchungen zu einzelnen Richtern am Bundesverfassungsgericht, deren Abstimmungsverhalten, deren Präferenzen und dem möglichen Wandel, dem diese in dem Zeitraum, in dem ein Fall beim Bundesverfassungsgericht anhängig ist, gegebenenfalls unterworfen sein können. Zwar hat der Gesetzgeber mit dem Änderungsgesetz vom 16. Juni 1998 (BGBl. I S. 1823) die §§ 35a-35c BVerfGG neu eingefügt, um Auskunftsund Einsichtsrechte nicht am Verfahren Beteiligter abschließend im BVerfGG zu regeln, doch hat er in seiner Wertung letztlich den Persönlichkeitsrechten der am Verfahren beteiligten Personen Vorrang vor dem Informationsinteresse Dritter eingeräumt (Sennekamp, Vor §§ 35a-35c: 659). Alle die Unterlagen und Informationen, die für eine umfassende empirische Aufarbeitung unabdingbar

50

3

Auswahl der für die Forschungsfrage relevanten Einflussfaktoren …

wären, sind als loses Sonderheft der Prozessakte beigefügt und firmieren unter der Bezeichnung „Nichtakten“. Dieses Sonderheft enthält Entscheidungsentwürfe, Voten, Änderungs- und Formulierungsvorschläge sowie Notizen des Berichterstatters. Sie sind als Nichtakte ausdrücklich vom Zugangsrecht ausgenommen, um zu vermeiden, dass „Unterlagen, die lediglich der Entscheidungsfindung dienen und zudem dem Beratungsgeheimnis (§ 30 I) unterliegen können, den Einsichts- und Auskunftsrechten unterworfen werden“ (Sennekamp, § 35a: 671). Ebenfalls nicht zu den Akten gehören die zu einem Verfahren aus allgemein zugänglichen Quellen zusammengetragenen Informationen, was Untersuchungen, aus welchen Quellen und mit welcher Tiefe sich die Richter und ihre Wissenschaftlichen Mitarbeiter informieren, unmöglich macht. So war es nur konsequent, dass beispielsweise ein sich auf wissenschaftliche Zwecke berufender Antrag auf Zugang zum vollständigen „Lüth-Votum“3 durch die Verwaltung des Bundesverfassungsgerichts abgelehnt wurde (Sennekamp, § 35a: 672). Welche Faktoren aus der US-amerikanischen Literatur für eine Untersuchung des Bundesverfassungsgerichts herangezogen werden können und welche weiteren, spezifischen deutschen Faktoren auch für eine Untersuchung in Betracht kommen, soll nun im Einzelnen erörtert werden.

3.1

Externe Faktoren

3.1.1

Öffentliche Meinung

Wie bereits in der Aufarbeitung des Forschungsstandes beschrieben, gehört der Einfluss der öffentlichen Meinung auf den Supreme Court zu den am umfassendsten untersuchten Aspekten. Diverse Studien attestieren dem Supreme Court ein hohes Maß an Responsivität zu öffentlichen Präferenzen, sowohl bei der Fallauswahl als auch in der Rechtsprechung selbst. In einer Längsschnittuntersuchung der Jahre 1953 bis 1996 kommen McGuire und Stimson zu dem Ergebnis, dass – neben richterlichen Policy Präferenzen – die öffentliche Meinung den größten Einfluss auf den Output des Supreme Court hat. Die Autoren erklären diesen Umstand damit, dass das Gericht aller Machtfülle zum Trotz bei der Umsetzung seiner Judikate abhängig von anderen Institutionen ist und deshalb nach einer möglichst hohen Akzeptanz seiner Entscheidungen strebt (McGuire/ Stimson 2004: 1018).

3

Vgl. Lüth-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, BVerfGE 7, 198 ff.

3.1 Externe Faktoren

51

Analog werden als Ursache für die „enorme Wirksamkeit“ der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dessen Neigung zum Kompromiss und seine Offenheit für „große Linien der gesellschaftlichen Entwicklung“ gesehen (Schlaich 2001: 367). William Mishler und Reginald S. Sheehan gelangten bei einer Längsschnittanalyse der Jahre 1956 bis 1989 für die USA zu dem Resultat, dass langfristige Trends in der öffentlichen Meinung in den Entscheidungen des Supreme Court Niederschlag fanden (Mishler/ Sheehan 1993: 87). Darin sehen sie ein Indiz für die Überwindung der eingangs erwähnten countermajoritarian difficulty. Das Gericht versucht grundsätzlich, sich nicht konträr zur öffentlichen Mehrheitsmeinung zu positionieren. Dieses Phänomen ohne kritisches Hinterfragen als gute Botschaft zu werten, droht allerdings in die Irre zu führen. Es gehört doch zu den Kernaufgaben einer anti-majoritären Instanz, einer – etwa aufgrund außergewöhnlicher oder dramatischer Ereignisse womöglich nur temporär – auf Abwege geratenen Mehrheitsmeinung Einhalt zu gebieten und falls erforderlich die Grundwerte der Verfassung zu wahren. Gerade die institutionelle Unabhängigkeit und das von parlamentarischen Abläufen so verschiedene, entschleunigte und nur in ausgesuchten Fällen und ausschnittsweise der medialen Aufmerksamkeit unterliegende Verfahren vor Verfassungsgerichten sollte dies begünstigen. Im Politikfeld Innere Sicherheit hat das Bundesverfassungsgericht mit seiner Rechtsprechung nach den Anschlägen vom 11. September 2001 genau diese Aufgabe wahrgenommen. Die Befürchtung, rechtsstaatliche Garantien könnten durch sicherheitsgesetzgeberische Maßnahmen schleichend ausgehöhlt werden, ließ die Richter seinerzeit vermeintlich unpopuläre und von Politik und Medien teilweise heftig kritisierte Entscheidungen treffen (Schlögel 2010: 120 ff.). Gerade das Interesse an ihrer persönlichen Reputation und an der institutionellen Reputation des Gerichts ließ sie antizyklisch handeln. Auf diese Weise wahrten sie die Verfassung mit ihren Kernbekenntnissen in Zeiten äußerer Bedrohung. Die ehemaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Jutta Limbach und Hans-Jürgen Papier äußerten beide4 , dass das Gericht selbstverständlich die öffentliche Meinung und die Kommentare der Medien wahrnehme, die eine Entscheidung im Vorfeld und nach der Verkündung flankieren. Diese Aussage bestätigen auch die Ergebnisse der Studie von Sternberg, Gschwend, Wittig und Engst (2015), die auf der empirischen Basis einer Längsschnittanalyse der abstrakten Normenkontrollen und Bund-Länder-Streitigkeiten

4

Interview der Autorin mit Hans-Jürgen Papier am 8.9.2008 und informelles Gespräch mit Jutta Limbach am 8.7.2010.

52

3

Auswahl der für die Forschungsfrage relevanten Einflussfaktoren …

aus den Jahren 1974 bis 2010 zu dem Schluss kamen, dass die öffentliche Meinung und die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in diesen Verfahren systematisch korrelieren würden: „Je größer die spezifische Unterstützung der Antragsinhalte der Opposition in der öffentlichen Meinung ist, desto wahrscheinlicher entscheidet das Bundesverfassungsgericht auch im Sinne der Opposition und beanstandet das entsprechende Gesetz. (…) Es gibt – über alle Modelle hinweg – einen signifikant positiven Effekt zwischen der öffentlichen Meinung bzw. der Unterstützung für ein spezifisches Entscheidungsthema sowie der allgemeinen Unterstützung für Opposition bzw. Regierung. (…) Der dahinterliegende Mechanismus kann bisher nur vermutet werden.“ (Sternberg et al. 2015: 591)

Für das Verhältnis von Bundesverfassungsgericht und öffentlicher Meinung gibt es in Deutschland weniger empirisches Material, jenseits der Messung des Vertrauens in das Bundesverfassungsgericht. Insbesondere regelmäßige und spezifische Umfragen, die die Bewertung einzelner, signifikanter Entscheidungen einbeziehen, fehlen. In den USA hingegen wird eine große Menge von Parametern von großen demoskopischen Instituten akribisch, in engen Abständen und langen Zeitreihen gemessen. Werner Patzelt konnte in seiner Untersuchung „Warum verachten die Deutschen ihr Parlament und lieben ihr Verfassungsgericht?“ (Patzelt 2005)5 nur die Ergebnisse einer Momentaufnahme aus dem Jahre 2004 darstellen. Das große Vertrauen, das die Deutschen in das Bundesverfassungsgericht setzen, gilt in dem Modell von Georg Vanberg (Vanberg 2005) als Legitimitätsreserve6 der Richter: „Wenn die Bürger gerichtliche Unabhängigkeit wertschätzen und Respekt für Gerichtsentscheidungen als wichtig ansehen, kann ein Versuch gewählter Volksvertreter, solche Beschlüsse zu missachten oder zu umgehen, zu einem Verlust ihrer Unterstützung in der Öffentlichkeit führen. Die Befürchtung eines solchen Vertrauensverlustes kann ein starkes Motiv sein, gerichtliche Entscheidungen getreu durchzusetzen.“ (Vanberg 2005: 188)

5

Die ehemalige Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts Jutta Limbach gibt zu diesem Phänomen zu bedenken: „Solche Popularität ist nicht über jeden Zweifel erhaben. (…) Indiziert das ungebrochen große Vertrauen in die Verfassungsgerichtsbarkeit etwa ein politisches Misstrauen gegen die Demokratie?“ (Limbach zitiert nach Schlaich/ Korioth 2001: 369). 6 Die Aussage des früheren Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Roman Herzog, dass das Vertrauen der Bürger letztlich das einzige Kapital der Institution Bundesverfassungsgericht sei (zitiert nach Schlaich/ Korioth 2001: 368), scheint jedoch den Faktor „Institutsvertrauen“ zu überhöhen und bedarf der Relativierung.

3.1 Externe Faktoren

53

Auch Hans Vorländer und Gary Schaal haben die Vertrauenswerte in das Bundesverfassungsgericht losgelöst von einzelnen Entscheidungen untersucht. Die beiden Autoren analysierten zudem die Berichterstattung der Frankfurter Rundschau, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Süddeutschen Zeitung als Vertreter der massenmedialen Öffentlichkeit bei kontrovers diskutierten Entscheidungen (Vorländer/ Schaal 2006). Sternberg, Gschwend, Wittig und Engst wollten sich mit diesem in der Literatur mehrfach konstatierten Mangel an empirischem Material (Sieberer 2004: 1308) nicht zufriedengeben und entwickelten im Rahmen ihres Forschungsprojekts eine alternative Vorgehensweise, um die spezifische Unterstützung der Bevölkerung zum jeweiligen Entscheidungsthema zu erheben. Hierfür verwendeten sie Umfragen, die höchstens 18 Monate vor Bekanntgabe der Entscheidung durchgeführt worden waren, ordneten den Entscheidungen im Datensatz Themen zu und versuchten, in den Umfragen solche Fragen zu finden, die thematisch ähnlich oder verwandt zum dem für die verfassungsgerichtlichen Entscheidungen gewählten Themen waren (Sternberg et al. 2015: 582 ff.). Umfassend ist der Datensatz „Responsiveness and Public Opinion in Germany“7 von Elsässer, Schäfer und Hense aus dem Jahr 2021, der mit dem Ziel erstellt wurde, die Responsivität des Deutschen Bundestages gegenüber der deutschen Bevölkerung zu analysieren. „Um politische Responsivität empirisch untersuchen zu können, müssen sowohl die Einstellungen der Bevölkerung als auch das Handeln der Politik operationalisiert und gemessen werden, um beides miteinander in Beziehung setzen zu können. Der Datensatz enthält deshalb Informationen zur öffentlichen Meinung und politischen Entscheidungen zu 823 Sachfragen. Er basiert auf Umfragedaten, die zwischen 1980 und 2016 im Rahmen der Politbarometer und DeutschlandTrend Umfragen erhoben wurden.“ (vgl. https://data.gesis.org/sharing/#!Detail/https://doi.org/10.7802/2299)

Die Zielsetzung der vorliegenden Arbeit liegt darin, extralegale Einflüsse auf das Verhalten der Richter am Bundesverfassungsgericht zu identifizieren und Evidenz dafür zu finden, dass sich die Richter unter diesen Einflüssen strategisch verhalten. Das Datenmaterial, das erforderlich wäre, um sich auf der Ebene einzelner Entscheidungen mit der öffentlichen Meinung vor und nach deren Verkündung und einer möglichen Anpassung des Bundesverfassungsgerichts an die öffentliche Meinung zu untersuchen, steht derzeit nicht zur Verfügung.

7

Vgl. https://data.gesis.org/sharing/#!Detail/10.7802/2299 (Stand Dezember 2021).

54

3.1.2

3

Auswahl der für die Forschungsfrage relevanten Einflussfaktoren …

Präferenzen der Exekutive

Im Regierungssystem der Vereinigten Staaten kommt dem Präsidenten das Recht zu, alle Richter an Bundesgerichten zu nominieren (Gellner/ Kleiber 2007: 120). Der nominierte Kandidat bedarf für seine Ernennung der einfachen Mehrheit der Stimmen des Senats (Jäger/ Haas/ Welz 2007: 171). Die Richter am U.S. Supreme Court werden auf Lebenszeit berufen, können „during good behavior“ nicht abgesetzt werden (Jäger/ Haas/ Welz 2007:171) und nach Art. III, Sec. 1, U.S. Const. dürfen ihre Gehälter während ihrer Amtszeit nicht gekürzt werden, um die richterliche Unabhängigkeit zu stärken und zu verhindern, dass die beiden anderen Gewalten durch finanzielle Sanktionen versuchen, auf die Richter einzuwirken. Der verfassungsrechtlich verbürgten Garantie des Einkommens und der Berufung auf Lebenszeit zum Trotz hatten Präsidenten in den mehr als 200 Jahren des Bestehens des obersten Gerichtshofs der USA immer wieder versucht zu intervenieren. Ein prominentes Beispiel ist der „court-packing plan“ von Franklin Delano Roosevelt, der von 1933 bis zu seinem Tod im Jahre 1945 der 32. Präsident der USA war. Durch mehrere Neuernennungen konservativer Richter in den 1920er Jahren war eine konservative Mehrheit am Supreme Court entstanden, die staatlicher Regulierung abwehrend gegenüberstand und einige vom Gericht zu überprüfende Teile von Roosevelts New Deal Reformgesetzgebung, mit der er in den 1930er Jahren auf die Wirtschaftskrise reagierte, als verfassungswidrig beurteilte (Solomon 2005: 231). Daraufhin brachte Roosevelt 1937 einen Gesetzentwurf in den Kongress ein, der es ihm ermöglichen sollte, weitere Richter an den U.S. Supreme Court zu berufen. Für jeden amtierenden Richter, der älter als 70 Jahre war, sollte ein zusätzlicher, neuer Richter berufen werden (Fraenkel 1981: 189), um so die konservative Mehrheit durch die Neuberufungen zur Minderheit zu machen. Die Zahl der Richter am Supreme Court ist in der Verfassung nicht festgelegt, sondern kann durch einfaches Gesetz verändert werden. Der die Richterzahl betreffende Teil des Rooseveltschen Gesetzgebungsvorhabens wurde im August 1937 vom Gesetzgeber abgelehnt und nicht erlassen. Ein weiteres prominentes Beispiel für die Einflussnahme des Präsidenten stammt von George Bush senior, der – als sein Wunschkandidat für das Richteramt wegen mangelnder Qualifikation im ersten Versuch abgelehnt worden war – die im Ernennungsprozess fest verankerte Praxis abschaffte, ein Empfehlungsschreiben der American Bar Association8 einzuholen (Jäger/ Haas/ Welz 8

Deren „Standing Committee on the Federal Judicary“ benotet die juristische Qualifikation der Kandidaten mit den Wertungen „außerordentlich qualifiziert“, „gut qualifiziert“, „qualifiziert“ und „nicht qualifiziert“ im Rahmen eines Gutachtens (Jäger/ Haas/ Welz 2007: 174).

3.1 Externe Faktoren

55

2007: 174). Bei der Auswahl der Richter am Supreme Court ist den Beteiligten klar, dass mit dieser Personalentscheidung nicht darauf abgezielt wird, einzelne Entscheidungen zu beeinflussen. Wegen der Berufung ins Richteramt auf Lebenszeit handelt es sich um eine Tätigkeit, die auf eine durchschnittliche Dauer von drei oder vier Jahrzehnten angelegt ist. Die Strategie von Präsidenten ist hier eine langfristige: Mit der Berufung von Richtern auf Lebenszeit, deren politische Präferenzen und moralische Wertvorstellungen mit denen des berufenden Präsidenten und dessen Partei übereinstimmen, soll der „Grundstein für eine Doktrin“ (Gellner/ Kleiber 2007: 121) des U.S. Supreme Court gelegt werden. Im Verfahren der Verfassungsrichterwahl in Deutschland kommt auf Bundesebene zwar dem Parlament eine vergleichbare Rolle zu, nicht aber der Bundesregierung. Konflikte zwischen der Exekutive und dem Bundesverfassungsgericht waren in den vergangenen 60 Jahren nur sporadisch zu beobachten, etwa die Reaktion des damaligen bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber auf das Kruzifix-Urteil vom 16. Mai 1995 oder die Aussage, die vom damaligen Bundeskanzler Willy Brand kolportiert wird, er ließe sich „von den A[…] in Karlsruhe nicht seine Ostpolitik kaputt machen“. Lediglich das bereits beschriebene Paradoxon, dass die Macht des Bundesverfassungsgerichts auf der Akzeptanz seiner Entscheidungen durch die von ihm kontrollierten Akteure beruht9 , trifft auch auf das Verhältnis der Karlsruher Richter zu den Organen der Exekutive zu. Es gibt jedoch keine im System grundsätzlich angelegten Reibungspunkte zwischen den beiden Akteuren, so dass hier keine nähere Untersuchung der Interaktion mit der Exekutive erfolgen soll.

3.1.3

Präferenzen der Legislative

So groß der Einfluss der Exekutive in den USA bei der Auswahl der Richter ist, die an den U.S. Supreme Court berufen werden, so bedeutsam ist der Einfluss von Bundestag und Bundesrat im Verfahren der Wahl der Bundesverfassungsrichter. Nach Art. 94 Abs. 1 Satz 2 GG in Verbindung mit § 5 Abs. 1 BVerfGG werden die Richter mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit je zur Hälfte vom Bundesrat und vom Bundestag gewählt. Das Erfordernis dieser Mehrheit soll gewährleisten, dass es sich um einen Kandidaten handelt, der von einem überparteilichen Konsens getragen wird. Zur Sicherung der richterlichen Unabhängigkeit ist eine Wiederwahl ausgeschlossen (Schlaich/ Korioth 2010: 25).

9

Vgl. Ulrich K. Preuß, zitiert nach Landfried (2006): 231.

56

3

Auswahl der für die Forschungsfrage relevanten Einflussfaktoren …

Die Wahl im Bundesrat findet im Plenum statt. Umstritten war die Wahl im Bundestag, die indirekt durch einen mit zwölf Abgeordneten besetzten Wahlausschuss vollzogen wurde (§ 6 BVerfGG). Diesem Wahlverfahren wurden ein Transparenz- und damit ein Demokratiedefizit vorgeworfen. Christine Landfried formuliert die These, die Art und Weise der Wahl der Bundesverfassungsrichter beeinflusse die Rechtsprechung stärker als dies nach herrschender Meinung angenommen werde (Landfried 2006: 229). Als Beispiel für ihre Vermutung nannte sie den ihrer Ansicht nach auf eine veränderte personelle Zusammensetzung des Senats zurückzuführenden Wandel in der Rechtsprechung zur Parteienfinanzierung, bleibt aber den umfassenden empirischen Nachweis schuldig. Als Reaktion auf die Kritik am Verfahren der Richterwahl im Bundestag hat der Bundesgesetzgeber in einer Novelle des BVerfGG vom 24. Juni 201510 zum 30. Juni 2015 das Wahlverfahren dahingehend modifiziert, dass die Wahl der Richter nunmehr durch das Plenum des deutschen Bundestages erfolgt. Im Vergleich zum U.S. Supreme Court wird bei der Untersuchung der Einflussfaktoren auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Interaktion mit der Legislative von ungleich größerer Bedeutung sein. Dies wird auch daran liegen, dass in den USA nach dem „case or controversy“-Kriterium nur konkrete Streitfragen entschieden werden können. Das deutsche Verfahrensrecht hingegen ermöglicht auch die verfassungsrechtliche Überprüfung von Gesetzesbeschlüssen des Parlaments, und zwar in unterschiedlichen Verfahren. Im Rahmen des abstrakten Normenkontrollverfahrens wird die Vereinbarkeit einer Rechtsnorm mit dem Grundgesetz überprüft, ohne dass es der möglichen Verletzung eines subjektiven Rechts als Anlass der Überprüfung bedarf. Neben der abstrakten Normenkontrolle gibt es im deutschen Verfassungsprozessrecht außerdem die konkrete Normenkontrolle, die auch Richtervorlage genannt wird. Im Wege der konkreten Normenkontrolle setzt ein Richter ein anhängiges Verfahren dann aus, wenn er zu dem Schluss gelangt, dass die streitentscheidende Norm möglicherweise nicht verfassungsgemäß ist, und legt diese Frage dem Bundesverfassungsgericht nach Art. 100 Abs. 1 GG zur Entscheidung vor. Im Vergleich zur Verfassungsbeschwerde ist die Zahl der Verfahrenseingänge bei den Normenkontrollen ungleich geringer, dennoch stellt sich die Frage, ob die Richter hier – abhängig davon, ob die Richter über die Verfassungsmäßigkeit einer landesoder bundesgesetzlichen Norm entscheiden müssen – unterschiedlich agieren. Signifikant ist allerdings der Unterschied in der Häufigkeit der Annahme zwischen Verfassungsbeschwerde und den Verfahren der Normenkontrolle. Während 10

Vgl. BGBl. 2015, S. 973.

3.1 Externe Faktoren

57

etwa 95 Prozent aller Verfassungsbeschwerden als unzulässig abgewiesen werden, sind es bei den Normenkontrollen lediglich 35 Prozent der eingereichten Anträge, die im Vorfeld scheitern (Gawron/ Rogowski 2007: 130). Generell handelt es sich bei der Interaktion zwischen Verfassungsgericht und Gesetzgeber in den Regierungssystemen, in denen einem Gericht die Kompetenz übertragen11 wurde, Normen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers für nichtig zu erklären, um das prominenteste Konfliktfeld verfassungsgerichtlicher Tätigkeit12 . Da die Legitimitätsreserve des Bundesverfassungsgerichts – wie von Vorländer postuliert – in erster Linie das große Vertrauen ist, das die Bevölkerung dieser als unpolitisch wahrgenommenen Institution entgegenbringt, wird es den Richtern ein großes Anliegen sein, dieses Vertrauen nicht durch Konflikte mit anderen demokratischen Akteuren zu beschädigen. Entsprechend dieser Überlegung wäre es denkbar, dass das Bundesverfassungsgericht gegenüber dem Bundesgesetzgeber eine größere Zurückhaltung zeigt als gegenüber dem Landesgesetzgeber13 . Bereits beobachtet wurde bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung von Normen, dass das Gericht Kassationen zu vermeiden sucht und stattdessen in seinen Entscheidungen zum Mittel der Modifikation einer gesetzlichen Regelung im Wege der verfassungskonformen Auslegung als vermeintlich milderem Mittel greift (Schlögel 2010: 130). Das Argument, die Betrachtung von Landes- und Bundesgesetzen sei nicht sinnvoll aufgrund der unterschiedlichen Materien, vermag für die hier angestellte Überlegung ebenso wenig zu überzeugen wie der Einwand, die Länder seien zumindest bei zustimmungspflichtigen Gesetzen über den Bundesrat in den Prozess der Gesetzgebung involviert. Zumal durch die Föderalismusreform aus dem Jahr 2006 die zustimmungsbedürftigen Bundesgesetze verringert wurden, um die Blockademöglichkeiten durch den Bundesrat zu reduzieren. Insofern wäre es für die Untersuchung möglicher Einflussfaktoren auf das Entscheidungsverhalten der Richter am Bundesverfassungsgericht von hohem 11

Dem U.S. Supreme Court war die Aufgabe der Prüfung von Normen auf ihre Verfassungskonformität nicht von den Verfassungsvätern übertragen worden, sondern das Gericht hatte sich diese Aufgabe im Jahre 1803 in der Entscheidung „Marbury vs. Madison“ selbst zugesprochen. 12 Dieser Konflikt wurde oben unter dem Begriff der „countermajoritarian difficulty“ bereits kurz dargestellt. 13 Obwohl die Länder eigene Verfassungsgerichte haben, gibt es Konstellationen, in denen das Bundesverfassungsgericht zur Überprüfung der Vereinbarkeit von Landesrecht mit dem GG berufen ist, denn die Landesverfassungsgerichte können nur die Vereinbarkeit eines Landesgesetzes mit der Landesverfassung überprüfen. Zudem sind die Zuständigkeiten der Landesverfassungsgerichte in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich ausgestaltet.

58

3

Auswahl der für die Forschungsfrage relevanten Einflussfaktoren …

Interesse herauszufinden, ob sich die Vermutung, dass die Richter eventuell bei der Frage der Verfassungsmäßigkeit von Bundesgesetzen zurückhaltender urteilen als bei Landesgesetzen, empirisch belegen lässt. Diese Frage ist für das Bundesverfassungsgericht mit Hilfe der amtlichen Sammlung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts auch mittels einer quantitativen Untersuchung überprüfbar. Eine solche empirische Untersuchung wird im Rahmen der vorliegenden Arbeit auch durchgeführt.

3.1.4

Amicus curiae

Am Supreme Court hat die Mobilisierung der Öffentlichkeit durch zivilgesellschaftliche Akteure im Rahmen der Einreichung von amicus curiae briefs Einfluss auf die Fallauswahl des Gerichts und damit auf dessen inhaltliche Agenda (Peters 2007, Caldeira/ Wright 1988, Collins 2007). Je umfangreicher die Beteiligung von Verbänden, zivilgesellschaftlichen Gruppen oder sonstigen Dritten im Vorfeld einer Klage ist, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass der U.S. Supreme Court diese Klage zur Entscheidung annimmt und umso größer ist auch der inhaltliche Zusammenhang zwischen den briefs und der Entscheidung selbst. Am Bundesverfassungsgericht können einem bereits laufenden Verfahren andere Verfassungsorgane beitreten, etwa bei einer konkreten Normenkontrolle nach Art. 100 GG der Bundestag, der Bundesrat, die Bundesregierung und gegebenenfalls auch Landtage und Landesregierungen entsprechend der Vorschrift des § 82 Abs. 2 BVerfGG. Das Beitrittsrecht umfasst jedoch keine natürlichen Personen. Weiter gehen hier die Äußerungsrechte, die sich neben den Beteiligten des Ausgangsverfahrens, den betroffenen Verfassungsorganen und den obersten Gerichtshöfen des Bundes und der Länder (Schlaich/ Korioth 2001: 46) nach § 22 Abs. 5 der Geschäftsordnung des Bundesverfassungsgerichts (GeschO BVerfG) auch auf vom Gericht ersuchte „Persönlichkeiten, die auf einem Gebiet über besondere Kenntnisse verfügen“ erstrecken, um „sich zu einer für die Entscheidung erheblichen Frage gutachtlich zu äußern“. Der Gesetzgeber hat diese Möglichkeit in § 27a BVerfGG aufgegriffen und bestimmt, dass das Bundesverfassungsgericht „sachkundigen Dritten Gelegenheit zur Stellungnahme geben“ kann, wobei insbesondere an gesellschaftliche Gruppen und Verbände gedacht ist (Benda/ Klein 2001: 85). In dieser Regelung kann zumindest eine partielle Ähnlichkeit zur amicus curiae-Beteiligung gesehen werden, da zivilgesellschaftliche Gruppen und sachverständige Persönlichkeiten die Möglichkeit erhalten, dem Gericht ihre Sichtweise darzulegen. Anders als in den USA bedarf es aber für deren Beteiligung der Aufforderung durch das Gericht.

3.1 Externe Faktoren

59

Hierin besteht zwar ein zentraler Unterschied zwischen beiden Verfahren, doch rechtfertigt dieser nicht die Annahme, sachverständige Persönlichkeiten und sonstige Dritte i.S.d. § 27a BVerfGG hätten womöglich einen geringeren Einfluss auf die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts als die amicus curiae auf die des U.S. Supreme Court. In der deutschen Literatur zum Bundesverfassungsgericht hat Rüdiger Zuck erstmals die Figur des amicus curiae aufgegriffen (Zuck 2016). Zwar gehen am Bundesverfassungsgericht gelegentlich unaufgeforderte Stellungnahmen zu anhängigen Verfahren ein, doch ist der Umgang mit diesen nicht gesetzlich geregelt. Diese Stellungnahmen würden dem Berichterstatter zwar vorgelegt, „grundsätzlich aber nicht zu den Akten genommen“ (Zuck 2016: 1131). Zuck nennt vier Gründe, weshalb die bestehende Lücke geschlossen werden sollte, nämlich den Untersuchungsgrundsatz, nach dem das Gericht entscheidungserhebliche Tatsachen von Amts wegen zu ermitteln hat, die objektive Funktion der Verfassungsbeschwerde, das Gebot des effektiven Rechtsschutzes und schließlich das Rechtsstaatsprinzip (Zuck 2016: 1132 f.). Die Frage, ob sich dieser Einfluss in Einzelfällen oder gar auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts grundsätzlich auswirkt, lässt sich aber kaum beantworten. Während zum U.S. Supreme Court einschlägige Erhebungen vorliegen14 und notwendiges Material und Informationen zum Teil vom Gericht selbst zur Verfügung gestellt werden, gibt es für das Bundesverfassungsgericht nichts Vergleichbares. Zwar werden die sachkundigen Stellungnahmen und Auskünfte in der Sachverhaltsdarstellung der Entscheidungen mitunter sogar breit wiedergegeben, doch werden sie in den Entscheidungsgründen eher selten und dann nur sehr zurückhaltend wieder aufgegriffen (Dollinger 2005, §27a, Rn. 13). Angesichts des weitreichenden Beratungsgeheimnisses und des sehr begrenzten Akteneinsichtsrechts bestünde auch nur eine limitierte Möglichkeit der wissenschaftlichen Aufarbeitung dieser Einflüsse, weshalb hierauf verzichtet werden soll.

14

So wurde festgestellt, dass in Verfahren, in denen die allgemeine Informationslage spärlich ist, die Richter verstärkt auf die Informationen zurückgreifen, die ihnen in amicus curiae briefs zur Verfügung gestellt werden, und im Gegenzug auch zivilgesellschaftliche Gruppen strategisch agieren, indem sie sich bevorzugt bei Verfahren mit dünner Informationslage einzubringen suchen, vgl. Collins 2004 und Hansford 2004.

60

3.1.5

3

Auswahl der für die Forschungsfrage relevanten Einflussfaktoren …

Verfahrensbeteiligte

3.1.5.1 Einzelperson oder Personengruppe Wie bei der Aufarbeitung des Forschungsstandes zum U.S. Supreme Court dargestellt gibt es in den USA verschiedene Kläger bzw. Klägergruppen, die über unterschiedlich große Erfolgsaussichten in Verfahren vor dem obersten Gericht verfügen. Auch für das Bundesverfassungsgericht wäre es vorstellbar, dass es Klägergruppen mit unterschiedlichen Erfolgsaussichten geben könnte, dass also die Person des Klagenden einen Einfluss auf die Richter hat und sich diese dann wieder – je nach klagender Person – strategisch verhalten. Der Bundesgesetzgeber hat die Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht als eine verhältnismäßig niederschwellige Möglichkeit des Rechtsschutzes ausgestaltet. So gibt es, um dem Anspruch der Verfassungsbeschwerde als so genanntem „Jedermannsrecht“ gerecht zu werden, für deren Erhebung keinen Anwaltszwang. Anders als am Bundesgerichtshof, wo es eine limitierte Zahl von Anwälten gibt, die vor dem Gericht auftreten dürfen, kann jeder in Deutschland zugelassene Rechtsanwalt seinen Mandanten vor dem Bundesverfassungsgericht anwaltlich vertreten, was teilweise zu einer – von den Verfassungsrichtern beklagten – geringen Professionalität führt15 . In der Geschichte des Gerichts gab es einige Verfahren, die von großer medialer Aufmerksamkeit begleitet wurden. So etwa die Verfahren, in denen das Gericht durch Verfassungsauslegung neue, spezifische Ausprägungen von Grundrechten definiert hat, die danach in der Praxis wie eigenständige Grundrechte behandelt wurden. Das war zum einen im Jahre 1983 die Volkszählungsentscheidung (BVerfGE 65,1), in deren Rahmen das Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus der Taufe gehoben wurde, und die als „Geburtsstunde des Datenschutzes“ gilt. Zum anderen entstand fünfundzwanzig Jahre später durch eine vergleichbare Verfassungsinterpretation der Karlsruher Richter im Verfahren zur Online-Durchsuchung das Recht auf die Vertraulichkeit und die Integrität informationstechnischer Systeme, das verkürzt auch als „Computergrundrecht“ bezeichnet wird (BVerfGE 120, 274). Die Verfahren um die Verfassungsmäßigkeit der Volkszählung 1983, zur Onlinedurchsuchung im Jahr 2008 sowie zur Vorratsdatenspeicherung 2010 zeichneten sich durch eine Vielzahl von Beschwerdeführern bzw. Unterstützern der Beschwerdeführer aus. Daraus könnte sich die 15

Der ehemalige Präsident des Gerichts, Andreas Voßkuhle, beklagt sich zwar nicht, doch leitete er seinen Aufsatz „Der Rechtsanwalt und das Bundesverfassungsgericht – Aktuelle Herausforderungen der Verfassungsrechtsprechung“ (2013: 1329–1336) mit dem vielsagenden Satz ein: „Der gute Jäger kennt sein Wild, der gute Boxer seinen Gegner, der gute Anwalt das Gericht.“

3.1 Externe Faktoren

61

Vermutung ableiten lassen, dass ein offensichtlich von einer großen Gruppe getragenes Interesse an einem bestimmten Entscheidungsinhalt die Wahrscheinlichkeit der Zielerreichung erhöhen könnte. Darüber hinaus ist es für das Bundesverfassungsgericht ebenfalls denkbar, dass manche Personen über eine größere Erfahrung mit Verfahren vor dem Gericht und damit über einen höheren Grad der Professionalisierung verfügen. Das könnte sich positiv auf die Erfolgsaussichten oder zumindest auf die Wahrscheinlichkeit der Annahme der von ihnen eingereichten Klagen auswirken. Als Beispiel kämen die Verfahren in Betracht, die Burkhard Hirsch, ehemaliger Vizepräsident des Deutschen Bundestages, Gerhart Baum, ehemaliger Bundesminister des Inneren, oder die ehemalige Bundesministerin der Justiz Sabine Leutheusser-Schnarrenberger in Karlsruhe geführt haben. Für die Frage nach möglichen Einflussfaktoren wäre es durchaus von Interesse auszuwerten, ob die Richter davon beeinflusst werden, wer die Klage erhoben hat. Konkreten Niederschlag finden – und damit zum Gegenstand der Untersuchung werden – könnte das beispielsweise in der Untersuchung, ob bestimmte Personengruppen mit höherer Wahrscheinlichkeit erreichen, dass ihre Klagen zur Entscheidung angenommen werden und – im Falle der Annahme – über bessere Erfolgsaussichten verfügen verglichen mit dem Durchschnitt der übrigen Klagen. Einer empirischen Überprüfung eines solchen Zusammenhangs steht entgegen, dass es nicht möglich ist, den dafür erforderlichen, umfassenden Zugang zu den Akten abgeschlossener Verfahren zu erhalten, insbesondere kein Gesamtüberblick über die nicht angenommenen oder verworfenen Klagen möglich ist.

3.1.5.2 Involviertes Gericht In der Forschung zum U.S. Supreme Court finden sich keine sozialwissenschaftlichen Untersuchungen zur Interaktion des obersten amerikanischen Gerichts mit den anderen Gerichten des Landes. Eine Erklärung dafür könnte in der oben beschriebenen Organisation des U.S. Supreme Court nach dem Einheitsmodell liegen: Wenn dem Supreme Court sowohl in verfassungsrechtlichen, als auch in einfachrechtlichen Fragen die Letztentscheidungsbefugnis zusteht, gibt es keinen Anlass für Kompetenzkonflikte oder nicht zu lösende inhaltliche Kollisionen zwischen Verfassungsgericht und Fachgericht. Das stellt sich aufgrund der Organisation des Bundesverfassungsgerichts nach dem Trennungsmodell anders dar: In einfachrechtlichen Fragen kommt nach deutschem Recht den obersten Gerichtshöfen des Bundes im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeit „das letzte Wort“ zu. Deshalb sind Konfliktfälle denkbar, in denen das Bundesverfassungsgericht mit seiner Entscheidung über spezifisch verfassungsrechtliche Aspekte

62

3

Auswahl der für die Forschungsfrage relevanten Einflussfaktoren …

eines Falles mittelbar in die einfachrechtliche Entscheidung eines obersten Bundesgerichts eingreift. Entsprechend wäre es für eine empirische Untersuchung der Einflüsse auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts denkbar, dass es für die Entscheidung der Verfassungsrichter nicht unerheblich ist, welches Gericht in ein Verfahren involviert ist und sich die Richter dann entsprechend strategisch verhalten. Hier kommen im Wesentlichen zwei Konstellationen in Betracht: Zum einen wäre im Rahmen konkreter Normenkontrollen zu untersuchen, ob das Bundesverfassungsgericht eher geneigt ist, Richtervorlagen von Instanzgerichten zu verwerfen und Anträge von Bundesgerichten größere Erfolgsaussichten haben. In logischer Fortführung dieser Annahme wäre es zum anderen denkbar, dass Urteilsverfassungsbeschwerden, die die Entscheidungen von Instanzgerichten betreffen, größere Aussicht auf Erfolg haben, weil die Richter strategisch erwägen, dass ihnen bei der Aufhebung der Entscheidung eines Amts- oder Landgerichts deutlich weniger „Gegenwind“ droht, als in den Fällen, in denen sie die Entscheidungen der Kollegen an den Bundesgerichten mit dem Verdikt der Verfassungswidrigkeit versehen. In beiden Konstellationen könnte als mögliche strategische Erwägung der Richter relevant sein, dass das Bundesverfassungsgericht bei der Aufhebung von Entscheidungen der Bundesgerichte eher einen Mangel an Folgebereitschaft befürchten müsste – und damit einen drohenden Reputationsverlust. Für diese möglicherweise herabgesetzte Folgebereitschaft wären zwei Gründe vorstellbar: Zum einen könnten die Richter der Bundesgerichte mit größerem Selbstbewusstsein auf den von ihnen getroffenen Entscheidungen beharren, weil sie im Zuge der Fachgerichtsbarkeit die Gerichte letzter Instanz sind. Zum anderen werden die Entscheidungen der Bundesgerichte in der Fachöffentlichkeit breit rezipiert, so dass ein Abweichen oder Ignorieren von verfassungsgerichtlichen Vorgaben wahrgenommen und als solches erkannt würde. Das könnte sich nachteilig auf das Ansehen und die Stellung des Bundesverfassungsgerichts auswirken. Anhand der in der amtlichen Entscheidungssammlung veröffentlichten Senatsentscheidungen könnte – wenn auch mit der Einschränkung, dass die Möglichkeit fehlt Kammerentscheidungen einzubeziehen – empirisch überprüft werden, ob es einen Zusammenhang zwischen der Wahrscheinlichkeit der Stattgabe in Verfahren der Richtervorlage und dem jeweils vorlegenden Gericht bzw. – im Falle einer Urteilsverfassungsbeschwerde – dem involvierten Gericht gibt.

3.2 Interne Faktoren

3.2

Interne Faktoren

3.2.1

Annahmeverfahren

63

Der Hauptgrund für die Schaffung eines prozeduralen Annahmeverfahrens liegt sowohl beim Bundesverfassungsgericht als auch beim U.S. Supreme Court in der gravierenden Überlastung aufgrund der in Deutschland und in den Vereinigten Staaten gleichbleibend hohen Zahlen an Verfahrenseingängen. Durch das Annahmeverfahren soll die Möglichkeit eröffnet werden, die Flut der eingehenden Klagen zu kanalisieren, um die Funktionsfähigkeit des Gerichts aufrecht zu erhalten. In der US-amerikanischen Literatur unbestritten ist die These, dass die neun Richter am Supreme Court das freie Annahmeverfahren auch zur Gestaltung der gerichtlichen Agenda nutzen16 . So sind hinsichtlich der Agenda des obersten USGerichts Tendenzen zu beobachten, dass bestimmte politisch und gesellschaftlich umstrittene und ideologisch aufgeladene Themen – wie beispielsweise die Frage nach der Zulässigkeit der Todesstrafe oder die Frage nach der Straffreiheit von Abtreibungen – seit Jahren gezielt gemieden werden, und sich die Verfassungsrichter zudem nach Möglichkeit nicht zu Fragen der US-Außenpolitik und wenn unumgänglich, dann im Sinne der Exekutive17 äußern. Auch für das Bundesverfassungsgericht wäre es denkbar, dass einerseits versucht wird, Klagen zu manchen Inhalten auszuweichen, und andererseits bestimmte Sachverhalte zur Entscheidung an sich zu ziehen. Als Umgehungsstrategie wäre es zudem – angesichts der langen Verfahrensdauern in Karlsruhe – denkbar, dass ein Senat eine Klage zwar zur Entscheidung annimmt, sich die Bearbeitungsdauer aber über einen längeren Zeitraum erstreckt, etwa bis ein Sachverhalt an Brisanz verloren hat. Dies kann beispielsweise passieren, weil andere prominente Ereignisse im öffentlichen Bewusstsein präsent sind oder sich aufgrund von Wahlen die politischen Verhältnisse geändert haben. Eine quantitative Untersuchung dieser Fragen lässt sich mangels Einblick in die Gesamtheit der Verfahrenseingänge am Bundesverfassungsgericht nach heutigem Stand nicht realisieren. Aspekte aus der Literatur zum U.S. Supreme Court, die für eine politikwissenschaftliche Analyse des Bundesverfassungsgerichts zumindest im Rahmen einer qualitativen Untersuchung in Betracht kommen, betreffen zum einen die Frage, 16

Vgl. Epstein/ Segal/ Spaeth: Setting the Nation’s Legal Agenda: Case Selection on the U.S. Supreme Court, http://epstein.wustl.edu/research/cert.pdf (Stand Mai 2021). 17 Für viele Koh (1990), kritisch und anderer Auffassung dazu King/ Meernik 1999.

64

3

Auswahl der für die Forschungsfrage relevanten Einflussfaktoren …

inwieweit die Richter durch ihre Fallauswahl, und zum anderen, wie sie durch die Zuordnung der zur Entscheidung angenommenen Fälle zu Kammer oder Senat möglicher Weise die gerichtliche Agenda zu beeinflussen versuchen.

3.2.1.1 Freie Annahme Das freie Annahmeverfahren gehört aus sozialwissenschaftlicher Perspektive zu den wichtigsten Unterschieden zwischen Bundesverfassungsgericht und U.S. Supreme Court. Anders als im deutschen Recht, das die Verfassungsbeschwerde ausdrücklich in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG als „Jedermannsrecht“ geregelt hat mit einem Anspruch darauf, dass im Falle der Zulässigkeit die eingereichte Beschwerde auch vom Bundesverfassungsgericht geprüft wird, steht die individuelle Rechtsschutzmöglichkeit vor dem Supreme Court – die Entscheidung über die Erteilung eines writ of certiorari18 – im freien Ermessen des Gerichts. Der Antragsteller hat also kein subjektives Recht auf eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten (Kau 2007: 424). Bei genauer Betrachtung relativiert sich die Tiefe dieses vermeintlichen Grabens. Am U.S. Supreme Court gibt es vier verschiedene Arten, wie ein Fall an das Gericht herangetragen werden kann. Bei dreien davon ist der Supreme Court gesetzlich zur Annahme verpflichtet (Epstein/ Walker 2010: 12), wobei die Zahl der Fälle, die das Gericht im Wege erstinstanzlicher Zuständigkeit erreichen, gering ist. Nach Art. III § 2 US Const. hat der Supreme Court eine verpflichtende erstinstanzliche Zuständigkeit in Verfahren, in denen ein Staat oder ein Diplomat Verfahrenspartei sind (Currie 1988: 16). Da der Supreme Court in der Praxis nur diejenigen Fälle entscheidet, in denen ein Bundesstaat einen anderen Bundesstaat verklagt, und alle anderen Fälle dieser erstinstanzlichen Zuständigkeit für eine erste Entscheidung an untere Gerichte verweist, beläuft sich deren Zahl auf maximal fünf Fälle pro Jahr (Epstein/ Walker 2010: 12). Als Berufungsgericht agiert der Supreme Court in drei Konstellationen19 : Im Verfahren der certification legen untergeordnete Gerichte dem U.S. Supreme 18

Der writ of certiorari existiert im englischen Rechtskreis seit dem Mittelalter und steht für die Anordnung “volumus certiorari” mit der sich der König ursprünglich sämtliche, eine Angelegenheit betreffende Informationen vorlegen ließ (Gehle, Vor §§ 93a ff., Rn. 27). Wenn der Supreme Court mit der Formulierung „certiorari granted“ einen writ of certiorari erteilt, bedeutet das, dass das Gericht die zu einem Verfahren gehörigen Akten der unteren Gerichte anfordert, um das Verfahren zur eigenen Bearbeitung und zur Entscheidung anzunehmen (Kau 2007: 423 ff.); es bedeutet jedoch noch keine inhaltliche Entscheidung, d.h. von der Erteilung eines writ kann nicht auf die Begründetheit der Klage geschlossen werden. 19 Die folgende Ausführungen zum U.S. Supreme Court basieren auf Epstein/ Walker 2010: 12.

3.2 Interne Faktoren

65

Court eine Rechtsfrage zur obligatorischen Entscheidung vor, was sehr selten vorkommt. Durch eine Reform im Jahre 1988 wurde dieses Verfahren eingeschränkt; der Supreme Court ist nur noch verpflichtet diejenigen Fälle zu entscheiden, die von den mit drei Richtern besetzten district courts vorgelegt werden. Im so genannten appeal-Verfahren bestimmt der Kongress, dass ein Sachverhalt oder eine Frage so bedeutsam ist, dass der Supreme Court im Falle der Vorlage eine Entscheidung treffen muss. Die mit über 90 Prozent aller Verfahrenseingänge – der Verfassungsbeschwerde ähnlich – weitaus häufigste Form des Antrags ist der request for a writ of certiorari. In diesem Verfahren verfügt das Gericht über ein freies Ermessen bei der Entscheidung über die Annahme und Ablehnung von Anträgen. Aufgrund der seit der Gründung des Bundesverfassungsgerichts stetig steigenden Verfahrenszahlen wurde von den Verfassungsrichtern die Einführung eines freien Annahmeverfahrens für das Bundesverfassungsgericht angeregt. Da der Gesetzgeber diesem Wunsch bislang noch nicht entsprochen hat, wäre es für die Beantwortung der Forschungsfrage von großem Interesse, ob – und wenn ja inwieweit – die Richter die generalklauselartig formulierten Bestimmungen zum Annahmeverfahren20 selbst in Richtung eines freien Annahmeverfahrens auslegen und anwenden. Ob möglicherweise seitens der Richter Einfluss genommen wird, ließe sich untersuchen. Einen ersten Vorstoß hat Christoph Engel (2017) mit seiner Untersuchung der Senatsentscheidungen aus dem Jahr 2011 unternommen. Er geht von der Annahme aus, dass die Richter in Ermangelung eines freien Annahmeverfahrens ein Arsenal subtilerer Maßnahmen entwickelt haben, um das hohe Fallaufkommen bewältigen zu können, begrenzt wegen des schmalen empirischen Zuschnitts aber die Aussagekraft seiner Arbeit aber, indem er auf Folgendes hinweist: „The paper can only aim at finding smoking guns“ (Engel 2017: 1).

3.2.1.2 Gesetzlicher Richter oder Wissenschaftlicher Mitarbeiter Am U.S. Supreme Court gibt es seit dem Jahre 1972 einen so genannten cert pool, an dem sich derzeit acht der neun Richter mit ihren law clerks beteiligen. Das Verfahren ab dem Eingang eines Antrags ist so organisiert, dass sämtliche Eingänge in den cert pool gelangen und dort von einem der wissenschaftlichen Mitarbeiter durchgesehen und begutachtet werden. Der Mitarbeiter verfasst dann ein „pool memo“, in dem er seine Einschätzung zu dem jeweiligen Verfahren abgibt und die weitere Vorgehensweise empfiehlt. Die nächste Hürde, die ein 20

Ein Annahmeverfahren gibt es nur bei Verfassungsbeschwerden, diese stellen aber ca. 96 Prozent aller Verfahrenseingänge am Bundesverfassungsgericht dar.

66

3

Auswahl der für die Forschungsfrage relevanten Einflussfaktoren …

eingehender Antrag nehmen muss, ist die so genannte discuss list. Auf diese Liste gelangt ein knappes Drittel der Anträge. Die anderen Klagen scheiden bereits vor den Beratungssitzungen aus, ohne überhaupt von den Verfassungsrichtern zur Kenntnis genommen worden zu sein (Kau 2007: 447). Die Kritik am cert pool-Verfahren ist offensichtlich: Die Zahl der Personen, die einen Antrag beurteilen, wird minimiert (Sturley 2005: 156) und damit das Procedere subjektiv und fehleranfällig. Darüber hinaus wird die vollständige Vorauswahl auf die Wissenschaftlichen Mitarbeiter übertragen und lässt sich kaum noch den Verfassungsrichtern zuordnen (Kau 2007: 447). Im amerikanischen Schrifttum gibt es Stimmen, die das Vorgehen des U.S. Supreme Court im Annahmeverfahren für unzulässig halten, doch die vorherrschende Meinung akzeptiert die bestehende prozedurale Gestaltung (Kau 2007: 430). Auch am Bundesverfassungsgericht sind es die wissenschaftlichen Mitarbeiter, die ein Eingangsvotum verfassen, in dem auf ein bis zwei Seiten der zum eingereichten Antrag gehörige Sachverhalt dargestellt und eine Empfehlung zum weiteren Vorgehen gegeben wird. Die Möglichkeiten bewusster oder unbewusster Steuerung, über die die wissenschaftlichen Mitarbeiter hier verfügen, wurden bislang noch nicht untersucht. Das wäre im Rahmen einer qualitativen Erhebung möglich und für die Beantwortung der Forschungsfrage nach Faktoren, die Einfluss auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts haben, und nach strategischem Vorgehen von Relevanz.

3.2.1.3 Spruchkörper Das amerikanische Prozessrecht lässt eine Unterteilung des U.S. Supreme Court in mehrere Kammern oder Senate und eine entsprechende Aufgabenübertragung nicht zu (Kau 2007: 447). Das Bundesverfassungsgericht ist als Gericht mit zwei Senaten konzipiert, in denen jeweils acht Richter tätig sind. Es kann in Fällen, denen keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zukommt, statt im Senat auch in einer der sechs – mit je drei Richtern besetzten – Kammern entscheiden. Die Kammern sollen der Arbeitsentlastung des Gerichts und der Verkürzung der Verfahrensdauer dienen. Und es gibt das Bundesverfassungsgericht in einer dritten Organisationsform, dem Plenum. Das Plenum setzt sich aus allen sechzehn Richtern zusammen und soll nach § 16 BVerfGG die Einheitlichkeit der Rechtsprechung durch den Ausgleich divergierender Tendenzen sichern. Die Möglichkeit der Richter, bei in ihrem Dezernat eingehenden Fällen zu entscheiden, ob diese – im Falle der Annahme zur Entscheidung – in die Kammer oder in den Senat eingebracht werden, stellt einen wesentlichen Unterschied zu den Abläufen am U.S. Supreme Court dar. Fraglich ist, ob sich den Richtern bei der Zuordnung der Fälle zum jeweiligen Spruchkörper Spielräume für eigene

3.2 Interne Faktoren

67

Präferenzen bieten, und wenn ja, ob die Richter diese auch strategisch nutzen. Versuchen die Richter strategisch steuernd darauf einzuwirken, welches Verfahren in der Kammer behandelt wird, und welches Verfahren im Senat entschieden werden soll? Nach juristischen Kriterien können Kammerentscheidungen „nur auf der Grundlage einer bereits entschiedenen Verfassungsrechtslage und ohne weiterführende verfassungsrechtliche Ausführungen“ (Dollinger, Vor § 15a, Rn. 26) ergehen. Das Kammerverfahren ist ein reines Beschlussverfahren; Beschlüsse können nur einstimmig ergehen (Dollinger, Vor § 15a, Rn. 24). Analog zu den Überlegungen des strategic model wäre es denkbar, dass ein Richter, der eine bestimmte inhaltliche policy verfolgt, innerhalb der Fülle der eingehenden Verfahren nach geeigneten Sachverhalten sucht, um die Möglichkeit zu bekommen, seine Rechtsauffassung zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu machen. Im Gegenzug wäre es denkbar, dass ein Richter, der ein bestimmtes Ergebnis präferiert, einen Sachverhalt nicht zur Entscheidung in den Senat einbringt, sondern so aufbereitet, dass er in der zuständigen Kammer entschieden wird, wenn der Richter befürchten muss, innerhalb des Senats überstimmt zu werden, und die Sache von den Senatskollegen nicht in seinem Sinne entschieden würde. Der Einfluss, der hier möglicher Weise seitens der Richter genommen wird, könnte im Rahmen einer qualitativen Untersuchung betrachtet werden.

3.2.2

Wissenschaftliche Mitarbeiter

Um die Tätigkeit der Wissenschaftlichen Mitarbeiter ranken sich Legenden. Die Einschätzung ihres Einflusses variiert in den wenigen Abhandlungen, die sich mit dem mittlerweile 64 Personen umfassenden Mitarbeiterstab (pro Verfassungsrichter vier Vollzeitäquivalente) auseinandersetzen, zwischen „ihr Einfluss wird hoffnungslos überschätzt“ (Roellecke 1995: 35) und der Frage: „Ist das Bundesverfassungsgericht noch gesetzlicher Richter?“ (Lamprecht 2001: 419). Lamprecht gibt zu bedenken: „Es wäre ein Wunder, wenn die Hochbegabten ihre Schlüsselstellung nicht dazu benutzen würden, um aus dem Hintergrund gezielt Einfluss auf die Rechtsprechung zu nehmen; sie werden nicht von ungefähr Dritter Senat genannt“ (Lamprecht 2001: 420). Bei den law clerks am Supreme Court handelt es sich um Hochschulabsolventen21 oder Berufsanfänger, die bereits als law clerks für eines der untergeordneten 21

Bei den law clerks handelt es sich – wie bei den Wissenschaftlichen Mitarbeitern am Bundesverfassungsgericht auch – um herausragende Absolventen der besten Hochschulen der

68

3

Auswahl der für die Forschungsfrage relevanten Einflussfaktoren …

Gerichte gearbeitet haben (Baum 2010: 14 f.) und die für die Dauer eines Jahres am Obersten Verfassungsgericht der USA für einen Richter arbeiten. Die Tätigkeit der Wissenschaftlichen Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht ist dagegen auf einen längeren Zeitraum – generell auf eine Dauer von etwa drei Jahren – angelegt. Bei den Mitarbeitern handelt es sich um Richter aus allen Zweigen der deutschen Gerichtsbarkeit, um Beamte des Bundes oder der Länder oder auch um Habilitanden oder Privatdozenten, an deren fachliche und allgemeine Qualifikation sehr hohe Ansprüche gestellt werden (Benda/ Klein 2001: 73). Diese Unterschiede – die längere Verweildauer und die deutlich größere Berufserfahrung – legen die Vermutung nahe, dass sich den Wissenschaftlichen Mitarbeitern am Bundesverfassungsgericht weitaus größere Einflussmöglichkeiten eröffnen als ihren amerikanischen Kollegen. Deren Einfluss wurde in der amerikanischen Forschung bereits untersucht und – trotz des kurzen Tätigkeitszeitraums und der nicht vorhandenen Berufserfahrung – als erheblich beschrieben22 .

3.2.2.1 Auswahl Nach § 13 Abs. 2 der Geschäftsordnung des Bundesverfassungsgerichts (GOBVerfG) ist jeder Richter berechtigt, seine Wissenschaftlichen Mitarbeiter selbst auszuwählen. Am Bundesverfassungsgericht sind jedem Richter vier Wissenschaftliche Mitarbeiter zugewiesen, die im Rahmen der Abordnung (Benda/ Klein 2001: 71) in Karlsruhe tätig sind. Aus der Professorenschaft stammende Richter rekrutieren ihre Mitarbeiter gerne von ihrer ehemaligen Hochschule oder auf Empfehlung von Professoren-Kollegen. Aus der Richterschaft stammende Verfassungsrichter verlassen sich häufig auf die Empfehlungen der Justizbehörden. Von Relevanz für die Forschungsfrage wäre es festzustellen, ob die Richter mit ihrer Auswahl sicherzustellen versuchen, dass die Mitarbeiter den inhaltlichen Grundlinien zustimmen und damit die inhaltliche Grundausrichtung des Dezernats gewahrt bleibt. Diese Frage ließe sich mit Hilfe qualitativer Experteninterviews untersuchen.

3.2.2.2 Übertragene Aufgaben und Grad der Einbindung Wie der Richter seine Mitarbeiter einsetzt, hängt im Wesentlichen von seinem persönlichen Arbeitsstil ab. Die Mitarbeiter unterstützen den Richter, dem sie zugeordnet sind, bei der Abfassung von Voten und Entscheidungen für Kammer und Senat, bereiten mündliche Verhandlungen vor und erarbeiten USA. Laut einer Erhebung von Lawrence Baum stammten allein 49 Prozent der am Supreme Court tätigen law clerks von den Universitäten Harvard und Yale (Baum 2010: 15). 22 Vgl. Ditslear/ Baum 2001.

3.2 Interne Faktoren

69

Stoffsammlungen (Schlaich/ Korioth 2010: 29). Kranenpohl vertritt die Auffassung, dass – aufgrund der stark unterschiedlichen Arbeitsorganisation in den einzelnen Dezernaten – generalisierende Aussagen über die Tätigkeit der Mitarbeiter nur begrenzt möglich seien (Kranenpohl 2010: 88). Zuck führt hierzu aus: „Die richterliche Unabhängigkeit des jeweiligen Richters führt aber in jedem Dezernat zu unterschiedlichen Formen der Hilfstätigkeit. Der Richter kann seine WiMis nach Arbeitsanfall tätig werden lassen, nach Beschwerdeführernamen oder nach Sachgebieten“ (Zuck 1996: 1656).

Von großem Interesse für die Beantwortung der Forschungsfrage wäre es herauszufinden, welche Aufgaben den Wissenschaftlichen Mitarbeitern übertragen werden und wieviel Freiraum ihnen bei ihrer Tätigkeit eingeräumt wird. So könnte die Frage beantwortet werden, ob – und wenn ja in welchem Maße – die Wissenschaftlichen Mitarbeiter mit ihrer Arbeit Einfluss auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nehmen, und ob die Richter beim Einsatz der Mitarbeiter von strategischen Überlegungen geleitet werden. Auch dieser mögliche Einfluss auf die Spruchtätigkeit des Bundesverfassungsgerichts kann auf der Grundlage qualitativer Experteninterviews untersucht werden.

3.2.3

Parteipolitische Zusammensetzung der Senate

Unter dem Stichwort membership change wird für den U.S. Supreme Court erforscht, welche Auswirkung Wechsel in der Zusammensetzung des Richtergremiums auf die ideologische Ausrichtung der Rechtsprechung haben. Anders als am U.S. Supreme Court, wo das Abstimmungsverhalten jedes einzelnen Richters für jeden Fall, an dem dieser beteiligt ist, dokumentiert ist, liegt über den Verhandlungen innerhalb der Senate der „Schleier des Beratungsgeheimnisses“ (Kranenpohl 2010). Zwar ist in Deutschland bekannt, welcher Partei – ebenso wie in den USA welchem Präsidenten – bei der jeweils zu besetzenden Richterstelle das Vorschlagsrecht zukam. Doch in beiden Ländern kann die Beziehung zwischen der politischen Ausrichtung der vorschlagenden Partei und der politischen Ausrichtung der Inhalte der Rechtsprechung, an der der jeweilige Richter beteiligt ist, auch schwach ausgeprägt sein. Das lässt sich für die USA mit der Berufung auf Lebenszeit erklären und für Deutschland mit dem Erfordernis einer Zweidrittelmehrheit für den Kandidaten im Parlament. Christine Landfried postuliert zwar,

70

3

Auswahl der für die Forschungsfrage relevanten Einflussfaktoren …

dass ein Wandel in der politischen Zusammensetzung eines Senats sehr wohl zu einem inhaltlichen Wandel der Rechtsprechung führen kann (Landfried 2006: 235), doch erst eine umfassende empirische Untersuchung könnte Aufschluss darüber geben, ob es sich hierbei um einen Einzelfall oder einen generalisierbaren Einflussfaktor auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts handelt. Eine solche empirische Untersuchung des Abstimmungsverhaltens einzelner Richter und der aus einer geänderten Zusammensetzung der Senate möglicherweise resultierenden gewandelten Mehrheitsverhältnisse, die sich in einer abweichenden inhaltlichen Ausrichtung der Rechtsprechung niederschlagen könnten, ist derzeit nicht möglich. Außer bei Sondervoten, die von dem sie verfassenden Richter bzw. den verfassenden Richtern namentlich unterzeichnet werden, beschränkt sich die Angabe, sofern sie gemacht wird, auf das bloße Verhältnis und erstreckt sich nur selten auf eine namentliche Nennung der zustimmenden und ablehnenden Richter23 . Nicht einmal die Abgabe eines Sondervotums – die einen Dissens innerhalb des Senats dokumentiert und nach außen hin sichtbar macht – hat zwangsläufig zur Folge, dass das Stimmverhältnis bekannt gegeben wird24 . Engst, Gschwend und ihre Mitautoren (2017) haben in ihrem Beitrag eine empirische Annäherung auf dieser spärlichen Datenbasis unternommen. Ihre Analyse umfasste Sondervoten und 4:4-Entscheidungen aus den Jahren 2005 bis 2016, die anhand der Unterzeichnungen die inhaltliche Positionierung einzelner Richter erkennen ließen. Allerdings waren dies im Zweiten Senat nur 20 Entscheidungen, die in die Untersuchung eingeflossen sind. Hieraus wurde ein Netzwerk der Verfassungsrichter basierend auf Ähnlichkeitswerten gebildet. Die Schlussfolgerung wurde entsprechend zurückhaltend formuliert: „Die Analyse beweist, dass richterliches Verhalten nicht pauschal auf politische Prägung zurückgeführt –, diese jedoch auch nicht außer Acht gelassen werden kann“ (Engst/ Gschwend et al. 2017: 826).

Das Maß an Transparenz bei der Mitteilung des Entscheidungsverhaltens einzelner Richter eines Senats ist von einem hohen Maß an Unverbindlichkeit gekennzeichnet und starken Schwankungen unterworfen. Das schließt eine quantitative Untersuchung aus.

23

Diese Namensnennung müsste einvernehmlich erfolgen, vgl. Hennecke in Clemens/ Umbach (2005), § 30 Rn. 18. 24 Vgl. Hennecke in Clemens/ Umbach (2005), § 30 Rn. 18.

3.2 Interne Faktoren

3.2.4

71

Entscheidung mit oder ohne mündliche Verhandlung

Wenn am U.S. Supreme Court eine Klage zur Entscheidung angenommen wird, so ist das Verfahren unabhängig vom Klagegegenstand immer identisch: Die neun Richter setzen einen Termin zur mündlichen Verhandlung an, in dem jeder Seite exakt 30 Minuten Zeit für den Vortrag eingeräumt werden. In der Praxis haben die Anwälte der Parteien selten mehr als fünf Minuten Zeit, um ihr Plädoyer vorzutragen, da die Richter ihrerseits die halbe Stunde nutzen, um Fragen zu stellen. Nach 60 Minuten wird die mündliche Verhandlung geschlossen. Nur in extrem seltenen Fällen wird eine zweite Verhandlung angesetzt. Einige Monate später wird dann das Urteil verkündet. Nach § 25 Abs. 1 BVerfGG entscheidet das Bundesverfassungsgericht „soweit nichts anderes bestimmt ist, aufgrund mündlicher Verhandlung, es sei denn, dass alle Beteiligten ausdrücklich auf sie verzichten“. In der Praxis wird allerdings in weniger als einem Prozent aller Verfahren mündlich verhandelt (Benda/ Klein 2001: 246). Bei Verfahren der einstweiligen Anordnung nach § 32 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG wird die Durchführung einer Anhörung in das Ermessen des Gerichts gestellt, ebenso wie § 94 Abs. 5 BVerfGG dies bei der Verfassungsbeschwerde tut. Nur für die Präsidenten- und die Richteranklage sowie für das Widerspruchsverfahren im Verfahren über eine einstweilige Anordnung ist eine mündliche Verhandlung zwingend vorgesehen. In den Fällen, in denen die Entscheidung über die Durchführung einer mündlichen Verhandlung im Ermessen des Gerichts steht, entscheidet nach § 24 Abs. 1 GO-BVerfG der Senat darüber. Da sich das Bundesverfassungsgericht von der mündlichen Verhandlung bei Verfassungsbeschwerden zumeist keine Förderung des Verfahrens erwartet, verzichtet es hier regelmäßig darauf25 , was die niedrige Gesamtquote erklärt. Es wäre aber denkbar, dass eine mündliche Verhandlung die Wahrscheinlichkeit einer Stattgabe erhöht, weil die Antragsteller dann die Möglichkeit haben, ihr Anliegen selbst oder durch ihre Prozessvertreter mündlich darzulegen und darüber hinaus auch Sachverständige vortragen und befragt werden können. Deshalb sind eine empirische Untersuchung der Senatsentscheidungen hinsichtlich der Stattgabewahrscheinlichkeit in Verfahren mit und in Verfahren ohne mündliche Verhandlung und der Vergleich dieser beiden Wahrscheinlichkeiten möglich und von Interesse. Eine erste Untersuchung des Einflusses mündlicher Verhandlungen auf den Inhalt verfassungsgerichtlicher Entscheidungen stammt von Krehbiel (2016). Auf der empirischen Basis der Normenkontrollverfahren aus den Jahren 1995 bis 2014 25

Vgl. Zöbeley in Clemens/ Umbach (2005), § 25 Rn. 1.

72

3

Auswahl der für die Forschungsfrage relevanten Einflussfaktoren …

stellt er – auf Basis des Vanbergschen Modells (Vanberg 2001) – einen Zusammenhang her zwischen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts für eine mündliche Verhandlung, der damit größeren Möglichkeit öffentlicher Kontrolle und der Unterstützung des Gerichts und damit dem Erschweren einer möglichen Nichtbefolgung von Entscheidungen seitens öffentlicher Akteure.

3.2.5

Informelle Institutionen

3.2.5.1 Sondervoten oder die „Norm des Konsenses“ Den Richtern am Bundesverfassungsgericht wurde erst im Dezember 1970 mit dem vierten Änderungsgesetz zum BVerfGG die Möglichkeit eröffnet, ihre von der Mehrheitsmeinung abweichende Auffassung in Form eines Sondervotums zu formulieren und zusammen mit der Mehrheitsmeinung zu veröffentlichen (Benda/ Klein 2001: 131). Allerdings ist die Zahl der Sondervoten am Bundesverfassungsgericht sehr gering. Nur etwa sieben Prozent aller Senatsentscheidungen werden eine oder mehrere abweichende Meinungen beigefügt. Wie am Supreme Court auch können die Bundesverfassungsrichter entweder in der Begründung eines Entscheidungsergebnisses (concurring opinion) oder im Ergebnis selbst von der Mehrheitsmeinung abweichen (dissenting opinion).26 Obgleich den Richtern am Supreme Court von Beginn an die Möglichkeit gegeben war, abweichende Meinungen zu verfassen und in Ergänzung zum Mehrheitsvotum mit diesem zu publizieren, lag deren Anteil in der Zeit von 1800 bis zum Beginn der 1940er Jahre konstant niedrig bei etwa zehn bis zwanzig Prozent. In der US-amerikanischen Literatur dominierten lange zwei mögliche Erklärungen für diese geringe Quote, die Mitte der 1940er Jahre dann auf über neunzig Prozent geschnellt ist und sich in den vergangenen Jahrzehnten konstant bei etwa siebzig Prozent eingependelt hat. Der eine Erklärungsansatz vermutet, dass in den ersten vierzehn Dekaden sehr eindeutige, wenig umstrittene und wenig komplexe Fälle vor dem Supreme Court verhandelt worden waren, so dass das zu treffende Urteil zumeist eindeutig und unumstritten war (Pritchett 1941: 890). Die andere Erklärung, die auch vom ehemaligen Richter am U.S. Supreme Court Rehnquist vertreten wurde, vermutete eine ungeschriebene „Norm des Konsenses“, die verhinderte, dass widerstreitende Meinungen innerhalb des Richtergremiums nach außen drangen (Rehnquist 1996). Epstein, Segal and Spaeth haben sich mit beiden Thesen auseinandergesetzt und konnten mittels der Analyse der Beratungsmitschriften von Chief Justice Waite aus den Jahren 26

Vgl. Hennecke in Clemens/ Umbach (2005), § 30 Rn. 15.

3.2 Interne Faktoren

73

1874–1888 den Nachweis führen, dass es innerhalb des Kreises der neun Richter am U.S. Supreme Court durchaus divergierende Ansichten gab – was gegen die erste Vermutung der einfachen und wenig komplexen Fälle spricht –, dieser Dissens allerdings innerhalb der vertraulichen Beratungen blieb und sehr selten durch ein concurring oder dissenting vote dokumentiert und damit für die Öffentlichkeit sichtbar wurde. Fraglich ist, ob es am Bundesverfassungsgericht auch eine solche informelle Norm des Konsenses gibt, die zumindest mitverantwortlich dafür sein könnte, dass der Anteil der abweichenden Meinungen, die Senatsentscheidungen angefügt werden, so gering ist. Hier könnten strategische Erwägungen die Richter dazu bringen, Divergenzen im Senat nicht in die Öffentlichkeit zu tragen. Mit Hilfe von Experteninterviews kann versucht werden, Näheres über die richterlichen Beweggründe zu erfahren.

3.2.5.2 Allianzen unter den Richtern Eine strategische Handlungsoption am Bundesverfassungsgericht könnte die Bildung von Allianzen unten den Richtern innerhalb eines Senates sein, um zu einer konsensualen Entscheidung – möglichst mit den präferierten Inhalten – zu gelangen. Für den U.S. Supreme Court ist erforscht, in welchen Fällen die Richter strategisch agieren und zur inhaltlichen Beeinflussung der Mehrheitsentscheidung Allianzen eingehen. Zwar könnten sie jederzeit ihre Rechtsauffassung in einer abweichenden Meinung darlegen, aber diese Option ist in den Fällen nicht attraktiv, in denen die Richter in einem Verfahren ein bestimmtes Ergebnis erreichen wollen (Spriggs/ Maltzman/ Wahlbeck 1999: 490). Am Bundesverfassungsgericht verhindert das Beratungsgeheimnis die genaue Untersuchung des Phänomens. Das Bilden von Allianzen, etwa in der Form, dass Richter, die ein gemeinsames Ziel verfolgen – sei es inhaltlicher oder sonstiger Natur – sich innerhalb ihres Senats zur Erreichung dieses Ziels zusammenschließen, ist denkbar. Noch plausibler erscheinen solche Allianzen in den Kammern. Wegen der Masse der Verfahren und des Einstimmigkeitserfordernisses wäre hier hinreichend Raum für informelle – möglicherweise auch unausgesprochene – Übereinkünfte, um die Funktionsfähigkeit der Kammer nicht übermäßig zu hemmen. Nachdem in den sechs Kammern am Bundesverfassungsgericht pro Jahr jeweils etwa 1.000 Verfahren pro Kammer anfallen und die Kammern in stets nur einstimmig entscheiden können – andernfalls müsste das Verfahren dem Senat zur Entscheidung vorgelegt werden –, wäre es im Interesse aller beteiligten Richter, nicht zu viel Zeit und Energie in das vermeintliche „Massengeschäft“ zu investieren. Die Wissenschaftlichen Mitarbeiter, die in die Bearbeitung der Kammersachen eingebunden sind, könnten hierzu berichten. Eine quantitative

74

3

Auswahl der für die Forschungsfrage relevanten Einflussfaktoren …

Untersuchung ist derzeit nicht möglich, da weder vom Bundesverfassungsgericht noch vom Bundesarchiv im erforderlichen Umfang Zugang zu Verfahrensakten des Bundesverfassungsgerichts gewährt wird. Die meisten von Kranenpohl befragten Richter hatten das Verbot von Vorabsprachen unter den Richtern eines Senats betont, einige Richter räumten ein, dass es durchaus Gespräche und Gedankenaustausch im Vorfeld der Beratungen geben kann (Kranenpohl 2010: 480 ff.). Die Idee, dass es am Bundesverfassungsgericht unter manchen Richtern oder zu manchen Themen Allianzen geben könnte, soll nicht unterstellen, dass versucht würde manipulierend aufeinander einzuwirken. Durch die vielen Stunden, die die Senatskollegen in gemeinsamer Beratung verbringen, werden aber die Einstellungen, inhaltliche Vorlieben und Abneigungen für die Beteiligten wahrnehmbar, so dass ein unausgesprochener Schulterschluss in manchen Konstellationen – beispielsweise unter den Kollegen eines konservativen oder eines liberalen Lagers – zumindest denkbar erscheint. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung soll dieser Frage nur in begrenztem Maße nachgegangen werden.

3.2.5.3 Kollegialer Einfluss 3.2.5.3.1 Einfluss innerhalb der Senate Die Forschung zum U.S. Supreme Court hat sich mit den gegenseitigen Einflüssen befasst, die die Richter aufeinander ausüben können. Beispielsweise mit den Auswirkungen, die das Hinzukommen eines neuen Richters – im vorangegangenen Kapitel unter dem Stichwort membership change bereits beschrieben – haben kann. Innerhalb eines Senats am Bundesverfassungsgericht könnte es ähnliche Einflüsse zwischen den Richtern geben, wenn ein neuer Richter seine Tätigkeit am Bundesverfassungsgericht aufnimmt. Das kann allerdings empirisch nicht überprüft werden. Mangels Einsicht in die von den Richtern in den Beratungen angefertigten Notizen oder Mitschriften können auch keine Divergenzen innerhalb des Gremiums nachvollzogen werden, die es während der Beratungen gegeben haben, und die sich aber bis zur Bekanntgabe der Entscheidung gelöst haben könnten.

3.2.5.3.2 Einfluss zwischen den Senaten Da am Bundesverfassungsgericht anders als am U.S. Supreme Court mit den beiden Senaten zwei gleichrangige Spruchkörper existieren, wären es zudem denkbar, dass es Einflüsse zwischen beiden Senaten gibt. Aus politikwissenschaftlicher Perspektive wäre es daher von Interesse zu untersuchen, wie sich die Interaktion der beiden Senate gestaltet. Es könnte möglicherweise zu einer gegenseitigen Beeinflussung kommen, die zu einem Gleichklang in der Rechtsprechung

3.2 Interne Faktoren

75

führen könnte, was die seltene Einberufung des Plenums erklären würde. Denkbar wäre es aber auch, dass es signifikante Unterschiede in der Spruchtätigkeit beider Senate gäbe. Das wäre in zweierlei Hinsicht denkbar: Zum einen ist zwar die Zuständigkeit der Senate in der Geschäftsordnung klar beschrieben, doch sind mittlerweile, wegen der großen Anzahl der Verfassungsbeschwerden – anders als in den 1950er Jahren – beide Senate mit dieser Verfahrensart befasst, so dass es möglich wäre, die Spruchtätigkeit dahingehend zu untersuchen, ob es hier signifikante Unterschiede beispielsweise in der Stattgabewahrscheinlichkeit in den Verfahren der Verfassungsbeschwerde gibt. Zum anderen sind die in Karlsruhe zur Entscheidung in den Senaten anhängigen Sachverhalte so komplex, dass manchmal Detailaspekte den Ausschlag geben, ob eine Klage von den bis zum Jahr 2011 mit dieser Entscheidung betrauten Präsidialräten dem Ersten oder dem Zweiten Senat zugeordnet wird, so dass beide Senate inhaltlich ähnliche Materien zu entscheiden haben können. Auch in dieser Hinsicht stellt sich die Frage, ob es möglicherweise je nach Senat unterschiedlich große Erfolgsaussichten gibt, und falls ja, welche Gründe dies haben könnte.

3.2.6

Präzedenzentscheidungen

Während – wie oben bereits ausgeführt – die Bindung an Vorgängerentscheidungen eine inhaltliche Schranke in der Rechtsprechung des U.S. Supreme Court darstellt, genießt das Bundesverfassungsgericht hier einen großen Freiraum (Hönnige 2007: 47). Entgegen der von § 31 Abs. 1 BVerfGG normierten Bindung aller Verfassungsorgane von Bund und Ländern und aller Gerichte und Behörden an die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, ist das Gericht selbst nicht an seine eigenen Urteile und Beschlüsse gebunden (Schlaich/ Korioth 2010: 293). Vielmehr kann das Bundesverfassungsgericht eine in einer früheren Entscheidung vertretene Rechtsauffassung aufgeben27 , selbst wenn diese für die damalige Entscheidung tragend war (Heusch 2005, § 31 Rn. 66). Vor dem Hintergrund der übergeordneten Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, das Grundgesetz weiterzuentwickeln und der sich wandelnden gesellschaftlichen Realität anzupassen, erscheint es plausibel, das Gericht von einer Bindung an seine eigene frühere Rechtsprechung freizustellen, da ihm andernfalls die Möglichkeit zur „besseren Erkenntnis“ und zu deren Realisierung versagt würde (Benda/ Klein 2001: 554). Lediglich dann, wenn ein Senat in einer Rechtsfrage von der in einer Entscheidung des anderen Senats enthaltenen Rechtsauffassung abweichen möchte, 27

Vgl. etwa BVerfGE 104, 151 (197), 85, 117 (121).

76

3

Auswahl der für die Forschungsfrage relevanten Einflussfaktoren …

wird das Plenum zur verbindlichen Entscheidung über diesen Konflikt einberufen (Benda/ Klein 2001: 66). Für die Beantwortung der Forschungsfrage sind daher die Ausführungen in der US-amerikanischen Literatur zum Einfluss der Doktrin des stare decisis nicht relevant. Die Richter am Bundesverfassungsgericht haben diesen Freiraum bislang zurückhaltend und mit Bedacht genutzt, denn unzweifelhaft würden häufige inhaltliche Kehrtwendungen die Seriosität und die Glaubwürdigkeit der höchstrichterlichen Entscheidungen schwächen, so dass die Richter – nach den Annahmen des Vanbergschen Modells – negative Auswirkungen auf das Ansehen des Gerichts und damit auf die Folgebereitschaft anderer Akteure befürchten müssten.

3.2.7

Plenum als „Damoklesschwert“

Auch aus der Literatur zu den U.S. Courts of Appeals lassen sich Impulse für eine politikwissenschaftliche Untersuchung des Bundesverfassungsgerichts ableiten. Das Bundesverfassungsgericht entscheidet zwar grundsätzlich abschließend. Aber es gibt Ausnahmen, in deren Rahmen dessen Entscheidung dennoch einer erneuten Beurteilung zugewiesen werden kann, die gegebenenfalls einer Korrektur sehr nahekommt: Zum einen kann der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Falle seiner Anrufung feststellen, dass eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts mit der Europäischen Menschenrechtskonvention unvereinbar ist. Zum anderen kann der EuGH im Rahmen eines Vorlageverfahrens verbindlich die richtige Auslegung des Europarechts feststellen, auch wenn dies inhaltlich im Widerspruch zu einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts steht. Des Weiteren bietet das allgemeine Völkerrecht natürlichen Personen, Nichtregierungsorganisationen und Personengruppen nach Durchlaufen des nationalen Rechtswegs die Möglichkeit, den durch Art. 28 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte eingerichteten Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen anzurufen und dort Individualbeschwerde zu erheben (Kadelbach 2009, § 2, Rn. 14). Die naheliegendste Möglichkeit, wie die Entscheidung eines Senats einer Überprüfung und gegebenenfalls einer Neubewertung unterzogen werden kann, ist allerdings die Einberufung des Plenums des Bundesverfassungsgerichts. Das Plenum setzt sich aus allen sechzehn Richtern zusammen und ist nach § 16 Abs. 1 BVerfGG dann einzuberufen, wenn „ein Senat in einer Rechtsfrage von der in einer Entscheidung des anderen Senats enthaltenen Rechtsauffassung abweichen“ will. Ob das Plenum zusammentritt, entscheidet der für das Verfahren zuständige Senat (Schlaich/ Korioth 2001: 28). Tatsächlich wurde in der über sechzigjährigen

3.2 Interne Faktoren

77

Geschichte des Bundesverfassungsgerichts erst fünf Mal das Plenum einberufen, zuletzt am 3. Juli 2012 zur Frage des Einsatzes der Streitkräfte im Inneren. Dennoch entsteht hier zumindest grundsätzlich ein Szenario, in dem die Mehrheit des vorlegenden Senates damit konfrontiert ist, dass sich die von ihr beabsichtigte Entscheidung, auf die sie sich innerhalb des Senats bereits festgelegt hat, möglicher Weise nicht durchsetzen lassen wird. Wie oben bereits beschrieben, setzt sich die sozialwissenschaftliche Forschung zu den Courts of Appeals intensiv mit dem strategischen Richterverhalten im Falle einer drohenden Aufhebung oder deutlichen Modifikation einer getroffenen Entscheidung durch den U.S. Supreme Court auseinander. Und auch in die entgegengesetzte Richtung wurde untersucht, wie die Courts of Appeals mit dem U.S. Supreme Court hinsichtlich der Achtung dessen inhaltlicher Vorgaben interagieren28 . Die Richter der Courts of Appeals sind sich dessen bewusst, dass ihre Entscheidungen vom Supreme Court aufgehoben werden könnten, sollte eine der an einer Entscheidung beteiligten Parteien den Supreme Court anrufen. Insofern ist diese Konstellation im weitesten Sinne mit der Einberufung des Plenums des Bundesverfassungsgerichts vergleichbar: Die Wahrscheinlichkeit eines inhaltlichen Widerspruchs gegen eine vom Bundesverfassungsgericht bzw. einem der Courts of Appeals getroffene Entscheidung ist gering, jedoch besteht diese Möglichkeit. Songer, Segal und Cameron haben in einer Analyse der Rechtsprechung des Supreme Court und der Courts of Appeals zum Themengebiet Durchsuchung und Beschlagnahme herausgefunden, dass – obgleich die Richter des untergeordneten Gerichts auch versuchten, in ihren Entscheidungen eigene policy-Ziele zu verwirklichen – ein hohes Maß an Responsivität zu inhaltlichen Richtungsänderungen in der Judikatur des U.S. Supreme Court gegeben war (Songer/ Segal/ Cameron 1996). Von Interesse für eine Untersuchung des Bundesverfassungsgerichts wäre es, herauszufinden ob die Richter das Plenum scheuen. Im Mitarbeiterkommentar zum BVerfGG wird im Kontext des § 16, der Normierung der Plenarentscheidung bei Rechtsprechungsdivergenz, vom „horror pleni“ geschrieben, allerdings ohne näher auf mögliche Ursachen dafür und konkretere Auswirkungen auf die Rechtsprechung einzugehen (Eschelbach 2005, § 16, Rn. 5). Die Aussicht im Plenum zusammentreten und entscheiden zu müssen, könnte die Bereitschaft zum Konsens befördern. Dies soll duch die Experteninterviews empirisch überprüft werden.

28

Vgl. Songer/ Cameron/ Segal 1995, Westerland/ Segal/ Epstein/ Cameron/ Comparato 2010.

78

3

3.2.8

Auswahl der für die Forschungsfrage relevanten Einflussfaktoren …

Individuelle Nutzenmaximierung durch den einzelnen Richter

Im ersten Kapitel wurde bereits eine Übersicht über potentielle richterliche Ziele gegeben. Neben den genuin juristischen Zielen wie der Auslegung, Weiterentwicklung und Anpassung der Verfassung an gesellschaftliche Gegebenheiten, ist in der US-amerikanischen Forschung ein ganzes Bündel weiterer individueller Ziele identifiziert worden, die ein Richter gewichten und gegebenenfalls verfolgen kann und die ihn in seinen Entscheidungen in unterschiedlichem Maße beeinflussen können29 . Der Richter am Court of Appeals, Richard A. Posner, formuliert die Frage danach, welche extralegalen Ziele Richter verfolgen könnten, in der einfachen und überzeugenden Formel: „What do judges and justices maximize? The same as everybody else does.“ (Posner 1993: 1)

Auch die Richter am Bundesverfassungsgericht werden bei ihren Entscheidungen – gemäß den Grundannahmen des strategischen Modells – von verschiedenen Motiven geleitet und ihre Entscheidungen nach einer individuellen KostenNutzen-Abwägung treffen. Die folgenden Motive, die für die Richter an USamerikanischen Gerichten eine Rolle bei ihren Entscheidungen spielen, könnten auch für die Richter am Bundesverfassungsgericht von Bedeutung sein.

3.2.8.1 Politische Präferenzen Auf das Bundesverfassungsgericht übertragbar, aber aufgrund der Datenlage derzeit nicht einer Untersuchung zugänglich, sind all jene Modelle und Erklärungsansätze, die sich mit dem einzelnen Richter, dessen Abstimmungsverhalten in verschiedenen Phasen der Entscheidung eines Verfahrens oder dessen Präferenzwandel im Laufe seiner Amtszeit befassen30 . Anders als in den USA, wo sich in den Handschriftenarchiven der Library of Congress vollständige Sitzungsaufzeichnungen und Notizen von über 40 ehemaligen Richtern am U.S. Supreme Court finden, die diese während ihrer teilweise mehrere Jahrzehnte währenden Amtszeit erstellt haben, sind für das Bundesverfassungsgericht keine derartigen Aufzeichnungen zugänglich. Zwar kann zum Zwecke wissenschaftlichen Arbeitens der Zugang zu einzelnen Akten im Bundesarchiv oder in Karlsruhe beantragt werden, doch werden eventuelle Vermerke der Richter aus den Senatssitzungen 29 30

Vgl. Darstellung von Baum 1994: 752 in Kapitel 1. Vgl. Interview mit Lee Epstein vom 16.02.2011.

3.2 Interne Faktoren

79

und vor allem die ursprünglichen Voten der Berichterstatter (Kranenpohl 2010: 66) entfernt. Lediglich die namentlich unterzeichneten Sondervoten könnten dahingehend analysiert werden, welche inhaltlichen Ziele der Verfasser präferiert. Daraus könnte dann möglicherweise ein Rückschluss auf dessen politische Präferenzen gezogen werden. Und um einen Beitrag zur Beantwortung der Fragestellung leisten zu können, müsste es möglich sein, Einflüsse auf die Sondervoten und einen möglicherweise strategischen Umgang mit diesen Einflüssen durch den Richter feststellen zu können. Dafür ist die Zahl der veröffentlichten Sondervoten je Richter bei weitem zu gering und deren Inhalt und Struktur zu heterogen.

3.2.8.2 Harmonie im Kollegenkreis Obgleich die Berufung an das Bundesverfassungsgericht fast immer den Karrierehöhepunkt der dort tätigen Richter markiert und diese durch die richterliche Unabhängigkeit über ein großes Maß an Autarkie verfügen, ist es dennoch denkbar, dass es den Verfassungsrichtern – natürlich abhängig von der persönlichen Einstellung und den Präferenzen – für die zwölf Jahre ihrer Tätigkeit in Karlsruhe grundsätzlich an einem guten Einvernehmen mit den Kollegen gelegen ist. So wäre es möglich, dass bei der individuellen Abwägung eines Richters auch die Überlegung einfließt, wieviel Widerstand es innerhalb des Senats erzeugen würde, wenn er sich nicht der Mehrheitsmeinung anschließen oder sogar ein Sondervotum veröffentlichen würde. Der Nutzen dieser Entscheidung liegt darin, der eigenen Rechtsauffassung treu zu bleiben und diese gegebenenfalls nach außen zu dokumentieren. Die Kosten dieser Entscheidung könnten in Missstimmungen und gegebenenfalls dem Ausschluss aus internen Zirkeln liegen. Es muss also eine Abwägung zwischen der Realisierung eigener Policy-Ziele und der Stimmung im Senat oder in der Kammer getroffen werden. Eine empirische Überprüfung dieser potentiellen Einflussfaktoren ist im Rahmen dieser Untersuchung nicht möglich. Ob – und wenn ja inwieweit – das Motiv der Harmonie im Kollegenkreis tatsächlich dazu geeignet ist, das Entscheidungsverhalten zu beeinflussen, ließe sich nur mit Hilfe von Experteninterviews mit amtierenden oder ehemaligen Richtern herausfinden.

3.2.8.3 Arbeitsaufwand und Arbeitsbelastung Richard A. Posner hat für Richter an US-amerikanischen Gerichten, die als Teil eines Richtergremiums Entscheidungen treffen, folgende Mechanismen zur Wahrung der Balance zwischen Arbeitsbelastung und Freizeit identifiziert:

80

3

Auswahl der für die Forschungsfrage relevanten Einflussfaktoren …

„Going along voting and live and let live opinion joining are practices related to but distinct from vote-trading (…). They are distinct because they are leisure serving rather than power-maximizing.“31

Nach Christoph Hönnige scheinen drei Konstellationen plausibel, in denen die Reduktion der Arbeitslast ein starkes Handlungsmotiv für Richter am Bundesverfassungsgericht sein kann (Hönnige 2007: 59): Zum einen wird jeder Richter Überlegungen anstellen, ob und inwieweit er angesichts der hohen Grundlast an Kammerverfahren auch noch Verfahren im Senat als Berichterstatter bearbeitet oder abweichende Meinungen verfasst. Darüber hinaus mag er zum anderen abwägen, ob und inwieweit er neben der genuin richterlichen Aufgabenwahrnehmung, die bereits Repräsentations- und Reisetätigkeiten umfasst, auch andere, durchaus auch prestigeträchtige Aufgaben wahrnimmt. Schließlich könnte er zu dem Ergebnis kommen, dass auch durch besonders hohes Engagement keine verbesserte Bezahlung zu erreichen ist, weshalb auch die schlichte Abwägung zwischen dem Verhältnis von Arbeitszeit und Freizeit eine Rolle spielen könnte. Eine empirische Überprüfung dieser potentiellen Einflussfaktoren ist im Rahmen dieser Untersuchung nicht möglich. Hierfür müssten Experteninterviews mit amtierenden oder ehemaligen Richtern am Bundesverfassungsgericht geführt werden. Ob diese auf die oben aufgeworfenen Fragen offen antworten würden, ist darüber hinaus fraglich.

3.2.8.4 Anerkennung im Kollegenkreis Uwe Kranenpohl konnte in seinen Interviews mit Verfassungsrichtern zeigen, dass es – außer in einem Ausnahmefall – zwar keine von außen wahrnehmbaren Sanktionen unter den Kollegen gibt, Verstöße gegen Erwartungen innerhalb der Senatsberatungen aber durchaus „geahndet“ werden können, wenn auch in subtilerer Form (Kranenpohl 2010: 493). So berichtete einer der Befragten: „Es gibt ganz ulkige Abläufe in der Beratung, die man dann auch selber beobachtet: Dass jemand was sagt, und der nächste nimmt keinerlei Bezug darauf, und es geht einfach so weiter. Wenn so was passiert, ist es tödlich. Da hat man entweder so großen Blödsinn geredet, dass es nicht zu widerlegen lohnt, oder man hat das Gefühl, der spielt hier nicht mit (…). (Interview Nr. 27)“ (Kranenpohl 2010: 493)

Für die Richter am Bundesverfassungsgericht kann also davon ausgegangen werden, dass der Wunsch nach sozialer und fachlicher Akzeptanz im Kollegenkreis ein zentraler Handlungsanreiz ist. Allerdings ließe sich auch dieser mögliche 31

Richard A. Posner zitiert nach Hönnige 2007: 59.

3.2 Interne Faktoren

81

Einflussfaktor nur mittels Experteninterviews mit ehemaligen oder amtierenden Richtern am Bundesverfassungsgericht untersuchen.

3.2.8.5 Anerkennung in der wissenschaftlichen Gemeinschaft Es erscheint plausibel, dass die Anerkennung der wissenschaftlichen Gemeinschaft eine starke Motivation für Vorgehensweisen von Verfassungsrichtern sein kann. Insbesondere die Richter, die aus der Professorenschaft stammen und die nach ihrer Amtszeit wieder an die Hochschule zurückkehren werden, könnten auf verschiedenen Wegen versuchen, ihr Ansehen zu wahren oder zu mehren. Zum einen wäre denkbar, dass in dem Fall, dass eine Entscheidung von den Kollegen getroffen wird, die möglicherweise von der Wissenschaft sehr kritisch rezipiert werden könnte, die Bereitschaft ein Sondervotum zu verfassen steigt. Zum anderen wäre es denkbar, dass ein Richter in der eben beschriebenen Konstellation darauf pocht das Stimmverhältnis zu veröffentlichen, damit nach außen hin dokumentiert wird, dass die Mehrheitsentscheidung kontrovers diskutiert und nicht von allen Kollegen mitgetragen wurde. Beim Sondervotum wird dessen Bedeutung für die wissenschaftliche Diskussion immer wieder betont (Hennecke 2005, § 30, Rn. 20). Gegen ein Sondervotum spricht – wie oben bereits dargelegt – regelmäßig auch die damit verbundene höhere Arbeitsbelastung und die Gefahr der Beeinträchtigung der Harmonie im Kollegenkreis. Auch dieser mögliche Einflussfaktor könnte nur mit Hilfe von Experteninterviews mit amtierenden oder ehemaligen Verfassungsrichtern untersucht werden.

3.2.8.6 Weitere Karrierechancen Ein in Zukunft gewiss nicht unwesentlicher Aspekt, der in Analysen zu den Courts of Appeals bereits eingehend untersucht wurde, ist der Zusammenhang zwischen dem richterlichen Abstimmungsverhalten und den richterlichen Karriereambitionen. In den vergangenen Jahrzehnten war das Amt des Richters am Bundesverfassungsgericht die wenigen Juristen vorbehaltene Krönung am Ende einer juristischen Laufbahn32 . Die nach zwölfjähriger Amtszeit ausscheidenden Richter gingen zumeist in den Ruhestand oder lehrten in den verbleibenden Jahren bis zu ihrer Pensionierung an Hochschulen. In den vergangenen Jahren wurden zunehmend jüngere Richter nach Karlsruhe berufen. So war der letzte Präsident des Gerichts, Andreas Voßkuhle (Jahrgang 1963), der jüngste Richter, der je in dieses Amt berufen wurde. Seit 2010 folgten weitere vergleichsweise junge Richter wie Andreas Paulus (Jahrgang 1968), Susanne Baer (Jahrgang 32

Der 1994 in das Amt des Bundespräsidenten gewählte ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Roman Herzog bildete viele Jahrzehnte eine Ausnahme.

82

3

Auswahl der für die Forschungsfrage relevanten Einflussfaktoren …

1964) und Gabriele Britz (Jahrgang 1968). Nach ihrem Ausscheiden werden diese Richter noch mehr als 10 Jahre der Berufstätigkeit vor sich haben, bevor sie das Pensionsalter erreichen werden. Die ehemalige Richterin am Bundesverfassungsgericht Christine Hohmann-Dennhardt wurde nach dem Ende ihrer Amtszeit im Jahre 2010 in den Vorstand der Daimler AG berufen. Zwar war dies der erste Fall eines solchen Wechsels vom höchsten Richteramt in das Spitzengremium eines global agierenden Konzerns, doch ist denkbar, dass solche Wechsel in den kommenden Jahrzehnten häufiger vorkommen werden. Dann wäre es durchaus von wissenschaftlicher Relevanz zu untersuchen, ob diese Richter in ihren Entscheidungen – insbesondere am Ende ihrer Amtszeit – Rücksicht auf bestimmte Klägergruppen nehmen oder eine bislang vertretene Rechtsauffassung ändern.

3.2.9

Berichterstatter

3.2.9.1 Auswahl Anders als am Bundesverfassungsgericht gibt es am U.S. Supreme Court keine festgelegten inhaltlichen Zuständigkeiten der einzelnen Richter. Der Chief Justice wählt von Fall zu Fall den Berichterstatter aus. Welchen steuernden Einfluss er mit dieser Auswahl möglicherweise ausübt, ist bislang selten Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen gewesen. Beiträge zu dieser Frage erörtern die vom Chief Justice zu treffende Entscheidung, welcher Richter mit welchem Fall betraut wird unter dem Stichwort „opinion assignment“. Es existieren im Wesentlichen zwei Hypothesen, nach welchen Kriterien der Vorsitzende Richter am U.S. Supreme Court seine Fallauswahl trifft: zum einen unter dem Aspekt der Ideologie und zum anderen unter Effizienzgesichtspunkten (Malzman/ Wahlbeck 2004). Die ursprüngliche These, der Chief Justice sei primär von den organisatorischen Erfordernissen der Gerichtsabläufe geleitet (Maltzman/ Wahlbeck 1996), wurde zugunsten einer differenzierten Bewertung aufgegeben, die beide Aspekte berücksichtigt (Wahlbeck 2006). Am Beispiel der Analyse der opinion assignments von Chief Justice Rehnquist konnte belegt werden, dass die Auswahl der Berichterstatter auch der Wahrung fragiler Mehrheiten dienen soll. Dem durch eine gleichmäßige Verteilung der Arbeit am besten gewahrten Ablauf richterlicher Tätigkeit wurde aber eine ebenso große Bedeutung beigemessen. Am Bundesverfassungsgericht sind derartige Spielräume nicht vorhanden. Zwar ist es auch hier der Senatsvorsitzende, der die eingehenden Anträge den Dezernaten seiner Richterkollegen im Senat zuweist. Nach § 20 Abs. 1 Satz 2 GO-BVerfG stellt er aber auf der Grundlage des Geschäftsverteilungsplans, den

3.2 Interne Faktoren

83

jeder Senat vor Beginn eines Geschäftsjahres für dessen Dauer beschließt (§ 15a BVerfGG), den für ein Verfahren zuständigen Berichterstatter fest. Das bedeutet, dass der einzelne Richter nur im Rahmen der Neuverhandlung der Geschäftsverteilung, die jährlich oder beim Ausscheiden eines Senatskollegen anzupassen ist, versuchen kann, Einfluss auf seine Zuständigkeit zu nehmen. Zudem werden Richter, die an das Bundesverfassungsgericht berufen werden, zumeist nicht in den Bereichen eingesetzt, in denen sie vorher tätig waren. Zwar wird die gerichtliche Geschäftsverteilung jährlich modifiziert, doch sind die Änderungen regelmäßig nicht so groß, dass den Richtern jährlich wechselnde Themengebiete übertragen werden. Eine konkrete Messung solcher Einflüsse ist aber wegen des Beratungsgeheimnisses nicht möglich.

3.2.9.2 Einfluss Wenn in den USA die Bedeutung des Berichterstatters am Supreme Court trotz einer von Fall zu Fall wechselnden Zuständigkeit untersucht wird, und die Untersuchungsergebnisse zeigen, dass der Berichterstatter über signifikanten Einfluss verfügt, könnte im Wege eines „erst recht-Schlusses“ vermutet werden, dass sich den Berichterstattern am Bundesverfassungsgericht wegen der längerfristigen Zuständigkeit für Themengebiete erst recht inhaltliche Einflussmöglichkeiten eröffnen. So wäre es durchaus möglich, dass ein Richter versucht, auf das ihm übertragene Rechtsgebiet im Laufe seiner zwölfjährigen Tätigkeit inhaltlich Einfluss zu nehmen, und dass dies einigen Richtern auch tatsächlich gelingt. Eine Einschränkung der Gestaltungsfreiheit besteht natürlich darin, dass der Berichterstatter seine Voten und Entscheidungsentwürfe immer mit seinen sieben Senatskollegen diskutieren und diese dann gegebenenfalls an die Wünsche seiner Senatskollegen anpassen muss, um eine Mehrheit für den von ihm verfassten Entscheidungsvorschlag zu finden. Die nähere Betrachtung der verfassungsgerichtlichen Abläufe zeigt, an welchen Stellen die Einflussmöglichkeiten des Berichterstatters am Bundesverfassungsgericht durch seine exponierte Funktion im ihm übertragenen Verfahren umfangreicher sind als die desjenigen Richters am U.S. Supreme Court, der vom Chief Justice für das Abfassen der Mehrheitsmeinung in einem Verfahren ausgewählt wurde. So obliegt ihm – da er den ersten inhaltlichen Zugriff auf das ihm zugewiesene Verfahren hat – zunächst die Verantwortung dafür, eine kompetenzgerechte Zuordnung herbeizuführen, indem er die Sache als Kammer- oder Senatsverfahren einordnet und dem zuständigen Spruchkörper sein Votum vorlegt (Lenz/ Hansel 2013, § 93b, Rn. 24). Hier könnte sich eventuell Spielraum für ein agenda setting des Berichterstatters eröffnen, da er den Sachverhalt, indem er sie in seiner

84

3

Auswahl der für die Forschungsfrage relevanten Einflussfaktoren …

Aufbereitung für die Kollegen als wenig relevant darstellt, „klein schreibt“. Alternativ könnte er durch die Investition von Zeit und Mühe bei der Aufbereitung des Sachverhalts versuchen, der Klage grundlegende Bedeutung zu verleihen, um das Verfahren als Berichterstatter im Senat zu betreuen. Bei der inhaltlichen Aufbereitung einer Sache für die Beratung im Kollegenkreis, beim Entwerfen des Votums und eines Entscheidungsentwurfs kommt dem Berichterstatter auch ein erhebliches Maß an Deutungshoheit zu, da er in seinem Entwurf darüber entscheidet, welche Aspekte eines Falles er auf welche Weise und in welchem Umfang rechtlich würdigt. Weiterhin ist in § 22 Abs. 3 GO-BVerfG normiert, dass die Förderung des Verfahrens dem Berichterstatter obliegt und damit auch die Entscheidung über den Zeitplan der Erledigung des Verfahrens: § 22 GO-BVerfG (3) Die weitere Förderung des Verfahrens, insbesondere durch sachleitende Verfügungen, obliegt dem Berichterstatter, soweit veranlaßt im Benehmen mit dem Vorsitzenden.

Diese Verfahrenshoheit, die auch zeitliche Aspekte umfasst, könnte Spielräume eröffnen ein Verfahren zurückzustellen, beispielsweise wenn der Berichterstatter befürchtet, dass die bestehende Konstellation im Senat die vom ihm angestrebte inhaltliche Ausgestaltung nicht zulässt. Schließlich kann der Berichterstatter nach § 41 GO-BVerfG bereits vor der Entscheidung ob ein Normenkontrollantrag zulässig ist oder eine Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung angenommen wird, Stellungnahmen von äußerungsberechtigten Personen oder von Dritten einholen oder sich mit einem Auskunftsersuchen nach § 82 Abs. 4 BVerfGG an die dort genannten Gerichte wenden. Entgegen aller hier aufgeführten Optionen kommt Kranenpohl in seiner Studie (Kranenpohl 2010: 155 ff.) zu dem Schluss, dass nur geringe Gestaltungsund Einflussmöglichkeiten des Berichterstatters auf den Ausgang eines von ihm betreuten Verfahrens bestünden. In den Verfahren, in denen eine Kontrolle durch die Öffentlichkeit stattfände, würde der Berichterstatter nach Auffassung Krahnenpohls seine Gestaltungssouveränität sogar gänzlich einbüßen (Krahnenpohl 2010: 134). Die Frage allerdings, ob ein Verfahren in den Senat gelangt oder in der Kammer entschieden wird, liegt in der weit überwiegenden Verantwortung des berichterstattenden Richters. Dieser Aspekt wird für wichtig erachtet, eröffnet er doch Gestaltungs- und damit Einflussmöglichkeiten. Dazu sei auf die Ausführungen zur Agendahypothese verwiesen.

3.2 Interne Faktoren

85

Größerer Einfluss kommt dem Berichterstatter wohl in den Kammerverfahren zu. Die juristische Literatur konstatiert hier große inhaltliche Einflussmöglichkeiten: „Zentrale Figur bei einer Entscheidung durch die Kammer ist der Berichterstatter. (…) Der große Einfluss des Berichterstatters folgt aber aus der geschäftsverteilungsplanmäßigen Zuweisung der einzelnen Grundrechte oder Sachgebiete an die Bundesverfassungsrichter. Wer für ein Sachgebiet zuständig ist, hat das verfassungsrechtliche Schicksal dieses Sachgebiets weitgehend in der Hand. Das hat sehr stark mit der Ausgestaltung des Kammersystems zu tun. Denn in der Praxis ist der Berichterstatter [im Kammerverfahren, Anm. M.S.] einem Einzelrichter schon sehr nahe.“ (Lenz/ Hansel 2013, § 15, Rn. 6–7)

Die vorliegende Untersuchung wird keinen Schwerpunkt auf die nähere Analyse des Einflusses des Berichterstatters legen, da die dafür erforderlichen Aufzeichnungen der Richter am Bundesverfassungsgericht nicht zugänglich sind. Für eine solche Untersuchung müssten das ursprüngliche Votum des Berichterstatters und die Korrekturen und Anregungen aus dem Richterkollegium einsehbar sein, um diese dann mit der endgültigen Fassung der Senatsentscheidung zu vergleichen. Hinsichtlich der Möglichkeiten, mit den Mitteln einer qualitativen Untersuchung die Einflussmöglichkeiten des Berichterstatters zu beleuchten, sei hier auf die Ausführungen von Kranenpohl verwiesen (Kranenpohl 2010: 133–161).

3.2.9.3 Abstimmen des Mehrheitsvotums Der Einfluss des Berichterstatters am Supreme Court wird durch das vom Bundesverfassungsgericht verschiedene Verfahren und durch den deutlich mehr am Leitbild des Verhandelns ausgerichteten Prozess relativiert. Brenner und Whitmeyer haben eine Untersuchung des Burger Court von Maltzmann, Spriggs und Wahlbeck zusammengefasst und sind zu folgenden Konstellationen und Phänomenen bei der Reaktion auf die Übersendung des ersten Entscheidungsentwurfs des Berichterstatters an seine Richterkollegen gelangt, wobei die Zahlen den in der Analyse des Datenmaterials ermittelten Durchschnitt wiedergeben: 74,9 Prozent der Richter schreiben dem Berichterstatter eine Nachricht, dass sie sich der Mehrheitsmeinung anschließen möchten, 1,8 Prozent schreiben eine Nachricht, in der sie ankündigen, sich nicht der Mehrheit anzuschließen, wenn nicht bestimmte Änderungen vorgenommen werden, 2,8 Prozent unterbreiten Änderungsvorschläge am Mehrheitsvotum, 2,7 Prozent setzen den Berichterstatter in Kenntnis, dass sie sich erst entscheiden werden, wenn sie alle anderen Vorschläge für die Entscheidung erhalten haben, 2,4 Prozent informieren darüber, dass sie einen eigenen Entscheidungsentwurf abfassen werden, 8 Prozent versenden oder

86

3

Auswahl der für die Forschungsfrage relevanten Einflussfaktoren …

beteiligen sich an einer versendeten concurring opinion und 3 Prozent schließlich verfassen oder beteiligen sich an einer verfassten dissenting opinion (Brenner/ Whitmeyer 2009: 72 f.). Derartige Einblicke in den Prozess der Entscheidungsfindung am Bundesverfassungsgericht wären von großem Interesse. Wegen des derzeit gewählten Umgangs mit dem Beratungsgeheimnis und dessen Wahrung weit über den Abschluss von Verfahren und auch über das Ausscheiden der daran beteiligten Richter am Bundesverfassungsgericht hinaus, ist eine vergleichbare Untersuchung nicht möglich. Für die Möglichkeit einer qualitativen Untersuchung sei wieder auf die Untersuchung Kranenpohl (2010) verwiesen.

3.2.9.4 Sonderfall: Berichterstatter trägt Mehrheitsmeinung nicht mit und veröffentlicht ein Sondervotum Wie von Kranenpohl und den von ihm befragten Richtern immer wieder betont, ist das Senatsvotum das Produkt der intensiven Beratungen unter den acht Richtern eines Senats, die dem Leitbild der „ausgewogenen, kritischen Deliberation“ (Kranenpohl 2010: 162) folgen. Das Votum eines Berichterstatters, das die Grundlage der Beratungen im Senat darstellt, kann mitunter mehrere hundert Seiten umfassen (Benda/ Klein 2001: 270). Vom Berichterstatter wird während der Beratungen der Gedankengang, wie eine Entscheidung nach Auffassung der Richtermehrheit begründet werden soll, skizziert, um ihm als Grundlage insbesondere dann zu dienen, wenn das Beratungsergebnis von dem in seinem Votum enthaltenen Vorschlag abweicht. Die Formulierung des „Entwurfs der schriftlichen Entscheidungsgründe ist zunächst wieder dem Berichterstatter überlassen, der die Meinung der Mehrheit selbst dann formuliert, wenn er mit seiner Meinung in der Minderheit geblieben ist“ (Benda/ Klein 2001: 270). Diese Konstellation, dass ein Richter als Berichterstatter mit seiner Rechtsauffassung unterliegt und neben dem Mehrheitsvotum seine eigene Auffassung als Sondervotum veröffentlicht, ist angesichts der ohnehin so niedrigen Zahl an Sondervoten ein ebenso interessantes wie seltenes Phänomen. Für die Beantwortung der Forschungsfrage nach generalisierbaren Einflussfaktoren auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist es nicht geeignet.

3.3

Empirische Forschungsfragen

Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es – unter Zugrundelegung der Betrachtungsperspektive des strategischen Modells von Epstein und Knight –, Aussagen über Einflüsse auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts treffen zu

3.3 Empirische Forschungsfragen

87

können und mit Hilfe des strategischen Modells zu erklären, wie sich die Richter unter den festgestellten Einflüssen verhalten und ob dieses Verhalten ein strategisches ist. Die Überlegungen zu den externen Einflussfaktoren führen zu folgendem Ergebnis: Der Einfluss der öffentlichen Meinung wurde von Sternberg, Gschwend, Wittig und Engst (2015) im Rahmen eines Forschungsprojekts aufgearbeitet. Wenig relevant für das Entscheidungsverhalten des Bundesverfassungsgerichts sind – anders als im Falle der Vereinigten Staaten – die Einflüsse der Exekutive. In Ermangelung der Möglichkeit in eine große Zahl von Verfahrensakten am Bundesverfassungsgericht und am Bundesarchiv Einblick zu nehmen, scheidet sowohl eine empirische Überprüfung der Erfolgsaussichten bestimmter am Verfahren im Wege der Stellungnahme mittelbar beteiligter Personen oder Personengruppen als auch bestimmter Kläger oder Klägervertreter als direkte Verfahrens-parteien aus. Möglich ist hingegen die Untersuchung der Frage, ob das Gericht bei der Überprüfung von Bundesgesetzen eventuell zurückhaltender entscheidet als bei der Überprüfung von Landesgesetzen. Ebenfalls einer empirischen Untersuchung zugänglich ist die Frage, ob Bundesgerichte größere Erfolgsaussichten bei Normenkontrollen im Wege der Richtervorlage haben als die Instanzgerichte bzw. ob – analog der eben für Bundes- und Landesgesetzgeber angestellten Überlegungen – das Bundesverfassungsgericht eher dazu geneigt ist, Entscheidungen der Instanzgerichte zu kassieren als die ihrer Kollegen an den Bundesgerichten. Die zu den möglichen internen Einflussfaktoren angestellten Überlegungen ergeben folgendes Bild: Das Annahmeverfahren am Bundesverfassungsgericht birgt verschiedene Möglichkeiten für die Wirkung von Einflüssen und damit von strategischem Verhalten. Das kann mit Hilfe qualitativer Verfahren untersucht werden. Das Gleiche gilt für die Auswahl der Wissenschaftlichen Mitarbeiter und die ihnen übertragenen Aufgaben. In Ermangelung des Zugangs zu den erforderlichen Informationen ist die Untersuchung, ob die parteipolitische Zusammensetzung eines Senats Auswirkungen auf dessen Entscheidungen hat, nicht durchführbar. Dies gilt auch für die Frage nach politischen Präferenzen, dem Einfluss des möglichen richterlichen Wunsches nach einer adäquaten Arbeitsbelastung, nach der Anerkennung im Kollegenkreis oder der wissenschaftlichen Gemeinschaft oder dem Einfluss späterer Karrierechancen. Die Frage, ob die Erfolgsaussichten eines Verfahrens, in dem ohne mündliche Verhandlung entschieden wird, von den Verfahren mit mündlicher Verhandlung abweichen, und ob die Erfolgsaussichten von Verfassungsbeschwerden im Ersten Senat von denen im Zweiten Senat abweichen, ist einer quantitativen Untersuchung zugänglich.

88

3

Auswahl der für die Forschungsfrage relevanten Einflussfaktoren …

Wie sich die geringe Zahl der Sondervoten erklären lässt, und ob es möglicherweise – wie für den U.S. Supreme Court vermutet – eine informelle Norm des Konsenses unter den Richtern gibt, kann mit Hilfe qualitativer Methoden untersucht werden. Ebenso die Überlegung, ob die Aussicht auf eine Entscheidung im Plenum eine disziplinierende und einende Wirkung auf die Verfassungsrichter entfaltet. Ob es unter den Richtern strategische Allianzen bei den Abstimmungen in den Senaten gibt, entzieht sich ebenso einer empirischen Überprüfung, wie eine grundsätzliche Untersuchung, ob die Richter eines Senates Einfluss aufeinander nehmen. Ob dem Berichterstatter eines Verfahrens im Senat Einflussmöglichkeiten gegeben sind, wurde – soweit eine solche Untersuchung möglich ist – von Kranenpohl (2010) im Rahmen dessen Analysen erforscht und soll hier nicht weiter erörtert werden. Unter Berücksichtigung der rechtlichen und organisatorischen Spezifika des Bundesverfassungsgerichts können aus den Überlegungen zu potentiellen Einflussfaktoren Hypothesen zum Entscheidungsverhalten der Verfassungsrichter und zu möglichen Einflüssen auf dieses Verhalten abgeleitet werden. Diese sollen dann im weiteren Verlauf der Untersuchung auf ihre Gültigkeit überprüft werden. Hierfür galt es zum einen zu entscheiden, welche der oben erörterten Aspekte für das Entscheidungsverhalten der Richter am Bundesverfassungsgericht relevant sein können, und zum anderen, welche Faktoren auch tatsächlich einer empirischen Untersuchung zugänglich sind. Im Falle des Bundesverfassungsgerichts stellt die stark eingeschränkte Möglichkeit an Daten und Informationen zu Abläufen, Besprechungen und Entscheidungen von der Verkündung der endgültigen Kammer- oder Senatsentscheidung des Gerichts zu gelangen bedauerlicher Weise den stärksten limitierenden Faktor für die wissenschaftliche Untersuchung dar. Aus den vorangegangenen Überlegungen können nun die folgenden Hypothesen abgeleitet werden: H1 – Gesetzgeberhypothese: Das Bundesverfassungsgericht entscheidet bei Bundesgesetzen zurückhaltender als bei Landesgesetzen, weil es eine ablehnende Reaktion des Bundesgesetzgebers antizipiert und eine solche eher zu vermeiden sucht als den möglichen Konflikt mit einem Landesgesetzgeber. H2 – Justizhypothese: Bei Urteilsverfassungsbeschwerden hat die hierarchische Position des Gerichts, dessen Entscheidung überprüft wird, einen Einfluss auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. H3 – Sozialisierungshypothese: Bei beiden Senaten gibt es durch die unterschiedlichen Zuständigkeiten Einflüsse in Form „sozialisierender“ Effekte, die sich bei der

3.3 Empirische Forschungsfragen

89

Rechtsprechung in einer voneinander abweichenden Grundrechtsfreundlichkeit beider Senate nachweisen lassen.33 H4 – Agendahypothese: Aus der Menge der eingehenden Klagen wählen die Richter – unterstützt von ihren Mitarbeitern – gezielt und strategisch innerhalb des vorgegebenen rechtlichen Rahmens Fälle zur Annahme zur Entscheidung in der Kammer oder im Senat aus, und beeinflussen so die inhaltliche Agenda des Gerichts und die thematische Ausrichtung der Rechtsprechung. H5 – Mitarbeiterhypothese: Die Wissenschaftlichen Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht können auf zwei Arten Einfluss auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nehmen: Bei der Auswahl eingehender Klagen nehmen sie durch ihre Voten Einfluss auf die inhaltliche Agenda des Gerichts. Durch ihre Mitarbeit bei der Erstellung der Kammer- und Senatsvoten können sie Einfluss auf die Rechtsprechung nehmen.34 H6 – Konsenshypothese: Es gibt eine informelle Norm des Konsenses am Bundesverfassungsgericht, die sich aus den richterlichen Rollenvorstellungen speist, und die Erwartungen der Bevölkerung an das Gericht abbildet. Diese Rollenvorstellungen weichen stark von denen der Richter am U.S. Supreme Court ab und erklären die im Vergleich zum Supreme Court sehr geringe Zahl an Sondervoten und die wenigen Male, die das Plenum des Bundesverfassungsgerichts einberufen wurde.35

Die Ergebnisse aus der Untersuchung der Hypothesen sollen mit Hilfe des strategischen Modells interpretiert und eingeordnet werden. Denn das Wirken bestimmter interner und externer Einflussfaktoren festzustellen, ist nur der erste Schritt. In einem zweiten Schritt bietet das strategische Modell einen Erklärungsansatz dafür, weshalb die Einflüsse zu einem bestimmten richterlichen Verhalten führen können.

33

Die Sozialisierungshypothese wurde unter Zugrundelegung der wissenschaftlichen Beiträge von Baum (1992), Edwards (2003), Hurwitz/ Stefko (2004), Meinke/ Scott (2007), Spriggs/ Hansford (2001) und Spriggs/ Hansford (2002) entwickelt. 34 Die Mitarbeiterhypothese wurde unter Zugrundelegung der wissenschaftlichen Beiträge von Baum (1993), Caldeira/ Wright (1990), Ditslear/ Baum (2001) und Epstein, Lee/ Segal, Jeffrey A./ Spaeth, Harold J.: Setting the Nation’s Legal Agenda: Case Selection on the U.S. Supreme Court. Abrufbar unter: http://epstein.usc.edu/research/cert.pdf (Stand 03/2012) entwickelt. 35 Die Konsenshypothese wurde unter Zugrundelegung der wissenschaftlichen Beiträge von Epstein / Segal/ Spaeth (2001), Baum (1994), Gibson (1978), Maltzman/ Wahlbeck (1996) und Spriggs/ Maltzman/ Wahlbeck (1999) entwickelt.

4

Gang der Untersuchung

Um die im Rahmen dieser Arbeit aufgeworfene Frage nach den Einflüssen auf die Rechtsprechung am Bundesverfassungsgericht zu untersuchen, wurde eine zweigliedrige Vorgehensweise gewählt. Zum einen eine quantitative Erhebung, die auf einer Erfassung und Auswertung der in der amtlichen Entscheidungssammlung veröffentlichten Senatsentscheidungen aus 40 Jahren basiert. Zum anderen wurden leitfadengestützte Experteninterviews mit ehemaligen Wissenschaftlichen Mitarbeitern am Bundesverfassungsgericht geführt. Diese zwei Empiriestränge sollen einander ergänzen und dem Umstand Rechnung tragen, dass selbst mit den geführten Interviews und mit der Auswertung der Senatsentscheidungen lediglich eine Annäherung möglich sein wird, wie sich die Abläufe und die Entscheidungsstrukturen und -prozesse am Gericht darstellen. In dem Beitrag von Ward und Wasby (2010), der sich mit Fragen der Vorgehensweise bei und der Ergiebigkeit von der Befragung von law clerks am U.S. Supreme Court und den Courts of Appeals in den USA befasst, weisen die Autoren ebenfalls auf die Notwendigkeit hin, ergänzend zu den geführten Interviews weitere Formen der Empirie hinzuzuziehen. „To what extent should researchers rely on interview data alone? We suggest that interview data gleaned from clerks, while valuable in and of itself, should be supplemented with data developed through additional methodological approaches.“ (Ward/ Wasby 2010: 140)

Dennoch kommen sie zu dem Schluss, dass es lohnenswert sei, sich wissenschaftlich mit den (ehemaligen) law clerks auseinanderzusetzen:

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2024 M. Schlögel, Strategen in Roben, https://doi.org/10.1007/978-3-658-43868-5_4

91

92

4

Gang der Untersuchung

„And while there are certainly hazards and hurdles to overcome in elite interviewing generally, and with regard to clerks specifically, we maintain that the benefits far outweigh the costs.“ (Ward/ Wasby 2010: 141)

4.1

Quantitative Untersuchung

4.1.1

Umfang der Datenerfassung

Die Auseinandersetzung mit den Hypothesen und H1, H2 und H3 machte eine quantitative Untersuchung erforderlich. Hierfür wurde eine Erhebung aller in der amtlichen Entscheidungssammlung veröffentlichten Senatsentscheidungen aus den Jahren 1980 bis 2020 durchgeführt1 . Nicht nur aus Kapazitätsgründen wurde von einer Vollerhebung – also der Erfassung aller in der amtlichen Entscheidungssammlung abgedruckten Urteile und Beschlüsse ab der Aufnahme der Spruchtätigkeit des Gerichts im Jahre 1951 – Abstand genommen. In erster Linie sind es institutionelle Aspekte, die für den gewählten Zeitraum sprechen. Erst mit dem vierten Änderungsgesetz zum Bundesverfassungsgerichtsgesetz vom 21. Dezember 1970 hat der Gesetzgeber den Richtern die Möglichkeit eingeräumt, ihre abweichende Meinung in einem Sondervotum zur Senatsentscheidung zu veröffentlichen. Zudem befand sich die Organisation des Gerichts in den beiden ersten Jahrzehnten seiner Spruchtätigkeit im Wandel, bis das Gericht schließlich zu der Form fand, in der es heute noch verfasst ist (Sternberg et al. 2015: 578). Der hier gewählte Zeitraum umfasst elf Bundestagswahlen und drei Wechsel in der Kanzlerschaft. Auch wurde mit der Wahl eines 40 Jahre umfassenden Untersuchungszeitraums sichergestellt, dass Effekte individuellen Richterverhaltens (Sternberg et al. 2015: 578) kontrolliert werden können, da eine Amtszeit 12 Jahre beträgt und somit zahlreiche Wechsel in der Besetzung der Senate stattfanden. Die Datenerfassung erfolgte in zwei Phasen. Nach der ersten Erhebungsphase war deutlich geworden, dass durch eine Umgestaltung der Datenbank und der Hinzunahme weiterer Merkmale Informationen in weitaus detaillierterer Form erhoben werden können. In der ersten Phase wurde unter LibreOffice Base eine

1

Diese empirische Untersuchung entstand im Rahmen des in der Einleitung vorgestellten Projekts der Verfasserin mit Prof. Dr. Michael Grottke vom Lehrstuhl für Ökonometrie an der Friedrich Alexander-Universität Erlangen/ Nürnberg, gefördert mit Mitteln der Hans-FrischStiftung.

4.1 Quantitative Untersuchung

93

aus 14 Tabellen bestehende Datenbank erstellt und mit Informationen zu den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts aus dem Zeitraum von Januar 1980 bis Dezember 2010 gefüllt. Nach Abschluss der zweiten Phase waren alle Senatsentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, die in der amtlichen Entscheidungssammlung im Zeitraum von Januar 1980 bis Dezember 2020 veröffentlicht worden waren, in der Datenbank erfasst. Dies waren 1.732 Verfahren, mit 2.744 verschiedenen Aktenzeichen, denen wiederum 3.023 Einzelentscheidungen zugeordnet wurden und an denen 74 Bundesverfassungsrichter beteiligt waren.

4.1.2

Ausgestaltung der Datenauswertung2

Bei der Datenerfassung wurden zu jeder Entscheidung des Gerichts die folgenden Informationen in die Datenbank eingegeben: • • • • • • • • • • •



2

Mit welchem Aktenzeichen eine Entscheidung versehen ist, welcher Senat entschieden hat, welche Richter an der Entscheidung beteiligt waren, von welcher politischen Partei die beteiligten Richter vorgeschlagen worden waren, das Eintritts- und Austrittsdatum der an der Entscheidung beteiligten Richter, die Verfahrensart, der Verfahrensgegenstand, die Verfahrensbeteiligten, ob mit oder ohne mündliche Verhandlung entschieden wurde, welches Grundrecht bzw. welche Grundrechte die Richter für verletzt erachteten, falls ein Stimmverhältnis angegeben wurde, wie das Abstimmungsverhältnis der an der Entscheidung beteiligten Richter war und gegebenenfalls auch differenziert nach den Leitsätzen, da zu den einzelnen Leitsätzen unterschiedliche Stimmverhältnisse vorliegen können, der Tenor der Entscheidung,

Die folgenden Ausführungen basieren auf dem Abschlussbericht zum Projekt an die HansFrisch-Stiftung von Michael Grottke und Martina Schlögel. Die Ausführungen, in denen Aufbau und Struktur der Datenbank beschrieben werden, stammen – ebenso wie sämtliche Berechnungen – ausschließlich von Michael Grottke.

94

4

Gang der Untersuchung

• ob ein Sondervotum veröffentlicht worden war und, wenn ja, mit welchem Inhalt und ob es sich um eine „concurring opinion“ oder „dissenting opinion“ handelte, schließlich • wenn inzident über die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes entschieden wurde, um welche Art von Gesetz es sich handelt und wie der Tenor der inzidenten Entscheidung lautet. Die gewählte Datenbankstruktur sah vor, dass jedem Verfahren mindestens ein Aktenzeichen zugeordnet war. Hierbei wurden die zutreffenden Arten der Verfahrensbeteiligten auf der Verfahrensebene erfasst. Hingegen konnte für jedes Aktenzeichen die Verfahrensart, der betroffene Verfahrensgegenstand (z.B. das Gericht, gegen dessen Urteil vom Kläger eine Verfassungsbeschwerde initiiert wurde) und die vom Bundesverfassungsgericht getroffene Entscheidungsformel, die Tenorierung, erhoben werden. Eine detaillierte Durchsicht der erfassten Daten nach Abschluss der ersten erhobenen Jahrgänge offenbarte, dass innerhalb eines Aktenzeichens mitunter die Klagen verschiedener Verfahrensbeteiligter bzw. Gruppen von Verfahrensbeteiligten zusammengefasst worden waren, deren Verfahrensarten voneinander abweichen und zu denen außerdem unterschiedliche Entscheidungsaussprüche ergehen konnten. Derartige Differenzierungen konnten in der Datenbank nur durch Schaffung einer neuen Ebene unterhalb der Aktenzeichen abgebildet werden, auf der die Beteiligten, die Verfahrensart und die Tenorierung zu erfassen waren. Wie oben bereits beschrieben, gibt es in der sozialwissenschaftlichen Forschung zum U.S. Supreme Court quantitative Untersuchungen zu dem Phänomen, dass verschiedene Verfahrensbeteiligte bzw. Gruppen von Verfahrensbeteiligten über unterschiedlich große Erfolgsaussichten verfügen. Auf diesen Ergebnissen basieren die Grundüberlegungen zur Gesetzgeber- und Justizhypothese. Um diese Hypothesen genauer untersuchen zu können, sollte eine neue Kategorisierung der Verfahrensbeteiligten geschaffen werden, die die Ebene des vorlegenden Gerichts bei einer konkreten Normenkontrolle erkennen lässt und die Art der weiteren beteiligten Personengruppen unterscheidet. Sowohl der Gesetzgeber- als auch der Justizhypothese liegt die Annahme zugrunde, dass das Bundesverfassungsgericht nicht – wie die künstlerische Darstellung der Göttin der Gerechtigkeit – mit verbundenen Augen entscheidet, sondern die Beteiligten oder die Art der mit einer Klage angegriffenen Institution Einfluss auf die Entscheidung haben könnten. Von dieser Überlegung ausgehend wurde der Erfassung folgende gedankliche Matrix zugrunde gelegt: Es wurde differenziert, ob und wenn ja, welcher staatlichen Gewalt ein Verfahrensbeteiligter zuzuordnen ist: Der Exekutive, der Legislative

4.1 Quantitative Untersuchung

95

oder der Judikative, oder ob es sich um eine politische Partei handelt, die keiner der Gewalten zuzuordnen ist. Bei den staatlichen Gewalten wurde zudem differenziert, um welche Ebene es sich handelt. Bei Exekutive und Legislative wurde zwischen der Kommunalen, der Landes- und der Bundesebene unterschieden. Bei der Judikative gestaltete sich die Differenzierung wie folgt: Auf der Grundlage von Abbildung 4.1, die allerdings keine Spezialgerichte enthält, wie beispielsweise die Berufsgerichte der freien Berufe, wurden die Daten in zwei Kategorien gruppiert. Dies sind die Gerichte der Länder, die auch als Instanzgerichte bezeichnet werden können, und die Gerichte des Bundes.

Abbildung 4.1 Aufbau der Gerichtsbarkeit in Deutschland. (Quelle: https://m.bpb.de/nac hschlagen/lexika/recht-a-z/323450/gerichtsbarkeit (Stand 12/ 2021))

Bei den möglichen Verfahrensgegenständen sollte zum einen erkennbar sein, welcher der drei Gewalten (Exekutive, Legislative und Judikative) bzw. welcher sonstigen Kategorie der Verfahrensgegenstand zugeordnet werden konnte. Zum anderen sollte sich die jeweilige Ebene (Bund, Land, Kommune) erschließen lassen. So wurde beispielsweise bei der Verfassungsbeschwerde hinsichtlich der Verfahrensgegenstände wie folgt differenziert:

96

4

Gang der Untersuchung

• Verfassungsbeschwerde gegen Bundesgesetz, Landesgesetz oder eine kommunale Regelung • Verfassungsbeschwerde gegen eine Entscheidung eines Bundesgerichts oder eines Gerichts der Länder • Verfassungsbeschwerde gegen ein Unterlassen durch den Bund, das Land oder eine Kommune sowie • Verfassungsbeschwerde gegen einen Exekutivakt des Bundes, eines Landes oder einer Kommune. Darüber hinaus war im Zuge der ersten Auswertungen deutlich geworden, dass für die Frage nach potenziellen Einflussfaktoren auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei Verfassungsbeschwerden der Aspekt der so genannten inzidenten Entscheidungen von großem Interesse ist. Bei einer solchen inzidenten Entscheidung handelt es sich – im Gegensatz zu der Entscheidung über den mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Akt – um die im Rahmen der Entscheidung erfolgte verfassungsrechtliche Überprüfung und Beurteilung des Gesetzes, auf dessen Grundlage das beklagte Handeln erfolgt war. Zur umfassenden Beurteilung der Plausibilität der Gesetzgeberhypothese war die Erfassung dieser inzident erfolgten Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit von Normen unabdingbar. Eine dritte Unterscheidungsebene – die als „Einzelentscheidung“ bezeichnete Ebene – wurde für zwei Konstellationen erforderlich: Zum einen für die Fälle, in denen mehrere Einzelverfahren unter nur einem Aktenzeichen entschieden worden waren. Zum anderen immer dann, wenn in einem Verfahren inzident über die Vereinbarkeit einer Norm mit der Verfassung entschieden worden war, da dann für die inzidente Entscheidung die zugehörigen Informationen erhoben wurden. Die Verfahrensart wurde dadurch festgehalten, dass jeder Einzelentscheidung eine Verfahrensart3 zugeordnet wurde. Ebenfalls wurde erfasst, ob es sich bei der Entscheidung um ein nach öffentlicher Verhandlung ergangenes Urteil oder um einen ohne öffentliche Verhandlung ergangenen Beschluss handelte. Diese Differenzierung in der Erfassung sollte es ermöglichen zu überprüfen, ob eine mündliche Verhandlung Einfluss auf die Entscheidung des Gerichts haben kann. Die Variable „Faktor“ war insbesondere bei einer Mehrheit von Klägern von Interesse; hier war beispielsweise bei n (z.B. 100) Klagen, die unter dem

3

Die Verfahrensarten wurden der amtlichen Statistik des Bundesverfassungsgerichts entnommen, vgl. https://www.bundesverfassungsgericht.de/DE/Verfahren/Jahresstatistiken/ 2020/gb2020/A-I-4.pdf?__blob=publicationFile&v=2 (Stand Dezember 2021).

4.1 Quantitative Untersuchung

97

gleichen Aktenzeichen zusammengefasst wurden und die sich hinsichtlich sämtlicher Informationen zur Einzelentscheidung (Verfahrensart, Klagegegenstand, Klägerart, Tenorierung) nicht unterschieden, der Faktor auf n (z.B. 100) zu setzen. Falls im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde eine inzidente Entscheidung über ein dem angegriffenen Handeln zugrundeliegendes Gesetz erfolgt war, konnte diese ebenso erfasst werden wie der betroffene Gesetzgeber. Erfasst wurde auch, dass sich einerseits eine inzidente Entscheidung auf mehrere Einzelentscheidungen beziehen konnte und andererseits im Rahmen einer Einzelentscheidung mehrere inzidente Entscheidungen (etwa hinsichtlich mehrerer Gesetze) getroffen werden konnten. In den Fällen, in denen das Stimmverhältnis am Ende der Entscheidung angegeben worden war4 , wurde das Stimmverhältnis erfasst und der Einzelentscheidung zugeordnet. Hierfür war es teilweise erforderlich, die Angabe auf die einzelnen Leitsätze zu beziehen, da es den Richtern möglich ist, in einer Abstimmung zwischen den Leitsätzen zu differenzieren. So entschied der Erste Senat etwa im April 2006 im Verfahren zur Rasterfahndung (BVerfGE 115, 320): „Die Entscheidung ist zu B II mit 6:2 Stimmen, im Übrigen einstimmig ergangen.“ Im Rahmen der Datenerfassung wurden auch derartige Differenzierungen innerhalb einer Entscheidung erhoben, um die Entscheidungsaussprüche so exakt wie möglich in der Datenbank zu erfassen. Gleiches galt für Sondervoten. In Rahmen eines zur Entscheidung stehenden Sachverhalts kann einerseits mehr als ein Grundrecht vom Bundesverfassungsgericht als verletzt angesehen werden; andererseits kann ein Grundrecht selbstverständlich auch Gegenstand verschiedener Verfahren sein. Um Aussagen über die ideologische Zusammensetzung des Senats zum Zeitpunkt einer Entscheidung treffen zu können, wurden zu jeder Entscheidung die sie unterzeichnenden Richter erfasst. Für jeden Richter wurde erfasst, von welcher Partei er für das Amt des Verfassungsrichters vorgeschlagen worden war, sowie das Datum der Berufung, das Austrittsdatum und die Zuordnung zu einem Senat. Unterstellt wurde, dass es zwischen vorschlagender Partei und vorgeschlagenem Richter zumindest eine ideologische Nähe gibt. Schließlich wurde jedem Verfassungsrichter seine vorherige Tätigkeit zugeordnet. Hierbei wurden in der Tabelle „Tätigkeit“ Kategorien von Vortätigkeiten, nämlich „Richter“, „Hochschullehrer“ und „Politiker“ angelegt.

4

Bei der Angabe des Stimmverhältnisses handelt es sich um eine Information, die die Richter ihrer Entscheidung gemäß §30 II 2 BVerfGG hinzufügen können, sie sind dazu allerdings nicht verpflichtet. Die Bekanntgabe des Stimmverhältnisses setzt nicht voraus, dass die in der Senatsabstimmung unterlegenen Richter der Entscheidung ein Sondervotum anfügen (Lenz/ Hansel 2013, § 30 Rn. 31).

98

4

Gang der Untersuchung

Um die Erstellung von Datensätzen zum statistischen Testen der Hypothesen zu erleichtern, wurde im „Ja/Nein“-Feld „Stattgegeben“ der Tabelle „Tenor“ für jede der erfassten Tenorierungsvarianten hinterlegt, ob diese bedeutet, dass der Klage – zumindest in Teilen – stattgegeben wurde. Die grundlegenden Überlegungen zu den Tenorierungen basieren auf den Ausführungen von Christian Rau (1996) zu den „Selbst entwickelte[n] Grenzen in der Rechtsprechung des United States Supreme Court und des Bundesverfassungsgerichts“. Das Bundesverfassungsgericht entscheidet generell auf vier Ebenen (Rau 1996: 249ff.): Im Rahmen der Annahmeebene wird darüber entschieden, ob sich das Gericht mit einer Klage befassen wird. Daran anschließend folgt die prozessuale Ebene, auf der das Gericht über die Zulässigkeit einer Klage, also über formale Aspekte entscheidet. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem vorgetragenen Sachverhalt erfolgt erst auf der dritten Ebene, der Sachebene. Nach erfolgter inhaltlicher Prüfung entscheidet sich das Gericht auf der Tenorierungsebene für eine bestimmte Entscheidungsformel, den Tenor. Diese Tenorierungen sind nicht gesetzlich vorgegeben. Zwar ergeben sich einige der Formeln aus der Verfahrensart bzw. aus den auf den Ebenen eins bis drei getroffenen Entscheidungen. So bedeutet etwa der Ausspruch „unzulässig“, dass eine Klage nicht die formalen Kriterien für deren Zulässigkeit erfüllt, oder der Ausspruch „unbegründet“, dass die Sachprüfung einer zulässigen Klage ergeben hat, dass der Kläger durch den in der Klage angegriffenen Akt nicht in seinen Grundrechten verletzt worden ist. Generell lässt sich aber aus der Tenorierung ersehen, wie tief das Gericht bei der Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit einer Norm in den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers eingreift oder den gesetzgeberischen Gestaltungsraum bei einer angeordneten Neunormierung mit Vorgaben für die Ausgestaltung der künftigen Norm reduziert. Diese Einordnung der jeweils gewählten Tenorierung ist ein wichtiger Indikator, um Fragen zu einer etwaigen richterlichen Zurückhaltung oder – in entgegengesetzter Richtung – zu einer möglichen richterlichen Kompetenzanmaßung oder Übergriffen in die Handlungsfelder von Exekutive oder Judikative beantworten zu können. Entsprechend wurde zu jeder Entscheidung die entsprechende – teilweise komplexe und mehrgliedrige – Tenorierung erfasst.

4.2 Qualitative Untersuchung

4.2

Qualitative Untersuchung

4.2.1

Leitfadengestützte Experteninterviews

99

4.2.1.1 Planung und Ablauf der Interviews Im Zentrum der Hypothesen H4, H5 und H6 stehen die Auswahl- und Entscheidungsprozesse der Richter und deren Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Auswahl und der Bearbeitung eingehender Anträge sowie Fragen der Arbeitsteilung und eine mögliche informelle Norm des Konsenses am Bundesverfassungsgericht. Diese Aspekte sollen primär im Wege einer qualitativen Befragung untersucht werden. Hierfür wurden leitfadengestützte Experteninterviews5 mit ehemaligen Wissenschaftlichen Mitarbeitern des Bundesverfassungsgerichts geführt. Für die Wahl dieser Gruppe als Interviewpartner gab es im Wesentlichen zwei Gründe. Zum einen hat die Studie von Kranenpol (2008), die Einblick in den Entscheidungsfindungsprozess am Bundesverfassungsgericht gibt, gezeigt, dass die amtierenden und ehemaligen Richter am Bundesverfassungsgericht auch im Schutze der Anonymität der Befragung nicht mit letzter Offenheit über ihre Beweggründe und Motivation sprechen. Auch hatten erste Gespräche der Verfasserin mit Richtern am Bundesverfassungsgericht deutlich gemacht, dass die dieser Untersuchung zugrundeliegende politikwissenschaftliche Fragestellung nach Einflüssen auf die höchstrichterliche Rechtsprechung kaum mit dem richterlichen Amts- und Selbstverständnis in Einklang zu bringen war. Zum anderen liegt bislang noch keine politikwissenschaftliche Untersuchung vor, die sich mit der Tätigkeit der Wissenschaftlichen Mitarbeiter und deren Beitrag bei der Erstellung von Voten, dem Verfassen von Kammerentscheidungen oder deren Beteiligung beim Abfassen von Senatsentscheidungen beschäftigt. Die hohe Zahl an Verfahrenseingängen legt jedoch nahe, dass die Mitarbeiter einen wesentlichen Teil dieser Arbeitslast tragen. Sie sind ein nicht hinwegzudenkender Teil des Systems „Bundesverfassungsgericht“ und gewinnen bei ihrer täglichen Arbeit umfangreiche Kenntnis sowohl von der Arbeit des Richters, dem sie zugewiesen sind, als auch von der Zusammenarbeit der Richter am Bundesverfassungsgericht. In der Mitarbeiterhypothese wird die Annahme formuliert, dass die Mitarbeiter mit ihren Beiträgen zumindest in einem gewissen Maß Einfluss auf die Spruchtätigkeit des Bundesverfassungsgerichts nehmen können. Im Rahmen der Interviews mit den ehemaligen Wissenschaftlichen Mitarbeitern, die heute exponierte Funktionen in Justiz, Verwaltung und Wissenschaft innehaben, wurde deutlich, dass sie in den Jahren der intensiven und engen Zusammenarbeit mit 5

Der den Interviews zugrunde gelegte Gesprächsleitfaden findet sich im Anhang.

100

4

Gang der Untersuchung

„ihrem“ Richter umfassende und tiefgehende Einblicke in dessen Arbeits-, Denkund Entscheidungsweisen gewonnen haben. Bei der Auswahl der Interviewpartner wurde primär nach dem „SchneeballVerfahren“ vorgegangen. Das heißt, dass ausgehend von einigen ehemaligen Mitarbeitern weitere von ihnen benannte ehemalige Mitarbeiter befragt wurden (Schnell/ Hill/ Esser 2005: 300). Dieses Verfahren wird insbesondere bei der Auswahl von Angehörigen „seltener Populationen“ angewendet, wozu die Wissenschaftlichen Mitarbeiter in Karlsruhe zweifelsohne gehören, und „stellt natürlich keine Zufallsauswahl, sondern eine bewusste Auswahl dar“ (Schnell/ Hill/ Esser 2005: 300). Trotz der Auswahl nach dem Schneeball-Verfahren wurde sichergestellt, dass es sich um Mitarbeiter sowohl aus dem Ersten als auch aus dem Zweiten Senat handelte, und dass diese bei verschiedenen Richtern – verteilt auf einen Zeitraum innerhalb der letzten 25 Jahre – tätig waren. Die Interviewdauer betrug in der Regel etwa 45 Minuten, nur in einem Fall erstreckte sich das Gespräch über 90 Minuten. Alle Befragten haben sämtliche Fragen beantwortet; es gab keine Abbrüche des Gesprächs. Die Interviews wurden an den Dienstorten der Befragten geführt, auf Tonband aufgezeichnet und im Anschluss transkribiert. Um eine umfassende Beteiligung und offene Antworten zu ermöglichen, wurde allen Gesprächspartnern eine Anonymisierung zugesagt. So werden im Folgenden keine Namen genannt – weder die von Richterinnen oder Richtern, noch die von Mitarbeiterinnen oder Mitarbeitern – und es wird immer die männliche Form („der Richter“ bzw. „der Wissenschaftliche Mitarbeiter“) verwendet, um zu verhindern, dass von den Aussagen Rückschlüsse auf befragte oder in den Interviews beschriebene Personen gezogen werden können. Von der Idee, neben den ehemaligen auch amtierende Mitarbeiter zu befragen, wurde nach ersten Gesprächen Abstand genommen. Die in den Ministerien, anderen Behörden, an Universitäten und Gerichten befragten ehemaligen Wissenschaftlichen Mitarbeiter hingegen haben sehr detailliert und offen von ihrer früheren Tätigkeit berichtet. Interessanter Weise waren diejenigen Befragten, die im Zeitpunkt des Interviews selbst als Richter tätig waren, erkennbar zurückhaltend. Die in Wissenschaft und Verwaltung tätigen ehemaligen Wissenschaftlichen Mitarbeiter waren gleichermaßen offen. Obgleich von einer Befragung der Richter am Bundesverfassungsgericht Abstand genommen wurde, soll dennoch punktuell auf Aussagen aus den von Uwe Kranenpohl (2010) geführten leitfadengestützten Experteninterviews zur Bearbeitung der Forschungsfrage zurückgegriffen werden, da diese insbesondere im Kontext der Agenda-, der Mitarbeiter- und der Konsenshypothese wichtige inhaltliche Aspekte beisteuern. Die von Uwe Kranenpohl durchgeführte Befragung der Richter offenbart einen Bias der Gesprächspartner. Die von ihm

4.2 Qualitative Untersuchung

101

interviewten Verfassungsrichter betonten sämtlich, dass in ihrem Dezernat keinesfalls ein Entzug des gesetzlichen Richters stattfinde bzw. stattgefunden habe – ein Aspekt, auf dem im Folgenden im Rahmen der Mitarbeiterhypothese noch detaillierter eingegangen wird. Gleichwohl äußerten viele die Befürchtung, Kollegen würden das durchaus anders handhaben: „Das hängt eben sehr vom einzelnen Richter ab. Ich glaube, ich kann für mein Dezernat sagen, dass da kein „Entzug des gesetzlichen Richters“ stattgefunden hat – aber ich kann das nicht allgemein behaupten. (Interview 6)“ (Kranenpophl 2010: 88) „Wenn so mancher Hochschullehrer von seinem Lehrstuhl kommt und innerhalb einer halben Stunde einen Stapel vorgefertigter Kurzvoten in Dreiersachen unterschreibt, da müssen Sie mir doch nicht erzählen, dass er die in dieser Zeit durchgearbeitet hat. (…) Man muss die Akte kennen! Ob das, was im Kurzvotum drinsteht, richtig ist. Nicht blind vertrauen! In vielen Beziehungen ist das leider, leider sehr unverantwortlich. Sehr unverantwortlich! (Interview Nr. 21)“ (Kranenpohl 2010: 488)

Einer der Verfassungsrichter berichtete von seiner eigenen Zeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht und den ihm gewährten großen Freiräumen: „Ich war ja als Wissenschaftlicher Mitarbeiter früher da und konnte sehr eigenständig arbeiten – musste, weil mein Verfassungsrichter über weite Strecken krank war. (Interview Nr. 12)“ (Kranenpohl 2010: 88)

Die Lektüre der Kranenpohlschen Interviews und die eigenen, mit Verfassungsrichtern geführten Gespräche legen nahe, dass es offensichtlich eine generelle Tendenz der Richter gibt, die Leistung der Mitarbeiter zu relativieren und ihren inhaltlichen Einfluss als unbedeutend darzustellen, schon um sich nicht dem Vorwurf auszusetzen, die richterlichen Aufgaben nicht ernst genug zu nehmen oder bedeutsame Teile der verfassungsrichterlichen Arbeit an Mitarbeiter zu delegieren. In Entsprechung dazu könnte es eine Tendenz der Wissenschaftlichen Mitarbeiter geben, die eigene Tätigkeit als bedeutsamer darzustellen, als sie es in der Realität vielleicht war. Es scheint geboten, sowohl die Aussagen der Richter als auch die der Mitarbeiter als das wahrzunehmen, was sie sind, nämlich als persönliche Erfahrungsberichte, Wahrnehmung und Beurteilung der Abläufe am Bundesverfassungsgericht und Schilderung der eigenen Tätigkeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter beziehungsweise – im Hinblick auf die Krahnenpohlschen Interviews – der Amtszeit als Richter. In Ermangelung anderer, objektiver Quellen, ist jedoch nichts gegen die Verwertung der Interviewergebnisse einzuwenden, solange deren Subjektivität gegenwärtig bleibt.

102

4

Gang der Untersuchung

In der US-amerikanischen Forschung rücken die Wissenschaftlichen Mitarbeiter seit einigen Jahren vermehrt in das Blickfeld der der Forschung, die sich mit den Abläufen an Gerichten befasst. Und auch hier wird dafür plädiert, sowohl die Richter als auch deren Mitarbeiter zu befragen, um einen Eindruck von den Strukturen und Abläufen am Gericht zu erhalten, der möglichst viele Facetten abbildet. „Learning about clerks will also help us learn more about the judges, the focus of the work of most law and courts researchers, but about whom, as noted above, we often speak as if they worked alone, without assistance. Moreover, to learn about law clerks, one may well need to seek the views of both clerks and judges. Depending on the questions being asked, one without the other may be incomplete. (…) Hence the data gleaned from interviews with law clerks can provide not only a window on their role in the judicial process but also information concerning the nature of the judicial process more broadly.“ (Ward/ Wasby 2010: 126f.)

4.2.1.2 Struktur und Ausgestaltung des Gesprächsleitfadens Als Instrument der Untersuchung wurden leitfadengestützte Experteninterviews gewählt. Deren Ziel und Vorteil besteht darin, dass durch die offene Gesprächsführung und „die Erweiterung von Antwortspielräumen der Bezugsrahmen des Befragten bei der Fragenbeantwortung miterfasst werden kann, um so einen Einblick in die Relevanzstrukturen und die Erfahrungshintergründe des Befragten zu erlangen. Dabei wird die Befragung auf der Basis eines Interview-Leitfadens geführt, der garantieren soll, dass alle forschungsrelevanten Themen tatsächlich auch angesprochen werden (…).“ (Schnell/ Hill/ Esser 2005: 386)

Der Gesprächsleitfaden ist in vier Teile untergliedert: In allgemeine Fragen zur Tätigkeit, Fragen zum Verfassen von Voten, zum Verfassen von Teilen einer Entscheidung und zur Agenda des Bundesverfassungsgerichts. Die Fragen des ersten Teils, wann und wie lange der befragte Wissenschaftliche Mitarbeiter in Karlsruhe tätig war, welchem Richter bzw. welchen Richtern und welchem Senat er zugeordnet war, dienten nicht der Beantwortung der Hypothesen. Vielmehr halfen diese Informationen dabei zu gewährleisten, dass ein repräsentativer Querschnitt an Mitarbeitern aus beiden Senaten, unterschiedlichen Dezernaten und aus verschiedenen Jahren bzw. Jahrzehnten befragt wurde. Mit Hilfe des zweiten Teils sollte eruiert werden, welche inhaltlichen Vorgaben die Mitarbeiter beim Abfassen von Voten von ihrem Richter erhalten und

4.2 Qualitative Untersuchung

103

auf welche Weise innerhalb eines Dezernats sichergestellt wird, dass die Vielzahl der verfassten Voten den inhaltlichen Vorstellungen des jeweiligen Richters entspricht. Erfragt wurde, ob dies durch eine inhaltliche Einführung bei der Aufnahme der Tätigkeit geschieht, durch eine Besprechung aller oder einzelner Voten und welche Freiräume den Wissenschaftlichen Mitarbeitern gewährt werden. Der dritte Fragenblock diente dazu, Genaueres über die Arbeitsteilung zwischen berichterstattenden Richtern und Mitarbeitern bei der Vorbereitung von Senatsentscheidungen zu erfahren. Hier zielten die Fragen nicht nur auf die Tätigkeit der Mitarbeiter – insbesondere wo die Unterschiede zwischen dem Verfassen von Voten und von Entwürfen einer Senatsentscheidung liegen –, sondern auch darauf herauszufinden, wie die Abstimmung unter den Richtern eines Senats vonstattengeht. Auch wurde erfragt, welche Rolle Sondervoten bei der Abstimmung von Senatsentscheidungen spielen und welche Reaktionen die Ankündigung eines Richters ein Sondervotum zu verfassen bei den Kollegen hervorruft. Obgleich in der über fünfzigjährigen Geschichte des Gerichts nur vier Mal erfolgt, wurde auch erfragt, wie mit der Möglichkeit umgegangen wird, das Plenum über Fragen entscheiden zu lassen, in denen beide Senate inhaltliche Differenzen haben. Der vierte Abschnitt des Leitfadens widmete sich schließlich dem Themenkreis des agenda setting am Bundesverfassungsgericht. Erfragt wurden Kriterien, die maßgeblich für die Entscheidung zur Annahme einer Verfassungsbeschwerde sind, der Umgang mit aktuellen oder politisch brisanten Inhalten, die Gegenstand eines am Gericht anhängigen Verfahrens sein können, und auch der Umgang mit öffentlichen Erwartungen an den Ausgang eines Verfahrens. Schließlich wurde erfragt, ob es maßgebliche Vernetzungsstrukturen der Richter untereinander oder des Gerichts mit anderen Verfassungsgerichten gäbe, um eventuell Informationen über kollegiale und weitere Einflüsse auf die Richter am Bundesverfassungsgericht zu erhalten. Um durch die Anwendung des Gesprächsleitfadens nicht den Weg zu anderen, für die Forschungsfrage relevanten Aspekten zu verbauen, wurde abschließend an alle Gesprächspartner die Frage gerichtet, ob es weitere Aspekte gäbe, die diese für den Themenkreis der Untersuchung, für die Befassung mit der Tätigkeit der Wissenschaftlichen Mitarbeiter oder für die Fragestellung, welche internen und externen Faktoren die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts beeinflussen könnten, für relevant erachtet würden.

104

4.2.2

4

Gang der Untersuchung

Freiräume im institutionellen Gefüge, deren Beschaffenheit und deren strategische Inanspruchnahme

Die Darstellung des Forschungsstands zum U.S. Supreme Court im ersten Kapitel und die in Kapitel drei vorgenommene Darstellung der für die Forschungsfrage relevanten Aspekte haben gezeigt, dass es sich bei den Studien über die Einflüsse auf den U.S. Supreme Court fast ausnahmslos um quantitative Analysen handelt. Deshalb wird dort auch der Begriff des „Faktors“ verwendet. Der Untersuchung der Hypothesen vier bis sechs liegen hingegen leitfadengestützte Experteninterviews als Empirie zugrunde, also keine quantitative, sondern eine qualitative Untersuchung. Deshalb soll bei diesen Hypothesen auch vom Begriff des Faktors abgewichen werden, und stattdessen eine Analyse von Freiund Handlungsspielräumen, deren Beschaffenheit und deren strategische Nutzung erfolgen. In Durchbrechung dieser Regel wurde aufgrund inhaltlicher Besonderheiten und Erfordernisse dieser Blickwinkel auch bei der Auseinandersetzung mit der Justizhypothese (H2) eingenommen, wenngleich es sich bei der dort verwendeten Empirie um die quantitative Untersuchung handelt. Die Untersuchung der genannten Hypothesen wird deshalb in zwei Schritten mit Hilfe zweier, aufeinander aufbauender Fragen erfolgen. Diese lauten: 1. Wo gibt es im Rahmen der Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht richterliche Freiräume im institutionellen Gefüge und wie sind diese beschaffen? 2. Inwieweit und auf welche Weise werden die bestehenden Freiräume von den Richtern am Bundesverfassungsgericht strategisch genutzt? Der Begriff des Freiraums mag zunächst befremdlich wirken, sieht die Verfassung doch Freiheiten und Räume, die frei von staatlichen Einflüssen sind, nur für natürliche Personen, juristische Personen des Privatrechts und juristische Personen des öffentlichen Rechts (soweit diese Grundrechtsträger sind) vor, also für Rundfunkanstalten, Hochschulen und Religionsgemeinschaften. Einem Verfassungsrichter hingegen werden vom Gesetzgeber Kompetenzen, Aufgaben und Befugnisse übertragen. Der Wahl des Begriffs Freiraum liegt die Überlegung zugrunde, dass es Raum für extralegale – also außerhalb des kodifizierten Rechts liegende – Einflüsse nur da geben kann, wo das Handeln der Richter und ihrer Mitarbeiter nicht bis in das kleinste Detail normiert ist. Nur dann, wenn entweder Vorgaben des Gesetzgebers vage, generalklauselartig oder nicht existent sind oder dann, wenn sich die Richter – offensichtlich oder im Stillen – über existierende

4.2 Qualitative Untersuchung

105

Vorgaben hinwegsetzen, gibt es Raum für das Wirken der beschriebenen externen oder internen Einflüsse, die – nach dem der Untersuchung zugrunde gelegten strategischen Modell – von den Richtern strategisch genutzt werden können. Mit der ersten Frage nach der Existenz und der Beschaffenheit möglicher Freiräume soll also im Rahmen einer Hypothese untersucht werden, ob es Möglichkeiten für die Richter gibt, jenseits der gesetzlichen Vorgaben ihr richterliches Handeln selbst zu steuern. Im zweiten Schritt – der Frage nach Art und Umfang der Nutzung der identifizierten Freiräume – soll dann untersucht werden, wie die Richter diese Freiräume nutzen und ob es hier Evidenz für strategisches Handeln gibt. Also stellt sich bei der Agendahypothese die Frage, ob die Richter strategisch agieren und Einfluss darauf nehmen, welche der eingehenden Klagen zur Entscheidung angenommen werden. Bei der Mitarbeiterhypothese gilt es zu untersuchen, inwieweit sich die Richter durch den strategischen Einsatz ihrer Mitarbeiter eigene Freiräume schaffen und wie die Mitarbeiter wiederum ihrerseits, von den Richtern gewährte Freiräume nutzen. Bei der Konsenshypothese wird schließlich die Frage aufgeworfen, ob und wie die Richter das vom Gesetzgeber bereitgestellte Instrumentarium zur Kanalisierung und Bewältigung divergierender Rechtsauffassungen nutzen und welche strategischen Erwägungen hier zum Tragen kommen. Im ersten Teil der Untersuchung stellt sich dann bei der Justizhypothese die Frage, inwieweit die Richter eine offensive oder defensive Vorgehensweise gegenüber den Gesetzgebern – in Form der in der jeweiligen Entscheidung gewählten Tenorierung – wählen, wenn das Bundesverfassungsgericht über die Verfassungsmäßigkeit von Normen entscheiden muss und ob es auch hier plausible Ansatzpunkte für ein strategisches Verhalten gibt. Die Aussagen, wie bestehende Freiräume von den Richtern und den Mitarbeitern genutzt werden, lassen im Ergebnis die Motivation der Richter und die von ihnen verfolgten Ziele erkennen. Die Ergebnisse der Untersuchung der Hypothesen werden Rückschlüsse darauf erlauben, welche Einflüsse und welche richterlichen Prioritäten, die wiederum auf strategischen Erwägungen beruhen, zu den jeweils beobachteten, von den Richtern (oder ihren Mitarbeitern) gewählten Vorgehens- bzw. Verhaltensweisen geführt haben. Diese stellen dann letztlich Einflussfaktoren auf den Output – nämlich auf die Rechtsprechung des Gerichts – dar.

5

Gesetzgeberhypothese

H1 – Gesetzgeberhypothese: Das Bundesverfassungsgericht entscheidet bei der Überprüfung von Bundesgesetzen zurückhaltender als bei Landesgesetzen, weil es eine ablehnende Reaktion des Bundesgesetzgebers antizipiert und eine solche eher zu vermeiden sucht als den möglichen Konflikt mit einem Landesgesetzgeber.

5.1

Das richterliche Normenkontrollrecht

Die Befugnis parlamentarische Gesetze zu verwerfen, gibt dem Bundesverfassungsgericht nicht nur sein spezielles institutionelles Gepräge, sondern unterscheidet es auch von anderen Gerichten: Normenkontrollen machen die Staatsgerichtsbarkeit zur Verfassungsgerichtsbarkeit (Aust/ Meinel 2014: 113). Zwar gibt Artikel 100 Abs. 1 GG jedem Richter das Recht zu prüfen, ob ein Gesetz, das er anwendet, verfassungsgemäß ist. Kommt er aber zu der Überzeugung, dass es verfassungswidrig ist, darf er sich nicht selbst über das Gesetz und damit über den Willen des Gesetzgebers hinwegsetzen, sondern muss das damit verbundene Verfahren aussetzen und dem Bundesverfassungsgericht die Vorlagefrage nach der Gültigkeit der Norm unterbreiten (Schlaich/ Korioth 2010: 99). Damit begründet Art. 101 Abs. 1 GG zwar ein allgemeines richterliches Prüfungsrecht (also die Befugnis zur Nichtanwendung im zu entscheidenden Rechtsfall) bezüglich aller Rechtsnormen, die mit höherrangigem Recht kollidieren (Benda/ Klein 2001: 326). Allein dem Bundesverfassungsgericht kommt aber das so genannte Verwerfungsmonopol zu, also die Befugnis, über die Verfassungsmäßigkeit und damit über die generelle Gültigkeit einer Norm verbindlich zu entscheiden. In ihrer Wirkung weisen die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2024 M. Schlögel, Strategen in Roben, https://doi.org/10.1007/978-3-658-43868-5_5

107

108

5

Gesetzgeberhypothese

„(...) eine ähnliche Struktur wie ein politisches Programm auf: nicht selten sind Änderungen der sozialen Realität beabsichtigt; es wird mit Direktiven gearbeitet und zu überzeugen versucht. Schließlich besitzen Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen Programmqualität, weil das Gericht im Wege der Interpretation die abstrakte Verfassung autoritativ konkretisiert und damit programmatische Vorgaben für andere Verfassungsorgane sowie für Verwaltungen, Gerichte und organisierte Interessen schafft.“ (Gawron/ Rogowski 2007: 129)

Im Rahmen der Gesetzgeberhypothese soll analysiert werden, ob das Bundesverfassungsgericht in einem Verfahren, bei dem die Verfassungsmäßigkeit einer Norm des Bundesgesetzgebers zu überprüfen ist, eine größere Zurückhaltung bei der Beurteilung walten lässt als bei landesgesetzlichen Vorschriften. Die Gesetzgeberhypothese bezieht sich auf die Interaktion zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem Bundes- bzw. einem Landesgesetzgeber. Deshalb fließen in die Untersuchung ausschließlich Verfahren ein, in denen über die Verfassungsmäßigkeit von Normen entschieden wird, da sich nur dann beide Akteure in einem Verfahren gegenüberstehen. Das Bundesverfassungsgericht entscheidet über die Vereinbarkeit eines Gesetzes mit dem Grundgesetz im Rahmen von abstrakten oder konkreten Normenkontrollverfahren und bei Verfassungsbeschwerden, die sich unmittelbar gegen ein Gesetz wenden. Darüber hinaus kann das Bundesverfassungsgericht bei Verfassungsbeschwerden gegen einen Akt der Exekutive und bei Urteilsverfassungsbeschwerden im Rahmen einer mittelbaren Prüfung über die Verfassungsmäßigkeit von Normen entscheiden1 . Gerichtliche Entscheidungen – auch die des Bundesverfassungsgerichts – können unterschiedlich interpretiert werden, was ihren Inhalt, ihre Begründung und die aus dem Richterspruch zu ziehenden Konsequenzen anbelangt. An einer Stelle der Entscheidung sollte jedoch kein Raum für Interpretationen sein, nämlich im Tenor, dessen Formulierung klar und unmissverständlich sein und den Streitgegenstand erschöpfend behandeln muss (Sennekamp 2005: 689). Argumente wie die Gewährleistung von Rechtssicherheit und Rechtsklarheit sprechen dafür, die wesentlichen in einer Entscheidung enthaltenen Feststellungen in den Tenor aufzunehmen (Benda/ Klein 2001: 285). Wie alle gerichtlichen Entscheidungen erwachsen auch die des Bundesverfassungsgerichts in formeller und materieller Rechtskraft. Mit formeller Rechtskraft ist die Unanfechtbarkeit einer Entscheidung gemeint. Die materielle Rechtskraft schützt den Inhalt einer Entscheidung. Nach allgemeinen prozessrechtlichen Grundsätzen sind formelle und materielle Rechtskraft auf die jeweiligen Verfahrensbeteiligten und den Streitgegenstand begrenzt (Aust/ Meinel 2014: 25 f.). 1

Vgl. Schlaich/ Korioth 2010: 245.

5.1 Das richterliche Normenkontrollrecht

109

Das Verfassungsprozessrecht kennt hiervon insbesondere bei Normenkontrollen Abweichungen, da eine Norm sowohl in subjektiver (persönlicher) als auch in objektiver (zeitlicher) Hinsicht einen Sonderfall darstellt (Aust/ Meinel 2014: 26). In § 31 BVerfGG ist unter der nicht-amtlichen Überschrift „Verbindlichkeit der Entscheidung“ die besondere Rechtswirkung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts gesetzlich geregelt. Die Vorschrift lautet: § 31 (1) Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts binden die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden. (2) In den Fällen des § 13 Nr. 6, 6a, 11, 12 und 14 hat die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Gesetzeskraft. Das gilt auch in den Fällen des § 13 Nr. 8a, wenn das Bundesverfassungsgericht ein Gesetz als mit dem Grundgesetz vereinbar oder unvereinbar oder für nichtig erklärt. Soweit ein Gesetz als mit dem Grundgesetz oder sonstigem Bundesrecht vereinbar oder unvereinbar oder für nichtig erklärt wird, ist die Entscheidungsformel durch das Bundesministerium der Justiz im Bundesgesetzblatt zu veröffentlichen. Entsprechendes gilt für die Entscheidungsformel in den Fällen des § 13 Nr. 12 und 14.

Absatz 1 normiert also eine Erweiterung der subjektiven Rechtskraftwirkung dergestalt, dass die Bindungswirkung der verfassungsgerichtlichen Entscheidung für alle Hoheitsträger gilt, und zwar unabhängig von der Verfahrensart, in der die Entscheidung ergeht. Diese Rechtskrafterstreckung wird durch § 31 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG gesteigert, demzufolge Entscheidungen in den dort aufgeführten Normenkontrollverfahren Gesetzeskraft haben. Die Gesetzeskraft nach § 31 Abs. 2 Sätze 1 und 2 BVerfGG – Satz zwei bezieht sich auf die normverwerfenden Entscheidungen im Rahmen von Verfassungsbeschwerden – ist also auf bestimmte Verfahrensarten und bestimmte Entscheidungsaussprüche begrenzt (Lenz/ Hansel 2013, § 31 Rn. 1). In der Rechtswissenschaft wird § 31 BVerfGG teilweise als zentrale Norm des BVerfGG bezeichnet, da diese der Sicherung des Vorrangs der Verfassung und der Effektivität der Verfassungsgerichtsbarkeit diene (Lenz/ Hansel 2013, § 31, Rn. 2). Rein technisch betrachtet ist die Gesetzeskraft lediglich das Mittel, die Nichtigkeit einer gesetzlichen Regelung gegenüber jedermann wirksam festzustellen und deren Geltung allgemeinverbindlich – erga omnes – zu beseitigen (Aust/ Meinel 2014:26). Faktisch ermöglicht die Gesetzeskraft den Karlsruher Verfassungsrichtern, vom Bundes- oder einem Landesgesetzgeber erlassene Gesetze mit allgemeinverbindlicher Wirkung zu verwerfen. In diesem Zusammenhang besteht das nach wie vor umstrittene und von Erstem und Zweitem Senat des Gerichts unterschiedlich bewertete Sonderproblem

110

5

Gesetzgeberhypothese

des so genannten Normwiederholungsverbots. Dieses wirft die Frage auf, ob die Gesetzkraft einer normverwerfenden verfassungsgerichtlichen Entscheidung auch den Gesetzgeber selbst einschließt und bindet (Heusch, § 31 Rn. 52). Mit der Frage des Normwiederholungsverbots wird das Verhältnis von Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht in seinem Kern berührt. Der Zweite Senat hat in einer frühen Entscheidungen die Auffassung vertreten, dass ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in dem ein Bundesgesetz für nichtig erklärt wird, alle Verfassungsorgane des Bundes dergestalt binden würde, dass ein Bundesgesetz desselben Inhalts nicht nochmals erlassen werden könnte2 . Dem ist der Erste Senat in einer Entscheidung aus dem Jahr 1987 entgegengetreten3 . Zur Begründung führte er aus, dass nach Art. 20 Abs. 3 GG der Gesetzgeber – anders als Justiz und Verwaltung – an die Verfassung, nicht aber an die einfache Rechtsordnung gebunden sei, zu der auch die in Gesetzeskraft erwachsenen Teile von Normenkontrollentscheidungen gehören würden. Lediglich im Grundsatz der Verfassungsorgantreue und dem gegenüber dem Bundesverfassungsgericht „verfassungsrechtlich geschuldeten Respekt“4 wird von den Vertretern dieser Auffassung eine Begrenzung der gesetzgeberischen Freiheit gesehen. Kritiker dieser Rechtsprechung geben zu bedenken, dass der Erste Senat hier nicht bedacht hätte, dass auch die einfache Rechtsordnung eine verfassungsrechtliche Fundierung aufweise, über die sich der Gesetzgeber gerade nicht hinwegsetzen könne; zudem habe der Zweite Senat in Bezug auf den Länderfinanzausgleich angenommen, dass sich der Gesetzgeber durch ein „vorgängiges, abstraktes Gesetz“5 durchaus selbst binden könne (Heusch, § 31 Rn. 64). Ungleich überzeugender ist aber das Argument des Ersten Senats, dass es gerade die Aufgabe und auch die besondere Verantwortung des demokratisch legitimierten Gesetzgebers sei, die bestehende Rechtsordnung an wechselnde soziale Anforderungen und Ordnungsvorstellungen anzupassen6 . Auch wird in diesem Zusammenhang oft darauf verwiesen, dass die strenge Interpretation der Bindungswirkung des § 31 Abs. 1 BVerfGG zu einer mit der rechts- und sozialstaatlichen Demokratie unvereinbaren Erstarrung der Rechtsentwicklung führen würde (Schlaich/ Korioth 2010: 294) und dies nicht zuletzt, weil das Bundesverfassungsgericht seine Rechtsprechung nicht aus eigener Initiative korrigieren könne (Gaier 2011: 963). Unbestritten ist jedoch, dass 2

Vgl. BVerfGE 1, 14 (15). Vgl. BVerfGE 77, 84 (103 ff.). 4 Korioth 1991: 565 ff. und Ziekow 1994: 481. 5 BVerfGE 101, 158 (214 ff.). 6 Vgl. BVerfGE 77, 84 (104). 3

5.1 Das richterliche Normenkontrollrecht

111

„ein bedenkenloses Übergehen verfassungsgerichtlicher Präjudizien (…) eine Brüskierung des BVerfG [bedeuten] und (…) seine Autorität in Frage stellen [würde] – auch und gerade im Hinblick auf den konkreten Entscheidungsausspruch über die geprüfte Norm, mithin dort, wo es an der Autorität des Gerichts nichts zu rütteln gibt.“ (Korioth 1991: 565)

Das Bundesverfassungsgericht hat – ähnlich wie der U.S. Supreme Court in seiner Entscheidung Marbury vs. Madison, wenn auch nicht mit vergleichbarer Tragweite – darüber hinaus seinen Entscheidungen Wirkungen beigemessen, die vom Gesetzgeber nicht vorgesehen sind. So sind nach Auffassung der Verfassungsrichter – neben der in § 31 BVerfGG festgelegten Bindung der Verfassungsorgane und der Möglichkeit des Erwachsens in Gesetzeskraft – auch die „tragenden Gründe“ der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts verbindlich, die so genannte ratio decidendi. Erst damit werden die Entscheidungen des Gerichts – wieder in Anlehnung an das case law in den Vereinigten Staaten von Amerika – selbst zu Rechtsquellen und echten Präjudizien (Aust/ Meinel 2014: 27). Auf diese Weise sollte auch der herausragenden Stellung des Gerichts als Verfassungsinterpret Ausdruck verliehen werden (Aust/ Meinel 2014: 27). In der Realität stößt die Abgrenzung zwischen nicht-tragenden und tragenden Gründen aber auf erhebliche Schwierigkeiten. Eine weitere wissenschaftliche Kontroverse – die vielleicht auf den ersten Blick als eine rein akademische anmuten mag, aber eine weitere grundsätzliche Frage zum Verhältnis von Gericht und Gesetzgeber aufwirft – ist die, ob es sich bei der richterlichen Nichtigerklärung um eine „gestaltende“ Entscheidung handelt oder ob ihr ein rein deklaratorischer Charakter zukommt. In der rechtsdogmatischen Theorie stellt sich diese Frage einfach dar. Nach traditioneller deutscher Auffassung ist ein verfassungswidriges Gesetz nichtig, also von Anfang an (ex tunc) und ohne weiteren gestaltenden Akt (ipso iure) rechtsunwirksam: „Nach deutscher Auffassung hebt das BVerfG verfassungswidrige Gesetze nicht auf, es vernichtet sie nicht: Es stellt die Nichtigkeit nur (deklaratorisch) fest“ (Schlaich/ Korioth 2010: 244). Doch diese Auffassung ist so weder in der Verfassung noch im einfachen Recht kodifiziert. Auch die Praxis stellt sich anders dar. Hier haben normverwerfende Entscheidungen selbstverständlich „gestaltenden Charakter“, zum einen weil sich – wenn nur ein Teil oder ein Teilaspekt einer Norm verfassungswidrig ist – nach dem institutionellen Vorrang des demokratischen Gesetzgebers die Frage stellt, wie eine „minimalinvasive“ Lösung gestaltet werden kann, und zum anderen, weil normverwerfende Entscheidungen – anders als Entscheidungen über Einzelakte – eine Wirkung entfalten, die sich nicht nur

112

5

Gesetzgeberhypothese

auf die auf der verworfenen Vorschrift beruhenden Einzelakte, sondern auch auf alle künftigen Fälle bezieht (Aust/ Meinel 2014: 114). Für die Überprüfung der Gesetzgeberhypothese kommen nun zwei Ebenen in Betracht: Zum einen ist dies die Ebene der Stattgabe und damit die Ebene der Kassation von Normen. Hier kann untersucht werden, wie groß der Anteil der Normen des Landesgesetzgebers ist, die dem Verdikt der Verfassungswidrigkeit unterworfen werden in Relation zur Gesamtheit der in Karlsruhe verfassungsgerichtlich geprüften landesgesetzlichen Normen. Und entsprechend kann untersucht werden, wie hoch der Anteil der kassierten Normen des Bundesgesetzgebers im Vergleich zur Gesamtheit der geprüften bundesgesetzlichen Regelungen ist (vgl. im Folgenden IV.1.). Zum anderen hat das Bundesverfassungsgericht im Laufe der Zeit im Wege richterlicher Rechtsfortbildung im Rahmen der Normprüfungsentscheidungen ein eigenes Instrumentarium differenzierter Entscheidungsaussprüche entwickelt. Das BVerfGG regelt zwar für jede Verfahrensart gesondert die Voraussetzungen der Zulässigkeit eines Antrags. Die im BVerfGG vorgegeben Entscheidungsaussprüche hingegen bestimmen sich nach dem jeweiligen Entscheidungsziel und nicht nach der Verfahrensart. Deshalb sind die Entscheidungsaussprüche in allen Verfahren der Normprüfung gleich, unabhängig davon, ob es dazu im Wege der abstrakten oder konkreten Normenkontrolle oder im Wege der Verfassungsbeschwerde gekommen war (Schlaich/ Korioth 2010: 241). Die von den Verfassungsrichtern entwickelten Tenorierungsarten ermöglichen graduelle Abstufungen jenseits der bloßen Feststellung der Verfassungswidrigkeit und der Verfassungskonformität. Nach Gawron und Rogowski ist der Tenor zudem unter Implementationsgesichtspunkten von zentraler Bedeutung, weil in ihm – nach Auffassung der Autoren – Programminstrumente enthalten seien, mit denen das Bundesverfassungsgericht den Prozess der Umsetzung seiner Entscheidungen zu steuern versuche (Gawron/ Rogowski 2007: 134). Die Intensität des verfassungsgerichtlichen Eingriffs in die Sphäre der Landes- oder des Bundesgesetzgebers soll deshalb ebenfalls empirisch untersucht werden. Wegen dieser teilweise gesetzlich vorgegebenen und teilweise in richterlicher Rechtsfortbildung entstandenen Tenorierungsvarianten wird hier ein zweistufiger Untersuchungsaufbau gewählt. Es wird erst die Frage erörtert, ob im untersuchten Ausschnitt – der Prüfung der Verfassungskonformität beanstandeter Normen durch das Bundesverfassungsgericht – richterliche Freiräume bestehen, und – wenn ja – wie diese beschaffen sind. In einem zweiten Schritt wird analysiert auf welche Weise und in welchem Umfang eventuelle Freiräume genutzt werden.

5.2 Existenz und Beschaffenheit richterlicher Freiräume

5.2

113

Existenz und Beschaffenheit richterlicher Freiräume

Kommen die Richter im Rahmen einer Normprüfung zu der Entscheidung, dass die geprüfte Norm nicht mit der Verfassung zu vereinbaren ist, sieht das BVerfGG deren Nichtigerklärung vor. Diesen Entscheidungsausspruch normiert § 78 Satz 1 BVerfGG7 für die abstrakte Normenkontrolle, § 82 BVerfGG8 für die konkrete Normenkontrolle und § 95 Abs. 3 Satz 1 und 2 BVerfGG9 für die Verfassungsbeschwerde. Die Richter am Bundesverfassungsgericht sahen im Rahmen ihrer Tätigkeit jedoch von der „strikten Anwendung“ (Benda/ Klein 2001: 515) dieser

7

§ 78 BVerfGG Kommt das Bundesverfassungsgericht zu der Überzeugung, daß Bundesrecht mit dem Grundgesetz oder Landesrecht mit dem Grundgesetz oder dem sonstigen Bundesrecht unvereinbar ist, so erklärt es das Gesetz für nichtig. Sind weitere Bestimmungen des gleichen Gesetzes aus denselben Gründen mit dem Grundgesetz oder sonstigem Bundesrecht unvereinbar, so kann sie das Bundesverfassungsgericht gleichfalls für nichtig erklären. 8 § 82 BVerfGG (1) Die Vorschriften der §§ 77 bis 79 BVerfGG gelten entsprechend. (2) Die in § 77 BVerfGG genannten Verfassungsorgane können in jeder Lage des Verfahrens beitreten. (3) Das Bundesverfassungsgericht gibt auch den Beteiligten des Verfahrens vor dem Gericht, das den Antrag gestellt hat, Gelegenheit zur Äußerung; es lädt sie zur mündlichen Verhandlung und erteilt den anwesenden Prozeßbevollmächtigten das Wort. (4) Das Bundesverfassungsgericht kann oberste Gerichtshöfe des Bundes oder oberste Landesgerichte um die Mitteilung ersuchen, wie und auf Grund welcher Erwägungen sie das Grundgesetz in der streitigen Frage bisher ausgelegt haben, ob und wie sie die in ihrer Gültigkeit streitige Rechtsvorschrift in ihrer Rechtsprechung angewandt haben und welche damit zusammenhängenden Rechtsfragen zur Entscheidung anstehen. Es kann sie ferner ersuchen, ihre Erwägungen zu einer für die Entscheidung erheblichen Rechtsfrage darzulegen. Das Bundesverfassungsgericht gibt den Äußerungsberechtigten Kenntnis von der Stellungnahme. 9 § 95 BVerfGG (1) Wird der Verfassungsbeschwerde stattgegeben, so ist in der Entscheidung festzustellen, welche Vorschrift des Grundgesetzes und durch welche Handlung oder Unterlassung sie verletzt wurde. Das Bundesverfassungsgericht kann zugleich aussprechen, daß auch jede Wiederholung der beanstandeten Maßnahme das Grundgesetz verletzt. (2) Wird der Verfassungsbeschwerde gegen eine Entscheidung stattgegeben, so hebt das Bundesverfassungsgericht die Entscheidung auf, in den Fällen des § 90 Abs. 2 Satz 1 verweist es die Sache an ein zuständiges Gericht zurück. (3) Wird der Verfassungsbeschwerde gegen ein Gesetz stattgegeben, so ist das Gesetz für nichtig zu erklären. Das gleiche gilt, wenn der Verfassungsbeschwerde gemäß Absatz 2 stattgegeben wird, weil die aufgehobene Entscheidung auf einem verfassungswidrigen Gesetz beruht. Die Vorschrift des § 79 gilt entsprechend.

114

5

Gesetzgeberhypothese

gesetzgeberischen Vorgaben ab und begannen früh10 dazu überzugehen, statt der Nichtigkeit unter bestimmten, im Laufe der Jahre allmählich ausgeweiteten Voraussetzungen, lediglich die Unvereinbarkeit der geprüften Norm mit der Verfassung festzustellen. Dies hat zur Folge, dass die betreffende Norm – trotz des festgestellten Verfassungsverstoßes – vorübergehend, meist bis zu einem vom jeweiligen Senat festgelegten Zeitpunkt weitergilt (Lenz/ Hansel, 2013, § 78 Rn. 13). Der Verzicht auf die Nichtigerklärung erlaubte dem Bundesverfassungsgericht eine Vermehrung der Steuerungsinstrumente, die wiederum für den jeweils zu entscheidenden Fall eine flexible Folgenanordnung ermöglichen (Gawron/ Rogowski 2007: 136). Die Unvereinbarkeitserklärung hat das Bundesverfassungsgericht seinerzeit contra legem selbst kreiert. Diese nur mit der Verfahrensautonomie des Gerichts begründbare Entscheidungsvariante wurde vom Gesetzgeber mit dem 4. Änderungsgesetz zum BVerfGG vom 21. Dezember 1970 (BGBl. I S. 1765) in das Gesetz aufgenommen und damit nachträglich gebilligt. Die hierfür vorgenommenen Änderungen finden sich im oben wiedergegebenen § 31 II Satz 2 und 3 BVerfGG und im nachfolgend zitierten § 79 I BVerfGG, benennen aber nicht die Voraussetzungen, unter denen statt der Nichtigkeit die Möglichkeit der Unvereinbarkeit als Entscheidungsausspruch gewählt wird: § 79 BVerfGG (1) Gegen ein rechtskräftiges Strafurteil, das auf einer mit dem Grundgesetz für unvereinbar oder nach § 78 für nichtig erklärten Norm oder auf der Auslegung einer Norm beruht, die vom Bundesverfassungsgericht für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt worden ist, ist die Wiederaufnahme des Verfahrens nach den Vorschriften der Strafprozeßordnung zulässig.

Der Gesetzgeber hat darauf verzichtet Vorgaben zu machen, unter welchen Voraussetzungen das Bundesverfassungsgericht einen „Verfassungsverstoß mit der Nichtigkeitsfolge oder lediglich mit der Unvereinbarkeitsfolge sanktionieren muss“ (Bethge 2009: 21). Die Wirkung der Unvereinbarkeitserklärung besteht in der Unanwendbarkeit der unvereinbaren Norm. Das bedeutet, dass das fehlerhafte Gesetz eigentlich bis zu einer Neuregelung von staatlichen Stellen – also von Gerichten und Verwaltungsbehörden – in dem sich aus dem Tenor ergebenden Umfang nicht mehr angewendet werden darf (Bethge 2009: 21). Die Unvereinbarkeitserklärung findet im Wesentlichen bei zwei Fallgruppen Anwendung: Zum einen, wenn dem Gesetzgeber verschiedene Möglichkeiten 10

Erstmals in BVerfGE 13, 248 (249), auch in BVerfGE 8, 28 (36 ff.); 22, 349 (361).

5.2 Existenz und Beschaffenheit richterlicher Freiräume

115

bleiben sollen den Verfassungsverstoß zu beseitigen. Zum anderen, wenn im Interesse des Gemeinwohls ein schonender Übergang von der verfassungswidrigen zur verfassungsmäßigen Rechtslage geboten ist (Gaier 2011: 964). Konkret ordnet das Bundesverfassungsgericht in diesen Fällen zumeist die unveränderte oder die modifizierte Weitergeltung des an sich verfassungswidrigen Gesetzes an, verbunden mit einer Verpflichtung des Gesetzgebers zur Herstellung einer der Verfassung entsprechenden Gesetzeslage, wobei das Gericht häufig im Tenor – bisweilen auch in den Gründen – präzisiert, bis wann die „gesetzliche Reparatur“ durchgeführt sein muss (Benda/ Klein 2001: 527). Die Befürworter der Unvereinbarkeitserklärung argumentieren, dass diese zielführend sei, wenn die rigide Nichtigkeitserklärung mit ihrer ex-tunc-Wirkung einen Zustand schüfe, der der verfassungsmäßigen Ordnung noch ferner stünde als der bisherige, was mitunter auch als „Chaos-Argument“ bezeichnet wird (Bethge 2009: 21). Nach Ansicht ihrer Kritiker schützt die Unvereinbarkeitserklärung die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit in einem geringeren Umfang, als es die „gewöhnliche Umschreibung ihres Anwendungsbereichs durch das BVerfG, die Existenz verschiedener Möglichkeiten, den Verfassungsverstoß zu beseitigen, vermuten lässt“ (Graßhof, § 78, Rn. 60). Es wird argumentiert, dass der Gesetzgeber auch nach einer Nichtigerklärung immer die Möglichkeit hätte, für die Zukunft die Rechtslage seinen Vorstellungen entsprechend zu gestalten (Graßhof, § 78, Rn. 60). Hier stellt sich die Frage, ob das Argument nicht modifiziert werden sollte zu der Aussage: Gerade nach einer Nichtigerklärung hat der Gesetzgeber die Möglichkeit, die Rechtslage seinen Vorstellungen entsprechend zu gestalten. Für die vorliegend aufgeworfene Frage nach der Existenz und der Beschaffenheit möglicher Freiräume der Richter bei der Tenorierung ihrer Entscheidungen ist zu überlegen, wie die gesetzgeberische Reaktion gedeutet werden kann. Die nachträgliche, durch die Kodifizierung der Unvereinbarkeitserklärung seitens des Gesetzgebers vollzogene Billigung, kann als Absage an die anderen bis dahin entstandenen und von den Richtern in ihren Entscheidungen der Normprüfung verwendeten Tenorierungsvarianten verstanden werden. Denn hätte der Gesetzgeber gewollt, dass neben der Möglichkeit der Nichtig- und der Unvereinbarkeitserklärung weitere Entscheidungsaussprüche verwendet werden, hätte er diese im Rahmen des vierten oder eines späteren Änderungsgesetzes in das BVerfGG aufnehmen können. Auch hat der Gesetzgeber bewusst auf eine Öffnung oder eine generalklauselartige Formulierung im Gesetz verzichtet. Damit sind die beiden genannten Entscheidungsaussprüche die einzigen gesetzlich geregelten Formen der Tenorierung des Bundesverfassungsgerichts in den Fällen, in denen ein Gesetz geprüft und für nicht im Einklang mit der Verfassung stehend

116

5

Gesetzgeberhypothese

erachtet wurde. Ein darüberhinausgehender, seitens des Gesetzgebers geschaffener Freiraum ist hier nicht ersichtlich. Offensichtlich haben sich die Richter am Bundesverfassungsgericht aber dennoch die Freiheit genommen, ihre Entscheidungsaussprüche bei Normbeanstandungen über die gesetzgeberischen Vorgaben hinaus zu variieren.

5.3

Art und Umfang der Nutzung der von den Richtern am Bundesverfassungsgericht selbst geschaffenen Freiräume

„Wenn das Bundesverfassungsgericht zu seinem 60-jährigen Bestehen schon als das „entgrenzte Gericht“ charakterisiert wurde, so gilt dies auch für seine Tenorierungspraxis. Geltung und Anwendung des Verfassungsrechts drohen mit der institutionellen Stellung und der praktischen Entscheidungsmacht des Gerichts in eins zu fallen, und diese Entgrenzung wird nicht zuletzt durch die Entscheidungsvarianten dokumentiert, die das Gericht entwickelt hat.“ (Aust/ Meinel 2014: 117)

Diese Tenorierungen, die im Wege richterlicher Rechtsfortbildung im Laufe der verfassungsgerichtlichen Spruchtätigkeit als Alternativen zur Nichtig- und zur Unvereinbarkeitseklärung entstanden sind, sollen im Folgenden vorgestellt und insbesondere unter dem Aspekt betrachtet und bewertet werden, was der jeweilige Tenor für den von der Entscheidung betroffenen Gesetzgeber und dessen Gestaltungs- und Entscheidungsfreiheit bedeutet. In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gibt es nicht eine einheitliche Form der Nichtigerklärung. Vielmehr kann ihr Umfang zwischen dem Ausspruch der Gesamt- und der Teilnichtigkeit variieren. Die Terminologie hier ist uneinheitlich. Teilnichtigkeit bedeutet, dass die Nichtigkeit einer oder mehrerer Bestimmungen eines Gesetzes nicht dazu führt, dass das ganze Gesetz nichtig ist. Es wird zwischen qualitativer und quantitativer Teilnichtigkeit unterschieden, bisweilen werden auch die Begriffe Teilnichtigkeit mit oder ohne Normtextreduzierung verwendet, manchmal wird von einer „Nichtigkeit ohne Berührung des Wortlauts“ gesprochen. Gemeint ist immer das Gleiche: Im einen Fall „bleibt die sprachliche Gestalt des Gesetzes unverändert“ – qualitative Teilnichtigkeit –, im anderen Fall wird „die Verfassungswidrigkeit durch eine Kürzung des Normtextes“ behoben – quantitative Teilnichtigkeit –, wobei ein Teil aus einem Regelungskonzept „herausgeschnitten“ wird und so eine vom Gesetzgeber nicht gewollte Leerstelle entsteht (Aust/ Meinel 2014: 115).

5.3 Art und Umfang der Nutzung der von den Richtern …

117

In der konkreten Umsetzung nennen die Richter im Tenor den vom Unwerturteil betroffenen Paragraphen, Absatz, Satz oder Satzteil oder sie geben – verbunden mit einem „soweit-Satz“ – den nichtigen Teil der gesetzlichen Bestimmung wieder. So hat beispielsweise der Zweite Senat am 19. November 2014 im Rahmen einer Richtervorlage die Variante der Teilnichtigerklärung ohne Normtextreduzierung gewählt und Folgendes beschlossen: „§ 23a Absatz 1 Satz 1 und Absatz 3 Satz 1 des Schulgesetzes für den Freistaat Sachsen in der Fassung der Bekanntmachung vom 16. Juli 2004 (GVBl S. 298), zuletzt geändert durch Artikel 2 des Gesetzes zur Regelung des Verwaltungsverfahrensund Verwaltungszustellungsrechts für den Freistaat Sachsen und zur Änderung anderer Gesetze vom 19. Mai 2010 (GVBl S. 142), ist mit Artikel 28 Absatz 2 Satz 1 Grundgesetz unvereinbar und nichtig, soweit er die Schulnetzplanung für Grund- und Mittelschulen betrifft.“ (2 BvL 2/13)

Die Kritiker der Teilnichtigkeit bemängeln, dass durch das „erschreckende Ausmaß“ in dem die „Soweit-Formeln“ in den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zunähmen, „allmählich in Bezug auf die Klarheit des geltenden Rechts eine Katastrophe“ entstünde (Schlaich/ Korioth 2010: 247). Auch wird ins Feld geführt, dass das Bundesverfassungsgericht mit der Aufteilung einer bestehenden Norm in einen verfassungsmäßigen und einen nichtigen Teil, die „vom Gesetzgeber geschaffene Vorschrift teilweise durch eine andere ersetzt, was an die Grenzen der Rechtsprechungstätigkeit führt“ (Schlaich/ Korioth 2010: 248). Dass nicht jede Normbeanstandung eine Normverwerfung nach sich ziehen muss (Bethge 2009: 20), zeigt das ebenfalls im Wege richterlicher Rechtsfortbildung entstandene Institut der verfassungskonformen Auslegung. Diese vom Bundesverfassungsgericht in Anlehnung an den U.S. Supreme Court entwickelte Tenorierungsvariante, mit der der Gesetzgeber von der rückwirkenden Nichtigkeit einer Norm verschont werden soll, findet sich erstmalig im zweiten Band11 der amtlichen Entscheidungssammlung. Die zugrundeliegende Idee lautet, dass, wenn eine gesetzliche Vorschrift mehrere Auslegungsvarianten zulässt, von denen einige der Verfassung widersprechen und andere nicht, der Rechtsanwender nur von den mit der Verfassung zu vereinbarenden Auslegungsvarianten ausgehen darf (Benda/ Klein 2001: 532). Da die verfassungskonforme Auslegung die förmliche Nichtigerklärung eines Gesetzes gerade umgeht und den Gerichten eine Entscheidung eines Sachverhalts ermöglicht ohne nach Art. 100 Abs. 1 GG das Verfahren auszusetzen und das betreffende Gesetz dem Bundesverfassungsgericht zur Prüfung vorzulegen, 11

BVerfGE 2, 266 (282).

118

5

Gesetzgeberhypothese

obliegt sie jedem Richter (Schlaich/ Korioth 2010: 271). Das bedeutet, dass jede Vorlage eines Fachgerichts an das Bundesverfassungsgericht unzulässig ist, solange es möglich ist, dass betreffende Gesetz in eine Richtung zu interpretieren, die mit der Verfassung vereinbar ist (Dollinger, § 80 Rn. 55). Ob diese Verpflichtung zu zufrieden stellenden rechtlichen Lösungen führt, darf angezweifelt werden. Dem Gesetzgeber und den Rechtsanwendern wäre wohl eher gedient, wenn eine problematische Vorschrift vom Bundesverfassungsgericht verworfen und so dem Gesetzgeber die Möglichkeit zu einer Neunormierung gegeben würde (Simon 1994: 1669). Die Kommentarliteratur definiert die Grenzen verfassungskonformer Auslegung in enger Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wie folgt: „Eine verfassungskonforme Auslegung findet dort ihre Grenzen, wo sie dem Wortlaut und dem klar erkennbaren Willen des Gesetzes widerspricht. Im Wege der Auslegung darf einem nach Wortlaut und Sinn eindeutigen Gesetz nicht ein entgegengesetzter Sinn verliehen, der normative Gehalt der auszulegenden Norm nicht grundlegend neu bestimmt oder das gesetzgeberische Ziel nicht in einem wesentlichen Punkt verfehlt werden (BVerfGE 18, 97 (111); 54, 277 (299 f.); 71, 81 (105)).“ (Dollinger § 80 Rn. 55)

Wie die durch das Bundesverfassungsgericht praktizierte verfassungskonforme Auslegung zu qualifizieren ist, wird im rechtswissenschaftlichen Schrifttum unterschiedlich bewertet. Nach einer Ansicht handelt es sich um eine „Mischform zwischen Vereinbarkeits- und Unvereinbarkeitsfeststellung, da die überprüfte Rechtsnorm als solche verfassungsgemäß, eine von mehreren nach den anerkannten Methoden der Rechtsfindung möglichen Auslegungen aber verfassungswidrig ist“ (Aust/ Meinel 2014: 117). Bisweilen wird auch vertreten, die verfassungskonforme Auslegung entspräche einer Teilnichtigkeitserklärung (Sachs 1979: 346) oder einer qualitativen Teilkassation ohne Normtextänderung (Bethge 2009: 21). Die Kritiker der verfassungskonformen Auslegung führen ins Feld, dass die Einheit der Rechtsordnung zwar die verfassungskonträre Interpretation verbietet, nicht jedoch die verfassungkonforme – statt einer (Teil-)Kassation – gebietet (Vosskuhle 2000: 183). Die von den Befürwortern propagierte Schonung des Gesetzgebers kann sich zudem rasch und immer dann ins Gegenteil verkehren, „wenn das verfassungsrechtlich Zulässige vom Gericht zum wirklich Gewollten erklärt, mithin Recht gesetzt wird, statt Gewolltes als verfassungswidrig aufzuheben“. (Vosskuhle 2000: 183 f.)

5.3 Art und Umfang der Nutzung der von den Richtern …

119

Im Kontext der dieser Hypothese zugrunde liegen Überlegungen scheint es geboten, sich die Natur der verfassungskonformen Auslegung nochmals vor Augen zu führen: Aus juristischer Perspektive wäre es möglich – unter Verweis auf die Auffassung, dass mit der verfassungskonformen Auslegung die geprüfte Norm gerade nicht verworfen wird – zu argumentieren, bei dieser Tenorierung handle es sich um ein Variante, bei der der Beanstandung nicht stattgegeben wird. Vor dem Hintergrund des hier eingenommenen sozialwissenschaftlichen Blickwinkels und der in der Hypothese formulierten Vermutung, ist aber nicht ausschließlich von Bedeutung, ob der Klage stattgegeben wird, sondern auch, ob das Bundesverfassungsgericht mit seiner Entscheidung in den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers eingreift und – wenn ja – wie intensiv dieser Eingriff ist. So betrachtet stellt die verfassungskonforme Auslegung einen Eingriff dar und die Vereinbarkeitserklärung bleibt der einzige Entscheidungsausspruch, mit dem das Bundesverfassungsgericht nicht in die gesetzgeberische Gestaltung eingreift. In den Fällen der so genannten Appellentscheidung stellt das Gericht im Entscheidungszeitraum gerade keinen Verstoß gegen die Verfassung fest, doch hält es eine „Entwicklung der Norm in die Verfassungswidrigkeit hinein aber für sicher“ und appelliert deshalb an den Gesetzgeber, das drohende Umschlagen des bestehenden Zustands in die Verfassungswidrigkeit durch Ergreifen legislativer Maßnahmen abzuwenden (Benda/ Klein 2001: 529). Die Gemeinsamkeit aller Appellentscheidungen liegt darin, dass sie den Gesetzgeber zum Tätigwerden verpflichten (Schlaich/ Korioth 2010: 267), bisweilen kann sich der Auftrag an den Gesetzgeber durch eine Fristsetzung intensivieren. Was an dieser Form der verfassungsgerichtlichen Entscheidung zu kritisieren ist, ist evident: Weder das Bundesverfassungsgericht noch der Gesetzgeber sind in der Lage in die Zukunft zu sehen. Der verfassungsgerichtliche Appell an den Gesetzgeber steht auf ungesichertem Grund, weshalb Teile der rechtswissenschaftlichen Literatur die Auffassung vertreten, dass dieser Appell bestenfalls als obiter dictum ohne Verbindlichkeit betrachtet werden kann (Benda/ Klein 2001: 529). Es wird vielmehr verlangt, dass das Bundesverfassungsgericht, wenn es von der Verfassungswidrigkeit überzeugt ist, diese auch aussprechen muss; im Gegenzug ist, wenn eine Norm noch verfassungsmäßig ist, das Umschlagen in die Verfassungswidrigkeit nicht im Voraus durch das Gericht festzulegen (Benda/ Klein 2001: 530). Bisweilen wird der verfassungsgerichtliche Appell so gedeutet, dass das Gericht in seiner Entscheidung dem Gesetzgeber Beobachtungsund Nachbesserungspflichten auferlegt, die sich aus den grundrechtlichen Schutzpflichten ergeben, die aber nicht an der Bindungswirkung und erst recht nicht an der Gesetzeskraft teilhaben (Aust/ Meinel 2014: 117).

120

5

Gesetzgeberhypothese

Diskutiert wurde, ob der Appell dadurch verbindlich werden könnte, dass ihn die Richter in den Tenor aufnehmen. Dem wurde entgegengehalten, dass den Entscheidungen des Gerichts nach § 31 Abs. 1 BVerfGG zwar Bindungswirkung zukäme, diese aber nur für zulässige Entscheidungen gelte, zu denen das Gericht befugt sei, da § 31 BVerfGG gerade kein Vehikel zur Begründung von Kompetenzen darstellen würde (Benda/ Klein 2001: 530). Bisweilen wird vermutet, dass das Bundesverfassungsgericht im Zeitpunkt der Prüfung von der „Verfassungswidrigkeit der geprüften Norm überzeugt ist, aber die Rechtsfolgen der Nichtigkeits- oder Verfassungswidrigkeitserklärung scheut“, weshalb der Appell an den Gesetzgeber eine „Vermeidungsstrategie“ darstelle (Benda/ Klein 2001: 530). Für wohlwollendere Betrachter manifestiert sich in den Appellen die Tatsache, dass das Bundesverfassungsgericht die politischen Folgen seiner Entscheidungen mitberücksichtigt, aber mit dem Problem konfrontiert wird, dass der „Topos der „politischen Folgen“ einer Verfassungswidrigkeit verfassungsdogmatisch noch nicht (hinreichend) erfasst ist“ (Schlaich/ Korioth 2010: 270). Im Rahmen einer so genannten Weitergeltungsanordnung kann das Bundesverfassungsgericht im Tenor die Unvereinbarkeitserklärung eines Gesetzes mit der Anordnung der vorübergehenden Weitergeltung, d. h. einer weiteren Anwendung des bisherigen Rechts verbinden. Auf diese Weise soll ein schonender Übergang von der verfassungswidrigen zu einer vom Gesetzgeber zu besorgenden verfassungsmäßigen Rechtslage ermöglicht werden, um dadurch einen „rechtlosen“ Zustand zu überwinden (Bethge 2009: 21). Ob die Weitergeltungsanordnung ein Unterfall der Unvereinbarkeitserklärung ist oder eine eigene Form der Tenorierung, ist in der Literatur umstritten (Graßhof, § 78, Rn. 66). Als Rechtsgrundlage wird die generalklauselhafte Vollstreckungregelung des § 35 BVerfGG herangezogen (Aust/Meinel 2014: 116). Bisweilen sieht das Bundesverfassungsgericht auch im Rahmen einer Unvereinbarkeitserklärung gänzlich von der Anordnung der Weitergeltung des verfassungswidrigen Gesetzes ab, sondern setzt dem Gesetzgeber eine Frist zur verfassungsmäßigen Neuregelung und hält bis zu diesem Zeitpunkt eine Übergangsregelung für entbehrlich12 (Gaier 2011: 965). Eine ausdrückliche verfassungsrechtliche oder gesetzliche Regelung für diese Fristsetzung des Verfassungsgerichts an den Gesetzgeber gibt es nicht. In mehreren Entscheidungen hat es das Bundesverfassungsgericht allerdings offensichtlich für notwendig gehalten, dezidierte Vorgaben hinsichtlich der Weitergeltung der beanstandeten Norm für die Zeit bis zur gesetzgeberischen 12

Vgl. etwa BVerfGE 121, 175 (Transsexuelle).

5.3 Art und Umfang der Nutzung der von den Richtern …

121

Neuregelung zu machen. Als Legitimation für diese Form der Tenorierung wird der auf Art. 94 Abs. 2 GG gestützte § 35 BVerfGG herangezogen. So wurde etwa in BVerfGE 109, 64 (95 f.), dem Beschluss zum Mutterschutzgesetz entschieden: „Der Gesetzgeber hat bis zum 31. Dezember 2005 eine verfassungskonforme Regelung zu treffen. Bis zu einer Neuregelung bleibt es beim bisherigen Recht.“ Ähnlich verfuhr das Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung zur Erbschaftssteuer (BVerfGE 121, 108 (131)): „Die Unvereinbarkeit von § 13 I Nr. 18 ErbStG mit dem Grundgesetz führt nicht zu seiner Nichtigerklärung. Die weitere Anwendbarkeit der Norm bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber wird angeordnet“. Der ehemalige Richter am Bundesverfassungsgericht Udo Steiner hat hierfür den Begriff des Folgenmanagements geprägt (2001: 2922) und äußerte sich wie folgt: „Dabei ist eine Feinsteuerung – man könnte auch sagen: Handsteuerung der Beanstandungsfolgen – vor allem bei budgetwirksamen Entscheidungen geboten. Hier blickt das Gericht aus Gründen der Stabilität der öffentlichen Finanzen selten verfassungsrechtlich im Zorn zurück. Es verlangt verfassungsgemäßes Recht nur für die Zukunft“. (Steiner 2001: 2922).

In einigen Fällen sehen sich die Richter des Bundesverfassungsgerichts außer Stande selbst in modifizierter Form eine verfassungswidrige Regelung als Übergangsregelung zu akzeptieren und erlassen auf Grundlage von § 35 BVerfGG eine eigene Übergangs- oder Auffangregelung13 (Gaier 2011: 965). In der rechtswissenschaftlichen Literatur finden sich für dieses Vorgehen auch Bezeichnungen wie Ersatzgesetzgebung, Interims-Recht, normvertretendes Übergangsrecht, Notrechtssetzung oder „Reservegesetzgebung“ (Bethge 2009: 23). Diese Begriffe machen deutlich, dass ein solches verfassungsrichterliches Vorgehen nicht unproblematisch ist. Auch Verfassungsrichter erkennen die Brisanz solcher Entscheidungsformeln:

13

So etwa in BVerfGE 39, 1 (Schwangerschaftsabbruch); BVerfGE 48, 127 (Kriegsdienstverweigerung); BVerfGE 84, 9 (gemeinsamer Ehename), BVerfGE 88, 208 (Schwangerschaftsabbruch); etc.

122

5

Gesetzgeberhypothese

„Erklärt das Bundesverfassungsgericht gesetzliche Vorschriften für nichtig oder – was im Vergleich zur Nichtigkeitsfeststellung fast schon die Regel geworden ist – mit dem Grundgesetz unvereinbar und ab der Bekanntmachung seiner Entscheidung für nicht mehr anwendbar, so muss es regelmäßig Sorge dafür tragen, was in der Zeit bis zur verfassungsgemäßen Neuregelung geltendes Recht ist. Die darauf sich beziehende Anordnung kann man natürlich unter kompetenzrechtlichen Gesichtspunkten kritisch diskutieren. Sie sind aber der Preis, der gezahlt werden muss, wenn man der Verfassungsgerichtsbarkeit die Befugnis zur Verwerfung von Gesetzen zugesteht. Solches Übergangsrecht zu formulieren ist für das Gericht nicht ohne Fehlerrisiko; sein Ehrgeiz mit dem Gesetzgeber zu konkurrieren ist daher keineswegs ausgeprägt. Notkompetenz nennt es Lerche, und er mag ahnen, dass wir mit diesem Übergangsrecht gelegentlich unsere Not haben.“ (Steiner 2001: 2922 f.)

In der Praxis ergehen solche Übergangsregelungen in zwei Konstellationen: Zum einen dann, wenn die Richter der Auffassung sind, dass während der Zeit zwischen der verfassungsgerichtlichen Entscheidung und der gesetzgeberischen Neuregelung ein „unabwendbares Bedürfnis nach einer einheitlichen, abstrakt-generellen Regelung besteht“, und die Nachteile, die durch eine vorübergehende Anwendbarkeit der verfassungswidrigen Norm entstünden, nicht akzeptabel sind14 (Graßhof, § 78, Rn. 73). Zum anderen trifft das Bundesverfassungsgericht Übergangsregelungen, wenn es „verfassungswidrige Normen für unvereinbar oder weiter anwendbar erklärt, dem Gesetzgeber eine Frist für seine Neuregelung setzt und zugleich eine Regelung für den Fall trifft, dass der Gesetzgeber nicht rechtzeitig tätig wird“ (Graßhof, § 78, Rn. 74); in dieser Konstellation trifft das Gericht Vorsorge für den Fall, dass der Gesetzgeber nicht willens ist, rechtzeitig zu handeln. Die beiden Konstellationen unterscheiden sich wesentlich: Während das Vorgehen des Gerichts im ersten Fall wohlwollend als „zeitliche Kooperation“ zwischen Gericht und Gesetzgeber gedeutet werden könnte, handelte es sich bei der zweiten Variante unzweifelhaft um eine Konfrontation, indem das Bundesverfassungsgericht „durch eine Art Selbsteintritt in die gesetzgeberische Zuständigkeit für eine Durchsetzung der verfassungsrechtlichen Regelungspflicht“ sorgt (Graßhof, § 78, Rn. 75). In der Wissenschaft sind die verfassungsgerichtlichen Übergangsregelungen äußerst umstritten. Bereits im Jahre 1957 betonte das Bundesverfassungsgericht seine besondere Stellung als eines der obersten Verfassungsorgane und reklamierte für sich das Recht alle Anordnungen zu treffen, die erforderlich sind, um seinen Entscheidungen Geltung zu verschaffen. Zu diesem Zwecke erweiterte es den Begriff der Vollstreckung dahin, dass hierunter alle Maßnahmen 14

Zur Begründung wird darauf verwiesen, dass das Gericht handeln würde, weil der Gesetzgeber nicht rechtzeitig handeln könne, vgl. Graßhof § 78, Rn. 73.

5.3 Art und Umfang der Nutzung der von den Richtern …

123

fielen, die „erforderlich sind, um solche Tatsachen zu schaffen, wie sie zur Verwirklichung des vom BVerfG gefundenen Rechts notwendig sind“ (BVerfGE 6, 300). Schon diese Entscheidung wird als „Magna Charta spezifisch verfassungsgerichtlicher Durchsetzungsoptionen“ kritisiert, weil sich das Gericht bei der Verwirklichung seiner Entscheidungen von der Abhängigkeit zu anderen Staatsgewalten lösen und für sich umfassende Autonomie in Anspruch nehmen würde, auf dass keine andere staatliche Gewalt die Durchsetzung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen hindern, hemmen oder auch nur beeinflussen solle (Gaier 2011: 961). Aber es ist wichtig festzuhalten, dass eine Entscheidung, die mit der Setzung von Interimsrecht verbunden wird, natürlich nicht die Kompetenz des zuständigen Gesetzgebers beseitigt, durch eine eigene normative Regelung jederzeit die verfassungsgerichtlich verfügte Ersatzvornahme abzulösen (Bethge 2009: 23). Am stärksten entbrannte die Kontroverse um die Karlsruher Übergangsgesetzgebung an der zweiten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs vom 25. Mai 1993 und der darin getroffenen Vollstreckungsregelung. So zieht Hans-Peter Schneider bei der Beurteilung der verfassungsgerichtlichen Interpretation des § 35 BVerfGG und den daraus nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts abzuleitenden Kompetenzen den Vergleich zum Notverordnungsrecht des Reichspräsidenten nach Art. 48 Abs. 2 der Weimarer Reichsverfassung: „Das BVerfG als Exekutivorgan – aufgrund der Generalermächtigung des § 35 ausgestattet mit unumschränkter Macht: ein Stück absolute Monarchie inmitten einer demokratisch rechtsstaatlichen Republik oder gar im Ansatz die „Diktaturgewalt“ nicht mehr des Reichspräsidenten, sondern der Verfassungsrichter?“ (Schneider 1994: 2592).

Von der wissenschaftlichen Literatur wird das Vorgehen der Richter – die Schaffung verschiedener, nicht kodifizierter Tenorierungen in Verfahren der Normbeanstandung – aus rechtlichen und sachlichen Erwägungen immer wieder stark kritisiert. Das verwundert kaum, da gerade in der verfassungsgerichtlichen Entscheidungsbefugnis der kompetentielle Aspekt deutlich wird (Benda/ Klein 2001: 513). Die Frage, ob das Bundesverfassungsgericht mit seiner Tenorierungspraxis die Grenzen zur Eigenverantwortung der anderen Staatsorgane in ihren Funktionsbereichen überschreitet oder diese in ausreichendem Maße respektiert, ist ein zentraler Aspekt der großen Kontroverse um die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit.

124

5

Gesetzgeberhypothese

Die Befürworter des verfassungsgerichtlichen Vorgehens führen ins Feld, dass gerade das „vielgestaltige Instrumentarium“ mit der Möglichkeit der „differenzierten Reaktion auf Grundrechtsverstöße“ und die Einschränkung der Bindungswirkung zeige, dass das Bundesverfassungsgericht die eigenverantwortliche Gestaltungsbefugnis des Gesetzgebers respektiere (Simon 1994: 1669). Schlaich und Korioth fassen die Argumentation der Befürworter so zusammen, dass „(...) man ein Verfassungsgericht, wenn man es schon zur Normenkontrolle ermächtigt, nicht wird daran hindern können, seine Aufgaben in auch politisch sachgerechter Weise zu bewältigen, also z. B. auf Nichtigerklärungen vorläufig zu verzichten (…). Das Verfassungsgericht soll (…) Mittelwege gehen können, um die Konsequenz der Verfassungswidrigkeit durch zusätzliche Anordnungen abzumildern.“ (Schlaich/ Korioth 2010: 277).

Dieser Argumentation tritt Christoph Gusy kritisch entgegen. Zwar hält er es für „sinnvoll und richtig“, die Vollstreckungsregelung des § 35 BVerfGG so zu verstehen, dass Vollstreckung alle Maßnahmen umfasst, die erforderlich sind, um solche Tatsachen zu schaffen, wie sie zur Verwirklichung des vom Bundesverfassungsgericht gefundenen Recht erforderlich sind15 . Aber er weist auf die damit entstehende Paradoxie hin: „Dem Gericht wird so das Recht zugestanden, einerseits durch seine Entscheidungen den Staat an den Rand der Existenz zu treiben, um ihn andererseits über die Vollstreckungsregelungen aus der bedrohlichen Situation zu befreien. Sie [die vom Bundesverfassungsgericht vorgenommene, weite Auslegung des Vollstreckungsbegriffs, Anm. M.S.] übersieht, dass jede verfassungsgerichtliche Entscheidung als politische folgenbewusst und folgenbestimmt ist. (…) So waren es denn auch keine Grenzsituationen staatlicher Existenz, in denen das Gericht eigene Übergangsregelungen erließ.“ (Gusy 1985:201)

Generell wird an der extensiven Spruchpraxis des Gerichts kritisiert, dass selbst wenn obiter dicta oder in der Entscheidung angeführte alternative Lösungsmodelle nicht binden, diese doch im politischen Prozess zumindest mittelbar eine gestaltende Wirkung entfalten würden, zumal derartige Empfehlungen „vorweg als verfassungsrechtlich unbedenklich abgesegnet werden“. (Simon 1994: 1669). Brohm befürchtet sogar, dies könnte zu einer „Richteroligarchie“ in der Demokratie (Brohm 2001:1) führen.

15

Vgl. Gusy 1985: 200 mit weiteren Nachweisen.

5.3 Art und Umfang der Nutzung der von den Richtern …

125

Schlaich und Korioth (2010: 277) schließen sich inhaltlich den Argumenten der Kritiker an, die monieren, dass dem Bundesverfassungsgericht wegen seines Gerichtscharakters die von ihm ausgesprochenen Rechtsfolgenanordnungen gesetzlich vorgegeben sein müssten, zumal das Bundesverfassungsgericht in der Rechtsfindung ohnehin schon freier sei als alle anderen Gerichte. Deshalb dürfe es sich selbst nicht noch freier stellen in Findung und Wahl seiner Rechtsfolgenanordnungen; aufgrund der Vielzahl nicht-kodifizierter Rechtsfolgenanordnungen seien die Reaktionsweisen des Gerichts kaum mehr vorhersehbar und unübersichtlich geworden; auch das vom Bundesverfassungsgericht ins Feld geführte Motiv der Schonung des Gesetzgebers vermöge bisweilen nicht mehr zu überzeugen: „Die Absicht des Bundesverfassungsgerichts ist es, sich mit der Nichtigerklärung zurückzuhalten zugunsten weicherer Formen der Bereinigung verfassungswidriger Lagen, auch soll der Gesetzgeber selbst zur Bereinigung verfassungswidriger Lagen herangezogen werden. Aber setzt das Bundesverfassungsgericht damit nicht gerade die Hemmschwelle herab, die der an sich geforderte „Scharfe Schnitt“ der Kassation eines verfassungswidrigen Gesetzes darstellt, und erleichtert es sich damit nicht den (wenn auch im Einzelfall jeweils leichteren) Eingriff in das Feld des Gesetzgebers?“ (Schlaich/ Korioth 2010: 278 f.).

Als Zwischenergebnis lässt sich festhalten, dass der Gesetzgeber hinsichtlich der Entscheidungsaussprüche des Bundesverfassungsgerichts zum Ausspruch der Nichtigkeit nachträglich die Unvereinbarkeitserklärung im BVerfGG normiert hat. Auf alle weiteren, im Laufe der Spruchtätigkeit des Bundesverfassungsgerichts entwickelten Tenorierungsvarianten ist der Gesetzgeber hingegen nicht mehr eingegangen: Weder, um sie nachträglich durch eine Kodifizierung zu legitimieren, noch um klarzustellen, dass die im Gesetz genannten Varianten eine abschließende Regelung darstellen, an die das Gericht gebunden ist. Somit haben sich die Richter hier mit ihrer ausdifferenzierten Entwicklung von Entscheidungsaussprüchen selbst Freiräume geschaffen, obgleich ihnen der Gesetzgeber jenseits der Unvereinbarkeitserklärung keine – auch nicht nachträglich – zugestanden hat. Diese Freiräume gehen so weit, dass sich die Richter mit ihren Entscheidungsaussprüchen die Möglichkeit eröffnet haben, in bestimmten Konstellationen – zumindest temporär – ihre Vorgaben an die Stelle der verworfenen gesetzgeberischen Inhalte zu setzen.

126

5

5.4

Empirische Untersuchung

5.4.1

Ebene der Stattgabe

Gesetzgeberhypothese

Im ersten Schritt wurde auf der Ebene der Stattgabe bei Verfahren der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze, der abstrakten und der konkreten Normenkontrolle untersucht, ob sich die Verfassungsrichter in größerer Zurückhaltung üben, wenn ein Bundesgesetz betroffen ist, als in den Fällen, in denen ein Landesgesetz auf seine Verfassungskonformität überprüft wird. Bereits die deskriptive Auswertung macht deutlich, dass hier keine einheitliche Aussage getroffen werden kann, da sich die Anteile stattgebender Entscheidungen maßgeblich unterscheiden, abhängig davon, ob eine öffentliche Verhandlung stattgefunden hat oder nicht (Tabelle 5.1). Tabelle 5.1 Deskriptive Auswertung von „stattgegeben vs. nicht stattgegeben“

Beschluss Urteil

Anzahl

Anteil „stattgegeben“

Bundesgesetz

651

0,441

Landesgesetz

231

0,446

Bundesgesetz

253

0,577

Landesgesetz

74

0,730

Quelle: Auswertung von Michael Grottke

Wird ohne mündliche Verhandlung am Bundesverfassungsgericht in Form eines Beschlusses entschieden, so wird in 44,1 % aller Fälle der Klage stattgegeben, wenn ein Bundesgesetz überprüft wird. Steht die Verfassungskonformität eines Landesgesetzes in Frage, so wird in 44,6 % aller Verfahren der Klage stattgegeben. Deutlich anders gestalten sich die Anteile stattgegebener Klagen, wenn das Bundesverfassungsgericht mündlich verhandelt hat. Hier sind deutliche Unterschiede zwischen der Verwerfungshäufigkeit von Landes- und Bundesgesetzen zu erkennen. Und in beiden Kategorien liegt der Anteil der stattgebenden Entscheidungen – und damit der verworfenen Gesetze – deutlich über dem Anteil der durch Beschluss ergangenen stattgebenden Entscheidungen. In den im Rahmen dieser Arbeiten geführten Gesprächen mit Verfassungs- und Verwaltungsjuristen wurde die Vermutung geäußert, dass sich ein Unterschied im Anteil der für nicht verfassungsgemäß erklärten Bundes- und Landesgesetze womöglich dadurch erklären ließe, dass die Qualität der Gesetzgebungsarbeit der

5.4 Empirische Untersuchung

127

in den Bundesministerien beschäftigten Juristen höher sei als die jener Juristen, die in den Landesministerien tätig sind. Das gelte insbesondere für das Bundesministerium der Justiz und die Landesjustizministerien. Nach § 46 Abs. 1 der gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesregierung ist das Bundesministerium der Justiz (BMJ) an jedem Gesetzentwurf im Rahmen der Prüfung der Rechtsförmlichkeit zu beteiligen, bevor dieser in das Kabinett eingebracht wird. So wird bei Gesetzentwürfen zusätzlich zur fachlichen Kontrolle des jeweils zuständigen Ressorts eine weitere rechtliche Kontrolle sichergestellt. Ebenso wird auf Landesebene verfahren, wo die Rechtsförmlichkeit von den Landesjustizministerien geprüft wird. Um diese Vermutung empirisch zu überprüfen, wurde eine Anfrage an das Bundesministerium der Justiz gerichtet, wie viele der dort beschäftigten Referentinnen und Referenten – also der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im höheren Dienst – Beschäftigte des Bundes seien, und viele im Wege einer temporären Abordnung aus den Ländern am BMJ beschäftigt seien. Die Antwort des Ministeriums lautete, dass am gewählten Stichtag – dem 15. Juli 2014– 189 Referentinnen und Referenten am BMJ beschäftigt gewesen seien. Davon seien 119 im Wege der Abordnung aus den Bundesländern für ein bis drei Jahre an das Ministerium entsendet worden. Auch in den für die Überprüfung der Rechtsförmlichkeit zuständigen Bereichen des BMJ sind aus den Ländern abgeordnete Juristen beschäftigt. Das Argument, dass sich die unterschiedliche Wahrscheinlichkeit der Kassation von bundes- und landesgesetzlichen Normen dadurch erklären lässt, dass in den Bundesministerien die „besseren Juristen“ arbeiten soll deshalb nicht weiterverfolgt werden. Dass die Zurückhaltung der Karlsruher Verfassungsrichter bei der verfassungsrechtlichen Überprüfung von Bundesgesetzen aus der Befürchtung resultiere, der Bundesgesetzgeber könnte versuchen, durch eine Veränderung des organisatorischen Rahmens des Bundesverfassungsgerichts die beiden Senate „gefügig“ zu machen, so wie es Roosevelt in den 1930er Jahren mit seinem „court packing plan“ den Richterinnen und Richtern am U.S. Supreme Court angedroht hatte, liegt ebenfalls fern. Als das Bundesverfassungsgericht 1951 seine Spruchtätigkeit aufnahm, ging man davon aus, dass die Aufteilung in zwei Spruchkörper ein „Notbehelf [sei], um die für die Anfangszeit erwartete besonders umfangreiche Arbeit bewältigen zu können. Sobald es die Umstände zuließen, sollte das Gericht nur noch aus einem einzigen Spruchkörper bestehen“ (Benda/ Klein 2001: 42).

Die in den Siebzigerjahren angestellten Erwägungen, nach der zunächst erfolgten Reduzierung der Richterzahl von 24 auf 16, das Bundesverfassungsgericht auf drei Senate zu erweitern, um die Verfahrensdauer zu verkürzen (Benda/ Klein

128

5

Gesetzgeberhypothese

2001: 42), wurde bislang nicht umgesetzt und in den vergangenen Jahrzehnten auch nicht mehr aufgegriffen. Wie bereits dargelegt, ist eine Wiederwahl der Richter ausgeschlossen, was deren Unabhängigkeit stärkt. Der empirische Befund könnte jedoch eventuell dadurch relativiert werden, dass die Länder in der Föderalismusforschung – in Anlehnung an die US-amerikanische Forschung zum Föderalismus in den USA – als Experimentierfelder betrachtet werden: „Die Bundesstaaten, die mit breiten legislativen Kompetenzen und auch entsprechenden fiskalischen Mitteln ausgestattet sind, produzieren, quasi als „Laboratorien“, Politikinnovationen oder Experimente und Pilotprojekte, die in regional begrenztem Rahmen erprobt werden und bei Erfolg horizontal und vertikal diffundieren können.“ (Blancke 2004: 12).

Übertragen auf die Bundesrepublik führt das zur folgenden Einschätzung der Gesetzgebung in den Ländern von Freitag und Vatter: „In verschiedenen Bereichen sind die Länder nach wie vor das Experimentierfeld, Frühwarnsystem und „Versuchslabor“ des Bundes. Bewährt sich eine Neuerung in einem Bundesland, so sind andere Länder häufig ebenfalls bereit, diese zu übernehmen. Scheitert die Reform, so beschränken sich die negativen Effekte auf einen regional begrenzten Raum. Verschiedentlich wurden politische Innovationen zunächst auf subnationaler Ebene erprobt, bevor sie auf Bundesebene eingeführt wurden.“ (Freitag/ Vatter 2008: 16)

Auch wenn diese Vorstellung von der „versuchsweisen Landesgesetzgebung“ zutreffen mag, so scheint es nicht plausibel, damit alle zahlenmäßig über die Verwerfung von Bundesgesetzen hinausgehenden Kassationen von landesgesetzgeberischen Regelungen erklären zu wollen. Insbesondere ist die Aufteilung der Gesetzgebungskompetenz zwischen Bund und Ländern durch den Verfassungsgeber dergestalt aufgeteilt, dass sich inhaltliche Schnittmengen, die sich für die These vom Experimentierfeld eignen, lediglich im Bereich des Staatsorganisationsrechts und den damit verwandten Bereichen finden. Auch tragen diese Ansätze nicht dem deutlichen Unterschied zwischen den Ergebnissen der Entscheidung mit oder ohne mündliche Verhandlung Rechnung. In Kapitel 3 wurde die Frage aufgeworfen, ob mündliches Verhandeln grundsätzlich die Wahrscheinlichkeit der Stattgabe erhöht, weil dann den Verfahrensbeteiligten die Möglichkeit eingeräumt wird, in der Verhandlung in direkten Kontakt mit den Richtern zu treten und die Argumente vorzutragen, die die eigene Position untermauern. Das wäre denkbar, lässt sich aber mangels Einblick in den

5.4 Empirische Untersuchung

129

Prozess der Entscheidungsfindung in den Senaten des Bundesverfassungsgerichts nicht überprüfen. Nach § 25 I BVerfGG entscheidet das Bundesverfassungsgericht, soweit nichts Anderes bestimmt ist, aufgrund mündlicher Verhandlung, es sei denn, alle Beteiligten verzichten darauf. Das bedeutet, dass keine mündliche Verhandlung stattfindet, wenn das Gesetz es vorsieht – zum Beispiel bei stattgebenden Kammerentscheidungen oder bei Nichtannahmebeschlüssen – oder wenn das Gericht den Antragsteller fragt und den Verzicht anregt. Die Kommentarliteratur führt hierzu aus: „In den echten, gesetzlich vorgesehenen Ermessensfällen sowie bei einem Verzicht aller Beteiligten sollte den Ausschlag für oder gegen die Durchführung einer mündlichen Verhandlung geben, ob von einer mündlichen Darlegung und Erläuterung der schriftlich vorliegenden Äußerungen ein echter Erkenntnisgewinn zu erhoffen ist.“ (Lenz/ Hansel, 2013, § 25 Rn. 7)

Da in weniger als einem Prozent aller Verfahren eine mündliche Verhandlung stattfindet, ist das mediale Interesse an Verhandlungen zumeist ausgeprägt. In Analogie zu den Thesen von Vanberg (2005) – der allerdings nicht zwischen Bundes- und Landesgesetzen differenziert – könnte nun vermutet werden, dass die mediale und gegebenenfalls die allgemeine öffentliche Aufmerksamkeit das Bundesverfassungsgericht „stärkt“ und für die Richterinnen und Richtern eine zusätzliche Legitimitätsreserve darstellt, die diese bewusst und strategisch einsetzen. Auch dieses strategische Argument wird durch die rechtswissenschaftliche Literatur gestützt: „Der Meinungsaustausch zwischen den Verfassungsrichtern und den Verfahrensbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung läuft häufig auf einen Wettstreit juristischer Argumentationskunst hinaus. Den Beteiligten und Äußerungsberechtigten sollte aber bewusst sein, dass die Richter die grundlegenden rechtlichen Probleme bereits in ihrer Vorbereitung diskutiert haben und die Meinungsbildung meist schon feste Formen angenommen hat. Reale Einflussmöglichkeiten auf die Entscheidungsfindung liegen eher in der Erläuterung tatsächlicher, gesellschaftlicher, politischer oder naturwissenschaftlicher Gegebenheiten, die den Richtern nicht aus eigener Anschauung bekannt sind.“ (Lenz/ Hansel, 2013, § 25 Rn. 11)

Das Bundesverfassungsgericht greift also nicht zwingen bei juristisch besonders kontroversen oder komplexen Fällen zum Instrument der mündlichen Verhandlung. Das obige Zitat macht einmal mehr deutlich, dass die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts von extralegalen Faktoren beeinflusst werden können. Es könnte vermutet werden, dass das Bundesverfassungsgericht in einzelnen

130

5

Gesetzgeberhypothese

Zweifelsfällen die öffentliche Verhandlung sucht, um genau diesen Faktoren Raum zu geben. Hinsichtlich der Folgebereitschaft könnte die durch eine öffentliche Verhandlung erzeugte Aufmerksamkeit den Druck auf die Verfahrensparteien, dem Richterspruch Folge zu leisten – aufgrund des hohen Ansehens, das das Bundesverfassungsgericht genießt – verstärken und könnte die fiktiven „Kosten“ einer Umgehung massiv erhöhen. Auf diese Weise würde sich der Handlungsspielraum der Richter am Bundesverfassungsgericht vergrößern. Andererseits wird die Nichtbefolgung einer verfassungsgerichtlichen Entscheidung dann besonders unangenehm für das Bundesverfassungsgericht, wenn der Entscheidung große öffentliche Aufmerksamkeit zuteilwurde. Die festgestellten Unterschiede in der Häufigkeit der Normverwerfung zwischen Urteil und Beschluss legen nahe, dass die Richter hier strategisch agieren. Immer dann, wenn durch eine mündliche Verhandlung ein hohes Maß an öffentlicher Aufmerksamkeit erzeugt wird, steigt die Wahrscheinlichkeit der Normverwerfung; bei Landesgesetzen sogar auf einen Anteil von 73 % der verhandelten Klagen. Ein konkretes Beispiel für die These, dass richterlichen Zurückhaltung strategisch aus der Befürchtung resultieren kann, dass verfassungsgerichtliche Entscheidungen nicht befolgt werden könnten, ist der zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem Bundesgesetzgeber ausgetragene Konflikt um Vorschriften der Bundesbesoldungs- und Bundesversorgungsanpassungsgesetze16 . Das Bundesverfassungsgericht hatte den Gesetzgeber zwei Mal dazu aufgefordert, die Unterhaltszuschüsse für Beamte mit zwei oder mehr Kindern zu erhöhen, ohne dass der Gesetzgeber auf diese Aufforderung hin tätig geworden wäre. In der dritten Entscheidung hatte der Zweite Senat – interessanter Weise in Form eines Beschlusses – schließlich eine letzte Frist gesetzt und für den Fall der Nichtbefolgung selbst einen der Höhe nach definierten Zahlungsanspruch zuerkannt. Der ehemalige Richter am Bundesverfassungsgericht Reinhard Gaier beschrieb das Vorgehen des Gerichts so: „Vollstreckungsrechtlich handelt es sich hierbei um die Androhung einer Ersatzvornahme, das Gericht hätte sich hier im wahrsten Wortsinn als Ersatzgesetzgeber betätigt. Soweit kam es allerdings nicht, da als Reaktion auf diese neuerliche Entscheidung rechtzeitig ein Gesetz über die erhöhten Unterhaltszuschüsse und deren Nachzahlung ergangen ist.“ (Gaier 2011: 965)

16

Die letzte in diesen Verfahren getroffene Entscheidung findet sich in BVerfGE 99, 300.

5.4 Empirische Untersuchung

131

Auch Gaier formuliert in einem wissenschaftlichen Beitrag, dass die Richter durchaus die Sorge hegen, dass ihre Entscheidungen umgangen werden könnten: „Die Befürchtung, ohne Normwiederholungsverbot sei es dem Gesetzgeber möglich, jede verfassungsgerichtliche Entscheidung nach Belieben zu überspielen, liegt auf der Hand.“ (Gaier 2011: 963)

Dass diese Bedenken so explizit von einem Richter formuliert werden, ist ungewöhnlich. Die Realität zeigt aber, dass es durchaus immer wieder Versuche des Gesetzgebers gab, „missliebige“ Judikate zu ignorieren oder deren Vollzug zumindest so lange als möglich hinauszuzögern. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass – auf der hier gewählten Betrachtungsebene der Stattgabe – die Klagegegenstandshypothese nicht widerlegt worden ist, aber um den Aspekt „Stattfinden einer mündlichen Verhandlung“ ergänzt werden muss.

5.4.2

Ebene der mit der Verwerfung verbundenen Eingriffsintensität

In einem zweiten Untersuchungsschritt wurde bei normverwerfenden Entscheidungen die gewählte Eingriffstiefe, also der Grad der mit dem gewählten Tenor verbundenen Einschränkung der Autonomie des Gesetzgebers analysiert. Dem liegt die Überlegung zugrunde, dass sich eine eventuelle richterliche Zurückhaltung nicht nur auf der Ebene der Stattgabe zeigen wird, sondern – eine Ebene tiefer – in der Wahl der Tenorierungsformel für eine Entscheidung. Um abstufen zu können, welchen Grad an Zurückhaltung oder NichtZurückhaltung die Richter wählen, wenn sie eine Norm für nicht mit der Verfassung vereinbar erklären, wurden sämtliche Tenorierungen normverwerfender Entscheidungen aus dem Untersuchungszeitraum erfasst. In einem nächsten Schritt wurden die betreffenden Tenorierungen geclustert. Das bedeutet, dass inhaltsgleiche Tenorierungen mit geringfügig unterschiedlichen Formulierungen – beispielsweise „unvereinbar, soweit“ und „unvereinbar, insoweit“ – zusammengefasst wurden. In einem dritten Schritt wurden die Entscheidungsformeln entsprechend des Grads der Einschränkung der gesetzgeberischen Freiheit geordnet. Eine aufsteigende Anordnung, beginnend mit der geringsten Eingriffsintensität, soll den Grad der Autonomie des Gerichts bzw. den Grad der Einschränkung der gesetzgeberischen Freiheit abbilden (Tabelle 5.2).

132

5

Gesetzgeberhypothese

Wie oben bereits ausgeführt, wird hier der Auffassung gefolgt, dass auch die verfassungskonforme Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht eine Begrenzung des gesetzgeberischen Spielraums bringt, da das Gericht damit Art und Umfang der Anwendung einer Norm verbindlich festlegt. Deshalb wurde für die verfassungskonforme Auslegung trotz des Tenors „vereinbar (soweit/ mit der Maßgabe etc.)“ die Eingriffstiefe „1“ hinterlegt. Als nächste Eingriffsstufe „2“ werden die die Unvereinbarkeitserklärungen aufgeführt. Als stärkerer Eingriff wird mit „3“ die Vereinbarkeitserklärung eingeordnet, wenn mit ihr die Aufforderung an den Gesetzgeber verbunden war, tätig zu werden. Die nächste Stufe „4“ sind limitierte Unvereinbarkeitserklärungen mit der Formulierung „unvereinbar, soweit“, gefolgt von der reinen Unvereinbarkeitserklärung auf Stufe „5“. Auf Stufe „6“ stehen Unvereinbarkeitserklärungen, die mit einer zeitlichen Begrenzung der Anwendbarkeit der geprüften Norm verbunden wurden. Auf Stufe „7“ eingeordnet wurden Unvereinbarkeitserklärungen mit zeitlicher Begrenzung der Anwendbarkeit, in denen der Gesetzgeber explizit zur Schaffung einer Neuregelung aufgefordert wurde. Auf Stufe „8“ findet sich die reine Nichtigerklärung sowie die Normierungen „unvereinbar und nichtig, soweit/ insoweit/ mit Ausnahme“. Die Stufe „9“ umfasst die Erklärung für unvereinbar und nichtig, die zudem die Aufforderung an den Gesetzgeber enthält, bis zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Neuregelung für die nichtig erklärte Norm zu treffen. Die zweithöchste Eingriffsintensität mit der Stufe „10“ sind Tenorierungen, in denen das Bundesverfassungsgericht eine Norm für unvereinbar und nicht anwendbar erklärt, eine Neuregelung anmahnt und so weit geht festzulegen, wie in der Zwischenzeit die inkrimierte Norm angewendet werden darf. Die eingriffsintensivste Tenorierung des Bundesverfassungsgerichts bei normverwerfenden Entscheidungen auf Stufe „11“ geht so weit, dass eine Norm verworfen wird, dem Gesetzgeber eine Frist zur Neuregelung gesetzt wird und im Falle der Nichtbefolgung eine vom Bundesverfassungsgericht getroffene Übergangsregelung in Kraft tritt. Spätestens bei dieser Tenorierungsvariante wird klar, weshalb dem Bundesverfassungsgericht zeitweise vorgeworfen wird, es würde sich als Ersatzgesetzgeber oder gar als Übergesetzgeber gerieren. Der Schritt eigene Übergangsregelung in einer Entscheidung festzulegen, kann als Konsequenz einer Nichtigerklärung von richterlicher Seite als zwingend notwendig gesehen werden, um einen regelungsfreien Zustand zu verhindern. Aus Sicht des Gewaltenteilungsprinzips ist es ein klarer Bruch der Zuständigkeiten.

5.4 Empirische Untersuchung

133

Tabelle 5.2 Tenorierungen und zugeordnete Eingriffstiefen Bezeichnung

Eingriffstiefe

vereinbar mit der Maßgabe

1

nur in der Auslegung vereinbar

1

vereinbar, soweit

1

vereinbar, insoweit

1

vereinbar & vereinbar insoweit

1

dahin auszulegen, dass

1

war bis … unvereinbar

2

unvereinbar, bleibt aber gültig

2

vereinbar & ergänzende Regelung zu treffen

3

noch vereinbar & Neuregelung zu treffen

3

unvereinbar, soweit

4

unvereinbar, insoweit

4

unvereinbar

5

unvereinbar, noch bestimmte Zeit anwendbar

6

unvereinbar & nicht mehr anzuwenden ab

6

unvereinbar & nicht anzuwenden soweit

6

unvereinbar, Neuregelung zu treffen

7

unvereinbar & nicht anwendbar bis Neuregelung

7

unvereinbar, anwendbar bis Neuregelung

7

unvereinbar insoweit & anwendbar bis Neuregelung

7

unvereinbar, soweit & Neuregelung zu treffen

7

unvereinbar, soweit & anwendbar bis Neuregelung

7

unvereinbar & Neuregelung zu treffen

7

unvereinbar insoweit & Neuregelung zu treffen

7

nichtig, soweit

8

unvereinbar & nichtig mit Ausnahme

8

unvereinbar & nichtig, soweit

8

unvereinbar & nichtig, insoweit

8

nichtig

8

unvereinbar & nichtig

8 (Fortsetzung)

134

5

Gesetzgeberhypothese

Tabelle 5.2 (Fortsetzung) Bezeichnung unvereinbar, nichtig ohne Neuregelung bis

Eingriffstiefe 9

unvereinbar, bis Neuregelung nach Maßgabe anwendbar

10

unvereinbar, soweit & bis Neuregelung mit der Maßgabe anzuwenden

10

unvereinbar, soweit & bis Neuregelung mit Maßgabe anzuwenden

10

unvereinbar & bis Neuregelung. mit Maßgabe anzuwenden

10

unvereinbar, soweit; Neuregelung zu treffen; sonst Regelung des BVerfG

11

Quelle: Eigene Darstellung

In absoluten Zahlen wurden in den Jahren 1980 bis 2020 von den beiden Senaten des Bundesverfassungsgerichts nach einer mündlichen Verhandlung durch Urteil 146 Bundes- und 54 Landesgesetze für nicht verfassungskonform erklärt bzw. verfassungskonform ausgelegt und im Wege des Beschlusses 287 Bundesund 103 Landesgesetze. Nach der Auswertung der normverwerfenden Senatsentscheidungen aus dem Untersuchungszeitraum auf der Ebene der Eingriffstiefen ergab sich folgender Befund: Wenn die Richter Bundesgesetze für nicht verfassungskonform erklären, dann wählen sie bevorzugt geringe Eingriffstiefen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn über Bundesgesetze im Wege eines Beschlusses entschieden wird. Die geringste Rücksicht in Sachen Eingriffsintensität lassen die Richter bei der Verwerfung von Landesgesetzen mittels Urteil walten. Hier kommen beispielsweise die ersten drei Stufen der Eingriffstiefe kaum vor, die bei Beschlüssen gegen Bundesgesetzen in 20 % der Fälle gewählt werden. Das verhält sich konsistent zum Befund auf der Ebene der Stattgabe. Auch zeigte die Untersuchung, dass die hohen Eingriffstiefen bevorzugt bei Urteilen, also in Verfahren mit öffentlicher Verhandlung und damit einer höheren öffentlichen Aufmerksamkeit gewählt werden, was sich ebenfalls konsistent zum Befund auf der Ebene der Stattgabe verhält. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die empirische Untersuchung auf zwei Ebenen – Stattgabe und Eingriffsintensität – zu gleich gerichteten Ergebnissen geführt hat. Diese bestätigen die Vermutung, dass die Art des Gesetzgebers Auswirkungen auf die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts hat. Sowohl auf der Ebene der Stattgabe als auch auf der Ebene der Eingriffsintensität konnte beobachtet werden, dass die Richter bei der Beurteilung von Bundesgesetzen deutlich zurückhaltender sind als bei Landesgesetzen. Verstärkt wird dieser

5.4 Empirische Untersuchung

135

Effekt auf beiden Ebenen dadurch, dass die Durchführung einer mündlichen Verhandlung, mit der ein größeres Maß an Öffentlichkeit hergestellt wird, zu einer deutlich geringeren richterlichen Zurückhaltung führt, was – wie oben bereits dargestellt – ein deutlicher Hinweis auf ein strategisches richterliches Verhalten im Bereich der Normverwerfung ist und die Richter offensichtlich hinsichtlich der Natur des zu beurteilenden Gesetzes nicht mit verbundenen Augen entscheiden.

6

Justizhypothese

H2 – Justizhypothese: Bei Urteilsverfassungsbeschwerden hat die hierarchische Position des Gerichts, dessen Entscheidung überprüft wird, einen Einfluss auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts.

6.1

Das Verhältnis von Bundesverfassungsgericht und Fachgerichten

Bei der Justizhypothese liegt der Fokus auf dem Verhältnis des Bundesverfassungsgerichts zu den Fachgerichten. Die Verfahrensarten, in denen das Bundesverfassungsgericht in mittelbare und unmittelbare Interaktion mit anderen deutschen Gerichten tritt, sind die Urteilsverfassungsbeschwerde und die Richtervorlage. Bei den Verfahren der Urteilsverfassungsbeschwerde handelt es sich, wegen des Erfordernisses der Rechtswegerschöpfung bei Verfassungsbeschwerden gegen Gerichtsentscheidungen, zumeist um Entscheidungen der oberen und obersten Gerichte der Länder. In den Fällen, in denen aber beispielsweise der Rechtsweg nach einer amtsgerichtlichen Entscheidung erschöpft ist, kann auch gegen dessen Entscheidung Verfassungsbeschwerde erhoben werden. Zudem normiert § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG die Ausnahme, dass das Bundesverfassungsgericht auch vor der Erschöpfung des Rechtswegs eine Verfassungsbeschwerde entscheiden kann, wenn diese von allgemeiner Bedeutung ist oder dem Beschwerdeführer ein schwerer und unabwendbarer Nachteil entstünde, falls er zunächst auf den Rechtsweg verwiesen würde. Die Urteilsverfassungsbeschwerde hat statistisch betrachtet einen hohen Anteil am Gesamtaufkommen der Verfahrenseingänge. Im Jahr 2020 gingen beispielsweise insgesamt 5.194 Verfassungsbeschwerden am Bundesverfassungsgericht © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2024 M. Schlögel, Strategen in Roben, https://doi.org/10.1007/978-3-658-43868-5_6

137

138

6

Justizhypothese

ein; davon wandten sich 4.462 gegen Gerichtsentscheidungen1 . Prozentual betrachtet waren das 85,9 Prozent des Gesamtaufkommens. Die Zahl der Richtervorlagen nach Art. 100 I GG ist ungleich geringer. Deren Eingangszahlen bewegten sich in den Jahren 2011 bis 2020 zwischen 17 und 41 Verfahrenseingängen pro Jahr. Allerdings ist die Annahmequote bei dieser Verfahrensart hoch. Von den zur Entscheidung angenommenen Vorlagen wurden ursprünglich viele in einem der beiden Senate entschiedenen. Um dem Ruf der Richter am Bundesverfassungsgericht nach Entlastung und der Sicherung der Funktionsfähigkeit (Dollinger 2005: 1037) nachzukommen, wurde allerdings im Jahr 1993 im Rahmen des Fünften Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht2 mit der Ergänzung des § 81a BVerfGG die Möglichkeit geschaffen, über die Ablehnung unzulässiger Richtervorlagen in den Kammern zu entscheiden (§ 81a Satz 1 BVerfGG). Das ist möglich, so lange der Antrag nicht von einem Landesverfassungsgericht oder einem obersten Gerichtshof des Bundes gestellt worden ist (§ 81a Satz 2 BVerfGG). In diesem Fall muss der zuständige Senat – nach Eckart Klein „aus Gründen der Courtoisie“ (Klein 1993: 2076) – über den Antrag entscheiden. Grund für den Wunsch nach Entlastung war, dass „(...) insbesondere im Hinblick auf nicht-berufungsfähige Zivilurteile von Amtsgerichten (...) das Bundesverfassungsgericht sukzessive zum „Pannenhelfer“ avanciert [ist].“ (Kenntner 2005: 13)

Für die empirische Überprüfung wurden ausschließlich die Verfahren der Urteilsverfassungsbeschwerden ausgewählt. Ausschlaggebend dafür war, neben dem sehr geringen Anteil an Richtervorlagen, die Besonderheit, dass über unzulässige Vorlagen nachgeordneter Gerichte in den Kammern entschieden wird. Da in die vorliegende Auswertung nur die Senatsentscheidungen aus der amtlichen Entscheidungssammlung eingeflossen sind und seitens des Bundesverfassungsgerichts nur wenige, ausgewählte Kammerentscheidungen veröffentlicht werden, hätte dies zu einer erheblichen Verzerrung geführt. Grundsätzlich kann die Aussage getroffen werden, dass – zumindest unter dem Aspekt des Fallaufkommens – das Justizsystem der wichtigste Adressat der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts ist (Gawron/ Rogowski 2015:

1

Vgl. amtliche Statistik des Bundesverfassungsgerichts, https://www.bundesverfassungsg ericht.de/DE/Verfahren/Jahresstatistiken/2020/gb2020/A-I-4.pdf?__blob=publicationFile &v=2 (Stand Januar 2022). 2 BT-Drucks. 12/3628 vom 5.11.1992.

6.1 Das Verhältnis von Bundesverfassungsgericht und Fachgerichten

139

156). Damit das Bundesverfassungsgericht nicht zur „Superrevisionsinstanz“3 wird, beschränkt sich sein Prüfungsumfang auf die Verletzung „spezifischen Verfassungsrechts“4 , wie es die Richter selbst in mehreren Entscheidungen formuliert haben. Diese Formel wird als relativ aussagearm kritisiert. Den Richtern lässt sie Raum für flexibles Vorgehen. Denn im Zweifel muss von ihnen im Einzelfall geprüft werden, ob die Kontrollkompetenz des Bundesverfassungsgerichts gegeben ist (Benda/ Klein 2001: 114). Im Gegensatz dazu steht die richterliche Selbstermächtigung im Elfes-Urteil5 , in dessen Rahmen das Bundesverfassungsgericht mit seiner Interpretation der Garantie aus Art. 2 Abs. 1 GG einen großen Spielraum für Interventionen geschaffen hat. Hier wurde statuiert, dass jeder rechtswidrige Akt staatlicher Gewalt eine Verletzung der grundrechtlich geschützten, allgemeinen Handlungsfreiheit darstellen würde. Und eben diese Grundrechtsverletzung ist es, die eine Eingriffsmöglichkeit des Bundesverfassungsgerichts schafft. Benda und Klein sprechen in diesem Kontext vom „schwierigen Kompetenzverhältnis zwischen dem Bundesverfassungsgericht und den Fachgerichten“ (Benda/ Klein 2001: 114). Andere Autoren, wie etwa Kenntner (2005:10), konstatierten, dass die Kontroverse zwischen dem Bundesverfassungsgericht und den Instanzgerichten über die Jahre zunehmend an Schärfe gewonnen hätte: „Der Beitrag des Vizepräsidenten des baden-württembergischen Verwaltungsgerichtshofs zum 50-jährigen Bestehen des Bundesverfassungsgerichts macht dies mit drastischen Eingangsworten deutlich, dass einem angesichts des Umgangs mit den Verwaltungsgerichten, „das Lob im Halse stecken bleibe“ und es „nur schwer zu ertragen (sei), wenn eine gefestigte und sorgfältig begründete Praxis eines obersten Bundesgerichts mit einem einzigen, substanziell nicht begründeten Satz in Frage gestellt werde“.“ (Kenntner 2005 10f.)

Auch der Bundesgerichtshof hat in Entscheidungen schon unverhohlen sein Missfallen über die Spruchpraxis des Bundesverfassungsgerichts geäußert. So führten die Richter in einer Entscheidung aus dem Jahre 19926 aus: 3

„Allerdings hat sich das Bundesverfassungsgericht in Einzelfällen auch ermächtigt gesehen, den Sachverhalt selbst zu ermitteln oder anders zu deuten als die Instanzgerichte. Als methodischer Anknüpfungspunkt wird dabei auf die Eingriffsintensität verwiesen. Jedenfalls in Fällen hoher Eingriffsintensität sei das Bundesverfassungsgericht befugt, die von den Gerichten vorgenommene Wertung durch eine eigene zu ersetzen und auch die Sachverhaltsfeststellungen „in vollem Umfang“ zu überprüfen.“ (Kenntner 2005: 15) 4 BVerfGE 7, 198 (205 ff.) und BVerfGE 18, 85 (92 f.) und 80, 81, (95). 5 BVerfGE 6, 32. 6 BGH, Urteil vom 27.10.1992 – 1 StR 530/92 (LG Heidelberg)

140

6

Justizhypothese

„Zwar hat das BVerfG keine Rechtsnorm aufgehoben, sondern entschieden, die bisherigen Normen seien „dahin auszulegen“. Doch unterscheidet sich das wesentlich von dem Fall einer anderen Auslegung durch das Rechtsmittelgericht. Ein ordentliches Gericht hätte im Wege der Auslegung nicht zu dem Ergebnis kommen können und dürfen, welches das BVerfG für richtig hält; das positive Recht hätte entgegengestanden.“7

Der Kommentator dieser Entscheidung in der Neuen Zeitschrift für Strafrecht leitete seine Anmerkungen zu diesem Judikat mit dem Satz ein: „Quod licet iovi non licet bovi ist das Leitmotiv der die Revision zutreffend verwerfenden Entscheidung“ (Meurer 1993: 135). Die problematischen Berührungspunkte zwischen Fach- und Verfassungsgerichtsbarkeit sind also Fragen der Auslegung und der Anwendung einfachen Rechts. Diese werden von den Fachgerichten als „Hausgut fachgerichtlicher Tätigkeit“ betrachtet und sollten deshalb so weit als möglich nicht der verfassungsgerichtlichen Überprüfung unterfallen (Kenntner 2005: 15). Entsprechend problematisch ist es, wenn die Richter am Bundesverfassungsgericht sogar zur Feststellung eines Verstoßes gegen das Willkürverbot gelangen. Das ist dann der Fall, wenn nach Auffassung der Verfassungsrichter die zu überprüfende Entscheidung auf einer willkürlich unrichtigen Anwendung von Verfahrensvorschriften beruht, die Würdigung des Tatsachenstoffs durch die Prozessbeteiligten „objektiv sachwidrig und damit objektiv willkürlich“ oder wenn der Richterspruch „unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass er auf sachfremden Erwägungen beruhen“ würde (Kenntner 2005: 18). Insbesondere die Instanzgerichte, die vom Bundesverfassungsgericht attestiert bekommen willkürlich entschieden zu haben, dürften sich herabgesetzt fühlen. Darauf weist Kenntner hin: „Besonders schwerwiegend ist aber der Zungenschlag, mit dem die Instanzgerichte bedacht werden. Denn ein vernichtenderer Vorwurf als derjenige der objektiven Willkür kann einem Richter kaum gemacht werden. Bei Lichte besehen beinhaltet dies schlicht die Feststellung der fachlichen Unfähigkeit. Bedenkt man, dass dieser Obersatz zum regelmäßigen Standard der Prüfung von Urteilsverfassungsbeschwerden geworden ist und durchaus nicht nur auf krasse Fehlurteile beschränkt bleibt, so ist die Irritation der betroffenen Gerichte durchaus nachvollziehbar.“ (Kenntner 2005: 19)

7

Vgl. BGH, Urteil vom 27.10.1992 – 1 StR 530/92 (LG Heidelberg) in Neue Zeitschrift für Strafrecht 1993, S. 135 mit Kommentar von Dieter Meurer.

6.1 Das Verhältnis von Bundesverfassungsgericht und Fachgerichten

141

Der Staatsrechtler Josef Isensee ging so weit, das Agieren des Bundesverfassungsgerichts im Bereich der Urteilsverfassungsbeschwerden als „höchstrichterliche Billigkeitsjustiz“ zu bezeichnen und weiter auszuführen, dass sein Vorgehen hier „etwas vom obrigkeitlich-fürsorglichen, detailversessenen Regierungsstil(s) Friedrichs des Großen“ aufweisen würde (Isensee 1997: 109). In diesem Zusammenhang ist es nun interessant, wie die Fachgerichte auf die bundesverfassungsgerichtlichen Interventionen reagieren, ob sie diese erdulden oder nach Wegen suchen, sich zur Wehr zu setzen. Die sozialwissenschaftliche Forschung in den USA hat Abwehrreaktionen der Gerichte gegen Entscheidungen des U.S. Supreme Court aufgedeckt. Gawron und Rogowski fassen die Ausführungen von Richard Hodder-Willliams (1980) zur Obstruktion von Urteilen des U.S. Supreme Court folgendermaßen zusammen: „Die Techniken der Obstruktionspolitik sind vielfältig. Sie reichen von offenem Widerstand, der in bewusster Ablehnung oder Fehlinterpretation der Intention des Supreme Court bestehen kann, über defensive Verwendung juristischer Techniken, wie Klageverzögerung, enge Interpretation der Anwendbarkeit der obergerichtlichen Entscheidung oder negative Entscheidung zur formalen Konsistenz des Klageantrages bis hin zu passiven Verhaltensweisen wie Ignorieren von Klageelementen beziehungsweise Nichtbeachtung des Problems.“ (Gawron/ Rogowski 2007: 108)

Ähnliche Reaktionen deutscher Gerichte wurden bereits von untergeordneten Gerichten gewählt. Ein Beispiel für den offenen Widerstand gab das OVG Münster, das die Konfrontation mit der 1. Kammer des Ersten Senats hinsichtlich der Frage der Zulässigkeit des Verbots eines neonazistischen Fackelaufzugs durch Lüdenscheid nicht scheute: „Dabei deutete sich bereits ein in der bundesdeutschen Rechtsgeschichte beispielloser Konflikt an: Das OVG teilte in der Begründung ausdrücklich mit, dass es die Auffassung der 1. Kammer des Ersten Senats des BVerfG nicht teile und „die mit ihr verbundenen Konsequenzen für problematisch” halte.“ (Battis/ Grigoleit 2001: 2053)

Neben der Variante des offenen Widerstandes wählen deutsche Gerichte häufig stillere Formen, etwa indem sie „den verfassungsrechtlichen Dedukionen des Bundesverfassungsgerichts die Gefolgschaft“ verweigern, wie etwa der Bundesfinanzhof in der Ablehnung steuerrechtlichen Halbteilungsgrundsatzes8 , der Bundesgerichtshof bei der wiederholten Einstufung von Schockwerbung als

8

Bundesfinanzhof in NJW 1999, 3798.

142

6

Justizhypothese

wettbewerbswidrig9 oder das OVG Münster mit der Aufrechterhaltung der verfassungsimmanenten Schranken der Versammlungsfreiheit10 (Kenntner 2005: 11). Im Folgenden wird zu untersuchen sein, ob das Bundesverfassungsgericht – je nach Art des Gerichts, dessen Entscheidung auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin geprüft wird – in unterschiedlicher Häufigkeit Entscheidungen kassiert. Einer möglichen Zurückhaltung gegenüber Bundesgerichten könnten strategische Erwägungen wegen der beschriebenen Konfliktlage zugrunde liegen. Ebenfalls von Interesse ist die Frage, welchen Einfluss das Stattfinden einer mündlichen Verhandlung auf die Stattgabewahrscheinlichkeit hat. Auch hier lassen sich strategische Motive für das Vorgehen der Richter vermuten, denn diese verfügen durch die Vorgabe in § 25 BVerfGG offensichtlich über einen nennenswerten Freiraum, ob eine Klage mündlich verhandelt oder im schriftlichen Verfahren entschieden wird.

6.2

Empirische Überprüfung

Die Vermutung, dass das Bundesverfassungsgericht bei Entscheidungen über die Verfassungsmäßigkeit der Urteile von Bundesgerichten eine größere Zurückhaltung walten lässt, weil es deren Widerstand eher fürchtet, wurde überprüft. Im Rahmen der empirischen Untersuchung wurde die Differenzierung zwischen Amtsgerichten, Landgerichten und Oberlandesgerichten wegen der teilweise geringen Fallzahlen in den einzelnen Kategorien aufgehoben. Diese Instanzgerichte wurden in der Kategorie „Gerichten der Länder“ zusammengefasst und in der Auswertung mit den Bundesgerichten verglichen. Während in den normverwerfenden Verfahren bei einer Stattgabe differenzierte Tenorierungen untersucht werden konnten, gibt es bei Urteilsverfassungsbeschwerden keine solche zweite Untersuchungsebene. Anders als bei der Gesetzgeberhypothese gibt es hier nur eine Ebene, denn der Tenor bei stattgebenden Entscheidungen lautet immer: „aufgehoben und zurückverwiesen“. Die empirische Untersuchung offenbarte einen interessanten Effekt. Wenn im Rahmen eines Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht eine mündliche Verhandlung stattgefunden hat, unterscheidet sich die Wahrscheinlichkeit der Kassation zwischen Entscheidungen der Gerichte der Länder und Entscheidungen der Gerichte des Bundes nur geringfügig. Mit einem Anteil von 42,2 Prozent 9

BGHZ 149, 247. OVG Münster in NJW 2001, 2113 und 2986.

10

6.2 Empirische Überprüfung

143

wurden sogar etwas häufiger Entscheidungen von Bundesgerichten kassiert als mit 39,8 prozentigem Stattgabe-Anteil Entscheidungen von Gerichten der Länder. Wurde ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss entschieden, so wurden zwar mehr Entscheidungen von Bundesgerichten aufgehoben als in Verfahren mit mündlicher Verhandlung, nämlich 47,9 Prozent. Auffällig und deutliche höher ist jedoch der Anteil von 61,4 Prozent kassierter Entscheidungen der Gerichte der Länder in Verfahren ohne mündliche Verhandlung verglichen mit dem Anteil von 39,8 Prozent kassierter Entscheidungen in Verfahren mit mündlicher Verhandlung (Tabelle 6.1). Tabelle 6.1 Deskriptive Auswertung der Senatsentscheidungen in Verfahren der Urteilsverfassungsbeschwerde in der amtlichen Entscheidungssammlung aus den Jahren 1980 bis 2020

Beschluss Urteil

Anzahl

Anteil „stattgegeben“

Bundesgericht

365

0,479

Gerichte der Länder

616

0,614

Bundesgericht

83

0,422

Gerichte der Länder

88

0,398

Quelle: Auswertung von Michael Grottke

Es kann festgestellt werden, dass die Ergebnisse der Überprüfung der Justizhypothese in den Fällen statistisch hoch signifikant sind, in denen das Bundesverfassungsgericht ohne mündliche Verhandlung entscheidet. Hier hat die Variable hierarchische Position des Gerichts, dessen Entscheidungen überprüft werden, großen Einfluss auf die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Fraglich ist, wie dieser Befund zu deuten und zu bewerten ist und wie er sich im Verhältnis zu den Ergebnissen der Gesetzgeberhypothese einordnen lässt. Die obigen Ausführungen haben deutlich gemacht, dass es eine Kontroverse zwischen den Fachgerichten und dem Bundesverfassungsgericht gibt. Offensichtlich wird diese in der rechtswissenschaftlichen Literatur auch lebhaft ausgefochten. Die von Staatsrechtslehrern und Richtern der Fachgerichte geäußerte Kritik am Vorgehen des Bundesverfassungsgerichts bei der Überprüfung fachgerichtlicher Entscheidungen ist massiv. Durch diese Kontroverse wird der Nimbus des Bundesverfassungsgerichts als neutrale, respektierte und über allen politischen Auseinandersetzungen stehende Instanz stark in Frage gestellt. Allerdings gibt es bei den Verfahren der Urteilsverfassungsbeschwerde im Vergleich zu den Verfahren der Überprüfung der Verfassungskonformität von

144

6

Justizhypothese

Normen einen wesentlichen Unterschied. Während bei Verfahren der Normprüfung zwar zumeist eine oder mehrere Einzelpersonen – und eher in seltenen Fällen große Personengruppen – auftreten, so sind die überprüften Normen jedoch generell-abstrakte Regelungen, die Auswirkungen auf eine große Zahl an Menschen haben. Bei Urteilsverfassungsbeschwerden verhält sich die Situation anders. Hier geht es immer um die Verfassungsmäßigkeit einer Einzelentscheidung in einem Einzelfall. Zwar ist es auch hier denkbar, dass ein Verfahren großes öffentliches Interesse auf sich zieht. Als Beispiel genannt sei das Verfahren einer Gynäkologin, die Verfassungsbeschwerde gegen ihre Verurteilung wegen Werbung für Schwangerschaftsabbrüche erhoben hat. Hier klagte eine Einzelperson, aber das mediale Interesse und die gesellschaftspolitische Relevanz sind riesig, obgleich das Verfahren noch nicht abgeschlossen ist. Die betroffene Ärztin klagte gegen ihre Verurteilung. Von großer Bedeutung ist der Fall jedoch, weil zu erwarten war, dass das Bundesverfassungsgericht inzident die Verfassungskonformität des § 219a StGB überprüfen wird, der es Ärzten verbietet für Schwangerschaftsabbrüche zu werben. Vergleicht man mögliche Beweggründe der Bundesgerichte und der Instanzgerichte zum Widerstand gegen verfassungsgerichtliche Vorgaben, so gibt es Argumente für und gegen eine größere Widerstandsbereitschaft der Bundesgerichte. Dafür spricht, dass die Bundesgerichte im jeweiligen fachgerichtlichen Instanzenzug das letztinstanzliche Gericht sind. Jenseits der durch das Bundesverfassungsgericht oben angesprochenen Öffnung der Justiziabilität sind die Entscheidungen der Bundesgerichte letztlich inhaltlich bindend. Sie werden in der weit überwiegenden Zahl der Fälle auch nicht angegriffen. Und sie werden von der Rechtswissenschaft und von Rechtsanwendern rezipiert. Diese Tatsache könnte dazu beitragen, das Selbstbewusstsein der Bundesrichter zu stärken. Zweifelsohne werden sich die Bundesgerichte ungern vom Bundesverfassungsgericht vorwerfen lassen, verfassungswidrige Entscheidungen zu treffen. Andererseits wollen auch die Gerichtshöfe des Bundes ihr Ansehen und ihre Würde wahren. Gerade hierin könnte das größte Argument gegen eine Obstruktion der Bundesgerichte liegen. Eben weil deren Funktion so exponiert ist und weil das Richteramt an einem Bundesgericht einer kleinen Zahl ausgewählter Juristen vorbehalten ist, könnte vermutet werden, dass diese sich in besonderem Maße an rechtliche Vorgaben und damit auch an die Spruchpraxis des Bundesverfassungsgerichts gebunden fühlen. Auch stehen – neben dem Bundesverfassungsgericht – nur die Bundesgerichte regelmäßig im Fokus der Öffentlichkeit. Entscheidungen der Instanzgerichte können zwar für Rechtsanwender und die rechtswissenschaftliche Debatte durchaus

6.2 Empirische Überprüfung

145

von Bedeutung sein. Die Schwelle zur medialen Aufmerksamkeit und damit zu einer breiteren öffentlichen Wahrnehmung überschreiten sie nur in seltenen Fällen. Die öffentliche Aufmerksamkeit könnte ein befriedender Faktor für Bundesgerichte und Bundesverfassungsgericht in ihren Kontroversen sein. Denn beide Gerichte haben ein großes Interesse daran, als würdevolle, neutrale und kompetente Institutionen der Rechtsprechung wahrgenommen zu werden. Deshalb kann angenommen werden, dass dauerhafte und offen ausgetragene Kontroversen untereinander weder im Interesse des Bundesverfassungsgerichts noch im Interesse der Bundesgerichte sind. Legt man auch hier wieder die Prämissen des strategischen Modells zugrunde, so lässt sich in den Ergebnissen Evidenz für strategisches Verhalten finden. Offensichtlich ist, dass sich die Wirkung der durch mündliche Verhandlung hergestellten Öffentlichkeit bei der Interaktion mit der Justiz konträr verhält zu der Wirkung bei der Interaktion mit Bundes- und Landesgesetzgeber. So wie die Öffentlichkeit als legitimierende Ressource in Verfahren mit starken Eingriffen in die gesetzgeberische Sphäre diente, so dient offensichtlich die NichtÖffentlichkeit als Ressource, wenn es darum geht, die Verfassungsmäßigkeit von Entscheidungen der Gerichte der Länder zu überprüfen. Um nicht den Eindruck zu erwecken, sich als Superrevisionsinstanz und als Schulmeister der Instanzgerichte zu verhalten, agiert das Bundesverfassungsgericht in Verfahren mit mündlicher Verhandlung deutlich zurückhaltender. Das lässt den Schluss zu, dass die Richter aus strategischen Erwägungen die Nichtöffentlichkeit wählen, wenn sie Entscheidungen der Instanzgerichte kassieren. In öffentlichen Verhandlungen hingegen ist mit einer Differenz von 2,4 Prozentpunkten kein großer Unterschied in der Häufigkeit der Verwerfung feststellbar. Da die Bundesgerichte ein selbstbewusster Counterpart sind, könnte die Öffentlichkeit hier wieder zur Legitimierung verfassungsgerichtlicher Kassationen beitragen. Dies wäre eine plausible Erklärung dafür, dass im Wege des Urteils sogar häufiger Entscheidungen von Bundesgerichten aufgehoben werden.

7

Sozialisierungshypothese

H3 – Sozialisierungshypothese: Bei beiden Senaten gibt es durch die unterschiedlichen Zuständigkeiten Einflüsse in Form „sozialisierender“ Effekte, die sich bei der Rechtsprechung in einer voneinander abweichenden Grundrechtsfreundlichkeit beider Senate nachweisen lassen.

7.1

Genese der derzeitigen Aufgabenteilung zwischen den Senaten

Die Organisation des Bundesverfassungsgerichts als „Zwillingsgericht“ mit zwei selbständigen und gleichrangigen Senaten ist eine ungewöhnliche Struktur. Im Rahmen des Verfassungskonvents von Herrenchiemsee wurde auch über ein Verfassungsgericht mit mehreren Senaten nachgedacht, dieser Gedanke aber wieder verworfen (Heinrichsmeier 2005, § 2, Rn. 1–2). Aus dem Zwillingsgericht ein „Einheitsgericht“ zu machen, wurde in den späten 1960er Jahren im Rahmen der Diskussion zum vierten Änderungsgesetz zum Bundesverfassungsgerichtsgesetz1 erwogen. Wegen der hohen Belastung des Gerichts wurde aber davon Abstand genommen. In den ersten Jahren der Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts wurden die an das Gericht berufenen Bundesrichter regelmäßig auf Lebenszeit, und damit – anders als am U.S. Supreme Court – bis zum Erreichen der gesetzlich festgelegten Altersgrenze berufen, während die anderen Verfassungsrichter für eine Amtszeit von acht Jahren mit der Möglichkeit einer Wiederwahl gewählt wurden (Heinrichsmeier, § 4, Rn. 1). Erst durch die bis heute geltende Reform der Gerichtsorganisation von 1970 erfolgte die Vereinheitlichung, dass ausnahmslos 1

BT-Drucks. VI/1471.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2024 M. Schlögel, Strategen in Roben, https://doi.org/10.1007/978-3-658-43868-5_7

147

148

7

Sozialisierungshypothese

alle Richter für eine einmalige Amtszeit von 12 Jahren an das Bundesverfassungsgericht berufen werden, so § 4 Abs. 1 und 2 BVerfGG. Die Zusammensetzung der Senate erfolgt nach § 2 Abs. 3 BVerfGG in der Weise, dass jedem Senat drei Richter angehören müssen, die aus dem Kreis der Richter an den obersten Gerichtshöfen des Bundes stammen und dieses Richteramt zum Zeitpunkt der Wahl bereits mindestens drei Jahre ausgeübt haben (§ 2 Abs. 3 Satz 2 BVerfGG). Mit dieser drei-Jahres-Frist soll verhindert werden, dass ein Kandidat an ein Bundesgericht berufen wird, um unmittelbar die Wählbarkeit zum Richter am Bundesverfassungsgericht zu erlangen. Neben den aus dem Kreis der Bundesrichter an das Bundesverfassungsgericht berufenen Richtern gibt es noch Mitglieder des Richterkollegiums, die einen anderen Hintergrund aufweisen sollen, also etwa aus der Politik, der Rechtslehre, der Anwaltschaft, der Verwaltung oder auch aus der Gerichtsbarkeit der Länder stammen sollen, um eine Balance zwischen richterlicher Professionalität auf der einen Seite und – um dem Status des Gerichts als Verfassungsorgan gerecht zu werden – eine Öffnung zu Politik und Gesellschaft auf der anderen Seite zu ermöglichen (Lenz/ Hansel 2013, § 2 Rn. 5). Aufgrund der Teilung in zwei Senate musste der Gesetzgeber wegen des Verfassungsgrundsatzes des gesetzlichen Richters nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG die Zuständigkeiten zwischen den Senaten genau festlegen. Auch sollte mittels eindeutiger Zuweisungen verhindert werden, dass die Zuständigkeit der Senate manipuliert werden könnten, um im Wege des forum shopping „bei dem einen oder anderen Senat eine größere Erfolgsaussicht zu haben. Die Gefahr liegt schon deshalb nahe, weil die am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Verfassungsorgane unmittelbar an dem Ausgang vieler vor dem BVerfG anhängigen Verfahren interessiert sind.“ (Benda/ Klein 2001: 59 f.)

Die ursprüngliche Idee des Gesetzgebers bestand darin, dass der Erste Senat der „Grundrechtssenat“ sein sollte, der die Grundrechte wahrt und auslegt und dessen Fokus auf dem Rechtsverhältnis des Individuums zur staatlichen Gewalt liegt (Benda/ Klein 2001: 61). Der Zweite Senat sollte – als „Staatsgerichtshof“ im überlieferten Sinne verstanden – in den großen Prozessen zwischen den Verfassungsorganen, im Bund-Länder-Verhältnis und in aktuellen und oft hochpolitischer Streitigkeiten entscheiden (Benda/ Klein 2001: 61). Da sich diese Aufteilung zwischen Staatsgerichtshof und Grundrechtssenat innerhalb kürzester Zeit wegen der hohen Zahl an Verfassungsbeschwerden als nicht durchführbar erwies, mussten die Richter von ihrer Kompetenz aus § 14 Abs. 4 BVerfGG Gebrauch machen, und im Wege eines Beschlusses des Plenums die Zuständigkeiten der Senate abweichend regeln.

7.1 Genese der derzeitigen Aufgabenteilung zwischen den Senaten

149

„Die vom Gesetz abweichende verfassungsrechtliche Zuständigkeitsbestimmung durch das Plenum wegen Überlastung eines Senats ist aus dem Blickwinkel des Gerichtsverfassungsrechts nur gerechtfertigt, wenn man die Aufgabenverteilung zwischen den Senaten als eine Art Geschäftsverteilung unter Spruchkörpern gleicher sachlicher Zuständigkeit begreift. Es bleibt aber eine Antithese zwischen der prinzipiellen gesetzgeberischen Zuständigkeitsbestimmung (Absätze 1 bis 3) und der abweichenden Regelung des Plenums bestehen.“ (Eschelbach 2005, § 14, Rn. 2)

Auch bei der Neuaufteilung der Zuständigkeiten durch die Richter selbst wird befürchtet, dass ein Senat versucht, bestimmte Verfahren an sich zu ziehen oder sich bestimmter Verfahren zu entledigen. Gänzlich auszuschließen ist diese Gefahr nicht, wenn sie auch sehr gering zu sein scheint. „Die vom Gesetz abweichende Regelung des Plenums muss im Einklang mit dem Gesetzlichkeitsprinzip des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG die Zuständigkeit nach abstrakt-generellen Kriterien regeln; sie darf also nicht eine bestimmte Zuständigkeitszuweisung nur für den Einzelfall vornehmen. Dies schließt nicht aus, dass von einem abstrakt-generell formulierten Zuständigkeitstitel des Plenarbeschlusses im Ergebnis nur ein Verfahren einer selten benutzten Verfahrensart, etwa im Parteiverbotsverfahren, oder in einem selten betroffenen Sachgebiet umfasst wird.“ (Eschelbach 2005: § 14, Rn. 30)

Die derzeitige Zuständigkeitsverteilung ist auf der Internetseite des Bundesverfassungsgerichts veröffentlicht und lautet wie folgt: „Derzeit gilt – infolge der gesetzlichen Regelung und der sie modifizierenden Plenumsbeschlüsse – im Wesentlichen folgende Zuständigkeitsverteilung: Der Erste Senat ist zuständig für Normenkontrollverfahren und Verfassungsbeschwerden, soweit nicht im Einzelfall eine Zuständigkeit des Zweiten Senats besteht. Der Zweite Senat ist im Wesentlichen zuständig für Organstreitverfahren, für BundLänder-Streitigkeiten, für Parteiverbotsverfahren und für Wahlbeschwerden. Bei Normenkontrollverfahren und Verfassungsbeschwerden ist der Zweite Senat für bestimmte Rechtsmaterien zuständig; hierzu gehören das Asyl-, Aufenthalts- und Staatsangehörigkeitsrecht, das Recht des öffentlichen Dienstes, das Wehr- und Ersatzdienstrecht, das Straf- und Strafverfahrensrecht einschließlich des Vollzugs von Freiheitsentziehungen, das Bußgeldverfahren, das Einkommen- und Kirchensteuerrecht (vgl. A.I. des Plenumsbeschlusses) sowie Verfahren mit überwiegend völkerrechtlichem Bezug (vgl. A.IV. des Plenumsbeschlusses). Derzeit ist der Zweite Senat zudem für Normenkontrollverfahren und Verfassungsbeschwerden aus den Bereichen Vertriebenenrecht, Petitionsrecht, Zwangsversteigerung

150

7

Sozialisierungshypothese

und -vollstreckung, Körperschaft- und Umwandlungssteuer, Insolvenzrecht, Wohnungseigentumsrecht sowie Dienst- und Werkvertragsrecht zuständig (vgl. A.II. des Plenumsbeschlusses). Die Verfassungsbeschwerden aus dem Bereich der Zivilgerichtsbarkeit sind nach Rechtsmaterien zwischen den Senaten aufgeteilt (vgl. A.III. des Plenumsbeschlusses).“2

Es ist ersichtlich, dass die ursprüngliche Trennung insofern aufgehoben ist, als mittlerweile der Zweite Senat – neben seinen staatsrechtlichen Zuständigkeiten – auch für Rechtsfragen zuständig ist, für welche die Grundrechte von zentraler Bedeutung sind (Benda/ Klein 2001: 62). Die Frage ist, ob und – wenn ja – wie sich dies auf seine Rechtsprechung im Vergleich zum Ersten Senat auswirkt. Es könnte sein, dass der Grundrechtssenat, dessen Fokus auf dem von Subordination geprägten Verhältnis von Staat zu Bürger liegt, im Zweifel grundrechts-freundlicher agiert, als der Zweite Senat. Da dieser sich schwerpunktmäßig mit Kontroversen zwischen gleichrangigen Akteuren befasst, könnten dessen Sensibilität für Eingriff in grundrechtlich geschützte Rechtspositionen von Individuen geringer ausgeprägt sein und deshalb seine Entscheidungen weniger häufig zugunsten des Grundrechtsträgers ausfallen. Dass es grundsätzlich divergierende inhaltliche Vorstellungen zwischen den Senaten geben kann, beweist die Rechtsprechung. „Trotz der in § 16 vorgesehenen Zuständigkeit des Plenums zur Entscheidung über Divergenzvorlagen führt das Bestehen von zwei Senaten seit jeher zu gewissen Unzuträglichkeiten für die Einheitlichkeit und Kontinuität der Rechtsprechung der BVerfG. Rivalitäten und Unstimmigkeiten zwischen den Senaten, wie in jüngerer Zeit die offen ausgetragene Auseinandersetzung um das „Kind als Schaden“, sind nicht immer zu vermeiden.“ (Heinrichsmeier § 2, Rn. 6)

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hatte am 10.11.1998 in drei Beschlüssen zur einkommensteuerrechtlichen Berücksichtigung der Aufwendungen für Kinder die Kinderfreibeträge für zwei Kinder für unvereinbar mit Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG erklärt. Hans-Wolfgang Arndt und Andreas Schuhmacher beschreiben das Vorgehen des Zweiten Senats in ihrem Beitrag wie folgt:

2

https://www.bundesverfassungsgericht.de/de/verfahren/geschaeftsverteilung/geschaeftsve rteilung_node.html (Stand Januar 2022).

7.1 Genese der derzeitigen Aufgabenteilung zwischen den Senaten

151

„Er baut dabei zwar auf den dargestellten Grundsätzen auf, lässt dem Gesetzgeber jedoch einen viel geringeren Spielraum als der Erste Senat. Der Zweite Senat konkretisiert die Methode zur Ermittlung der steuerfrei zu belassenden Unterhaltsaufwendungen für das Existenzminimum von Kindern in mehreren Details (…) Ohne Erläuterung des Widerspruchs zum Ersten Senat stellt er zudem fest, dass das Kindergeld jeweils mit dem individuellen Grenzsteuersatz umzurechnen sei und schließt damit eine Typisierung hinsichtlich des Steuersatzes aus. (…) Es verbleibt allerdings der Eindruck, dass die Vorstellung des Zweiten Senats zum Verhältnis von Legislative und Judikative eine andere ist als die des Ersten Senats.“ (Arndt/ Schumacher 1999: 746).

Dieses Beispiel aus der Rechtsprechung schildert inhaltliche Divergenzen und eine unterschiedliche Dichte der Festlegung in einer gerichtlichen Entscheidung, lässt aber keine grundsätzlich gegenläufigen Richtungen erkennen. Die befragten Wissenschaftlichen Mitarbeiter berichteten davon, dass die Richter mit unterschiedlicher Vorprägung an das Gericht kämen. Diese seien abhängig davon, welche Aufgaben die Richter vor ihrer Berufung an das Bundesverfassungsgericht wahrgenommen hätten, und in welchem System und mit welchen Akteuren sie interagiert hätten. „Jede Gruppe bringt ganz Unterschiedliches ein und ist auch ganz unterschiedlich im Denken: Wie ist die Rollenverteilung zwischen Politik und Gericht? Was richten wir an mit unseren Urteilen? Und das ist auch gut, dass es unterschiedliche Herangehensweisen sind, weil die Richter sich auch gegenseitig beeinflussen. Aber darum bin ich jemand, der immer dafür plädiert, dass ausreichend Richter im Senat sind. Und ich sehe das nicht kritisch, dass dort auch Politiker sind, was manche kritisch sehen. Im Gegenteil; weil die eben oft wissen, was für Folgen ein Urteil auch haben kann. Und oft sind es auch die ehemaligen Politiker, die versuchen, dem Gesetzgeber noch Spielräume zu lassen oder Übergangsfristen zu schaffen.“ (Interview 7)

Auch wurde davon berichtet, dass sich die Senate am Bundesverfassungsgericht selbst wohl als zwei unterschiedliche Einheiten und Spruchkörper wahrnehmen. „Und das äußert sich in dieser gefühlten Konkurrenz und der ein bisschen scherzhaften, aber auch ein bisschen ernst gemeinten Rangfolge, dass also die Richter meinen, natürlich gehören sie dem besseren Senat an, und der andere Senat ist eben nicht so gut. Und ich glaube immer, dass der Erste Senat sich selbst als toller wahrgenommen hat, als der Zweite. Und dass der Zweite Senat dann irgendwie Minderwertigkeitskomplexe hatte, weil er beweisen wollte, dass in Wirklichkeit er der bessere Senat ist.“ (Interview 2)

Fraglich ist, ob es – jenseits der vereinzelten Binnendivergenzen, der unterschiedlichen Vorprägungen der Richter (abhängig von ihrer vorangegangenen

152

7

Sozialisierungshypothese

Beschäftigung) und der informellen Abgrenzung der beiden Senate voneinander – eine feststellbare Neigung der Senate gibt, hinsichtlich der Bewertungen von Grundrechtsverletzungen systematisch voneinander abzuweichen. Und falls diese Abweichung existiert, ist es fraglich, ob diese auf der Sozialisation innerhalb des Senats oder auf der Vorprägung der Senatsmitglieder beruht.

7.2

Empirische Untersuchung

Um diese Vermutung zu untersuchen, konnten nur identische Verfahrensarten betrachtet werden. Verglichen werden konnten also die Verfahren der Verfassungsbeschwerde, der abstrakten und der konkreten Normenkontrolle, da nur hier, wenn auch die Zuordnung vom thematischen Schwerpunkt abhängig ist, beide Senate in identischen Verfahrensarten Entscheidungen treffen. Die empirische Überprüfung hat die in der Sozialisierungshypothese formulierte Vermutung nicht bestätigt (Tabelle 7.1). Tabelle 7.1 Deskriptive Auswertung

Anzahl

Anteil „stattgegeben“

Senat 1

1480

0,521

Senat 2

871

0,524

Quelle: Auswertung von Michael Grottke

Die Auswertung der absoluten Zahlen aus den relevanten Senatsentscheidungen der Jahre 1980 bis 2020 zeigt, dass die Wahrscheinlichkeit einer Stattgabe in den untersuchten Verfahrensarten beim Ersten Senat bei 52,1 Prozent und beim zweiten Senat bei 52,4 Prozent liegt. Der Unterschied von 0,3 Prozent deutet nicht auf einen signifikanten Unterschied in der Grundrechtsfreundlichkeit zwischen den beiden Senaten hin. Die empirische Untersuchung bestätigt also, dass es auf der Ebene der Stattgabe bei zur Entscheidung angenommenen Klagen keinen Unterschied in der Grundrechtsfreundlichkeit zwischen den Senaten gibt. Dieser Befund überrascht insofern nicht, als die eingangs beschriebene, ursprüngliche Trennung in „Grundrechtssenat“ und „Staatsgerichtshof“ seit nunmehr 50 Jahren durch organisatorische Änderungen aufgeweicht wird. Dass seit 50 Jahren die Amtszeit aller an das Bundesverfassungsgericht berufener Richten auf zwölf Jahre begrenzt ist, trägt ebenfalls dazu bei, dass Unterschiede, die vielleicht einmal bestanden haben, durch die modifizierte Zuständigkeitsverteilung und durch regelmäßige Neubesetzungen zu einer Angleichung der Grundrechtsfreundlichkeit geführt haben.

8

Agendahypothese

H4 – Agendahypothese: Aus der Menge der eingehenden Verfahrensanträge wählen die Richter – unterstützt von ihren Mitarbeitern – gezielt und strategisch innerhalb des vorgegebenen rechtlichen Rahmens Fälle zur Annahme zur Entscheidung in der Kammer oder im Senat aus, und beeinflussen so die inhaltliche Agenda des Gerichts und die thematische Ausrichtung der Rechtsprechung.

Aufgrund der stark ansteigenden Verfahrenszahlen am Bundesverfassungsgericht – insbesondere bei den Verfassungsbeschwerden und den Richtervorlagen – sah der Gesetzgeber Mitte der 1980er Jahre Handlungsbedarf, wandelte die bis dahin bestehenden Vorprüfungsausschüsse mit Änderungsgesetz vom 12. Dezember 1985 in Kammern um und gestaltete so das Annahmeverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht grundlegend neu. Mit dem Änderungsgesetz wurde die Möglichkeit geschaffen, dass auch die Kammern nach § 93b BVerfGG unter den Voraussetzungen des § 93c BVerfGG Verfassungsbeschwerden stattgeben können. Diese Neuregelung sollte zu einer deutlichen Entlastung der Senate führen und diesen zumindest in Teilen die Konzentration auf die Fälle mit grundsätzlicher verfassungsrechtlicher Bedeutung ermöglichen (Clemens/ Umbach et al. 2005, Vor §§ 93a Rn. 4). Seither beruft jeder Senat gemäß § 15a BVerfGG für jeweils ein Jahr drei Kammern, die mit je drei Richtern besetzt sind und ausschließlich in den Verfahren der Richtervorlage und der Verfassungsbeschwerde tätig werden. Ihre Aufgabe ist es, die Vielzahl der eingehenden Fälle, die keine grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Fragen aufwerfen, zeitnah abzuarbeiten, sei es, dass sie den Anträgen stattgeben, sei es, dass sie diese ablehnen, was jeweils nur einstimmig möglich ist (Lenz/ Hansl 2013, § 15a, Rn. 1). Mit dieser Zuständigkeit entscheiden die Kammern regelmäßig 99 Prozent der eingehenden Verfahren. In den Fällen, die sie entscheiden, sind sie „das Bundesverfassungsgericht“ (Schlaich/ Korioth 2001: 29). © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2024 M. Schlögel, Strategen in Roben, https://doi.org/10.1007/978-3-658-43868-5_8

153

154

8

Agendahypothese

Da die Zahl der eingehenden Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht auch in den Folgejahren kontinuierlich stieg, bestand der Reformdruck weiter. Er kam insbesondere in einer im Jahre 1996 vom Bundesminister der Justiz eingesetzten und vom früheren Präsidenten des Bundesverfassungsgericht Ernst Benda1 geleiteten Reformkommission zum Ausdruck, die im Jahre 1997 einen Bericht „Zur Entlastung des Bundesverfassungsgerichts“ (Bundesministerium der Justiz 1998) verfasste, wobei sie sich intensiv mit dem Annahmeverfahren am U.S. Supreme Court auseinandersetzte. Hintergrund der Einberufung und Beauftragung der Kommission war ein Schreiben der Richter am Bundesverfassungsgericht vom 17. Januar 1996, in dem diese sich an das Bundesministerium der Justiz gewandt, auf die Notwendigkeit von Maßnahmen zur Verminderung der Arbeitslast des Gerichts hingewiesen und die Einsetzung einer Kommission angeregt hatten, die entsprechende Lösungsvorschläge erarbeiten sollte (BMJ 1998: 13). Die Benda-Kommission setzte sich aus elf Personen zusammen, darunter waren zwei amtierende und zwei ehemalige Richter des Bundesverfassungsgerichts, zwei weitere Mitglieder stammten ebenfalls aus der Richterschaft, die übrigen fünf Mitglieder waren zum Zeitpunkt ihrer Mitarbeit in der Kommission in der Justizverwaltung tätig. In ihrem Abschlussbericht regte die Kommission mit einer Mehrheit von zehn zu einer Stimme an, das Verfahren des Bundesverfassungsgerichts nach dem Vorbild des Annahmeverfahrens am U.S. Supreme Court zu gestalten und ein freies Annahmeverfahren einzuführen: „Entscheidende Voraussetzung einer wirksamen Entlastung bei der Bearbeitung von Verfassungsbeschwerden ist nach Auffassung der Kommission, dass dem Bundesverfassungsgericht ein möglichst umfassender Entscheidungsspielraum bei der Annahme eingeräumt wird. […] Das Gericht muss in der Lage sein, im Grundrechtsbereich sein Entscheidungsprogramm nach Inhalt und Umfang selbst festzulegen. […] Mit der Eröffnung dieses Entscheidungsspielraums werden Aufgaben und Funktion des Bundesverfassungsgerichts im Verfassungsbeschwerdeverfahren teilweise neu bestimmt. Das Gericht wird von der nach geltendem Verständnis grundsätzlich bestehenden Pflicht zur Entscheidung jeder einzelnen Verfassungsbeschwerde entbunden.“ (BMJ 1998: 42–47)

Nach dem Willen der Kommission sollten Verfassungsbeschwerden also – abweichend vom geltenden Verfahrensrecht und unter Aufgabe des Kammersystems – im Rahmen eines dem Bundesverfassungsgericht zugebilligten Entscheidungsspielraums angenommen werden, wobei dem Gericht „die Kompetenz zur Bestimmung der verfassungsgerichtlichen Agenda im grundrechtlichen Bereich 1

Ernst Benda war in den Jahren 1968 und 1969 Bundesminister des Inneren und von 1971 bis 1983 Präsident des Bundesverfassungsgerichts.

8

Agendahypothese

155

ein[ge]räumt“ werden sollte (Umbach et al. 2005, Vor § 93aa ff, Rn. 10). Dieser Vorschlag der Benda-Kommission wurde vom Gesetzgeber jedoch nicht umgesetzt. Zur Begründung wurde ausgeführt, die angeregte Neuerung würde grundlegend in das Wesen der Verfassungsbeschwerde als „Jedermannsrecht“ eingreifen. Außerdem böte die Betroffenheit des Beschwerdeführers nur dann noch Anlass für eine Entscheidung in der Sache, wenn es ihm gelänge – jenseits seines persönlichen Interesses – durch eine entsprechende Darlegung den Nachweis zu führen, dass seine Klage die Möglichkeit gibt, eine verfassungsrechtliche Frage von grundlegender und über den Einzelfall hinausreichender Bedeutung zu klären (Umbach et al. 2005, Vor § 93a ff, Rn. 15). Gegen die Forderung nach einem freien Annahmeverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht bringt Marion Albers vor, dass dies zur Folge haben könnte, dass „Grundrechtsschutz als Gnadenakt“ (Albers 1997: 201) gewährt würde. Zum anderen würde „im Falle eines Auswahlermessens (…) die Selektivität der Entscheidungen des Gerichts im Hinblick auf die Möglichkeiten anderer Entscheidungen zu anderen Fällen viel stärker als bisher unter nicht-rechtlichen Kriterien – parteipolitische Aspekte, Rechts/ Links-Schema, Minderheitenbevorzugung oder Minderheitenvernachlässigung, Schichtenspezifität – beobachtet werden“ (Albers 1997: 201). Festzuhalten bleibt der nachdrücklich vorgetragene Wunsch des Bundesverfassungsgerichts nach größerer Verfahrensautonomie mit der damit verbundenen Möglichkeit, die eigene Agenda weitgehend eigenverantwortlich zu bestimmen. Dieser Wunsch veranlasst das Bundesverfassungsgericht bisweilen sogar dazu, seine Autonomiebestrebungen über die anhängigen Verfahren hinaus auszudehnen. Deutlich wurde dies etwa in einer Entscheidung zur Rechtsnatur des Staatsvertrags zur Vergabe von Studienplätzen, in der die Richter des Zweiten Senats im Jahre 1976 in einem obiter dictum postulierten, dass dem Bundesverfassungsgericht die Möglichkeit zum antragslosen Erlass einer einstweiligen Anordnung gegeben sein müsste, auch ohne dass ein Verfahren in der Hauptsache am Gericht anhängig sei (BVerfGE 42, 103 (120)). In dieselbe Richtung gehen die Äußerungen von Verfassungsrichtern, mit denen sie in Interviews oder Vorträgen mehr oder weniger verklausuliert signalisieren, dass sich das Bundesverfassungsgericht mit einer bestimmten Thematik befassen würde, wenn nur ein entsprechender Antrag eingereicht würde. Auch die Wissenschaftlichen Mitarbeiter bestätigen solche Wünsche der Verfassungsrichter: „Es ist aber sicherlich so gewesen, dass ein Richter dann bei bestimmten Dingen das Gefühl hatte, das ist jetzt verfassungsrechtlich so wichtig und so unentschieden, das

156

8

Agendahypothese

wäre schon gut, wenn man da eine Entscheidung hätte. Und das Gefühl kann man sicherlich bei dem einen oder anderen Gesetz einmal haben, dass es ganz gut wäre, wenn das mal nach Karlsruhe käme, weil das eben verfassungsrechtlich oder juristisch sehr schwierig ist.“ (Interview 9) „So viele neue Konstellationen kann es ja gar nicht geben. Was sicher richtig ist, dass ein Richter mal in einem Interview gesagt hat, er wartet eigentlich, dass eine Klage zu einer bestimmten Rechtsfrage mal vor das Bundesverfassungsgericht kommt.“ (Interview 2)

Letztendlich zielen solche Initiativen auf ein rechtspolitisches agenda setting des Bundesverfassungsgerichts, das auch der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler am 14. Mai 2010 bei der Amtseinführung des amtierenden Verfassungsgerichtspräsidenten Voßkuhle thematisierte: „Darum ist es eigentlich eine Anomalie demokratischer Politik, wenn das Gericht rechtspolitisches „Agenda-Setting“ betreibt, vielleicht betreiben muss, wie es das in nicht wenigen Entscheidungen schon getan hat.“2

Ebenfalls in diesem Sinne erwähnt Uwe Kranenpohl in seiner Analyse des Willensbildungsprozesses am Bundesverfassungsgericht die „beträchtliche Bandbreite, welche das gesellschaftliche Agenda-Setting durch das Bundesverfassungsgericht aufweisen kann“ (Kranenpohl 2010: 393). Er vermutet einen Einfluss des Gerichts auf die „Tagesordnung des gesellschaftlichen Diskurses“ allein schon durch das Signal, das die bloße Beschäftigung der Richter mit einem Thema (Kranenpohl 2010: 392) aussende. Aufgrund der abweichenden Fragestellung seiner Arbeit verfolgt Kranenpohl jedoch die Möglichkeiten und den Umfang des richterlichen agenda settings nicht weiter. Die Kernforderung der Benda-Kommission, das beschriebene obiter dictum und die vereinzelten Aufrufe der Richter in den Medien stützen die Annahme, dass es am Bundesverfassungsgericht ein nicht unerhebliches richterliches Interesse an der inhaltlichen Gestaltung der eigenen Agenda und der Schaffung entsprechender Freiräume gibt. Die Richter hätten offenbar gerne die Freiheit, sich zumindest in Teilen aus dem juristisch wenig interessanten „Massengeschäft“ zurückzuziehen, um die so freiwerdenden Kapazitäten den verfassungsrechtlich komplexen und herausfordernden Verfahren widmen zu können. Wo diese Freiräume bestehen und wie sie ausgestaltet sind, soll im Folgenden näher betrachtet werden. 2

http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Horst-Koehler/Reden/2010/05/ 20100514_Rede.html (Stand Dezember 2021).

8.1 Existenz und Beschaffenheit richterlicher Freiräume in Bezug …

8.1

157

Existenz und Beschaffenheit richterlicher Freiräume in Bezug auf die inhaltliche Agenda des Bundesverfassungsgerichts

Nach der Auffassung von Benda und Klein hat der Direktor beim Bundesverfassungsgericht3 indirekten Einfluss auf die rechtsprechende Tätigkeit des Gerichts, insofern als „er als Präsidialrat des Ersten Senats zusammen mit dem Präsidialrat des Zweiten Senats beim Eingang eines Antrags eine Vorentscheidung über die Senatszuständigkeiten trifft“ (Benda/ Klein 2001: 72)4 . „Die Fälle sind komplex. Regelmäßig umfasst ein vorgetragener Fall verschiedene Schwerpunkte und es ist regelmäßig so, dass man diese Fälle je nach Schwerpunkt dem Ersten oder Zweiten Senat geben könnte, aber man muss sich ja dann irgendwo entscheiden, wo sozusagen das Zentrum des Falles liegt. Und da gibt es auch durchaus Kontroversen zwischen den Senaten, ob ein Fall richtig zugeordnet wurde, und dann entsprechend auch Gespräche mit den Präsidialräten, dass sie zukünftig solche Fälle doch bitteschön in den einen oder bitteschön in den anderen Senat geben sollen, und da gibt es auch im Vorfeld Kontroversen.“ (Interview 3)

Nach Benda und Klein noch gewichtiger ist der mittelbare, aber „für die Praxis bedeutsame Einfluss auf die Rechtsprechung, den die Präsidialräte durch ihre Verantwortlichkeit für das Allgemeine Register ausüben“ (Benda/ Klein 2001: 72). In das Allgemeine Register werden Verfassungsbeschwerden eingetragen, deren Annahme nicht in Betracht kommt, da sie entweder offensichtlich unzulässig sind oder weil sie bei Zugrundelegung der bestehenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts keine Aussicht auf Erfolg haben. Die Entscheidung trifft der jeweils zuständige Präsidialrat, seit 2011 ist sie durch § 64 III GO BVerfG den Wissenschaftlichen Mitarbeitern übertragen. Erfolgt eine Eintragung in das Allgemeine Register, so wird der Antragsteller vom Präsidialrat über die offensichtlich fehlenden Erfolgsaussichten informiert und der eingegangene Antrag wird nicht an das zuständige Dezernat weitergeleitet (Lenz/ Hansel 2013, § 93a Rn. 20). Sofern der Antragsteller nicht interveniert, findet keine weitere Bearbeitung des Falles durch das Bundesverfassungsgericht statt. Allgemeine Register gibt es grundsätzlich bei jedem Gericht. Sie dienen dort jedoch nicht dazu, die Richter zu entlasten und Verfahren wegen absehbarer 3

Die Funktion und Stellung des Direktors beim Bundesverfassungsgericht entspricht der des Direktors beim Bundesrat und beim Deutschen Bundestag. Er hat auch die Funktion des Präsidialrats des Ersten Senats inne. 4 Ob und wenn ja inwieweit sich die Rechtsprechung von Erstem und Zweitem Senat unterscheiden, wird im Rahmen der Untersuchung der Sozialisierungshypothese erörtert.

158

8

Agendahypothese

Erfolglosigkeit auszusondern, vor allem nicht in dem Umfang, wie dies am Bundesverfassungsgericht geschieht. Das illustriert zum einen die Sonderstellung, die das Bundesverfassungsgericht einnimmt. Zum anderen wirft das Allgemeine Register auch die Frage nach der Wahrung von Art. 101 GG auf, dem verfassungsrechtlich und grundrechtsgleich verbrieften Recht auf einen gesetzlichen Richter. Zwar verfügen die Präsidialräte bzw. die Wissenschaftlichen Mitarbeiter, die das Allgemeine Register leiten, über die Befähigung zum Richteramt, doch Art. 101 GG wird nur durch Entscheidungen von Personen gewahrt, die auch tatsächlich gesetzlicher Richter sind. Im Übrigen bearbeitet der Präsidialrat die Verfahren vielfach nicht selbst. Diese Aufgabe nehmen – seit einiger Zeit entgegen der Geschäftsordnung des Bundesverfassungsgerichts – die am Bundesverfassungsgericht beschäftigten Beamten und Mitarbeiter des gehobenen Dienstes wahr5 (Lenz/ Hansel 2013, § 90 Rn. 15). Die Richter selbst haben im konkreten Fall erst nach einer Beschwerde gegen die Eintragung in das Allgemeine Register Einfluss auf den betreffenden Antrag. Diese erste Stufe der verfassungsrechtlichen Bewertung eingehender Verfahren ist aus Gründen der Entlastung der Richter deren Einsicht und Einfluss entzogen. Gelangt eine Verfassungsbeschwerde in die Kammer, haben die Richter die Möglichkeit, durch einstimmigen Beschluss die Annahme zur Entscheidung abzulehnen oder sie zur Entscheidung anzunehmen und ihr dann stattzugeben oder nicht, §§ 93b, 93c BVerfGG. Die Beschlussfassung in der Kammer kann nur einstimmig erfolgen. Können sich die Richter in der Kammer nicht einigen, gelangt das Verfahren zur Beschlussfassung in den zuständigen Senat. Mit Blick auf die erforderliche Einstimmigkeit kommt der Besetzung der Kammern eine nicht unerhebliche Bedeutung zu. Dazu äußerte sich ein Wissenschaftlicher Mitarbeiter: „Die meisten Entscheidungen aus dem Alltagsgeschäft des Gerichts sind Kammerentscheidungen. Wobei auch bei den Kammern darauf geachtet wird, dass es nicht drei Rechte oder drei Linke sind. Es sind ja nur drei. Also da geht es schon nicht mit dem Gleichgewicht. Aber die drei sind nun mal zwei, und haben einen Aufpasser dabei von der anderen Seite. Da achtet der Senat drauf. Es sind nie drei Linke oder drei Rechte. Sondern zwei Linke mit einem Rechten oder zwei Rechte mit einem Linken. (…) Selbst wenn eine der Kammerentscheidungen mal irgendwie politisch aufgeladen sein sollte, schafft es nie eine Seite, die andere zu überspielen, weil da ja 5

Selbst die juristische Kommentarliteratur merkt hier kritisch an: „Die Präsidialräte sind nicht unfehlbar. Die Behandlung der Verfassungsbeschwerden erfolgt im Allgemeinen Register formalisiert. Dabei können Besonderheiten des Einzelfalls übersehen werden“ (Lenz/ Hansel 2013, §90 Rn. 18). Seit 2011 besteht die Position der Präsidialräte nur mehr nominell, ist faktisch jedoch weitgehend abgeschafft. Der Untersuchungszeitraum dieser Arbeit umfasst jedoch die Jahre 1980 bis 2020, weshalb beide Varianten betrachtet werden.

8.1 Existenz und Beschaffenheit richterlicher Freiräume in Bezug …

159

schon einer sagen kann: mit mir nicht. Dann kommt die Kammerentscheidung nicht zustande, das Ganze kommt in den Senat, und dann können die Fetzen zwischen den beiden Lagern ordentlich fliegen.“ (Interview 5)

Eine besondere Verfahrensstellung nimmt dabei – auch in Senatsentscheidungen – der sogenannte Berichterstatter ein. Jeder Richter bekommt durch den Geschäftsverteilungsplan am Bundesverfassungsgericht einen eigenen Aufgabenund Zuständigkeitsbereich zugewiesen, der bestimmte Arten von Fällen umfasst und als (richterliches) Dezernat bezeichnet wird. Der Richter fungiert für alle Verfahren seines Dezernates als Berichterstatter. Das bedeutet, dass er dafür zuständig ist, den Verfahrensgang zu fördern, die zur Mitentscheidung berufenen Richter zu informieren und beispielsweise auch Stellungnahmen von äußerungsberechtigten Personen oder von Dritten einzuholen, § 84 i.V.m. § 77 und § 94 BVerfGG. Den größten inhaltlichen Einfluss hat der Berichterstatter allerdings dadurch, dass er ein Votum erstellt und seinen Kollegen – sei es in der Kammer oder im Senat – zuleitet. In diesem Votum wird der Hintergrund der Klage aufgearbeitet, komprimiert dargestellt und es wird eine rechtliche Einschätzung gegeben. Dann wird ein Vorschlag für die weitere Vorgehensweise und die zu treffende Entscheidung unterbreitet. Auch die rechtswissenschaftliche Literatur thematisiert die besondere Bedeutung des Berichterstatters: „Der große Einfluss des Berichterstatters folgt aber aus der geschäftsverteilungsplanmäßigen Zuweisung der einzelnen Grundrechte oder Sachgebiete an die Bundesverfassungsrichter. Wer für ein Sachgebiet zuständig ist, hat das verfassungsrechtliche Schicksal dieses Sachgebiets weitgehend in der Hand. Das hat sehr stark mit der Ausgestaltung des Kammersystems zu tun. Denn in der Praxis ist der Berichterstatter dem Einzelrichter schon sehr nahe. Zwar muss das von ihm zu verfassende schriftliche Votum die Billigung der beiden anderen der Kammer angehörenden Richter finden. Die hohen Fallzahlen lassen aber eine intensive Kontrolle des Berichterstatters durch die beiden anderen der Kammer angehörenden Richter nicht zu, jedenfalls nicht in jedem Fall.“ (Lenz/ Hansl 2013, § 16 Rn. 7)

Die Schilderungen der Wissenschaftlichen Mitarbeiter offenbarten, dass sich die Richter bisweilen bereits bei der Frage, ob ein Verfahren im Senat oder in der Kammer behandelt werden soll, strategisch entscheiden und sich durch den Rückzug in die Kammer auch gezielt der Mitwirkung des Senats entziehen: „Also ja, das gibt es, dass man Sachen, die auch politisch heikler sind, bewusst in die Kammer gibt, weil man weiß, dass da Richter sind, die das dann mitmachen, als dass man es in den Senat gibt und eine Bauchlandung macht.“ (Interview 10)

160

8

Agendahypothese

Anträge, denen schon bei Eingang grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung beigemessen wird, gelangen ohne den Umweg über die Kammer in den zuständigen Senat. Freiräume und Gestaltungsspielräume hat der Gesetzgeber aber – wie bereits erwähnt – den Verfassungsrichtern insbesondere mit Blick auf ihre enorme Arbeitsbelastung gewährt, und zwar vor allem im Zusammenhang mit der großen Zahl an Verfassungsbeschwerden. Im Mittelpunkt steht dabei § 93a BVerfGG, nach dessen Absatz 1 Verfassungsbeschwerden der Annahme bedürfen, deren Voraussetzungen in den Buchstaben a und b des Absatzes 2 einzeln geregelt sind. Danach ist eine Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung anzunehmen, soweit ihr grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung (sogenannte Grundsatzannahme) zukommt oder sie zur Durchsetzung bestimmter Rechte (sogenannte Durchsetzungsannahme) angezeigt ist und im Falle der Nichtannahme dem Beschwerdeführer ein besonders schwerer Nachteil entstehen würde. Die juristische Kommentarliteratur würdigt diese Norm kritisch. So wird in dem von den (ehemaligen) Wissenschaftlichen Mitarbeitern am Bundesverfassungsgericht verfassten Kommentar ausgeführt: „Es ist allerdings nicht zu verkennen, dass gerade die Regelung des § 93a II Buchstabe b BVerfGG weite Auslegungsspielräume eröffnet. Deren Nachteil liegt in erster Linie darin, dass sie auch dem fachkundig beratenen Bürger nicht durchgehend einleuchtend sind und daher aussichtslose Verfassungsbeschwerden nicht vermeiden helfen.“ (Clemens/ Umbach 2005, § 93a Rn. 4)

Auch in anderen Kommentaren wird die Normierung der Annahmegründe in § 93a BVerfGG als vage beschrieben: „Allerdings verwendet das Gesetz unbestimmte Rechtsbegriffe, die einer Auslegung bedürfen und in ihrer Anwendung einen Beurteilungsspielraum eröffnen. Daran hat sich auch dadurch nichts geändert, dass die Annahmevoraussetzungen nach Abs. 2 Buchst. a) und b) in der Senatsrechtsprechung näher definiert worden sind. (…) Die gesetzlichen Annahmevoraussetzungen belassen dem Bundesverfassungsgericht einen Spielraum bei der Auslegung und Anwendung der für die Annahmeentscheidung maßgebenden, ausfüllungsbedürftig formulierten Rechtsbegriffe.“ (Lenz/ Hansel, § 93a, Rn. 26)

Gegenstimmen verteidigen das Annahmeverfahren in seiner derzeitigen Form als Instrument zur Effektivierung des verfassungsgerichtlichen Rechtsschutzes: „Das Annahmeverfahren schränkt die subjektive Funktion der Verfassungsbeschwerde nicht nur nicht in unvertretbarer Weise ein, sondern es ist sogar geeignet,

8.1 Existenz und Beschaffenheit richterlicher Freiräume in Bezug …

161

auch diesen Zweck der Verfassungsbeschwerde zu befördern. Denn da die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Hinblick auf dessen Besetzung mit nur sechzehn Richtern notwendiger Weise ein knappes Gut sein muss, erscheint eine Zugangsbeschränkung gerade zur Effektivierung des Rechtsschutzes zugunsten der substanzhaltigen verfassungsrechtlichen Anliegen geboten.“ (Maatsch 2011: 34)

Einer der Interviewpartner gibt zu bedenken, zu welchen Folgen derartig weite und auslegungsbededürftige Rechtsbegriffe an einem Zwillingsgericht führen können: „Denn es ist eine so ähnliche Frage wie wann eine Verfassungsbeschwerde unzulässig ist. Das weiß auch keiner so genau, sondern das ist eben einfach so, dass man wahrscheinlich zwei identische Fälle einfach zu unterschiedlichen Zeitpunkten an unterschiedliche Richter der Dezernate gibt, und dann wird das völlig unterschiedlich gehandhabt.“ (Interview 1)

In seiner Studie zum Bundesverfassungsgericht streift Uwe Kranenpohl die Kriterien der Annahme zur Entscheidung im Rahmen seiner Untersuchung der Struktur des inneren Entscheidungsprozesses zwar nur, doch äußerten sich auch seine Interviewpartner kritisch zu den gesetzlichen Vorgaben in § 93a BVerfGG und deren vager Formulierung: „Ausnahmslos alle anderen Interviewpartner räumen dagegen ein, das für die Verfassungsbeschwerde eingerichtete Annahmeverfahren enthalte zumindest zum Teil auch Elemente von Willkürlichkeit: Weil wir ja inzwischen ein Annahmeverfahren haben, bei dem unter Umständen nicht mehr begründet werden muss, erleichtert es natürlich zu sagen: „Ich nehme im Rahmen des nach dem BVerfGG Zulässigen das an, was ich für entscheidungsbedürftig halte.“ Da können natürlich subjektive Elemente einfließen. (Interview Nr. 19)“ Kranenpohl (2010: 108)

Die befragten Mitarbeiter berichten ebenfalls einmütig von den erheblichen Spielräumen, die diese Norm bei der Beurteilung eingehender Verfahren bietet: „Man ist ja natürlich schon von den Fällen abhängig, die da eingehen. Und man liest sich den Fall durch und hat dann eben – wenn man ihn zum ersten Mal durchliest – das Gefühl, das hat grundsätzliche verfassungsgerichtliche Bedeutung oder nicht. Das ist so eine intuitive Sache.“ (Interview 10) „Was es natürlich gab war sozusagen ein sehr großzügiger Umgang mit den Annahmegründen.“ (Interview 8)

162

8

Agendahypothese

„Das entscheidet der Richter selbst ob angenommen wird oder nicht. Und er legt dann auch letztlich – weil es einen weiten Spielraum gibt – die Grenzen fest. Aber das ist auch von Fall zu Fall ein bisschen unterschiedlich. Natürlich gibt es Fälle, die der Richter gerne annehmen will, worüber er entscheiden will, und andere Fälle, wo er sagt: „Ach nein, da ist ja nichts dran.“ Oder: „Das können wir laufen lassen, das ist so minimal.“ Dass die Normen, die das Annahmeverfahren regeln, in jedem Fall vollständig gleichmäßig angewendet werden, das glaube ich nicht. Das geht schon mehr in Richtung freie Annahme: „Frei, aber ein bisschen gebunden“.“ (Interview 4)

Auch wurden planerische und gestalterische Aspekte in den Berichten der Wissenschaftlichen Mitarbeiter angeführt. Es scheint also neben dem Freiraum des einzelnen Richters über das Gremium zu entscheiden, mit dem er ein Verfahren bearbeiten möchte, auch einen Freiraum hinsichtlich der inhaltlichen Gestaltung der Agenda seines Dezernats zu geben: „Also ich hatte schon den Eindruck, dass der Richter bzw. die Senate ihre eigene Agenda ziemlich in der Hand haben und das auch selber planen. Zumindest in dem Dezernat, in dem ich war. Ich habe jetzt auch nicht in erster Linie politische Erwägungen da gesehen, sondern dass es tatsächlich um die Bedeutungen der Sachen ging, die im Dezernat liegen. Und wie so häufig, sind einfach mehr Sachen da, als seriös in einem Jahr beraten werden können. Es ist mehr so der Punkt, wer kriegt so seine großen Senatssachen in dem Jahr noch durch. Natürlich gibt es darüber hinaus immer noch Sachen von übergeordneter politischer Bedeutung, die dann in dem Jahr noch zu machen sind. Aber ich würde mal sagen so bei den normalen Senatsentscheidungen, die reinkommen, hatte ich den Eindruck, der Senat plant schon sehr eigenständig.“ (Interview 6)

Bei den Schilderungen der Mitarbeiter wird aber auch der enorme Druck deutlich, den die beständig steigenden Eingangszahlen auf das Gericht ausüben: „Also es kommen ja unglaublich viele Verfassungsbeschwerden, die eben bar jeden Gehaltes sind, und wo man auch kein Ermessen ausüben muss, sondern wo man schon sehr kreativ sein müsste, um überhaupt einen verfassungsrechtlichen Bezug zu finden, geschweige denn eine verfassungsrechtliche Bedeutung. Es gibt also diesen großen Wust von Dingen, die einfach weggeschoben werden, die erledigt werden, die auch ordentlich erledigt werden in der Regel. Das ist ein Teil, der dann vielleicht 90 Prozent ausmacht, wo die Frage dann klar ist. Also entweder, dass man sagt: Ja, das ist ein Thema, das ist ja ganz deutlich, dass das jetzt hier mal entschieden werden muss, oder dass man sagt, das ist jetzt einfach schon entschieden. Das hat deswegen keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung, weil es nicht neu ist.“ (Interview 2)

Diese Aussage macht auch deutlich, dass es im Wesentlichen die verbleibenden zehn Prozent der eingegangenen Fälle sein werden, bei denen es für die

8.1 Existenz und Beschaffenheit richterlicher Freiräume in Bezug …

163

Richter von Interesse sein wird, Freiräume auszuloten und strategisch zu nutzen, weil nur dieser kleine Teil der Fälle aus verfassungsrechtlicher Sicht hinreichend interessant ist und zu strategischem Vorgehen Anlass gibt. Wenn eine Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung angenommen worden ist, eröffnen sich weitere Gestaltungsräume für die Verfassungsrichter. Ungeachtet der Festlegung des Verfahrensgegenstandes durch den Antragsteller sind sie nicht an dessen Antrag gebunden. Zwar bedeutet das eine Abkehr von dem im Zivilrecht herrschenden Grundsatze „ne ultra petita“, der so genannten Dispositionsmaxime6 . Diese Durchbrechung findet aber eine gesetzgeberische Ermächtigung in den §§ 67 Satz 3, 78 S. 2 und 95 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG und gilt für den Fall, dass das Bundesverfassungsgericht den Antrag im Sinne einer Optimierung des Rechtsschutzes oder einer möglichst exakten Erfassung der Intention des Antragstellers entsprechend auslegt (Benda/ Klein 2001: 84). Dennoch offenbart sich auch hier eine Tendenz, den Richtern Einfluss auf den Verfahrensgegenstand einzuräumen, der über das bloße Äußern von Anregungen an die Verfahrensbeteiligten hinausgeht und die exponierte Stellung der Richter in Karlsruhe untermauert. In diesem Kontext ist auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtschreibreform vom 14. Juli 1998 zu sehen. Mit dieser Entscheidung zogen die Richter des Ersten Senates erhebliche Kritik auf sich, als sie – trotz der vorherigen Rücknahme der Verfassungsbeschwerde durch den Antragsteller, was eigentlich zwingend die Beendigung des Verfahrens bedeutet und somit einer Entscheidung in der Sache entgegengestanden hätte – ihr Urteil dennoch verkündeten. Der Hintergrund dieser Begebenheit war, dass den Klägern seinerzeit kurz vor der Urteilsverkündung zugetragen worden war, dass das Bundesverfassungsgericht ihre Klage abweisen würde. Um dies zu verhindern, hatten die Kläger am Tag vor der Urteilsverkündung ihre Klage zurückgenommen. Die Richter des Ersten Senats waren jedoch nicht willens, das bereits verfasste, jedoch bis zur Verkündung förmlich nicht ergangene Urteil nicht zu verkünden und begründeten dieses erstaunliche Vorgehen wie folgt: „Über die Verfassungsbeschwerde ist trotz der Rücknahme zu entscheiden. Denn die Rücknahme ist unwirksam. Jedenfalls dann, wenn die gegen eine Entscheidung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren erhobene Verfassungsbeschwerde wegen allgemeiner Bedeutung (§ 90 Abs. 2 S. 2 BVerfGG) zur Entscheidung angenommen, wenn deswegen über sie mündlich verhandelt worden ist und wenn die allgemeine Bedeutung auch in der Zeit bis zur Urteilsverkündung nicht entfallen ist, liegt die 6

Die Dispositionsmaxime besagt, dass grundsätzlich die Beteiligten eines Verfahrens über den Verfahrensgegenstand verfügen (Lenz/ Hansel 2013, § 17, Rn 26)

164

8

Agendahypothese

Entscheidung über den Fortgang des Verfahrens nicht mehr in der alleinigen Dispositionsbefugnis des Beschwerdeführers. In einem solchen Fall steht die Funktion der Verfassungsbeschwerde, das objektive Verfassungsrecht zu wahren, gegenüber dem Interesse des Beschwerdeführers an verfassungsgerichtlichem Individualrechtsschutz derart im Vordergrund, daß es geboten ist, im öffentlichen Interesse trotz der Rücknahme der Verfassungsbeschwerde zur Sache zu entscheiden und den Ausgang des Verfahrens nicht von Verfahrenshandlungen des Beschwerdeführers abhängig zu machen.“7

Lee Epstein bezeichnet das Phänomen, dass die Judikative von allen drei Gewalten am meisten an Impulse von außen gebunden ist – eben durch das Antragsprinzip und die Offizialmaxime – als „lack of agenda control“ (Epstein/ Walker 2010: 13). Nur in Verfahren der abstrakten Normenkontrolle wird dem Bundesverfassungsgericht von Teilen der Literatur zugestanden, im öffentlichen Interesse ein Verfahren fortzusetzen, das durch Antragsrücknahme beendet wurde (Schlaich/ Korioth 2001: 43). Diese Differenzierung scheint auch durchaus plausibel, da der Abschluss der Prüfung einer möglicherweise verfassungswidrigen Norm im Interesse der Allgemeinheit liegt. Die Verfassungsbeschwerde ist hingegen ein Instrument des Individualrechtsschutzes. Es bleibt also festzuhalten, dass den Richtern am Bundesverfassungsgericht zum einen durch gesetzliche Regelungen und zum anderen durch bewusste gesetzgeberische Abstinenz im Rahmen des Annahmeverfahrens Freiheiten hinsichtlich ihres Vorgehens und hinsichtlich der Auswahl der zur Entscheidung anzunehmenden Verfassungsbeschwerden zugebilligt werden. Darüber hinaus schaffen die Richter sich durch gezieltes Vorgehen derartige Freiheitsräume selbst.

8.2

Empirische Untersuchung: Art und Umfang der Nutzung bestehender Freiräume

Der juristische Terminus für die freie Annahme am U.S. Supreme Court lautet im Englischen discretion, was im Deutschen mit dem Begriff des freien Ermessens übersetzt werden kann. Der Rechtssoziologe Rüdiger Lautermann hat sich in seiner Monographie „Justiz – die stille Gewalt“ (2011) mit der Diskrepanz zwischen den in einem Gerichtsurteil offiziell gegebenen Gründen und den 7

Zitat aus der Urteilsbegründung in der vom Bundesverfassungsgericht zur Verkündung der Entscheidung veröffentlichten Presseerklärung, vgl. https://www.bundesverfassungsgericht. de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/1998/bvg98-079.html (Stand Dezember 2021).

8.2 Empirische Untersuchung: Art und Umfang der Nutzung …

165

„wirklichen“ Ursachen einer getroffenen Entscheidung auseinandergesetzt (Lautermann 2011: 9). Im Rahmen seiner Untersuchung befasste er sich intensiv mit dem Begriff des Ermessens und stützte seine Definition des Begriffs auf die drei Kernaspekte: Entscheidungssituation, formelles Programm und Auswahl unter Alternativen. Seine Definition lautet entsprechend: „Ermessen (discretion) sei definiert als diejenige Entscheidungssituation, bei welcher der Entscheider nach formellem Programm unter mehreren Alternativen wählen kann“.8 Lautermann beschreibt, wo in richterlichen Entscheidungen Ermessen vorkommt und unterscheidet vier Typen: Im ersten Typus enthält das formelle Programm selbst zwei oder mehrere Alternativen. Das entspräche im hier untersuchten Ausschnitt des Verfahrens der Frage, ob eine Beschwerde angenommen oder die Annahme abgelehnt und für den Fall der Annahme, ob sie im Senat oder in der Kammer behandelt werden soll. Der zweite Typus bietet Raum für Ermessen, weil das der Entscheidung zugrunde liegende Programm vage gefasst ist – also hier etwa das Kriterium der „grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedeutung“, wohingegen im dritten Typus das formelle Programm keine Lösung für das zu entscheidende Problem enthält. Hierunter fällt beispielsweise die vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Abstufung von Tenorierungen der getroffenen Entscheidungen, zu denen es keinerlei gesetzliche Vorgaben9 gibt (vgl. Rau 1996). Diese Variante wird weniger für das Annahmeverfahren als vielmehr für die Gesetzgeberhypothese von Bedeutung sein. Im vierten Typus schließlich besteht ein Normenkonflikt zwischen dem formellen und dem informellen Programm, wenn etwa der mit einer Entscheidung betraute Richter ein nach positivem Recht gefordertes Ergebnis zu umgehen versucht, weil es mit seinen Wertvorstellungen nicht in Einklang zu bringen ist. Als Analogie kämen hier Fälle in Betracht, bei denen sich die Richter strategisch verhalten, also beispielsweise eine interessante Klage nicht in den Senat einbringen, sondern in der Kammer belassen, weil sie befürchten, dass das Ergebnis der Senatsberatungen nicht ihren inhaltlichen Vorstellungen entsprechen könnte. Diese vier soziologischen Ermessenstypen sollen im Folgenden helfen, die Aussagen der Wissenschaftlichen Mitarbeiter einzuordnen und die Beschreibung von Umfang und Nutzung bestehender Freiräume zu konkretisieren.

8

Alle folgenden Ausführungen zum Begriff des Ermessens und den verschiedenen Ermessenstypen basieren auf Lautermann 2011, S. 129–166. Aus Gründen der Lesbarkeit soll auf wiederholtes Verweisen verzichtet werden. 9 So auch die Einschätzung von Schlaich/ Korioth (2001: 41): „Im besonderen Maße auf eigene, kreative Lückenfüllung ist das Gericht bei der Formulierung des Entscheidungsausspruchs und der Sicherung der Geltung seiner Entscheidungen angewiesen.“

166

8

Agendahypothese

Der Freiraum der Richter bei der Annahme und dessen Grenzen wurde eben skizziert. Fraglich ist nun, welche Nutzungsarten dieses Freiraumes es gibt. Hinsichtlich des Typus eins (das formelle Programm selbst enthält zwei oder mehrere Alternativen) berichtet ein Wissenschaftlicher Mitarbeiter davon, dass trotz des prozessrechtlichen Zwangs, dass auf jede am Bundesverfassungsgericht eingehende Klage eine Reaktion des Gerichts erfolgen soll, die Richter dann zumindest die Auswahl haben – wie oben bereits ausgeführt –, in welchem Gremium sie eine Klage entscheiden. Weiterhin haben sie die Freiheit, im Falle der Nichtannahme zu entscheiden, ob sie die Entscheidung begründen oder davon absehen, § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG. Darüber hinaus nehmen sie sich die Freiheit, sich gegebenenfalls im Rahmen von obiter dicta inhaltlich zu positionieren, auch wenn die zu entscheidende Klage die betreffende Thematik nur entfernt aufwirft: „Also, die Auswahl in Amerika läuft doch so, sich mit gewissen Themen nicht zu befassen. Und diese Möglichkeit gibt es hier wirklich nahezu nicht. Man muss sich mit jeder Sache befassen. Die Frage ist wie, auf welcher Ebene. Ein wichtiger Punkt ist, wie weitet man etwas aus. Das sind die so genannten orbiter dicta. Denkt ein Richter: „Da wollte ich schon immer einmal etwas zu sagen. Das tue ich hier, um das einmal klar zu stellen, oder tue ich es nicht.“ Und insofern kann man Themen reinziehen. Aber was man eben nicht kann ist, Themen, mit denen man sich nicht befassen will, völlig tot zu machen.“ (Interview 7)

Deutlich ausgeprägter scheint die Ausübung eines Ermessens des Typus zwei zu sein, also das Ermessen, das aufgrund eines vage gefassten Programms ausgeübt wird. Die Mitarbeiter waren im Rahmen der Gespräche sehr offen bei ihren Beschreibungen der Arbeitsabläufe und der Vorgehensweisen der Richter, denen sie zugeordnet waren. Auf die Frage nach dem Umgang mit dem normierten Erfordernis der „grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedeutung“ wurde berichtet: „Der Topos hat eine so breite methodische Auslegungsmöglichkeit, dass ihm praktisch keine Bedeutung zukommt. Wenn ich eine Sache hochziehen möchte, dann hat sie grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung. Wenn sie mich aus anderen Gründen nicht interessiert, werde ich mich nicht auf die fehlende grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung berufen, sondern werde sie aus anderen Gründen klein halten oder ablehnen. Also, es spielt zwar nach wie vor in den Voten als notwendiger Punkt eine Rolle, aber das wird halt so beantwortet, wie es der Bedeutung der Sache aus eigener Sicht zukommt.“ (Interview 3)

Diese weite Auslegungsmöglichkeit wird in Karlsruhe auch zur strategischen Gestaltung der eigenen verfassungsrechtlichen Agenda genutzt. Die Befragten

8.2 Empirische Untersuchung: Art und Umfang der Nutzung …

167

berichteten davon, dass eingehende Fälle teilweise gezielt daraufhin geprüft würden, ob sich ein Fall dazu eignet, einen bestimmten verfassungsrechtlichen Inhalt im Rahmen eines Urteils oder Beschlusses zu erörtern: „Ja, es gibt die Suche nach dem treffenden Fall. Die Suche nach dem Fall, der nicht nur die Rechtsfrage aufwirft, die man gerne beantworten möchte, sondern auch die nach einem Fall, der auch von den tatsächlichen Umständen her das Ganze darstellbar macht und als geeignet angesehen wird. Es dürfen keine Fallstricke drin sein, es dürfen keine sonstigen Implikationen drin sein, die den Fall irgendwie nach links oder rechts schieben könnten. Es muss ein passender Fall sein. Aber den sucht man umgekehrt auch.“ (Interview 3)

Teilweise wurden die Wissenschaftlichen Mitarbeiter von ihren Richtern auch konkret instruiert, die Verfahrenseingänge nach konkreten Fallkonstellationen zu durchsuchen, entweder um sich zu einer bestimmten Sache zu äußern oder um dies gerade zu vermeiden: „Woran ich mich erinnern kann, was ich auch nicht ganz fernliegend finde, ist, bei der Frage, welchen Fall suche ich mir aus für eine Grundsatzentscheidung, dass man sagt, da warten wir auf einen geeigneten Fall. Also gucken wir tatsächlich die Fälle durch und sagen, das ist jetzt ein Fall, von dem versprechen wir uns, da wird es jedem einleuchten, wenn wir in der Entscheidung das und das sagen.“ (Interview 6) „Es gab eine Konstellation, in der der Senat auch entschieden hatte, mit der er nicht so einverstanden war und gesagt hat – also, er hat nicht ausdrücklich gesagt, wir wollen das bei nächster Gelegenheit wieder drehen. So realistisch wird er auch gewesen sein, dass das kaum Durchsetzungschancen gehabt hätte, weil die Entscheidung, über die ich spreche noch nicht so alt war – aber es ging schon in die Richtung, soweit es möglich ist, sozusagen in der Abgrenzung von Senat und Kammer jetzt praktisch das eng auszulegen und nicht unbedingt noch zu vertiefen, was da entschieden worden ist. So sollten wir das handhaben.“ (Interview 8)

Das agenda setting läuft allerdings nicht nur in dem Sinne ab, dass ein Richter eine Idee hat, zu welcher verfassungsrechtlichen Frage er sich äußern möchte, sondern dass der Eingang einer interessanten Klage auch das besondere Interesse eines Richters weckt, sich zu dem darin aufgeworfenen Sachverhalt inhaltlich zu positionieren. Auch in diesem Fall wird strategisch abgewogen, welche Vorgehensweise den größten Nutzen für die Realisierung der eigenen inhaltlichen Agenda bietet: „Also einmal war tatsächlich aus Sicht des Richters kein geeigneter Fall da. Da hatte ich eine Sache, deren Rechtsfragen fand ich ganz interessant und fragte: „Was halten sie davon?“ Da sagte er: „Ja da wollte ich eigentlich auch gerne schon länger mal was

168

8

Agendahypothese

dazu sagen, aber ich halte den Fall für nicht geeignet aus folgenden Gründen. Ich hätte gerne einen Fall, wo dann wirklich jeder sagt, also das war jetzt wirklich so schlimm, da muss man eingreifen.“ Dass man einen Fall findet, der für sich genommen auch brisant genug ist, dass man sagt: Oh ja, in dem Fall hier musste wirklich etwas passieren. Und umgekehrt hatte ich das tatsächlich, dass dann auch in dem Sinne mal ein geeigneter Fall da war wo man dann eben gesagt hat: „Ja, den finde ich gut, den Sachverhalt können wir nehmen, um zu dem Thema einmal etwas zu sagen.“ (Interview 6) „Es spielt eine Rolle, mit welchem Fall man kommt. Und die Fälle müssen geeignet sein, und ein kluger Richter weiß das und stellt sich darauf ein und geht nicht mit etwas total Ungeeignetem in den Senat. Auch nicht mit etwas, wo man sagen kann, ja, da steckt irgendwie die Grundsatzfrage drin, aber man hat doch hier einen ganz einfachen Ausweg, um den ganzen Fall zu plätten und da muss man gar nicht ran. Denn dann kommen sofort die Berufsrichter. Und Sachen, wo sie nicht ran müssen, da gehen sie auch nicht ran.“ (Interview 1)

Die Suche nach dem „idealen Fall“ scheint in den Dezernaten ein zentrales Thema zu sein. Die Befragten wussten einiges über die Maßstäbe zu berichten, die hier angelegt werden: „Ich glaube, es ist total wichtig und wirklich bedeutsam den richtigen Fall zu haben. Vor allem wenn man Grundsatzfragen entscheiden will, und vor allem wenn man auch von Positionen runter will. Dafür kann ich auch zwei Beispiele geben. (…) Wenn jeder denkt: Das kann doch nicht richtig sein. Das ist ein guter Fall. So bekommt man das durch, indem man sozusagen von einem Rechtsinstitut den unsinnigsten Anwendungsfall zur Grundlage macht, um das ganze Rechtsinstitut zu töten.“ (Interview 1)

Auch bei der Erstellung des Senatsvotums geht der Berichterstatter bisweilen strategisch vor. So berichtete ein Mitarbeiter, dass er bei der Besprechung von ihm verfasster Votumsentwürfe von seinem Richter folgende Maßgaben erhalten hat: „Das kann zwischen dem Richter und seinem Mitarbeiter schon so sein, dass er sagt: Das Votum müssen wir anders machen. Entweder, dass er sagt, das ist so nicht richtig. Oder: Ich weiß schon, hier werden wir Streit mit den anderen bekommen. Das müssen sie gründlicher machen. Gibt es da nicht noch etwas? Das müssen wir noch reinnehmen, da ist Widerstand zu erwarten; schreiben Sie schon mal alles auf, was dagegenspricht.“ (Interview 5)

Im Einklang mit den Grundannahmen des strategic account sind die Karlsruher Richter offensichtlich in der Lage, unter mehreren Optionen strategisch

8.2 Empirische Untersuchung: Art und Umfang der Nutzung …

169

auszuwählen und sich für diejenige zu entscheiden, die ihnen den größtmöglichen Nutzen bei der Erreichung ihrer Ziele verspricht, auch wenn die gewählte Vorgehensweise auf den ersten Blick ihren Policy-Präferenzen zuwider läuft: „Wobei es da eben häufig darum geht, schon gedanklich vorwegzunehmen, wie die andern Richter den Fall sehen werden. Und da kann es sein, dass ein Fall, der eigentlich wie gemalt ist, um das eigene Thema im Senat entscheiden zu lassen, deswegen ungeeignet ist, weil eine zweite Fragestellung auftaucht in dem Verfahren, für die eben ein anderer Richter zuständig ist, oder wo er schon in früheren Entscheidungen signalisiert hat, dass er sich da festgelegt hat, sodass man insgesamt entscheiden muss, den Fall aufgrund dieser Besonderheit dann doch nicht für so aussichtsreich anzusehen.“ (Interview 3) „Wenn man einen geeigneten Fall mit einem Aufhänger hat, wählt man den tatsächlich. Oder umgekehrt: man sagt eben, das ist schon eigentlich so eine Rechtsfrage, zu der würden wir gerne was sagen, aber das sind halt alles Fälle, da können wir das jetzt nicht wirklich verkaufen. Und deshalb stellen wir die dann vielleicht erst einmal zurück.“ (Interview 6)

Obige Aussagen ließen sich auch im weiteren Sinne unter den Fall des Ermessenstypus vier subsumieren: Interessante Fälle, die nach dem bestehenden Programm auch im Senat verhandelt werden müssten, werden aus strategischen Erwägungen heraus bewusst als wenig anspruchsvoll dargestellt, um sie in der Kammer verhandeln zu können, wo ihnen ungleich geringere Bedeutung beigemessen und keine öffentliche Aufmerksamkeit zuteilwird: „Also, es ist sinnlos Dinge in den Senat zu tragen, von denen man sicher davon ausgehen kann, dass sie zu einem Ergebnis führen, das nicht den eigenen Vorstellungen entspricht. Und dann werden sie klein gemacht oder sozusagen kaputt geschrieben. Das geht, ja klar.“ (Interview 3)

Auch kann der Faktor Zeit in der richterlichen Planung und bei deren Vorgehen strategische Bedeutung erlangen, etwa dann, wenn problematische Fälle für eine gewisse Zeit zurückgestellt werden: „Ich hatte eher den Eindruck, dass wenn es auch mal zwischen den Richtern unterschiedliche Auffassungen gibt, die auch politisch motiviert sein mögen oder auch nicht, dass die Sache dann ganz gerne, auch wenn sie einmal votiert ist und man sich nicht einigen kann, dass sie dann ganz gerne noch mal hingelegt wird, und man mal wartet, was sich so tut in den nächsten Jahren. Ja, dann hat man sich nicht verständigt. Ich erinnere mich, an zwei Fälle, in den sich dann tatsächlich erst mal länger nichts mehr getan hat. Weil man dann den Eindruck hatte, man kommt hier überhaupt gar nicht zusammen. Es findet sich keine Lösung. Und das mag ja auch sein, dass es dann

170

8

Agendahypothese

erst einmal ein guter Punkt ist zu sagen, wir warten mal so ein bisschen, bis vielleicht die angespannte Stimmung so ein bisschen raus ist und rufen die Sache dann noch mal auf.“ (Interview 6)

Ein Interviewpartner berichtete von einem besonderen Vorgehen des Berichterstatters im Vorfeld einer Senatsentscheidung. Vorab und informell wurde mit den Kollegen im Senat abgeklärt, in welchem Umfang und mit welcher Intensität ein anhängiges Verfahren bearbeitet werden soll: „Beim Verfahren A war es so: Das Gesetz war von allem anderen abgesehen einfach auch handwerklich so schlecht gemacht, dass man es einfach aufgrund der handwerklichen Mängel in 10 Seiten hätte zerschießen können. Und da ist die Frage an den Senat gerichtet worden – wir haben das tatsächlich so gemacht – wir sind mit so einer Art Vorvotum in den Senat gegangen und haben gesagt: Das ist der Fall. Das Gesetz ist so und so. Wir glauben, da stellen sich diese und jene Fragen. Und jetzt ist die Frage: Machen wir das große Fass auf oder nicht? Der Senat hat gesagt: In Ordnung, das machen wir so. Wir sehen das ein. Wir machen jetzt hier nicht nur den Bestimmtheitsgrundsatz, sondern wir stellen uns wirklich den Grundsatzfragen, die hier dahinterstehen. So ist das gelaufen. So etwas gibt es.“ (Interview 1)

In den Interviews wurde eine weitere Annahme des strategic account bestätigt. Die Richter versuchen ihre eigene verfassungsrechtliche Policy durchzusetzen und können hierbei sowohl von politischen oder moralischen Vorstellungen geleitet sein, als auch von rechtlichen Wertungen und Prinzipien. Im Zentrum des strategic model steht der Richter als policy seeker, also nicht nur als technokratische Rechtsanwender. Dass sich diese Policy-Präferenz aus verschiedenartigen Überzeugungen speisen kann, entspricht den von Lee Epstein postulierten Grundannahmen und bestätigt sich in den Aussagen der Wissenschaftlichen Mitarbeiter: „Also ich glaube das Bewusstsein: „Wir machen hier Politik.“ Oder: „Wir gestalten nicht nur die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland, sondern auch die gesellschaftlichen Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland durch das, was wir für akzeptabel halten oder was wir ablehnen“, das ist bei den Richtern, die ich kenne, und auch bei den Wissenschaftlichen Mitarbeitern, die ich kenne, ausgeprägt.“ (Interview 2)

Der Umfang der Nutzung der Freiräume hängt maßgeblich von der Persönlichkeit und vom Anspruch des einzelnen Richters ab. „Es ist natürlich klar, dass Richter A, also im konkreten Fall ein von der SPD benannter Richter, auch sehr – wie soll man sagen – anpackend war. Bei ihm hatten statistisch gesehen Verfassungsbeschwerden viel mehr Erfolg als bei anderen Richtern. Also, er

8.2 Empirische Untersuchung: Art und Umfang der Nutzung …

171

war zuständig für Artikel Y. Da hat er halt das Rechtsgebiet in seiner Zeit – sagen wir mal – aufgemischt. Also es gab sehr viele stattgebende Verfassungsbeschwerden. Und da geht man natürlich an die eingehenden Fälle anders ran, als wenn man bei einem andern Richter ist. Also z.B. Richter B, der von der CDU benannt war, im gleichen Senat, bei dem waren eigentlich die Verfassungsbeschwerden in der Regel erfolglos. Ich kann mich an keine einzige Verfassungsbeschwerde bei ihm erinnern, die mal erfolgreich war, in der Zeit, in der ich da war.“ (Interview 10)

Offensichtlich haben manche Richter den Anspruch, möglichst viele Verfahren im Senat zu verhandeln, wohingegen andere die damit verbundene Arbeitslast und den Zeitaufwand scheuen. Mehrere Wissenschaftliche Mitarbeiter berichteten unabhängig voneinander von einem Richter, der während seiner Zeit in Karlsruhe im Kollegenkreis auf persönlicher Ebene nicht wohlgelitten und zudem fachlich von den Kollegen nicht anerkannt worden war. Von diesem Richter wurde erzählt, er hätte während der gesamten Zeit in Karlsruhe nicht ein einziges Verfahren in den Senat eingebracht. Es ist anzunehmen, dass dieses Verhalten einen Extremfall der restriktiven Nutzung der eröffneten Freiheitsräume darstellt. Aus der Perspektive des strategischen Modells ist die beschriebene Vorgehensweise plausibel. Um Aufwand und Konflikte zu vermeiden, bringt dieser Richter keine eigenen Verfahren in den Senat, da er Auseinandersetzungen und die Ablehnung seiner Rechtsauffassung befürchtet. Wie oben bereits angedeutet, besteht wohl in beiden Senaten eine Tendenz, Verfahren aufzuschieben. Um sich wegen der hohen Grundlast durch die jährlich eingehenden etwa 6.000 Kammerverfahren etwas Raum zu schaffen, nutzen die Richter offensichtlich auch ihre zeitlichen Spielräume, wann sie einen Vorgang bearbeiten. „Wann gehe ich an die Sachen ran. Es war ja eine ganze Reihe von älteren Sachen auch liegengeblieben und wie schnell dann was angegangen wird von den ganzen, ja vielleicht auch gleichermaßen wichtigen, das war natürlich schon die Entscheidung.“ (Interview 8)

Das Bundesverfassungsgericht sendet jährlich eine Liste von Verfahren an das Bundesministerium der Justiz, in der die Senatsverfahren aufgelistet werden, die die Richter im kommenden Jahr zu entscheiden anstreben. Da diese Liste regelmäßig im Dezember versandt wird, wird diese in Ministeriumskreisen auch als „Wunschliste“ bezeichnet, da manche Verfahren über mehrere Jahre hinweg in der Liste genannt werden, ohne dass deren Erledigung erfolgt:

172

8

Agendahypothese

„Ja, das sind einfach so Dinge, die sehr problematisch sind. Also wie diese Senatssache, die ich gemacht hatte. Da ging es um grundsätzliche Fragen der demokratischen Legitimation. Das war verfassungsrechtlich alles sehr, sehr schwierig und das wurde eigentlich auch von Jahr zu Jahr weitergeschoben. Weil das so eine schwierige Sache war. Aber nicht, weil man das jetzt nicht angehen wollte aus politischen Erwägungen.“ (Interview 10)

Dem Vorsitzenden des Senats kommt in solchen Fällen die Aufgabe zu, den Berichterstatter an die Förderung des Verfahrens zu erinnern, wobei er über einen Ermessensspielraum verfügt, ob er an bestimmte Verfahren erinnern möchte oder diese Möglichkeit nicht wahrnimmt: „Wenn jetzt der Senat insgesamt überlegt, dann hängt es auch von dem Vorsitzenden ab, inwieweit der Einfluss darauf nimmt, was der einzelne Richter in den Senat bringt. Jeder Richter hat Dinge in seiner Zuständigkeit, und der entscheidet, wann er eben ein Votum dem Senat vorlegt. Und wenn er das jetzt einfach nicht vorlegt, weil er vielleicht das scheut – aus welchen Gründen auch immer – kann das entweder der Vorsitzende des jeweiligen Senates dem Einzelnen überlassen, oder der Vorsitzende sagt: „Jetzt sollte die Sache aber auch mal kommen“.“ (Interview 7)

Generell findet wohl in den Senaten hinsichtlich der Vielzahl der komplexeren Senatssachen – abgesehen von den politisch brisanten oder dringenden Themen – eine Planung über größere Zeiträume hinweg statt, bei der der Faktor Arbeitsbelastung eine ähnlich große Rolle zu spielen scheint wie der Faktor politische Bedeutung: „Man plant jetzt auch nicht in allererster Linie nach in engerem Sinne politischen Kriterien, in dem Sinne: Was erwartet die Politik? Natürlich sind Sachen mit politischem Inhalt welche, die dann auch häufig gleichzeitig eine hohe verfassungsrechtliche Bedeutung haben. Aber so wie ich das von außen mitbekommen habe, der Hauptansatz der Terminplanung und der Frage, was machen wir wie in diesem Jahr, war jetzt nicht der Bezug direkt zur aktiven Politik.“ (Interview 6)

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass es im Annahmeverfahren der Verfassungsbeschwerde erhebliche Freiräume gibt, die von den Richtern – unterstützt von den im Dezernat tätigen Wissenschaftlichen Mitarbeitern – unterschiedlich intensiv und zu unterschiedlichen Zwecken strategisch nutzen, sei es zum aktiven Agieren im Senat oder für einen stillen Rückzug in die Kammer. Und auch wenn den Richtern am Bundesverfassungsgericht – entgegen des von ihnen geäußerten Wunsches nach einem freien Annahmeverfahren – ein solches nicht zugestanden wird, so nehmen sie dennoch aus verschiedenen strategischen Erwägungen die zeitliche und inhaltliche Gestaltung ihrer Agenda selbst in die Hand.

9

Mitarbeiterhypothese

H5 – Mitarbeiterhypothese: Die Wissenschaftlichen Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht können im Rahmen der ihnen übertragenen Aufgaben auf zwei Arten inhaltlichen Einfluss auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nehmen: In Verfahren vor dem Senat durch ihre Mitarbeit an den Senatsvoten und in den Verfahren in den Kammern durch ihre Mitarbeit bei der Erstellung der Kammervoten.

Als das Bundesverfassungsgericht im Jahre 1951 seine Spruchtätigkeit aufnahm, war für die Verfassungsrichter keine Unterstützung durch Wissenschaftliche Mitarbeiter vorgesehen. Doch der sich bald einstellende „Siegeszug“ der Verfassungsbeschwerde machte eine juristische Verstärkung der Dezernate unabdingbar, um die Arbeitsfähigkeit des Gerichts zu gewährleisten. Die Untersuchung der Agendahypothese hat gezeigt, dass die Wissenschaftlichen Mitarbeiter Anteil an der Fallauswahl und damit auch an der inhaltlichen Agenda des Gerichts haben. Nun soll im Rahmen der Mitarbeiterhypothese ihr möglicher inhaltlicher Einfluss auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts untersucht werden. Bislang wurde den wissenschaftlichen Mitarbeitern seitens der Forschung wenig Aufmerksamkeit zuteil (Schlaich/ Korioth 2010: 29). Sie bezeichnen sich selbst – mit einer gewissen Ironie – als Dritten Senat, doch liegen Art und Umfang ihrer Tätigkeit für Außenstehende im Dunkeln. Zwar wird ihre Rolle in einigen Darstellungen des Gerichts problematisiert (Kranenpohl 2010: 39), aber es fehlt sowohl an rechts- als auch an sozialwissenschaftlichen Untersuchungen darüber, welche Aufgaben und Funktionen sie genau im Karlsruher Gefüge wahrnehmen. Otwin Massing beschreibt den unzureichend erforschten Dritten Senat als „black box“: „However, one problem, which I would call the „black box“ of the constitutional judicature, lies precisely in the lack of knowledge of the role of legal assistans whose © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2024 M. Schlögel, Strategen in Roben, https://doi.org/10.1007/978-3-658-43868-5_9

173

174

9

Mitarbeiterhypothese

contributions in judicial decision making have neither been decrypted through participant observation nor analyzed from an interdisciplinary point of view in any comprehensive fashion (Massing 2002: 209).“

Die schon bei der Untersuchung der Agendahypothese eingenommene Perspektive, Freiräume der Richter zu erkennen und zu untersuchen, soll beibehalten werden. Die hier angestellte Überlegung lautet, dass durch eine möglicherweise umfangreiche Aufgabenübertragung an die Wissenschaftlichen Mitarbeiter, die Gewährung von Eigenständigkeit bei der Aufgabenerfüllung und eine möglicherweise reduzierte Kontrolldichte, die aus dem Gestaltungsspielraum der Richter, die Abläufe im Dezernat selbst zu strukturieren und zu organisieren resultiert, wiederum ein Freiraum für die Mitarbeiter entsteht. Wie dieser Freiraum beschaffen ist und auf welche Weise er von den Mitgliedern des Dritten Senats genutzt wird, soll im Folgenden untersucht werden. Aufgrund der stetig steigenden Verfahrenszahlen kommt den Wissenschaftlichen Mitarbeitern bei der Bewältigung der eingehenden Verfahren eine bedeutsame Rolle zu. Im Bericht der Benda-Kommission war klar zu erkennen, dass sich die Verfassungsrichter – würde man ihnen die Wahl lassen – vorrangig auf wenige, aber verfassungsrechtlich anspruchsvolle Verfahren beschränken würden. Fraglich ist, ob diese Haltung Niederschlag in den Aufgaben findet, die die Richter ihren Wissenschaftlichen Mitarbeitern übertragen, und welche Einflussmöglichkeiten sich den Wissenschaftlichen Mitarbeitern dadurch auf die Rechtsprechung eröffnet. So wäre es möglich, dass die Richter in ihrem Bestreben, sich auf die „großen Fälle“ zu konzentrieren, den Wissenschaftlichen Mitarbeitern Freiräume bei der Bearbeitung der Masse der zu bearbeitenden Verfahren geben, die diese eventuell nutzen, um – wenn auch in überschaubarem Umfang – eigene inhaltliche Vorstellungen zu realisieren. Zwar kann sich das Gericht nicht der Pflicht zur Prüfung jedes einzelnen eingehenden Verfahrens entledigen, doch bieten die Wissenschaftlichen Mitarbeiter und die Möglichkeit des Kammerverfahrens offensichtlich zumindest in einem gewissen Maß Freiräume, mit welcher Intensität sich die Verfassungsrichter mit einem eingegangenen Antrag befassen. Diese Optionen könnten die Richter strategisch durch eine entsprechende Aufgabenverteilung nutzen, um die eigene Arbeitszeit auf die Tätigkeiten und Verfahren zu verwenden, an denen sie selbst das größte Interesse haben. Von der Untersuchung eines möglichen Einflusses der Mitarbeiter auf die Entscheidungen des Plenums soll wegen der geringen praktischen Relevanz abgesehen werden.

9.1 Existenz und Beschaffenheit verfassungsrichterlicher …

175

9.1

Existenz und Beschaffenheit verfassungsrichterlicher Freiräume in Bezug auf die Wissenschaftlichen Mitarbeiter

9.1.1

Die Wissenschaftlichen Mitarbeiter und die gesetzliche Normierung ihrer Tätigkeit

Eine gesetzliche Grundlage für die Tätigkeit der Wissenschaftlichen Mitarbeiter gibt es nicht. Die einzige Regelung in Bezug auf sie enthält die satzungsrechtliche Vorgabe des § 13 GO-BVerfG: (1) Die wissenschaftlichen Mitarbeiter unterstützen die Richter, denen sie zugewiesen sind, bei deren dienstlicher Tätigkeit. Sie sind dabei an die Weisungen des Richters gebunden. (2) Jeder Richter ist berechtigt, seinen wissenschaftlichen Mitarbeiter selbst auszuwählen. Gegen seinen Willen kann ihm ein Mitarbeiter nicht zugewiesen werden. (3) Die dienstliche Beurteilung des wissenschaftlichen Mitarbeiters obliegt dem Richter. Der Präsident kann eine eigene Beurteilung beifügen.

Die Richter sind also frei in ihrer Auswahl, wer sie bei ihrer Tätigkeit in dem ihnen übertragenen Dezernat als Wissenschaftlicher Mitarbeiter unterstützen soll. Derzeit hat jeder Richter vier Mitarbeiter. Ohne ihr Einverständnis kann den Verfassungsrichtern nach § 13 II GO-BVerfG kein Mitarbeiter zugewiesen werden. Es kommt allerdings durchaus vor, dass ein neu an das Bundesverfassungsgericht berufener Richter die Mitarbeiter seines Amtsvorgängers übernimmt, da diese mit den Abläufen im Dezernat vertraut sind. Die Entscheidung über die Abordnung der Wissenschaftlichen Mitarbeiter an das BVerfG – also über den Versetzungsvorgang als solchen – wird vom Präsidenten des Gerichts getroffen (Benda/ Klein 2001: 71). In der Regel beträgt die Dauer der Abordnung drei Jahre. Hätte der Präsident Bedenken gegen einen abzuordnenden künftigen Mitarbeiter, könnte er seine Zustimmung verweigern. Benda und Klein beschreiben die Anforderungen an die Wissenschaftlichen Mitarbeiter wie folgt: „In den meisten Fällen handelt es sich um Richter aus allen Zweigen der Gerichtsbarkeit oder um Beamte aus Bund und Ländern. Auch Habilitanden und Privatdozenten werden als Wissenschaftliche Mitarbeiter gewonnen. Bei der Auswahl seiner Wissenschaftlichen Mitarbeiter, die regelmäßig von den Landesjustizverwaltungen, den Ministerien oder durch Universitätsprofessoren vorgeschlagen werden, stellt

176

9

Mitarbeiterhypothese

das BVerfG höchste Ansprüche an deren fachliche und allgemeine Qualifikation.“ (Benda/ Klein 2001: 71)

Für die Rekrutierung ihrer Mitarbeiter sind die Richter selbst zuständig. In den Befragungen wurden von den ehemaligen Wissenschaftlichen Mitarbeitern Kriterien für die richterliche Auswahl genannt. Offensichtlich achten die Richter darauf, dass künftige Mitarbeiter hinsichtlich ihrer politischen Grundeinstellung über eine inhaltliche Nähe zu den eigenen Vorstellungen verfügen. „Die Richter kommen ja aus politischen Richtungen, links oder rechts, und es gibt Zeiten am Bundesverfassungsgericht, da spiegelt sich das im Dritten Senat wider. Also es muss Zeiten gegeben haben, da gab es unterschiedliche Kaffeerunden der Linken und der Rechten. Das habe ich selbst nicht so erlebt, aber ich weiß es, dass das teilweise so war und dass auch bekannt war: „Das sind die WiMis von dem konservativen Richter“, und da wurde auch unter den Mitarbeitern gefrotzelt. Und darum glaube ich, auch die Rekrutierung – also woher holt man seine Leute – ist ein wichtiger Punkt. Prägt dann der Mitarbeiter stark die Arbeit des Richters? Das tut er einfach durch die Vorbereitung. Aber umgekehrt muss man eben auch sagen, ein Richter sucht sich schon gleich Leute, die eben seiner Richtung nahe sind. Der rekrutiert ja nicht die Leute, von denen er denkt: „Die sind ja diametral zu meinen Vorstellungen“.“ (Interview 7)

9.1.2

Der Richter und sein Dezernat

Jedem Verfassungsrichter ist die Organisation seines Dezernats selbst überlassen. Diese Autonomie bezieht sich auch auf den Arbeitseinsatz der Wissenschaftlichen Mitarbeiter im Dezernat. Hier offenbart sich der zweite große Freiraum, den die die Wissenschaftlichen Mitarbeiter betreffende Geschäftsordnungsnorm den Verfassungsrichtern gewährt. Der Richter kann seine Mitarbeiter „nach Arbeitsanfall tätig werden lassen, nach Beschwerdeführernamen oder nach Sachgebiet“ (Zuck 1996: 1656), um nur einige der bestehenden Möglichkeiten zu nennen. Im Mitarbeiterkommentar zum Bundesverfassungsgerichtsgesetz (Umbach/ Clemens/ Dollinger 2005) werden die Art und Weise der Aufgabenübertragung von Verfassungsrichtern auf ihre Mitarbeiter als schwer generalisierbar umschrieben: „Art und Intensität der Zusammenarbeit zwischen Verfassungsrichter und Mitarbeiter [hängen (M.S.)] entscheidend von beider Persönlichkeit, dem jeweiligen Arbeitsstil und den individuellen Kenntnissen in den einschlägigen juristischen Spezialgebieten ab, um nur einige Kriterien zu erwähnen.“ (Gehle 2005, Vor §§ 93a ff., Rn. 22)

9.1 Existenz und Beschaffenheit verfassungsrichterlicher …

177

Auf die Debatte darüber, ob die Verfassungsrichter den Wissenschaftlichen Mitarbeitern zu viel Autonomie gewähren, wird im Mitarbeiterkommentar kurz eingegangen, allerdings wird dort das Bestehen großer Freiräume verneint: „Die Kritik geht hauptsächlich dahin, die Verfassungsrichter müssten in der Masse der Eingänge den Mitarbeitern zu viel Raum lassen; deren Voten nähmen daher die Ergebnisse der den Richtern obliegenden Fallprüfung in zu großem Umfang vorweg. Das entspricht nicht der praktischen Erfahrung. Von den Kritikern wird verkannt, dass einem recht hohen Anteil der Verfassungsbeschwerden die Aussichtslosigkeit ohnehin auf die Stirn geschrieben steht.“ (Gehle 2005, Vor §§ 93a ff., Rn. 24)

Fraglich ist, wie diese Negierung eines unangemessenen Einflusses zu bewerten ist. Fraglich ist aber auch, wie die Mitarbeiter ihren Beitrag wahrnehmen und bewerten, denn das wird Rückschlüsse auf deren Selbstverständnis und damit auf deren Arbeitsweise zulassen. Einer der Interviewpartner äußerte sich hierzu wie folgt: „Es sind immer 16 Arbeitsplätze sozusagen und sehr unterschiedliche Tätigkeiten auch. Ein Stück weit glaube ich, es können dann sogar auch 64 unterschiedliche Tätigkeiten werden, weil eben doch auch die persönliche Sache da eine Rolle spielt.“ (Interview 1)

Marion Albers stellt in Frage, ob die Wissenschaftlichen Mitarbeiter immer und ausschließlich eine Hilfe bei der Bearbeitung der großen Zahl eingehender Anträge am Bundesverfassungsgericht sind. Sie sieht das Wirken der Wissenschaftlichen Mitarbeiter und die Neubesetzung der Stellen im Dreijahrestakt unter dem Gesichtspunkt der Effizienz kritisch: „Bei den Wissenschaftlichen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen behindert gerade die hohe Fluktuation ein Mehr an Effektivität. Kommt jemand neu, gibt es Einfindungs-, Vertrauensbildungs- und Profilierungsgründe, jeden Fall mit besonderer Gründlichkeit zu bearbeiten. Dies wird jedoch zur Gewohnheit.“ (Albers 1997: 202)

Bei Verfassungsrichtern stößt die Tätigkeit der Wissenschaftlichen Mitarbeiter aufgrund anderer Überlegungen zuweilen auf Bedenken. Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Ernst Benda traf die Aussage, dass in der Realität die meisten von einem Berichterstatter vorgelegten Voten – insbesondere bei Kammerentscheidungen – aus der Feder der Wissenschaftlichen Mitarbeiter stammen, die diese inhaltlich aufarbeiten und vorbereiten und so möglicherweise die Verfahren unangemessen beeinflussen können (Benda/ Klein 2001: 73). Ob die inhaltlichen Freiräume in der Tat so beschränkt sind, wie vom Verfasser des

178

9

Mitarbeiterhypothese

Mitarbeiterkommentars beschrieben, oder so weit, dass Bedenken – wie die von Benda vorgetragenen – begründet sind, soll im Folgenden anhand der Aussagen der befragten ehemaligen Wissenschaftlichen Mitarbeiter untersucht werden.

9.2

Empirische Untersuchung: Art und Umfang der Nutzung bestehender Freiräume

Der Tätigkeitsbereich der Wissenschaftlichen Mitarbeiter in Karlsruhe wird im Mitarbeiterkommentar wie folgt umrissen: „Die Mitarbeiter bereiten in der Regel die Voten für die Kammern vor, so dass die Geschäftslage und Belastbarkeit des Bundesverfassungsgerichts sicherlich zu einem gewissen Teil auch von der Effizienz der Mitarbeit abhängt. Gefordert wird zwar, wie schon in der Tätigkeitsbezeichnung zum Ausdruck kommt, wissenschaftliche Arbeitsweise, das heißt vertiefte Aufarbeitung der verfassungsrechtlichen, häufig aber auch der einfachrechtlichen Zusammenhänge. Daneben sind die praktischen Erfahrungen der Mitarbeiter in ihren jeweiligen Fachzweigen gefragt. Gerade auf die Spezialkenntnisse im „einfachen Recht“ – das bekanntlich oft gerade nicht sehr einfach ist – muss der Verfassungsrichter notwendigerweise regelmäßig zurückgreifen.“ (Gehle 2005, Vor §§ 93a ff., Rn. 23)

Die befragten Mitarbeiter berichteten, dass es insbesondere zu Beginn der Tätigkeit eines neuen Verfassungsrichters zu einer besonderen Stellung des Wissenschaftlichen Mitarbeiters und zu einem verstärkten Rückgriff auf dessen am Gericht erworbene Expertise kommt. Zum einen, weil zu Beginn der Amtszeit eines Richters diesem die organisatorischen Abläufe und Verfahrensweisen am Bundesverfassungsgericht noch nicht vertraut sind. Zum anderen, weil ein Richter, der neu an das Bundesverfassungsgericht berufen wird, nach Möglichkeit nicht in einem Themengebiet eingesetzt wird, mit dem er sich bereits in seiner vorangegangenen beruflichen Tätigkeit intensiv befasst hat. Das führt dazu, dass er in der Einarbeitungsphase häufiger auf die materiell-rechtlichen Kenntnisse seiner Wissenschaftlichen Mitarbeiter zurückgreifen muss. In dieser Zeit kann der inhaltliche Einfluss der Wissenschaftlichen Mitarbeiter auf die Entscheidungen, die der Verfassungsrichter als Berichterstatter zu verantworten hat, erheblich sein. „Man kann nicht sagen, dass es ein Prinzip ist, aber in der Regel ist es so, dass die Richter nicht in dem Bereich eingesetzt werden, in dem sie vorher tätig waren. Mein Richter war vorher Richter am Bundesfinanzhof und hat sich mit Strafrecht so gut ausgekannt, wie sich ein Jurist mit Strafrecht auskennt, der in den letzten dreißig

9.2 Empirische Untersuchung: Art und Umfang …

179

Berufsjahren damit nichts zu tun hatte. Und er hat da auch – also er war ein ausgesprochen netter Richter – er hat da auch nicht den Ehrgeiz gehabt, uns aufgrund seiner übergeordneten Stellung zu beweisen, dass er von allem mehr versteht. Sondern er hat gerade in diesem Bereich praktische Wertungen nach seinem Eindruck der Akte abgegeben, und wenn man gesagt hatte: „Ja, aber das ist so nicht, glauben sie mir, ich war lange Staatsanwalt und in Wirklichkeit verhält es sich in den Fällen immer so und so“, dann hat er das – ich glaube in wirklich jedem Fall – gemacht.“ (Interview 2) „Also ich glaube, dass man am Anfang mehr machen kann, mehr bewirken kann, mehr Einfluss nehmen kann als bei jemanden, der einfach mehr Routine hat, das glaube ich auch. Aber auch da denke ich, es hängt sehr stark von der Art der Verfahren ab.“ (Interview 1)

In den wenigen Abhandlungen in der rechtswissenschaftlichen Literatur, die sich mit der Tätigkeit der Wissenschaftlichen Mitarbeiter befassen, wird auch die Frage aufgeworfen, inwieweit dem in Art. 101 GG grundrechtsgleich normierten Recht auf einen gesetzlichen Richter im Rahmen der Bearbeitung der Masse der Verfahrenseingänge in Karlsruhe noch Genüge getan wird. Zudem wird diskutiert, ob sich verfassungsrechtliche Bedenken gegen eine übermäßige Einbindung der Wissenschaftlichen Mitarbeiter aus dem Rechtsprechungsmonopol der Richter nach Art. 92 GG und dem Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit nach Art. 97 Abs. 1 GG ergeben könnten (Schlaich/ Korioth 2010: 29). Der Art. 92 GG vertraut die rechtsprechende Gewalt den Richtern an, weshalb § 13 Abs. 1 GOBVerfG den Wissenschaftlichen Mitarbeitern explizit nur die Unterstützung der richterlichen Tätigkeit gestattet (Zuck 1996: 1656). An der Praxis der Einbindung der Wissenschaftlichen Mitarbeiter gibt es laut Rüdiger Zuck eine „seit Jahrzehnten nicht verstummende Kritik“ (Zuck 1996: 1656). Der ehemalige Richter am Bundesverfassungsgericht Ernst-Wolfgang Böckenförde äußerte sich bereits 1996 nach dem Ende seiner Amtszeit kritisch zur Überlastung des Gerichts und indirekt auch zur Einbindung der Wissenschaftlichen Mitarbeiter: „Es fallen, rechnet man großzügig etwa 30 Senatssachen ab, jedenfalls über 3000 Kammersachen im Jahr an. Jeder der acht Richter ist im Schnitt mit etwa 380 Verfahren als Berichterstatter befasst, und da an jeder Kammerentscheidung drei Richter mitwirken müssen, hat er im Jahr um 1140 Kammerfälle zu bearbeiten und mitzuentscheiden. (…) Auch für Kammersachen gibt es, sollen Bearbeitung und Entscheidung verantwortbar bleiben, eine absolute Obergrenze. Nur wenn man die volle Vorbereitung durch die Mitarbeiter einbezieht, lässt sie sich auf zehn bis zwölf Fälle bemessen, von denen dann drei bis vier eigene Berichterstattung sind. Andernfalls müsste man zum teilweisen Blindunterschreiben Zuflucht nehmen – nach meiner Auffassung eine nicht unerhebliche Verletzung richterlicher Amtspflicht.“ (Böckenförde 1996: 282)

180

9

Mitarbeiterhypothese

Hier muss nun berücksichtigt werden, dass sich seit 1996 die Zahl der Eingänge in etwa verdoppelt hat, die Zahl der Richter aber konstant geblieben und dafür die Zahl der Mitarbeiter gestiegen ist. Das von Böckenförde angesprochene Problem dürfte daher an Brisanz gewonnen haben. Die befragten Mitarbeiter berichten freimütig von der Fallbearbeitung und den bestehenden Spielräumen: „Handlungsspielraum? Ja klar, das ist unbestreitbar. Dass es inhaltliche Einflussnahme gibt, auch da muss man wieder differenzieren zwischen Entscheidungsergebnis und der Entscheidungsbegründung. Der größte Anteil der überhaupt behandelten Sachen des Bundesverfassungsgerichts findet unter maßgeblicher inhaltlicher Beeinflussung des Mitarbeiters statt. Das sind allerdings eben auch in vielen Fällen Nichtannahmen, die von den Mitarbeitern mehr oder weniger selbstständig behandelt werden.“ (Interview 3) „Ich glaube jetzt nicht, dass man eine total grundsätzliche Sache total krass klein machen kann. Aber ich glaube schon, dass es Verfahren gibt, mit denen man unterschiedlich umgehen kann, und die eben auch Probleme aufwerfen in der Bearbeitungsweise oder in dem, was die Relevanz des Verfahrens angeht.“ (Interview 1) „Eine inhaltliche Einflussnahme unredlicher Art dergestalt, dass man z.B. einfach die Sache frisiert oder so wäre wahrscheinlich möglich.“ (Interview 1)

Diese Aussage deckt sich weitestgehend mit obigem Zitat aus dem Mitarbeiterkommentar, dass bei der Mehrzahl der eingehenden Verfahren die Aussichtslosigkeit evident sei. Bestehen bleibt die Kritik, dass die Feststellung der Aussichtslosigkeit vom gesetzlichen Richter und nicht – wie in der Praxis angesichts der Verfahrensflut häufig – von dessen Wissenschaftlichen Mitarbeitern zu treffen ist. Die Frage, ob aufgrund des hohen Fallaufkommens und der getroffenen Arbeitsteilung – zumindest in Teilen – ein Entzug des gesetzlichen Richters stattfindet, kann allerdings dahingestellt bleiben, weil hier nur der Frage nachgegangen wird, ob und in welchem Ausmaß Wissenschaftliche Mitarbeiter Einfluss auf konkrete Entscheidungsinhalte nehmen können. Vor diesem Hintergrund wurde in dem für die Interviews verwendeten Gesprächsleitfaden gefragt, ob die Richter mit ihrem Wissenschaftlichen Mitarbeiter bei dessen Tätigkeitsaufnahme am Bundesverfassungsgericht inhaltliche Grundlinien der Rechtsprechungsinhalte des Dezernats besprechen. Zudem wurde erfragt, wie intensiv die Besprechung von Voten zwischen Richter und Mitarbeiter erfolgt, wie hoch der Anteil der intensiv besprochenen Voten am Gesamtaufkommen ist, wie häufig der Richter den Vorschlägen seines Mitarbeiters folgt und schließlich, ob die Befragten selbst in ihrer Zeit als Wissenschaftliche Mitarbeiter in Karlsruhe Möglichkeiten für eine eigene inhaltliche Einflussnahme gesehen haben, um sich der Antwort auf die Frage, wie groß der Grad der tatsächlichen

9.2 Empirische Untersuchung: Art und Umfang …

181

Einflussnahme des Richters auf die Arbeit seiner Mitarbeiter und wie groß deren Autarkie ist, anzunähern. Alle befragten Wissenschaftlichen Mitarbeiter verwiesen auf große Unterschiede und differenzierten bei dem Grad der Selbständigkeit zwischen den Senats- und den Kammervoten. Ein explizites inhaltliches „Briefing“ findet wohl bei der Aufnahme der Tätigkeit nicht statt. Dennoch gibt es inhaltliche Grundlinien in den Dezernaten und eine bestimmte inhaltliche Ausrichtung, die sich an eindeutigen Positionen zu bestimmten Rechtsfragen festmachen lässt. „Also das wird der Richter nicht machen, dass er da ein Grundsatzgespräch mit einem neuen Mitarbeiter sucht, sondern da wird er sagen, orientieren Sie sich an den Kollegen, die Kollegen wissen wie die Linie des Dezernats ist, wie man also mit bestimmten, auch rechtlichen Fragestellungen umgeht. Man weiß, an welche Themen der Richter gerne ran möchte und weiß, an welchen Themen man sich schon versucht hat und gescheitert ist. Damit ergeben sich die Grundlinien aus der Zusammenarbeit im Dezernat.“ (Interview 3) „Es gab da auch Rechtsprechung, in die ich mich einfach einlesen konnte, und darüber ist das gelaufen; nicht durch gezielte punktuelle konkrete Steuerung, sondern einfach durch Einarbeitung in einen kontinuierlichen Fluss von Ereignissen und von Entscheidungen.“ (Interview 1)

Wie auch schon Uwe Kranenpohls Befragung der Richter offenbarte, hängen die Art der Organisation und die Aufgabenverteilung von der jeweiligen Richterpersönlichkeit ab. „Da gibt es große Unterschiede bei den Richtern. Es gibt Richter, ich denke da an einen Richter, der hat überhaupt nichts akzeptiert. Er hat sich sozusagen immer nur inspirieren lassen von den Voten der Mitarbeiter, hat sie dann aber komplett alleine gemacht. Es gibt sehr große Unterschiede. Und es gibt andere Richter, von denen bekannt ist, dass sie auch sehr versierte und sehr lang eingearbeitete Mitarbeiter hatten, und dass sie 99 Prozent von deren Voten unterschrieben haben, ohne dass da noch mal drüber geredet worden ist.“ (Interview 3)

Ein weiterer wichtiger Aspekt für die Handhabung der Organisation und der Aufgabenverteilung im Dezernat ist die vor dem Amtsantritt ausgeübte Tätigkeit. Die größte Kluft scheint zwischen den ans Bundesverfassungsgericht berufenen Richtern und den zu Richtern ernannten Professoren zu bestehen. „Es gibt halt eben verschiedene Richterpersönlichkeiten. Bei manchen, die vorher Hochschullehrer waren, die füllen das Amt ganz anders aus. Die haben auch viel

182

9

Mitarbeiterhypothese

mehr Abwesenheitszeiten und da hat man dann auch nicht so die Möglichkeit ständig miteinander zu sprechen. Weil die ihren Lehrstuhl ja auch noch pflegen. Also ich hatte das Gefühl, dass die Hochschullehrer das manchmal als Nebenamt sehen. Diejenigen, die vorher Bundesrichter waren und dann ganz Bundesverfassungsrichter sind, die sehen das als Vollzeitjob. Die Politiker, die sehen das auch als Vollzeitjob, weil die natürlich ihre politischen Aufgaben aufgegeben haben.“ (Interview 10)

Offensichtlich wirkt sich die vorangegangene Tätigkeit des Richters auf die Art des Einsatzes des Wissenschaftlichen Mitarbeiters und damit auch auf den Grad der gewährten Autonomie aus. „Man muss sagen, das hängt auch immer entschieden von der Richterpersönlichkeit ab. Bei meinem Richter war es so, dass er vorher Bundesrichter gewesen war. Deshalb war er jeden Tag in seinem Büro und man hatte jeden Tag und jederzeit die Möglichkeit mit ihm zu sprechen. Als ich dann eben der Dienstälteste war, saß ich auch direkt neben ihm, und einmal kurz klopfen und dann hat man das kurz besprochen. Deshalb bekam ich die Sachen dann auch nicht zurück. Weil der Draht ebenso kurz war.“ (Interview 10)

Generell konnte den Gesprächen auch entnommen werden, dass sich die Richter am Bundesverfassungsgericht in ihrem Einsatz und in ihrer Fachkunde in dem ihnen übertragenen Gebiet bisweilen deutlich voneinander unterscheiden. „Gibt es Unterschiede in der Mitarbeit? Ja, das glaube ich sicher. Ich glaube sicher, dass das auf den Charakter und die Kompetenz in dem Gebiet des einzelnen Verfassungsrichters ankommt.“ (Interview 7)

Im Folgenden sollen nun die Möglichkeiten der Einflussnahme durch die Wissenschaftlichen Mitarbeiter differenziert nach deren Aufgaben bei der Vorbereitung von Senats- oder Kammervoten untersucht werden. Diese Differenzierung erscheint angebracht, da sich die Organisation und die Abläufe der Entscheidungsverfahren in Senat und Kammer maßgeblich unterscheiden. Und wie bereits beschrieben, werden die Dichte der Regulierung und die Strukturierung von Arbeitsabläufen ausschlaggebend dafür sein, welche Spielräume für welche Akteure im jeweiligen Verfahrensschritt entstehen.

9.2 Empirische Untersuchung: Art und Umfang …

9.2.1

183

Das Senatsvotum

Uwe Kranenpohl betont in seiner Studie zu den Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen am Bundesverfassungsgericht mehrfach, dass zentrales Element der senatsinternen Entscheidungsberatungen das Interaktionsmuster der „ausgewogenen kritischen Deliberation“ sei (Kranenpohl 2010: 81). Den organisatorischen Ablauf im Senat beschreibt Kranenpohl so, dass die eingehenden Anträge zunächst von einem Mitarbeiter der Gerichtsverwaltung gesichtet, dann die Präsidialräte den Vorgang entsprechend des geltenden Geschäftsverteilungsplans einem Senat zuweisen und schließlich der Senatsvorsitzende das Verfahren einem Berichterstatter und seinem Dezernat übersendet. Im Dezernat wird dann ein Votum – mit Tenorierungsvorschlag, ausführlichen Informationen zur Begründung und falls erforderlich weiteren Materialien – erstellt und dazu ein Vorschlag erarbeitet, wie weiter zu verfahren sei (Kranenpohl 2010: 82). Auf der inhaltlichen Basis dieses Votums treten die Richter des Senats dann zur Entscheidungsberatung zusammen. In § 25 GO-BVerfG ist normiert, dass bei dieser Beratung ausschließlich die Richter anwesend sein dürfen, also keine Wissenschaftlichen Mitarbeiter, keine dem Gericht zugewiesenen Rechtsreferendare und auch kein anderes Personal des Gerichts1 . Bei Kranenpohl schilderte einer der Richter die Situation wie folgt: „Wenn der Senat entscheidet und um 10 Uhr die Tür hinter dem achten Richter, der erscheint, zugeht, gibt es keinen Wissenschaftlichen Mitarbeiter mehr, sondern dann kommen die sieben Hunde, die auf den Hasen losgehen. Ob der Hase dann selber gefressen hat, oder von den Mitarbeitern gefüttert worden ist, spielt dann keine Rolle mehr.“ (Kranenpohl 2010: 89)

Nach der Entscheidungsberatung verfasst der Berichterstatter den Entscheidungsentwurf, der allen Senatskollegen zugestellt wird. Im nächsten Schritt tritt der Senat zur Leseberatung zusammen, in der der Entscheidungsvorschlag von den Mitgliedern des Senats überarbeitet und nach erfolgter Überarbeitung und erzielter Einigung verabschiedet und in einem letzten Schritt vom Gericht verkündet bzw. den Beteiligten übersandt wird (Kranenpohl 2010: 83). Über die Intensität der Senatsberatungen und deren Bedeutung für das Dezernat des Berichterstatters berichten die Interviewpartner Folgendes:

1

Am ebenfalls in Karlsruhe ansässigen Bundesgerichtshof wird anders verfahren. Dort werden die Wissenschaftlichen Mitarbeiter der Richter „in einzelnen Senaten auch zu Beratungen herangezogen.“ (Kranenpohl 2010: 89)

184

9

Mitarbeiterhypothese

„Also bei Kammerentscheidungen, die ja dann eben kurz sind, wird wenig umgeschrieben oder überarbeitet. Das ist bei Senatsentscheidungen anders. Da hatte ich immer den Eindruck, dass sozusagen keine Seite der Entscheidung so blieb wie sie ursprünglich vorgeschlagen war. Da ist sehr intensiv im Senat beraten worden und auch sehr intensiv über jede Formulierung beraten worden. Seite für Seite sind die Richter das durchgegangen. Das weiß ich ja nur aus Erzählungen – und das ging dann teilweise eben um stilistische Fragen aber teilweise dann durchaus auch um rechtliche Fragen.“ (Interview 7) „Also mit einer Senatsentscheidung, in der ein Richter das Votum hat, positioniert er sich ja auch selbst im Kreis seiner Kollegen. Deshalb muss er natürlich sehr gut vorbereitet sein; da will er nicht von seinen Kollegen entgegengehalten bekommen, er habe etwas übersehen. Wir wissen zwar nicht, was in den Beratungen der Richter passiert. Man kann es sich aber natürlich denken. Wenn der Richter zurückkommt und sagt: „Oh je, das Votum ist total zerpflückt worden. Machen sie das noch mal neu.“ Das ist eine Situation, die will keiner erleben.“ (Interview 2)

Die befragten Wissenschaftlichen Mitarbeiter differenzierten bezüglich ihrer Beiträge zu Senatsentscheidung zwischen der Erstellung des ersten Votums und dem Entscheidungsentwurf, und gaben überwiegend an, zwar Voten, aber keine Entscheidungsentwürfe verfasst zu haben: „Bei Senatsentscheidungen legt man nur das Votum vor, nie den Entscheidungsentwurf, also nicht den Beschluss- oder Urteilsentwurf. Nie! Das Votum ist lang, sehr lang. Senatsvoten füllen manchmal mehrere Ordner. Das ist ein Fall, der in jede Richtung ausgeleuchtet werden muss.“ (Interview 5) „Also, ich weiß nicht, wie das bei anderen läuft. Mag sein, dass andere auch den Beschlussentwurf machen, aber bei Senatssachen habe ich bei keinem der beiden Richter den Beschlussentwurf gemacht.“ (Interview 4) „Also bei meinem Richter war das so, dass ich das Senatsvotum erstellt habe, die Entscheidung an sich hat er dann selbst verfasst, weil die Mitarbeiter nicht in der Senatsberatung dabei sein dürfen. Deshalb war er der Auffassung, dass der Wissenschaftliche Mitarbeiter dann auch den Entscheidungsentwurf nicht verfassen kann. Andere Richter, z.B. Hochschullehrer, haben hingegen ihren Mitarbeitern die Aufgabe übertragen, auch den Entscheidungsentwurf zu verfassen.“ (Interview 10)

Was die Erstellung des Entscheidungsentwurfs anbelangt, greifen also offenbar auch einige Richter auf die Unterstützung ihrer Mitarbeiter zurück, etwa wenn es darum geht, Teile der Entscheidung zu verfassen, und diese nicht allzu stark von dem im ersten Votum ausgearbeiteten Vorschlag abweichen. Auch das wird von den befragten Wissenschaftlichen Mitarbeitern bestätigt:

9.2 Empirische Untersuchung: Art und Umfang …

185

„In anderen Fällen haben auch Mitarbeiter die Entscheidung – also Teile der Entscheidung – geschrieben, die sich ja auch am Votum orientiert. Also, das ist sehr unterschiedlich gehandhabt worden.“ (Interview 9)

Die in der Studie von Kranenpohl befragten Richter verneinten, dass die Mitarbeiter in das tatsächliche Abfassen der Senatsentscheidung – jenseits der bloßen Zuarbeit – eingebunden sind, da sie wegen des Beratungsgeheimnisses (vgl. Zitat oben, Kranenpohl 2010:89) nicht in der Lage seien, die Entscheidung so zu verfassen, dass die in der Beratung aufgeworfenen Fragen erörtert und geklärt werden können. Fraglich ist, ob es sich in der Realität am Bundesverfassungsgericht so verhält, wie es die Richterinnen und Richter in Krahnenpohls Studie dargestellt haben. Bereits im Kapitel drei wurde darauf aufmerksam gemacht, dass sowohl die Aussagen der von Krahnenpohl befragten Verfassungsrichter als auch die der von der Autorin befragen Wissenschaftlichen Mitarbeiter einen Bias aufweisen werden. Beide Gruppen haben ihre Zeit am Bundesverfassungsgericht aus ihrer speziellen Position und damit aus ihrem eigenen Blickwinkel wahrgenommen. Wenn nun die Richter das Geheimnis der Senatsberatungen wahren, bedeutet das, dass sie nur in beschränktem Umfang auf die Unterstützung ihrer Mitarbeiter zurückgreifen können. Das würde ein Mehr an Arbeit für den Berichterstatter bedeuten. Auf die Frage, ob es den Fall gibt, dass ein Richter als Berichterstatter aus der Senatsberatung kommt und sagt: „So haben wir keine Chance. Das müssen wir umarbeiten.“ antwortete ein Interviewpartner: „Ja, das gibt es. Über die großen Fälle, über die wir gesprochen haben, wird lange, lange gesprochen. Das dauert auch lange, bis es fertig ist. An den Senatsvoten arbeitet man mitunter mehrere Monate, an manchen sogar Jahre. Man hat meistens so eine geteilte Arbeit als Mitarbeiter. Zur Hälfte arbeitet man an einer Senatssache als Mitarbeiter, zur anderen Hälfte an den Verfassungsbeschwerden in der Kammer.“ (Interview 5)

Obige Aussage macht deutlich, dass die Verfassungsrichter das Gespräch mit ihren Wissenschaftlichen Mitarbeitern suchen. Die Übergänge scheinen also bis zu einem gewissen Grad fließend zu sein. Bereits die Information, an welchen Stellen eines Entscheidungsentwurfs Änderungen vorgenommen werden müssen, lässt Rückschlüsse auf die Inhalte der geheimen Beratung zu. Manche Richter scheinen im Umgang mit ihren Mitarbeitern aber noch einen Schritt weiter zu gehen:

186

9

Mitarbeiterhypothese

„Man hört natürlich etwas, Beratungsgeheimnis hin oder her. Die Mitarbeiter erfahren viel. Sie erzählen es dann aber nicht weiter. Nicht einmal hier. Weil sie das Beratungsgeheimnis, das insoweit dann schon ein bisschen vor die Hunde gegangen ist, weil die Mitarbeiter doch etwas erfahren haben, dann nach außen wahren.“ (Interview 5)

Ein Interviewpartner berichtete davon, dass sein Richter die Inhalte von Senatsberatungen dokumentierte und die Inhalte an seine wissenschaftlichen Mitarbeiter weitergegeben hat: „Der Chef hat immer nach den Senatsberatungen ein Gedächtnisprotokoll verfasst, auf dessen Grundlage dann auch der Entscheidungsvorschlag abgesetzt werden sollte.“ (Interview 1)

Hierbei handelt es sich um ein Vorgehen, das nicht im Einklang mit dem Beratungsgeheimnis steht. Aus der Perspektive des strategischen Modells ist dieses Vorgehen nachvollziehbar und plausibel, zählt doch die Optimierung des Verhältnisses von Aufwand zu Ertrag durch den Richter selbstverständlich zum Kanon verfassungsrichterlicher Ziele und Interessen. Die Mehrheit der Mitarbeiter betonte aber, dass ihr Beitrag zu Senatsentscheidungen in erster Linie darin bestanden hätte, zu recherchieren und Rechtsprechungslinien und strittige Aspekte wissenschaftlich aufzubereiten und darzustellen. „Es gibt natürlich auch inhaltliche Einflussnahme bei wichtigen Senatsangelegenheiten. Die bezieht sich dann aber ausschließlich auf Begründungsvorschläge. Da gibt es also keine Einflussnahme was Entscheidungsergebnisse angeht. (…) Bei den wichtigen Voten ist es vollkommen klar, dass man nur Entwürfe liefert, die sehr stark überarbeitet werden.“ (Interview 3)

Aber auch von dieser wohl dezernatsübergreifenden Art der Organisation und Aufgabenteilung gibt es – wenn auch selten – signifikante Abweichungen, wie einer der Interviewpartner berichtete: „Das erste Senatsverfahren das ich gemacht habe, das ich bearbeitet habe, da ist das Votum praktisch unverändert in den Senat gegangen, also an zwei Stellen irgendwo gab es da Nachbesserungswünsche und im Wesentlichen, das war zu 95 Prozent mein Text. (…) Ich habe da ursprünglich meinen Aktenauszug gemacht und so 15 Seiten Lösung skizziert. Das wurde abgesegnet und dann habe ich es ausformuliert. Aber das, was ich dann ausformuliert hatte, ist eben wirklich fast unverändert in den Senat gegangen. Das ist aber in den anderen Senatsverfahren, die ich gemacht nicht durchweg so gelaufen. Das ist, glaube ich, auch ungewöhnlich.“ (Interview 1)

9.2 Empirische Untersuchung: Art und Umfang …

187

Die Mehrheit der Richter investiert offensichtlich viel eigene Arbeitszeit in die Senatsvoten und Entscheidungsentwürfe, für die sie als Berichterstatter fungieren. Innerhalb der Dezernate – so berichteten Befragte – wird dennoch intensiv über die Entscheidungsentwürfe diskutiert. Viele Verfassungsrichter suchen die inhaltliche Rückmeldung ihrer Mitarbeiter: „Der Richter, für den ich tätig war, der seine Sachen immer sehr ernst genommen und sich auch mit den kleinen Sachen beschäftigt hat, hat dann aber auch bei den Senatssachen die Urteile selbst verfasst und uns aber auch immer zur Korrektur gegeben. Er hat uns auch seine Texte, die er geschrieben hat, gegeben. Wir haben auch über viele Dinge diskutiert. Das ist ja auch das Spannende. Das ist dann eine wechselseitige Einflussnahme.“ (Interview 7) „Also ich glaube, man kann im Sinne von Überzeugungsarbeit natürlich versuchen, auch einen skeptischen Chef von einer Lösung zu überzeugen. Das kann klappen. Diese Möglichkeit gibt es mit Sicherheit. Das wäre also sozusagen das, wofür die Mitarbeiter ja auch da sind. Eine Vorbereitung zu treffen und dann eben auch als Gesprächspartner zur Verfügung zu stehen.“ (Interview 1)

Dass es dennoch seltene Ausnahmen von dieser Vorgehensweise gibt, dass die Richter die Senatsvoten selbst erarbeiten, berichtete auch einer der von Kranenpohl befragten Richter. So gab es einen Zwischenfall bei einer Senatsberatung, wo sich ein Richter offensichtlich nur kursorisch mit dem zu behandelnden Sachverhalt befasst hatte, und der Entscheidungsentwurf offensichtlich aus der Feder eines Wissenschaftlichen Mitarbeiters stammte: „Da hat er sein Votum vorgetragen im Senat und auf eine Nachfrage hat er mit dem Kopf geschüttelt: Was hat mein Mitarbeiter damit wohl gemeint?“ (Kranenpohl 2010: 89)

Das Verfassen von Urteils- und Beschlussentwürfen scheint also bei fast allen Richtern deren vornehmste Aufgabe zu sein. Dieser Eindruck deckt sich auch mit der Forderung der Benda-Kommission nach einem freien Annahmeverfahren, das den Richtern den erforderlichen Freiraum geben würde, den „Schwerpunkt ihrer Arbeit auf Bereiche legen zu können, in denen Defizite bestehen oder in denen sich verfassungsrechtliche Fragen für neue Lebens- oder Problembereiche stellen“ (Dollinger, § 15a, Rn. 2). Umso plausibler erscheint die Schlussfolgerung, dass den Wissenschaftlichen Mitarbeitern nur wenig Möglichkeit zur eigenen inhaltlichen Beteiligung an Entscheidungsentwürfen eingeräumt wird. Die Senatsentscheidungen sind die „großen“, in der amtlichen Entscheidungssammlung abgedruckten Urteile und Beschlüsse, mittels derer das Bundesverfassungsgericht

188

9

Mitarbeiterhypothese

mit den anderen Akteuren in seinem Umfeld „kommuniziert“. Die Zahlen der amtlichen Statistik belegen die exponierte Stellung und die besondere Bedeutung der Senatsentscheidungen. So gingen beispielsweise im Jahr 2020 5.072 Verfassungsbeschwerden an die Kammern, den Senaten wurden 2020 hingegen nur 12 Verfassungsbeschwerdeverfahren zugewiesen. Es sind die in der amtlichen Sammlung abgedruckten Judikate, deren Tenorierungen – in weiten Teilen – in Rechtskraft erwachsen, die von der wissenschaftlichen Community, den Rechtsanwendern, den Richterkollegen an den untergeordneten Gerichten und Juristen in allen drei Gewalten rezipiert und als richtungsweisend betrachtet werden.

9.2.2

Das Kammervotum

Mit Wirkung zum 1. Januar 1986 wurden die Kammern als Nachfolger der Dreier-Ausschüsse in § 15a BVerfGG etabliert, mit eigenen Kompetenzen ausgestattet und so ihre Spruchpraxis aufgewertet (Dollinger, § 15a Rn. 1). Die Zuständigkeiten der Kammern sind erheblich. Immer vorausgesetzt, dass die drei Richter einer Kammer einstimmig den Beschluss fassen, können die Kammern im Verfahren der konkreten Normenkontrolle bzw. der Richtervorlage nach § 81a S. 1 BVerfGG die Unzulässigkeit eines Antrags feststellen. Sofern die Annahmevoraussetzungen nicht erfüllt sind, können die Kammern nach § 93b S. 1 BVerfGG die Annahme einer Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung ablehnen. Schließlich können die Kammern nach § 93c BVerfGG einer anhängigen Verfassungsbeschwerde in den Fällen stattgeben, in denen diese offensichtlich begründet ist und alle maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits durch das Bundesverfassungsgericht entschieden worden sind. Auch Rüdiger Zuck betont die Bedeutung der Kammern für die Spruchtätigkeit des Gerichts: „Weithin sichtbar steht das Bundesverfassungsgericht im Licht. Aber das Bundesverfassungsgericht ist janusköpfig. Es gibt noch ein anderes Bundesverfassungsgericht. Es liegt weitgehend im Dunklen. Es ist dies das eigentliche Bundesverfassungsgericht. Seine Arbeitskraft wird durch rund 5.000 Verfassungsbeschwerden p.a. gebunden. Es entscheidet darüber nicht selbst, d.h. in den zwei Senaten, sondern in sechs Kammern. (…) Diese Kammertätigkeit macht das Bundesverfassungsgericht aus.“ (Zuck 2006: 283)

Den Kammern sind vom Gesetzgeber wichtige Kompetenzen übertragen worden und zudem die Zuständigkeit für eine große Zahl eingehender Verfahren. Von umso größerer Bedeutung ist es herauszufinden, welche Aufgaben die Richter den Wissenschaftlichen Mitarbeitern bei der Bewältigung der eingehenden Anträge

9.2 Empirische Untersuchung: Art und Umfang …

189

übertragen, welche Rolle die Mitarbeiter in den verschiedenen Verfahren und Verfahrensschritten übernehmen und wie sie selbst ihre Tätigkeit beschreiben und bewerten. In den Gesprächen wurde – wie auch schon oben bei der Aufgabenverteilung ausgeführt – hervorgehoben, dass die Art der übertragenen Aufgaben und der Grad der gewährten Autarkie von Richter zu Richter variieren können, und auch das individuelle Verhältnis des einzelnen Richters zum jeweiligen Mitarbeiter ausschlaggebend für den Grad des gewährten Freiraums ist. „Das ist sehr unterschiedlich. Das hängt zum einen von dem Richter selbst ab und zum andern von den Mitarbeitern und zum Dritten, wie die miteinander zurechtkommen sozusagen. Gemessen an der Gesamtzahl der Voten die man macht, sind Änderungen die der Richter vornimmt, eher die Ausnahme.“ (Interview 3)

Es scheint primär die – an eine Überlastung grenzende – Belastung des Gerichts zu sein, die zwangsläufig dazu führt, dass die Richter kaum in der Lage sind, die von ihren Wissenschaftlichen Mitarbeitern erstellten Kammervoten intensiv nachzuvollziehen. „Und dann gibt es ja natürlich ganz kleine Fälle, wo die Verfassungsbeschwerde offenbar aussichtslos ist. Solche Fälle wurden in der Regel gar nicht besprochen. Da hat man einfach sein Votum vorgelegt und das hat der Richter dann abgezeichnet; dann ist es gleich in die Kammer gegangen – je nach Bedeutung des Falles.“ (Interview 10) „In den meisten Fällen gab es überhaupt keine Vorbesprechung. Ich würde sagen, das waren so 90 Prozent der Fälle; die haben wir selbstständig erarbeitet und dann einen Vorschlag gemacht, der meistens Nichtannahme hieß. Wenn es einzelne, wichtige Fälle waren – das betraf die restlichen 10 Prozent der Sachen, die man votiert hat – gab es in der Regel kurze Vorbesprechungen, wo aber jedenfalls in unserem Dezernat wenig inhaltliche Vorgaben gemacht worden sind und eigentlich nur auf die Wichtigkeit und auf die zeitliche Schiene der Bearbeitung hingewiesen wurde.“ (Interview 3)

Die Aussagen der befragten Mitarbeiter machen deutlich, dass sie aufgrund der hohen Arbeitsbelastung in den Dezernaten unter einem enormen Druck standen. „Das ist einfach die zeitliche Größenordnung einer Kammerentscheidung. Von der eignen Arbeitsleistung her muss man in der Lage sein, im Prinzip jeden Tag eine zu verfassen. Und zwar auch so zu votieren, dass sie dann handhabbar ist, und da nicht so viel und zu ausführlich oder zu kritisch mit vielen Dingen umzugehen oder nicht

190

9

Mitarbeiterhypothese

Sachen zu problematisieren, die sozusagen nichts bringen, sondern effektiv arbeiten. Eine schnelle und kurze Grundeinschätzung – ist was dran oder ist nichts dran?“ (Interview 3) „Und von den Kammervoten, die man als Mitarbeiter schreibt, von denen hört man meistens gar nichts mehr. Also in einem Dezernat, das massenhaft Verfassungsbeschwerden zu bearbeiten hat, macht ein Wissenschaftlicher Mitarbeiter schon so 300 Sachen pro Jahr. Die meisten Sachen sieht er nie wieder. Die votiert er und dann ist Schluss. Über einige wenige spricht man mit dem Richter.“ (Interview 5)

Die Wissenschaftlichen Mitarbeiter wurden im Rahmen der Interviews nach ihrer persönlichen Einschätzung gefragt, inwieweit sie über die Möglichkeit verfügt haben, steuernd in eine Kammerentscheidung einzugreifen. Diese Möglichkeit wurde von allen bejaht. „Ich weiß ja nicht, wenn ich jetzt auf Nichtannahme votiert hätte, dann mag es schon sein, dass man gesagt hätte: „Da ist jetzt aber doch etwas dran“. Das kann ich jetzt aus der Erinnerung nicht mehr sagen, ob genau diese Konstellation vorkam. Aber ich bilde mir schon ein, dass man in der Lage gewesen wäre, einen Fall sozusagen zu einem ganz alltäglichen zu erklären, und dass das nicht in jedem Fall aufgefallen wäre.“ (Interview 8)

Doch wurde im Verlauf der Gespräche nicht nur klar, wie unterschiedlich die Richterpersönlichkeiten am Bundesverfassungsgericht sind. Auch die befragten Mitarbeiter unterscheiden sich teilweise deutlich in ihrer Einschätzung und Bewertung der eigenen Tätigkeit und ihrer Eigeninitiative. Viele von ihnen argumentierten rechtspolitisch. Auch war ihnen die große Verantwortung, die ihnen für die Kammerverfahren übertragen wird, bewusst, ebenso wie die Möglichkeit, gestaltend einzuwirken. „Also man kann das schon in gewisser Weise steuern. Es ist eine Vertrauensbeziehung zwischen Richter und Mitarbeiter. Der Richter kann nicht alles nachkontrollieren, was die Mitarbeiter vorschlagen. Er wird einen sehr großen Teil im Vertrauen auf die Qualität und die Fairness und die Loyalität der Mitarbeiter absegnen. Es schon zur Kenntnis nehmen, auch auf offensichtliche Fehler oder Merkwürdigkeiten schauen, aber nicht im Einzelnen der Sache so nachgehen, dass er sozusagen die Entscheidung zur eigenen machen würde. Umgekehrt, ein Mitarbeiter, der gut arbeitet und sich für eine einzelne Fragestellung interessiert, hat auch immer Möglichkeiten, aus einem uninteressanten Fall einen interessanten Fall zu machen, indem er Akten anfordert, indem er z.B. Rechtsprechungslinien von Bundesgerichten aufarbeitet und darstellt, warum dieser Fall, den er jetzt hat, doch etwas Besonderes ist.“ (Interview 3) „Das gibt es ganz bestimmt, gerade bei kleineren Sachen, ich glaube schon, dass der Mitarbeiter den Richter vorprägt. Wenn der Richter ein Votum auf dem Tisch liegen

9.2 Empirische Untersuchung: Art und Umfang …

191

hat, der liest das ja erst mal auf Plausibilität und wenn eine Sache plausibel ist, wird er das sehr schnell durchwinken. Er würde aber vielleicht das Gegenteil, wenn der Mitarbeiter in die andere Richtung votiert hätte – und das Ergebnis kann ja in verschiedene Richtungen gehen, es könnte auch plausibel sein –, dann wird er im Zweifel auch das durchwinken. Also der Mitarbeiter ist der Erste, der sich intensiv mit der Sache beschäftigt. Von daher kann er dem schon eine Richtung vorgeben.“ (Interview 4)

Nur sehr wenige der Befragten – nämlich diejenigen, die von einer häufigen Präsenz des Richters am Gericht und von einer hohen Kontroll- und Beratungsdichte berichtet hatten, aber auch Mitarbeiter, die entweder nur für eine kurze Zeit oder während ihrer Abordnung in Teilzeit am Bundesverfassungsgericht gewesen waren – beschrieben die ihnen übertragenen Aufgaben entsprechend im Wesentlichen als bloßes Zuarbeiten. „Natürlich ist es so, dass der Mitarbeiter den Fall – gerade bei den großen Sachen – tief durchdenkt und dann die ganze juristische Argumentation aufblättert und insofern dann auch Einfluss nimmt. Aber ich würde sagen, jetzt bei meinem Richter, der ließ sich jetzt sozusagen die Butter nicht vom Brot nehmen. Der steckte in jedem Fall hundertprozentig drin und hat den auch eigenständig hundertprozentig durchdacht. Die Einflussmöglichkeit würde ich bei ihm als eher gering ansehen. Nur in dem Sinne, dass man seine eigene Meinung kundtut und die auch ihm gegenüber vertritt.“ (Interview 10)

Sehr klar äußerten sich die Befragten über die Einflussmöglichkeiten bei der Aufbereitung des zur Entscheidung vorgelegten Sachverhalts, bei der Entscheidung an sich und bei der Begründung der Entscheidung. Zur Darstellung des Sachverhalts berichteten die Befragten: „Da war ein Verfahren, das weniger verfassungsrechtlich, sondern verwaltungsrechtlich gar nicht einfach war, und wo man auch den Eindruck hatte, dass es da tatsächlich mal wirklich so eine lokale Verschwörung gegen eine Person gegeben hat. Aber das wurde eben auch so verkauft. Und da man normalerweise so etwas nicht glaubt, hätte man in all diesen Verfahren eben sicherlich auch sagen können: Das sind irgendwelche Verschwörungstheoretiker, ich guck mir das gar nicht genauer an und sage irgendwie das ist nicht substantiiert oder so. Und das wäre wahrscheinlich durchgekommen.“ (Interview 1) „Derjenige, der als erstes etwas schreibt, hat natürlich auch die Möglichkeit, es in einer gewissen Weise darzustellen. Wenn ich jetzt der Meinung bin, irgendeine Gerichtsentscheidung ist verfassungswidrig gewesen, dann stelle ich das natürlich schon anders dar, als wenn ich der umgekehrten Meinung bin. Also ich glaube, derjenige, der den ersten Zugriff hat, hat immer einen gewissen Einfluss.“ (Interview 9)

192

9

Mitarbeiterhypothese

„Jede Vorbereitung für einen anderen ist ein steuerndes Eingreifen. Das ist dann eine Frage der Redlichkeit und der inneren Souveränität, wie weit man das offenlegt. Also, ich persönlich lege das lieber offen und überlasse damit dem Anderen auch die Entscheidung, ob er meinem Weg folgt oder nicht.“ (Interview 7)

Zum Abfassen der Entscheidungsbegründungen wurde von den Befragten ausgeführt: „Das eine sind zwei Verfahren, an die ich mich erinnern kann, in denen die Leute, die die Verfassungsbeschwerde eingelegt hatten, deutliche Erkennungszeichen von querulatorischem Vorgehen aufgewiesen haben. Also Verfassungsbeschwerden, in denen ganz viele Ausrufungszeichen vorkommen, Fettdrucke und angemalt, übersteigerte Formulierungen wie: „Was mit mir geschieht ist welt-einmalig“, und so etwas. Aber in beiden Fällen war letztlich an der Sache was dran. Die haben auch letztlich beide gewonnen. Also das waren zwei Fälle, in denen tatsächlich Grundrechte verletzt worden sind, und die Art und Weise, wie das dann aufgebauscht wurde, war sicherlich etwas merkwürdig. Da hätte man bestimmt auch anders mit umgehen können.“ (Interview 1) „Die Kammervoten werden in der Regel von den Wissenschaftlichen Mitarbeitern verfasst. Unser Richter hat nicht viel an ihnen geändert. Da hat man als Wissenschaftlicher Mitarbeiter durchaus die Möglichkeit – wenn man ein engagierter Mensch ist – mal einen anderen Begründungsstrang aufzubauen. Oder ich kann die Gelegenheit nutzen, etwas, was das Bundesverfassungsgericht immer schon gesagt hat, neu darzustellen, damit es vielleicht insgesamt konsistenter wird. Und die Kammerentscheidungen werden jetzt ja auch in diesen Bänden veröffentlicht.“ (Interview 2) „Rechtliche Vorgaben habe ich nie bekommen. Also, das kenne ich nicht. Wenn man ein Votum schreibt, dann sieht man sich die bisherigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts an und prüft, wie das Bundesverfassungsgericht bisher entschieden hat, und dann orientiert man sich natürlich auch ein bisschen daran. Es sei denn man ist der Meinung, man möchte das mal in eine andere Richtung bewegen. Dann geht man zu dem Richter und sagt: „Ich finde diese Rechtsprechung jetzt nicht mehr so zeitgemäß, können wir nicht eine Möglichkeit finden, das ein bisschen zu drehen?“ (Interview 9)

Immer wieder wurde von den Wissenschaftlichen Mitarbeitern am Bundesverfassungsgericht die Aussage getroffen, dass die Entscheidungsspielräume zwar existierten, aber in vielen Fallkonstellationen so groß nicht seien, da die bestehende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts einen inhaltlichen Rahmen vorgibt. „Jede Entscheidung enthält ja den Maßstab an dem der Sachverhalt gemessen wird, also die verfassungsrechtlichen Grundlagen. Und da hat man natürlich keine freie

9.2 Empirische Untersuchung: Art und Umfang …

193

Wahl, sondern orientiert sich an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die es eben schon gibt. Und natürlich ist das auch in diesem Bereich der Durchsuchung und Beschlagnahme so. Es gibt bereits einen Maßstab, deswegen ist das auch nicht so wahnsinnig schwierig, da ein Votum zu schreiben, weil man den Maßstab nicht jedes Mal wieder neu ausdenkt, sondern aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bereits ein Maßstab entwickelt worden ist, an dem der konkrete Fall gemessen wird. Und das wird vorher besprochen bzw. man sieht ja die Voten, die es schon gibt in diesem Bereich, und orientiert sich daran. Das wäre – glaube ich – auch ungewöhnlich, wenn man das nicht täte und sagt: „Ich mache jetzt mal was ganz anderes.“ (Interview 2)

Von Interesse für die vorliegende Untersuchung ist nicht das Aufdecken etwaiger Missstände, sondern die in der Hypothese formulierte Frage, ob – und wenn ja in welchen Bereichen und in welchem Umfang – die Mitarbeiter so frei agieren können, dass von einem eigenen Einfluss auf die Rechtsprechung ausgegangen werden kann. Von den Richtern selbst wird die Bedeutung der Arbeit ihrer Mitarbeiter zumeist stark relativiert. Diese Tendenz ist aus der Perspektive der Richter auch absolut plausibel, wiegt der im Raum stehende Vorwurf, am „höchsten“ deutschen Gericht würde die für alle Gerichte streng verbindliche Garantie des gesetzlichen Richters nicht durchgängig gewährt, schwer. Entsprechend äußerte einer der von Kranenpohl befragten Richter: „Ich glaube, man muss unterscheiden zwischen Unterstützung und Einfluss. Die Mitarbeiter unterstützen uns massiv bei der ganzen Arbeit auch im Massengeschäft. Wir könnten die über 5.000 Eingänge überhaupt nicht bewältigen, wenn da nicht Vorarbeiten geleistet worden wären. (Interview Nr. 24)“ (Kranenpohl 2010: 126)

Andere von Kranenpohl befragte Richter äußerten sich hingegen sehr viel positiver über die Wissenschaftlichen Mitarbeiter und hoben deren Leistungen, die von ihnen übernommene gate keeper-Funktion und die neuen Aspekte, die sie mitunter in den Entscheidungsprozess einfließen lassen, hervor. „Da sind immer wieder viele Gute dabei. Ein paar sind ganz normale Richter, [aber] andere sind hoch motiviert, interessiert und auch begabt. Die Guten haben meines Erachtens einen starken Einfluss! (Interview Nr. 10)“ (Kranenpohl 2010: 247 f.) „Ich habe meinen Mitarbeitern immer gesagt: „Seien Sie nicht zu streng! Was Sie aussortieren geht im Zweifel unter. (…) Was in Ihrem Filter hängen bleibt, geht im Zweifel unter. (Interview Nr. 18)“ (Kranenpohl 2010: 127)

194

9

Mitarbeiterhypothese

In der Studie von Kranenpohl finden sich mehrere sehr kritische Äußerungen zum Umgang anderer Richter mit den Vorlagen der wissenschaftlichen Mitarbeiter in Kammerverfahren. Interessant ist, dass jeder der Kritiker zugleich betonte, dass ein solches Vorgehen in seinem Dezernat ausgeschlossen sei. „Wenn so mancher Hochschullehrer von seinem Lehrstuhl kommt und innerhalb einer halben Stunde einen Stapel vorgefertigter Kurzvoten in Dreiersachen unterschreibt, da müssen Sie mir doch nicht erzählen, dass er die in dieser Zeit durchgearbeitet hat. (…) Selbst wenn man noch so schnell liest! Man muss die Akten kennen! Ob das, was im Kurzvotum drinsteht richtig ist. Nicht blind vertrauen! In vieler Beziehung ist das leider, leider sehr unverantwortlich. Sehr unverantwortlich! (Interview Nr. 21)“ (Kranenpohl 2010: 488)

Auch das oben bereits dargestellte Argument, dass sich die Richter mehr Zeit für die Verfahren wünschen, denen grundlegende verfassungsrechtliche Bedeutung zukommt, stärkt zum einen die Annahme, dass es durchaus im Interesse der Richter ist, dass ihre Mitarbeiter durch möglichst selbständiges Arbeiten das verfassungsrichterliche „Zeitbudget“ schonen. Zum anderen gibt es bei Kranenpohl Anhaltspunkte dafür, dass manche Richter auch kein übermäßiges Interesse an der Masse der Kammerverfahren haben: „Ich kenne einen Verfassungsrichter, der hat gesagt: Dreiersachen? Dafür sei er nicht Verfassungsrichter geworden! Der machte nur die Sachen, wo er seine tiefschürfenden rechtlichen Überlegungen einbrachte, und das andere interessierte ihn nicht. (Interview Nr. 21)“ (Kranenpohl 2010: 487)

In einem anderen inhaltlichen Kontext hatten von Kranenpohl befragte Richter unabhängig voneinander dagegen die Bedeutung des Berichterstatters in Kammersachen betont: „Natürlich ist bei den vielen Kammersachen, die inzwischen auch schon ihre Bedeutung haben, gerade weil sie Gerichtsentscheidungen aufheben können, der Einfluss eines Berichterstatters recht groß. (Interview Nr. 7)“ (Kranenpohl 2010: 139) „Der Einfluss des Berichterstatters auf die Vorbereitung ist groß – und vor allem dann, wenn es sich um Kammersachen handelt. (Interview Nr. 15)“ (Kranenpohl 2010: 139)

Einer der Befragten sieht den Einfluss der Mitarbeiter mehr oder minder auf einer Stufe mit dem des zuständigen Richters:

9.2 Empirische Untersuchung: Art und Umfang …

195

„In Kammersachen werden viele kleinere Fälle bearbeitet – also Routinesachen. Dabei kommt der Vorbereitung durch das jeweils zuständige Dezernat große Bedeutung zu. […] Insgesamt ist dort der Einfluss des Berichterstatters und seiner Mitarbeiter bei typisierender Betrachtung größer als in den Senatssachen. (Interview Nr. 17)“ (Kranenpohl 2010: 139)

Gerade weil dem Berichterstatter in Kammersachen wegen des spezifischen Verfahrens großer Einfluss zukommt, räumen die Richter ihren Mitarbeitern große Einflussmöglichkeiten ein, wenn sie sich aus dem vermeintlichen „Massengeschäft“ der Kammersachen inhaltlich zurückziehen. Deshalb wurden die Mitarbeiter im Rahmen der Interviews gefragt, wie intensiv die von ihnen erstellten Kammervoten mit dem jeweiligen Richter besprochen wurden. Die Mitarbeiter zeichneten ein differenziertes Bild, betonten aber einhellig, dass die Besprechung ihrer Vorarbeiten zu Kammervoten ungleich weniger intensiv wäre, als der Austausch zwischen Richter und Mitarbeiter zu Senatsvoten. „Bei einem Votum für eine Kammerentscheidung gibt es noch mal Unterschiede. Da muss man noch mal zwischen einer Nichtannahme und einem Beschluss in der Sache unterscheiden. Bei einer Nichtannahme wird oft dann gar nicht mehr so viel besprochen, jedenfalls falls die Sache klar ist. Wenn jeder weiß, das geht in eine bestimmte Richtung aus, dann ist das bei Nichtannahme häufig so, dass die überhaupt nicht begründet werden. Und daher besteht auch nicht das Bedürfnis, das jetzt rechtlich in alle Einzelheiten da mit dem Richter zu diskutieren.“ (Interview 4) „Das hing natürlich sehr davon ab, welche Schwierigkeiten die Sache aufwarf einerseits, aber auch schlicht und einfach, ob er mit dem Ergebnis einverstanden war. Wenn das so war, dann konnte es passieren, dass man sich gar nicht besprochen hat, sondern dass er schlicht das Votum an die Kammerkollegen weitergegeben hat mit einem Vermerk „Einverstanden“ darunter. Und dann war es eher so, dass man selbst nachgefragt hat, und dann nur zu hören kriegte, das ist so weitergelaufen. Das war – glaube ich sogar – der weit überwiegende Fall.“ (Interview 8)

Der Relativierung, dass die Spielräume der Wissenschaftlichen Mitarbeiter in vielen Verfahren gering seien, weil die bestehende Rechtsprechung eindeutige inhaltliche Vorgaben für die Behandlung vieler Sachverhalte macht, widersprechen an anderer Stelle die Darstellungen, dass es den Wissenschaftlichen Mitarbeitern freigestellt sei, wieviel Zeit und Aufwand sie in ein Kammervotum investieren. Für die kommenden Jahre scheint sich die Tendenz abzuzeichnen, dass – sollten die Eingangszahlen am Bundesverfassungsgericht weiterhin steigen – der Einfluss und die Bedeutung der Wissenschaftlichen Mitarbeiter ebenfalls weiter zunehmen werden.

196

9

Mitarbeiterhypothese

„Und vielleicht kommt noch hinzu, das ist auch eine Frage der Einflussmöglichkeit, die Zahl der Wissenschaftlichen Mitarbeiter, die jeder Richter hat, ist stetig gestiegen. Je mehr Sachen ich von meinen Mitarbeitern bekomme, desto geringer kann die Kontrolldichte nur sein. Dadurch steigt sozusagen der Einfluss der Wissenschaftlichen Mitarbeiter. Wenn die Zahl der Verfahren, die ich selbst im Jahr erledige deutlich steigt, und das nur mit Hilfe der WiMis geht, steigt auch der Einfluss der Mitarbeiter.“ (Interview 7)

Die Untersuchung dieser Hypothese zeichnet nun folgendes Bild: Die Vermutung, dass die Wissenschaftlichen Mitarbeiter mit ihrer Tätigkeit generell Einfluss auf die Rechtsprechung der Senate nehmen können, wurde widerlegt. Es kommt nur vereinzelt vor, dass Wissenschaftliche Mitarbeiter für ihren berichterstattenden Richter Senatsvoten entwerfen. Manche davon werden mit nur geringfügigen Änderungen im Senat beschlossen, doch ist dies ein Ausnahmefall. Die Annahme, dass den Wissenschaftlichen Mitarbeitern bei der Bearbeitung von Kammersachen große Freiräume gewährt werden und diese deshalb erheblichen Einfluss auf die Kammerrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts haben, wurde bestätigt.

10

Konsenshypothese

H6 – Konsenshypothese: Es gibt eine informelle Norm des Konsenses am Bundesverfassungsgericht, die sich aus den richterlichen Rollenvorstellungen speist, und die Erwartungen der Bevölkerung an das Gericht abbildet. Diese Rollenvorstellungen weichen stark von denen der Richter am U.S. Supreme Court ab und erklären die im Vergleich zum Supreme Court sehr geringe Zahl an Sondervoten und die wenigen Male, die das Plenum des Bundesverfassungsgerichts einberufen wurde.

10.1

Existenz und Beschaffenheit richterlicher Freiräume im institutionellen Gefüge im Rahmen der Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht

10.1.1 Die abweichende Meinung Mit der vierten Änderungsnovelle zum BVerfGG vom 21.12.1970 wurde den Richtern am Bundesverfassungsgericht durch den Gesetzgeber die Möglichkeit eingeräumt, ihre in der Beratung vertretene, von der Richtermehrheit abweichende Meinung in einem offenen Sondervotum niederzulegen. Ein Richter kann entweder eine abweichende Meinung zum Ergebnis der getroffenen Entscheidung oder – wenn er das gefundene Ergebnis gutheißt – zu deren Begründung verfassen. Auch ist es möglich, dass mehrere Richter gemeinsam eine abweichende Meinung darlegen. Das Sondervotum ist in der

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2024 M. Schlögel, Strategen in Roben, https://doi.org/10.1007/978-3-658-43868-5_10

197

198

10

Konsenshypothese

deutschen Verfahrensrechtslandschaft selten und der Gerichtstradition eigentlich1 fremd (Benda/ Klein 2001: 131). Die Regelung des § 30 Abs. 2 BVerfGG lautet: (2) Ein Richter kann seine in der Beratung vertretene abweichende Meinung zu der Entscheidung oder zu deren Begründung in einem Sondervotum niederlegen; das Sondervotum ist der Entscheidung anzuschließen. Die Senate können in ihren Entscheidungen das Stimmenverhältnis mitteilen. Das Nähere regelt die Geschäftsordnung.

Näheres zu abweichenden Meinungen regelt die vom Plenum beschlossene Geschäftsordnung des Bundesverfassungsgerichts in § 56 GO-BVerfG: 1) Das Sondervotum, in dem ein Richter seine in der Beratung vertretene abweichende Meinung zu der Entscheidung oder deren Begründung niederlegt, muß binnen drei Wochen nach Fertigstellung der Entscheidung dem Vorsitzenden des Senats vorliegen. Der Senat kann diese Frist verlängern. 2) Wer beabsichtigt, ein Sondervotum abzugeben, hat dies dem Senat mitzuteilen, sobald es der Stand der Beratungen ermöglicht. 3) Wird das Sondervotum zu einem Urteil abgegeben, so gibt der Vorsitzende dies bei der Verkündung bekannt. Im Anschluss daran kann der Richter den wesentlichen Inhalt seines Sondervotums mitteilen. 4) Das Sondervotum wird zusammen mit der Entscheidung bekannt gemacht. 5) Das Sondervotum ist in der Sammlung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts im Anschluss an die Entscheidung mit dem Namen des Richters zu veröffentlichen. 6) Für Sondervoten zu Entscheidungen des Plenums gelten die vorstehenden Bestimmungen entsprechend.

In § 56 Abs. 1 Var. 1 GO-BVerfG findet sich die Differenzierung zwischen einer dissenting opinion – einer „abweichenden Meinung zu der [ergangenen] Entscheidung“ – und in § 56 Abs. 1 1 Var. 2 GO-BVerfGG einer concurring opinion – einer „abweichenden Meinung zu (…) deren Begründung“. Die weiteren Festlegungen des § 56 GO-BVerfG in den Absätzen drei bis fünf stellen sicher, dass die Mehrheitsentscheidung und die abweichende Meinung grundsätzlich über eine identische Reichweite verfügen und den gleichen Adressatenkreis erreichen. Auch bei den Presseerklärungen, die das Bundesverfassungsgericht zu allen Urteilen und Beschlüssen veröffentlicht, die von öffentlichem Interesse 1

Die Möglichkeit ein Sondervotum zu veröffentlichen wird lediglich dem Niedersächsischen Staatsgerichtshof in § 12 Abs. 1 des Gesetzes über den Niedersächsischen Staatsgerichtshof, der hier eine entsprechende Anwendung von § 30 Abs. 2 BVerfGG vorsieht, und dem Hessischen Staatsgerichtshof nach § 16 Abs. 3 des Hessischen Staatsgerichtshofsgesetzes eingeräumt.

10.1 Existenz und Beschaffenheit richterlicher Freiräume …

199

sind, werden die Sondervoten und ihre Verfasser genannt und ihr Inhalt kurz zusammengefasst. Die Presse hingegen berichtet zwar von in öffentlicher Sitzung verkündeten Urteilen, jedoch nur in seltenen Fällen über die Sondervoten und deren Inhalte. Die rechtswissenschaftliche Literatur konstatiert, den Sondervoten würde es an Einheitlichkeit in Anlass, Stil und Intention fehlen, zudem hätten sie in den mehr als vier Jahrzehnten seit ihrer Einführung das Bild der Rechtsprechung in nur sehr geringem Maße geprägt (Schlaich/ Korioth 2010: 32 f.). Auch schwankt die Zahl der veröffentlichten Sondervoten sehr stark; in den Jahren 2001 bis 2011 etwa zwischen einem und sieben veröffentlichten Sondervoten jährlich (Lenz/ Hansel 2013, § 30, Rn. 30). Kurz nach der Einführung des Sondervotums am Bundesverfassungsgericht äußerte Friedrich Karl Fromme die These, die Existenz von Sondervoten würde das Ansehen des Gerichts oder die Akzeptanz seiner Entscheidungen schwächen (Fromme 1974: 889 f.). Diese These wird in der rechtswissenschaftlichen Literatur aufgegriffen, doch gibt es hierzu keine einheitliche Position2 . Auch Benda und Klein äußerten die Befürchtung, die Existenz von Sondervoten könnte zum Anlass genommen werden, die Befolgung von Entscheidungen in Frage zu stellen (Benda/ Klein 2005: 133). Die Politische Wissenschaft sieht Sondervoten im Wesentlichen unter zwei Aspekten: Zum einen als „älteste Antwort auf die Frage, ob und inwiefern die persönlichen Positionen von Verfassungsrichtern eine Rolle spielen“ (Hönnige 2007: 51), zum anderen als Indiz dafür, dass das Bundesverfassungsgericht eine „Institution der politischen Gesellschaft“ ist (Lietzmann 2006: 269). Aus Sicht der Rechtswissenschaft ist die abweichende Meinung Ausdruck des in „Fragen des Verfassungsrechts vorhandenen Pluralismus in Methode und Ergebnis der Verfassungsinterpretation“ (Schlaich/ Korioth 2010: 31). Im Sinne einer angemessenen Problemlösung ist es zweifelsohne hilfreich, wenn innerhalb der Senatsberatungen – wie von Kranenpohl erkannt – nach dem Prinzip der „ausgewogenen kritischen Deliberation“ (Kranenpohl 2010: 162) verfahren wird. Das Sondervotum gibt allerdings indirekt Teile dieser Beratung des Gerichts preis und macht so Meinungsverschiedenheiten für Personen außerhalb des Gerichts zumindest in Teilen kenntlich. Es wäre denkbar, dass die Richter befürchten, eine größere Zahl an konfliktiven Entscheidungen – als schlimmster anzunehmender Fall beispielsweise Entscheidungen, die mit fünf zu drei Stimmen ergangen sind und zu denen drei

2

Vgl. etwa Schlaich/ Korioth 2010: 31, Benda/ Klein 2005: 133.

200

10

Konsenshypothese

Sondervoten erstellt wurden, in denen die dissentierenden Richter ihren Kollegen grobe Fehler beim Verfassen der Mehrheitsmeinung vorwerfen – könnte sich auf Dauer nachteilig auf die Folgebereitschaft der anderen Akteure im politischen System auswirken. Eben dieses theoretische worst case-Szenario wurde auch von einem der Richter in Kranenpohls Untersuchung beschrieben und als nicht erstrebenswert eingeordnet: „Eine 5:3-Mehrheit reicht zwar, aber es ist für die Rechtsprechung auf die Dauer eine Belastung, wenn ununterbrochen 5:3-Entscheidungen ergehen und die drei Unterlegenen dann noch ein Sondervotum verfassen. (Interview Nr. 28)“ (Kranenpohl 2010: 183)

Derartige Befürchtungen könnten dazu geeignet sein, in den Richtern eine hohe Bereitschaft zu erzeugen, Entscheidungen möglichst einstimmig zu treffen oder zumindest widerstreitende Ansichten innerhalb eines Senats und zwischen den Senaten so selten als möglich für Außenstehende erkennbar zu machen. Und schließlich hat das Bundesverfassungsgericht auch eine Reputation, die es zu wahren gilt: Die schon mehrfach betonte Legitimitätsreserve des Gerichts, nämlich das Vertrauen der Bevölkerung. Marion Albers beschreibt das Auftreten wie folgt: „Nicht der unwichtigste Punkt ist die Selbstdarstellung des Gerichts nach außen. Das Gericht pflegt das Bild einer sich um alles sorgenden Organisation.“ (Albers 1997: 202)

Einer Organisation, die einen solchen Anspruch pflegt, steht Einigkeit ungleich besser als Dissens.

10.1.2 Das Plenum Die Zuständigkeit der Senate ist so geordnet, dass eine inhaltliche Überschneidung möglichst ausgeschlossen ist. Als das Bundesverfassungsgericht gegründet wurde, sollten – wie bereits in der Sozialisierungshypothese ausgeführt – der Erste Senat für die Grundrechte und der Zweite Senat für alle übrigen Streitfragen zuständig sein. Das Gericht hat jedoch die Möglichkeit, durch Entscheidungen des Präsidiums über die Geschäftsverteilung die Zuständigkeiten zu modifizieren, und hat davon im Laufe der vergangenen Jahrzehnte ausgiebig Gebrauch gemacht. Da dem Gesetzgeber von Anfang an bewusst war, dass in einem Verfahren sowohl

10.1 Existenz und Beschaffenheit richterlicher Freiräume …

201

grundrechtliche Fragen als auch Fragen des Staatsorganisationsrechts aufgeworfen werden können, wurde berücksichtigt, dass die konzeptionelle Aufteilung in der Realität der Spruchtätigkeit nicht durchgängig abgebildet werden könnte. Thematischen Überschneidungen, die die Gefahr eines „allmählichen Auseinandertreiben[s]der Rechtsprechung“ (Benda/ Klein 2001: 66) in sich bergen, ist er mit § 16 BVerfGG – der gesetzlichen Normierung des Plenums – begegnet. Die dem Plenum übertragene Aufgabe besteht im Wesentlichen darin, im Rahmen eines Vorlageverfahrens3 , das lediglich ein Zwischenverfahren (Lenz/ Hansel 2013, § 16 Rn. 4) zur Klärung einer zwischen den Senaten umstrittenen Rechtsfrage darstellt, divergierende Tendenzen in der Rechtsprechung beider Senate auszugleichen. Die Zuständigkeit ist also auf reine Divergenzfälle beschränkt. Die grundsätzliche oder besondere Bedeutung einer zur Entscheidung vorliegenden Rechtsfrage alleine ermöglicht es nicht, das Plenum anzurufen (Lenz/ Hansel 2013, § 16, Rn. 3). Das Plenum entscheidet nicht abschließend über das anhängige Verfahren, sondern nur über die Rechtsfrage, die das Verfahren aufwirft und in der die beiden Senate zu von-einander abweichenden rechtlichen Bewertungen kommen. Die Zuständigkeit für das jeweilige Verfahren obliegt trotz der Entscheidung des Plenums dem Senat, der es angerufen hat (vgl. § 14 BVerfGG). Damit sind die Aufgaben des Plenums in etwa vergleichbar mit denen der Großen Kammer beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (Art. 26 Abs. 5, 29, 43 EMRK) oder der Großen Kammer beim Gerichtshof der Europäischen Union (Art. 251 AEUV i.V.m. Art. 16 der Satzung des EuGH), nämlich für die Einheitlichkeit der Rechtsprechung zu sorgen. Die entsprechende Vorschrift im BVerfGG lautet: § 16 (1) Will ein Senat in einer Rechtsfrage von der in einer Entscheidung des anderen Senats enthaltenen Rechtsauffassung abweichen, so entscheidet darüber das Plenum des Bundesverfassungsgerichts. (2) Es ist beschlussfähig, wenn von jedem Senat zwei Drittel seiner Richter anwesend sind.

Wenn die in Absatz 1 genannten Voraussetzungen vorliegen, ist die Zuständigkeit des Plenums zwingend und unausweichlich (Lenz/ Hansel 2013, § 16 Rn. 4). Weitere praktische Maßgaben enthalten die §§ 48 und 49 der GO-BVerfG, etwa die Regelung, dass es in Verfahren vor dem Plenum zwei Berichterstatter 3

Das Verfahren im Plenum ist insofern vergleichbar mit den Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 100 Abs. 1-3 und Art. 267 AEUV, vgl. Lenz/ Hansel 2013, § 16 Rn. 4.

202

10

Konsenshypothese

gibt, nämlich einen Richter aus dem Ersten und einen Richter aus dem Zweiten Senat, und die Klarstellung, dass ein Fall des Abweichens von der Rechtsauffassung des anderen Senats nicht vorliegt, wenn jener erklärt, an seiner bisherigen Rechtsprechung nicht festhalten zu wollen: § 48 GO-BVerfG (1) Der Senat, der in einer Rechtsfrage von der in einer Entscheidung des anderen Senats oder des Plenums enthaltenen Rechtsauffassung abweichen will, ruft das Plenum durch Senatsbeschluss an. (2) Die Anrufung des Plenums entfällt, wenn der Senat, von dessen Entscheidung abgewichen werden will, auf Anfrage erklärt, dass er an seiner Rechtsauffassung nicht festhalte. §49 GO-BVerfG (1) Zur Vorbereitung der Entscheidung des Plenums benennt der Vorsitzende jedes Senats einen Berichterstatter. Jeder Berichterstatter legt spätestens zehn Tage vor der Plenarsitzung ein Votum vor. (2) Der Beschluss des Plenums ist zu begründen. Er ist ebenso wie Entscheidungen der Senate zu behandeln.

In der Praxis obliegt die weitere Ausgestaltung des Plenarverfahrens dem freien Ermessen der an der Plenarberatung beteiligten Richter. Wegen des auch für das Plenum geltenden Beratungsgeheimnisses ist darüber kaum etwas bekannt.

10.2

Empirische Untersuchung: Art und Umfang der Nutzung bestehender Freiräume

Im Folgenden soll nun untersucht werden, ob es am Bundesverfassungsgericht innerhalb des Richtergremiums eine „informelle Norm des Konsenses“ gibt, und – falls sie in der formulierten oder in ähnlicher Form vorhanden ist – welche Wirkung sie auf das Handeln der Richter am Bundesverfassungsgericht hat. Diese vermeintliche ungeschriebene soziale Norm – die empfundene Verpflichtung, nach außen so häufig und so weit als möglich Einigkeit zu demonstrieren – könnte eine Reaktion auf die große öffentliche Zustimmung sein, die das Gericht aus der Bevölkerung erhält. Diese wiederum fungiert als Legitimitätsreserve,

10.2 Empirische Untersuchung: Art und Umfang …

203

wie bei den externen Faktoren ausgeführt. Wie viele andere Autoren4 geht auch Kranenpohl davon aus, dass die gesellschaftliche Akzeptanz eine zentrale Ressource des Bundesverfassungsgerichts darstellt (Kranenpohl 2010: 400). Die Norm des Konsenses könnte dazu führen, dass die Richter so weit als möglich davon abzusehen versuchen, durch abweichende Meinungen oder durch die Anrufung des Plenums divergierende Auffassungen innerhalb der Richterschaft am Bundesverfassungsgericht für Außenstehende erkennbar zu machen und zu dokumentieren. Das Bundesverfassungsgericht muss „seine Deutungsmacht vor allem in den Beziehungen zu den gewählten Institutionen, der Legislative, der Exekutive, aber auch zu den Institutionen der rechtsprechenden Gewalt und schließlich zur Öffentlichkeit etablieren und behaupten“ (Vorländer 2006: 194). Nach Vorländer erklärt sich die Macht des Bundesverfassungsgerichts nur zu einem Teil aus den Kompetenzen, die Art. 93 GG dem Gericht zuweist. Er sieht darüber hinaus die Vorrangstellung des Gerichts gegenüber politischen Organen als einen maßgeblichen Grund an, hält dessen Stellung aber mitunter auch für bedroht: „Im Konfliktfall gehen die Judikate des BVerfG vor, weshalb sich Exekutive und Legislative den höchstrichterlichen Entscheidungen fügen müssen. Nun ist aber keineswegs garantiert, dass sie dies auch tun. Denn wenn die Verfassungsgerichtsbarkeit nicht über die notwendigen Sanktionsmittel verfügt, um ihre Entscheidung tatsächlich auch durchsetzen zu können, wäre es Exekutive und Legislative theoretisch unbenommen, die Entscheidungen und Urteile zu ignorieren oder, wie der bayerische Ministerpräsident feinsinnig die Kruzifix-Entscheidung kommentierte, „sie zu respektieren, aber inhaltlich nicht zu akzeptieren“. (…) Da aber das BVerfG keine unmittelbare Sanktionsfähigkeit mit der Befugnis besitzt, die Folgebereitschaft zu erzwingen, muss die Macht der Verfassungsgerichtsbarkeit letztlich auf anderen Voraussetzungen beruhen.“ (Vorländer 2006: 192)

Anlässlich des 65. Jahrestages der Verkündung des Grundgesetzes, der am 23. Mai 2014 gefeiert wurde, hatte das Institut für Demoskopie Allensbach im Rahmen einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage die Meinung der Bürgerinnen und Bürger zum Grundgesetz, zur Bedeutung einzelner Grundrechte und zu ausgewählten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts untersucht (IfDUmfrage 11016). Wie schon in der Untersuchung von Vorländer bestätigte sich der eindeutige Befund, dass die Bevölkerung dem Bundesverfassungsgericht mit weitem Vorsprung das größte Vertrauen vor allen anderen Verfassungsorganen 4

Vgl. insbesondere das Modell der gegenseitigen Antizipation des Verhaltens anderer Akteure von Georg Vanberg (2005), in dem die öffentliche Zustimmung der Bevölkerung dem Bundesverfassungsgericht als zentrale Legitimitätsreserve dient.

204

10

Konsenshypothese

entgegenbringt: 86 Prozent der Bürger sprachen dem Bundesverfassungsgericht ihr Vertrauen aus, 75 Prozent dem Bundespräsidenten, 58 Prozent dem Bundesrat und nur 50 Prozent dem Bundestag (Bruttel/ Abaza-Uhrberg 2014: 510). Das Verhältnis der Bürgerinnen und Bürger zu einzelnen Entscheidungen des Gerichts war und ist allerdings nicht immer frei von Spannungen. Die im Rahmen der Befragung untersuchten Judikate wurden von der Mehrheit der Befragten mitgetragen, wenn auch die Kruzifix-Entscheidung und das „Soldaten sind Mörder“-Urteil auf Ablehnungsraten von 55 Prozent bzw. 47 Prozent gestoßen sind (Bruttel/ Abaza-Uhrberg 2014: 514). Das Bundesverfassungsgericht deutet also nicht nur die Verfassung, es verfügt über Deutungsmacht und verleiht den grundlegenden Ordnungsvorstellungen des Gemeinwesens Ausdruck (Vorländer 2006: 192). Auch diese jüngere demoskopische Untersuchung lässt den Schluss zu, dass die Hinwendung zum Bundesverfassungsgericht und die latente Abneigung gegen das Parlament seitens der Bevölkerung nicht nur korrelieren. Die Bürgerinnen und Bürger lehnen den kontroversen demokratischen Diskurs zwischen den Parteien und im Parlament häufig als „Streit“ ab (Patzelt 2005: 526 ff.), statt die Auseinandersetzung widerstreitender Interessen und das Bemühen darum, diese zu einem Ausgleich zu bringen, als Bereicherung und als substantielle demokratische Errungenschaft zu betrachten. Entsprechend steigt der Druck auf die Richter, sich nach außen dem politischen Streit enthoben und so staatstragend-seriös und einig als möglich zu gerieren. Im Rahmen seiner Untersuchung versuchte Kranenpohl von den Richtern zu erfahren, wie sie ihre richterliche Rolle beschreiben und verstehen. Alle Befragten betonten, sich den Prinzipien der Unvoreingenommenheit und Unparteilichkeit verpflichtet zu fühlen. Sie haben die Pflicht verinnerlicht, sich um Unabhängigkeit und größtmögliche Objektivität zu bemühen (Kranenpohl 2010: 451). Offensichtlich sind die Verfassungsrichter auch bestrebt, steuernd auf ihre Außendarstellung und auf die Fremdwahrnehmung des Gerichts einzuwirken. So trafen sie in den Interviews unter anderem die folgenden Aussagen: „Nach außen gibt es natürlich diesen Korpsgeist, der ganz ausgeprägt ist und den wir auch für grundlegend halten. (Interview Nr. 14)“ (Krananpohl 2010: 274) „Das sind wesentlich Teile der Debatte im Senat (…): Was ist politisch und gesellschaftlich unter den aktuellen Bedingungen überhaupt machbar? Wir wollen ja nicht sehenden Auges in die Missbilligung marschieren. (Interview Nr. 1)“ Kranenpohl 2010: 401)

10.2 Empirische Untersuchung: Art und Umfang …

205

Die Richter sind sich also dessen bewusst, dass sie über keine effektiven Zwangsmittel zur Durchsetzung ihrer Entscheidungen verfügen. Dieses Wissen hat einen Effekt auf die Inhalte der Entscheidungen und auf das richterliche Verhalten bei der Entscheidungsfindung. Aus strategischen Erwägungen zur eigenen Glaubwürdigkeit versuchen sie offensichtlich, wenn möglich keinen Dissens nach außen zu tragen. „Ziel ist schon das Auffinden von Lösungen, die zusätzlich auf faktische Legitimation im Sinne der Akzeptanz bei den Bürgern stoßen. Sie spielen also eine Rolle, müssen aber den Filter verfassungsrechtlicher Verwendungstauglichkeit passieren. (Interview Nr. 9)“ (Kranenpohl 2010: 401) „Wenn das Bundesverfassungsgericht nicht diese unglaubliche Akzeptanz hätte, könnte man es eigentlich abschaffen. Denn wenn Sie sehen was es für Mittel hat, Entscheidungen durchzusetzen – die sind ja praktisch null. (Interview Nr. 20)“ (Kranenpohl 2010: 401)

10.2.1 Die abweichende Meinung Die Richter eines Senats scheinen also in nicht unerheblichem Umfang Zeit und Mühe darauf zu verwenden, im Rahmen eines Verfahrens zu einer einstimmigen Entscheidung zu gelangen. Sollte das nicht gelingen, gibt es die Möglichkeit, ein Senatsvotum abzufassen und mit der Bekanntgabe des Stimmenverhältnisses nach § 30 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG am Ende der Entscheidung zu dokumentieren, dass diese nicht einstimmig ergangen ist. Ein weiterer und deutlich größerer Schritt, um zu dokumentieren, dass man die in der Senatsentscheidung vertretene Auffassung nicht teilt, ist das Verfassen einer abweichenden Meinung. Der Berichterstatter versucht mit seinem Entscheidungsentwurf immer einen Kompromiss zwischen der in seinen Augen idealen Lösung und den Wünschen der Kollegen zu finden. Der Grad seiner Kompromissbereitschaft scheint darüber zu entscheiden, wie viele Kollegen der Mehrheitsmeinung zustimmen. Auf der anderen Seite sinkt mit der Zahl der eingegangenen inhaltlichen Kompromisse das Maß, in dem der Richter seine eigenen Vorstellungen realisieren kann. „Also ich glaube, dass Richter A sehr stark bemüht gewesen ist, auch Konsens zu erzeugen, und dafür auch von Positionen durchaus abgerückt ist bzw. Sachen dann nur noch angedeutet hat oder eben versucht hat, einfach dadurch, dass er in gewisser Weise das, was andere sagen, so umarmt und mit einbezieht, das dann gleichzeitig aber auch selber zu formulieren und dann wieder in seinem Sinne auch zu modifizieren. Das ist so ein bisschen seine Arbeitsweise und so hat er sich damit durchgesetzt.

206

10

Konsenshypothese

Ich weiß gar nicht, ob zu seinen Entscheidungen jemals ein Sondervotum geschrieben worden ist.“ (Interview 1) „Vor allem auch im Senat, da hat dann jeder noch irgendwelche Änderungswünsche. Wir haben uns dann auch intern darüber unterhalten, wie wir mit diesen Änderungswünschen umgehen und welche wir umsetzen. Mein Richter hat sehr stark die Tendenz gehabt, Änderungswünsche – wenn sie es nicht verbocken – aufzubereiten und auf diese Weise Konsens herzustellen. Das ist sehr stark seine Methode gewesen und deswegen hat er so viele Verfahren auch durchbekommen.“ (Interview 1)

Eine strategisch und umsichtig eingesetzte Kompromissbereitschaft könnte auch dazu führen, dass ein Richter in wesentlichen Punkten weniger Kompromisse schließen muss. „Richter A arbeitet ungeheuer präzise, unglaublich genau, also so genau wie der macht es auch keiner sonst, glaube ich. Die Entscheidungen, die von ihm kommen, sind in einer Weise filigran gearbeitet, das ist schon sehr, sehr bemerkenswert. Ich stelle mir vor, dass der sich da weniger reinreden lässt. Aber ich stelle mir auch vor, dass der dann eben wirklich auch sachlich viel weiter gehende Kompromisse schließen muss.“ (Interview 1)

Das Bemühen darum, im Senat zu einer einstimmigen Meinung zu finden, scheint groß zu sein, aber nicht unbegrenzt. „Ich habe schon zumindest den Anspruch mitbekommen, dass man sich nach Möglichkeit verständigt. Was ja nicht heißt, dass es immer möglich ist. Aber es ist ja tatsächlich so, dass über 90 Prozent der Entscheidungen – also ich meine die ganz große Mehrheit der Entscheidungen – wirklich einstimmig ergeht. Und ich habe immer den Eindruck gehabt, das Bemühen ist auch da, und gleichzeitig eben auch so ein gewisser Respekt an bestimmten Punkten zu sagen, okay, hier kommen wir halt nicht zusammen und dann muss man halt gegebenenfalls gucken, wie man weiter damit umgeht. (Interview 6)

Nach den Erfahrungen der Interviewpartner versuchen die Richter auch bis zu einem gewissen Grad im Vorfeld zu sondieren, ob es divergierende Auffassungen gibt, und unter welchen Bedingungen es möglich ist, einen Richterkollegen umzustimmen. „Es gibt schon gewisse Fronten, gerade parteipolitisch, aber die sind nicht strikt. Es gab da immer Richter, die zwischen den Fronten gewechselt haben. Richter A war so ein Beispiel; Richter B auch. Der war im Prinzip ein liberaler Mensch, so als CDUMensch, so liberal hätte man gar nicht gedacht. Es gab schon welche, die hin und her gewechselt haben. So gewisse Grundstrukturen gibt es da schon. Die sich dann auch

10.2 Empirische Untersuchung: Art und Umfang …

207

absprechen. Ob sie sich absprechen, das ist vielleicht zu viel gesagt. Aber man kann sagen, dass sie innerhalb des Senats das Gespräch suchen, wenn es um eine größere Sache geht.“ (Interview 4)

Auch scheint es so zu sein, dass gerade unter den Richtern, die gemeinsam in einer Kammer tätig sind, eine auf Gegenseitigkeit beruhende Toleranz und Kompromissbereitschaft gepflegt werden. „Das kommt glaube ich sehr darauf an, wie die Richter zusammenarbeiten. Ich hatte den Eindruck, in der Kammer in der mein Chef war, da haben die sich in der Regel gegenseitig unterstützt. Und haben auch mal was unterschrieben, wo man dachte: Ach, jetzt reitet der da wieder sein Steckenpferd. Aber das ist halt so. Dafür unterschreibt der dann auch mal, wenn ich mein Steckenpferd reite.“ (Interview 2)

Wenn die Kompromissbereitschaft an ihre Grenzen stößt, wird der Entwurf der Mehrheitsentscheidung vom Berichterstatter wohl mitunter auch sehr strategisch vorbereitet: „Das kann zwischen dem Richter und den Mitarbeitern schon so sein, dass er sagt, das Votum müssen wir anders machen: Diesen schlafenden Hund wollen wir nicht wecken, also raus damit. Wenn jemand damit kommt, dann haben wir es in der Hinterhand.“ (Interview 5)

Ein Interviewpartner schilderte einen Ausnahmefall, dem ein schwerer und offen ausgetragener Konflikt der Senatskollegen vorangegangen war. „Der Berichterstatter ist in einem Verfahren mit seinem Votum komplett baden gegangen, ganz, ganz arg und zwar in kürzester Zeit. Es muss wohl in der Beratung so gewesen sein, dass einer gesagt hat: „Also das verstehe ich überhaupt nicht“ und dann alle anderen – rumms – mit draufgehauen haben. Das war dann wohl ziemlich schnell erledigt. Der muss sehr beleidigt und sehr gekränkt gewesen sein, und er hat sich dann eben auch geweigert die Mehrheitsmeinung abzusetzen mit der Folge, dass dann die Frage war: Wer macht es dann? Und dann hat sich mein Chef bereit erklärt und wir hatten dann plötzlich die Mehrheitsmeinung an der Backe, an der ich in einer Nacht-und-Nebel-Aktion einiges machen musste. Das hat natürlich dazu geführt, dass dieser Richter auf diese Mehrheitsentscheidung praktisch keinen Einfluss mehr nehmen konnte. Er hat dann ein eigenes Sondervotum verfasst.“ (Interview 1)

Gefragt nach den Gründen und den Auslösern dafür, dass ein Richter eine abweichende Meinung verfasst, berichteten die Wissenschaftlichen Mitarbeiter davon, dass dies ein hohes Maß an innerer Beteiligung des Richters voraussetzt.

208

10

Konsenshypothese

„Wenn man nach außen dokumentieren will: „Ich sehe das anders und ich will auch die Gründe dafür offenlegen.“ Oder: „Ich empfinde, die Rechtsprechung geht dort in eine falsche Richtung“. Oder: „Es ist dieser rechtliche Gesichtspunkt völlig außer Acht gelassen worden.“ Da ist schon eine sehr starke innere Beteiligung, wenn man das macht. Es ist ja auch viel Arbeit, das zu tun. Das muss man ja auch sehen. Und das hat wirklich mit Überzeugung – mit rechtlichen und politischen Überzeugungen – zu tun, wenn man ein Sondervotum abgibt. Das ist schon was Besonderes.“ (Interview 7)

Manche Richter haben wohl ein distanziertes Verhältnis zu den selbst veröffentlichten abweichenden Meinungen und sehen eher die von ihnen als Berichterstatter verantworteten Senatsvoten als bedeutendes Projekt. „Also ich habe es jetzt eigentlich zumindest bei dem Richter, bei dem ich jetzt war, nicht erlebt, dass er sich jetzt mit diesen Sondervoten so besonders verbunden gefühlt hätte, dass er gesagt hätte, das ist jetzt sein Beitrag zur Rechtsfortbildung. Sondern ich hatte eher den Eindruck, dass er eben immer gesagt hat: „Wenn ich das anders sehe, muss ich auch erläutern warum“. Die Sachen, die er so als sein Werk gesehen hat und mit denen er sich in dem Sinne identifiziert hat, das waren eher die Mehrheitsvoten, die er dann in seinem Bereich durchgekriegt hat. (Interview 6)

Für andere Richter scheint das Sondervotum sogar einem Eingeständnis des Scheiterns nahe zu kommen. „Mein Richter hat nicht daran geglaubt, dass man mit Sondervoten viel bewirken kann. Das Sondervotum ist das Verlierervotum und wer das Sondervotum schreiben muss – das würde er wahrscheinlich auch nicht so formulieren, aber es ist so ein bisschen mein Eindruck – das will er eigentlich nie machen, denn er möchte eigentlich Pflöcke einschlagen und Linien beeinflussen. Er wollte, dass da etwas bleibt, von dem was er macht. Und das ist beim Sondervotum nicht Fall.“ (Interview 1) „Der Chef hat immer gesagt – und ich glaube er hat Recht –, der Einfluss, das was von Richter A bleibt beim Bundesverfassungsgericht, ist null. Und das liegt daran, dass Richter A immer diese Sondervoten geschrieben hat. Er hat sich nie durchgesetzt, hat nie irgendwie relevante Rechtsgebiete bearbeitet.“ (Interview 1)

In den Gesprächen wurde auch deutlich, dass es sich nicht ausschließlich um juristische Aspekte handelt, die einen Richter dazu bewegen können, ein Sondervotum zu verfassen. „Da fand er einfach die Mehrheitsentscheidung – glaube ich methodisch, also, ich will nicht sagen kulturwissenschaftlich zu krass – einfach zu holprig und wollte das nicht stehen lassen. Und er wollte da ein bisschen mehr erkenntnistheoretischen Tiefgang

10.2 Empirische Untersuchung: Art und Umfang …

209

reinbringen. Ob ihm das jetzt gelungen ist oder nicht, aber ich glaube das war sein Anliegen.“ (Interview 1)

Das Argument, dass Sondervoten höchstens von akademischer Bedeutung wären und lediglich einen Beitrag zum wissenschaftlichen Diskurs leisten würden, wurde in den Interviews bestätigt, es wurde aber auch auf die politische Dimension abweichender Meinungen hingewiesen. „Man hat den Eindruck, dass es mit politischen Vorlieben zusammenhängt. Das kann man ja leicht sehen, wenn man sich die Sondervoten der letzten zehn Jahre ansieht, dass es eben häufig einen Unterschied gibt, in der verfassungsrechtlichen Bewertung bestimmter Fragen, bei denen man aber als Leser schon merkt, dass es auch mit einer politischen Ausrichtung zu tun hat. Und dann gibt es eben auch Allianzen und Bündnisse.“ (Interview 2) „Man muss ja sagen, das Sondervotum macht auch Arbeit. Die haben ja einen vollen Schreibtisch, die Richter, und wenn die sich da immer hinsetzen und ein Sondervotum schreiben und in der Sache ja vom Ergebnis her nichts bewirken, dann machen sie das wirklich nur, wenn sie an der Sache ein Interesse haben. Bei Professoren kann ich mir gut vorstellen, dass es so ist, dass, wenn denen rechtsdogmatisch irgendwas nicht gefällt, dass das für sie auch ausreichend ist, dass ihnen etwas so am Herzen liegt, um etwas zu schreiben.“ (Interview 4)

Die innere Beteiligung, die einen Richter dazu bewegt, ein Sondervotum zu verfassen, kann auch aus einem Konflikt mit den Senatskollegen rühren. „Das hängt sicher auch damit zusammen, wie sehr man sich darüber geärgert hat, überstimmt zu werden, also dass sich die Überstimmung abzeichnete.“ (Interview 2) „Also die im Zweiten Senat waren ja auch eine Zeit lang zerstritten. Da hat es natürlich viele Sondervoten gegeben, und da waren dann glaube ich auch viele Animositäten. Da waren viel mehr Animositäten mit dabei als im Ersten Senat.“ (Interview 1) „Aber nach dieser einen Entscheidung häuften sich die Sondervoten im Senat. Jeder wollte mal eines schreiben. Weil dann jeder eines schreiben musste, um der Gegenseite eins mitzugeben. Das Kammergeschäft hat darunter nicht wesentlich gelitten. Das sehe ich nicht so, dass sie mit einem Mal über alles gestritten hätten. Aber über die großen Sachen haben sie gestritten. Es gab auch in der Zeit Kammersachen, die sehr umstritten waren. Aber daran, dass es Kammersachen waren, sieht man, dass am Schluss Einstimmigkeit hergestellt wurde. (….) Aber es ist schon so, dass die Messer über dem Senatstisch ziemlich tief flogen für einige Jahre. Und daraus ist eine Reihe von Sondervoten entstanden. Das besonders Böse am Anfang, dann die Reaktionen.“ (Interview 5)

210

10

Konsenshypothese

In den Interviews wurde die oben bereits zitierte Bewertung von Schlaich und Korioth bestätigt, dass es den Sondervoten an Einheitlichkeit mangele. Interessant ist die Beschreibung eines Interviewpartners, der zwei zentrale Funktionen des Sondervotums nannte: „Das ist sehr unterschiedlich, da die Sondervoten meistens einen starken persönlichen Touch haben aufgrund dieser Sonderkonstellation. Sie haben eine erklärende Funktion und eine öffentlich-politische Funktion. Dabei wird notwendigerweise die Mitarbeit oder der Anteil der Mitarbeit der Wissenschaftlichen Mitarbeiter niedriger liegen als bei anderen Voten. Viele Sondervoten sind auch – meine ich jedenfalls – betont meinungsstark und versuchen nur in Ausnahmefällen besser juristisch zu argumentieren.“ (Interview 3)

Die Untersuchung von Kranenpohl hat deutlich gemacht, dass innerhalb der Senatsberatungen mitunter sehr kontrovers diskutiert wird. Vor dem Hintergrund, dass die Richter am Bundesverfassungsgericht die Auffassung teilen, dass eine einheitlich ergangene Entscheidung den Idealfall darstellt, wäre es denkbar, dass am Rande der Beratungen und der Entscheidungsvorbereitung ausgelotet wird, ob und inwieweit dieses Ziel durch eventuelle Zugeständnisse erreicht werden könnte. Die Interviewpartner zeichneten auch hier ein differenziertes Bild: Bis zu einem gewissen Grad werden von den Richtern inhaltliche Zugeständnisse gemacht, um zu einer einheitlichen Entscheidung zu gelangen. „Das Verhandeln kommt vor. Wobei man da unterscheiden muss: Drohen mit Sondervotum und sozusagen die Ankündigung des eigenen Abstimmverhaltens. Also Letzteres ist vollkommen üblich, dass Richter sagen, wenn sie so und so formulieren oder das und das ergänzen oder aufnehmen, dann kann ich mitmachen. Es wird nicht in dem Sinne gedroht. In den Beratungen geht es auch ganz normal zu, anständig und stilvoll, da wird nicht gedroht. Man sagt einfach: „Herr Kollege, Frau Kollegin, sie müssen Verständnis haben, wenn das so stehen bleibt, kann ich das nicht mittragen.“ (Interview 3) „Das Verhandeln gibt es hier auch. Also ich glaube, vielen Richtern ist gar nicht immer so bewusst, dass sie so etwas machen. Aber tatsächlich passiert es. Dass man eben sagt, das findet er jetzt wichtig, er wollte schon immer mal, und das und das zum Ausdruck bringen. Das finde ich zwar blöd, aber ich unterschreibe es jetzt. Natürlich nicht, wenn man denkt, es sei nicht verfassungsgemäß.“ (Interview 2)

Bei manchen Richtern scheint das Interesse an der Einstimmigkeit geringer ausgeprägt zu sein als das am Festhalten an der eigenen Auffassung und deren Durchsetzung als Berichterstatter:

10.2 Empirische Untersuchung: Art und Umfang …

211

„Ich würde auch sagen meine beiden Richter, die machten ihr Ding. Und dann soll eben ein Sondervotum schreiben, wer nicht will. Aber deshalb schreibt doch mein Richter nicht die Entscheidung um. Der versucht vielleicht die Leute zu überzeugen oder die kommen auch ins Gespräch. Da wird vielleicht, weil der Richter dann auch überzeugt ist, etwas geändert. Aber dass sie so richtig Angst haben vor dem Sondervotum, das glaube ich nicht.“ (Interview 4)

Die Gesprächsausschnitte illustrieren, dass die Grundannahmen des strategischen Modells nach Lee Epstein dahingehend bestätigt werden, dass die Richter bei ihrer Entscheidung, ob sie eine abweichende Meinung abfassen wollen, Kosten und Nutzen gegeneinander abwägen. Als potentielle Kosten kommt in erster Linie der erhebliche Zeitaufwand in Betracht. Dem von der Kollegenmehrheit überstimmten Berichterstatter kommt allerdings offensichtlich eine Sonderrolle zu, die dieser auch strategisch zu nutzen weiß. „Ich nehme an, dass Berichterstatter, die überstimmt werden, eher dazu neigen, Sondervoten zu verfassen, weil der Berichterstatter ja bereits ein Votum hat. (…) Bei den Kosten würde ich als Argument Folgendes sehen: Wenn das Votum sowieso schon da ist – aber die andern wollen das aber anders haben – dann hat man ja auch vergleichsweise wenig Kosten, weil man sagt, das Produkt gibt es eigentlich schon, das muss ich jetzt nur noch ein bisschen umstrukturieren und dann habe ich ein Sondervotum.“ (Interview 2) „Es gibt ein Verfahren, da hat er selbst ein Sondervotum geschrieben, hat aber auch die Mehrheitsentscheidung verfasst. Also er, der Berichterstatter, hat beides gemacht. Das hat er immer versucht. Er hat beides gemacht: Hat ein Sondervotum geschrieben, hat aber in die Mehrheitsentscheidung sozusagen schon die meisten Weichenstellungen, reingebracht.“ (Interview 1)

Weiterhin ist es auch denkbar, dass in die Entscheidung einfließt, ob das Sondervotum die Harmonie im Kollegenkreis beeinträchtigen könnte. Zu den Kosten eines Sondervotums gehört offensichtlich auch, dass sich der votierende Richter exponiert und sich und seine Rechtsauffassung der Kritik aussetzt. Diese Tatsache könnte für Richter einen Hinderungsgrund darstellen oder zumindest als Kostenfaktor in die Abwägung einbezogen werden. „Aber das ist ja das Schöne, dass man sich hinter einer Senatsentscheidung verstecken kann. Also es wird, wenn man nicht ein Sondervotum verfasst hat, nicht namentlich bekannt, wer jetzt für was hier in der Entscheidung verantwortlich ist. Und ich glaube, dass das ganz gut ist. Dass also der Einzelne sagen kann, also selbst wenn jetzt in der Neuen Juristischen Wochenschrift steht, der berühmte Professor so und so findet die

212

10

Konsenshypothese

Entscheidung total falsch und findet, hier sind die einfachsten Grundsätze des Verfassungsrechts nicht beachtet worden, kann man sagen: Wenn ich die Entscheidung gemacht hätte, dann wären die beachtet worden.“ (Interview 2)

Auch die Persönlichkeit des Richters und der berufliche Hintergrund scheinen Einfluss auf die Neigung, ein Sondervotum zu verfassen, zu haben. „Also der Richter A und der Richter B, die auch als Professoren noch eher das Schreiben gewohnt sind und gleichzeitig auch das Gefühl haben, sie verstehen wirklich etwas davon, haben sicher eine größere Neigung, jetzt mal der Welt und ihren Kollegen zu zeigen, wie es richtig ist, als andere, die vielleicht eher aus der Richtertradition kommen und das auch so ein bisschen gewöhnt sind, dass sie sich mit ihrer rechtlichen Auffassung nicht unbedingt durchsetzen können.“ (Interview 2) „Der Richter A ist ja ein berühmter Sondervotenverfasser. Und bei ihm glaube ich, dass es ihm wirklich um das wissenschaftliche Ethos geht. Und auch natürlich ums Recht haben, und ihm ist es sicherlich egal, ob er jetzt ein beliebter Kollege ist oder nicht. (…) Das ist eben – wie gesagt – auch nicht untypisch für Richter, die vorher Professoren waren oder vielleicht nachher wieder Professoren sein werden.“ (Interview 2)

Alle Befragten bestätigten, wie wichtig es den Richtern sei, so geschlossen als möglich nach außen in Erscheinung zu treten, das heißt, soweit irgend möglich die Senatsentscheidungen einstimmig zu treffen. „Also, in der Zeit, in der ich da war, hat sich der Senat immer bemüht, eine einstimmige Entscheidung herbeizuführen. Das Ziel war, so lange zu beraten, bis man eine einstimmige Entscheidung hat. Und die Sondervoten hat man überhaupt nicht geschätzt. Und bei manchen Fällen ging es halt dann nicht anders, aber Ziel jeder Senatsberatung war es, das zu vermeiden. Denn man will ja immer mit einer Stimme sprechen.“ (Interview 10) „Das ist sein gutes Recht dieses Sondervotum zu verfassen. Aber wie gesagt, das ist ja ultima ratio. Man versucht es zu vermeiden. Also in der Zeit, in der ich da war, kam es kaum vor.“ (Interview 10)

Fraglich ist, ob aus dem allseitigen Bekenntnis zur Einstimmigkeit eine Machtasymmetrie entstehen kann. Einzelne Richter könnten dazu verleitet werden, sich die Zustimmung zur einstimmigen Entscheidung durch besondere inhaltliche Zugeständnisse der Senatskollegen abringen zu lassen. Wenn die Einstimmigkeit innerhalb der Senate zum Axiom würde, bestünde die Gefahr, dass es zu inhaltlichen Verzerrungen kommt, weil einzelne Richter so zumindest in Teilfragen Wertungen durchsetzen könnten, die nicht im Einklang mit der Mehrheitsmeinung

10.2 Empirische Untersuchung: Art und Umfang …

213

stünden. Die befragten Wissenschaftlichen Mitarbeiter äußerten sich zu diesem Aspekt wie folgt: „Das ist mit Sicherheit ein Druckmittel, und mir sind auch Fälle bekannt, wo dann der Senatsvorsitzende noch mal mit dem Richter, der ein Sondervotum abgeben wollte, geredet und darauf hingewiesen hat, dass es doch eigentlich im Sinne des Gerichts sei, möglichst geschlossen nach außen aufzutreten und nicht zu sehr einen Dissens nach außen zu tragen. Solche Fälle gibt es, und das Bemühen gibt es auch nach wie vor. Umgekehrt gibt es aber auch eine Selbstverständlichkeit bei den Richtern, dass nicht jede Entscheidung einstimmig erfolgen muss, und dass auch Mehrheitsentscheidungen vollkommen akzeptabel sind. Sondervoten sind tatsächlich dann noch mal ein Sonderfall, weil sie auch immer sozusagen die Weisheit der Mehrheitsentscheidung in Frage stellen.“ (Interview 3) „Also ich habe für einen Richter gearbeitet, der nun versucht hat darauf hinzuwirken, dass Entscheidungen möglichst einheitlich getroffen werden und es nicht so viele Abweichungen gibt. Der sich dann eher darum bemüht hat Kompromisse zu finden, auf die sich dann alle einigen konnten. Aber wenn das nicht möglich war, dann hat er es auch durchaus in Kauf genommen, dass es nur eine Mehrheitsentscheidung gab oder eine 4:4-Entscheidung, und da konnte man ihm auch nicht drohen mit einem Sondervotum, das ging dann auch nicht.“ (Interview 9) „Dass mit Sondervoten gedroht wird – also wirklich gesagt wird „Und ich schreibe ein Sondervotum in dem drin steht, dass sie alle doof sind“ – das kommt in absoluten Ausnahmefällen vor. Da sind auch Fälle bekannt. Das sind auch die Fälle, die man an den Sondervoten ablesen kann, nämlich immer dann, wenn ein Sondervotum aggressiv mit der Mehrheitsentscheidung umgeht.“ (Interview 3)

Die Wissenschaftlichen Mitarbeiter sind bei der Erstellung eines Sondervotums nicht involviert und werden höchstens mit Rechercheaufträgen betraut. Mehr noch als das Verfassen von Entscheidungsentwürfen für Senatsentscheidungen scheint das Verfassen einer abweichenden Meinung zu den Aufgaben zu gehören, die ein Richter keinesfalls delegiert. „Das Sondervotum macht der Richter selbst, außer dass er sich da mal einen Sachverstand holt an verschiedenen Punkten, also, dass er zum Mitarbeiter sagt „forsche mal an dieser und jener Stelle“, aber ich würde mal sagen, das ist dann die ureigene Sache der Richter, weil es ihnen am Herzen liegt.“ (Interview 4) „Das hat er selbst gemacht. Wenn schon Sondervotum, dann macht er es auch selbst. Das habe ich nie anders erlebt.“ (Interview 1)

Ein Richterzitat aus Kranenpohls Studie bestätigt das oben beschriebene Rollenverständnis der Karlsruher Verfassungsrichter auf eingängige Weise.

214

10

Konsenshypothese

„Jeder Richter hat sich in seiner persönlichen Außendarstellung als Botschafter, als Gesicht des Gerichts zu präsentieren und die Entscheidungen aus Legitimationszwecken zu verteidigen. (Interview Nr. 22)“ (Kranenpohl 2010: 273)

Hinsichtlich der Sondervoten lässt sich somit die Existenz einer Norm des Konsenses bejahen, wenn auch nicht in dem Umfang, dass eine nicht einstimmig ergangene Entscheidung oder die Veröffentlichung eines oder mehrerer Sondervoten als um jeden Preis zu vermeidender Ansehensverlust empfunden wird. Doch die Richter am Bundesverfassungsgericht sind offensichtlich aus strategischen Erwägungen – nämlich um der von der Öffentlichkeit an das Gericht herangetragenen Erwartung einer möglichst großen Einigkeit und Geschlossenheit – bestrebt, so weit als möglich und juristisch vertretbar, nach außen einig aufzutreten.

10.2.2 Das Plenum Über das Plenum und die Einstellung der Richter dazu konnten die Befragten aufgrund der oben bereits beschriebenen geringen praktischen Relevanz von bislang fünf Verfahren in mehr als sechzig Jahren Spruchtätigkeit nur wenig berichten. Doch die wenigen Aussagen machten deutlich, warum die Schwelle für die Anrufung des Plenums von den Richtern so selten überschritten wird. In der Kommentarliteratur findet sich der Begriff des „horror pleni“, dessen Existenz die Befragten bestätigten: „Nach meiner Erinnerung war das Plenum so ein Schreckgespenst.“ (Interview 8) „Ich habe die Nachwehen noch mitbekommen von der Plenumsentscheidung zum Thema A. Als ich am Bundesverfassungsgericht war, ging es dann darum, die Plenarentscheidung in eine Senatsentscheidung umzusetzen. Also die Plenarentscheidung war schon da. Was ich von allen gehört habe war, dass man das nie wieder machen will, weil das so schrecklich gewesen sein muss.“ (Interview 1) „Da gibt es sehr hohe Hürden. Sehr hohe Hürden. Und man wird immer überlegen, ob es auch ohne das geht. Also, dass man zum Beispiel sagt: Das ist doch nicht entscheidungsrelevant, dieser Punkt. Müssen wir den aufnehmen? Genau wie an den anderen oberen Gerichten, dem BGH etwa, das ist da auch so: In den großen Senat zu gehen ist etwas, was man nicht so gerne macht, weil man nicht weiß, wie man wieder herauskommt hinterher.“ (Interview 7)

Die Richter scheinen einen erheblichen inhaltlichen Kontrollverlust zu befürchten, wenn eine Rechtsfrage nicht in der mit dem Verfahren befassten Kammer

10.2 Empirische Untersuchung: Art und Umfang …

215

oder im eigenen Senat entschieden werden kann, sondern dem Plenum vorgelegt werden muss. Das verdeutlicht die Beschreibung eines ehemaligen Mitarbeiters zur richterlichen Abwägung, welche der „Aggregatformen“ des Bundesverfassungsgerichts für eine Entscheidung gewählt werden soll. „Und es ist aber im Vergleich zum Plenum auch schon eine Hürde mit seiner Sache in den eigenen Senat zu gehen – das muss man auch sehen. Also, es gibt ja manchmal auch Entscheidungsmöglichkeiten wie: Können wir das doch über die Kammer – also als Dreierbeschluss – machen, oder ist es eine Senatssache? Und für manche Richter kann es eben dann eine Hürde sein, damit in den Senat zu gehen, weil man da auch nie weiß, was rauskommt. In seiner Dreierkammer, da kennt man ja die Zusammenhänge besser.“ (Interview 7)

Offensichtlich gewinnen für manche Berichterstatter die Bedenken Oberhand, je größer die Zahl der Kollegen ist, mit denen eine Entscheidung diskutiert und die für eine Lösung gewonnen werden müssen. Das Plenum stellt in dieser Hinsicht ohne Zweifel die größte Herausforderung dar. „Da ist natürlich dieses sich zusammenraufen müssen schon eine schwierige Angelegenheit. Ich glaube aber, vor allen Dingen ist es auch – wenn man so eine KostenNutzen-Analyse macht – aufwendig, unerfreulich und es dauert furchtbar lang. Es ist ja schon schrecklich genug, etwas mit acht Menschen beraten zu müssen, mit sechzehn ist es ja furchtbar. Vor allen Dingen mit sechzehn Richtern, die alle das Gefühl haben, sie wissen da gut Bescheid. Und deswegen ist das schon etwas, das man eher fürchtet.“ (Interview 2) „Vielleicht ist es einfach so viel, dass man da mit dieser Kompromissfindung in der Sache nicht mehr so gut hinkommt. Es muss furchtbar gewesen sein und es muss zäh gewesen sein. Tatsächlich sind die Senate sehr unterschiedlich. Also es ist einfach so, dass es unterhalb der als solche zugegebenen Abweichungen ja millionenfache Abweichungen gibt, die einfach so nebenherlaufen.“ (Interview 1)

Ein weiterer Grund das Plenum zu meiden, scheint eine gewisse Rivalität zwischen dem Ersten und dem Zweiten Senat zu sein, von deren latentem bis manifestem Vorhandensein die Mitarbeiter berichteten. „Also es gibt so ein bisschen auch traditionell angelegte Spannungen zwischen den Senaten.“ (Interview 6) „Es gibt ja eine Konkurrenz oder ein Verhältnis zwischen dem Ersten und dem Zweiten Senat, das ich nie so richtig durchschaut habe. (…) Das ist auf der Ebene der Wissenschaftlichen Mitarbeiter schon so ein bisschen scherzhaft. Also, dass man sagt: „Ja nun, mit dir brauche ich ja nicht zu reden, du bist ja im Ersten Senat und man

216

10

Konsenshypothese

weiß ja, die sind irgendwie alle doof“. Die Wissenschaftlichen Mitarbeiter identifizieren sich zum Teil schon sehr mit ihren Richtern oder mit ihrem Senat, wobei das meistens ironisch gebrochen ist. Und man merkt, da gibt es ein Konkurrenzverhältnis. Auch die Unterstellung, der eine Senat entscheide grundsätzlich hier irgendwie falsch während der andere … Und da gibt es manchmal ja auch wechselnde Zuständigkeiten: „Ja, wenn wir das jetzt noch hätten, dann hätten wir die Entscheidung richtig getroffen“. Oder: „Hoffentlich bekommen wir das mal, dann können wir denen endlich mal erklären, wie es richtig ist“.“ (Interview 2)

Aus diesem Grund werden von den Richtern mitunter Umgehungsstrategien gewählt, um für den Fall divergierender Rechtsauffassungen zwischen den Senaten eine möglichst elegante Lösung unter Umgehung der Einberufung des Plenums zu finden. „Ich glaube, häufiger ist es, man weicht ab und ruft den großen Senat nicht an, den gemeinsamen Senat. Also man sagt, vielleicht merken die es nicht, oder das ist hier kein wichtiger Aspekt und wir machen hier so ein kleines obiter dictum. Das finden wir eigentlich doof, aber weil die Entscheidung darauf nicht gestützt wird, ist es dann letztlich doch kein Grund.“ (Interview 2)

Es gibt aber auch Abweichungen in der Rechtsprechung der Senate, für deren Lösung das Plenum nicht das geeignete Forum wäre. Das bedeutet, dass nicht jede Rechtsprechungsdivergenz zwingend ins Plenum führen muss. „Ansonsten ist es aber so: Es gibt auch einfach Sachen, die sind gar nicht plenartauglich, weil das in dem Sinne gar nicht vielleicht gar keine logischen Widersprüche sind, sondern einfach nur unterschiedliche Rechtsprechungslinien, die einfach nicht sehr kohärent sind.“ (Interview 1)

Auch die über allem stehende Vermutung, dass die Richter befürchten, durch das Entscheiden im Plenum zwischen den Senaten bestehende Konflikte nach außen zu tragen und damit dem Ansehen des Gerichts zu schaden, wurde von den Befragten bestätigt, wenn wohl auch die Anrufung des Plenums nicht um jeden Preis vermieden werden soll. „Nach meinem Eindruck war es so, dass die Senate sich jetzt ungern miteinander streiten. Das war jedenfalls damals so, dass da sicherlich versucht worden ist, eine gemeinsame Linie zu finden. Wenn das aber nicht möglich war, dann ist es auch nicht als ehrenrührig angesehen worden, wenn man dann ins Plenum muss.“ (Interview 9)

Betrachtet man die zweite Untersuchung von Epstein, Segal und Spaeth (2001) zur norm of consensus am U.S. Supreme Court, so scheint es möglich, dass das

10.2 Empirische Untersuchung: Art und Umfang …

217

Selbstbewusstsein und die Neigung, Kontroversen innerhalb des Gerichts auch für die Öffentlichkeit erfahrbar und nachvollziehbar zu machen, eine Frage des Alters und damit der Emanzipation des Gerichts ist. Auch die Richter des U.S. Supreme Court haben in den Anfangsjahrzehnten des Gerichts selten concurring oder dissenting opinions veröffentlicht5 . Insofern wäre es denkbar, dass in den kommenden Jahrzehnten auch am Bundesverfassungsgericht der Anteil der zu Senatsentscheidungen veröffentlichten Sondervoten steigen wird. Aufgrund der starken Aversion der Richterinnen und Richter, von der die Wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter übereinstimmend berichteten, scheint eine baldige Entwicklung hin zu einer steigenden Zahl an Plenarentscheidungen trotz der angestellten Emanzipationserwägungen allerdings nicht wahrscheinlich zu sein. Die vermutete Existenz einer Norm des Konsenses wurde bestätigt.

5

Vgl. Hendershot/ Hurwitz/ Lanier/ Pacelle (2013) und Epstein/ Segal/ Spaeth (2001) zur norm of consensus am U.S. Supreme Court.

Bewertung der Ergebnisse und offene Forschungsfragen

11

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die Auseinandersetzung mit der umfassenden sozialwissenschaftlichen Forschung zum U.S. Supreme Court viele neue Impulse zur politikwissenschaftlichen Untersuchung des Bundesverfassungsgerichts bietet. Gerade die Frage, welche Faktoren jenseits von Recht und Gesetz das Verhalten von Verfassungsrichtern beeinflussen können, wird – anders als im sehr juristisch dominierten deutschen Diskurs – in der amerikanischen Forschung innovativ und frei diskutiert. Auch wenn sich nicht alle Faktoren auf das Bundesverfassungsgericht übertragen lassen, so inspiriert die Auseinandersetzung zu weiterführenden Überlegungen. Bedauerlich und ständig wiederkehrend ist die Begrenzung der wissenschaftlichen Untersuchungsmöglichkeiten und die absolut unzulängliche Möglichkeit, an Daten und Informationen zu Verfahren und zum richterlichen Entscheidungsfindungsprozess am Bundesverfassungsgericht zu gelangen. Die Annahmen des strategic model nach Epstein und Knight (1998) eröffnen eine neue und zielführende Perspektive für die politikwissenschaftliche Untersuchung des Verhaltens der Richter am Bundesverfassungsgericht. Zahlreiche Phänomene und Vorgehensweisen lassen sich nur mit den Prämissen des strategic model erfassen und einordnen. Eindeutiges Ergebnis dieser Untersuchung ist, dass die Richter immer dort, wo sich Handlungsspielräume eröffnen, diese überlegt und strategisch nutzen. Das tun sie mitunter auch dann, wenn ihnen formal kein Freiraum gewährt wurde, die richterliche Schaffung und Nutzung solcher Räume jedoch toleriert wird. Die quantitativen Analysen der drei ersten Hypothesen – der Gesetzgeberhypothese, der Justizhypothese und der Sozialisierungshypothese – brachten folgende Ergebnisse: Die Sozialisierungshypothese konnte nicht durch den empirischen

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2024 M. Schlögel, Strategen in Roben, https://doi.org/10.1007/978-3-658-43868-5_11

219

220

11

Bewertung der Ergebnisse und offene Forschungsfragen

Befund bestätigt werden. Das erstaunte nicht, da die ursprüngliche Aufgabenteilung zwischen erstem und zweitem Senat in den letzten Jahrzehnten durch abweichende Zuständigkeitsregelungen des Plenums weitestgehend aufgeweicht worden war. Die Gesetzgeberhypothese hat ergeben, dass das Bundesverfassungsgericht auf der Ebene der Stattgabe ohne mündliche Verhandlung Bundes- und Landesgesetze zu annähernd gleich hohen Anteilen als verfassungswidrig bewertet. Mit einer mündlichen Verhandlung werden deutlich häufiger Gesetze als nicht verfassungskonform eingestuft, wobei der Anteil an verworfenen Landesgesetzen signifikant höher ist. Im zweiten Untersuchungsschritt wurde deutlich, dass das Bundesverfassungsgericht bei der Kassation von Bundesgesetzen mit seinen selbst entwickelten Tenorierungen deutlich weniger tief in die gesetzgeberische Autonomie eingreift als bei Landesgesetzen. Bei Beschlüssen zu Bundesgesetzen lässt das Gericht die größte Zurückhaltung walten. Die Justizhypothese zeigte ebenfalls, wie wichtig es ist, in der Auswertung zwischen den Verfahren mit und denen ohne mündliche Verhandlung zu differenzieren. Im Wege des Urteils wurden geringfügig mehr Entscheidungen von Bundesgerichten als von Landesgerichten aufgehoben. Einen deutlichen Anstieg des Anteils aufgehobener Entscheidungen gab es aber in Verfahren ohne mündliche Verhandlung. Dieses Verhalten wird so gedeutet, dass das Bundesverfassungsgericht den bestehenden Konflikt mit den Fachgerichten möglichst nicht vor den Augen der Öffentlichkeit austragen oder gar anfachen möchte. Mit dem Selbstbild des Bundesverfassungsgerichts als neutrale und überparteiliche Institution sind Auseinandersetzungen mit den Bundes- oder den Instanzgerichten schlecht zu vereinbaren. Das hält das Bundesverfassungsgericht aber nicht davon ab, im Wege des Beschlusses 61,4 Prozent der angegriffenen Entscheidungen der Instanzgerichte aufzuheben. Eine neue Erkenntnis ist jedoch, dass die Richter am Bundesverfassungsgericht mündliche Verhandlungen strategisch mit zwei unterschiedlichen Zielrichtungen einsetzen. Sowohl Vanberg (2005) als auch Krehbiel (2016) haben sich mit mündlichen Verhandlungen am Bundesverfassungsgericht befasst. Krehbiel kam zu dem Schluss, dass Verfassungsgerichte mündliche Verhandlungen dafür einsetzen, um gewählte Mandatsträger mit dem durch Öffentlichkeit entstehenden Druck von einer möglichen Nichtbefolgung richterlicher Anordnungen abzuhalten (Krehbiel 2016: 1002). Die dieser Überlegung zugrunde gelegte Logik geht davon aus, dass die mündliche Verhandlung der Öffentlichkeit die Möglichkeit zur Kontrolle gibt, und die informierte Öffentlichkeit Versuche der Umgehung

11

Bewertung der Ergebnisse und offene Forschungsfragen

221

oder Nichtbefolgung von Entscheidungen durch eine der Entscheidung verpflichteten Personen bemerken und sanktionieren würde. Einen ähnlichen Blickwinkel hatte Vanberg bereits 2005 eingenommen und kam zu dem Schluss, dass „mündliche Verhandlungen einen bedeutenden Einfluss auf die Annullierung haben. (…) Fälle, die in einem für das BVerfG günstigen Umfeld gelagert sind, resultieren mit weit größerer Wahrscheinlichkeit in einer Annullierung als Fälle, in denen das Gericht aus einer Position der Schwäche agiert.“ (Vanberg 2005: 208)

Dass das Gericht aber selbst ein Interesse daran haben kann, in bestimmten Konstellationen Verfahren ohne Öffentlichkeit und damit ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden, war noch nicht Gegenstand von Untersuchungen. Offensichtlich sucht das Bundesverfassungsgericht bei der Auseinandersetzung mit den Kollegen aus der Justiz den öffentlichkeitsfreien Raum. Interessant für weitere Forschungsvorhaben wäre es herauszufinden, welche Rolle die Tatsache spielt, dass in jedem Senat mindestens drei ehemalige Bundesrichter tätig sind. Die Untersuchung der Agendahypothese und der Mitarbeiterhypothese ergab, dass die Verfassungsrichter die durch gesetzliche Bestimmungen gewährten Freiräume extensiv nutzen. Sie versuchen durch ihre Annahmepraxis und durch eine strategische Zuweisung von Verfahren in den Senat oder in die Kammer den ihr Sachgebiet betreffenden Output des Gerichts in die von ihnen gewünschte Richtung zu beeinflussen. Im Rahmen der Agendahypothese wurde deutlich, dass die Richter gerne – wie am U.S. Supreme Court – die Möglichkeit zur Annahme nach freiem Ermessen hätten. Wunsch der Richter ist es, sich mit den Verfahren befassen zu können, denen eine grundsätzliche Bedeutung für die Weiterentwicklung des Verfassungsrechts zukommt. Die verfassungsrichterliche Agendagestaltung im eigenen Dezernat ist somit ein wesentlicher Einflussfaktor auf die inhaltliche Ausrichtung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Ein weiterer Teil des strategischen Handelns der Richter ist der Einsatz der wissenschaftlichen Mitarbeiter. Weil sich die Richter auf ausgewählte Verfahren konzentrieren wollen, gestehen sie ihren Mitarbeitern umfassende Freiräume bei der Bearbeitung der großen Zahl an Kammervoten zu. Hier besteht eine Ähnlichkeit zu der Verwendung der law clerks am Supreme Court. Die Verfassungsrichter setzen ihre Mitarbeiter gezielt so ein, dass sie für die eigene richterliche Aufgabenwahrnehmung – und gegebenenfalls auch für die Wahrnehmung anderer Aufgaben wie beispielsweise wissenschaftliche Tätigkeit – einen möglichst großen Freiraum schaffen. So bearbeiten die Wissenschaftlichen Mitarbeiter alle eingehenden Kammerverfahren. Sie verfassen einen Eingangsvermerk

222

11

Bewertung der Ergebnisse und offene Forschungsfragen

mit einer Sachverhaltsdarstellung und einem Vorschlag zur weiteren Vorgehensweise. Zudem entwerfen sie die Kammervoten, zu denen sie nur sehr selten Rücksprache mit ihrem Richter halten und bei deren Ausarbeitung sie fast immer freie Hand haben. Die weit überwiegende Zahl der von den Mitarbeitern ausgearbeiteten Voten wird von den Richtern einer Kammer im Umlaufverfahren mitgezeichnet und damit beschlossen. Zugespitzt lässt sich zusammenfassen, dass die Kammerrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aus der Feder der wissenschaftlichen Mitarbeiter stammt und diese somit maßgeblichen Einfluss auf den Ausgang einer großen Zahl an Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht haben. Die Ergebnisse der Untersuchung der Konsenshypothese weisen eine klare Tendenz auf. Der Gesetzgeber hat mit den Möglichkeiten eine abweichende Meinung zu verfassen oder inhaltliche Konflikte zwischen den Senaten im Plenum zu entscheiden der Pluralität der Rechtsauslegung und -anwendung Rechnung getragen. Aus verschiedenen strategischen Erwägungen – nämlich der Wahrung des Ansehens des Gerichts, der Vermeidung einer abträglichen Wirkung für die Folgebereitschaft bei nach außen getragenen inhaltlichen Differenzen oder des mit einem Sondervotum verbundenen Arbeitsaufwands – nutzen die Richter diese Möglichkeiten sehr zurückhaltend. Insbesondere die Option über inhaltliche Divergenzen zwischen den Senaten im Plenum zu entscheiden, wird von den Verfassungsrichtern nachdrücklich gemieden. Nach den Aussagen ihrer Wissenschaftlichen Mitarbeiter scheuen sie sowohl den damit verbundenen Aufwand als auch die Unsicherheit, zu welchem inhaltlichen Ergebnis das Plenum gelangen wird. Weitere Gründe für die Zurückhaltung beim Abfassen von Sondervoten oder der Beratung im Plenum sind die Furcht davor, nicht mehr in ausreichendem Maße „mit einer Stimme zu sprechen“ und damit an öffentlicher Zustimmung in der Bevölkerung und an Folgebereitschaft bei relevanten Akteuren einzubüßen. Diese Befürchtungen gehen aber nicht so weit, dass sich das Richterkollegium erpressbar machen würde. Die Richter versuchen zwar in den Beratungen so oft wie möglich zu einer einstimmigen Entscheidung zu gelangen; der Wille zur Einstimmigkeit gibt allerdings nicht einzelnen Senatsmitgliedern ein Drohpotential gegenüber der Mehrheit. So sehr also der U.S. Supreme Court beim Annahmeverfahren von den Richtern als Vorbild und als erstrebenswertes Beispiel für die Verfahrensgestaltung angesehen wird, so sehr möchten sich die Richter hinsichtlich des Abfassens abweichender Meinungen vom individualistischen Selbst- und Amtsverständnis abgrenzen, das ihre Kollegen am U.S. Supreme Court mit dem dort üblichen Anteil abweichender Meinungen von etwa 70 Prozent pflegen. Während die

11

Bewertung der Ergebnisse und offene Forschungsfragen

223

Ergebnisse der Agenda- und der Mitarbeiterhypothese zeigen, dass das die Richter durchaus daran interessiert sind, ihre Freiräume nach innen zu nutzen und wenn möglich zu erweitern, zeigt die Zurückhaltung bei der Konsenshypothese, dass auf die Außenwirkung des Gerichts große Rücksicht genommen wird. Hier lässt sich konstatieren, dass die informelle Norm des Konsenses maßgeblichen Einfluss darauf hat, dass nur wenige Sondervoten verfasst werden und die Richter beinahe nie das Plenum einberufen, um über inhaltliche Divergenzen im Kreise aller Richter zu entscheiden. Entsprechend treten Faktoren wie – in der Übersicht von Lawrence Baum aufgeführt – Bekanntheit in der rechtswissenschaftlichen Community und das Darstellen der eigenen abweichenden Rechtsauffassung weitestgehend hinter der Norm des Konsenses zurück. Offensichtlich von Bedeutung sind die Harmonie mit den Kollegen am Gericht und die Begrenzung der Arbeitslast. Fraglich ist, was dieser ausgeprägte Wille zur Einstimmigkeit für die Rechtsfortbildung bedeutet. Sowohl für die Wissenschaft als auch für die Rechtsanwender würden die Inhalte kontroverser Debatten innerhalb eines Senats oder innerhalb der beiden Senate wertvolle Impulse enthalten. Dessen sind sich die Richter – nach den Angaben den Mitarbeiter – auch durchaus bewusst. Das Potenzial solcher Impulse wird nicht ausgeschöpft, wenn das Verfassen von Sondervoten den zu vermeidenden Ausnahmefall darstellt. Es stellt sich die Frage, ob die Verfassungsrichter einem nicht mehr zeitgemäßen Richterbild anhängen, das im Widerspruch zur zunehmenden Öffnung anderer Bereiche staatlichen Handels steht, in denen zumindest nach Abschluss des jeweiligen Vorgangs der Prozess der Entscheidungsfindung transparent und damit nachvollziehbar gemacht wird. Die Position Kranenpohls, dass das Beratungsgeheimnis ein sehr positives Element des Verfahrens am Bundesverfassungsgericht ist, kann hier nicht geteilt werden. Die arcana imperii stehen zu sehr in der Tradition monarchischer Staaten und des Heiligen Römischen Reiches, als dass sie von einem Verfassungsorgan in einem demokratisch verfassten Gemeinwesen im 21. Jahrhundert weiter gepflegt werden sollten. Wenn die Arkantradition zu Lasten der Pluralität der Meinungen und deren Nachvollziehbarkeit geht, scheint ein Mehr an Transparenz dringen erforderlich zu sein. Ungleich überzeugender ist hier die Transparenz am U.S. Supreme Court, die mit entsprechendem zeitlichen Abstand nach dem Abschluss der Beratungen zu einem Verfahren hergestellt wird. Ein Anknüpfungspunkt für weitere Forschungsvorhaben wäre die Frage, wie sich die einzelnen Faktoren, die als relevant identifiziert wurde, zueinander verhalten und wie ihr Einfluss zu gewichten ist, oder genauer zu untersuchen, wie die Richter in anderen Verfahrensarten die mündliche Verhandlung strategisch einsetzen, um eigene Ziele zu erreichen. Ebenfalls aufschlussreich wäre es – soweit die

224

11

Bewertung der Ergebnisse und offene Forschungsfragen

dafür erforderlichen Informationen und Daten einmal für Forschende zugänglich sein werden – den Einfluss des beruflichen Hintergrunds der Richter am Bundesverfassungsgericht zu untersuchen, insbesondere im Hinblick auf die daraus möglicher Weise resultierende Stellung im Kollegenkreis, die Entscheidung, ob Verfahren eher in den Senat oder in die Kammer eingebracht werden, auf die Bereitschaft, nicht mit der Mehrheit im Senat zu stimmen und auf schließlich die Bereitschaft ein Sondervotum zu verfassen.

Interviewfragebogen

12

Allgemeine Fragen zur Tätigkeit: • Wann und wie lange waren Sie als wissenschaftlicher Mitarbeiter am BVerfG tätig? • Waren Sie in dieser Zeit einem Richter oder mehreren Richtern in Folge zugeordnet? • Waren Sie für einen Richter am Ersten oder am Zweiten Senat tätig? Verfassen von Voten: • Wie intensiv erfolgte die Besprechung der von Ihnen verfassten Voten mit Ihrem Richter? • Wie hoch ist der Anteil der besprochenen bzw. näher erläuterten Voten am Gesamtaufkommen? • Wie häufig folgt ein Richter dem Votum seines Mitarbeiters? Gab es hier Unterschiede zwischen den Richtern? • Gibt es Möglichkeiten der inhaltlichen Einflussnahme durch den Mitarbeiter? • Wie umfassend sind die inhaltlichen Vorgaben des Richters an seinen Mitarbeiter? • Werden bereits bei Aufnahme der Tätigkeit inhaltliche Grundlinien des Dezernats mit dem Richter abgesprochen?

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2024 M. Schlögel, Strategen in Roben, https://doi.org/10.1007/978-3-658-43868-5_12

225

226

12

Interviewfragebogen

Verfassen von Teilen der Entscheidung: • Welche Aufgabe kommt dem Mitarbeiter bei der Unterstützung seines Richters beim Abfassen einer Senatsentscheidung zu? • Gibt es Unterschiede in der Mitarbeit bzw. im Umfang der Tätigkeit des wissenschaftlichen Mitarbeiters bei Senats- oder Kammerentscheidungen? Streben nach Konsenses: • Wie häufig werden Entscheidungen umgeschrieben/ überarbeitet, weil andere Richter inhaltliche Änderungen anregen? • Gibt es die Drohung mit dem Sondervotum für den Fall, dass Änderungswünsche einzelner Richter in der Mehrheitsmeinung nicht berücksichtig werden? • Unter welchen Umständen verfasst ein Richter ein Sondervotum? • Wie sehr ist der Mitarbeiter in die Abfassung des Sondervotums eingebunden? Plenum: • Wie wird der Fall gehandhabt, dass ein Senat in einer Entscheidung von der stehenden Rechtsprechung eines anderen Senats abweichen möchte? • Ist die Aussicht, eine Rechtssache im Plenum zu entscheiden, weil sich beide Senate inhaltlich widersprechen für die Richter bedrohlich bzw. etwas, das sie zu vermeiden suchen? Die Agenda des BVerfG: • Inwieweit bestimmen die Richter/ die Senate ihre inhaltliche Agenda? • Nach welchen Kriterien wird darüber entschieden, ob einer Rechtssache nach § 93 a II a BVerfGG grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zukommt? • Wie wird mit politisch problematischen/ aktuellen/ brisanten Themen umgegangen? Äußere Einflüsse: • Inwieweit fließen Erwartungen der Bevölkerung oder politischer Akteure in die Entscheidungen mit ein? (Zitat Limbach: Wir müssen die Bürger doch dort abholen, wo sie stehen)

12

Interviewfragebogen

227

• Wie wird vor dem Hintergrund der hohen öffentlichen Wertschätzung des Bundesverfassungsgerichts damit umgegangen, dass manche Entscheidungen, die juristisch zwingend sind und im Einklang mit der Rechtsordnung stehen, von den Bürgern als „Fehlurteil“, als ungerecht bzw. nicht nachvollziehbar angesehen werden? • Gibt es maßgebliche Vernetzungsstrukturen der Verfassungsrichter (national/ international)? Weitere Aspekte: • Gibt es weitere Aspekte, die Sie für den Themenkreis der Untersuchung der Tätigkeit der wissenschaftlichen Mitarbeiter und für meine Fragestellung, welche internen und externen Faktoren die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts beeinflussen könnten, für relevant erachten, die im eben geführten Gespräch bzw. im Gesprächsleitfaden nicht berücksichtigt wurden?

Literatur

Albers, Marion (1997): Freieres Annahmeverfahren für das BVerfG? In: Zeitschrift für Rechtspolitik 5/1997, S. 198–203. Anzenberger, Zeno (1998): Das Bundesverfassungsgericht auf dem Weg zu einem freien Annahmeverfahren nach dem Vorbild des U.S. Supreme Court. Bayreuth. Armstrong, Virginia C./ Johnson, Charles A. (1982): Certiorari Decisions by the Warren and Burger Courts: Is Cue Theory Time Bound? In: Polity, Vol. 15, No. 1, S. 141–150. Arndt, Hans-Wolfgang/ Schuhmacher, Andreas (1999): Kinder, Kinder … oder: Die unterschiedliche Leistungsfähigkeit der Senate des Bundesverfassungsgerichts. Neue Juristische Wochenschrift 11/1999: 745–750. Arrington, Theodore S./ Brenner, Saul (2004): Strategic Voting for Damage Control on the Supreme Court. In: Political Research Quarterly, Vol. 57, 4/2004, S. 565–573. Asmussen, Nicole (2011): Female and Minority Judicial Nominees: President’s Delight and Senators’ Dismay? In: Legislative Studies Quarterly, Vol. 36, 4/2011, S. 591–619. Aust, Helmut Philipp/ Meinel, Florian (2014): Entscheidungsmöglichkeiten des BVerfG. Tenor, Systematik und Wirkungen. In: Juristische Schulung 1/2014, S. 25–30. Aust, Helmut Philipp/ Meinel, Florian (2014): Entscheidungsmöglichkeiten des BVerfG. Tenor, Systematik und Wirkungen. In: Juristische Schulung 2/2014, S. 113–117. Bailey, Michael L./ Kamoie, Brian/ Maltzman, Forrest (2005): Signals from the Tenth Justice: The Political Role of the Solicitor General in Supreme Court Decision Making. In: American Journal of Political Science, Vol. 49, No. 1, S. 72–85. Baird, Vanessa A. (2004): The Effect of Politically Salient Decisions on the U.S. Supreme Court Agenda. In: The Journal of Politics, Vol. 66, 3/2004, S. 755–772. Baron, Jermone A./ Dienes, Thomas C. (20036 ): Constitutional Law. St. Paul, MN. Battis, Ulrich/ Grigoleit, Klaus Joachim (2001): Die Entwicklung des versammlungsrechtlichen Eilrechtsschutzes – Eine Analyse der neuen BverfG-Entscheidungen. In: Neue Juristische Wochenschrift 29/2001, S. 2051–2055. Baum, Lawrence (1976): Implementation of Judicial Decisions. An Organizational Analysis. In: American Politics Quarterly 1/1976, S. 86–115. Baum, Lawrence (1977): Policy Goals in Judicial Gate Keeping: A Proximity Model of Discretionary Jurisdiction. In: American Journal of Political Science, Vol. 21, 1/1977, S. 13–35. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2024 M. Schlögel, Strategen in Roben, https://doi.org/10.1007/978-3-658-43868-5

229

230

Literatur

Baum, Lawrence (1987): Explaining the Burger Court’s Support for Civil Liberties. In: Political Science, Vol. 20, 1/1987, S. 21–28. Baum, Lawrence (1988): Measuring Policy Change in the U.S. Supreme Court. In: American Political Science Review, Vol. 82, 3/1988, S. 905–912. Baum, Lawrence (1989): Comparing Policy Positions of Supreme Courts Justices from Different Periods. In: The Western Political Quarterly, Vol. 42, 4/1989, S. 509–521. Baum, Lawrence (1992a): On the Unpredictability of the Supreme Court. In: Political Science and Politics, Vol. 25, S. 683–688. Baum, Lawrence (1992b): Membership Change and Collective Voting Change in the United States Supreme Court. In: The Journal of Politics, Vol. 54, 1/1992, S. 3–24. Baum, Lawrence (1993): Case Selection and Decisionmaking in the U.S. Supreme Court. In: Law & Society Review, Vol. 27, 2/1993, S. 443–459. Baum, Lawrence (1994): What Judges Want: Judges’ Goals and Judicial Behavior. In: Political Research Quarterly, 3/1994, S. 749–768. Baum, Lawrence (201010 ): The Supreme Court. Washington DC. Baybeck, Brandy/ Lowry, Wiliam (2000): Federalism Outcomes and Ideological Preferences: The U.S. Supreme Court and Preemption Cases. In: The Journal of Federalism, Vol. 30, 3/2000, S. 73–97. Beckermann, Benedikt (2015): Iudex calculat – Vermeintlich verfassungsimmanente Quantifizierungen als Phänomen der Entgrenzung des Bundesverfassungsgerichts. In: Die Öffentliche Verwaltung 23/2015, S. 1009–1015. Benda, Ernst (1980): Aktuelle Probleme der Praxis des Bundesverfassungsgerichts. In: Neue Juristische Wochenschrift 39/1980, S, 2097–2103. Benda, Ernst/ Klein, Eckart/ Klein, Oliver (20113 ): Verfassungsprozessrecht. Heidelberg. Bergara, Mario/ Richman, Barak/ Spiller, Pablo T. (2003): Modeling Supreme Court Strategic Decision Making. In: Legislative Studies Quarterly, Vol. 28, 2/2003, S. 247–280. Bethge, Herbert (2009): Die Entscheidungswirkung von Normbeanstandungen des Bundesverfassungsgerichts. In: Jura 1/2009, S. 18–24. Blancke, Susanne (2004): Politikinnovationen im Schatten des Bundes. Policy-Innovationen und -Diffusionen im Föderalismus und die Arbeitsmarktpolitik der Bundesländer. Wiesbaden. Böckenförde, Ernst-Wolfgang (1996): Die Überlastung des Bundesverfassungsgerichts. In: Zeitschrift für Rechtspolitik, 1996, S. 281–284. Bonneau, Chris H./ Hammond, Thomas H./ Maltzman, Forrest/ Wahlbeck, Paul J. (2007): Agenda Control, the Median Justice, and the Majority Opinion on the U.S. Supreme Court. In: American Journal of Political Science, Vol. 51, 4/2007, S. 890–905. Bornkamm, Joachim (2004): The German Supreme Court: An Actor in the Global Conversation of High Courts. In: Texas International Law Journal, Vol. 39, S. 415–427. Boucher, Robert L. Jr./ Segal, Jeffrey A. (1995): Supreme Court Justices as Strategic Decision Makers: Aggressive Grants and Defensive Denials on the Vinson Court. In: Journal of Politics, Vol. 57, 3/1995, S. 824–837. Brenner, Saul/ Krol, John F. (1989): Strategies in Certiorari Voting on the United States Supreme Court. In: Journal of Politics, Vol. 51, No. 4, S. 828–840. Brenner, Saul/ Stier, Mark (1996): Retesting Segal and Spaeth’s Stare Decisis Model. In: American Journal of Political Science, Vol. 40, 4/1996, S. 1036–1048.

Literatur

231

Brenner, Saul/ Whitmeyer, Joseph M./ Spaeth, Harold J. (2006): The outcome-prediction strategy in cases denied certiorari by the U.S. Supreme Court. In: Public Choice, Vol. 130, S. 225–237. Brenner, Saul/ Whitmeyer, Joseph M. (2009): Strategy on the United States Supreme Court. Cambridge/ New York. Brohm, Winfried (2001): Die Funktion des BVerfG – Oligarchie in der Demokratie? In: Neue Juristische Wochenschrift 1/2001, S. 1–10.^ Brouard, Sylvian/ Hönnige, Christoph (2017): Constitutional Court as veto players: Lessons from the United States, France and Germany. In: European Journal of Political Research, Vol. 56, 3/2017, S. 529–552. Brugger, Winfried (1987): Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika. Tübingen. Brugger, Winfried (20012 ): Einführung in das öffentliche Recht der USA. München. v. Brünneck, Alexander (1992): Verfassungsgerichtsbarkeit in den westlichen Demokratien. Ein systematischer Verfassungsvergleich. Baden-Baden. Bruttel, Oliver/ Abaza-Uhrberg, Nabila (2014): Die Sicht der Bevölkerung auf Grundgesetz und Bundesverfassungsgericht. In: Die öffentliche Verwaltung, 6/2014, S. 510–516. Bühlmann, Marc/ Kunz, Ruth (2011): Confidence in the Judiciary: Comparing the Independence and Legitimacy of Judicial Systems. In: West European Politics, Vol. 34, 2/2011, S. 317–345. Bundesministerium der Justiz (1998): Entlastung des Bundesverfassungsgerichts: Bericht der Kommission. Caldeira, Gregory A. (1981): The United States Supreme Court and Criminal Cases, 1935– 1976: Alternative Models of Agenda Building. In: British Journal of Political Science, Vol. 11, 4/1981, S. 449–470. Caldeira, Gregory A. (1986): Neither the Purse nor the Sword: Dynamics of Public Confidence in the Supreme Court. In: The American Political Science Review, Vol. 80, 4/1986, S. 1209–1226. Caldeira, Gregory A. (1987): Public Opinion and the U.S. Supreme Court: FDR’s CourtPacking Plan. In: American Political Science Review, Vol. 81, 4/1987, S. 1139–1153. Caldeira, Gregory A. (2004): Expert Judgement versus Statistical Models: Explanation versus Prediction. In: Perspectives on Politics, Vol. 4, 2/2004, S. 777–780. Caldeira, Gregory A./ Gibson, James L. (1992): The Etiology of Public Support for the Supreme Court. In: American Journal of Political Science, Vol. 36, 3/1992, S. 635–646. Caldeira, Gregory A./ Gibson, James L. (1995): The Legitimacy of the Court of Justice in the European Union: Models of Institutional Support. In: American Political Science Review, Vol. 89, 2/1995, S. 356–376. Caldeira, Gregory A./ Hojnacki, Marie/ Wright, John R. (2000): The Lobbying Activities of Organized Interests in Federal Judicial Nominations. In: The Journal of Politics, Vol. 62, 1/2000, S. 51–69. Caldeira, Gregory A./ Wright, John R. (1988): Organized Interests and Agenda Setting in the U.S. Supreme Court. In: The American Political Science Review, Vol. 82, No. 4, S. 1109–1127. Caldeira, Gregory A./ Wright, John R. (1990a): Amici Curiae before the Supreme Court: Who Participates, When and How Much? In: The Journal of Politics, Vol. 52, No. 3, S. 782–806.

232

Literatur

Caldeira, Gregory A./ Wright, John R. (1990b): The Discuss List: Agenda Building in the Supreme Court. In: Law and Society Review, Vol. 24, 3/1990, S. 807–836. Caldeira, Gregory A./ Wright, John R. (1998): Lobbing for Justice: Organized Interests, Supreme Court Nominations and the United States Senate. In: American Journal of Political Science, Vol. 42, 2/1998, S. 499–523. Cameron, Charles M./ Segal, Jeffrey/ Songer, David (2000): Strategic Auditing in a Political Hierarchy: An Informational Model of the Supreme Court’s Certiorari Decisions. In: The American Political Science Review, Vol. 94, 1/2000, S. 101–116. Clark, Tom S./ Lauderdale, Benjamin (2010): Location Supreme Court Opinions in Doctrine Space. In: American Journal of Political Science, Vol. 54, 4/2010, S. 871–890. Clark,Thomas S./ Lax, Jeffrey R./ Rice, Douglas (2015): Measuring the Political Salience of Supreme Court Cases. In: Journal of Law and Court, 1/2015, S. 37–65. Clayton, Cornell W./ Gillman, Howard (1999): Supreme Court Decision-Making. New Institutionalist Approaches. Chicago. Clayton, Cornell/ May, David A. (1999): A Political Regimes Approach to the Analysis of Legal Decisions. In: Polity, Vol. 32, No. 2, S. 233–252. Collins, Paul M. Jr. (2004): Friends of the Court: Examining the Influence of Amicus Curiae Participation in U.S. Supreme Court Litigation. In: Law and Society Review, Vol. 38, 4/ 2004, S. 807–832. Collins, Paul M. Jr. (2007): Lobbyists before the U.S. Supreme Court: Investigating the Influence of Amicus Curiae Briefs. In: Political Research Quarterly, Vol. 60, 1/2007, S. 55–70. Corley, Pamela C. (2008): The Supreme Court and Opinion Content: The Influence of Parties’ Briefs. In: Political Research Quarterly, Vol. 61, 3/2008, S. 468–478. Corley, Pamela C./ Howard, Robert M./ Nixon, David C. (2005): The Supreme Court and Opinion Content: The Use of the Federalist Papers. In: Political Research Quarterly, Vol. 58, 2/2005, S. 329–340. Currie, David P. (1988): Die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika. Frankfurt am Main. Darnstädt, Thomas (2019): Ein Glücksfall für die Demokratie. In: Zeitschrift für Rechtspolitik 2019, S. 27–29. Dawood, Yasmin (2006): Democracy, power, and the Supreme Court: Campaign finance reform in comparative context. In: International Journal of Constitutional Law, Vol. 4, 2/ 2006, S. 269–293. Dempster, A. P. (1998): Logicist Statistics I. Models and Modeling. In: Statistical Science, Vol. 13, 3/1998, S. 248–276. Ditslear, Corey/ Baum, Lawrence (2001): Selection of Law Clerks and Polarization in the U.S. Supreme Court. In: The Journal of Politics, Vol. 63, 3/2001, S. 869–885. Dollinger, Franz-Wilhelm (20052 ): § 27a – Stellungnahme Dritter. In: Umbach, Dieter C./ Clemens, Thomas/ Dollinger, Franz-Wilhelm (Hrsg.): Bundesverfassungsgerichtsgesetz. Mitarbeiterkommentar und Handbuch. München, S. 472–480. Dollinger, Franz-Wilhelm (20052 ): § 81a – Unzulässigkeit. In: Umbach, Dieter C./ Clemens, Thomas/ Dollinger, Franz-Wilhelm (Hrsg.): Bundesverfassungsgerichtsgesetz. Mitarbeiterkommentar und Handbuch. München, S. 1036–1040. Dorff, Robert H./ Brenner, Saul (1992): Conformity Voting on the United States Supreme Court. In: Journal of Politics, Vol. 54, 3/1992, S. 762–775.

Literatur

233

Edwards, Harry T. (2003): The Effects of Collegiality on Judicial Decision Making. In: University of Pennsylvania Law Review, Vol. 151, No. 5, S. 1639–1690. Emanuel, Steven L. (2004): Constitutional Law. New York. Emmert, Craig F. (1992): An Integrated Case-Related Model of Judicial Decision Making: Explaining State Supreme Court Decisions in Judicial Review Cases. In: The Journal of Politics, Vol. 54, 2/1992, S. 543–552. Engel, Christoph (2017): Does efficiency trump legality? The case of the German constitutional court. MPI Collective Goods Preprint; No. 2017/20. (Stand 02/2021). Engst, Benjamin G./ Gschwend, Thomas/ Schaks, Nils/ Sternberg, Sebastian/ Wittig, Caroline (2017): Zum Einfluss der Parteinähe auf das Abstimmungsverhalten der Bundesverfassungsrichter – eine quantitative Untersuchung. In: Juristenzeitung 17/2017, S. 816– 826. Engst, Benjamin G./ Geschwend, Thomas/Sternberg, Sebastian (2020): Die Besetzung des Bundesverfassungsgerichts. Ein Spiegelbild gesellschaftlicher Präferenzen? In: Politische Vierteljahresschrift 1/2020, S. 39–60. Epstein, Lee/ Hoekstra, Valerie/ Segal, Jeffrey A./ Spaeth, Harold J. (1998): Do Political Preferences Change? A Longitudinal Study of U.S. Supreme Court Justices. In: The Journal of Politics, Vol. 60, 3/1998, S. 801–818. Epstein, Lee/ Knight, Jack (1997): The New Institutionalism, Part II. In: Law and Courts, Vol. 7, S. 4–9. Epstein, Lee/ Knight, Jack (1998): The Choices Justices make. Washington DC. Epstein, Lee/ Knight, Jack (2000): Toward a Strategic Revolution in Judicial Politics: A Look Back, A Look Ahead. In: Political Research Quarterly, 53/2000, No. 3, S. 625–661. Epstein, Lee/ Knight, Jack (2004): Building the Bridge from Both Sides of the River: Law and Society and Rational Choice. In: Law and Society Review, Vol. 38, 2/2004, S. 207– 212. Epstein, Lee/ Knight, Jack (2013): Reconsidering Judicial Preferences. In: The Annual Review of Political Science, Vol. 16, S. 11–31. Epstein,Lee/ Landes, William M./ Posner, Richard A. (2013): The Behavior of Federal Judges: A Theoretical and Empirical Study of Rational Choice. Cambridge. Epstein,Lee/ Landes, William M./ Posner, Richard A. (2015): Revisiting the Ideology Rankings of Supreme Court Justices. In: Journal of Legal Studies 1/2015, S. 295–317. Epstein, Lee/ Segal, Jeffrey A./ Spaeth, Harold J. (2012): Setting the Nation’s Legal Agenda: Case Selection on the U.S. Supreme Court. Abrufbar unter: http://epstein.usc.edu/res earch/cert.pdf (Stand 03/2012). Epstein, Lee/ Segal, Jeffrey A. (2000): Measuring Issue Salience. In: American Journal of Political Science, Vol. 44, 1/2000, S. 66–83. Epstein, Lee/ Segal, Jeffrey A./ Spaeth, Harold J. (2001): The Norm of Consensus on the U.S. Supreme Court. In: American Journal of Political Science, Vol. 45, No. 2, S. 362–377. Epstein, Lee/ Segal, Jeffrey A./ Spaeth, Harold J./ Walker, Thomas G. (2003): The Supreme Court Compendium. Data, Decisions, Development. Washington D.C. Epstein, Lee/ Walker, Thomas G. (20045 ): Constitutional Law for a Changing America. Institutional Powers and Constraints. Washington DC. Epstein, Lee/ Walker, Thomas G. (20107 ): Constitutional Law for a Changing America. Rights, Liberties and Justice. Washington DC.

234

Literatur

Eschelbach, Ralf (20052 ): § 14 – Zuständigkeiten der Senate und Einberufung des Plenums. In: Umbach, Dieter C./ Clemens, Thomas/ Dollinger, Franz-Wilhelm (Hrsg.): Bundesverfassungsgerichtsgesetz. Mitarbeiterkommentar und Handbuch. München, S. 260–275. Ewert, Stefan/ Hein, Michael (2016): Der Einfluss der Verfahrensarten auf die Politisierung europäischer Verfassungsgerichte. Deutschland, Bulgarien und Portugal im Vergleich. In: Politische Vierteljahresschrift 1/2016, S. 53–78. Feest, Johannes (1964): Die Bundesrichter. Herkunft, Karriere und Selektion der juristischen Elite. In: Zapf, Wolfgang (Hrsg.): Beiträge zur Analyse der deutschen Oberschicht. Tübingen, S. 127–156. Feldman, Stephen M. (2006): The Rule of Law or the Rule of Politics? Harmonizing the Internal and External Views of Supreme Court Decision Making. In: Law and Social Inquiry, Vol. 30, S. 89–135. Finck, Danielle E. (1997): Judicial Review: The United States Supreme Court Versus the German Constitutional Court. In: The Boston College International & Comparative Law Review, Vol. 20, 1/1997, S. 123–156. Fischman, Joshua B. (2015): Do the Justices Vote Like Policy Makers? Evidence from Scaling the Supreme Court with Interest Groups. In: Journal of Legal Studies 1/2015, S. 269–293. Fisher, Louis/ Harringer, Katy J. (20098 ): American Constitutional Law. Volume 2: Constitutional Rights. Civil Rights and Civil Liberties. Durham. Fleury, Roland (20098 ): Verfassungsprozessrecht. Köln. Fraenkel, Ernst (19814 ): Das amerikanische Regierungssystem. Opladen. Freitag, Markus/ Vatter, Adrian (Hrsg.) (2008): Die Demokratien der deutschen Bundesländer. Opladen/ Farmington Hills. Fromme, Friedrich Karl (1974): Das Sondervotum in der Bewährung. In: Leibholz, Gerhard/ Faller, Hans Joachim/ Mikat, Paul/ Reis, Hans (Hrsg.): Menschenwürde und freiheitliche Rechtsordnung. Festschrift für Willy Geiger zum 65. Geburtstag. Tübingen, S. 867–890. Gann Hall, Melinda (1987): Constituent Influence in State Supreme Courts: Conceptual Notes and a Case Study. In: The Journal of Politics, Vol. 49, S. 1117–1124. Gann Hall, Melinda/ Brace, Paul (1989): Order in the Courts: A Neo-Institutional Approach to Judicial Consensus. In: Western Political Quarterly, Vol. 42, No. 3, S. 391–407. Gann Hall, Melinda, (1992): Electoral Politics and Strategic Voting in State Supreme Courts. In: The Journal of Politics, Vo. 54, 2/1992, S. 427–446. Gann Hall, Melinda/ Brace, Paul (1992): Toward an Integrated Model of Judicial Voting Behavior. In: American Politics Quarterly, Vol. 20, 2/1992, S. 147–168. Garner, Bryan A. (20048 ): Black’s Law Dictionary. St. Paul, MN. Gawron, Thomas/ Rogowski, Ralf (2007): Die Wirkung des Bundesverfassungsgerichtes. Rechtssoziologische Analysen. Baden-Baden. Gawron, Thomas/ Rogowski, Ralf (20152 ): Die Wirkung des Bundesverfassungsgerichts. In: Van Ooyen, Robert Chr./ Möllers, Martin H.W. (Hrsg.): Handbuch Bundesverfassungsgericht im politischen System. Wiesbaden, S. 153–168. Gellner, Winand/ Kleiber, Martin (2007): Das Regierungssystem der USA. Eine Einführung. Baden-Baden. George, Tracy E./ Epstein, Lee (1992): On the Nature of Supreme Court Decision Making. In: American Political Science Review, Vol. 86, 2/1992, S. 323–337. Gersdorf, Hubertus (20103 ): Verfassungsprozessrecht. Heidelberg.

Literatur

235

Gibson, James L. (1978): Judges’ Role Orientations, Attitudes and Decisions: An Interactive Model. In: The American Political Science Review, Vol. 72, S. 911–924. Gibson, James L. / Caldeira, Gregory A. (1992): Blacks and the United States Supreme Court: Models of Diffuse Support. In: The Journal of Politics, Vol. 54, 4/1992, S. 1120– 1145. Gibson, James L./ Caldeira, Gregory A./ Baird, Vanessa (1998): On the Legitimacy of National High Courts. In: American Political Science Review, Vol. 92, 2/1998, S. 343–358. Gibson, James L./ Caldeira Gregory A./ Spence, Lester Kenyatta (2003): The Supreme Court and the US Presidential Election of 2000: Wounds, Self-Inflicted or Otherwise? In: British Journal of Political Science, Vol. 33/2003, S. 535–556. Gibson, James L./ Caldeira Gregory A./ Spence, Lester Kenyatta (2003): Measuring Attitudes towards the United States Supreme Court. In: American Journal of Political Science, Vol. 47, 2/2003, S. 354–367. Gillman, Howard (1997): Placing Judicial Motives in Context: A Response to Lee Epstein and Jack Knight. In: Law and Courts, Vol. 7, S. 10–13. Green, Donald P./ Shapiro, Ian (1994): Pathologies of Rational Choice Theory. A Critique of Applications in Political Science. New Haven. Grimm, Dieter (1976): Verfassungsgerichtsbarkeit im demokratischen System. In: Juristenzeitung 31/1976, S. 697–703. Grimm, Dieter (2019): Wie politisch ist Verfassungsgerichtsbarkeit? In Zeitschrift für Politik 1/2019, S. 86–97. Grimm, Dieter (2000): Ein Gegengewicht zu den Defiziten demokratischer Parteipolitik. Die Rolle des Bundesverfassungsgerichts als Hüter von Gemeinschaftsinteressen und sozialer Gerechtigkeit. ZRP-Rechtsgespräch. In: Zeitschrift für Rechtspolitik 2000, S. 72–74. Grossman, Joel B. (1968): Dissenting Blocs on the Warren Court: A Study in Judicial Role Behavior. In: The Journal of Politics, Vol. 30, S. 1068–1090. Häberle, Peter (2006): Role and Impact of Constitutional Courts in Comparative Perspective. In: Pernice, Ingolf/ Kokott, Julianne/ Saunders, Cheryl (Hrsg.): The Future of the European Judicial System in Comparative Perspective. Baden-Baden, S. 65–77. Hagle, Timothy M./ Spaeth, Harold J. (1991): Voting Fluidity and the Attitudinal Model of Supreme Court Decision Making. In: The Western Political Quarterly, Vol. 44, 1/1991, S. 119–128. Hall, Kermit L. (Hrsg.) (1999): The Oxford Guide to United States Supreme Court Decisions. Oxford. Hall, Kermit L. (Hrsg.) (20052 ): The Oxford Companion to the Supreme Court of the United States. Oxford. Hall, Peter A./ Taylor. Rosemary C.R. (1996): Political Science and the Three New Institutionalisms. In: Political Studies, Vol. 44, Issue 5, S. 936–957. Haltern, Ulrich (1998): Verfassungsgerichtsbarkeit, Demokratie und Misstrauen. Das Bundesverfassungsgericht zwischen Populismus und Progressivismus. Berlin. Handberg, Roger/ Maddox, William (1982): Public Support for the Supreme Court in the 1970s. In: American Politics Quarterly, Vol. 10, 3/1982, S. 333–346. Hansford, Thomas G. (2004): Information Provision, Organizational Constraints, and the Decision to Submit an Amicus Curiae Brief in a U.S. Supreme Court Case. In: Political Research Quarterly, Vol. 57, 2/2004, S. 219–230.

236

Literatur

Hansford, Thomas G./ Spriggs, James F. (2006): The Politics of Precedent on the U.S. Supreme Court. Princeton. Hammond, Thomas H./ Bonneau, Chris W./ Sheehan Reginald S. (2005): Strategic Behavior and Policy Choice on the U.S. Supreme Court. Stanford. California. Hartman, Gary/ Mersky, Roy M./ Tate, Cindy L. (2007): Landmark Supreme Court Cases. The Most Influential Decisions of the Supreme Court of the United States. New York. Hausegger, Lori/ Riddell, Troy (2004): The Changing Nature of Public Support for the Supreme Court of Canada. In: Canadian Journal of Political Science, Vol. 37, 1/2004, S. 23–50. Hausegger, Lori/ Riddell, Troy/ Hennigar, Matthew/ Richez, Emmanuelle (2010): Expoloring the Links between Party and Appointment: Canadian Federal Judicial Appointments from 1989 to 2003. In: Canadian Journal of Political Science, Vol. 43, 3/2010, S. 633– 659. Heese, Hans Albrecht (2006): Das Bundesverfassungsgericht in der Perspektive der Rechtssoziologie. In: van Ooyen, Robert Christoph/ Möllers, Martin H.W. (Hrsg.): Das Bundesverfassungsgericht im politischen System. Wiesbaden, S. 87–98. Heinrichsmeier, Paul (20052 ): § 2 – Senate. In: Umbach, Dieter C./ Clemens, Thomas/ Dollinger, Franz-Wilhelm (Hrsg.): Bundesverfassungsgerichtsgesetz. Mitarbeiterkommentar und Handbuch. München, S. 186–191. Heinrichsmeier, Paul (20052 ): § 4 – Amtszeit. In: Umbach, Dieter C./ Clemens, Thomas/ Dollinger, Franz-Wilhelm (Hrsg.): Bundesverfassungsgerichtsgesetz. Mitarbeiterkommentar und Handbuch. München, S. 197–199. Helmke, Gretchen/ Sanders, Mitchell S. (2006): Modeling Motivations: A Method for Inferring Judicial Goals from Behavior. In: The Journal of Politics, Vol. 68, 4/2006, S. 867– 878. Hendershot, Marcus E./ Hurwitz, Mark S./ Lanier, Drew Noble/ Pacelle, Richard L. Jr. (2013): Dissensual Decision Making: Revisiting the Demise of Consensual Norms within the U.S. Supreme Court. In: Political Research Quarterly, Vol. 66, 2/2013, S. 467–481. Hennecke, Doris (20052 ): § 30 – Entscheidung, Verkündung, Sondervotum. In: Umbach, Dieter C./ Clemens, Thomas/ Dollinger, Franz-Wilhelm (Hrsg.): Bundesverfassungsgerichtsgesetz. Mitarbeiterkommentar und Handbuch. München, S. 484–491. Herrmann, Joachim (1992): Bargaining Justice – A Bargain for German Criminal Justice? In: University of Pittsburgh Law Review, Vol. 53, S. 755–776. Hetherington, Mark J./ Smith, Joseph L. (2007): Issue Preferences and Evaluations of the U.S. Supreme Court. In: Public Opinion Quarterly, Vol. 71, 1/2007, S. 40–66. Hettinger, Virginia A./ Linquist, Stefanie A./ Martinek, Wendy L. (2004): Comparing Attitudinal and Strategic Accounts of Dissenting Behavior on the U.S. Courts of Appeals. In: American Journal of Political Science, Vol. 48, 1/2004, S. 123–137. Heun, Werner (20073 ): Rechtssystem und Gerichtsbarkeit. In: Jäger, Wolfgang/ Hass, Christoph M./ Welz, Wolfgang (Hrsg.): Regierungssystem der USA. Lehr- und Handbuch. München, S. 229–246. Heusch, Andreas (20052 ): § 31 – Verbindlichkeit der Entscheidungen. In: Umbach, Dieter C./ Clemens, Thomas/ Dollinger, Franz-Wilhelm (Hrsg.): Bundesverfassungsgerichtsgesetz. Mitarbeiterkommentar und Handbuch. München, S. 491–527. Hiéramente, Mayeul (2020): Zur Rolle der Wissenschaftlichen Mitarbeiter. In: Zeitschrift für Rechtspolitik 2020, S. 56–58.

Literatur

237

Hillgruber, Christian/ Goos, Christoph (20113 ): Verfassungsprozessrecht. Heidelberg. Ho, Daniel E./ Quinn, Kevin M. (2010): How to lie with Judicial Votes. Misconceptions, Measurement, and Models. In: California Law Review, Vol. 98, 3/2010, S. 3–53. Hoekstra, Valerie J. (2003): Public Reaction to Supreme Court Decisions. Cambridge. Hoekstra, Valerie/ Johnson, Timothy (2003): Delaying Justice: The Supreme Court’s to Hear Rearguments. In: Political Research Quarterly, Vol. 56, 3/2003, S. 351–360. Von Hoff, Stefanie (2007): Die Rolle des U.S. Supreme Court im Prozess der Verfassungsänderung in den Vereinigten Staaten von Amerika. Frankfurt a.M. Hönnige, Christoph (2007): Verfassungsgericht, Regierung und Opposition. Die vergleichende Analyse eines Spannungsdreiecks. Wiesbaden. Hönnige, Christoph (2011): Beyond judicalization: Why we need more comparative research about constitutional courts. In: European Political Science Heft 10/2011, S. 346–358. Hönnige, Christoph/ Gschwend, Thomas (2010): Das Bundesverfassungsgericht im politischen System der BRD – ein unbekanntes Wesen? In: Politische Vierteljahresschrift Heft 51/2010, S. 507–530. Hörteh, Marcus (2008): Die Selbstautorisierung des Agenten. Der Europäische Gerichtshof im Vergleich zum U.S. Supreme Court. Baden-Baden. Hörteh, Marcus (2014): Verfassungsgerichtsbarkeit in der Bundesrepublik Deutschland. Stuttgart. Hull, Adrian Prentice (1999): Comparative Political Science: An Inventory and Assessment since the 1980’s. In: PS: Political Science & Politics, Vol. 32, 1/1999, S. 117–124. Hume, Robert J. (2006): The Use of Rhetorical Sources by the U.S. Supreme Court. In: Law & Society Review, Vol. 40, 4/2006, S. 817–843. Hurwitz, Mark S./ Stefko, Joseph V. (2004): Acclimation and Attitudes: “Newcomer” Justices and Precedent Conformance on the Supreme Court. In: Political Research Quarterly, Vol. 57, No. 1, S. 121–129. Isensee, Josef (1997): Bundesverfassungsgericht – quo vadis? In: Fikentscher, Wolfgang (Hg:): Wertewandel – Rechtswandel. Perspektiven auf die gefährdeten Voraussetzungen unserer Demokratie. Gräfelfing, S. 93–120. Ivers, Gregg (20022 ): American Constitutional Law. Power and Politics. Volume Two: Civil Rights and Liberties. Boston/ New York. Jestaedt,. Matthias/ Lepsius, Oliver/ Möllers, Christoph/ Schönberger, Christoph (2011): Das entgrenzte Gericht. Eine kritische Bilanz nach 60 Jahren Bundesverfassungsgericht. Berlin. Johnson, Thimothy R. (2003): The Supreme Court, the Solicitor General, and the Separation of Powers. In: American Politics Research, Vol. 31, 4/2003, S. 426–451. Johnson, Timothy R./ Spriggs, James F. II /Wahlbeck, Paul J. (2005): Passing and Strategic Voting on the U.S. Supreme Court. In: Law and Society Review, Vol. 39, 2/2005, S. 349– 377. Johnson, Timothy R./ Wahlbeck, Paul J./ Spriggs, James F. II (2006): The Influence of Oral Arguments on the U.S. Supreme Court. In: The American Political Science Review, Vol. 100, 1/2006, S. 99–113. Jucewicz, Joseph/ Baum, Lawrence (1990): Workload Influences on Supreme Court Case Acceptance Rates, 1975–1984. In: The Western Political Quarterly, Vol. 43, 1/1990, S. 123–135.

238

Literatur

Kadelbach, Stefan (2009): § 2 – Rechtsschutz durch die Vereinten Nationen, insbesondere nach dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte. In: Ehlers, Dirk/ Schoch, Friedrich (Hrsg.): Rechtsschutz im Öffentlichen Recht. Berlin, S. 25–36. Kaheny, Erin B./ Brodie Haire, Susan/ Benesh, Sara C. (2008): Change over Tenure: Voting, Variance, and Decision Making on the U.S. Courts of Appeals. In: American Journal of Political Science, Vol. 52, 3/2008, S. 490–503. Katz, Rudolf (1954): Bundesverfassungsgericht und U.S.A. Supreme Court. In: Die öffentliche Verwaltung, Vol. 7, No. 4, S. 97–102. Kau, Marcel (2007): United States Supreme Court und Bundesverfassungsgericht. Die Bedeutung der United States Supreme Court für die Errichtung und Fortentwicklung des Bundesverfassungsgerichts. Berlin. Kemper, Alfons/ Eickler, Andre (20097 ): Datenbanksysteme. Eine Einführung. München Kenntner, Markus (20052 ): II. Spezifische verfassungsprozessuale und verfassungsrechtliche Probleme in den einzelnen Gerichtsbarkeiten. 1. Das Bundesverfassungsgericht, die Kontrolle fachgerichtlicher Entscheidungen und die Verwaltungsgerichtsbarkeit. In: Umbach, Dieter C./ Clemens, Thomas/ Dollinger, Franz-Wilhelm (Hrsg.): Bundesverfassungsgerichtsgesetz. Mitarbeiterkommentar und Handbuch. München, S. 9–27. Killian, Johnny H./ Costello, George A./ Thomas, Kenneth R. (Hrsg.) (2004): The Constitution of the United States of America. Analysis and Interpretation. Washington DC. King, Kimi Lynn/ Meernik, James (1999): The Supreme Court and the Powers of the Executive: The Adjudication of Foreign Policy. In: Political Research Quarterly, Vol. 52, 4/ 1999, S. 801–824. Klein, Eckart (1993): Konzentration durch Entlastung? Das Fünfte Gesetz zur Änderung des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht. In: Neue Juristische Wochenschrift 33/ 1993, S. 2073–2077. Klotz, Christopher (2012): Die Machtbalance zwischen Politik und verfassungsrechtlicher Rechtsprechung. In: Zeitschrift für Rechtspolitik 2012, S. 5–6. Knechtle, John C. (2000): Isn’t every Case Political? Political Questions on the Russian, German, and American High Courts. In: Review of Central and East European Law, Vol. 26, 2/2000, S. 107–127. Kneip, Sascha (2011): Gegenspieler, Vetospieler oder was? Demokratiefunktionales Agieren des Bundesverfassungsgerichts von 1951–2005. In: Politische Vierteljahresschrift Heft 2/ 2011, S. 220–247. Kneip, Sascha (2013): Rolle und Einfluss des Bundesverfassungsgerichts in international vergleichender Perspektive. In: Zeitschrift für Politik 1/2013, S. 72–89. Knight, Jack/ Epstein, Lee (1996): The Norm of Stare Decisis. In: American Journal of Political Science, Vol. 40, 4/1996, S. 1018–1035. Koh, Harold Hongju (1990): The National Security Constitution. New Haven. Kommers, Donald P./ Finn, John E./ Jacobsohn, Gary J. (20042 ): American Constitutional Law. Essays, Cases, and Comparative Notes. Oxford. Koopmans, Tim (2003): Courts and Political Institutions. A Comparative View. Cambridge. Korioth, Stefan (1991): Die Bindungswirkung normverwerfender Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts für den Gesetzgeber. In: Der Staat, Band 30, S. 549–571. Kornhauser, Lewis A. (1992): Modeling Collegial Courts I: Path Dependence. In: International Review of Law and Economics, Vol. 12, 2/1992, S. 169–185.

Literatur

239

Kornhauser, Lewis A. (1992): Modeling Collegial Courts. II. Legal Doctrine. In: The Journal of Law, Economics and Organization, Vol. 8, 3/1992, S. 441–470. Kranenpohl, Uwe (2009): Die gesellschaftlichen Legitimationsgrundlagen der Verfassungsrechtsprechung oder: Darum lieben die Deutschen Karlsruhe. In: Zeitschrift für Politik 4/ 2009, S. 436–453. Kranenpohl, Uwe (2010): Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses. Der Willensbildungs- und Entscheidungsprozess des Bundesverfassungsgerichts. Wiesbaden. Kranenpohl, Uwe (2013): Ist Karlsruhe „Europa“ ausgeliefert? Die Gestaltungsmacht des Bundesverfassungsgerichts und die europäischen Gerichtsbarkeiten. In: Zeitschrift für Politik 2013, S. 90–103. Krehbiel, Jay N. (2016): The Politics of Judicial Procedures: The Role of Public Oral Hearings in the German Constitutional Court. In: American Journal of Political Science, Vol. 60, No. 4, S. 990–1005. Kritzer, Herbert M./ Richards, Mark (2003): Jurisprudential Regimes and Supreme Court Decisionmaking: The Lemon Regime and Establishment Clause Cases. In: Law and Society Review, Vol. 37, No. 4, S. 827–840. Kromphardt, Christopher D. (2015): US Supreme Court Law Clerks as Information Sources. In: Journal of Law and Courts 3/2015, S. 277–305. Krug, Peter (2000): The Russian Federation Supreme Court and Constitutional Practice in the Courts of General Jurisdiction: Recent Developments. In: Review of Central and East European Law, Vol. 26, 2/2000, S. 129–146. Lamb, Brain/ Swain, Susan/ Farkas, Mark (Hrsg.) (2010): The Supreme Court. A C-Span book featuring the justices in their own words. New York. Lamb, Charles M./ Halpern, Stephen C. (Hrsg.) (1991): The Burger Court. Political and Judicial Profiles. Urbana und Chicago. Landfried, Christine (1984): Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber. Wirkungen der Verfassungsrechtsprechung auf parlamentarische Willensbildung und soziale Realität. Baden-Baden. Landfried, Christine (1988): Constitutional Review and Legislation. An International Comparison. Baden-Baden. Landfried, Christine (2006): Die Wahl der Bundesverfassungsrichter und ihre Folgen für die Legitimität der Verfassungsgerichtsbarkeit. In: Van Ooyen, Robert Christoph/ Möllers, Martin H.W. (Hrsg.): Das Bundesverfassungsgericht im politischen System. Wiesbaden, S. 229–241. Lenz, Christofer/ Hansel, Ronald (2013): Bundesverfassungsgerichtsgesetz. Handkommentar. Baden-Baden. Lhotta, Roland (2003): Das Bundesverfassungsgericht als politischer Akteur: Plädoyer für eine neo-institutionalistische Ergänzung der Forschung. In: Swiss Political Science Review, Vol. 9, S. 142–154. Lim, Youngsik (2000): An Empirical Analysis of Supreme Court Justices’ Decision Making. In: The Journal of Legal Studies, Vol. 29, No. 2, S. 721–752. Lindquist, Stefanie A./ Klein, David E. (2006): The Influence of Jurisprudential Considerations on Supreme Court Decisionmaking: A Study of Conflict Cases. In: Law and Society Review, Vol. 40, 1/2006, S. 135–161.

240

Literatur

L’Heureux-Dubé, Claire (2003): Realizing equality in the 20th century: the role of the Supreme Court of Canada in comparative perspective. In: International Journal of Constitutional Law, Vol. 1, 1/2003, S. 35–57. Loewenstein, Karl (1959): Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten von Amerika. Berlin. Maltzman, Forrest/ Spriggs, James F./ Wahlbeck, Paul J. (2000): Crafting Law on the Supreme Court. The Collegial Game. Cambridge. Maltzman, Forrest/ Wahlbeck, Paul J. (1996a): Inside the U.S. Supreme Court: The Reliability of the Justices’ Conference Records. In: The Journal of Politics, Vol. 58, 2/1996, S. 528–539. Maltzman, Forrest/ Wahlbeck, Paul J. (1996b): May it Please the Chief? Opinion Assignments in the Rehnquist Court. In: American Journal of Political Science, Vol. 40, 2/ 1996, S. 421–443. Maltzman, Forrest/ Wahlbeck, Paul J. (1996c): Strategic Policy Considerations and Voting Fluidity on the Burger Court. In: The American Political Science Review, Vol. 90, 3/1996, S. 581–592. Maltzman, Forrest/ Wahlbeck, Paul J. (2004): A Conditional Model of Opinion Assignment on the Supreme Court. In: Political Research Quarterly, Vol. 57, 4/2004, S. 551–563. Manzi, Lucia/ Hall, Matthew E.K. (2017): Friends you can trust: A Signaling Theory of Interest Group Litigation before the U.S. Supreme Court. In: Law and Society Review, Vol. 51, No. 3, S. 704–734. Mark, Alyx/ Zillis, Michael A. (2019): The Conditional Effectiveness of Legislative Threats: How Court Curbing Alters the Behavior of (Some) Supreme Court Judges. In: Political Research Quarterly, Vol. 72 (3), S. 570–583. Martin, Andrew D./ Quinn, Kevin M./ Ruger, Theodore W./ Kim, Pauline T. (2004): Comparing Approaches to Predicting Supreme Court Decision Making. In: Perspectives on Politics, Vol. 2, 4/2004, S. 761–767. Martin, Andrew D./ Quinn, Kevin M./ Epstein, Lee (2005): The Median Justice on the United States Supreme Court. In: North Carolina Law Review, Vol. 83, S. 1275–1321. Martin, Andrew D./ Quinn, Kevin M. (2007): Assessing Preference Change on the US Supreme Court. In: The Journal of Law, Economics, & Organization, Vol.23, 2/2007, S. 365–385. Massing, Otwin (2002): The Legal Assistants at the German Federal Constitutional Court. A “Black Box” of Research? A Comment. In: Rogowski, Ralf/ Gawron, Thomas (Hrsg.): Constitutional Courts in Comparison. The U.S. Supreme Court and the German Federal Constitutional Court. New York, S. 209–216. Mayntz, Renate/ Scharpf, Fritz W. (1995): Der Ansatz des akteurszentrierten Institutionalismus. In: Mayntz, Renate/ Scharpf, Fritz W. (Hrsg.): Gesellschaftliche Selbstregulierung und politische Steuerung. Frankfurt a.M. und New York, S. 39–72. McAtee, Andrea/ McGuire, Kevin T. (2007): Lawyers, Justices, and Issue Salience: When and How Do Legal Arguments Affect the U.S. Supreme Court? In: Law & Society Review, Vol. 41, 2/2007, S. 259–278. McGuire, Kevin T./ Palmer, Barbara (1995): Issue Fluidity on the U.S. Supreme Court. In: American Political Science Review, Vol. 89, 3/1995, S. 691–702.

Literatur

241

McGuire, Kevin T./ Stimson, James A. (2004): The Least Dangerous Branch Revisited: New Evidence on Supreme Court Responsiveness to Public Preferences. In: The Journal of Politics, Vol. 66, 4/2004, S. 1018–1035. McGuire, Kevin T./ Vanberg, George/ Smith, Charles E./ Caldeira, Gregory A. (2009): Measuring Policy Content on the U.S. Supreme Court. In: The Journal of Politics, Vol. 71, No. 4, S. 1305–1321. McGuire-Uribe, Alicia/ Nelson, Michael J. (2017): Opportunity and Overrides: The Effect of Institutional Public Support on Congressional Overrides of Supreme Court Decision. In: Political Research Quarterly, Vol. 70 (3), S. 632–643. Meese, Edwin/ Spalding, Matthew/ Forte, David (Hrsg.) (2005): The Heritage Guide to the Constitution. Washington DC. Meinke, Scott R./ Scott, Kevin M. (2007): Collegial Influence and Judicial Voting Change: The Effect of Membership Change on U.S. Supreme Court Justices. In: Law and Society Review, Vol. 41, No. 4, S. 909–938. Meurer, Dieter (1993): Besondere Schwere der Schuld in Altfällen – Anmerkung. In: Neue Zeitschrift für Strafrecht 3/1993, S. 134–136. Miles, Thomas J./ Sunstein, Cass R. (2008): The New Legal Realism. In: The University of Chicago Law Review, Vol. 75, No. 2, S. 831–851. Mishler, William/ Sheehan, Reginald S. (1993): The Supreme Court as a Countermajoritarian Institution? The Impact of Public Opinion on Supreme Court Decisions. In: American Political Science Review, Vol. 87/1993, S. 87–101. Mishler, William/ Sheehan, Reginald S. (1994): Popular Influence on Supreme Court Decisions. In: American Political Science Review, Vol. 88, 3/1994, S. 711–724. Mishler, Wiliam/ Sheehan, Reginald S. (1996): Public Opinion, the Attitudinal Model and Supreme Court Decision Making: A Micro-Analytic Perspective. In: The Journal of Politics, Vol. 58, No. 1, S. 169–200. Möllers, Christoph (2011): Legalität, Legitimität und Legitimation des Bundesverfassungsgerichts. In: Jestaedt, Matthias/ Lepsius, Oliver/ Möllers, Christoph/ Schöneberger, Christoph (Hrsg.): Das entgrenzte Gericht. Eine kritische Bilanz nach sechzig Jahren Bundesverfassungsgericht. Berlin, S. 281–422. Morris, Douglas (1987): Abortion and Liberalism: A Comparison Between the Abortion Decisions of the Supreme Court of the United States and the Constitutional Court of West Germany. In: Hastings International and Comparative Law Review, Vol. 11, 1/1987, S. 159–245. Murphy, Walter F. (1964): Elements of Judicial Strategy. Chicago. Murphy, Walter F./ Prichett, Herman C./ Epstein, Lee/ Knight, Jack (6 2006): Courts, Judges, and Politics. Boston. Nelson, Michael J./ Uribe-McGuire, Alicia (2017): Opportunity and Overrides: The effect of Institutioal public Support on Congressional Overrides of Supreme Court Decisions. In: Political Research Quarterly, Vol. 70 (3), S. 632–643. Nowak, John E./ Rotunda, Ronald D. (20073 ): Principles of Constitutional Law. St. Paul, MN. O’Brain, David M. (2008): Supreme Court Watch 2007. Highlights of the 2004–2006 Terms – Preview of the 2007 Term. New York. Owens, Ryan J. (2010): The Separation of Powers and Supreme Court Agenda Setting. In: American Journal of Political Science, Vol. 54, 2/2010, S. 412–427.

242

Literatur

Page, Benjamin I./ Shapiro, Robert Y./ Dempsey, Glenn R. (1987): What moves Public Opinion? In: The American Political Science Review, Vol. 81, 1/1987, S. 23–43. Palmer, Barbara (1999): Issue Fluidity and Agenda Setting on the Warren Court. In: Political Research Quarterly, Vol. 52, 1/1999, S. 39–65. Patzelt, Werner J. (2005): Warum verachten die Deutschen ihr Parlament und lieben ihr Verfassungsgericht? Ergebnisse einer vergleichenden demoskopischen Studie. In: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 3/2005, S. 517–538. Peters, Scott C. (2007): Getting Attention: The Effect of Legal Mobilisation on the U.S. Supreme Court’s Attention to Issues. In: Political Research Quarterly, Vol. 60, 3/2007, S. 561–572. Pilon, Roger/ Shapiro, Ilya/ Levy, Robert A./ Lynch, Timothy (Hrsg.) (2010): Cato Supreme Court Review 2009–2010. Washington DC. Posner, Richard A. (1993): What do Judges and Justices Maximize? (The Same Thing Everybody Else Does). In: Supreme Court Economic Review 3/1993, S. 1–41. Posner, Richard A. (2008): How Judges Think. Cambridge. Pritchett, C. Herman (1941): Divisions of Opinion among Justices of the U.S. Supreme Court. In: American Political Science Review 35/1941, S. 890–898. Pritchett, C. Herman (1948): The Roosevelt Court. New York. Pünder, Hermann (2009): Democratic Legitimation of Delegated Legislation – A Comparative View on the American, British, and German Law. In: International and Comparative Law Quarterly, Vol. 58, 4/2009, S. 353–378. Ramseyer, J. Mark (1994): The Puzzling (In) Dependence of Courts: A Comparative Approach. In: The Journal of Legal Studies, Vol. 23, S. 721–747. Rau, Christian (1996): Selbst entwickelte Grenzen in der Rechtsprechung des United States Supreme Court und des Bundesverfassungsgerichts. Berlin. Rehnquist, William H. (1987): The Supreme Court. How it was and how it is. New York. Rehnquist, William H. (1996): The Supreme Court: The First Hundred Years Were the Hardest. In: University of Miami Law Review 42/996, S. 475–490. Rehnquist, William H.(2001): The Supreme Court. Revisited and Updated. New York. Reissenberger, Michael (2003): Rückzug zum „Palladium für die Unabhängigkeit“? Die Bekanntgabe von Abstimmungserhältnissen in den Senaten des BverfG. In: Zeitschrift für Rechtspolitik 2003, S. 164–167. Richards, Mark J./ Kritzer, Herbert M. (2002): Jurisprudential Regimes in Supreme Court Decision Making. In: The American Political Science Review, Vol. 96, No. 2, S. 305–320. Riegel, Manfred/ Werle, Raymund/ Wildenmann, Rudolf (1974): Selbstverständnis und politisches Bewusstsein der Juristen – insbesondere der Richterschaft in der Bundesrepublik. Tabellarische Übersicht der Ergebnisse einer Umfrage aus dem Jahre 1972. Mannheim. Ríos-Figueroa, Julio (2007): Fragmentation of Power and the Emergence of an Effective Judiciary in Mexico, 1994–2002. In: Latin American Politics and Society, Vol. 49, 1/ 2007, S. 31–57. Roellecke, Gerd (1995): Das Ansehen des Bundesverfassungsgerichts und die Verfassung. In: Piazolo, Michael (Hrsg.): Das Bundesverfassungsgericht. Ein Gericht im Schnittpunkt von Recht und Politik. Mainz/ München, S. 33–48. Rogers, James R./ Vanberg, Georg (2002): Judicial Advisory Opinions and Legislative Outcomes in Comparative Perspective. In: American Journal of Political Science, Vol. 46, 2/ 2002, S. 379–397.

Literatur

243

Rogowski, Ralf/ Gawron, Thomas (2002): Constitutional Litiugation as Dispute Processing. Comparing the U.S. Supreme Court and the German Federal Constitutional Court. New York und Oxford. Rogowski, Ralf/ Gawron, Thomas (Hrsg.) (2002): Constitutional Courts in Comparison. The U.S. Supreme Court and the German Federal Constitutional Court. New York. Rohloff, Annegret (2008): Grundrechtsschranken in Deutschland und den USA. Münster. Rosen, Jeffrey (2006): The Most Democratic Branch. How the Courts Serve America. Oxford. Rosenfeld, Michel (2006): Comparing Constitutional Review by the European Court of Justice and the U.S. In: International Journal of Constitutional Law, Vol. 4, 4/2006, S. 618–651. Ruger, Theodore W./ Kim, Pauline T./ Martin, Andrew D./ Quinn, Kevin M. (2004): The Supreme Court Forecasting Project: Legal and Political Science Approaches to Predicting Supreme Court Decisionmaking. In: Columbia Law Review, Vol. 104, 4/2004, S. 1150–1210. Sachs, Michael (1979): Bindungswirkungen bei verfassungskonformer Gesetzesauslegung durch das Bundesverfassungsgericht. In: Neue Juristische Wochenschrift, 8/1979, S. 344–348. Sachs, Michael (20103 ): Verfassungsprozessrecht. Stuttgart. Säcker, Horst (6 2003): Das Bundesverfassungsgericht. Bonn. Sala, Brian R./ Spriggs, James F. (2004): Designing Test of the Supreme Court and the Separation of Powers. In: Political Research Quarterly, Vol. 57, 2/2004, S. 197–208. Salokar, Rebecca Mae (1992): The Solicitor General. The Politics of Law. Philadelphia. Scharpf, Fritz W./ Treib, Oliver (2000): Interaktionsformen. Akteurzentrierter Institutionalismus in der Politikforschung. Wiesbaden. Schlaich, Klaus/ Korioth, Stefan (20108 ): Das Bundesverfassungsgericht: Stellung, Verfahren, Entscheidungen. München. Schlögel, Martina (2010): Das Bundesverfassungsgericht im Politikfeld Innere Sicherheit. Eine Analyse der Rechtsprechung von 1983 bis 2008. Frankfurt am Main. Schluckebier, Wilhelm (2010): Rechtsauslegung, Rechtsfortbildung, Rechtspolitik. Die Rolle des Richters zwischen Gesetz und Recht. In: Zeitschrift für Rechtspolitik 2010, S. 269–270. Schneider, Hans-Peter (2006): Der Kotau von Karlsruhe. Zur Kapitulation des Bundesverfassungsgerichts vor der Politik. In: Zeitschrift für Politik 2/2006, S. 123–142. Schnell, Rainer/ Hill, Paul B./ Esser, Elke (20057 ): Methoden der empirischen Sozialforschung. München. Schwarz, Edward P. (1992): Policy, Preccedent, and Power: A Positive Theory of Supreme Court Decision-making. In: The Journal of Law, Economics, & Organisation, Vol. 8, 2/ 1992, S. 219–252. Sears, Alan/ Osten, Craig (2005): The ACLU vs. America. Exposing the Agenda to redefine moral values. Nashville. Segal, Jeffrey A. (1984): Predicting Supreme Court Cases Probabilistically: The Search and Seizure Cases, 1962–1981. In: The American Political Science Review, Vol. 78, 4/1984, S. 891–900. Segal, Jeffrey A. (1985): Measuring Change on the Supreme Court: Examining Alternative Models. In: American Journal of Political Science, Vol. 29, No. 3, S. 461–479.

244

Literatur

Segal, Jeffrey A. (1997): Seperation-of-Powers Games in the Positive Theory of Congress and Courts. In: American Political Science Review, Vol. 91, 1/1997, S. 28–44. Segal, Jeffrey A./ Epstein, Lee/ Cameron, Charles M./ Spaeth, Harold J. (1995): Ideological Values and the Votes of the Supreme Court Justices Revisited. In: The Journal of Politics, Vol. 57, 3/1995, S. 812–823. Segal, Jeffrey A./ Spaeth, Harold J. (1993): The Supreme Court and the Attitudinal Model. Cambridge. Segal, Jeffrey A./ Spaeth, Harold J. (1996a): The Influence of Stare Decisis on the Votes of United States Supreme Court Justices. In: American Journal of Political Science, Vol. 40, 4/1996, S. 971–1003. Segal, Jeffrey A./ Spaeth, Harold J. (1996b): Norms, Dragons, and Stare Decisis: A Response. In: American Journal of Political Science, Vol. 40, 4/1996, S. 1063–1082. Segal, Jeffrey A./ Spaeth, Harold J. (2002): The Supreme Court and the Attitudinal Model Revisited. Cambridge. Sennekamp, Christoph (20052 ): Tenorierung von Entscheidungen über Verfassungsbeschwerden und Richtervorlagen. In: Umbach, Dieter C./ Clemens, Thomas/ Dollinger, Franz-Wilhelm (Hrsg.): Bundesverfassungsgerichtsgesetz. Mitarbeiterkommentar und Handbuch. München, S. 688–710. Sennekamp, Christoph (20052 ): Zweiter Abschnitt. Akteneinsicht außerhalb des Verfahrens. Vorbemerkungen zu §§ 35a–35c. In: Umbach, Dieter C./ Clemens, Thomas/ Dollinger, Franz-Wilhelm (Hrsg.): Bundesverfassungsgerichtsgesetz. Mitarbeiterkommentar und Handbuch. München, S. 657–666. Seyfarth, Georg (1998): Die Änderung der Rechtsprechung durch das Bundesverfassungsgericht. Berlin. Shapiro, Martin/ Stone Sweet, Alec (2002): On Law, Politics and Judicalization. Oxford. Sheehan, Reginald S./ Mishler, William/ Songer, Donald S. (1992): Ideology, Status, and the Differential Success of Direct Parties before the Supreme Court. In: The American Political Science Review, Vol. 86, 2/1992, S. 464–471. Shell, Kurt L. (20073 ): Der Oberste Gerichtshof. In: Jäger, Wolfgang/ Hass, Christoph M./ Welz, Wolfgang (Hrsg.): Regierungssystem der USA. Lehr- und Handbuch. München, S. 171–184. Sieberer, Ulrich (2004): Strategische Zurückhaltung von Verfassungsgerichten. Gewaltenteilungsvorstellungen und die Grenzen der Justizialisierung. In: Zeitschrift für Politikwissenschaft 4/2004, S. 1299–1323. Simon, Helmut (19942 ): § 34 Verfassungsgerichtsbarkeit. In: Benda, Ernst/ Maihofer, Werner/ Vogel, Hans-Jochen (Hrsg.): Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland. Berlin, S. 1637–1677. Sirovich, Lawrence (2003): A pattern Analysis of the second Rehnquist U.S. Supreme Court. In: Procedings of the National Academy of Sciences, Vol. 100, 13/2003, S. 7432–7437. Smith, Rogers M. (1988): Political Jurisprudence, the “New Institutionalism”, and the Future of Public Law. In: American Political Science Review, Vol. 82, 1/1988, S. 89–108. Solomon, Rayman L. (20052 ): Court-Packing Plan. In: Hall, Kermit (Hrsg.): The Oxford Companion to the Supreme Court of the United States. Oxford/ New York. Songer, Donald R./ Cameron, Charles M./ Segal, Jeffrey A. (1995): An Empirical Test of the Rational-Actor Theory of Litigation. In: The Journal of Politics, Vol. 57, 4/1995, S. 1119–1129.

Literatur

245

Songer, Donald R./ Lindquist, Stefanie A. (1996): Not the Whole Story: The Impact of Justices´ Values on Supreme Court Decision Making. In: American Journal of Political Science, Vol.40 , 4/1996 , S. 1049–1063. Songer, Donald R./ Segal, Jeffrey A./ Cameron, Charles M. (1994): The Hierarchy of Justice: Testing a Principal-Agent Model of Supreme Court Circuit Court Interactions. In: American Journal of Political Science, Vol. 38, 3/1994, S. 673–696. Songer, Donald R./ Szmer, John/ Johnson, Susan W. (2011): Explaining Dissent on the Supreme Court of Canada. In: Canadian Journal of Political Science, Vol. 44, 2/2011, S. 389–409. Spaeth, Harold J. (1979): Supreme Court Policy Making. Explanation and Prediction. San Francisco. Spaeth, Harold J./ Segal, Jeffrey A. (1999): Majority Rule or Minority Will. Adherence to Precedent on the U.S. Supreme Court. Cambridge. Spriggs, James F. (1996): The Supreme Court and Federal Administrative Agencies: A Resource-Based Theory and Analysis of Judicial Impact. In: American Journal of Political Science, Vol. 40, 4/1996, S. 1122–1151. Spriggs, James F./ Maltzman, Forrest/ Wahlbeck, Paul J. (1999): Bargaining on the U.S. Supreme Court: Justices’ Responses to Majority Opinion Drafts. In: The Journal of Politics, Vol. 61, 2/1999, S. 485–506. Spriggs, James F./ Hansford, Thomas G. (2001): Explaining the Overruling of U.S. Supreme Court Precedent. In: The Journal of Politics, Vol. 63, 4/2001, 1091–1111. Spriggs, James F./ Hansford, Thomas G. (2002): The U.S. Supreme Court’s Interpretation and Incorporation of Precedent. In: Law and Society Review, Vol. 36, 1/2002, S. 139–160. Staton, Jeffrey K./ Vanberg, George (2008): The Value of Vagueness: Delegation, Defiance, and Judicial Opinions. In: American Journal of Political Science, Vol. 52, 3/2008, S. 504– 519. Steiner, Udo (2001): Der Richer als Ersatzgesetzgeber. Richterliche Normenkontrolle – Erfahrungen und Erkenntnis. In: Neue Juristische Wochenschrift 40/2001, S. 2919–2924. Sterling-Folker, Jennifer (2000): Competing Paradigms or Birds of a Feather? Constructivism and Neoliberal Institutionalism Compared. In: International Studies Quarterly, Vol. 44, S. 97–119. Stern, Robert L./ Gressman, Eugene/ Shapiro, Stephen M. (19866 ): Supreme Court Practice. Washington DC. Sternberg, Sebastian/ Gschwend, Thomas/ Wittig, Caroline/ Engst, Benjamin G. (2015): Zum Einfluss der öffentlichen Meinung auf Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Eine Analyse von abstrakten Normenkontrollen sowie Bund-Länder-Streitigkeiten 1974 2010. In: Politische Vierteljahresschrift 4/2015, S. 570–598. Stimson, James A./ Mackuen, Michael B./ Erikson, Robert S. (1995): Dynamic Representation. In: The American Political Science Review, Vol. 89, 3/1995, S. 543–565. Stolleis, Michael (Hrsg.) (2011): Herzkammern der Republik. Die Deutschen und das Bundesverfassungsgericht. München. Stone Sweet, Alec (2000): Governing with Judges. Constitutional Politics in Europe. Oxford. Stone Sweet, Alec (2002): Constitutional Courts and Parliamentary Democracy. In: West European Politics, Vol. 25, 1/2002, S. 77–100.

246

Literatur

Stoutenborough, James W./ Haider-Markel, Donald P./ Allen, Mahalley D. (2006): Reassessing the Impact of Supreme Court Decisions on Public Opinion: Gay Civil Rights Cases. In: Political Research Quarterly, Vol. 59, 3/2006, S. 419–433. Sturm, Roland (2009): Zwischen pragmatischem Verstehen und theoretischen Perspektiven. Politikwissenschaftliche Forschung zur Bundesrepublik Deutschland. In: Politische Vierteljahresschrift 3/2009, S. 48–72. Sturm, Roland/ Pehle, Heinrich (20052 ): Das neue deutsche Regierungssystem. Die Europäisierung von Institutionen, Entscheidungsprozessen und Politikfeldern in der Bundesrepublik Deutschland. Wiesbaden. Tanenhaus, Joseph/ Murphy, Walter F. (1981): Patterns of Public Support for the Supreme Court: A Panel Study. In: Journal of Politics, Vol. 43, 1/1991, S. 24–39. Tate, Neal C. (1981): Personal Attribute Models of the Voting Behavior of U.S. Supreme Court Justices: Liberalism in Civil Liberties and Economic Decisions, 1946–1978. In: The American Political Science Review, Vol. 75, 2/1981, S. 355–367. Tate, Neal C./ Handberg, Roger (1991): Time Binding and Theory Building in Personal Attribute Models of Supreme Court Voting Behavior, 1916–88. In: American Journal of Political Science, Vol. 35, 2/1991, S. 460–480. Tate, Neal C./ Vallinder, Torbjörn (Hrsg.) (1995): The Global Expansion of Judicial Power. New York. Toobin, Jeffrey (2007): The Nine. Inside the Secret World of the Supreme Court. New York. Treib, Oliver (2015): Akteurzentrierter Institutionalismus. In: Wenzelburger, Georg/ Zohlnhöfer, Reimut: Handbuch Policy-Forschung. Wiesbaden, S. 277–304. Vanberg, Georg (1998): Abstract Judicial Review, Legislative Bargaining, and Policy Compromise. In: Journal of Theoretical Politics, Vol. 10, 3/1998, S. 299–326. Vanberg, Georg (2001): Legislative-Judicial Relations: A Game-Theoretic Approach to Constitutional Review. In: American Journal of Political Science 2/2001, S. 346–361. Vanberg, Georg (2005): Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung: Zum politischen Spielraum des Bundesverfassungsgerichts. In: Ganghof, Steffen/ Manow, Philip (Hrsg.): Mechanismen der Politik. Strategische Interaktion im deutschen Regierungssystem. Frankfurt, S. 183–213. Vanberg, Georg (2005a): The Politics of Constitutional Review in Germany. Cambrige. VonDoepp, Peter (2008): Context-Sensitive Inquiry in Comparative Judicial Research. Lessons from the Namibian Judiciary. In: Comparative Political Studies, Vol. 41, 11/2008, S. 1515–1540. Van Ooyen, Robert Christoph/ Möllers, Martin H.W. (Hrsg.) (2006): Das Bundesverfassungsgericht im politischen System. Wiesbaden. Van Ooyen, Robert Christoph (2008): Amerikanische Literatur zum Supreme Court – Lücken bei der Literatur zum Bundesverfassungsgericht. In: Zeitschrift für Politikwissenschaft, Heft 4/2008, S. 515–522. Vorländer, Hans/ Schaal, Gary (2006): Integration durch Institutsvertrauen. Das Bundesverfassungsgericht und die Akzeptanz seiner Rechtsprechung. In: Van Ooyen, Robert Christoph/ Möllers, Martin H.W. (Hrsg.) (2006): Das Bundesverfassungsgericht im politischen System. Wiesbaden, S. 343–374. Vorländer, Hans (2006): Die Deutungsmacht des Bundesverfassungsgerichts. In: Van Ooyen, Robert Christoph/ Möllers, Martin H.W. (Hrsg.) (2006): Das Bundesverfassungsgericht im politischen System. Wiesbaden, S. 189–199.

Literatur

247

Voßkuhle, Andreas (1997): Der Grundsatz der Verfassungsorgantreue und die Kritik am BVerfG. In: Neue Juristische Wochenschrift 34/1997, S. 2216–2219. Voßkuhle, Andreas (2000): Theorie und Praxis der verfassungskonformen Auslegung von Gesetzen durch Fachgerichte. In: Archiv des öffentlichen Rechts, Band 125, S. 177–201. Voßkuhle, Andreas (2013): Der Rechtsanwalt und das Bundesverfassungsgericht – Aktuelle Herausforderungen der Verfassungsrechtsprechung. In: Neue Juristische Wochenschrift 19/2013, S. 1329–1336. Wahl, Rainer (2001): Das Bundesverfassungsgericht im europäischen und internationalen Umfeld. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 37–38/2001, S. 45–54. Wahlbeck, Paul J. (1997): The Life of the Law: Judicial Politics and Legal Change. In: Journal of Politics, Vol. 59, 3/1997, S. 778–802. Wahlbeck, Paul J./ Spriggs, James F./ Maltzman, Forrest (1998): Marshalling the Court: Bargaining and Accommodation on the United States Supreme Court. In: American Journal of Political Science, Vol. 42, 1/1998, S. 294–315. Wahlbeck, Paul J. (2006): Strategy and Constraints on Supreme Court Opinion Assignment. In: The University of Pennsylvania Law Review, Vol. 154, S. 1729–1755. Wank, Rolf (1980): Die verfassungsgerichtliche Kontrolle der Gesetzesauslegung und Rechtsfortbildung durch die Fachgerichte. In: Juristische Schulung, 8/1980, S. 545–553. Ward, Artemus/ Wasby, Stephen L. (2010): “Get a life!”: On interviewing law clerks. The Justice System Journal, Vol. 31, 2/2010, S. 125–143. Wedeking, Justin (2010): Supreme Court Litigants and Strategic Framing. In: American Journal of Political Science, Vol. 54, 3/2010, S. 617–631. Werle, Raymund (1977): Justizorganisation und Selbstverständnis der Richter. Kronberg. Wernsmann, Rainer (2000): Wer bestimmt den Zweck einer grundrechtseinschränkenden Norm – BVerfG oder Gesetzgeber? In: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 12/2000, S. 1360–1364. Westerland, Chad/ Segal, Jeffrey A./ Epstein, Lee/ Cameron, Charles M./ Comparato, Scott (2010): Strategic Defiance and Compliance in the U.S. Courts of Appeals. In: American Journal of Political Science, Vol. 54, S. 891–905. Wetstein, Matthew E./ Ostberg, C. L. (2005): Strategic Leadership and Political Change on the Canadian Supreme Court: Analyzing the Transition to Chief Justice. In: Canadian Journal of Political Science, Vol. 38, 3/2005, S. 653–673. Whitmeyer, Joseph M. (2006): Presidential Power over Supreme Court Decisions. In: Public Choice, Vol. 127, No. 1–2, S. 97–121. Wieland, Joachim (1990): Der Zugang des Bürgers zum Bundesverfassungsgericht und zum U.S. Supreme Court. In: Der Staat, 29. Band, S. 333–353. Wieland, Joachim (2002): The Role of the Legal Assistants at the German Federal Constitutional Court. In: Rogowski, Ralf/ Gawron, Thomas (Hrsg.): Constitutional Courts in Comparison. The U.S. Supreme Court and the German Federal Constitutional Court. New York, S. 197–207. Ziekow, Jan (1994): Rechtsmittelrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit. In: Die Verwaltung, 27/1994, S. 461–494. Zimmerling, Ruth (1991): Externe Einflüsse auf die Integration von Staaten. Zur politikwissenschaftlichen Theorie regionaler Zusammenschlüsse. Freiburg/ München.

248

Literatur

Zöbeley, Günter (20052 ): § 25 – Mündlich Verhandlung; Urteil, Beschluss. In: Umbach, Dieter C./ Clemens, Thomas/ Dollinger, Franz-Wilhelm (Hrsg.): Bundesverfassungsgerichtsgesetz. Mitarbeiterkommentar und Handbuch. München, S. 452–457. Zuck, Rüdiger (2006): Die wissenschaftlichen Mitarbeiter des BVG. In: Van Ooyen, Robert Christoph/ Möllers, Martin H.W. (Hrsg.) (2006): Das Bundesverfassungsgericht im politischen System. Wiesbaden, S. 283–292. Zuck, Rüdiger (2016): Amicus curiae – der unaufgeforderte Schriftsatz im Verfassungsbeschwerdeverfahren beim BVerfG. In: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht, 16/ 2016, S. 1130–1135.