Sklaverei und die Zivilisation des Westens 9783938593127

erw. Fassung eines Vortrags, gehalten in der Carl Friedrich von Siemens Stiftung am 28. Februar 2000

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Sklaverei und die Zivilisation des Westens
 9783938593127

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JÜRGEN OSTERHAMMEL

Sklaverei und die Zivilisation des Westens

CARL FRIEDRICH VON SIEMENS STIFTUNG ■ THEMEN BD. 70

Jürgen Osterhammel

Sklaverei und die Zivilisation des Westens

JÜRGEN OSTERHAMMEL

Sklaverei und die Zivilisation des Westens

Zweite Auflage

Carl Friedrich von Siemens Stiftung München

7u den Abbildungen

Die Umschlagaußenseiten zeigen das ca. 1833 entstandene Gemälde »Sklaven an der Westküste Afrikas« von François Biard (1798-1882). Wilberforce House, Hüll City Museums and Art Galleries Kingstonupon-Hull, England. Reproduktion mit freundlicher Genehmigung von The Bridgeman Art Library, London, Paris, New York.

Seite 6 gibt das »Portrait de Jean-Baptiste Belley« (1797) von Anne-Louis Girodet (1767-1824) wieder. Belley war einer der Deputierten, den das revolutionäre Saint-Domingue 1793 nach Paris entsandte. Die Büste im Hintergrund stellt den Abbé Guillaume-Thomas Raynal dar, Autor der zehnbändigen Histoire philosophique et politique des étahlissemens et du commerce des Européens dans les deux Indes, die von 1772 bis 1781 in mehreren Auflagen erschien, an deren endgültiger Fassung Denis Diderot mitarbeitete und die eine der bekanntesten »machines de guerre« der »philosophes« am Vorabend der Französischen Revolution war. Musée national du Chateau de Versailles. © Artothek, Weilheim.

i Erweiterte Fassung eines Vortrags, gehalten in der Carl Friedrich von Siemens Stiftung am 28. Februar 2000. Der Abend wurde geleitet von Professor Dr. Christian Meier, Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Darmstadt.

Inhalt

Jürgen Osterhammel Sklaverei und die Zivilisation des Westens................. 7

Über den Autor..................................................................... 67

»Themen«

Eine Publikationsreihe der Carl Friedrich von Siemens Stiftung.....................69

JÜRGEN OSTERHAMMEL

Sklaverei und die "Zivilisation des Westens

I Sklaven gab es anderswo; es gab sie nicht in Deutschland. Die Deutschen nahmen sie aus der Ferne wahr. An Nach­ richten über sie herrschte kein Mangel. In den großen Reise­ sammlungen des 18. Jahrhunderts fehlten selten Berichte aus den Sklavenkolonien der Neuen Welt. 1796 publizierte der schottische Offizier John Gabriel Stedman, der in die holländische Besitzung Surinam geschickt worden war, um dort Gemeinschaften entlaufener Sklaven, der sogenannten Maroons, zu bekämpfen, ein umfangreiches Buch, das die Schrecken der Sklaverei in schauerlichen Details ausmalte. Es wurde bereits im folgenden Jahr ins Deutsche übersetzt.1* Heinrich von Kleist war ein Leser solchen Materials. 1811 ließ er seine Erzählung Die Verlobung in Santo Domingo inmitten des großen Sklavenaufstandes in der französischen Kolonie Saint-Domingue spielen. Dieser hatte zwischen 1791 und 1803 achtzigtausend Europäer und eine weitaus höhere Zahl von Schwarzen das Leben gekostet und 1804 zur Gründung des ersten postkolonialen Farbigenstaates der Welt, der Republik Haiti, geführt. Daß man als Staats-

1 Johann Gabriel Stcdmann: Nachrichten von Surinam und seiner Expedition gegen die rebellischen Neger 1772—1777. Hamburg 1797; Neuausgabe auf der Grundlage der Handschrift: John Gabriel Stedman: Narrative of a Five Years Expedition against the Revolted Negroes of Surinam., hrsg. v. R. Price und S. Price. Baltimore/London 1988.

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namen eine alte indianische Bezeichnung wählte, war von hoher symbolischer Bedeutung.2 Die Leser von Reiseberichtén und Gazetten in Europa hatten das beispiellose revolutionäre Geschehen in der Karibik aufmerksam ver­ folgt und konnten sich spätestens seit der Veröffentlichung im Jahre 1797 der Reisebriefe des Barons de Wimpffen, eines scharfsichtigen und kritischen Augenzeugen, ein Bild von den Zuständen auf der Insel am Vorabend der Erhe­ bung machen? Kleist hat sich vermutlich aus der bereits 1806 in Hamburg erschienenen Geschichte der Insel Hayti oder St. Domingo besonders des auf derselben errichteten Negerreiches des englischen Offiziers Marcus Rainsford unterrichtet, der die Revolution mit gedämpfter Sympathie beurteilte.34 Deutsche Reisende berichteten von Sklaverei, die sie gesehen hatten, vor allem in Nordamerika und Afri­ ka. Einige wenige hatten sie selbst erlitten. Doch die Chan­ cen dafür waren im frühen 19. Jahrhundert nicht mehr so groß wie einige Generationen zuvor. Das berüchtigte Pira­ tennest Algier, auf dessen Märkten zwischen 1520 und 1660 um die 400.000 Christen, meist Südeuropäer, als Sklaven 2 Opferzahl nach David P. Geggus: Saint Domingue Revolution, in: Seymour Drescher/Stanley L. Engerman (Hrsg.): A Historical Guide to World Slavery. New York/Oxford 1998, S. 346-349, hier 348. Grundlegend ist Carolyn Fick: The Making of Haiti: The Saint Domingue Revolution from Below. Knoxville 1990. Zur historischen Einbettung vgl. David P. Geggus: Slavery, War and Revolution in the Greater Caribbean, 1789-1815, in: ders./David B. Gaspar (Hrsg.): A Turbulent Time: The French Revolution and the Greater Caribbean. Bloomington/Indianapolis 1997, S. 1-50. 3 Neuausgabe: Alexandre-Stanislas de Wimpffen: Haïti au XV11F siècle: Richesse et esclavage dans une colonie française [1797], hrsg. v. P. Pluchon. Paris 1993. 4 Original: Marcus Rainsford: An Historical Account of the Black Empire ofHayti [...]. London 1805. Zu diesem Werk vgl. Karin Schü 11er : Die deutsche Rezepti­ on haitianischer Geschichte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ein Beitrag zum deutschen Bild vom Schwarzen. Köln/Weimar/Wien 1992. S. 103 ff. Zu weiteren mutmaßlichen Quellen Kleists vgl. Sämtliche Werke und Briefe, hrsg. v. l.-M. Barth u. a., Bd. 3. Frankfurt a. M. 1990, S. 827 f.

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verkauft worden waren (unter ihnen Miguel de Cervantes), bot nurmehr einen Schatten einstiger Schrecken, als die Franzosen es 1830 eroberten und verwüsteten.' Und der Held von Wilhelm Raabes Roman Abu Telfan (1867), Leonhard Hagebucher, der nach langen Jahren härtester Sklaverei als Kriegsgefangener des Sultans von Dar-Fur im Sudan, einer Gegend, in der es bis in die jüngste Vergangen­ heit Sklaven gegeben hat, in seine spießige Heimat Nippen­ burg zurückkehrt, ist eine nicht ganz implausible, aber doch eine erfundene Gestalt.5 6 Ab und an erschien ein exotischer Gast auf der deutschen Szene. Fürsten und reiche Privatleute hielten sich Kammer­ mohren oder schwarze Stallknechte. Afrikanische Feld­ trompeter und Kesselpauker taten Dienst in landesherr­ lichen Regimentern. Besonders weit brachte es Anton Wilhelm Amo.7 Im Kindesalter von Sklavenjägern aus sei­ nem Dorf an der Goldküste geraubt, gelangte er 1707 als Geschenk der Holländisch-Westindischen Handelskom­ pagnie an den Hof des Herzogs Anton Ulrich von Braun­ schweig-Wolfenbüttel. Der Fürst ließ den Knaben ausbil­ den - genauer wohl: er ließ ein pädagogisches Experiment mit ihm veranstalten. Amo studiert in Halle, verteidigt eine lateinische Magisterthese, dann 1734 in Wittenberg seine Doktordissertation »Die Apatheia der menschlichen Seele«

5 Vgl. John B. Wolf: The Barbary Coast: Algeria under the Turks. New York/London 1979, S. 151. Immerhin waren zwischen 1802 und 1815 noch mehr als 1.500 Korsarenoplcr nach Algier verschleppt worden: Lucette Valensi: Le Maghreb avant laprise d'Alger (1790-1830). Paris 1969, S. 66.

6 Vgl. Peter J. Brenner: Die Einheit der Welt. Zur Entzauberung der Fremde und Verfremdung der Heimat in Raabes »Abu Telfan«., in: Jahrbuch der Raabegesellschaft 1987, S. 45-62. 7 Vgl. zu ihm Peter Martin: Sch warze Teitjel, edle Mohren. Afrikaner in Bewußt­ sein und Geschichte der Deutschen. Hamburg 1993, S. 308-327.

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und lehrt noch eine Weile die zunehmend verfemte wolffianische Philosophie an der Universität. Um 1747 ist er, arm und ohne Aussicht auf weiteres Fortkommen, nach West­ afrika zurückgekehrt und irgendwann nach 1753 in einem holländischen Handelsstützpunkt im heutigen Ghana gestorben. Auch im 19. Jahrhundert kamen zuweilen solche Irr­ läufer aus dem, wie es schien, Herz der Finsternis. Im November 1838 traf in München der zwölf- oder dreizehn­ jährige Djalo ein. Djalo war in seiner Heimat Tumale in den Nuba-Hügeln des südlichen Sudan von Soldaten entführt und an arabische Sklavenhändler verkauft worden, die ihn auf dem Markt zu Kairo feilboten. Wie der Junge in den Besitz des Bayernkönigs geriet, wissen wir nicht. Jedenfalls wurde er einem jungen Hauslehrer, Karl Tutschek, anver­ traut, der ihm mit feinem ethnologischem Gespür Aus­ künfte über seine Heimat entlockte und damit zum Begründer der deutschen Sudanforschung wurde. Djalo trat später in die bayerische Armee ein. Im Normalfall wäre er vermutlich ein Militärsklave des Paschas von Ägypten geworden.8 Was immer sie zuvor gewesen sein mochten: die Afri­ kaner, die es nach Deutschland verschlug, waren trotz viel­ fältiger Abhängigkeiten und der ständigen Gefahr, gegen ihren Willen weiterverkauft zu werden, freie Untertanen ihrer Fürsten. Rechtliche Grundlagen für eine rassisch begründete Sklaverei gab es in Deutschland nicht, also kei­

8 Vgl. P. I'.. 11. H.ur: The Bröthen Tutschek and their Sudanese Informants^ in: Sudan Notes and Records 50 (I969\ S. 53-62. Zum afrikanischen Kontext vgl. Janet J. Ewald: Soldiers, Traders. and Slaves: Steife Formation and F.conomic Transformation in the Greater Nile Valley, 1700-1885. Madison, Wisc. 1990. Kap. 1-3.

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nen deutschen Code Noir, hingegen in einigen regionalen Kodifizierungen eine harte Einschränkung der Lebens­ chancen von Leibeigenen.1' Vor allem fehlten sklavenbewirt­ schaftete Kolonien, wie sie Portugiesen und Spanier, Engländer, Franzosen und Holländer besaßen. Nur wenige Deutsche beteiligten sich am transatlantischen Sklavenhan­ del, schlugen ihre Ware aber nicht in deutschen Häfen um.,] Wenn man auch heimischere Formen des außerökonomi ­ schen Arbeitszwanges, etwa die Leibeigenschaft, in die Betrachtung einschließt, dann zeigt sich, daß sie diesseits der Sphäre der Gutsherrschaft, wo der Bauer allerdings ein »Privatuntertan«910 11 des Gutsherrn war, nur schwach ausge­ prägt waren. Schon vor der »Bauernbefreiung«, die in eini­ gen Gegenden Westdeutschlands hauptsächlich eine Entla­ stung von Zahlungsverpflichtungen bedeutete, war der deutsche Bauer westlich der Elbe kein Höriger mehr; er war im 18. Jahrhundert so frei wie gleichzeitig der chinesische, alles andere als ein Sklave. Man soll die Gewalt gewiß nicht beschönigen, die in Deutschland wie in anderen Ländern Europas gegenüber Abhängigen ausgeübt wurde: Zwangs­ rekrutierungen zum Militär und der berüchtigte Soldaten­ verkauf eines »Menschenmäklers«12 wie des Landgrafen von 9 Martin: Schwarze Teufel (wie Anm. 7), S. 131 ff. Das Bayerische Landrecht von 1756 (I 8 § 11) gestattete dem Herrn, »seinen Leibeigenen zu verkaufen, zu ver­ schenken, vererben und überhaupt wie alles andere Eigentum zu veräußern und zu verhandeln«. Hermann Conrad: Deutsche Rechtsgeschicbte. Bd. 2: Neuzeit bis 1806. Karlsruhe 1966, S. 219.

10 Die deutsch-dänische Firma Schimmelmann war ein Ausnahmefall: Christian Degn: Die Schimmelmanns im atlantischen Sklavenhandel. Neumünster 1974. 11 Josef Kulischer: Allgemeine Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters und der Neu­ zeit, Bd. 2. München/Berlin 1929, S. 91. 12 So Johann Gottfried Seume, der selbst als »Halbarrestant« nach Amerika geschickt worden war, in seiner Lebensbeschreibung (postum 1813): Seumes Werke in zwei Randen, hrsg. v. A. und K.-H. Klingenberg, Bd. I, 2. Aiifl. Berlin/Weimar 1965, S. 84.

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Hessen-Kassel, Zwangsarbeit von Kriegsgefangenen, patri­ archalische Gewalt gegenüber Hofgesinde auf den Gütern im Osten. Dennoch gilt: Nirgendwo sonst in der Sphäre der lateinischen Christenheit spielen Sklaverei und sklaverei­ artige Formen von Unfreiheit als historische Erfahrung eine geringere Rolle als in Deutschland, dem einzigen großen Land Europas ohne eine frühneuzeitliche Kolonialvergangenheit. Folglich fehlt heute der Stachel von Gedächtnis und Erinnerung, der immer mehr das öffentliche Geschichts­ interesse und zum Teil auch die Aufmerksamkeit der Histo­ riker leitet. Andernorts gewinnt gerade aus diesem Grunde das Thema Sklaverei an politischer Bedeutung. Im April 1997 entschuldigte sich der amerikanische Präsident Bill Clinton in Uganda für das Unrecht des Sklavenhandels. Die französische Nationalversammlung beschloß im Frühjahr 1999 ein Gesetz, das einen Gedenktag an die Sklaverei vor­ sieht und diese zum Pflichtpensum des Geschichtsunter­ richts erhebt.1' Der nigerianische Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka erinnerte an »eine bis heute ungesühnte Ver­ gangenheit«, beklagte »das Scheitern des europäischen Humanismus schon Jahrhunderte vor dem Holocaust« und verlangte als Wiedergutmachung und »Beweis für eine innere moralische Reinigung« der Europäer zumindest die Rückgabe eines Großteils der einst in Afrika erbeuteten Kunstschätze, wenn nicht sogar weitergehende Reparationen.N Sollte die Menschenrechtskommission der UN den wiederholten Anträgen Israels, Kubas und Senegals folgen und die Sklaverei zum Verbrechen gegen die Menschlich13 Ulrich B.ier:.ScZ>a-'.»zc’j Gedächtnis, in: l'ranklurter Allgemeine Zeitung Nr. 243, 19. 10. 1999, S. 52. 14 Vgl. Wole Soyinka: The Bürden of Memory, the Muse of Forgiveness. Oxford/New York 1999, Auszüge in »Die Zeit« Nr. 25,15. Juni 2000, S. 59 f.

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keit erklären, wird mit Reparationskiagen gegen ehemalige Händler- und Skiavenhalternationen zu rechnen sein. Deutschland betrifft alles dies nicht. Es hat für andere Untaten zu büßen und zu haften. Überseeische Sklaven hat es nie gehalten.

II Daß die deutschen Historiker zur nachantiken Sklaverei niemals etwas zu sagen wußten, kann daher nicht verwun­ dern, auch nicht, daß sie sich bis vor kurzem die Chance ent­ gehen ließen, bei der Suche nach neuer Orientierung, auf die man sich hierzulande in regelmäßigen Abständen begibt, von einem der lebendigsten Gebiete der internationalen Geschichtsforschung zu lernen.15 Nicht nur der national­ historische Anlaß fehlte und fehlt, sondern auch die Ge­ wohnheit, Geschichte anders denn als Nationalgeschichte aufzufassen. Dies aber soll im Folgenden versucht werden: eine Eiwägung von Sklaverei als welthistorisches Problem. »Weltgeschichte« (wir brauchen sie für den gegenwär­ tigen Zweck nicht von »Universalgeschichte« und »Global­ geschichte« abzugrenzen): ein großes, ein durch den Ver­ dacht dilettantischen Schwadronierens nicht grundlos ins Zwielicht geratenes Wort. Man muß ihm sogleich seine Blendwirkung nehmen. Ganz verfehlt wäre es, die weitläu­ figen Interpretationen und die kleinen Beobachtungen 15 Eine vorzügliche, in den »Thcoricdebatien« der Historiker zu wenig beachtete Svnthesc der internationalen Forschung war; Alben Wirz: Sklaverei und kapita­ listisches Weltsystem. Frankfurt a. M. 1984. Vgl. neuerdings Michael Zeuske: Sklaven und Sklaverei in den Welten des Atlantiks. Berlin 2006; Jochen Mcissncr/Ulnch Mückc/Klaus Weber: Schwarzes Amerika. Eine Geschichte der Sklaverei. München 2008.

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»Makrogeschichte« und »Mikrogeschichte«, wie manche sagen - gegeneinander auszuspielen und für unvereinbar zu halten. Das ist grundsätzlich falsch, ein Scheingegensatz, und wäre hier völlig unangemessen. Was wir heute über Sklaverei wissen, ergibt sich aus Hunderten, vielleicht schon Tausenden von Spezialstudien. Allein auf ihrer Grundlage sind Verallgemeinerungen möglich. Wenn sol­ che Spezialstudien aber etwas taugen, dann begnügen sie sich nicht damit, bloß rohe Erfahrung anschaulich und mit­ erleidbar werden zu lassen; das kann die Kunst ohnehin besser - man denke an das Werk der Literaturnobelpreisträ­ gerin Toni Morrison.1*' Gute Historiker der Sklaverei in ihrer erlittenen Konkretheit vergessen nie, daß Opfer- und Tätererfahrungen im Zusammenhang weiträumiger Syste­ me zu sehen sind. Der Angolaner, der, eingepfercht in ein Sklavenschiff, mit unbekanntem Ziel das Meer überquert, die schwarze Baumwollpflückerin in South Carolina, die von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang unter strengster Aufsicht im Rhythmus ihrer gang arbeitet - sie stehen am Schnittpunkt ausgedelmter, zuweilen globaler Strukturen und Beziehungsnetze, die ihnen selbst meist undurchsichtig sind. Das Große und das Kleine zu verknüpfen, System und Alltag, Emotion und Interesse miteinander zu versöhnen darin liegt die Leistung jener großen Bücher moderner Geschichtsschreibung, zu denen das Thema der Sklaverei Anlaß gegeben hat.17 16 Etwa Toni Morrison: Belovcd. New York 1987, dt.: .Menschenkind, übers, v. H. Pfetsch. Reinbek 1989. 17 Dazu zählen Philip D. Morgan: Slave Canntcrpoint: Black Cidture in tbe Eightecnth-Century Cbesapeake and Lowcoimtry. Clupcl Hill/London 1998; Joseph C. Miller: Uiir / Death: Mcrchant Capitalism and tbe Angolan Slave Trade, 1730-1830. London 1988; David Brion Davis: Inhuman Bandage. Tbe Riseand Fall of Slaven' in tbe New Vi’orld. Oxford 2006; Ira Berlin: Generation! of Captivity: A History ofAfrican-American Slaves. Cambridge, Mass. 2003.

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Und eine weitere Einschränkung ist geboten. »Weltge­ schichte« muß nicht heißen, sich zügellos über alle Völker und alle Zeiten zu verbreiten. Nur als Karikatur ihrer noblen Anfänge im 18. Jahrhundert, als die vielbändige Universal History britischer Gelehrter das weltgeschicht­ liche Wissen der Zeit sammelte, kann sie heute noch enzy­ klopädisch sein. Was Globalgeschichte oder Weltgeschichte in der Gegenwart sein sollte, bestimmt sich durch den Zuschnitt historischer Fragestellungen.'* Es gibt Fragen sie werden immer wichtiger-, die sich im üblichen Rahmen der nationalgeschichtlichen Betrachtung weder stellen noch beantworten lassen. Auch geographische Kontinental­ etikette bändigen solche Fragen nicht. Die so selbstver­ ständlich anmutenden Grenzen zwischen Europa und Nicht-Europa geraten ins Schwimmen, sie selbst werden zum Thema. Zusammenhänge werden ebenso wichtig wie das Zusammenhängende, besonders dann, wenn aus dem Zusammenhang das Neue entsteht. Unter den vielen solcher Überschreitungsprobleme gibt es dann noch eine kleinere Zahl von Fragestellungen, die von akademischen Trends und Moden nicht berührt werden, allenfalls von sich verändernden Sensibilitäten und Werturteilen über das Wichtige: Fragestellungen, die fortdauernd und gegen­ wartsbedeutsam beunruhigen und vor denen jeder Vorsatz, sie ein für allemal gültig zu beantworten, versagt. Zu diesen Fragen gehört die nach dem Wechselspiel von Freiheit und Unfreiheit in der neueren Geschichte. Der, wie es hieß,

18 Vgl. die Einleitungen zu Sebastian Conrad/Andreas Eckcn/Ulrike Fieitag (Hrsg.): Glohctlgeschichte. Theorien, Ansätze, Themen. Fr.uikurt a. M./New York 2007, sowie Jürgen Osterhammel (Hrsg.): Weltgeschichte. Stuttgart 2008.

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unvergleichlich gelehrte Lord Acton - selbstklug bemerkte er über seinen Lehrer Ignaz von Döllinger: » ... he knew too rhuch to write«1'' - hat seine History of Liberty nicht geschrieben, und niemand hat es seither getan.” Wir ver­ kleinern hier das Riesenthema auf eines, das umfassend genug bleibt, um kaum mehr als eine Problemskizze zu erlauben: die Bedeutung der Sklaverei in der Geschichte des neuzeitlichen Westens. Nicht Europas also, sondern des »Westens«. Das ist nicht leichtfertig formuliert, sondern birgt bereits These und Pointe dessen, was im Folgenden entwickelt werden soll. Was ist mit »der Westen« gemeint? Der Ausdruck läuft leicht von den Lippen. Er scheint in seiner Evidenz und Gebräuchlichkeit keine pedantischen Definitionsversuche zu dulden. Der halbwegs gebildete Durchschnittszeitge­ nosse dürfte ihn umschreiben mit »die christlich geprägte europäisch-amerikanische Zivilisation«. Ein geschichtsphi­ losophisch versierter Informant würde vermutlich knapp antworten: »Nicht-Asien« - und damit auf die antik-helle­ nische, um 1800 gesteigert und mit rassisch hierarchisierenden Nebengedanken wiederaufgenommene Selbstabgren­ zung des Abendlandes vom Orient anspielen; er oder sie müßte sich aber die Nachfrage gefallen lassen, wo denn Judentum und Christentum hergekommen seien und wie Amerika untergebracht werden könnte. Ein sanguinisch

19 Lord Acton: Dollinger's Historical Work [ 1890]. in: tiers.: Essays in theStudy-and Writing of History, hrsg. v. J. F. Fears. Indianapolis 1985, S. 412-461, hier 460.

20 Nicht zul.illig ist es ein berühmter Sklavercilorscher gewesen, der immerhin einen anspruchsvollen, bisher in Antike und Mittelalter verharrenden Versuch unternommen hat: Orlando Patterson: Freedom: Bd. 1: Freedom in the Making of Western Culture. London 1991.

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gestimmter Konsument soziologischer Zeitdiagnosen schließlich mag vorschlagen: »jene Zivilisation, die am Ende eines langen Modernisierungsprozesses den Prinzipien von Marktwirtschaft und Bürgergescllschaft zu nahezu welt­ weiter Anerkennung verholfen hat«. Damit wäre auch die stillschweigend oft mitgedachte, zuletzt von Samuel Hun­ tington unverblümt verkündete Annahme ausgesprochen, das »lateinische« Europa und das cnglischsprachigc Ameri­ ka bildeten eine gemeinsame oder gar eine einheitliche Kul­ tur und Zivilisation, die dem Rest der Welt entgegengesetzt und ihm in vieler Hinsicht überlegen sei.21 In Europa hat man das amerikanisch-europäische Verhältnis oft anders gesehen und auf Gegensätzen zwischen »alter« und »neuer« Welt beharrt. Fernand Braudel zum Beispiel stellte 1963 - auf dem Höhepunkt gaullistischer Autonomiean­ sprüche - Nordamerika als eigenständigen »ensemble cul­ turel« neben Europa.2223Diese tocquevillcsche Vorstellung findet nach dem Ende des Kalten Krieges dort Unterstüt­ zung, wo man die »Identität« Europas nicht nur durch Abgrenzung von Rußland und dem Orient, sondern auch durch die Betonung kultureller Differenzen zu den Verei­ nigten Staaten von Amerika zu bestimmen versucht. Seit sich die Einsicht in die Möglichkeit auch nicht-westlicher Wege in die Modernität zu verbreiten beginnt,2' läßt sich

21 Vgl. Samuel P. Huntington: Kamp! der Kulturen. Die \eu,l'e'.laltitn% der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. München/Wien 1996, bes. S. 99 H. 22 Vgl. Fernand Braudel: Grammaire det uzilnatiom [ 1963). Paris 1995, S. 467.

23 Vtfl. etwa S. X. Eisenstadt: Multiple Modernities tn an Aÿe o! Globalization, in: Canadian Journal of Sock >log\ 24 t1999/, S. 2S3 -295; durs.: Die \ lelfali der Moderne. Weilerswist 2000: Thomas Schwinn fl Irsgj: Die 1 lellalt und Lmbeii der Moderne Kultur- und Arukturzeryleuhende Analxten. \X iusbadun 20^6.

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überdies das selbstverständlich anmutende Junktim zwi­ schen der Moderne und dem Westen bestreiten. Japan kur­ zerhand dem Westen zuzurechnen, wie es auch schon getan wurde, zeugt von löblicher rassismusresistenter Gesinnung, wäre indes eine geographische Frivolität und würde dem Eigencharakter des japanischen Entwicklungsweges nicht gerecht. Historiker gehen weniger direkt-definitorisch an die Dinge heran und neigen dazu, sich zunächst begriffsge­ schichtlich, neuerdings auch diskursgeschichtlich, voranzutasten.2'1 Dabei wird man die überraschende Feststellung machen, daß ein transatlantisches Gemeinschaftsbewußt­ sein sehr lange auf sich warten ließ, daß es keineswegs die frühe Umfangserweiterung und Linienverlängerung einer europäischen Selbstauffassung gewesen ist. Der Gegensatz von Westen und Osten ist ein altes geschichtsphilosophi­ sches Grundmotiv, das mit der Teilung des Imperium Romanum im 3. Jahrhundert herrschaftsorganisatorische und mit der Spaltung der christlichen Kirche im 11. Jahr­ hundert religiöse Bedeutung gewann. Wenig später, im Zeitalter der Kreuzzüge, legte sich darüber der schon seit dem 8. Jahrhundert gewachsene Antagonismus zwischen lateinischer Christenheit und Islam. Mit der Ab­ schwächung religiöser Differenzkritericn wurde daraus in der frühen Neuzeit die Frontstellung eines dynamischen, gemäßigten, seine Vielfalt pflegenden Europa gegen eine statische und einförmige Welt der exzessiven »asiatischen Despotie« mit dem janusköpfigen petrinischen Rußland als 24 Das Stichwort »West-Ost« fehlt in Otto Brunners, Werner Conzes und Rein­ hart Kosellccks Geschichtlichen Gt loidbegnffcn (8 Bdc. Stuttgart 1972-97). Vgl. aber, wie immer anregend, den kurzen Eintrag in Ravmond Williams: Keywords: A Vocabulary of Culture and Society. London 1976, S. 333 f.

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interkultureller Pufferzone.25 Im 19. Jahrhundert ziehen Liberale und Sozialisten eine innereuropäische Scheidelinie zwischen westlichem Konstitutionalismus und östlicher Autokratie,26 während Konservative im Bündnis der »legiti­ men« Monarchien, also in der Konfiguration der vom rus­ sischen Zaren ersonnenen Heiligen Allianz, eine Gewähr gegen den inneren Umsturz und gegen britische Weltherr­ schaftsbestrebungen sehen. Auch die bis zum späten Carl Schmitt faszinierende anti-englische Entgegensetzung von Behemoth und Leviathan, Landmächten und Seemächten, die den alten kulturellen Okzident-Orient-Gegensatz geo­ politisch konterkariert, findet nun Zuspruch und Anwen­ dung.27*In den beiden Weltkriegen tritt die neuartige Lage ein, daß die »Westmächte« (die sich selbst »the Western powers« nennen) mit der Vormacht des Ostens gegen die Mitte Europas koalieren, in Asien seit 1941 sogar gegen den insularen Randstaat des »Fernen Ostens«, der aus der Sicht der USA ein transpazifischer Nachbar im fernen Westen ist. Die für heutige Vorstellungen vom »Westen« konstitu­ tive kulturelle und politische Solidarität Europas und Nord­ amerikas ist erst langsam entstanden. Amerika selbst - der Norden wie der Süden - hat sich zunächst in der Rhetorik mehrerer Gründergenerationen gegen die Alte Welt ent­ worfen, von der es sich in den Jahrzehnten um 1800 poli­ tisch lossagte und der es 1823 in der Monroe-Doktrin ein

25 Vgl. Jürgen Ostcrhammel: Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert. München 1998, Kap. 2,10 und II. 26 Vgl. Hans Lemberg: Zur Entstehung des Osteuropabegriffs im 19. Jahrhundert. Vom »Norden« zum »Osten« Europas, in: Jahrbücher für Geschichte Ost­ europas 33 (1985), S. 48-91.

17 Vgl. Carl Schmitt: Land und Meer. Eine weltgeschichtliche Betrachtung. Leipzig 1942.

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für allemal weltpolitische Schranken setzte. Die Anglophilie, später auch die eher bohemehafte Frankophilie der reise­ freudigen neuenglischen Bildungselite des 19. Jahrhun­ derts stehen im Widerspruch zur typischen Mentalität der Millionen europäischer Auswanderer, die, den Atlantik in umgekehrter Richtung überquerend, in Amerika den exi­ stentiellen Neubeginn suchten, zumindest in der ersten Emigrantengeneration ihre Brücken zur Alten Welt abbra­ chen und wenig Interesse an der Ausgestaltung eines trans­ kontinentalen Erfahrungs- und Offentlichkeitsraumes hatten.28 Aus europäischer Sicht war (Nord-)Amerika lange und mit ganz unterschiedlichen Wertungen »das Andere«: Projektionsfläche utopischer Hoffnungen und Entwürfe, exotisches Pionierland des Wilden Westens, Modell für dynamisches Unternehmertum, Objekt kulturstolzer Her­ ablassung oder Anlaß für kulturpessimistische Klagen über den kommenden Triumph von Masse, Materialismus und Plutokratie.”’ Zur gleichen Zeit - am Fin de siècle - war es mit der politischen und kulturellen Homogenität allein schon Europas nicht zum besten bestellt. Auf dem Höhe-

28 Daß großräumige «kollektive Identitäten., sich besonders gut in der Analvsc von Olfentlichkeiten und Erfahrungsräumen fassen lassen, begründet Alexander Schmidt-Gernig: Gibt cs eine ‘europäische Identität- ? Konzeptionelle Über­ legungen -¿uni Zusammenhang transnationaler Erfahrimgsräione, kollektiver Ideiititateii und öffentlicher Diskurse in Westeuropa seit dein Zu-eiten Weltkrieg, in: Hartmut Kaelble/Jürgen Sehriewer (Hrsg.): Diskurse und Entwicklungspjade. Der Gesellschaftsverglcich in den Geschieht;- und Sozial-a-issenschaften. Frankfurt a. M. /New York 1999, S. 163-216, hier 199 ff.29

29 Zu tien Ambivalenzen allein im deutschen Amerikabild vgl. Alexander Schmidt: Reisen in die Moderne. Der Amerika Diskurs des deutschen Bürgertums cor dem Ersten Weltkrieg im europäischen Vergleich. Berlin 1997; vgl. auch die wert­ volle Fallstudie Clemens Picht: Amerikarcisen, Amenkaerjabrung und Amerika­ bild deutscher Elektroindustrieller vor dem Ersten Weltkrieg, in: Gangolf Hübinger u. a. (Hrsg.): Universalgeschichte und blationalgcscbichten. Freibur« i. Br. 1994, S. 231-247.

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punkt dieser Konfliktpathologie setzten Bildungsbürger­ tum und politische Führung in Deutschland die »Ideen von 1914«, später neu aufgelegt als die von 1933, gegen West­ europa schlechthin und erst recht gegen das angeblich flache und degenerierte Amerika. Gestand man England trotz sei­ ner vielbeschworenen Krämerhaftigkeit noch eine gewisse aristokratische Überlegenheit zu, so erschienen die USA als eine »zur Nation aufgeblähte Unterschicht«.'0 Ironischer­ weise scheint die Idee von »Western Civilization« als einem gesamtokzidentalen Bildungszusammenhang von Plato bis Ralph Waldo Emerson in den 1890er Jahren im feingeisti­ gen Milieu der Ostküstenuniversitäten entstanden zu sein. Gute Gründe sprechen für Charles Eliot Norton, einen patrizischen Kunst- und Kulturhistoriker an der Harvard University, als ihren Urheber.30 31 Dennoch ließ auch die Harmonie unter den sogenann­ ten angelsächsischen Völkern - man sprach um die Jahr­ hundertwende gerne von »the Anglo-Saxon race« - min­ destens bis zu einer der folgenreichsten Entscheidungen der Geschichte, Präsident Woodrow Wilsons Entschluß, die USA 1917 in den Ersten Weltkrieg zu führen, zu wünschen übrig. Erst die von Churchill und Roosevelt im August 1941 proklamierte Atlantik-Charta, trotz Churchills redak­ tioneller Beteiligung ein klassischer Ausdruck des amerika­ nischen Liberalismus, kann als das wirkliche Gründungs­ dokument eines atlantisch erweiterten politischen Werte-

30 Dan Diner: Verkehrte Welten. Antiamerikanismus in Deutschland. Ein historischer Essay. Frankfurt a. M. 1993, S. 61. 31 Vgl. James Turner: The Liberal Education of Charles Eliot Norton. Baltimore/London 1999, S. 380,384—388.

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Okzidentalismus gelten.12 Er richtete sich in den Umstän­ den der vierzigerJahre nicht gegen /rewi/kulturelle Wider­ sacher, etwa den seit eh und je beargwöhnten und bekämpf­ ten Islam, sondern gegen Europas eigene Barbaren, anders gesagt: gegen zwnerzivilisatorische Rechts- und Regel­ brüche allergrößten Stils. Erst nach der Vernichtung von Nationalsozialismus und Faschismus und dem Beginn des Kalten Krieges waren die strukturellen Voraussetzungen für unser heutiges, jedenfalls das bis um 1990 vorherrschen­ de, Verständnis vom »Westen« gegeben: innere Harmonie, wirtschaftliches Wachstum und ein klar definierbarer Feind. Der »Westen« ist im Grunde eine Erfindung der Nachkriegszeit, das symbolische Komplement zu NATO und OECD. Ganz unabhängig davon bildete sich übrigens im Ostasien des mittleren 19. Jahrhunderts ein FremdbWd vom »Westen«. Chinesen und Japaner sahen sich, anders als die kolonisierten Völker, die es jeweils nur mit einer einzigen erobernden Macht zu tun hatten, nahezu gleichzeitig Europäern und Amerikanern konfrontiert; Japan ist 1853/54 nicht durch eine britische, sondern durch eine ame­ rikanische Flotille geöffnet worden, nachdem die USA zuvor schon zu den ersten Nutznießern der mit China abgeschlossenen »Ungleichen Verträge« gehört hatten. Da kann es nicht verwundern, daß alles neu aus Übersee Heran­ drängende und die ostasiatischen Zivilisationen Heraus­ fordernde pauschal als »westlich« bezeichnet wurde, auch wenn Japaner und Chinesen zu praktischen Zwecken32

32 So Wirren F. Kimball: Forged in War: Roosevelt, Churchill, and the Second World War. New York 1997, S. 99.

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schnell zwischen den unterschiedlichen Ausprägungen eines »westlichen« Zivilisationsmodells zu unterscheiden lernten.” So weit die historische Semantik. Aber sie kann hier nicht ganz befriedigen. Man spürt, man vermutet, daß es den »Westen« gab, bevor davon gesprochen wurde. Es empfiehlt sich daher, nicht nur bei der Begriffsgeschichte in die Lehre zu gehen, sondern sich auch anderwärts zu orien­ tieren; etwa bei Fernand Braudel, dem großen Historiker des Mittelmeeres und später der gesamten frühneuzeitli­ chen Welt. Eine Braudelsche Sichtweise, durch einen Sinn für weite Räume und lange Zeiten bestimmt, eröffnet Aus­ sichten auf transkontinentale und plurikulturelle Schau­ plätze, auch auf diejenige geohistorische Arena, in welcher sich der »Westen« formierte: den Atlantik. Mit der Entdeckung, Eroberung und Besiedlung der Europa zugewandten Küstenzonen des amerikanischen Kontinents und der gleichzeitigen punktuellen Festsetzung von Europäern entlang der westlichen Küsten Afrikas ent­ stand im 16. Jahrhundert als historisches Novum ein atlan­ tischer Interaktionsraum.33 34 Ähnliche kulturenverbindende 33 Zur chinesischen Rezeption westlicher Kulturinhalte hat vor allem der Shang­ haier Historiker Xiong Yuezhi grundlegende Forschungsarbeiten vorgelegt, ins­ besondere Xixue dongjian yu wan-Qing shehui [Das Einströmen westlichen Wissens und die Gesellschaft der späten Qing-ZeitJ. Shanghai 1994. Er kann zeigen, daß gleich nach dem Opiumkrieg (1840-42) neben britischen vor allem amerikanische Missionare an der Verbreitung westlichen Wissens beteiligt waren (S. 142 ff.).

34 Vgl. die auch für unseren Versuch anregende Forschungsbilanz und Problem­ skizze bei Horst Pietschmann: Geschichte des atlantischen Systems, 1580-1830. Ein historischer Versuch zur Erklärung der »Globalisierung0 jenseits nationalge­ schichtlicher Perspektiven. Hamburg 1998. Hier wird (S. 10) zu Recht auf ein auch konzeptionell bahnbrechendes Werk hingewiesen: Charles Vcrlindcn: Les origines de la civilisation atlantique: De la Renaissance ä l'Age des Lumieres. Neuchätel/Paris 1966. Eine neue Literaturübersicht bietet Bemard Bailyn: Atlantic History'. Concept and Contours. Cambridge, Mass. 2005.

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maritime Räume hatte es zuvor schon gegeben, vor allem die Mittelmeerwelt spätestens seit dem Auftreten der Phö­ nizier sowie die Welt des Indischen Ozeans zwischen Mozambique, dem Persischen Golf und dem Indonesi­ schen Archipel. Auch sie wurden durch Handel und Krieg, Migration und kulturellen Transfer zusammengehaltcn und verdichtet. Auch hier wirkten die meeresnahen Regionen und Metropolen tief in die angrenzenden Kontinental­ zonen hinein und trafen dort auf eigenständige kulturelle Kräfte. Umgekehrt ging historische Bewegung immer wieder von landumschlossenen Zentren aus. Edward Gibbon hat dies bereits im späten 18. Jahrhunden unübertrefflich dargestellt, etwa in seiner Analyse von Aufstieg und Ver­ breitung des Islam als einer von der arabischen Wüstenund Stadtkultur aus die gesamte Mittelmeerwelt revolutio­ nierenden Religion und Lebensordnung.'' In der atlantischen Welt des 16. bis 19. Jahrhunderts entstand in einem diskontinuierlichen und widersprüchli­ chen Prozeß die westliche Moderne. Sie trat nicht an einem einzigen Ort oder in einem einzigen Land in Erscheinung, und ein Radiationsmodell der immer weiter ausstrahlenden Kraft eines Zentrums bleibt ebenso unzureichend und, für sich genommen, unvollständig wie ein hegelianisches Stafettcnmodell historischer Kreativität. Die Entfaltungsfläche der frühen Moderne war ein Gesamteuropa, das selbst bei allem Schwergewicht des Nahen und Bodenständigen in einer Welt des vorindustriellen Verkehrs dennoch nach außen orientiert war. Daher ist die überseeische Expansion kein Randphänomen der Geschichte Europas während der

35 Vgl. Edward Gibbon: Tbc Hiitory of thc Decline and Fall of tbe Roman Empire [1776-88], hrsg. v. D. Wormcrsley, Bd. 3. London 1994, S. i51 ff.

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letzten Jahrhunderte, sondern einer ihrer wesensbestim­ menden Prozesse. Nachdem die soziologischen Vertreter der Weltsystemanalyse darauf seit einem Vierteljahrhundert mit übermäßiger Schemati k beharren, hat der niederländi­ sche Historiker Peter Rietbergen die geschmeidigeren Mit­ tel der Kulturgeschichte für das Portrait eines randoffenen und intern wie nach außen mobilen Europa eingesetzt.1'' Hinter der Empfehlung einer transkontinenal-atlantischen Perspektive verbirgt sich eine historiographische Wahl. Es ist vollkommen statthaft, die Eigenarten des euro­ amerikanischen Okzidents durch Vergleich mit anderen großen Zivilisationen (etwa der chinesischen, der indischen oder der islamischen) zu bestimmen und dabei Merkmals­ listen aufzustellen, die das »Wesen« und die »Besonderheit« des Okzidents erfassen sollen. Wenn man es nicht mit äußerster Behutsamkeit handhabt, bleibt ein solches kultur­ vergleichendes Verfahren jedoch - für den Geschmack von Historikern, weniger für den von Kulturphilosophcn und Kultursoziologen - zu statisch und in Raum und Zeit zu ungenau. Auch lassen sich gegenseitige Beeinflussungen nicht leicht erfassen, da man für den Vergleich »reine« Typen benötigt. Und überhaupt: Historiker wissen nicht so genau, was die Dinge ihrer Natur nach sind. Sic beschreiben lieber, wie sie werden und vergehen. Da bietet der Atlantik seit den ersten Afrikafahrten der Portugiesen ein überaus faszinierendes Beobachtungsfeld. Reiche werden gestürzt, neue Gemeinwesen und Staaten gegründet. Menschen, Mikroben und Ideen überqueren einen Ozean. Die Ge­ schichten von Völkern, die nie etwas miteinander zu tun

36 Vgl. Peter Rietbergen: Europc: A CultnralHistory. I.ondon/New York 1998.

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hatten, verflechten sich. Im Rückblick von Historikern ordnen sich diese verflochtenen Geschichten zu einigen großen prozessualen Linien. Zu diesen Linien gehören der Aufstieg der modernen Freiheit - oder, um es weniger ideo­ logisch und weniger teleologisch zu formulieren: Aufstieg und Fall organisierter ¿/wfreiheit. Damit sind wir wieder und endgültig - beim Thema der Sklaverei. Denn wenn etwas die atlantische Welt bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts zusammengehalten hat, dann war es die Sklaverei, ihre unverwechselbare gesellschaftliche Institution. Ein etwas konkreterer Befund läßt sich folgender­ maßen zusammenfassen: Im Zuge ihrer überseeischen Expansion nach Westen schufen Europäer am westlichen Atlantik Gesellschaften neuen Typs, die etwas anderes waren als bloße Kopien europäischer Vorbilder. Eine dieser neuen Gesellschaftsformen war die egalitäre Siedlergesell­ schaft, wie sie in den Neuengland-Kolonien entstand, eine andere die Sklavengesellschaft. Hier muß zunächst eine grundsätzliche Unterscheidung eingeführt werden, die der Althistoriker Sir Moses Finley vorgeschlagen hat. Die Geschichte der Menschheit kennt zahlreiche Beispiele für Gesellschaften mit Sklaven; in nahezu allen Zivilisations­ räumen hat es sie irgendwann einmal gegeben. Neben den vielen Gesellschaften mit Sklaven finden sich jedoch nur sehr wenige ausgesprochene ^¿wewgesellschaften. In Gesellschaften dieses Typs ist Sklaverei nicht eine Arbeits­ form neben anderen, sondern steht im Mittelpunkt der oft großbetrieblich organisierten - Produktion. Sklaverei äußert sich hier als ein weder durch Recht noch durch Her­ kommen begrenzter Arbeits- und Disziplinarzwang über Menschen, die als Eigentum betrachtet werden, also ver­ kauft, verschenkt und vererbt werden können. Sklavinnen

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und Sklaven sind entwurzelte Außenseiter, oft Kriegsgefan­ gene. Sie sind »sozial tot«, das heißt aus den Verwandt­ schaftsbeziehungen ihrer Herkunft herausgerissen und in ihrer neuen Lage bestenfalls auf Widerruf zur Familien­ gründung befugt?7 Die Grunderfahrung des Sklaven ist die vollkommene Abhängigkeit und Schutzlosigkeit. Sie kommt nirgendwo unmittelbarer zum Ausdruck als in der Kontrolle des Herrn über die Ernährung des Sklaven, der im Unterschied zum Leibeigenen in der Regel keine eige­ nen Subsistenzmittel besitzt. (Hunger wurde auf Plantagen aber selten als Disziplinarmittel eingesetzt; die Peitsche beeinträchtigte die Arbeitskraft weniger.) ’s Die Beziehung zwischen Herr und Sklave ist in der Sklavengesellschaft das maßstabsetzende gesellschaftliche Verhältnis schlechthin und färbt auf alle anderen Lebensbe­ reiche ab?’ Die Abhängigkeit besteht nicht zwischen einem allmächtigen Despoten und rechtlosen Untertanen, son­ dern ist ein privates Verhältnis und daher auch stets mit der Produktion und Anhäufung von privatem Reichtum ver­ bunden. Der Sklave ist Eigentum, nicht Untertan oder gar Bürger. Sklavenhalter mediatisieren, ja, monopolisieren staatliche Herrschaftsbefugnisse. Da Sklaven keine besteu­ erbaren Subjekte sind, entzieht Sklaverei einem Staat, der sich als Steuerstaat versteht, wichtige Einnahmequellen. Bil­ den Sklavenhalter in Gesellschaften mit Sklaven nur eine

37 Vgl. Orlando Patterson: Slavery and Social Death: A Comparative Study. Cambridge, Mass. 1982, S. 35 ff. 38 Vgl. Robert W. Fogel/Stanley L. Engcrman: Time on the Cross: The Economics ofAmerican Negro Slavery. Boston/Toronto 1974, S. 147.

39 Vgl. auch Ira Berlin: Many Thousands Gone: The First Two Centuries of Slavery in North America. Cambridge, Mass. 1998, S. 8.

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unter mehreren Elitegruppen, so besitzen sie in Sklaven­ gesellschaften einen unangefochtenen Herrschafts- und Gewaltprimat. Sie sind, marxistisch gesprochen, die herr­ schende Klasse. In dieser sicheren Stellung können sie nur durch drei Kräfte bedroht werden: durch Sklavenaufstände, durch den Aufstieg rivalisierender Eliten (etwa wirtschaft­ lich erfolgreicher Freigelassener) und - unter kolonialen Bedingungen - durch den Entzug politischer Unterstüt­ zung seitens der Machthaber im Mutterland. Wie Finley betont, hat es die voll ausgeprägte Sklaven­ gesellschaft des umrissenen Typs in der Geschichte äußerst selten gegeben. Nur fünf genuine Sklavengesellschaften sind dokumentarisch belegt: zwei davon in der Antike - im klassischen Griechenland und im Italien der späten Repu­ blik und des frühen Prinzipats. Die drei anderen entstanden in der atlantischen Welt der Frühen Neuzeit: in Brasilien, auf den Inseln der Karibik sowie im südlichen Teil Nord­ amerikas/0 Die neuzeitlichen unterschieden sich von den antiken Sklavengesellschaften dadurch, daß erstens die Sklaverei an koloniale Peripherien verbannt war, zweitens das Kriterium der rassischen Zugehörigkeit eine viel größere Rolle spielte und drittens die Rückkehr oder Rückfüh­ rung der Sklaven in ihre Herkunftsländer wegen der großen geographischen Entfernung nahezu unmöglich war. Trotz des spektakulären Experiments Liberia hat Repatriierung in der Geschichte der Sklaverei keine nennenswerte Rolle gespielt. Die drei vollkommen neuartigen, im 16. und 17. Jahr­ hundert geradezu künstlich kreierten Sklavengesellschaften

■40 Vgl. Moses I. Finley: Aneient Sl.Kvry.ind Modern Ideology. London 1980, S. 9.

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in der Neuen Welt beruhten auf keinerlei vorgefundenen Strukturen. Sie waren Produkte eines gigantischen social engineering, das aus neu zusammengebauten Elementen Gesellschaften bis dahin unbekannter An erschuf - ein Umstand, den die eher evolutionistisch denkende Sozial­ geschichte und die vergleichende Soziologie bisher wenig gewürdigt haben.'11 Dadurch unterschieden sich die Skla­ vengesellschaften von einer konventionelleren Kolonialge­ sellschaft wie derjenigen des spanischen Mexiko. Don hatte sich eine spanische Soldaten- und Administratorenschicht über die entmachtete und teilweise vernichtete aztekische Aristokratie hinweg an die Spitze einer fortbestehenden hierarchischen Sozialordnung gesetzt, so wie es Eroberer in der Geschichte immer wieder getan haben. Die Sklavenge­ sellschaften des Westatlantik hingegen waren das Ergebnis zielstrebiger Projektemacherei, eines traditionslosen Kom­ binationsexperiments, bei dem Amerika den Produktions­ faktor Boden, Europa Startkapital und Organisationsmacht und Afrika die Arbeitskräfte bereitstellte. Alle vier Ingredi­ enzien vereinigten sich in einer Institution, die sowohl die Produktion wie das gesamte gesellschaftliche Leben domi­ nierte: der Sklavenplantage. Der Plantagenkomplex - das heißt, die Betriebsform Plantage mit all ihren Konsequenzen - entstand nach mittelmeerischen Vorformen in der Grundidee bereits um 1500 auf den portugiesischen Azoren und den Kapverdischen Inseln. Schon damals diente das neuartige Arrangement der Herstellung des wichtigsten interkontinentalen Export-

41 Soziologen betrachten Sklaverei allenfalls als historischen Hintergrund heutiger ethnischer Konflikte, ohne den Systcnizusamnienhang einer Sklavengcsellschaft zu beachten. Z. B. Anthony Giddens: Sociology. Cambridge 1989, S, 251 ff.

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gutes der Frühen Neuzeit, des Zuckers. Vom östlichen At­ lantik gelangte der Plantagenkomplex um 1550 nach Brasilien, von dort wenige Jahrzehnte später durch niederländische Unternehmer auf die Antillen. Um 1630 war er voll ausge­ prägt, zunächst auf der englischen Insel Barbados, die der Welt den Erfolg der neuen Betriebsform vor Augen stellte. Schnell verbreitete sich die »Plantagenrevolution« zu den übrigen englischen Karibikkolonien, allen voran dem 1655 in Besitz genommenen Jamaika, und zu den französischen Besitzungen Martinique, Guadeloupe und Saint-Domin ­ gue (also der Westhälfte der Insel Hispaniola, wo Kolum­ bus 1493 die erste Zuckerpflanze gesetzt hatte). Um 1789 erzeugte Saint-Domingue mit seinen achttausend Plantagen und einer halben Million Sklaven allein zwei Drittel des französischen Außenhandels und war damit eine der ein­ träglichsten Kolonien der Geschichte/2 Bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts hatte sich die Plantage auch im tabakpro­ duzierenden Virginia buchstäblich eingewurzelt. Am Vor­ abend der nordamerikanischen Unabhängigkeitsrevolution von 1776 finden wir ungefähr nördlich von Baltimore Gesellschaften mit Sklaven, südlich davon, außer in Virginia auch in North Carolina, South Carolina (dem späteren ideologischen Zentrum der Südstaaten) sowie Georgia, Sklavengesellschaften karibischer Art: Ordnungen von solch ungleicher Machrverteilung zwischen Pflanzerminderheit und arbeitender Mehrheit, daß auf sie das Etikett der »Des­ potie« viel eher zutrifft als auf die asiatischen Reiche, denen europäische Theoretiker es zur gleichen Zeit zudachten.

42 D.nid P. Geggus: Tbc H.uthin Revolution, in: Franklin W. Knight/Colin A. Palmer (Hrsg.): The Modem Caribbean. Chapel Hill/London 1989 S. 21-50, hier 21.

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Diese Systeme bestanden - mit Ausnahme Haitis, wo die Selbstbefreiung der Sklaven gelang — ungeschwächt bis ins 19. Jahrhundert fort. Die unter Historikern eingebür­ gerte Epochenschwelle der sogenannten »Doppelrevoluti­ on« um 1800 hat für sie kaum eine Bedeutung. Zu der Zeit, als der kleine Nubier Djalo in München auftauchte, war ein weltgeschichtlicher Höhepunkt in der Verbreitung und Vitalität von Sklaverei erreicht. Das, von der Warte der Sklavenhalter gesehen, Goldene Zeitalter der Südstaaten­ sklaverei in den USA begann überhaupt erst jetzt, als die europäische Frühindustrialisierung eine gigantische Nach­ frage nach Baumwolle erzeugte. Gleichzeitig machten sich indessen sklaverei/ezwi/ZzcAe Gegentendenzen nicht länger bloß literarisch bemerkbar. 1807 fand eine Gesetzesvorlage, die den Sklavenhandel mit britischen und anderen Kolonien für unrechtmäßig erklär­ te, große Mehrheiten in beiden Häusern des Parlaments zu London. 1833 beschloß das britische Parlament die Sklaven­ befreiung im British Empire, eine Maßnahme, die vor­ rangig die Karibikinseln und Südafrika betraf und erst nach einer Ubergangsfrist von vier Jahren, also in Djalos Jahr 1838, wirksam wurde.43 1848 fiel die Sklaverei im französi­ schen Herrschaftsbereich - eine wenig beachtete Weltwir­ kung des europäischen Revolutionsjahres. 1863 endete sie in Surinam, der größten holländischen Karibikkolonie. 1865 brach die Südstaaten-Konföderation, der mächtig­ ste Sklavereistaat der Neuzeit, unter kriegerisch-revolu­ tionären Umständen zusammen - revolutionär zum Bei­ spiel deshalb, weil die Pflanzeroligarchie des Südens als 43 Vgl. Gad Heuman: Tbe British West Inches, in: A. Porter (Hrsg.): Tbe Oxford History of the British Empire, Bd. 4 Oxford 1999, S. 470-493; Jörg Fisch: Geschichte Südafrikas. München 1990, S. 106.

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Verräterin an der Union betrachtet wurde und ihre Sklaven, anders als zuvor die Sklavenbesitzer im britischen Empire, entschädigungslos verlor. Schließlich endete als Ergebnis einer komplexen Mischung von internationalem Druck, metropolitaner Reformpolitik und sozialen Konflikten 1886 die Sklaverei in der spanischen Kolonie Kuba, der leistungsfähigsten Zuckerinsel des 19. Jahrhunderts; sie konnte übrigens unter einer freien Arbeitsverfassung ihre produktive Effizienz aufrechterhaltcn. Zwei Jahre später wurden durch einen einzigen Satz - nämlich Artikel 1 der Lei Aurea, des Goldenen Gesetzes - die Negersklaven Bra­ siliens, mehr als 1,2 Millionen Menschen, befreit.14 Damit war die letzte große Etappe der Emanzipation im atlanti­ schen Raum abgeschlossen. Außerdem wurden 1861 mit der Aufhebung der bäuerlichen Leibeigenschaft im Zaren­ reich in vieler Hinsicht sklavereiähnliche Verhältnisse besei­ tigt, die etwa gleichzeitig mit der Einführung der Zwangs­ arbeit in der Neuen Welt entstanden waren. Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts war die russische Leibeigenschaft immer mehr zu einer Form von ch.ittel slavery geworden und harte schließlich mit der mittelalterlichen Leibeigen­ schaft im feudalen Westeuropa nur noch den Namen gemein. Russische »Seelen« wurden auch ohne Bindung an Land auf dem Markt gehandelt. Sie konnten am Spieltisch gewonnen und verloren werden und unterschieden sich in nichts von persönlichem Sacheigentum. Zeitgenossen ver­ wendeten dieselbe Bezeichnung (rabstvo) sowohl für die44

44 \ gl. Rebecca J. Scott: fl'? Fwisitiim to Free L.ibor. 1860-1891. Princeton 19S5; Roben E. Conrad: Tbe Destruction of Brazilian Siivery, 18*6-1888. Berkeley 1972.

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amerikanische Sklaverei wie für die Leibeigenschaft/5 Diese Zustände dauerten an, bis der Krimkrieg die Schwächen der russischen Gesellschaftsordnung offenlegte und die Auto­ kratie zu einer defensiven Modernisierungspolitik zwang, einer Politik allerdings, die, anders als die viel radikaleren Maßnahmen gleichzeitig in den USA, die Interessen der Herren im Auge behielt, deren Machtstellung auf dem Lande überdauerte. Sieht man alle diese einzelnen Reformepisoden zu­ sammen, dann wird eine der großen welthistorischen Ten­ denzen des 19. Jahrhunderts erkennbar: das Ende der von Weißen geführten Sklavenhaltersysteme. David Brion Davis, der bedeutende Ideenhistoriker der neuzeitlichen Unfreiheit, übertreibt nicht mit seiner Behauptung: »... the progress of emancipation from the 1780s to the 1880s is one of the most extraordinary events in history.«"'’ Selten hat es innerhalb eines ähnlich kurzen Zeitraums eine ähnlich tief­ greifende Diskreditierung einer lange nahezu unangefoch­ tenen Institution gegeben. In den 1880er Jahren ist ein Zenith der Freiheit in der Geschichte des atlantischen Westens erreicht, den nur eine Betrachtung erfaßt, die sich nicht mit europäischer Verfassungsgeschichte bescheidet. Die achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts bedeuten einen kurzen Augenblick des Aufatmens, das Aufleuchten einer Utopie allgemeiner Bürgerrechte, einen Höhepunkt der45 46

45 Vgl. Peter Kolchin: Unfree Labor: American Slavery and Russian Serfdom. Cambridge, Mass. 1987, S. 10, 41—46. Zu Unterschieden ebd., S. 359-363; vgl. auch ders.: A Sphinx on the American Land: The Nineteenth-Century South in Comparative Perspective. Baton Rouge 2003. Zur typologischen Abgrenzung vgl. Stanley L. Engerman: Slavery, Serfdom and Other Forms of Coerced Labour: Similarities and Differences, in: Michael L. Bush (Hrsg.): Serfdom and Slavery: Studies in Legal Bondage. London/New York 1996, S. 18-41.

46 David Brion Davis: Slavery and Hitman Progress. New York/Oxtord 1984, S. 108.

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Entspannung im Verhältnis der Rassen zueinander. Der Augenblick verflog, denn noch in demselben Jahrzehnt setzten sich Gegentendenzen durch. In jenen Jahren begann die koloniale Invasion Afrikas, wenn nicht motiviert, so doch gerechtfertigt durch eine Ideologie der Selbstbeauf­ tragung des weißen Mannes. Selbstverständlich wurde in keiner der neuen Kolonien des späten 19. Jahrhunderts die Sklaverei eingeführt. Aber nirgendwo waren die Koloni­ sierten ihren Eroberern rechtlich gleichgestellt, und der Kampf gegen einheimische Formen der Sklaverei wurde selten mit jenem Nachdruck geführt, der angesichts des propagandistischen Anspruchs der Europäer, auf dem »schwarzen Kontinent« die Zivilisation zu verbreiten, zu erwarten gewesen wäre.'" Zu derselben Zeit erstarkte rassi­ stisches Denken weltweit im Zeichen des Sozialdarwinis­ mus - bis hin nach Japan und China. Die Vereinigten Staa­ ten und die Dominions im britischen Empire begannen, sich durch Exklusionsgesetze gegen die angebliche »gelbe Gefahr« asiatischer Einwanderung zu schützen." In den Südstaaten der USA führte die republikanische Politik der »Reconstruction« in den Jahren nach dem Bürgerkrieg zwar zu manchen Verbesserungen, aber nicht zur ökono­ misch unumgänglichen Verteilung von schuldenfreiem Land an die früheren Sklaven und zum Aufbau einer lebensfähigen Landwirtschaft, auch nicht zur Verwirkli-

47 Vgl. Suzanne Miers/Richard L. Roberts (Hrsg.): Tbc End of Slavery in Africa. Madison, Wisc. 1988; Suzanne Micrs/Marrin A. Klein (Hrsg.): Slavcry and Colonial Rule in Ajrica. London 1999; Manin A. Klein (Hrsg.): Breaking tbe Chains: Slavery, Bondage, and Emancipation in Modern Africa and Asia. Madison, Wisc. 1993.

48 Vgl. zusammcnlasscnd Marilyn Lake/Hcnry Reynolds: Drau'tng tbe Global Colour Eine: White Men's Conntries and tbe International Challcnge of Racial Equality. Cambridge 2008.

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chung jener staatsbürgerlichen Gleichstellung der schwar­ zen Bevölkerung, die der 14. Zusatzartikel zur Verfassung 1868 verheißen hatte. 1877 war die Reconstruction, Ameri­ kas »unvollendete Revolution«, aus der Sicht vieler Afro­ amerikaner gescheitert/’ Sie wurden aus der Politik des Südens verdrängt, einzelstaatlichen und kommunalen Segregationsgesetzen unterworfen und dem Terror weißer Geheimbünde wie des Ku-Klux-Klan ausgeliefert. 1883 nahm das Oberste Bundesgericht den 14. Verfassungs­ zusatz sogar in wesentlichen Punkten zurück. Der Staat Mississippi hat übrigens Lincolns 13. Zusatzartikel von 1865, der die Sklaverei in den USA auf dem Papier abschaffte, erst im März 1995 ratifiziert. Ein neuer, post-emanzipatorischer Rassismus machte die Errungenschaften der Emanzipationszeit teilweise wie­ der zunichte, und dem normativen Fortschritt folgten prak­ tische Rückschritte. Dennoch: das Ende der Sklaverei im atlantischen Raum und in Rußland war irreversibel, und niemand im 19. hielt die gigantischen Systeme von Staats­ sklaverei für möglich, die die totalen Diktaturen im 20. Jahrhundert errichten würden. Das Thema verschwand aus dem politischen Diskurs. Keiner dachte mehr daran, ein Wirtschaftssystem auf Zwangsarbeit zu gründen und Millionen von Menschen zu Privateigentum zu erklären. Die Zäsur der 1860er bis 1880er Jahre beendete die Epoche einer weltweiten Frühmoderne. So fügen sich Aufstieg und Fall der atlantischen Skla­ venhaltergesellschaften zwischen etwa 1580 und 1880 zu 49 Vgl. Eric Foncr: Reconstruction: America’s Unfinished Revolution, 1863-1877. New York 1988, S. 412 ff.; Nobert Finzsch/Jimes O. Horton/Lois E. Horton: Von Benin nach Baltimore. Die Geschichte der Afncitn Amencans. I Jamburg 1999.

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einem Zyklus von geradezu klassischer Eleganz. Bei nähe­ rem Hinsehen findet man eine Vielzahl kleiner regionaler Zyklen, die sich dennoch einem epochalen Großmuster unterordnen lassen. Dieses Muster sieht so aus: In der von Europa geprägten atlantischen Welt verbreiten sich im Zeit­ alter von Descartes und Leibniz Formen atavistischen Arbeitszwanges, die sich mit einer der - formal gesehen rationalsten Unternehmensformen der Epoche, der Plan­ tage, verbinden. Diese erreicht den Höhepunkt ihrer Ausbeutungseffizienz zur Zeit der europäischen Spätauf­ klärung, in Nordamerika sogar noch später: in einer Epoche, die in den Geschichtswerken als die Blütezeit des Liberalismus gilt. Nirgendwo verliert dieser Plantagen­ komplex seine innere Dynamik oder zerbricht er an seinen Widersprüchen. Sowohl auf den Antilleninseln wie in den Südstaaten der USA ist die Plantagenökonomie im Moment ihrer Zerstörung eine stabile und überaus lei­ stungsfähige Wirtschaftsform. Gegenüber der älteren Sicht, die einen langsamen Niedergang der Plantagenproduktion annahm, an deren Ende zwangsläufig der Verzicht auf ein marodes System stehen mußte, hat die neuere Forschung für die britische Karibik kontinuierlich hohe Profite der Zuckerherstellung bis an die Schwelle der Abolition nach­ weisen können.” Ähnlich der nahezu einmütige Konsens der Experten, in den USA sei die Sklavenwirtschaft zum Zeitpunkt ihrer Zerstörung gewinnbringend und krisenfest gewesen. Ihr Untergang sei, in den Worten des wirtschafts­ wissenschaftlichen Nobelpreisträgers Robert Fogel, ein Akt von »econocide«: »a pohtical execution of an immoral

50 Vgl. J. R. Ward: Tbc ProfitMity nfSuy,ir Planung in the British West Indies, 1650-1834, in: Economic History Review 31 (1978), S. 197-213.

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system at its peak of economic success by men ablaze with moral fervor«.51 Auch wird der atlantische Plantagenkom­ plex nicht das Opfer einer Invasion von außen, ähnlich wie im frühen 20. Jahrhundert die einheimische Sklaverei in Afrika und Asien allmählich von den Kolonialmächten zer­ stört werden wird. Die Sklaverei endet, so läßt sich zusam­ menfassen, im 19. Jahrhundert weder aus innerer Notwen­ digkeit noch aus äußerem Schicksal. Sie macht sich nicht selbst überflüssig, verdämmert nicht und wird auch nicht langsam und allmählich wegmodernisiert. In Haiti und den USA verschwindet sie in jenem apokalyptischen Tumult, den ihre radikalsten Feinde seit jeher ersehnten. In den übri­ gen Fällen wird sie durch politische Willensakte abgeschafft. Wir haben es also mit zwei unterschiedlichen Bündeln von Erklärungsproblemen zu tun: den Ursachen für den Aufstieg und denjenigen für den Fall der kolonialen Skla­ verei. Beides wird in der internationalen, besonders in den USA betriebenen Forschung seit etwa einem halben Jahr­ hundert auf durchweg hohem Niveau, aber mit ungemil­ derter Heftigkeit diskutiert. Diese Vehemenz ergibt sich nicht aus dem Zusammenprall gegensätzlicher Wertpositio­ nen.52 Im Gegenteil: Da niemand die Sklaverei auch nur andeutungsweise verteidigt, bedarf es nicht der Suche nach Werturteils/rezAezf. Ein eindeutiger Werturteils^ozzsews öff­ net Raum für Erkenntnisfortschritt und Kontroverse. Die 51 Vgl. Robert W. Fogel: Without Consent or Contract: The Rise and Fall of American Slavery. New York 1989, S. 410. Den Begriff des »Ökozids« prägte Seymour Drescher: Econocide'. British Slavery in the Era of Abolition. Pittsburgh 1977, bes. Kap. 10.

52 Forschungsbcnchtc sind Peter J. Parish: Slavery: History and Historians. New York 1989; Peter Kolchin: Die südstaatliche Sklaverei vor dem amerikanischen Bürgerkrieg und die Historiker. Zur Debatte ¡959-1988, in: Geschichte und Gesellschaft 16 (1990), S. 161-186; Mark M. Smith: Debating Slavery: Economy and Society in the Antebellum American South. Cambridge 1998.

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Debatten werden deshalb so stürmisch ausgetragen, weil sich Deutungsalternativen ungewöhnlich klar entwickeln lassen. Anders gesagt: Die Sklavereiforschung ist zu einem unvergleichlichen Laboratorium für die geschichtswissen­ schaftliche Anwendung oder gar Bildung von Theorien geworden. Nicht von ungefähr sind die Kliometrie, d. h. die modellbildende quantitative Wirtschaftsgeschichte, und die eigentlich gar nicht so neue »Neue Kulturgeschichte« auf diesem Felde maßgeblich entwickelt worden.

III Unter welchen Umständen entstanden die Sklaverei­ systeme des westlichen Atlantik? Sie waren ein Neuanfang, keine Verlängerung der spätrömischen Sklaverei. Während des gesamten Mittelalters gab es rund um das Mittelmeer Sklaverei in verschiedenen Formen.51 Kontakte mit der isla­ mischen Welt verstärkten die Sklaverei in der Christenheit, wenngleich die eigentümliche Institution der Militärskla­ verei, die im Ägypten der Mamelucken jahrhundertelang sogar die Basis der politischen Ordnung bildete, nicht über­ nommen wurde. Charakteristisch für Länder wie Italien, Spanien und Portugal war die Aufnahme einer kleinen Zahl von Sklaven in Familie und Haushalt.54 Großbetriebliche Sklaverei mit rhythmisierter Kolonnenarbeit unter der Peit­ sche (es gibt keine knappe Übersetzung der englischen

53 Vgl. William L). Phillips. Jr.: Sla very from Roman Times to the Early Transatlantic Trade. Minneapolis 1985, Kap. 3-5. 54 Grundlegend iür die Sklaverei im Mittelmeerraum sind die zahlreichen Arbeiten von Charles Verlinden.

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Bezeichnung gang labour), wie sie das römische und später wieder das atlantische System auszeichnete, fehlte hinge­ gen. Am Vorabend der überseeischen Expansion existierten in Europa zwar Gesellschaften mit Sklaven, aber nirgend­ wo Sklavengesellschaften. Plantagensklaverei wurde also durch Europäer wieder­ belebt, nachdem sie aus Europa verschwunden war. Wie­ derbelebt wurde sie allerdings nicht in Europa selbst, son­ dern in den neu eroberten überseeischen Kolonialgebieten. Zu jenem Zeitpunkt, als der Plantagenkomplex in der Neuen Welt Fuß faßte, gab es in den dynamischsten Welt­ handelsmächten, England und den Niederlanden, nurmehr bescheidene Reste von staatlichem und privatem Arbeits­ zwang, vor allem in Gestalt gewaltsamer Rekrutierungen zur Kriegsmarine, einer Praxis, die in der Royal Navy bis in die napoleonischen Kriege andauerte. In Frankreich, das sich noch eine Weile die Einrichtung der staatlichen Galee­ rensklaverei leistete, verschwanden solche Rudimente bis zum Ende des Ancien Regime. In Schottland wurden - ein letzter Akt innereuropäischer Emanzipation - 1775 Berg­ arbeiter aus sklavereiartigen Arbeitsverhältnissen entlas­ sen.55 Gerade diejenigen ostatlantischen Länder, in denen wirtschaftliche Entwicklung, Rechtssicherheit und staats­ bürgerliche Freiheit am weitesten fortgeschritten waren, errichteten am Westatlantik die drückendsten Zwangs­ systeme. Eine der wichtigsten Voraussetzungen dieser Systeme war das Aufkommen neuer Luxusbedürfnisse unter wach­ senden Teilen der Bevölkerung Europas. Bedingt durch

55 Vgl. David Eltis: Thc Rise of African SLrvery in the America*. Cambridge 2000, S.6.

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steigende Einkommen in wachsenden Volkswirtschaften und erleichtert durch organisatorische Neuerungen, etwa die staatlich privilegierte Handelskompagnie (die im Asienhandel letztlich eine größere Rolle spielen sollte als im atlantischen Raum), schaukelten Angebot und Nachfrage sich gegenseitig hoch.51' Die Plantagenbetreiber und Sklaven­ besitzer bedienten dabei ein gesteigertes Konsumprinzip, das sie zugleich selbst in höchster Form verkörperten. Hegel hat dies auf seinen kostbaren Seiten über Herr und Knecht eindringlich beschrieben: Der Herr ist der pure Konsument, vor allem der Verzehrer der Arbeit anderer, die er mit dem Tode bedroht. Er schiebt den Sklaven zwischen sich und die bearbeitete Welt der Dinge und begibt sich durch die parasitäre Negativität seiner Existenz der Chance, zu einem »selbständigen Bewußtsein«, einem Lebens­ entwurf der Verwirklichung, zu gelangen. Das Verhältnis zwischen Herren und Sklaven ist nicht nur durch Gewalt und Ohnmacht, sondern auch durch Konsum und Arbeit gekennzeichnet. »Die Wahrheit des selbstständigen Bewußt­ seins,« folgert Hegel, »ist demnach das knechtische Bewußtsein.«" Das Verhältnis der Sklaverei ist, wie Hegel im Jahre der britischen Attacke auf den Sklavenhandel deutlich macht, aus innerer Konsequenz labil. Erst mußten also, um den wirtschaftsgeschichtlichen Faden wiederaufzunehmen, die Möglichkeiten einer profit­ versprechenden tropischen Landwirtschaft für den inter­ kontinentalen Export, die den neuen Konsumerwartungen 56 Zu den vveliwinschaftliehen Zusammenhängen vg). Wolfgang Reinhard: Pdrosit oder Partner? Furopaische Wirtschaft und X'ene Weh IWO-1800. Münster 1997, S. 77 -116; Jürgen G. Nagel: Abenteuer Fernbandel. Die Ostindienkumpanien. Darmstadt 2007. 57 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie da Geistes [ 1807], hrsg. v. H.-E Wessels/H. Clairmont. Hamburg 1988, S. 134.

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in Europa — Qualm und Süße — entgegenkam, erkannt wer­ den.5"’ Dann erst ergab sich das Problem der Beschaffung von Arbeitskräften. Am Beginn des Aufbaus des Plantagen­ komplexes steht also ein ökonomisches Kalkül, nicht der Wille von Europäern, Angehörige einer fremden Rasse mil­ lionenfach zu verschleppen - ein Umstand, der die mora­ lische Beurteilung der Sklaverei freilich nicht berührt. Woher sollte man Arbeitskräfte nehmen? Die vorkolonialcn Ureinwohner des amerikanischen Festlandes und der kari­ bischen Inseln waren teils dem Mikrobenschock der ersten europäischen Invasionswelle zum Opfer gefallen, teils erwiesen sie sich als ungeeignet für jene Art straffer Regle­ mentierung, wie sie die Plantage verlangte. Auf jeden Fall ließen sie sich weniger mobil einsetzen und weniger leicht an der Flucht vor unerträglichen Arbeitsbedingungen hin­ dern. Außerdem war aus den großen spanischen Debatten des 16. Jahrhunderts über die Behandlung der amerikani­ schen Indios das Prinzip hervorgegangen, die autochthonen Bewohner der Kolonien, als Untertanen der jeweiligen europäischen Krone, nicht der Sklaverei zu unterwerfen. Siedler haben sich an diesen Grundsatz selten gehalten. Doch die Kolonialregierungen, katholische wie protestan­ tische, sind ihm im allgemeinen gefolgt. Dies galt sogar für die Kapkolonie der Holländer, deren schwarze Sklaven nicht aus Südafrika selbst, sondern vorwiegend aus Mada­ gaskar und Mozambique stammten."' Eine andere Möglich-

5S Zur europäischen Nachfrage vgl. Sidney W. Mintz: .SiTCWC» end Power: Tbc PLicc oj Sugar in Modern History. New York 1985» S. 74 ft.; Jordan Goodnian: Tobacco in History: The Cultwre of Dependence. London 1993, Kap. 4, 6.

59 Vgl. Roben Ross: Cape oj Ibrnicnls: SLii'cry and Rcsi>t,tncc in Sonib London 1983, S. 13.

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keit wäre es gewesen, Europäer der Unterschichten zur Arbeit in die Kolonien zu schicken oder für den Dienst in den Tropen anzuwerben. Die Versklavung von weißhäuti­ gen Europäern, kein Problem in der Antike, war am Beginn der Frühen Neuzeit kulturell unmöglich geworden. Frei­ willig wollten sich aber Europäer nicht der mörderischen Arbeit auf tropischen Plantagen unterziehen - ebensowenig wie später die Afrikaner. Ein Kompromiß war die schwächere Form der sogenannten »Indentur«, bei der sich ein Arbeiter als Gegenleistung für freie Schiffspassage für einen begrenzten Zeitraum zu nahezu ungemessenem Arbeitsdienst für einen Arbeitgeber verpflichtete. Dieses Verfahren brachte nicht die gewünschten Ergebnisse und war insgesamt zu kostspielig. Als einer seiner großen Nach­ teile erschien, daß es auf einem Vertrag mit dem Arbeiter beruhte und keine erbliche Abhängigkeit begründete. Nachdem um 1660 die Konjunktur in Nordwesteuropa anzog und die Löhne kräftig stiegen, kam es nicht länger in Frage.'10 Es wurde dann nach der Abschaffung der Sklaverei neu belebt, nun allerdings als Mittel, um die Armutsemi­ gration aus den dicht bevölkerten Ländern Asiens in einige der vormaligen Sklavengebiete am Atlantik zu lenken. Als eine Alternative fast ohne Nachteile bot sich die Beschaffung von Arbeitskräften aus Afrika an. Dies war keineswegs bereits zu Beginn das Resultat eines tiefver­ wurzelten europäischen Rassismus. Es gibt keine Anhalts­ punkte dafür, daß die ursprünglichen Konstrukteure der frühncuzeitlichen Sklavensysteme vornehmlich von rassi­ stischer Verachtung der Afrikaner motiviert gewesen60

60 Vgl. I leiben S. Klein: Tbc Atlantic Slave Trade. Cambridge 1999, S. 21; aueb Eltis: Rise (wie Anm. 55), S. 262.

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wären.61 Dunkelhäutige Bewohner Afrikas waren bereits durch den transsaharischen Sklavenhandel nach Europa gelangt, als Arbeitskräfte daher nicht unbekannt und in der subtropischen Landwirtschaft der mittelmeerischen und ostatlantischen Inseln bewährt. Der transatlantische See­ weg ermöglichte ein bedeutend höheres Transportvolumen. Voraussetzung dafür war ein hinreichendes afrikanisches Sklavenangebot. Europäer wurden zwar zu Sklavenhänd­ lern, die bei der Überfahrt, der berüchtigten middle passage, oft mit äußerster Herzlosigkeit vorgingen, aber sie taten nie den Schritt, die Sklaven selbst zu fangen. In Afrika gab es selbstverständlich bereits zahlreiche Gesellschaften mit Sklaven, ohne daß Sklaverei die Grundbeziehung der sozialen Organisation gewesen wäre.6263 Erst die europäische Nachfrage intensivierte die Sklaverei auch im Inneren Afri­ kas; seit etwa der Mitte des 18. Jahrhunderts wurden sogar zahlreiche Kriege mit dem einzigen Ziel geführt, Sklaven für den Export zu erbeuten.62 Der transatlantische Sklaven­ handel war daher von Anfang an eine kollaborative Veran­ staltung, bei der afrikanische Fürsten und Händler die lebende Ware, meist Opfer von Kriegszügen (also nicht Angehörige der eigenen Gemeinschaft oder Abstam­

61 Zu diesem Schluß kommt die gründlichste Studie über die Entstehung der atlan­ tischen Sklavcngescllschaften: Robin Blackburn; The Making of New World Slavery: From the Baroque to the Modem, 1492-1800. London 1997, S. 329.

62 Zu Formen indigener Sklaverei in afrikanischen Gesellschaften vgl. John Thornton: Africa and AJricans in the Making of the Atlantic World, 1400-1680. Cambridge, 2. Aufl., 1998, S. 72-97; Paul E. Lovejoy: Transformations in Slavery: A History of Slavery in Africa. Cambridge, 2. Aufl., 2000; Patrick Manning: Slavery and African Life: Occidental Oriental, and African Slave Trades. Cambridge 1990. 63 Vgl. Klein: Slave Trade (wie Arun. 60), S. 58,71 f. Ebd., S. 90 if., 103 ff. über die afrikanische Kontrolle des Handels.

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mungsgruppe), beschafften und bei den europäischen Handelsfaktoreien entlang der Küste anlieferten.M Über dieser Kollaboration lag lange ein Tabu anti-ras­ sistischer Gutwilligkeit, bis der Harvard-Professor Henry Louis Gates, einer der maßgebenden schwarzen Intellektu­ ellen der USA, Ende der neunziger Jahre das Thema offen ansprach und damit Reaktionen auslöste, die von ferne an die Debatte um Hannah Arendts Kritik an der Mitarbeit der Judenräte an der Vernichtung ihres eigenen Volkes erin­ nert. Unabhängig von derlei moralischen Erwägungen läßt sich feststellen: Auf afrikanischer Seite funktionierte das Sklavenangebot jahrhundertelang mit großer Verläßlich­ keit. Afrika lieferte stets die in Amerika benötigte Men­ schenware und dies zu Preisen, die auf freien Märkten aus­ gehandelt und den Afrikanern keineswegs diktiert wurden. Die schließlich erreichte Gleichmäßigkeit afrikanischer Arbeitskräftelieferungen wäre bei mehr oder weniger frei­ williger Emigration aus Europa vermutlich nicht erzielt worden.1,5 Die einheimische Dominanz auf afrikanischer Seite läßt sich als Zeichen der Abwehrstoffe gegen eine europäische koloniale Invasion lesen. Hätte diese Stärke gefehlt, dann wäre es möglich gewesen, den Plantagenkom­ plex in Westafrika, Angola oder Mozambique anzusiedeln. Auf der französisch, später britisch kolonisierten Insel Mauritius im westlichen Indischen Ozean ist dies auch geschehen, im 19. Jahrhundert unter umfänglicher Be­ schäftigung indischer indentured scrvants. Während des gesamten atlantischen Sklavereizyklus gelangten 11 bis 12

64 Eine weniger moralisierende, sozialgesehichtliclic Interpretation: eb