Politik Und Religion: Zum Verhaltnis Von Demokratie Und Christentum Bei Alexis de Tocqueville (German Edition) 3428040643, 9783428040643

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Politik Und Religion: Zum Verhaltnis Von Demokratie Und Christentum Bei Alexis de Tocqueville (German Edition)
 3428040643, 9783428040643

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Ute Uhde . Politik und Religion

Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 29

Politik und Religion Zum Verhältnis von Demokratie und Christentum bei Alexis de Tocqueville

Von

Ute Uhde

DUNCKER & HUMBLOT/BERLIN

Alle Rechte vorbehalten 1978 Duncker & Humblot, Berlln 41 Gedruckt 1978 bei Buchdruckerei A. Sayffaerth - E. L. Krohn, Berlin 61 Printed in Germany ~

ISBN 3 428 04064 3

Meinen lieben Eltern

" pour vivre libre, il faut s'habituer a une existence pleine d'agitation, de mouvement, de peril; veiller sans cesse et porter a chaque instant un reil inquiet autour de soi: la liberte est a ce prix." Alexis de Tocqueville

Vorwort Die Anregung, die Rolle der Religion bei der Erhaltung der ständig gefährdeten Freiheit und Demokratie in Tocquevilles Werk zu untersuchen gab Prof. Dr. Wilhelm Hennis. Seinem engagierten Interesse an diesem Thema und seiner weiterführenden Kritik gilt mein Dank ebenso wie den kenntnisreichen und freundlichen Hinweisen mit denen Prof. Dr. Klaus Hornung die Fertigstellung der Untersuchung unterstützte. UteUhde

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Der "Praktiker" Tocqueville . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14

Methode und Gegenstand der Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 2. Begründung und Ziel der Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 a) Erzieherische Intention als Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 b) Praxisbewältigung als Ziel .. .. . .. . . .. . . .. .. .. .. . . . .. . .. . . .. . 19 11. Gleidlheit, "Demokratische Revolution" und Christentum . . . . . . . . . . 27 1. Gleichheit als Grundbedingung von Tocquevilles Staatsauffassung 27

2. Die "große Demokratische Revolution" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 3. Die Gleichheit als Begriff christlichen Ursprungs . . . . . . . . . . . . . . . . 33 a) Die politischen Folgen christlicher Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 b) Das Christentum als Vorbedingung der Demokratie . . . . . . . . . . 39

m. Freiheit

als ethische Selbstbestimmung

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43

1. Freiheit und Gleichheit .. . . . . . .. . . . . . . . . . .. . .. . . .. . . .. . . .. . .. . . 43

2. Die Freiheit und die Freiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 3. Die Freiheit des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 4. Die Verbindung von Freiheit und christlicher Religion . . . . . . . . . . a) Freiheit und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Staat und Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Religion und Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51 51 54 58

IV. Staat und Rellglon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63

1. Der Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 a) Tocquevilles Menschenbild als Grundlage der Staatsvorstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 b) Tocquevilles Verhältnis zur Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67

2. Die Gefährdung des Staates - Religion und Staat . . . . . . . . . . . . . . 72

10

Inhaltsverzeichnis

v. Die

Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82

1. Aufgabe und Wirken im Staat . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 a) Politik und Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 b) Das Beispiel der Vereinigten Staaten von Amerika . . . . . . . . . . . . 86 2. Christentum und ,religion civile' .. . .. . . . . .. . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . 92 Sdl.luß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

98

Literaturverzeidlnis ............................ . .............. .... ... 102

Einleitung Sowohl in seinen bekanntesten Werken "De la Democratie en Amerique", "L'Ancien Regime et la Revolution" und in seinen "Souvenirs" als auch in den weniger bekannten, politischen Schriften und Reden und vor allem in seinen Briefen hat sich Alexis de Tocqueville über die Religion und ihre Bedeutung geäußert1• Darauf hat die Forschung zwar immer wieder hingewiesen, doch ist sie sich kaum des Gewichts und der Tragweite der Äußerungen gerade auch für das politische Denken Tocquevilles bewußt geworden. Man hielt die Reflexionen zur Religion zumeist für nachrangig oder lediglich für einen unvermeidlichen Appendix, der die Annäherung an den modernen Sozialwissenschaftler und Demokratie-Theoretiker Tocqueville erschwerte2. Von dieser Unsicherheit die Rolle der Religion bei Tocqueville zu beurteilen, zeugen auch die zahlreichen Versuche, mit der Etikettierung Tocquevilles als "Moralisten"3 dem Problem aus dem Weg zu gehen. Andere stellten die Frage nach seinem persönlichen Glauben, ohne die Beziehung zu seinem politischen Denken herzustellen; dabei ging man sogar so weit, zu überlegen, ob Tocqueville als gläubiger Katholik gestorben sei''. Abgesehen davon, daß diese Frage wohl nie völlig zu klären sein wird, stellt Goldstein zu Recht fest: 1 Vgl. zur 'Obersicht der Werke Tocquevilles: J. P. MayeT: Alexis de Tocqueville. Analytiker des Massenzeitalters, München 1972 (3. Aufl.), S. 159 f. s. auch J. P. MayeT: Alexis de Tocqueville. A Commentated Bibliography, in: Revue internationale de philosophie, Vol. 13, 1959, S. 350- 353; ChaTles H. Pouthas: Plan et Programme des "Oeuvres, Papiers et Correspondances dAlexis de Tocqueville", in: Alexis de Tocqueville. Livre du centenaire 1859- 1959, Paris 1960, S. 35- 43. 1 Besonders deutlich bei GeoTges LefebvTe: Introduction, zu: OC II, -1 "L'Ancien Regime et la Revolution", Paris 1952, S. 23; Jack Lively: The Social and Political Thought of Alexis de Tocqueville, Oxford 1965, S. 196 f.; Marvin ZetteTbaum: Tocqueville and the Problem of Democracy, Stanford, California 1967, s. 147. a z. B. Paul Bastid: Tocqueville et la doctrine constitutionnelle, in: Alexis de Tocqueville. Livre du centenaire 1859-1959, Paris 1960, S. 45; Jean-Jacques ChevallieT: Introduction, zu: OC IX, "Correspondance dAlexis de Tocqueville et dArthur de Gobineau", Paris 1959, S. 14 f.; Antoine Redier: Comme disait M. de Tocqueville, Paris 1925, S. 81; AlbeTt Salomon: Tocqueville, Moralist and Sociologist, in: Social Resarch, Vol. 2, 1935, S. 405-427. ' z. B.: Gustave de Beaumont: Notice sur Alexis de Tocqueville, in: Oeuvres et correspondance inedites dAlexis de Tocqueville, publiees et precedees dune notice par Gustave de Beaumont, 2 Bde., Paris 1861, Bd. 1, S. 120; John Lukacs:

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Einleitung

"In any case, the matter of Tocqueville's last religious acts is not of centrat importance to the historian, since these acts are not necessarily a reliable guide to the ideas and beliefs that he held throughout bis life5." Die unterschiedliche Interpretation von Bedeutung und Rolle der Religion findet indes ihren Ursprung bei Tocqueville selbst in scheinbar einander widersprechenden Äußerungen; so schreibt er in einem Brief an Gobineau: "Je ne suis pas croyant" 8, hält aber in seinem politischen Denken an dem Grundsatz fest, daß die Religion in einer Republik notwendiger sei als in einer Monarchie und in ,demokratischen Republiken' noch mehr als in allen anderen Staatsformen: "C'est le despotisme qui peut se passerde la foi, maisnon Ia libertt~7." Über die Religion, von Tocqueville direkt mit der Demokratie verknüpft, gibt es wenige Untersuchungen. Die älteste, ein 1946 erschienener Aufsatz des Religionssoziologen Joachim Wach8 , stützt sich auf eine kleine Auswahl unvollkommenen Quellenmaterials9 , das seither durch die neue Gesamtausgabe entscheidend verbessert wurde. Die anderen Studien stammen von Doris S . Goldstein, deren letzte "Trial of Faith. Religion and Politics in Tocqueville's Thought" erst 1975 veröffentlicht wurde10• Goldstein untersucht die Beziehung zwischen Tocquevilles persönlichem Glauben und seinen aktiven politischen Handlungen; dabei weist sie selbst auf offen gebliebene Fragen hin: "There remain those broad and formidable questions of how Tocqueville's religious outlook shaped bis work as an historian and political theorist11." The Last Days of Alexis de Tocqueville, in: Catholic Historical Review, Vol. 2, 1964, S. 155 -170; John Nef: Truth, Belief, and Civilization: Tocqueville and Gobineau, in: The Review of Politics, Vol. 25, 1963, S. 473; Redier: Comme disait M. de Tocqueville, S. 294-297. 5 Doris S. Goldstein: Trial of Faith. Religion and Politics in Tocqueville's Thought, New York- Oxford- Amsterdam 1975, S. 8. • OC IX, S. 57. 1 OC I, - 1, S. 308. 8 Joachim Wach: The Röle of Religion in the Social Philosophy of Alexis de Tocqueville, in: Journal of the History of Ideas, Vol. 7, 1946, S. 74-90. 0 Die von Wach benutzten Quellen: 1. Alexis de Tocqueville: De la Democratie en Amerique, translated by Henry Reeve, ed. by Francis Bowen, o. 0. 1862; reed. by Phillips Bradley, New York 1945. 2. Memoir, Letters and Remains of Alexis de Tocqueville, 2 Vols. o. 0. 1861. 3. Correspondance entre Alexis de Tocqueville et Artbur de Gobineau 1843 -1859, ed. Ludwig Schemann, o. 0. 1909 (2. Auß.). 10 Doris Silk Goldstein hat drei Studien zu Tocquevilles Religionsauffassung geschrieben. Die erste "Church and Society: A Study of the Religious Outlook of Alexis de Tocqueville", eine unveröffentlichte Dissertation, wurde 1955 am Bryn Mawr College angefertigt. Die Arbeit konnte nicht eingesehen werden. Die zweite Arbeit "The Religious Beliefs of Alexis de Tocqueville" wurde veröffentlicht in: French Historical Studies, Vol. 1, 1960, S. 379-393. Die neueste Studie "Trial of Faith. Religion and Politics in Tocqueville's Thought", erschien 1975. 11 Goldstein: Trial of Faith, S. 121.

Einleitung

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Die Formung der zentralen politischen Werte durch Tocquevilles religiös geprägte Weltanschauung soll Gegenstand dieser Untersuchung sein; Ziel ist, die Grundlegung politischer Begriffe bei Tocqueville in religiösem Vorverständnis aufzudecken. Dabei soll weniger die Beeinflussung Tocquevilles durch andere Denker geprüft werden12, als vielmehr die Verbindung der Begriffe in seinem eignen Werk; so sollen ein·zelne Begriffe auf ihren Ursprung hin untersucht nicht aber einzelne Werke interpretiert werden. Da die in diesem Zusammenhang wichtigen Textstellen in dem Gesamtwerk Tocquevilles verstreut stehen, wurden sie hier zusammengestellt. Der erste Teil der Arbeit beschäftigt sich mit den theoretischen Prämissen und Tocquevilles Erkenntnisinteresse, das vor allem auf seinen politischen Aspekt hin betrachtet werden soll. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, Tocquevilles zentrale politische Begriffe -Gleichheit und Freiheit- zu klären, die weiterhin in ihrem Verhältnis zum Staat untersucht werden; diese drei weiteren Teile werden durch die Fragen nach der Beziehung von Religion und Staat und Tocquevilles Einschätzung der Religion abgeschlossen. Dabei soll nicht der Versuch gemacht werden, Tocquevilles persönlichen Glauben darzustellen, sondern nur dessen nachweislicher Einfluß auf sein politisches Denken.

12 Ein Beispiel dafür gibt Luis Diez del Corral: La mentalidad politica de Tocqueville con especial referencia a Pascal, Madrid 1965.

I. Der "Praktiker" Tocqueville 1. Methode und Gegenstand der Werke Über Wichtigkeit und Bedeutung des Werkes von Alexis de Tocqueville besteht kein Zweüel. Über die Einordnung des Autors in das Gefüge der Wissenschaft herrscht hingegen keine Einigkeit. Ist er als Historiker1 oder als Soziologe% zu bezeichnen? Oder betrachten ihn die Politologen zu Recht als einen der ihren, zumal sie sich in den letzten Jahren in zunehmendem Maße mit ihm befaßten?3 Deutet diese Uneinigkeit auf Unklarheit in Methode oder Gegenstand? Oder ist sie im breiten Spektrum der Schriften Tocquevilles begründet? Oder liegt es daran, daß Tocqueville die verschiedenen wissenschaftlichen Betrachtungsweisen der verschiedenen Disziplinen, je nach Gegenstand, anwandte? Weder die eine noch die andere Auffassung wird Tocqueville vollständig 1 Vgl. z. B.: Paut Bastid: Tocqueville et la doctrine constitutionelle, in: Alexis de Tocqueville. Livre du centenaire 1859-1959, Paris 1960, S. 45; Siegfried Landshut (Hrsg.): Einleitung, zu: Alexis de Tocqueville: Das Zeitalter der Gleichheit. Eine Auswahl aus dem Gesamtwerk, Stuttgart 1954, s. XV; Reinhard Marcet: Tocqueville historien de la Revolution, in: Livre du centenaire, S. 171; Chartes Pouthas: Alexis de Tocqueville, representant de la Manche (1837 -1851), in: Livre du centenaire, S. 17; Otto Vossler: Tocqueville, Sitzungsberichte der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/Main, Bd. 5, 1966, Nr. 1, Wiesbaden 1966, S. 11; Joachim Wach: The Röle of Religion in the Social Philosophy of Alexis de Tocqueville, in: Journal of the History of Ideas, New York, Vol. 7,

1947, s. 77.

1 Vgl z. B.: Raymond Aron: Les grandes doctrines de sociologie historique, Paris 1961, S. 163; Pierre Birnbaum: Sociologie de Tocqueville, Paris 1970, S. 7, 17, 50; Jürgen Fetdhoff: Die Politik der egalitären Gesellschaft. Zur soziologischen Demokratie-Analyse bei Alexis de Tocqueville, Köln I Opladen 1968, S. 14 f., 130 ff.; Helmut Göring: Tocqueville und die Demokratie, München I Berlin 1928, S. 221; Harold Laski: Alexis de Tocqueville and Democracy, in: F. J. C. Hearnshaw (Ed.): The Social and Political Ideas of Some Representative Thinkers of the Victorian Age, London 1967 (2. Aufl.), S. 111; George Wilson Pierson: Tocqueville in America, abridged by Dudley C. Lunt, Gloucester, Mass. 1969, S. 469. a Vgl. z. B.: Luis Diez del Corral: Tocqueville et la pensee politique des doctrinaires, in: Livre du centenaire, S. 63; Seymour Drescher: Tocqueville and England, Cambridge, Mass. 1964, S. 2; Immanuel Geiss (Hrsg.): Tocqueville und das Zeitalter der Revolution, München 1972, S. 9; Wilhelm Hennis: Politik und praktische Philosophie, Neuwied am Rhein I Berlin 1963, S. 87; Melvin Richter: Tocqueville's Gontributions to the Theory of Revolution, in: Nomos VIII "Revolution", Yearbook of the American Society for Political and Legal Philosophy, ed. by Carl Joachim Friedrich, New York 1966, S. 80; David Riesman: Die einsame Masse, Reinbek bei Harnburg 1966, S. 176.

1. Methode und Gegenstand der Werke

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gerecht. Ein Blick auf die Äußerungen, die er selbst zu seiner Arbeitsweise und zur Wahl eines Gegenstandes gemacht hat, kann am ehesten und besten zur Beantwortung dieser Fragen beitragen. Daraus erhellt, daß die Methode und die Themenwahl sich nicht zufällig ergänzen', sondern daß er bemüht ist, die Methode dem Gegenstand gemäß zu wählen und persönliches mit allgemeinem Interesse zu verbinden. Im Jahr 1829 schreibt Tocqueville in einem Brief an seinen späteren Reisegefährten und Freund Gustave de Beaumont, anschließend an den Vorschlag, ein gemeinsames Werk zu verfassen: "Ily a une scienceque j'ailongtemps meprisee etque jereconnais maintenant non pas utile, mais absolument essentielle: c'est la geographie. Non pas la connaissance du meridien exact de teile ville, mais la connaissance de toutes les choses qui se rapportent a ce que je disais tout a !'heure, par exemple a se mettre bien nettement dans Ia tete la configuration de notre globe en tant qu'elle influe sur les divisions politiques des peuples et leurs ressources; il y a tel pays qui par sa seule position geographique est appele presque forcement a entrer dans telle ou telle agregation, a exercer telle ou teile influence, a avoir teile ou telle destinee. J'avoue que ce n'est point Ia Ia geographie qu'on apprend au college, mais je me figure que c'est Ia seule que nous soyons capables de comprendre et de retenir5. " Hier zeigen sich zwei grundsätzliche Interessen Tocquevilles: zum einen geht es ihm nicht um die Wiedergabe enzyklopädischer Sachverhalte, sondern um Ursachenforschung; zum anderen will er nicht Schulwissenschaft betreiben, sondern die Methode finden, die angemessen ist, den betreffenden Gegenstand zu erfassen und begreiflich zu machen. Reine Wissenschaftlichkeit besitzt daher für Tocqueville keinen Eigenwert, ihn interessiert vordringlich die von Werken ausgehende Wirkungt. So zeigt sich an seiner Arbeitsweise eine gewisse Unmittelbarkeit: "Quand j'ai un sujet quelconque a traiter, il m'est quasi impossible de lire aucun des livres qui ont ete composes sur la meme matiere; le contact des idees des autres m'agite et me trouble au point de me rendre douloureuse la lecture de ces ouvrages7." Die Gefahr bei dieser Art des Schreibens, eine schon bekannte Tatsache oder Interpretation als Neuheit zu erklären, ist einsichtig. Ebenso ist die vorausgehende Informationssammlung gewissen Zufällen ausgeliefert, denn eine Hauptauskunftsquelle sind für Tocqueville die Ge' Anders hingegen Pierson: Tocqueville in America, S. 431, der diesen Vorgang als "largely subconscious" bezeichnet. s OC VIII, - 1, S. 93 f. • Hierzu auch Otto Vossler: Alexis de Tocqueville. Freiheit und Gleichheit, Frankfurt/M. 1973, S. 231; Antoine Redier: Comme disait M. de Tocqueville, Paris 1925, S. 64. 1 OT VI, S. 332; vgl. auch OC VIII,- 3, S. 523: "Je n'ai pas lu le premier volume de Duvergier, parce que jene lis jamais ce qui touche a mon sujet; . .."

16

I. Der ,.Praktiker" Tocqueville

spräche8• Diese Art der Nachrichten- und Meinungssammlung empfiehlt und erläutert er seinem Freund Louis de Kergolay anläßlich dessen bevorstehender Amerikareise9• Aus der Sorgfalt und der Ausführlichkeit Tocquevilles eigener Gesprächsaufzeichnungen während seiner gesamten Amerikareise läßt sich die Bedeutung dieser Informationsquelle für ihn ermessen; einige Formulierungen seiner Gesprächspartner tauchen sogar satzweise in seinem Amerika-Buch wieder auf10• Auch auf seinen späteren Reisen nach England und Irland behielt Tocqueville diese Methode der Materialsammlung und Gedächtnisstütze bei11• Die so gewonnenen Informationen benutzt er zusammen mit eigenen Beobachtungen als Ausgangsmaterial für seine Interpretationen:

"Vous savez que j'ai travaille sur l'Amerique a peu pres comme Cuvier sur les animaux antediluviens, faisant a chaque instant usage de deductions philosophiques ou d'analogies. Je craignais donc d'etre tombe de temps en temps dans de prodigieuses bevues, principalement aux yeux des gens du pays11."

Zu dieser Deduktionsmethode ist manches anzumerken und manche Fehlerquelle aufzudecken13 ; Tocqueville schließt Fehler selbst auch nicht aus14• Der Anspruch der exakten Faktensammlung kann nach seinem eigenen Verständnis nicht auf seine Werke zutreffen. Was aber ist die Intention Tocquevilles? In Selbstbegründung und Zielrichtung der Werke ist zu sehen, in welcher Weise Methode und Gegenstand seiner Arbeit zusammenwirken sollen. 2. Begründung und Ziel der Werke

a) Erzieherische Intention als Begründung Eine bestimmte Wirkung zu erzielen, nicht allein Fakten zu sammeln, ist Tocquevilles Anliegen15• Er benutzt das gesammelte Material, um zu sagen oder zu erklären, was er zu Beginn seiner Arbeit schon erkannt hatte16• Er schreibt nicht zur bloßen Darstellung, sondern um zu über8 Hierzu auch Pierson: Tocqueville in America, S. 74, der diese Art der Materialsammlung als "cumulative method" bezeichnet. t s. OT V, S. 331. 1• s. OC V, -1; vgl. hierzu auch Pierson: Tocqueville in America, S. 140, der die Wichtigkeit und die Gefahren dieser Informationsquelle aufzeigt. u Vgl. OC V,- 2. 12 OC VIII, - 1, S. 175. 13 Vgl. hierzu Pierson: Tocqueville in America, S. 52; auch Max Betoff: Tocqueville et 1'Angleterre, in: Livre du centenaire, S. 92 f., 94 ff. " s. OC VIII, - 1, S. 175. 15 s. oben S. 15. 18 Dies bemerken auch Vossler: Alexis de Tocqueville. Freiheit und Gleichheit, S. 221; Pierson: Tocqueville in America, S. 461; Marvin Zetterbaum:

2. Begründung und Ziel der Werke

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zeugen, obwohl er nicht an den geringsten wirksamen Einfluß seiner Schriften in seiner eigenen Zeit glaubte17• Aber die Überzeugung von der Richtigkeit der eigenen Einsicht in eine notwendige Entwicklung der Gesellschaft, die Tocqueville bei seinen Zeitgenossen vermißt, veranlaßt ihn, dennoch zu schreiben. Tocquevilles "idee mere" seines Werkes "De la Democratie en Amerique" ist die Absicht, die Menschen von der unabwendbaren Entwicklung der Gesellschaften zur Demokratie zu überzeugen; dabei möchte er nicht nur die Furcht und den Abscheu ihrer Gegner abbauen, denen das Wort "democratie est le synonyme de boulversement, d'anarchie, de spolation, de meurtres", sondern auch ihren übereifrigen Verfechtern beweisen, daß sie nur darin bestehen kann, "en respectant les fortunes, en reconnaissant les droits, en epargnant la liberte, en honorant les croyances" 18• Wenn man auch im Rahmen der Überlegungen zur Methode Tocquevilles wie auch hinsichtlich der Begründung seiner Werke die inhaltlichen Bestimmungen von "Demokratie" zunächst unerläutert lassen darf19, so ist doch seine Absicht deutlich zu erkennen, den Leser zu einer bestimmten politischen Einsicht zu bringen20• Dies trifft auch auf sein Buch "L'Ancien Regime et la Revolution" zu, dessen erster Band als letztes Werk unter seiner Aufsicht veröffentlicht wurde21• Die zu gewinnende Erkenntnis ist nicht nur auf die Vergangenheit gerichtet; die Beschäftigung mit Vergangenern wird nur legitimiert, wenn die daraus gewonnene Einsicht die Gegenwart erklären hilft und weiterhin Ausblicke auf die zukünftige Entwicklung der Gesellschaft ermöglicht. Zwei Beispiele sollen für viele mögliche diese Methode Tocquevilles belegen, sie markieren überdies Anfangs- und Endphase seiner schriftstellerischen Tätigkeit; das erste findet sich in seiner 1835 in Cherbourg gehaltenen Rede "Memoire sur le pauperisme", wo er in einem Rückblick auf Entstehung und Entwicklung der menschlichen Gesellschaft ihre augenblicklichen Mißstände erklären und dadurch um so besser beheben können will22• Das zweite Beispiel bietet als gesamtes Tocqueville and the Problem of Democracy, Stanford, California 1967, S. 140: "One can only conclude that ideas and not social conditions are primary in Tocqueville's thought." 17 s. OC VIII, - 3, S. 529. 18 OT V, S. 428 f. 19 Dazu in dieser Arbeit: IV. Staat und Religion, 1. a. 20 s. OT V, S. 428; hierzu auch Melvin Richter: Comparative Political Analysis in Montesquieu and Tocqueville, in: Comparative Politics, Vol. 1, Nr. 2, Jan. 1969, S. 151, der Tocquevilles politisches Interesse "pragmatic and didactic" nennt. Ebenso Wach: The Röle of Religion, S. 75. 21 s. OC II, - 1, S. 71. 22 s. Alexis de Tocqueville: Memoire sur le pauperisme, in: Memoires de la societe accademique de Cherbourg, Cherbourg 1835, S. 296 f. 2 Uhde

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I. Der "Praktiker" Tocqueville

Werk "L'Ancien Regime et la Revolution", hier explizit ausgedrückt im Vorwort23. Über diese Zeugnisse hinaus hat Tocqueville sein Erkenntnisinteresse auch in einem Brief fixiert; was am meisten Originalität habe und seinem Verstande am besten anstehe, sei "un ensemble de reflexions et d'apen;us sur le temps actuel, un libre jugement sur nos societes modernes et la prevision de leur avenir probable" 24• Der rein historischen Wissenssammlung und-darstellungwiderspricht seine Blickrichtung auf die Zukunft25. Diese "wahrscheinliche Zukunft" ("avenir probable") einige Male erfolgreich vorausgesagt zu haben26 , verhalf Tocqueville bei manchen modernen Autoren zu geradezu prophetischem Ansehen im Bemühen, ihm Aktualität zu verleihen27. Dabei ist zu berücksichtigen, daß er gelegentlich auch falsche Prognosen gestellt hatte2s. Die Blickrichtung auf die Zukunft zeigt jedoch, daß die von Tocqueville selbst genannte Methode seiner Arbeit, ihr Gegenstand29 und ihre Begründung noch nicht für eine Zuordnung zu einer Disziplin der Wissenschaft ausreichen. Zur Begründung, politische Einsicht in die Notwendigkeit der Demokratie zu wecken30, tritt das Ziel der praktischen Zukunftsbewältigung31• Diese Absicht Tocquevilles verhindert, daß sich seine Werke im Deskriptiven erschöpfen, da sie durch den Leser eine Auswirkung auf die Praxis zu erreichen suchens2. 2a s. OC II, - 1, S. 72 f. OT VII, S. 260; vgl. auch OC I, -1, S. 14. Dazu sehr aufschlußreich Karl Löwith: The Theological Background of the Philosophy of History, in: Social Research, Vol. 13, 1946, S. 52 f. Vgl. auch Tocquevilles eigene Zweifel an seinen Fähigkeiten, streng historisch zu arbeiten, OT VII, S. 261. 24

2s Insofern ist die Auffassung, Tocqueville als Historiker zu bezeichnen s. oben I, 1. Methode und Gegenstand, Anm. 1 -zumindest einseitig. 2• s. OC I , - 1, S. 430 (betreffend Rußland und Amerika); OT IX, S. 521 - 535 (betreffend die Februar-Revolution 1848). 27 Vgl. hierzu die sehr deutlichen Bemühungen von Jacob Peter Mayer: Alexis de Tocqueville. Analytiker des Massenzeitalters, München 1972 (3. Aufl.), S. 65 f.; weniger ausgeprägt Landshut: Einleitung, zu: Zeitalter der Gleichheit, S. XXVI; vgl. auch Christian Graf von Krockow: Wohin mit dem Konflikt, in: Merkur, Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Heft 10, 29. Jg., 1975, S. 902; Harold Laski: Alexis de Tocqueville and Democracy, S. 102, der von Tocquevilles "prophectic stature" spricht, ebenso S. 112. 28 s. OC I, -1, S. 426; und OC XII, S. 185 f.; s. hierzu Bastid: Tocqueville et la doctrine constitutionelle, S. 52 f., der Tocquevilles Irrtum hinsichtlich des Präsidentenwahlmodus untersucht. Es wäre andererseits zu einfach, sich mit der Feststellung zu begnügen, Tocqueville sei aufgrund mangelhafter historischer, soziologischer oder wenn es eine solche für ihn gab - politologischer Methode zu mangelhaften Ergebnissen gekommen; mit einer solchen Feststellung wird die Intention Tocquevilles gerade nicht getroffen. Hierzu auch Vossler: Tocqueville, S. 7, 10. 2e s. OC VIII, - 1, S. 93 f.; OT VII, S. 260. 30 OT V, S. 428. at s. OC I, - 1, S. 14. 32 OT V, S. 428.

2. Begründung und Ziel der Werke

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b) Praxisbewältigung als Ziel Die Verbindung von Theorie und Praxis läßt die Werke Tocquevilles vielfältig und vielschichtig erscheinen und erschwert eine wissenschaftliche Zuordnung und Beurteilung. Demgemäß ist, um den Werken gerecht zu werden, Tocquevilles Auffassung von Theorie und Praxis von Bedeutung. Er legt sein Verständnis von beiden und beider Verhältnis zueinander am Beispiel der Politik dar33 : "Il y a dans la politique deux parts qu'il ne faut pas confondre, l'une fixe et l'autre mobile. La premiere, fondee sur la nature meme de l'homme, de ses interets, de ses facultes, de ses besoins reveles par la philosophie et l'histoire, de des instincts qui changent d'objet suivant les temps, sans changer de nature, et qui sont aussi immortels que sa race; la premiere, dis-je, enseigne quelles sont les lois les mieux approprü~es a la condition generale et permanente de l'humanite. Tout ceci est la science. Et puis, il y a une politique pratique et militante qui Iutte contre les difficultes de chaque jour, varie suivant la variete des incidents, pourvoit aux besoins passagers du moment et s'aide des passions ephemeres des contemporains. C'est l'art du gouvernement. L'art differe assurement de la science, la pratique s'ecarte souvent la theorie, je ne le nie point; j'irais meme plus loin si l'on veut, et je ferai cette concession, d'avouer qu'a mon sens, exceller dans l'un n'est point une raison de reussir dans l'autre34." Die Wissenschaft von der Politik lehrt, welche Gesetze dem Menschen am meisten gemäß sind; bei der Erkenntnis der Natur des Menschen ist sie auf die Ergebnisse der Philosophie und der Geschichte angewiesen; die Natur des Menschen ändert sich nicht, und so kann auch die Wissenschaft keine grundlegend neuen Erkenntnisse erlangen und erhält dadurch statischen Charakter. Anders dagegen die "praktische Politik", die "Kunst des Regierens", die gegen die Schwierigkeiten des Alltags kämpft, die "sich wandelt mit den sich wandelnden Ereignissen", die die "kurzlebigen Bedürfnisse behebt" und sich der "Eintagsleidenschaften der Zeitgenossen bedient". Wenn Tocqueville in dieser Rede, die er 1852 vor der Academie des Seiences morales et politiques hielt, Verwechslung und Vermengung theoretischer und praktischer Politik vermeiden möchte, ist dies um so aa Diese ist schon deshalb ein besonders gutes Beispiel, weil sie auf die Vermittlung von Theorie und Praxis angelegt ist, wie die Stellung der Politik als klassischer Wissenschaft zeigt. Hierin liegt auch für die moderne politische Wissenschaft eine Herausforderung; vgl. dazu Wilhelm Hennis: Politik und praktische Philosophie, S. 115. 34 OT IX, S. 117 f. Trotz ihrer Bedeutung ist diese Stelle in der einschlägigen Literatur unbeachtet geblieben.

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I. Der "Praktiker" Tocqueville

bemerkenswerter, als er in "L'Ancien Regime et la Revolution", an dem er 1851 zu arbeiten begonnen hatte, eine andere Auffassung zu vertreten scheint. Hier spricht er in dem ersten Kapitel des dritten Buches, das sich mit dem Phänomen der politischen Herrschaft der Schriftsteller,"les hommes des lettres" - im 18. Jahrhundert auseinandersetzt, von der "grande science du gouvernement", die "le mouvement general de la societe" zu erfassen und beurteilen lehre, was im "esprit des masses'' vor sich gehe35• So zeigt er in diesem Kapitel, wie die Aristokratie im alten Staat die politische Herrschaft verlor, weil ihr die "geistige Herrschaft" schon lange zuvor entglitten war36 • Deutet schon der Ausdruck "science du gouvernement" auf eine mögliche Synthese von praktischer und theoretischer Politik, so auch die Verknüpfung der geistigen Ursache mit der praktisch-politischen Auswirkung; dennoch wird man vergeblich nach dem Ausdruck ,theoretische Politik' in diesem Text Tocquevilles suchen; daß Verbindungen zwischen Theorie und Praxis bestehen, deutet Tocqueville selbst an, um so schwerer verständlich wird seine strenge Trennung beider in der Academie-Rede. Tocqueville bestreitet keineswegs die Allgemeingültigkeit der wissenschaftlichen Aussagen über den Menschen, wie sie sich in Philosophie und Geschichte finden, da sie Grundlage für die praktische Politik sein können. In der Regel aber finden die Erkenntnisse dieser Wissenschaften keinen Eingang in das Handeln der praktischen Politiker. Zwei Gründe hierfür sind angegeben. Zum einen ist die Theorie von der Praxis geschieden, da die theoretische Seite der Politik als Wissenschaft festgelegt, die praktische aber "mobil" ist37 ; zum anderen wird nicht vorausgesetzt, daß der Theoretiker der Politik auch Praktiker sein oder der Praktiker sich auf die Theorie der Politik verstehen können muß38• Für Tocqueville kann die Trennung der Theorie von der Praxis der Politik aber nicht durch diese Geschiedenheit der politischen Theoretiker von den praktischen Politikern oder durch Talent und Neigung einzelner Menschen für die eine oder die andere Seite ursächlich begründet sein39 ; vielmehr ist der Grund in Tocquevilles Verständnis von Wissenschaft und Praxis zu sehen4o. as s. OC II, - 1, S. 198. 36 Vgl. dazu Klaus Hornung: Die Dialektik von Emanzipation und Despotis-

mus. Alexis de Tocqueville und Karl Marx, in: Der Staat, 15. Bd. 1976, Heft 3,

s. 310.

Freilich bleibt die Ursache der Mobilität deutlicher zu bestimmen. Vgl. OT IX, S. 116, 118. 39 Die Beobachtung der unterschiedlichen und voneinander getrennten Beschäftigungen mit Politik- hier theoretisch-wissenschaftlich, dort praktischpolitisch - zeigt nämlich nicht die Ursache der Trennung von Theorie und Praxis, sondern deren Wirkung. 4° Für die Seite der Wissenschaft soll nun nach den Bemerkungen zu Tocquevilles Verhältnis zur Darstellung der Geschichte, s. oben I, 2. a) -die 37

as

2. Begründung und Ziel der Werke

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In einem Brief aus oem Jahr 1858 an einen Kollegen aus der Academie des Seiences morales et politiques spricht Tocqueville von seiner enttäuschten "leidenschaftlichen Neigung" zu den "etudes philosophiques", die er in diesem Brief mit "sciences" gleichsetzt oder zumindest ohne weitere Unterscheidungen beider in letztere selbstverständlich einbezieht. Seine Enttäuschung rührt daher, daß "..., j'en suis toujours arrive a ce point de trouver que toutes les notions que me fournissaient sur ce point les sciences ne me menaient pas plus loin, et souvent me menaient moins loin que le point ou j'etais arrive du premier coup par un petit nombre d'idees tres-simples, et que tous les hommes, en effet, ont plus on moins saisies"U. Dieser Mangel war nicht Ergebnis einer Unkenntnis, sondern Folge seiner Erwartungen an die Wissenschaft, die diese nicht erfüllen konnte; denn der Gewinn, den sich Tocqueville aus der Kenntnis philosophischer Autoren42 versprach, wäre für ihn eine Erkenntnis gewesen, die ihn über den Standpunkt der "kleinen Zahl sehr einfacher Ideen" hinausgeführt hätte, die - nach Tocqueville - alle Menschen mehr oder weniger haben. So scheint es nicht einsichtig, worin der "Gewinn" metaphysischer Betätigung liegen sollte. Hinzu tritt aber noch ein anderer Umstand: die göttliche Offenbarung, deren Inhalt von der Metaphysik nicht eingeholt werden kann: "Ces idees conduisent aisement jusqu'a la croyance d'une cause premiere, qui reste tout a la fois evidente et inconcevable; a des lois fixes que le monde physique laisse voir et qu'il faut supposer dans le monde moral; a la providence de Dieu, par consequent a sa justice; a la responsabiJite des actions de l'homme, auquel on a permis de connaitre qu'il y a un bien et un mal, et, par consequent, a une autre vie. Je vous avoue qu'en dehors de la revelation je n'ai jamais trouve que la plus fine metaphysique me fournit sur tous ces points-la des notions plus claires que le plus gros bon Philosophie zur Sprache kommen, die auch für Tocaueville das Beispiel einer rein theoretischen Wissenschaft ohne unmittelbare Wirkung auf die Praxis abgibt. Vgl. dazu OT VII, S. 83 f. 41 OT VII, S. 476. 42 Nach dem Zeugnis der Briefe und Reisenotizen !:ind es die folgenden (es ist jeweils nur eine Fundstelle genannt und nur die Namen wurden erwähnt, die Tocqueville selbst nennt: hierbei handE'lt es sich um eine Auswahn: A:ristnteles (OC VITI,- 2, S. 400). Bentham (OC IX, S. 56), Louis de Ronald (OC VTTI, - 1, S. llR1), Edmund Burke (OC VIII. - 1. S. 126). Auguste Comte (OC VITI.- 3, S. 577), Erasmus von Rotterdam (OC IX. S. Hl5). Lnc'lwig Feuerbach fOC IX, S. 272), Hege! (OT VI, S. 260), Homer (OC XI, S. t9R). Friedrich Heiilrlch Jac-obi fOC JX. S. 72), Kant (OC IX, S. 60), Machiavelli (OC XI. S. 19), John Stnart Mill (OC VI, -1, S. 291). Montesauieu (OC V.- 2. S. 91), Blaise Pa!: