Rechtssoziologie [1 ed.] 9783428431007, 9783428031009

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Rechtssoziologie [1 ed.]
 9783428431007, 9783428031009

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Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung

Band 31

Rechtssoziologie Von

Prof. Dr. Jean Carbonnier

Duncker & Humblot · Berlin

JEAN CARBONNIER • RECHTSSOZIOLOGIE

Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung Herausgegeben von Ernst E. Hirsch uud Manfred Rehbinder

Band 31

Rech tssoziologie

Von

Prof. Dr. JeaD CarboßDier

DUNCKER & HUMBLOT I BERLIN

Bei der vorliegenden Ausgabe handelt es sich um die von Dr. Ekkehard Hohrer besorgte tlbersetzung der französischen Originalausgabe .Sociologie juridique", die 1972 im Vl'rlag Armand Colin, Paris, erschienen ist. Alle Hechte an der deutschen Ausgabe bei Duncker & Humblot, Berlin.

Gedruckt 1974 bei Berliner BuchdrUckerei Union GmbH" Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3 428 03100 8

Vorwort des Herausgebers zur deutschen Ausgabe Jean Carbonnier, von 1937 bis 1955 Professor an der Juristischen Fakultät in Poitiers und seit 1955 Inhaber des ersten, s. Zt. für Henry LevyBruhl eingerichteten Lehrstuhls für Rechtssoziologie l und Direktor des rechtssoziologischen Laboratoriums an der Juristischen Fakultät Paris, ist den mit Rechtsvergleichung vertrauten deutschen Zivilrechtlern durch sein in der Collection Themis erschienenes "Droit Civil" (1. Auf!. 1955, 7. Auf!. 1972) ebenso bekannt wie den deutschen Rechtssoziologen durch seine Abhandlung "Die großen Hypothesen der theoretischen Rechtssoziologie"2. Das Original des hiermit in deutscher übersetzung dargebotenen Werkes ist als Band 1 der vom Verfasser selbst betreuten Schriftenreihe "Sociologie Juridique" 1972 in Paris erschienen. Es bildet in unserer Schriftenreihe die erste lehrbuchartige Darstellung der Rechtssoziologie mit umfassender Berücksichtigung der Theoriebildung und der Grundbegriffe. Für einen Leser, der sich zu Vergleichen gedrängt fühlt, ist die enge Verwobenheit mit den Fakten und Normen des französischen Zivilrechts, insbesondere des Familienrechts, mit dem sich Carbonnier in den letzten Jahren bei gesetzgeberischen Arbeiten beschäftigt hat, kein Nachteil. Gerade eine derartige Tätigkeit zwingt dazu, die durch positive Rechtsregeln zu regulierenden Sachverhalte in ihrer Einbettung im sozialen Ordnungsgefüge und in ihren vielfältigen Beziehungen zu anderen gesellschaftlichen Phänomenen, ihren Abhängigkeiten und Implikationen zu untersuchen. Dies meint Carbonnier, wenn er seinem Werk den weiten Begriff der Rechtssoziologie als "Inbegriff von nichtdogmatischen Untersuchungen über das Recht" zu Grunde legt (S. 46). Der juristisch vorgebildete Leser, dem nach einer Einführung über die Stellung der Rechtssoziologie innerhalb der Rechtswissenschaft und der allgemeinen Soziologie die Geschichte, der Gegenstand, die Methode und die Funktion der Rechtssoziologie dargeboten werden, muß beachten, daß der von Carbonnier gebrauchte und das ganze Werk durchziehende 1 Vgl. mein Vorwort zu dem als Band 19 dieser Schriftenreihe 1969 in deutscher übersetzung erschienenen Buch von Levi-Bruhl, "Soziologische Aspekte des Rechts". 2 in Hirsch-Rehbinder (Hrsg.), Studien und Materialien zur Rechtssoziologie, Sonderheft 11/1967 zur Kölner Zeitschrift für Soziologie und SozialpsychOlogie, S. 130 - 100. .

6

Vorwort des Herausgebers zur deutschen Ausgabe

Begriff "Rechtssystem" soziologisch und nicht etwa logisch-normativ zu verstehen ist. "Das Rechtssystem ist das räumliche und zeitliche Feld, in dessen Rahmen sich die Rechtserscheinungen abspielen." (S. 131). Carbonnier geht es nicht um das Wesen des Rechts und seiner Normen, sondern um die rechtlichen Erscheinungen (S. 103 ff.). In Analogie zu den experimentellen Wissenschaften postuliert er eine radikale Trennung zwischen Beobachter und beobachteter Materie (S. 20), die Beachtung des von ihm als unerläßlich bezeichneten Grundsatzes der Objektivität im Sinne Durkheims (S. 165 ff.) und den rein methodologisch zu verstehenden Agnostizismus der Soziologie gegenüber jeglichem Wertsystem (S. 167 ff.). Diese " Selbstverständlichkeiten " , die ich in meinen, weil in türkischer Sprache erschienen, dem Autor unzugänglichen oder, obwohl in deutscher Sprache veröffentlicht, offenbar unbekannt gebliebenen rechtssoziologischen Arbeiten betont und beachtet habe, werden "in einer Zeit, in der alle Soziologien den Anspruch erheben, politisch engagiert zu sein im Sinne einer kritischen Theorie" (S. 13), von der überwiegenden Mehrheit der jungen Generation deutscher Rechtssoziologen nicht als "wissenschaftlich" gewertet. Vielleicht gehen auch sie einmal in die Schule von Jean Carbonnier. In dieser Hoffnung danke ich dem Autor und Verlag für die Erlaubnis der übersetzung und Herrn Dr. E. Rohrer für seine mit erheblichen Schwierigkeiten und Mühen verbundene übertragungsarbeit. Königsfeld (Schwarzwald), im März 1974

Ernst E. Hirsch

Inhaltsverzeichnis Vorwort

13

Einführung

15

1. Definition ........................................................ 2. Enger und weiter Begriff der Rechtssoziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Beziehungen zwischen der Rechtssoziologie und der allgemeinen Soziologie .............................. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 4. Der Unterschied zwischen der Rechtssoziologie und dem dogmatischen Recht ............................................................ 5. Das Verhältnis zwischen der Rechtssoziologie und der Rechtsphilosophie ............................................................ 6. Annäherung zwischen der Rechtssoziologie und gewissen juristischen Hilfswissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 7. Unterteilung der Rechtssoziologie nach juristischen Kategorien ...... 8. Unterteilung der Rechtssoziologie nach soziologischen Kriterien. Die Rechtsethnologie .................................................. 9. Die Ethnologie innerhalb der modernen Rechtssysteme . . . . . . . . . . . . .. 10. Rechtsanthropologie .............................................. 11. Rechtspsychologie .................... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 12. Die Individualpsychologie des Rechts .............................. 13. Besondere Rechtspsychologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 14. Die politische Soziologie .......................................... 15. Nationalökonomie und Demographie .............................. 16. Die objektive und individualistische Tendenz in der Rechtssoziologie.. 17. Die Rechtssoziologie als Inbegriff von nichtdogmatischen Untersuchungen über das Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

15 16 17 18 20 21 24 28 31 33 36 38 39 41 43 44 46

Erster Teil Geschichte der Rechtssoziologie Vorbemerkung: Die Schwierigkeit der historischen Beschreibung

1. 2. 3. 4. 5.

47 47

Erstes Kapitel: Die Rechtssoziologie vor dem 20. Jahrhundert

48

Einführende Bemerkungen über die Vorläufer der Rechtssoziologie.. Die Antike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Die Neuzeit ...................................................... Montesquieu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Voltaire ....... . ..................................................

48 49 51 52 55

8 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13.

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.

Inhaltsverzeichnis Die Naturrechtslehren .............................................. 56 Das französische Zivilgesetzbuch (Code dvil) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 58 Auguste Comte .... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 59 Le Play .......................................................... 60 Die deutsche Rechtslehre im 19. Jahrhundert ...................... 61 Der englische Empirismus ........................................ 64 Marx und die Marxisten .......................................... 66 Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 70 Zweites Kapitel: Die Rechtssoziologie im 20. Jahrhundert

73

Durkheim und seine Schule ............ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Die Rechtssoziologie der Kriminologen und Strafrechtler . . . . . . . . . . . . Ehrlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Petrazycki und Gurvitch .......................................... Die Rechtssoziologie in den französischen Rechtsfakultäten . . . . . . . . .. Die deutsche Rechtssoziologie: Max Weber und Theodor Geiger. ..... Die Schule der "Sociological Jurisprudence" ........................ Die psychologischen Tendenzen .................................... Gegenwärtiger Stand der Rechtssoziologie .... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

73 76 79 81 83 89 91 93 96

Zweiter Teil Gegenstand der Rechtssoziologie Vorbemerkung: Die Gedankenführung des Zweiten Teiles Erstes Kapitel: Die Rechtserscheinungen 1. Die Verschiedenartigkeit der Rechtserscheinungen; erste Klassifizie-

rung: die primären und die sekundären Rechtserscheinungen ........ 2. Zweite Klassifizierung der Rechtserscheinungen: Machterscheinungen und Erscheinungen unterhalb der Staatsrnacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 3. Dritte Klassifizierung der Rechtserscheinungen: Institutionen und Einzelfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 4. Vierte Klassifizierung der Rechtserscheinungen: Prozeßangelegenheiten und außerprozessuale Erscheinungen .......................... 5. Die Rechtlichkeit ..... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 6. Die Grundformen der Unterscheidung zwischen rechtlichen und nichtrechtlichen Sozialphänomenen ........................ . . . . . . . . . . .. 7. Die Unterscheidung in den modernen Gesellschaften ..... . . . . . . . . . .. 8. Die Unterscheidung in den Gesellschaften der Vergangenheit ........ 9. Die Unterscheidung im Wandel der Zeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 10. Die Suche nach einem Kriterium für die Rechtlichkeit .............. 11. Das aus dem Zwang abgeleitete Kriterium .......................... 12. Das aus dem Zwang abgeleitete Kriterium (Fortsetzung): Unterschiede der Natur und des Ausmaßes des Zwanges. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 13. Das Kriterium der Infragestellung ................................ 14. über die Möglichkeit empirischer Erforschung der Rechtlichkeit. . . . ..

101 101 103 103 106 108 110 112 113 115 116 117 119 120 123 124 126

Inhal tsverzeichnis

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15.

9

Zweites KapiteL: Das Rechtssystem

130

Der Begriff des Rechtssystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Der rechtliche Raum und seine Teile. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Erste Darstellung des Rechtspluralismus .......................... Die Verschiedenartigkeit der Erscheinungen des Pluralismus .... . ... Einwände gegen den Pluralismus .................................. Wo sich der wahre Rechtspluralismus finden kann .................. Die infrarechtlichen Erscheinungen ................. . .............. Das Folklorerecht ..................... . . . .... . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Das Kinderrecht .................................................. Das Vulgärrecht ................................ . ................. Das Rechtssystem als zeitliches Feld ................................ Das Rechtssystem als Rechtserscheinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Die Rechtsakkulturation .......................................... Die Rechtsakkulturation (Fortsetzung): Ursachen. . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Die Rechtsakkulturation (Fortsetzung): Wirkungen ................

130 131 133 135 137 139 140 141 144 146 148 151 153 154 157

Dritter Teil Methode der Rechtssoziologie

163

Allgemeines

1. 2. 3. 4. 5. 6.

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.

163

Erstes KapiteL: Die Grundsätze

165

Das Prinzip der Objektivität ...................................... Die Objektivierung ................................................ Die Unparteilichkeit .............................................. Die historisch-vergleichende Methode .............................. Der historische Aspekt der Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Der komparative Aspekt der Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

165 166 167 170 171 172

Zweites Kapitel: Die AnaLyse von Dokumenten

176

Begriff und Unterscheidungen .................................... Die Analyse rechtlicher Dokumente ................................ Die soziologische Rechtsprechungsanalyse .......................... Der Wert der soziologischen Rechtsprechungsanalyse ................ Die praktische Anwendung des Verfahrens ........................ Die Analyse nichtrechtlicher Dokumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Die Analyse der Presse ............................................ Die Analyse literarischer Texte .................................... Die Analyse von Bilddokumenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Die quantitative Analyse von Dokumenten ........................

176 177 179 181 183 185 186 187 191 192

Drittes Kapitel: Die Tatsachenerhebung

196

1. Begriff und Unterscheidungen .................................... 196 2. Die monographische und qualitative Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . .. 196

10

Inhaltsverzeichnis

3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.

Die Quantifizierung Die verschiedenen quantitativen Techniken ........................ Die einzelnen Schritte der quantitativen Untersuchung .............. Die in der Rechtssoziologie verwendeten Statistiken ................ Die Stichprobenerhebung: Die Auswahl der Population .............. Die Stichprobenerhebung: Der Gegenstand des Fragebogens ........ Die Stichprobenerhebung: Abfassung und praktische Handhabung des Fragebogens .................................................... Die Analyse der quantitativen Gegebenheiten ...................... Die Analyse natürlicher Gegebenheiten ............................ Das Experimentieren in der Rechtssoziologie: Das Gesetzgebungsexperiment .......................................................... Das Laborexperiment .............. . . . ............................. Das Testverfahren ................................................

10. 11. 12. 13. 14.

200 201 204 204 208 211 214 219 222 225 227 229

Vierter Teil

Funktion der Rechtssoziologie

231

Die Bestimmung des Zweckes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 231

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12.

Erstes KapiteL: Die wissenschaftliche Funktion der Rechtssoziologie

232

Allgemeine Gedanken Die Erkenntnis .... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Die Erklärung .................................................... Der Anteil der Indetermination bei den Rechtserscheinungen ... . . . .. Die wissenschaftlichen Gesetze in der Rechtssoziologie .. . . . . . . . . . . .. Die Kausalanalyse ................................................ Die Kritik .............. . ........ . ................................

232 233 235 237 243 246 248

Zweites Kapitel: Die praktische Funktion der Rechtssoziologie

252

Allgemeiner Gedankengang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Die rechtliche Entscheidung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Die auf den Vertrag angewandte Soziologie ........................ Die auf den Vertragsschluß angewandte Soziologie .................. Die auf das Funktionieren des Vertrages angewandte Soziologie ...... Die auf die Rechtsprechung angewandte Soziologie: Das soziologische Sachverständigengutachten ........................................ Die soziologische Interpretation: als gesellschaftliche Interpretation .. Die soziologische Interpretation: als realistische Interpretation ...... Die soziologische Interpretation: als an gewandte Soziologie .......... Die auf die Gesetzgebung angewandte Soziologie: Die perilegislative Soziologie ........................................................ Die Gesetzgebungssoziologie ...................................... Das philosophische Problem der Gesetzgebungssoziologie: Der Gegensatz zwischen Faktizität und Normativität ..........................

252 252 254 254 257 258 261 263 266 269 271 273

Inhal tsverzeichnis 13. Das philosophische Problem der Gesetzgebungssoziologie: Die biologischen Analogien ................................................ 14. Die empirischen Argumente für die Gesetzgebungssoziologie ........ 15. Die gesetzgeberische Umsetzung soziologischer Forschungsergebnisse 16. Die verschiedenen Techniken der Gesetzgebungssoziologie .......... 17. Die politische Meinungsumfrage ..................................

Register

11 277 280 282 284 287 291

Abkürzungen A.E.S. A.P.D.

Archives europeennes de sociologie Archives de philosophie du droit

A.J.S. A.S. Aubert (1969)

American Journal of Sociology Annee sociologique

Boudon (1967) Brimo (1968)

=

Wilhelm Aubert: Sociology of law (Readings) Raymond Boudon: L'Analyse mathematique des faits sociaux Albert Brimo: Les Grands Courants de la philosophie du droit et de l'Etat, 2. Auf!.

C.civ.

Code civil, Zivilgesetzbuch

C.I.S. C.Proe.civ.

Cahiers internationaux de sociologie Code de proeedure civile

D.

Dalloz (Reeueil de jurisprudenee)

Dig.

Digesten Georges Gurvitch: Elements de soeiologie juridique Ernst Hirsch und Manfred Rehbinder : Studien und Materialien zur Rechtssoziologie, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft Nr. 11 Jurisclasseurs periodiques (ou Semaine juridique, reeueil de jurisprudenee) Henri Levy-Bruhl: Aspeets sociologiques du droit (1955); Sociologie du droit (co ll. "Que sais-je?", P.U.F.1961)

Gurvitch (1940) Hirsch-Rehbinder (1967)

J.C.P. Levy-Bruhl R.F.S. R.H.D.

Revue franc;aise de sociologie Revue historique de droit

R.I.D.C. R.T.D.C.

Revue internationale de droit eompare

Simon (1968)

=

Sondages

=

Revue trimestrielle de droit eivil Rita J. Simon: The Sociology of law, Interdisciplinary readings Sondages, Revue franc;aise de l'opinion publique

Vorwort So wie die Strafrechtler zwischem allgemeinem und besonderem Strafrecht unterscheiden, wobei in letzterem die verschiedenen konkreten Normbrüche behandelt werden (Mord, Diebstahl, Betrug usw.) und in ersterem nur eine Einführung und ein Begriffsrahmen für den besonderen Teil gegeben wird, so sollten auch die Rechtssoziologen zwei Teile in ihrem Fachgebiet unterscheiden. Neben der allgemeinen Rechtssoziologie, welche mit umfassender Theoriebildung die Grundbegriffe des Gegenstandes entwickelt, läßt sich eine besondere Rechtssoziologie vorstellen, welche diese Begriffe in den verschiedenen Rechtsgebieten anwendet, was dann eine beliebige Anzahl von Rechtssoziologien ergibt, wie z. B. Soziologie der Familie, des Eigentums, des Vertrags, der Befugnis zum Erlaß von Rechtsverordnungen und der Aktiengesellschaft. Das vorliegende Werk beschränkt sich bewußt auf den allgemeinen Teil. Der besondere Teil ist nur insoweit berücksichtigt, als es angezeigt erschien, Beispiele hieraus zu verwenden. Es hätte zu weit geführt, auch diesen zu behandeln, da hierfür alle Lehrbücher, sowohl des Zivilrechts als auch des Öffentlichen Rechts, mit einem soziologischen Gegenstück hätten versehen werden müssen. Selbst mit diesen Beschränkungen erreicht das vorliegende Werk sein selbst gestecktes Ziel nicht. Als Entschuldigung mögen die Neuheit des Gegenstandes und die tastenden Versuche einer Wissenschaft gelten, die noch nicht konstituiert ist. Im übrigen ist es wahrscheinlich, daß die Unvollkommenheit eher verziehen wird als die Objektivität, oder, vorsichtiger ausgedrückt, das Streben nach Objektivität. In einer Zeit, in der alle Soziologien den Anspruch erheben, politisch engagiert zu sein im Sinne einer kritischen Theorie, könnten ein Anschein von Eklektizismus, eine gewisse Zurückhaltung beim Aufstellen von Behauptungen und die Bevorzugung vermittelnder Lösungen als Schwäche ausgelegt werden. Es liegt nahe, hierauf zu antworten, daß die Rechtssoziologie bereits zu viel Mühe hat, gegenüber der dogmatischen Rechtswissenschaft ihren Anspruch auf Daseinsberechtigung durchzusetzen, als daß sie sich derzeit den Luxus eines Streites in ihrem eigenen Lager leisten könnte.

Einführung 1. Definition

Gelegentlich wird dem Begriff der Rechtssoziologie ein weiterer Umfang verliehen als dem Begriff der Soziologie des Rechts. Nach dieser Auffassung beschäftigt sich die Soziologie des Rechts mit dem Recht als solchem, mit dessen Normen und Institutionen, während die Rechtssoziologie sämtliche irgendwie mit dem Recht zusammenhängenden Erscheinungen erfaßt, sei es daß das Recht Ursache, Wirkung oder nur Anlaß ist; hierin sind Normverletzungen, Ineffektivität und abweichendes Verhalten eingeschlossen. Nach unserer Auffassung dagegen ist es wissenschaftlich sinnvoller, den weiteren Begriff zugrunde zu legen, denn selbst weit entfernte Reflexionserscheinungen, ja sogar entstellender Widerschein, ermöglichen stets, die Rechtsphänomene selbst in neuem Licht zu erfassen. Als Sprachgebrauch setzen wir jedoch fest, daß für unseren Gegenstand Rechtssoziologie und Soziologie des Rechts dieselbe Bedeutung haben. Die Soziologie des Rechts oder Rechtssoziologie kann als ein Zweig der Soziologie im allgemeinen, welche wir unter Einführung einer weiteren Sprachregelung als allgemeine Soziologie bezeichnen können, definiert werden. Sie ist mit demselben Recht ein Zweig der allgemeinen Soziologie wie z. B. die Religionssoziologie, die Wirtschaftssoziologie, die Wissenssoziologie oder die Erziehungssoziologie. Sie gehört jenem Zweig der allgemeinen Soziologie an, der eine besondere Gattung von sozialen Erscheinungen zum Gegenstand hat, nämlich die Rechtserscheinungen oder die rechtlichen Erscheinungen. Das Wort Erscheinung ist von grundlegender Bedeutung, denn es stellt von vornherein die Absicht klar, sich an das äußere Bild halten zu wollen, unter Verzicht auf das Bemühen, das Wesen der Dinge zu erfahren. Aber es handelt sich um Rechtserscheinungen. Da das Recht nie unabhängig von einer Gesellschaft existiert, kann man sagen, daß alle Rechtserscheinungen, in gewisser Hinsicht zumindest, soziale Erscheinungen sind. Aber das Umgekehrte trifft nicht zu; nicht alle sozialen Erscheinungen sind auch Rechtserscheinungen. Die Erscheinungen der Sitte sind Teil des nichtrechtlichen Soziallebensi. Der Gast, wel1 Die Unterscheidung zwischen Gesetzesrecht und Sitte findet sich schon in der klassischen Literatur. Vgl. Montesquieu: Esprit des lais, 18. Buch, 13. Kap. und im gesamten 19. Buch, wo er dem Gesetz die Sitte (oder die guten Manieren) gegenüberstellt, und Durkheim: De la division du travail social,

S. 28 - 30.

16

Einführung

cher im Restaurant das Essen mit der Suppe beginnt, mit dem Dessert beendet und es danach bezahlen möchte, bietet zunächst das Schauspiel eines Sitten phänomens , nämlich einer in den westlichen Gesellschaften bestehenden ungeschriebenen Vorschrift über die Reihenfolge der Speisen, wonach die salzigen Gerichte vor den süßen kommen, und danach dasjenige eines Rechtsphänomens, und zwar den Ausdruck des Gefühls einer vertraglichen Verpflichtung. Die Unterscheidung zwischen diesen beiden Arten von Erscheinungen und damit zwischen den beiden soziologischen Disziplinen ist jedoch keineswegs immer leicht zu treffen. Wir werden später2 noch sehen, wie schwer faßbar das Kriterium des Rechtlichen ist. 2. Enger und weiter Begriff der Rechtssoziologie Es gibt soziale Erscheinungen, deren Rechtscharakter offenkundig ist. In den modernen Gesellschaften trifft dies für das Gesetz, das Gerichtsurteil und die Verwaltungsentscheidung zu. Dies sind die Erscheinungen, welche wir später als primäre Rechtserscheinungen bezeichnen werden und die eindeutig rechtlich sind, weil sie Recht erzeugen oder genauer genommen, weil sie im Recht aufgehen. Wir haben gesehen, daß sich nach einer engen Auffassung die Rechtssoziologie auf diesen unbestreitbar rechtlichen Bereich beschränken sollte. Diese Auffassung ist nicht ohne Einfluß auf die Orientierung der rechtssoziologischen Untersuchungen gewesen, denn die am besten erforschten Gegenstände bezogen sich lange Zeit auf das Recht als solches und auf seine allgemeinsten Züge; es handelt sich hier, nach dem Sprachgebrauch der Juristen, um die Betrachtung des Rechts vom Standpunkt der allgemeinen Rechtslehre oder der Rechtsquellenlehre aus. Auf diese Weise erklärt sich die relative Fülle von Arbeiten über die Funktionen des Gesetzesrechts, die Verbreitung der Kenntnisse über die Gesetze, das Ansehen der Gesetze, das Bild des Richters in der Öffentlichkeit, die soziale Herkunft der Richter, die Schwerfälligkeit der Rechtspflege usw. In der Vorliebe für die Bezeichnung Soziologie des Rechts, welche sich noch weiterhin bei einigen Autoren findet, kann eine gewisse Hinwendung zum engeren Begriff enthalten sein. Ganz im Gegensatz zu dieser Auffassung steht der weitere Begriff, welcher den Gegenstand der Rechtssoziologie auf alle Erscheinungen ausdehnt, in denen sich irgendwie ein rechtliches Element finden läßt, selbst wenn dieses nicht im Reinzustand, sondern nur vermischt mit anderen vorkommt. Die so konzipierte Rechtssoziologie beschränkt ihr Untersuchungsfeld nicht auf die primären Erscheinungen, sondern erfaßt auch die 2

Siehe unten S. 110 - 129, insbesondere S. 119 f.

Einführung

17

sekundären, die abgeleiteten Erscheinungen wie z. B. die Familie, das Eigentum, den Vertrag, die Haftung usw. Obschon diese Erscheinungen auch Beiträge nichtrechtlicher Herkunft erhalten haben, so ist dies kein hinreichender Grund dafür, der Rechtssoziologie die Zuständigkeit abzusprechen und sie einer anderen besonderen Soziologie oder der allgemeinen Soziologie zuzuweisen. Es ist viel vernünftiger, aus der Vielzahl der Aspekte vielfache, zusammenwirkende Zuständigkeiten abzuleiten. Wir wollen nicht einmal den Standpunkt vertreten, die Rechtssoziologie solle die sie interessierende Seite des Vielecks für sich allein abtrennen und die anderen Seiten, wie z. B. die wirtschaftlichen, sittlichen und moralischen Aspekte, der allgemeinen Soziologie überlassen. Eine derartige Zerstückelung der sozialen Erscheinung wäre künstlich. Die allgemeine und die besondere Soziologie sind in gleicher Weise berufen, das gesamte Sozialphänomen zu erfassen, wobei im übrigen jede Disziplin ihre eigene Prioritätenfolge walten lassen kann. Bei der Ehe zum Beispiel sieht die allgemeine Soziologie zuerst das durch die Sitte geregelte Verhältnis, die wirtschaftlichen Faktoren usw., bevor sie schließlich am Rande auch auf die Rechtsnormen, als etwaige Spannungsquelle, stößt. Die Rechtssoziologie hingegen geht von diesen Normen aus und fragt erst danach, was sie belebt oder im Gegenteil, welche sittlichen, wirtschaftlichen und anderen Faktoren diese aushöhlen. Schon allein die Verschiedenartigkeit der Vorgehensweisen sollte ein besseres Verständnis der untersuchten Erscheinung ermöglichen. 3. Beziehungen zwischen der Rechtssoziologie und der allgemeinen Soziologie

Trotz ihrer Verselbständigung stehen die beiden Disziplinen in einem Austauschverhältnis. Die Rechtssoziologie verdankt der allgemeinen Soziologie, deren Tochterdisziplin sie ist, sehr viel. Ihre Methoden, wie zum Beispiel die historisch-vergleichende Methode, die Statistik und die Erhebungstechnik sind auf anderen soziologischen Gebieten entwickelt worden und haben lediglich eine Anpassung erfahren. Eine große Anzahl ihrer Begriffe, so unter anderem der soziale Zwang, die soziale Kontrolle, das Kollektivbewußtsein, der Status, die soziale Rolle, die Akkulturation, sind nichts als Begriffe der allgemeinen Soziologie, denen sie lediglich einen besonderen Akzent verliehen hat. Ja sogar bei manch einem Begriff wie dem Potlatsch, der ehelichen Gemeinschaft, der Unterscheidung zwischen Macht und Eigentum bei den Kapitalgesellschaften, der anscheinend eine primäre Rechtserscheinung bezeichnet, läßt sich feststellen, daß er von Vertretern der allgemeinen Soziologie erarbeitet worden ist. 2 Carbonn1er

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Einführung

Die allgemeine Soziologie erkennt weniger leicht, was ihr die Rechtssoziologie geboten hat oder bieten könnte. Genau genommen ist es das Recht selbst, was die Rechtssoziologie beizutragen vermag. Durkheim sah in den Rechtsnormen einen ganz besonders gut geeigneten, objektiven Indikator für die sozialen Tatbestände im allgemeinen und riet deshalb den Soziologen deren Studium an1• Aber dieser Rat ist oft vergessen worden, selbst in der Rechtssoziologie. Vielleicht ist es die juristische Auffassung über das Erbringen von Beweisen, welche der Soziologie die fruchtbarsten Anregungen geben könnte. Die justizförmige Tatsachenermittlung beruht auf dem Prinzip des kontradiktorischen Verfahrens, was nichts anderes bedeutet als eine geregelte Auseinandersetzung zwischen einseitigen, befangenen Ansichten; bei jeder Beweiserhebung kann mit vollem Recht der Gegenbeweis geführt werden. Anders als zu Zeiten Durkheims beachtet die Soziologie heute den Grundsatz der Objektivität nicht mehr so streng, und bisweilen wird sogar die Voreingenommenheit zur Methode erklärt, wobei es sich jedoch um eine Parteinahme in ganz bestimmter Richtung handelt. Hier könnte der Beitrag des Rechts in der Einführung des kontradiktorischen Verfahrens in die wissenschaftliche Beweisführung bestehen. In der Praxis ergäbe sich hieraus eine Zweiteilung jedes Forschungsvorhabens und jedem Forscherteam wäre ein anderes entgegenzusetzen. 4. Der Unterschied zwischen der Rechtssoziologie und dem dogmatischen Recht Während zwischen Rechtssoziologie und allgemeiner Soziologie kein Wesensunterschied besteht, da die eine ja nur ein verselbständigter Zweig der anderen ist, so verhält es sich ganz anders in bezug auf die Jurisprudenz, so wie sie herkömmlicherweise in den Rechtsfakultäten gelehrt und von den Gerichten praktiziert wird. Diesen Wissens bereich nennt man auch der Klarheit halber dogmatisches Recht, und zwar ohne ihn herabsetzen zu wollen, denn selbstverständlich ist der Nutzen des dogmatischen Rechts für das Sozialleben bedeutend größer als derjenige der Rechtssoziologie. Man denkt zuerst an Unterschiede des Gegenstandes, wobei der einfachste darin bestünde, daß sich das dogmatische Recht mit den Rechtsnormen als solchen befaßt, während die Rechtssoziologie danach trachtet, die sozialen Ursachen dieser Normen und ihre sozialen Wirkungen zu erforschen. Aber welcher Rechtsdogmatiker wäre heutzutage bereit, eine 1 De la division du travail social, 1. Buch, 1. Kap., S. 28 f.; Les regles de la methode sociologique, 2. Kap., 11. - 15. Auflage, S. 45 f. (Deutsch: Die Regeln der soziologischen Methode). Vgl. auch unten S. 74 und S. 224.

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Beschränkung auf solcherart von der Lebenswirklichkeit losgelöste Texte hinzunehmen, was die Folge einer Ausklammerung der Fragen der Normgenese und der Rechtsanwendung wäre. Im übrigen haben auch die strengsten Dogmatiker stets mehr oder weniger auch die genetische Interpretation, d. h. die Gesetzesauslegung an Hand von Materialien des Gesetzgebungsverfahrens praktiziert, was sie an das Problem der gesellschaftlichen Forderungen heranbrachte, auf welche das Gesetz eine Reaktion war, oder sie haben eine Interpretation der Folgen der Normanwendung geleistet, wodurch sie auf den Weg der Erkenntnis des durch die Normen herbeigeführten sozialen Wandels geleitet wurden. Die Verschiedenheit des Gegenstandes wird manchmal tiefer gesehen, wobei gesagt wird, daß der Dogmatiker das Recht als ein System von normativen, verpflichtenden, zwingenden Tatsachen analysiert, wogegen der Soziologe darin nur Erscheinungen ohne jegliche Autorität sieht. An dieser Behauptung wäre nichts auszusetzen, wenn damit nur gesagt sein sollte, daß der Soziologe sein rechtliches Spezialgebiet unter Abstrahierung von der Autorität des Rechts, welche dieses System auch ihm gegenüber beanspruchen könnte, da er ja wie jeder andere Staatsbürger dem Gesetz unterworfen ist, untersucht. Wir hätten es in diesem Falle nur mit einem anderen Ausdruck für den Grundsatz der Objektivität zu tun, der seinen Platz am Ausgangspunkt jeglicher soziologischen Methode finden solltet. Aber die Tragweite dieser Behauptung ist offenkundig viel weitreichender; darin liegt der Gedanke, die Rechtssoziologie könne die Rechtsnormen ohne Beachtung ihres verbindlichen Charakters, ja sogar ohne Rücksicht auf die Verpflichtungswirkung bezüglich der Normunterworfenen studieren, was nicht vertretbar ist. Was würde man von einem Geographen sagen, der ein Land unter Absehen von dessen Bodenerhebungen erforschen wollte? Die Bindungswirkung, die Autorität, ist ein integrierender Bestandteil der Rechtserscheinung. Was wäre von Philologen zu sagen, deren Streben darauf gerichtet wäre, syntaktische Probleme in der Weise zu analysieren, daß von der Unverbindlichkeit der Regeln der Syntax ausgegangen wird, die in der jeweiligen Sprachgemeinschaft gelten? Zwischen der Rechtssoziologie und der Linguistik besteht im übrigen mehr als nur eine schwache Analogie, denn beide Wissenschaften haben es mit in gewisser Weise normativen Sozialphänomenen zu tun2 • Zwischen dem dogmatischen Recht und der Rechtssoziologie besteht kein Unterschied des Gegenstandes, sondern nur eine Verschiedenartigkeit des Gesichtspunktes, des Blickwinkels. Derselbe Gegenstand, den die dogmatische Rechtswissenschaft von innen analysiert, wird von der 1 2



S. unten 165. Diese Ähnlichkeit ist oft bemerkt worden; s. unten S. 62 Anm. 1 und S. 78.

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Rechtssoziologie von außen betrachtet, und gerade weil sie ihn von außen sieht, ist er für sie eine Erscheinung, eine Exteriorisierung, ein äußeres Bild, ohne daß sie danach fragt, was er in sich selbst sein kann bzw. was seine ontologische Tiefe, als Wesenheit, ist. Der Rechtsdogmatiker ist von Berufs wegen in einem einzigen Rechtssystem, nämlich dem nationalen Recht seines Landes, zu Hause. Auch wenn er nur Theoretiker wäre, könnte er mit vollem Recht geltend machen, daß er dennoch auf dieses einwirke, da er als Gelehrter ein integrierender Bestandteil im Gefüge der Lehre ist und somit selbst eine gewisse Autorität auf dem Gebiet des Rechts ist und sogar zur Rechtsquelle werden kann. Der Soziologe dagegen bleibt außerhalb des Systems, das er beobachtet, auch wenn es das seines eigenen Landes ist, und seine Feststellungen hierüber könnten in gar keiner Weise dessen Funktionieren beeinflussen. Mit anderen Worten, die Rechtssoziologie kennt die den experimentellen Wissenschaften eigene radikale Trennung zwischen dem Beobachter und der beobachteten Materie. 5. Das Verhältnis zwischen der Rechtssoziologie und der Rechtsphilosophie

Auf dem Gebiet der Forschung und Lehre hat sich die Soziologie im allgemeinen im Verlaufe eines Differenzierungsprozesses im Rahmen der Philosophie herausgebildet. Zu Beginn dieses Prozesses war sie nur ein besonderes Kapitel, aber danach ließ ihre eigene Entwicklung die Notwendigkeit einer Spezialisierung offenkundig werden. Etwa gleichzeitig mit diesem Vorgang verselbständigten sich die Psychologie und die Logik, so daß der reinen Philosophie nur die Ethik, und auch diese nicht unbestritten, sowie vor allem die Metaphysik blieben. Auf dem Gebiet der Rechtsphilosophie läßt sich eine vergleichbare Entwicklung feststellen. Ursprünglich war die Rechtsphilosophie allumfassend. Später entließ sie die Rechtssoziologie, die Psychologie des Rechtslebens und die juristische Logik. Sie behielt das, was der Ethik und vor allem das was der Metaphysik im Recht entspricht, nämlich das spekulative Denken über die Rechte und Pflichten der Einzelnen, das Wesen der Gerechtigkeit und das Naturrecht. Die Rechtssoziologie hat somit ihre Selbständigkeit erkämpft, nachdem sie lange nur ein Teilgebiet der Rechtsphilosophie war. Diese Verbindung war solange möglich, wie die Soziologen im wesentlichen derselben Denkweise wie die Philosophen anhingen, indem sie auf der Grundlage persönlicher Erfahrungen über die Menschen in der Gesellschaft meditierten und argumentierten. Die Spaltung wurde unvermeidlich, als die Soziologie die neuen Methoden der sogenannten empirischen

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Sozialforschung, wie zum Beispiel diejenigen zur Beobachtung von Massenerscheinungen sowie das Experiment, sich aneignete. Die beiderseitige Unabhängigkeit schließt jedoch nicht das Vorhandensein von Beziehungen zwischen diesen beiden Disziplinen aus1 • Nach wie vor interessiert sich die Rechtsphilosophie für den Tätigkeitsbereich der Rechtssoziologie. Es handelt sich aber bisweilen um ein aufmerksames Interesse, das von der Sorge getragen ist, der wenn auch rein methodologische Agnostizismus der Soziologie gegenüber jeglichem Wertsystem könne dem unerläßlichen Prestige der Rechtsnormen bei den ihnen Unterworfenen schaden. Gewisse Rechtsphilosophen sehen in der Rechtssoziologie weniger eine andere Wissenschaft als eine andere philosophische Disziplin, die dadurch gekennzeichnet ist, daß sie die einzige Rechtsquelle in die Tiefen des Soziallebens verlagert, was als Soziologismus gilt. Die Vertreter des Soziologismus sind sich mit den Naturrechtlern einig in der Ablehnung des Rechtspositivismus; sie sind vielmehr der Auffassung, daß sich der unendliche Reichtum des Rechts nicht in den staatlichen Gesetzen erschöpft. Aber nach dieser Einigkeit im Negativen machen sich doch die Gegensätze bemerkbar. Während der Soziologismus davon ausgeht, daß es keine die Tatsachen transzendierenden Werte gibt (bei immanenten Werten wäre es vielleicht etwas anders), proklamiert das Naturrecht gerade diese Transzendenz. Was dazu beitragen konnte, daß selbst in unseren Tagen die Rechtssoziologie für eine philosophische Disziplin gehalten werden kann, ist die Tatsache, daß unter den Rechtssoziologen eine starke Richtung mit mehr theoretischer als empirischer Orientierung fortbesteht, welche ihre Themen in dem Bereich findet, in dem das Recht sehr allgemeine Züge trägt, nämlich dem Bereich der Rechtsquellen, der bei ihr Vorrang vor den konkreten Institutionen hat. Diese Richtung findet die Hilfsmittel für ihre Arbeit eher in den Bibliotheken, ja sogar eher in der persönlichen Weisheit, als in der Lebenswirklichkeit, am Ort des Geschehens. Autoren wie Max Weber, Gurvitsch und Geiger illustrieren gut diese theoretische Rechtssoziologie, die im Grunde eine Art Philosophie der Rechtssoziologie ist2• 6. Annäherung zwischen der Rechtssoziologie und gewissen juristischen Hilfswissenschaften Die Eigenschaft des Außenstehens, die bereits verwendet wurde, um die Rechtssoziologie vom dogmatischen Recht zu unterscheiden, findet sich scheinbar auch bei zwei Hilfswissenschaften, die auf eine wesentlich äl1 Vgl. F. Terre: Remarques sur les relations entre la sociologie juridique et la philosophie du droit, A.P.D., 1969, S. 213 ff. 2 S. unten S. 81 und S. 89.

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tere Tradition in den Rechtsfakultäten zurückblicken können, und zwar bei der Rechtsgeschichte einschließlich des römischen Rechts sowie der Rechtsvergleichung. Sowohl der Rechtshistoriker als auch der Fachmann für Rechtsvergleich studiert Rechtssysteme, an denen er nicht teilnimmt, wobei es nebensächlich ist, daß die einen der Vergangenheit und die anderen dem Ausland angehören. Auch wenn die Rechtssoziologie überall besonders häufig das jeweilige Landesrecht untersucht, so erschöpft sich ihr Interesse doch nicht darin, denn sie erweitert ihren Forschungsbereich auf die historischen und die ausländischen Rechtssysteme, um eine möglichst umfassende Zusammenstellung zu erhalten. Hierbei überschneidet sich ihr Vorgehen in solchem Maße mit dem der Rechtsgeschichte und der Rechtsvergleichung, daß der Vorschlag gemacht werden konnte, diese drei Disziplinen unter der Bezeichnung Juristik 1 zu einer neuen, einheitlichen Fachrichtung zu vereinigen, welche die Anwendung der vergleichenden Methode auf die Rechtserscheinungen zum Gegenstand hätte und die sich so von der traditionellen, rein dogmatischen Rechtswissenschaft abheben würde. Der vorgeschlagenen Vereinigung kann jedoch nicht vorbehaltlos zugestimmt werden, denn so wie die Rechtsgeschichte und die Rechtsvergleichung üblicherweise betrieben werden, enthalten sie auch rechtsdogmatisches Denken, und zwar mit vollem Recht. Es ist schwerlich zu bestreiten, daß die Lehre des römischen Rechts nicht einfach dahin geht, die soziologische Kenntnis von Rechtsphänomenen der römischen Gesellschaft zu vermitteln. Das römische Recht ist in sämtlichen westlichen Ländern ein Rechtssystem von besonderer Bedeutung, da es den Schlüssel für einen Teil des geltenden Rechts bildet. Genausogut wie es eine Soziologie des römischen Rechts gibt, so gibt es auch eine Dogmatik des römischen Rechts und diese wiederum ist sogar im allgemeinen vorherrschend gewesen, da die römischen Quellen im Hinblick auf eine bessere Interpretation des geltenden Rechts untersucht worden sind!. In ähnlich starker Weise äußert sich das Gewicht der dogmatischen überlegungen bei den Arbeiten zur Rechtsvergleichung 3 • Die Rechtsvergleichung ist im vorigen Jahrhundert unter dem Zeichen des GesetzgeH. Levy-Bruhl: Aspects sociologiques du droit, 1955, S. 33 f. ("juristique"). über die Beziehungen zwischen der Rechtssoziologie und der Rechtsgeschichte vgl. J. Gaudemet, Les Communautes familiales, 1963, insbes. S. 7; K. Kulcscir: The historical concept in the science of law in the XX th century, Acta juridica Academiae scientiarum hungaricae, 5, fase. 1 - 2 (1963), S. 11 ff. Vgl. auch u. S. 171 f. 3 über die Beziehungen zwischen der Rechtssoziologie und der Rechtsvergleichung vgl. U. Drobnig: Rechtsvergleichung und Rechtssoziologie, Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht, 18 (1953), S. 295 ff.; A. Schnitzer: Vergleichende Rechtslehre, 1961, 1. Band, 1. Teil, Ir. Vgl. auch u. S.172 ff. 1

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bungsvergleichs geboren und diese Bezeichnung war in doppelter Weise aufschlußreich, denn zum einen handelte es sich um den Vergleich von Texten und zum anderen um eine Tätigkeit zur Verbesserung der Gesetzgebung. Zweifellos sind sich heutzutage die Vertreter der Rechtsvergleichung darüber einig, daß ihre Disziplin sich nicht nur mit den Gesetzen, sondern auch mit der Rechtsprechung und der außergerichtlichen Praxis, ja sogar mit dem Grad der Rechtsbefolgung befassen muß, letzteres jedoch nur auf Grund einer summarischen Einschätzung durch Juristen, was aber bereits eine Art Rechtsrealismus ist, der allerdings noch nicht als Soziologie bezeichnet werden kann'. Nichtsdestoweniger setzen sie sich weiterhin die Suche nach Vorbildern für Reformen der Gesetzgebung, der Rechtsprechung und der außergerichtlichen Rechtspraxis auf dem Gebiet des nationalen Rechts zur Hauptaufgabe und keineswegs die Entdeckung von Korrelationen zwischen Rechtserscheinungen zwecks Herausarbeitung wissenschaftlicher Gesetze. Aus diesem Grunde bevorzugen sie den Vergleich zwischen miteinander verwandten Rechtssystemen, also solchen, die sich so nahe stehen, daß die übernahme von Normierungen aus dem einen in das andere sinnvoll ins Auge gefaßt werden kann. Für den Soziologen dagegen ist dieser Gesichtspunkt zweitrangig und es gilt eher das Gegenteil, denn je exotischer und je primitiver eine Rechtsordnung ist, desto eher enthüllt sie Kausalitätsbeziehungen. Hieraus ergibt sich, daß die Kluft zwischen der Rechtssoziologie und diesen beiden klassischen Hilfswissenschaften unüberbrückbar ist. Es gibt jedoch übergangszonen in Gestalt einer sozialhistorischen Rechtsgeschichte und einer soziologischen Rechtsvergleichung. Anstatt die dogmatischen Formen der Vergangenheit oder des Auslandes zu studieren, suchen diese beiden Richtungen die diesen Formen zugrunde liegende soziale Wirklichkeit zu erfassen. Diese beiden Disziplinen sind im Grunde fortgeschrittene Stufen der Rechtssoziologie. Die angewandten Methoden entstammen der Soziologie und heben sich deutlich von denen der Rechtsgeschichte und der Rechtsvergleichung ab. Der mit geschichtlichen Vorgängen befaßte Soziologe erhofft wenig von der Analyse eines Textes von allgemeinem Charakter wie etwa einem Gesetz oder einem Formular, sondern vielmehr von einem konkreten Dokument aus der Praxis, selbst wenn es isoliert dasteht, oder von einem nur zwar schriftlich fixierten, aber lebensnahen Zeugnis. Als RömischrechtIer auf der Suche nach Interpolationen ist er nicht mehr versessen darauf, die Reinheit der Originalfassung zu rekonstruieren. Seinen Geist regen die Schichtenfolgen an, die ihm von Evolution und vielleicht von Fortschritt Kunde geben. Der rechtsvergleichende Soziologe wiederum achtet die collatio legum 4 Vgl. L'apport du droit compare a la sociologie juridique, Livre du Centenaire de la SociE~te de legislation comparee, 1969, S. 75 f.

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gering. Er besitzt seine eigenen Hilfsmittel, den Vergleich von Statistiken und die vergleichende Erhebung von Daten, deren Nutzung allerdings noch in den Kinderschuhen steckt5 • 7. Unterteilung der Rechtssoziologie nach juristischen Kategorien Bis jetzt haben wir die Rechtssoziologie wie ein einheitliches Ganzes behandelt, um sie anderen Disziplinen gegenüberzustellen. Die Wirklichkeit ist weniger monolithisch, denn im Verlaufe eines Prozesses zunehmender Spezialisierung, der sich auch in sehr vielen anderen Wissenschaften äußert, spaltet sich die Rechtssoziologie auf. Diese rechtssoziologischen Teildisziplinen konstituieren sich nach sehr verschiedenen Prinzipien, und zwar zum einen nach juristischen und zum anderen nach soziologischen Kategorien. Es erhebt sich stets die Frage, was besser ist, auf der Grundlage der Rechtswissenschaft oder auf derjenigen der Soziologie zu klassifizieren. Für die Juristen mit soziologichen Interessen war die erste Lösung selbstverständlich. In ihrer einfachsten Form bestand diese Lösung darin, daß der Rechtsdogmatik die großen Unterteilungen auf das Gebiet der Soziologie übertragen wurden. Man könnte daher vermuten oder davon ausgehen, daß das Bürgerliche Recht, das Handelsrecht, das Steuerrecht, das Internationale Privatrecht, das Völkerrecht usw. ebensoviele autonome soziologi5 Um verglichen werden zu können, müssen die Statistiken vergleichbar sein. Es ist aber zu berücksichtigen, daß zum einen die Zahlenangaben staatlicher Stellen nicht überall dasselbe Vertrauen verdienen, und zum anderen, daß die Erhebungsgrundlagen der einzelnen Länder große Unterschiede aufweisen. Es wäre eine internationale Zusammenarbeit erforderlich, so wie sie bereits bei der Kriminalstatistik begonnen hat, um die Registriermethoden der Rechtserscheinungen zu vereinheitlichen. Bezüglich der vergleichenden Erhebung liegt eine Schwierigkeit anderer Art vor. Zwei Erhebungen können nur dann gut miteinander verglichen werden, wenn sie derselben Kultur entstammen. Es ist nun aber so, daß sich in jedem Land die übereinstimmung in der nationalen Zugehörigkeit beim Forscher und beim Befragten tendenziell dahingehend auswirkt, daß die Untersuchung eine gewisse nationale Färbung erhält, deren Eigenart nicht immer von einem Ausländer erfaßt werden kann. Diesem Problem könnte mit einer internationalen Zusammensetzung der Forscherteams teilweise begegnet werden. Man könnte auch an ein Verfahren denken, das sich andeutungsweise bei den modernen Ethnologen findet und das darin besteht, daß der Forscher und der Informant, die beide verschiedenen Nationen angehören, miteinander Kontakt aufnehmen und sich über ihre jeweiligen Rechtsnormen unterhalten, ein Vorgehen, das bisweilen mitgeteilte Ethnologie (anthropologie partagee) genannt wird (dies ist praktisch ein Informationsaustausch zwischen zwei Fachleuten, Anm. d. übers.). Es fragt sich aber, ob ein Gespräch über das geltende Recht (de lege lata) oder das zu schaffende Recht (de lege ferenda) sinnvoll ist, wenn die Dialogpartner nicht eine wenigstens minimale gemeinsame Zugehörigkeit zu einer übergreifenden politischen Ordnung aufweisen.

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sche Teilgebiete charakterisieren. Man kann aber nicht sagen, daß eine derartige, für die Juristen bequeme Klassifizierung auch für diese Wissenschaft gut ist, denn zum soziologischen Verständnis der Rechtsphänomene und insbesondere der primären Erscheinungen wie dem Gesetz und dem Gerichtsurteil wird nichts beigetragen, wenn man das dogmatische Ordnungssystem übernimmt. In der Tat verlief die soziologische Entwicklung auf den einzelnen großen Rechtsgebieten sehr ungleichmäßig. Auf einigen Gebieten kam ihr das Vorhandensein einer wenn auch nicht rein soziologischen, so doch nicht dogmatischen Disziplin sehr gelegen, deren Existenz im übrigen das Ausmaß der spezifisch soziologischen Entwicklung verschleiert haben kann. So ist auf dem Gebiet des Strafrechts der übergang vom dogmatischen Recht zur (besonderen) Rechtssoziologie, der Kriminalsoziologie, durch die bereits sehr viel früher konstituierte und umfassendere Kriminologie, die neben den gesellschaftlichen auch die psychischen, physischen und anthropologischen Faktoren der Kriminalität erfaßt, erleichtert, aber auch dem Auge verborgen worden1 • In derselben Weise konnte sich auf dem Gebiet des Öffentlichen Rechts die Soziologie des Verfassungsrechts, die politische Soziologie, an eine bereits bestehende Wissenschaft, nämlich die Politologie, anlehnen, von der sie im übrigen nur mit Mühe unterschieden werden kann2 • Die Tatsache, daß kaum ein Bedürfnis für eine Soziologie des Verwaltungsrechts vorliegt, steht augenscheinlich damit im Zusammenhang, daß es bereits eine seit langem praktizierte3 , wenn auch erst in neuerer Zeit theoretisch entwickelte4 Disziplin, die Verwaltungswissenschaft, gibt. Es muß aber andererseits auch bemerkt werden, daß in verschiedenen Fällen die Konstituierung einer besonderen Soziologie zumindest der Form nach nicht als rechtssoziologische Disziplin geschah. Beispiele hierfür sind die Agrarsoziologie und die Industriesoziologie (oder allgemeiner die Betriebssoziologie), zu denen sich leicht rechtssoziologische Gegenstücke vorstellen lassen, denn bei den verschiedenen Arten der Landpacht, dem Arbeitsvertrag und dem Tarifvertrag handelt es sich um 1 Vgl. Stefani: Levasseur und Jambu-Merlin, Criminologie et science penitentiaire, 1968, Nr. 25, 88; Jean Pinatel: La Criminologie, 1969; Ph. Robert, A. S. 1970, S. 223 ff. 2 Vgl. Duverger: Sociologie politique, 1966, S. 24: Die Politologie unterscheidet sich von der politischen Soziologie durch eine Tendenz zum isolierten Studium der politischen Erscheinungen auf der Grundlage einer historischen oder juristischen Denkweise, die keinen engeren Kontakt mit den übrigen Sozialwissenschaften hat; vgl. Pinto und Grawitz: Methodes des sciences sociales, Nr. 241 ff.; Z. Ziembinski: Importance des recherches de la sociologie du droit pour la theorie de l'Etat et du droit, A.P.D., 1971, S. 245 ff. 3 Vgl. Pierre Legendre: Histoire de l'administration de 1750 a nos jours, 1968. , Vgl. Bernard Gournay: Introduction a la science administrative, 1966, insbes. S. 7 ff.; L. Sfez: L' Administration prospective, 1970.

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Rechtserscheinungen. Aber diese potentiellen Rechtssoziologien haben sich noch nicht aus den jeweiligen soziologischen Disziplinen herausgelöst. Auf einem Gebiet, wo das Recht in ganz besonders starkem Maße in rein faktische Verhältnisse eingebettet ist, hat dieser Zustand gewisse Vorteile, wobei aber andererseits auch nicht die Nachteile übersehen werden dürfen, die ein Außerachtlassen des spezifisch rechtlichen Aspekts mit sich bringen würde. Wenn man schon nach juristischen Kategorien klassifiziert, dann kann man es nicht bei den den Bezeichnungen der juristischen Lehrveranstaltungen entsprechenden großen Einteilungen bewenden lassen. Die Aufspaltung kann bis hinab zur einzelnen Institution gehen. Es läßt sich so leicht eine eigenständige Soziologie des Eigentums, des Erbrechts, der Aktiengesellschaften oder der Haftung vorstellen. Die Eigenständigkeit läßt sich immerhin mit Erwägungen praktischer Art rechtfertigen, und zwar unter dem Gesichtspunkt der Arbeitsteilung. Wissenschaftlich hat sie nur dann eine Daseinsberechtigung, wenn es die jeweilige Einzeldisziplin mit Rechtserscheinungen besonderer Art, die eine besondere Methode erfordern, zu tun hat, was nur selten der Fall ist. An diesem Punkt erhebt sich nun die Frage, wie es sich denn mit der Familiensoziologie verhält, die auf dem vom Zivilrecht umspannten Gebiet die am besten eingeführte besondere Soziologie ist5 • Sie kann sich rühmen, einen Gegenstand zu besitzen, der sich deutlich von anderen abhebt, denn die Erscheinungen des Familienlebens umfassen biologische Phänomene sowie solche der Sitte und des Rechts. Sogar bei der anzuwendenden Methode bestehen gewisse Besonderheiten, denn eine Untersuchung dieses Bereichs muß in besonderem Maße den psychologischen Aspekten Aufmerksamkeit schenken und des weiteren auf Wiederholungen angelegt sein, um über längere Zeiträume hinweg Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Generationenfolge zu erfassen6 • Trotzdem ist die Selbständigkeit dieser Einzeldisziplin nicht zweifelsfrei, denn sie ist im wesentlichen gegenüber der allgemeinen Soziologie und nicht gegenüber der Rechtssoziologie durchgesetzt worden. Man wollte in der Familie vor allem eine Erscheinung der Sitte sehen, bei der das Recht nur ausnahmsweise eine Rolle spielt. Die derzeit betriebene FamiIiensoziologie ist deshalb keine FamiIienrechtssoziologie. Diese Situation ist keineswegs zufriedensteIlend. Ihr Haupmangelliegt darin, daß nicht einsichtig ist, wie die Ehe und die Ehescheidung, die ja beide nicht ohne das Recht definiert werden können, außerhalb des Rechts verstanden werden sollen. Wenn 5 Vgl. die beachtenswerte Einführung von Andree Michel zu ihrem Reader: Sociologie de la famille, 1970, S. 7 ff. und ihr Werk: Sociologie de la famille, 1972. 8 Vgl. Reuben Hin: The three generation research design: a method for studying family and social change, in R. König und R. Hill, Families in East and West, 1970, S. 539 ff.

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schon die Familiensoziologie verselbständigt werden soll, so ist es naheliegender, sie als besonderen Zweig der Rechtssoziologie zu konstituieren. Obwohl wir nicht so weit gehen wollen, die Familie als reines Derivat der Rechtsgesellschaft anzusehen, muß doch nachdrücklich festgestellt werden, daß diejenige Familiensoziologie, die glaubt, sich den Weg über das Recht ersparen zu können, Gefahr läuft, weltfremd zu werden, denn durch die Reduktion der untersuchten Erscheinungen auf zwischenmenschliche Beziehungen wird das von den Juristen mit dem Namen öffentliche Ordnung belegte, übergreifende Phänomen verkannt. Bei der Justizsoziologie dagegen bestehen aus anderen Gründen Bedenken. Zweifellos kommt sie von der Rechtsoziologie her, es fragt sich jedoch, ob für diese besondere Disziplin wirklich ein Bedarf bestand. Diejenigen, die dies bejahen (ihre Zahl scheint vor allem in den USA zuzunehmen 7 ), setzen das Rechtssystem mit den Rechtsnormen als solchen gleich und betonen, daß die Transformierung der Rechtsnormen in die soziale Wirklichkeit ein juristisches Subsystem erfordert, das neben der Justiz auch die Verwaltung und die Polizei erfaßt. Auf methodologischem Gebiet machen sie geltend, daß zumindest die wichtigsten justitiellen Erscheinungen, nämlich der Rechtsstreit, die Vermittlung, die Einzelrichterentscheidung und die Entscheidung eines Kollegialorgans 8 mehr als alle anderen einer psychologischen Analyse bedürfen. Vollendet wird die Legitimation dieser Sonderdisziplin durch das Hinzufügen einer angewandten Soziologie, und zwar der auf die Rechtsprechung angewandten Soziologie9 • Im Grunde handelt es sich um eine Soziologie, die um die Gestalt des Richters herum aufgebaut istl°. Dieser Aufbau würde sehr gekünstelt wirken, wenn der Richter nicht in der Tat eine herausragende Gestalt des Rechtslebens wäre 11 • Dasselbe könnte aber auch vom Gesetzgeber gesagt werden, und tatsächlich spricht man heutzutage von einer Gesetzgebungssoziologie 12 • Diese Sonderdisziplin wiederum hat sich vor allem auf Grund ihrer Funktion in der Praxis, als auf die Gesetzgebung angewandte Rechtssoziologie, gebildet und nicht wegen der Bedeutung des Gesetzgebers als solchem oder wegen ihrer besonderen Materie. 7 Vgl. G. Schubert: Judicial behaviour; a reader in theory and research, 1964; Grossman und Tanenhaus: Frontiers of judicial research, 1969; im Reader von Rita J. Simon (1968) die ersten 3 Kapitel des 4. Teils; im Reader von V. Aubert (1969) den gesamten 3.,4. und 5. Teil; Ph. Robert, A. S. 1970, S. 185. 8 G. Schubert: Judicial decision-making, 1963.

9 10

S. u. S. 258 ff.

Vgl. J.

S. 293 ff. 11

12

Carbonnier:

Vgl. u. S. 126. Vgl. u. S. 269 ff.

Pour une sociologie du juge, in Flexible Droit, 1971,

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Einführung 8. Unterteilung der Rechtssoziologie nach soziologischen Kriterien. Die Rechtsethnologie

Die Rechtssoziologie hat auf ihrem Gebiet einige der Spaltungen wiederholt, die zuvor bereits in der allgemeinen Soziologie stattfanden. Auf diese Weise ist die Rechtsethnologie eine selbständige Disziplin geworden1 • Was sie von der Rechtssoziologie unterscheidet ist nicht der Charakter der untersuchten Gegenstände, denn es handelt sich jeweils um Rechtserscheinungen, sondern es ist das Feld, in dem sie untersucht werden. Die Unterscheidung läßt sich nicht mit der Gegenüberstellung von historischem und neuzeitlichem Recht begründen, da ja auch die Soziologie sich für die Geschichte interessiert und da andererseits auch zeitgenössische Volksgruppen Gegenstand der Ethnologie sein können, sondern sie ist soziologischer oder besser kultureller Natur. Die Rechtsethnologie befaßt sich mit primitivem Recht (in neuerer Zeit auch archaisches Recht genannt), d. h. mit solchem Recht, das einern frühen Entwicklungsstadium angehört, welches in unserer eigenen Gesellschaft Teil der sehr frühen Geschichte war. Wenn auch dieses Recht in bezug auf unseren heutigen Entwicklungsstand der Vergangenheit zugeordnet ist, so hindert das nicht daß es sich hierbei um eine lebende Vergangenheit handeln kann, nämlich um das geltende Recht irgendeines Stammes2 • In grober Skizzierung kann man vom Recht der sogenannten Naturvölker sprechen, bzw. weniger abwertend ausgedrückt, von dem der außereuropäischen, nichtindustrialisierten Gesellschaften, wobei natürlich gewisse hochzivilisierte nichtindustrialisierte Völker mit ihren Rechtssystemen wie z. B. dem islamischen Recht oder dem chinesischen Recht der Kaiserzeit, auszunehmen sind. Man spricht auch vom Recht der schriftlosen Gesellschaften. Dieser Ausdruck gibt jedoch auf dem Gebiet des Rechts zu Fehldeutungen Anlaß, da er die Vorstellung eines ungeschriebenen Rechts erzeugt, also eines Gewohnheitsrechtes, obwohl sich solches Recht in begrenztem Umfang auch in entwickelten Zivilisationen findet, während andererseits eine in Stein gehauene und somit schriftliche (tabularische) Gesetzgebung wie etwa das römische Zwölftafelgesetz oder der Codex Harnrnurabi die Wiedergabe eines älteren Gewohn1 Vgl. Jean Poirier: Situation actuelle et programme de l'ethnologie juridique, Revue internationale des sciences sociales, 22 (1970), S. 509 ff. 2 Die Notwendigkeit, tiefer in das beobachtete Milieu einzudringen, bedingt eine zunehmende Spezialisierung der Forscher und ihrer Untersuchungen, wobei sich zeigte, daß der Begriff des primitiven Rechts viel zu allgemein ist, um die Verschiedenartigkeit der damit bezeichneten Phänomene zutreffend zu charakterisieren. Selbst der Laie fühlt heutzutage, daß die Bräuche der Melanesier, worüber zu Beginn dieses Jahrhunderts viel gearbeitet wurde, und diejenigen Schwarzafrikas, welche derzeit besonders eingehend erforscht werden, auf verschiedenen Entwicklungsstufen stehen.

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heitsrechtes sein kann. Es ist in diesem Zusammenhang auch von geschichtslosen Gesellschaften die Rede, was aber ebenfalls unangebracht ist, da wesentliche Institutionen des Rechts wie der Brauch, der Beweis, die Verpflichtung und die Familie der Tradition entstammen und historischem Wandel unterliegen und somit nicht geschichtslos sein können. Nicht selten geht man bei der Abgrenzung zwischen Soziologie und Ethnologie den umgekehrten Weg, indem man zunächst die dominierenden Züge des betreffenden Rechtssystems feststellt und danach auf Grund von Erfahrungswerten die Zuordnung zum archaischen oder zum modernen Recht trifft. Es ist jedoch nicht möglich, die archaischen Rechtssysteme als einfacher oder als starrer zu kennzeichnen, denn sie sind oft von verwirrender Übergenauigkeit und ihre kollektivistischen Tendenzen lassen ohne weiteres auch Regelungen für den Prozeß, also für den Rechtsstreit zwischen Individuen, zu 3 • Schließlich erblickt man das entscheidende Kriterium in einer unterschiedlichen psychologischen Struktur. Danach gelten die modernen Rechte als rational und die archaischen als Ausfluß einer primitiven, prälogischen bzw. in Magie und Mystik befangenen Mentalität dieser Völker. Lucien Levy-Bruhl hat eine Theorie dieser Mentalität entwickelt4, die sich auch ohne weiteres auf das Recht übertragen läßt5 • Für die Existenz einer primitiven Rechtsmentalität gibt es zahlreiche Anhaltspunkte. Das Fehlen des logischen Prinzips der Identität (wonach ein Gegenstand X nicht gleichzeitig X und Y sein kann) erklärt die von Primitiven empfundene Schwierigkeit, bei der Besitzübertragung einen vollständigen Bruch der Beziehungen des Veräußerers zu der hingegebenen Sache zu erkennen. Dementsprechend wirkt auch das magische Prinzip der Partizipation in einem Eigentumsbegriff 3 Wenn Durkheim das Milieu der primitiven Gesellschaften als homogen und kollektivistisch beschrieb und deren Rechtssysteme für unerbittlich hielt, so dachte er an die Rechtsregeln und übersah den Prozeß. 4 Siehe vor allem: Les Fonctions mentales dans les socü~tes inferieures (1910) und La Mentalite primitive (1922). VgI. J. Cazeneuve: La Mentalite arch.aique, 1961. 5 Bezüglich dieser übertragung kann man immerhin zwei Hypothesen wagen: 1. Im Gefolge einer der Rechtsstruktur eigenen Beharrungstendenz kann es geschehen, daß der übergang von der prälogischen Mentalität zur Rationalität auf dem Gebiet des Rechts langsamer vonstatten geht als in den anderen Bereichen des Soziallebens (siehe die Hexenprozesse im 17. Jahrhundert und das Ableisten von Eiden durch Atheisten in unserer Zeit). 2. Das Recht spielt die entscheidende Rolle bei der Einführung der Rationalität ins Sozialleben, indem es Normen zur Eliminierung von Anormalen aufstellt, etwa durch Verbannung oder Einsperrung von Kriminellen und Abartigen, vorausgesetzt (vgI. R. Bastide: Sociologie et Psychanalyse, 1950, S. 181) es trifft zu, daß die prälogische Mentalität dadurch zu erklären ist, daß die primitiven Gesellschaften Abnorme aller Art integrieren, welche in modernen Gesellschaften gezwungen sind, ein marginales Dasein zu führen, wie etwa Psychopathen, Träumer, Rauschgiftsüchtige und sogar Dichter (die Plato aus der Stadt jagte).

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nach, bei dem die einem Individuum gehörenden Dinge Teil seiner Persönlichkeit sind 6• Auf noch deutlichere Weise bezeichnen die Denkfiguren der unbestimmten, der diffusen und der anthropomorphen Kausalität ein Haftungssystem, dessen Sanktionen zum einen Menschen wie Tiere und zum anderen sowohl den Täter als auch seine Verwandten und Nachbarn treffen, und das darüber hinaus Beweisregeln auf der Grundlage von Gottesurteilen kennt, bei denen die Naturerscheinungen mit dem Handeln eines übernatürlichen Richters in Beziehung gebracht werden. Nichtsdestoweniger erheben heute viele Ethnologen angesichts des Vorhandenseins rationaler Techniken und auch technischen Fortschrittes in diesen Gesellschaften schwere Einwände gegen die Hypothese von einer den Primitiven eigenen Irrationalität', denn sobald es um die Lösung konkreter Probleme wie das Herstellen von Werkzeugen, die Jagd oder den Kampf gegen Feinde geht, handelt auch der Primitive rational und wendet faktisch die Grundsätze der Identität und der Kausalanalyse ans. Aber auch das Recht ist eine Technik. Es ist ein Instrument, das durch ein Zusammenwirken von Befehlen, Versprechungen und Verpflichtungen gewissen Menschen die Beherrschung von bestimmten Ereignisverläufen ermöglicht. Wahrscheinlich ist der fortschreitende Aufbau der Rechtstechniken in empirischer Weise und auf Grund von rationalen überlegungen erfolgt. Tatsächlich weisen viele archaische Rechtsphänomene bei genauerem Hinsehen nicht nur magische, sondern auch sehr zweckmäßig erscheinende Züge auf. So verhält es sich bei dem Formalismus, mit dem die Rechtsverfahren und die Vertragsabschlüsse deutlich als solche gekennzeichnet werden, da er zum einen die Anrufung der Götter und ihre Einbeziehung in den Vorgang bezweckt und zum anderen den Zeugen als Gedächtnisstütze dient. Auf Grund dieser Neuentdeckung der Rationalität in den primitiven Rechten sehen einige Ethnologen 9 kaum noch einen Unterschied zwi6 Von daher kommt die weit verbreitete Sitte, mit dem Toten seinen ganzen Besitz, als Teil seiner Persönlichkeit, zu bestatten. 7 Vgl. A. Leroi-Gourhan: L'Homme et la matiere, Milieu et techniques, 2 Bände, 1945. 8 Zumindest versteht er es wie wir, zwei Teile in seinem Leben auseinanderzuhalten, einen, in dem die Rationalität der alltäglichen Techniken herrscht, und einen anderen, in dem die Technik sich als ohnmächtig erweist und der Magie und Dichtung weicht. Malinowski hatte bei den Trobriand-Insulanern beobachtet, daß sie für den Fischfang in der Lagune sehr zweckmäßige Techniken verwenden, während sie für den Fang auf hoher See ihrer magischen Beschwörungen bedürfen, um ihr Vertrauen zu stärken und um ihre tiefe Furcht zu verringern. Vgl. auch den Bericht von Metais (A. S. 1967, 186 ff.) über die zwei Sektoren der einheimischen Medizin auf Neu-Kaledonien. 9 So vor allem Max Gluckman: The judicial process among the Barotse of Northern Rhodesia, 1955; Politics, law, and ritual in tribai society, 1965; Concepts

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schen diesen und den modernen Rechten. Sie betonen, daß die primitive Rechtsmentalität vernünftig ist, aber eigenartigerweise erfassen sie diese Vernünftigkeit nicht so sehr aus dem Inbegriff des Prozesses und des Urteils, sondern finden diese in den abstrakten Rechtsregeln. Gerade im Prozeß jedoch sieht man ein vernünftiges Diskutieren zwischen Richtern und Parteien über ein Verhalten, das danach zu beurteilen ist, wie sich ein vernünftiger Mensch oder genauer, wie sich ein vernünftiger Ehegatte, Vater oder Häuptling usw. in einer solchen Lage verhalten hätte, auch wenn nicht bewußt logische Gesetze angewandt werden 10 • Hieraus ergäbe sich im großen und ganzen, daß alle Rechtssysteme unabhängig von ihrer Lage auf der Entwicklungsachse stets dieselbe Entfernung von derselben Vernunft (um nicht zu sagen von derselben Gerechtigkeit) aufweisenl l . Diese neueren Auffassungen sind jedoch noch zu sehr umstritten 12 , als daß wir in unserer Darstellung vom spezifischen Charakter der Rechtsethnologie absehen könnten.

9. Die Ethnologie innerhalb der modernen Rechtssysteme In seinen "Carnets", in denen er seine Theorie der primitiven Mentalität wesentlich differenzierter vorträgt, sagt Lucien Levy-BruhL, daß sich etwas von dieser Mentalität auch in den am höchsten entwickelten Gesellschaften findet. Eine genauere Untersuchung dieser Erscheinung 1 ergab vielfältige Formen, nämlich das volkstümliche Brauchtum, die in the comparative study of triballaw, in Nader, Law in culture and society, 1969, S. 349 ff. Noch kategorischer ist T. Olawale Elias: La nature du droit coutumier africain (aus dem Englischen, 1961), ein nigerianischer Rechtsgelehrter, der seine Ehre daran zu setz~!n scheint, in den schwarzafrikanischen Gewohnheitsrechten alle Denkfiguren des englischen Rechts aufzufinden. 10 Aus dieser Hypothese, daß die primitiven Rechte vernünftig sind und deshalb im Grunde denselben Geist wie unsere atmen, zieht Max Gluckman eine bemerkenswerte und sicher nicht unumstrittene Schlußfolgerung auf die anzuwendenden Methoden. Danach kann es nützlich sein oder es ist zumindest unbedenklich, daß der Ethnologe zur Analyse dieser Rechte die Begriffe und Techniken seines eigenen Rechtssystems verwendet. Bisher galt als goldene Regel der Ethnologie, daß sich der Forscher von seiner westlichen Rechtsbildung freimachen müsse und versuchen solle, die nicht-zivilisierte Denkweise in sich aufzunehmen (vgl. Jean Guiart: Cles pour l'ethnologie, 1971). II Wie eine fernliegende Gegenrede auf die berühmte geschichtsphilosophische Theorie Rankes. 12 Sie sind stark bekämpft worden von Paul Bohannan: Justice and judgment among the Tiv of Nigeria, 1957; Ethnography and comparison in legal anthropology, in Nader (1968), S. 401 ff. - Adamson Hoebel, dessen Werk The law of primitive man (1954) gegenwärtig als maßgebend auf dem Gebiet der Rechtsethnologie gilt, hat in dieser Diskussion eine mittlere und sozusagen vermittelnde Position eingenommen. Es scheint sich im übrigen um eine vorwiegend anglo-amerikanische Kontroverse zu handeln. 1 Vgl. A. Ouy: La mentalite primitive chez les peuples civilises, Melanges Emile Witmeur, 1939; und die sehr umfassende Zusammenstellung von J. Cazaneuve: La Mentalite archaYque, 1961, S. 154 - 195.

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kindliche Mentalität, die Psychosen, die Kunst selber (zumindest in einigen ihrer Darbietungen), und schließlich auch die persönliche Vorstellung, das völlig freie Denken usw. Man kann bei einzelnen Punkten in dieser Zusammenstellung geteilter Meinung sein, es interessiert aber vor allem, wie diese Phänomene zu erklären sind, ob es überlieferte Formen aus der Urgesellschaft oder instinktive Neubildungen sind. Wahrscheinlich muß bei des angenommen werden, denn bei der Erforschung des volkstümlichen Brauchtums ergab sich, daß ein Teil dieser Verhaltensweisen primitiv ist, weil er aus der Urzeit stammt, und ein anderer, weil er keine intellektuelle Durcharbeitung erfahren hat. Auf einer höheren Ebene der Kausalität wird wiederum die Einheit hergestellt, denn bei des folgt aus einer Abschirmung gegen gesamtgesellschaftliche Einflüsse, wodurch Traditionen bewahrt werden und was andererseits eine gewisse intellektuelle Armut ergibt. In unseren Tagen wird zumindest für die Kollektiverscheinungen der primitiven Mentalität eher die Bezeichnung Subkultur gewählt. In einer modernen Gesellschaft können auf der Grundlage verschiedener Faktoren wie Rasse, räumliche Lage, soziale Klasse oder Altersklasse (Jugend oder Alter, obwohl man fast nur von ersterer spricht) kulturell teilweise eigenständige Untergruppen bestehen. Mit dem hierfür verwendeten Ausdruck Subkultur wird darüber hinaus auf einen Zustand der Unterlegenheit hingewiesen, dessen einfachste Form die zahlenmäßige Unterlegenheit ist, der aber auch auf wirtschaftlichem und politischem ja sogar auf intellektuellem Gebiet vorkommt. Die Entdeckung der Subkulturen hat der Ethnologie neue Forschungsbereiche oder genauer genommen, eine neue Fachrichtung zugewiesen, die in Frankreich mit dem Namen inländische Ethnologie, im Gegensatz zur eigentlichen Ethnologie, der Ethnologie exotischer Völker, belegt wird2 • Wenn man in einer modernen Gesellschaft davon ausgehen kann, daß es ethnologische bzw. subkultur elle Phänomene gibt, so kann man auch annehmen, daß ein Teil hiervon etwas mit dem Recht zu tun hat. Tatsächlich hat sich in diesem Jahrhundert in Frankreich eine inländische Rechtsethnologie herausgebildet3 , die sich vor allem mit überlieferten oder neu entstandenen archaischen und volkstümlichen Rechtsbräuchen befaßt4 • Dieses Feld ließe sich jedoch erweitern und zwar durch Einbeziehung aller Phänomene des sogenannten Rechtspluralismus, wozu die 2 Zu dieser inländischen Ethnologie gehören die Arbeiten des unter der Leitung von Chombart de Lawe stehenden Centre d'ethnologie sociale (von ihm selbst vgl. La Vie quotidienne des familles ouvrieres, 1956) und die (andersartigen) Dorfstudien des Amerikaners Laurence Wylie: Un Villa ge du Vaucluse, 1968; Chanzeaux, village d'Anjou, 1970. 3 Für Frankreich ist Rene Maunier (vgl. u. S. 85 Anm. 9) anzuführen, wobei aber zu bemerken ist, daß er sowohl inländische als auch herkömmliche Rechtsethnologie betrieb. 4 Vgl. u. S. 141.

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Normen krimineller Banden, die krankhaften Rechtserscheinungen wie z. B. die von uns für abwegig oder gekünstelt gehaltenen Vorträge von Parteien im Zivilprozeß und das "Kinderrecht" gehören. Wir werden später noch überprüfen müssen, ob die Bezeichnung infrarechtlich nicht angebrachter wäre 5 ; im Augenblick genügt es, festzustellen, daß es sinnvoll ist, die Untersuchung dieser Phänomene der Rechtsethnologie zuzuweisen. Diese Phänomene gehören zur Rechtsethnologie, da sie nach den bisherigen Erkenntnissen von irrationalen Motivationen beherrscht werden, während die modernen Rechtssysteme, im Einklang mit dem was man das Gesetz von Max Webers nennen könnte, einen Prozeß der Rationalisation durchlaufen, der durch die städtische Lebensweise und durch den Einfluß der Industrialisation gefördert wird. Dieser Vorgang führt zu einer wachsenden Distanz zwischen der Kultur und den rechtlichen Subkulturen, wobei man sich aber hüten muß, die Dichotomie von Rationalität und Irrationalität überzubetonen, denn beides existiert nie rein, sondern nur in verschiedenen MischungsverhäItnissen; selbst in modernen Rechtssystemen gibt es mehr oder weniger irrationale Institutionen und Handlungsweisen. In dieser Hinsicht kann auch nicht genug beachtet werden, daß die verschiedenen Teile des neuzeitlichen Rechts in unterschiedlichem Grade gegen das Eindringen der Irrationalität immun sind. Es gibt Gebiete, bei denen dies in starkem Maße der Fall ist. Hierzu gehört das Recht der Vermögensverhältnisse, wo die Wirtschaftlichkeitsrechnung dominiert. Anders ist es beim Familienrecht, dessen Institutionen und Verhaltensweisen sich einer Folge von Ereignissen anpassen, wie der Vereinigung der bei den Partner, der Geburt eines Kindes und dem Tod, die nur sehr bedingt der menschlichen Vernunft zugänglich sind. 10. Rechtsanthropologie

Zwischen Ethnologie und Anthropologie scheinen so geringe Unterschiede zu bestehen, daß gelegentlich beide Begriffe als Bezeichnung desselben Gegenstandes angesehen werden. Meistens versteht man jedoch unter der Anthropologie eine Wissenschaft, die sich sowohl von der Ethnologie als auch von der Soziologie unterscheidet, und zwar auch auf dem Gebiet des Rechts 1 ; es ist allerdings schwer, den Gegenstand dieser Disziplin zu bestimmen. Vgl. u. S. 140. Vgl. u. S. 244. 1 Vgl. Laura Nader: Law and culture in society, 1969, Einführung, S. 1 ff. Der Unterschied wird vor allem durch die Sitte vieler Autoren verschleiert, zusammengesetzte Bezeichnungen zu wählen wie z. B. Sozialanthropologie (u. a. Pocock: Social anthropology, 1961), Kulturanthropologie (Herskovits: Les Bases de l'anthropologie culturelle, 1952) und Politische Anthropologie 5 6

3 Carbonnler

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Eine wörtliche übersetzung von "Anthropologie" ergibt lediglich "Wissenschaft vom Menschen", was einen moralphilosophischen Beiklang hat und sich auf die Gattung "Mensch" bezieht. Für eine nähere Bestimmung bieten sich 3 Konzeptionen an: 1. Am einfachsten erscheint eine Annäherung der Anthropologie an die Biologie. Der Rechtsanthropologie wird dann die Untersuchung derjenigen Ursachen und Wirkungen des Rechts zugewiesen, die einen Bezug zur biologischen Natur des Menschen haben (Körper und Geist inbegriffen, aber unter Ausschluß des Soziallebens). So hätte dieser Zweig der Anthropologie die Rechtserscheinungen, die sich mit dem Beginn der Pubertät, der Dauer der Schwangerschaft, geschlechts- und altersspezifischen Handlungen, Krankheiten, Geisteskrankheiten, Tod, Geschlechtsverkehr usw. befassen, zu erforschen. Aus dem biologischen Substrat des Rechts ergäbe sich dann als außerordentlich bedeutsame Folgerung, daß hier die Sozialfaktoren keine Rolle spielen.

Dies ist der Kernbereich der anthropologischen Gegenstände, der sich jedoch ohne eine ins Gewicht fallende Lockerung der Beziehungen zur Biologie auf die gesamten üblichen Gesten erweitern ließe, da sie ja nur eine Folge von Muskelbewegungen sind. Der Körper und die Glieder, mit der Hand angefangen 2 , führen bestimmte geordnete Bewegungen aus, welche die Gewohnheit festigt 3• Vor allem die archaischen Gesellschaften haben oft diese schematischen Bewegungsabläufe in Rechtsförmlichkeiten umgewandelt 4 • Es ist verlockend, in diesen tiefen Schichten im Grenzbereich des Körperlichen diejenigen Rechtserscheinungen zu suchen, die rein anthropologisch sind. Die Hypothese eines Rechts, das so unmittelbar von der biologischen Natur des Einzelmenschen abhängt, daß es sich ohne Bezugnahme auf die Gesellschaft bilden kann, steht jedoch auf tönernen Füßen, sobald man die angeführten Beispiele genauer unter die Lupe nimmt. Es ergibt sich, daß der Mensch zwar überall sterblich ist, daß aber daran sehr verschiedene Regelungen anknüpfen können, die allein sozia(u. a. G. Balandier: Anthropologie politique, 1967). Diese Zusätze haben jeweils die Wirkung, einen Gesellschaftsbezug hervorzurufen und damit eine Annäherung an die Soziologie nahe zu legen. Demzufolge wäre die Anthropologie nur noch eine Soziologie der Tiefenschichten der Sozialisation und die,Rechtsanthropologie nur noch eine Soziologie der Tiefenschichten der Rechtlichwerdung ("juridicisation"). 2 Dieser Sachverhalt läßt sich z. B. seit dem sehr alten römischen Recht (mancipium, manus iniectio, manus-Ehe) bis hin zum modernen Recht feststellen, indem der Eid noch durch Erheben der rechten Hand abgeleistet wird. 3 Vgl. M. Mauss: Les techniques du corps, in Sociologie et Anthropologie, S. 365 ff.; Marcel Jousse: L'Anthropologie du geste (posthum, 1969). 4 Vgl. Chassan: Essai sur le symbolisme du droit (1847), der hiervon auf S. 113 ff. unter dem bezeichnenden Titel "Symbole naturel vivant et pensa nt ou Symboles personneis (I'homme)" spricht.

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len Ursprungs sind5 • Desgleichen kann ein Handschlag je nach der Gesellschaft Zeichen einer übereinkunft oder einer Unterwerfung sein6 • Diese Unterschiede lassen sich nur soziologisch erklären und ohne die Soziologie wäre die biologische Anthropologie blind. 2. Eine gründlicher durchdachte Konzeption sieht die Besonderheit der Anthropologie und folglich auch der Rechtsanthropologie im Begriff der Natur; der "anthropos" ist demgemäß der natürliche Mensch. Gewiß entspricht es der Natur des Menschen, in Gesellschaft zu leben, aber die Tatsache, daß er in einer bestimmten Gesellschaft lebt und nicht in einer anderen, liegt nicht mehr an der Natur, sondern an der Kultur. Das gesellige Wesen ist überall gleich, während die Kulturen, welche die Gesellschaften erzeugen, sehr verschiedenartig sind. Es waren vor allem Claude Levi-Strauss und seine Schule, die diesen Gegensatz von Natur und Kultur bekannt gemacht haben. Hiernach befaßt sich die Anthropologie mit der Natur, während sich die Soziologie und die Ethnologie mit der Kultur beschäftigen, wobei als Kennzeichen für die Natur die Universalität und als Charakteristikum für die Kultur die Partikularität angesehen werden. Die übertragung dieser Konzeption auf das Recht bringt eInIge Schwierigkeiten mit sich, da das Recht eine Schöpfung der Gesellschaft und damit der Kultur ist, andererseits aber gegebenenfalls zwischen dem ganz entscheidenden Beitrag der Kultur und den wenigen Normen zu unterscheiden ist, die sich in allen Gesellschaften finden, wovon die markanteste das Inzestverbot ist, das sich im übrigen als Teil des allgemeineren Gebotes der Gegenseitigkeit jeglichen Austausches, von Frauen, Gütern und Diensten, darstellen läßt7. Ein weiteres entscheidendes Problem ist die Bestimmung des spezifisch Rechtlichen, das der Natur des Menschen entspringt, denn entweder hält man sich an sehr allgemeine Aspekte wie das Kommunikationsbedürfnis, wobei man wiederum nur auf einen Instinkt und nicht auf eine Rechtsnorm stößt, oder aber man dringt wirklich in die rechtliche Problematik, etwa des Inzestverbotes, ein und trifft dann von neuem auf eine Vielfalt, die nur sozialer Herkunft sein kann. 5

Es kann sich um Phänomene der Sitte, wie die Trauer, handeln (vgl.

Stoetzel: Psychologie soeiale, 1963, S. 93 ff.), aber wir denken hier vor allem an

das Erbrecht, wobei wir u. a. auf Systeme primitiver Art stoßen, in denen der Erblasser die Genugtuung erfährt, daß sein persönlicher Besitz mit ihm in die Erde gesenkt wird, und auf andere, weniger primitive, in denen er die Gewißheit hat, daß seine Güter auf seine Kinder übergehen werden. 6 Vgl. Chassan, op. eit., S. 117; L. Gernet: Anthropologie de la Grece antique, 1968, S. 204 ff. 7 Es handelt sich hier um die bekannten Theorien von Levi-Strauss: Les Structures elementaires de la parente, 1949; La Pensee sauvage, 1962, S. 162 ff. und in der Einführung zu: Marcel Mauss: Soeiologie et anthropologie, 1950, S.IXff. 3'

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3. Vielleicht wäre eine Erneuerung dieser Konzeptionen auf dem Wege einer direkten Erforschung des Wesens der Rechtsanthropologie, ohne sich mit der Anthropologie im allgemeinen lange aufzuhalten, zu bewerkstelligen. Rechtsanthropologie wäre somit die Wissenschaft vom homo juridicus, vom Menschen als dem in natürlicher Weise rechtlich veranlagten Wesen. Während er nicht die einzige gesellige Art im Tierreich ist, so besitzt doch er allein jene Eigenschaft, zumindest in dem Sinne, daß er Urteile erlassen und empfangen kann, wodurch das Menschsein als solches definiert werden könnte8 • Es muß beachtet werden, daß nach dieser Auffassung nicht diese oder jene Norm grundlegend ist und sei sie auch von fundamentaler Bedeutung, und auch nicht dieses oder jenes Urteil, sondern die abstrakte Fähigkeit zur Erzeugung von Normen und Urteilen, eine Rechtlichkeit des Beinhaltenden und nicht des Beinhalteten. Gegenstand der Rechtsanthropologie wäre folglich die dem Menschen innewohnende Kraft zur Rechtlichkeit und die sie umfassenden geistigen Gefüge. Eine in solcher Weise konzipierte Rechtsanthropologie hätte sowohl der Rechtssoziologie etwas zu sagen, nämlich über die Genese der Rechtserscheinungen, als auch der Anthropologie im allgemeinen, indem sie ihr mit dem Begriff der rechtlichen Natur des Menschen ein Unterscheidungsmerkmal zur Verfügung stellen würde. 11. Rechtspsychologie Als sich die Soziologie und Psychologie gemeinsam aus Gründen der Wissenschaftlichkeit von der Philosophie getrennt hatten, schienen sie zu einer analogen Entwicklung bestimmt und es war zu erwarten, daß nach der Begründung der Rechtssoziologie auch die Rechtspsychologie ihren Platz finden würde!. Die Entwicklung verlief jedoch keineswegs symmetrisch. Die Rechtspsychologie entfaltete sich nur zögernd und blieb im allgemeinen in einem Zustand geringerer Konkretisierung. Es muß im übrigen differenziert werden, denn dieser Begriff bezeichnet sehr verschiedene Forschungsbereiche, und es ist nie eindeutig zu beantworten, inwieweit diese Disziplin wirklich autonom ist. Wir beginnen mit zwei Einzeldisziplinen, die offenkundig eine Fortführung der Rechtssoziologie sind: a) Die Sozialpsychologie des Rechts. Sie verdient es, dank ihrer Beiträge an die Spitze der Untersuchung gestellt zu werden. Paradoxerweise tritt sie hier nur in einer Randbemerkung in Erscheinung, denn es geht uns darum, diejenigen wissenschaftlichen Bereiche aufzuführen, die nicht 8 Tiere können Gewohnheiten haben und übernehmen, aber keine Normen. P. Grapin (Biologie sociale et criminalite, Revue de science criminelle et de droit penal compare, 1971, S. 79 ff.) hat die Tatsache, daß die Norm dem Menschen eigentümlich ist, sehr eindringlich dargestellt. ! Vgl. D. C. Mac Carthy: Psychology and the law, 1960.

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der Rechtssoziologie angehören, und das trifft bei ihr gerade nicht zu. Es verhält sich mit ihr wie mit der Sozialpsychologie im allgemeinen2 , die zweifellos ihren eigenen Gegenstand definieren kann, nämlich den Bereich der kollektiven Vorstellungen, des typischen Verhaltens von Individuen in der Gesellschaft sowie der Interaktionsphänomene (wobei Ego in Beziehung zu Alter und damit zur Gesellschaft tritt). Doch in der Praxis läßt sich die Sozialpsychologie nicht von der Soziologie unterscheiden, da es sich um dieselben Forscher, dieselben Methoden und dieselben Fragestellungen handelt. Das liegt daran, daß die Soziologie sich nicht mehr am Durkheimschen Hauptprinzip stößt und demgemäß auch nicht mehr auf jeglichen psychologischen Ansatz bei der Erforschung sozialer Tatbestände verzichtet. Die Rechtssoziologie verzichtet hierauf noch weniger. Wer mit einer juristischen Ausbildung zu ihr kam, findet in seinen Erfahrungen eine Vielzahl von Begriffen, die eine psychologische Analyse herausfordern, so z. B. das Rechtsverhältnis und das subjektive Recht, den Vertrag und das Verschulden, die Zustimmung mit ihren Willensmängeln und ihrer Rechtsgrundlage ("causa", das was die Soziologen mit dem Begriff Motivation bezeichnen), ganz zu schweigen von einer Menge zweigliedriger Beziehungen, zwischen Mann und Frau (in der Ehe), Gläubiger und Schuldner, Berufungskläger und Berufungsbeklagtem usw. Die Folge hiervon ist, daß sie geneigt sind, die Soziologie so zu betreiben, wie es Psychologen gewohnt sind. Es ist aber zuzugeben, daß es nicht sehr wissenschaftlich wäre, dieselben Rechtserscheinungen künstlich zwischen der Soziologie und der Sozialpsychologie aufzuteilen; die Rechtssoziologie kann deshalb mit Fug und Recht auch sozialpsychologische Studien betreiben. b) Die Völkerpsychologie des Rechts. Im Grenzbereich zwischen Psychologie und Ethnologie hat sich eine völkerpsychologische Disziplin, die Ethnopsychologie herausgebildet. Sie unternimmt es, durch eine Analyse der vorherrschenden Züge in einer kulturtragenden Gruppe (Nation, Stamm, Gebietsgemeinschaft, Klasse usw.) und gegebenenfalls durch Vergleich mit ähnlichen Gruppen deren kollektivpsychologische Phänomene zu erfassen. Zu allen Zeiten gab es eine vulgäre 3 oder eine literari2 Vgl. Jean Stoetzel: La Psychologie sociale, 1963 (insbes. S. 29 ff.); R. Daval et al.: Traite de psychologie sociale, 2 Bände, 1964 - 67; D. Krech et R. S. Crutchfield: Theorie et problemes de psychologie sociale, frz. übers. von Lesage,2 Bände, 191}2. 3 z. B. qualifizierten die Römer die Karthager als unzuverlässige Vertragspartner (fides punica) und ein boshaftes Sprichwort des altfranzösischen Rechts sagte: "Ein Bewohner der Provinz Maine ist soviel wert wie anderthalb Bewohner der Normandie." Die französischen Zeitungen pflegten gegen das Jahr 1923 zu schreiben, daß es nicht erstaunlich wäre, daß die Deutschen den Vertrag von Versailles nicht erfüllten, da sie nur einen verschwommenen Begriff von dem hätten, was sich gehöre. Diese Sinnsprüche sind meistens von Ethnozentrismus und Fremdenfeindlichkeit geprägt und daher ließe ihre systematische Erforschung Rückschlüsse auf die vom jeweiligen Volk für grundlegend erachteten Rechtswerte zu.

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sche 4 Völkerpsychologie der Rechtserscheinungen, die aber in jedem Falle nur auf persönlichen Eindrücken beruhte. In ihrer wissenschaftlichen Gestalt ist sie erst zu Beginn dieses Jahrhunderts erstanden5 , und man hält sie heute für eine wesentliche Ergänzung des Rechtsvergleichs 6 • Hierfür spricht, daß ein gleichartiges Rechtsgefühl in verschiedenen Ländern ungleichartige Gesetze auf einen gemeinsamen Nenner bringt, während umgekehrt eine verpflanzte nationale Rechtsinstitution in einem anderen Land beim Fehlen dieser Gemeinsamkeit umgewandelt wird.

12. Die Individualpsychologie des Rechts Schon allein die Frage, ob es diese Disziplin gibt, wirft ein Problem auf, das in dieser Form nicht bei der Sozialpsychologie des Rechts auftaucht, nämlich wie eine Rechtspsychologie möglich sein kann, die nicht Sozialpsychologie ist, da das Recht doch nur in der Gesellschaft vorkommt. Wir müssen jedoch im folgenden genauer untersuchen, inwiefern ein psychologisches Phänomen, ein Bewußtseinszustand, mit dem Adjektiv rechtlich belegt werden kann. Dies geschieht dann zu Recht, wenn es sich (nach einem einfachen Schema) entweder um ein in sich rechtlich-psychologisches Phänomen oder um ein solches, das nach seinen Ursachen oder nach seinen Wirkungen rechtlich ist, handelt. 1. Wenn ein sich in einem Individualbewußtsein oder zwischen zweien abspielender psychologischer Vorgang durch das Recht bedingt ist, so können die beteiligten Individuen nicht mehr isoliert betrachtet werden. Selbst eine stillschweigende Bezugnahme auf das Rechtssystem läßt die Gesellschaft in das Bewußtsein eindringen. Nehmen wir also den in der größten Einsamkeit stattfindenden Rechtsakt, die Abfassung eines eigenhändigen Testaments ohne das Beisein eines Notars, der eine Verkörperung des Sozialsystems darstellen würde, so könnte das Bewußtsein des Testators doch nur durch Bezug auf das Erbrecht und damit auf das Recht und die Gesellschaft zutreffend analysiert werden. Das Testa4 Z. B. erkannte Madame de Stael (De l' Allemagne) den Deutschen Gutgelauntheit bei der Scheidung und völlige Aufrichtigkeit bei einem Versprechen zu. Bei den Schriftstellern ist die vergleichende Psychologie zuweilen von Fremdenfreundlichkeit durchtränkt (vgl. die "kastilianische Ehre"). 5 Mit dem grundlegenden Werk von Wilhelm Wundt: Völkerpsychologie (ab 1900 veröffentlichte Sammlung), dessen 9. Band (1918) dem Recht gewidmet ist. 6 Vgl. z. B. Louis Baudouin: Les Aspects generaux du droit prive dans la province du Quebec (1967), wo der Autor die Verschiedenheit der Rechtspsychologie zwischen dem Common Law und dem Code civil unterstreicht, die miteinander vermischt sind. - Vgl. Jean-Louis Baudouin: Etude de sociologie juridique sur le comportement de la Cour supreme dans 1'interpretati~n du droit quebecois, Institut de recherche en droit public de 1'Universite de Montreal (vervielfältigt), 1967, der zu erforschen sucht, welchen Einfluß die Anoder Abwesenheit eines Richters aus Quebec, also eines Trägers der Rechtskultur des Code civil auf die Kollegialentscheidungen des Obersten Gerichtshofes haben konnte.

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ment könnte man nur dann als eine individual psychologische Erscheinung ansehen, wenn man es als ein handgeschriebenes Werk ohne tieferen Sinn betrachten würde; sobald es eine besondere Bedeutung gibt, liegt ein vergesellschafteter psychologischer Tatbestand vor, der unter einen weiten Begriff der Sozialpsychologie fällt. 2. Wenn wir auf der Suche nach einer psychologischen Erscheinung, die nur deshalb rechtlich ist, weil sie eine Rechtswirkung hat, etwa das Verschulden, aus dem die Haftung entsteht, betrachten, so könnte man der Auffassung sein, daß das Recht und die Gesellschaft diese Phänomene nur nachträglich und von außen erfassen und daß die Individualpsychologie zu ihrer Analyse ausreicht. Dabei würde jedoch verkannt werden, daß die Vorwegnahme der Rechtswirkung bereits sozialen Einfluß auf das Individualbewußtsein gehabt haben kann; beim Begriff der Haftung gehört diese Vorwegnahme zum Vorsatz und in etwas weniger leicht faßbarer Weise auch zur Fahrlässigkeit (die Beachtung der Sorgfaltspflichten nimmt in einer rechtlich geprägten Umwelt zu und ohne eine solche ab). 3. Wir nennen eine psychologische Erscheinung rechtlich, wenn sie im Bewußtsein des Einzelnen eine individualisierte Wiedergabe von Rechtsphänomenen ist. Bei diesen Erscheinungen gibt es solche, die vorwiegend geistiger Art sind wie z. B. die Kenntnis oder Unkenntnis der Gesetze! oder (noch tiefergreifender) deren Assimilierung durch die Adressaten der Gesetzgebung; andere sind vorwiegend gefühlsmäßiger Art, wie z. B. das Rechtsbewußtsein, das eine Art Gefühl von dem, was Recht, oder gar von dem, was gerecht ist, darstellt 2 • Einige Phänomene scheinen Zwitter zu sein, so die Rechtsüberzeugung nach der klassischen Gewohnheitsrechtstheorie oder die im Volke bestehenden Ansichten zur Gesetzgebung, welche in neuerer Zeit durch Meinungsumfragen ermittelt werden3 • Gerade bei der letzten Kategorie, aber auch bei den beiden anderen ist stets die Gesellschaft gegenwärtig. Die Internalisierung des Rechts durch die Individuen ist ein wesentlicher Teil der Sozialisation im soziologischen Sinne. Eine reine Individualpsychologie könnte dem nicht gerecht werden. 13. Besondere Rechtspsychologien Von der Rechtspsychologie (auch wenn dieses Fach ziemlich erkünstelt ist) scheinen sich einige Sonder disziplinen abgespalten zu haben. Denselben Vorgang, den wir bereits bei der Rechtssoziologie gesehen haben, nämlich eine Spezialisierung nach streng wissenschaftlichen Kriterien und eine solche nach juristischen Kriterien, stellen wir auch hier fest. 1 Diese Erscheinung war in neuerer Zeit Gegenstand zahlreicher empirischer Untersuchungen; vgl. u. S. 99 Anm. 7 und S. 107. 2 Vgl. u. S. 107 Anm. 3. 3 Vgl. u. S. 285.

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a) Die Rechtspsychoanalyse. Es handelt sich hier um einen ungebräuchlichen Ausdruck1, aber es ist eine Tatsache, daß viele psychoanalytischen Forschungen sich für das Recht, insbesondere für das Strafrecht und das Familienrecht, interessieren2 • Es muß gesagt werden, daß diese Untersuchungen im Gegensatz zu der vom Bilde von der Behandlungscouch erzeugten Vorstellung von Einsamkeit Bezug zur Sozialpsychologie und damit zur Soziologie haben. Im über-Ich der Freudschen Theorie findet die Gesellschaft mit ihren Zwängen Eingang, wozu auch die rechtlichen Zwänge gehören, selbst wenn sie nicht klar von anderen geschieden werden. Hierauf aufbauend kann man sich eine Psychoanalyse des gesamten Rechtssystems denken, vorausgesetzt, daß die kollektivpsychologischen Erscheinungen dieser Methode zugänglich sind3 • b) Die Rechtspsychopathologie. Sie ist das logische Gegenstück zur normalen Rechtspsychologie, und die eine wie die andere müssen in der Verlängerung der Rechtssoziologie gesehen werden. Das Irresein, so wie es heute festgestellt wird, ist selten eine höchstpersönliche Angelegenheit, denn die Familie, die Umwelt und die Gesellschaft (und damit auch das Recht) tragen ihren Teil dazu bei4 • Der Anteil des Rechts ist jedoch von unterschiedlicher Bedeutung. Unter der allgemeinen Bezeichnung Rechtspsychopathologie gibt es u. a. die folgenden Forschungsinteressen: -

krankhafte Formen gewisser Rechtserscheinungen, wie verschiedene klassische Psychosen aus der Gerichtsmedizin (Querulantenwahn, Prozeßsüchtigkeit, Testierwahn usw.).

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neurosenbildende Wirkungen des Rechts. Man denkt hier vor allem an das repressive Recht. Es ist aber nicht ausgeschlossen, daß das permissive Recht vergleichbare Neurosen erzeugen kann, z. B. Neurosen der Ungeordnetheit.

-

Rechtsphänomene, bzw. genau genommen Infrarechtsphänomene5 in Anstalten. Ein derartiges Milieu wird als eine Mikrogesellschaft betrachtet, aber natürlich als eine solche, deren Ordnung schon definitionsgemäß eine andere Struktur als die der Gesamtgesellschaft aufweist.

1 Vgl. A. Ehrenzweig: Towards a psychoanalysis of law, Festschrift K. Olivecrona, 1964, S. 148 ff. 2 z. B. der Mythos des ursprünglichen Vatermordes bei Freud und der Phaetons-Komplex (wodurch die Rechtslage des unehelichen Kindes erklärt werden soll) bei Maryse Choisy. Vgl. auf dem Gebiet der Haftung die Arbeiten von A. Ehrenzweig über das fahrlässige Verschulden. 3 Vgl. z. B. S. Friedländer: L'Antisemitisme nazi, histoire d'une psychose collective, 1971. 4 Vgl. Michel Foucault: Histoire de la folie, 1961; Roger Bastide: Sociologie des maladies mentales, 1966. 5 Vgl. u. S. 140.

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c) Die Justizpsychologie. Hier geschieht die Spezialisierung genau wie bei der Justizsoziologie 6 auf der Grundlage eines Rechtsbegriffes, bzw. einer Rechtsfunktion, denn es handelt sich um die auf die Rechtsprechung angewandte Psychologie. Nach den Werken, die sich hiermit befassen7 , ist die Justizpsychologie der Inbegriff der psychologischen Kenntnisse, deren der Richter oder der Staatsanwalt bei seiner Tätigkeit bedarf. So ist es zu erklären, daß die Kernstücke aus den psychiatrischen Gutachten und aus der kritischen Würdigung des Zeugenbeweises bestehen8 • Aber auch diese Gegenstände, die scheinbar in besonderem Maße der Individualpsychologie zugehörig sind, enthalten in Wirklichkeit einen soziologischrelevanten Aspekt. Der Geisteskranke reagiert in sehr unterschiedlicher Weise angesichts des Tötungsverbotes und angesichts einer Gefahr für sein eigenes Leben, und vor einem Richter lügt man nicht in derselben Weise wie vor einem Journalisten. Es ist die Gegenwart des Rechts und der Gesellschaft, die den Unterschied macht. 14. Die politische Soziologie Es ist nicht leichtt, das Recht von der Politik (in weitem Sinne) zu unterscheiden, da man nicht beides jeweils verschiedenen Funktionsträgern zuordnen kann. Dieselben Parlamentarier, welche die Gesetze verabschieden, sind auch für die Politik des Landes bestimmend, und ein Richter wendet nicht nur das Recht an, sondern verfolgt, etwa als Strafrichter, der seine Urteile dem von ihm gewünschten Abschreckungseffekt anpaßt, seine eigene Kriminalpolitik usw. Unter den Autoren, welche die beiden Begriffe einander gegenüberstellen, finden sich sowohl solche, die dem Recht den Vorrang einräumen, als auch andere, die es der Politik unterordnen; sicher denken die einen an das positive Recht und die anderen an das Naturrecht. Bei anderen Theoretikern wiederum sind Recht und Politik zwei Aktionsarten der Macht, wobei sich die Macht im Recht in beständigen Regelungen und fallweiser Kontrolle der Normenbefolgung äußert, während in der Politik die Macht sich ein beständiges Programm schafft und in den hierauf fußenden fallweisen Entscheidungen zum Ausdruck kommt. Vielleicht kann ein etwas triviales Bild zur Aufhellung beitragen: Das Recht umfaßt das vollausgerüstete Schiff, aber es bestimmt nicht seinen Kurs. Vgl. o. S. 24. S. z. B. Mim y Lopez: Manuel de psychologie juridique (Übersetzung aus dem Spanischen ins Französische, 1958); AltaviHe: Psychologie judiciaire (übersetzung aus dem Italienischen ins Französische, 1959). 8 Die Pioniere auf diesem Gebiet waren der Österreicher Gross und dann der Franzose Gorphe (von letzterem: La Critique du temoignage, 1927; L'Appreciation des preuves en justice, 1947; Les Decisions de justice, 1952). 1 Vgl. in den A.P.D., 1971 (Le droit investi par la politique), die diesem Problem gewidmeten Untersuchungen von H. Batiffol, J. Freund, R. Maspetiol, C. Despotopoulos, Y. Thomas, A. J. Arnaud, G. Levasseur und M. Villey. 8

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Dasselbe Unterscheidungsproblem stellt sich wieder, wenn es darum geht, die diesen beiden Begriffen zugeordneten Soziologien zu bestimmen. Eine Soziologie des Verfassungsrechts kann in mancher Hinsicht einer politischen Soziologie gleichen. Nichtsdestoweniger ist es möglich, letzterer einen eigenen Bereich zuzuordnen, vorausgesetzt man hält sich außerhalb der Rechtsstrukturen. Hierzu gehören: das Wahlverhalten, das schon selber fast wieder Gegenstand einer eigenen Disziplin, der Wahlsoziologie, ist, die Lobby, die Parteien, die Bürokratie, die Revolutionen, die öffentliche Meinung usw. Bei dieser Gegenüberstellung verfolgen wir jedoch nicht das Ziel, die Zuständigkeiten zu regeln. Uns geht es vor allem darum, zu zeigen, daß die Rechtssoziologie von der politischen Soziologie zwei Erkenntnisse vermittelt bekommt. Die erste ist die Bedeutung des Politischen. Schon seit langem befassen sich die Rechtssoziologen mit den politischen Ideologien, denn die theoretische Soziologie war vielfach nur eine Staatsphilosophie, eine ideologische Betrachtung der Gesetze und Freiheitsrechte. Auf dem Gebiet der Tatsachen verhält es sich anders. Dort werden die Rechtserscheinungen häufig in Beziehungen zur Sitte oder zur Wirtschaft gebracht, aber nur selten werden die politischen Faktoren einbezogen, obwohl man doch annehmen kann, daß das Recht viel enger mit diesen letzteren verbunden ist, vor allem in Gesellschaften wie der heutigen französischen, in denen das Prinzip einer umfassenden Gesetzgebung gilt und die einen hohen Grad allgemeiner Politisierung kennen. Man kann sich z. B. vorstellen, daß zwischen der Anzahl der Kündigungen von Mietverhältnissen und der jeweiligen Zusammensetzung der Regierungsparteien (sogar nach Ausschaltung der ökonomischen Einflüsse) gewisse Korrelationen bestehen, desgleichen zwischen dem Prozentsatz der freien Lebensgemeinschaften und dem Wahlverhalten im jeweiligen Wahlkreis 2 • Ganz allgemein muß man sich daran gewöhnen, die soziologische Erklärung einer Rechtsinstitution nicht nur in der Soziologie derjenigen, für die sie gemacht ist, sondern auch in der Soziologie derjenigen, die sie machen, nämlich den politischen Kräften, die das Recht erzeugen, suchen3 • So 2 Das Band zwischen dem Rechtlichen und dem Politischen ist manchmal sehr schwach. Heutige Zivilrechtler können kaum glauben, was der Generalstaatsanwalt Dupin in seiner Anklagerede vor den vereinigten Senaten des Pariser Kassationsgerichtshofes vor dem Erlaß der Entscheidung Moinet (arret Moinet, 16 janvier 1858, S. 58.1.25. col, 2) sagte, als er erklärte, die These, wonach die Frau Eigentümerin sein könne (und zwar Eigentümerin ihrer ehegüterrechtlichen Ersatzforderungen und nicht nur schlichte Gläubigerin) müsse in Beziehung zum Aufwallen frauenrechtlerischer Ideen im Jahre 1848 gebracht werden. Sie würde jedoch genausowenig die Widerspiegelung der Moral der Ära Mac Mahon im Moralismus einiger Entscheidungen wie der arrets Crim. 14 janvier 1875 (S. 75.1.139) und Toulouse, 4 janvier 1875 (S. 75.2.76) wiedererkennen. 3 Es handelt sich hier um die Untscheidung zwischen dem juristischen Gesetzgeber (dem Minister oder dem Parlamentarier, der die Gesetzesinitiative

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zeigte sich in Frankreich im Jahre 1884 und in Italien im Jahre 1970, daß der Erlaß eines Gesetzes über die Einführung der Ehescheidung nicht nur von den dar an interessierten Ehegatten, sondern auch von der politischen Haltung einer überwiegenden Mehrheit abhängt, die dieser Institution keine persönliche Bedeutung beimißt. Die zweite Erkenntnis ist in der Bedeutung des politischen Willens zu sehen. Die politische Soziologie enthält sich bewußt der Erfassung der historischen Einzelfälle. Die Politik eines Landes wiederum, einschließlich der Gesetzgebungspolitik, ist nicht immer das unpersönliche Ergebnis des Waltens der Kollektivmächte, sondern läßt sich sehr oft auf die Entscheidung einer Einzelpersönlichkeit zurückführen. In dem Maße, in dem die Rechtssoziologie von der politischen Analyse abhängt, besteht somit auch eine Abhängigkeit (2. Grades) von der historischen Analyse, welche die Einzelfallkausalitäten erforscht. In der Tat kennen wir manche Rechtserscheinung, die sich auf den politischen Willen eines einzigen Mannes zurückführen läßt, so z. B. in Frankreich das große napoleonische Kodifikationswerk von 1804 und das Vereinsgesetz von 1901 sowie in Deutschland die Nürnberger Gesetze. Die Soziologie will diese Persönlichkeiten zurückgewinnen, indem sie behauptet, daß sie nur die Gesellschaft ihrer Zeit verkörpert hätten4, was aber nicht immer überzeugt.

15. Nationalökonomie und Demographie Diese beiden Wissenschaften zählen deshalb zu den Nachbardisziplinen der Rechtssoziologie, weil sie teilweise auf denselben Gebieten arbeiten. Wenn man in der Rechtssoziologie analog dem dogmatischen Recht zwei große Bereiche unterscheidet, und zwar das Vermögensrecht auf der einen und das Familienrecht auf der anderen, so trifft sie sich mit der Nationalökonomie im ersten und mit der Demographie im zweiten. Dieselben Phänomene, welche in unseren Augen Rechtserscheinungen sind, können in Wirklichkeit unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten analysiert werden. Wenn wir z. B. eine Warenbörse betrachten, ein Ort, an dem eine Vielzahl von Kaufverträgen abgeschlossen wird, so interessiert sich der Wirtschaftler für die Preisbildung, während der Rechtssoziologe nach der Befolgung der einschlägigen Regelungen fragt, wobei es jedoch offenkundig ist, daß beide Tatsachenzusammenhänge aufeinander einwirken. Wenn wir die Heiratshäufigkeit herausgreifen, also eine Vielzahl von Eheschließungen, so bestimmt der Demograph etwa das Durchschnittsalter der beiden Partner, während der Rechtssoziologe ergriffen hat) und dem soziologischen Gesetzgeber (den anonymen Mächten, die auf ihn eingewirkt haben). 4 Vgl. B. de Jouvenel: Raymond Aron et l'autonomie de l'ordre politique, Melanges R. Aron, 1971, Band 1, S. 231 ff.

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die Rolle der elterlichen Zustimmung untersucht, und wobei auch hier wiederum beide Tatsachenbereiche zusammenhängen. Gelegentlich ist sogar eine Beteiligung aller dieser Disziplinen erforderlich, so z. B. beim Studium der Eigentumsverteilung, einer Erscheinung, bei der sowohl familien- wie erbrechtliche Beziehungen eingreifen. Bei derartigen Phänomenen hängt es von der Einschätzung ab, ob sie eher der Rechtssoziologie, der Nationalökonomie oder der Demographie zugehören1• Man versteht ohne weiteres, daß sich die Nationalökonomie und die Demographie, dann wenn sie Rechtserscheinungen erfassen müssen, eher an die Rechtssoziologie als an die Rechtsdogmatik wenden, denn als Erfahrungswissenschaften interessiert sie die praktische Anwendung einer Rechtsnorm und nicht der formale Charakter einer rechtlichen Institution. Umgekehrt ist auch zu fragen, warum sich die Rechtssoziologie an die Nationalökonomie und die Demographie wendet und warum sie dies tun muß. Die Antwort liegt darin, daß diese beiden Nachbardisziplinen mit Quantifizierungen arbeiten, die dann, wenn sie Rechtserscheinungen betreffen, auch der Rechtssoziologie Zahlenmaterial an die Hand geben. Eine Befolgung dieses Grundsatzes könnte die erfreuliche Wirkung haben, die von den Juristen, Moralphilosophen und Psychologen übernommene Neigung, nur nach der Fallmethode und rein qualitativ vorzugehen, einzuschränken. Anstatt frei über den Daumen geschätzt festzustellen, daß die Neigung zur Ehescheidung zunimmt, wird man dann an Hand objektiver Kriterien die Entwicklung der Scheidungshäufigkeit in der untersuchten Periode bestimmen2 und anstatt zu überlegen, was die Justiz wert ist, wird man ihre Kosten berechnen3 • Die Zahlen und vor allem die großen Zahlen könnten für die Rechtssoziologie ein wenn auch unangenehmes Heilmittel gegen die Neigung zum Impressionismus sein, der sie ständig ausgesetzt ist.

16. Die objektive und die individualistische Tendenz in der Rechtssoziologie Quantitative Untersuchungen wie diejenigen, zu denen die Nationalökonomie und die Demographie die Rechtssoziologie einladen, bilden einen deutlichen Kontrast zu den fallweisen Untersuchungen, zu denen die Psychologie sie hinzulenken versucht. Genau genommen pendelt un1 Vgl. J. Cuisenier: La double circulation des biens patrimoniaux dans l'espace economique et le temps familial, Centre d'ethnologie fran!;aise, 1969. 2 z. B. L. Roussel: Les divorces et les separations de corps en France, Population, 1970, S.275 ff. und das Sonderheft derselben Zeitschrift: Famille, mariage, divorce, Juni 1971. 3 Diese Untersuchungen über die Kosten der Justiz (oder der Kriminalität) stellen der Rechtssoziologie bzw. der Kriminalsoziologie die Techniken der Finanzwissenschaft zur Verfügung, vgl. u. a. F. Forte und P. V. Bondonio: Costi ebenefici della giustizia italiana, Bari 1970.

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sere Wissenschaft zwischen zwei Extremen hin und her, je nach den Neigungen der Forscher, ja sogar bei demselben Gelehrten. Dieser Gegensatz findet sich auch bei anderen Gesellschaftswissenschaften, angefangen mit der allgemeinen Soziologie. Aber vielleicht ist die Versuchung zur Individualisierung in der Rechtssoziologie am größten und zeitigt dort die schwerwiegendsten Folgen. Auf die Frage, weshalb die individualistische Tendenz hier so leichten Zugang gefunden hat, ist zu antworten, daß der Boden schon durch die von der Rechtswissenschaft überkommene Fallösungsmethode bereitet war. Die justitielle Kasuistik wiederum schlägt die Brücke zur Psychologie, denn der Richter, insbesondere der Strafrichter, aber auch der Scheidungs- und Vormundschafts richter , fühlen sich mit Vorliebe auch in der Rolle von Psychotherapeuten, und desgleichen empfinden die Fürsorger, die mit ihnen zusammenarbeiten, daß sie es mit klinischen Fällen zu tun haben. Für diesen pragmatischen Psychologismus liefert die derzeit aktuelle amerikanische Rechtssoziologie einen Begriffsrahmen. Da diese Soziologie den Nachdruck auf die persönlichen und zwischenmenschlichen (familiären u. a.) Spannungen legt, ist sie im wesentlichen Sozialpsychologie, was auch dadurch gefördert wird, daß ihrer überzeugung nach festgestellten übelständen am effizientesten durch eine psychologisch fundierte Einwirkung auf die Individuen und nicht durch eine Reform der Sozialstruktur abgeholfen werden kann. Der Schwerpunkt der Soziologie ist somit von der Gesellschaft zum Individuum hin verlagert, bzw. vom objektiven Recht zu den Rechtssubjekten. Daraus können ernstliche Fehldeutungen entstehen. Wenn etwa im Strafrecht die Betonung auf die Täterpersönlichkeit gelegt wird, so wird der zahlenmäßig weit überwiegende, nichtkriminelle Teil der Bevölkerung beiseite geschoben, obwohl doch gerade in diesem soziologisch höchst bedeutsame Erscheinungen zu verzeichnen sind, wie die abschrekkende Wirkung der Strafe, die Straflosigkeit nicht beanstandeter Handlungen, die Gewährleistung von Freiheiten usw. Ein anderes Beispiel liefert die Soziologie des Vertrages. Wenn man bei der Individualisierung so weit geht, diese Beziehung auf das Verhältnis der beteiligten Subjekte, der Vertragspartner zueinander, zu reduzieren, so wird die übergreifende Rechtsordnung völlig außer acht gelassen, obschon sie auch in diesem Zusammenhang von größter Wichtigkeit ist. Es mag zugegeben werden, daß zu Beginn dieses Jahrhunderts, unter dem Einfluß Durkheims, die Soziologie sich zu sehr auf das objektivierte Recht mit seinen Normen und Institutionen konzentriert hat. Unter diesem Gesichtspunkt stellt die amerikanische Hinwendung zur Psychologie und damit zur Rückführung der Rechtsbeziehungen auf die Individuen einen Fortschritt dar. Nichtsdestoweniger scheint heute das andere Extrem vorzuliegen, nämlich ein Verschwinden des gesamten Rechts mit

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seinem System, seinen Normen und Institutionen, in einer Flut von psychologischen Betrachtungen. Es ist unabdingbar, so banal es klingt, von der Rechtssoziologie zu verlangen, ihre beiden Tendenzen im Gleichgewicht zu halten. 17. Die Rechtssoziologie als Inbegriff von nichtdogmatischen Untersuchungen über das Recht

Trotz ihres möglicherweise vom intellektuellen Standpunkt aus nicht sehr befriedigenden Eklektizismus wollen wir schließlich diesen weiten Begriff unserem Werk zugrunde legen. Wir haben jedoch festgestellt, daß die Rechtssoziologie mit mehreren anderen Disziplinen Berührungspunkte hat. Die Erfahrung lehrt, daß eine neue Wissenschaft, vor allem wenn sie durch Abspaltung von einer bereits vorhandenen Disziplin entsteht, immer sehr viel Mühe hat, ihren Gegenstand klar zu begrenzen und Gefahr läuft, bei dieser Tätigkeit sehr viel Zeit und Energie zu verbrauchen. Wir wollen uns diesem Risiko nicht aussetzen und begnügen uns deshalb mit einer näherungsweisen Definition des Kernbereiches der Rechtssoziologie an Hand von offensichtlichen Kriterien, was uns jedoch nicht hindern wird darüber hinauszugehen, selbst wenn damit ein Eindringen in Nachbardisziplinen wie die Kriminalsoziologie, die Ethnologie, die politische Soziologie oder die allgemeine Soziologie, verbunden ist, vorausgesetzt es erscheint uns für die Rechtssoziologie dienlich. In anderer Hinsicht folgen wir jedoch einem einschränkenden Begriff, denn unsere Sicht der Rechtssoziologie erfaßt nicht alles Recht oder alle Rechte, da dieses Feld viel zu ausgedehnt wäre. Gezwungenermaßen galt es, eine Hauptachse zu wählen, und diese wird durch das Privatrecht und dabei insbesondere durch das bürgerliche Recht dargestellt. Ein objektiver Grund hierfür ist, daß von allen Rechtsgebieten, vor allem im Vergleich mit dem öffentlichen Recht und dem Strafrecht, das bürgerliche Recht dasjenige ist, dessen soziologische Betrachtung am spätesten eingesetzt hat und das auch noch am meisten Grundlagenarbeit erfordert. Es gilt mit anderen Worten, den Stier bei den Hörnern zu fassen.

ERSTER TEIL

Geschichte der Rechtssoziologie Vorbemerkung: Die Schwierigkeit der historischen Beschreibung Die Schwierigkeit besteht darin, einen Ausgangspunkt festzulegen. Eine Wissenschaft sieht selten voll entwickelt das Licht der Welt. Normalerweise bildet sie sich allmählich aus einem Urnebel. Daher rührt auch der Eindruck von einem nicht enden wollenden Geburtsvorgang. Wir haben immerhin eine Gewißheit und diese besteht darin, daß die Rechtssoziologie nicht älter sein kann als die allgemeine Soziologie, von der sie sich abgespalten hat. Es entspricht der klassischen Auffassung und ist auch berechtigt, Auguste Comte als den Begründer der Soziologie im allgemeinen zu bezeichnen. Die Begründung der Rechtssoziologie im besonderen ist sehr viel später erfolgt. Zwar läßt sich dieser Vorgang nicht ohne weiteres mit einem bestimmten Namen verbinden (Durkheim? Ehrlich? Max Weber?), doch muß die Datierung ins 20. Jahrhundert verlegt werden. Dies ist auch die Zäsur, welche wir einführen, indem wir die Rechtssoziologie des 20. Jahrhunderts, die an Reichhaltigkeit und Wissenschaftlichkeit alles bisher Dagewesene übertrifft, von der vorhergehenden unterscheiden, auch wenn wir uns aus Zweckmäßigkeitsgründen nicht stur an die Trennlinie des Jahres 1900 halten werden.

Erstes Kapitel

Die Rechtssoziologie vor dem 20. Jahrhundert 1. Einführende Bemerkungen über die Vorläufer der Rechtssoziologie Ständig werden neue Vorläufer der Rechtssoziologie entdeckt. Nichts scheint mehr der rechtssoziologischen Sichtweise zu ähneln als eine nichtdogmatische Rechtsbetrachtung. Für eine Anerkennung als soziologische Feldstudie genügt danach schon streng genommen, daß ein nichtjuristischer Beobachter, nehmen wir z. B. eine Frau in einer Zeit, in der die Rechtsbildung noch ausschließlich Sache der Männer war, eine Tatsachenbeschreibung von Rechtsszenen gegeben hat, unter Betonung des zeremoniellen Aspektes und der Gefühle, aber unter Ausschluß der rechtstechnischen Fragen 1 • Genauso natürlich ist die Außerachtlassung der Rechtsdogmatik auch für einen Dichter, der sich beiläufig auch für das Rechtssystem interessiert und dabei intuitiv dasjenige erfaßt, was alle Menschen am Recht interessiert2 • Unseres Erachtens verdient jedoch eine unbefangene Betrachtung allein noch nicht die Bezeichnung "Soziologie", und auch für die Rechtssoziologie ist zwar nicht zu fordern, daß Rechtsphänomene planmäßig erforscht wurden, wohl aber, daß zumindest der Wille zu einem tieferen Eindringen zum Ausdruck kam. Selbst mit dieser wesentlichen Einschränkung verbleiben für den ersten Abschnitt der Rechtssoziologie noch bedeutend mehr Werke als wir vernünftigerweise behandeln können, was nicht weiter erstaunlich ist, da es sich um ein Gebiet handelt, auf dem in diesem Jahrhundert völlig neue wissenschaftliche Gepflogenheiten eingeführt wurden und wo man 1 Z. B. vertraut Madame de Sevigne anläßlich eines Briefes an ihre Tochter (15. Juni 1680) dieser einige Schulderlasse an, die sie Pächtern und Müllern, welche sich in einer Notlage befanden, gewährt hatte. Dies ist ein Genrebild mit einem Ausblick auf die halb freiwillige, halb erzwungene Psychologie der Schenkung. 2 z. B. Shakespeare. Sein Verhältnis zum Recht hat in einer außerordentlich umfangreichen Bibliographie seinen Niederschlag gefunden. Wir wollen uns mit dem Herausgreifen eines Monologes aus dem Hamlet begnügen: "Wer ertrüge ... the law's delay, the insolence of office ... ?" Es ist unmöglich, mit weniger Worten die Schwerfälligkeit des Rechtswesens und der Bürokratie darzustellen.

1. Kap.: Die Rechtssoziologie vor dem 20. Jahrhundert

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folglich nicht damit rechnen kann, daß die Lehren der Vergangenheit soviel Wirksamkeit wie in anderen Disziplinen, etwa der Rechtsphilosophie oder gar dem Recht, bewahrt haben. Diese Betrachtung möge als Entschuldigung für im folgenden festgestellte Auslassungen und Unzulänglichkeiten gelten. 2. Die Antike

Ihr wichtigster Beitrag besteht wohl in den sonderbaren Berichten der antiken Historiker und Reisenden über die Sitten und Gebräuche der Vergangenheit und der anderen Völker. Hierfür lassen sich Herodot und Plutarch, Varro und Aulus Gellius sowie der Tacitus der Germania anführen. Auf diese Weise ist ein rechtsethnographischer wenn nicht sogar ethnologischer Fundus entstanden, den die heutige Soziologie noch nicht ausgeschöpft hat!. Eine noch weiterreichende Wirkung dieser Berichte liegt in dem durch sie erzeugten Bewußtsein von der Relativität des Rechts, von seiner Variabilität in Raum und Zeit, was in weiterentwickelter Form bei Montaigne, Montesquieu und im gesamten westlichen Denken zu finden ist und wodurch die Entwicklung der Rechtssoziologie sehr gefördert worden ist. Wenn man indessen in der Antike die Wurzeln der Rechtssoziologie sucht, so denkt man eher an die theoretischen Werke als an die empirischen. Man sucht vor allem in den Schriften derjenigen Philosophen, die über die Polis und ihre Gesetze nachgedacht haben, vor allem bei Aristoteles2. Es ist eine Tatsache, daß das Werk von Aristoteles Züge aufweist, die man als soziologische ansehen kann, so z. B. den wirklichkeitsnahen Versuch, die Gesellschaft so zu beobachten wie sie ist, den Gedanken von einem sozialen Organismus als einem lebenden Wesen, das den Gesetzen der Geburt, des Wachstums und des Todes unterliegt, sowie schließlich die Idee, daß die Veränderung die Grundvoraussetzung des Lebens ist. Genau genommen vereinigen sich diese Züge eher zu einem Bild der politischen Soziologie als einem solchen der Rechtssoziologie, wenn man nicht die Polis mit ihrem Rechtssystem gleichsetzt, was aber nicht immer legitim ist, denn wer würde den berühmten Ausspruch vom Menschen als einem Zoon politikon nicht mit der Bezeichnung des Menschen als einem politischen, sondern als einem rechtlichen Wesen übersetzen? Dies gilt umsomehr, als Aristoteles selbst mit Nachdruck darauf hinweist, daß in der Gesellschaft nicht nur rechtlich geregelte, sondern auch von der Freundschaft beherrschte Beziehungen bestehen. Vielleicht verdient 1 Vgl. z. B. für Griechenland das Werk von Louis Gernet: Droit et societe dans la Grece ancienne, 2. Auflage 1964; Anthropologie de la Grece antique, 1968; für Rom: Henri Levy-Bruhl: Recherches sur les actions de la loi, 1960. 2 Vgl. Gurvitch, 1940, S. 34 ff.

4 Carbonnier

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1. Teil: Geschichte der Rechtssoziologie

er es gerade wegen dieser Theorie der Philia, als Vorläufer der Rechtssoziologie eingestuft zu werden, denn nichts kommt unserer Wissenschaft gelegener als ein Beitrag zur Erkenntnis der Grenze zwischen dem Rechtlichen und dem Nichtrechtlichen in der Gesellschaft. Da die Philia vorwiegend die privatrechtlichen Beziehungen betrifft, könnte man diesbezüglich die allgemeine Betrachtung anstellen, daß Aristoteles der Soziologie mehr zu sagen hat, wenn er auf Privatrechtsinstitutionen wie die Familie oder den Vertrag stößt (im 5. Buch der Nikomachischen Ethik), als dann, wenn er sich mit dem Verfassungsrecht befaßt. Nichtsdestoweniger muß man feststellen, daß dem sozialwissenschaftlichen Grundsatz der Objektivität auch hier nicht Genüge getan wird, denn die Beobachtung wird fast immer von Werturteilen überlagert. Diese Neigung zum (philosophischen) Idealismus findet sich bereits in noch stärkerer Ausprägung bei Platon, zumindest wenn man sich an die herkömmliche Interpretation von dessen Werk hält, wonach sein Begriff von der Polis und ihren Gesetzen als reine Utopie anzusehen ist. Hier muß aber auch die Frage gestellt werden, ob das Konstruieren einer Utopie nicht in gewissem Sinne eine soziologisch relevante Tätigkeit ist, nämlich die Verkörperung von Gesellschaftskritik in Gestalt eines Gegenmodelles. So könnte der Autor Platon ganz ungekünstelt zu den Vorläufern gezählt werden, abgesehen davon, daß vom Inhalt seines Werkes her gesehen die erdichteten Reden über die Gesetze, im Kriton, zu den grundlegenden Darstellungen für denjenigen gehören, der den Vorgang der Verherrlichung der Legalität als rechtssoziologisches Phänomen untersucht. Möglicherweise sind wirklich originelle soziologische Einfälle eher bei noch früheren Denkern, und zwar bei den Vorsokratikern, zu finden, so etwa bei den Sophisten, welche die Rolle der Macht und des Interesses bei der Rechtsbildung offen legen 3 , und bei Heraklit von Ephesus, wenn er in Geistesblitzen auf die Gegenstände des Rechts sein Prinzip von der Opposition der Gegensätze anwendet oder seine pessimistische Konfliktsauffassung sowie seine Dialektik von gerecht und ungerecht vorträgt4 • Sicher ist niemand allein schon deshalb ein Soziologe, weil er die 3 Zu denken wäre hier etwa an Thrasymachos von Chalzedon, obwohl er uns kaum anders als in der Platonschen Karikatur bekannt ist (im 1. Buch der Republik). Es scheint, daß er behauptete, die Gerechtigkeit sei nichts anderes als das Interesse des Stärkeren. Amerika hat ihn als eine beunruhigende Protestfigur wiederentdeckt. Sein Gegner Sokrates erwarb demgegenüber paradoxerweise den Ruf eines Konformisten, den man heute als Funktionalisten bezeichnen könnte, denn für ihn war ja die Gerechtigkeit der Zustand, wo jeder das tut, was er tun muß. Vgl. Ralf Dahrendorf: In praise of Thrasymachos, Essays in the theory of society, Stanford 1968, S. 150, und über den Funktionalismus vgl. u. S. 95 f. 4 Einige Zitate aus den von ihm überlieferten Fragmenten: Wenn es keine Ungerechtigkeit gäbe, würden wir nicht einmal den Namen der Gerechtigkeit kennen (in der Dielsschen Ausgabe, B. 23); man muß wissen, daß der Krieg

1. Kap.: Die Rechtssoziologie vor dem 20. Jahrhundert

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Absolutheit des Rechts in Frage stellt. Dieses Infragestellen ist jedoch ein wesentlicher Bestandteil der Soziologie.

3. Die Neuzeit Wenn es zum Wesen der Rechtssoziologie gehört, eine kritische Funktion gegenüber dem positiven Recht auszuüben 1 , so verstehen wir, weshalb das Mittelalter keine Rechtssoziologie hervorgebracht hat oder zumindest weshalb es in uns dieses Bild der Ruhe hervorruft. Die Gelehrten, die sich mit der Geschichte des rechtssoziologischen Denkens befassen, gehen oft nicht weiter als bis zum Ende des 17. Jahrhunderts, bis Hobbes und Spinoza, zurück2 • Letzterer ist dann Soziologe, wenn er bereits dem historischen Materialismus zuzurechnende Korrelationen zwischen der wirtschaftlichen Macht und den Verfassungsformen aufstellt3 • Bei ersterem ist dies dann der Fall, wenn er, was eine bemerkenswerte Neuerung darstellt, mit Hilfe von entwicklungssozialpsychologischen Begriffen die menschliche Neigung, mit der jedes GeseIlschaftsleben und jedes Rechtssystem rechnen muß, dynamisch und nicht statisch analysiert, nämlich nicht einfach den Wunsch zu genießen, sondern den, immer mehr zu genießen4 • Trotzdem hält man ihnen in diesem Zusammenhang üblicherweise nicht diese eigentlichen soziologischen Verdienste zugute, sondern vielmehr die Tatsache, daß sie ganz einfach realistische Denker waren, indem sie in groben Zügen die Rolle der Macht, des Bedürfnisses und des Sachzwanges bei der Rechtsentstehung erkannt haben. Auch hier scheint sich die Rechtssoziologie vermittels einer sehr allgemeinen Rechtsphilosophie zu suchen. Aber dann, wenn die soziologischen Pfade mit Sicherheit über die Verneinung des Absoluten hinwegführen, dann kann die Rechtssoziologie eine bereits im 16. und 17. Jahrhundert bestehende Moralphilosophie genauso gut nach dem Weg fragen wie die Staatsphilosophie, so etwa die von Montaigne, der bekanntermaßen Skepsis gegenüber der Gerechtigkeit bei den Mensc..~en bezeigt hat5 , ferner die von Pascal, der diese Skepsis übernommen und in seine Darstellung der göttlichen Geein universales Phänomen ist, daß die Gerechtigkeit ein Kampf ist und das alles nur durch Zwietracht und zwingende Notwendigkeit entsteht (B. 80); für Gott ist alles schön, gut und gerecht, während die Menschen gewisse Dinge als ungerecht und andere als gerecht auffassen (B. 102). 1 Vgl. u. S. 248. 2 Vgl. GUTvitch, 1940, S. 41. 3 Tractatus politicus, VI, 10, VII, 10, VIII, 3; vgl. Maspetiol: L'Etat et le droit selon Spinoza, AP.D., 1960, S. 172. 4 Leviathan, Teil I, 11. Kapitel (Of the difference of Manners); vgl. M. Goldsmith: Hobbes' Science of politics, 1966. 5 Essais, 1. II, c. 12 (Apologie de Raimond Sebond). 4"

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1. Teil: GeschIchte der Rechtssoziologie

rechtigkeit integriert hat6 , sowie diejenige der Jansenisten, die versucht haben, das übel, das sich hinter einer streitsüchtigen Gerechtigkeitssuche verbergen kann, ans Licht zu bringen7 • Die gesamte Moralphilosophie dieser Richtung tendiert in negativer Weise dahin, das Recht zu relativieren und es als veränderlich, schwach und nicht unfehlbar darzustellen; positiv bereiten Pascal und Montaigne, indem sie auf die Verschiedenheit des Rechts von einem Fluß ufer zum anderen hinweisen, den Weg für die vergleichende Rechtssoziologie und damit für Montesquieu.

4. Montesquieu Sein Buch über den Geist der Gesetze (L'Esprit des Lois, 1748), nimmt eine ganz herausragende Stellung in der Geschichte der Rechtssoziologie ein. Man ist versucht, hierin nicht nur das Werk eines Vorläufers zu sehen, sondern es für eine Grundlegung zu halten. Genau genommen hat aber das Urteil hierüber im Laufe der Zeit geschwankt. Um 1925 verspottete Duguit die naive Bewunderung, die von vielen, die Montesquieu nicht gelesen hatten, diesem Werk entgegengebracht wurde, während es heute von den verschiedenartigsten Soziologen ernst genommen wird1 • Es ist übrigens weniger leicht, in dieses Werk einzudringen als es scheint, denn es stellen sich viele Hindernisse in den Weg, wozu ein sprunghaft genannter Stil (sprechen wir lieber von Brüchen in der Darstellung), ein aus englischen Elementen und solchen aus Bordeaux bestehender Humor, und vor allem die Neigung des nicht juristischen Lesers gehören, sich auf die politische Philosophie am Anfang des Werkes zu beschränken und alles übrige, nämlich einen außerordentlich umfangreichen Teil über das Privatrecht und die Abhandlung über das Lehnsrecht, welcher die ganze Darstellung zustrebt, da sie alles erhellen sollte, beiseite zu lassen. Aber selbst nach der Zerstreuung dieses Nebels kann der Inhalt des Geistes der Gesetze in mancher Hinsicht höchst vorwissenschaftlich ersCtlt!inen. Die in reichlichem Maße den Berichten der Reisenden und teschichtsschreiber entlehnten Beschreibungen der Sitten und Gesetze G Pensees, Ausgabe Brunschwicg, Nr. 294 und ganz allgemein die gesamte Section V. Vgl. A. Brimo: Pascal et le droit, 1942. 7 Daher rührt die Feindseligkeit gegenüber dem Prozeß bei Nicole (Sur la maniere de conserver la pa ix avec son prochain) und bei Domat (Traite des Lois, 8. Kapitel: es gibt in den Gesellschaften drei Arten von Störungen, und zwar die Prozesse, die Verbrechen und die Kriege), auch wenn dieser vielleicht aus richterlicher Zurückhaltung annimmt, daß bei den Prozessen das übel eher in den Interessenkonfiikten als in der Beschreitung des Rechtsweges liegt (vgl. Voeltzel: Jean Domat [1625 - 1696], 1936, S. 11)1 ff.). 1 z. B. Louis AZthusser: Montesquieu, la politique et l'histoire, 1959; Raymond Aron: Dix-huit le~ons sur la sociere industrielle, 1962, 3. Lektion (Marx und Montesquieu); Marc Auge: Montesquieu, Rousseau et l'anthropologie politique, C.l.S., 1966 (40), S. 16.

1. Kap.: Die Rechtssoziologie vor dem 20. Jahrhundert

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sind ohne hinreichende kritische Prüfung übernommen worden2 • Diesen Eindruck von wertlosem Zeug muß man im übrigen nicht auf irgendwelche Fortschritte der Geschichtsforschung oder der Ethnologie zurückführen, denn schon die Zeitgenossen, vor allem Voltaire3, erhoben diesen Vorwurf'. Die Mißbräuche der deduktiven Methode sind offensichtlich und nicht nur in der politischen Theorie der drei Gewalten zu finden 5 • Schließlich ist die Sachdarstellung fast überall mit, aus Vernunftgründen oder auch einfach aus vernünftigen überlegungen abgeleiteten Werturteilen vermischt. Der Idealismus stört die Objektivität der Betrachtung6. Dennoch ist der Geist der Gesetze, wenn man sich ans Wesentliche hält, ein im wissenschaftlichen Sinne soziologisches Werk. Es handelt sich hierbei um zwei Züge, nämlich den Relativismus und den Determinismus. ! z. B. im XIV. Buch, 15. Kapitel: " ... das japanische Volk hat einen derart grausamen Charakter ... das indische Volk dagegen ist sanft, zart und mitfühlend ... ", im XXVI. Buch, 14. Kapitel: " ... wie wir in den ,Berichten' sehen, können die Tataren ihre Töchter heiraten, doch heiraten sie niemals ihre Mütter ... ". 3 Vgl. im Dictionnaire philosophique den Artikel "Lois (Esprit des)" (" ... seine Gewohnheit, willkürlich und falsch zu zitieren ... diesem Buch fehlt die Methode ... "). 4 Es muß jedoch anerkannt werden, daß Montesquieu ziemlich oft die Angaben anderer ohne Gewähr übernimmt: "Wenn das, was die Berichte uns sagen, wahr ist ... " (XVIII. Buch, 18. Kapitel), "Vom Hörensagen kenne ich eine derartige Gewohnheit ... " (XVIII. Buch, 21. Kapitel). S z. B. sucht er im 15. Kapitel des VII. Buches eine mögliche Korrelation zwischen dem gemeinrechtlichen Güterstand und der Landesverfassung: "Die Gütergemeinschaft entspricht in vorzüglicher Weise der monarchischen Regierungsform, weil sie ... die Frauen zur Erfüllung ihrer häuslichen Aufgaben mahnt. In einer Republik ist sie weniger angemessen, da dort die Frauen tugendhafter sind." (Diese Stelle wurde von den Vertretern der Gütertrennung während der vorbereitenden Arbeiten für das französische Zivilgesetzbuch, den Code civil, zitiert). Es wäre bestimmt wissenschaftlicher gewesen, mit der Beobachtung einer Reihe von Rechtssystemen zu beginnen (und dabei zu riskieren, in Holland die allgemeine Gütergemeinschaft und im Königreich Neapel die Gütertrennung zu finden), und erst danach Korrelationen aufzustellen. - Vgl. die dasselbe Zwischenglied der Tugend enthaltende Behauptung im 6. Kapitel des XXIII. Buches, daß die den Haß gegen die unehelichen Kinder ausdrückenden Bestimmungen in der Republik stärker ausgeprägt sein müssen als in der Monarchie. 8 z. B. im 16. Kapitel des XX. Buches: "Schönes Gesetz"; im 15. Kapitel des XVI. Buches: "Das Gesetz der Malediven erlaubt es, eine Frau, die man verstoßen hat, wieder aufzunehmen. Das mexikanische Gesetz bedrohte die Wiedervereinigung (nach der Scheidung) mit der Todesstrafe. Das mexikanische Gesetz war vernünftiger ... , da es selbst bei der Auflösung an die ewige Dauer der Ehe dachte ... , während das Gesetz der Malediven weder die Ehe noch die Verstoßung ernstnimmt ... ". Vgl. Bentham: Promulgation des lois (Ausgabe Dumont, Band 3, S. 89 ff.): "Montesquieu hat schon oft seine Leser in die Irre geführt. In höchst geistreicher und brillanter Weise entdeckt er Regeln der Vernunft, die den Gesetzgeber geleitet haben können. Selbst in den widersprüchlichsten Institutionen findet er noch einen weisen Entschluß des Gesetzgebers."

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1. Teil: Gesclüchte der Rechtssoziologie

a) Der Relativismus. Obwohl Montesquieu nicht leugnet, daß sich in tieferen oder erhabenen Schichten ein Naturrecht findet, welches die Einheit wiederherstellF, so vertritt er doch auf dem Gebiet der sinnlichen Wahrnehmung den Standpunkt der grundlegenden Veränderlichkeit des Rechts in Raum und Zeit. Es ist etwas übertrieben zu sagen, daß sein Begriff von der Relativität des Rechts eher geographisch als historisch istB, vor allem wenn man sich an das letzte Buch seines Werkes hält, in dem die Geschichte die Oberhand gewinnt. Es springt ganz im Gegenteil nichts so sehr ins Auge wie die in unbefangener Weise gebrauchten Begriffe sozialen Wandels wie in den Ausdrücken "über den Ursprung und die Umwälzungen des Erbrechts", "wechselnde Rechtsprechung", "Verfall von Grundlagen"9 usw. b) Der Determinismus. Erklärtes Ziel des Werkes ist es, die Gesetze in Beziehung zu anderen Tatsachen zu bringen, und dies zeigt sich an vielen Stellen. Es ist hier nur streitig, ob die ins Auge ge faßten Beziehungen solche echter, wenn auch nur teilweiser Kausalität sind, oder ob es nur schlichte Korrelationen sind. Hier kommt es zweifellos auf den Einzelfall an. Ziemlich oft hat man das Gefühl, daß Montesquieu eine Art strukturalistische Methode anwendet, indem er Gesellschaftsmodelle konstruiert, bei denen die verschiedenen Elemente, einschließlich des Rechts, sich im Gleichgewicht halten, ohne daß Ursachen oder Wirkungen erkennbar sind. Aber bei anderen Hypothesen ist der Begriff der Kausalität deutlich wahrnehmbar, so wenn er das Recht (vielleicht insbesondere das Privatrecht) durch objektive Ursachen, seien es andere 7 Bereits die Rechtsphilosophie Montesquieus enthält derartige Schwierigkeiten (vgl. Brethe de la Gressaye, A.P.D., 1962, S. 199 ff.; Shakteton: L'Essai sur les lois naturelles est-il de Montesquieu?, Melanges Brethe de la Gressaye, 1967, S. 747 ff.), daß wir es nicht unternehmen können, sie mit seiner eigenen Praxis der Rechtssoziologie in Einklang zu bringen. Man könnte nichtsdestoweniger die Bemerkung wagen, daß Montesquieu bezüglich des Naturrechts zwischen zwei Auffassungen schwankt. Mal handelt es sich um ein Naturrecht reiner Rationalität, eine göttliche Mathematik (vgl. im 1. Kapitel des 1. Buches die berühmte Metapher über die Gleichheit der Radien, bevor der Kreis gezeichnet ist), mal handelt es sich um ein Naturrecht der Billigkeit (equite), wie er es nennt (nur eine Zeile tiefer) und worunter ein noch nicht juristisches, sondern von der Geselligkeit gegebenes Naturrecht zu verstehen ist. Diese zweite Auffassung hat auch einen soziologischen Beiklang, nämlich den einer mit der Anthropologie verbundenen Soziologie. Dieses Recht ist natürlich, weil es in der menschlichen Natur angelegt ist. Die von Montesquieu angeführten Beispiele enthalten erstaunlicherweise ganz moderne neben uralten Ideen: der Primat der Gesellschaft, die Gegenseitigkeit, zweifellos in der Form des Talionsgrundsatzes, aber auch in der des Potlatches (die Wohltat, die Anerkennung heischt), und die Erzeugung (im biologischen Sinn) als Grundlage der ersten Machtbeziehung. 8 M. Auge, loc. cit. 9 überschriften der Bücher XXVII, XXVIII, des 41. Kapitels des XXVII. Buches, des VIII. Buches. Vgl. vor dem "Geist der Gesetze" die "überlegungen über die Ursachen der Größe der Römer und ihres Verfalls" (Les considerations sur les "causes" de la "grandeur" des Romains et de leur "decadence", 1734).

1. Kap.: Die Rechtssoziotogie vor dem 20. Jahrhundert

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Sozial phänomene (Regierungsform, Religion, Handel, Sitten und Gebräuche), demographische (praktisch natürliche, wie die Zahl der Bewohner) oder auch rein natürliche (wie die Art des Bodens oder des Klimas) Ursachen determiniert sieht. Die Gegner Montesquieus griffen zielsicher eine dieser Ursachen, die Theorie der klimatischen Verhältnisse 10 , heraus, da sie in der Darstellung des Rechts als einem Produkt des Waltens blinder Mächte eine Blöße sahen, die für schonungslose Angriffe ausgenutzt werden konnte. Diese Ahnung, wonach ein gewisser Materialismus unerläßlich zur Erklärung des Rechts ist, könnte sehr wohl der Beweis sein, daß Montesquieu bereits Soziologe ist.

5. Voltaire Neben Montesquieu wird Voltaire kaum als Soziologe angesehen. Seine Rechtssoziologie wäre auch nur eine Art Soziologie des gesunden Menschenverstandes, welcher doch als ein sehr unzuverlässiger Führer auf wissenschaftlichem Gebiet gilt. Jedoch war sein Einfluß auf die Entwicklung des französischen Geisteslebens von solcher Tragweite, daß wir ihn nicht unberücksichtigt lassen können, auch wenn seine Wirksamkeit nunmehr in einem kollektiven Unterbewußtsein eingebettet erscheint. Es möge gestattet sein, rasch über den Skeptizismus, der einen der kennzeichnenden Züge der Voltaireschen Soziologie ausmacht, hinwegzugehen, da hiermit nur in genialer Weise eine Tradition fortgeführt wird, sei es nun Skepsis gegenüber den Urteilen (beim Verteidiger von Calas findet sich eine Sozialpsychologie des Justizirrtums), oder sei es Skepsis gegenüber den Rechtsnormen (die an Wirksamkeit und Gerechtigkeit den Regeln der Spiele stark nachstehen)!. Ein originellerer Beitrag Voltaires ist seine Betonung des sogenannten öffentlichen menschlichen Willens bei der Rechtsbildung2 • Es ist gewiß eine kleine Kunst, bei ihm auf diesem Gebiet ethnologischen Unsinn aufzuzeigen. Er hätte nicht unter dem Vorwand, daß die Sitten der Wilden 10 Bücher XIV bis XVII. Die Historiker haben frühere Darstellungen dieser Theorie gesucht. Montesquieu hat Ibn Khaldoun (vgl. Bousquet: Textes sociologiques, 1965) wohl nicht gekannt, aber er könnte Bodin (Six livres de la Republique, 1576, V. Buch, 1. Kapitel) gelesen haben. Die Idee könnte übrigens im Rechtsleben des 18. Jahrhunderts in der Luft gelegen haben; hierfür wollen wir nur die unter der Leitung von Just-Henning Boehmer an der Universität Halle von einem gewissen Joh. Peter Willebrandt vertretene Inauguraldissertation aus dem Jahre 1742 (De juribus diversis ex diversitate climatum natis) anführen; mit der klimatischen Verschiedenartigkeit wird hier übrigens aus politischen Gründen argumentiert, und zwar um zu zeigen, wie sehr das römische Recht für Deutschland unangemessen ist. 1 Vgl. insbesondere im Dictionnaire philosophique die Artikel "Certitude, Conseiller ou juge, Dispute, Extreme" und vor allem "Lois, Passion". 2 Vgl. Volta ire et l'artificialisme juridique (Voltaire und das Gekünstelte im Recht), in Melanges Louis Baudouin, Montreal1972.

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1. Teil: Geschichte der Recl1tssoziologie

für einen gebildeten Pariser unverständlich sind, sie von vornherein als Erfindung von Königen oder Priestern brandmarken dürfen. Was bleibt, ist, daß die Willkür, d. h. der nicht determinierte gesetzgeberische oder justitielle Wille, in allen Gesellschaften, auch den neuzeitlichen, vorkommt und daß in diesem Spielraum partikulare Interessen maßgeblich werden können. Man kann mit anderen Worten Voltaire nicht vorwerfen, derart den heutigen Forschungen über die Interessenverbände vorgegriffen zu haben, indem er vermutete, daß das Recht weit entfernt davon ist, stets ein spontanes Produkt der Gesellschaft zu sein, sondern sehr wohl auch ein von der List einiger weniger geschaffenes Mittel zu bestimmten Zwecken sein kann. Vom methodologischen Standpunkt aus ist die Vermutung, bei einer unerklärten Rechtserscheinung seien die Gerissenheit oder der Betrug der Machtinhaber und nicht deren rationale Einschätzung des Gemeinwohls am Werk gewesen, ein im Auge zu behaltendes analytisches Hilfsmittel3 • 6. Die Naturrechtslehren

Die Beziehungen zwischen der Rechtssoziologie und den Naturrechtslehren sind nicht einfach. Auf beiden Seiten kann man eine Art taktisches Zusammengehen in der gemeinsamen Opposition gegen den Rechtspositivismus, d. h. gegen diejenige Theorie, die nur das positive Recht anerkennt und genau genommen als Gesetzespositivismus zu bezeichnen ist, da für sie das Recht nur aus den staatlichen Gesetzen besteht, sehen. Dieses Zusammengehen könnte sich sogar verfestigen, wenn man das Naturrecht gemäß einer bestimmten Auffassung1 so definiert, daß die Natur der Sache, aus der dieses Recht abgeleitet ist, die gesamte soziale Wirklichkeit umfaßt. Es gäbe dann nur noch den einen, allerdings entscheidenden Unterschied, daß im Naturrecht die Wirklichkeitsbetrachtung unmittelbar normativen Zwecken dient, so daß der Blick des Beschauers bereits ein Werturteil impliziert, wobei im übrigen die Elemente der Wirklichkeit selektiert und in ein hierarchisches System eingeordnet werden, während für die Soziologie alle Bestandteile der Wirklichkeit in gleicher Weise beachtenswert sind und rein wissenschaftlich betrachtet werden, wobei etwaige Anwendungen für das Gesetzgebungsa Der alte Grundsatz "ls feeit eui prodest" (Derjenige tat es, dem es nützt), so verwerflich er auch war, solange er im Strafprozeß als Vermutung galt, die der Notwendigkeit, den Tatsachenbeweis zu erbringen, enthob, so nützlich ist er doch für soziologische Untersuchungen. 1 So Michel Villey: Le!;ons d'histoire de la philosophie du droit, 1962, S. 109 ff. (Abriß des klassischen Naturrechts); Seize essais de philosophie du droit, 1969, s. 49 ff. Nach M. ViHey entspricht diese quasisoziologische Naturrechtsauffassung derjenigen von Aristoteles und Thomas von Aquin. Es scheint aber, daß die Mehrzahl der Schüler dieser beiden Meister das Naturrecht als eine aus der Vernunft abgeleitete Axiomatik auffassen.

1. Kap.: Die Rechtssoziologie vor dem 20. Jahrhundert

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verfahren erst in einem zweiten und völlig verschiedenen Schritt ins Auge gefaßt werden. Aber es gibt auch noch andere Naturrechtslehren. Selbst die verbreitetste erweckt den Anschein, als ob sie dem soziologischen Denken völlig entgegengesetzt wäre. Sie stellt das Naturrecht als ein Recht dar, das sich aus Vernunftgrundsätzen ableiten läßt und das daher an der Universialität, Unveränderlichkeit und Absolutheit dieser Grundsätze teil hat, während für die Soziologie das Recht im wesentlichen vielgestaltig, beweglich und relativ ist. Die Rechtssoziologie konnte daher erst nach einem Verzicht auf diese rationalistische Erleuchtung entstehen. Jedoch zeichnet sich eine unerwartete soziologische Öffnung in der das 17. und vor allem das 18. Jahrhundert kennzeichnenden Blüte des Naturrechts ab, und zwar in der sogenannten Natur- und Völkerrechtslehre, mit Grotius an der Spitze, ferner international bekannten Namen wie Locke, Pufendorf, Barbeyrac und Burlamaqui sowie außerdem J. J. Rousseau2 • Obwohl diese Philosophie sichtlich eher deduktiv als experimentell vorgeht, so kündigt doch ihr Gedanke eines Naturzustandes, welcher der ursprüngliche Zustand der Menschheit ist, etwas von der Soziologie an. Methodologisch kann dieser hypothetische Naturzustand als ein durch Simulation erzeugtes Modell verstanden werden. Es kommt nicht so sehr darauf an, auf welcher Grundlage man hierzu gelangt, ob es nun über die Erinnerung an die idyllischen biblischen Zeiten wie bei Locke oder über die Beschreibung des guten amerikanischen Wilden wie bei Rousseau geschieht. Vom intellektuellen Standpunkt aus ist an dieser Methode das Zusammenspiel der in diesem Modell enthaltenen verschieden gerichteten Entwicklungen von Interesse. Ansonsten findet sich in dieser Lehre im Grunde eine Art anthropologische Vorahnung, insoweit nämlich das Naturrecht natürlich ist, weil es mit einer von der Verschiedenartigkeit der Kulturen verschleierten, einheitlichen Natur des Menschen zusammenhängt3 • Die moderne Ethnologie widerlegt nicht die Hypothese eines Minimums an ursprünglichen, allgemeinen Rechtserscheinungen wie dem Inzestverbot und dem Grundsatz der Gegenseitigkeit.

! Selbst wenn Rousseau schwerlich Schüler von BUTlamaqui war, so ist er doch von dieser Schule beeinflußt worden. Es ist unstreitig, daß man aus seinem Werk eine politische Soziologie herauslösen kann (vgl. R. DeTathe: Rousseau et 1a science politique de son temps, 1950). Es ist nicht geklärt, ob dasselbe auch für die Rechtssoziologie gilt. Er hat aber zumindest tiefe Gedanken über die Gesetze (ihre Wirkungslosigkeit, die Rolle des Gesetzgebers) und über die Familie (Ehe oder freie Lebensgemeinschaft? öffentliche oder private Erziehung?) angestellt. Sein Nonkonformismus, seine Stadtfeindlichkeit und seine Vieldeutigkeit könnten aus ihm einen uItramodernen Rechtssoziologen machen. 3 Vgl. o. S. 35.

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1. Teil: Gesdüchte der Rechtssoziologie

7. Das französische Zivilgesetzbuch (Code civil) Die Kodifikationsbewegung hat sich Ende des 18. Jahrhunderts fast überall in Kontinentaleuropa bemerkbar gemacht und sie ist als solche ein rechtssoziologisches Phänomen, für das die Historiker Bezüge zu anderen Erscheinungen, seien sie kultureller Art (so der Ordnungs- und Vereinheitlichungssinn, den die klassische Literatur entwickelt hatte) oder seien sie ökonomischer Natur (so das vom entstehenden Kapitalismus empfundene Bedürfnis für Rechtssicherheit), gesucht hatten. Aber was uns hier interessiert, das ist eine Einschätzung der Rolle dieser Kodifikationen, und zwar insbesondere der französischen von 1804, für die Entwicklung der Rechtssoziologie. Insgesamt gesehen erscheint diese Rolle eher negativ. Soziologisch spricht zugunsten des Code Napoleon, daß er von nicht allzu dogmatischen Rechtsgelehrten abgefaßt wurde und daß zumindest einer, nämlich Portalis, unter dem Einfluß von Montesquieu und Herder stand, wovon verschiedene evolutionistische Passagen in seiner Einführung Zeugnis ablegen. Aber die im übrigen nicht einmal einheitlichen Absichten1 zählen wenig hinsichtlich der erzeugten Wirkung. Es ist nun eine Tatsache, daß die Ersetzung des alten gewohnheitsrechtlichen und römischrechtlichen Wildwuchses durch ein als rational angesehenes Kodifikationswerk für die Entwicklung der soziologischen Denkweise nicht sehr förderlich war. Das Recht wurde nurmehr als ein jeglicher Kausalität außer dem Willen des Gesetzgebers enthobener Befehl aufgefaßt, und in der Praxis war die am meisten ins Auge fallende Tätigkeit die der Gesetzesexegese zu Lasten einer objektiven historischen, vergleichenden oder kritischen Betrachtung, vermittels deren sich eine Soziologie hätte entfalten können. Savigny hatte diese Gefahren der Kodifikation erahnt2 und zeitweilig Deutschland dagegen gefeit. Seine Warnungen verhallten auch in Frankreich nicht ungehört, aber der Einfluß des Code Napoleon war dort zu stark, als daß sie mehr als nur einige marginale Richtungen ins Leben rufen konnten; diese vorsoziologischen Strömungen fanden vorwiegend in der Rechtsvergleichung und in der Rechtsgeschichte Halt 3• 1 Es ist eine Tatsache, daß der Code civil ohne Konsultation des Volkes vorbereitet wurde. Die einzige Meinungsumfrage fand bei den Gerichten statt. Dabei gab es in dieser Zeit durchaus einen gewissen soziologischen Wissensdurst; so erstellte Volney (Oeuvres completes, 1821, Band 6, S. 383 ff.) im Jahre 1795 auf Verlangen der Regierung einen Fragebogen zum Gebrauch für Auslandsreisende in diplomatischen und kommerziellen Angelegenheiten, welcher Fragen über das Gerichtsverfahren und das Erbrecht (vor allem hinsichtlich der Folgen der gleichmäßigen Erbteilung) enthielt. 2 In seiner berühmten Schrift mit antinapoleonischem Akzent "Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft" (1814). Über die historische Rechtsschule s. u. S. 62. 3 Diese fanden in verschiedenen Zeitschriften ihren Niederschlag: die Revue de droit fran!;ais et etranger (Revue Foelix, 1834-1850), die Revue de legislation

1. Kcap.: Die Rechtssoziologie vor dem 20. Jahrhundert

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8. Auguste Comte Obwohl von ihm die Konstituierung besonderer Zweige der Soziologie kaum beabsichtigt war, so war doch sein Beitrag für die allgemeine Soziologie 1 zwangsläufig auch ein Beitrag zur Rechtssoziologie. Wenn er der letzteren dennoch fremd erscheint, so liegt das zweifellos daran, daß er im Ruf stand, allergisch gegen das Recht zu sein. Aber die berühmten Verneinungen, die man ihm vorwirft, scheinen eher das subjektive Recht ("der Mensch hat kein anderes Recht als dasjenige, seine Pflicht zu tun") als das objektive Recht zu betreffen, da das objektive Recht unter dem Namen bürgerliche Ordnung in seinem System stets gegenwärtig bleibt. Genau genommen ist die Haltung Comtes gegenüber dem Recht in zweifacher Weise soziologisch: 1. durch die Gesetzgebungsmethode (die Gesetze müssen aus der Erfahrung und nicht aus apriorischen Begriffen heraus geschaffen werden, daher nicht so wie bei den metaphysisch gesinnten Gesetzgebern des Jahres 1804) und 2. durch den Kern seiner Lehre (entgegen dem Atomismus des Code Napoleon muß den Kollektiverscheinungen der Primat zuerkannt werden). Diese für die damaligen Juristen ungewöhnliche gesellschaftliche Kritik des Code Napoleon überträgt sich auf einen organischen Familienbegriff und, konkreter, durch eine Verurteilung der Ehescheidung und eine Apologie der Testierfreiheit. Unter diesem Aspekt weist Auguste Comte eine gewisse Verwandtschaft mit de Bonald oder Joseph de Maistre auf und kündigt Le Play an 2 • et de jurisprudence (Revue Wolowski, 1835 - 1852; bemerkenswert für die Aufmerksamkeit, die sie den Beziehungen zwischen dem Recht und der Wirtschaft schenken wollte), die Revue historique de droit fran\;ais et etranger (Revue Laboulaye, 1855 - 1877). In jedem von diesen Organen fand sich ein Splitter des Meteors, den zuvor die Revue Themis dargestellt hatte (vgl. J. Bonnecase: La Themis, 1914), die von dem Franzosen Athanase Jourdan und dem Deutschen Warnkoenig begründet worden war. Die "Themis" war entschieden antiexegetisch und antidogmatisch und hatte so einige Vorahnungen von dem, was später die Rechtssoziologie sein würde (sie veröffentlichte im übrigen einige Artikel über historische Soziologie, so z. B. über die Ordalien, im 5. Band, S. 57 ff.). Es fällt leicht zu sagen, daß das Verdienst nach Montesquieu nicht mehr so groß war. Dabei wird aber nicht berücksichtigt, daß es inzwischen den Code Napoleon gegeben hatte und daß viel Mut dazu gehörte, diesen als ein bloßes historisches Dokument zu betrachten und ihn nicht für eine Gesetzesoffenbarung zu halten (vgl. Warnkoenig: Themis, Band 10, S. 407: " ... vermöge der vergleichenden Geschichte der alten und der modernen Gesetzgebungen wird man eines Tages die allgemeinen Gesetze der menschlichen Gesellschaften entdecken. "). 1 Vgl. Pierre Arnaud: Sociologie de Comte, 1969. 2 So erklärt sich die Beurteilung durch den polnischen (und sozialistischen) Soziologen Kelles-Krauz (1872 - 1905), wonach Comte, ohne sich ausdrücklich zum Katholizismus zu bekennen, "das konterrevolutionäre Vermächtnis der katholischen Kirche erfüllt habe". Dieses Urteil ist in jeder Hinsicht zu summarisch, aber es erhellt in vorzüglicher Weise die Zurückhaltung eines bedeutenden Teiles der Soziologie gegenüber Comte.

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1. Teil: Geschichte der Rechtssoziologie

9. Le Play

Er hat immer seine Getreuen gehabt!, aber durch die Feindseligkeit Durkheims ist er in Mißkredit geraten. Er interessiert uns hier in sehr unmittelbarer Weise. Seine Soziologie befaßte sich nämlich mit Institutionen wie der Familie, der Erbfolge und dem Testament, die nicht nur dem Recht als solchem, sondern sogar dem Zivilrecht angehören. Darüber hinaus bildete diese Soziologie die Grundlage für Folgerungen für die Gesetzgebung, worin eine der klarsten Andeutungen für eine sowohl theoretische als auch angewandte Rechtssoziologie gesehen werden kann. Drei Aspekte dieses Werkes verdienen unsere Aufmerksamkeit: a) Die Methode2. Es handelt sich im wesentlichen um die monographische Erhebungstechnik3 , der die Durkheimschüler vorgeworfen haben, eine mikroskopische Soziographie zu sein (worunter zu viel Deskription, unter Verwendung eines zu kleinen Maßstabes und daher zu viele unwesentliche Einzelheiten zu verstehen ist). Dieses Urteil ist inzwischen revidiert worden. Le Play war seiner Ausbildung nach Ingenieur und darüber hinaus in der Industrie sehr erfolgreich. Er unternahm viele Reisen und hatte einen realistischen, keineswegs einen literarisch ausgerichteten Verstand. Die Serie von Familienmonographien, die er uns hinterlassen hat (sowohl über Arbeiter- als auch über Bauernfamilien4 ), bleibt vorbildlich als Beispiel einer Forschungstätigkeit, die auch heute noch, trotz der Entwicklung der quantitativen Methoden, ihren Wert behält. b) Die Lehre 5 • Es handelt sich um eine traditionalistische, ja sogar eine reaktionäre Theorie in bezug auf die liberale und individualistische Philosophie des Code Napoleon, aber auch im Vergleich mit den verschiedenen späteren sozialistischen Strömungen, denn wenn Le Play eine Sozialreform erstrebt (das ist der Titel eines seiner Werke6 ), so will er diese doch auf dem Wege einer Reform der Moral erreichen und diese wiederum erwartet er in einer autoritären Umbildung der Familiengemeinschaft. So kommt er zu einer klaren Forderung an den Gesetzgeber: um die väterliche Gewalt voll wiederherzustellen, muß die uni über F. Le Play (1806 -1882) vgl. Aubertin: Frederic Le Play, 1906; Centenaire de la Societe d'Eeonomie et de Scienees sociales, Reeueil d'Etudes soeiales a la memoire de F. Le Play, Paris 1956. 2 Vgl. Michael Z. Brooke: Le Play: Engineer and social scientist, 1970. 3 Vgl. u. S. 196. 4 Les Ouvriers europeens, 1. Auflage 1855, 2. Auflage 1877 (6 Bände); L'Organisation de la famille selon le vrai modele signale par l'histoire de toutes les raees et de tous les temps, 1. Auflage 1871, 4. Auflage 1895. 5 Andree Michel: Les eadres sociaux de la doetrine morale de F. Le Play, C.I.S.1963, S. 47 ff. I La Reforme sociale en Franee, deduite de l'observation eomparee des peuples europeens, 1. Auflage 1864,2. Auflage 1878 (4 Bände).

1. Kap.: Die Rechtssoziologie vor dem 20. J.ahrhundert

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begrenzte Testierfreiheit eingeführt werden7 • Den Schlüssel für jede Sozial reform sieht Le Play in dem, was er für eine Rückkehr zum Dekalog hält, und zwar aus religiöser überzeugung, als Katholik8 (von dieser Seite aus wurde ihm auch die größte Beachtung zuteil), aber auch auf der Grundlage von empirischen Feststellungen, da für ihn bewiesen ist, daß das Erbrecht des Code Napoleon in seiner Beschränkung der Rechte des Familienvaters und der damit einhergehenden Zerstückelung der Bauernhöfe durch das Gesetz der gleichmäßigen Erbteilung die Familie auflöst. e) Der Einfluß. Le Play hat eine Schule, und zwar die der Sozialreform 9 , begründet, die so fest gefügt war, daß sie sogar eine Abspaltung in Gestalt der "Sozialwissenschaftlichen Schule"lO erlebte. Darüber hinaus haben seine Ideen in diffuser Weise in den konservativen politischen und intellektuellen Kreisen Frankreichs fortgewirkt (mit besonderem Erfolg in der Zeit vor dem 2. Weltkrieg, von Vichy ganz zu schweigen). Im Jahre 1938 hatten sie sogar Einfluß auf die Gesetzgebung, denn anläßlich einer Reform des Erbrechts l l schränkte der französische Gesetzgeber erstmals das Prinzip der Gleichheit der Erben ein und wandte sich damit von der Ideologie des Code eivil ab. Von hier aus läßt sich leicht der Weg über eine Reihe von Gesetzesinitiativen, die zwar erfolglos waren, aber dennoch den Boden bereitet haben, zu den Gedanken Le Plays zurückverfolgen. 10. Die deutsche Rechtslehre im 19. Jahrhundert

Da es die deutschen Juristen nicht mit einem rational ausgeformten, kodifizierten Recht, sondern mit einem solchen zu tun hatten, das noch voll der historischen Entwicklung ausgesetzt war, waren sie viel freier 7 Proudhon, der Le Play nicht sehr schätzte, übertraf ihn sogar noch in einem Punkt, indem er der Enterbung alle möglichen sozialen und moralischen Tugenden zuerkannte (vgl. La theorie des conflits de famille chez Proudhon, in Melanges Gurvitch, 1968, S. 377). 8 Allerdings hindert ihn seine Bewunderung für das Erbrecht des Common Law daran, den Protestantismus in seine Verurteilung des Individualismus aufzunehmen. Vgl. von einem Schüler, der ihm den Rücken zugekehrt hat, E. Demolins, das berühmte "A quoi tient la superiorite des Anglo-Saxons?" 9 Der getreulichste seiner Schüler war zweifellos Cheysson, dem er die Fortsetzung einiger seiner Untersuchungen anvertraut hatte. 10 Nach E. Demolins und P. Bureau (von letzterem: Introduction a la methode sociologique, 1923) ist für die Sozial wissenschaftliche Schule (L'Ecole de la Science sociale) auf methodologischem Gebiet eine Bevorzugung der Klassifikation gegenüber der Monographie und eine Betonung des Einflusses der geographischen Faktoren charakteristisch. 11 Inzwischen mehrfach überarbeitet und vielleicht ganz in Frage gestellt durch das Gesetz vom 3. Juli 1971 (betr. Pflichtteilsanrechnung, Einschränkung der unentgeltlichen Zuwendungen und Aufteilung des Vermögens unter den Kindern).

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1. Teil: Geschichte der Rechtssoziologie

als ihre französischen Kollegen, der Soziologie entgegen zu gehen. Zwei dieser Begegnungen sind berühmt geworden: a) Im ersten Drittel des vorigen Jahrhunderts war es die historische Rechtsschule mit ihrem Begründer Friedrich earl von Savigny an der Spitze. Die bekanntesten Thesen dieser Schule haben einen soziologischen Beiklang: das Recht entsteht nicht in freier Willensentscheidung des Machthabers, sondern wird organisch durch das Wirken des Volksgeistes ausgebildet; wegen der Unterschiedlichkeit der Nationen ist auch das Recht zwangsläufig verschieden (die historische Rechtsschule steht damit der Romantik insoweit nahe, als sie wie diese den Universalismus der Klassiker bekämpft); man darf die Rechtserscheinungen nicht von den nationalen, politischen, sittlichen und vor allem den sprachlichen Phänomenen trennen (Savigny scheint das totale Sozial phänomen im Sinne von Mauss ebenso wie die Analogie zwischen dem Rechtlichen und dem Sprachlichen vorherzuahnen 1• Beim Begriff des Volksgeistes 2 , der dem Recht Kraft und Leben verleiht, fühlt man sich bemüßigt, an das Kollektivbewußtsein im Sinne Durkheims zu denken. Es kann sich aber auch ganz einfach um die "rechtliche überzeugung" gemäß den Gewohnheitsrechtstheorien handeln). Eine nähere Betrachtung der Aussagen der historischen Rechtsschule verlief jedoch für die Soziologen desillusionierend. Angesichts des Begriffes des Volksgeistes dachten sie zuerst, daß die Hauptrolle dem Volk zukam, wenn auch nicht dem gemeinen Volk (im Gegensatz zur Aristokratie, ja sogar zur Bourgeoisie), so doch der breiten Masse der rechtlichen Laien (im Gegensatz zu den Juristen). Aber unter dem Begriff Volk verbarg sich vielmehr der Begriff der Nation im nationalistischen Sinne, mit den an der Spitze befindlichen Feudalherren und den Juristen als den berufenen Interpreten des Volksgeistes 3 • Dies erklärt auch, weshalb trotz einiger wesentlicher Gedanken die soziologische Bilanz der Schule ziemlich mager ist. Dazu trägt fernerhin bei, daß Savignys römischrechtliche Ausbildung ihn in einen unhaltbaren Widerspruch brachte: er bemühte sich nämlich hartnäckig, das römische Recht als das nationale deutsche Recht darzustellen, wo es doch eher soziologischer Denkweise entsprochen hätte, den usus hodiernus pandectarum (das damals in Deutschland gültige römische Recht) als eine Erscheinung der Rechtsakkulturation und die Rezeption des römischen Rechts im 15. Jahrhundert als eine Vergewaltigung des germanischen Volksrechtes anzusehen4 • Vgl. S. 19 Anm. 2 und S. 78. Dber die Vorgeschichte dieses Begriffes bei Hegel vgl. S. Brie: Der Volksgeist bei Hegel und in der historischen Rechtsschule, Leipzig 1909. 3 Vgl. Krystufek: La querelle entre Savigny et Thibaut, R.H.D., 1966, S. 59 ff., der die gesamte feudalistische Reaktion ans Licht bringt, die sich hinter der Kritik an einer Kodifikation im französischen Stil verbarg. 4 Vgl. S. 153 - 161 über die Akkulturation und S. 153 Anm. 2 über die Rezeptionen. 1

2

1. Kap.: Die Rechtssoziologie vor dem 20. J,ahrhundert

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b) Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts war es das Wirken von Jhering, an das wir hier denken müssen. Jhering war wie Savigny5 Römischrechtier, jedoch anders als dieser eine außerordentlich schillernde Persönlichkeit. Als Soziologe kann er insoweit angesehen werden, als er die vergleichende Methode anwendet; so erlauben ihm z. B. die Fortschritte der Ethnologie, das römische Recht in die Gesamtheit der indo-europäischen Rechte einzuordnen. Aber er verachtet auch das Philosphieren nicht (in amateurhafter Weise, wie seine Kritiker einwerfen), und dann scheint er der Soziologie den Rücken zuzukehren, denn er preist die Energie des Individuums und das Wirken des Willens bei der Rechtsschöpfung, den Willen der Vertragspartner, der Parteien und der Kämpfer ums Recht (derjenigen, die für das objektive Recht und für ihre subjektiven Rechte kämpfen). Ein wirklicher Soziologe hätte doch wohl nach der herkömmlichen Auffassung den unpersönlichen Triebkräften in der Gesellschaft mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Es ist hierbei jedoch zu beachten, daß ein individualpsychologisches Phänomen durch seine Vervielfältigung ein solches der Sozialpsychologie wird und in dieser Eigenschaft in einen allgemeinen Gesellschaftsüberblick eingehen kann. Darüber hinaus beachtet er nicht den statischen Aspekt des Willens, sondern den Willen im Kampf, ferner den Interessenkonfiikt sowie den Widerstreit der Kräfte. Es findet sich bei ihm sowohl etwas von Darwin6 (der Kampf ums Recht scheint dem "struggle for life" nachgebildet zu sein) als auch etwas von Bismarck (das Recht ist die Politik der Stärke). Das reicht noch nicht aus, um aus ihm einen Soziologen zu machen. Aber sein klarer Realismus war zumindest soziologisch fruchtbar, denn er zeigte den Juristen eine gewisse Fiktivität der begrifflichen Konstruktionen und gewöhnte sie daran, die beteiligten Interessen zu berücksichtigen7 • Dieser Realismus ist im übrigen nicht pessimistisch. Bei Jhering herrscht eine Art Rechtsvitalismus; das Recht ist ein Ausschnitt des Lebens, und zwar des gesunden Lebens, es ist mit dem Alltagsleben 5 In der Sache war er anderer Auffassung. Es war lange eine klassische übung in den Rechtsfakultäten, beide Besitztheorien einander gegenüberzustellen. Ein scharfsinniger Analytiker (Hernandez Gil: La funci6n social de la posessi6n, ensayo de teorizaci6n socio16gicojuridica, Madrid 1969, S. 22 ff.) stellt mit Recht fest, daß von diesen beiden Theorien nicht diejenige die soziologischere ist, an die man zuerst denkt, denn indem er dem Besitz nur die Funktion der Eigentumsvermutung zuweist, unterschlägt Jhering die soziale Funktion des Besitzschutzes, während Savigny diese betont (Gewährleistung des Besitzes sichert den öffentlichen Frieden) und den faktischen Gehalt dieser Institution besser zum Ausdruck bringt (der Besitz ist ein faktisches Recht, vgl. u. S. 281). S Vgl. P. CoulombeI: Force et but dans le droit selon la pensee de Jhering, R.T.D.C., 1957, S. 609 ff. 7 Dies war die Ablehnung der Begriffsjurisprudenz und der Beginn der Interessenjurisprudenz, die eine nachfolgende Juristengeneration, die Tübinger Schule, in einer Auslegungsmethode systematisierte, welche man für soziologisch gehalten hat (vgl. u. S. 264).

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1. Teil: Gescl1icllJte der Rechtssoziologie

verbunden. Bei einer derartigen Suche nach dem Recht im Alltäglichen stößt man zwangsläufig auf die Sitten und das Infrarechtliche. Es ist ein soziologisches Verdienst, dieses rechtliche Halbdunkel erforscht zu habens. 11. Der englische Empirismus

Die drei hier behandelten Autoren kann man nicht in einer Schule zusammenfassen. So wie sie in verschiedenen Zeiten lebten und eine verschiedene Ausbildung genossen, so hoben sie sich auch gegeneinander ab. Auch die Aufmerksamkeit, die sie dem Recht schenkten, war sehr unterschiedlich, desgleichen ihr soziologisches Interesse. Sie waren indessen immer eher empirisch als theoretisch ausgerichtet, woran viele erkennen werden, daß sie Engländer waren. a) Bentham. Er ist als Philosoph des Utilitarismus bekannt!. Bei der Anwendung seiner Philosophie auf die Zivil- und Strafrechtsgesetzgebung (so lautet der Titel einer seiner rechtlichen Abhandlungen in der französischen übersetzung) stieß er auf eines der Probleme der Rechtssoziologie. In der Tat ergibt die der utilitaristischen Philosophie entsprechende Gleichsetzung des Gerechten mit dem Nützlichen einen Weg von der Faktizität zur Normativität, von der Tatsachenfeststellung zur Norm, also genau das was die Gesetzgebungssoziologie zu erreichen sucht2 • Seine optimistische Rechtsauffassung erleichterte ihm ansonsten diesen übergang, da er im Recht nur Gedanken von Lust, überfiuß und Sicherheit findet. Aber Bentham kann die Rechtssoziologen auch noch durch alles, was er über die Gesetzgebung als Kunst geschrieben hat, interessieren. So erkennt er das Problem der Akkulturation des Rechts. Er formuliert auch eine Hypothese betreffs der Einführung des englischen Rechtssystems in Bengalen (Indien hat viel dazu beigetragen, in den englischen Juristen ein soziologisches Bewußtsein zu erwecken). Hierzu arbeitete er eine ganze Reihe pragmatischer Grundsätze aus 3 • Da für ihn die Zweckmäßigkeit meßbar ist, ist auch die dieses Prinzip als Richtschnur verwendende Gesetzgebungskunst quantifizierbar. Bentham hat die Einführung eines 8 Dieses Verdienst ist fast unbeachtet geblieben, weil es vor allem in Werken geringerer Bedeutung seinen Ausdruck fand, wie etwa in "Die Jurisprudenz des täglichen Lebens", 1870 - 1880 (vgl. u. S. 128). 1 über Bentham (1748 - 1832) vgl. El Shakankiri: La Philosophie juridique de Jeremy Bentham, Diss. Paris 1969. Bentham war auf dem Kontinent schon sehr früh durch die französische Ausgabe des Genfers Etienne Dumont bekannt: Traites de legislation civile et penale, 1. Auflage 1802,2. Auflage 1820. 2 Vgl. u. S. 273 ff. El Shakankari spricht sehr anschaulich von der Benthamschen Philosophie als einer in den Imperativ gesetzten ökonomischen Konzeption. 3 Traite de legislation, 1820, Band 3, S. 117. Durch die Hand Macaulays wirkte Bentham noch posthum an der Gesetzgebung für Indien mit.

1. ~ap.: Die Rechtssoziologie vor dem 20. J,ahrhundert

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Gesetzes nach dieser Methode studiert. Vom abstrakten Vorteil der Reform muß man die dadurch hervorgerufene Unzufriedenheit abziehen (womit sich die meisten Gesetzgeber nicht hinreichend befassen). Diese Unzufriedenheit wiederum kann an Hand verschiedener Kriterien, wie der Zahl der Unzufriedenen, dem Grad ihrer Macht, der Stärke des Mißfallens bei jedem einzelnen und nicht zuletzt der Dauer dieses Mißvergnügens abgeschätzt werden4 • Wir haben es hier mit einer richtigen Gesetzgebungsarithmetik auf sozialpsychologischer Grundlage zu tun. b) Maine. Sir Henry Maine, in Frankreich eher unter dem Namen Sumner Maine bekannt5 , verband eine Ausbildung als Historiker des englischen Rechts mit einer als höherer Kolonialbeamter erworbenen praktischen Erfahrung des indischen Rechts. Dieser zweifachen Erkenntnisgrundlage verdankte er die vergleichende Methode und gilt mit Recht als einer der Begründer der Rechtsvergleichung. Aber dies ist noch nicht alles, denn da er sowohl örtliche als auch zeitliche Verschiedenheiten betrachtete, mußte er zwangsläufig auf den Begriff der lebenden Vergangenheit und die Anfänge der Rechtsethnologie stoßen6 • Die Rechtssoziologen beanspruchen um so mehr Sumner Maine als einen ihrer Vorläufer, als er sich offen zum Evolutionismus bekannte. Zweifellos sieht er in der Evolution einen langsamen, allmählichen, gewohnheitsmäßigen Prozeß, mit anderen Worten, eine Entwicklung im angelsächsischen Stil, was erklärt, weshalb sein wissenschaftlicher Evolutionismus paradoxerweise auf die praktische Forderung nach einer konservativen Politik ausmünden konnte. In seinen Augen beruht dies auf der unleugbaren Stabilität der menschlichen Natur7 , die zwar nicht die Veränderungen der Gesellschaft und damit des Rechts verhindert, aber doch diesen einen Widerstand entgegensetzt, welcher ein genauso bedeutsames Phänomen wie die Veränderung selbst ist. Nicht nur in seiner Eigenschaft als Historiker und durch das Studium der archaischen Rechte, sondern auch durch den Einfluß seines Zeitgenossen Darwin ist er Evolutionist geworden, was sich in einem materialistischen und deterministischen Beiklang äußert. Seiner Auffassung nach ist die Entwicklung der Rechtssysteme von allgemeinen Tendenzen, wenn nicht sogar von streng wissenschaftlichen Gesetzen beherrscht. Er selbst hat eine dieser Tendenzen festgestellt, nämlich den übergang vom Status zum Kontrakt, und die Nachwelt hat hieraus das Mainesche Gesetz gemacht 8 • Traite de legislation, 1820, Band 3, S. 146. über Henry Sumner Maine (1822 - 1888) vgl. Gurvitch, 1940, S. 65. 6 Vgl. Jean Poirier: Histoire de l'ethnologie, 1969, S. 52. 7 Er warf dem "Geist der Gesetze" vor, diese unterschätzt zu haben. Vgl. Ancient Law, 5. Kap. (scharfsinnige Kritik am Vorgehen Montesquieus). B über dieses Gesetz vgl. S. 243 f. 4

5

5 Carbonnier

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1. Teil: Geschichte der Rechtssoziologie

Dies ist nicht erstaunlich, denn das Werk von Sumner Maine erlebte einen anhaltenden Erfolg, und zwar nicht nur bei den Soziologen, sondern auch bei den Juristen, nicht nur in England, sondern auch in Frankreich. Seine rasch ins Französische übersetzten Bücher9 versorgten in Frankreich alle Zivilrechts autoren, die Doktoranden inbegriffen, ungefähr bis zum Jahre 1914 mit ethnologischen Betrachtungen über die Familie, den Vertrag, das Eigentum und die Erbfolge. So verbreitete sich in der französischen Rechtslehre ein neues Bewußtsein von der Relativität des Rechts, welches nicht mehr der direkten Gegenüberstellung der modernen mit den historischen Institutionen, sondern dem Gefühl, daß die heutigen Institutionen sich aus den früheren in stetem Wandel herausgebildet haben, entsprang. Dies war eine gute Vorbereitung für die Aufnahme der Lehren Durkheims. c) Spencer. Er war Utilitarist wie Bentham und Evolutionist wie Maine, aber in beiden Richtungen war sein Denken sehr viel ausgeprägter soziologisch als bei diesen10 • Dafür sind seine Beziehungen zum Recht weniger offensichtlich. Gewiß ordnet er den Richtern eine eigenständige Aufgabe in seiner (in der Nachfolge von Aristoteles und anderen konstruierten) Analogiebildung zwischen der Gesellschaft und einem Einzelorganismus zu, indem er sie zusammen mit den Soldaten zur äußeren Hautschicht (d. h. zu den Organen der Gefahrenabwehr) zählt. Es sind jedoch vor allem Detailbetrachtungen, welche die Rechtssoziologie in seinem Werk findet, so z. B. seine Gesetzestypologie l l und seine außerordentlich geistreichen psychologischen Analysen 12 des Urzustandes des Vorherrschens der Unentgeltlichkeit (darin ist schon, vor Mauss, die Hypothese, wonach die Schenkung die ursprüngliche Form des Austausches ist, enthalten). 12. Marx und die Marxisten

Wenn das Christentum wirklich seine Rechtssoziologie hätte, wäre es unnötig und im Grunde wenig wissenschaftlich, danach zu trachten, sie g Die 4. englische Auflage des Hauptwerkes "Ancient Law" (1. Auflage 1861) ist 1874 unter dem etwas irreführenden Titel "L'Ancien Droit" (Das ehemalige Recht) in der übersetzung von G. CourceHe-SeneuiZ erschienen; angesichts seiner Bezüge zur Geschichte der Urgesellschaft und den modernen Gedanken wäre es besser gewesen, von archaischem Recht zu sprechen. Das Werk "Lecture on the early history of institutions" (1875) ist 1880 von Durieu de Leyritz unter dem Titel "Etudes sur l'histoire des institutions primitives" übersetzt worden. Die "Dissertations on early law and custom" (1883) erschienen 1884 in einer anonymen übersetzung unter dem Titel "Etudes sur l'ancien droit et la coutume primitive". 10 über Herbert Spencer (1820 - 1903) vgl. DeZ Vecchio: Philosophie du droit, 1953, S. 193. U Vgl. R. Treves: Sociologia deI diritto, 1969 - 1970, S. 55 ff. 12 Principes de sociologie, 4. Teil, 4. Kapitel.

1. Kap.: Die Rechtssoziologie vor dem 20. J,ahrhundert

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von außen einer Prüfung zu unterwerfen. Der Marxismus hat seine Rechtssoziologie und hält sie unerbittlich den bürgerlichen Rechtssoziologien entgegen. Wir halten es für angebracht, uns in diesem Zusammenhang auf einige notwendigerweise oberflächliche Bemerkungen zu beschränken. a) Karl Marx. Es gibt im Werk von Marx 1 eine Menge von Detailüberlegungen, ja sogar von sekundären Theorien, die auf der Beobachtung von sozialen Tatbeständen beruhen sowie das Recht betreffen und damit in ganz natürlicher Weise Allgemeingut der Rechtssoziologie geworden sind. Man kann annehmen, daß sie in Verbindung mit der allgemeinen Philosophie des Marxismus stehen, aber da sie dort mehr dem Hintergrund angehören, lassen sie sich leichter herausgreifen. Hierzu gehört z. B. was Marx, und zwar der junge Marx, über "die Lage der Frau in den verschiedenen Gesellschaften als Maßstab für das allgemeine Kulturniveau" geschrieben hat2 , sowie seine Bemerkungen über den Hypothekarkredit 3 und das Mietrecht4 an Hand der englischen oder französischen Erfahrungen aus seiner Zeit. Sei es, daß es sich um anregende Hypothesen oder um historische Feststellungen handelt, es ist nicht nötig, Marxist zu sein, um hieraus Nutzen für eine Soziologie des Paares, des Kredites oder des Mietvertrages ziehen zu können. Aber wenn der Marxismus eine Rechtssoziologie besitzt, genauer, wenn er eine ist, so ist er dies durch drei seiner Grundthesen, die im übrigen zusammenhängen, und zwar den historischen Materialismus, den Klassenkampf und das

Absterben des Staates.

1. Der historische Materialismus 5• Die allgemeine Tragweite dieser These ist bekannt. Die Geschichte wird durch die materiellen Produktionsverhältnisse bestimmt. Die Produktivkräfte (Natur, Erzeugnisse, Werkzeuge, Arbeitskraft), d. h. die ökonomischen Gegebenheiten, welche den sozialen Unterbau bilden, determinieren das Bewußtsein, das Denken und die Ideologien, welche den überbau ausmachen. Das Recht gehört zum überbau 6 und ist deshalb in seiner historischen Entwicklung abhängig vom Wandel der Produktionsverhältnisse. So ist die Rechtssoziologie des Marxismus durch drei Dinge, durch Evolutionismus, Determinismus und Materialismus gekennzeichnet. Man muß hinzufügen, daß 1 über das Werk von Karl Marx (1818 - 1883) in seinen Beziehungen zur Soziologie vgl. z. B. Rubel: Annee sociologique, 1958, S. 229 ff.; G. Mury, ibo 1961, S. 228 ff.; in seinen Beziehungen zum Recht; Lottig: Marx und das Recht, 1961; Stoyanovitch: Marxisme et Droit, 1964; und den Band der A.P.D., 1967 (Marx et le droit moderne). 2 Les manuscrits de 1844, Ausgabe Bottigelli (1962), S. 86. 3 Les luttes de classe en France, II!. • Les manuscrits de 1844, S. 101 ff. 5 Vgl. Sarotte: Le materialisme historique dans l'etude du droit, 1970. 6 Vgl. B. Edelman: Le fonctionnement de l'ideologie juridique, La Pensee, April 1971.

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1. Teil: Ges'chichte der Rechtssoziologie

Marx, wenn er an die Rechtsinstitutionen denkt, das Eigentumsrecht, die Zusammenfassung aller Rechte, im Auge hat. 2. Der Klassenkampf. Wenn das Recht einen homogenen Unterbau als Grundlage hätte, wäre seine Entwicklung harmonisch und es würde ständig die von der optimistischen Rechtsphilosophie beschriebene friedliche Ordnung aufweisen. Aber der Unterbau ist durch die Klassenkämpfe, die sich im Recht widerspiegeln, entzweit. Das Recht drückt nur die Interessen und den Willen der herrschenden Klasse und keineswegs der gesamten Gesellschaft aus; in bürgerlichen Gesellschaften ist es die Projektion der kapitalistischen Herrschaft7, wohingegen es das Instrument für die Diktatur des Proletariats wird, sobald dieses auf revolutionärem Wege die Macht erringt. Aber dabei handelt es sich natürlich nur um die übergangsphase, und man könnte meinen, daß das Verschwinden der sozialen Klassen in einer mit sich selbst versöhnten Menschheit mit dem Erscheinen eines Rechts einhergeht, das endlich der Ausdruck des allgemeinen Interesses ist. Doch an dieser Stelle greift die dritte These ein. 3. Das Absterben des StaatesB. Die voll entwickelte kommunistische Gesellschaft der Zukunft braucht keinen Staat mehr; die Herrschaft über die Menschen wird ersetzt durch die Herrschaft über die Sachen. Die Vollendung des Kommunismus bedeutet somit ein allmähliches Untergehen der Autorität. Das Ideal ist jedoch keine Anarchie, sondern eine Ordnung, die sich im Grenzfall allein durch die Macht der Vernunft verwirklicht. Es handelt sich hierbei um eine Ordnung ohne Zwang und ohne Unterscheidung zwischen Normerzwingungsstab und Normunterworfenen, was mit anderen Worten beinhaltet, daß diese Ordnung nicht mehr juristisch ist, und daß das Absterben des Staates die Auflösung des Rechts mit sich bringt. Marx scheint in seinem theologischen Wissen ein wenig die Idee von Luther wiedergefunden zu haben, wonach vom Recht und von den Juristen nichts Gutes zu erwarten ist. b) Die Marxisten. Mehrere Schüler von Marx 9 haben seine Rechtstheorie aufgegriffen und Erläuterungen, Verfeinerungen und vielleicht auch Veränderungen beigesteuert. 7 Manifeste du parti communiste (1847), II ("Euer Recht ist nur der zum Gesetz erhobene Wille eurer Klasse, dessen Inhalt von den materiellen Bedingungen eurer Klassenexistenz abhängt"). 8 Vgl. G. Lyon-Caen: Mise au point sur le deperissement de l'Etat, A.P.D., 1963, S. 115 ff.; Stoyanovitch: La theorie marxiste du deperissement de l'Etat et du droit, A.P.D., 1963, S. 125 ff. g Friedrich Engels ist mehr als ein Schüler. Er hat ein in mancher Hinsicht eigenständiges rechtssoziologisches Werk hinterlassen: über den Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates (1884). Indem er sich auf die Arbeiten der Ethnologen seiner Zeit stützt (vor allem auf Ancient Society von Lewis Morgan, 1877), liefert uns Engels den Prototyp einer evolutionistischen Gattung, die auch heute noch praktiziert wird. Zuerst wird gezeigt, daß eine Rechtsinstitution sich seit den Urzeiten grundlegend gewandelt hat, und hier-

1. Kap.: Die Rechtssoziologie vor dem 20. Jahrhundert

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1. Es entsprach nur dem gesunden Menschenverstand, die Unnachgiebigkeit einiger Äußerungen von Marx, die dieser wohl selbst nicht wörtlich verstanden wissen wollte, abzuschwächen. Genausowenig wie Theodule Ribot und die materialistischen Psychologen vom Ende des vorigen Jahrhunderts, als sie das Bewußtsein als Epiphänomen physiologischer Erscheinungen betrachteten, davon ausgingen, daß dieses keine praktische Wirkung habe, so wahrscheinlich ist es auch, daß Marx nicht geleugnet hätte, daß das Recht in gewisser Weise auf den ökonomischen Unterbau zurückwirken kann. Gerade dieser Aspekt einer gewissen gegenseitigen Beeinflussung wird von neueren Autoren gerne betont1o .

2. Der Beitrag von Karl Rennerll zur marxistischen Rechtssoziologie hat einen besonderen Charakter. Seine Hypothese, die teilweise den Thesen von Marx widerspricht, lautet, daß das Recht, der Rahmen der Rechtsinstitutionen, trotz Zugehörigkeit zum überbau von Natur aus eine gewisse Invarianz aufweist und somit unabhängig ist. Die Veränderungen der Wirtschaft brauchen sich nicht, zumindest nicht sofort, in Änderungen des Rechts zu übertragen. Als Beweis führt Renner das Eigentumsrecht, so wie er es zu seiner Zeit sieht, an. Diese Rechtsinstitution blieb ihrem Aufbau nach ein Individualrecht, während das entsprechende Wirtschaftsphänomen eine Kollektiverscheinung geworden war, und zwar von bei den Seiten her kollektiv: als Herrschaft einer Gesellschaft von Kapitalisten über eine Masse von Arbeitern. Im übrigen wirken bei ihm sowohl die wirtschaftlichen Vorgänge nicht auf das Recht ein als auch die Rechtserscheinungen nicht auf die Wirtschaft1 2 • Die wirtschaftliche Entwicklung vollzieht sich unter den Augen des Gesetzes aber nicht durch dieses. Es ist abwegig, die Verwirklichung des Sozialismus dank einer gesetzgeberischen Intervention zu erwarten 13 • aus wird dann die Schlußfolgerung gezogen, daß sie auch in der Zukunft raschem Wandel unterliege. über die Schnelligkeit dieser Rechtsänderung wird hierbei jedoch keine wissenschaftlich fundierte Antwort gegeben. 10 Vgl. z. B. Issa: Capitalisme et sociE~te anonyme en Egypte, Diss. Paris 1970: in seiner Einführung überträgt der Autor diejenige Lesart von Marx, die Althusser (vgl. vor allem Pour Marx, 1965) in die Sozialwissenschaften eingeführt hat, wonach die wirtschaftliche Dialektik niemals in Reinform wirkt. In seiner Arbeit wendet er sein Schema der gegenseitigen Beziehungen zwischen den wirtschaftlichen Kräften und dem Recht auf den Sonderfall der Aktiengesellschaften in Ägypten an, was ein sehr geeignetes Beispiel für die marxistische Analyse darstellt, so wie im übrigen viele andere Beispiele aus dem Handelsrech t. 11 Es ist durchaus erwähnenswert, daß der Sozialdemokrat Renner (1870 bis 1950) nach dem Ende des 2. Weltkrieges Präsident der Republik Österreich wurde. Sein Hauptwerk erschien in einer ersten Skizzierung in den "Marxstudien" von 1904 unter dem Titel "Die soziale Funktion der Rechtsinstitute". Er griff es 1929 unter einem anderen Titel wieder auf ("Die Rechtsinstitute des Privatrechts und ihre soziale Funktion"). 12 Rudolf Stammler (Wirtschaft und Recht, 1896) hatte dagegen die Auffassung vertreten, daß der wirtschaftliche und soziale Inhalt der Institutionen vom Recht abhängig sei.

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1. Teil: Geschi>chte der Rechtssoziologie

3. Wenn man entsprechend der reinen marxistischen Lehre annimmt, daß das Recht nichts als ein Ausdruck der Herrschaft einer Klasse ist, der kapitalistischen oder der Arbeiterklasse, je nach der historischen Entwicklung, so bleibt unbeantwortet, wie innerhalb desselben Rechtssystems Konflikte entstehen können. Auch in den kurzen Zeiträumen, in denen die Vorherrschaft noch schwankend ist, müßte das Rechtssystem monolithisch und in befriedetem Zustande sein (ein durch vollständige Niederwerfung des Gegners errungener Friede). Es ist nun aber eine Tatsache, daß es Konflikte gibt, sei es in der Grundform eines Rechtsstreites zwischen einzelnen Individuen oder sei es in der höheren Form einer Gesetzgebungskampagne. In der modernen marxistischen Theorie wird ein Versuch unternommen, dem Rechnung zu tragen l 4, indem unternommen wird, die Widersprüche aufzuzeigen, welche die herrschende Klasse trotz ihrer augenscheinlichen Interesseneinheit in gegensätzliche Richtungen aufteilen. So können in der kapitalistischen Gesellschaft die Monopolisten auf Grund der Konkurrenz miteinander im Kampfe befindlich sein. In der sozialistischen Gesellschaft können, obwohl objektiv die Klassengegensätze beseitigt sind, solche in der Psyche des Einzelnen entstehen, etwa wenn ein Arbeiter in seinem Verhalten als Familienvater innerlich zerrissen ist zwischen dem traditionellen und dem revolutionären Leitbild der Ehefrau (Hüterin des häuslichen Herdes oder Arbeitskameradin?). 13. Nietzsche Sein Denken erlebt nach wie vor einen kometenhaften Aufstieg 1 ; es beeinflußte sowohl die Nazi-Ideologie im Hitler-Deutschland als auch die seit den sechziger Jahren in fast allen Ländern festzustellende neue Blüte des Anarchismus. Es hat natürlich nur fragmentarische 2 und eher philosophische3 als soziologische Beziehungen zum Recht. Als Versuch, Nietzsches Beitrag zur Rechtssoziologie zu erfassen, ist es vielleicht gut, ihn mit Jhering zu vergleichen (mit dessen Werk er vertraut war). Beiden ist ein Gedanke gemeinsam, nämlich das Verhältnis des Rechts zum Leben. Aber für Jhering bedeutet dies, daß das Recht Teil 13 Dies widerspricht den Ansichten der Kathedersozialisten in Deutschland, wie etwa Menger, die an den Einfluß des Rechts glaubten. Es ist dieses gläubige Vertrauen in die Möglichkeit, die Wirtschaft durch Dekrete zu reglementieren, das Renner mit der Bezeichnung "Dekretinismus" belegte. t« Vgl. Monique und Roland Weyl: La Part du droit dans la realite et dans l'action, 1968. 1 über Friedrich Nietzsehe (1844 - 1900) im allgemeinen vgl. G. Deleuze: Nietzsche et la philosophie, 2. Auflage 1967. 2 Vgl. vor allem F. Mess: Nietzsche als Gesetzgeber, 1930. 3 Vgl. Maspetiol: Le droit et l'Etat chez Nietzsche, A.P.D., 1968, S. 357 ff. (Darstellung der verschiedenen Entwicklungsstufen im Denken Nietzsches); M. Villey: Nietzsche et le droit, A.P.D., 1970, S. 385 ff.

1. Kap.: Die Rechtssoziologie vor dem 20. Jahrhundert

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des Lebens ist und von Lebenskraft durchdrungen ist; es handelt sich bei ihm um einen optimistischen Vitalismus, für den es ein gesundes Recht gibt, das die Gesundheit der Gesellschaft bedeutet. Für Nietzsche dagegen ist das Recht (wie im übrigen der Geist selbst) ein Ausnahmezustand, denn das Leben vollzieht sich im wesentlichen durch Verletzungen und Gewalt, übertretungen und Zerstörungen. Für ihn ist allein schon die Vorstellung einer souveränen und allgemeinen Rechtsorganisation, die dahin tendiert, jeden Kampf zu ersticken, und einer Norm, die alle Einzelwillen als gleich ansieht, unvereinbar mit dem Leben, ein Faktor der Zersetzung, ein Symptom der Schlaffheit und ein ins Nichts führender Weg. So ist auch das Urteil Nietzsches über das Recht von Grund auf pessimistisch; das Recht ist ein übel, weil es gegebene Machtverhältnisse verewigen will und dadurch das Leben anhält. Zugleich ist auch der Staat ein übel, zumindest soweit er Rechtsstaat, d. h. liberal und demokratisch ist. Zu diesem Behufe läßt er es nicht an Schmähungen4 und an schwärmerischen Prophezeiungen5 fehlen.

Nietzsches Ansicht über den Vertrag hängt mit dieser Rechtsauffassung zusammen 6 • Er räumt ihm einen sehr hohen Platz ein, und zwar in einer von Richard Wagner und den Nibelungen inspirierten lyrischen Aufwallung, denn er sieht darin den rechtlichen Ausdruck der heroischen Werte des Willens und der Treue. Wie Wagner läßt er jedoch zu, daß der Mensch sich davon frei macht, da das Recht das Leben nicht aufhalten könne. Dies ist auch das Leitmotiv. Seine Theorie der Ehe ist gleichermaßen aristokratisch 7 , denn das Prinzip beinhaltet nicht nur Ungleichheit, sondern sogar grundlegende Feindschaft zwischen Mann und Frau, wobei die schöpferische Funktion von Natur aus allein dem Manne eigen ist. Die eigentliche Ehe (eventuell gemäßigt durch die Polygamie) sollte auf die Helden, auf diejenigen, die imstande sind, das "einer für beide" zu schaffen, beschränkt werden. Für die anderen sollte das Konkubinat (mit dem Verbot der Fortpflanzung) genügen. Etwas weiser fügte Nietzsche allerdings hinzu, daß es für dieses Problem im Grunde nur individuelle Lösungen gibt. Er wäre zweifellos nicht so weit gegangen, aus seiner Theorie Rechtsnormen abzuleiten. Die Idee des Eheverbots aus eugenischen Gründen war aber nun in die Welt gesetzt, und die Nürnberger Gesetze sollten sich ihrer eines Tages bemächtigen. Am vollsten hat sich der Pessimismus und der Rechtsnihilismus Nietz4 In "Menschliches-Allzumenschliches" (1878), bezeichnenderweise Voltaire gewidmet, dessen unter der Maske der Ironie verborgenen Rechtspessimismus wir bereits kennen gelernt haben (vgl. o. S. 55), findet er, daß das Recht nur dank dem Glauben der Sklavenseelen Macht und Dauer hat. 5 Gott ist tot. Es gibt nur noch das Wertregister, das der Mensch sich selbst im Aufsprung seines Lebensinteresses und im Vollbesitz seiner Freiheit aufgestellt hat ... S Vgl. Mess, op. cit. S. 39 ff. 7 Vgl. Mess, op. cit. S. 78 ff.

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1. Teil: Ces-chimte der IOOchtssoziologie

sches wohl hinsichtlich des Strafrechts entfaltet8 • Die klassischen Rechtfertigungen der Strafbarkeit werden mit Akribie gesichtet, vor allem die funktionelle Rechtfertigung (der von Jhering so geschätzte Zweck im Recht) und ihre Nichtigkeit wird bloßgelegt: die Strafe hat den Schuldigen niemals besser gemacht, sie macht ihn nur raffinierter und damit noch schlechter. Was ist die Strafe aber dann? Sie ist die Vergeistigung und Deifizierung der Grausamkeit und hat derart feierliche Allüren ...

8 In "Die Morgenröte" (1881) und in "Zur Genealogie der Moral" (1887), 2. Abhandlung.

Zweites Kapitel

Die Rechtssoziologie im 20. Jahrhundert 1. Durkheim und seine Schule Unter Soziologen wird darüber diskutiert, ob die Soziologie Comte oder Durkheim mehr an Wahrheiten oder an Irrtümern verdankt und welcher der beiden schließlich der eigentliche Begründer war. Für die Rechtssoziologie dagegen ist es nicht zweifelhaft, daß sie zu Durkheim und auch zu dessen Schule unmittelbarere Beziehungen als zu Comte hat. a) Emile Durkheim1 • Obwohl er von rechts und links sehr angegriffen wurde, zu Beginn dieses Jahrhunderts wegen des Verdachts des Sozialismus oder des Materialismus und in neuerer Zeit wegen mathematischer Unzulänglichkeit oder wegen mangelnden politischen Engagements, ist er nach wie vor von großer Bedeutung. Dies macht sich selbst bei denjenigen, die ihn ablehnen, in diffuser Weise durch den Gebrauch gewisser Begriffe und die Verwendung bestimmter Regeln bemerkbar.

Durkheim ist heutzutage zu einem großen Teil in dieser diffusen Weise in der französischen und nichtfranzösischen Rechtssoziologie gegenwärtig2 • Diese verwendet laufend, ohne sich dessen immer bewußt zu sein, einen von Durkheim stammenden Begriffsapparat, denn er war es, der Begriffe wie sozialer Zwang, kollektives (Rechts-)Bewußtsein, (Rechts-) Institution und (Rechts-) System gebildet oder zumindest in bestimmter Weise ausgeprägt hat. Vor allem aber muß hier an den Grundsatz der Objektivität, die erste der "Regeln der soziologischen Methode"3 gedacht werden. Wenn auch das Prinzip, das Recht als sozialen Tatbestand wie eine Sache zu behandeln, sowohl die naturrechtlich als auch die positivistisch orientierten Juristen in Harnisch bringt, so ist es doch den Rechtssoziologen zur Gewohnheit geworden. Die Juristen ha1 über Durkheim (1858 - 1917) im allgemeinen vgl. G. Davy: Emile Durkheim, R.F.S., 1960, S. 3 ff.; J. Duvignaud: Durkheim, sa vie, son oeuvre, avec un expose de sa philosophie, 1965 und Introduction au Journal sociologique, 1969 (eine von Duvignaud besorgte Auswahl von Artikeln, die Durkheim in der Annee sociologique veröffentlicht hatte). 2 über die Stellung Durkheims in der Rechtssoziologie vgl. Gurvitch: 1940, S. 16 ff.; Suzanne Villeneuve: Durkheim, reflexions sur la methode et sur le droit, A.P.D., 1969, S. 237 ff. 3 Vgl. u. S. 165.

74

1.

Teil: Geschichte der Rechtssoziologie

ben von ihrem Standpunkt aus recht, denn das Recht als Gegenstand der Rechtswissenschaft ist keine Sache. Aber für die Rechtssoziologie ist der Grundsatz der Objektivität unerläßlich. Er ist dort sogar noch wesentlicher als in der allgemeinen Soziologie, denn bei den nichtrechtlichen Erscheinungen (die ethischen vielleicht ausgenommen) ist die Betrachtung von außen die natürlichste Haltung, während derjenige, der sein eigenes Rechtssystem studiert, ganz von selbst dazu neigt, sich in dieses hineinzuversetzen, und wenn er schon nicht darin Gesetzgeber und Reformator werden kann, so wird er doch zumindest zu dessen Interpret. Es bedurfte daher sehr wohl der Lehren Durkheims, um der Rechtssoziologie dieses entscheidende "von außen" einzugeben. Die Rechtssoziologie verdankt ihm jedoch nicht nur befruchtende Analogien, sondern auch eigene Beiträge, denn Durkheim interessierte sich unmittelbar für das Recht. Seine lateinische Dissertation behandelte Montesquieu, und in Bordeaux besuchte er das Hotel von Leon Duguit. Mehrere seiner berühmtesten Studien haben rechtliche, insbesondere strafrechtliche4 Themen zum Gegenstand, und unter seiner Leitung wurde die Rechtssoziologie ausdrücklich in die Zeitschrift "Annee sociologique"5 aufgenommen. Diese Öffnung zum Recht trug in starkem Maße zur Orientierung seiner Soziologie bei und bewirkte, daß diese im Grunde eher eine Soziologie der Institutionen, der Normen, Institutionen und Systeme, als eine Soziologie der Erscheinungen ist. Bezüglich der Methode ergab sich hieraus eher eine Soziologie von Statistiken als von Monographien und Bekenntnissen. Methodologisch ordnete er im übrigen den Rechtsnormen einen beispiellosen instrumentalen Wert zu. Für ihn waren sie wegen ihrer Allgemeinheit, Dauerhaftigkeit und Materialisierung sehr viel objektiver in der Lage, soziale Tatbestände zu indizieren, als beispielsweise Gefühle, Meinungen oder gar nichtrechtliche Verhaltensweisen dies vermocht hätten6 • Es ist hier nicht der Ort zu untersuchen, ob er sich nicht einer durch ein ganzes Jahrhundert von Legalismus und Exegese erzeugten Illussion hingab, als er eine beliebige Rechtsnorm ohne Rücksicht auf ihre Effektivität und ihre fallweise Konkretisierung durch die Gerichte für einen soziologischen Indikator ansah7 • « So z. B. in der Annee sociologique: La prohibition de l'inceste et ses origines (1896 - 1897, S. 1 ff.); Deux lois de l'evolution penale (1899 - 1900, S. 245 ff.); Note sur la sociologie criminelle et la statistique morale (1899 - 1900, S. 433 ff.); Note sur les systemes juridiques (1901 - 1902, S. 305); Sur l'organisation matrimoniale des societes australiennes (1903 - 1904, S. 118 ff.). Es ist wohl nicht nötig, daran zu erinnern, daß Le Suicide (1897) ebenfalls zahlreiche Beziehungen zum Strafrecht aufweist. 5 Vgl. A.S., 1969, S. 79 ff. 6 Les regles de la methode sociologique, 2. Kapitel, H, 3., S. 56 ff. 7 Zur Kritik der unter dem Einfluß der Rechtslehren des 19. Jahrhunderts den Rechtsnormen beigemessenen übertriebenen Bedeutung, sowohl bei Durkheim als auch bei Duguit, vgl. die Studie Sur le caractere primitif de la regle de droit, in Melanges Paul Roubier, 1961, Band 1, S. 109 ff.

2. Kap.: Die RechtssoZliologie im 20. Jahrhundert

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Da unsere Aufgabe an dieser Stelle nur die Einschätzung historischer Rollen ist, wollen wir uns mit dem Hinweis begnügen, daß die von Durkheim hergestellte Verbindung zwischen der Soziologie und dem Recht für die Konstituierung der Rechtssoziologie in Frankreich von entscheidender Bedeutung war. b) Die Durkheimschule. Mittels der von ihm gestifteten Schule, in der von dem allgemein praktizierten Grundsatz der Objektivität und dem gemeinsamen Interesse für das Studium der Institutionen abgesehen, allem Anschein nach sehr viel Freiheit herrschte, hat Durkheim eine rechts soziologische Tradition ins Leben gerufen. Besonders ins Auge fallend war diese Tradition auf dem Gebiet dessen, was man genetische Rechtslehre nennen kann und worunter die Erforschung primitiver Gesellschaften mit dem Ziele zu erfahren, wie sich die Rechtsinstitutionen gebildet und gewandelt haben, zu verstehen ist. Durkheim selbst hatte schon in gewichtiger Weise, wenn auch nur in der Form einer Sekundäranalyse8 , diese Art der Rechtsethnologie praktiziert, vor allem auf dem Gebiet der Familienstruktur und der Strafrechtssanktion. Das Werk seiner Schüler bestand darin, dem neue Gebiete hinzuzufügen: Paul Fauconnet die Haftung9 , Maurice Leenhardt die Persönlichkeit lO , sowie Marcel Mauss und Georges Davy die Schenkung, den Tausch und den Vertrag l l • Andere wiederum befaßten sich nicht mit einzelnen Institutionen,sondern mit historischen Bereichen: Louis Gernet mit der griechischen Antike 12 und Henri LevyBruhZ mit dem sehr alten römischen Recht 13 • Durkheim hatte seiner Rechtsethnologie den aus der Erbschaft des 19. Jahrhunderts (von Comte bis Maine und Spencer) stammenden Evolutionismus eingeprägt, und dieser Evolutionismus kennzeichnete auch mehr oder weniger 14 seine Schule. Dies könnte auch erklären, weshalb in unseren Tagen die Quelle 8 "Ohne das Quartier Latin zu verlassen" hat man manchmal gespottet. Hierzu muß jedoch gesagt werden, daß er das verwendete Material einer sehr scharfsinnigen und eingehenden Kritik unterwarf, und daß praktisch fast nur dem mit Unterlagen aus zweiter Hand arbeitenden Ethnologen die Anwendung der vergleichenden Methode möglich ist. 9 P. Fauconnet: La Responsabilite, etude de sociologie, 1920. 10 M. Leenhardt: Do Kamo, la personne et le mythe dans le monde melanesien, 1947. 11 M. Mauss: Essai sur le don, forme et raison de l'echange dans les societes archaiques, A.S. 1923 - 1924 (auch in dem posthumen Sammelband Sociologie et anthropologie, 1950, S. 143 ff.); G. Davy: La Foi juree, Etude sociologique du probli~me du contrat, 1922. 12 L. Gernet: Droit et societe dans la Grece ancienne, 1964; Anthropologie de la Grece antique, 1968. 13 H. Levy-Bruhl: Recherches sur les actions de la loi, 1960. 14 Eher weniger bei Marcel Mauss, der zweifellos, obwohl er ein Neffe Durkheims war, der originellste seiner Schüler war (über Mauss vgl. die Einführung von Cl. Levi-Strauss in dem posthumen Sammelband Sociologie et anthropologie).

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1. Teil: GeschiclJ:te der Rechtssoziologie

etwas versiegt zu sein scheint, denn die derzeitige Ethnologie bevorzugt die strukturalistische Methode und interessiert sich daher mehr für das statische Gleichgewicht des Rechts als für dessen Genese. 2. Die Rechtssoziologie der Kriminologen und Strafrechtler Der Weg zur Rechtssoziologie war für das Strafrecht leichter als für das Zivilrecht, da es mit der Kriminalität, einem weitgehend objektivierten Massenphänomen zu tun hat, das in bezug auf das Recht definiert ist und sei es auch nur in der Form der Verletzung von Rechtsnormen. Daher entstand auf diesem Gebiet auch eher Vertrautheit mit dem allgemeinen Begriff der objektiverfaßbaren, quantifizierbaren und kurzum der soziologischen Analyse zugänglichen Rechtserscheinung. In der Tat hat die Kriminologie im 19. Jahrhundert, vor allem gegen dessen Ende und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Einfluß auf die Soziologen ausgeübt, indem sie ihnen eine Art Vorgeschmack von der Rechtssoziologie verschaffte. Dieser Einfluß äußerte sich allerdings nicht immer in derselben Richtung, denn es gab verschiedene Tendenzen in der Kriminologie 1 • a) Die italienische Schule mit Ferri. In der berühmten "Scuola positiva" war nicht alles in gleicher Weise zur Befruchtung der Soziologie geeignet. Ihr Anführer Lombroso ist dafür bekannt, daß er die Hauptursache der Kriminalität in der organischen und psychischen Veranlagung und damit in individuellen Faktoren sah. Er begründete somit im wesentlichen eine Anthropologie. Am meisten Aufsehen erregte diese Schule durch ihre kühnen Korrelationen zwischen der Delinquenz und rein physikalischen Faktoren wie dem Klima oder den Jahreszeiten. Die auffälligeren Seiten sollten uns jedoch nicht die Tatsache verbergen, daß die soziologischen oder zumindest ökologischen und auf alle Fälle die kollektiven Variabeln keineswegs in den Untersuchungen fehlten, auch wenn sie im Hintergrund blieben. Die ihnen geschenkte Aufmerksamkeit wuchs im übrigen im Laufe der überlegungen2 • Vor allem aber muß hier 1 Es ist fast klassischer Brauch, hier zwei Männer zu erwähnen, um zwei Schulen zu bezeichnen; Ferri und Tarde (vgl. in diesem Sinne, auf der Grundlage völlig verschiedener Sichtweisen, Gurvitch, 1940, S. 72, und Boudon, L'Analyse mathematique des faits sociaux, S. 28). Je nach der Wirkung, die sie auf Durkheim gehabt haben, könnte man auch Ferri und Tarde als zwei Pole einander gegenüber stellen; ersterer mit anziehender Wirkung (wenn auch mit Einschränkungen bezüglich der Methode) und letzterer mit abstoßender Wirkung. 2 Nach Treves (Sociologia deI diritto, vervielfältigtes Manuskript, 1969 - 1970, S. 123 ff.) hat Lombroso selber im Verlaufe der Neuauflagen seines Werkes von 1876 bis 1896 die Bedeutung seines wichtigsten Erklärungsfaktors, der biologischen Natur des Verbrechers, abgeschwächt. In der Schule wiederum gab es sehr bald eine sozialistische Strömung (Turati und Colajanni), die den Nachdruck auf soziale, genauer auf ökonomische Faktoren der Delinquenz legte.

2. Kap.: DIe Rechtssoziologie im 20. Jahrhundert

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Ferri 3 erwähnt werden, denn er war ganz entschieden Soziologe4, und zwar in dem Sinne, daß er sich bemühte, systematische Beziehungen zwischen der Verbrechenserscheinung und der Gesamtgesellschaft aufzufinden. Hiervon zeugt sein berühmtes Gesetz der kriminellen Saturation, nach welchem es, ceteris paribus, nicht mehr Verbrechen geben kann als das soziale Milieu zu ertragen vermag. Man fragt sich, was ihm noch fehlte, um ein Rechtssoziologe zu werden. Nun, es war ganz einfach der Umstand, daß er dem Recht, in Gestalt der Strafrechsnormen, keine Bedeutung mehr beimaß. An diesem Mangel litt aber nicht nur er, sondern die gesamte Schule, und man muß vielleicht hinzufügen, daß alle Kriminalsoziologen einer Versuchung erlegen sind, indem sie zu sehr das Geheimnis des Strafrechts in der Gruppe der Delinquenten und nicht in hinreichendem Maße in der sanktionstragenden Gemeinschaft suchten. Ein Vertreter der allgemeinen Soziologie wie Durkheim war einer solchen Fehleinschätzung des Rechts weniger ausgesetzt. Trotz der Meinungsverschiedenheiten über die natürlichen Faktoren ist aber auch leicht zu erraten, was Durkheim im Werk von Ferri und in einer sich des Positivismus be rühmenden Schule beispielhaft erscheinen mußte, nämlich der Evolutionismus, der Determinismus, ein gewisser Materialismus und eine Neigung zur statistischen Quantifizierung, und das auf Gebieten, von denen man bisher annahm, daß sie nur der ewigen Gerechtigkeit und dem freien Willen des Einzelnen angehörten. b) Die französische Schule mit Tarde. Wenn man rückblickend von einer französischen Schule der Kriminologie sprechen könnte, die zu Beginn dieses Jahrhunderts ein Gegenstück zur italienischen Schule darstellte 5 , so wäre sie dadurch gekennzeichnet, daß sie einer im übrigen mehr literarischen als wissenschaftlichen Psychologie, die an die Tradi3 über Enrico Ferri (1854 - 1929) vgl. Bouzat: Le centenaire d'Enrico Ferri, Revue de sciences criminelles, 195'7, S. 1. 4 Sein Hauptwerk ist im Jahre 1881 unter dem unauffälligen Titel "Les Nouveaux Horizons du droit penal et de la procedure penale" erschienen. In den Neuauflagen wurde hieraus bezeichnenderweise "Sociologie criminelle" (Kriminalsoziologie ). 5 Es wäre in der Tat aus verschiedenen Gründen etwas gekünstelt, von einer wirklichen Schule zu sprechen: 1. verfügten die französischen Kriminologen aus jener Zeit nicht über ein Organ, das es ihnen erlaubt hätte, sich ihrer Einheit bewußt zu werden, während die italienischen Kollegen sich um die sehr fruchtbare Zeitschrift "Scuola positiva" herum sammeln konnten; 2. trotz aller Gemeinsamkeit bezüglich des Gegenstandes waren sie oft durch verschiedene philosophische Orientierungen voneinander getrennt; der Arzt Lacassagne (Le milieu social est le bouillon de culture de la criminalite) stand Ferri sehl nahe, während Henri Joly und Raymond Saleilles stark spiritualistisch und individualistisch ausgerichtet waren. 3. Diese erste kriminologische Bewegung fand wenig Halt in den Rechtsfakultäten, in denen dank der tonangebenden Strafrechtskoryphäen Rene GarTaud und vor allem Emile Garcon eine sehr trockene Exegese betrieben wurde (deren Ergebnisse auf dem Gebiet der Interpretation im übrigen der Freiheit förderlich waren).

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1. Teil: Geschicl1te der Rechtssoziologie

tion der großen französischen Moralphilosophen erinnerte, einen viel bedeutenderen Platz eingeräumt hat. Dieser Zug ist besonders charakteristisch für Gabriel de Tarde 6 • Dieser ist durch sein psychologisches Gesetz der Imitation berühmt geworden. Die Imitation ist gewiß ein bedeutendes Phänomen, das manches erklärt, und zwar auf dem Gebiet des Rechts, insbesondere die Bildung des Gewohnheitsrechts und der Rechtsprechung. Tarde, der Richter von Beruf war, sah dies in klarer Weise, und seine Originalität bestand darin, die Gegenstände des Rechts vermittels einer Methode, die im Grunde bereits der Sozialpsychologie angehörte 7 , zu analysieren, und zwar vor der Konstituierung dieser Wissenschaft. Vielleicht lag es daran, daß Durkheim sich schlecht die Möglichkeit einer Sozialpsychologie vorstellen konnte, daß er Tarde vorwarf 8 , die Soziologie auf psychische Phänomene zu reduzieren. Zwar hat Tarde zweifellos die Tragweite seiner Entdeckung übertrieben, indem er aus der Imitation (die im übrigen von Invention begleitet war) eine universelle Triebfeder machte; es muß jedoch anerkannt werden, daß er für deren Wirken einen bereits vorhandenen gesellschaftlichen Rahmen voraussetzte. Wenn man es für nötig hält, soziologische Nachweise in Tardes Werk zu suchen, so kann man sich an sein Interesse für die Analogien zwischen der Sprache und dem Rechtssystem 9 oder an seine berufliche Tätigkeit für die Justizstatistik 10 , wo die Regelmäßigkeit der Kollektivphänomene das Vorhandensein der Gruppe enthüllt, halten. Ein anderer Punkt dagegen brachte Tarde in Gegensatz zu Durkheim und dessen Schülern, und das war deren Evolutionismus. Es ist nicht so, daß er die Evolution und insbesondere die Evolution des Rechts leugnete, denn letzterer hatte er ein scharfsinniges Werk gewidmetl l , das einen Abriß seiner ganzen Rechtssoziologie darstellt. Er hatte hiervon jedoch eine weniger radikale, mechanistische und darwinistische Sichtweise als seine Gegner, die ihn hart bedrängten. Er war nicht der Auffassung, daß der Wandel des Rechts unvereinbar mit einer gewissen 6 über G. de Tarde, als Soziologen im allgemeinen, vgl. G. Davy: Sociologues d'hier et d'aujord'hui, 1931; A. Cuvillier: Introduction a la sociologie, 1960, S. 39 ff.; als Kriminologen und Strafrechtler: Vgl. Geissert: Le systeme criminaliste de Tarde, Diss. Paris 1935; als Rechtssoziologen, vgl. Gurvitch, 1940, S. 74 ff. 7 Vgl. Les Transformations du droit, 1894, S. 183. 8 Vgl. z. B. A.S., 1904 - 1905, S. 133 (Kritik Durkheims am Artikel von Tarde über die "Interpsychologie"). 9 Les Transformations du droit, S. 11, 182 (Anmerkungen), 198 ff. 10 Er leitete lange die kriminalstatistische Abteilung im Justizministerium, die mit der Veröffentlichung des "Compte" betraut war (vgl. u. S. 206). Vgl. R. Boudon: La statistique psychologique de Tarde, Annales internationales de criminologie, 1964, 2. Halbj., S. 342 ff. 11 Er vermied allerdings das Wort "Evolution" im Titel von "Les Transformations du droit" (siehe S. 165).

2. Kap.: Die RechtssoZliologie im 20. Jahrhundert

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beständigen, kategorialen Grundlage des Rechts, und zwar keineswegs einem transzendentalen Naturrecht, sondern einer Art biologischem Kern um die Bedürfnisse der Ernährung und Fortpflanzung herum, sei. Darüber hinaus erfolgten seiner Meinung nach diese Veränderungen in einem selektiven und nicht in einem blinden Prozeß, nämlich durch eine "höhere und komplexe Operation sozialer Logik", auf dem Wege der Imitation. Seine Darstellung bezog eine besondere Stärke aus der Tatsache, daß die Rechtsentwicklung im Gegensatz zu sonstigen sozialen Entwicklungen entscheidend durch Gesetzgebungs- und damit durch Willensakte bewirkt werden kann. Im Detail kündigten seine Ausführungen manche Hypothese der heutigen Rechtssoziologie an, so z. B. die, wonach die Rechtsentwicklung sich nicht so sehr in einem allmählichen und unmerklichen Prozeß, sondern durch plötzliche Veränderungen vollzieht, und jene, nach welcher sich auf dem Wege über die Imitation von einer Gesellschaft zur anderen Erscheinungen der Rechtsakkulturation ereignen l2 •

3. Ehrlich Wenn der österreichische Jurist Eugen Ehrlich l von vielen für den wahren Begründer der Rechtssoziologie gehalten wird2 , so geschieht dies nicht einfach wegen des Titels seines Hauptwerkes, sondern viel Vgl. S. 153 - 161. Mehrere Züge im Leben von Eugen Ehrlich (1862 - 1923) verdienen es, erwähnt zu werden, weil sie zur Erklärung seines Werkes beitragen. Er war seiner Ausbildung nach Römischrechtier und lehrte auch das römische Recht. Von daher kommt der weitgehend historische Charakter seiner soziologischen Methode. Aber wie in deutschsprachigen Universitäten üblich, ging diese Beschäftigung Hand in Hand mit der Behandlung des modernen Rechts, und in der Tat widmete er verschiedene Studien dem Zivilrecht, z. B. den Problemen der Handlungsfähigkeit und der konkludenten Willensäußerung (als Soziologie eines Privatrechtlers gewann seine Soziologie, indem sie sich auf Beispiele konkreter Institutionen stützte und nicht zur politischen Soziologie hin abtrieb). Als Professor in Czernowitz in der Bukowina hatte er einen hervorragenden soziologischen Beobachtungsposten inne, der es ihm erlaubte, am Ort der Begegnung verschiedener Völkerschaften deren rechtliche Gewohnheiten, die nur oberflächlich vom österreichischen Zivilgesetzbuch zurückgedrängt waren und die mit diesem zusammen ein Normenmosaik bildeten, zu studieren, was seine pluralistische Hypothese inspirierte. Aber das Jahr 1913, in dem die "Grundlegung der Soziologie des Rechts" erschien, war kein sehr günstiger Zeitpunkt, und die darauf folgenden Unruhen schadeten der Verbreitung des Werkes. Es wurde nie ins Französische übersetzt und es erlebte erst im Jahre 1936 eine englischsprachige Ausgabe in den USA. Die hierzu von Roscoe Pound verfaßte Einführung (vgl. u. S. 91) bestätigte im übrigen, daß ein Teil der gelehrten Öffentlichkeit vor allem für diejenigen Gedanken Ehrlichs Interesse hatte, die an die "sociological jurisprudence" erinnerten. 2 M. Rehbinder: Die Begründung der Rechtssoziologie durch Eugen Ehrlich, 1967 (Band 6 dieser Schriftenreihe, Anm. d. übers.); Michel Villey: Etudes recentes sur Ehrlich et le sociologisme juridique, A.P.D. 1968, S. 347 ff.; vgl. Gurvitch, 1940, S. 125 ff.; Brimo, 1968, S. 208 ff. 12 1

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1. Teil: Geschichte der Rechtssoziologie

eher wegen der Glaubwürdigkeit seiner "Vorrede" zu diesem Werk. Es lohnt sich, diese Zeilen wiederzugeben: Der Schwerpunkt der Rechtsentwicklung liegt auch in unserer Zeit, wie zu allen Zeiten, weder in der Gesetzgebung noch in der Jurisprudenz oder in der Rechtsprechung, sondern in der Gesellschaft selbst. Es ist jedoch bestritten worden, daß seine Arbeit diesem Programm entsprochen habe 3 • Man hat behauptet, daß das, was Ehrlich propagierte, nicht so sehr eine wirkliche Rechtssoziologie (mangels Zuwendung zur empirischen Forschung), sondern eher eine soziologische Jurisprudenz im angelsächsischen Sinne (sociological jurisprudence)4 oder vielmehr eine Lehre der Freirechtsschule im deutschen SinnS, kurzum nichts als eine Auslegungsmethode de~ positiven Rechts gewesen sei. In der Tat hat er sich sehr für die Rolle der Richter und für deren rechtsschöpferische Möglichkeiten interessiert. Er glaubte, daß die logische Deduktion von Rechtssätzen auf der Grundlage von Texten durch induktive Schlüsse an Hand sozialer Gegebenheiten, ja sogar durch ein intuitives Erfassen von dem, was recht und billig ist8 , zumindest dann, wenn Lücken im Gesetz es zulassen (denn in der Praxis beachtete er ziemlich genau den Grundsatz der Legalität), ersetzt werden könnte. Er dachte so wie viele Juristen seiner Zeit; was ihn von diesen unterschied, das war sein Glaube daran, daß eine solche Methode in Beziehung zur Soziologie steht, indem sie eine angewandte Soziologie darstellt. Er hat sich vielleicht in dieser Hinsicht getäuscht7 , aber der bezüglich einer Anwendung begangene Irrtum ermächtigt nicht zu Zweifeln an den Grundpositionen; diese Positionen sind aber eindeutig rechtssoziologischer Natur. Nach Ehrlich ist für die Rechtssoziologie der Gedanke wesentlich, daß es eine natürliche und nicht auf Zwang beruhende soziale Ordnung gibt, die durch das freie Handeln von Einzelnen oder von gesellschaftlichen Verbänden (im weitesten Sinne) gestaltet wird. Es kommt selbstverständlich vor, daß der Frieden durch Streitigkeiten gestört wird; diese werden aber zu einem guten Teil ohne Rückgriff auf abstrakte Normen beigelegt, indem die Beteiligten selbst, ihre Schiedsmänner oder ihre Richter den Fall nach Gesichtspunkten der Gerechtigkeit im Einzelfall beurteilen. Den Gerichten wird hiermit keine neue Rechts3 Vor allem R. Treves; seine Kritik zielt gleichzeitig auf die Schule der "sociological jurisprudence", s. u. S. 93 Anm. 6. 4 Vgl. S. 91. 5 Ehrlich hatte im Jahre 1903 der Juristischen Gesellschaft in Wien einen Bericht über die freie Rechtsfindung präsentiert. K. Riebschläger (Die Freirechtsbewegung, zur Entwicklung einer soziologischen Rechtsschule, Berlin 1968 [Bd. 11 dieser Schriftenreihe, Anm. d. übers.]) sieht in ihm neben Kantorowicz einen der Vorkämpfer der Freirechtsschule, in der es genau genommen nie eine große Einheitlichkeit der Lehrmeinungen gab. 6 In der Lehre der Freirechtsschule war gelegentlich ein Nachhall des von Bergs on in der Psychologie in Mode gebrachten Intuitionismus zu vernehmen. 7 Vgl. S. 261 ff.

2. Kap.: Die RechtssozJologie im 20. Jahrhundert

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findungsmethode vorgeschlagen. Es handelt sich nur um die soziologische Feststellung einer sehr alten und sehr lebendigen Erscheinung, nämlich des Urteils gemäß der Billigkeit. Es verbleiben noch einige Streitfälle, die unbedingt der abstrakten staatlichen Rechtsnorm bedürfen, und hierfür sind auch Normen vorhanden, aber diese stellen nur eine marginale Kategorie dar. Es handelt sich hier um ein Schema des Rechtspluralismus, und Gurvitch sollte sich später dessen erinnern. Andere, zumindest in Umrissen dargestellte, wirklich soziologische Theorien stützen sich hierauf, so z. B. diejenige bezüglich der Unterscheidung zwischen Normen des Rechts und solchen der Sittlichkeit und jene über Erscheinungsformen der Ineffektivität von Normen8 • Das Vorgehen ist auch keineswegs spekulativ, denn ständig werden konkrete Beispiele angeführt. Man wird zwar einwenden, daß diese Tatsachen im voraus gesammelt wurden und daß eine dynamische Soziologie neue Sachverhalte hätte zusammentragen müssen. Aber auch eine derartige Beschäftigung war Ehrlich nicht fremd, denn er sah klar den Nutzen der Feldforschung für das Studium von Erscheinungen wie dem Gewohnheitsrecht, und er bemühte sich, hierfür eine Methode zu entwickelnD. Ja er hatte sogar selbst eine soziologische Analyse der Rechtsprechung in großem Maßstab betrieben1o , desgleichen eine soziologische Analyse von Vertragsurkunden. Letztere erschienen ihm als besser geeignet zur Erkenntnis des lebenden Rechts als die Gesetze l l • Wir haben hiermit die Worte erwähnt, die für ihn eine fast magische Bedeutung besaßen, denn schließlich hatte er auch in seiner Universität ein Seminar über lebendes Recht eröffnet. Dieser Begriff ist im übrigen nicht ganz ungefährlich, wie sich bei seinen Epigonen zeigte, bei denen der Vitalismus die Tatsache verbarg, daß schon die Rechtsformen, wie z. B. die Rechtslogik oder der freie gesetzgeberische Wille, lebende und der soziologischen Untersuchung bedürfende Erscheinungen sind. Die Rechtssoziologie beschränkt sich nicht auf das, worüber sich die Philosophie des Vitalismus oder des Realismus sorgt, aber diese Besorgtheit bildet die Eintrittspforte für die Rechtssoziologie. 4. Petrazycki und Gurvitch Es mag erstaunlich erscheinen, hier einen Autor, der nicht ins Französische übersetzt worden ist, zusammen mit einem solchen französischer Grundlegung, S. 135 ff., 299 ff. Grundlegung, S. 375. Das Vorbild hierfür stammte von einem Kroaten und Schüler Savignys, Bogisic, der mit Hilfe eines mehr als 800 Fragen umfassenden Fragebogens das Volksrecht in Slowenien erforschte. 10 In seinem Jugendwerk, Die stillschweigende Willenserklärung, Berlin 1893. 11 Vgl. Grundlegung, S. 400 ff. 8

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6 carbonnier

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1. Teil: Geschichte der Rechtssoziologie

Zunge zu sehen. Leon Petrazycki stammt aus Polen und dort beendete er auch seine Karriere l • Georges Gurvitch fand in Frankreich eine neue Heimat, und dieses Land sah auch den größten Teil seines Wirkens2 • Beide sind jedoch im Zarenreich aufgewachsen. Außerdem war letzterer Schüler von ersterem, dem er viel verdankte und dessen er voll Ehrerbietung gedachte 3 • Vor allem aber ist es die Theorie des Rechtspluralismus4 , die diese beiden Namen eng vereint. In Frankreich ist sie durch Gurvitch bekannt gemacht worden. Sie kam allerdings weitgehend von Petrazycki her 5 • Petrazycki fand vielleicht einen größeren Reichtum an Pluralismus, und weil er stärker mit dem Zivilrecht und folglich mit den interindividuellen Beziehungen vertraut war, bot er malerischere Beispiele aus dem Grenzbereich zum InfrarechtLichen: die Spielregeln, die Regelungen auf sportlichem Gebiet, die Gesetze der Unterwelt, die Disziplin der Kinder, die Ordnung psychiatrischer Anstalten, die Gegenseitigkeiten zwischen Freunden und zwischen Liebhabern usw., und damit ebensoviele Normsysteme, die mit dem umfassenden Rechtssystem, dem offiziellen Recht, konkurrieren. Gurvitch dagegen war viel stärker öffentlichrechtlich orientiert und erfaßte den Pluralismus auf höherer Ebene; er beschrieb ihn als einen Gleichgewichts- oder Spannungszustand zwischen entgegengesetzten politisch-sozialen Kräften: auf der einen Seite der zentralistische, monarchistische und schließlich jakobische Staat, und ihm gegenüber das Feudalsystem oder die Kirche, später die Zünfte und heute die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände. Sein Pluralismus hat eine politische Färbung und ist gegen den Staat gerichtet. Diejenigen, die als erste in das Werk von Petrazycki eindrangen6 , wurden vor allem durch dessen psychologische Aspekte angesprochen, und man sah darin somit mehr eine Rechtspsychologie als eine Soziologie. 1 über Petrazycki (1867 - 1931) vgl. Langrod: Revue de l'institut de sociologie Solvay, Brüssel 1957 und A.P.D., 1968, S. 384; K. B. Baum: Leon Petrazycki und seine Schüler. Der Weg von der psychologischen zur soziologischen Rechtstheorie in der Petrazyckigruppe, Berlin 196'7 (Band 9 in dieser Schriftenreihe, Anm. d. übers.); Kalinowski, A.P.D., 1970, S. 450 ff. 2 über Gurvitch (1894 - 1965) vgl. G. Balandier: in Perspectives de la sociologie contemporaine, 1968 (Vorwort); über seine Rechtssoziologie im besonderen vgl. R. Treves, C.I.S., 45 (1968), S. 51 ff. (scharfsinnige Analyse der Entwicklung des Denkens von Gurvitch, denn selbst in bezug auf die Konzeption der Rechtssoziologie gab es bei Gurvitch eine Entwicklung, deren letzter Stand in einem besonderen Kapitel des Traite de sociologie aus dem Jahre 1960, in Band 2, S. 173 - 206, zu suchen ist). 3 L'experience juridique et la philosophie pluraliste du droit, 1935, S. 153 bis 169. 4 Vgl. S. 133 ff. S Aber auch von Ehrlich, auf den Petrazycki dagegen nicht zurückgreifen konnte. 6 So in Frankreich Alexander Grouver, selbst russischen Ursprungs, in Une theorie psychologique du droit, R.T.D.C., 1911, S. 531 ff.

2. Kap.: Die RechtssoZliologie im 20. Jahrhundert

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Das Recht wird als eine Erscheinung des Bewußtseins und darüber hinaus als ein affektives Phänomen, als Produkt einer Gefühlsregung, behandelt, denn die Wahrnehmung der Handlung eines anderen ruft eine Gefühlregung abstoßender oder anziehender Art hervor. Diese gefühlsmäßige Bewertung der Handlung kann aber ebensogut moralischer wie juristischer Natur sein. Der Unterschied rührt daher, daß die Moral ein Gefühl der Unterwerfung, das Recht dagegen ein Gefühl der Herausforderung schafft und deshalb wichtiger als die Moral ist. Außerdem ist das Recht nicht nur imperativ, sondern auch attributiv. Eine Originalität von Petrazycki besteht folglich darin, daß es ihm gelingt, das Recht ohne das bislang üblicherweise verwendete Merkmal der staatlichen Sanktion zu kennzeichnen. Auch Gurvitch ist der Auffassung, daß das Recht des Staates nicht bedarf; er ist jedoch weniger subjektivistisch. Er sieht das Rechtliche als ein Kollektivphänomen, das aus der Tiefe der Gesellschaft (was keineswegs identisch mit staatlicher Herkunft ist) oder aus dem Schoße von Gemeinschaften hervorkam. Es sind hier zwei Einflüsse zu erkennen, die sich beide auf Vorbilder des Autors beziehen, nämlich Ehrlich für die Soziologie und Proudhon für die Politik. Diese rechtliche Spontaneität hätte eine gesteigerte Aufmerksamkeit nach dem Jahre 1968 verdient; sie scheint sich mit Vorliebe auf einem Gebiet abgespielt zu haben, das Gurvitch Sozialrecht, im Gegensatz zum Individualrecht, nennt. Diese Unterscheidung war für ihn zu einer bestimmten Zeit von fundamentaler Bedeutung7• Das Sozialrecht, das sich seiner Meinung nach in erster Linie im Arbeits- und im Völkerrecht äußert, ist das Recht der Integration, der Gemeinschaft und der Zusammenarbeit in einer antihierarchischen Totalität; es ist transpersonal und hat als Grundlage das Vertrauen, während die Atmosphäre des Individualrechts durch ein gewisses Mißtrauen charakterisiert ist. Im übrigen sind seine Gedanken ziemlich wirr. Eine zu unklare Ausdrucksweise hat oft die Juristen abgeschreckt und für eine Rechtssoziologie war dies auf jeden Fall ein Hindernis.

5. Die Rechtssoziologie in den französischen Rechtsfakultäten Man könnte vermuten, daß sie hier auf Anhieb ihren Platz gefunden hat. In Wirklichkeit drang sie aber nur sehr langsam und auch nicht in der Form eines besonderen Lehrinhaltes, sondern nur als besonderes soziologisches Interessengebiet von diesem oder jenem Professor, ein. Aus diesem Grunde erfolgten die soziologischen Untersuchungen in 7 Er hatte dieser auch im Jahre 1932 zwei Werke gewidmet: L'idee du droit social und Le Temps present et l'idee du droit socia!.



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1. Teil: Geschichte der Rechtssoziologie

diesen Fakultäten im allgemeinen in sehr unkoordinierter Weise, indem jeder auf der Grundlage seines Spezialfaches forschte. Wie zu erwarten erwachte das Interesse an soziologischer Forschung zuerst bei den Vertretern der juristischen Hilfswissenschaften, und zwar in der Rechtsgeschichte und der Rechtsvergleichung. Diese waren schon mit der vergleichenden Methode vertraut, von Berufs wegen von der Veränderlichkeit und Relativität des Rechts überzeugt und standen in Kontakt mit dem Ausland, wo der Rechtsdogmatismus weniger stark ausgeprägt war; all dies waren günstige Voraussetzungen für die Entwicklung der Soziologie. In der Tat bemühte sich auch ein so bedeutender Vertreter der Rechtsvergleichung wie Edouard Lambert, eine im wesentlichen soziologische Konzeption der Rechtsvergleichung zu besitzen!. Wir müssen uns aber fragen, ob sie dies wirklich war. Sie war es insoweit, als sie dem Problem der Effektivität der Rechtsnormen einen Grad an Aufmerksamkeit schenkte, der damals allgemein der Rechtslehre ermangelte. Sie war es noch mehr, als sie bei den klassischen Rechtsquellen, dem Gesetz und der Rechtsprechung, aus welchen die Zivilrechtler jener Zeit alles ableiteten, zwei weitere hinzufügte, die Lambert als viel lebendiger und wirklichkeitsnäher ansah und welche er als Rechtsmuster bezeichnete: die Verwaltungspraxis, soweit sie an der Ausarbeitung des Zivilrechtes teil hatte, und die berufsständischen Bräuche, von allem diejenigen des internationalen Handels. Andererseits muß aber auch gesagt werden, daß die von ihm propagierte Rechtssoziologie weniger die Feldforschung als vielmehr ein Studium von Dokumenten im Auge hatte, und daß die Erscheinungen der Effektivität und Ineffektivität nicht durch im Volke gemachte Beobachtungen, sondern durch Feststellungen auf der Ebene der Juristen erfaßt werden sollten. Die Rechtshistoriker hatten es zweifellos leichter mit der Soziologie, und zwar über die Ethnologie, vorausgesetzt ihr Interesse galt einem sogenannten primitiven Rechtssystem wie etwa dem Zwölftafel gesetz oder den Rechten der Barbaren. Jhering hatte den Weg gewiesen. Die Durkheimsche Evolutionslehre und die Hypothesen von Lucien LevyBruhl über die archaische Mentalität fanden so ohne weiteres Eingang in das Gebiet des Rechts. Um einige Namen zu nennen: Paul-Frederic Girard 2 , Huvelin 3 , Jobbe-Duval4 und schließlich Henri Levy-Bruhl, der 1 Vgl. (unter programmatischem Titel) L'Enseignement du droit comme science sociale et comme science internationale und seine Einführung zum Werk von Robert Valeur: L'Enseignement du droit en France et aux EtatsUnis, 1929. Vgl. B. Tabbah: Entre les deux poles (historique et sociologique) de la philosophie contemporaine du droit, in Etudes Ed. Lambert, 1938, Band 1, S. 24 ff. 2 Er war es, dem Ehrlich im Jahre 1913 seine Grundlegung der Soziologie des Rechts gewidmet hatte.

2. Kap.: Die Rechtssoziologie im 20. Jahrhundert

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sich nicht mit einer soziologischen Interpretation des sehr alten römischen Rechts begnügte 5 , sondern aus seinem Werk und seinem Leben ein Manifest für eine umfassende Rechtssoziologie machte 6 • Wir wollen auch nicht die Ökonomen vergessen. Sie waren damals mit den Juristen zusammen in einer Fakultät, aber sie fühlten sich doch den Soziologen sehr nahe, da auch die Wirtschaft augenscheinlich soziale Erscheinungen zum Gegenstand hat, und so besonders berufen waren, Brücken zwischen diesen beiden Disziplinen zu schlagen. Es überrascht demgemäß nicht, daß der "Traite de sociologie generale" von Vilfredo Pareto, dem Haupt der Lausanner Schule7 , bedeutende Bausteine für eine Rechtssoziologie enthält8 • In noch unmittelbarerer Weise ist Rene Maunier, ein anderer Ökonom, zum Rechtssoziologen geworden, allerdings vermittels des Kolonialrechts und damit im Grunde über die Ethnologie. Er war einer der ersten, der die Erscheinung der Rechtsakkulturation beschrieben hat9 , und zwar in der Form des "clash", des heftigen Aufeinanderprallens des Rechts der Kolonisatoren mit demjenigen der Kolonisierten. Am schwersten war das Eindringen der Soziologie in die dogmatischen Disziplinen, und zwar insbesondere ins Zivilrecht, in dem allgemein die Kodifikation als rühmenswert ob ihres pragmatischen Geistes und als hervorragend bezüglich ihrer sozialen Auswirkungen angesehen wurde und hiernach somit keiner empirischen Bestätigung bedurfte. Es war erst ein stärkeres Veralten des Code Napoleon erforderlich, um bei den Zivilrechtlern ein Gefühl für Veränderungen zu erwecken, das 3 Er suchte vor allem in den durch die Magie geknüpften Beziehungen den Ursprung der rechtlichen Obligation (Les Tablettes magiques et le droit romain, 1900; Magie et droit individuel, A.S., 1907). 4 Les Morts malfaisants d'apres le droit et les croyances populaires des Romains, 1924; Les Idees primitives dans la Bretagne contemporaine, 1930. 5 Quelques problemes du tres ancien droit romain, 1934; Nouvelles Etudes du tres ancien droit romain, 1947; Recherches sur les actions de la loi, 1960. 6 Aspects sociologiques du droit, 1955; Sociologie du droit, 1961; La Preuve judiciaire, 1964. 7 über den Italiener Vilfredo Pareto (1848 - 1923), der in Lausanne in französischer Sprache lehrte und publizierte, vgl. G. H. Bousquet: V. Pareto, sa vie et son oeuvre, 1928. Bousquet, ein Schüler Paretos, hat folgende Zusammenstellung besorgt: Precis de sociologie d'apres V. Pareto, 1925. 8 Vgl. im Traite de sociologie generale (Hrsg. Boven, Genf 1968), §§ 466, 398 - 441, 838 - 841 (Recht und Moral, Kritik des Naturrechts), 1318 (Recht und Sanktion). Diese Lehre ist von unerbittlichem Realismus in bezug auf das dogmatische Recht. Die Methode ist nicht quantitativ, wie man es von einem Ökonomen der Lausanner Schule hätte erwarten können, sondern besteht vielfach aus Induktionsschlüssen an Hand einiger weniger unbedeutender Tatsachen (manchmal sind es auch unterhaltsame Begebenheiten, die in einer Zeitung unter der Rubrik "Vermischtes" zu finden gewesen wären). 9 R. Maunier: Sociologie coloniale, 1932. Unter seiner Leitung wurden die Etudes de sociologie et d'ethnologie juridiques, 20 Bände, 1931 - 1934, veröffentlicht.

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1. Teil: Geschicl1rt;e der Rechtssoziologie

der soziologischen Denkweise günstigere Voraussetzungen bot; die Hundertjahrfeier des Code begünstigte diese Gewissensfrage 10 • Die einen kamen hierzu durch eine sozialistisch inspirierte Kritik, indem sie die Ideologie, mit der sie das Zivilgesetzbuch identifizieren, in Frage stellten: den Individualismus, Liberalismus und Kapitalismus ll . Die anderen kamen hierzu auf weniger engagierte Weise, durch eine zweifache Feststellung reformatorischen Geistes: 1. Die Unzulänglichkeit der Gesetzestexte aus dem Jahre 1804 für die neuen Bedürfnisse einer nicht mehr agrarischen, sondern industrialisierten Gesellschaft, und 2. der bereits in der Gestalt neuer Gesetze und konstruktiver Neubildungen durch die Rechtsprechung begonnene Anpassungsprozeß. Bald war die ganze Privatrechtslehre damit beschäftigt (auf allerdings recht verschiedenartige Weise 12), eine Art evolutionistischer Literatur zu pflegen, in der die Wandlungen des Privatrechts seit dem Code Napoleon dargestellt wurden. Zwangsläufig befanden sich darunter auch soziologische Gedanken, aber nichtsdestoweniger war es nur eine deskriptive und impressionistische Soziologie auf der Grundlage von gelehrten Quellen und ohne Interesse an quantitativen Methoden. Dazu kam, daß sie wegen ihrer ausschließlichen Beschäftigung mit dem Normenwandel diesen als umfassender und schneller ansah, als er in Wirklichkeit war, und hierbei die ebenso interessanten Phänomene der Widerstände gegen Veränderungen, der Ineffektivität mancher Reformen und der geringen Repräsentativität der Streitsachen vernachlässigte. Dieser ziemlich geradlinige Evolutionismus findet sich im öffentlichen Recht bei Leon Duguit wieder13 , aber in diesem Falle als Folge einer 10 Z. B. A. Tissier: Le Code civil et les classes ouvrieres, in Livre du centenaire du Code civil, 1904, Band 1, S. 90 ff. H z. B. Maxime Leroy: Le Code civil et le droit nouveau, veröffentlicht im Jahre 1904 in der Bibliotheque socialiste. Vber Leroy vgl. Gurvitch (1940), S.133. 12 Es ließen sich zwei Perioden feststellen. In der ersten wird eine Entwicklung aufgezeigt, die damals sehr tiefgreifend erschien, die uns aber heute als sehr gemäßigt, als Fortsch,ritt im Sinne der "radikalsozialistischen Republik", vorkommt: Charmant: La Socialisation du droit, 1903, und Les Transformations du droit civil, 1912; Gaston Morin: La Revolte des faits contre le code, 1920, und La Loi et le contrat et la decadencede leur souverainete, 1920. Die zweite Periode ist um den Zweiten Weltkrieg herum zu datieren; die dargestellte Entwicklung ist viel überstürzter und dramatischer, wobei sozialistische und sogar kommunistische Einflüsse auf den Gesetzgeber einwirkten, wodurch sich in die Beschreibung durch die Juristen eine tiefe Besorgnis mischt: Josserand: Evolution et actualites, 1936; Georges Ripert (sehr kritisch und pessimistisch): Le Regime democratique et le droit civil moderne, 1937, und außerdem Le Dec1in du droit, 1949; Rene Savatier: Les Metamarphoses economiques et sociales du droit civil d'aujaurd'hui, 1952 - 1959. 13 Vgl. seine Transformations generales du droit prive depuis le Code Napoleon, 1912. In diesem nicht sehr umfangreichen Werk weist Duguit auf die metaphysischen und individualistischen Aspekte des aus dem Code civil ent-

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sehr viel direkteren und soziologischeren Sichtweise 14 . Duguit verdankt Durkheim viel. Seine Theorie der sozialen Solidarität etwa ist offensichtlich von der "Division du travail social", der sozialen Arbeitsteilung im Sinne Durkheims, geprägt. Fasziniert vom Grundsatz der Objektivität unternahm er es, diesen auf das Recht anzuwenden, welches er allerdings nach wie vor mittels der Kategorien des dogmatischen Rechts erfaßte. Daraus resultierte auch die sich bei ihm an das bloße Wort haltende Jagd auf alles, was die Bezeichnung "subjektiv" trug. Um die Soziologie ins Recht einzuführen, genügt es jedoch nicht, einfach das "subjektive Recht" über Bord zu werfen, denn dieses kann sich sehr wohl auf einen objektiverfaßbaren Sachverhalt beziehen. In Wahrheit war Duguit eine viel zu eigenwillige Persönlichkeit, als daß er sich den Erfordernissen der soziologischen Methode hätte unterwerfen können. Maurice Hauriou 15 , sein Gegner auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts, war ebenfalls von der Soziologie angezogen, von der er sich jedoch wieder abwandte, vermutlich weil diejenigen, die zu seiner Zeit die Soziologie am auffälligsten verkörperten, ihm einige der ethischen oder religiösen Ideen, deren Erhaltung ihm am Herzen lag, in Gefahr zu bringen schienen. Wenn man sich an eines seiner Werke, "La Science sociale traditionelle" hält, worin die Tradition als soziale Offenbarung aufgefaßt wird, so erkennt man, daß seine soziologischen Ansichten denen von Tarde oder gar Le Play 16 näher als jenen von Durkheim zu sein scheinen. Aber es ist vor allem bezüglich dessen, was er über die "Institution"17 geschrieben hat, daß ihm gerne ein Platz unter den Soziologen eingeräumt wird. Man kann hier in der Tat Bausteine für eine Soziologie der Verbandsbildungen finden. Aber diese Elemente wickelten Rechtssystems hin. Nach seiner Meinung ist ein Prozeß der Ersetzung desselben durch ein sozialistisches und realistisches Rechtssystem im Gange. u über V~on Duguit (1859 - 1928) vgl. Brimo, 1968, S. 193 ff., der in zutreffender Weise das Soziologische in Duguits Rechts- und Staatslehre herausstellt; vgl. Gurvitch, 1940, S. 96 ff. 15 über Maurice Hauriou (1883 - 1926) vgl. Gurvitch, 1940, S. 114 ff.; Brimo, 1968, S. 312 ff. 16 Man könnte sogar der Zeit vorauseilend an earl Gustav Jung und an das, was dieser über das kollektive Unterbewußtsein gesagt hat, denken, denn die soziale Offenbarung war für Hauriou die Gesamtheit der Gegenstände des Glaubens und der Verhaltens regeln, die auf den Projektionen der sozialen Wirklichkeit in die menschlichen Subjekte oder auf der sich parallel dazu abspielenden Sinnestäuschung beruhen. Die Sozialwissenschaft muß die Autorität der so in der Tradition enthaltenen Offenbarung akzeptieren. Diese Offenbarung darf jedoch nur subsidiär und unter der Kontrolle der Vernunft verwendet werden. 17 Die Institution ist die Idee von einem Werk oder Unternehmen, das sich in einem sozialen Milieu in rechtlicher Weise verwirklicht und von Dauer ist. Es gibt hiervon zwei Arten: die gruppenbezogenen Institutionen (institutionsgroupes) - die sozialen Verbände, die durch ein gemeinsames Bewußtsein von Individuen konstituiert werden, und die sachbezogenen Institutionen (institutions-choses) - die Beziehungen mit jemand anders.

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1. Teil: GeschIchte der Rechtssoziologie

entstammen einer rein intuitiv entwickelten Theorie und nicht empirischer Forschung18 • Wir wollen diese Ausführungen über soziologisch interessierte Juristen auf eine etwas paradox erscheinende Weise abschließen, indem wir die Soziologien dreier PrivatrechtIer zusammenstellen, deren einziges einigendes Band die Tatsache ist, daß sie alle zumindest auf soziologischem Gebiet verkannt worden sind. 1. Die Soziologie von Jean Cruet 19 • Es war nichts Neues, den offiziellen Rechtsquellen die wirklichen Quellen entgegen zu setzen. Bereits Geny hatte dies getan. Cruet ging allerdings viel weiter in der Erforschung der nicht juristischen Schichten, aus denen das Recht hervorgebracht werden kann, denn seine allgemeine Hypothese war die, daß das Recht spontan dem Schoße der Gesellschaft entspringen kann. Diese Auffassung vertrat er schon vor Ehrlichs Aufruf. Auf dieser Basis analysierte er in soziologischer Weise Erscheinungen wie die Ineffektivität und die Auswirkung von Gesetzen, und er erahnte die Möglichkeiten der Gesetzgebungssoziologie. Zu diesen Ergebnissen kam er durch ihm eigene überlegungen; er hatte sich wohl mit den Soziologen seiner Zeit befaßt, allerdings mehr mit Tarde als mit Durkheim. 2. Die Soziologie von Emmanuel Levy. Auf dem Gebiet des Rechts war er eher als Sozialist20 denn als Soziologe21 bekannt. Er war dennoch Soziologe und als solcher mit der Durkheimschule verbunden, von der er sich jedoch durch seinen Subjektivismus und im Grunde durch seinen Idealismus entfernte. Die Originalität seiner Rechtssoziologie bestand in ihrer Eigenschaft als Sozialpsychologie, welche die Betonung auf die Rolle des Glaubens legte, und zwar gemäß seinem berühmten Ausdruck: "Der Glaube schafft das Recht" (rechtstechnisch beruht dies auf der Rolle des guten Glaubens im Zivilrecht). 3. Die Soziologie von Georges Ripert. Er bezeugte im allgemeinen keinerlei Wertschätzung für die Soziologie. Aber er betrachtete das Recht mit derart unerbittlicher Schärfe, daß er es bei Bedarf auch soziologisch erfaßte. Der Gesetzesentstehung, den Kräften der Beharrung, den Interessenverbänden sowie der Aufnahme und Ablehnung von Gesetzen durch die Gesellschaft widmete er Analysen, die soziologisch waren, ohne es sein zu wollen22 • 18 Vgl. in diesem Sinne L. Siorat: La sociologie du doyen Maurice Hauriou, Annales de la Faculte de droit de Toulouse, 1968 (16,2), S. 47 ff. 18 Cruet war nicht Professor, sondern Anwalt. Er starb jung und war schnell vergessen. Seine Rechtssoziologie findet sich in einem kleinen Band mit dem bezeichnenden Titel: La Vie du droit et l'impuissance des lois (1908). 20 La Vision socialiste du droit, 1927 (vgl. G. Ripert: Le socialisme juridique d'Emm. Levy, Revue critique de droit et de jurisprudence, 1928). 21 über die Rechtssoziologie von Emm. Levy vgl. Gurvitch (1940), S. 109 ff. 22 Les Forces creatrices du droit, 1955, z. B. Nr. 28, 33, 39, 150, 172 ff.

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6. nie deutsche Rechtssoziologie: Max Weber und Theodor Geiger Diese beiden Autoren haben miteinander gemein, ganz offen, wenn auch nicht ausschließlich, Rechtssoziologen gewesen zu sein. Der eine, Max Weber, ist weithin berühmt, und sein Stern steht hoch am Firmament der Wissenschaft, während der andere, Theodor Geiger, weniger bekannt ist, wobei aber sein Stern im Aufsteigen begriffen ist. Sie repräsentieren zwei aufeinanderfolgende Generationen, und von einem Denken zum anderen sieht man den Einfluß, wenn nicht die Herkunft. a) Max Weber verdankt es seiner sehr umfassenden Bildung, daß er in mehreren Disziplinen gleichzeitig berühmt geworden ist l • Als Wirtschaftshistoriker stellte er eine Hypothese auf, wonach der Ursprung des Kapitalismus in der protestantischen Ethik (vielleicht genauer in der nachkalvinischen Ethik) zu suchen ist; die Diskussion hierüber ist auch heute noch im Gange. Als Vertreter der allgemeinen Soziologie hat er die verstehende Soziologie begründet, deren Aufgabe er in einer rationalen Interpretation des Sinnes, den die Handelnden ihrem sozialen Verhalten beilegen, sah. Als Methode hierfür propagierte er die der Idealtypen, worunter reine Typen zu verstehen sind, die als solche nicht in der historischen Wirklichkeit vorkommen, da diese stets einzigartig ist, aber die doch aus Elementen der Wirklichkeit im Hinblick: auf bestimmte Gesichtspunkte konstruiert sind und zum Verständnis derselben beitragen. MaxWebers Rechtssoziologie zog aus diesen reichen und vielseitigen Erfahrungen aus verschiedenen Disziplinen großen Nutzen; es muß jedoch erwähnt werden, daß sie in seinem großen Werk von allgemeinem Charakter, "Wirtschaft und Gesellschaft", nur in Gestalt eines besonderen Kapitels vertreten ist2 • Nichtsdestoweniger hat keiner so wie er die Selbständigkeit dieses neuen Fachgebietes klargestellt, indem er sich bemühte, das Wesen des Rechtlichen im Gegensatz zur Sitte oder Moral zu bestimmen3 • Bei diesem Bemühen stieß er auf eine für ihn sehr bedeutungsvolle Erscheinung, die mit dem Begriff des Rechtsstabes, welcher aus Inhabern der Staatsrnacht, Richtern, Juristen usw. besteht, und dem die Aufrechterhaltung der Normen und deren Sanktionierung obliegt, zu umschreiben ist. Schon allein durch dessen bloße Anwesenheit werden soziale Normen, auf deren übertretungen er reagiert, als rechtliche charakterisiert. Im großen und ganzen, von etwaigen Störungen und überbleibseln abgesehen, vollzog sich die Ent1 über Max Weber (1864 - 1920) im allgemeinen vgl. Raymond Aron: La sociologie allemande contemporaine, 1936, 3. Kap.; J. Freund: Sociologie de Max Weber, 1966. über die Rechtssoziologie von Max Weber vgl. J. Grosclaude: Max Weber et le droit natureI, A.P.D., 1961, S. 107 ff.; Brimo, 1968, S. 354 ff. 2 Wirtschaft und Gesellschaft, 1922, 2. Teil, 7. Kap.: Wirtschaft und Recht (Rechtssoziologie). 3 Vgl. Hilterhaus: Zum Rechtsbegriff in der Soziologie Max Webers, Diss. Köln 1965.

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1. Teil: Geschichte der Rechtssoziologie

wicklung vom irrationalen Typ der primitiven Gesellschaften (mit charismatischem Führer und Kadi-Justiz) zum rationalen Typ der modernen Gesellschaften (mit dem technisch versierten Verwaltungsmann und dem logisch denkenden Juristen). Max Weber ist der Auffassung, daß die kapitalistische Gesellschaft nach Rationalität des Rechts verlangt. Man kann von einem Weberschen Gesetz sprechen, das wie folgt lautet: der Fortschritt des Rechts vollzieht sich im Sinne einer Rationalisierung und daher auch einer zunehmenden Spezialisierung und Bürokratisierung. Wie alle historischen Gesetze hat dieses seinerseits den Gang der Geschichte beeinflußt, denn seit man Max Weber kennt, scheinen weniger Hemmungen zu bestehen, Regelung auf Regelung zu erlassen, da dies als notwendig für den Fortschritt gilt. Für manchen hat sich in den Ereignissen vom Mai 1968 zum ersten Male dieses Gesetz nicht mehr bestätigt; etwas selbstgefällig sehen diese darin wohl eine Vergeltung der Spontaneität Ehrlichs gegenüber dem Rationalismus Webers. Es bleibt jedoch dabei, daß er großen Einfluß nicht nur in Deutschland, sondern auch in den USA und darüber hinaus in Japan ausgeübt hat. In Frankreich scheint das Fehlen einer übersetzung die Verbreitung seiner Gedanken beeinträchtigt zu haben. b) Theodor Geigeri hat ein bedeutendes Werk auf dem Gebiet der allgemeinen Soziologie hinterlassen, aber vielleicht sticht er mehr auf dem Gebiet der Rechtssoziologie hervor, da dort weniger Konkurrenz besteht. Er selbst hat seine Lehre als soziologischen Rechtsrealismus bezeichnet. Der Ausdruck überrascht auf den ersten Blick, denn in seinen berühmten Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts 5 scheint noch sehr viel Theorie, ja sogar Rechtsphilosophie, so z. B. über die Natur der Norm, die Unterscheidung von Recht und Moral sowie von Recht und Macht, enthalten zu sein6 • Und was mit zu dem Eindruck beiträgt, daß man es mit einer sehr abstrakten Soziologie zu tun hat, das ist der Gebrauch von an die Algebra erinnernden Symbolen, die er in großem Umfange verwendet. Wer nicht sehr mathematisch veranlagt ist, fühlt sich abgestoßen und spricht von bloßen Spielereien. Man muß nichtsdestoweniger zugeben, daß diese Formalisierung einen pädagogischen Wert hat, vor allem indem sie es erlaubt, durch den Vergleich der Formeln die Verbindung zwischen den beschriebenen Erscheinungen zu erfassen. Darüber hinaus bemerkt man auch, was den wirklichen Realis4 über Leben (1891 - 1952) und Werk Theodor Geigers vgl. E. Rahrer: La socialogie de Theodor Geiger, A.S., 1968, S. 101 ff., und La Sociologie juridique de Theodor Geiger, Diss. (vervielfältigt), Paris 1971; Fleischmann, A.E.S., 1965, S. 329 ff. S Die erste Auflage erschien 1947 in Kopenhagen (Geiger war nach Dänemark emigriert und erwarb selbst die dänische Staatsangehörigkeit). Neuauflage 1964 in Neuwied und Berlin (mit einer Einführung von Trappe). 6 Bezüglich all dieser Fragen brach Geiger sehr philosophische Lanzen mit der Uppsala-Schule (Lundstedt, K. Olivecrana usw.).

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mus von Geiger ausmacht, und das ist seine Ablehnung der vom dogmatischen Recht, dem positiven oder dem Naturrecht überkommenen Begriffe und Vorstellungen und sein Bemühen, sich auf Tatsachen aus der Ethnologie, der Geschichte oder der zeitgenössischen Rechtspraxis zu stützen. Im Detail finden sich viele geistreiche Analysen, so z. B. betreffs der psychologischen Entstehungsgeschichte der Gewohnheit, der Messung der Effektivität, des Schismas der Moral in industriellen Gesellschaften usw. Das Werk wird in Frankreich vielleicht eher durch diese Details als durch das System selbst die Beachtung finden, die es auf jeden Fall verdient.

7. Die Schule der "Sociological Jurisprudence" Man hat sich hierunter eine soziologische Rechtstheorie und nicht Jurisprudenz im Sinne von Richterrecht vorzustellen, auch wenn man in einem Land wie den Vereinigten Staaten, dann wenn man von Recht spricht, unweigerlich an die Rechtsprechung denkt. Diese Schule war in Amerika beheimatet, obschon derjenige, der als ihr Haupt gilt, Roscoe Pound!, Rechtslehrer in Harvard war, so waren doch seine berühmtesten Schüler (Holmes, Cardozo und Brandeis) Richter am obersten Gerichtshof, dem Supreme Court2 , die sich mit vollen Kräften dafür einsetzten, in ihre Entscheidungen etwas von ihrer Lehre einfließen zu lassen. Worin bestand nun diese Lehre? Sie hatte zwei Seiten; die eine war der Wissenschaft, die andere der Praxis zugewandt. a) Auf wissenschaftlichem Gebiet gab es in den Werken der soziological jurisprudence ein ständiges und unbestreitbar soziologisches Bemühen, das Recht mit nichtrechtlichen Faktoren, d. h. mit anderen sozialen Erscheinungen, in Verbindung zu bringen. Dieses Bemühen kommt in einer Reihe von Aphorismen zum Ausdruck: Gesetze und Urteile haben Folgen für das Sozialleben; sozialer Wandel determiniert die Entwicklung des Rechts; die Effektivität der Rechtsnormen hängt vom Grad der Unterstützung ab, den sie in der öffentlichen Meinung finden usw. All dies scheint heute banal zu klingen; bezüglich der Juristen und vor allem der Richter zu Ende des vorigen Jahrhunderts war dies jedoch nicht der Fall. Ehrlich erfaßte dieses Gedankengut systematisch, und wir verstehen nun, weshalb die englischsprachige Ausgabe seiner Grundlegung in den Vereinigten Staaten Einlaß fand und dort als Manifest einer bereits anerkannten Doktrin gelten konnte. 1 über Roscoe Pound (1870 - 1964) vgl. Brimo, 1968, S. 350 ff.; vgl. die Notiz in der R.LD.C., 1964, S. 811. 2 Einige haben ihr Denken in Büchern oder Artikeln zusammengefaßt: Oliver Wendell Holmes: The path of the law (1897), The common law (eine Reihe von Vorträgen aus dem Jahre 1881, Neuausgabe 1968); Louis Brandeis: Living law, in Illinois Law Review, 10 (1916), S. 461 ff.; Benjamin Cardozo: The nature of the judicial process, 1921; The paradoxes of legal science, 1928.

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1. Teil: Geschichte der Rechtssoziologie

Der originellste Beitrag dieser Schule für die Rechtssoziologie (er ist so originell, daß er außerhalb Amerikas kaum Aufnahme gefunden hat) besteht darin, neues Licht auf das Recht geworfen zu haben, und zwar durch dessen Einfügung in die allgemeinere soziologische Kategorie der sozialen Kontrolle. Roscoe Pound stand unter dem unmittelbaren Einfluß des Schöpfers dieses Begriffes, Edward Alsworth Ross3. Für Ross und die amerikanische Soziologie umfaßt die soziale Kontrolle die Gesamtheit der Mittel, mit denen die Gesellschaft ihren Zusammenhalt gewährleistet. Es handelt sich hierbei nicht unbedingt um Verhaltensregelungen und schon gar nicht sanktionsbewehrte, sondern um eine sehr abgeschwächte Formulierung des sozialen Zwanges. In bestimmten Zusammenstellungen der Formen dieser Kontrolle 4 sind neben der Sitte und Moral so disparate Dinge wie die Erziehung oder die Kunst sowie die persönlichen Ideale oder die Schmeicheleien enthalten. Im Grenzfall läge schon beim gerinsten Einfluß des Ganzen auf die Teile eine Erscheinung der sozialen Kontrolle vor. Das Recht stand bereits in den herkömmlichen Listen, und das besondere Verdienst von Roscoe Pound war es, die Stellung des Rechts auf dieser Grundlage neu überdacht und in seinem Wesen als Element in der Gesamtheit der sozialen Kontrolle neu definiert zu haben. Damit war bei ihm jedoch nicht gemeint, daß das Recht auf gleichem Fuße mit den anderen Elementen sein sollte, denn der Jurist gewann gegenüber dem Soziologen in ihm die Oberhand, und so ist für ihn in modernen Gesellschaften das Recht das wichtigste Instrument der sozialen Kontrolle und auch das vollkommenstes. Das hat manchem Kritiker erlaubt zu bezweifeln, daß es in der sociological jurisprudence mehr als nur einen soziologischen Anstrich gab. b) Auf praktischem Gebiet bemühte sich die amerika nische Schule vor allem um Erkenntnisse für die richterliche Entscheidungskunst. Nachdem sie festgestellt hatte, daß die Rechtsfindung nicht das Ergebnis der Logik, sondern der Erfahrung ist (ein berühmtes Wort von Holmes), propagierte sie für die Rechtsprechung eine Änderung ihrer Methoden, und zwar die Ersetzung der Deduktion durch die Induktion: in jedem Falle muß überprüft werden, welche konkreten Folgen die Entscheidung 3 Ross stellte seine Theorie in einer Reihe von Artikeln im American Journal for Sociology dar; im Jahre 1901 schrieb er hierüber sein berühmtes Werk "Social control" (2. Auflage 1928). Vgl. R. T. La Piere: A theory of social control, 1954; Pages: Social control, la regulation sociale et le pouvoir, R.F.S., 1967, S. 207 ff. 4 Vgl. z. B. das von A. Cuvillier, 1950, § 95, zusammengestellte Inventar. S Vor allem in Social control through law (1942), das kein Jugendwerk ist, hat Pound diese Schwierigkeit empfunden, in vollem Umfange soziologisch zu sein (vgl. Gurvitch, 1960, Band 2, S. 188). Seine Jugendlichkeit als Soziologe war im Jahre 1906 wahrscheinlich viel ausgeprägter, nämlich als er seine berühmte Rede "über die Ursachen der gefühlsbedingten volkstümlichen Vorurteile gegen die Rechtspflege" (ein immer aktuelles Thema) hielt.

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Di~

Rechtssoziologie im 20. Jahrhundert

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haben wird. Damit wird dem Richter eine große Freiheit nicht nur in der Auslegung der Gesetze, sondern auch in rechtsschöpferischer Hinsicht zuerkannt. Nachdem wir bereits die Ähnlichkeit der Lehren dieser Schule mit denen Ehrlichs gesehen haben, kommen wir nun auch nicht umhin, eine in der Praxis bestehende Verwandtschaft zwischen dieser Schule und den Rechtsfindungslehren der deutschen Freirechtslehre anzuerkennen. Was jedoch fraglich bleibt, ist, ob eine solche Methode allein deshalb, weil sie sich gegen die syllogistischen Verfahren der herkömmlichen Jurisprudenz wendet, ein soziologisches Verfahren ist. Das Billigkeitsurteil, denn um dessen Wiederaufleben handelt es sich im Grunde, ist eine soziale Erscheinung aller Zeiten. Es ist somit nicht ersichtlich, daß dies auf dem Gebiet der Rechtsprechung die getreueste Anwendung einer ihrem Anspruch nach wissenschaftlichen Soziologie darstell t 6 • 8. Die psychologischen Tendenzen

Unter dieser Rubrik vereinigen wir verschiedene Rechtssoziologien, deren einzige übereinstimmung darin liegt, daß sie jeweils von der Psychologie herkommen. Es handelt sich hier um eine bedeutsame übereinstimmung, denn sie wirft Licht auf eine freimütig bekannte Neigung zu mehr Subjektivismus in der Nachdurkheimschen Soziologie. Ansonsten ist es offensichtlich, daß zwischen der Psychologie Freudscher Provenienz und derjenigen der amerikanischen Sozial psychologen zahlreiche Unterschiede bestehen. a) Die Psychologie von Sigmund Freud. Ihre Einmaligkeit rührt von ihrer Begründung auf eine Tiefenpsychologie her. Wie kann aber eine allem Anschein nach reine Individualpsychologie auf die Soziologie ausmünden? Hierüber scheint jedoch kein Zweifel mehr zu bestehenl , und wir wollen uns daher begnügen, die Auswirkungen des bohrenden Denkens von Freud und seinen Schülern in den dem Recht nahen Soziologien aufzuweisen. Eine derartige Auswirkung ist in der Kriminalsoziologie 2 und in der Familiensoziologie sehr deutlich zu erkennen (der übergang von der einen zur anderen vollzieht sich im übrigen mühelos 8 Renato Treves hat stets mit besonderer Schärfe zwischen der Rechtssoziologie und der soziologischen Jurisprudenz unterschieden: vgl. 11 contributo delle scienze sociali aHo studio deI diritto, Rivista internazionale di filosofia deI diritto, 1958, S. 526 ff., insbesondere S. 539; Considerazioni intorno alla sociologia juridica, Rivista trimestriale di diritto e procedura civile, 1960, S. 169 ff., insbesondere S. 175 ff.; Sociologia deI diritto, 1969 - 1970, S. 72 und S. 91. Seiner Auffassung nach verträgt sich die soziologische Denkweise auf dem Gebiet der rechtsprechungsbezogenen Anwendungen besser mit dem Rechtspositivismus als mit der sogenannten "sociological jurisprudence" und den Methoden der Freirechtslehren. 1 Vgl. Roger Bastide: Sociologie et psychanalyse, 1958. 2 Vgl. S. Hesnard: Psychologie du crime, 1963, S. 277 ff.

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1. Teil: Geschichte der Rechtssoziologie

über den Inzest und den Vatermord); er findet sich aber auch in der allgemeinen Soziologie der Rechtsnormen (der Mensch beginnt mit dem Verbrechen und daher mit dem Gesetz). In Totem und Tabu findet sich in diesem Sinne eine Hypothese über die Entstehung der Verbindlichkeit3 • Man kann hiergegen nicht einwenden, daß dabei nur die Moral und nicht das Recht behandelt wird, denn in primitiven Gesellschaften werden die Arten der Verbindlichkeit noch nicht voneinander geschieden4 • Ganz allgemein hat die Psychologie Freudscher Provenienz die Aufmerksamkeit auf die Erscheinungen der Repression und der Submission gelenkt, ohne die das Recht nicht verstanden werden kann5 • b) Die Lehren der amerikanischen Sozialpsychologen. Auch wenn der eine oder andere ihrer Vertreter gelegentlich einzelne Elemente aus der Psychoanalyse übernimmt, so liegt doch bei diesen Lehren der Schwerpunkt auf einem anderen Gebiet und nicht auf dem der Sexualität oder der affektiven Bewußtseinszustände. Um die sozialen Phänomene und, in zweiter Linie, die Rechtserscheinungen zu erklären, analysieren sie diese vermittels Begriffen der Rationalität oder genauer der Zweckmäßigkeit, und zwar in einer dem angelsächsischen Pragmatismus vertrauten Denkweise. 1. George Herbert Mead 6 • Warum kann der Mensch mit dem Menschen spielen, während der Hund, der seinem Herrn den Ball zurückbringt, nicht spielt, obwohl es so aussieht? Das liegt daran, daß der menschliche Spieler sich geistig an die Stelle des Anderen, ja sogar an die Stelle aller anderen Spielteilnehmer versetzen kann. Auf Grund der Fähigkeit des Individuums, die Rolle der anderen zu verinnerlichen und damit in sich den verallgemeinerten Anderen zu bilden, werden die Regeln des sozialen Spiels und schließlich auch des Rechtssystems geschaffen; im Falle eines Spieles zu zweit wird auf diese Weise ein Vertrag wirksam7 • 3 Indem es sich dem Es, dem Reservoir an Trieben und Regungen, das den psycho-biologischen Untergrund der Persönlichkeit bildet, widersetzt, schafft das Über-Ich, das aus der Identifikation mit der verinnerlichten Elterngestalt resultiert, das Ideal, dem das Individuum sich verpflichtet fühlt. 4 Vgl. J. Henriot: Existence et obligation, 1967, S. 92 ff. S Vgl. Reynard West: Conscience and society, a study of the psychological requisites of law and order, 1942, S. 76 ff. Es scheint nicht so, als habe Sigmund Freud (1856 - 1939) aus seinem System normative Folgerungen abgeleitet. Diese Folgerungen sind erst von einigen fern stehenden Schülern in aufsehenserregender Form (welche man eher antinormativ nennen könnte) gezogen worden, nämlich von Herbert Marcuse und vor allem von Wilhelm Reich. 6 Das am sorgfältigsten gearbeitete Werk von G. H. Mead (1863 -1932): Mind, Self, and Society, das erst 1934 erschien, ist ins Französische unter dem Titel "L'Esprit, le Soi et la SociE~te" (mit einem Vorwort von Gurvitch) übersetzt worden. 7 Es gibt heute in Amerika eine soziologische Richtung, die das Sozialleben als einen Komplex von Konflikten auffaßt und diesen mit spieltheoretischen Ansätzen beizukommen sucht. Z. B. Martin Shubik u. a.: Game theory and

2. Kap.: Die Rechtssoziliologie im 20. Jahrhundert

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2. Talcott Parsons8 legt den Akzent auf die Handlung. Die sozialen Tatbestände sind keine Sachen, sondern willensgetragene Verhaltensabläufe und sinnhafte Beziehungen des Individuums im Hinblick auf bestimmte Situationen. Zwischen den Individuen entsteht Kommunikation, weil ihre Handlungen durch ein gemeinsames Wertsystem orientiert sind. Aber dieses gemeinsame Wertsystem - oder nehmen wir hieraus einen Teil und nennen es das Rechtssystem - ist nicht von einer über den Individuen stehenden Instanz gestiftet, sondern es beruht auf individuellen Interaktionen, und eine Handlung entspricht einer Norm, wenn sie dem entspricht, was die anderen von uns erwarten. Diese interindividuellen Beziehungen sind jedoch nicht isoliert denkbar; sie fügen sich in verhältnismäßig beständige Gefüge, in Strukturen, ein. Die Familie in der industriellen Gesellschaft ist ein gutes Beispiel für solche Strukturen, die psychologisch und auf der Grundlage von individuellen Interaktionen analysiert werden können und müssen 9 ; sie könnte aber auch unter ihrem funktionellen Aspekt analysiert werden, denn jedes soziale System erfüllt vier notwendige Funktionen: Anpassung, Zielbestimmung, Aufrechterhaltung der Grundstrukturen und Systemintegration (worin die Rolle des Rechtlichen enthalten zu sein scheint10).

3. Robert King Merton ll . Bei ihm vollzieht sich der übergang von der strukturell-funktionalen zur rein funktionalen Theorie. überspitzt formuliert erscheint der Funktionalismus wie eine weltliche Form des philosophisch-theologischen Finalismus (in der Art des Bernardin de Saint-Pierre): alles, somit auch alle rechtlichen Erscheinungen und Institutionen, dient einem Zweck12 • Hieraus könnte für die Gesetzgebung der Schluß gezogen werden, daß nichts geändert werden soll. Die Theorie ist jedoch verfeinert worden: es gibt gute, aber auch schlechte Funktionen, die Disfunktionen 13 , und die Kunst des Gesetzgebers besteht in einer related approaches to social behaviour, 1964; S. Lyman und M. Scott: Game frameworks, in A sociology of the absurd, 1970, S. 29 ff. Anscheinend ist jedoch noch nicht der Versuch unternommen worden, im eigentlichen Sinne rechtliche Beziehungen, etwa vertragliche oder prozessuale, einer derartigen Analyse zu unterwerfen. 8 Von T. Parsons vgl. in französischer Sprache die Auswahl von F. Bourricaud, die eine bedeutende Einführung sowie eine Bibliographie enthält und unter dem Titel "Elements pour une sociologie de l'action" (1955) erschienen ist. Bezüglich seiner funktionalen Rechtstheorie vgl. Parsons Beitrag "The law and social control" in dem von W. M. Evan herausgegebenen Sammelband: Law and sociology, 1962, S. 56 ff. 9 Parsons: Essays in sociological theory, pure and applied, 1949, S. 233 ff. 10 Vgl. H. C. Bredemeier: Law as an integrative mechanism, in W. M. Evan: Law and sociology, 1962, S. 73 ff. U 1)ber R. K. Merton vgl. in französischer Sprache die unter dem Titel "Elements de theorie et de methode sociologiques" (1965) erschienene Auswahl. 12 Man hat diesen Finalismus dem Ethnologen B. Malinowski (Une theorie scientifique de la culture, 1968) zugeschrieben. 13 So wurde in Frankreich unter dem Direktorium eine Fenster- und Türensteuer eingeführt, deren Funktion die Schaffung einer Einnahmenquelle für

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1. Teil: Ges'Clüchte der RJechtssoziologie

Abwägung nach diesen Kriterien. Es soll indessen vor allem Werturteil von der funktionalen Theorie ein besseres Verständnis des Rechts und seiner Institutionen erwartet werden. Unter diesem Gesichtspunkt hat eine Unterscheidung grundlegende Bedeutung, und zwar die zwischen manifesten und latenten Funktionen. So können z. B. die Strafrechtssanktionen zu bestimmten Zeiten oder auch je nach dem Fall als manifeste Funktion die Sühne, die General- oder Spezialprävention oder die Besserung verfolgen und als latente Funktion eine Abreagierungsmöglichkeit für die sadistischen Instinkte der Gesellschaft darstellen. Die latente Funktion ist unbewußt, was uns wieder zu Freud zurückführt14 •

9. Gegenwärtiger Stand der Rechtssoziologie Zur Stunde ist die Rechtssoziologie in allen Ländern in Forschung und Lehre vertreten. Von Land zu Land bestehen jedoch starke Akzentverschiebungen, die vielleicht diejenigen in der allgemeinen Soziologie übertreffen, denn zu der Verschiedenheit der Kultur und der Psychologie sowie der Wißbegierde und der Mittel gesellt sich, selbst wenn sie nur künstlich ist, die Unterschiedlichkeit der Rechtssysteme. Es wäre vermessen, an dieser Stelle eine Zusammenstellung der Tätigkeiten in Forschung und Lehre in allen Ländern geben zu wollen1 • Wir ziehen es vor, die Betonung auf eine Erscheinung zu legen, die in gewisser Weise ein Gegenmittel in bezug auf die nationalen (und sehr viele andere) Aufsplitterungen ist, nämlich die internationalen Kongresse 2 und die Vereinigungen, welche deren Rückgrat bilden. über die Grenzen den Staat war und deren Disfunktion darin bestand, zum Bau von Häusern ohne Licht anzuregen. Das Gesetz über die gleichmäßige Erbteilung hatte die Funktion, die Zahl der kleinen Besitzer zu vermehren und seine Disfunktion lag darin, zur Geburtsbeschränkung zu veranlassen. 14 Ganz allgemein kann man die manifesten Funktionen jedes Rechtssystems in folgendem sehen: in der Verstärkung der sozialen Kontrolle, in der Lösung von Konflikten und in der Aufrechterhaltung einer Tradition. Hinter jeder dieser Funktionen läßt sich eine latente Funktion entdecken, die hierzu die Antithese darstellt. Das Eingreifen des Rechts kann die soziale Kontrolle viel flexibler gestalten (denn über das Recht kann man diskutieren, über die Sitte dagegen nicht). Das Recht erzeugt eine Vielzahl von Streitfällen, die ohne es nicht bestünden. Das Recht (in der Gestalt des Gesetzes und nicht der des Gewohnheitsrechts) ist ein Mittel der Reform und der Revolution. I Eine derartige Zusammenstellung ist unter der Leitung von Renato Treves (und mit einer bedeutenden Einführung von ihm) in italienischer Sprache in folgendem Sammelband erschienen: La sociologia deI diritto, problemi i ricerche, Mailand 1966, ergänzt durch: Nuovi sviluppi della sociologia deI diritto, Mailand 1968. Wir können hier nicht alle nationalen Bestandsaufnahmen erwähnen und wollen deshalb nur die von F. Terre für Frankreich zitieren (S. 305 - 343), deren französischer Text im wesentlichen in J.C.P. 1966, 1, 2015 unter dem Titel: "Un bilan de sociologie juridique" enthalten ist. 2 Vgl. Cl. Tapia: Les fonctions sociales des colloques, C.I.S., 50 (1971), S. 133 ff.

2. Kap.: Die Rechtssoziologie im 20. Jahrhundert

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hinweg ermöglichen sie die Information, die Diskussion und eine gewisse Vereinheitlichung der Themen und Methoden3 • In jedem Land sind die Rechtssoziologen von zwei entgegengesetzten Richtungen aus zu dieser Wissenschaft gelangt, und zwar zum einen vom Recht und zum anderen von der Soziologie her. In der Praxis sind sie entweder Juristen mit zusätzlichen soziologischen Kenntnissen oder Soziologen mit ergänzender rechtlicher Bildung. Schon die Art und Weise, in der die Rechtserscheinungen betrachtet werden, verrät oft die Herkunftsdisziplin. So sieht z. B. bei der Untersuchung der Lage der geschiedenen Frau der eine die Auswirkungen des Verfahrens und die Probleme der Unterhaltszahlungen, während der andere die Isolierung und das Ärgernis wahrnimmt. Was ist nun besser? Es wäre unklug, dies vorweg zu entscheiden. In der Praxis versucht man durch die Bildung interdisziplinärer Gruppen die jeweiligen Fähigkeiten zu addieren oder die Inkompetenzen zu neutralisieren. Aber die Kommunikation zwischen den Disziplinen wird durch die Tatsache behindert, daß bei manchen die deduktive und bei anderen die dialektische Denkweise vorherrscht und selbst die einfachsten Begriffe wie Vertrag, Sitte, Norm, Verwandschaft, Besitz, Status usw. 4 nicht mehr denselben Sinn oder zumindest nicht denselben Beiklang haben. Die Gruppierung verschiedener Disziplinen stellt selbst wieder eine Disziplin dar (eine Kollisionsdisziplin analog dem Internationalen Privatrecht), die aber noch der Ausarbeitung ihrer Methode harrt5• Wenn man schließlich einmal über die nationalen und fachlichen Trennwände hinwegblickt, so fällt auf, daß zur Zeit so gut wie überall eine andere Trennung besteht, und zwar die in eine theoretische Soziologie auf der einen Seite, welche auf der Grundlage eines Studiums von Büchern und Dokumenten vom Schreibtisch aus wirkt, und in eine empirische Soziologie auf der anderen Seite, welche Feldforschung betreibt. Die Vorherrschaft der theoretischen Soziologie dauert an und sei es auch nur aus finanziellen Gründen, da sie viel weniger kostspielig ist. In Ermangelung der nötigen materiellen Mittel entwickelte sich 3 In dieser Hinsicht ist es nur recht und billig, die Association internationale de sociologie (International Sociological Association) zu zitieren, die anläßlich ihres Kongresses von Washington im Jahre 1962 die Bildung eines besonderen Ausschusses für rechtssoziologische Forschungen in ihrem Rahmen beschlossen hat (Research committee of sociology of law). Dieser Ausschuß hat auf den vom internationalen Soziologenverband abgehaltenen Kongressen in Evian (1966) und Varna (1970) eigene Aktivität entfaltet. Vgl. VerseLe: Legros et Estenne, Sociologie du droit et de la justice, Brüssel 1970, vor allem S. 139 ff. 4 Vgl. M. Grawitz: De l'utilisation en droit de notions sociologiques, A.S., 1966, S. 415 ff. S In diesem Sinne hatte im Jahre 1961 ein vom internationalen sozialwissenschaftlichen Beirat der UNESCO einberufener Gesprächskreis das Problem der institutionellen Mittel der Zusammenarbeit zwischen den Sozialwissenschaften zum Gegenstand, jedoch hat seit dem Jahre 1968 das Problem der interdisziplinären Kooperation in Frankreich eine neue Dimension angenommen.

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1. Teil: Geschichte der Rechtssoziologie

die empirische Forschung in der Rechtssoziologie langsamer als in den anderen Zweigen der Soziologie. Es scheint jedoch, daß ungefähr seit 1960 die Rechtssoziologen in allen Ländern ihre Strategie geändert haben: anstatt erst die Schlußfolgerungen einer spekulativen Rechtssoziologie abzuwarten, um dann zur Tat zu schreiten, wenden sie sich von vornherein der an gewandten Soziologie zu, so unvollkommen auch die Ausstattung sein mag, und hoffen, hierdurch das Interesse möglicher Auftraggeber, vor allem in der Verwaltung, auf sich zu ziehen und so mehr Mittel für neue und tiefergreifende, zuerst empirische und dann die Grundlagen betreffende Forschungen zu erhalten. Man muß jedenfalls sowohl der angewandten und empirischen als auch der theoretischen Soziologie Rechnung tragen, wenn man eine auch noch so vereinfachte Bilanz der Rechtssoziologie ziehen will. a) In der Empirie ist die sehr ungleiche Berücksichtigung der verschiedenen Gebiete auffallend, vorausgesetzt man versteht unter dem Gegenstand der Rechtssoziologie die Darstellung sämtlicher Rechtsgebiete. Wenn wir uns das Universum des Rechts wie auf eine Himmelskarte projiziert vorstellen, so fallen zwei Gebiete besonders starker soziologischer Aktivität auf: 1. die Familie (weil hierüber gleichzeitig die allgemeine Soziologie arbeitet) und 2. die Rechtsquellen (weil sich die allgemeine Soziologie stets für die Politik und damit für das öffentliche Recht interessiert hat). Die Rechtsquellen umfassen die Rechtsnormen, das Urteil, den Befehl und die primären Erscheinungen, welche etwas an Herrschaftsgewalt in sich tragen. Diese Erscheinungen werden um ihrer selbst willen untersucht, aber sie bilden auch einen Anlaß, die hieran unmittelbar beteiligten Personen zu studieren, etwa in der Art von Max Weber, der besonderen Nachdruck auf die Tätigkeit des Rechtsstabes gelegt hat. Dies erklärt auch das Vorliegen einer solchen Fülle von Arbeiten über die Juristen als Berufsgruppe und insbesondere über die Richter 6 • Eine andere Forschungsrichtung bemüht sich, systematisch 6 Diese Untersuchungen haben sich vor allem in Deutschland entwickelt, was sich zum einen durch den Einfluß von Max Weber und zum anderen durch das Nachdenken über die Haltung der Richter in der NS-Zeit erklärt: Albrecht Wagner: Der Richter, 1959; R. Dahrendorf: Zur Soziologie der juristischen Berufe in Deutschland, Anwaltsblatt, 14 (1964), S. 216 ff.; K. Zwingmann: Zur Soziologie des Richters in der Bundesrepublik, 1966; R. König und W. Kaupen: Soziologische Anmerkungen zum Thema Ideologie und Recht, in Hirsch-Rehbinder (1967), S. 356 ff. Solche Untersuchungen gibt es jedoch auch in den USA: Talcott Parsons: A sociologist looks at the legal profession, in: T. Parsons: Essays in sociological theory, 1954, S. 375. - Diese Arbeiten haben meistens die soziale Herkunft der Juristen (eine bürgerliche Abstammung soll konservatives Verhalten erklären), aber auch ihr mehr oder weniger großes Ansehen in der Gesellschaft zum Gegenstand. Es scheint jedoch nicht so, daß man sich objektiv bemüht hat, den wirtschaftlich-sozialen Nutzen der Juristen als Berufsstand zu ergründen. Hierzu lassen sich nur sehr eng begrenzte Einzeluntersuchungen über die Kosten des Eingreifens der Justiz in einem bestimmten Falle finden, z. B. Marc Franklin u. a.: Accidents, money, and the law, a study of the economics of personal injury litigation, in Rita J. Simon (1968), S. 367 ff.

2. Kap.: Die Rechtssoziologie im 20. Jahrhundert

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die Wirkungen der primären Erscheinungen in der Masse der Regierten wiederzufinden und erforscht so in einer Reihe von Einzeluntersuchungen Probleme wie die Kenntnis der Gesetze 7 , das Wissen über Prozesse und deren Verzögerungen8 , das Bild der Justiz in der ÖffentlichkeW usw. Nichts drängt sich zwingend auf, und man bildet vielleicht zu Unrecht die Klassifikationen der Rechtssoziologie den herkömmlichen Kategorien des Rechts nach. Wenn man aber der Rechtssoziologie ihr eigenes Kategoriennetz zugestehen würde, so ergäben sich ganz andere Hauptprobleme, die einer intensiveren soziologischen Erforschung bedürfen, so z. B. die Rechtsakkulturation 10 , das Infrarechtlichell und vor allem das, was man mit dem Ausdruck "Rechtsdynamik" bezeichnen könnte, nämlich den rechtlichen Normenwandel in seiner Beziehung zu den allgemeinen Veränderungen der Gesellschaft1 2 • b) Bezüglich der Theorie wollen wir uns auf die allgemeine Bemerkung beschränken, daß es zwar einige Systeme wie den Pluralismus Gurvitchs und den Realismus Geigers gibt, die man als eigenständig 13 ansehen kann, weil sie allein soziologischer Betrachtung der Rechtserscheinungen entsprungen sind, daß aber doch die Mehrzahl nichts als modifizierte übertragungen von bereits vorher in der allgemeinen Soziologie entwickelten Systemen sind. Die Rechtssoziologie erleidet dasselbe Schicksal wie die Rechtsphilosophie (vielleicht die Naturrechtslehre ausgenommen), und 7 z. B. Torstein Eckhoff: Sociology of law in Scandinavia, Scandinavian studies in law, 1960, S. 34 ff.; K. Kulcscir: La connaissance du droit en Hongrie, A.S., 1967, S. 429 ff. S Wilhelm Aubert: Competition and dissensus, The journal of conflict resolution, 1963, S. 26 ff.; Torstein Eckhoff: The mediator, the judge, and the administrator in confiict resolution, Acta sociologica, Kopenhagen 1966, S. 148 ff. Vgl. V. Aubert (1969), Nr. 16. - über die Verzögerungen der Justiz (die viele Amerikaner beunruhigen), vgl. z. B. Maurice Rosenberg und M. Sovern: Delay and the dynamics of personal injury litigation, Columbia Law Review, 59 (1959), S. 1115 ff. g Hierüber sind fast überall Untersuchungen im Gange; vgl. VerseIe u. a.: Sociologie du droit et de la justice, 1970, passim, und insbesondere für Frankreich die darin wiedergegebene Untersuchung des Laboratoire de sociologie criminelle et juridique de la Faculte de droit de Paris, S. 72. 10 Vgl. S. 153 - 161. 11 Vgl. S. 140. 12 Vgl. S. 148 ff. 13 Als eigenständig müßte hier in erster Linie der Soziologismus angeführt werden, da die Rechtssoziologie selbst darin ihre eigene Philosophie geworden ist (vgl. o. S. 20). Hierunter ist eine Lehre zu verstehen, die die Existenz des dogmatischen Rechts leugnet, indem sie es auf die Rechtssoziologie zurückführt. Zur Widerlegung dieser Theorie vgl. das im übrigen außerordentlich brillante Werk von Paul Amselek: Methode phenomenologique et theorie du droit, 1964, S. 150 ff. Was uns jedoch davon abhält, den Soziologismus in ein Verzeichnis der theoretischen Soziologie aufzunehmen, ist die Tatsache, daß er bei den meisten Autoren, die man für Soziologisten hält (vgl. M. Villey: Le~ons d'histoire de la philosophie du droit, 1962, S. 92 ff.), weniger in Gestalt einer in voller Kenntnis der Materie entwickelten Theorie als vielmehr in der Form einer entschuldbaren und unklaren Tendenz zur übertreibung der Wichtigkeit ihrer Disziplin auftaucht.

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1. Teil: Geschichte der Rechtssoziologie

zwar aus denselben Gründen: sie ist eine abgeleitete Disziplin, die ihre Gedanken einer weniger spezialisierten Disziplin entleiht. Diese Anleihe erfolgte bei ihr sogar oft in sehr komplizierter Weise. Aus einem umfassenden Denksystem ist zuerst eine Soziologie, Psychologie oder Moralphilosophie (eine andere normative Disziplin) abgeleitet worden, und aus dieser abgeleiteten Quelle haben die Rechtssoziologen dann ihrerseits geschöpft. Jede neue Philosophie trägt so in sich eine Verheißung für die Rechtssoziologie. In bezug auf Marx, Durkheim, Freud und andere hat sich diese mehr oder weniger erfüllt; bezüglich des Strukturalismus wird sie sich noch erfüllen 14 •

14 Der Strukturalismus ist sehr differenziert in den Beiträgen von AndreJean Arnaud: structuralisme et droit, AP.D., 1968, S. 283 ff.; La Regle du jeu, 1971.

ZWEITER TEIL

Gegenstand der Rechtssoziologie Vorbemerkung: Die Gedankenführung des Zweiten Teiles Unter dem Gegenstand verstehen wir nicht das Ziel oder die Funktion der Wissenschaft (darüber sprechen wir im 4. Teil), sondern die untersuchte Materie. Wir wissen bereitst, daß man sich nicht einfach damit begnügen kann, der Rechtssoziologie das Recht als Gegenstand zuzuweisen, denn hiermit befaßt sich auch die dogmatische Rechtswissenschaft. Wenn auch diese bei den Wissenschaften denselben Gegenstand haben, so betrachten sie ihn doch unter verschiedenen Gesichtspunkten. Gerade um diese Verschiedenartigkeit der Perspektiven auszudrücken, nennen wir das Recht der dogmatischen Rechtswissenschaft in der Rechtssoziologie Rechtserscheinung. Für die dogmatische Rechtswissenschaft ist das Recht ein zusammenhängender, monolithischer Block. Die Rechtssoziologie hat diesen Block in eine unendliche Vielzahl von Atomen (in zufälligen Verbindungen) aufgelöst. Diese Atome sind besondere Arten von sozialen Erscheinungen, nämlich die Rechtserscheinungen2 • Es ist eine didaktische Grundaufgabe, sich mit den Rechtserscheinungen vertraut zu machen. Hierzu ist es erforderlich, sie vermittels einer Serie von Klassifizierungen zuerst in ihrer Verschiedenheit zu erfassen und dann ihre Besonderheit als Träger eines spezifischen Merkmals, der Rechtlichkeit, wodurch sie sich von den anderen Sozi al phänomenen abheben, festzustellen. Ist hiermit den Erfordernissen einer soziologischen und damit realistischen Betrachtungsweise Genüge getan? Die eigentliche Realität ist 1

Vgl. S. 15 - 20.

Die allgemeine Soziologie trifft keine Unterscheidung zwischen sozialen Tatbeständen und sozialen Erscheinungen. Es empfiehlt sich jedoch, beim Recht nur von "Erscheinungen" zu sprechen, da der Ausdruck rechtlicher Tatbestand (im Sinne von rechtlich erheblicher Tatsache) im dogmatischen Recht einen ganz bestimmten und völlig anderen Sinn hat, nämlich als Gegenstück zum Rechtsgeschäft. Insbesondere im französischen Recht sollen hierdurch rechtlich relevante Handlungen ohne Geschäftswillen, wie z. B. Delikte unq Quasi-Delikte, gekennzeichnet werden. 2

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2. Teil: Gegenstand der Rechtssoziologie

nicht die isolierte Rechtserscheinung, sondern diese in der ihr natürlichen räumlichen und zeitlichen Einbettung zusammen mit anderen Rechtserscheinungen, deren Gefüge wir das Rechtssystem nennen. Es handelt sich hier nicht darum, unter einer anderen Bezeichnung den Monolithen des dogmatischen Rechts wiederherzustellen, denn die Materie wird nach wie vor von den Rechtserscheinungen gebildet, und das Rechtssystem stellt nur den Rahmen dar, in dem diese zu betrachten sind.

Erstes Kapitel

Die Rechtserscheinungen 1. Die Verschiedenartigkeit der Rechtserscheinungen; erste Klassifizierung: die primären und die sekundären Rechtserscheinungen

In der Art, wie sich die Rechtserscheinungen den Sinnen darbieten, sind sie offensichtlich äußerst verschiedenartig. Um nur einige Beispiele anzuführen: eine Sitzung des obersten Verwaltungsgerichts und ein Exemplar des Amtsblatts, ein Akt der Eheschließung und alle Arten von Beziehungen zwischen den Ehegatten, die Unterschrift unter eine Urkunde und die Betriebsanlage einer Fabrik (die Arbeiter befinden sich dort auf Grund eines Vertrags), können alle in gleicher Weise als Rechtserscheinungen angesehen werden. Es wäre jedoch müßig, mit Hilfe einer derart heterogenen Zusammenstellung zu einer abstrakten Definition kommen zu wollen. Der zugrunde liegende Begriff kann nur vermittels Klassifizierungen gefunden werden, deren erste und zweifellos wichtigste die in primäre und sekundäre Rechtserscheinungen ist.

Primäre Rechtserscheinungen sind diejenigen, von denen alle anderen abgeleitet werden. Bildet man eine Hierarchie der Rechtserscheinungen je nach ihrem Allgemeinheitsgrad, so befinden diese sich an der Spitze, da sie den allgemeinsten Charakter aufweisen; wenn man sie beschreibt, scheidet man die sehr viel verschiedenartigeren aber sekundären Rechtserscheinungen aus. Zu den primären Erscheinungen gehören Gesetzestexte, Urteilssprüche und die Handzeichen von Verkehrspolizisten, und zwar als solche, indem man von ihrem Inhalt absieht; es sind Formen. Die verschiedenen Inhalte - die Gesetzesbestimmungen, die Verurteilung oder der Freispruch und das Anhalten der Verkehrsteilnehmer - sind sekundäre Erscheinungen. Man kann das Verhältnis zwischen diesen beiden Arten von Erscheinungen auch als eine im übrigen nur einen Teil erfassende Kausalitätsbeziehung analysieren: die primäre erzeugt die sekundäre Erscheinung (wobei die primäre Rechtserscheinung durch andere Phänomene hervorgerufen wird, nämlich die wahren rechtsschöpferischen Kräfte). Einem Juristen scheint sofort klar zu sein, was wir unter den primären Rechtserscheinun~en verstehen. wenn wir ihm sagen, daß hierunter

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2. Teil: Gegenstand der Rechtssoziologie

zu einem großen Teil, aber auch nur zum Teil das fällt, was er üblicherweise formelle Rechtsquellen nennt; die grundlegende unvollständige übereinstimmung der beiden Begriffe muß jedoch in Form eines soziologischen Lehrsatzes festgehalten werden: das Recht umfaßt mehr als nur die Gesamtheit der formellen Rechtsquellen. Es trifft zu, daß sich selbst bei den Vertretern der dogmatischen Rechtswissenschaft der Begriff der formellen Rechtsquelle seit dem Code Napoleon ständig erweitert hat. Im 19. Jahrhundert hätte man noch die folgende Gleichung aufgestellt: Recht = Gesetz. In unserer Zeit haben die Juristen auf dem von Geny gewiesenen Weg dem Gesetz andere Rechtsquellen zur Seite gestellt, und die Gleichung lautet nun: Recht = Gesetz + Gewohnheitsrecht + Jurisprudenz (für manche nur eine Art Gewohnheitsrecht) + außergerichtliche Praxis (notarielle Formularpraxis, allgemeine Geschäftsbedingungen usw.). Für den Soziologen ist diese Ausweitung allerdings noch nicht ausreichend, um die gesamte Wirklichkeit zu erfassen. Insbesondere bei den Gerichtsentscheidungen handelt es sich nach der herkömmlichen dogmatischen Theorie nur dann um Rechtsbildung, wenn das jeweilige Urteil entweder nichts als eine eindeutige Wiedergabe einer bereits bestehenden Rechtsnorm beinhaltet oder wenn es Teil einer derart gefestigten Rechtsprechung ist, daß man es mit richterlichem Gewohnheitsrecht zu tun hat. Es gibt jedoch Entscheidungen, die nicht einfach auf einer mechanischen Anwendung bestehender Gesetzesnormen beruhen, sondern die selbst Recht schaffen, ohne allerdings selbst zu Rechtsnormen zu werden, da sie keine Nachfolge finden. Viele Urteile der sogenannten unteren Gerichte (vor allem der Amtsgerichte und Arbeitsgerichte) sind in dieser Weise sowohl von der Vergangenheit als auch von der Zukunft abgetrennt. Es handelt sich hier um intuitiv gefundene Urteile, die der Billigkeit entsprechen und so einen konkreten Fall in der ihm gemäßen Form lösen, ohne aber zukünftige Fälle zu beeinflussen. Nichtsdestoweniger ist auch dies Teil der Rechtsbildung - als Recht ohne Rechtsnormen. Hieraus ergibt sich entsprechend unserem Lehrsatz, ein Hilfssatz: das Recht umfaßt mehr als nur die Rechtsnorm. Selbst im 20. Jahrhundert haben die Juristen (vor allem die französischen Juristen, die nach wie vor im Banne der Kodifikation und der Legalität stehen) das Recht vor allem unter dem Aspekt der Rechtsnorm erfaßt, und selbst die Soziologen sind im Gefolge von Durkheim (und von Duguit, über Durkheim) dieser Normbesessenheit erlegen. Bei einer derartigen Auffassung ist es nur natürlich, daß die isolierte Gerichtsentscheidung nicht als rechtsbildend angesehen wird. In noch

1. Kap.: Die Rechtserscheinungen

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viel deutlicherer Weise kommt diese Konzeption zum Ausschluß der Einzelbefehle. Dies ist nun nicht nur eine sehr umfassende Kategorie, da sie vom Kriegsschrei der primitiven Stämme bis zur Verwaltungsentscheidung in einer höher entwickelten Gesellschaft reicht, sondern auch eine Urkategorie, da sie in der Menschheitsgeschichte lange vor der Rechtsnorm datiert (welcher Abstraktionsleistung bedurfte es bei den Führern, um zu verstehen, daß sie vermittels einer allgemeinen und fortdauernden Anweisung Befehle auf Vorrat erlassen konnten!)!. In den Augen des Soziologen tragen dagegen die Einzelbefehle genauso wie die Einzelentscheidungen zur Rechtsbildung bei und sind neben den Rechtsnormen primäre Rechtserscheinungen. Die primären Rechtserscheinungen haben eines gemeinsam: sie sind Machtphänomene. Es kann im übrigen sehr wohl so sein, daß die Macht genauso undefinierbar wie die Elektrizität ist, obwohl die politische Soziologie sich bereits hiermit befaßt hat2 • Trotzdem hat sich eine Wissenschaft von der Elektrizität ohne vorherige Definition dieser Erscheinung entwickeln können. Alles übrige ist Teil der abgeleiteten oder sekundären Rechtserscheinungen. Hierzu gehört z. B. die Institution der Ehe ebenso wie eine konkrete Ehe, und der Vertrag genauso wie ein einzelner Vertrag. Dies sind ganz schlichte Beispiele, da die sekundären Rechtserscheinungen offensichtlich sehr viel verschiedenartiger als die anderen sind. Die Klassifizierung der Rechtserscheinungen in primäre und sekundäre ist dann von besonderem Erkenntnisinteresse, wenn man den engeren Begriff der Rechtssoziologie zugrunde legt, von dem wir bereits gesprochen habenS: hiernach sind allein die primären Erscheinungen Gegenstand der Rechtssoziologie, während die sekundären Erscheinungen der allgemeinen Soziologie oder speziellen Soziologien wie etwa der Familiensoziologie zugewiesen werden. Jedoch selbst dann, wenn man anderer Auffassung ist und auch die sekundären Rechtserscheinungen der Rechtssoziologie zuordnet, ist zuzugeben, daß sie dieser nicht mit ebensolcher Ausschließlichkeit angehören: Erscheinungen wie die Familie oder der Grundbesitz weisen neben dem rechtlichen auch einen ökonomischen und sittlichen Aspekt auf, während das Gesetz und das Urteil reine Rechtserscheinungen sind.

1

Über den ursprünglichen Charakter der Rechtsnorm siehe: Melanges Paul

Roubier, 1961, Band 1, S. 109 ff. 2 Vgl. B. de Jouvenel: Du pouvoir, 1945; F. Bourricaud: Esquisse d'une theorie de l'autorite, 1961; W. Lapierre: Le Pouvoir politique und Essai sur le

fondement du pouvoir politique, 1968. 3 Siehe "Einführung", S. 16.

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2. Teil: Gegenstand der Rechtssoziologie

2. Zweite Klassifizierung der Rechtserscheinungen: Machterscheinungen und Erscheinungen unterhalb der Staatsmacht Diese Klassifizierung ist vor allem für die primären Erscheinungen sinnvoll, auch wenn es zulässig ist, sie im Wege von Konkretisierungen in den Bereich der sekundären Phänomene zu übernehmen. Wir haben soeben die primären Erscheinungen durch die ihnen wesensimmanente Macht charakterisiert, doch hierbei haben wir uns auf die Seite derjenigen, die die Macht besitzen, gestellt; mit anderen Worten: wir haben uns gemäß einer im öffentlichen Recht geläufigen Gegenüberstellung auf die Seite der Träger der Staatsgewalt, im Gegensatz zu den Beherrschten, gestellt. Den vom Fürsten ausstrahlenden Machterscheinungen entsprechen bei den Untertanen andere Erscheinungen, die man gleichfalls als primäre bezeichnen kann. Auch diese Erscheinungen weisen einen höchstmöglichen Allgemeinheitsgrad auf und sind Formen, die vielerlei Inhalte aufnehmen können. So ist das subjektive Recht in typischer Weise eine dieser primären Erscheinungen, von denen wiederum konkretere, sekundäre Erscheinungen wie das (subjektive) Eigentumsrecht oder das (subjektive) Forderungsrecht abzuleiten sind. Man ersieht nun bereits eine im Gegensatz zu der größeren Objektivierung der Machterscheinungen, die sich anscheinend mit dem unpersönlichen Apparat, von dem sie ausgehen, identifizieren, stehende Subjektivierung der primären Erscheinungen, die ihren Sitz in den Beherrschten haben und die man daher als Erscheinungen von unten oder auch als unterhalb der Macht stehend charakterisieren kann. Es handelt sich hier um Verhaltensweisen, Reaktionen und Bewußtseinszustände. Dies bedeutet jedoch nicht, daß derartige Erscheinungen nicht objektiv untersucht werden können. Wie die psychologische Eignungskunde beweist, lassen sich auch psychische Phänomene auf der Grundlage einer objektiven Wissenschaft erfassen. Es trifft jedoch zu, daß bei diesen die Versuchung größer ist, sie allein mit Hilfe der Introspektion verstehen zu wollen. Was zählen wir nun zu diesen psychischen Primärerscheinungen? In erster Linie diejenigen Phänomene, die in unmittelbarer Weise eine Reaktion auf die Machterscheinungen darstellen: die Erscheinungen des Gehorsams und der Unterwerfung (oder umgekehrt des Ungehorsams und der Unbotmäßigkeit). Ihnen wurde unter einigen Aspekten nicht nur das Interesse der politischen Soziologie, sondern vor allem auch das der Kriminalsoziologie zuteil. Daher existieren schon seit langem Untersuchungen und sogar Statistiken (die Verbrechensstatistik ist eine zahlenmäßige Erfassung von Rechtserscheinungen unterhalb der Staatsmacht). Was fehlt ist die Synthese, und diese Aufgabe fällt eigentlich der Rechtssoziologie zu 1 •

1. Kap.: Die Rechtserscheinungen

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Zur selben Kategorie gehören auch weniger handlungbezogene und in noch reinerer Form psychologische Erscheinungen: die Kenntnis (oder Unkenntnis) des Rechts 2 , außerdem das Bild vom Recht (vom Recht und von der Justiz, d. h. von den Gerichten), das von etwas mehr symbolischem, bildhaftem und vorstellungsbezogenem Charakter ist3 , weiterhin das Rechtsbewußtsein, welches sich von den zuvor genannten Bewußtseinszuständen dadurch unterscheidet4 , daß mit ihm ein Werturteil einhergeht und daß es das Gefühl von dem, was das Recht sein soll, ist (mit gewissen Einschränkungen ist es mit dem Moralbewußtsein vergleichbar), und ferner die rechtliche Vernünftigkeit, worunter die Fähigkeit des Nicht juristen zu verstehen ist, eine richterliche oder gesetzgeberische Folgerung nachzuvollziehen oder neu zu bilden (sie ist in bezug auf das Rechtsbewußtsein das, was die Vernunft im Verhältnis zur Intuition darstellt). Schließlich ist auch noch das subjektive Recht zu erwähnen5 • Die psychischen Primär erscheinungen haben ihre eigene Problematik. Dazu gehört die Frage bezüglich des Verhältnisses von Anlage und Umwelt bei ihrer Entstehung. Angewandt auf das Recht, das doch offensichtlich sozialen Ursprungs ist, läßt sich die Vererbungstheorie nicht leicht verteidigen. Das Problem sollte aber wohl unter dem Gesichtspunkt einer Analogie zu den linguistischen Hypothesen von Chomsky neu überdacht werden. Was bleibt ist die Tatsache, daß ein großer Teil der untersuchten Erscheinungen das Ergebnis einer Rechtserziehung ist (worunter nicht eine juristische Ausbildung, sondern ein Allgemeinverständlichmachen des Rechts zu verstehen ist). Die in der Gesellschaft lebenden Menschen sind einem gewissen Prozeß der Verrechtlichung ausgesetzt, der einerseits den allgemeineren, aber auch unausgereifteren 1 Vgl. Z. Ziembinski: Importance des recherches de la sociologie du droit pour la theorie de l'Etat et du droit, A.P.D., 1971, S. 245 ff. ! Vgl. S. 99 Anm. 7. 3 Wie bereits S. 99 Anm. 9 erwähnt, ist die Untersuchung des Bildes vom Recht und von der Justiz in der allgemeinen Öffentlichkeit zur Stunde eines der Lieblingsthemen der empirischen Forschung. C Bezüglich des Begriffes des Rechtsbewußtseins vgl. Theodor Geiger: Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, 8. Kapitel; Kulcsar: La connaissance du droit en Hongrie, A.S., 1967, S.429 ff., insbesondere S. 432. Die Frage der Einsichtsfähigkeit gemäß dem Jugendstrafrecht bildete in der Zeit vor 1945 eine der Begegnungsstätten des Rechtsbewußtseins mit dem Moralbewußtsein (vgl. z. B. Poitiers, 27. Januar 1928, D. 1929 - 2 - 47). Ist es hier angebracht, sich auf den Apfeltest zu beziehen, den Kleist in einer seiner Erzählungen ersonnen hat? Ein Kind hatte einen seiner Kameraden getötet. War es Spiel oder war es Totschlag? Der Richter reichte dem Jungen in der einen Hand einen schönen roten Apfel und in der anderen ein Geldstück (sprechen wir lieber von einem Geldschein). Das Kind ergriff den Apfel und wurde freigesprochen. 5 Bezüglich der soziologischen Theorie des subjektiven Rechts vgl. Jean Carbonnier: Flexible droit, 1971, S. 104 ff. Dem Rechtsbegriff hat man vor allem die soziologischen Begriffe des Status und der Rolle, so wie sie in der amerikanischen Soziologie entwickelt worden sind, annähern können: siehe Madeleine Grawitz: De l'utilisation en droit des notions sociologiques, A.S., 1966, S.424.

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2. Teil: Gegenstand der Rechtssoziologie

Prozessen sehr nahe verläuft, aber doch andererseits von diesen zu unterscheiden ist. In diesem Prozeß wird zum einen der Mensch sozialisiert und zum anderen sein moralisches Bewußtsein ausgebildet. Für die Rechtssoziologie werden hierdurch die Ausgangspunkte für neue Forschungen begründet: welches sind bei dieser Verrechtlichung die wirksamsten Medien (die Familie, die Schule, Massenkommunikationsmittel oder die persönliche Erfahrung?) und wie vollzieht sie sich, allmählich und abhängig vom Alter oder unterschiedlich je nach dem Geschlecht, der sozialen Klasse oder der räumlichen Nähe der Machtzentren? 3. Dritte Klassifizierung der Rechtserscheinungen: Institutionen und Einzelfälle Die beiden Ausdrücke Institution 1 und Fall 2 gehören zum Vokabular der Juristen, obwohl sie auch in der allgemeinen Soziologie Verwendung finden. Ihre übertragung auf die Rechtssoziologie eröffnet den Blick auf eine zu treffende Unterscheidung. Im vorhergehenden haben wir ohne nähere Präzisierung von der Ehe als Rechtserscheinung gesprochen. Aber das Wort "Ehe" bezeichnet zwei sehr verschiedene Wirklichkeiten: die eine ist in den Gesetzen hierüber (die eine Realität sind, auch wenn sie in ihrer objektivierten Form nur bedrucktes Papier darstellen) und die andere im Sozialleben zu sehen. Die Ehe ist zuerst ein Rechtskomplex, der im voraus zur Verfügung steht, um auf eine ganze Reihe von bestimmten Fällen angewandt zu werden. Dies ist die Institution der Ehe. Indessen fällt unter "Ehe" auch igendeiner dieser Fälle, die Begründung und die Weiterführung eines bestimmten Haushaltes und dessen besondere Verhältnisse, die jedoch durch die Institution der Ehe geprägt und gestaltet werden. Dasselbe könnte bezüglich jeder Rechtserscheinung gesagt werden, sei es nun die Ehescheidung, die Pacht, die zivilrechtliche Anfechtbarkeit oder die verwaltungsrechtliche Anfechtungsklage. Als Erscheinung bezeichnen wir mal einen Komplex von Normen, ein Muster oder ein Schema und mal ein Verhalten, eine Beziehung oder eine konkrete Situation. Die Erscheinung des Falles sieht aus wie eine Ableitung von der Erscheinung der Institution. Sie ist auch tatsächlich eine Ableitung, es muß aber berücksichtigt werden, daß es auch gegenläufige und widernatürliche Ableitungen gibt. Wenn dem Käufer nach dem Verkauf der Besitz entzogen wird, so ist dies ein Fall, der mit der Institution der Gewährleistung im Falle der Besitzentziehung zu tun hat. Im Falle der Ermor1 Bezüglich einer Bibliographie der Institution in ihrer rechtlichen Form siehe Broderick: A.P.D., 1963, S. 277 ff. 2 Anstatt von Fällen könnte man auch von Rechtslagen sprechen, da den Juristen beides geläufig ist.

1. Kap.: Die Hechtserscheinungen

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dung des N. durch X. wiederum liegt ein Fall vor, der sich auf das Institut der strafrechtlichen Sanktionierung der Tötung eines anderen bezieht. Der auffallendste Kontrast zwischen diesen beiden Arten von Phänomenen scheint darin zu liegen, daß die Institutionen durch ihre historische Einzigartigkeit gekennzeichnet sind, während Fälle Massenerscheinungen sind. Diese Betrachtungsweise kann jedoch nicht ohne Einschränkungen gebilligt werden. Obschon die Institutionen einzigartig sind, lassen sie sich doch in Kategorien zusammenfassen. Unter Vernachlässigung der für nebensächlich gehaltenen Unterschiede und unter Betonung der für wesentlich gehaltenen Ähnlichkeiten ordnet der Soziologe Institutionen, die sich ihm als verschiedenartig in Raum und Zeit darboten, demselben Typ zu. Es trifft zu, daß eine Typologie nie ganz ungekünstelt ist (z. B. verbirgt sich unter der Institution der Ehe in einem Land wie Spanien, das keine Ehescheidung kennt, etwas völlig anderes als etwa in Frankreich) und sogar zu Fehlschlüssen verleiten kann (etwa wenn die actio iniuriarum des römischen Rechts zusammen mit der Sanktionierung der Beleidigung im französischen Recht unter einen Hut gebracht wird). Entgegen dem ersten Eindruck lassen sich somit auch Institutionen im Plural vorstellen. Auf der anderen Seite wäre es auch übertrieben, in der Ununterscheidbarkeit das Wesen des Falles zu sehen. Man braucht nicht einmal an historische Fälle zu denken (wie z. B. die Scheidung Napoleons, den Ehevertrag, den Balzac gepriesen hat oder den Unfall der minderjährigen Jand'heur), denn selbst der unscheinbarste Fall bezieht dadurch, daß er es mit einem Individuum (oder auch zweien und mehreren) zu tun hat, eine ihm eigentümliche Originalität. Jede Ehe ist und will ein einzigartiges Abenteuer sein. Trotzdem addiert der Staat am Jahresende die Zahl der Eheschließungen so, als ob alle identisch wären. Das liegt daran, daß es zwei Arten gibt, die Fälle zu betrachten, entweder als Individualerscheinungen mit all ihrem Reichtum an individuellen Zügen oder als Kollektiverscheinungen, wobei von diesen Besonderheiten abstrahiert wird und nur die gemeinsamen Charakterzüge festgehalten werden, dank welchen die Individuen sich vergleichen lassen 3 • Auf Grund dieser Verzweigung innerhalb der Fallerscheinungen 3 Vgl. Lukie: La notion de fait social, MIHanges Gurviteh, 1968, S. 401 ff., der paradoxerweise die Massenerscheinungen aus der Soziologie ausschließt. Etwas von diesem Gedankengang findet sich in der Neigung zu einer psychologischen Orientierung in der amerikanischen Soziologie, welche den gekünstelten Charakter der quantitativen Methoden verwirft (vgI. S. Lyman und M. Seott: A sociology of the absurd, 1970, S. 26): die Soziologie ordnet nach ihren eigenen Maßstäben gewisse Phänomene derselben Kategorie zu, die nach der überzeugung der Betroffenen verschiedenen Kategorien angehören; vernünftigerweise müßten die Kategorien der Betroffenen zugrunde gelegt werden. Es läßt sich feststellen, daß die Rechtssoziologie dieser Kritik leichter entgeht, denn in dem

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2. Teil: Gegenstand der Rechtssoziologie

läßt sich schließlich eine Dreiteilung der Rechtserscheinungen feststellen: in Institutionen, Einzelfälle und Massenerscheinungen von Fällen. Diese Unterscheidung dient auch hier Erkenntnisinteressen. Die verschiedenen rechtssoziologischen Methoden sind nämlich nicht in gleicher Weise allen Erscheinungen angemessen. Für die Institutionen ist die historisch-vergleichende Methode besonders geeignet. Die Massenerscheinungen fordern schon ihrer Natur nach zur Anwendung der Statistik, der Erhebungstechniken und kurzum zur Quantifizierung auf. Für die Einzelfallanalyse dagegen ist, was nicht weiter überrascht, die Beobachtungstechnik am besten geeignet. Daneben darf aber nicht übersehen werden4, daß der Einzelfall sehr oft nicht seinetwegen, sondern im Hinblick auf seinen exemplarischen Wert untersucht wird. Von der beobachteten Einzelerscheinung ausgehend ("Familie Melouga") wird stillschweigend auf die Gesamtheit vergleichbarer Erscheinungen geschlossen (alle Familien, die einer bestimmten ländlichen sozialen Klasse angehören), ja sogar auf die Institution selbst (das Erbrecht des Code Napoleon). 4. Vierte Klassifizierung der Rechtserscheinungen: Prozeßangelegenheiten und außerprozessuale Erscheinungen

Diese Klassifizierung scheint eine geringere Tragweite als die vorhergehende zu haben, da sie sich auf eine sehr spezifische Rechtserscheinung bezieht, nämlich auf das gerichtliche Verfahren. Genau genommen kennt aber auch die allgemeine Soziologie einen Begriff, der dem unseren sehr nahe kommt, und zwar den des Konflikts. Bei der Untersuchung des Soziallebens unterscheidet sie folgende Arten von Beziehungen zwischen Individuen oder Gruppen: Zusammenarbeit, Wettbewerb und Konflikt. Und es scheint nun so zu sein, daß gerade der Konflikt augenblicklich die meiste Aufmerksamkeit auf sich zieht1 • Der Mensch als soziales Wesen wird weitgehend als konfliktbefangen dargestellt, wobei der Begriff so ausgedehnt wird, daß er fast nichtssagend wird, denn die Konflikte beziehen sich nicht nur auf andere Menschen oder auf die Gesellschaft, sondern auch auf die Natur und auf Spannungen im jeweiligen Individuum selbst. Auf alle Fälle wird deutlich, daß auch selbst dann, wenn man sich ausschließlich an die zwischenmenschlichen Konflikte hält, die sich im übrigen auch leichter Maße, in dem sie Erscheinungen quantitativerfaßt, die gesetzlich definiert sind, so wie etwa die Ehe, ist es auch logisch, daß sie sich an diese Definition und nicht an Vorstellungen der Betroffenen hält. 4 Vgl. hierzu das, was auf S. 197 über Le Play und seine monographische Methode gesagt wurde. 1 Vgl. z. B. L. Corser: The functions of social conflict, 1956, und Continuities in the study of social conflict, 1967.

1. Kap.: Die R·echtserscheinungen

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objektiv feststellen lassen, eine sehr ausgedehnte Gattung vorliegt, in deren Rahmen der Prozeß nur eine Unterart darstellt. Konflikte verschiedenen Grades sind: Krieg, Streik, Rauferei, Nebenbuhlerschaft, Verstimmung, Abkühlung usw. Was dem Prozeß eine Sonderstellung verleiht ist nicht die Tatsache, daß er ein Konflikt ist, der sich in rechtlichen Bahnen abspielt, denn dies trifft in modernen Gesellschaften auch auf den Streik und den Krieg zu. Die Besonderheit liegt vielmehr in der Konfliktlösungsmethode selbst, die auf dem Eingreifen eines Dritten, des Richters, beruht, dem diese Aufgabe anvertraut ist, und damit im übergang von der Zweiheit zur institutionalisierten Dreiheit2 • Der Prozeß ist ein sozialer Mechanismus, der so ausgestaltet ist, daß er Konflikte durch Urteile löst. Ein Konflikt, der sich seiner Natur nach zu einer derartigen Lösung eignet, kann, solange er sich noch im vorprozessualen Stadium befindet, als Rechtsstreitigkeit, im Gegensatz zum Rechtsstreit im technischen Sinne, bezeichnet werden. Diese Streitigkeit kann zu einem Prozeß führen, aber dies ist nur eine Eventualität, denn es kann auch noch zu einer Einigung im Wege gegenseitigen Nachgebens, zu einem Vergleich, kommen. Die Rechtsstreitigkeit erscheint hier als ein viel engerer Begriff als der Konflikt und als ein viel weiterer als der Rechtsstreit, der Prozeß. Nach dieser Charakterisierung des Rechtsstreits muß nun klar gemacht werden, worin der Sinn einer hierauf fußenden Klassifizierung beruht. Es geht hier nicht darum, den Prozeß (und die Gesamtheit der Verfahrenshandlungen, die er umfaßt: Strafanzeige, Plädoyer, Urteil, Berufung usw.) allen anderen Rechtserscheinungen gegenüberzustellen, sondern vielmehr darum, zwei mögliche Erscheinungsformen von jeder beliebigen Rechtserscheinung voneinander abzuheben. Wir finden hier in gewissem Sinne die den Zivilrechtlern vertraute Gegenüberstellung von Recht im Ruhestand und Recht in Aktion (d. h. in seiner Anwendung vor Gericht). Dasselbe Rechtsphänomen wie z. B. die Haftung für einen Verkehrsunfall oder die Nichtigkeit eines Vertrages kann sowohl außerhalb jedes Prozesses als auch im Rahmen eines Prozesses erfaßt werden. Seine Struktur ändert sich nicht, wenn es vom außerprozessualen Zustand in den des Rechtsstreits übertritt (ersteres Stadium kann man auch das des gütlichen Verfahrens nennen); nichtsdestoweniger erwirbt es dadurch eine Art von Beweglichkeit, der die Soziologie Rechnung tragen muß. Wenn die Rechtssoziologie nicht der Gefahr der Wirklichkeitsfremdheit unterliegen will, dann darf sie nicht die Bedeutung des Zustandes des Rechtsstreites (des Prozesses) bei der Untersuchung der Erscheinungen verkennen. Wir werden im übrigen noch sehen, daß man teilweise 2

Vgl. die S. 99 Anm. 7 und 8 zitierten Untersuchungen von T. Eckhoff und V.

Aubert.

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2. Teil: ;Gegenstandder Rechtssoziologie

so weit gegangen ist, in der Möglichkeit des überganges zum Prozeß und zum Urteil (die Justitiabilität) das Kennzeichen der Rechtserscheinung im Gegensatz zu den Erscheinungen der Sitte3 zu erblicken. Zur Zeit droht allerdings das Extrem der überbetonung des Aspekts des Rechtsstreits. Die im öffentlichen und im Zivilrecht zu beobachtende übertriebene Vorliebe für die Rechtsprechung hat auch die von den Juristen betriebene Rechtssoziologie in gewisser Hinsicht negativ beeinflußt. Die Mehrdeutigkeit des Wortes Praxis führte dazu, daß anstelle des lebenden und alltäglichen Rechts aus der Praxis der Rechtspraktiker nur noch die Gerichtspraxis gesehen wird, die im Grunde nur eine Art Rechtspathologie ist. Gewiß trägt die Beobachtung klinischer Fälle zum Fortschritt der Biologie bei, aber nur unter der Voraussetzung, daß sie Bezug auf die Untersuchung des normalen Lebens hat. Indem wir postulieren: 1. daß der Rechtsstreit die Rechtswirklichkeit deformiert und 2. daß das Recht sehr viel mehr als vor Gericht ausgetragene Rechtsstreitigkeiten umfaßt, gibt die Rechtssoziologie grundsätzlich den Rechtserscheinungen aus dem außerprozessualen Bereich den Vorzug, und zwar als Reaktion auf die im dogmatischen Recht (dort vielleicht völlig legitime) vorherrschende Haltung'.

5. Die Rechtlichkeit Alle Rechtserscheinungen können als Sozialphänomene betrachtet werden, da selbst ein bei einem isolierten Individuum vorhandenes Gefühl von Rechtlichem die latente Existenz der Gesellschaft impliziert, denn für die Lebensweise eines Robinson läßt sich kein Recht vorstellen. Aber nicht alle Sozialphänomene sind auch Rechtserscheinungen. Dies führt uns zu der Frage, was das Unterscheidungskriterium ist. Nach der Gewohnheit der Juristen und auch vieler Soziologen wird das objektive Recht mit den Rechtsnormen gleichgesetzt und so wird auch die Unterscheidung bezüglich der Normen getroffen, und zwar hinsichtlich derjenigen sozialen Normen, die sich als rechtlich qualifizieren lassen, und der übrigen l • Diese hypothetische Eigenschaft wird als Rechtlichkeit bezeichnet, aber sie ist damit noch nicht definiert 2 • Die Definition wiederum erfüllt im übrigen zwei Zwecke, denn gleichzeitig wird hierdurch auch der Zuständigkeitsbereich der Rechtssoziologie gegenüber dem der allgemeinen Soziologie abgegrenzt. Siehe S. 125. Zu denen, die am klarsten die begrenzte soziologische Tragweite des Rechtsstreites gesehen haben, gehört Eugen Ehrlich (vgl. S. 79). 1 Bezüglich des allgemeinen Problems der Unterscheidung der Normen vgl. H. Popitz: Soziale Normen, A.E.S., 1961, S. 185 ff.; Rene König: Das Recht im Zusammenhang der sozialen Normensysteme, in Hirsch-Rehbinder (1967), S. 36 ff. - Die Rechtssoziologie ist zu einem großen Teil eine Nomologie. 2 Wie alle Definitionen fällt auch diese nicht leicht, und man ist versucht, darauf zu verzichten (vgl. Y. Dror: Prolegomenon to a social study of law, Jour3

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1. Kap.: Die Hechtserscheinungen

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6. Die Grundformen der Unterscheidung zwischen rechtlichen und nichtrechtlichen Sozialphänomenen Die Juristen bedurften nicht des Aufkommens der Soziologie, um zu erkennen, daß es neben dem Recht noch andere soziale Verhaltensregeln gibt. Die Unterscheidung zwischen Recht und Moral gehört seit langem zu den Gemeinplätzen in den Einführungen zum Studium des Rechts 1 • Was indessen in dieser herkömmlichen Weise dem Recht unter der Bezeichnung "Moral" gegenübergestellt wird, ist die Ethik, die Wissenschaft von dem, was gut oder böse ist und nicht die Sitte oder der Brauch. Auf diese Weise wird eine problemlose Parallelität erreicht, denn es gehört schon sehr viel Unaufmerksamkeit dazu, ein System, das auf dem Mechanismus des durch die Gemeinschaft ausgeübten Zwanges beruht, mit dem System derjenigen Imperative zu verwechseln, deren einzige Sanktion in der Stimme des Gewissens des Einzelnen zu finden ist. Das Problem der Rechtlichkeit stellt sich erst dann in voller Schärfe, wenn man sich anderen Typen von sozialen Normen zuwendet, deren Befolgung oder Nichtbefolgung nicht wie bei der Moral nur die Psyche des Einzelnen berührt, sondern die Gesellschaft betrifft. Diese Art von Normen, deren Äußerlichkeit sie dem Recht annähert, wird gemeinhin in etwas unklarer und sehr weitgehender Weise als die Sitte bezeichnet2 • Selbst der Mann auf der Straße trifft diese Unterscheidung so, als ob er zwei Sprachen sprechen würde. Je nach der Art seiner Neugier konsultiert er das Standesamt oder ein Jahrbuch, wenn er wissen will, ob dieses oder jenes Paar verheiratet ist, und er stellt dem Recht und der Sitte diejenigen Fragen, welche diese Quellen beantworten können. Die zeitgenössischen Soziologen haben sich bemüht, den Begriff der Sitte zu präzisieren3 • Insbesondere die Amerikaner haben eine weitere nal of legal education, 13 [1960], S. 133 ff.). Dementgegen ist zu berücksichtigen, daß selbst dann, wenn die Folgerungen unsicher bleiben, die Rechtssoziologie doch bei diesem Bemühen einen gewissen Begriffsapparat erwirbt. 1 Ist es nötig, an den Grundsatz des Pau[us (eines Rechtsgelehrten aus der Zeit der Severer) zu erinnern, der sich in den Digesten (Dig. 50-17-144) unter den Normen des antiken Rechts findet: Non omne quod licet honestum est (nicht alles, was rechtlich zulässig ist, ist auch schicklich)? Bezüglich der modernen Lehre vgl. z. B. Marty und Raynaud: Droit Civil, Band 1, 1956, Nr. 30 ff., insbesondere Nr. 37; Choucri Cardahi: Droit et morale, 1961, 3 Bände. 2 Vgl. S. 15 Anm. 1. 3 In diesem Sinne: Ambrosetti: Contributi a una filosofia deI costume, Bologna 1959. Der Autor versteht unter "costumi" die nichtrechtlichen sozialen Bräuche und vergleicht diese in sehr eingehender Weise mit der diesen anscheinend am nächsten stehenden Rechtsnorm, der Regel des Gewohnheitsrechts. Ihm zufolge sind die "costumi" durch das Fehlen einer Sanktion gekennzeichnet; es handele sich hier um den Bereich des Zweckmäßigen und des den Umständen Entsprechenden sowie des Spontanen und des Individuellen. Diese Interpretation ist jedoch fragwürdig, denn die als Beispiele angeführten Normen (Anstands regeln, Regeln der Ritterlichkeit und der Minne) erscheinen ganz im Gegenteil als schichtspezifische Stereotype von starker zwingender Kraft, während andererseits im Schuldrecht sehr viel Freiheit herrscht. 8 Carbonnier

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2. Teil: Gegenstand der Rechtssoziologie

Unterscheidung eingeführt, nämlich die in folkways und mores, die bereits in kurzer Zeit klassisch geworden ist und die folgende herkömmliche Dreiteilung ergibt: -

law (Recht) mores (Sitte im engeren Sinn) folkways (Bräuche)

Aus den folkways4, recht unscheinbaren Bräuchen, setzt sich unser Alltagsleben zusammen: die übliche Art sich zu kleiden (von den modisch bedingten Veränderungen abgesehen) und einander zu begrüßen, der Briefstil, die Reihenfolge der Mahlzeiten und der Gerichte usw. Man mag dies als reine Gewohnheiten ansehen, jedoch darf hierbei nicht übersehen werden, daß es sich nicht nur um solche eines Individuums oder einer Familie, sondern um die eines Landes oder zumindest einer sozialen Schicht handelt. Die Kategorie der mores ist schwerer zu erfassen. In den Vereinigten Staaten führt man häufig hierfür die Norm an, wonach der Verführer das verführte Mädchen heiraten muß5. Ohne uns allzuweit von diesem Beispiel zu entfernen, finden wir eine andere Norm, die in der Mehrzahl der heutigen Gesellschaften gilt und wonach die freie Lebensgemeinschaft zwar rechtlich zulässig ist, aber doch als weniger angesehen gilt. Nach der Auffassung der Amerikaner unterscheidet sich die Sitte vom Brauch dadurch, daß die Mißachtung der ersteren die Interessen Dritter wie etwa des verführten Mädchens oder der der freien Lebensgemeinschaft entsprungenen Kinder gefährdet 6 • Die Sitte ist mit anderen Worten von größerer Bedeutung. Aber abgesehen davon, daß eine graduelle Verschiedenheit keine saubere Abgrenzung ergibt, kann dies auch nur hinsichtlich der Bräuche und nicht in bezug auf das Recht zur Unterscheidung herangezogen werden; das Problem der Rechtlichkeit ist somit noch nicht gelöst. 4 Dieser Begriff ist durch William Graham Sumner: Folkways: a study of the sociological importance of usages, manners, customs, mores, and morals, Boston 1907, eingeführt worden. 5 Eine von M. L. Roussel durchgeführte Meinungsumfrage (L'attitude de diverses generations a l'egard du mariage, de la famille et du divorce en France, Population, Juni 1971, S. 100 ff.) enthielt eine Frage (S. 109) hinsichtlich der Haltung, die ein junger Mann bezüglich des von ihm geschwängerten Mädchens einnehmen soll. Die Verpflichtung zur Eheschließung erschien jedoch in zwei Formen, einer rigorosen (absolute Pflicht: 51 % der Männer und 39 0/0 der Frauen in vor 1951 geschlossenen Ehen; 40 Ofo der Männer und 34 Ofo der Frauen in nach 1961 geschlossenen Ehen) und einer abgeschwächten (was der jeweiligen Situation am angemessensten ist [25 und 24 Ofo, 31 und 25 Ofo jeweils]). Das sich in den Antworten des ersten Typs ausdrückende klare Bewußtsein von einer Regel der Sitte ist in den anderen Antworten verwässert. 6 Dieses Kriterium ist im übrigen auch nicht zweifelsfrei, denn es fragt sich, ob die Beachtung der Anstandsregeln, die anscheinend mehr dem Brauch als der Sitte angehören, nicht zu Recht von den Moralphilosophen als eine Beachtung fremder Interessen dargestellt wird.

L Kap,: Die' Rechtserscli!einllilg;en

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7. Die Unterscheidung in den modernen Gesellschaften

Es scheint, daß in diesen das Problem der Rechtlichkeit aus einem ganz formalen Grund bedeutend vereinfacht ist, da diese Gesellschaften auf einer Zivilisation des Papiers beruhen und praktisch nur geschriebenes Recht kennen. Auf diese Weise fällt dann das Recht mit dem zusammen, was die zuständige gesetzgebende, verordnende oder rechtsprechende Stelle als Recht bezeichnet. Die Lösung des Unterscheidungsproblems scheint somit in einer schlichten Durchsicht der Amtsblätter oder der Rechtsprechungssammlungen zu bestehen; alles, was darin steht, ist rechtlich und alles andere nichtrechtlich. Die folgenden Beispiele werden jedoch erweisen, daß damit noch nicht alle Schwierigkeiten aus dem Weg geräumt sind. a) Nichts scheint so ohne weiteres einsichtig zu sein als die Darstellung, daß das Recht, etwa das Zivilrecht, in den amtlichen Sammlungen enthalten ist. Aber wie steht es damit, wenn das Recht selbst der Sitte Eintrittspforten eröffnet? Dies trifft vor allem auf die Bezugnahme auf die guten Sitten in Art. 1133 des Code dvil zu, gilt aber auch in etwas weniger offenkundiger Weise für den Begriff der schweren Eheverfehlung als Scheidungsgrund oder für das Verschulden im allgemeinen, da Verfehlung und Verschulden genausogut aus einem Verstoß gegen die Sitten als aus einem solchen gegen Rechtsnormen hergeleitet werden können!. Bei dieser Gelegenheit stellt sich das Problem der Rechtlichkeit erneut. Am Beginn des Vorganges steht ein Sittenphänomen, und das Ergebnis ist schließlich eine Rechtserscheinung (Nichtigkeit des Vertrages, Ehescheidung, Verurteilung zu Schadenersatz usw.). An welchem Punkt erfolgt hier der übergang? b) Auch bei der Beobachtung individuellen Verhaltens drängt sich oft der Eindruck von sehr fließenden übergängen auf, wenn man sich bemüht, rechtliche und nichtrechtliche Sozialerscheinungen zu unterscheiden. So weiß man, daß im Rahmen von Geschäftsbeziehungen ein Schreiben genügt, um den Verzug mit all seinen Folgen zu begründen. Nehmen wir nun aber einen Käufer, der den mit der Lieferung in ! Meist wird es sich hier um Sittennormen handeln (der Verführer z. B. muß Wiedergutmachung leisten, aber nicht durch Eheschließung, sondern durch Schadenersatzzahlung). Das Verschulden kann auch in der Mißachtung einer Anstandsregel, d. h. einem Brauch liegen, was im übrigen dokumentiert, daß die Berücksichtigung der Interessen Dritter diesen Regeln nicht von vorherein fremd ist. E. H. PeTTeau. hat eine wahre Bestandsaufnahme veröffentlicht (Courtoisie, complaisance et usages non obligatoires devant la jurisprudence, R.T.D.C. 1914, S. 481 ff.). Vgl. die soziologisch bedeutsame Kategorie in folgender Entscheidung: Paris, 29. März 1962, J.C.P., 62-2-12874: der Automobilist, der seinen Wagen aus einem Gebäude herausfahren will, ist verpflichtet, den Fußgängern auf dem Bürgersteig den Vortritt zu lassen; eine Höflichkeitsregel wird so zu einer Vorsichtsregel und darüber hinaus zu einer Rechtsnorm, so daß ihre Verletzung eine zivilrechtliche Schadensersatzpflicht nach sich zieht.

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2. Teil: Gegenstand der Rechtssoziologie

Rückstand befindlichen Verkäufer in folgender Weise erinnert: Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir mitteilen könnten, wann ich mit Ihrer Sendung rechnen kann. Ich danke Ihnen im voraus und verbleibe ...

Ist dies nichts als eine der Schicklichkeit entsprechende Anfrage oder ist dies schon eine Rechtshandlung? Man findet hier dieselbe Doppeldeutigkeit wie beim Gebrauch des Wortes "bitte!", das je nach dem Tonfall eine Höflichkeitsfloskel oder eine ernsthafte Aufforderung sein kann. Oder nehmen wir den Liebhaber, der kurz vor seinem Tode seiner Geliebten folgende Postkarte schickt: Ich denke an Deine Zukunft . .. Ich

will, daß meine Erben Dir eine feste Rente bis an das Ende Deiner Tage bezahlen. .. Peter. Ein unterschriebener Brief kann der Form eines

eigenhändigen Testamentes genügen. Aber handelt es sich in diesem Fall nicht vielmehr um die Beschreibung eines noch nicht rechtlich verfestigten Wunsches 2 ? Um Rechtliches im Zeitpunkt seiner Entstehung zu erfassen ist es vielleicht vorteilhafter, sich an eine Folge von Gerichtsentscheidungen zu halten und nicht an eine isoliert dastehende Kategorie von Erscheinungen. Hier bietet sich die Rechtsprechung bezüglich der in den Betrieben an das Personal ausgezahlten Gratifikationen an (13. Monatsgehalt, Erfolgsprämien usw.). Die Rechtsprechung (in Frankreich) betrachtet diese grundsätzlich als freiwillige Leistungen, so daß ein Begünstigter den ihm zustehenden Betrag weder der Höhe nach bestreiten noch dessen erneute Gewährung verlangen kann. Sie behält sich jedoch vor, von Fall zu Fall, vor allem angesichts von Wiederholungen, darin einen Teil des geschuldeten Lohnes zu sehen. Es kommt somit der Moment, in dem ein Zustand der Sitte in einen solchen des Rechts umschlägt3• 8. Die Unterscheidung in den Gesellschaften der Vergangenheit In diesen Gesellschaften, in denen ein ungeschriebenes Recht vorherrscht, wird die Unterscheidung nicht durch die im modernen Gesetzgebungsstaat vorhandenen, ihrer Natur nach rechtlichen Quellen erleichtert. Für die primitivsten hierunter verflüchtigt sich infolge des Fehlens eines Staates, d. h. eines besonders ausgestalteten Herrschaftsapparatest, jeglicher Unterschied. Da sich in einem solchen Falle der kollektive Selbsterhaltungswille nur in nicht organisierter und diffuser Weise innerhalb der Gesellschaft äußert, ist es unmöglich, auf Grund der Natur der Reaktionen gegen abweichendes Verhalten Einzelner zwei z Civ. 24. Juni 1952, J.C.P., 1952-2-7179, Anmerkung. Voirin hat die Postkarte als testamentarische Verfügung ausgelegt. 3 Kontrastreiche Beispielsfälle sind: Soc., 22. Mai 1964, J.C.P., 1964-2-13799, und Soc., 26. Juni 1957, D. 1958-55; vgl. Soc., 21. Februar 1968, D. 1968-395 und die Anmerkung. 1 Vgl. Alliot: Ethnologie generale (Encyclopedie de la Pl€iade), 1968, S. 1208.

1. Kap.: Die Rechtserscheinungen

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verschiedene Arten von Normen einander gegenüberzustellen. Man bezeichnet manchmal dieses Normengefüge, aus dem sich im Verlauf der Entwicklung die besonderen Systeme der Ethik, der Religion und der Sitten sowie der Ungangsformen und sogar des Rechts herausgebildet haben, als "vorgeschichtliches Recht". Die Welt des Primitiven ist voller Tabus, die unterschiedslos sowohl den Verkehr mit den Göttern, die alltäglichen Gesten, die Bekleidung und den Schmuck, als auch die Ehe, den Vertrag, die Haftung usw. betreffen. Das ist zumindest die Hypothese einer vielleicht etwas summarischen Ethnologie. Spuren dieser ursprünglichen Ungeschiedenheit haben sich mehr oder weniger lang in den historischen Gesellschaften erhalten. Wenn Aulus Gellius berichtet, daß im Rom der frühen Republik die Ritter, die ihre Pferde vernachlässigten (möglicherweise auch die Bauern, die die Felder schlecht bewirtschafteten), vom Zensor der "impolitia" für schuldig befunden wurden, so scheint er nicht mehr zu verstehen, daß die W ahrnehmung der eigenen Angelegenheiten früher in solcher Weise verrechtlicht werden konnte 2 • Wenn Ulpian beim Zitieren der drei Rechtsgrundsätze "ehrenhaft leben", von "anderen nicht schaden" und "jedem das seine gewähren" anführt, so legt er unbewußt Zeugnis für eine vor seiner Zeit liegenden Epoche ab, in der Ehrbarkeit und Moral im Recht eingebettet waren3 • Es ist bekannt, daß im Alten Testament und im Talmud neben Vorschriften, die uns im vollen Sinne als juristische erscheinen, auch solche zu finden sind (über gottesdienstliche Gebräuche, Trauer, Ernährung usw.), die wir heute als dem Recht fremd ansehen. Dasselbe gilt für das islamische Recht und für das China der Kaiserzeit4 • Selbst bei uns gibt es einige besondere Institutionen (wie etwa die Streitkräfte), die man als Isolate betrachten kann. In diesen hielt sich das archaische Gesetzgebungsverfahren in stärkerem Maße als in der Gesamtgesellschaft. Sie schaffen nämlich ihr eigenes Normensystem bzw. die Regeln der Disziplin, wobei sie das gesamte Alltagsleben reglementieren (genau wie die alten asiatischen Rechte, so verrechtlichen auch die Militärdienstordnungen die Art des Grüßens). 9. Die Unterscheidung im Wandel der Zeiten Die historische Betrachtung zeigt, daß sich die Trennlinie zwischen den rechtlichen und den nichtrechtlichen Sozialerscheinungen verschiebt. Aulus Gellius: Attische Nächte, IV, 12, 20. Dig.1-1-10-1. 4 In China drohte im 17. Jahrhundert der Ta Tsing Lu Li Strafen (sechzig Schläge mit dem Rohrstock und ein Jahr Verbannung) für den Sohn an, der es versäumte, die gesetzlich vorgeschriebene Trauer beim Tode seiner Eltern oder Voreltern zu tragen. In Annam schrieb das vom Kaiser Gia Long im Jahre 1812 erlassene und nach ihm benannte Gesetzbuch bis ins Detail und unter Androhung von Strafen die den Kindern auferlegte Trauer sowie das Grüßen und den Fußfall unter Ehegatten und zwischen Haupt- und Nebenfrau vor. 2

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2. Teil: Gegenstand der Rechtssoziologie

Diese Verschiebungen können dadurch, daß sie beitragen, den Bereich des Rechtlichen abzugrenzen, ihrerseits als Rechtserscheinungen angesehen werden. Man kann bei diesen sehr unregelmäßigen Phasenbewegungen zwei Arten unterscheiden. Zum einen handelt es sich um die sehr allmählichen, in einem Jahrhunderte umfassenden Rhythmus verlaufenden Entwicklungen. Der bekannteste Typ in dieser Kategorie ist die Verweltlichung des Rechts. Im strengen Sinne ist es dieser Vorgang, durch welchen sich das Recht von den Regelungen trennt, mit denen es zuvor eine ungeschiedene Einheit bildete. Es steht fest, daß sich dies in der römischen Republik abgespielt hat; es ist aber noch umstritten, in welchem Zeitablauf, unter welchen Bedingungen und in wie tiefgreifender Weisel. Auf alle Fälle gab es eine Gegenbewegung, denn unter den christlichen Kaisern wurde das Recht erneut stark religiös geprägt, ein Vorgang, der sich bis ins Mittelalter hinein fortsetzte, bis schließlich im kanonischen Recht eine Art Ungeschiedenheit der bei den Bereiche erreicht war. Seit dem späten Mittelalter ist jedoch wieder eine gegenläufige Wellenbewegung festzustellen. Die Verweltlichung erhielt in Frankreich ihre entscheidende Ausprägung in der Revolution von 1789 und im Code Napoleon. Von dieser Basis aus fand sie in der Mehrzahl der christlichen, islamischen und sonstigen Rechtssysteme Eingang, wobei aber Rückschläge nicht ausblieben. Zur Verweltlichung im weiteren Sinne gehört auch die Loslösung des Rechts von der Moral (die im übrigen oft mit Religion vermischt ist), der Sitte, den Anstandsregeln usw., kurzum von allem, was nicht rechtlich ist. Die liberale und individualistische politische Philosophie des 19. Jahrhunderts hatte die Gemüter dafür empfänglich gemacht, den Prozeß der Reinigung des Rechts bzw. der Reduzierung des Rechts auf ein Minimum als vollkommen natürlich und notwendig anzusehen. Aber im 20. Jahrhundert sollte es sich erweisen, daß sich diese Tendenz auch wieder umkehren kann 2 • Die Pflichten der Nächstenliebe, die man bereits in den Bereich der Moral relegiert hatte, erschienen erneut im Recht (charakteristisch hierfür ist, daß 1941 in Frankreich die Strafbarkeit der unterlassenen Hilfeleistung eingeführt wurde). Darüber hinaus scheint in den sozialistischen Ländern die Unterscheidung in anderer Weise in Frage gestellt zu werden, und zwar in dem Sinne, daß nicht mehr der Moral Gesetzeskraft beigelegt wird, sondern umgekehrt, daß das Gesetz die Moral ersetzen soll. Genau genommen soll die in der bürgerlichen Gesellschaft der Moral obliegende erzieherische Funktion von der sozialistischen Gesetzgebung übernommen werdenS. Alle diese langen Wellen haben jeweils ihre eigenen historischen 1 Vgl. H. Levy-Bruhl: Sociologie du droit, S. 84, und Revue des droits de l'Antiquite, 1951 (VI), S. 83. ! Dies war ein Hauptthema von Georges Ripert: La Regle morale dans les obligations civiles, 1928.

1. K'ap.: Die Rechtserscheinungen

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Ursachen, und es wäre vermessen, hierfür eine einheitliche Erklärung geben zu wollen. Zum anderen handelt es sich um die leichter zu beobachtenden stoßweisen Bewegungen, deren Ursache in den Schwankungen der Gesetzgebung hinsichtlich der Verschiebung der Trennlinie liegt. Es kommt nämlich vor, daß bei der Verfolgung kurzfristiger politischer und vor allem ökonomischer Ziele die Staatsgewalt es für sinnvoll erachtet, Gesetze bezüglich der Sitten und der allgemeinen Lebensführung der Untertanen zu erlassen. So wird, wenn auch eventuell nur zeitweilig, das Recht um neue Gebiete erweitert. Frankreich liefert uns dazu ein Beispiel in Gestalt des Gesetzes vom 8. August 1962, das die gegenseitige Hilfe in der Landwirtschaft, die bislang dem Bereich der Sitte angehörte, ins Recht übergeführt hat. Zu verschiedenen Zeiten hat der Staat Kleiderordnungen erlassen. Mag es sich um Luxusverordnungen (eine historisch sehr bedeutsame Kategorie), um Rationierungsbestimmungen (wie in der Zeit des 2. Weltkrieges) oder das Verbot von Trachten, die für reaktionär gehalten werden (wie etwa der Fez in der Türkei während der Regierung Atatürks) handeln, so führt uns dies doch stets zur seI ben rechtssoziologischen Interpretation: das Recht verschiebt willkürlich seine Grenzen zu Lasten der Sitte.

10. Die Suche nach einem Kriterium für die Rechtlichkeit Die Feststellung, daß zumindest in den modernen Gesellschaften zwei Arten von sozialen Normensystemen, die rechtlichen und die nichtrechtlichen, koexistieren, zwingt uns, ein Unterscheidungsmerkmal zu suchen. Da es die rechtlichen Erscheinungen sind, die sich als Sonderfall von den anderen abheben, ist es erforderlich, das Kriterium des Rechtlichen, die Rechtlichkeit!, zu bestimmen. Auf der Grundlage unserer vorhergehenden Ausführungen können wir sofort eines der theoretischen möglichen Verfahren ausscheiden, nämlich das Unternehmen, den Unterschied aus dem Inhalt bzw. dem Gegenstand der Normen herzuleiten. Nachdem wir gesehen haben, daß zu verschiedenen Zeiten dasselbe Verhalten von verschiedenen Normen3 Siehe Kulcsar: The educational role of law in the socialist society, Budapest 1961. Es wäre wohl nicht unmöglich, in der griechischen Gesetzesphilosophie und später in der Gesetzesideologie der Jakobiner die Wurzel für eine weltliche (im Sinne von staatlich) Moralauffassung zu finden. Im Frankreich der 3. Republik regte dies auch sicher mehr als einen Volksschullehrer an, und ein Philosoph, Andre Marceron, der im übrigen ein guter Beobachter der normerzeugenden Kraft des Schulmilieus war, entwickelte hieraus eine vollwertige Theorie (La Morale par l'Etat, 1912, am Vorabend des Krieges, in dem er fallen sollte): die Moral hat nur die Aufgabe zu lehren. die Gesetze des Landes freudig und mit Liebe zu befolgen. 1 Vgl. Jean Poirier: Ethnologie generale (Encyc1opedie de la Pleiade), 1968, S.1094ff.

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2. Teil: Gegenstand der Hechtssoziologie

systemen erfaßt wurde, ist es uns nicht mehr gestattet, davon auszugehen daß bestimmte Verhaltensweisen von vornherein und notwendigerweise entweder rechtlicher oder nichtrechtlicher Natur sind. Selbst das Tötungverbot kann ebenso gut der Religion und der Moral wie dem Recht angehören. In der U-Bahn ist das Rauchverbot rechtlich fixiert und im übrigen durch Regeln der Höflichkeit oder der Gesundheitslehre. So ist die Rechtlichkeit nicht von vornherein bestimmten Sozial bereichen eigen. Es handelt sich vielmehr um eine gewissen völlig beliebigen Sozialverhältnissen hinzugefügte äußerliche Eigenschaft2. Hinfort muß das Unterscheidungskriterium außerhalb der in Parallele gesetzten Normensysteme gesucht werden. Hierzu gibt es im wesentlichen zwei Theorien. Beide finden ihr Kriterium stromabwärts von der Norm, wenn wir davon ausgehen, daß die in irgend einer Weise einmal formulierten Normen auf ganz natürliche Art ihrer Anwendung zufließen. Aber für die erste dieser Theorien bedeutet dieses stromabwärts von der Norm sein den Zwang, durch welche sie angewandt werden, während für die andere das Infragestellen, durch welches sie eventuell nicht angewandt werden, entscheidend ist. 11. Das aus dem Zwang abgeleitete Kriterium Da es der gesamten Durkheimschen Soziologie zugrunde liegt, hat es die Gestalt eines klassischen Kriteriums angenommen. Seinen Ursprung verdankt es einem dem Finalismus nicht ganz fremden Gedanken des gesunden Menschenverstandes: da die Norm geschaffen ist, um angewandt zu werden, ist auch ein Zwang nötig, der dies gewährleistet. Mit der Norm erzeugt die Gesellschaft auch einen Zwang, der sich gegenüber dem Normübertreter auswirkt. Dieser soziale Zwang ist jedoch nicht immer von derselben Art, und gerade weil dies so ist, lassen sich die Rechtsnormen von den anderen Normen unterscheiden. Es ist somit der Begriff der sozialen Zwanges eingehender zu untersuchen, und zu diesem Zweck müssen die beiden Bestandteile dieser Bezeichnung näher betrachtet werden. 2 Es handelt sich um das, was von anderen Autoren mit dem Ausdruck "Neutralität der Rechtsnorm" bezeichnet wird (siehe Pinto und Grawitz: Methodes des sciences sociales, Band 1, Nr. 69) und womit gesagt werden soll, daß die Rechtsnorm sich jeden beliebigen Inhalt aneignen kann. Diese Fähigkeit bzw. diese Plastizität wird sogar als eines der Kriterien angesehen, an Hand deren man die Rechtsnorm von anderen sozialen Normen unterscheiden kann. Hier seien jedoch einige Zweifel erlaubt. Es ist fraglich, ob darin ein spezifisch rechtlicher Zug liegt, denn es scheint, daß die Elemente der verschiedenen Normensysteme generell austauschbar sind. Es gibt z. B. nur wenige Religionen, die sich dessen enthalten, den alltäglichsten Verhaltensweisen einen aufs Jenseits bezogenen Sinn zu verleihen. Andererseits werden manche ursprünglich rein technischen Rechtsregelungen im Laufe der Zeit zu Sitten usw.

1. Kap.: Die R:echtserscheinungen

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a) Der Zwang. Nicht selten wird das Wort Sanktion vorgezogen. Damit ist jedoch der Nachteil einer nicht hinreichend umfassenden Bedeutung verbunden, denn wenn es auch nicht gerade notwendigerweise an das Strafrecht erinnert (es gibt auch zivilrechtliche Sanktionen wie die Nichtigkeit oder den Schadenersatz), so doch in jedem Falle an eine Reaktion auf vorhergegangenen Normbruch. Es ist nun aber keineswegs außergewöhnlich, daß die Norm in präventiver Weise und somit vor jeglicher übertretung die von ihr verlangte Befolgung inspiriert. Im Polizeirecht finden wir sogar eine ganze Kategorie von Normen, die ihrem Wesen nach auf sofortigen Vollzug ausgerichtet sind (etwa diejenigen, welche Straßensperren und Verkehrsbeschränkungen betreffen) und nicht auf die Reflexwirkung von Sanktionen. Es empfiehlt sich somit, allgemeiner von Zwang zu sprechen und diesem Begriff im übrigen einen sehr weiten Umfang beizulegen, so daß der psychische ebenso wie der physische Zwang erfaßt wird1 • Darunter fällt folglich der durch stumme Mißbilligung ausgeübte Druck, ja sogar die bloße Möglichkeit dieser Mißbilligung, genauso wie derjenige, der durch eine Ausschließung oder gar eine Freiheitsbeschränkung erzielt wird. b) Der soziale Zwang. Dieser Ausdruck entstammt der Terminologie Durkheims. Er darf nicht mit dem aus der amerikanischen Soziologie bekannten Begriff der sozialen Kontrolle verwechselt werden 2 , der zwar

die Rechts- und Sittennormen sowie den mit diesen verbundenen Zwang ebenfalls umfaßt, aber doch weit darüber hinausgreift. Der Begriff des sozialen Zwanges hat auch eine stärker ausgeprägte Bedeutung als der der sozialen Kontrolle, und es ist wichtig, sich hieran zu halten. Auf jeden Fall ist die Bezeichnung sozial wesentlich; sie bedeutet, daß nur der von der Gruppe ausgehende Zwang!! und nicht die selbstgesetzten Imperative einer autonomen Gewissensmoral im Sinne der Kantschen Ethik Berücksichtigung finden. Nach Ausscheidung der Individualmoral beschränkt sich das Unterscheidungsproblem auf die Abgrenzung zwischen dem Recht und der Sitte im weitesten Sinne (unter Einschluß des Brauches), wobei Rechtsund Sittennormen in gleicher Weise durch den Druck seitens der Gesell1 Der Begriff des Zwanges in der Soziologie ist dem der Gewalt im französischen Zivilrecht sehr nahe. In beiden Fällen finden wir einen gleitenden übergang vom Physischen zum Psychischen und die Tendenz zur Ausmündung auf die Furcht (die frz. Zivilrechtstheorie der Gewalt leitet sich von der römischen "metus" her). Die Digesten (50-16-239-8) und Bartolus leiteten "Territorium" von "terrere" ab; das Territorium ist der rechtliche Raum, auf dem sich der" Terror" auswirken kann. 2 Vgl. S. 92 Anm. 3 und 4. 3 Genau genommen geht dieser Zwang von der Gesamtgesellschaft aus, die sich stets als Anknüpfungspunkt anbietet, wenn die Untersuchung nicht auf besondere Gruppierungen übertragen werden kann (wie eine Vereinigung, eine Bande usw.), es sei denn sie betrifft die internationale Gemeinschaft (vgl. S. 131 ff.).

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2. Teil: Gegenstand der Rechtssoziologie

schaft gestützt werden. Die Grenzlinie muß somit innerhalb des Begriffs des sozialen Zwanges verlaufen. Auf beiden Seiten gibt es sozialen Zwang, aber dessen Charakter ist jeweils verschieden. Im rechtlichen Bereich hat er einen willensbezogenen und institutionalisierten Charakter, während er in bezug auf die Sitte instinktiv und diffus ist. Für eine Theorie, die sich bemüht, zuerst das Recht zu definieren, weil es ihrer Auffassung nach die hervorstechendsten Züge besitzt, weist dieser Zwang dann auf Rechtsnormen hin, wenn er von einem besonderen Organ ausgeht und eine bewußt wahrgenommene Funktion erfüllt. Fehlt eines dieser beiden Elemente, so liegt nur eine Sittennorm vor. Versuchen wir nun, diese beiden Vorstellungen voneinander zu scheiden. 1. Indem die Gesellschaft eine Norm mit einem gewissen Maß an Zwang ausstattet, will sie dann auch bewußt zur Vollstreckung schreiten? Bei positiver Antwort liegt eine Rechtsnorm vor. Wird dagegen der Endzweck der Vollstreckung nur unbewußt verfolgt, so liegt zwar eine soziale, aber keine rechtliche Norm vor. Dies gilt umsomehr, wenn dieser Zweck überhaupt nicht zugrunde liegt und der Zwang nur eine Begleiterscheinung bei abweichendem Verhalten und somit ohne eigene Funktion ist (so verhält es sich normalerweise mit den Bräuchen: wenn ein Nonkonformist im Restaurant den Nachtisch vor der Suppe bestellt, so ist das beim Publikum ausgelöste Lächeln nur ein Niederschlag des abweichenden Verhaltens).

Was man dem Kriterium der Intentionalität vorwerfen kann, ist, daß es die Schwäche aller psychologischen Kriterien teilt. Dies wird hier noch dadurch vergrößert, daß es sich nicht um den Bewußtseinszustand eines Individuums, sondern um die hypothetische Psyche der Gesellschaft handelt. Die Absicht eines Gesetzgebers, der eine Strafrechtsbestimmung erläßt, ist eindeutig. Aber wie soll die Vielfalt anonymer Reaktionen, welche in Teilen der Gesellschaft ein abweichendes Verhalten auslöst, einem einheitlichen, zweckgerichteten Willen zugeordnet werden? Man gelangt so leicht zu den Wesenheiten des Kollektivbewußtseins und des kollektiven Unterbewußtseins mit all ihren Schwierigkeiten. Zweifellos werden üblicherweise die überlegungen bezüglich der Finalität in der Hoffnung, mehr Objektivität zu erzielen, durch solche hinsichtlich der Quelle des Zwanges ergänzt. 2. Man sagt nun, daß der Rechtszwang dadurch gekennzeichnet sei, daß er seinen Ursprung in einem besonders organisierten Herrschaftsverband habe, der in modernen Gesellschaften Staat genannt wird und aus den politischen Machthabern besteht. Der mit der Sitte verbundene Zwang dagegen entstamme in diffuser Weise der Gesamtheit der Gesellschaft und seine Quelle ließe sich nicht im voraus lokalisieren. Besitzen wir hiermit ein besseres Abgrenzungskriterium? Genau genommen sind wir nun auf einem toten Punkt angelangt. Ein funktionel-

1. ~ap.: Die Rechtserscheinungen

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ler Gebrauch des sozialen Zwanges durch ein zu diesem Zweck konstituiertes Organ ist gewiß dazu geeignet, eine Definition des Rechts zu ermöglichen, aber auch nur bezüglich einer bestimmten Art des Rechts, nämlich des bewußt geschaffenen staatlichen Rechts, mit anderen Worten, des Gesetzes. Das Gesetz ist nun aber nicht die einzige Rechtsform, denn es gibt auch noch das Gewohnheitsrecht, welches im übrigen von einem genauso unbewußten und diffusen sozialen Druck gestützt zu sein scheint wie die Sitte. Untersucht man den Mechanismus, der Sitte und Gewohnheitsrecht verbindlich macht, so findet man, daß sich beide sowohl sprachlich wie faktisch sehr nahe stehen. Die Sitte besteht aus nichtrechtlichen sozialen Gewohnheiten, während das Gewohnheitsrecht aus ins Recht übernommenen Sitten konstituiert ist. Es ist uns somit noch nicht aus unserer Verlegenheit geholfen. 12. Das aus dem Zwang abgeleitete Kriterium (Fortsetzung): Unterschiede der Natur und des Ausmaßes des Zwanges Man kann erneut mit der Untersuchung beginnen, indem man nicht mehr die allgemeinen Züge des Zwanges, sondern die konkreten Mittel seiner Anwendung vergleicht. Es gibt rein psychische Mittel, wie die sich in Beleidigungen ausdrückende schlichte Mißachtung, der Spott und das Gerücht. Andere wiederum sind physischer bzw. in noch weiterem Sinn materieller Art (man hat hier nicht nur an körperliche Zwänge zu denken, sondern auch an Vermögensbeeinträchtigungen). Bei diesen auf der Hand liegenden Unterschieden ist es verlockend, Sitte und Rechtsnorm jeweils in bezug auf bestimmte Arten von sozialem Zwang zu definieren l . Man muß zugeben, daß es hier im großen und ganzen derartige Entsprechungen gibt. Fraglich bleibt jedoch, ob ein Kriterium brauchbar ist, das in zahlreichen Fällen, und zwar in beiden Richtungen, nicht zutreffende Antworten gibt. So ist auf dem Gebiet des Strafrechts mit den entehrenden Strafen eine zusätzliche Mißbilligung verbunden, während umgekehrt Rousseau deshalb Schmähungen erdulden mußte, weil er sich als Armenier gekleidet hatte. In letzter Verzweiflung greift man schließlich auf graduelle Unterschiede zurück, um doch noch die Unterscheidung auf das Kriterium des Zwanges stützen zu können. Man geht davon aus, daß der soziale Zwang eine Konstante im Sozialleben ist und daß dieser bei den nichtrechtlichen Normen weniger stark wirkt als bei den Rechtsnormen. Einmal mehr kann man sowohl im großen und ganzen zu befriedigenden Ergebnissen 1 Wahrscheinlich knüpft die von Aubry und Rau an den Beginn ihres berühmten Werkes "Cours de droit civil" gestellte Definition des Rechts ("das Recht ist die Gesamtheit derjenigen menschlichen Verhaltensregeln, zu deren Beachtung zulässigerweise äußerer oder physischer Zwang angewandt werden kann") an diese Auffassung an.

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2. Teil: Gegenstand der Rechtssoziologie

gelangen, aber wissenschaftliche Genauigkeit erzielt man nicht mit einem summarischen Vergleich mehr oder weniger starker Intensitäten, ganz abgesehen davon, daß sich leicht Beispiele finden lassen, bei denen dieser Vergleich zu nichts führt. So ist es fraglich, ob im Paris des 20. Jahrhunderts das dem Gebiet der Bräuche angehörende Verbot der Benutzung einer Sänfte mit weniger starkem Zwang verbunden ist als die verschiedenen rechtlich normierten Parkverbote. 13. Das Kriterium der Infragestellung

Von dem Punkt aus, an dem wir zuletzt angelangt waren, kann man nun zu einer viel radikaleren Ablehnung des aus dem Zwang abgeleiteten Kriteriums kommen. Jahrhundertelange zivilisierte und rationale Regierungspraxis hat den Eindruck geschaffen, als sei die Norm das wesentliche im Recht und die Sanktion ein notwendiger Aspekt hiervon. Die Ethnologen enthüllten jedoch, daß in mancher archaischen Gesellschaft das Recht nicht wie in der unseren als eine Zwangsordnung aufgefaßt wird, sondern als ein durch Versöhnung und Vermittlung zu erreichendes friedvolles Gleichgewicht 1• Man täte unrecht zu glauben, daß nichts von dieser archaischen Mentalität in uns weiterwirkt. Vom Völkerrecht ganz zu schweigen, dessen Normen weitgehend der Sanktionen entbehren müssen, ist es eine Tatsache, daß auch im nationalen Recht die Techniken der überredung hie und da von Richtern und Parteien angewandt werden, und zwar von den einen, um einen Vergleich zu erzielen, und von den anderen, um der Einzelfallgerechtigkeit zu dienen. Dies zeigt, daß die Techniken der bindenden Anordnung nicht das ganze Feld beherrschen. Der Zwangscharakter ist sicher kein rein zufälliges Ergebnis der Rechtsentwicklung. Dennoch ist er nicht so wesentlich, als daß gerade er als Zeichen der Rechtlichkeit zu gelten hätte. Diejenigen, die das Recht nur vermittels seiner Sanktionierung begreifen, ermessen nicht die in dessen Natur liegende Mehrdeutigkeit ihres Kriteriums. Wenn man behauptet, daß eine Norm dann rechtlich ist, wenn ihre übertretung einen Vollstreckungsmechanismus auslöst, so wird damit auch anerkannt, daß sie übertreten werden kann (und sogar, daß die Zwangsandrohung auch sehr wohl scheitern kann). Die Möglichkeit der übertretung gewinnt so eine viel größere Bedeutung als die Möglichkeit des Zwanges, und es ist die in der übertretung liegende Herausforderung an die Norm, in welcher der entscheidende Mechanismus des Rechts zu erblicken ist2 • Nachdem wir von einem Begriff ausgegangen 1 Vgl. R. Verdier: Ethnologie et droits africains, Journal de la Societe des Africanistes, 1963 (33), S. 110 ff. Z So Adamson Hoebel: The law of primitive man, 1954, S. 37. Ohne daß wir soweit gehen müssen, eine übertretung in Form der Herausforderung vor-

1. Kap.: Die Rechtserscheinungen

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sind, welcher unter allen Normsystemen dem Recht das Höchstmaß an Starrheit und Automatismus zuerkannt hat, gelangen wir nun zu einer Neueinführung der Geschmeidigkeit und Freiheit. Es ist hiernach eine gewisse interrogative Natur, die Möglichkeit des Infragestellens, welche die Rechtsnormen charakterisiert. Dies bedarf jedoch noch näherer Erläuterung. Es handelt sich hier nicht um eine rein intellektuelle Infragestellung. Wenn sie sich nur auf einen rein psychischen Vorgang beziehen würde, so wäre nicht einzusehen, weshalb sie nicht für die Sitte in gleicher Weise wie für das Recht gelten sollte. Ein Gegenbeweis wird uns durch jene Gesellschaften geliefert (die archaischen und die autoritären), in denen jede Äußerung von Kritik mehr oder weniger erstickt wird, denn in diesen wird das Recht nicht anders als die Sitte behandelt, indem beide dem Streit entzogen werden. Was dem Recht eigen ist, das ist eine institutionalisierte Infragestellung. Es geht hier nicht um das Recht als Norm, sondern um die Anwendung der Norm auf einen konkreten Fall. Die Institution der Bestreitung nimmt so die typische Form des Prozesses bis zur Urteilsfällung an. Prozeß und Urteil lassen sich so wenig auf andere sozialpsychologische Erscheinungen zurückführen und sind von so spezifisch rechtlicher Art, daß es naheliegend erscheint, in ihnen die Indikatoren der Rechtlichkeit zu sehen. Diese These ist mit einer Fülle von ethnologischen Argumenten vor allem von dem Deutsch-Amerikaner Hermann Kantorowicz verteidigt worden 3• In seine Rechtsdefinition integriert er das, was man die Justitiabilität nennen kann, wonach Normen nur dann rechtlich sind, wenn sie die Grundlage eines Urteils bilden können. Justitiabel darf hier nicht mit justitiell verwechselt werden. Damit soll nämlich nicht gesagt werden, daß das Recht nur aus Urteilen bestehe und seinen Ursprung somit der Jurisprudenz verdanke. Ganz offensichtlich erfolgt die Rechtsbildung häufig außerhalb der Gerichte, aber selbst in diesen Fällen unterliegt die konkrete Rechtsanwendung vermittels des Prozesses stets richterlichem Eingreifen. Beim Begriff der Justitiabilität kommt es auf die Möglichkeit eines Urteils und nicht auf das tatsächliche Urteil und erst recht nicht auf die Verurteilung an. In dieser Hinsicht muß man sich davor hüten, die Theorie so zu interpretieren, als beinhalte sie, daß nur das rechtlich sein kann, was gerichtlich sanktioniert ist, denn auf diese Weise würde man erneut das Zwangskriterium, nur unter anderem Namen und auf das Urteil verlagert, einführen, mit all seinen auszusetzen, können wir doch annehmen, daß die primitiven Gesellschaften im Gegensatz zur Meinung Durkheims weithin innerhalb eines gewissen Spielraumes normabweichendes Verhalten tolerieren. Das Normensystem ist dazu da, dem Stamm ein Bewußtsein von seiner Identität zu geben, aber ein gewisses Maß an Ineffektivität löst die Gemeinschaft noch nicht auf. 3 The definition of law, 1958, S. 78 ff. (Die wesentlichen Gedanken hiervon erschienen bereits 1928 in einem Artikel im Columbia Law Review, 28, S. 690).

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2. Teil: Gegenstand der Rechtssoziologie

Schwierigkeiten. Es muß noch einer weiteren Versuchung widerstanden werden, und zwar derjenigen, die von der gerichtlichen Klage herkommt. Man könnte nämlich meinen, daß Rechtsnorm ist, was eine Klageform ergibt. Aber dieser Klagebegriff ist zu eng und zu sehr den aus dem römischen Recht stammenden Techniken verhaftet. Die Justitiabilität mündet vielmehr auf ein viel umfassenderes Phänomen aus, das jeden beliebigen Antrag an einen Richter umfaßt, selbst wenn es sich nicht um eine Klage im juristischen Sinn, sondern um ein bloßes Verlangen oder einen Streit handelt. Dementsprechend wird auch dem Begriff des Urteils kein aus dem modernen Verfahrensrecht abgeleiteter, einschränkender Sinn beigelegt. Dieses Urteil kann ebensogut charismatisch wie syllogistisch sein. Das, worauf es ankommt, ist die Intervention eines Richters, eines Dritten, unabhängig davon, ob es sich um einen privaten Schiedsmann oder um einen Staatsbeamten handelt. Was zählt, ist, daß dieser Dritte eine Sonderstellung gegenüber den am Streit beteiligten Parteien einnimmt, die es ihm erlaubt, den jeweiligen Parteivortrag in Zweifel zu ziehen und schließlich den Zweifel durch ein Urteil zu beseitigen. Das Urteil ist ein Zweifel, der entscheidet, und der Prozeß ist eine Institution des Bezweifelns mit einer Entscheidung am Ende dieses Vorganges. Sobald eine Beziehung zwischen zwei Personen Gegenstand einer Diskussion vor einem Dritten mit Entscheidungsbefugnis sein kann, ist auf Zugehörigkeit zum ungewissen Bereich des Rechts und nicht zur Sitte zu schließen4 • 14. Über die Möglichkeit empirischer Erforschung der Rechtlichkeit

Die im vorhergehenden erwähnten Untersuchungen waren theoretischer Natur, wenngleich sie hie und da ihre Stütze in vergleichenden ethnologischen oder historischen Betrachtungen fanden. Es ist fraglich, 4 Man wird hiergegen Beispiele aus dem Mittelalter, die (provenzalischen) Liebesgerichtshöfe der Minnesänger mit ihren Wettgesängen ("Tenzonen") und Streitgedichten anführen, denn hier scheinen doch dem Bereich der Sitte oder gar der Individualmoral angehörende Phänomene (der ritterlichen Höflichkeit besonders Damen gegenüber, der Galanterie und der leidenschaftlichen Liebe) einer prozessualen Diskussion unterworfen worden zu sein, mit einem frei ausgeschenkten Urteil dazu. Aber soweit diese Prozeßimitationen sich auf abstrakte Probleme bezogen haben, liegen sie nicht im Rahmen unserer Untersuchung, da wir uns hier nur mit der Anwendung verschiedener Arten von Normen auf lebendige Fälle befassen; soweit aber Bezugnahme auf wirkliche Fälle vorlag, was wohl tatsächlich bei manchen Minnehöfen vorgekommen ist, kann man sich ernsthaft fragen, ob dabei die Möglichkeit eines Urteils nicht gerade zur Folge hatte, bestimmte Beziehungen zu verrechtlichen oder zumindest in den Bereich des Infrarechtlichen überzuführen (vgl. S. 140; Kantorowicz, a.a.O.,S. 82). Diese von der Aristokratie geschaffenen Liebesgerichtshöfe brauchen trotzdem nicht als Rechtsindikatoren angesehen zu werden, da ihre Aussprüche nicht unbedingt im Namen der Gesamtgesellschaft erfolgten.

1. Kap.: Die Reclltserscheinungen

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ob empirische Untersuchungen, insbesondere systematische Erhebungen, zur Lösung des Problem beitragen können. Es hat nicht den Anschein, als seien derartige Versuche bereits unternommen worden. Die Frage sollte aber zumindest ernsthaft gestellt werden. a) Die naheliegendste Untersuchung bestünde darin, in einer sozialen Erscheinung den darin eingeschlossenen rechtlichen Teil zu isolieren, auf der Grundlage einer bereits getroffenen Feststellung!, wonach ein und dasselbe Phänomen verschiedene Aspekte vereinigen kann, wirtschaftliche, religiöse, sittliche und auch rechtliche. Dies entspricht auch der von Mauss erarbeiteten und von Gurvitch weiterentwickelten Theorie des totalen Sozialphänomens. Es wäre interessant, aus einer Reihe von Sozialerscheinungen das Rechtliche herauszudestillieren, um festzustellen, ob die Trennung leicht vonstatten geht und wie hoch dessen Anteil ist. Nehmen wir z. B. die Lage eines landwirtschaftlichen Besitzers. Diese enthält ein wirtschaftliches Element, das sich in Gestalt von Einkommen und Kapital beziffern läßt, aber auch ein rechtliches Moment, nämlich das Grundeigentum mit seinen Berechtigungen. Das Rechtliche ließe sich hier in gewisser Hinsicht aussondern, wenn es gelänge, unter den verschiedenen Verhaltensweisen des Eigentümers die wirtschaftlich motivierten von den rechtlich inspirierten abzusondern. Es scheint nun, daß sich fürs erste eine Näherungslösung dadurch erzielen ließe, daß man das Verhalten von Eigentümern mit dem von Pächtern in wirtschaftlich gleicher Situation vergleicht. Es ist bekannt, daß in zahllosen Gebieten die wirtschaftliche Lage der Kleinbauern nicht besser als die der Pächter ist. Wenn diese bei den Kategorien nun trotz gleichen Einkommens in verschiedener Weise auf politische, soziale, moralische und andere Fragen reagieren, so sind diese Unterschiede dem Eigentumsrecht zuzuschreiben2 • Vgl. S.17. Als Vorbild für die zu unternehmende Untersuchung könnte die sehr sorgfältig ausgeführte Umfrage von Dogan: La stratificazione sociale dei suffragi in Italia, 1962, dienen. Sie ergab für ein ländliches Gebiet in Italien im Jahre 1958 einen sehr ausgeprägten Kontrast zwischen dem Wahl verhalten der armen Kleingrundbesitzers auf der einen und dem der ebenfalls armen Pächter auf der anderen Seite. Letztere entschieden sich in wesentlich höherem Maße für linke Parteien als erstere (63 Ofo gegenüber 12010). Daraus ließe sich entnehmen, daß das Bewußtsein hinsichtlich der durch das Eigentumsrecht verliehenen Stellung ein besonderes, konservatives Verhalten erzeugt. Hierbei ist jedoch zu bedenken, daß die unterschiedliche Haltung mit der mehr oder weniger gesicherten Verfügungs gewalt zusammenhängen kann. Entscheidend ist, daß diese Sicherheit ebensogut als wirtschaftlicher Wert (als Kapital) wie als Rechtserscheinung (als Verfügungsrnacht) aufgefaßt werden kann. Wenn man darin ein wirtschaftliches Moment sieht, so ist die wirtschaftliche Lage der Pächter auf der einen und der Kleinbauern auf der anderen Seite nicht mehr dieselbe. Um das Wirken des Eigentumsrechts in Reinkultur erfassen zu können, wäre es somit erforderlich, die Pächter mit Nießbrauchern oder Eigentümern auf unveräußerlichem Besitz zu vergleichen. Aber damit hätten wir es erneut mit einem Sonderfall zu tun. 1 2

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2. Teil: Gegenstand der Rechtssoziologie

b) Eine weitere mögliche Untersuchung bestünde in der Erforschung der Schwelle der Rechtlichkeit. Was für uns in einer bestimmten Gesellschaft ein und dasselbe Verhalten ist, kann vom selben Beobachter das eine Mal dem Recht und das andere Mal der Sitte zugeordnet werden. Diese verschiedenartige Betrachtungsweise hängt mit gewissen entscheidenden Details im beobachteten Verhalten zusammen. Je nach der Art dieser Details schlägt die Beurteilung des Betrachtenden vom Rechtlichen ins Nichtrechtliche um und umgekehrt. Ein wirksamer und leicht zu praktizierender Versuch bestünde darin, einer repräsentativen Auswahl aus der Bevölkerung eine Testserie vorzulegen, in der ein bestimmtes Verhalten in seinen Grundzügen gleich bleibt, wobei aber die entscheidenden Details stufenweise betont oder unterdrückt werden. So ließe sich der Punkt feststellen, an dem der Umschlag erfolgt, d. h. an dem die rechtliche von der nichtrechtlichen Sichtweise abgelöst wird und umgekehrt 3• Es ist übrigens wahrscheinlich, daß sich dies früher oder später, je nach der Zusammensetzung der Stichprobe, ereignet. In seiner "Jurisprudenz des täglichen Lebens" bietet Jhering 4 eine Sammlung hypothetischer Fälle, die sich im Grenzgebiet zwischen der Sitte und dem Recht bewegen und die für eine derartige Testkonstruktion dienlich wären. Wir wollen hieraus nur ein Beispiel wählen, das im übrigen den Vorzug besitzt, vom Autor selbst bereits in abgestufter Form dargestellt worden zu sein: Wenn ein Gast bei einem Diner (etwa eine fürsorgliche Mutter) seinen Anteil am Kleingebäck für seine Kinder beiseite schafft, ist dies rechtlich relevant? Und wenn er die nichtgerauchte Zigarre einsteckt? Oder wenn er die Weinflasche nicht austrinkt, sondern mitnimmt? Man kann hier nicht von vornherein sagen, daß der mehr oder weniger große Wert für die Meinungsbildung ausschlaggebend ist. Die Maxime minima non curat praetor (um Bagatellen kümmert sich der Richter nicht) drückt aber sowohl ein im Volke verwurzeltes Gefühl als auch einen Verfahrensgrundsatz aus, und es kann sehr wohl die Höhe des Schadens die beweiskräftigste Schwelle für die Rechtlichkeit darstellen. In diesem Sinne legt das französische Zivilrecht noch eine andere Art des Vorgehens nahe. Bei den Willensmängeln unterscheidet es zwischen arglistigem und nichtarglistigem Verhalten des betreffenden Vertragpartners. Ersteres wird durch Nichtigkeit und Schadensersatzpflicht 3 Wie drückt sich dieser Umschwung aus? Man muß hier an volkstümliche Ausrufe wie "das kommt vors Gericht" oder "das übergeb' ich meinem Anwalt" denken. In Südfrankreich kann man sogar "das bekommt der Gerichtsvollzieher" hören. Ist aber der Ausdruck "das werd' ich per Einschreiben mitteilen" bereits rechtlich? 4 Jhering: Die Jurisprudenz des täglichen Lebens, 1870 - 1880; vgl. vor allem die im 13. Kapitel (wo er über das Leben in der Gesellschaft spricht) aufgeführten Fälle, aber auch den 11. Fall im 8. Kapitel.

1. Kap.: Die Rechtserscheinungen

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gern. Art. 1116 Code civil sanktioniert, während letzteres nur aus den üblichen Anpreisungen eines gerissenen Händlers usw. besteht und die Gültigkeit des Vertrages nicht beeinträchtigt. Wenn dieses Verkaufsgebaren im einen Fall geduldet wird und auch ertragen werden kann, so liegt das dar an, daß dies Sitte geworden ist und sich in einem zweiseitigen Gewöhnungsvorgang einerseits das Unrechtsbewußtsein des Verkäufers verflüchtigt hat und andererseits der Kunde eine mißtrauische Abwehrhaltung entwickelt hat. Dieses nicht arglistige Verhalten erreicht so nicht die Schwelle der Rechtlichkeit. Die Unterscheidung zwischen den beiden Kategorien unterliegt dem freien tatrichterlichen Ermessen, worin man jedoch in gewisser Weise eine Einschätzung der öffentlichen Meinung erblicken kann. Am Ende einer soziologischen Analyse der RechtsprechungS empfiehlt es sich somit, die sich auf das arglistige und das nicht arglistige Verhalten beziehenden Fallgruppen einander gegenüber zu stellen8 , wodurch sich zwar nicht unbedingt ein beweiskräftiges Kriterium, wohl aber ein gewisses Bild von dem, was Recht und dem, was Sitte ist, herauskristallisieren lassen sollte. Es ist möglich, daß auch hier die mehr oder weniger große Schadenshöhe die Unterscheidung maßgeblich bestimmt. Diesen Testverfahren zur Feststellung der Schwelle der Rechtlichkeit stehen die Tests bezüglich der Neigung zu prozessieren sehr nahe, die immerhin schon mindestens einmal praktische Anwendung fanden 7 • Es ist jedoch zu beachten, daß die Schwelle, bei der ein Prozeß eingeleitet wird, nicht mit der Schwelle der Rechtlichkeit identisch ist, und zwar genausowenig wie eine gerichtliche Klage das Zeichen der Rechtlichkeit ist, denn der Betroffene kann sehr wohl überzeugt sein, daß seine Sache dem Recht und nicht der Sitte oder der Moral angehört und es trotzdem, aus sonstigen Gründe wie etwa der Scheu vor den Prozeßkosten, für vorteilhaft halten, sein gutes Recht abzuschreiben. Die im vorerwähnten Test gestellten Fragen bezogen sich gerade auf eine Skala finanzieller Nachteile. Gefragt wurde, ab welchem Betrag es sich für den Geschädigten lohne zu prozessieren8 und ab welchem Angebot ein Vergleich vorzuziehen seiD. Bezüglich dieser Technik, siehe S. 179 - 185. Beispiele: - für nicht arglistiges Verhalten: Paris, 16. Dezember 1924, D. H. 1925-125; Zivilgericht Avesnes, 5. Februar 1964, D. 1964-S-94; - für arglistiges Verhalten: Paris, 22. Januar 1953, J. C. P., 1953-2-7435. Unter den Bezeichnungen Verleitung und Erschleichung werden zwei Arten der Täuschung unterschieden: Caen, 28. Juli 1873, S. 74-2-139; Zivilgericht Abbeville, 6. Juli 1949, D. 1949-508; Paris, 10. Dezember 1934, D. 1935-2-1. 7 Eine im Jahre 1968 vom LF.O.P. im Auftrag des Justizministeriums durchgeführte Umfrage über die Verantwortlichkeit bei Verkehrsunfällen enthielt Tests dieser Art. 8 19 Ofo der Befragten hielten den Weg zum Gericht bei einem Schaden von weniger als 2000 französischen Franken für gerechtfertigt, 17 Ofo bei Beträgen zwischen 2000 und 5000 F, 16 Ofo bei 5000 bis 9000 F, 10 Ofo bei über 10000 F 5

6

9 Carbonnier

Zweites Kapitel

Das Rechtssystem 1. Der Begriff des Rechtssystems Dieser Ausdruck stammt aus der Rechtsvergleichung. Er hat jedoch in der Rechtssoziologie einen anderen Inhalt bekommen. Für die Rechtsvergleichung ist das Rechtssystem eine Rechtsfamilie; die nationalen Rechtsordnungen sind zwar sehr zahlreich, gehören jedoch einigen großen Systemen wie dem Common Law oder dem römisch-germanischen Rechtskreis an. Für die Rechtssoziologie dagegen hat der Begriff des Rechtssystems einen viel engeren Anwendungsbereich, denn es handelt sich praktisch um eine einzige nationale Rechtsordnung und nicht um eine Zusammenstellung mehrerer. Wenn man den relativ modernen Begriff der Nation vermeiden will, so kann man in diesem Falle vom Recht einer Gesamtgesellschaft sprechen. überall wo die Soziologie, zumindest von außen betrachtet, eine geeinte Gesamtgesellschaft findet, läßt sich der Schluß auf das Vorhandensein eines dieser entsprechenden Rechtssystems ziehen. Wenn aber der Ausdruck Rechtssystem ein bloßes Synonym für objektives oder positives Recht wäre, so wäre er nur von geringem wissen-

schaftlichem Interesse. Man muß sich an die dahinter stehende Grundvorstellung halten. Danach bildet das Recht ein Ganzes, dessen Teile nicht in zufälliger Weise zusammengestellt sind, sondern zueinander in Beziehungen zwangsläufiger Art stehen. Schon lange vor dem Strukturalismus bestanden die Vertreter der Rechtsvergleichung auf der Konsistenz jedes Rechtssystem und auf der Interdependenz all seiner Teile sowie auf der daraus resultierenden Starrheit oder gar Immobilität. Genau genommen dachten sie dabei aber mehr an logische als an soziologische Strukturen. Was dem Rechtssystem in ihren Augen seine Originalität und Be(38 % ohne Meinung). Der allgemeine Eindruck ist der einer ziemlich großen Neigung zu prozessieren. 9 Bei einem Schaden von 30 000 F waren 7 Ofo der Befragten bereit, sich auf der Grundlage von 10000 F zu vergleichen, 25 Ofo bei mehr als 20000 F, 33 Ofo bei mehr als 25000 Fund 29 Ofo waren auch bei diesem Betrag nicht vergleichsbereit (6 Ofo äußerten sich nicht zu dieser Frage). Diese Ergebnisse verstärken den bereits gewonnenen Eindruck von einer ziemlich großen Neigung zu prozessieren.

2. Kap.: Das Rechtssystem

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ständigkeit verleiht!, ist nicht so sehr der konkrete Inhalt der Normen als eine Begriffstechnik, eine Ausdrucksweise und eine Systematisierung2 • Die Soziologie betrachtet das Recht selbstverständlich nicht unter diesem mehr formalen Aspekt, sondern beschreibt ein System vor allem auf der Grundlage seines soziologischen Gehaltes. Nichtsdestoweniger hält sie mit den Vertretern der Rechtsvergleichung an der bedeutsamen Hypothese fest, daß das Ganze des Rechts im Grunde eine von seinen Teilen verschiedene und beständigere Existenz aufweist3 • Da die Rechtserscheinung die Grundeinheit der rechtssoziologischen Analyse ist, faßt die Rechtssoziologie das Rechtssystem als die Gesamtheit derartiger Erscheinungen auf. Alle Rechtsphänomene in einer bestimmten Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit sind untereinander in einem Verhältnis gegenseitiger Abhängigkeit und hieraus ergibt sich ein System. Das Rechtssystem ist das räumliche und zeitliche Feld, in dessen Rahmen sich die Rechtserscheinungen abspielen. Wir kennen zwar bereits diese Phänomene, aber ihre räumliche und zeitliche Einordnung erlaubt die Entdeckung neuer Aspekte.

2. Der rechtliche Raum und seine Teile Man kann von einem rechtlichen Raum sprechen, so wie man von einem sozialen Raum spricht. Vom einen wie vom anderen darf man sich kein zu materielles bzw. am Boden verhaftetes Bild machen. Zweifellos ruht der Rechtsraum auf einem Territorium l , d. h. einer abgegrenzten und 1 Das englische Recht hat in gewissen Fällen kontinentaleuropäische Lösungen übernommen, aber in einer Form, die keinerlei Bruch mit dem Common Law darstellt. Die UdSSR hat ihr Privatrecht mit Hilfe eines aus dem römischen Recht stammenden Begriffsapparates revolutioniert. Die Übernahme bestimmter fremder Institutionen ändert somit nicht das betreffende Rechtssystem. 2 Vgl. R. David: Les Grands Systemes de droit contemporain, 1964, S. 13 ff. und S. 337 ff.; J. Zajtay: La permanence des concepts du droit romain dans les systemes juridiques continentaux, R.LD.C., 1966, S. 353 ff.; H. Eichler: Die Rechtskreise der Erde, in Estudios de derecho civil en honor deI professor Castan, 1970, Band 4, S. 291 ff. 3 Durkheim, der ja im allgemeinen sehr evolutionistisch gesinnt war, sprach doch hiervon paradoxerweise in einer Art, die man als Strukturalismus bezeichnen kann: "Die verschiedenen Rechtserscheinungen sind nicht voneinander unabhängig; sie unterhalten alle Arten von Beziehungen miteinander und setzen sich in solcher Weise zusammen, daß sie in jeder Gesellschaft ein einheitliches und eigenständiges Ganzes bilden ... Jede Handlungsweise ist unmittelbar mit anderen verknüpft, mit denen sie ein Ganzes bildet, das bereits eine gewisse Eigenständigkeit aufweist und welches man als Institution bezeichnen kann . " schließlich zeichnen sich alle Rechtserscheinungen eines Volkes dadurch aus, daß sie zusammengehören und in ihrer Vereinigung ein neues, komplexeres Ganzes bilden, nämlich das Rechtssystem der betreffenden Gesellschaft." (A. S., 1909 - 1912, S. 305). Vgl. Note sur les systemes juridiques tribaux, A. S., 1909 - 1912, S. 379. 1 Das Interesse der Soziologie für das Territorium ist durch zoologische Untersuchungen angeregt worden, die gezeigt haben, daß sich bei Tieren die in-

9"

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2. Teil: Gegenstand der Rechtssoziologie

zweckbestimmten Landfläche. Was natürlich ist, ist aber keineswegs notwendig, denn ein rein nomadisch lebender Zigeunerstamm bildet einen Rechtsraum ohne territoriale Grundlage 2 , und auf der anderen Seite setzt die Hypothese des Rechtspluralismus bei ihrer Anwendung auf die mannigfaltigen nichtgeographischen Erscheinungen (verschiedene soziale Klassen, Altersgruppen usw.) voraus, daß zahlreiche Rechtsräume auf derselben territorialen Grundlage koexistieren können. Diese Grundlage kommt somit keinem Rechtsraum unter Ausschluß der anderen zu. Der Rechtsraum ist in Wirklichkeit eine rein intellektuelle Konstruktion, dargestellt durch ein Netz von Rechtsbeziehungen. Für die Bildung eines Rechtsraumes sind die Menschen wichtiger als das Territorium, und zwar nicht die isolierten Individuen, sondern die gruppierten. Dies führt uns zum Begriff der Gruppierung. Die am meisten herausragende Gruppierung ist die Gesamtgesellschaft, da sie sich an der Grenze unseres Blickfeldes befindet. Das räumliche Feld des Rechtssystems ist grundsätzlich die Globalgesellschaft. Jenseits derselben sind die anderen Rechtssysteme, aber in ihrem Innern besteht selten eine so einfache Beziehung wie die zwischen Atomen und Molekülen. Zwischen das Individuum und die Gesamtgesellschaft schiebt sich das, was von Politologen einst als "Zwischenglieder" bezeichnet worden ist und was die heutige Soziologie als Verbands- oder Gruppenbildung beschreibt. Diese ebenfalls Teil des sozialen Raumes ausmachenden Gruppierungen sind nach Form und Umfang sehr verschiedenartig. Darunter fallen Erscheinungen wie die Kleinfamilie, der Klan, die Gemeinde, die Region, aber auch die sozialen Klassen, die Altersklassen sowie die Zünfte und die Vereine. Die allgemeine Soziologie hat hierfür eine besondere Vorliebe; sie bildet Typologien 3 und tiefer eindringend bemüht sie stinktive Aneignung einer Fläche findet, was sich beim Menschen zum subjektiven Recht fortentwickelt (vgl. z. B. R. Ardrey: Le Territoire, 1967). Auf dem Gebiet der Soziologie hat dieser Begriff im übrigen einen sehr weiten Umfang erhalten, weil man hierunter so verschiedenartige Dinge wie die Vorliebe bestimmter sozialer Schichten für gewisse Stadtviertel oder Einrichtungen, die Verteidigung der Wohnung gegen Eindringlinge oder die vom Individuum hinsichtlich seines eigenen Körpers in Anspruch genommenen Befugnisse fallen. Vgl. C. R. Carpenter: Territoriality: a review of concepts and problems, in A. Roe und G. Simpson: Behavior and evolution, 1958, S. 224 ff.; S. Lyman und M. Scott: Territoriality, a neglected social dimension, in A sociology of the absurd, 1970, S. 89 ff. Diese Erscheinungen haben oft eine rechtliche Dimension, aber diese scheint vernachlässigt zu werden. 2 Andere Formen des Nomadenturns setzen dagegen in gewisser Weise ein Territorium voraus, und zwar als Durchzugsgebiet; vgl. B. Vladimirtsov: Le Regime social des MongoIs, le feodalisme nomade, übersetzung von CaTsow, 1948, S. 51 und 71; J. Chelhod: Le Droit dans la societe bedouine, 1970, S. 40. 3 Eine zweifache Bemerkung bezüglich dieser Typologien: 1. sie berücksichtigen nur selten die rechts dogmatischen Kategorien (was nicht illegitim ist), die vor allem bei der Beschreibung der juristischen Personen Anwendung finden, und 2. sind sie bisweilen außerordentlich komplex (vgl. z. B. GUTvitch: Vocation >l.ctuelle de la sociologie, 1950).

2. Kap.: Das RechtSISystem

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sich, die (sozial-)psychologischen Lebensgesetze dieser Gruppen zu finden4 • Aber die Rechtssoziologie hat einen ganz besonderen Grund, ihrerseits diese besonderen Gruppengebilde zu untersuchen, nämlich um zu ergründen, ob der jeweils untersuchte soziale Raum (die Gruppierung) gleichzeitig einen rechtlichen Raum bildet oder ob sich ein solcher nur bei der Gesamtgesellschaft findet. Für die dogmatischen Juristen fällt normalerweise der rechtliche Raum mit der Gesamtgesellschaft oder, nach heutigem Sprachgebrauch, mit dem Staat zusammen. Sie leugnen deshalb die Möglichkeit spontaner Rechtsbildung innerhalb besonderer Gruppierungen; die Rechtssoziologen dagegen neigen dazu, diesen eine eigene rechtsschöpferische Kraft zuzuschreiben. Wir kommen hier zur berühmten Hypothese vom Pluralismus des Rechts, die ganz allgemein besagt, daß diese Gruppen den Rechtsraum aufgliedern und für ein abwechslungsreiches Bild sorgen5 •

3. Erste Darstellung des Rechtspluralismus Wenn die Juristen eines Landes ihr nationales Rechtssystem behandeln, so geben sie hiervon eine monistische Darstellung. Danach ist das Recht ein homogenes Ganzes, ein monolithischer Block. Das liegt daran, daß sie das Recht mit dem Staat identifizieren und daß anscheinend auf einem bestimmten Gebiet zu einer bestimmten Zeit nur eine souveräne Institution bestehen kann. Sobald sich Ausnahmen von dieser Einheit des Rechtssystems bemerkbar machen, bemüht man sich, diese dennoch auf das staatliche Gesetzgebungsmonopol zurückzuführen. So wird die Anwendung eines ausländischen Gesetzes durch eine inländische Stelle (was gemäß den Normen des internationalen Privatrechts oft erforderlich ist) nur deshalb als wirksam angesehen, weil der Staat sie in diesem Falle anerkannt hat. Dasselbe gilt für die innere Ordnung eines Vereins, seine Satzung. Besonders bekannt ist der zu Ende des 19. Jahrhunderts von deutschen Theoretikern wie Gierke und vor allem Tönnies geprägte Typ der Gemein-· schaft (dem man unter dem Vichy-Regime politische Tugenden zuschrieb); mit diesem Begriff ist der seelenlosen juristischen Person ein durch das Gefühl der Zusammengehörigkeit charakterisiertes Verbandsgebilde entgegengestellt worden (vgl. J. Leij: La Sociologie de Tönnies, 1946). 4 Die Untersuchungen amerikanischer Soziologen scheinen auf die in Amerika sehr häufigen freiwilligen Zusammenschlüsse (wie Aktiengesellschaften, Vereine oder Kirchen) zugeschnitten worden zu sein. Ein Beispiel hierfür ist das Ergebnis, daß Gruppen die Bedürfnisse und Wünsche verschiedener Mitglieder nicht unbedingt in gleicher Weise befriedigen (der Satz von der differentiellen Befriedigung, der in gleicher Weise für den Unternehmer und die Arbeiter im Betrieb wie für den Vorstand und die Aktionäre in einer Kapitalgesellschaft gilt). - Vgl. Krech und Crutchjield: Theorie et problemes de psychologie sociale, Übersetzung von Lesage, 1952, Band 2, S. 520 ff. S Vgl. H. Levy-Bruhl: Sociologie du droit, S. 25.

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2. Teil: Gegenstand der RechtssoziolQgie

Die Rechtssoziologie 1 dagegen vertritt eine völlig andere Auffassung. Für sie ist das Recht im wesentlichen vielfältig und verschiedenartig. Zu einem gegebenen Zeitpunkt können im seI ben sozialen Raum mehrere Rechtssysteme koexistieren, worunter sich natürlich das staatliche Rechtssystem befindet, aber auch dessen Rivalen. Dies ist die Hypothese des Rechtspluralismus. Es handelt sich hier in erster Linie um eine wissenschaftliche Hypothese, die in Anspruch nimmt, eine Tatsachenaussage zu sein. Man kann sie aber auch als eine gesetzgebungspolitische Doktrin ansehen, die das staatliche Gesetzgebungsmonopol kritisiert und eine Dezentralisation der Gesetzgebung sowie eine Vervielfältigung der Rechtsquellen fordert. Wir wollen aber diese politischen Implikationen beiseite lassen, obwohl sie einen wesentlichen Anstoß für diese Theorien bildeten, und zwar insbesondere bei Gurvitch, dessen pluralistischer Glaube sichtlich durch Sympathie für einen Anarchismus im Sinne Proudhons gestärkt wurde2 •

Gurvitch ist es auch, der in Frankreich am meisten für eine systematische Grundlegung des Rechtspluralismus getan hat, als Philosoph genauso wie als Soziologe, und zwar weniger durch eine ins Detail gehende mikrosoziologische Analyse, als durch eine große historisch-vergleichende Schau. Der dogmatische Monismus entsprach einer ganz bestimmten politischen Situation, nämlich der Entstehung der großen Nationalstaaten in der Zeit vom 16. bis 18. Jahrhundert. In der kontinentaleuropäischen Lehre setzte er sich als eine Art Reflex der absoluten Monarchie fort und schließlich konsolidierte er sich als Projektion der Jakobinerherrschaft und der napoleonischen Zentralisation. Aber hierin liegt nichts, was für das Recht wesentlich ist. Dies wird durch die vorhergehende lange pluralistische Periode in Europa bewiesen. So wie es im Mittelalter auf demselben Territorium verschiedene Münzeinheiten gab, so wies auch jeder soziale Raum eine bunte Vielfalt miteinander konkurrierender Rechtssysteme auf: örtliches und gemeines Gewohnheitsrecht, römisches und kanonisches Recht, sowie städtische Handfesten und Zunftordnungen. Und siehe da, im 20. Jahrhundert zerfällt erneut die durch den rationalistischen Geist der Kodifikationen begründete Einheit, ohne allerdings die Formen des Mittelalters zu reproduzieren. So konnte Gurvitch in den modernen Gesellschaften eine Vielzahl autonomer Institutionen finden, die in spontaner Weise Recht schaffen; einige stehen über dem Staat, so die internationalen Organisationen (etwas später hätte er die Europäische Gemeinschaft hinzugefügt), andere sind ihm untergeordnet, so Gewerk1 Die Hypothese des Pluralismus findet sich bereits andeutungsweise bei einigen Juristen, die zugunsten bestimmter Gemeinschaften, insbesondere der Kirchen, eine eigenständige Rechtssetzungsbefugnis annahmen, sei es in Form einer Gesetzgebung, sei es in der Gestalt von Gewohnheitsrecht (vgl. Geny: Methodes d'interpretation et sourees, I, Nr. 93, am Ende und Nr. 122, am Ende). 2 Vgl. S. 81 ff.

2. Kap.: Das Rechtssystem

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schaften, Arbeitgeberverbände, Genossenschaften, Konzerne, Unternehmen und die dezentralisierten öffentlichen Verwaltungen. Gurvitch legt Wert auf die Spontaneität, denn genau wie für Ehrlich und die Freirechtsschule3 findet sich für ihn die rechtsschöpferische Kraft nicht beim Staat, sondern in den normativen Tatbeständen des Soziallebens. 4. Die Verschiedenartigkeit der Erscheinungen des Pluralismus Wenn man wie im vorhergehenden den Rechtspluralismus auf das Problem der Rechtsquellen und praktisch auf das Verfassungsrecht bezieht, so sind damit noch nicht dessen Möglichkeiten ausgeschöpft. Streng genommen gibt es nicht eine einzige Form des Pluralismus, sondern außerordentlich vielfältige Erscheinungen hiervon. Diese bedürfen einer Klassifizierung. Es bieten sich mehrere Klassifizierungen an, die sich teilweise auch überschneiden können. a) Kollektiv- und Individualerscheinungen. Es ist hier zunächst an das Recht einer bestimmten Gruppe, das sich vom staatlichen Recht unterscheidet, zu denken. Es kommt nicht darauf an, ob es sich um eine institutionell verfestigte Gruppierung (wie eine Gemeinde mit eigenen Parkvorschriften oder die Ärzteschaft mit ihrem eigenen Standesrecht) oder um ein unorganisiertes, ja sogar instabiles Kollektiv handelt (so wie etwa die Warteschlange, die spontan den Grundsatz "wer zuerst kommt, mahlt zuerst" durchsetzt). Der Pluralismus kann aber auch seinen Sitz im Individualbewußtsein haben, nämlich wenn ein Individuum das Gefühl verspürt, zwei Rechtsordnungen gleichzeitig anzugehören. Dies betrifft z. B. einen Eheschließenden, der als Katholik das kanonische Recht und als Staatsbürger d~s Zivilrecht beachtet. Bei der Kriegsdienstverweigerung scheint an sich kein Rechtspluralismus zu bestehen, da das staatliche Recht mit einer reinen Gewissensnorm in Konflikt gerät. Es kann aber vorkommen, daß die Religion einigen ihrer Lehren die Wirkung von Rechtsnormen beilegt. b) Konkurrierende und rekurrierende Erscheinungen. Die Theoretiker des Pluralismus denken an erstere und stellen dem staatlichen Recht ebenfalls geltendes anderes Recht gegenüber. In diesem Falle herrscht Gleichzeitigkeit der Imperative. Aber auch die Aufeinanderfolge von Imperativen ist nicht weniger reich an Konflikten, denn die verschwundene Bestimmung kann in KollektiveinsteIlungen oder im Bewußtsein von Individuen wiederkehren. Wir dürfen mit anderen Wort nicht die Aufhebung einer Norm gemäß den Regeln des dogmatischen Rechts mit ihrem soziologischen Erlöschen gleichsetzen, denn das formell nicht mehr gültige Gesetz kann faktisch noch mehr oder weniger lange weiterwirken. Einen derartigen Pluralismus auf Grund des überlebens älteren Rechtes hat 3

Vgl. S. 79 und S. 91.

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2. Teil: Gegenstand der Rechtssoziologie

man selbst in unserer Zeit in einigen Teilen des Baskenlandes und des Bearn festgestellt. Dort hat es der Grundsatz der gleichrangigen Erbfolge des Code Napoleon schwer, sich gegen die Wiederkehr älteren Gewohnheitsrechts durchzusetzen l • Eine vergleichbare Hypothese betrifft das Fortbestehen des Rechts ihrer Vorfahren bei Einwanderern der zweiten oder dritten Generation, vor allem in Ehesachen, obwohl es nach den Grundsätzen des staatlichen Rechts keine Anwendung mehr auf sie findet. c) Kategoriale und diffuse Erscheinungen. Man kann von einem kategorialen Pluralismus sprechen, wenn die mit dem staatlichen Recht koexistierende Rechtsordnung mit diesem zusammen eine klar begrenzte Kategorie bildet und unzweifelhaft Züge positiven Rechts trägt. So zahlten trotz der Abschaffung der Feudallasten in der Französischen Revolution die ehemals zinspflichtigen Hörigen vor allem im Westen Frankreichs noch sehr lange wie zuvor2 • Die beiden aufeinander folgenden Rechte, das feudalistische und das revolutionäre, waren leicht als solche zu erkennen. Diese Erscheinung von rekurrierendem Pluralismus war somit kategorialer Art. Anders verhält es sich mit folgendem Sachverhalt, der während 1 In Syrien stellte man fest, daß die Richter selbst 10 Jahre nach der Einführung eines Haftungsrechts (1949) nach europäischer Art die Personenschäden noch immer nach den Grundsätzen der "diya" beurteilten (J. El Hakim: Le Domrnage de source delictuelle en droit musulman; survivance en droit syrien et libanais, 2. Auflage 1971, S. 120 ff.). Vgl. bezüglich der Lebendigkeit dieses Grundsatzes des Blutentgeltes J. Chelhod: Le Droit dans la sodete bedouine, S. 307 ff. Noch im Jahre 1971 wurden in diesem Gebiet durch Erhebungen Spuren von Erbrechtspluralismus zum Vorschein gebracht (die Gewohnheit, den Erstgeborenen zu bevorzugen). Für den Zustand zu Ende des 19. Jahrhunderts ist die bedeutende Feldstudie des deutschen Soziologen Alexander von Brandt zu Rate zu ziehen (Droits et coutumes des populations rurales de la France en matiere successorale, 1901). Sie enthält eine Geographie des Erbrechtspluralismus, die aber natürlich in der Zwischenzeit viel von ihrer Gültigkeit verloren hat. v. Brandt kann in einer Linie mit Le Play (vgl. S. 60) gesehen werden. Er führte jedoch die Untersuchung des Erbrechts in rein objektiver Weise durch. 2 Vgl. P. Masse: Survivance des droits feodaux dans l'Ouest (1793 - 1902), Annales de l'histoire de la Revolution fran!;aise, 1965, S. 270. Beispiele aus der Justiz: Civ. 3. Juli 1811, S. chr.; Req. 19. Juni 1832, S. 32. 1859; Civ. 28. Januar 1840, S. 40-1-229. Die Umstände, unter denen diese Erscheinung durch das Recht erfaßt wurde, sind soziologisch von gewissem Interesse. Es kam schließlich vor, daß die zinspflichtigen Hörigen wenn schon nicht in der ersten Generation, so doch ihre Erben, nachdem sie jahrelang diese Abgabe entrichtet hatten, genug von diesem Feudalsystem für den Hausgebrauch hatten und daraufhin die Rückzahlung der nach dem positiven Recht nicht geschuldeten Beträge verlangten. Aber die Rechtsprechung (z. B. Angers, 31. Juli 1822, Jurisprudence Gener. Dalloz, V. Propriete feodale, Nr. 465) wies ihre auf ungerechtfertigte Bereicherung gestützen Klagen mit der Begründung ab, daß es sich bei diesen Zahlungen um die Erfüllung einer Naturalobligation gehandelt habe. Die Bezugnahme auf die Naturalobligation (die Gerichte schlugen schon öfters eine derartige Brücke vom Recht zur Sitte) war im Grunde nur ein Verfahren zur nachträglichen Unterwerfung von abweichendem Verhalten unter die allgemein gültige Norm.

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der deutschen Besetzung von Frankreich im 2. Weltkrieg bedeutsam war: trotz der staatlichen Preisvorschriften wurden auf dem schwarzen Markt Geschäfte gemacht, wobei Käufer und Verkäufer häufig deshalb ein reines Gewissen hatten, weil sie für sich eine Rechtsordnung der Wirtschaftsfreiheit in Anspruch nahmen, die in ihren Augen bereits vorher bestand und der augenblicklichen Regelung überlegen war. Es wäre ihnen allerdings schwer gefallen, sich auf konkrete Bestimmungen zu beziehen, und das ist es auch, was wir als diffusen Pluralismus bezeichnen3 • In gleicher Weise ließe sich hinsichtlich der öffentlichen Meinung, die bezüglich des Selbstmordes geteilter Auffassung ist, ein Konflikt von Rechtssystemen feststellen. So muß in Frankreich das seit der Revolution von 1789 eingeführte positive Recht, das hier eine relative wenn auch nicht absolute Zulässigkeit normiert4, einerseits gegen ein noch freizügigeres, aus d~r Antike überliefertes Verhaltensmodell und andererseits vor allem gegep. das aus dem älteren und soziologisch noch nicht untergegangenen Recht stammende Verbot ankämpfen. 5. Einwände gegen den Pluralismus Es soll hier nicht der Nutzen der Hypothese des Pluralismus, angesichts einer zu monolithischen Rechtsauffassung zur Kritik anzuregen, bestritten werden. Man muß sich jedoch fragen, ob diese Ansicht ihrerseits hinreichend kritisches Bewußtsein bezüglich der Mehrdeutigkeit gewisser Formeln bewiesen hat. Man ist versucht, sie in einem Dilemma festzuhalten. Entweder ist die Einheit des allgemeinen Rechtssystems dadurch zurückgewonnen worden, daß die dargestellten Erscheinungen von diesem aufgefangen worden sind, oder aber diese sogenannten Rechtserscheinungen bleiben außerhalb desselben und können damit nicht als eigentliches Recht, sondern höchstens als Unter-Recht angesehen werden. Das Rechtliche und das Infrarechtliche gehören jedoch nicht derselben Kategorie an, weil sie verschiedener Natur sind. Bei manchen der zur Stützung der Hypothese des Rechtspluralismus angeführten Beispiele ist die Integration offensichtlich. So erweckt zwar 3 Man kann hier gleichfalls das folgende in der deutschen Rechtsprechung oft erwähnte Beispiel anführen. Zu Beginn dieses Jahrhunderts kam es in Deutschland häufig vor, daß Arbeiter, die am 1. Mai nicht zur Arbeit erschienen, entlassen wurden. In vielen Fällen hielten die unteren Gerichte die Abwesenheit für entschuldbar und damit die Entlassung für ungerechtfertigt, weil es ein dahingehendes standesgebundenes Gewohnheitsrecht gebe. Damit wurde ein diffuser Pluralismus anerkannt und es wurden hieraus Folgerungen für das staatliche Recht abgeleitet. Aber das Reichsgericht mißbilligte im Jahre 1926 diese Rechtsprechung. Ein der Rechtseinheit verpflichtetes Obergericht kann auch schwerlich den Pluralismus vertreten. 4 Die Zulässigkeit ist deshalb nicht absolut, weil nach der herrschenden Meinung das Vergehen der unterlassenen Hilfeleistung vorliegt, wenn der Selbstmord von anderen nicht verhindert wird; bei Beihilfe liegt sogar Totschlag vor.

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2. Teil: Gegenstand der Rechtssoziologie

die Betriebsordnung den Anschein eines besonderen Rechts der Unternehmung, aber so doch nur, weil sie zu recht oder zu unrecht über den Art. 1134 mit dem System des Code civil verbunden ist. Wenn in der Schweiz der Hausherr eine Hausordnung erlassen kann, so auch nur dank der Ermächtigung durch das Zivilgesetzbuch. Wenn in Frankreich das kanonische Recht neben dem staatlichen Recht in dem Maße Anwendung finden kann, in dem es diesem nicht widerspricht, so auch nur wegen einer gesetzlich fixierten Duldungsnorm in Gestalt der Bekenntnisfreiheit gem. Art. 1 des Gesetzes vom 9. Dezember 1905; somit stützt es sich in unauffälliger Weise auf das Rechtssystem, von dem es seinen Ausgang nimmtl. Andere Beispiele wiederum lassen sich nicht integrieren. So sah das vor 1945 geltende Recht zwischen dem Eigentümer und dem Teilpächter eine hälftige Teilung der Erzeugnisse vor. Nach der im Jahre 1945 getroffenen Regelung erhält der Verpächter nur noch ein Drittel, und trotzdem wird stellenweise noch die Halbierung praktiziert. Auf der gleichen Ebene liegt auch der Fall mohammedanischer Auswanderer in Frankreich, die, entgegen der dort gültigen Auffassung vom Prinzip des ordre public im internationalen Privatrecht, die Verstoßung der Frau gemäß dem islamischen Recht ausüben. Es ist offensichtlich, daß das allgemeine Rechtssystem diese abweichenden normativen Tatbestände nicht integriert. Sie werden auch nur in dem Maße nicht verurteilt, als sie ihm entgehen. Aber was besagt dies auch schon; in derartigen Fällen sind die Normen, an welchen sich das Verhalten der Beteiligten ausrichtet, nicht rechtlich, obwohl sie als solche angesehen werden. Sie sind es jedenfalls nicht nach dem dogmatischen Recht, aber auch nicht nach der Rechtssoziologie, denn es fehlt jedes wie auch immer geartete soziologische Kriterium für die Rechtlichkeit, sei es nun der institutionalisierte Zwang oder die Möglichkeit eines Urteils. Man kann höchstens einige blasse, verschleierte Formen erahnen, einen von der Umwelt ausgeübten psychischen Druck und eine in Umrissen vorhandene Familienkonsultation. Es handelt sich hier nicht um Konflikte verschiedener Rechte, sondern um solche zwischen UnterRecht und Recht. Obschon die infrarechtlichen Erscheinungen den rechtlichen ähneln, so sind sie doch wesensverschieden. Es scheint so, als ob wir hier auf die große Illusion des Pluralismus gestoßen sind; dieser glaubt, den Kampf zweier Rechtssysteme erfaßt zu haben, aber in Wirklichkeit handelt es sich nur um den Gegensatz zwischen einem Rechtssystem und dem Schatten eines anderen. 1 Der Beweis hierfür ist, daß die Beteiligten vor den staatlichen Gerichten zivilrechtliche Folgerungen aus der kirchenrechtlichen Position ableiten können. Vgl. P. Coulombel: Le droit prive fran!;ais devant le fait religieux depuis la separation des Eglises et de l'Etat, R.T.D.C. 1956, S. 9 ff.; L. de NauTois: Aux confins du droit prive et du droit public, la liberte religieuse, ibid., 1962, S. 241 ff.

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6. Wo sich der wahre Rechtspluralismus finden kann Dieser kann sehr wohl in der Tiefe der Tatbestände zu finden sein, und zwar wenn man nicht mehr einzelne Rechtsnormen, sondern verschiedene Anwendungen derselben Norm einander gegenüberstellt. Dieser Gedankengang führt von der Rechtsnorm zum UrteiL Wenn der Richter Recht schafft, so ist die Vielzahl der Richter innerhalb eines Rechtssystems in der Lage, Erscheinungen des Rechtspluralismus zu erzeugen. Dem können die dogmatischen Juristen entgegen halten, daß es kaum ein Land gibt, in dem es nicht besondere Einrichtungen wie Rechtsmittelinstanzen, die der Rechtseinheit verpflichtet sind, in der Art der Obergerichte, gibt, um die Einheitlichkeit der Rechtsprechung zu wahren. Aber die an sich möglichen Rechtsmittel werden nicht immer eingelegt, und wenngleich die abweichende Rechtsprechung anomal ist, so ist sie doch eine Tatsache, der die Rechtssoziologie Rechnung tragen muß. Darüber hinaus hat der justitielle Pluralismus auch in gewisser Hinsicht einen strukturellen Charakter, nämlich denjenigen, der aus dem freien richterlichen Ermessen des Tatsachenrichters resultiert. Je nach dem Gebrauch dieses Ermessens ergeben sich sehr verschiedene rechtliche Lösungen. Das Schmerzensgeld usw. für dieselbe Verletzung wird nicht überall gleich festgesetzt, das Familieninteresse, von welchem eine Güterstandsänderung abhängt, wird in Paris enger als in Bordeaux aufgefaßt und die Wahrscheinlichkeit, mit einer Scheidungsklage zu unterliegen, ist mehr als doppelt so hoch, wenn man aus der Pariser Gegend in den Poitou zieht. Man könte meinen, daß die Verschiedenartigkeit der Rechtsprechung in einer objektiven soziologischen Untersuchung nichts zu suchen habe, solange sie nur auf der wenn auch vielleicht gewohnheitsmäßigen Rechtsanwendung einer einzelnen Richterpersönlichkeit beruht (unseres Erachtens gehört aber auch das Studium der Willkür zur Rechtssoziologie). Sehr oft sind jedoch die eigentümlichen Züge einer Rechtsprechung durch objektive Ursachen, nämlich historische, geographische, ökonomische oder kulturelle Faktoren, die dem jeweiligen Zuständigkeitsbereich eigen sind, und damit durch das besondere soziale Milieu, bedingt. Auch wenn die Richter nicht diesem Milieu entstammen, kann man davon ausgehen, daß sie durch die in ihrer Umwelt herrschenden Auffassungen beeinflußt werden. Der lokale oder regionale Partikularismus bei der Anwendung staatlichen Rechts entwickelt so genügend Stabilität und einen hinreichend kollektiven Charakter, um der Erzeugung eines rechtlichen Subsystems fähig zu sein. Nicht immer jedoch beruht die Rechtsanwendung auf der richterlichen Tätigkeit, sondern bisweilen auch sehr wohl auf derjenigen der Rechtssuchenden oder ihrer Anwälte. Wenn die Mehrzahl der Vertragsschließenden an einem bestimmten Ort ein woanders ungebräuchliches Ver-

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tragsmuster verwendet, so hebt sich dieses als ein besonderes Recht ab; z. B. führte im vorigen Jahrhundert das Beharren des Südens auf dem Dotalsystem zu einem offensichtlichen, wenn auch nur partiellen Rechtspluralismus in Frankreich. Sobald seitens der Bevölkerung verschiedener Regionen oder seitens der Angehörigen verschiedener sozialer Schichten eine unterschiedliche Neigung oder Abneigung bezüglich gewisser rechtlicher Verhaltensweisen entwickelt wird, bildet sich ein Rechtsmosaik. In diesem Sinne nimmt die Bretagne in der französischen Scheidungsgeographie eine Sonderstellung wegen der dort häufiger als sonst anzutreffenden Neigung zur Trennung von Tisch und Bett ein. 7. Die infrarechtlichen Erscheinungen

Die Betrachtung der verschiedenen Arten des Rechtspluralismus hat uns bereits einen Teil des Infrarechtlichen enthüllt. Dieses verdient jedoch eine selbständige Behandlung, da es auch außerhalb jeder Rivalität mit einer staatlichen Rechtsordnung eine Rolle spielt. Man könnte einwenden, daß dies nur gilt, wenn dieser Begriff eine gewisse Festigkeit aufweist, da anscheinend das Infrarechtliche bereits notwendigerweise in der Masse der nichtrechtlichen Sozialphänomene (in der Sitte) enthalten ist. Hierauf ist zu erwidern, daß diese Erscheinungen im Bereich der Sitte auf Grund ihrer Ähnlichkeit mit dem Recht eine besonders klare Ausprägung erfahren. Es ist auch gerade diese Ähnlichkeit, die unser wissenschaftliches Interesse an ihnen begründet, denn es besteht die Aussicht, hierdurch Grundlagen für eine analoge Betrachtung der Genese der eigentlichen Rechtsphänomene zu erhalten. Zweifellos beinhaltet das Vorhandensein oder Fehlen der Rechtlichkeit, oder sagen wir der gesetzlichen Sanktion, um mit den Begriffen einer Gesellschaft vom Typus des Gesetzgebungsstaates zu argumentieren, einen grundlegenden Unterschied zwischen den bei den Arten von Erscheinungen. Nichtsdestoweniger ist es möglich, im Rahmen des komplexen Vorganges, der der Bildung einer Norm oder einer rechtlichen Verhaltensweise vorausgeht, gewisse Entwicklungsphasen zu unterscheiden, die noch vor der gesetzlichen Sanktion liegen. Es ist vielleicht besonders fruchtbar, diese Entwicklungsphasen mit ähnlichen infrarechtlichen Phasen in Verbindung zu bringen. So wäre es nicht uninteressant, den Versuch zu unternehmen, das Gefühl der Verantwortlichkeit für Sachschäden, das vor jeder Sanktion besteht, so zu untersuchen, daß in vergleichender Weise einmal ein einer (rechtlichen) Schadenersatzforderung ausgesetzter Erwachsener und zum anderen ein der (infrarechtlichen) Familiendisziplin unterworfenes Kind betrachtet wird. Die infrarechtlichen Erscheinungen haben ihren Sitz normalerweise nicht in der Gesamtgesellschaft, sondern in Teilen der Bevölkerung, und

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zwar in mehr oder weniger umfangreichen Gruppen. Eine gewisse Abschließung gegenüber der Gesamtgesellschaft ist notwendig, damit sich ein eigenständiges System von Verhaltensregeln bilden und aufrechterhalten kann. Dies ist im übrigen auch die Voraussetzung für Entstehen und Fortbestehen von Subkulturen, welche die Soziologie inzwischen auch in den heutigen Gesellschaften findet. Das Infrarechtliche ist im Grunde, zumindest in weiten Teilen, ein Recht von Subkulturen und durch Reflexwirkung ebenfalls eine Subkultur. Daher rührt auch eine gewisse Unbeholfenheit, etwas Unentwickeltes und Ungehobeltes in dieser Nachbildung des Rechts. Wegen der Abschließung in einem engen und sozial tief stehenden Milieu ist das infrarechtliche Normensystem von vornherein nicht in der Lage, Rechtstechniken und Fachleute hierfür heranzubilden. Obschon dieser Gegensatz zum Recht nur die formelle Seite betrifft, so ist er doch von fundamentaler Bedeutung. Das Infrarechtliche ist im übrigen sehr vielgestaltig und sei es auch nur deshalb, weil es sehr unterschiedlichen Gruppierungen seine Entstehung verdankt wie z. B. sozialen Klassen und Altersklassen, geographischen Isolaten und ethnischen Minderheiten, Familien und Gewerbezweigen. Man kann sich nun fragen, was die von Maxime Leroy untersuchten Bräuche der Arbeiter1 mit den von Rene Maunier 2 beobachteten Warteschlangen zu tun haben. Es verblieb jedoch nicht bei einem völlig ungeordneten Zustand dieses Forschungsbereiches, denn gewisse Erscheinungen des Infrarechtlichen haben zur Bildung von Kategorien und sogar zu eigenständigen Fachrichtungen Anlaß gegeben. 8. Das Folklorerecht Innerhalb der Folklore als Wissenschaft von der Behandlung der Volksbräuche stellt die Rechtsfolklore, die bereits ihre Vertreter und ihre Literatur hat!, eine Spezialdisziplin dar. Sie hat die folkloristischen Erschei1 Maxime Leroy: La Coutume ouvriere, 1913 (die darin beschriebenen Bräuche beziehen sich im übrigen mehr auf die Werkstätten des ausgehenden 19. Jahrhunderts als auf die heutigen großen Fabriken). über Leroy vgl. S. 86 Anm.11. 2 Rene Maunier: Groupes et duree, la queue comme groupe social, Annales d'histoire sociale, 1942. 1 Zu allen Zeiten gab es Rechtsantiquare, die große Sammlungen merkwürdiger Dinge der Vergangenheit zusammentrugen (z. B. Varro, Aulus Gellius und Plutarch). Die systematische Rechtsfolklore beginnt zweifellos im 19. Jahrhundert mit den Gebrüdern Grimm (Deutsche Rechtsaltertümer, 1828), unter deren Einfluß in Frankreich Michelet (Les Origines du droit fran!;ais cherchees dans les symboles et formules du droit universel, 1837) und ein Repräsentant der Justiz, Chassan (Essai sur la symbolique de droit, 1845), standen. Im 20. Jahrhundert finden wir: Jobbe Duval: Les Idees primitives dans la Betragne contemporaine, essais de folklore juridique, 1930; P. Saintyves (Emile Nourry): Folklore juridique, 1935; Rene Maunier: Introduction au folklore juridique, essai de definition, schema de questionnaire, debut de bibliographie, 1938.

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nungsformen des Rechts zum Gegenstand, worunter die in niederen Volkskreisen fortbestehenden Reste alten (oft sogar sehr alten) Rechts zu verstehen sind. Es handelt sich hier um mündlich überlieferte örtliche Bräuche, deren einzige Sanktionierung kaum über die Satire hinausgeht. Die Doppelnatur des Folklorerechts kommt in diesem übriggebliebensein und in der Volkstümlichkeit zum Ausdruck. Daraus ergibt sich in eindeutiger Weise, daß es nicht dem staatlichen Recht angehört und auch keine Rechtsnatur aufweist, sondern nur eine Gesamtheit von infrarechtlichen Erscheinungen ist. Es ist nicht immer leicht, das Folklorerecht von der allgemeinen Folklore zu unterscheiden. Im allgemeinen ist es ein Reflex von Rechtserscheinungen, während die allgemeine Folklore ein Reflex der Sitte ist. Häufig aber scheint sich das Folklorerecht mehr auf das Zeremoniell, die Feiern und die Riten, welche die Rechtsinstitutionen umgeben, als auf diese Institutionen selbst zu beziehen. So verhält es sich etwa mit dem Handschlag beim Viehkauf und den Gewehrschüssen und dem Auslegen von Geldstücken zur Feier einer Eheschließung. Man ist versucht, hierin bloße Äußerlichkeiten ohne rechtlichen Bezug zu sehen. Dabei würde man jedoch nicht berücksichtigen, daß die Form eine notwendige Dimension des Rechts ist und daß im übrigen zeremonielle Bräuche häufig ein vertieftes Eindringen in die Institutionen selbst ermöglichen (so hat man zu recht oder zu unrecht von den Gewehrschüssen auf eine Entführungsehe und vom Auslegen der Geldstücke auf eine Kaufehe geschlossen). Die Rechtsfolklore muß jedoch ständig gegen die Gefahr eines Eindringens des Pittoresken ankämpfen. Wenngleich ihre erste Aufgabe in einer ethnologischen Tatsachenbeschreibung besteht2 , so darf hierdurch der Blick auf die eigentlichen Probleme nicht getrübt werden. a) Das Datierungsproblem. Es handelt sich wohl um Rechtsüberbleibsel, aber aus welcher Epoche? Man darf nicht jeden von einem im soziologischen Sinne unvollkommen aufgehobenen Gesetz stammenden Rest für Folklorerecht halten. So ist die im Baskenland und im Bearn verbreitete Gewohnheit, den Erstgeborenen erbrechtlich zu bevorzugen, mehr als nur Folklore, denn sie ist die Fortsetzung eines örtlich begrenzten Gewohnheitsrechts aus der vorrevolutionären Zeit. Die Spuren der einstmaligen Positivität sind noch erkennbar, wohingegen die Positivität eines 2 Die Erhebung der Fakten kann auf zweierlei Arten erfolgen: 1. Feldforschung (Befragungen, vor allem von älteren Leuten, Filme, Tonbandaufnahmen), wobei Eile geboten ist, denn diese Erscheinungen sind im Aussterben begriffen (abgesehen davon, daß sich bisweilen vielleicht nur Umwandlungen ereignen; so nehmen etwa die Bestattungsgebräuche, welche nicht ohne Beziehung zum Erbrecht sind, neue Gestalt an, ohne zu verschwinden). 2. Textanalysen (Studium allgemeiner Folkloresammlungen und Herausschälung des Gehalts an Folklorerecht; Durchsicht literarischer Quellen, vgl. z. B. G. Bayer: Le folklore juridique gascon dans les contes de Blade, in Etudes Boyer, 1962, I, S. 253 ff.).

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Folklorerechts sich in grauer Vorzeit verliert. Der eigentliche Gegenstand der Rechtsfolklore ist das Auftauchen eines sehr archaischen Rechts in modernen Gesellschaften. Handelt es sich um die Prähistorie, wie Frazer annahm? Dies scheint auf einige folkloristische Erscheinungen zu passen, wie etwa die ungleiche Verteilung der Eheschließungen über die verschiedenen Monate des Jahres, wobei sich sehr signifikante Tiefpunkte im November (der Totenrnonat) und im Mai (der Monat der Jungfräulichkeit) ergeben. In anderen Fällen, wie etwa der bei der Wiederverheiratung von Witwern oder Witwen veranstalteten "Katzenmusik"3, zögert man, so weit zurück zu gehen. b) Das Milieuproblem. Definitionsgemäß ist das Folklorerecht nicht in der Gesamtgesellschaft, sondern in einem bestimmten Milieu, dem der unteren Schichten des Volkes, beheimatet. Damit soll gesagt sein, daß das gehobene Bürgertum ausgeschlossen ist oder vielmehr sich selbst davon ausschließt. Andere Abgrenzungen sind genauer. So hält sich das Folklorerecht auf dem Land besser als in der Stadt und es ist bei der Jugend lebendiger als bei den älteren Jahrgängen. Dieser letzte Zug ist sehr wichtig, denn nach einer plausiblen Hypothese, die man mit der Altersklassentheorie von Schurz in Verbindung bringen muß4, lassen sich zumindest einige folkloristische Erscheinungen als Teil eines eigenständigen Jugendrechts, das aus einer Urzeit übrig geblieben ist, in der die Jugendlichen eine von den Erwachsenen geschiedene Gemeinschaft bildeten, worin sie auch gewisse Sonderrechte gegen die Erwachsenen ausüben konnten, erklären. So läßt sich die Eiersuche an Ostern oder Pfingsten bzw. das sogenannte Pfingstrecht als eine der Jugend des Dorfes zugestandene Berechtigung, die für ihre Festlichkeiten erforderlichen Eier bei den Dorfbewohnern zu requirieren, interpretieren. c) Das Funktionsproblem. Die in unserer Gesellschaft vorgefundenen rechtsfolkloristischen Erscheinungen machen auf uns, anders als das Recht nicht den Eindruck, großen Sinn zu haben. Zur Erklärung dieser Irrationalität pflegt man auf die von der Magie geprägte archaische Mentalität zurückzugreifen. So z. B. soll die Funktion der "Katzenmusik" bei der Wiederverheiratung Verwitweter darin bestanden haben, den Unruhe stiftenden Geist des verstorbenen Gatten zu verjagen. Andere dagegen sind, wie wir wissenS, der Auffassung, daß auch den Primitiven der Sinn fürs Praktische nicht ermangelt (wie der technische Fortschritt beweist), und sie erklären diese Verhaltensweise mit ihrem Nutzen. Demgemäß veranstaltet die Dorfgemeinschaft die "Katzenmusik", weil die zweite Eheschließung nur noch im engsten Familienkreis gefeiert wird und sie dadurch um das ansonsten übliche große Festmahl gebracht wird. Der 3 Über die "Katzenmusik" ("charivari"), siehe Sourioux, A.S., 1961, S.40l. , H. SChUTZ: Altersklassen und Männerbünde, Berlin 1902. 5 Vgl. S. 30.

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Lärm soll nun dazu dienen, von den Neuvermählten ein Lösegeld zu erpressen. Wieder andere sind mehr dem Rechtsdenken verhaftet und deuten diesen Vorgang als Strafe für eine zweite Eheschließung, eine Mißbilligung, die dem Recht nicht fremd ist und die die ablehnende Haltung der strukturell monogamen westlichen Gesellschaften gegenüber jeder Wiederverheiratung ausdrückt. Es ist ansonsten nicht schwer zu begreifen, daß derselbe Brauch im Laufe der Zeit jeweils verschiedene Funktionen erfüllte. So kann sehr wohl der Ursprung in der Magie liegen, das Fortbestehen dagegen in der Zweckmäßigkeit. Woher mag wohl der Brauch, Pachtverträge am St. J ohannis- oder am St. Michaelstag abzuschließen und die darauf entfallenden Zinsen an diesen Tagen zu entrichten, kommen? Das rührt vielleicht daher, daß bereits in heidnischer Zeit geglaubt wurde, daß alles, was an diesen Tagen unternommen wird, gedeiht. Später muß sich dann die Meinung durchgesetzt haben, daß es vernünftig ist, an einem Feiertag, der gleichzeitig ein Tag großer Volksversammlungen ist (z. B. Pilgerzüge aus Anlaß der Verehrung des Heiligen, und später auch Jahrmärkte), zusammenzukommen.

9. Das Kinderrecht In den Gruppen der Kinder (bei den Heranwachsenden ist es vielleicht schon zu spät) oder gar in der komplexen Gruppe, die sich beim Kontakt der Kinder mit bestimmten Erwachsenen bildet, zeigen sich gewisse normative Verhaltensregelungen, die dem Recht ähneln und eine besondere infrarechtliche Kategorie darstellen. Hierüber liegen Untersuchungen von Kinderpsychologen vor 1, allerdings ohne Hinweis auf mögliche Beziehungen zum Recht. Es scheint jedoch, daß die Rechtsosziologie diese Quelle noch nicht voll ausgeschöpft hat. Aus praktischem Interesse fühlen wir uns veranlaßt, gleich zu Beginn die Frage zu stellen, ob eine Schlußfolgerung von den Beobachtungen bei Kindergruppen auf die Rechtserscheinungen der Erwachsenengesellschaft gerechtfertigt ist. Eine ganz bestimmte Hypothese will uns hier nicht aus dem Sinn. HaeckeL hatte sie mit biologischen Begriffen formuliert: in der Ontogenese wiederholt sich die Phylogenese. More no übertrug sie auf die Sozialpsychologie: die spontane Organisation der Gruppen von Kindern und Heranwachsenden entwickelt sich im Laufe der Jahre in Analogie zu den Stadien, welche die menschlichen Gesellschaften durchlaufen haben. Wenn dies zutrifft, so hätten wir nur das Leben und Treiben sowie vor allem das Spielen der Kindergruppen zu betrachten, um die in Dunkel gehüllte Vergangenheit der Rechtsinstitutionen zu ent1

Siehe vor allem Jean Piaget: Le Jugement moral chez l'enfant, 1957.

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decken. Wir könnten dann sogar mit den Kindern mühelos rechtssoziologische Experimente anstellen, wohingegen uns doch jedes unmittelbare Experimentieren in der Erwachsenengesellschaft sehr schwer fällt. Aber trifft dies wirklich zu? Ist das Kind tatsächlich nur ein Primitiver? Wenp man dies unbesehen annähme, so wäre dies bestimmt gefährlich. Dennoch täte man unrecht, einige naheliegende Vergleiche nicht zu ziehen. Das, was man als Kinderrecht bezeichnet, weist verschiedene Aspekte auf, und je nachdem, ob die äußeren Faktoren (die Einflüsse der Erwachsenengesellschaft) oder die internen Faktoren (die den Kindergruppen eigenen) dominieren, spricht man entweder von Lehnrecht oder von spontanem Recht. Eine Form dieses Lehnrechts der Kinder wird diesen durch die Erwachsenengesellschaft aufgezwungen, und zwar zuerst und vor allem in der Familie, aber auch in der Schule und sogar auf der Straße. Wie Piaget bemerkt, liegt die Unterwerfung der Kinder unter diese Anordnungen an dem Respekt vor den "Großen". Aber ist denn nicht dieser Respekt vor den Älteren und vor den Vorfahren der grundlegende Mechanismus beim Prozeß der Bildung der verpflichtenden Gewohnheit, des Prototyps der Rechtsnorm? Man erkennt hier den Übergang. Eine andere Form dieses Lehnrechts besteht in imitierten Verhaltensweisen. Die Kinder ahmen in ihren Spielen die Rechtsspiele der Erwachsenen nach. Die kleinen Mädchen betreiben einen Kaufladen und befassen sich auf diese Weise mit Verträgen. Dies ist eine Karikatur des Rechts, aber eine derartige Vergröberung erleichtert die Beobachtung. In manchen Fällen, in denen die Nachahmung in sehr alter Zeit erfolgte, verkomplizierte sie sich durch die auf so einzigartigem Wege überlieferte Kinderfolklore. So vermitteln uns die heutigen Kinder (die gestrigen vielleicht noch mehr) einBild des archaischen Rechts. Ein in vielen Varianten vorkommender französischer Kinder-Kehrreim lautet: wer gibt und wieder nimmt ist ein Schlangenkind. Es wäre sehr gekünstelt, darin einen Reflex des Art. 894 des Code civil zu sehen, der die Unwiderruflichkeit der Schenkungen regelt. Das Mythische daran und die Anspielung auf das in Geschenken enthaltene Gift (die zweifache Bedeutung von "Gift", einmal als gefährliches Mittel und zum anderen als "Gabe", wie in "Mitgift") geben Grund zur Annahme, daß die Anleihe beim Erwachsenenrecht bereits in archaischer Zeit erfolgte, es sei denn die Kinder haben das Ganze selbst erfunden. Dies ist nicht ausgeschlossen, denn in gewissen Situationen sind sie in der Lage, dieselbe gesetzgeberische Argumentation wie die Erwachsenen zu entwickeln. Auf diese Weise entsteht spontanes Kinderrecht, und diese naive Schöpfung kann einiges Licht auf die Bildung vergleichbarer Mechanismen im Erwachsenenrecht werfen. Der Vergleich dürfte vor allem 10 Carbonnier

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hinsichtlich der elementarsten Rechtserscheinungen angebracht sein. Man könnte z. B. den Theorien über die Entstehung des Eigentums vorwerfen, nicht mit der wissenschaftlichen Beobachtung des Ursprungs der Aneignung beim Kind begonnen zu haben. In diesem Sinne hat Piaget durch experimentelle Einwirkungen auf die Regeln des Murmelspiels gezeigt, daß das Kind je nach seinem Alter den verbindlichen Charakter der Regeln verschieden auffaßt. Mit sieben oder acht Jahren ist es der überzeugung, daß diese nur eine willkürliche Anordnung der Großen sind. Nach dem zehnten Lebensjahr hingegen ist es in der Lage, darin eine freie übereinkunft der Spieler zu sehen. Das Gefühl vom verbindlichen Charakter einer Gewohnheit seitens einer Erwachsenengesellschaft könnte sehr wohl dieselben Entwicklungsstadien durchlaufen2 • 10. Das Vulgärrecht

Möge die Soziologie ohne Gewissensbisse einen von deutschen Römischrechtlern geprägten Begriff in einem etwas anderen Sinn verwenden. Mit dem Begriff des Vulgärrechts wurde jene Mischung aus örtlichen Gewohnheiten und klassischem römischem Recht oder solchem aus der Kaiserzeit, das mehr oder weniger verformt und degeneriert war und welche in der späten Kaiserzeit in den Provinzen, zumindest in den unteren sozialen Schichten galt, bezeichnet. Auf dem Hintergrund dieses genau umschriebenen historischen Tatbestandes ist eine soziologische Konstante zu entdecken, nämlich die Tendenz der nicht juristisch gebildeten Volkskreise, sich eine Art niederen Rechts zu schaffen durch Kombination eigenständiger Gebräuche mit aus der staatlichen Rechtsordnung entlehnten Elementen. Sähe man in den hieraus abgeleiteten Normen und Verhaltensweisen bloße Erscheinungen der Sitte, so wäre damit der aus der Nachbarschaft zum Recht herrührende Beitrag verkannt. Wir haben es hier mit einem neuen infrarechtlichen Bereich zu tun, und es muß nachdrücklich auf die Wechselwirkung (man kann auch von einer dialektischen Beziehung sprechen) zwischen diesem und dem System des positiven Rechts hingewiesen werden. Mal verdirbt das Vulgärrecht das positive Recht oder bringt es sogar zu einem Erschlaffen, das der Außerkraftsetzung nahe kommt, mal schreitet das gelehrte Recht zur Gegenoffensive und versucht mit mehr oder weniger Erfolg, das Vulgärrecht vermittels Strafen und Nichtigkeitserklärungen zurückzudrängen, und mal spielt sich ein Komprorniß ein, indem das gelehrte Recht es taktisch für richtig hält, ein gewisses Maß an Vulgärrecht in sich aufzunehmen. 2

Vgl. La genese de l'obligatoire dans l'apparition de la coutume, in Jean

Carbonnier: Flexible droit, 1971, S. 85.

2.

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Das Rechtssystem

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Selbst in unseren Gesetzgebungsgesellschaften spielt das Vulgärrecht neben dem positiven Recht eine beachtliche Rolle. Für die Juristen handelt es sich hierbei um reine Tatsachen und nicht um Recht, weshalb sie es nicht für nötig halten, sich damit zu befassen, es sei denn das Vulgärrecht betreibe seine Anerkennung durch die Gerichte in der Weise, daß es sich auf irgendeine Generalklausel des positiven Rechts bezieht (wie z. B. Art. 1382 des Code civil), um so die Vergünstigung einer staatlichen Sanktion zu erhalten. Dieses Betreiben der Anerkennung als gelehrtes Recht, das Vordringen des Infrarechtlichen ins Rechtliche, ist heute ein klar erfaßtes Problem, nämlich das des übergangs vom Faktischen zum Normativen1 • Die auffallendsten Erscheinungen hiervon sind die freie Lebensgemeinschaft am Rande der Ehe und die faktische Trennung neben der Trennung von Tisch und Bett sowie der Scheidung. Es wurde schon öfters festgestellt, daß diese Phänomene zunehmen. Genau genommen wächst aber nicht ihre zahlenmäßige Stärke, sondern ihr Selbstvertrauen und ihr Mut, sich den Gerichten zu stellen. Die Fragmente an Vulgärrecht, die wir in den Maschen der Gerichtsentscheidungen finden, sind nichtsdestotrotz nur ein unbedeutender Teil des Vulgärrechts, wenn wir an die Masse derjenigen Erscheinungen denken, die nicht Gegenstand eines Rechtsstreites werden. Um mehr hierüber zu erfahren, wären Erhebungen in den breiten Schichten des Volkes (unter Ausschluß der juristisch gebildeten Kreise) und vor allem in den abgelegenen Gebieten erforderlich, denn die Entfernung von der Hauptstadt begünstigt zweifellos zumindest eine bestimmte Art des Vulgärrechts. Man könnte dann feststellen, daß im Gegensatz zum gelehrten Recht, nach welchem die Schriftform lediglich den Beweis erleichtert, im Vulgärrecht die überzeugung herrscht, daß gewisse Verträge nur in schriftlicher Form bindend sind. Es käme auch zum Vorschein, daß entgegen den Normen des französischen Güterrechts, wonach die Ehegatten, die keine Regelung bezüglich ihres Güterstandes getroffen haben, ihre Immobilien jeweils selbst verwalten, auch in diesen Fällen eine gemeinschaftliche Verwaltung stattfindet, als ob das Vulgärrecht die allgemeine Gütergemeinschaft und nicht die vom gelehrten Recht gewollte begrenzte Gütergemeinschaft vorsähe2 • 1 über dieses in der juristischen Literatur gängig gewordene Thema, siehe vor allem R. Savatier: Realisme et idealisme en droit civil d'aujourd'hui, Etudes Ripert, 1950, I, S. 75; Travaux de l'Association Henri Capitant, Journees de Lille, 1957 (XI, 1960); Noirel: Le droit civil contemporain et les situations de fait, R.T.D.C., 1960, S. 456. 2 Die Umfrage von 1963 im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens bezüglich des Ehegüterrechts (Sondages, 1967, Nr. 1, S. 31 ff.) brachte zum Vorschein, daß die Mehrzahl der Befragten die während der Ehe von einem der Gatten geerbten Immobilien in die Gütergemeinschaft einbrachten. Was sich vom Standpunkt des gelehrten Rechts aus als ein Irrtum darstellt, kann bei vielen auf dem durch das Vulgärrecht ausgeübten Druck beruhen und bei allen ein aus den Tiefenschichten entspringendes Streben nach inniger Gemeinschaft ausdrücken (ein tiefenpsychologisch motivierter Irrtum!).

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2. Teil: Gegenstand der Rechtssoziologie

Es gibt eine Form des Vulgärrechts, die unsere besondere Aufmerksamkeit verdient, und zwar die, bei der paradoxerweise das Infrarechtliche auf staatlichem Eingreifen beruht. Diese Erscheinung gab es zu allen Zeiten. Sobald die oberste Gewalt spezifisch rechtliche Institutionen mit ihren besonderen Techniken, was insbesondere auf gerichtliche Organe zutrifft, ins Leben gerufen hat, die ein rationalisiertes, justizförmiges Verfahren der Rechtsprechung, mit Prozeß und Urteil, anwenden, so entsteht auch das Bedürfnis für einfacheren, weniger förmlichen, aber auch gröberen Zugang zum Recht seitens der Masse des Volkes. In dieser Weise entsteht zuerst für die unteren Schichten eine Art SubJustiz, die dazu bestimmt ist, zumindest eine Art Beinahe-Recht zu institutionalisieren. In Rom gab es in diesem Zusammenhang die besonderen Aussprüche der Verwaltungsträger, unterhalb der Anordnungen des Prätors. In Frankreich finden wir die halbamtliche Ermittlung durch die Polizei, unterhalb der richterlichen Untersuchung. Es entspricht im übrigen einem Gesetz des Alltagslebens, daß diese aktiveren infrarechtlichen Verfahrensweisen die rechtlichen vor sich herjagen, wobei sie allerdings riskieren, verrechtlicht zu werden und zu erstarren. Aber was besagt schon dieser Endpunkt, betrachten wir lieber das in unserer Gesellschaft lebende Vulgärrecht, denn es fehlt nicht an solchem in den Zwischenräumen des gelehrten Rechts, ja sogar des Zivilrechts, des am höchsten entwickelten. Wenn man wissen will, wie zwischen Mitrnietern der Friede wiederhergestellt wird (ohne sich ins Labyrinth des Art. 1725 des Code civil zu begeben), welche Maßnahmen der verlassene Ehegatte oder die Eltern des ausgerissenen Kindes zuerst ergreifen und welches das naheliegendste Verfahren ist, einen umherziehenden Obstund Gemüsehändler zur genauen Einhaltung seiner Lieferpflicht zu zwingen, so muß man sich in den Polizei dienststellen und Rathäusern umsehen. Dort wird eine richtiggehende summarische Vulgärrechtsprechung, eine Infrajurisprudenz, ausgeübt, bei der Rechtliches und Faktisches sich vermischen.

11. Das Rechtssystem als zeitliches Feld Während das dogmatische Recht einen im Augenblick der Positivität erstarrten Gegenstand erfaßt, betrachtet die Rechtssoziologie ein im Fluß befindliches Objekt. Zwei Umstände haben lange Zeit die Anerkennung des Entwicklungsbegriffs durch die Juristen verhindert: 1. das im höchsten Maße ungewöhnliche überleben des römischen Rechts in den westlichen Gesellschaften, welches auf der ewigen Gültigkeit der Gesetze der Vernunft zu beruhen schien, und 2. die Macht der Naturrechtslehren mit allem, was sie der Religion oder der Metaphysik an überzeugungskraft entlehnten.

2. Kap.: Das Rechtssystem

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Für die Rechtssoziologen dagegen stellte der Evolutionismus von Anfang an eine Art unausgesprochen gegenwärtige Philosophie dar. Bei ihnen handelt es sich vielleicht oft weniger um eine bewiesene Tatsache als um ein Postulat. Dieses Postulat ist aber sehr wohl erforderlich, und sei es auch nur aus methodologischen Gründen, da die Anwendung der vergleichenden Methode bei der Betrachtung verschiedener historischer Zeitabschnitte auf der unterstellten Veränderlichkeit des Rechts beruht. Es bleiben allerdings noch verschiedene Punkte zu erläutern, nachdem man einmal den Gedanken akzeptiert hat, daß das Rechtssystem ein dem Wandel unterliegendes Feld ist. a) In welcher Richtung vollzieht sich dieser Wandel? Viele nehmen einen geradlinigen Fortschritt des Rechts an (mehr Rechtssicherheit, mehr Gerechtigkeit, mehr Wahrheit usw.). Diese optimistische Vorstellung herrscht seit der Aufklärung vor, und wir finden sie heute als Bestandteil jeglicher Propaganda von Gesetzgebungsinstitutionen. Ohne diese Entwicklung zu leugnen, glauben Soziologen jedoch, daß es auch eine Wiederkehr von Erscheinungen gibt (ricorsi im Sinne von Vico). Danach erfolgt die Entwicklung des Rechts in Zyklen, wofür die Geschichte in der Tat einige sehr bezeichnende Beispiele liefert. Von den (altrömischen) Quiriten bis zum Feudalismus erlebte das Eigentumsrecht einen ständigen Zerfall, um danach wieder Geschlossenheit zu gewinnen, bis im Einheitsprinzip des Art. 544 des Code civil der Höhepunkt erreicht war; im 20. Jahrhundert beginnt wieder eine Periode zahlreicher Aufspaltungen durch Sondergesetze (Miet- und Pachtrecht)1. Es fragt sich jedoch, ob es wirklich nötig ist, eine bestimmte Richtung in der Rechtsentwicklung festzustellen, denn im Grunde kann es sehr wohl so sein, daß diese Entwicklung nach menschlichem Ermessen nirgendwohin führt. b) Wie erfolgt diese Entwicklung? So wie anderen sozialen Wandel hält man auch diesen für einen allmählich sich vollziehenden Vorgang. 1 Andere Beispiele: im öffentlichen Recht ist oft die Gedankenreihe entwikkelt worden (in neuerer Zeit vor allem von Maurice Hauriou), daß die schwach werdenden Diktaturen den Weg für die Demokratie frei geben, die zur Anarchie degeneriert und so von neuem den Boden für eine Diktatur bereitet; im Privatrecht finden wir den Übergang vom Formal- zum Konsensualprinzip und danach wieder die Neubelebung des Formalismus. Weitere Beispiele (Stellung der Frau, elterliche Gewalt) enthält die klassische Arbeit von J. Leaute: Eclipses et renaissances d'institutions en droit civil, Paris 1946. Vgl. über eine zyklische Entwicklung des Testaments im ägyptischen Recht Revue internationale des droits de l'Antiquite, 1966, S. 11 ff.; über die Beständigkeit des Schadenersatzsystems C. Bontems: Les dommages-interets dans les lois barbares, Rev. Hist. de droit, 1969, S. 454 und Fußnote. Über die Aufstellung einer Hypothese hinaus wäre es jedoch erforderlich, zu überprüfen, ob nicht nur eine oberflächliche Ähnlichkeit vorliegt, sondern tatsächlich dieselbe Institution wiederkehrt (so wäre zu fragen, ob wirklich der in weitgehend analphabetischen Gesellschaften im Volke verbreitete Formalismus im heutigen bürokratischen Formalismus neue Gestalt annimmt).

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2. Teil: GegeIliStand der Rechtssoziologie

Dies steht im Einklang mit einer biologischen Erklärung dieser Erscheinung2 : auf Grund der Geburten und Sterbefälle erneuert sich die Gesellschaft ein wenig von Tag zu Tag, und damit verändert sich auch ihr Rechtssystem, denn die Individuen, die in aktiver und passiver Weise am Recht teilhaben und das Erwachsenenalter erreichen, denken und fühlen anders als ihre Vorgänger, so daß sie auch in anderer Weise auf das Recht reagieren und ihrerseits anderes Recht schaffen. Es wird aber auch die Auffassung vertreten3 , daß die Entwicklung des Rechts, im Gegensatz etwa zu derjenigen der Technik, sprunghaft vor sich gehe, in Gestalt plötzlicher Mutationen. Das steht wiederum im Einklang mit der Feststellung, daß das Recht teilweise ein Werk des gesetzgeberischen Willens ist. c) Hängt der Rechtswandel mit anderem sozialem Wandel zusammen? Wie wir wissen, gibt der Marxismus 4 hierauf eine begrenzte, aber klare Antwort (auch wenn einige Marxisten sie abgeschwächt haben): Rechtswandel ist durch Änderungen in den Produktionsverhältnissen determiniert. Außerhalb des Marxismus war die Forschung sehr aktiv, ihre Tendenzen sind jedoch sehr verschiedenartig: 1. Man bemüht sich nicht nur um eine Korrelierung mit wirtschaftlichen Faktoren, sondern um eine solche mit der Gesamtheit der Soziafaktoren in weitem Sinne, wie etwa der Verstädterung, der Massenkommunikationsmittel, des Tourismus, der Verlängerung der Lebenserwartung, der Abnahme der Religiosität usw. 2. Man argumentiert weniger mit Begriffen der Kausalität oder der Determination als mit solchen der ungezwungenen gesetzgeberischen Anpassung. Diese überlegung wurde durch ein ganz bestimmtes Ereignis gefördert, und zwar durch das in Europa, Kanada und den USA stattfindende, gewaltige Wirtschaftswachstum und dem in den Ländern der Dritten Welt erfolgenden Entwicklungsprozeß. Im einen Land scheinen die herkömmlichen Gewohnheitsrechtsnormen und im anderen die aus einer ländlich und bürgerlich orientierten Zeit stammenden Kodifikationen den Fortschritt zu behindern oder zumindest zu erschweren, woraus Verzögerungen, Verzerrungen und Spannungen resultieren. Wie verhält sich nun das Recht im Hinblick auf die Forderungen einer Gesellschaft, die sich in einem tiefgreifenden Wandlungsprozeß von beispielloser Geschwindigkeit befindet? Die zeitgenössische Rechtssoziologie hat diesem Thema eine Fülle von Literatur gewidmet5 und damit gezeigt, wie evolutionistisch sie noch ist. H. Levy-Bruhl: Sociologie du droit, S. 31. Dies ist die These von Marcel Mauss (Manuel d'ethnographie); vgl. Roger Bastide, A. S., 1962, S. 256. 4 Vgl. S. 66 H. S Zum Beispiel Georges Davy: Droit et changement social, Actes du 3e Congres international de sociologie, 1956, Band I, S. 33 ff. Yehezkel Dror: Law and Social Change, Tulane Law Review, 33 (1959), S. 787 H., und Aubert (1968), 2

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2. Kap.: Das Rechtssystem

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Es handelt sich aber nicht mehr so sehr um eine passiv hingenommene 6 , sondern um eine aktiv zu verfolgende Evolution, wobei die abzuleitende Stellungnahme auf politischem Gebiet zwischen Revolution und Reform schwanken kann. 12. Das Rechtssystem als Rechtserscheinung

Wir haben das Rechtssystem bisher als einen im übrigen aufteilbaren Rahmen, als eine Form, in welcher alle Arten von Rechtserscheinungen erzeugt werden, behandelt. Aber als Behältnis von Gegenständen ist es ebenfalls ein Gegenstand. Das Rechtssystem kann als eine Rechtserscheinung aufgefaßt werden, die ihrerseits in räumlicher und zeitlicher Hinsicht eingeordnet werden muß. a) In räumlicher Sicht ist zu berücksichtigen, daß ein Rechtssystem nicht allein steht. Das Universum ist eine Republik von Rechten. Zu einem bestimmten geschichtlichen Augenblick hebt sich jedes Recht in seiner historischen Einzigartigkeit von allen anderen ab. Mit anderen, vergleichbaren Zügen, vor allem mit der Sprache (wir stoßen hier auf eine nicht abzuweisende Analogie), trägt es zur Bildung einer Kultur bzw. nach moderner Auffassung zur Bildung einer Nation bei. Mit derart nationaler Prägung erzeugt das Rechtssystem sozialpsychologische Erscheinungen des Nationalismus, oder wie die Amerikaner sagen, des Ethnozentrismus. Der Rechtsnationalismus kann sich jedoch in zwei sehr verschiedenen Arten des Kollektivverhaltens äußern. 1. Der erste Typ, der in den archaischen Gesellschaften dominiert, ist der der Abkapselung von der übrigen Welt. Das Recht wird als eines der Geheimnisse des Stammes empfunden, dessen Kenntnis und Anwendung den Stammesangehörigen vorbehalten bleiben muß. Seine Autorität beruht auf einer in mythischer Zeit erfolgten Offenbarung durch einen großen Ahnherrn, und die Nachkömmlinge würden sich großem Unheil aussetzen, wenn sie Fremden Zutritt zu diesem Erbgut ließen. Dies ist wohl auch der soziologische Schlüssel zum Verständnis des Prinzips der Anknüpfung an die jeweilige Stammeszugehörigkeit bei der Anwendung der Gesetze der Barbaren in den von ihnen eroberten Teilen des römiS. 90 ff.; W. Friedmann: Law in aChanging Society, 1960; H. Foster: Family law in achanging society, in Davis, Society and law, 1962, S. 227 ff.; das Kollektivwerk, Les Implications sociales du developpement economique, Paris 1963; Rehbinder, in Hirsch und Rehbinder (1967), S. 197 ff. G Die objektive Erforschung der Evolution hat heute zu einer Präzisierung (und sogar Quantifizierung) des Begriffs der Sozialentwicklung geführt, und zwar sowohl in allgemeiner Hinsicht (vgl. P. NaviHe, A.S., 1962, S. 495), als auch in bezug auf das Recht (vgl. Richard Schwartz und J. Miller, A.J.S., 70 [1965], S. 159 ff.). Siehe auch bezüglich des "Gefühls" der Entwicklung J. B. Stephenson: Is everyone going modern? A critique and a suggestion for measuring modernism, A.J.S., 74 (1968), S. 265 ff.

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2. Teil: Gegenstand der Rechtssoziologie

schen Weltreiches; die germanischen Gesetze waren zu sehr geheiligt, um auf Völkerschaften minderen Ranges erstreckt werden zu können. 2. Der zweite Typ ist in den modernen Gesellschaften am häufigsten vorkommend und besteht im Gegensatz zum ersten in einer Werbung für das eigene Recht. Da das nationale Recht als technisch vollkommen und durchwegs gerecht angesehen wird, entspricht es einer philantropischen Pflicht, es fremden Völkern mitzuteilen. Dieser expansive Nationalismus zeigt sich zuerst bei den Juristen. Als Richter in Sachen des Internationalen Privatrechts tendieren sie dazu, ihrem nationalen Recht den Vorrang zu geben, und als Vertreter ihres Landes bei den Vorarbeiten zu einem Vertrag konzipieren sie diesen allein auf der Grundlage ihres eigenen Rechts. Wenn man das Eigeninteresse als die Triebfeder des menschlichen Verhaltens ansieht, so wird man der Meinung sein, daß die Ausweitung des Anwendungsbereichs des Rechts seitens der Juristen dem Prinzip der geringsten Anstrengung entspricht (hierzu kommt, daß auf diese Weise auch der Arbeitsmarkt für die Juristen eines bestimmten Landes erweitert wird). Genau genommen kann sich aber hinter dieser Haltung der Praktiker eine staatsmännische Strategie verbergen, denn in manchen Fällen dient das Recht als Träger von Ideologien und politischen Kräften. In diesem Sinne vertraute Napoleon bei seiner Absicht der Beseitigung des Feudalsystems in den Satellitenstaaten auf seinen Code civil. Später war die übertragung des französischen Rechtssystems auf die überseeischen Gebiete ein Mittel der Kolonisation. In neuerer Zeit haben die Russen die Verbreitung ihres Rechts als Verbreitung ihres Sozialsystems aufgefaßt. Diese Gestalt des Rechtsnationalismus hat ersichtlich Phänomene der Akkulturation zur Folge. b) In zeitlicher Sicht ist zu berücksichtigen, daß das Rechtssystem trotz stetigem Wandel fortdauert. Das Problem besteht darin, zu erfahren, ab welchem Grad der Umwandlung man nicht mehr vom ursprünglichen Recht sprechen kann. Bei der Konzeption der historischen Identität des Rechts sind verschiedene zeitliche Stufen zu unterscheiden, die noch nicht wissenschaftlich exakt bestimmt worden sind (dasselbe gilt für die entsprechenden Auffassungen von der Sprache und auch der Kultur). Ein Laie könnte sehr wohl den Beginn des jetzigen Rechtssystems mit den Datum seiner eigenen Volljährigkeit gleichsetzen, sofern er das Bewußtsein hat, mit dem zeitlichen Ablauf seines Rechtssystems verbunden zu sein. Ein französischer Jurist dagegen wird sich seiner Ausbildung erinnern und bis zum Jahre 1804 zurückgehen. Der Historiker jedoch würde ein Kontinuum von der gallo-romanischen Periode bis zum 20. Jahrhundert annehmen. Gibt es hier eine objektive Realität? Es trifft zu, daß das Recht selbst klare Trennlinien ablehnt und daß es eine Vorliebe für übergangslösungen hat. Außerdem haben sogar die sozialistischen Revolutionen unserer Zeit einen großen Teil des unter-

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Das Rechtssystem

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legenen Rechts bewahrt. Trotzdem kommt es vor, daß ein Rechtssystem abstirbt (wie eine Kultur). So ist das gallische Gewohnheitsrecht untergegangen, ohne eine Spur im französischen Zivilrecht zu hinterlassen. Man fragt sich, ob Rechtssysteme auf Grund einer inneren Schwäche im Wege einer Art natürlicher Auslese untergehen. Es ist jedoch nicht erkennbar, worin diese entscheidende Schwäche bestehen könnte, in der Verfeinerung oder der Vergröberung, in der Starrheit oder der Geschmeidigkeit. Anscheinend hat die Ausmerzung eher exogene Ursachen, nämlich militärische (Eroberungen), politische (Revolutionen) oder ökonomische (Eindringen). Die Phagozytose eines autochtonen Rechts durch fremde Elemente stellt einen Extremfall der Akkulturation dar.

13. Die Rechtsakkulturation Der im Jahre 1880 durch den amerikanischen Ethnologen Powell geprägte Begriff der Akkulturation hat in den Wortschatz der französischen Soziologen Eingang gefunden l • Er ist jedoch weder elegant noch sehr exakt, da er in wörtlichem Sinn (nicht ohne ethnozentrische Vorurteile) an den übergang der Primitiven zur Kultur, ad culturam, denken läßt, während er doch wesentlich umfassender ist, denn hierunter ist jedes übertragen von einer Kultur auf eine andere zu verstehen. Der bisweilen verwandte Begriff des Kulturkontakts ist weniger ausdrucksvoll, denn Kontakt bedeutet noch nicht Eindringen, und wenn zwei Kulturen ohne jedes Durchdringen miteinander in Berührung kommen, so haben wir es noch nicht mit Akkulturation zu tun. Da jede Kultur auch ein Rechtssystem enthält, lag der Gedanke einer Rechtsakkulturation nahe, nämlich der, daß ein Rechtssystem sich auf ein anderes aus Gründen und mit Wirkungen, die die Rechtssoziologie interessieren, aufpfropfen kann2 • Die Rechtsgeschichte wimmelt von Beispielen hierfür: die Ausdehnung der römischen Staatsbürgerschaft auf alle Bewohner des Reiches unter Caracalla, die Invasion des germanischen Gewohnheitsrechts in Gallien, die Rezeption des römischen Rechts in Deutschland, die römischrechtliche Renaissance in Frankreich usw. Wir wollen nicht ausschließen, daß es noch überraschendere Beispiele gibt, doch wer hätte erwartet, daß Salzsteuer und Zoll arabische Pfropfreiser auf dem Baum des französischen Rechts sind. 1 über die Akkulturation gemäß der allgemeinen Soziologie siehe Herskovits: Acculturation, the study of culture contact, New York 1938; Roger Bastide: Problemes de l'entrecroisement des civilisations et de leurs oeuvres, in Traite de sociologie von Gurvitch, Band 2, S. 315 ff. 2 über die Rechtsakkulturation H. Levy-Bruhl: Sociologie du droit, S. 117 ff.; M. Alliot: L'acculturation juridique, in Ethnologie g{merale (Encyclopedie de la Pleiade, 1968), S. 1181 ff. S Vgl. H . Levy-Bruhl: Note sur les contacts entre les systemes juridiques, Symbolae R. Taubenschlag dedicatae, Warschau 1956, S. 27 ff.

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2. Teil: Gegenstand der Rechtssoziologie

In neuerer Zeit hat die Rechtsvergleichung4 Anlaß gegeben, vor unseren Augen stattfindende Rechtsakkulturationen zu beobachten, sei es nun in einem Land wie Quebec, in dem sich zwei Rechtskulturen einander gegenüberstanden, das französische Zivilrecht auf der einen und das Common Law 5 auf der anderen, oder sei es in orientalischen Ländern wie der Türkei Atatürks, die, um sich durch Rezeption ausländischer Gesetzgebungen zu verwestlichen, en bloc die Schweizer Gesetzbücher übernahm'. Vor allem aber betrifft dies die erst kolonisierten und dann entkolonisierten Völker, da praktisch überall in der Welt die wirtschaftliche und politische Kolonisation mit einer im übrigen nicht unbedingt symmetrischen gesetzgeberischen Kolonisation einherging, die nicht immer im Zuge der Entkolonisierung beseitigt wurde 7 •

14. Die Rechtsakkulturation (Fortsetzung): Ursachen Die Erscheinungen der Rechtsakkulturation machen sich in einer sozialpsychologischen Atmosphäre der Kommunikation bemerkbar. Diese ist nicht von vornherein vorhanden. Es ist viel eher das Gegenteil, nämlich eine durch nationalistischen Reflex gegenüber fremden Rechtssystemen abgeschlossene Gesellschaft zu erwarten, wobei dieser Reflex, wie wir gesehen haben!, nur einen Aspekt des sozialen Totalphänomens des Nationalismus darstellt. Zu den allgemeinen Ursachen für jeglichen Nationalismus (die Furcht vor dem Unbekannten, die Anziehungskraft der Kindheitserinnerungen, die Beschwerlichkeit der Zweisprachigkeit usw.) kommt beim Rechtsnationalismus noch ein besonderer Grund, denn sogar in dem Maße, in dem ein Rechtssystem von den ihm Unterworfenen als feindliche und unterdrückende Macht aufgefaßt wird, ist es ihnen doch vertraut, und diese Kenntnis beruhigt wiederum. In ähnlichem Sinne schrieb Kipling, daß ein Engländer lüge, aber daß er doch so lüge wie er selbst. Das französische Recht ist vielleicht ein Wald voller Fallstricke, aber der Franzose ist nun einmal Kind dieses Waldes. Bedeutet der Grundsatz, daß niemand seinem verfassungsmäßigen Rich4 Siehe in den Etudes Edouard Lambert, 1938, Band 2, S. 579 ff., die der Rechtsrezeption gewidmeten Artikel, insbesondere S. 581 ff., und den Artikel von Andreas B. Schwarz: La reception et l'assimilation des droits etrangers. Vgl. Zajtay: La reception des droits etrangers et le droit compare, R.I.D.C., 1957, S. 686 ff.; Mousseron: La reception au Proche-Orient du droit fran!;ais des obligations, R.I.D.C., 1968, S. 37 ff. 5 Vgl. Louis Baudouin: Les aspects generaux du droit prive dans la province de Quebec, 1967, S. 9 ff. und S. 19 ff. 6 Vgl. H. N. Kubali: Les facteurs determinants de la reception en Turquie et leur portee respective, Annales de la Faculte de droit d'Istambul, 1956, S. 44 ff. 7 Vgl. Jacqueline Costa: Les institut ions du droit et le developpement en Afrique, A.S., 1968, S. 460 ff. t Vgl. S. 151 ff.

2. Kap.: Das Rechtssystem

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ter entzogen werden darf, denn nicht dasselbe wie, daß wir von denjenigen, die von Geburt an unsere eigene Art Recht zu sprechen besitzen, gerichtet werden sollen? Dennoch existiert auch das völlig entgegengesetzte Verhalten, nämlich die Öffnung zum Ausland hin, die Reiselust, der Sinn für das Exotische und für die Kommunikation. Dies gilt für das Recht wie für den Schmuck, die Techniken, die Sitte usw. Das von woanders herkommende Recht erhält auf Grund seines Außenstehens und des ihm eigenen Geheimnisvollen ein besonderes Maß an Autorität. Daher stammt auch der weit verbreitete Mythos von durch die Wellen herbeigetragenen fremden Gesetzgebern, die kamen, um den Einheimischen neues Recht zu stiften. So soll nach der Legende der griechische Auswanderer Hermidoros dem Dezemvirat bei der Anfertigung des Zwölftafelgesetzes geholfen haben. In den mittelalterlichen Republiken Lucca und Genua war es Brauch, die Richter aus anderen Ländern zu berufen. Hier finden wir die Voraussetzungen für ein der Rechtsakkulturation günstiges Klima, sei es nun institutionalisiert oder spontan, von staatlichen Stellen orler von aeselLschaftlichen Kräften, geschaffen. a) Die von staatlichen StelLen herrührende Rechtsakkulturation. Sie kann mehr oder weniger weitreichend sein. Bei den historischen Reformen wie etwa denen von Caracalla oder Atatürk war zumindest die Absicht totaler Akkulturation vorhanden. Das fremde Rechtssystem wurde mit Fleisch und Blut zur Adoption frei gegeben oder adoptiert wie ein fremdes Kind. In den heutigen Gesellschaften kommt die Akkulturation häufiger in Gestalt kleinerer übernahmen vor; ein einzelnes Element einer fremden Gesetzgebung wird nach Abschätzung der Vorund Nachteile übernommen. In diesem Sinne führte Frankreich aus England den Scheck (1865) und aus Deutschland die Gesellschaft mit beschränkter Haftung (1925) sowie die Zugewinngemeinschaft (1965) ein. Die globale Akkulturation ist soziologisch bedeutungsvoller, da sich in ihr wirklich eine kulturelle Mutation vollzieht. Rein logisch wäre sogar die partielle Akkulturation von vornherein durch eine strukturalistische Rechtsauffassung verdammt, denn da vorausgesetzt wird, daß das System im Gleichgewicht ist, bedroht jede Veränderung eines Teils die Aufrechterhaltung desselben. Tatsache ist jedoch, daß manche fragmentarische Nachahmung gelingt. Alles, was man sagen kann, ist, daß die übernahme einer wesentlichen Institution, vor allem einer solchen, die in besonders intimer Weise die Persönlichkeit der Rechtsunterworfenen betrifft (wenn etwa in einem afrikanischen Land die Polygamie durch die Monogamie ersetzt wird), so kann im Wege einer Kettenreaktion die wirkliche Tragweite die zunächst ersichtliche ganz erheblich übertreffen.

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2. T~il: Gegenstand der Rechtssoziologi~

Der am meisten ins Auge fallende Akt öffentlicher Stellen, der als Mittel für eine Rechtsakkulturation dienen kann, ist das Gesetz; dies ist auch derjenige, welcher durch seine Feierlichkeit und seine dramatische Wirkung am ehesten zum Erfolg des Unternehmens beitragen kann2 • Die Rechtsakkulturation kann jedoch ebensogut im Wege der Rechtsprechung wie durch Gesetze erfolgen. So schufen zur Zeit der französischen Herrschaft in Algerien die aus Frankreich gesandten Richter, welche das islamische Recht anzuwenden hatten, durch ihre Interpretationen in vielen Fällen eine Annäherung an die Kategorien des Code civil; z. B. räumten sie der Aufhebung wegen Vertragsverletzung in den Verträgen nach islamischem Recht eine gewisse Rolle ein, auch da wo dies an sich nicht vorgesehen war. Außerdem bemühten sie sich, dem in Frankreich geltenden Scheidungstyp die patriarchalische Verstoßung anzunähern und ferner der Frau in weiterem Umfang das Recht auf Scheiung zuzubilligen, was im Recht des Koran kaum eine Rolle spielte. Schließlich suchten sie den Begriff der Beleidigung im Lichte des Art. 232 neu zu interpretieren. Es ist möglich, daß die französischen Richter, die auf diese Weise das islamische Recht in französischem Sinne umgestalteten, hierbei nationalistisch motiviert waren, wahrscheinlicher ist jedoch, daß sie auf der Grundlage eines Vergleiches der beiden Rechtsordnungen die in ihren Augen vernünftigen Schlußfolgerungen zogen. Heutzutage erklärt sich die Rechtsakkulturation, wenn sie nicht gerade einem großen Planungsentwurf entspricht (wie etwa dem von Kemal Atatürk), gewöhnlich aus einem praktischen Bemühen um gesetzgeberische Verbesserungen. Als irrational, wenn nicht sogar als gefühlsbetont zu bezeichnende Motive wie etwa der Sadismus eines Eroberers (z. B. war auch die von den Deutschen den besetzten Ländern aufgezwungene Ordnung ein Recht) oder die religiöse überschwenglichkeit (die Ausbreitung des Islam zog die des islamischen Rechts nach sich) sind selten. b) Die von gesellschaftlichen Kräften ausgehende RechtsakkuZturation. Der Vertrag kann ein wirksames Mittel für die Rechtsakkulturation sein, sofern nachgiebiges Recht besteht. So hat im 19. Jahrhundert die im Güterstandsrecht herrschende Freiheit es der aus Paris stammenden Gütergemeinschaft erlaubt, das in Südfrankreich heimische Dotalsystem zu verdrängen. Auf ähnliche Weise verdrängt in Quebec die englischrechtliche Gütertrennung die herkömmliche Gütergemeinschaft. Seit dem Jahre 1960 gibt es im französischen Handelsrecht folgende, von der 2 So gelang dem Gesetz vom 30. Windmonat des Jahres XII, dem Einführungsgesetz zum Code civil, durch die feierliche Proklamation in Art. 7, derzufolge alle provinziellen Unterschiede des vorrevolutionären Rechts und vor allem die römischrechtliche Vergangenheit des Südens beseitigt wurden, ein gewaltiges Werk der Rechtsakkulturation.

2. KJap.: Das Rechtssystem

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freien Wirtschaft eingeführten angelsächsischen Kombinationen: das Leasing, die Scheckkarte und das öffentliche Kaufangebot. Nichtsdestoweniger geschieht dies nicht immer bewußt. Es kommt vor, daß die gesellschaftlichen Kräfte in diffuser Weise wirken, mehr in Gestalt von Einflüssen als in der von Entscheidungen, und zwar durch Schaffung eines dem Eindringen fremder Institutionen förderlichen Klimas. Der Rechtskosmopolitismus wies bekannte Erscheinungsformen wie die Anglophilie der Philosophen auf. Nicht weniger bedeutsam, obwohl weniger glanzvoll, da weniger literarisch und mehr auf den kleinen Kreis der Juristen beschränkt, war etwa der Einfluß der italienischen Universitäten am Ausgang des Mittelalters für die darauffolgende Durchdringung der westlichen Rechtssysteme durch das römische Recht. Ganz zu schweigen von den uns noch näher stehenden Beispielen des Einflusses von Paris auf die rumänischen Juristen und desjenigen von Berlin auf die griechischen. Die Rechtsakkulturation erfolgte vielfach auf den Wegen der Rechtslehre und viel weniger auf denjenigen der breiten Volksschichten, was sehr bedeutungsvoll ist, denn hieraus ergibt sich, daß das volkstümliche Recht nicht so leicht internationalen Charakter annehmen kann. Es muß zugegeben werden, daß in die französische Sprache Worte wie Boykott (das Setzen von Unternehmern auf die schwarze Liste) oder Squatter (der Obdachlose, der eine leerstehende Wohnung besetzt) Eingang gefunden haben und den Gedanken nahe legen, es seien unabhängig von den Juristen von Volk zu Volk Gewohnheiten übernommen worden (wenn auch vielleicht nur infrarechtlicher Art). Es ist jedoch genauso naheliegend zu vermuten, daß in vergleichbaren Situationen alle Völker in spontaner Weise auf ähnliche Art reagieren und daß die englischen Fremdwörter erst nachträglich bereits fest umrissene französische Praktiken bezeichnet haben, auch wenn sie möglicherweise zusätzlich zur Bewußtseinsbildung beigetragen haben.

15. Die Rechtsakkulturation (Fortsetzung): Wirkungen Wenn zwei Rechtssysteme einander begegnen, so bleibt das niemals ohne Folgen. Hieraus resultieren nämlich Wirkungen sowohl hinsichtlich der Institutionen als auch in bezug auf die Individuen (wobei natürlich vorausgesetzt wird, daß die Veränderungen der Institutionen auf einer Änderung menschlichen Verhaltens beruhen). So überträgt sich jede Rechtsakkulturation durch vielfältige sozial psychologische Phänomene, die ihrerseits Rechtserscheinungen sind, auf die Institutionen und auf die Individuen. a) Die Wirkungen auf die Institutionen. Die hauptsächlichste Wirkung bezieht sich auf das schließlich in das einheimische Rechtssystem eingefügte fremde Element. Es geht darum, ob die Verpflanzung gelingt

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2. T'eil: GegeIlJStand der Rechtssoziologie

oder nicht. Das Mißlingen der Transplantation besteht in der Abstoßung1 • Der Erfolg einer Okulierung beruht auf dem Anwachsen des von der Spenderpflanze losgelösten Pfropfreises unter Beibehaltung der angestammten Eigenschaften. Zwischen dem völligen Fehlschlag und dem totalen Erfolg ist Raum für einen Halbschatten, nämlich das Ergebnis einer Kreuzung (nichts ist hier so gängig wie die alltäglichen Metaphern). Bezüglich der Akkulturation im allgemeinen sind viele Soziologen der überzeugung, daß sie niemals voll gelingen kann, da sie davon ausgehen, daß alles durch das soziale Milieu determiniert ist und daß jede Transplantation in ein neues soziales Milieu ein Abenteuer ist und zu allermindest eine Deformation des verpflanzten Teils mit sich bringt. Aber vielleicht ist bei der Rechtsakkulturation eine etwas nuanciertere Betrachtungsweise angebracht, denn nicht alles im Recht ist determiniert und die Rolle des Willens sowie der (gelungenen) Zwangsanwendung dürfen nicht übersehen werden. Jedoch muß man bei der Rechtsakkulturation genauso wie bei der allgemeinen Akkulturation darauf achten, ob nicht lediglich ein Scheinerfolg vorliegt. Wenn die Einführung fremder Institutionen sich lediglich in einer Änderung der einheimischen Gesetzestexte äußert und nicht mit einer effektiven Anwendung einher geht, so ist sie soziologisch gesehen mißglückt. Doch selbst bei Beachtung dieser Vorsichtsmaßregeln scheint es, daß vor allem die moderne Geschichte uns Beispiele vollkommener Rechtsakkulturation liefert. So gelang die übertragung des Versicherungsvertrages und der Aktiengesellschaft aus Europa in die islamischen Länder (die städtischen und handeltreibenden Gesellschaften sind stets dem Rechtskosmopolitismus gegenüber aufgeschlossener), und die Gütergemeinschaft ist heute in Bordeaux oder der Provence genauso zu Hause wie in Paris (eine einheitliche politisch-indikative Organisation und das Vorhandensein eines die Rechtseinheit wahrenden Gerichtshofes erleichtern offensichtlich die Vereinheitlichung des Rechts). Es gibt aber auch berühmte Abstoßungen. So wurde der Code Napoleon, das Gesetzbuch der Ziviltrauung, der Ehescheidung und des Antifeudalismus zusammen mit den Franzosen aus Italien vertrieben, als das kaiserliche Regiment zusammenbrach (die politische Stütze fehlte von nun an). Dem amerikanischen Rechtsinstitut der Homestead nützte die Umwandlung in ein französisches (unpfändbares) Familien-Heimstättenrecht nichts, da das Gesetz vom 11. Juli 1909 es nicht heimisch zu machen vermochte 1 Nach der Einführung des Schweizer Zivilgesetzbuches in die Türkei sind gewisse Abstoßungserscheinungen beobachtet worden. So mußte im Jahre 1938 das Alter für die Eheschließung von 20 auf 18 und von 17 auf 15 Jahre herabgesetzt werden. Außerdem mußte die Rechtsprechung eine Lösung entwickeln, die es erlaubte, Grundeigentum auch ohne Eintragung ins Grundbuch zu übertragen. Schließlich wurden die in der herkömmlichen Form und entgegen der Regel der obligatorischen Ziviltrauung geschlossenen Ehen nachträglich anerkannt.

2. Kiap.: Das Rech1;'ssystem

159

(es fehlten die entsprechenden Sitten, die Gewohnheit, Schulden zu machen und dennoch ein sorgfältig waltender Familienvater zu bleiben). Die Mehrzahl der Fälle liegt jedoch zwischen den beiden Extremen. Die importierte und mit einem anderen System verbundene Institution wird durch die übertragung in das neue System verändert. Sie verliert einige ihrer ursprünglichen Eigenschaften und wirbt neue, so daß schließlich ein Zwitter entsteht. Die Synthese kann nutzbringend sein, wenn sich positive Züge zusammenfügen. In diesem Sinne wird seit Durkheim den großen Einfällen der Völkerwanderungszeit die gegenseitige Durchdringung zwischen der römischen patriarchalischen Familie und der Kleinfamilie, so wie sie heute in Europa vorherrscht, zugeschrieben. Unter anderen Umständen dagegen hat die Mischung eine Bastardisierung hervorgebracht. Zu den feststehenden Redewendungen in der Verfassungsrechtsvergleichung gehört die Feststellung, daß das aus den USA in die lateinamerikanischen Republiken übertragene Präsidialsystem nur Karikaturen hervorgebracht habe. Es ist jedoch überflüssig, Lob und Tadel zu verteilen, denn es genügt, die Rechtskreuzung als Erscheinung festzuhalten. Vor allem wenn es sich um ein ganzes Rechtssystem handelt, ist die angesichts großer historischer Umwälzungen erforderliche Haltung des Absehens von moralischen Bewertungen einzunehmen. So betrachtet der Historiker völlig neutral, wie die Bastardisierung des römischen Rechts in den Provinzen das Vulgärrecht erzeugte und wie sich ein entsprechender Vorgang im islamischen Recht wiederholte (die Orfgesetze) und rechnet vielleicht mit vergleichbaren Umwandlungen in den von den ehemaligen Kolonialmächten in den neuen Staaten Afrikas zurückgelassenen europäischen (englisch- oder französischstämmigen) Rechten. Obschon die primäre Wirkung die bezüglich des Transplantats selbst ist, so dürfen doch nicht die möglichen sekundären Wirkungen, die sich um die Verpflanzungsstelle herum bemerkbar machen und sich im ganzen Sozialkörper verbreiten können, übersehen werden, denn die Rechtsakkulturation kann in diesem Gleichgewichtsstörungen hervorrufen, die weit über die vom Gesetzgeber angelegte Prothese hinauszureichen vermögen. Pathologische Folgen dieser Art sind insbesondere dem im vorigen Jahrhundert auf das Privatrecht der unabhängig gewordenen Balkanländer blasenden Westwind zugeschrieben worden. Liberale und individualistische Kodifikationen im Stile der französischen entsprachen schlecht den noch sehr patriarchalischen Sitten und Gebräuchen dieser Länder. Ein Auflösungsprinzip wie etwa das des Art. 815 des Code civil legte den Keim des Todes in die traditionellen Familiengemeinschaften. Aber im allgemeinen gelang es diesem durch und für eine andere Mentalität geschaffenen Gesetzgebungswerk nicht, in der Bevölkerung Fuß zu fassen. Die Begründung eines wirklichen Kontaktes hätte der Interpreten und noch mehr der zwei Sprachen beherrschenden und der Besänftigung und Schlichtung fähigen Vermittler bedurft. Daher

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2. Teil: Gegenstand der RechtssoziolQgie

rührt das damals in den Balkanländern und heute zweifellos in Schwarzafrika festzustellende Wuchern einer in Frankreich gebildeten und die Schlüssel zu den esoterischen Texten in Händen haltenden Juristenklasse von mittellosen und parasitischen Anwälten, welche die Zahl der Prozesse gewaltig anschwellen läßt und einen Zehnten für die Rechtspraxis in einer Ökonomie der Armut erhebt. b) Die Wirkungen auf die Individuen. Nach einer in der allgemeinen Soziologie vertretenen Meinung gibt es nur dann eine wirkliche Akkulturation, wenn die Persönlichkeit der Individuen von innen her umgewandelt wird. Die Anwendung dieses Kriteriums auf die Rechtsakkulturation setzt voraus, daß auch dem Recht ein Anteil an der Bildung der Persönlichkeit zuerkannt wird. In der Tat, wenn das Rechtssystem dazu beiträgt, das, was man die Psychologie eines Volkes2 nennt, zu formen, so ist es auch naheliegend, daß die Einführung einer fremden Rechtsinstitution sich stets in einer Änderung der geistigen Haltung der eingesessenen Bevölkerung ausdrückt. Wir können z. B. wetten, daß die Einführung des Schecks in das französische Rechtssystem, und zwar nicht einfach durch die gesetzliche Regelung von 1865, sondern durch die effektive übernahme durch das Rechtsleben, die Franzosen weniger empfindlich gegenüber dem Zwang zur Barzahlung gemacht hat. Umgekehrt erweist sich das Mißlingen der Rechtsakkulturation vielfach dadurch, daß das eingeführte Gesetz nicht tiefer ins Bewußtsein der Individuen eindringt; obgleich es nicht unbekannt bleibt, beeinHußt es doch nicht das alltägliche Verhalten. Sehr instruktiv sind in diesem Zusammenhang die Vorgänge, die sich zu Zeiten der französischen Herrschaft in Algerien beim Erwerb der Staatsbürgerschaft durch Mohammedaner abgespielt haben3 • Im Prinzip bedeutete dies die Aufgabe der Unterwerfung unter das Recht des Korans und die Annahme der Institutionen des französischen Zivilrechts sowie die Begründung der Zuständigkeit für die nach französischem Recht entscheidenden gerichtlichen Organe. In der Praxis zeigte sich jedoch, daß unter den im übrigen nicht sehr zahlreichen Mohammedanern, die diesen Antrag gestellt hatten, sehr viele weiterhin in ihrem Familienkreis nach dem islamischen Recht lebten, ihre Prozesse vor den religiösen Richter brachten usw. Dies ging so weit, daß die Rechtsprechung sich weigerte, den Status der Staatsbürgerschaft auf die minderjährigen Kinder dieser Personengruppe zu erstrecken, um nicht die Zahl der unbewußten Franzosen zu vervielfachen. Vgl. S. 37. Siehe die sehr eindrucksvolle Darstellung von J. P. Charnay: La Vie musulmane en Algerie d'apres la jurisprudence de la premiere moitie du xxe siecle, 1965, S. 256 ff. - Vgl. G. H. Bousquet: Loi musulmane et droit europl!en, Revue de psychologie des peuples, 1950. 2

3

2. Kap.: Das Rechtssystem

161

Man muß dazu sagen, daß bei Erwerb der Staatsbürgerschaft, trotz aller Bemühungen der Verwaltung, dies als rein weltlichen Vorgang darzustellen, in der mohammedanischen Volksgruppe leicht der Eindruck eines Abschwörens von der Religion entstehen konnte. Dies war ausreichend, um in manchen Fällen zu einem fast dramatischen Trauma zu führen 4 • Die Zweiheit der Normmodelle war außerdem geeignet, das Individuum einer Art Schizophrenie auszusetzen, wenn es nicht dank seinem Lebenswillen Reaktionen der Verteidigung konstituieren konnte, sei es, daß der exotische Normtypus eliminiert wurde, oder sei es, daß er lediglich als Mittel zur Neuinterpretation und damit zur Fortsetzung des angestammten Normmodells verwandt wurde. In diesem Sinne wird auch bemerkt, daß die in afrikanische Gesellschaften verpflanzte westliche Norm der Einehe dort keine andere Wirkung als die der Umdeutung der ursprünglichen Polygamie nach sich zog, nämlich in Gestalt der Praktizierung vielfacher Konkubinate.

4

Siehe den berichteten Fall, Revue algerienne de legislation, 1924, S. 239;

J. P. Charnay, op. cit., S. 261. 11 Carbonnier

DRITTER TEIL

Methode der Rechtssoziologie Allgemeines Es ist hier keine besondere Originalität seitens der Rechtssoziologie zu erwarten; schließlich wird sie auch bisweilen als Anwendung der soziologischen Methode auf das Recht definiert. Es ist anscheinend von vornherein davon auszugehen, daß ihre Methoden die der allgemeinen Soziologie sind. Die Besonderheit des Gegenstandes kann jedoch auf die zu seiner Erforschung angewandten Mittel zurückwirken und sei es auch nur deshalb, weil dieser in besonderen dokumentarischen Quellen zu finden ist. Dies erklärt, weshalb die besonderen Soziologien (z. B. die Religionssoziologie oder die Wirtschaftssoziologie) stets auch etwas über ihre Methoden zu sagen haben. In noch subtilerer Weise ist dar an zu denken, daß die geistige Vorwegnahme des Gebrauchs der erstrebten Entdeckungen, nämlich die praktische Orientierung der Forschungsarbeit, bereits die Wahl der ins Werk zu setzenden Techniken beeinflußtl. In diesem Maße ist es auch gerechtfertigt, für die Rechtssoziologie Besonderheiten in Gestalt von auf ihre Bedürfnisse abgestimmten Modifikationen der aus der allgemeinen Soziologie übernommenen Methodologie vorzusehen. Die Methode im weiten Sinne verzweigt sich in eine Vielzahl von besonderen Methoden, von denen jede auf dem Niveau, das man als Forschungstaktik bezeichnen kann, ihrerseits wieder zu verschiedenen Techniken führt. Innerhalb dieses Sortiments von Forschungsmitteln sind Klassifizierungen möglich, und wie in allen anderen Wissenschaften ist es bereits klassisch, die (vorherrschende) Beobachtung in strengem Sinne vom Experiment zu unterscheiden. Bei ersterer scheint sich die umfassende Beobachtung (Statistik, Erhebung) klar von der Fallstudie (z. B. der monographischen Methode sowie der Analyse literarischer Fälle 1 Vgl. die Überlegungen von R. Boudon (1967), S. 256, hinsichtlich der vergleichenden Methodologie zwischen der Ökonometrie und der Soziologie: die in diesen beiden Disziplinen verfolgten verschiedenen Zwecke können unterschiedliche Methoden rechtfertigen.

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3. 'l1eil: Methode der RechtssoziologIe

oder von Rechtsfällen) abzuheben. Es besteht jedoch nur ein nicht entscheidender gradueller Unterschied. Ohne behaupten zu wollen, daß unsere eigene Klassifizierung auf einem besser fundierten Kriterium beruht, werden wir im folgenden die Analyse von Dokumenten (rechtlichen wie z. B. Gerichtsentscheidungen oder nichtrechtlichen wie z. B. Presseberichten) von der Tatsachenerhebung (monographische Untersuchung ebenso wie systematische Erhebung) unterscheiden. Hiergegen kann eingewandt werden, daß diese Unterscheidung von der zeitlichen Perspektive abhängt, denn langfristig gesehen verschwimmt sie; die Dokumente berichten von Tatsachen und mußten ihrerseits erst einmal gesucht werden, während die beobachteten Tatsachen wiederum dokumentarisch erfaßt werden und somit ebenfalls für Sekundäranalysen zur Verfügung stehen. Dies trifft besonders auf die Statistiken zu, denn der Soziologe erhält sie als Dokumente. Bald wird man dies auch von den Erhebungen sagen können, denn es ist vorgeschlagen worden, sie in Datenbanken aufzunehmen und so zu archivieren, kaum daß sie an Ort und Stelle erfaßt worden sind. Die von uns getroffene Unterscheidung ist somit nicht zwingend, und wir führen sie auch nur aus pädagogischen Gründen ein, da sie vor allem im Hinblick auf den juristisch gebildeten Forscher die Schwierigkeiten bei den verschiedenen Vorgehensweisen abzustufen vermag. Die Analyse schriftlicher Dokumente, die vor allem aus Bibliotheksarbeit besteht, ist am leichtesten zugänglich. Die Tatsachenerhebung dagegen ist sehr viel anspruchsvoller, da hierfür Feldforschung betrieben werden muß (auch wenn man sich hinsichtlich der Durchführung auf andere verläßt, wie man es bezüglich der Statistiken feststellen kann). So verschieden die in der Rechtssoziologie praktizierten Methoden auch sind, so sind sie doch von gemeinsamen Grundsätzen beherrscht. Zwei davon dürfen in unseren Augen nicht beiseite gelassen werden. Dazu gehört natürlich die Regel der Objektivität, aber auch das Prinzip der historisch-vergleichenden Methode, denn man muß letztere unseres Erachtens weniger als eine besondere Methode denn als einen Schlüssel, der überall zu verwenden ist, ansehen.

Erstes Kapitel

Die Grundsätze 1. Das Prinzip der Objektivität Am Anfang war die Subjektivität. Jede Wissenschaft beginnt mit einer persönlichen Erfahrung, und Forschen bedeutet zunächst Besinnung auf Erinnerungen. Dieser empirische Subjektivismus hat wohl die Rechtssoziologie mehr als andere Disziplinen geprägt. Das liegt daran, daß sie zu Beginn weitgehend von Juristen gepflegt wurde, und ein Jurist neigt stets dazu, seine eigenen Rechtserfahrungen als soziologische Wirklichkeit anzusehen. Diese Erfahrungen sind aber zwangsläufig sehr begrenzt und haben darüber hinaus sowohl beim Richter als auch beim Rechtsanwalt Streitfälle zum Gegenstand, die wiederum nur ein verzerrtes Bild von der Wirklichkeit ergeben und ihrerseits diese Art der Kenntnisnahme deformieren. Noch heute kann man davon ausgehen, daß die auf der Erinnerung an eigene juristische Tätigkeiten beruhende persönliche Kenntnis der Rechtssoziologen ein bedeutendes Hindernis für die Bildung einer wissenschaftlichen Rechtssoziologie darstellt, und zwar nicht nur, weil es kein gemeinsames Maß für die Gesamtheit der Rechtswirklichkeit einerseits und die kleine Anzahl von Prozessen, von denen ein Praktiker persönliche Kenntnis haben kann andererseits, gibt, sondern auch weil die anläßlich eines Prozesses gemachten Beobachtungen stark von der hierbei ausgeübten Funktion beeinflußt werden. Bei einem Richter z. B. ist zu befürchten, daß für ihn seine rechtlich am besten begründeten Urteile nur ebensoviele nicht zu beseitigende Vorurteile bilden, wenn er sich deren als soziologisches Material bedienen will. Bei dieser Sachlage bedurfte es des Kommens von Durkheim. Dieser hat zu Beginn seiner "Regeln der soziologischen Methode" verlangt, die soziologischen Tatbestände wie Sachen zu behandeln. Auch für die Rechtssoziologie gibt es kein fundamentaleres Prinzip als dies, das Recht wie eine Sache zu betrachten. Es kann sogar sein, daß sie durch diese Forderung am besten gegenüber dem dogmatischen Recht abgegrenzt wird, denn das Recht ist für sie nicht Recht, sondern eine Sache oder genauer eine Vielzahl von Dingen, die sie von außen untersucht.

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3. Teil: Methode der Rechtssoziologie

Die Objektivität kann indessen auf zwei Arten verstanden werden: als Objektivierung und als Unparteilichkeit. Beide Aspekte, der eine wissenschaftlich, der andere moralisch, sind vom Forscher streng zu beachten. Aber vielleicht verabsolutiert man sie nicht mehr so sehr wie Durkheim, denn es wird heute selbst in der allgemeinen Soziologie sehr differenziert, und dasselbe gilt für die Rechtssoziologie. 2. Die Objektivierung

Durch dieses Erfordernis der Objektivierung wird der Soziologie klar gemacht, daß sie von den beobachteten Erscheinungen alles Persönliche (nicht Allgemeine) und rein Innerliche (nicht sinnlich Wahrnehmbare) fernzuhalten hat. So erklärt sich auch die von den in der Durkheimschen Tradition stehenden Rechtssoziologen gezeigte Vorliebe für die Rechtsnorm (von Natur aus unpersönlich) sowie für die Rechtsakte von formalem Charakter (die durch ein Gerippe von Förmlichkeiten veräußerlicht werden). Hier erkennt man aber auch schon die Grenzen einer derartigen Soziologie, die für archaische Gesellschaften konzipiert wurde, in denen alle Gewohnheiten anscheinend unnachgiebig sind und kein Vertrag ohne festliegendes Zeremoniell abgeschlossen wird. Dies trifft jedoch auf moderne Gesellschaften nicht zu, denn in diesen ist das Gesetz durch Bereiche der Ineffektivität abgeschwächt, und bereits äußerst schwach ausgedrückte Willensübereinstimmungen können Rechtswirkungen entfalten. Dazu kommt, daß eine Rechtssoziologie, die sich weder mit Urteilen noch mit Rechtsverhältnissen befassen würde, in unseren Augen eine außerordentlich trockene Angelegenheit wäre. Das Urteil wiederum läßt sich nicht leicht isoliert von der Persönlichkeit des Richters und der Parteien betrachten, und schließlich bleibt beim Rechtsverhältnis wohl immer ein Teil rein innerlich. Wenn man sich ein vollständiges Bild vom Recht machen will, so muß man somit auch die subjektiven Erscheinungen einbeziehen, und diese wiederum muß der Soziologe von der Seite aus anpacken, die in gewisser Weise objektiviert ist, d. h. da, wo am ehesten von ihren individuellen und psychologischen Aspekten abstrahiert werden kann. Selbst wenn man die Forderung Durkheims nicht mehr als ehernes Gesetz ansieht, so bleibt dieser Rat doch gültig. Wenn man sich z. B. für die Störungen des Gefühlslebens bei Geschiedenen interessiert, so untersucht man zweckmäßigerweise nicht die Gefühle unmittelbar, sondern mißt das verschieden häufige Vorkommen von Selbstmorden innerhalb der einzelnen Kategorien1 • Bei der Einschätzung der Erziehungsleistungen unver1 Vgl. z. B. W. Goode: Women in divorce, 1965. In dem von diesem Autor konstruierten Fragebogen zur Erfassung des Scheidungstraumas bei den Frauen dienten einige Fragen der Objektivierung der psychologischen Störung. Z. B. S. 362: "Haben Sie gleich nach ihrer Trennung größere Schwierigkeiten gehabt,

1. Kap.: Die Grundsätze

167

heiratet er Mütter tut man ebenfalls gut daran, von einem unscharfen qualitativen Urteil über gute oder schlechte Erziehung abzusehen und statt dessen objektive Indikatoren wie die Schulzeugnisse und die Kriminalität der unehelichen Kinder zu studieren. 3. Die Unparteilichkeit

Das Erfordernis der Unparteilichkeit scheint selbst für die Parteiischsten selbstverständlich zu sein (in der Rechtssoziologie gab es berühmte Beispiele hierfür, so Le Play für die Testierfreiheit und Gurvitch in seiner Parteinahme für das Sozialrecht). Für den von der Rechtswissenschaft herkommenden Soziologen bedeutet dies ein wenig ins Auge fallendes und doch schwer zu erbringendes Opfer von all seinen juristischen Vorurteilen. Er muß aufhören, unter sein Naturrecht und vor allem unter sein bei ihm zum bedingten Reflex gewordenes positives Recht zu subsumieren und sich daran gewöhnen, auf dieselbe agnostische Weise das Recht, das Faktum und sogar die Rechtsverletzung, also etwa die Ehe, das Konkubinat und den Ehebruch, zu betrachten. Selbstverständlich werden ihm aber die von der Soziologie herkommenden Soziologen genauso wie ihnen selbst zubilligen, daß das werturteilsfreie Studium einer Rechtsverletzung nicht bedeutet, daß diese Erscheinung damit als rechtmäßig oder daß sie von vornherein als normal anzusehen ist. Die von der Gesellschaft zum Ausdruck gebrachte Mißbilligung ist ein Teil des Phänomens, sie darf aber nicht Teil des Betrachters sein. Vor allem da, wo die Rechtslösungen von einer ethischen oder politischen Stellungnahme abhängen, was für das öffentliche Recht und mehrere wichtige Bereiche des Zivilrechts gilt (die Familie, das Eigentum usw.), darf sich die Rechtssoziologie erst nach einer Reinigung von unausgesprochenen Werturteilen ans Werk begeben. Aber mehr noch als vor dem, was man die konkreten Vorurteile nennen könnte, hat sie sich vor einem gewissen allgemeinen Vorurteil zu fürchten, das mit der grundsätzlichen Haltung jedes Einzelnen gegenüber seinem Rechtssystem zusammenhängt, nämlich mit der Frage, ob zu bewahren oder zu reformieren ist. In jedem positivem Recht gibt es eine Partei der Bewegung und eine solche des Widerstandes, auch wenn die politische Färbung zeitbedingt ist (seit 1804 war die Verwerfung des Code civil der Reihe nach eine rechte und dann eine linke Idee). Manche Forscher abends einzuschlafen? ... Haben Sie seit diesem Zeitpunkt mehr geraucht? ... Sofern Ihr Tabakverbrauch höher war, war er stärker ausgeprägt in der Zeit a) in der Sie den endgültigen Scheidungsentschluß gefaßt hatten oder b) in der Sie sich endgültig getrennt hatten oder c) in der Sie die erste Rechtshandlung vollzogen hatten oder d) in der das abschließende Urteil bereits ergangen war oder e) jetzt?"

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3. 'I1eil: Methode der Rechtssoziologie

sind hinsichtlich der Veränderung wenig aufgeschlossen und damit auch wenig geneigt, sie festzustellen. Heute überwiegt jedoch zweifellos die Zahl der eifrigen Futuristen. Für eine objektive Rechtssoziologie liegt in beiden Fällen die Gefahr auf der Hand. Es trifft zu, daß laut gewissen Strömungen in der zeitgenössischen Soziologie eine gewisse Subjektivität nicht mit dem Streben nach Wahrheit unvereinbar ist. In diesen Richtungen der allgemeinen Soziologie kann man eine Fernwirkung des Existenzialismus sehen, deren übertragung auf die Rechtssoziologie keine Schwierigkeiten bereitet. Nach dieser These findet sich das Wirkliche nicht so sehr in den Institutionen als in den jeweiligen Verhältnissen, und die Wirklichkeit eines Rechtsverhältnisses muß mehr durch persönliche, existentielle Erlebnisse erfahren werden als durch Betrachtungen von außen. Danach wäre z. B. die Untersuchung einer Arbeiterfamilie von außen zu einer mehr oder weniger bürgerlichen Sichtweise verurteilt, und die vorgebliche Objektivität führte in Wirklichkeit zu einer Entstellung. Besser wäre ein Eindringen in die Materie (der Arbeiterfamilie in diesem Fall) von innen durch Teilnahme an ihrem Alltagsleben sowie nötigenfalls auch an ihren Gefühlen oder sogar ihren Vorurteilen!. Dies erfordert neue Techniken wie die teilnehmende Beobachtung in Gestalt einer mitfühlenden Untersuchung, bei der der Forscher versucht, sich in das zu studierende Milieu zu integrieren und dessen Arten zu leben, zu denken und zu fühlen zumindest vorübergehend zu übernehmen; nach Abschluß der Untersuchung sind dann die Eindrücke neu zu ordnen2 • Dieses Vorgehen könnte sich aber auch in ähnlicher Form wie das Schreiben eines Romans abspielen (so wie Flav,bert sich in Madame Bovary hineinlebte), und der Soziologe hätte hierbei vermittels der Kraft seiner Vorstellung das zu behandelnde Rechtsverhältnis selbst nachzuerleben 3 • Zum Stu1 Diese These wurde auch in der Ethnologie vertreten. Um die besonders tiefgründigen Aspekte des Rechts eines primitiven Stammes zu erfassen, soll es außerordentlich vorteilhaft für den Forscher sein, sich von diesem Stamm zunächst adoptieren zu lassen (es handelt sich hier um eine Adoption im rechtlichen Sinn, denn viele dieser Gesellschaften kennen ein Verfahren zur Begründung künstlicher Verwandtschaftsbeziehungen). Nicht alle Ethnologen sind jedoch dieser Ansicht. Griaule vertritt die Auffassung, daß in dem Stamm, in den sich der Forscher einfügen will, dadurch Mißtrauen erzeugt werde, während er weniger Zurückhaltung bei der Praktizierung seiner Bräuche gegenüber einem eindeutig Fremden zeige, gerade weil er auf Grund seiner Fremdheit als unfähig erscheine, wirklich in die Geheimnisse einzudringen. Vgl. Roger Bastide, A. S. 1968, S. 297 ff. 2 Vgl. Duvignaud: Introduction a la sociologie, 1966, S. 99 ff. 3 Diese Technik der phantasievollen Soziologie schwankt zwischen zwei Polen: einem mehr literarischen und intuitiven, wofür der bemerkenswerte Roman von Henry James: What Maisie knew (1897) als Beispiel dienen mag, der im Grunde eine (rechtliche) Sozialpsychologie der Scheidung auf der Basis der Bewußtseinszustände eines Kindes geschiedener Eltern ist; der mehr wissenschaftliche und auf Dokumentation beruhende Pol wird durch das eindrucksvolle Werk von Joüno des Longrais: L'Est et l'Ouest, 1958, illustriert, in dem vor

1. Kap.: Die Grundsätz'e

169

dium der Sklaverei in Rom müßte er sich somit in die Haut eines Sklaven versetzen (denn dieses Verfahren eignet sich für die geschichtsbezogene Soziologie). Man könnte also meinen, daß dann, wenn der Gegenstand subjektiv ist, eine subjektive Analyse ein Mittel zur Herstellung der Objektivität ist. Das dogmatische Recht verfügt jedoch über ein ihm eigenes, ganz anderes Mittel, um Objektivität durch Subjektivität zu erreichen, und zwar die Konfrontation zweier entgegengesetzter Subjektivitäten; dies ist das Verfahrensprinzip der streitigen Verhandlung (Art. 14 bis 17 der französischen Verfahrensverordnung vom 9. September 1971), des einzigen Zugangs zur gerichtlichen Wahrheit. Wenn das Recht der Soziologie ein Geschenk zu machen hätte, käme dann nicht diese Erkenntnistheorie in Frage? In seiner reinsten Form, derjenigen des Zivilrechts, glaubt das Recht nicht nur an eine bloß relative und für den praktischen Zweck der Befriedung angenommene Wahrheit, sondern betont auch, daß diese nur aus dem Zusammenprall zweier entgegengesetzter Parteilichkeiten, aus dem geregelten Konflikt zweier gegensätzlicher Auffassungen entspringen kann. Die Tatsache, daß der Konflikt durch die Entscheidung eines Dritten gelöst wird, so wichtig sie auch ist, stellt nicht die eigentliche schöpferische Leistung dar, denn der Ausspruch des Richters kann nur eine Wahl (wobei es nicht darauf ankommt, ob diese Entscheidung auf rationale oder rein zufällige Weise gefunden wird) oder eine Wahlkombination zwischen beiden bereits vorgetragenen streitigen Sachverhalten beinhalten. Dieses Fortschreiten vermittels Gegensätzlichkeiten läßt in gewisser Hinsicht an Dialektik denken. Es unterscheidet sich hiervon jedoch, denn im Prozeß erscheinen These und Antithese simultan und nicht konsekutiv, und normalerweise tendiert die eine zur Eliminierung der anderen und nicht zur Synthese. Die vom Recht kommende Erkenntnistheorie wäre von der Rechtssoziologie am einfachsten durch Anpassung ihrer Untersuchungsmethoden ins Werk zu setzen, indem die einseitige Untersuchung durch die kontradiktorische Untersuchung ersetzt wird (so wie es in Art. 252 der französischen Zivilprozeßordnung steht: bei der Ermittlung ist der Gegenbeweis rechtens). Untersuchung und Gegenuntersuchung wären jeweils von einem anderen, auf Grund der bestehenden überzeugungen jeweils homogen zusammengesetzten Team durchzuführen. Es bedarf jedoch nicht einer endgültigen Beschlußfassung durch einen als Schiedsrichter fungierenden Dritten, denn beim Prozeß der wissenschaftlichen Arbeit gibt es keinen anderen Richter als die jeweilige Meinung darüber, und er kann ohne jede Beeinträchtigung des öffentlichen Friedens ewig unentschieden bleiben, sofern sich nicht eine der Parteien durch allem das japanische Feudalsystem als Rechtsverhältnis vermittels des Alltagslebens einer Bauernfamilie erlebt wird.

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3. 'I1ei1: Methode der Rechtssoziologie

ihr eigenes Gewicht durchsetzt. Wenn man davon ausgeht, daß im gegenwärtigen einseitigen Forschungssystem der Forscher von einer Arbeitshypothese ausgeht, die zumindest unbewußt seine Tätigkeit fesselt und diese damit parteiisch macht, so wird man es für ein vernünftiges Mittel zur Wiederherstellung der Objektivität halten, einen Gegenpol zum Zweck der Erarbeitung und Verteidigung der Gegenthese sowie für deren Beweisführung ins Leben zu rufen4 • 4. Die historisch-vergleichende Methode Sowohl in der Rechtssoziologie als auch in der allgemeinen Soziologie ist es das älteste Verfahren!, und schon Montesquieu hatte sich dessen instinktiv bedient. In unseren Tagen ist es von Autoren wie Marcel Mauss oder Louis Gernet mit reicheren Mitteln und in systematischerer Weise wiederaufgenommen worden 2 • Obwohl die Bezeichnung sich durchgesetzt hat, ist sie doch nicht eindeutig, denn die einen verstehen hierunter eine bloße Anwendung der komparativen Methode auf die Geschichte, während die anderen sie als Vergleichung im allgemeinen, unter Einschluß der historischen Dimension der Erscheinungen, auffassen. Bei den Juristen besteht die Versuchung, die beiden Komponenten auf die ihnen vertrauten Disziplinen der Rechtsgeschichte und der Rechtsvergleichung aufzuteilen und in der historisch-vergleichenden Methode nur eine Neuauflage dieser beiden Fachrichtungen in soziologischem Geist zu sehen. Zur Unklarheit trägt bei, daß man auch von einer vergleichenden Methode an sich, ohne jeden Zusatz, spricht, indem man aus ihr weniger eine selbständige Methode als eine auf jede andere Methode anwendbare Modalität macht, z. B. in bezug auf die quantitativen Methoden (man kann die französische mit der englischen Scheidungsstatistik konfrontieren oder bei einer Befragung die Antworten der verschiedenen sozialen Kategorien miteinander vergleichen). Man erreicht so einen 4 Es ist nicht vermessen, einen diskreten Gebrauch des kontradiktorischen Verfahrens in der von den zeitgenössischen Ethnologen propagierten Dialogtechnik zu sehen. Sie führen in der Tat zu einem Dialog zwischen einem zivilisierten Forscher und nichtzivilisierten Befragten, der auch die jeweiligen Rechtssysteme betreffen kann, wobei die beiden gegensätzlichen Auffassungen miteinander konfrontiert werden. Dieser Gedanke der kreuzweisen Untersuchung ließe sich weiter entwickeln, und man könnte so zu einer Diskussion über die ergangene Entscheidung zwischen Richter und Rechtsunterworfenen oder zu einer Debatte zwischen dem Gericht, den Anwälten und den geschiedenen Ehegatten kommen sowie zu einem derartigen Gespräch über den konkreten Fall der Bewährung zwischen demjenigen, der sich bewähren muß, und dem Bewährungshelfer usw. 1 über die historisch-vergleichende Methode im allgemeinen siehe A. Cuvillier: Introduction a la sociologie, 1960, S. 133. 2 S. o. S. 75 Anm. 11 und 12.

1. Kap.: Die Grundsätze

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derartigen Grad der Allgemeinheit, daß dann die Rechtssoziologie als die aufs Recht angewandte komparative Methode definiert werden kann. Aus diesen Bestrebungen zur Abstraktion ist jedoch eine Lehre zu ziehen, nämlich die, daß die in ihrem Doppelaspekt intakte historischvergleichende Methode das methodologische Kompendium der Rechtssoziologie darstellt. Im Grunde erscheint sie nicht als ein sich selbst genügendes Forschungsinstrument, sondern als ein zweifaches geistiges Vorgehen, in welchem die zuvor von beliebigen anderen Methoden erfaßten Daten überarbeitet werden. Es handelt sich sehr wohl um ein zweifaches Vorgehen, denn die historische Dimension ist nicht überflüssig, da sie die Existenz eines nicht unbedingt komparativen geschichtlichen Aspekts unterstreicht. Das Studium eines Systems oder einer Institution in ihrer Kontinuität kann schon für sich genommen eine Erklärung erbringen, ja sogar eine solche der Kausalität. Zwischen den beiden Aspekten besteht selbstverständlich eine Beziehung, denn auf der einen Seite kann auch die Geschichte komparativ sein, und auf der anderen gibt es auch diachronische Vergleichung. Es ist jedoch vorteilhaft, die beiden Aspekte der Methode getrennt darzustellen.

5. Der historische Aspekt der Methode Um die historische Methode im Reinzustand zu erfassen, empfiehlt es sich, über einen historisch einzigartigen Gegenstand, der sich anscheinend weder im Raum noch in der Zeit wiederholt hat, ein System, eine Institution, einen Fall oder gar eine Gesellschaft, d. h. ein Bündel von Fällen bzw. eine Addition von Rechtserscheinungen, überlegungen anzustellen. Die Begrenztheit der Perspektive bei einer solchen Methode würde zu einem passiven Fluß der Beschreibung führen. Es ist allerdings selten, daß sich ein Historiker auf das Führen einer Chronik beschränkt, denn selbst die am meisten situationsgebundene Geschichte weist Verbindungen zwischen Tatsachen auf und läßt eine Rationalität durchscheinen. Die in der Rechtssoziologie angewandte historische Methode besteht zunächst darin, die Rechtserscheinungen rational zu erfassen, und zwar nicht in einem Augenblickszustand, sondern im Verlaufe ihrer Entwicklung. Noch tiefer greift die weitere Forderung nach Erklärung der Rechtserscheinungen. Es handelt sich hier um eine besondere Art der kausalen Erklärung, denn anstatt wie bei der vergleichenden Methode auf der Grundlage einer Vielzahl übereinstimmender Beobachtungen zu induzieren, zeigt sie auf, wie bei zwei aufeinanderfolgen den Erscheinungen, vor allem zwei Institutionen, im Wege der Wandlungen der einen die andere erzeugt wurde. Diese Art der Kausalerklärung, die man als

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3. 'Dei1: Methode der Hechtssoziologie

genetisch bezeichnen kann, ist in der Rechtssoziologie nicht weniger beweiskräftig, um eine Norm zu erklären, als in der Linguistik die Etymologie, um ein Wort zu erklären. Man mag sich fragen, worin der Unterschied zwischen der von der Rechtssoziologie praktizierten historischen Methode und der Rechtsgeschichte liegt, da doch beide die Rechtsinstitutionen zum Gegenstand haben, diese erklären und nicht nur beschreiben wollen und danach streben, Ursache-Wirkungs-Beziehungen zwischen den Rechtserscheinungen und anderen Erscheinungen zu erkennen. Zugegebenermaßen steht ein soziologisch interessierter Historiker einem historisch interessierten Soziologen sehr nahe l . Alles, was man sagen kann, ist, daß in bestimmten Bereichen die Zuständigkeit des Soziologen als natürlicher erscheint, wie etwa bei den Kollektiverscheinungen, im Gegensatz zu den Institutionen. Die Institution der Ehe in der Zeit vor 1789 fällt so in den Zuständigkeitsbereich des Rechtshistorikers, die Heiratsfrequenz im 17. und 18. J ahrhundert dagegen in den des historisch vorgehenden Soziologen bzw. Demographen. Außerdem werden seitens dieser beiden Disziplinen nicht dieselben Phänomene mit dem Recht in Verbindung gebracht. So versucht die historisch orientierte Rechtssoziologie über den juristischen Gesetzgeber hinaus, bei dem die Rechtsgeschichte inne halten kann (dem Kaiser, der das Gesetz dekretierte, oder dem Parlament, das ein solches beschloß), bei der Erforschung der Ursachen bis zu den unpersönlichen Kräften, den sozialen, wirtschaftlichen, moralischen oder religiösen Bedürfnissen, denen das Gesetz seine Entstehung verdankt, vorzudringen. Bei der Untersuchung der Ursachen besteht eine analoge Arbeitsteilung. Der Historiker befaßt sich mit den eigentlichen Rechtswirkungen, den gerichtlichen Reaktionen, den Interpretationen, den ergänzenden Reformen und den Aufhebungen, während der historisch vorgehende Soziologe die sozialen Wirkungen im weitesten Sinn erforscht, nämlich die Aufnahme durch die öffentliche Meinung, die Gestaltung der Sitten, die ökonomischen Folgen sowie die Effektivität oder Ineffektivität. 6. Der komparative Aspekt der Methode Die Anwendung der komparativen Methode setzt die Vergleichbarkeit der Begriffe und Rechtsinstitutionen voraus. Es wäre Unsinn, zwei völlig heterogene Erscheinungen miteinander vergleichen zu wollen. Umgekehrt hätte es auch keinen Sinn, zwei identische Erscheinungen einander gegenüber zu stellen (es sei denn, es handle sich um eine Erfassung der1 Wo wäre z. B. Gabriel Le Bras einzuordnen (vgl. seinen Artikel: Capacite personnelle et structures sociales dans le tres ancien droit de Rome, Melanges H . Levy-Bruhl, 1959, S. 417 f.)? Vgl. J. Gaudemet: Histoire et sociologie dans l'oeuvre de G. Le Bras, A.S., 1969, S. 303.

1. Kap.: Die Grundsätze

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selben Erscheinung zu verschiedenen Zeitpunkten). Die Namensähnlichkeiten oder - Unähnlichkeiten sind in dieser Beziehung keine sehr zuverlässigen Indikatoren, denn trotz verschiedener Bezeichnungen läßt sich im römischen Recht nutzbringend die arrogatio mit der adoptio vergleichen, während die römische Adoption praktisch nicht mit der französischen gern. dem Gesetz von 1966 vergleichbar ist. Die vergleichende Methode bedarf einer gesicherten Typologie. Sobald diese Voraussetzung erfüllt ist, kann die Vergleichung durchgeführt werden. Dies kann jedoch auf mehr oder weniger systematische Weise geschehen. Es gibt eine Art der Vergleichung, die der literarischen Gegenüberstellung nahe kommt und bei der man sich damit begnügt, Analogien und Gegensätze an Hand einiger empirischer Grundsätze wie alles Allgemeine ist wichtig und alles Individuelle ist zweitrangig aufzuzeigen und zu klassifizieren. Damit gelangt man noch nicht zu Kausalgesetzen, wohl aber zu Hypothesen über das Wesen der Institutionen1 • Das Aufstellen von Kausalgesetzen bedarf einer strenger gehandhabten vergleichenden Methode. Es ist bekannt, wie Durkheim sich bemüht hat, die vier von den Naturwissenschaften inspirierten Grundsätze der Theorie von Stuart MiH auf die Soziologien zu übertragen. Hiervon erschien ihm mit Recht derjenige der gleichzeitigen Veränderungen am fruchtbarsten, und seine Anwendung sollte zu einer dem Experiment (seiner Auffassung nach in den Sozialwissenschaften nicht möglich) gleichwertigen Gewißheit führen. Die parallel verlaufende Veränderung zweier verschiedener Erscheinungen gestattet dann, wenn sie in hinreichend vielen und verschiedenartigen Fällen erwiesen ist, den Schluß auf eine Beziehung zwischen diesen 2 • Das ist zumindest die ursprüngliche, sche1 So kann man die TextsteHe von Tacitus (Annalen, 86) über die Tochter des Fonteius Agrippa, der man die Oberpriesterschaft der Vestalinnen verweigerte, weil die Ehe ihres Vaters zerrüttet war, mit der Entscheidung der Zivilkammer vom 18. Mai 1966 (BuH., civ. 1966-2-583), wonach der Sohn einer geschiedenen Frau einen Schaden geltend machen kann, wenn der Status seiner Mutter durch einen Dritten seinem Arbeitgeber mitgeteilt wird, vergleichen. Hieraus läßt sich die Hypothese ableiten, daß in sehr verschiedenen Rechtssystemen und soziokulturellen Zusammenhängen die Scheidung in konstanter Weise als anormale Familienerscheinung gilt. (Vgl. Verwaltungsgericht Rennes, 9. Dezember 1970; Chambery, 22. Oktober 1970, D. 71-313, Anmerkung DemicheI). 2 Wenn wir in der Aufeinanderfolge der sozialen Systeme feststellen könnten, daß die Entwicklung des Konsensualprinzips verschiedentlich mit der Entwicklung der Städte einher geht, so wäre hieraus der Schluß auf eine Beziehung zwischen der Ablehnung des Formalismus und der städtischen Kultur möglich. In ähnlicher Weise wären wir berechtigt, auf der Grundlage einer Abnahme der Geburtenfrequenz bei gleichzeitiger Zunahme der Ehescheidungen in verschiedenen Ländern eine negative Korrelation zwischen diesen beiden Erscheinungen anzunehmen. Man hat jedoch zu beachten, daß eine Feststellung von Korrelationen noch keine volle Erhellung der Kausalitätsbeziehungen bedeutet (vgl. S. 247), denn es kann auch so liegen, daß keine der beiden Erscheinungen Ursache der anderen ist, sondern daß beide (Abnahme der Geburtenzahl und Scheidungsneigung) Wirkungen derselben unbeachtet geblie-

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3. '!Ieil : Methode der Rechtssoziologie

matische Sicht. In neuerer Zeit haben die Fortschritte der mathematischen Analyse eine exaktere Neuformulierung ermöglicht3 • Bei den zwei oder drei anderen Verfahren von Stuart Mill (übereinstimmung oder Verschiedenheit, ganz zu schweigen von den Residuen) zweifelte Durkheim stark an ihrem Wert für die Soziologie, und sein für den nach vollständiger Klarheit strebenden Forscher entmutigender Einwand, wonach die sozialen Tatbestände zu komplex dafür wären, trifft gewiß in gleicher Weise auf die Rechtserscheinungen zu (die besonders verwickelt sind)4. Dies erklärt auch eine weit verbreitete Art der Vergleichung, bei der sich ein Ansatz der Konkordanzmethode mit einem Beginn des Verfahrens der gleichzeitigen Veränderungen vereint. Wenn man in verschiedenen Rechtssystemen gleichzeitig dieselben Erscheinungen findet (eine statische Anwesenheit, nicht eine solche der Veränderungen), so vermutet man das Vorliegen einer Korrelation und ahnt eine Kausalitätsbeziehung. Normalerweise besteht eines der beiden Glieder aus einer Rechtserscheinung (einer Norm oder Institution) und das andere aus einer nichtrechtlichen (geographischen, demographischen, ökonomischen, politischen usw.), und herkömmlicherweise wird das eine als Ursache des anderen angesehen. Montesquieu z. B. beobachtete eine bestimmte rechtlichwirtschaftliche Beziehung bei den Tartaren, in einigen englischen Bezirken und im Herzogtum Rohan, nämlich die einer Herdenwirtschaft mit Jüngstenerbfolge, und schloß daraus auf eine notwendige Beziehung zwischen diesen beiden Erscheinungen. Man kann dies auch als das Verfahren der frappierenden übereinstimmungen bezeichnen. Es handelt sich hierbei um die vorwissenschaftliche Form der vergleichenden Methode. Dennoch kann sie zutreffende Resultate liefern, weshalb sie nach wie vor praktiziert wird, abgesehen von ihrer leichten Handhabung und möglichen intellektuellen Brillanz. benen Ursache sind (wie etwa einer Änderung der Ehemoral). Es kann sich aber auch eine dritte Erscheinung dazwischen schieben, die Wirkung der einen und Ursache der anderen ist (eine durch die Verstädterung bedingte Ausweitung des Handels hat ihrerseits den Rückgang des Formalismus bewirken können). 3 Vgl. R. Boudon (1967), S. 40 f. ( Die zwischen dem deutschen und dem französischen Rechtssystem hinsichtlich der Grundstücksübereignung bestehenden Unterschiede sind bekannt; auf der einen Seite existiert nur ein schlichtes Verfahren der Wirksamkeit gegenüber Dritten, und auf der anderen Seite hat die Eintragung ins Grundbuch konstitutive Bedeutung. Wenn die Anzahl der Prozesse in Grundstückssachen im Verhältnis zur Bevölkerung in Frankreich größer als in Deutschland wäre, so erschiene es als vernünftig, diesen Unterschied den ungleichen Rechtssystemen zuzuschreiben. Dabei würde man aber sehr viele andere Faktoren außer acht lassen, wie etwa die unterschiedliche Neigung zu prozessieren, was die Eigentümer betrifft, oder die mehr oder weniger ausgeprägte Parzellierung der Grundstücke.

1. Kap.: Die Grundsätze

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Wir bemerkten bereits, daß Montesquieu in gewisser Weise den Strukturalismus vorweg nahm, und sind deshalb auch nicht erstaunt, daß etwas von seinem Vorgehen in der vom modernen Strukturalismus verwendeten vergleichenden Methode wiederkehrt. Dieser greift zunächst eine geringe Anzahl von Rechtserscheinungen heraus und definiert diese als Struktur. Danach wird deren Existenz oder Nichtexistenz in verschiedenen, eine Folge bildenden Rechtssystemen überprüft. Die auf diese Art gefundenen und schematisch erfaßten übereinstimmungen oder Unterschiede dienen nicht der Entdeckung von Kausalitäten, sondern der Konstruktion eines Klassifikationssystems, das allerdings kein Selbstzweck ist, sondern zumindest zum Ergebnis hat, diese oder jene theoretisch mögliche Beziehung in der verborgenen Wirklichkeit von Rechtssystemen finden zu lassen, wo sie auf den ersten Blick nicht zu erkennen ist. Zweifellos hat die strukturalistische Methode in der Ethnologie ihre markantesten Ergebnisse erzielt, und zwar durch ihre auf Beobachtungen beruhenden Klassifikationsschemata der Verwandtschaftsbeziehungen oder der Grundbesitzsysteme 5 , doch neigt sie darüber hinaus zur Verallgemeinerunge.

5 Etienne Le Roy: Systeme foncier et developpement rural; essai d'anthropologie juridique sur la repartition des terres chez les Wolof ruraux de la zone arachidiere du Nord Senegal, verfielfältigte juristische Diss., Paris 1970. 6 Vgl. als symptomatisch für diese Tendenz den Artikel von Richard Schwartz: Legal evolution and societal complexity, A.J.S. 70 (1965), S. 159 ff. Der Autor beginnt mit der Herausarbeitung von drei für den Rechtszustand charakteristischen Elementen: der Verteidiger (Spezialist, um der Partei im Prozeß zu helfen; früher von den Verwandten eingenommene Rolle), der Vermittler (Richter oder Schiedsmann) und der Träger einer polizeilichen oder repressiven Macht. Danach klassifiziert er die 58 von ihm erfaßten archaischen oder modernen Gesellschaften hinsichtlich der möglichen Verbindungen dieser drei Elemente, und zwar in einer Reihenfolge gemäß der mehr oder weniger starken Ausprägung des Rechtszustandes.

Zweites Kapitel

Die Analyse von Dokumenten 1. Begriff und Unterscheidungen Ein Dokument im strengen Sinne, sei es nun ein Buch, irgendein Schriftstück, ja sogar ein Bild oder vielleicht eines Tages ein akustisches Dokument! kann, selbst wenn es als solches nicht rechtlich ist, doch etwas für die Rechtssoziologie Interessantes enthalen. Die Inhaltsanalyse bietet sich zur Entzifferung dieser Mitteilungen an. In der allgemeinen Soziologie hat sich bereits ihre Nützlichkeit erwiesen2 , und ihre übertragung auf die Rechtssoziologie bereitet keine Schwierigkeiten, da sie den Vorteil hat, von vornherein den geistigen Gewohnheiten der Juristen und in diesem Sinne auch dem Recht selbst angepaßt zu sein, da dieses sich ja in Gestalt von Texten darbietet. Dieses Verfahren scheint anspruchslos zu sein und dem allein arbeitenden, sozusagen handwerklich tätigen Forscher offen zu stehen. Es besteht hier die Auffassung, daß jede aufmerksame Lektüre eine Inhalts1 Eine vergleichende Untersuchung der Rechtlichkeit von Lauten ist noch nicht durchgeführt worden. Es gibt jedoch rechtlich gefärbte Tonhöhen. In jeder Gesellschaft vermag das menschliche Ohr die Kommandostimme, die Stimme der Aufforderung (welche in Frankreich, unterstützt von Pauken, Trommelwirbel oder Trompetenschall, Menschenansammlungen zerstreut, gern. der Verordnung vom 26. Juli 1791 sowie den Gesetzen vom 10. April 1831 und 7. Juni 1848), die Stimme der Bedrohung oder Beleidigung usw. zu unterscheiden. In den Verhandlungen aufgenommene Urteilsverkündungen ergäben Unterschiede zwischen Richtern und Gerichten sowie zwischen den vorgetragenen Tatbeständen und den Urteilsgründen. Das leichte Stammeln des Brid'oison von Beaumarchais hat ebenfalls sozialpsychologische Bedeutung. Weiterhin kann man sich fragen, ob die Musik rechtliche Vorstellungen erwecken kann. Richard Wagner z. B. brachte den Vertrag in die Musik ein. Im altgermanischen Recht kam ein Vertrag erst zustande, nachdem der Gläubiger dem Schuldner einen Stab auf die Schulter gelegt hatte. Im Ring der Nibelungen suggeriert eine in Halbtönen absteigende Klangfolge das langsame Senken des Stabes. Genau genommen erweckt jede Musik die Vorstellung der Regelmäßigkeit und daher auch die der Norm (der "nomos" war eine Sangweise bevor er zum Recht der Polis wurde). Konjuzius hätte gesagt, daß da, wo Ritus und Musik nicht gedeihen, die peinlichen und anderen Strafen nicht gerecht sind. 2 Vgl. Festinger und Katz: Methodes de recherche dans les sciences sociales (ins Französische übersetzt von Lesage), 10. Kapitel (von Cartwright), Band 1, S. 481 ff.; Daval u. a.: Traite de psychologie sociale, 1967, Band 1, S. 467 ff.

2. Kap.: Die Analyse von Dokumenten

177

analyse sei. Es muß jedoch klargestellt werden, daß nur eine im Hinblick auf einen zuvor bestimmten Erkenntnisgegenstand systematisch durchgeführte Lektüre diese Bezeichnung verdient. Darüber hinaus macht sich auch hier, so wie in den anderen Sozialwissenschaften, die moderne Tendenz zur Quantifizierung bemerkbar, was die Forderung nach exaktem Vorgehen und bedeutendem Mitteleinsatz (vom Team bis zum Computer) entstehen läßt. Neben der die Grundlage bildenden qualitativen Analyse (die man als Zelle bezeichnen kann) macht zur Zeit in der Rechtssoziologie die quantitative Analyse rasche Fortschritte. Hinsichtlich der qualitativen Analyse empfiehlt es sich, eine Unterscheidung je nach der Art der Dokumente zu treffen. Es handelt sich hier um eine der Rechtssoziologie eigene Differenzierung, denn es werden im wesentlichen Dokumenten von rechtlicher Tragweite solche, die außerhalb des Rechts stehen, gegenübergestellt, wobei eine weitere Aufgliederung möglich ist. Die Unterscheidung ist nicht allein formeller Natur, sondern wirkt auf die Art des Forschens zurück, denn in den außer halb des Rechts stehenden Dokumenten ist der Gehalt an Rechtssoziologischem natürlich geringer und dessen Herausarbeitung entsprechend schwieriger. 2. Die Analyse rechtlicher Dokumente Das Kriterium besteht darin, ob das Dokument einen unmittelbaren Bezug zum Recht aufweist oder nicht. Dieser Begriff ist jedoch weit aufzufassen, denn darunter fällt das Urteil ebenso wie die Gerichtspraxis, notarielle oder privatschriftliche Urkunden, einzelne Texte oder Gesamtheiten von Texten, Akten, wissenschaftliche oder populärwissenschaftliche Bücher, Plädoyers oder die allgemeinen Rechtsauskünfte in einer Zeitschrift. Eine einzige Kategorie erfordert eine gesonderte Betrachtung, und zwar weniger aus grundsätzlichen Erfordernissen, sondern aus praktischen Gründen, nämlich die bereits in einer Rechtssprechungssammlung veröffentlichten Entscheidungen. Diese liefern die Grundlage für die soziologische Analyse der Rechtsprechung, welche aus pädagogischen Erwägungen eine Sonder behandlung verdient. Die Ähnlichkeit dieser Methode mit der Entscheidungskommentierung und die Leichtigkeit des Umgangs mit den zugrunde zu legenden Quellen bildeten für die Juristen einen Weg zur Soziologie. Bei der Analyse rechtlicher Dokumente sind stets zwei Grundsätze zu beachten: 1. Das Dokument muß mit den Augen eines Rechtssoziologen und nicht mit denen eines dogmatischen Juristen betrachtet werden. Nicht die Anwendung einer Rechtsnorm, sondern die Darstellung einer Rechtserscheinung sind zu erforschen. Auch eine nichtige Rechtshandlung und ein abwegiger Kommentar können soziologisch bedeutungsvoll sein. Das rechtliche Dokument ist nur insoweit von Belang, als es einen Beitrag 12 Carbonnier

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3. l1eil: Methode d€r Rechtssoziologie

für die Soziologie liefert. Hieraus ergeben sich Folgerungen für die Praxis. Zuerst muß versucht werden, das Dokument in den sozialen Zusammenhang einzuordnen, dem es möglicherweise seine Entstehung verdankt (z. B. ist bei einem Testament, das den Prototyp einer allein vollzogenen Rechtshandlung darstellt, zu fragen, welcher sozialen Schicht der Erblasser angehörte und was für eine wirtschaftliche Konjunktur herrschte). Danach ist zu untersuchen, ob das Dokument eine Folge, zusammen mit anderen (früheren oder späteren), bildet. Die Betrachtung der gesamten Folge ist der Beschränkung auf ein einzelnes Element vorzuziehen. Diese Art der diachronischen Analyse empfiehlt sich besonders für die Familienrechtserscheinungen. Die historisch orientierte Demographie rekonstruiert so die Familienbeziehungen, indem sie zu den Heiratsurkunden der Stammeltern die Taufscheine der Nachfahren fügt!. In ähnlicher Weise verfolgen die Rechtshistoriker die Vermögensentwicklung eines Haushalts oder die einer Großfamilie vermittels der Eheverträge und der Nachlaßverzeichnisse . 2. Das Dokument muß als solches, d. h. als Gesamtheit von Zeichen und nicht als objektives Abbild der Wirklichkeit, aufgefaßt werden. Mit anderen Worten, das Dokument kann trügen, und der Forscher darf sich nicht täuschen lassen. Bei feststellenden Urkunden (wie etwa einem notariellen Inventar oder einem Verzeichnis der laufenden Vorfälle auf einem Polizeikommissariat) liegen Zeugnisse vor, die einer historischen Kritik zu unterwerfen sind. Bei Willenserklärungen (wie einem Testament oder einem Vertrag) muß versucht werden, die psychologischen und sozialpsychologischen Beweggründe aufzuzeigen und zu interpretieren. Die soziologische Analyse von Vertragsdokumenten erfordert eine vertiefte Kenntnis der Praxis. Es muß damit gerechnet werden, daß einer der Vertragspartner oder beide, jeweils ohne Wissen des anderen, oder aber auch beide zusammen, es mit der Wahrheit nicht genau genommen haben. Darüber hinaus gibt es Formen der Verschleierung, die ganz einfach Kollektiverscheinungen widerspiegeln, nämlich die Steuerhinterziehung und die schüchterne Zurückhaltung vor dem Notar, weil dieser als Schatten der Gesellschaft und des Gesetzes angesehen wird. Das Schriftstück bedarf auch dann einer soziologischen Korrektur, wenn eine der Parteien in der Lage war, der anderen ihren Willen aufzuzwingen und so nach Belieben die Aufnahme harter Bedingungen wie Ausschlußfristen, Verfalldaten oder Konventionalstrafen durchsetzen konnte. Ehrlich hatte dies in den Landpachtverträgen des alten Preußen beobachtet, und etwas hiervon findet sich in französischen Versicherungsverträgen. Oft dienen diese Klauseln jedoch nur dem Ziel einer Einschüchterung, ähnlich wie die Beschwörungsformeln in der Zeit der skeptisch gewordenen Antike, und sollen nur bei entscheidenden Problemen eine Waffe darstellen. So! Vgl. Pierre Goubert: Cent mille provinciaux au XVlIIe siede, 1968, S. 51 ff.

2. Kap.: Die Analyse von Dokumenten

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lange die Vertragsteile nicht auf dem Kriegsfuß leben, ist keine wortwörtliche Befolgung nötig. 3. Die soziologische Rechtsprechungsanalyse Es handelt sich hier um eine soziologische Inhaltsanalyse rechtlicher Dokumente, nämlich der Rechtsprechungssammlungen (d. h. in der Juristensprache, der Entscheidungssammlungen). Hierbei ist eine Quantifizierung nicht unmöglich; dies setzt jedoch eine vollständige Veröffentlichung der Entscheidungen voraus, was nur für Obergerichte in Frage kommt (in Frankreich der Kassationsgerichtshof oder der Staatsrat). Darüber hinaus ginge bei einer Quantifizierung ein großer Teil des soziologischen Gehalts verloren. Bei der Rechtsprechungsanalyse kommt es nämlich gerade auf die dabei zutage geförderten Details an. Sie ist vor allem ein Fallstudium von rechtlichen oder genauer gerichtlichen Fällen, die Gegenstand eines Urteils waren. Manche rechtlichen und sogar gerichtlichen Fälle sind nicht Gegenstand der Rechtsprechungsanalyse, sondern des Verfahrens der Analyse von Akten oder von in den Urkunden der Gerichtskanzleien enthaltenen Urteilen. Was macht nun die Originalität der soziologischen Rechtsprechungsanalyse aus? Nun, diese besteht in einem rein formalen Charakteristikum, das man daher für wissenschaftlich belanglos ansehen könnte und das dennoch in der Praxis von grundlegender Bedeutung ist, nämlich in der Tatsache der Veröffentlichung in einer Entscheidungssammlung. Diese Urteile sind für die Juristen leichter zugänglich, und aus diesem Grund wird die Rechtsprechungsanalyse für soziologische Anfängerübungen für Juristen verwendet. Dies nicht zuletzt auch deshalb, weil Juristen bereits mit Rechtsprechungsanalysen vertraut sind. Da jene Analysen aber im Sinne einer rein dogmatischen Betrachtungsweise durchgeführt worden sind, erfordert die übertragung auf die Rechtssoziologie eine völlige Umorientierung in der Perspektive. Bei beiden Arten der Rechtsprechungsanalyse geht es zweifellos darum, den Inhalt von Gerichtsentscheidungen (oder einer Folge von Urteilen) zu analysieren, jedoch betrifft dies in einem Fall das Recht und im anderen das Faktum. Der dogmatische Jurist bemüht sich, hierbei die angewandte Rechtsnorm oder auch die neu geschaffene Norm, soweit die Rechtsprechung rechtschöpferisch tätig ist, darzustellen. Der Soziologe dagegen unternimmt es, das gesamte durch die Entscheidung zum Vorschein gebrachte Lebensverhältnis in seinen sozialen, sozialpsychologischen und auch individualpsychologischen Aspekten zu erfassen (dies sind voraussetzungsgemäß Rechtserscheinungen, und sei es auch nur deshalb, weil sie in Beziehung zu einer Gerichtsentscheidung stehen). 12·

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3. 'DeH:

Methode der Rechtssoziologie

Von einem dogmatischen Studium der Rechtsprechung kann man auf Grund der von der Entscheidung erbrachten Lösungszusammenstellungen ein besseres Verständnis des geltenden Rechts erwarten. Ganz im Sinne dieses Verfahrens reduziert ein in solcher Weise tätiger Jurist den Anteil der bloßen Tatsachen bei der von ihm kommentierten Entscheidung auf ein Minimum, denn um eine rechtliche Schlußfolgerung ziehen zu können bedarf es des Nachweises einer ständigen Rechtsprechung. Gewiß werden auch ausnahmsweise einzelne Tatsachen festgehalten, um eine abweichende und isolierte Entscheidung zu rechtfertigen, die nicht zur Fortbildung des Rechts beitrug. Meistens werden diese jedoch im Interesse einer abstrakten Darstellung des Rechts eliminiert. Den Soziologen dagegen interessieren vor allem die dem Urteil zugrundeliegenden Tatsachen, denn diese ergeben ein Sittenbild. Auf diese Weise können die Scheidungsurteile, die normalerweise sehr wenig Rechtsausführungen enthalten und daher nur geringe Bedeutung für die Dogmatiker besitzen, eine reiche Quelle soziologischer, sozialpsychologischer und individualpsychologischer Beobachtungen des Familienlebens sein. In gleicher Weise ermöglichen die Urteile betreffend die Verantwortlichkeit des Familienvaters für die von minderjährigen Kindern verursachten Unfälle dem Soziologen eine Einschätzung des Grades der Selbständigkeit, der den Heranwachsenden in unserer Gesellschaft zugestanden wird. Ganz allgemein bringt jedes Urteil schon definitionsgemäß eine Konfliktbeziehung zum Vorschein, nämlich den Prozeß selbst. Diese Konfliktbeziehung ist aber schon um ihrer selbst willen von sozialpsychologischem Interesse. Darin liegt neben dem etwaigen arteigenen Interesse das, was man das Gattungsinteresse jeglicher soziologischen Rechtsprechungsanalyse nennen kann 1. Die soziologische Analyse beschränkt sich aber nicht auf die dem Urteil zugrunde liegenden Tatsachen. In diesem Zusammenhang verdient auch der Vortrag des Klägers eine gesonderte soziologische Untersuchung, da er ein bei den Bürgern vorhandenes Rechtsgefühl, eine Idealvorstellung, die in ihrem Bewußtsein beharrlich wiederkehrt, zu enthüllen vermag. Unter diesem Gesichtspunkt kann sogar behauptet werden, daß, je abwegiger die Forderungen des Klägers vom Standpunkt des dogmatischen 1 Hier muß die im übrigen quantifizierte Analyse erwähnt werden, die eine unter der Leitung von Drago stehende Gruppe von Seminarteilnehmern an der Ecole Nationale d'Administration im Jahre 1967 durchführte: Sociologie du contentieux administratif, etude relative aux decisions rendues par le Conseil d'Etat au cours de l'annee judiciaire 1965 - 1966. Vgl. bezüglich der Soziologie der Rechtsmittel die ebenfalls quantifizierte Analyse in der (vervielfältigten) Dissertation von J. Nguyen Thanh Nha: Les Chambres reunies de la Cour de cassation, essai d'un bilan de 130 ans de jurisprudence civile, Paris 1968.

2. Kap.: Die Analyse von Dokumenten

181

Rechts aus sind, desto größer für den Soziologen die Chance ist, zu Erkenntnissen zu gelangen, denn hierin können unvollkommen verdrängte Schichten von Volks recht, nur in irriger Vorstellung bestehende Gesetze, eine unvollständige Rechtsakkulturation und Konflikte zwischen verschiedenen Rechtskulturformen zu finden sein. In einem weiteren Schritt tritt auch die richterliche Entscheidung selbst in das Blickfeld des Soziologen, und zwar nicht als Bestandteil des positiven Rechts, sondern nur als Indikator für eine tiefer liegende soziologische Gegebenheit, nämlich des den Richter motivierenden Rechtsgefühls und darüber hinaus des in der Bevölkerung herrschenden Rechtsgefühls, zumindest sofern man annimmt, was zweifellos nuanciert werden muß, daß ein Richter die Gefühle der Gesellschaft widerspiegelt. 4. Der Wert der soziologischen Rechtsprechungsanalyse

Im Vergleich zu den anderen Verfahren der Rechtssoziologie weist die soziologische Rechtsprechungsanalyse sowohl schwache als auch starke Seiten auf. a) Die Schwächen rühren vor allem von einer geringeren Wirklichkeitsnähe her. Es ist nicht so, daß man der Rechtsprechungsanalyse vorwerfen müßte, sie bestünde nur in Lektüre und nicht in direkter menschlicher Kontaktnahrne, denn dies trifft auch auf die anderen Verfahren der Analyse von Dokumenten zu. Die von ihr benutzten Dokumente bedingen jedoch verschiedene Verzerrungen der Perspektive: 1. Die erste Verzerrung betrifft die Nichtübereinstimmung zwischen der Zahl der veröffentlichten und derjenigen der unveröffentlichten Streitfälle, die wesentlich zahlreicher sind und auf den Geschäftsstellen der Gerichte eingesehen werden können. Die Jurisprudenz besteht nur aus ausgewählten Stücken. Die Diskrepanz zwischen den veröffentlichten und den sich zur Veröffentlichung eignenden Entscheidungen ist zweifellos da geringer, wo eine amtliche Sammlung wie die Bulletins des Kassationsgerichtshofes existiert, doch die Entscheidungen dieses Gerichts sind nicht die soziologischsten. Bei derjenigen Rechtsprechung, die nur in nichtamtliche Sammlungen aufgenommen wird, entstehen zwangsläufig große Lücken, und außerdem wird hierbei (völlig legitim) unter dem Gesichtspunkt der juristischen und nicht der soziologischen Bedeutung ausgewählt. 2. Eine weitere Verzerrung besteht darin, daß nicht alle Konfliktfälle von rechtlicher Tragweite auf einen Prozeß ausmünden. Zunächst gibt es Fälle, die vor ein Schiedsgericht gebracht werden, und da die überwältigende Mehrheit der Schiedssprüche nicht den Weg in eine Sammlung findet, so entgehen sowohl der dogmatischen als auch der soziologischen Rechtsprechungsanalyse ganze Bereiche vollständig (und nicht einmal

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3. Teil: Methode der Rechtssoziologie

die unwichtigsten, wie etwa der Erdölgroßhandel). Dasselbe ergibt sich, obschon aus anderen Gründen, für eine Vielzahl kleinerer Rechtsstreitigkeiten. Bei diesen steht nicht genügend auf dem Spiel, als daß sie vor die Gerichte im allgemeinen und vor allem vor diejenigen gebracht werden, denen die Ehre einer amtlichen Sammlung zuteil wird. 3. Die schwerwiegendste Verzerrung liegt jedoch darin, daß nicht nur nicht alle Streitfälle zu Prozessen führen, sondern daß auch nicht alle menschlichen Beziehungen zu Konfliktverhältnissen werden. Seit Ehrlich legt die Rechtssoziologie Wert auf die Feststellung, daß neben dem pathologischen Bereich des Konflikts eine unendlich viel umfassendere Rechtswirklichkeit existiert, die durch Gleichgewicht und Konfliktfreiheit gekennzeichnet ist, in der Verträge reibungslos abgewickelt werden, familienrechtliche Beziehungen nicht Gegenstand einer Anfechtung sind und Ehen nicht geschieden werden. Die Beschränkung auf die Rechtsprechungsanalyse beim Studium einer Institution würde eine Verkennung dieser Wirklichkeit, die oft fast die Gesamtheit derselben ausmacht, bedeuten. b) Zum Ausgleich hat dieses Verfahren auch seine Vorzüge, denn es ist seinem ureigensten Gebiet, der Rechtspathologie, voll angemessen. Konfliktsituationen lassen sich nicht gut durch Interviews erforschen, da hierdurch zu leicht die Gemüter angeheizt werden könnten; außerdem besteht bei Streitenden zweifellos die Neigung, den Zwist vor nichtamtlich tätigen Personen zu verheimlichen. Demgegenüber kann man annehmen, daß jede der Parteien in ihrem eigenen Interesse vor Gericht voll auspackt. Dazu kommt, daß sich aus der streitigen Verhandlung durch die richterliche Kontrolle eine Kritik der beiderseitigen Ausführungen ergibt, so daß der im Urteil enthaltenen historischen Konfliktbeschreibung größerer wissenschaftlicher Wert als derjenigen einer soziologischen Untersuchung zukommen kann. Dieses Vorgehen steht auch in anderer Hinsicht der historischen Methode nahe, denn während die Befragung im allgemeinen l nur eine Momentaufnahme einer Rechtserscheinung ergibt, so faßt die Rechtsprechungsanalyse eine Folge von Ereignissen zusammen, wobei jedes Urteil als historische Beschreibung einer im günstigsten Augenblick, nämlich dem des Zusammenbruchs, erfaßten Beziehung erscheint, wodurch die Entstehung des Konflikts besser erklärt wird, da das Plädoyer am Ende der Beziehung gleichzeitig den Augenblick der Abrechnung und der Wahrheit darstellt. 1 Die Untersuchung kann in der Form einer "Panelbefragung" durchgeführt werden, wobei dieselben Personen hinsichtlich derselben Beziehung wiederholt interviewt werden (z. B. die Adoptiveltern kurz vor dem Vollzug der Adoption, ein Jahr später sowie 10 oder 20 Jahre usw. danach). Es ist jedoch offensichtlich, daß die konkrete Durchführung angesichts der langen Dauer vieler Rechtsbeziehungen auf Schwierigkeiten stoßen kann.

2. Kap. : Die Analyse von Dokumenten

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Eine weitere überlegenheit der Rechtsprechungsanalyse besteht darin, daß sie auch das Verhalten von Personen erfassen kann, die sonst keiner Untersuchung zugänglich sind. Bestimmte soziale Kategorien (z. B. Aristokratie und Großbürgertum) entziehen sich der Befragung, aber nicht der Stellung eines Klägers im Zivilprozeß. Schließlich vermag die Rechtsprechungsanalyse auch die Generationen der Vorfahren zu erfassen, soweit die Sammlungen zurückreichen 2 , während die Befragung auf die Lebenden beschränkt ist 3 und das Verfahren der Suche auf der Geschäftsstelle rasch auf das Problem der schlechten Bewahrung der Justizarchive stößt. 5. Die praktische Anwendung des Verfahrens Diese vollzieht sich in verschiedenen Phasen: a) Die Datenerhebung. Der Forscher hält sich an die herkömmlichen Rechtsprechungssammlungen und gegebenenfalls an speziellere. Gewisse Quellen enthalten mehr Soziologisches als andere, und zwar sind das diejenigen, welche dafür weniger für die Dogmatik abgeben. Der Jurist schätzt jene Sammlungen am meisten, in denen die Entscheidungen des Kassationsgerichtshofes am besten vertreten sind und die dafür weniger Entscheidungen von Untergerichten aufnehmen. Der Soziologe dagegen zieht größeren Nutzen aus der Gazette du Palais als aus dem Bulletin des arrets de la Chambre civile. Wahre soziologische Schätze sind noch in den für Friedensrichter bestimmten Zeitschriften zu heben. Es ist zu bedauern, daß eine Zeitschrift wie die zu Ende des vorigen Jahrhunderts erschienene Gazette des Tribunaux mit ihren Chroniken von pittoreskem Recht nicht mehr existiert. Es kann sinnvoll sein, die Analyse auf eine einzige, soziologisch aussagekräftige Entscheidung zu beschränken. Sofern ein Einzelfall repräsentativ für eine Gesamtheit ist, so ist es auch nach allgemeinen Grundsätzen möglich, hiervon Schlußfolgerungen abzuleiten, die für eine ganze Gattung von Rechtserscheinungen gelten. Eine bessere Gewähr für Wissenschaftlichkeit scheint jedoch eine Vielzahl von miteinander verbun2 In der Praxis stehen dem Forscher die in den gewöhnlichen juristischen Bibliotheken vorhandenen Sammlungen zur Verfügung, die in Frankreich bis zu den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts zurückreichen. Für das noch ältere Recht gibt es eine weniger reichhaltige und weniger gut klassifizierte Dokumentation; darüber hinaus enthalten diese Entscheidungen keine Begründung, was jedoch kein Hindernis für die soziologische Analyse ist, denn in den Sammlungen des 17. und 18. Jahrhunderts (Journal des audiences und Journal du Palais) geht der Entscheidung oftmals eine umfassende Darstellung von Tatsachen und Aussagen voraus. 3 Von einer auf die Vergangenheit bezogenen, bisweilen schon praktizierten Untersuchungstechnik abgesehen, die jedoch ein verzerrtes Bild abzugeben scheint (man befragt Greise über ihre Jugend oder darüber hinaus über die Jugend ihrer Großeltern).

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3. Teil: Methode der Rechtssoziolagie

denen Entscheidungsanalysen zu bieten. Die Art der Zusammenstellung dieser Analysen hängt vom Erkenntnisziel ab. Rechts- oder Sittenwandel wird vermittels einer zu diesem Zweck zusammengestellten Zeitreihe sichtbar. Um die - in dem, was wir die Bildung einer Spruchpraxis nennen - zum Ausdruck kommende Machtentfaltung zu erfassen, bedarf es der Erhebung von Stichproben aus der gesamten Justizhierarchie. Erscheinungen des Rechtspluralismus lassen sich durch einen Vergleich von Entscheidungen aus verschiedenen Ebenen entdecken. Es ließen sich noch weitere Beispiele anführen. b) Die Inhaltsanalyse. Sie hat sich in erster Linie und manchmal ausschließlich mit dem Tatbestand des Urteils zu beschäftigen, da vorausgesetzt wird, daß hierin eine soziologische Beschreibung enthalten ist. Oft sind die Details, die juristisch gesehen als überflüssig erscheinen (z. B. der Beruf des Klägers oder die Jahreszeit der Vertragsschließung), vom soziologischen Standpunkt aus interessant. Gewisse Verfahrensangaben sind stets von soziologischer Bedeutung. So ergeben die Hinweise auf den Zeitraum zwischen den Ereignissen, die zum Prozeß geführt haben, und dem Erlaß der Entscheidung ein Maß für die Schnelligkeit des Justizverfahrens, und die Erwähnung des Gerichtsbezirks ist zur Feststellung von Erscheinungen des Rechtspluralismus erforderlich1 • Schließlich gibt es auch soziologische Untersuchungen, die sich abweichend vom üblichen Verfahren auf die Entscheidungsgründe oder den Tenor des Urteils, d. h. auf den dogmatischen Teil der Entscheidung konzentrieren. Die Befassung mit den Entscheidungsgründen ist z. B. dann unumgänglich, wenn diese vom Tatbestand nicht getragen werden, was eine gewisse Verlegenheit des Gerichts ausdrückt, die sich in einer Umkehrung des normalen richterlichen Rechtsfindungsverfahrens äußert, was nicht selten vorkommt (anstatt den Sachverhalt unter die Rechtsnorm zu subsumieren, entwickelt der Richter zuerst die Lösung, die ihm aus Gründen der Billigkeit im vorliegenden Fall zwingend geboten erscheint, und bemüht sich dann, eine Rechtsnorm zu deren Rechtfertigung zu finden). Auch der Urteilstenor kann von Bedeutung sein, etwa in Verbindung mit dem, was man über die Persönlichkeit des Richters weiß; in diesem Fall ermöglicht er, dem Problem nachzugehen, wie bestimmte soziale, wirtschaftliche, politische u. a. Einstellungen das Urteil beeinflußten. Diese in Amerika sehr hoch entwickelte Forschung 2 würde in Frankreich allerdings auf sehr große Schwierigkeiten stoßen3 • Vgl. S. 139. z. B. Nagel: Political party affiliation and judges' decisions, American political science review, 1961 (55), S. 843 ff.; Judicial backgrounds and criminal ca ses, Journal of criminallaw, 1962 (53), S. 333; Ulmer: Supreme Court behaviour in racial exclusion ca ses, 1935 - 60, American political science review, 1 2

2. Kap.: Die Analyse von Dokumenten

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c) Die Verwendung de'r so erhaltenen Elemente. Es lassen sich in der Tat zwei sehr verschiedene Verwendungs zwecke der soziologischen Rechtsprech ungsanalyse aufzeigen. Der erste betrifft die angemeine Soziologie. Ausgehend von der Feststellung, daß jedes Urteil eine Szene des Soziallebens enthält, wird versucht, durch eine Sammlung von Entscheidungen, die etwa derselben Zeit angehören, das Leben der Gesellschaft zu rekonstruieren4 • Bei dieser Perspektive versucht man nicht, die Auszüge aus der Rechtsprechung im Hinblick auf Rechtsbegriffe zusammenzutragen, sondern bemüht sich, Licht auf Erscheinungen der Sitte zu werfen, wobei der rechtliche Aspekt im Dunkeln bleiben kann. Eine wirklich rechtliche Soziologie erfordert jedoch eine andere Betrachtungsweise, welche ohne die in einem Urteil enthaltenen sittlichen Aspekte fallen zu lassen, zumindest zuläßt, die gegenseitigen Beziehungen zwischen diesen und dem Recht zu erfassen. Die verschiedenen Einzelbetrachtungen werden demgemäß nicht einfach aneinandergereiht, um ein rein pittoreskes Panorama abzugeben, in welches das Recht weder als Ursache noch als Wirkung eingeht, sondern werden nach rechtlichen Kategorien geordnet, seien es nun solche vom Typus der Institution, der Situation oder des Konflikts, wobei Kausalitätsbeziehungen sichtbar werden5 •

6. Die Analyse nichtrechtlicher Dokumente Man kann es als wissenschaftlich anfechtbar ansehen, wenn der Gegenstand einer Methode in negativer Weise bestimmt wird. Nichtsdestoweniger ergibt sich für die Inhaltsanalyse aus der Tatsache, daß sie es mit 1962 (56), S. 325. Vgl. Jean Carbonnier: Pour une sociologie du juge, in Flexible droit, 1971, S. 291 ff. 3 Diese Schwierigkeiten beziehen sich auf die Organisation der Justiz (wegen des Kollegialitätsprinzips und des Beratungsgeheimnisses) und sind vor allem psychologischer Natur. 4 Ein bemerkenswertes Beispiel hierfür: J. A. Agus: Urban civilization in Pre-Crusade Europe, a study of organized town -life in N orth - Western Europe during the Xth and XIth centuries, based on the Responsa literature, 2 Bände, New York 1965. Vermittels der Auswertung dieser von Rabbinern in bezug auf wirkliche Rechtsstreitigkeiten erlassenen Bescheide hat der Autor eine Vielzahl von Angaben, u. a. über die wirtschaftlichen Verhältnisse, den Lebensstandard, die Preise, die Familienbeziehungen sowie die Ausübung des Kultes der von ihm untersuchten Volksschicht, gefunden. 5 Eine Anwendung allerersten Ranges von dieser Technik: Jean-Paul Charnay: La vie musulmane en Algerie, d'apres la jurisprudence de la premiere moitie du xxe siecle, 1965. Derselbe Autor hat auch eine Theorie dieses Verfahrens entwickelt: Une methode de sociologie juridique, l'exploitation de la jurisprudence, Annales (Economies, Societes, Civilisations), 1965, S. 513 ff. und S. 734 ff. Vgl. als Beispiel für eine auf eine einzige Art des Konflikts beschränkte Forschung (die strafrechtliche Sanktionierung der "Katzenmusik", an Hand von 10 Entscheidungen) Sourioux: Le charivari, A.S. 1961, S. 401 ff.

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3. 'I1eH: Methode der Rechtssoziologie

nichtrechtlichen Dokumenten zu tun hat, ein besonderer methodologischer Aspekt, der unserer Aufmerksamkeit bedarf. Da das Recht in dieser Dokumentation nicht in juristischen Formulierungen vorkommt oder gar völlig von der Sitte überdeckt ist, so erfordert eine Analyse für Zwecke der Rechtssoziologie ein ständiges übersetzen oder gar Extrahieren. Diese Tätigkeit setzt eine solide Kenntnis des Rechts voraus, denn in den nichtrechtlichen Werken findet sich das Rechtliche im allgemeinen nur in verschwindend kleinen Mengen, in aufgelöstem Zustand und bisweilen in nicht mehr lebenden Formen, die von der Geschichte abgelagert worden sind. Unter den von Natur aus nichtrechtlichen Dokumenten sind für die Rechtssoziologie vor allem die der Ethnographie im weiten, der Etymologie entsprechenden Sinn, d. h. als Beschreibung eines Volkes, von Bedeutung. Es genügt, das Leben eines Volkes der Vergangenheit oder der Gegenwart zu beobachten, um die ständige Wiederkehr gewisser Gesten und Verhaltensweisen zu erkennen. Meist betrifft dies nur Bräuche und vielleicht Sitten, manchmal aber auch Rechtliches. Das auswertbare Material findet sich verstreut in den Berichten der Reisenden oder Geschichtsschreiber, der Brauchtumsforscher und auch der Ethnographen im eigentlichen Sinn. Der Rechtssoziologe hat eine doppelte Aufgabe. Er muß: 1. das Rechtliche herausdestillieren, indem er die nichtrechtlichen Sozialphänomene und auch das rein personengebundene Alltägliche abscheidet und 2. dem so gefundenen Ergebnis einen Sinn verleihen, indem er den Vorgang in Raum und Zeit vervielfacht, um eine Folge bilden zu können; dieses Vorgehen erinnert sehr stark an die historisch-vergleichende Methode. Wir haben hiermit die allgemeine Form der Inhaltsanalyse dargestellt. In der Praxis gibt es jedoch bereits gewisse Spezialisierungen auf Grund der Art der Dokumente. So war die Auswertung von Zeitungen, Romanen und Bildern zweifellos eine weniger trockene Angelegenheit, und diesen Dokumenten wollen wir uns auch im folgenden widmen. 7. Die Analyse der Presse Man denkt hier zunächst an das gedruckte Wort, es kann sich jedoch genausogut um den Rundfunk oder das Fernsehen handeln. Diese Art der Inhaltsanalyse ist in der allgemeinen Soziologie technisch hoch entwickeJt1. Vorweg muß auch bemerkt werden, daß dieser Typ sich beson1 Vgl. Berelson: Content analysis in communication research, 1952; D. Cartwright: 10. Kap. in Festinger und Katz, Methodes de recherche dans les sciences sociales (frz. übers. v. Lesage), 1959, S. 481 H.

2. Kap.: Die Analyse von Dokumenten

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ders zur Quantifizierung eignet2 • Es ist z. B. üblich, mehr oder weniger exakt die Zahl der Zeichen für eine bestimmte (rechtliche oder noch häufiger gerichtliche) Tatsache in verschiedenen Arten von Zeitungen in einem bestimmten Zeitraum zu erheben und hieraus eine Hypothese über die dieser Tatsache in verschiedenen Sektoren der öffentlichen Meinung geschenkte Aufmerksamkeit abzuleiten. Was jedoch dieser quantitativen oder qualitativen Analyse ihre Originalität verleiht, ist die Tatsache, daß das beobachtete Ereignis eine rechtliche Bedeutung hat, während der Träger der Information der nichtjuristischen Kommunikation dient. Manchmal ist die rechtliche Bedeutung des Ereignisses offensichtlich, etwa bei den Gerichtsberichten, die sich in großen Zeitungen finden, obwohl sie für Nicht juristen bestimmt sind. Bei den Berichten aus aller Welt dagegen ist das Recht von den Sittenphänomenen überdeckt. Für den Soziologen sind diese Seiten eine Fundgrube3 , denn das Rechtliche wird hierin außerhalb jedes Streitfalles und vor der Einflußnahme durch die Juristen erfaßt. Unter dem, was dem betreffenden Redakteur als Merkwürdigkeit aufgefallen sein muß, kann auf die Existenz von soziologisch aufschlußreichen abartigen Erscheinungen geschlossen werden. 8. Die Analyse literarischer Texte

Diese Begegnung zwischen einem Schriftsteller und einem Rechtssoziologen als Leser kann sehr fruchtbar sein, es besteht jedoch keine Gewähr dafür, denn das Ergebnis hängt sowohl vom einen wie vom andern abt. a) Bezüglich der rechtssoziologischen Fündigkeit sind verschiedene Arten von Schriftstellern zu unterscheiden. 1. Der erste Typ ist derjenige des Beobachters. Wenn er überhaupt für die Rechtssoziologie arbeitet, dann unbewußt. Er begnügt sich mit der Beobachtung der Gesellschaft um ihn herum, und hierbei sammelt er auch zwangsläufig mit dem Sozialleben vermischte Rechtselemente auf. Seine Wirksamkeit in der eigentlichen Rechtssoziologie kann sich durch ein persönliches Interesse für das Recht erhöhen2 •

Dieses Verfahren ermöglicht die Gewinnung einer soziologischen Erkenntnis über Tatsachen, die keiner Befragung zugänglich sind, da sie zu weit zurückliegen. In diesem Sinne verwendet die historische Soziologie ständig literarische Quellen aus dP.T Antike oder dem Mittelalter, um Vgl. S. 192. über die (allgemeine) Soziologie der ,.Merkwürdigkeiten aus aller Welt" vgl. Georges Auclair: Le Mana quotidien, 1971. I Vgl. Michel Zeraffa: Roman et societe, 1971. 2 Racine hatte Erfahrung als Kläger ("plaideur"), und in "Le Matrimoine" von Herve Bazin (1967) steckt etwas von einem Anwalt. 2

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3. Teil: Methode der Rechtssoziologie

die Rechtsquellen zu vervollständigen und notfalls zu berichtigen. Darüber hinaus jedoch, und dies gilt auch für die zeitgenössische Literatur, kann man von den Werken der Literatur rechtliche Details erhoffen, die nicht bei den Juristen zur Sprache kommen, weil sie für diese zu unbedeutend oder zu intim sind. Derartiges ist vor allem auf dem Gebiet der Praxis (die nicht mit der Gesetzesnorm übereinzustimmen braucht) oder genauer dem der Praktizierung im Alltagsleben zu finden 3 • Selbstverständlich ist vorsichtig zu Werke zu gehen, denn selbst Schriftsteller mit rechtlicher Bildung können sich hinsichtlich gewisser Rechtsinstitutionen getäuscht haben und auf Grund dieses Irrtums den Eindruck eines sehr merkwürdigen Rechtsphänomens gewonnen haben. Darüber hinaus muß auch der dichterischen übertreibung, die ein unerläßliches Stilmittel für einen sich zum Realismus bekennenden Autor ist, Rechnung getragen werden4 • Diese übertreibung ist im übrigen in den Theaterstücken stärker ausgeprägt als in den Romanen, und zwar wegen der auf Grund der Bühnenwirksamkeit erforderlichen Verkürzung und Konzentration5 • Es wäre gewiß bedenklich, die Soziologie der Ehe und Familie zur Zeit von Ludwig XIV. an Hand der Komödien von MoUere zu studieren.

2. Den zweiten Typ des Schriftstellers kann man als den des Theoretikers bezeichnen, als jemanden, der in seinem Werk Soziologie wenn nicht gar Rechtssoziologie erarbeitet. Balzac hat diese soziologische Absicht in seinem nachträglich eingefügten Vorwort zur Menschlichen Komödie kundgetan. In diesem Sinne faßte auch Zola seinen Roman über die a z. B. erzählt Pierre Loti in seinen "Islandfischern" Dinge, die er in der Gegend von Paimpol (im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts) beobachtet haben muß und die Bezug zum Infrarechtlichen wenn nicht zum Rechtlichen haben: 1. die unverheirateten volljährigen Söhne händigen üblicherweise ihren Lohn ihrer Mutter aus, was zu erklären vermag, weshalb die verheirateten Männer entsprechend einem oftmals von den Soziologen behandelten Verhaltensmuster (vgl. Andree Michel: Famille, industrialisation, logement, 1959, S. 190) ihre Löhnung der Ehefrau anvertrauen. 2. arme Leute adoptieren (das Wort wird ausdrücklich gebraucht) das durch den Tod der Nachbarn zum Waisen gewordene Mädchen (faktische Adoption, zu einer Zeit, in der das Gesetz noch nicht die Adoption von Minderjährigen vorsah). - Ein weiteres Beispiel findet sich bei Proust im 1. Teil von "Du cöte de chez Swann", der eine Erscheinung des Normenpluralismus aufdeckt (die vom Zivilgesetzbuch gewährte Freiheit einerseits und die sittliche Bindung andererseits): "Obwohl sie sich bereits vor Jahren mit ihrer Nichte überworfen hatte und kein Wort mehr mit ihr wechselte, änderte sie dennoch nicht ihr Testament, in dem sie dieser ihr ganzes Vermögen vermachte, denn sie war ihre nächste Verwandte und das gehörte sich so." 4 Vielleicht sind wir Opfer einer derartigen übertreibung, wenn wir die elterliche Gewalt im Frankreich des absolutistischen Königtums nach dem beurteilIen, was uns Restif de la Bretonne (La Vie de mon pere) erzählt, ganz abgesehen von der Möglichkeit einer mit völliger Gutgläubigkeit einhergehenden gefühlsbedingten Deformierung seiner Kindheitserinnerungen. 5 Vgl. Jules Lemaitre: Les Contemporains, 2. Serie, S. 231.

2. Kap.: Die Analyse von Dokumenten

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Rougon-Macquart als Experiment auf6 , nachdem allerdings bereits Claude Bernard diesen Weg bereitet hatte. Diese systematische Betrachtungsweise ermöglichte ihnen eine tiefgreifende Untersuchung der sozialen Wirklichkeit, wobei sie zwangsläufig auch auf das Recht stießen. Das Werk von Zola bleibt von Bedeutung für die Familiensoziologie, und zweifellos enthält es allgemeingültige Aussagen über die wohlbekannten Beobachtungen der Arbeiterfamilien des zweiten Kaiserreiches hinaus, die heute einen historischen Charakter erlangt haben7 • Von diesen beiden steht jedoch Balzac dem Recht am nächstenS, und zwar nicht nur wegen eines gewissen Entgegenkommens hinsichtlich der Sprache derjenigen, die beruflich mit dem Gericht zu tun haben (Richter, Anwälte usw.), sondern auch weil er die Originalität des Rechts zutreffender erfaßt und die Rechtsinstitutionen klarer als lebende Erscheinungen sieht. Balzac erkennt so den Ehevertrag, die Erbschaft und den Konkurs als Institutionen, welche den Menschen zu Dienste geschaffen wurden und die statt dessen schließlich die Menschen beherrschten. 3. Die dritte Kategorie wird schon in gewissem Sinn durch den intuitiven Typ dargestellt, denn unter den Schriftstellern gibt es Dichter und Seher, denen es vergönnt ist, mit einer Art von innerem Auge tiefer einzudringen und Dinge zu sehen, deren andere nicht gewahr werden. Hinter der den Sinnen zugänglichen Gestalt einer Rechtsinstitution kann sich ein Geist verbergen, der dem Juristen und auch dem Typ des schlichten Beobachters unter den Schriftstellern entgeht, den jedoch das dichterische Genie instinktiv erkennt. Man betrachte die Institution des Prozesses in einem dreifachen, vergleichenden Vorgehen: 1. in einem Lehrbuch des Verfahrensrechts, 2. bei Racine (sein Genie findet sich nicht in Les Plaideurs) und 3. bei Dickens oder bei Kafka. Für die Tiefenuntersuchung muß man sich an Bleak Horne 6 Paul Bourget legte vielleicht einen strengen Begriff des Experiments zugrunde, als er im Jahre 1872 (in einem Brief an Georges Herelle) schrieb: der Roman stellt "zweifellos die einzige Experimentiermöglichkeit für die psychologische Wissenschaft" dar, und zwar durch das psychologische Eindringen in sich selbst und in andere, d. h. durch Introspektion und Analyse fremden Verhaltens. In unserer Zeit versteht Duvignaud das vermittels des literarischen Werkes mögliche Experimentieren in etwas anderer, jedoch nicht weniger psychologischen Weise (Le roman reve1ateur des experiences collectives, in Perspectives de 1a sociologie contemporaine, Me1anges Gurvitch, 1968, S. 195 ff.); seiner Auffassung nach ermöglicht es der Roman dem Schriftsteller, sich geistig in die größtmögliche Anzahl verschiedener sozialer Positionen zu versetzen. 7 Vgl. Bernadette Reboul: Zola, avocat du monde du travail, vervielfältigte Diss. Paris 1964. 8 So erklärt sich auch die Fülle der über diesen Gegenstand verfaßten Spezia1studien: Saint-Germes: Balzac, historien du droit, Diss. Dijon 1936; B. Guyon: La Pensee politique et socia1e de Balzac, 1948; Peytel: Balzac, juriste romantique, 1950; Donnard: Les Realites economiques et socia1es dans 1a Comedie humaine, phil. Diss., 1961; Marie Henriette Faillie: La Femme et 1e Code civil dans 1a Comedie humaine d'Honore de Balzac, 1968.

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3. '!leU: Methode der Rechtssoziologie

und noch mehr an den Prozeß von Kafka halten, denn in letzterem wird in surrealistischer Sublimierung die Justiz so dargestellt, wie der ihr Unterworfene sie empfindet, und der Prozeß erscheint daher als ein gieriges Ungeheuer. Wir kommen zu einer vergleichbaren überlegung, wenn wir die Untersuchung am anderen Ende beginnen und fragen, wie die Richter selbst die Gerechtigkeit, die sie widerfahren lassen, empfinden: 1. der ProzeßrechtIer vermutet bei ihnen ein rechtstechnisch exaktes Vorgehen, 2. der eine Bühnenschriftsteller schreibt ihnen durchgehend den Brutus-Komplex zu und der andere denjenigen des Fouquier-Tinville, und 3. ist es schließlich Corneille, der in einem in seiner Schlichtheit genialen Vers unseren Augen die tiefe Sorge enthüllt, die das Richten bedeutet: "Allergnädigster Herr! Ximene kommt, um Gerechtigkeit zu verlangen. Welch unangenehme Nachricht, welch lästige Pflicht!"9 b) Nachdem wir uns mit dem literarischen Werk befaßt haben, bleibt uns noch die Aufgabe, den Ort zu bestimmen, den diesem gegenüber derjenige Leser einnimmt, der eine rechtssoziologische Lektüre ins Auge faßt. Die erste Frage ist die, in welcher Weise er an das Werk herantritt. Er kann sich mit dem gesamten Werk (ja sogar mit der Gesamtheit der Werke desselben Autors) befassen und darin, von der Klassifizierung abgesehen, alles, was sich in soziologischer Weise auf das Recht bezieht, aufsammeln. Das ist die wohlbekannte Methode von X ... und das Recht, so z. B. "Shakespeare und das Recht" (zu diesem Gegenstand gibt es eine außerordentlich umfangreiche Literatur) oder "Moliere und das Recht". Bei synthetischerem Vorgehen untersucht man bestimmte Themen, deren Elemente verschiedenen Büchern desselben Autors entstammen 10 • Aber all dies ist nur eine Vorbereitung, denn das Wesentliche ist der Geist, in dem man liest. Es gibt eine objektive Lektüre auf der einen und eine engagierte auf der anderen; es kann hierbei auch dann eine ideologische Ausrichtung vorliegen, wenn es nur darum geht, einem Text einige rechtssoziologische Hinweise zu entnehmen (auch im Recht gibt es brisante Themen). Die marxistischen Interpretationen der literarischen Schöpfungen versetzen uns nicht mehr in Erstaunen, und in diesen wiederum ist bisweilen, und sei es auch nur in zweiter Linie, eine Art von Rechtssoziologie enthalten l l • Heute scheinen diese jedoch von anarchisti9 Dies wird z. B. durch eine bei polnischen Fabrikarbeitern durchgeführte Befragung bestätigt: "Würden Sie gerne als Richter an einem Betriebsgericht gewählt werden?" Von 122 Befragten: 20 ja, 6 ohne Meinung und 96 nein (A. Podgorecki: Polish Sociological Bulletin, 1962, S. 118 ff.). 10 z. B. Leib: Les Mesalliances dans le roman aux XVIIIe et XIxe siecles, phi!. Diss., 1936; Dame: L'Avocat dans la litterature, phil. Diss., 1947; RossatMignod: Maupassant et les paysans normands, La Pensee, April 1970; Gleizol: Stendhal et la societe de son temps, Annales Fac. Droit Lyon, 1970 (1), S. 61. 11 Die marxistische Interpretation der Tragödien von Racine durch Lucien

2. Rap.: Die Analyse von Dokumenten

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schen Auslegungen verschiedener Couleur abgelöst zu werden, wobei unter gewissen Autoren der Vergangenheit Vorläufer der Protestbewegung gesucht werden. Hierbei stößt man ohne weiteres auf das Rechtssystem als Ganzes oder Teile desselben 12, insbesondere das Familienrecht in weitem Sinne 13 .

9. Die Analyse von Bilddokumenten Wir gehen aus von einer Ikonographie, die das Recht findet, ohne es gesucht zu haben. Dies muß betont werden, weil es auch eine ihrer Intention nach rechtliche Ikonographie gibt. In Kulturen, welche durch die schriftliche Ausdrucksweise gekennzeichnet sind, sind die Juristen nicht mehr an ein sich im Bild ausdrückendes Recht gewöhnt. Das Recht der Vergangenheit war einer bildlichen Darstellung weniger abgeneigt. Sei es, daß die symbolische Ausdrucksweise zur volkstümlichen übersetzung einer rechtlichen Willensäußerung verwendet wurde (z. B. die der Folklore wohlbekannten Wandsprüche Kredit ist Tod in manchen Läden), sei es, daß ihr die Aufgabe zukam, in der Gemeinschaft ein gewisses Rechtsbewußtsein zu erzeugen (z. B. die Bilder der Justitia in den Gerichtssälen, die das Publikum beeindrucken sollen)1. Ein Rechtsmuseum 2 würde jedoch zum größten Teil aus Gemälden und Plastiken3 bestehen, deren Zweck nicht so sehr rechtlicher, sondern rein ästhetischer (manchmal vielleicht auch dokumentarischer) Art ist. Auch wenn die Zielsetzung nicht rechtlicher Natur ist, so kann diese doch sehr wohl dem Gegenstand eignen, der sich im übrigen meist auf die Goldmann (Le Dieu cache, 1956) kann zu einem sozialpsychologischen Porträt der (jansenistischen) Richterschaft des 17. Jahrhunderts beitragen. Bezüglich des Problems der Mißheirat hat man "Georges Dandin" und sogar "Mireille" in Zusammenhang mit dem Klassenkampf gesehen. Wenn man jedoch auf diese Weise dem Gemeinten Vorrang vor dem ausdrücklich Gesagten gibt, so ist das Spiel der Phantasie nicht mehr leicht zu kontrollieren. 12 So glaubte Dürrenmatt (1970) in Goethes Faust im Todesurteil für Gretchen die Sinnlosigkeit des Talionsgrundsatzes und eine Verurteilung der menschlichen Gerechtigkeitsausübung feststellen zu können. 13 Dies erklärt auch, weshalb Autoren wie Sade derzeit im Schwange sind. 1 Dieser Brauch ist vor allem aus dem flämischen Teil Belgiens bekannt; so findet sich in Löwen "Die Rechtspflege Kaiser Ottos" (von Dirk Bouts, gest. 1475). In Frankreich gibt es aber immerhin das Gemälde von PrucIhon "Die Gerechtigkeit verfolgt das Verbrechen" in einem verborgenen Winkel des Louvre. 2 Hans Fehr (Das Recht im Bilde, Zürich 1923) entwickelte ein Modell für ein wohl eingerichtetes Museum (aber fast ausschließlich auf den deutschen Rechtskreis beschränkt). 3 Auch das Recht könnte sein Kunstgewerbemuseum haben. Es wäre z. B. nicht uninteressant, nach der historisch-vergleichenden Methode verschiedene materielle Träger der Rechtsdokumentation auszustellen, und zwar Palimpseste, Pergamente mit Randglossen, Folianten und bewegliche Bucheinbände, von denen jeder einen anderen Rechtszustand widerspiegelt (verschwommen, schüchtern, majestätisch und prunkvoll).

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3. Teil: Methode der Rechtssoziologie

Justiz bezieht (wovon die unzähligen "Urteile des Salomon" Zeugnis ablegen), weil für den Laien eine Gerichtsszene die malerischste Darbietung des Rechts ist. Ebenso wie der in reinster Form literarische Roman rechtliche Goldkörner enthalten kann, so kann der Jurist auch im Kunstwerk in einer dem Recht völlig fremden Form wie einem Genrebild, einem Porträt, einer Landschaft und sogar einem Stilleben etwas finden, was ihn im Verborgenen anspricht. Die ikonographische Analyse bringt dieses Rechtliche ans Licht4 • Die Zusammenstellung der Szene, die Gesichtszüge der Gestalten und eine gewisse Geistigkeit des Ganzen können Wesenheiten enthüllen, die dem Juristen entgehen. Vor allem das Gebiet der Familie eignet sich für eine vergleichende Ikonographie 5• Hinter der Entwicklung der Familienporträts läßt sich ein Wandel der Familienstruktur erkennen6• 10. Die quantitative Analyse von Dokumenten Unter Zugrundelegung eines weiten Begriffes läßt sich eine quantitative Untersuchung von Dokumenten unabhängig von jeglicher Inhalts4 z. B. erkennt der ikonographisch interessierte Jurist in der Entwicklung der griechischen Töpferei das Auftauchen der Persönlichkeit. Bis zum 7. Jahrhundert v. Chr. sind alle Gestalten von Menschen, Kriegern und Klageweibern einander ähnlich; sie bilden eine Folge von Schatten. Im 7. Jahrhundert setzt sich das Individuum vermittels der Unähnlichkeit durch. Eine vergleichbare Entwicklung vollzog sich im Mittelalter. Vor dem 15. Jahrhundert scheinen die Künstler das Porträt nicht gekannt zu haben, da allein die Seele zählte, wie man sagte, und diese wiederum hatte kein Gesicht. Das Porträt ist in gewisser Weise kennzeichnend für den Beginn des Personenstandes. 5 Es ist z. B. bereits üblich geworden, den "Ehevertrag" von Hogarth mit "Das dörfliche Jawort" von Greuze zu vergleichen. Beim Engländer bilden die beiden Väter und ihr Kuhhandel den Mittelpunkt des Gemäldes, während die zukünftigen Ehegatten in eine Ecke abgedrängt sind; vor ihrer Vereinigung sind sie bereits getrennt. Das ist genau das Bild der patriarchalischen Familie, die in ihren Stammbaum eingefügt ist. Beim Franzosen dagegen stehen die Verlobten im Vordergrund, und die Verwandtschaft stellt nur eine gefühlsmäßig verbundene Umrahmung dar. Das ist das Bild der Kleinfamilie, deren Existenzberechtigung ganz in ihrer Zukunft liegt (symbolisiert durch die Küken). Nebenbei bemerkt findet Greuze nicht nur an Familienidyllen Gefallen, denn er hat auch die Familie als Ort der Spannung dargestellt ("Die Mutter im Zorn" und "Die Verfluchung durch den Vater"). 6 Vgl. Philippe Aril~s: L'Enfant et la vie familiale, 1960, S. 377 - 387. Diese Art der bildlichen Darstellung reicht sehr weit zurück, da seit dem Ende des Mittelalters die Schenkerpaare sich auf den Altarflügeln der von ihnen der Kirche gestifteten Altaraufsätze abbilden ließen, Mann und Frau jeweils auf einer Seite an der Spitze der getrennten langen Reihen von Söhnen und Töchtern, obschon keine Spur von rechtlicher Ungleichheit zu sehen ist (z. B. im Louvre das Bild der Familie Jouvenel des Ursins, um 1444). Danach kommen die Niederländer vom Ende des 16. und vom goldenen Jahrhundert: Fran!;ois Pourbus, Martin und Cornelis de Vos, G. van THborghe und Frans Hals. Diese entfernen die Ahnen und Seitenverwandten, bringen Mann und Frau näher zusammen und schaffen so das Bild der Familie im neuzeitlichen Sinn, vielleicht weil gerade in dieser Zeit die Kleinfamilie entstand.

2. Kap.: Die Analyse von Dokumenten

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analyse konzipieren, wobei es sich sehr wohl um eine Quantifizierung, aber um eine rein von außen her durchgeführte handeln würde, nämlich das Zählen und Messen gewisser Dokumente ohne Rücksicht auf deren Sinn. Obwohl man sich diese Anwendung ohne weiteres bei Gerichtsurteilen oder notariellen Urkunden vorstellen kann, so scheint sie doch vor allem bei Gesetzes- und Verordnungs texten praktiziert worden zu sein1• Die Aufgabe einer derartigen Analyse kann darin bestehen, durch das Zählen von Texten Veränderungen der gesetzgeberischen Aktivität von einem Zeitraum zum anderen festzustellen. Diese Veränderungen können dann mit den sonstigen politischen, militärischen, wirtschaftlichen und anderen Faktoren in Verbindung gebracht werden und Erscheinungen der Gesetzgebungsinfiation aufdecken. Durch das Messen der Länge von Texten (mehr an Hand der Zahl der Worte als derjenigen der Artikel) ist es möglich, Wandlungen des Gesetzgebungsstils zu verfolgen, hinter denen sich entweder abweichende Vorstellungen des Gesetzgebers (Form des Sprichwortes oder komplizierter Begriffsapparat) oder gar Widerstände der Rechtsunterworfenen verbergen (da sich überall Gesetzesumgehungen einschleichen, muß das Gesetz alles vorweg regeln). Nützlicher und häufiger ist jedoch die Quantijizierung von innen her. Bei diesem Verfahren werden die Inhaltsanalysen vervielfacht, indem man von der Fallstudie, deren Tragweite begrenzt ist, auch wenn es sich um einen exemplarischen Fall handelt, zur Massenbeobachtung schreitet, deren Allgemeinheit stets einen größeren Anschein von Wissenschaftlichkeit für sich beanspruchen kann. Die hinsichtlich dieser Vervielfachung zu treffenden überlegungen beziehen sich auf den Multiplikator und den Multiplikanden. 1. Der Multiplikator kann entweder nach der Technik der Statistik oder nach derjenigen der Stichproben erhebung bestimmt werden; beide 1 Die relative Häufigkeit bestimmter Erbrechtsprobleme (wie die bevorzugte Zuweisung des landwirtschaftlichen Betriebes) in Entscheidungssammlungen (z. B. in der amtlichen Sammlung des Kassationsgerichtshofes) legt den Gedanken nahe, daß diese Institutionen zu vielen Streitigkeiten Anlaß geben, aber nicht den, daß diese Institutionen in der Praxis eine besonders große Rolle spielen. Im Falle von Gesetzessammlungen erlaubt die Wiederkehr von Normen, die denselben Gegenstand betreffen (wie z. B. in Frankreich hinsichtlich der Adoption, von 1923 bis 1966) keinen zwingenden Schluß auf eine besonders intensive praktische Anwendung, sondern den auf ein besonderes Interesse seitens des Gesetzgebers oder gar der öffentlichen Meinung und vielleicht auch auf Widerstände und Schwierigkeiten. Bei notariellen Urkunden (z. B. Eheverträgen) erweckt die ständige Wiederholung einer bestimmten Klausel (z. B. vor 1965 in Frankreich die Beschränkung der Gütergemeinschaft auf die Errungenschaften) die Vorstellung einer bei den Beteiligten verbreiteten Haltung (z. B. das Festhalten am Familienbesitz) und - noch hypothetischer die einer bestimmten objektiven Erscheinung in der Gesellschaft (in diesem Fall die durch die beweglichen Güter erlangte Bedeutung). Es ist somit jeder Fall für sich zu betrachten. Dennoch wird mit einer Analyse an Hand von Themen vor allem eine psychologische und nur selten eine soziologische Wirklichkeit erfaßt.

13 Carbonnier

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3. '.DeH: Methode der Rechtssoziologie

werden üblicherweise als Mittel der Tatsachenerhebung aufgefaßt, aber in ihrer Abstraktheit passen sie sich auch ohne weiteres Dokumenten an. Nebenbei bemerkt kann sogar gesagt werden, daß die allgemeine Justizstatistik, die herkömmlicherweise als reine Beschreibung von Grundgesamtheiten aufgefaßt wird (diesem Brauch haben wir uns angeschlossen), in Wirklichkeit bereits aufgearbeitetes Material erfaßt, da sie nicht nur eine Zusammenstellung von Tatsachen, sondern eine Statistik von Dokumenten ist; so ist z. B. die ver mittels der Angaben der Geschäftsstellen der Gerichte zusammengestellte Scheidungsstatistik eine solche der Scheidungsurteile. Später werden wir noch darauf hinweisen, daß die umfassende Tatsachenerhebung für statistische Zwecke ein sehr schwierig zu handhabendes Verfahren ist, wobei wegen der damit verbundenen Befragung von Privatleuten ein staatliches Monopol ganz natürlich ist. Es bestehen hingegen keinerlei grundsätzliche Bedenken dagegen, daß qualifizierte, außerhalb der Verwaltung stehende Forscher auf der Grundlage amtlicher Dokumente Statistiken erstellen. So könnte ein Team mit Hilfe eines Computers die Gesamtheit der Jahr für Jahr ergangenen Entscheidungen der Gerichte eines bestimmten Gerichtsbezirks aufarbeiten und sie nach der Art der Klagen klassifizieren, was keineswegs bereits von der amtlichen Justizstatistik geleistet wird. Oft vermag eine gewöhnliche Stichprobenuntersuchung wesentlich schneller und billiger gleichwertige Ergebnisse mit hinreichender Verläßlichkeit zu erbringen. Die dank der geringeren Anzahl erzielte Ersparnis erlaubt es sogar, jeweils mehr Informationen zu ermitteln. Nehmen wir z. B. eine Masse von 20000 Straßenverkehrsunfallakten der Justiz. Nach den Lehren der Mathematik ergäben 1000 nach dem Zufallsprinzip hieraus ausgewählte Fälle einen repräsentativen Querschnitt. Man kann nun die Akten chronologisch ordnen und sodann durchnumerieren, jede 20. Nummer herausgreifen und diese vermittels eines analytischen Bezugsrahmens untersuchen, dessen Punkte vielfache Fragen ergeben (über Alter, Geschlecht, Berufsschicht, Verfahrensdauer, geforderten sowie erlangten Schadensersatz usw.). Dieser Bezugsrahmen läßt sich auf Grund einer Voruntersuchung von 50 Akten konstruieren, bei der die häufigsten Angaben ermittelt werden. Aber damit kommen wir schon zum Multiplikanden. 2. Der Multiplikand wird durch den Gegenstand der Untersuchung bestimmt. Es kann sich hierbei, wie wir soeben gesehen haben, um einen analytischen Bezugsrahmen handeln, d. h. um eine Kombination von Punkten, welche Einzeluntersuchungen von Akten ergeben haben. Der Gegenstand kann aber auch sehr wohl durch ein bestimmtes Thema gebildet werden; dies entspricht sogar dem üblichen Vorgehen in den Sozialwissenschaften, wobei vorausgesetzt wird, daß die Häufigkeit eines

2. Kap.: Die Analyse von Dokumenten

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Themas in einer Reihe von Dokumenten derjenigen des Vorkommens in der Wirklichkeit entspricht. Es muß jedoch eine bestimmte Wirklichkeit zugrunde gelegt werden 2 • Im übrigen sind die Häufigkeitszeitreihen oft interessanter als die Häufigkeiten selbst. Selbst das Zählen bestimmter Worte kann sinnvoll sein. Es wäre z. B. denkbar, die zunehmende Bedeutung des Kindes in der modernen Gesellschaft durch Vergleich der Häufigkeiten der Worte Kind oder Kindheit in den Gesetzen verschiedener Zeiträume zu ergründen3 und daneben zu untersuchen, ob Sittenwandel sich (unmittelbar oder mit Verzögerung) in den Änderungen des Gesetzgebungsvokabulars widerspiegelt (es sei denn es liegt die umgekehrte Beziehung vor). In ähnlicher Weise könnte hinsichtlich des Wortes Familie verfahren werden (das noch im Code Napoleon von 1804 sehr selten vorkommt). Von der Häufigkeit eines Wortes in rechtlichen Dokumenten kann auch zutreffend auf das Vorhandensein eines Gedankens im Kollektivbewußtsein der Juristen geschlossen werden 4 • Es wäre jedoch zu gewagt, darüber hinaus noch von diesem Gedanken auf die Sache selbst zu schließen. Für Zeiträume, die als solche der Dekadenz des Rechts gelten, wie das spätrömische Kaiserreich, könnte sogar das Gegenteil anzunehmen sein, nämlich daß die mit dem größten Nachdruck beschworenen Institutionen besonders geringe Bedeutung in der Wirklichkeit hatten.

2 Der belgische Historiker Gilissen hat so die gesetzgeberische Aktivität seines Landes über einen langen Zeitraum hinweg, vom 16. Jahrhundert bis 1954, in von außen her quantifizierender Weise untersucht (Revue historique du Nord, 1958, Nr. 158). Man kann sein Vorgehen für etwas primitiv halten, denn er beschränkte sich darauf, in seinen Berechnungen jede Untergliederung als ein Element zugrunde zu legen, ohne deren Länge oder gar deren Kompliziertheit (was wiederum etwas anderes ist; mit derselben Anzahl von Worten kann eine verschieden große Anzahl von Normen formuliert werden) zu berücksichtigen. Abgesehen davon, daß es bezüglich des 20. Jahrhunderts wahrscheinlich unangebracht war, sich an einen Mittelwert zu halten, der aus einer zu ausgedehnten und heterogenen Periode (1900 - 1954) errechnet wurde (die staatsphilosophischen Auffassungen hinsichtlich der Gesetze erfuhren in der Zeit ab 1914 einen tiefgreifenden Wandel). Nichtsdestoweniger finden sich in diesem Artikel interessante Feststellungen: (1) die gesetzgeberische Aktivität war in Zeiten der Krise (1576 - 1580) und (2) der Revolution (1789 - 1790) am höchsten; (3) der aufgeklärte Absolutismus des 18. Jahrhunderts (Maria Theresia und vor allem Joseph H.) brachte für die habsburgischen Niederlande ein deutliches Anwachsen der Zahl der Texte mit sich, und (4) schließlich ist die Erscheinung der Gesetzgebungsinflation nicht auf unsere Zeit beschränkt. 3 Gemäß der Hypothese von Ph. Aries; L'Enfant et la vie familiale sous l' Ancien Regime, 1960. 4 In diesem Geist hat das "Institut international des Droits de l'homme" in Straßburg im Jahre 1971 es unternommen, die häufigsten Wörter in einer Masse von nationalen und internationalen Rechtsdokumenten mit Bezug auf die Menschenrechte zu ermitteln. Hierbei ergab sich, daß das Gesetz am häufigsten erwähnt wurcie und daß die Gleichheit vor der Freiheit kam.

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Drittes KapiteL

Die Tatsachenerhebung 1. Begriff und Unterscheidungen

Die Tatsachenerhebung ist dasjenige Forschungsverfahren, das am meisten der eigentlichen Berufung des Soziologen entspricht. Die Analyse von anderwärts bereits erstellten Dokumenten zwingt zu einem Arbeiten aus zweiter Hand, das auf die Dauer angesichts des beschränkten Vorrats an Fakten steril zu werden droht und auf jeden Fall keinen direkten Blick auf die Wirklichkeit eröffnet. Für den Soziologen ist es fruchtbarer, wenn nicht seine eigene Wahrheit, so doch seine eigenen Wahrheitsbeweise zu entwickeln. Er muß sich von den Büchern frei machen und Feldforschung betreiben, um aus dem Universum der Tatsachen neues Material zu gewinnen. Mehrere Wege führen zu dieser Wirklichkeit. Das Experiment ist in der Theorie am geeignetsten, aber die Beobachtung läßt sich leichter durchführen. Unter den verschiedenen Beobachtungsmethoden behält die einfachste, die ganz normale, qualitative und nicht quantifizierende Untersuchung ihren fundamentalen Wert. Nichtsdestoweniger ist die Quantifizierung das modernste Verfahren, sowohl in der Rechtssoziologie als auch in den anderen soziologischen Disziplinen, wenn sie auch nicht unbedingt dasjenige ist, dem die Zukunft gehört. Dieses Verfahren tritt in Gestalt der Statistik sowie der Stichprobenuntersuchung auf. 2. Die monographische oder qualitative Untersuchung

Die Unterschiede zwischen der monographischen und der extensiven Untersuchung (worauf wir später noch zurückkommen werden) sind mehr gradueller als grundsätzlicher Art, denn der Begriff der Monographie wird nicht in streng etymologischem Sinn verstanden. Hierunter können zwei oder gar mehrere Beobachtungsgegenstände fallen. Es handelt sich vielmehr um einen Gegensatz zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen. Die monographische Untersuchung ist im Grunde eine Fallstudie und ähnelt unter diesem Gesichtspunkt der Analyse von Gerichtsentscheidungen oder literarischen Fällen (ein Ehevertrag oder eine Erbschaft

3. Kap.: Die Tatsachenerhebung

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etwa), mit der Einschränkung, daß der Beobachter Feldforschung betreibt und sich in mündlichen Verkehr mit den beobachteten Individuen oder den diesbezüglichen Gruppen begibt. Hierbei wird davon ausgegangen, daß der beobachtete Fall nur deshalb untersucht wird, weil er repräsentativ für eine Gesamtheit ist. Dies ist eine Art Stichprobe, die aber intuitiv durch den Forscher bestimmt wird und nicht in wissenschaftlicher Weise wie bei den eigentlichen Stichprobenerhebungen. Dieses Verfahren hat in der Soziologie eine alte Tradition, denn seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts wurde es von Le Play in vollendeter Weise gehandhabt!. Wir wissen auch, daß dessen Werk der Rechtssoziologie angehört, da er auf das Familienrecht und sogar in noch juristischerer Weise auf das Erbfolgesystem des Code Napoleon stößt. In diesem Sinn widmete Le Play eine beispielhafte Monographie der Familie Melouga in Lavedan (im Bearn)2. Diese hatte er selbst an Ort und Stelle im Jahre 1856 beobachtet und danach weiterhin von seinem Schüler Cheysson beobachten lassen. In dieser von der Theorie der französischen Soziologenschule der Sozialreformer entwickelten Methode der aufeinanderfolgenden Untersuchungen3 steckte ein fruchtbarer Gedanke, der in unseren Tagen in gewissen amerikanischen Untersuchungstechniken (follow-up study oder panel) wiederaufgegriffen und vervollkommnet wurde. Le Plays Monographien sind übrigens keineswegs rein psychologische Darstellungen oder literarische Beschreibungen. Die Stellung, die in seinen Studien die wirtschaftliche Lage sowie das Familienbudget der Befragten einnehmen, beweist, daß bei ihm ein Bestreben zu quantifizieren, und sei es auch eine rein interne Quantifizierung, aber auf jeden Fall ein Suchen nach Objektivität, vorhanden war 4 • Vgl. S. 60. Le Play: L'Organisation de la famiIle selon le vrai modele signale par l'histoire de toutes les races et de tous les temps, 1. Auflage 1871, 4. (von Cheysson besorgte) Auflage 1895. 3 Cheysson, im Anhang zur 4. Auflage des soeben zitierten Werkes von Le Play, S. 215 ff. 4 Man könnte den Einwand erheben, daß Le Play die den Gegenstand seiner Untersuchung bildenden Familien nach höchst subjektiven Kriterien ausgewählt hat, denn es mußte sich um (1) Arbeiterfamilien handeln, die sich in (2) materiell gesicherten Verhältnissen befanden und (3) im Einklang mit den Sittengesetzen lebten. Es muß ihm jedoch zugestanden werden, daß dieses dreifache Erfordernis für ihn keinen anderen Sinn hatte, als die Repräsentativität der Monographie zu gewährleisten. Die Arbeiter- oder allgemeiner die Proletarierfamilien haben schon allein durch die Tatsache, daß ihnen Kapitalbesitz fehlt, geringere Möglichkeiten als das Bürgertum, sich von der Außenwelt abzuschließen. Da sie so den Einflüssen der Gesamtgesellschaft leichter zugänglich sind, repräsentieren sie diese besser. Aber diejenigen Arbeiterfamilien, die sich in einer ausgesprochenen Notlage befinden oder abweichendes Moralverhalten aufweisen, stellen pathologische Fälle dar und bilden ein Lumpenproletariat, das nicht mehr repräsentativ für die Gesamtheit ist. 1

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3. Teil: Methode der Rechtssoziologie

Die monographische Untersuchung erhielt in unseren Tagen neue Anstöße durch eine gewisse Imitierung der extensiven Untersuchung. Nicht nur sind die betrachteten Lebensbereiche vielgestaltiger geworden - neben der Familie die Werkstatt, die Fabrik, das Dorf und die Stadt (d. h. von vornherein weniger homogene und daher weniger monistische Lebensbereiche als die Familie) - sondern es haben sich auch die Beobachtungsgegenstände vervielfacht. Man beschränkt sich nicht mehr auf eine Familie, auch nicht auf zwei oder drei, sondern befaßt sich mit 15 oder gar 50, so daß die monographische Untersuchung sich in eine kleine extensive Untersuchung verwandelt, die allerdings der wahrscheinlichkeitstheoretischen Grundlagen ermangelt und dafür an Tiefe gewinnt, was sie an Breite verliert5 • Man zieht deshalb auch dem Ausdruck Monographie denjenigen der qualitativen Untersuchung vor. Es ist heutzutage ein gängiges Verfahren, die intensive bzw. qualitative Untersuchung mit der extensiven bzw. quantitativen Stichprobenuntersuchung zu verbinden, sei es, daß erstere im Rahmen einer Voruntersuchung die Probleme sichtbar macht und die zu stellenden Fragen ergibt6 , oder sei es, daß sie nachträglich zur Vertiefung einzelner Punkte verwendet wird, die in der Eile der ersten Befragung nicht hinreichend aufgeklärt worden sind7 • In unserer Zeit ist das monographische Vorgehen auch noch von einer anderen Seite aus beeinflußt worden, und zwar durch die medizinische oder genauer psychopathologische Wissenschaft. Die herkömmliche Medizin zeichnet sich unter allen Wissenschaften dadurch aus, daß sie sich weitgehend auf Grund des Studiums von Einzelfällen fortentwickelt hat. In ihrer Anwendung auf Erscheinungen abweichenden Verhaltens (z. B. Jugendkriminalität und Konkubinat) oder zumindest solche außergewöhnlicher Natur (wie z. B. die Lage der geschiedenen Frau oder des unehelichen Kindes) nimmt die monographische Methode leicht die Gestalt einer Beobachtung klinischer Fälle ans. Der jeder intensiven Untersuchung immanente größere psychologische Reichtum prädispo5 z. B. die Untersuchung von Andn§e Michel von 276 häuslichen Gemeinschaften, die in möblierten Hotels des Groß-Pariser Stadtgebietes lebten (Famille, industrialisation, logement, 1959, S. 51 ff.), und diejenige von M.-P. Marmier von 60 Familien, die ein Kind adoptiert hatten (Sociologie de l'adoption, etude de sociologie juridique, 1969, S. 22). 8 Dieses Verfahren wurde 1965 in der Umfrage des LF.O.P. (führendes französisches Meinungsforschungsinstitut) über die Erbfolge angewandt (Sondages, 1970, Nr. 4). 7 Dieses Verfahren wurde in den Jahren 1963/1964 in der Umfrage des I.F.O.P. über die Güterstände angewandt (Sondages, 1967, Nr.1). 8 So stellt sich uns die in den Jahren 1966 und 1967 durch das LF.O.P. für das französische Justizministerium über die nicht verheirateten Paare durchgeführte Befragung dar (Zusammenfassung hiervon in "Compte general de l'administration de la justice", 1969, S. R. 91 ff.). Nach dem zusammenfassenden Bericht von Masse-Simeray handelte es sich um eine Folge von Interviews und von klinischen Untersuchungen (bezogen auf 40 Fälle).

3. Kap.: Die Tatsa·chenerhebung

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nierte dieses Verfahren zu einem Abgleiten in Richtung einer psychologischen Untersuchung, wenn nicht gar zu einem solchen zur Couch des Psychiaters hin. Es ist selbstverständlich, daß für eine Untersuchung von derartiger Tiefe besonders qualifizierte Interviewer erforderlich sind, die neben psychologischer Erfahrung besondere Charismen von Toleranz, Verständnis und ständiger Bereitschaft aufweisen. Bei diesem Vorgehen liegt auch die Technik der teilnehmenden Beobachtung nahe, bei der sich der Forscher in die zu untersuchende Gruppe gefühlsmäßig integriert9 • Man kann sich hier fragen, ob man denn damit nicht an der Grenze zum Roman oder sagen wir zum Beobachtungsroman, von dem wir wissen, daß er ein rechtssoziologisches Dokument darstellen kann, angelangt ist 1o • Zweifellos betrachtet der Forscher den Gegenstand nicht vermittels des Prismas seiner Vorstellungskraft, sondern beschränkt sich darauf, die von ihm Befragten sprechen zu lassen. Die Subjektivität wirkt sich jedoch bei der Zusammenstellung sowie der Darbietung der Monologe und Dialoge aus. Diese Art der romanhaften Soziologie hat in Verbindung mit dem Gebrauch eines Tonbandgerätes, das die Funktion der Garantie (oder der Illusion) einer mechanischen Objektivität hat, zumindest ein Meisterwerk, und zwar "Die Kinder von Sanchez" von Oscar Lewis ll , hervorgebracht; es handelt sich hierbei auch sehr wohl um ein rechtssoziologisches Meisterwerk, da der Bereich der Familie dem Recht angehört (notfalls kann man auch einen solchen Fall wie den der Sanchez oder den des mexikanischen Proletariats dem Infrarechtlichen oder gar dem Gegen-Recht zuordnen). Aber was hätte Le Play angesichts dieses letzten Schreis der Familienmonographie gesagt, und vor allem was hätte Durkheim hierbei gedacht? Das Prinzip, daß nur was allgemein ist auch wissenschaftlich sein kann, lieferte der Durkheimschule eine gesicherte Basis zur Bekämpfung von Le Play und seinen Methoden. Wie wir jedoch gesehen haben, wird die monographische Methode dennoch nach wie vor betrieben. Diese Fortdauer erklärt sich teilweise durch den Zwang der Verhältnisse, so durch den Umstand, daß ein auf sich allein gestellter Forscher keine umfasVgl. S. 168. Vgl. S. 187. 11 Das Original ist 1961 in den USA erschienen und 1964 kam eine französische übersetzung heraus. In der Zwischenzeit hat Oscar Lewis (Professor der Anthropologie, 1914 - 1970) andere Werke veröffentlicht, denen dieselbe Methode zugrunde liegt: Pedro Martinez (über die mexikanische Bauernschaft) und La Vida (über die portorikanischen Viertel in New York). - Die Befragung mit Hilfe eines Tonbandgerätes scheint mit dem Roman "Kaltblütig" von Truman Capote (1959), der aus Tonbandaufnahmen von Unterhaltungen mit zwei jungen Kriminellen besteht, begonnen zu haben. Das war Kriminalpsychologie, wenn nicht gar Soziologie. Für Frankreich ist Alain Prevost mit Grenadou, paysan fran!;ais, 1966, sowie Jean Duvignaud mit Chebika, 1968, anzuführen. g

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3. Teil: Methode der Rechtssoziologie

sende Untersuchung vornehmen kann, oder durch die Tatsache der weitgehenden Zerstreuung des zu beobachtenden Personenkreises (z. B. diejenigen, die sich in freier Lebensgemeinschaft befinden, oder die Geschiedenen), die eine mathematisch exakte Stichprobenerhebung unmöglich macht. Es gibt aber auch einen allgemeineren Grund, und das ist die sich in allen Sozialwissenschaften äußernde unwiderstehliche Anziehungskraft der psychologischen Verfeinerung: auf diesem Gebiet wird die Monographie stets gegenüber der Quantifizierung im Vorteil bleiben. 3. Die Quantifizierung

Daß mit der Quantifizierung in der Soziologie Mißbrauch getrieben werden kann, ist hinreichend bekannt, so daß es nicht nötig ist, die von SOTokin in den 50er Jahren erhobenen Anklagen zu wiederholen. Bei aller Kritik darf jedoch nicht vergessen werden, daß gerade sie am besten geeignet ist, dem Grundsatz der Objektivität Genüge zu leisten. Sie hat sogar ganz besondere Qualitäten im Rahmen einer Soziologie, die sich mit dem Recht befaßt, bei dem es fast zum Fach gehört, das entgegengesetzte Verfahren anzuwenden und die Beobachtung auf eine Studie von psychologischen bzw. pathologischen Fällen zurückzuführen. Eine Betrachtung der Erscheinungen vermittels Zahlen erlaubt es, die Institution wiederzufinden und jenseits der zwischenmenschlichen Beziehungen die Gesellschaft und die sozialen Interessen bzw. die öffentliche Ordnung sichtbar zu machen. In der Rechtssoziologie kann es deshalb vielleicht eher zutreffen, daß wissenschaftlich nur das ist, was allgemein ist. Die Quantifizierung kann im übrigen auf zwei verschiedene Arten, die nacheinander aufgekommen sind, verstanden werden. In einer ersten Zeit bestand die Quantifizierung aus kaum mehr als einer mehr oder weniger weit getriebenen Vervielfältigung soziologischer Beobachtungen. Wenn, so wie Le Play es bei der Familie Melouga vorexerziert hat, eine Bauernfamilie beobachtet wird, so liegt eine Monographie vor. Von einer quantifizierenden Technik kann gesprochen werden, wenn 10,20 oder 100 Bauernfamilien in vergleichbarer Lage untersucht werden. Die Vielzahl von Feststellungen läßt vermittels der Induktion den Schluß auf das Allgemeine zu. In unserer Zeit besteht eine wesentlich differenziertere Auffassung von der Quantifizierung in den Sozialwissenschaften, in der sich eine neue Konzeption der Mathematik widerspiegelt. Die Mathematik wird hiernach nicht mehr als eine schlichte Wissenschaft von Mengen, sondern mehr als eine Sprache und eine Logik angesehen. Quantifizierung in der Soziologie bedeutet nunmehr mathematische Formalisierung1 , die sich 1

Vgl. R. Boudon (1967), S. 16 ff.

3. Kap.: Die Tatsa·chenerhebung

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uns in algebraischen Formeln von beobachteten Erscheinungen und in graphischen Abbildungen von erklärenden Modellen, die auf eine beliebige Anzahl von Fällen anwendbar sind, darstellt. Es gibt offensichtlich keine grundsätzlichen Einwände dagegen, daß die Rechtssoziologie von diesen Fortschritten bei der Quantifizierung profitiert. Die Tatsache, daß die Juristen, die herkömmlicherweise mehr literarisch als mathematisch ausgerichtet sind, dem noch widerstreben, ist nur eine begrenzte Schwierigkeit, die nicht von Dauer sein kann. Ein Hindernis von mehr struktureller und dauerhafter Art könnte sich aus einer gewissen Unzugänglichkeit der Öffentlichkeit für zu anspruchsvolle Mathematik ergeben, wenn es sich bestätigen sollte, daß die formalsprachliche Intelligenz weniger gleichmäßig als die gemeinsprachliche Intelligenz verbreitet ist 2 , denn die praktischen Anwendungen, insbesondere auf dem Gebiet der Gesetzgebung, zu denen die Rechtssoziologie hinführt, bedürfen zu ihrer Wirksamkeit der Rezeption durch die Allgemeinheit und damit auch des Verständnisses durch diese, was voraussetzt, daß diesem die Grundlagen verständlich sind 3 • 4. Die verschiedenen quantitativen Techniken Es ist schon feststehende übung geworden, zwei quantitative Techniken einander gegenüberzustellen, und zwar die Statistik und die Stichprobenerhebung1 • Vor kurzem wurde noch eine dritte Kategorie ins Spiel gebracht, die Analyse natürlicher Gegebenheiten, aber hierbei handelt es sich mehr um eine Anwendung der beiden anderen Techniken als um ein eigenständiges Verfahren. Der am meisten ins Auge fallende Unterschied zwischen der Statistik und der Stichprobenerhebung bezieht sich auf die Ausdehnung des Beobachtungsfeldes. In bei den Fällen liegt eine extensive Beobachtung vor, aber die Statistik strebt danach, die Gesamtheit der zu beobachtenden Erscheinungen zu erfassen, während die Stichprobenuntersuchung sich bewußt nur auf einen Teil bezieht. Nur auf Grund einer unzulänglichen Verwirklichung dieses Prinzips ist eine Statistik nicht allumfassend, denn ihrem Wesen nach soll Vollständigkeit erreicht werden; in der Rechtssoziologie gelingt dies bisweilen (in den Fällen, in denen die der Statistik zugrunde liegenden Urkunden konstitutive Vgl. Philippe eh. Picard: Ethno-sociologie de la matbematique, A.S., 1970. Vgl. S. 163. 1 Im Einklang mit dem von uns zugrunde gelegten Haupteinteilungsprinzip der Methoden erinnern wir daran, daß es sich bei der Statistik wie bei der Stichprobenerhebung um Tatsachen, genauer um kollektive Rechtserscheinungen handelt. Statistik und Stichprobenerhebung von Dokumenten, d. h. quantitative Inhaltsanalysen, sind mit diesen zusammen behandelt worden, vgl. S.192 ff. 2

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3. 'reH: Methode der Rechtssoziologie

Bedeutung haben, wie bei der Eheschließung oder der Anerkennung eines unehelichen Kindes). Auf der anderen Seite darf nicht übersehen werden, daß die Stichprobenerhebung zwar nur einen Teil der Wirklichkeit erfaßt, aber dies doch unter der Voraussetzung, vermittels dieser Auswahl, bei angemessener Zusammensetzung, einen Wahrscheinlichkeitsschluß auf das Ganze vornehmen zu können. Aus der Tatsache der Allumfassendheit leitet die Statistik eine wissenschaftliche überlegenheit gegenüber der Stichprobenerhebung ab, nämlich die überlegenheit dessen, was gewiß ist über das, was nur wahrscheinlich ist. Diese überlegenheit ist jedoch meßbar, und sie hat in dem Maße abgenommen, in dem die Technik der Stichprobenerhebung sich vervollkommnet hat. Diese beiden Techniken unterscheiden sich auch noch durch ihre Herkunft. Während die Statistik im Einklang mit dem etymologischen Sinn ein Mittel in der Hand des Staates ist, so ist die Stichprobenuntersuchung ein Mittel in Privathand, das dem Forscher zugänglich ist. Zweifellos kann hierin ein rein zufälliger und nicht wesensmäßiger Unterschied gesehen werden, denn in der Tat veranlaßt auch der Staat gelegentlich Stichprobenuntersuchungen (um sich einen Zensus zu ersparen), und andererseits erstellen bisweilen auch nichtstaatliche Organisationen Statistiken im eigentlichen Sinn (etwa ein Arbeitgeberverband, der Zahlen hinsichtlich der Betriebe seiner Branche zusammenstellt). Man könnte auch einen anderen Zug herausgreifen, der darin tendiert, diese beiden Techniken einander anzugleichen. In der modernen Praxis geschieht es nämlich immer häufiger, daß die Ergebnisse einer Stichprobenerhebung, nachdem sie durch Forscher, die sie durchgeführt haben, ausgewertet worden sind, in einer Datenbank aufgespeichert werden und zukünftigen Forscherteams zur Verfügung stehen, die hieraus quantitative Angaben zu anderen Zwecken entnehmen können. Wenn dieses Verfahren der Sekundäranalyse in solcher Weise auf Stichprobenerhebungen ausgeweitet wird, so ist es offensichtlich, daß letztere ebenso außerhalb der sie benutzenden Soziologen stehen wie die Statistiken. Nichtsdestotrotz hat der Unterschied zwischen der Zählung und der Stichprobe die Geschichte der Soziologie geprägt. Wenn die Fortschritte der Soziologie gering waren, solange sie nicht über das Mittel der Statistik verfügte, so gerade deshalb, weil dieses Mittel sie in enge Abhängigkeit von der öffentlichen Verwaltung brachte, sowohl hinsichtlich der Bestimmung der Sektoren, in denen eine Zählung angesetzt werden sollte, als auch hinsichtlich der Auswahl der zu erhebenden Angaben. Die Verwaltung wählte natürlich gemäß ihren eigenen Bedürfnissen und keineswegs nach denen der Wissenschaft aus. Dies

3. Kap.: Die Tatsachenerhebung

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änderte sich jedoch mit den Stichprobenuntersuchungen, und die wissenschaftlichen Bedürfnisse konnten hinfort unmittelbar berücksichtigt werden; dies sind nach Maß und sozusagen im Auftrag der Wissenschaft erstellte Statistiken. Die Leichtigkeit der Handhabung dieses Werkzeugs ist ein Vorzug, der mehr als nur einen Ausgleich für die soeben festgestellten Nachteile darstellt. In der Tat haben sich die Soziologen nun daran gewöhnt, den einer Stichprobe zukommenden Verläßlichkeitsgrad anzuerkennen. Auch die bei Stichproben zu berücksichtigende Fehlergrenze hat weder der Entwicklung noch dem Ansehen der Soziologie geschadet. Dies erklärt auch, weshalb die Statistik, die in der Durkheimschen Soziologie das am meisten geschätzte Instrument war, in neuerer Zeit teilweise von der Stichprobenerhebung zurückgedrängt wurde, dank welcher Rechtserscheinungen quantitativerfaßt werden können, für welche ein amtlicher Zensus in der Praxis nicht in Frage kam, sei es, daß es sich um zu sehr im psychischen Bereich liegende Erscheinungen (z. B. politische Meinungen) oder um zu sehr dem Intimbereich angehörende Phänomene (z. B. die von den Erblassern bei sich aufbewahrten eigenhändigen Testamente) handelte, oder sei es, daß sie zu belanglos waren (z. B. wieviel Taschengeld die Kinder bekommen). Selbst wenn sich die Rechtserscheinungen im übrigen für eine staatliche Zählung eignen, so können diese doch normalerweise nur auf der Grundlage grober Einheiten durchgeführt werden, während die Stichprobenerhebung es ermöglicht, feinere Aufgliederungen vorzunehmen und damit verschiedene Gattungen sichtbar zu machen. Unter verschiedenen Gesichtspunkten scheint allerdings die Statistik ihre überlegenheit zu bewahren. Wenn wir uns eine zahlenmäßige Vorstellung von einem so wichtigen Zeitabschnitt wie dem 19. Jahrhundert machen wollen (dies gilt vor allem hinsichtlich der Familienverhältnisse), so besitzt die Statistik (in diesem Fall die Personenstandsstatistik) zwangsläufig das Monopol. Außerdem eignet sich die Statistik im allgemeinen auch eher zu einem Vergleich verschiedener Zeiträume, weil sie auf einer besser fundierten Technik beruht. Schließlich verfügt sie, wenn nicht schon über eine größere Beweiskraft, so doch zumindest über eine größere überzeugungskraft in der Öffentlichkeit, und zwar in dem Maß, in dem das Denken in Wahrscheinlichkeiten für viele unverständlich bleibt. Eine Rechtssoziologie, die nach Anwendungen auf dem Gebiete der Gesetzgebung strebt, ist wiederum gehalten, der im Volke verbreiteten Skepsis Rechnung zu tragen.

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3. '!Ieil : Methode der Rechtssoziologie 5. Die einzelnen Schritte der quantitativen Untersuchung

Die Untersuchung läßt sich in zwei Schritte zerlegen, zum einen die

Sammlung und zum anderen die Analyse der Daten. Man ist versucht,

in dieser Hinsicht eine Unterscheidung zwischen der Stichprobenuntersuchung, bei der beide Schritte von demselben Forscher durchgeführt werden, und der "Statistik", bei der zwei verschiedene Personenkreise nacheinander tätig werden, nämlich zuerst die Statistiker und dann die Soziologen, zu machen. Dieser Unterschied besteht in der Tat, und er ist auch nicht ohne Interesse. Nichtsdestoweniger darf man ihn auch nicht überbetonen, denn bei jeder auch nur einigermaßen umfassenden Stichprobenerhebung ist es ausgeschlossen, daß derjenige, welcher die Feldforschung im eigentlichen Sinn betreibt, auch die Ergebnisse auswertet. Noch bedeutsamer ist andererseits, daß auch die Ersteller der Statistiken, obwohl sie nicht mit denen identisch sind, die jene verwenden, in gewissem Sinne ebenfalls Soziologen sind, da sie in soziologischer Absicht Tatsachen erforschen. Diese überlegungen rechtfertigen eine gemeinsame Betrachtung der beiden Vorgehensweisen. Während jedoch im Stadium der Analyse das Zusammenwirken sehr eng sein kann, so wird uns bei der Datensammlung vor allem die Stichprobenuntersuchung und nicht so sehr die Statistik beschäftigen, denn letztere ist eine Wissenschaft für sich, die nicht jeder zu beherrschen vermag, und wir können in dieser Hinsicht nur eine Zusammenstellung der Quellen, die sie der Rechtssoziologie zur Verfügung stellt, geben. 6. Die in der Rechtssoziologie verwendeten Statistiken Es ist eine treffende Bemerkung, daß schon der Geist ihrer Disziplin die Juristen von der Statistik abbringt1 • Während die Statistik sich für die allgemeine Erforschung der Tatsachen interessiert und so gezwungen ist, von den Randerscheinungen zu abstrahieren, so befaßt sich das Recht gerade mit den Ausnahmeerscheinungen, weil diese häufig Anlaß zu Rechtsstreitigkeiten geben. Das Maß an juristischem Scharfsinn, das von den römischen Rechtskonsulenten in bezug auf die posthume Geburt entwickelt worden ist, stand aller Wahrscheinlichkeit nach in keinem Verhältnis zur tatsächlichen Häufigkeit dieses Ereignisses. Noch in unseren Tagen könnte man bei ausschließlicher Betrachtung der Lehrbücher des Zivilrechts auf den Gedanken kommen, daß u. a. alle ehelichen 1 J. Lhomme: Les phenomEmes economiques en tant que phenomenes nombreux, Revue economique, 1950, S. 45 ff.; AscareHi: Economica di massa e statistica giudiziara,Saggididiritto commerciale, 19'f15, S. 52'1 ff.; Faul Durand: La connaissance du phenomene juridique et les täches de la doctrine moderne du droit prive, D. 1956, chron. 73.

3. Kap.: Die Tatsachenerhebung

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Geburten ungewiß und alle Eigentumsrechte zweifelhaft sind. Die Verwendung der statistischen Methode in der Rechtssoziologie kann gerade die positive Wirkung haben, daß zum einen die nichtpathologischen Erscheinungen die ihnen zukommende Bedeutung zurückerlangen, und zum anderen, daß in praktischer Hinsicht die Orientierung einer Gesetzgebung, die mehr großen Zahlen als klinischen Fällen Rechnung trägt, erfaßt wird. Es liegt nahe, der Gleichgültigkeit der Juristen die Schuld an einer relativen Armut an statistischen Informationen über Rechtserscheinungen zuzuschreiben. In Wirklichkeit ist dieser Mangel jedoch gar nicht so ausgeprägt wie es scheint, wenn man zu den spezifisch rechtlichen Quellen die entlehnten Quellen hinzufügt, d. h. diejenigen, welche auf die Bedürfnisse anderer Disziplinen, wie z. B. die Nationalökonomie oder die Demographie, zugeschnitten sind, die aber dennoch für den Rechtssoziologen verwendbar sind. Wir geben im folgenden einen überblick über diese Vielfalt der Quellen. 1. Die wirtschaftlichen Quellen. Diese sind schon für sich genommen die reichsten Quellen, aber sie sind meist wenig für rechtssoziologische Zwecke geeignet, da sie in der Tat nicht so sehr an die rechtlichen Formen als an die monetären Aspekte der Erscheinungen anknüpfen. Bei der Wohnraummiete etwa wird für größere Bevölkerungsaggregate der durch das französische Gesetz vom 1. September 1948 geschaffene finanzielle Vorteil errechnet2 , ohne sich bei den zivilrechtlichen Problemen aufzuhalten, nämlich dem Mietvertrag und dem Räumungsaufschub, obwohl dadurch viele Begünstigte noch im Schatten dieses Gesetzes verbleiben. Bei Handelsgeschäften wird der Gesamtwert der Transaktionen und nicht die Zahl der Verträge erfaßt. Bei der Berechnung der Lebenshaltungskosten werden sämtliche Ausgaben eines Haushalts zusammengezählt, ohne zu unterscheiden, ob diese durch den Mann oder durch die Frau gemäß einer Sitte (etwa der Arbeiterschaft) bewirkt werden, obschon die Verwaltung dieser beiden Budgets mit sehr verschiedenartigen Verhaltensweisen im Zusammenhang steht.

Man kann die Steuerstatistiken als eine Gattung der Wirtschaftsstatistiken ansehen. Diejenigen der französischen Verkehrssteuerverwaltung scheinen von besonderem Interesse für eine Privatrechtssoziologie zu sein, da diese Verwaltung ja imstande ist, die Rechtsgeschäfte und die Vermögensänderungen zu erfassen, bei denen sie eine Steuer erhebt. Diese Stelle ist jedoch auf Grund ihrer überlastung mit dringenderen Aufgaben weit davon entfernt, die an sich von ihr wahrnehmbare Funktion eines statistischen Dienstes für die Privatrechtssoziologie zu erfüllen. So konnte sie im Jahre 1963, als sich der Gesetz2 Dies war das Thema einer Untersuchung des I.N.S.E.E. (Economie et statistique, 1971).

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3. 'lieH: Methode der Rechtssoziologie

geber mit der Güterrechtsreform befaßte, diesem keine Statistik der verschiedenen Eheverträge liefern (die letzte datierte aus dem Jahre 1898).

2. Die demographischen Quellen. Für eine Soziologie des Personenstandes und der Familie sind die Personenstandsregister von unschätzbarem Wert. In Frankreich änderte sich die Zielsetzung der hierfür zuständigen Stelle im Laufe der Zeit. Im vorigen Jahrhundert erwartete man von ihr entsprechend der herrschenden individualistischen Auffassung, den Einzelpersonen einen Beweis für ihren Personenstand zu liefern. Heute muß sie auch eine soziologische Funktion erfüllen, und aus diesem Grund besteht ein organisiertes Zusammenwirken zwischen der Justizabteilung des Personenstandswesens und dem Nationalen Statistischen Amt (Institut National des Statistiques et d'Enquetes Economiques, abgekürzt LN.S.E.E.). Die Volkszählungen können die Personenstandsstatitsik ergänzen. So wurde anläßlich derjenigen, welche in Frankreich im Jahre 1954 durchgeführt wurde, auch eine Frage über diejenigen Personen, die mit dem Haushaltsvorstand in eheähnlicher Gemeinschaft leben, gestellt. Die Antworten hierauf ergaben ein Bild von der zahlenmäßigen Bedeutung der freien Lebensgemeinschaft, einer Erscheinung, die außerhalb der Reichweite der Personenstandsstatistik ist3 • Es war im übrigen möglich, diese Daten der Volkszählung vermittels der Statistiken gewisser Kassen für Familienzulagen zu überprüfen. In der Tat stellen auch jene, ebenso wie diejenigen der Sozialversicherung, eine reiche Quelle (demographischer) Informationen (im weitesten Sinn) dar, deren Ausschöpfung für das Zivilrecht sehr fruchtbar sein könnte.

3. Die im eigentlichen Sinn rechtlichen Quellen 4 • Dies sind die Justizstatistiken, wie etwa der jährlich erscheinende Rechenschaftsbericht der Zivil- und Strafrechtspfiege in Frankreich (Compte general de l'Administration de la Justice criminelle et civile). Dessen Funktion hat sich seit seiner Begründung im Jahre 1827 ebenfalls geändert. Am Anfang war er vor allem ein verwaltungs internes Dokument, das der Staatskanzlei Angaben sowohl zur Ermittlung der unausgelasteten als auch der überlasteten Gerichte verschaffen sollte, um demgemäß die Stellenzuweisungen in der Justiz anpassen zu können. Das soziologische Interesse entwickelte sich erst im weiteren Verlauf und im übrigen zunächst auf dem Gebiet des Strafrechts, bevor es das Zivilrecht erreichte, und zwar aus denselben Gründen, die auch dazu führten, daß Thery: Le concubinage en France, R.T.D.C., 1960, S. 33 ff. Vgl. A. Davidovitch und H. Levy-Bruhl: La statistique et 1e Droit, A.S., 1958, S. 353 ff. 3

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3. Kap.: Die Tatsachenerhebung

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die Kriminalsoziologie sich vor der Zivilrechtssoziologie konstituieren konnte. Nachdem sie unter der Leitung von Gabriel de Tarde am Ende des vorigen Jahrhunderts eine Art goldenes Zeitalter erlebt hatte 5, scheint die von der Staatskanzlei erstellte allgemeine französische Justizstatistik in eine Periode des Mißkredits geraten zu sein. Die Eigenwilligkeit oder Nachlässigkeit, die den damit beschäftigten Beamten (junge Assessoren der Staatsanwaltschaft für die Strafrechtspflege und Geschäftsstellenbeamte für die Zivilrechtspflege) zugeschrieben worden sind, erzeugten einen Verdacht der Ungenauigkeit aller Daten. Jedoch erfolgte seit den sechziger Jahren ein tiefgreifender Wandel zum Besseren, und nun herrscht ein ständiges Bemühen, den wissenschaftlichen Wert des alljährlich herauskommenden Dokuments zu erhöhen. Nach wie vor läßt jedoch dieses Papier in seinem derzeitigen Aufbau viele Wünsche der Soziologie, vor allem der Zivilrechtssoziologie, unbefriedigt. Man kann nicht den Vorwurf erheben, daß die Rechtserscheinungen im allgemeinen nur in Gestalt des Streitfalles bekannt gemacht werden, denn diese Beschränkung ergibt sich aus der Natur einer Justizstatistik. Aber auch bei den Streitfällen wäre eine abwechslungsreichere Darstellung erforderlich. Die Addierung sämtlicher Urteile eines Gerichtsbezirks ist nur in bezug auf die Erscheinung der Rechtsstreitigkeit selbst bzw. die Kollektiverscheinung zu prozessieren von soziologischem Interesse, welche wiederum nur einen geringen Ausschnitt aus einem unendlich viel umfangreicheren Forschungsgebiet darstellt. Zwei Arten von Verbesserungen wären wünschenswert, um der französischen Justizstatistik einen größeren soziologischen Wert zu verleihen: -

eine Vermehrung der Tabellen, in denen die Urteile nach der Art der Rechtssache klassifiziert werden (was zur Zeit nur für wenige Prozeßarten der Fall ist, so die Scheidung, die Ehelichkeitsanfechtung und das Vaterschaftsfeststellungsverfahren), und vor allem

-

für jede Gattung von Rechtssachen die Ermittlung und Veröffentlichung der Faktoren, die den Prozeß determinieren können (z. B. bei der Ehescheidung die Berufsschicht der Gatten, ihr Alter, Zahl und Alter der Kinder usw.). Aber um diese Daten zu gewinnen, die nicht unbedingt in den Urteilen enthalten sind, könnte man sich nicht damit begnügen, nachträglich eine Zählung durchzuführen, sondern es müßte bereits zu Beginn des Verfahrens eine Karteikarte 5

Vgl. o. S. 78.

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3. Teil: Methode der Rechtssoziologie

für soziologische Zwecke ausgefüllt werden. Ein solches Verfahren wird bereits seit 1970, nicht ohne Widerstände, bei Scheidungsprozessen praktiziert. 7. Die Stichprobenerhebung: Die Auswahl der Population

Nach einem sehr vereinfachten Schema besteht die Stichprobenerhebung aus der Befragung einer Bevölkerungsauswahl vermittels eines Fragebogens. Diese Technik ist bereits in der allgemeinen Soziologie eingehend untersucht worden!, und allein die Besonderheiten, die bei ihrer Anwendung auf rechtssoziologischem Gebiet bedeutsam sind, geben uns hier Anlaß zu einigen Bemerkungen. Die Statistiker sprechen von der Population als der Grundgesamtheit aller Elemente, die wenigstens ein Merkmal gemeinsam haben und über die man Aussagen machen will. Die Stichprobe ist eine Auswahl aus dieser Population, die so zusammengestellt ist, daß in bezug auf sie gemachte Beobachtungen Schlüsse auf die Grundgesamtheit zulassen, obwohl diese nicht unmittelbar beobachtet wird. a) Die Wahl der Population. Sie muß eine logische Beziehung zum Gegenstand der Befragung und darüber hinaus zum allgemeinen Ziel der Untersuchung aufweisen. Auf diese Weise wird die Relevanz der Antworten in bezug auf die gestellten Fragen gewährleistet. Hieraus leiten sich einige der Rechtssoziologie eigene Besonderheiten ab. 1. Es gibt Fälle, in denen schon der Sinn der Untersuchung eine Aussage über die Gesamtheit der erwachsenen Bevölkerung des Landes erfordert, wie etwa bei den Meinungsumfragen vom Typus einer Volksabstimmung2 • Deren Beweiskraft beruht auf einer Art Nachahmung der eigentlichen Volksabstimmung, und aus diesem Grund muß auch die zu erfassende Population so weit wie möglich der Wählerschaft gleichkommen, die bei Verwirklichung der direkten Demokratie über den Volksentscheid abstimmen müßte. Die der Stichprobenerhebung zugrunde zu legende Auswahl ist demgemäß auch das, was die Fachleute ein national sample nennen3 •

2. Eine rechtssoziologische Untersuchung kann sich auf juristische oder nicht juristische Kreise erstrecken. Auf der einen Seite finden sich 1 Hierüber gibt es eine sehr umfangreiche Bibliographie, z. B. Pinto und Grawitz: Methodes des sciences sociales, 1964, Nr. 490 ff.; Theorie et pratique des sondages, 1966; DavaL u. a.: Traite de psychologie sociale, Band 1, 1967, S. 121 ff.; Cesari: Questionnaire, codage et tris, 1968; J. Antoine: L'Opinion,

techniques cfenquetes par sondage, 1969; Th. Caplow: L'Enquete sociologique, 1970. 2 Vgl. S. 288. 3 In Frankreich besteht dieser repräsentative Querschnitt der gesamten erwachsenen Bevölkerung aus 1800 bis 2000 Personen.

3. Kap.: Die Tatsachenerhebung

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die Juristen in ihren verschiedenen Berufen, insgesamt nur eine sehr kleine Minderheit in dem betreffenden Land. Auf der anderen Seite steht die Masse der Nicht juristen bzw. der Laien oder (wie man gelegentlich sagt) die breite Masse. Die ersten Untersuchungen von Rechtserscheinungen (in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts) fanden gewöhnlich im Juristenmilieu statt. Das lag daran, daß diejenigen, die sie durchführten, ihrerseits von Haus aus Juristen waren und es für sie bequemer war, Personen zu befragen (oft brieflich), deren Sprache sie beherrschten und die im übrigen eine wesentlich größere Rechtserfahrung zu besitzen schienen als die Laien. Auch heute noch wird für die Inanspruchnahme dieser besonders geeigneten Population plädiert, indem man darauf hinweist, daß es nicht genügt, die konkrete Praxis des Rechts zu erfassen, da es ja darum gehe, sich über die Anwendung des Rechts klar zu werden, wofür zusätzlich noch das Gefühl, daß diese Praxis rechtens ist, erforderlich ist. Es bedarf m. a. W. noch des Bewußtseins derjenigen, die das Recht anwenden, daß dies auch tatsächlich Recht ist, und dies wiederum ist ein Rechtsproblem, das die Juristen am besten beurteilen können. Es ist indessen keineswegs gewiß, daß die für sich betrachtete Praxis keinen soziologischen Sinn hat und daß die Masse der Laien unfähig ist, eine opinio juris, d. h. ein Rechtsbewußtsein im juristischen Sinn zu haben. Auf der anderen Seite sind die Gefahren einer auf das Juristenmilieu beschränkten Untersuchung nur zu gut bekannt, denn die Kenntnisse der Fachjuristen sind durch alle Zufälligkeiten der Streitsachen und der Klientel verzerrt. Es gibt zweifellos Untersuchungsgegenstände, deren natürliches Milieu dasjenige der Juristen ist, weil allein Fachleute auf diesem Gebiet die entsprechenden Tatsachen kennen können (wenn man sich für die Häufigkeit oder vielmehr Seltenheit der Anerkennung von unehelichen Kindern vor einem französischen Notar interessiert, so ist es sinnvoll, in den Notariaten nachzufragen). Aber im großen und ganzen wäre es doch zu beklagen, wenn die Rechtssoziologie auf eine Aufgabe verzichten würde, für die sie allein ausgerüstet ist, nämlich die Erfassung der Vorstellungen vom Recht im Volke. 3. Es kommt auch vor, daß man einen Forschungsgegenstand mit einer bestimmten Bevölkerung in Verbindung bringen kann, die aus Personen zusammengesetzt ist, welche unmittelbar von dem betreffenden Problem berührt werden. Man könnte aber ebensogut mit diesem Thema eine größere Population konfrontieren, in der die Betroffenen in der überwältigenden Masse der Unbeteiligten verschwinden. Wenn man eine Meinungsumfrage vom Volksabstimmungstyp im Auge hat, so muß man sich an die Gesamtheit der Bevölkerung wenden, da diese ja auch bei einem Volksentscheid mit Einschluß der Neutralen über das Gesetz 14 Carbonnier

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3. Teil: Methode der Rechtssoziologie

beschließen würde 4 • Es gibt jedoch noch andere Meinungsumfragen in der Gesetzgebungssoziologie. Es kann sich insbesondere um die Änderung von nachgiebigem Recht handeln, das die Willenserklärungen ergänzt, d. h. um Bestimmungen, die beim Vertrags schluß die Willenserklärungen der Parteien ergänzen, soweit diese nicht bewußt Stellung nehmen. Es wird hierbei m. a. W. dieses Schweigen interpretiert5 • Nehmen wir z. B. den Fall einer Änderung des Güterstandsrechts für Ehegatten, die keinen Ehevertrag abgeschlossen haben. Hier ist es sinnvoll, die Untersuchung auf die hiervon Betroffenen zu beschränken, weil dieses nachgiebige Recht an deren Bestrebungen anknüpfen will. Es tauchen jedoch schwierige Abgrenzungsprobleme auf, wenn man den Kreis der Betroffenen bestimmen will, denn zum einen könnten das diejenigen sein, welche bereits verheiratet sind und einen Ehevertrag abgeschlossen haben (diejenigen, welche das frühere nachgiebige Recht in Anspruch genommen haben), und zum anderen diejenigen, die zwar noch nicht verheiratet sind, es aber demnächst sein werden. Schließlich läßt auch der Begriff der Betroffenen verschiedene Auslegungen zu. b) Die Bildung der Stichprobe. Nachdem man zuvor die zu untersuchende Population bestimmt hat, ist hieraus eine Stichprobe nach solchen Regeln zu entnehmen, welche die Repräsentativität gewährleisten. Die Entwicklung dieser Regeln hat in der allgemeinen Soziologie einen so hohen Stand erreicht, daß die Rechtssoziologie sie einfach übernehmen kann 6 • Damit ist jedoch nicht gesagt, daß diese Entlehnung ohne Schwierigkeiten vonstatten geht. Z. B. besteht für die Rechtssoziologen oft das besondere Problem, daß sie über pathologisch geprägte bzw. durch wirkliches oder angenommenes abweichendes Verhalten (die Wirkung ist dieselbe) gekennzeichnete Bevölkerungskreise arbeiten müssen (freie Lebensgemeinschaften, Geschiedene, Getrenntlebende, uneheliche Kinder usw.) oder einfach über solche, die sich dem Blick der Öffentlichkeit entziehen (Familien, die ein Kind adoptiert haben, vermeintliche Erben usw.). Manche dieser Personenkreise sind nicht amtlich erfaßt und auch nicht zählbar, da sie ganz flüchtig und unauffällig sind und weil das liberale und individualistische Rechtssystem ihr Sich-Entziehen schützt. Vgl. S. 288 f. Vgl. S. 282, insbesondere Anm. 2. 6 Beim Quotenauswahlverfahren handelt es sich um eine geschichtete Auswahl aus der Bevölkerung. Dieses wurde von den Juristen bei deren ersten Stichprobenuntersuchungen (im Juristenmilieu) schon sehr früh und praktisch unbewußt angewandt. Bei ihren Untersuchungen der Notariate versäumten sie nicht, die Notare nach geographischen Kriterien (Stadt oder Land, Norden oder Süden) zu unterscheiden. Dieses Verfahren behält seine Berechtigung, es ist nur inzwischen durch die Einführung weiterer und mehr personenbezogener Kriterien verfeinert worden, und zwar das Lebensalter, das Dienstalter sowie den beruflichen Werdegang bis zur Zulassung. Alle diese Umstände können die Haltung des Notars gegenüber dem Recht (und der Reform des Rechts) beeinflussen. 4

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3. Kap.: Die 'I'atsachetierhehung

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In diesem Falle kann der Forscher bei seinem Fischzug nur erhoffen, Klumpen von Individuen oder von Fällen zu erhalten. Dies ergibt interessante Studienobjekte, aber keine repräsentativen Stichproben. 8. Die Stichprobenerhebung: Der Gegenstand des Fragebogens Bei einer Stichprobenerhebung, die definitionsgemäß eine Vielzahl von Befragten voraussetzt, ist darauf zu achten, daß die auf dieselbe Frage erteilten Antworten addierbar sind, denn nur unter dieser Bedingung können die Ergebnisse schwarz auf weiß festgehalten, d. h. quantifiziert werden. Zweifellos kann man sich dazu entscheiden, die Befragten frei sprechen zu lassen, wobei allein der allgemeine Gegenstand des Interviews im voraus festliegt. Es kann sich aber auch um ein halbstrukturiertes Interview handeln, bei dem fast ebensoviel Freiheit herrscht, allerdings besteht hier eine gewisse Strukturierung der Unterhaltung durch den Interviewer, der ein mehr oder weniger bindendes Schema zugrunde zu legen hat. Ein derartiges Verfahren eignet sich gut für qualitative Untersuchungen; eine Quantifizierung ist jedoch erst nach einem weiteren Bearbeitungsgang möglich. Vermittels eines abstrahierenden Vorgehens muß in diesem Fall danach gestrebt werden, in den verschiedenen Unterhaltungen dieselben Themen samt den diesen entsprechenden Einstellungen zu ermitteln, um letztere untereinander vergleichbar und damit addierbar zu machen. Beim strukturierten Interview erspart man sich dieses zwischengeschaltete Auswerten mit den ihm eigenen Risiken der Verzerrung durch die Subjektivität des Analytikers, indem von vornherein ein streng festgelegtes Verfahren angewandt wird. Dies erfordert einen Fragebogen, bei dem die Mehrzahl der Fragen exakt formuliert und die möglichen Antworten vorgeformt sindl • Es ist diese Art des Fragebogens, die wir als Muster verwenden, um einige der inhaltlichen und formalen Besonderheiten, d. h. solche des Gegenstandes und der Formulierung, die sich in diesem Zusammenhang für die Rechtssoziologie ergeben, hervorzuheben. In einem gut zusammengestellten rechtssoziologischen Fragebogen kann man hinsichtlich des Gegenstandes drei Arten von Fragen unterscheiden: a) Wissensfragen oder genauer solche über die Kenntnis des Rechts. Hierbei werden die Befragten über gewisse Punkte des Rechts inter1 Es kommt häufig vor, daß ein an sich strukturierter Fragebogen zu einzelnen Punkten offene Fragen enthält. Die Antworten auf derartige Fragen werden vom Interviewten frei entwickelt, und die Aufarbeitung entspricht in diesem Falle insoweit derjenigen bei einer halb strukturierten Befragung.

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3. Teil: Methode der Rechtssoziologie

viewt 2 • Man wird etwas erstaunt sein über diese Prüfung von jemandem, der nicht oder nicht mehr Student ist. Es besteht jedoch ein sehr unmittelbares Interesse dar an, den Grad der Kenntnis eines Gesetzes entweder global, in der Gesamtheit der Bevölkerung, oder nach bestimmten Kategorien (Geschlecht, Alter, soziale Schicht usw.) differenziert zu ermessen. Von Rechts wegen wird vorausgesetzt, daß jeder das Gesetz kennt (die Behauptung der Unkenntnis schützt nicht vor der Rechtsanwendung), womit jedoch nicht das Problem der tatsächlichen Kenntnis (auch unter Fachjuristen) gelöst ist. Im Falle eines vor kurzem erlassenen Gesetzes wird auf diese Weise die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Information gemessen. Derartige Fragen können auch indirekt sonstigen Zwecken förderlich sein, indem sie als Gegenbeweis für andere Punkte, sowohl Fragen über Tatsachen als auch solche über Meinungen, dienen. Erklärt jemand, er habe gelegentlich Schenkungen gemacht, so wird man prüfen, ob er den Unterschied zwischen der Schenkung im juristischen Sinn und dem Vermächtnis kennt. Kritisiert jemand das System der Gütergemeinschaft, so wird man nachhaken, um zu sehen, ob er dessen Wirkungsweise versteht. In noch unmittelbarerer Weise kann man sogar von einer Wissensfrage erwarten, daß sie verborgene Gefühle enthüllt. Die Unkenntnis eines Gesetzes kann einen schlüssigen Protest darstellen oder eine unbewußte Neigung zum Vorschein bringen3 • b) Fakt- oder Tatsachenfragen. Abgesehen von den der Charakterisierung dienenden Fragen (über das Alter, den Beruf, die Wohnverhältnisse usw.), die bei jeder Stichprobenerhebung obligatorisch sind, weil sie die spätere Aufgliederung der Ergebnisse nach Kategorien ermöglichen, kann der Interviewte auch in unmittelbarem Verfolg des Themas über die Tatsachen, deren Autor oder Zeuge er war, befragt werden, etwa darüber, ob er ein Testament errichtet hat oder ob er schon an einer Gerichtsverhandlung in Zivilsachen teilgenommen hat. Manche Tatsachen gehören zu sehr dem Intimbereich an oder sind zu un2 z. B.: "Gehört ihres Erachtens unter dem System des gesetzlichen Güterstandes das Privatvermögen der Frau ihr persönlich oder gehört es ihr und ihrem Mann gemeinsam?" - "Erlaubt oder verbietet ihres Wissens das geltende Recht, daß jemand durch Testament oder durch Schenkung alle seine Kinder oder einzelne vollständig enterbt?" (Sondages, 1967, Nr. 1, S. 40 und 1970, Nr. 4, S. 74). Bei der ersten Frage waren 80 % der Antworten richtig (9 % unzutreffend, der Rest ohne Meinung) und bei der zweiten 74 % (210f0 unzutreffend). 3 Es bedurfte z. B. wenig Psychoanalyse, um ein massives Gemeinschaftsstreben auf Grund der Tatsache zu erkennen, daß 60 % der Befragten bei einer im Jahre 1963 durchgeführten Umfrage erklärten, der gesetzliche Güterstand (der auf diejenigen Fälle Anwendung findet, in denen kein Ehevertrag abgeschlossen wird) sei die allgemeine Gütergemeinschaft (Sondages, 1967, Nr. 1, S. 21), obwohl sich dieser Güterstand nur (als vereinbarter Güterstand) bei einer sehr kleinen Zahl von Haushalten vorfand (vgl. a.a.O., S. 43).

3. Kap.: Die Tatsachenerhebung

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bedeutend, um statistisch erfaßt werden zu können, und gerade in diesen Fällen ist eine Untersuchung am interessantesten. Es trifft zu, daß die Zugehörigkeit zur Intimsphäre gegenüber dem Interviewer zu Widerstandsreaktionen führt oder daß die Belanglosigkeit das Vergessen fördert. Aber möglicherweise sind diese Schwierigkeiten in der Rechtssoziologie von geringerer Bedeutung als auf anderen Gebieten. Etwas Persönliches, das man dazu ausersehen hat, unter den Schutz des Rechts gestellt zu werden, kann nicht mehr mit derselben Heftigkeit als jeglicher sozialen Kontrolle entzogen empfunden werden, und im zweiten Fall bildet die selbst einem nicht durch den Formalismus geprägten Recht eigene Förmlichkeit eine Stütze für das Gedächtnis. c) Meinungsfragen 4 • Vom Interviewten wird hier ein Werturteil über ein geltendes Recht oder einen Gesetzentwurf, eine ständige Rechtsprechung oder eine für eine bestimmte Gattung von Streitfällen vorgeschlagene Lösung verlangt5 . Diese Art von Fragen ist das Grundwerkzeug jeglicher Gesetzgebungssoziologie8 • Ihr Gebrauch ist im übrigen jedoch nicht ohne Gefahren. Man kann z. B. befürchten, daß der Befragte, anstatt sich zu bemühen, seine eigene Meinung zu entwickeln, es ganz einfach unternimmt, die Rechtsnorm zu entdecken, um diese zu übernehmen. Diese rechtskonformistische Haltung ist jedoch keineswegs verhängnisvoll, denn es gibt auch Kreise, in denen die entgegengesetzte Einstellung, nämlich die des Protestes, stärker verbreitet ist, so daß aus diesem Grunde die Reformpartei an sich künstlich aufgebläht werden würde. Eine andere häufig von dogmatischen Juristen geäußerte Befürchtung ist die, daß die Fragen nur die Schichten der Oberfläche der Persönlichkeit, d. h. diejenigen, welche nicht engagiert sind, erreichen. Dieselbe Auffassung findet sich auch bei manchen Soziologen, die mit diesem Argument die neue Methode der natürlichen Gegebenheiten7 propagieren. Diese nehmen an, daß die Befragung nur spekulative Meinungen zum Vorschein bringt und daß die tatsächlichen Verhaltensweisen ganz anders sind, etwa daß die Ehemänner sich für entschiedene « Bezüglich der allgemeinen Theorie der Meinungen vgl. das grundlegende Werk von Jean Stoetzel: Theorie des opinions, 1943. - Vgl. Gaston Berger u. a.: L'Opinion publique (travaux du Colloque de Nice), 1957. , Das I.F.O.P. hat z. B. im Jahre 1967 einem "national sampIe", das heiß diskutierte Problem des von einer Konkubine im Falle eines tödlichen Unfalles des Lebenspartners geforderten Schadenersatzes vorgelegt. Die Befragten waren zu 65 % (68 Ofo der Männer, 60 % der Frauen) für die Entschädigung der Konkubine und zu 23 Ofo (22 bzw. 25 %) dagegen. Diese Lösung wurde damals vom zuständigen Zivilsenat des Kassationsgerichtshofes verworfen. Die Rechtsprechung zögerte jedoch nicht, der öffentlichen Meinung zu folgen (Großer Senat des Kassationsgerichtshofes, Entscheidung vom 27. Februar 1970, D. 70, 201, mit Anmerkung Combaldieu). G Vgl. S. 287. 7 Vgl. S. 223.

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3. TeH: Methode der R:echtssoziologie

Vertreter der gemeinsamen Verwaltung bei der Gütergemeinschaft ausgeben, aber in ihren Haushalten nach wie vor die Alleinvertretung in Anspruch nehmen8 • Das Risiko einer derartigen Verzerrung kann nicht geleugnet werden 9 , und gerade um dem zu entgehen, versucht man bisweilen die direkte Meinungsfrage durch eine Testfrage zu ersetzen, die zu unbewußter Offenheit veranlaßPo. Es muß jedoch bemerkt werden, daß die befürchtete Unwahrhaftigkeit, so irreführend sie auch als solche sein kann, in der Wirklichkeit keine Rolle spielt, wenn man sie in Beziehung zur spezifischen Bedeutung einer politischen Meinungsumfrage, nämlich der Nachahmung einer Volksabstimmung, setzt, denn die Stimmabgabe beinhaltete noch nie die übernahme einer Verpflichtung seitens der Wähler, dasjenige wofür sie sich entscheiden, auch selbst in der Praxis zu verwirklichen. Die Diskrepanz zwischen dem Wahlverhalten und dem Alltagsleben ist im übrigen eine wohlbekannte, wenn nicht gar hinreichend studierte sozialpsychologische Erscheinungl l . 9. Die Stichprobenerhebung: Abfassung und praktische Handhabung des Fragebogens

Dies sind zwei verschiedene Arbeitsgänge, die im Falle einer auch nur halbwegs umfassenden Stichprobe von verschiedenen Personen ausgeführt werden. In beiden Fällen jedoch stellt sich ein Kommunikationsproblem. Im ersten Fall betrifft es schriftliche und im zweiten im allgemeinen mündliche Kommunikation. a) Die Abfassung. Das Abfassen eines Fragebogens für eine Umfrage ist immer eine Stilübung, und zwar eine solche des geläufigen, wenn B Vgl. in der Untersuchung von L. Roussel über die Einstellung verschiedener Generationen zur Ehe (Population, Sonder heft Juni 1971) die Tabellen S. 110 - 112, wonach 41 bis 49 ~/o der Franzosen, je nach dem Alter, und 33 bis 43 Ofo der Französinnen erklären, daß die Verschiedenheit der Religion bei der Partnerwahl keine Rolle spiele, wobei aber ebenso klar ist, daß die Mehrzahl nicht aus eigener Erfahrung spricht (unter den Befragten waren 74 Ofo der Männer und 68 Ofo der Frauen mit einem Partner derselben Konfession verheiratet). 9 Vielleicht ist es auch nur unsere rationalistische und pragmatische Auffassung von der Gesetzgebung, die uns dazu führt, den tatsächlichen Verhaltensweisen soviel Bedeutung zuzumessen. Die moderne Ethnologie, die bewußt mehr psychologisch ausgerichtet ist, legt großen Nachdruck darauf, daß in den primitiven Gesellschaften das Normative nicht so sehr das ist, was die Leute tun, sondern das, von dem die Leute sagen, daß sie es tun. 10 Vgl. S. 230. 11 Noch allgemeiner, die Diskrepanz zwischen der Einstellung des Einzelnen als Gesetzgeber und Richter und der als Rechtsunterworfener. Diese Diskrepanz wird als schockierend, als Heuchelei empfunden, und die Gesellschaft bemüht sich, sie zu bekämpfen. Dasselbe drückt sich auch in einem römischen Grundsatz aus (patere legern qua m ipse facisti), den die Digesten auf die Richter übertrugen (Dig. 2 - 2): Quod quisque iuris in alterum statuerit, ut ipse eodem iure utatur. Die Sanktion wird hier als eine Art Talionsprinzip dargestellt.

3. Kap.: Die Tatsa-chenerhebung

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nicht gar des volkstümlichen Stils. Mehrere aufeinanderfolgende Entwürfe sind nicht zuviel, und schließlich ist es nützlich, den letzten Vorentwurf an einer kleinen Gruppe zu testen. Die Rechtssoziologie ist noch mit einer besonderen Schwierigkeit belastet, weil sie mit Nichtjuristen über das Recht sprechen muß. Nach einer allgemeinen Regel muß die Frage als Faktfrage und nicht als Rechtsfrage formuliert werden. Man erkennt hier ein der Praxis der Schwurgerichte entlehntes Prinzip, denn auch bei diesen besteht die Notwendigkeit, mit Nicht juristen, nämlich den Schöffen, über das Recht zu sprecheni. Selbst bei anscheinend geläufigen Ausdrücken der Rechtssprache wie Ehevertrag, Testament, Nießbrauch, Seitenverwandter und "aus einem Ehebruch hervorgegangenes Kind" besteht das Risiko, daß der Befragte den juristischen Sinn nicht versteht. Es ist somit nützlich, diesen mit erklärenden Umschreibungen und sogar mit beschreibenden Beispielen zu präsentieren. Der Text der Erklärung oder der Anekdote muß aber scharf kontrolliert werden, denn er kann der Frage eine gefühlvolle Färbung verleihen, welche die Antwort be einHußt. Wenn es darum geht, die Frage zu erläutern, ob es gut ist, daß die elterliche Gewalt einer Kontrolle unterworfen wird, so wird in Wirklichkeit die Antwort vorweggenommen, wenn man hierbei die Geschichte eines kleinen Kindes in Lebensgefahr erzählt, das die Eltern nicht operieren lassen wollen 2 • Andere methodologische Kunstgriffe betreffen insbesondere die politischen Meinungsumfragen. Wenn z. B. die Umfrage dem Typus der Volksabstimmung entsprichP, so fällt es dem Gesetzgeber leichter, hieraus Fol1 So wird die Geschworenenbank nicht gefragt, ob der Angeklagte eines Totschlags schuldig sei (Rechtsbegriff), sondern ob er der vorsätzlichen Tötung des X schuldig sei (konkrete Beschreibung). 2 Unter diesem Gesichtspunkt kann man der in der Erhebung über die Erbfolge (Sondages, 1970, Nr. 4, S. 68) gestellten Frage, die zur Erkenntnis über die Einstellung der Öffentlichkeit hinsichtlich der aus einem Ehebruch hervorgegangenen Kinder dienen sollte, den Vorwurf einer tendenziösen Formulierung nicht ersparen: "Wenn ein Mädchen von einem verheirateten Mann ein Kind hat, so ist nach dem derzeitigen Stand der Dinge dieses Kind ein aus einem Ehebruch hervorgegangenes Kind und kann deshalb von seinem Vater nicht anerkannt werden. Es kann von ihm lediglich Alimente verlangen und hat kein Erbrecht. Halten Sie diese Bestimmungen für richtig oder finden Sie, daß das aus einem Ehebruch hervorgegangene Kind ein Erbrecht haben sollte?" - Diese Abfassung erzeugt leicht das Bild von einem erfahrenen Mann, der ein junges Mädchen verführt, wobei die Familie verantwortlich gemacht wird. Das beruhte aber darauf, daß man von vornherein wußte, daß die Rechte des aus einem Ehebruch hervorgegangenen Kindes auf große Zurückhaltung stoßen würden. Es war demgemäß von Interesse, die Frage in einer Weise zu stellen, die für dieses eher günstig war. Das Ergebnis sollte sich nämlich als um so lehrreicher erweisen, denn es gab eine schwache Mehrheit (51 Ofo gegen 46 und sogar bei den Frauen 49 Ofo gegen 48), die den Ausschluß des Kindes für anormal hielt. 3 über die Erklärung dieses Ausdrucks, s. S. 287.

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3. Teil: Methode der Re