Piet Mondrian
 9781780426143, 1780426143, 9781781607329, 178160732X

Table of contents :
Content: Die Anfänge: von 1872 bis 1925
In der Metropole: 1940 bis 1944
Mondrians New Yorker Arbeiten: Theorie und Praxis
BIOGRAFIE
INDEX DER WERKE.

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Piet

Mondrian

© Confidential Concepts, worldwide, USA ISBN: 978-1-78042-614-3 Perfect square, London, (deutsche Fassung)

Weltweit alle Rechte vorbehalten Soweit nicht anders vermerkt, gehört das Copyright der Arbeiten den jeweiligen Fotografen. Trotz intensiver Nachforschungen war es aber nicht in jedem Fall möglich, die Eigentumsrechte festzustellen. Gegebenenfalls bitten wir um Benachrichtigung.

Piet Mondrian

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Die Anfänge: von 1872 bis 1925 Als sich Piet Mondrians Geburtstag am 7. März 1972 zum hundertsten Mal jährte, wurde der Holländer international gefeiert. Im umliegenden Ausland sowie in den Vereinigten Staaten fanden bedeutende Ausstellungen seines Werkes statt, beginnend mit einer Retrospektive im Guggenheim Museum in New York im Herbst 1971. Sein Leben und Werk wurde mit Referaten und Artikeln in über dreißig Symposien, Büchern und Zeitschriften gerühmt. Es ist nicht besonders erstaunlich, dass die meisten dieser Sympathiebezeugungen aus Amerika kamen, wo Mondrian als Kriegsflüchtling die letzten vier Jahre seines Lebens verbrachte. Lange Zeit hatte er am Traum von den Vereinigten Staaten als dem Land der Zukunft festgehalten und seine Werke als Vorboten eines „neuen Weltbildes” bezeichnet. Obwohl sich seine Erwartungen und Vorstellungen in Amerika wandelten, blieben seine Überzeugungen grundsätzlich so, wie sie sich in Europa gebildet hatten, das heißt, an Holland gebunden wie viele Aspekte seiner Persönlichkeit und seines künstlerischen Denkens. Mondrians Vater, Lehrer für Zeichnen und Französisch, war Rektor in Den Haag, wo er einige Jahre unterrichtete, bis er zum Direktor einer Schule in Amersfoort ernannt wurde. In den zehn Jahren, in denen er und seine Frau Christina Kok in Amersfoort lebten, kamen die ersten vier ihrer fünf Kinder zur Welt. Ihr zweites Kind nannten sie (in der holländischen Schreibweise) Pieter Cornelis Mondriaan Junior. Der Onkel Frits Mondriaan hatte sich vom familiären Unternehmen des Perückenmachens zurückgezogen und lebte als Künstler. Wann immer Frits in der Nähe von Winterswijk zu tun hatte, besuchte er die Familie seines Bruders und ließ sich bei diesen Gelegenheiten

1. Sieges-Boogie-Woogie,

von seinem Neffen zu Zeichenexpeditionen in die umliegende Gegend begleiten.Von

1943-44. Öl auf

seinem Onkel erwarb Piet die technische Kunstfertigkeit, nicht aber seinen ausgeprägten

Leinwand mit farbigem

Sinn für den Bildaufbau. Wenn man ihre Bilder miteinander vergleicht, wird deutlich,

Band und Papier,

dass der Jüngere, was das Verständnis der räumlichen Beziehungen anbetrifft, dem

Gemeentemuseum,

Älteren überlegen ist.

Den Haag

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Für Piets Studium an der Amsterdamer Akademie der Schönen Künste, die er im Alter von neunzehn bis zweiundzwanzig Jahren besuchte, kam ein Freund der Familie auf. Obwohl Piet Mondrian bei der Landschaftsmalerei blieb und von Zeit zu Zeit auch einige seiner Bilder verkaufte, wandte sich sein künstlerisches Interesse immer mehr in eine andere als die von Vater und Onkel vorgegebene Richtung. Während er seinen Pinsel führte wie zuvor, hob er unter dem Einfluss der Impressionisten und Postimpressionisten, deren Werke Freunde aus Paris mitgebracht hatten, die Farben stärker hervor. Diesen Übergang erklärte er in einem Gespräch über den Neoplastizismus (das 1920 erschien, aber schon 1919 verfasst worden war), in welchem er anführt, dass er „nach und nach der Farbe und der Linie zugestand, für sich zu sprechen”, um eine „intensivere, … weniger der Mimesis verhaftete” Schönheit hervorzubringen. 2. Letztes Foto Mondrians

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in New York, 1944.

Die zunehmende Abstraktion ließ ihn erkennen, dass die gerade Linie eine größere

Aufgenommen von

Spannung bietet als die gekrümmte und dass sie deshalb geeigneter ist, die Idee der

Fritz Glarner

unendlichen Weite wiederzugeben.

Die Veränderung ging schrittweise vor sich. Eine französische Ausstellung der Kubisten im Herbst 1911 in Amsterdam inspirierte ihn so sehr, dass er im folgenden Frühjahr nach Paris aufbrach, um sich direkt mit den Ursprüngen der Bewegung zu konfrontieren. Mondrian war von Picassos und Braques Theorie begeistert. Als Mondrian daran arbeitete, die Volumina natürlicher Gegenstände in ihre flachen geometrischen Entsprechungen aufzulösen, setzte er sich auch mit den Problemen auseinander, die aus der Differenz zwischen dem natürlichen, dreidimensionalen und dem künstlichen, zweidimensionalen Raum entstehen. Die einzelnen Elemente scheinen nicht mehr zur Natur zu gehören, obwohl sie in Form und Farbe noch entfernt daran erinnern. Diese Ambiguität brachte eine wichtige Entscheidung: „Nach und nach wurde mir bewusst, dass der Kubismus die logischen Konsequenzen seiner Entdeckungen nicht zog. Er hatte die Abstraktion nicht bis zum Äußersten entwickelt: dem Ausdruck der reinen Wirklichkeit… Ich brauchte lange, um zu erkennen, dass die formalen Eigenheiten und die natürliche Farbe subjektive Eindrücke hervorrufen, die die reine Wirklichkeit verdecken.

3. Mühle bei Domburg, 1909.

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4. Düne, um 1909.

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5. Düne, um 1910.

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Die Erscheinung der natürlichen Form verändert sich, während die Wirklichkeit gleich bleibt.” Zwei Jahre lebte Mondrian in Paris, bis er 1914 wegen der Erkrankung seines Vaters nach Hause zurückkehrte. Er hatte vor, zwei Wochen in Holland zu bleiben, doch während seines Aufenthaltes brach der Erste Weltkrieg aus und die niederländische Grenze wurden geschlossen, so dass er gezwungen war, dort zu bleiben. Was zuerst wie eine enttäuschende Wende der Ereignisse aussah, entpuppte sich als eine glückliche Fügung. In den fünf Jahren von 1914 bis 1919 traf er viele Maler, Bildhauer, Designer, Architekten und Schriftsteller, die entweder in den Niederlanden geboren worden waren oder sich wegen des Krieges dort aufhielten. 6. Die Mühle, 1907-08.

Von größter Bedeutung für seine Entwicklung war Theo van Doesburg, über den er sagte:

Stedelijk Museum,

„Voll Energie und Eifer für die inzwischen internationale ,abstrakte’ Bewegung, erkannte

Amsterdam

er meine Arbeit aufrichtig an und bat mich, an einer Zeitschrift mitzuarbeiten, die er unter dem Namen De Stijl (Der Stil) veröffentlichen wollte. Ich schätzte mich glücklich, meine

7. Windmühle im Sonnenlicht, 1911.

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im Entstehen begriffenen Ideen über Kunst in Worte zu fassen und sah die Möglichkeit eines Kontaktes Mit gleich Gesinnten.”

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8. Der rote Baum, 1908. Gemeentemusum, Den Haag

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9. Grauer Baum, 1911.

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Van Doesburg hatte wahrscheinlich gar nicht vor, mit seiner Zeitschrift eine Bewegung zu gründen, als er in der Einleitung zur ersten Ausgabe zu bedenken gab, dass Künstler, die willens seien, ihre „ehrgeizige Individualität” zu opfern, eine „geistige Gemeinschaft” bilden sollten mit dem Ziel, den wahren Zeitgeist zu verstehen und seine offensichtlich „archaische Vermischung” (die „barocke Moderne”) mit einer angemesseneren, organischen Ausdrucksweise zu konfrontieren. Die Künstler, an die van Doesburg dabei dachte, stammten aus den „verschiedenen Zweigen der darstellenden Kunst”. Sie versprachen, in jeder Kunstform, die sich mit einer anderen berührte, nach den logischen Prinzipien zu forschen, um eine „Universalsprache” der Kunst, einen „Stil” zu kreieren. Als Resultat schwebte ihnen ein künstlerischer Stil und eine ästhetische Lebensweise vor. Als Mondrian 1917 erste Aufsätze für van Doesburgs Zeitschrift schrieb, stand seine Theorie zwar ideell fest, es erforderte aber noch viel Zeit, um sie zu einem beständigen Paradigma auszubauen. Joop Joosten erkennt in den Bildern der Jahre 1916 und 1917, vor allem in der unvollendet gebliebenen Linienkomposition, der Farbkomposition A und der Farbkomposition B, dass Mondrian zum ersten Mal in der Kirchenfassade, dem Meer oder der Anlegestelle von Domburg Linie und Farbe voneinander trennte. Die letzten in Holland vollendeten Bilder und die Bilder, die er in den ersten Jahren nach seiner Rückkehr nach Paris 1919 fertig stellte, zeigen den unablässigen Versuch, die „Neue Gestaltung” visuell festzulegen. Die Bilder durchleben verschiedene Arbeitsgänge: Zuerst verwandelt Mondrian die Elemente in gleichförmige Flächen in leicht abgewandelten Primärfarben. 10. Baum, 1912.

Dann trennt er die Flächen voneinander, so dass sie gegen einen weißen Hintergrund zu

Carnegie Institute,

fließen scheinen. Weil ihm dieser Effekt immer noch zu „natürlich” vorkam, verband er

Museum of Art,

die Flächen in einem regelmäßigen rechteckigen oder rautenförmigen Gitter.

Pittsburg

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Die Leinwand, das „rechteckige Prisma” (wie Mondrian sie einst treffend nannte), ist sowohl eine Form im Raum als auch eine räumliche Form. Die Farben dieser Flächen stehen für die Intensitäten und Farbtöne der Natur, gereinigt und in ihrem primären farblichen Zustand wiedergegeben: Rot, Gelb und Blau, sowie in den primären nichtfarblichen Zuständen: Schwarz, Weiß und Grau. Die schwarzen Flächen erfüllen verschiedene Funktionen. Als Nichtfarben dienen sie der Struktur, und indem sie das Auge leiten, fügen sie dem Bild eine zusätzliche Dynamik bei. Wenngleich die Teile eine wichtige Rolle spielen, unterstrich Mondrian stets ihre Einordnung in die Harmonie des Ganzen. In Größe und Farbe verschieden, haben sie aufgrund ihrer gemeinsamen Natur alle den gleichen oder äquivalenten Wert. Auch wenn kleinere Farbbereiche gegen größere, nichtfarbliche, aufgewogen werden, vermitteln sie doch das Gefühl eines Gleichgewichts, vorausgesetzt, die Proportionen stimmen. Komposition, 1921 (S. 34) veranschaulicht am besten Mondrians künstlerische Prinzipien. Er fasst hier die Materie mit farblichen und nichtfarblichen rechteckigen Flächen zusammen, die Struktur mit schwarzen Linearflächen, die die rechteckigen Flächen trennen und innerhalb des vertikal-horizontalen Systems der Leinwand organisieren. Durch die Begrenzung der farbigen Flächen, die über die Ränder der Leinwand hinausgehen, zeigt er, dass Mittel und Struktur verschiedene Elemente sind. „In der Weise der Kunst” arbeitend, schuf Mondrian eine „neue Struktur”, die, anders als das Leben, „exakt" war. „Wirklich" bedeutet nicht, dass das Bild ein materieller Gegenstand ist, denn Mondrian verband die Realität des Werkes mit einer höheren Wirklichkeit und einer universellen Idee. Hierin bestand Mondrians äußerste Ambiguität: einen leblos scheinenden Gegenstand als das Leben selbst zu verstehen, nicht im Sinn eines mangelhaften und unvollständigen Fragments, sondern als Elementarteilchen, das in 11. Akt, 1912.

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seiner Struktur das Versprechen seiner Unendlichkeit enthält.

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12. Komposition Nr. 3 mit Farbflecken, 1917. 13. Ovale Komposition, 1914. Gemeentemuseum, Den Haag

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Durch das Schaffen dieses Lebenspartikels illustrierte Mondrian nicht die reine Wirklichkeit oder die reine Schönheit, sondern machte seine Bilder zu dieser Realität. Er präsentierte die Kunst in ihrer lebendigsten und das Leben in seiner dichtesten und einheitlichsten Form. So formulierte er kurz und bündig: „Einheit, in ihrem tiefsten Wesen, strahlt Sein aus: Sie ist… Deshalb müssen auch Leben und Kunst Ausstrahlung sein.”

Die Jahre 1925 bis 1940 Seit seiner Rückkehr nach Frankreich im Jahre 1919 hatte Mondrian an einer Reihe von neoplastischen Bildern gearbeitet. Kaum hatte er das visuelle Gegenstück für seine „neue Wirklichkeit” erreicht, schienen seine Variationsmöglichkeiten innerhalb der Regeln endlos. Durch die Elimination bewies Mondrian, dass er die bildliche Einheit auch mit wenigen Elementen aufrecht erhalten konnte. Nur einmal, in der Komposition mit gelben Feldern, 1933, reduzierte er die Elemente auf vier einfarbige, gelbe Linearebenen. Es handelte sich dabei um ein diagonal gedrehtes, quadratisches Bild. Zum ersten Mal malte Mondrian diese „rhombischen” oder „rautenförmigen” Bilder in den Jahren 1918 und 1919 in der Absicht, eine Spannung zwischen dem äußeren Format und den inneren Elementen zu erzeugen. Später schienen sie einen eigenen, selbständigen Werkkörper zu bilden, an dem der Prozess der Suche nach Harmonie ebenso gut abzulesen ist wie an den konventionelleren Werken. Für den Geschmack der Franzosen waren die neoplastischen Bilder in der Regel zu streng. Nicht ein einziges Mal luden sie Mondrian zu einer Ausstellung ein, noch

14. Komposition auf

erwarben sie bis kurz vor seinem Tod Werke für ihre Sammlungen. Obwohl Paris als der

weißem Grund A,

internationale Mittelpunkt der Kunstszene galt, konnten sich die Franzosen nicht für die

1917. Kröller-Müller

reine Abstraktion begeistern.

Museum, Otterlo

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Ihre Indifferenz ging so weit, dass die Künstler sich gegenseitig unterstützten und in den späten 1920er Jahren Gruppierungen wie Cercle et Carré bildeten, gefolgt von Abstraction-Création in den 1930er Jahren. Mondrian gehörte bereits zur älteren Generation, als er nach Paris zurückkehrte, und aus diesem Grunde hielt er sich auch vom Zirkel der jüngeren Künstler fern. Trotzdem wuchs sein Ansehen unter ihnen und bei Gelegenheit besuchten sie ihn in seinem Atelier. Die Gruppenzugehörigkeit fiel Mondrian schwer und doch war er kein Einzelgänger. Von 1921 bis 1936 wohnte er in der Rue du Départ, einer Straße an des Ostseite der Gare de Montparnasse. Zweifelsohne war die Kargheit dieses (wie auch aller weiteren) Studios von der Sparsamkeit diktiert, die weiße Farbe vom Wunsch nach Licht und die Reinlichkeit vom „niederländischen Wesen” des Künstlers, aber es spielten auch noch andere Faktoren eine Rolle. Mondrian war davon überzeugt, dass „ein heutiger Künstler in allen Dingen die Mode seiner Zeit bevorzugen sollte", auch was das Studio anbelangt: „Alles muss zur Harmonie beitragen.” Verschiedene Besucher erinnern sich lebhaft an ihre erste Begegnung mit Mondrian in seinem Studio in der Rue du Départ. Seine Bekanntschaft mit Theo van Doesburg begann während des Ersten Weltkriegs in Holland, als van Doesburg noch mit seiner ersten Frau Lena verheiratet war, und dauerte bis zu dessen Tod im Jahre 1931. Von der Mitte der 1920er Jahre an waren Theo und seine zweite Frau Nelly oft mit dem Künstler zusammen, entweder in Paris oder bei ihnen zu Hause in der Pariser Vorstadt. Einer Aussage Nellys zufolge war er im persönlichen Umgang weitaus

15. Komposition auf

selbstsicherer als es überall dargestellt wird: Er vermochte sowohl distanziert als auch

weißem Grund B,

schlagfertig zu sein (sogar leicht „bissig”), vor allem denen gegenüber, die ihm

1917. Kröller-Müller

unsympathisch waren.

Museum, Otterlo

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Doch konnte er es, was die aggressive Gereiztheit anbetraf, nicht mit ihrem Mann aufnehmen. In Nellys Augen bedeutete der Umstand, dass er ehelos blieb, „eine persönliche Tragödie”. Am 21. September 1938 verließ Mondrian Paris, da der Krieg Frankreich bereits bedrohte. Es war ein harter Schlag für ihn, seine Wahlheimat zu verlassen und während der ganzen Reise war er gedämpfter Stimmung. In London mietete Mondrian ein Zimmer im ersten Stock eines düsteren, dreieinhalb Stockwerke hohen Gebäudes, das sich in der Nähe der Parkhill Street befand. In dieser Nachbarschaft wohnten weitere Künstler, u. a. Naum Gabo, Marcel Breuer, Walter Gropius, Herbert Read, Roland Penrose, Paul Nash, Adrian Stokes, John Summerson und Cecil Stephenson mit ihren Familien. Viele andere Künstler schätzten ihn und behandelten ihn mit Achtung, Fürsorge und sogar ein wenig Mitleid - ein Verhalten, das manchmal etwas gönnerhaft wirkte. Als Mondrian in London zu malen begann, widmete er sich zuerst den Werken, die er in Paris angefangen hatte. Seine englischen Bilder werden selten so wahrgenommen, doch Lawrence Alloway, der sie 1955 in der Ausstellung der Whitechapel Galerie sah, charakterisiert die Werke nach 1937 als von „zunehmender Komplexität”, die er der Vervielfältigung der Linien und den kleiner werdenden Farbflächen zuschreibt. Obwohl Mondrian fortfuhr, in London zu malen, schrieb er später einem Freund von den Schwierigkeiten der Arbeit in dieser Zeit. Offensichtlich unterbrach er die Malerei im Juni 1940 vollständig. Mondrians Wunsch, nach Amerika zu gehen, geht weit zurück, wahrscheinlich bis in die Pariser Zeit, als er zum ersten Mal Bilder an Amerikaner verkaufte. 1926 besuchte 16. Selbstbildnis, 1918.

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Katherine Dreier als erste amerikanische Sammlerin Mondrian. Zusammen mit Duchamp

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und Man Ray hatte Dreier 1920 die ,,Société Anonyme" in New York gegründet als eine „Internationale Organisation zur Förderung des Studiums des künstlerischen Fortschritts in Amerika”. Unter der Schirmherrschaft der „Société Anonyme” eröffnete Dreier die erste bedeutende Ausstellung moderner Kunst in Amerika seit der Armory-Ausstellung. Sie fand 1926 im Brooklyn Museum statt. Dreier besuchte auch Mondrians Studio und erwarb eine seiner rhombischen Kompositionen, Bild I, 1926 (S. 40) für ihre Ausstellung. Ihre Beurteilung im Katalogeintrag zu Mondrian scheint damals übertrieben: „Holland hat drei große Maler hervorgebracht, die der logische Ausdruck ihres Landes sind, aber dank der Stärke ihrer Persönlichkeit über ihr Land hinauswuchsen - zuerst Rembrandt, dann van Gogh und schließlich Mondrian.” Dreiers Ausstellung wirkte stärker, als sie ahnen konnte. Sie präsentierte dem amerikanischen Publikum zahlreiche neue Künstler, unter ihnen auch Mondrian. Viele junge Amerikaner besuchten die Ausstellung, an die sie sich noch Jahre später erinnerten. Etliche exilierte Künstler waren bereits in den Vereinigten Staaten ansässig oder dabei, es zu werden. Ozenfant, Chagall, Tanguy, Dalí, Berman, Tschelitschew, Seligman, Hofmann und Grosz waren bereits in Amerika. Mondrian wollte im Oktober, Léger im Dezember 1940 kommen. Max Ernst und André Masson sollten im Jahre 1941 ankommen. Nebst den bereits erwähnten kamen auch Breton, Lipchitz, Matta und Zadkine. Zu dieser Zeit und etwas später erreichten auch Miró, Gabo und Feininger die Vereinigten Staaten. Weder die neu ankommenden noch die sie erwartenden Künstler konnten sich das Ausmaß des gegenseitigen Einflusses vorstellen. Dies traf besonders auf Mondrian zu, der eine außerordentliche Wirkung auf Architektur und Design ausübte. Die Grundlage für seinen bleibenden Eindruck in den bildenden Künsten war bereits gelegt.

17. Schachbrett, Helle Farben, 1919.

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Trotz ihrer Situation außerhalb der vorherrschenden Richtung und trotz des fehlenden Zusammenhalts wandte sich eine kleine Zahl amerikanischer Künstler in den 1920er und 1930er Jahren dem abstrakten Stil zu, ihnen boten sich jedoch nur wenige Möglichkeiten für Ausstellungen.

18. Stillleben mit Ingwertopf, 1911-12.

Umso mehr fühlten sie sich zurückgewiesen, als ihre Arbeiten in den Jahren 1935 und

Gemeentemuseum,

1936 von den Ausstellungen des Whitney Museums und des Museum of Modern Art in

Den Haag

New York ausgeschlossen wurden. Doch ihre Werke passten eigentlich nicht in diesen Rahmen. So gründeten sie die Gruppe der „American Abstract Artists” (AAA - die abstrakten Künstler Amerikas).

19. Komposition: Helle Farbflecken und graue Linien, 1919.

Mangels öffentlichen Interesses mussten die Mitglieder durch Aufteilung der Kosten ihre

Kröller-Müller

Ausstellungen selber finanzieren.

Museum, Otterlo

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Um das Verständnis des Publikums zu wecken und sich ein Forum zu verschaffen, gaben sie ein Büchlein mit Aufsätzen verschiedener Künstler heraus. Die Mitglieder sandten ihre Beiträge an Mondrian nach Paris, der am 22. März 1938 mit einem Glückwunsch antwortete und schrieb, es sei „une grande joie” (eine große Freude) gewesen, ihre Aktivitäten zu sehen und er wünsche ihnen „la force nécessaire de continuer” (die zum Weitermachen notwendige Kraft). 21. Bild II, 1921-25. Sammlung Max Bill,

Die AAA entschlossen sich bei ihrem Treffen im November 1940, Léger und Mondrian

Zürich

zum Beitritt einzuladen, die bereits in New York weilten. Mondrian antwortete am 3. Januar 1941 auf Englisch.

20. Komposition in Grau,

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Rot, Gelb und Blau,

Er schrieb an den Sekretär Holtzman, dass er die „Begrüßung” sehr geschätzt habe und der

1920. Tate Gallery,

Gruppe gerne beitreten wolle und auch für die nächste Ausstellung Werke zur Verfügung

London

stellen werde.

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Mondrian war drei Monate zuvor in New York angekommen, nachdem er einige Wochen unter der Bombardierung Londons im August 1940 gelitten hatte. Als die Bombardierung begann, schrieb Holtzman, es sei nun Zeit, nach Amerika zu kommen: „Mein Anwalt in New York organisierte einen Flug von Lissabon, aber Mondrian wollte nicht das Flugzeug nehmen, sondern den Frachter. Er behielt die ganze Zeit über seine Sicherheitsweste an. Die Reise dauerte einen ganzen Monat. Ich holte in ab. Er war ganz erschöpft.

22. Komposition I, 1921. Gemeentemuseum, Den Haag

(...) Am nächsten Abend holte ich ihn ab und lud ihn zu mir zum Essen ein. Ich werde es nie vergessen. Schon seit langem bewunderte er den Jazz, aber er hatte noch nichts vom

23. Komposition in Rot,

Boogie-Woogie gehört, der ziemlich neu war. Ich verfügte über einen schönen

Gelb und Blau, 1922.

Plattenspieler und Schallplatten, die vor kurzem erschienen waren. Komplett von der

Stedelijk Museum,

Musik absorbiert, saß er da und murmelte vor sich hin: 'Wahnsinn! Wahnsinn!'"

Amsterdam

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In der Metropole: 1940 bis 1944 Mondrian war am 3. Oktober 1940 in New York angekommen. Er brauchte lange, um seinen Traum von Amerika der alltäglichen Wirklichkeit anzupassen. In den ersten Wochen nach seiner Atlantiküberquerung fühlte er sich schwach und niedergeschlagen. Kaum waren Gesundheit und Energie zurückgekehrt, begann Mondrian, die Stadt mit seinen neuen Freunden zu erforschen. Mondrian erneuerte auch seine alten Bekanntschaften aus Europa. Durch Abstraction-Création hatte er in Paris Carl Holty kennen gelernt. Die AAA fühlten sich Mondrian sehr verbunden. Am 24. Januar 1942 folgte die Verkündung von Mondrians und Légers Beitritt. Mondrian hatte großen Einfluss auf die abstrakten Künstler. Er kam für ihre bescheidenen Organisationskosten auf (gerade mal vier Dollar pro Jahr, aber die Geste war bedeutend, vor allem im Gegensatz zu Léger). Viele Künstler bewunderten seine menschlichen Qualitäten, denn, so Holty: „Mondrian war der einzige Flüchtling, der sich nicht unters gemeine Volk mischte: Er war klug, aber nicht prätentiös und äußerst großzügig in seiner Art.” Ohne sich dessen bewusst zu sein, bezeugten Holty und die Mitglieder der AAA die Veränderungen, die die New Yorker Periode kennzeichnen. Mondrian hatte schon bemerkt, dass die zusätzlichen Linien, die er seinen Bildern in England hinzugefügt hatte, Leben und Bewegung schufen. Dieser Effekt entsteht dadurch, dass das Auge des Betrachters den Linien folgt und auf das „optische Flackern” reagiert, das beim Überkreuzen entsteht. 24. Komposition mit

In London fügte Mondrian in seine in Paris begonnenen Bilder schwarze Linien ein und

gelben Linien, 1933.

noch weitere in New York. Komposition in Rot, Gelb und Blau, 1939-1942 (S. 44), ist ein

Gemeentemuseum,

Beispiel für ein Bild, an dem er in allen drei Städten arbeitete.

Den Haag

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Das Hinzufügen von farbigen Flächen, die zum ersten Mal nicht von schwarzen Rändern umgeben waren und die die Linien untereinander und mit dem Rahmen verbanden, hängt mit den besseren Lichtverhältnissen in New York zusammen, dem „mediterranen” Licht im Gegensatz zu der eher grauen und impressionistischen Beleuchtung in London und Paris. Mondrian stellte konsequent den Gebrauch der schwarzen Farbe in Frage, die ihm immer mehr überflüssig und unerwünscht erschien. Mondrian bewunderte Holtys Farbgebung, als er den Künstler in seinem Atelier im „Master Institut” besuchte. Als Theoretiker war er von der Leuchtkraft fasziniert, die der jüngere Künstler erreicht hatte und entschloss sich, auch seinen Oberflächen mehr Farbe zu verleihen. Rein technisch wäre ein Wechsel zur Farbe unmöglich gewesen, wenn Holty und andere Freunde Mondrian nicht von ,,Dennison Scotch Tape” erzählt hätten, das in Primärfarben 25. Mondrians Atelier in der Rue du Départ

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hergestellt wurde. In Europa war die Malerei für Mondrian ein mühsamer und langwieriger Prozess.

Selbst die Abänderung einer schwarzen Linie verlangte den Einsatz eines Farbentferners und den anschließenden Neuaufbau der Oberfläche. Wenngleich der endgültige Vorgang des Bemalens der unteren Flächen, wo der Streifen angebracht wurde, genauso viel Mühe erforderte, konnte er nun die Bildkomposition viel einfacher organisieren, wie er es seit New York City (S. 51) vermehrt tat. Das Vor- und Zurücksetzen der Streifen erlaubte ihm, „mehr als je zuvor mit der Intuition und den Augen” zu arbeiten, statt mit „mathematischen Formeln”.

26. Komposition II mit blauem Quadrat,

Dass das Publikum sich der Bedeutung der Flüchtlinge bewusst war, zeigte sich im

1936-42. Öl auf

Dezember 1941, als das weitverbreitete Magazin Fortune zwölf der Künstler groß

Leinwand, National

herausbrachte, mit Reproduktionen ihrer Werke und einem Textteil, der ihrem bereits

Gallery of Canada,

spürbaren Einfluss im Kunsthandel gewidmet war.

Ottawa

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Komposition in Schwarz, Weiß und Rot, 1936 (S. 62), wurde auf der ersten Seite des Artikels zu Mondrian abgebildet. Mondrian wurde ein „architektonischer Künstler” genannt, der eine große Wirkung auf Typografie, Layout, Architektur und Industriedesign ausgeübt habe. Sein Einfluss galt als allgegenwärtig „in Büchern, Zeitschriften, Postern, Markenzeichen, auf Fußböden und in Büros - ja sogar auf den Tischplatten in den Kindergärten”. Das wahrscheinlich erfreulichste Ereignis in den fünf Jahren, die Mondrian in New York verbrachte, war die einzige Einzelausstellung seines Lebens in der Galerie Valentine Dudensing im Januar 1942. In den wenigen Rezensionen der Ausstellung erhielt das Bild Boogie-Woogie als einziges ein positives Echo.

27. Bild I, 1926. Museum of Modern

Mondrian enttäuschte viele Besucher, die nur seinetwegen gekommen waren. Da er gehört

Art, New York

hatte, dass der Künstler für gewöhnlich nicht zur Eröffnung seiner eigenen Ausstellung erscheine, blieb er zu Hause.

28. Eintrag über Mondrian in Katherine Dreiers

Mondrian zeigte Toleranz gegenüber den Surrealisten und denen, deren Kunst noch

Katalog für die

weniger mit der seinen zu tun hatte. Seine mäßig begeisterten Reaktionen seinen

Ausstellung Brooklyn,

Zeitgenossen gegenüber gereichten ihm manchmal auch zum Nachteil.

New York, 1926

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29. Komposition in Blau und Gelb, Gallatin Sammlung, Philadelphia Museum of Art 30. Gegensatz der Linien: Rot und Gelb, 1937. Gallatin Sammlung, Philadelphia Museum of Art

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Gegenüber Holty nannte er Picasso „zu bildlich“. Jungen Künstlern gegenüber zeigte er sich nachsichtiger. Jimmy Ernst hörte zufällig, wie sich Mondrian auf Jackson Pollocks Werk bezog und es „aufregend und ungewöhnlich” fand. Für seine Natürlichkeit und Einfachheit gerühmt, war Mondrian alles andere als ein einfacher Zeitgenosse. Obwohl er bescheiden auftrat, war er sich seiner wahren Größe durchaus bewusst. Von Journalisten, die seinen unüblichen Handlungen und ungewöhnlichen Kleidern zu große Bedeutung beilegten, wurde er idiosynkratisch geschimpft. Für seine Freunde war er dagegen ein Bohemien. Er galt auch als „moralisch besser als die meisten Menschen". Er selbst verachtete selbstgerechte Künstler und verbarg sein einziges Laster, den Kaffee, indem er die Tasse unter einem Stück Pappe versteckte. Auf die Frage, warum er nie geheiratet habe, antwortete er: „Ich bin noch nicht so weit. Ich bin zu sehr mit meiner Arbeit beschäftigt.” Dennoch bewunderten ihn die Frauen, für die das Tanzen einen Ersatz darstellte. Denn Mondrian galt als „der perfekte Tänzer, der fast zu perfekt tanzt. Er verkörperte das Leben.” Seine Leidenschaft fürs Tanzen ist keine Nebensache, denn sie war intellektuell mit seiner Vorliebe für amerikanische Jazzmusik verbunden. Der Boogie-Woogie machte ihm großen Spaß. Mondrian hielt den Boogie-Woogie für die technisch schwierigste und am wenigsten melodische Form des Jazz und sah eine Analogie zwischen der Beziehung des Boogie-Woogie zur Musik und der Beziehung der abstrakten Kunst und Kunst allgemein. Schon 1941 feierte Mondrian den Jazz auf der Leinwand. Nach der Ausstellung bei Dudensing 1942 fuhr er fort, Bilder mit farbigen Linien zu komponieren. Mondrian bemerkte, dass er die räumliche Wirkung, die durch die überlappenden farbigen Linien

31. Komposition in Rot,

und auch durch das optische Flackern an den sich kreuzenden Stellen entstand,

Gelb und Blau,

überarbeiten musste.

1939-42.

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Er begann, kleine Streifen verschiedener Farben auf die Kreuzstellen und entlang der vielfarbigen Strecken der Linien aus Band zu kleben. Als Mondrian die Bänder wegnahm, malte er die kleinen Rechtecke, die sie bedeckt hatten, mit Rot, Blau und Grau und übermalte die mehrfarbigen Linien zwischen den Feldern in Gelb. Im neuen Bild, das Mondrian Broadway Boogie-Woogie (S. 56) nannte, näherte er sich diesen Zielen mehr als je zuvor. Er schuf eine Komposition im Geist der reinen Abstraktion, den er als Ursprung des Boogie-Woogie-Jazz sah. Das Museum of Modern Art erwarb den Broadway Boogie-Woogie im Mai 1943. Sein zweites Bild nach Boogie-Woogie begann Mondrian im April des folgenden Frühlings. Er arbeitete daran während des ganzen Sommers und erzählte einem Reporter von Knickerbocker Weekly, der ihn im Herbst interviewte, dass er nicht damit rechne, das Bild bis zum Jahresende fertigstellen zu können. Er bekannte: „Ich bin froh, dass mir meine Bilder genug Geld einbringen, um davon leben zu können. Dank meiner Arbeit führe ich ein glückliches Leben… Es ist schwierig, zu malen und gleichzeitig zu erklären, was man fühlt. Es ist ein großer Kampf und es wird eine Qual sein, wenn ich es auf die Leinwand bringen will. Ich fühle mich niemals frei - es gibt immer etwas, das mich antreibt. Kaum ist ein Bild fertig, bin ich zwar für eine kurze Zeit zufrieden, aber nur, bis sich ein neuer Impuls meldet.” (Bradley, Mondrian) Es mag sein, dass Mondrian auch von seinen Wirkungen weitergetrieben wurde, er befand sich jeweils aber auch in einer Hochstimmung, einem Zustand, der oft in den Berichten 32. Komposition in Rot,

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der kreativen „Kämpfe" des Künstlers vernachlässigt wird. Alle seine engsten Freunde

Gelb und Blau,

waren auf die eine oder andere Art involviert, indem sie ihm beim Malen zuschauten oder

1939-42. Tate Gallery,

ihn berieten - und sie bestätigen den Eifer, mit dem Mondrian sein letztes Bild in Angriff

London

nahm: Sieges-Boogie-Woogie (S. 4).

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Der Titel drängte sich beinahe auf. Nicht nur war „Sieg" ein Wort, das überall zu hören war, es hatte auch einen besonders schmerzlichen Beiklang für Mondrian. Jede Ausgabe der Knickerbocker Weekly brachte Geschichten von den Schwierigkeiten und Abscheulichkeiten, die die niederländischen Landsleute unter den Nazis zu erdulden hatten. Diese Geschichten waren durchsetzt mit dem oft wiederholten Versprechen eines nahe bevorstehenden alliierten Sieges.

33. New York City II (unvollendet), 1942. 34. Erste Seite des Artikels: „Twelve Artists in U.S. Exile"

Ende Januar 1944 führten eine chronische Veranlagung zu Atemwegserkrankungen (in der

(Zwölf Künstler im

Zeit vor dem Penizillin) zusammen mit einer schlecht auskurierten Erkältung und

Exil in den USA),

Müdigkeit zu einer Lungenentzündung, an der Mondrian am Morgen des 1. Februar 1944

Fortune, Vol. XXIV,

um fünf Uhr verstarb. Der Testamentsvollstrecker verlas das einfache Vermächtnis, das

Dezember 1941,

„meinem Freund Holtzman” den gesamten Besitz und Nachlass hinterließ.

S. 103

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Die darauf folgende Diskussion drehte sich um das Begräbnis: Aufgrund seines hohen Bekanntheitsgrades wurde Mondrian schließlich ein öffentliches Begräbnis zuteil, zu dem über 200 Persönlichkeiten der internationalen Kunstszene, darunter Fernand Léger, Marc Chagall, Max Ernst, Marcel Duchamp und Calder erschienen. Mondrian hatte sein Atelier-Studio seinen Vorstellungen gemäß eingerichtet und zu einem Paradigma gemacht, wie Kunst direkt ins Leben eingreifen kann. Um auch anderen Künstlern davon einen Eindruck zu geben, zeigte Holtzman Mondrians zweites New Yorker Atelier nach dessen Ableben. Nichts unterbrach den Raum und die Weite und Leere des Flurs, abgesehen von der Staffelei am fernen Ende, auf der sich noch immer sein unvollendetes Meisterwerk befand, der Sieges-Boogie-Woogie (S. 4), so wie er ihn zurückgelassen hatte.

Mondrians New Yorker Arbeiten: Theorie und Praxis Mondrians theoretische Überlegungen gingen über die einfache Bildkomposition hinaus. Er verstand sich selbst offensichtlich als Prophet, der die Künstler von ihren bisherigen Tyrannen befreien würde. Amerika, das Land der künstlerischen wie auch der individuellen Freiheit, bot den idealen Ort, um diese Ideen zu propagieren. Nicht, dass ihn die amerikanischen Künstler besser verstanden hätten als die europäischen, aber sie waren zumindest nicht von der Tradition beherrscht und brüsteten sich nicht mit störenden Lorbeeren, auf denen sie sich ausruhten. Mondrian wollte vor allem in Amerika seine Kunst erklären. Obwohl es ihm nicht gelang, viele Amerikaner als Schüler zu gewinnen, so gewann er zumindest ihr Vertrauen. In 35. New York City, 1942.

50

Mondrians Logik waren selbst die AAA nicht so „abstrakt", wie sie glaubten.

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Auch wenn ihre Formen frei waren von den Assoziationen des synthetischen Kubismus oder des Surrealismus, waren sie noch immer nahe bei der Natur und nicht nur unrein in der Farbe - ,,noch nicht primär” in Mondrians Worten - sondern auch räumlich ungelöst. Ein Jahr vor seinem Wechsel von Paris nach London schrieb Mondrian in einer Ausgabe 36. Fotografie Mondrians

der englischen Publikation Circle über „die direkte Schaffung der universalen Schönheit”.

in seinem ersten Studio in New York,

Wahrscheinlich durch den allgemeinen Mangel an Verständnis in Amerika, aber auch

Herbst 1941

getrieben vom Wunsch, seine Ideen zu erläutern, startete Mondrian seinen gründlichsten Erklärungsversuch in Ein Neuer Realismus, einem Aufsatz, den er für die Lesung in der

37. New York City III (unvollendet), 1942.

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Galerie Nierendorf im Januar 1942 schrieb. Er verneinte erneut die Vorstellung, dass die Kunst nur der Ausdruck des Raumes sei, da der Raum das Leben nicht wiedergibt,

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sondern nur den Rahmen dafür bietet. Ohne menschlichen Maßstab erwecke der unbegrenzte Raum das Gefühl der Angst und Depression. Deshalb müsse der Raum in der Kunst stets durch die Reduktion auf die zweidimensionale Leinwand kontrolliert werden. Der künstlerische Weg zur Darlegung seiner Idee besteht darin, dass in der abstrakten Kunst die Raumbestimmung, und nicht der räumliche Ausdruck der reine bildnerische Weg sei, die universale Realität auszudrücken. Die Rechtecke repräsentieren in seinem 38. Mondrian bei der Arbeit an seinem

System „Formen” und „Farben”, die er beide zu ihren „reinsten” und eindeutigen Zuständen reduziert hatte.

Broadway BoogieWoogie

Trotzdem konnte Mondrian sie nicht isolieren oder sie nicht von Linien umrandet lassen, weil die Rechtecke dann als eigene Einheiten erschienen wären. Mondrians weitere

39. Place de la Concorde,

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Ausführungen in Ein neuer Realismus beziehen sich auf den ,,dreidimensionalen Raum,

1938-43. Sammlung

der zu einer zweidimensionalen Erscheinung reduziert werden muss… nicht nur wegen

Clark, Dallas

der Leinwand, sondern auch, um die natürliche Ausdrucksart von Form und Raum

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aufzuheben”. In einem Interview von 1966 spricht Naum Gabo über Mondrians Ansichten: „Er war gegen den Raum. ... Seine Ideen waren sehr präzis: Ein Bild musste flach sein und die Farbe durfte keinerlei Raum anzeigen. Das war eines der wichtigsten Prinzipien des Neoplastizismus.” Offensichtlich war Mondrian überzeugt, dass es ihm nur durch eine sorgfältige Ausführung gelingen werde, die Oberfläche glatt aussehen zu lassen. Das bedeutete ein wiederholtes Auftragen der Farbe, um eine Oberfläche zu erzeugen, die 40. Broadway Boogie-

sowohl anziehend als auch objektiv wirkte.

Woogie, Details,

56

1942-43. Museum of

Holty glaubt, Mondrians Sorgfalt bei der Ausführung sei der Hauptunterschied zu den

Modern Art,

Bildern seiner Nachfolger. Auch wenn er keine Lackierung anstrebte, so erreichte er eine

New York

äußerst persönliche und zugleich traditionelle (wahrscheinlich europäische) Patina.

Er beließ nicht nur die weiße Farbe sehr dick, sondern übermalte sie immer wieder, um ihr eine spezielle Intensität zu verleihen und gleichzeitig die Kraft der schwarzen zu lindern, die sonst wie ein Gitter in den Vordergrund getreten wären. Trotz der Tatsache, dass die Kritiker in den späteren Jahren oft von einem „Gitter” sprechen, benützte Mondrian niemals diesen Ausdruck und hätte ihn sicherlich auch unhaltbar gefunden. Die schwarzen Flächen mussten schwächer gehalten werden. Als Mondrian schließlich den Malprozess beendete, traten die weißen Flächen nicht zurück, sondern schienen auf der Oberfläche zu liegen und zu leuchten. Wie die „Spannungen" zwischen den Flächen von verschiedener Größe, Intensität und Dicke, schienen auch die Oberflächen zu zittern, obwohl sie sich rhythmisch ins ultimative „Gleichgewicht" einfügten. Als er die Sache pragmatisch, beziehungsweise visuell anging, erkannte er, dass die farbigen Flächen im gegenseitigen Kontakt nicht eins werden, wie die schwarzen Flächen, sondern den Eindruck erwecken, als würden sie sich überlagern. Wieder entstand der Anschein von Raum, das heißt ein Auseinandertreten von Hintergrund und Elementen, und damit die Aufhebung des zarten Gleichgewichts von Struktur, Mitteln und Raum. Broadway-Boogie-Woogie (S. 56) zeigt seine unmittelbare Lösung: eine Grundstruktur aus gelben Linien, entlang derer farbige Quadrate gemalt werden. Das einzige Problem besteht nun in der Aufhebung dieser Linien durch eine gegenseitige Opposition. So wie in New York City, 1942 (S. 51), waren die Linien zu hervorstehend und mussten deshalb mit Flächen verkürzt werden, die ihrem linearen Charakter zuwiderliefen.

41. Entwurf für SiegesBoogie-Woogie, um

Die kleinen Flächen integrierten sich so besser in die räumliche Ebene, besonders als

1943. Sammlung

Mondrian einige von ihnen hellgrau malte, in Alternation mit blauen und roten Quadraten.

Holtzman

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In einem Bild, das noch immer diese lineare Dominanz zeigt, scheint die räumliche Ebene in viele weiße Rechtecke zerschnitten. Mondrian musste diesen Effekt mit kleineren farbigen Rechtecken mindern, um die weißen als ,,Einheiten aufzuheben” und ihre übermäßige Kraft gegenüber den Linien zu neutralisieren. Holty berichtet, dass Mondrian mit dem Broadway-Boogie-Woogie auch dann noch unzufrieden war, als er ihn beendet hatte. Als er das Bild im Museum of Modern Art ausgestellt sah, fühlte er, dass seine Wirkung durch die Übermacht der gelben Farbe gemindert wurde.

42. Trafalgar Square, 1939-43. Museum of

Die Farben wirkten im kleinen Raum von Mondrians Studio klarer und deutlicher als in

Modern Art,

der großen Galerie im Museum. Kurz vor seinem Tod sprach Mondrian vom „großen

New York

Kampf” für seine Ziele, der ohne Unterlass weiterging. Wenn sein Schicksal dem so vieler Genies gleicht, die lange vor der Anerkennung ihres

43. Erste Ausstellung der

Werkes starben, so wurden seine Ideen, selbst in seinem letzten bedeutenden Suchen, in

AAA, Squibb

den Vereinigten Staaten wie nirgendwo sonst geschätzt.

Galleries, 1937

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Daher war es auch durchaus angebracht, dass er in seiner Wahlheimat die Stätte seiner letzten Ruhe fand, wo er sein Werk zwar nicht beendete, aber zu einem lang nachhallenden Höhepunkt brachte.

Die unmittelbaren Nachfolger Wie Mondrian glaubten seine Nachfolger, dass es in der Kunst unabdingbar sei, einer Linie in seinen Überlegungen zu folgen, genauso wie in jedem anderen Gebiet geistiger Bestrebungen, und dass sie nach den Maßstäben der Forscher beurteilt werden sollten. Trotz seines Glaubens an eine Gemeinschaft der ,,Ausdrucksmittel” blieben Mondrians Bilder idiosynkratisch und gänzlich verschieden von denen seiner Nachfolger. Es spricht sowohl für ihn als auch für sie, dass sie nicht einfach seinen Stil kopierten, sondern ,,in der Logik seines Stils” arbeiteten. In der Tat war auch Harry Holtzman (geb. 1912 in New York) von Mondrians Prinzip der Unpersönlichkeit mit seinen Implikationen der Freiheit zuerst angezogen. Als Holtzman zum ersten Mal die abstrakten Künstler zusammenbrachte, die die AAA bilden sollten, hoffte er, Mondrians „wesentlichen Trend” wie er es nannte, etablieren zu können, aber seine Erwartung wurde enttäuscht. Die andern Künstler zeigten wenig Interesse, die feinen Punkte der Theorie zu diskutieren und wollten nur ausstellen. Wie wir schon zuvor gesehen haben, bildeten ihre Werke ein schlecht definiertes Amalgam von abstrakten europäischen Stilen, bis einige von ihnen sich an Mondrian ein Beispiel nahmen. 44. Komposition I in

60

Holtzmans Verständnis für Mondrians Bedeutung und Mondrians Ideen spiegeln sich in

Blau und Gelb, 1925.

einem für die Publikationen der AAA verfassten Text sowie in seinen Bildern wider, die in

Kunsthaus, Zürich

der Ausstellung der Gruppe gezeigt wurden.

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Da Holtzman der erste der AAA war, der Mondrian theoretisch folgte, wurde er auch am meisten des Plagiats bezichtigt. Dies und Eifersüchteleien wegen seines übermäßigen Einflusses auf den Älteren zwangen Holtzman zu einer zurückhaltenden Ausstellung seiner Bilder. Privat fuhr er mit seiner Arbeit fort, doch öffentlich setzte er sich für das Werk seines Mentors und die Übersetzung seiner Schriften ein. Ein anderer wichtiger Nachfolger Mondrians war Ilya Bolotowsky (geb. 1907 in Petrograd). Bolotowsky war von Mondrians Bildern auf Anhieb begeistert, als er sie im Gallatin Museum zum ersten Mal erblickte. Sein Arktischer Diamant, 1948, zeigt den ersten Einfluss, obwohl Bolotowsky sich von seinem Vorbild (zumindest vor dem Sieges-Boogie-Woogie, S. 4) darin unterscheidet, dass er Diagonalen, mehr und unterschiedlichere Flächen und Farben im rhombischen Format verwendet. Bolotowkys verstärkter Gebrauch der Farbe entspringt einem inneren Bedürfnis, „etwas Frischeres und Persönlicheres zu schaffen”. In den Bildern der 1960er Jahre illustriert Bolotowsky seine immer persönlicher werdende Version des Neoplastizismus durch ein Hervorheben der farbigen Figuren, die ihre Größe und ihre farblichen Beziehungen ändern. Es war ihre Auswirkung auf eine neue, von der Natur gänzlich verschiedene Wirklichkeit, die ihn zu den Kolonnenbildern führte. Die Idee hatte sich entwickelt, als er die Felder über die Ecken der Staffeleibilder hinaus malte und konsequent die umliegenden Flächen benützte.

45. Komposition in Weiß, Schwarz und Rot, 1936. Museum of

Er behandelte jede Seite als eigenständige Einheit, erkannte aber bald die Möglichkeit,

Modern Art,

das Bild so aufzubauen, dass zwei beliebige Seiten eine dualistische Beziehung erzeugten.

New York

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Der Kopf der Kolonnen konnte sowohl als unabhängig oder als zur Komposition gehörig betrachtet werden. Er spürte, dass das Drehen einer Kolonne auf einem Ständer oder ein um die Staffelei wandernder Betrachter eine „Sequenz eines beweglichen Designs” erzeugt. Seine persönliche Variante des Neoplastizismus zeigt sich in der Farbgebung und in der Form der Leinwand. Er hielt an den inneren vertikal-horizontalen Elementen fest, wandte sich aber von den Primärfarben und dem rechteckigen Bildformat ab. Durch das Vermeiden des exklusiven Gebrauchs der Triade der Primärfarben und durch den ernsthaften Versuch, die Farbtöne in verschiedener Intensität hervorzubringen, erreichte er eine Abweichung von Mondrian, der die Farbtöne nur variierte, um sie neben anderen absolut und klar erscheinen zu lassen. Burgoyne Diller (geb. 1906 in New York) glaubte sich selbst in seinen letzten Jahren mehr von van Doesburg beeinflusst als von Mondrian. Dennoch ist es unbestritten, dass Diller zu den Ideen des Stijls durch Mondrians Werk kam, und dass er verschiedene Aspekte dessen Einfluss zu verdanken hat. Sein Werk zeigt 1934 einen plötzlichen Wechsel zum Neoplastizismus, der darauf schließen lässt, dass er Mondrians Kunst ungefähr zu dieser Zeit entdeckte. Geometrische Komposition, 1934, mit seinen reduzierten Farbflecken, auf die kreuzförmige und verdoppelte schwarze Flächen skizziert sind, stellt eine schwächere Variation dessen dar, was Mondrian schon in den frühen 1930er Jahren versucht hatte. In den späten 1930er und frühen 1940er Jahren machte er Holzreliefs und frei stehende

46. Komposition in Rot,

Konstruktionen in einer neoplastizistischen Variante. Zwei der Zeichnungen aus den

Gelb und Blau.

1940er Jahren zeigen seine Beeinflussung von Mondrians rhombischen Bildern der

Stedelijk Museum,

1930er Jahre und durch New York City, 1942 (S. 51).

Amsterdam

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Trotz seiner Einwände stand der Künstler in vieler Hinsicht Mondrian näher als andere Neoplastizisten. Wie Mondrian verwendete er ausschließlich Primärfarben und NichtFarben. Auch experimentierte er, um die richtigen Mischungen zu erzielen. In einem Artikel zu den Künstlern einer Ausstellung des amerikanischen Mondrian47. Komposition, 1936-43. Modern

Zirkels in Chicago sagte Jack Burnham von Dillers Werk, es sei „wahrscheinlich das beste Verständnis von Mondrians evolutionären Absichten.”

Museet, Stockholm (1971 im Guggenheim

Es ist nahe liegend, Fritz Glarner (geb. 1899 in Zürich), dessen künstlerische Entwicklung

Museum fotografiert)

sich in ganz Europa abspielte, als den europäischsten von Mondrians amerikanischen Nachfolgern zu betrachten.

48. Komposition mit zwei

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Linien, 1931.

Bevor er Mondrian kannte, hatte er bereits einen Schwierigkeitsgrad der Problemlösung

Stedelijk Museum,

erreicht, die ihn in die Nähe der neoplastischen Lösung brachte. Um 1927 traf er

Amsterdam

Mondrian in Paris.

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Zu der Zeit war Glarner weder von Mondrian noch von seinem Werk begeistert. Fritz Glarner kannte Mondrian nicht besonders gut, als er das erste Mal nach New York kam, war aber ungefähr ein Jahr vor seinem Tod gut mit ihm befreundet. Schien Glarner Mondrians letzter Stilwechsel zuerst antipathisch, so beeindruckte ihn doch die kontinuierliche Suche in der ,,Boogie-Woogie-Periode” nach einem Weg, um Form und Farbe ganz in die Fläche zu integrieren. Komposition, 1942, zeigt die Einsicht des Künstlers, dass er seine Komposition sicher in den Bildecken verankern musste, um die Dimensionen des Bildes objektiv zu etablieren, ,,da das Rechteck der einzige Fixfaktor war, auf den sich alle Teile des Bildes zu beziehen haben”. Mit seiner weißen Grundierung, den schwarzen unterschiedlich dicken Linien und den Primärfarben Rot und Gelb zeigt dieses Bild bereits Mondrians Einfluss. Später benutzte er ein anderes Leinwandformat, das Tondo, das er aus Respekt für die italienische Renaissance verwendete. Er wählte die runde Form nicht zur Abwechslung, sondern um seine Theorie des Neoplastizismus daran zu demonstrieren. Glarner war der Ansicht, dass er den Raum einer runden Leinwand sogar noch genauer bestimmen konnte als den eines Rechtecks, weil die enthaltenen Rechtecke weder implizit über ihre Oberfläche ausgedehnt, wie bei einer rechteckigen Leinwand, noch ausgetauscht werden konnten. Der Künstler erfand zahlreiche subtile Variationen dieses Formats, wie Relationales Bild, Tondo Nr. 3, 1945. Glarner teilte mit Mondrian eine Vorliebe für Maltechniken, die wahrscheinlich aus ihrem gemeinsamen europäischen Hintergrund stammt. Beide arbeiteten auf der Leinwand mit einer Schicht von feinen Pinselstrichen. Wie sein

49. Komposition in Rot,

„Meister" sah er seine Interpretation der neoplastischen relationalen Malerei als einen Teil

Gelb und Blau, 1930.

„einer schrittweisen Entwicklung hin zur wesentlichen Vereinigung aller bildenden

Sammlung Armand

Künste".

Bartos

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Charmion von Wiegand wurde um 1900 in Chicago geboren, begann aber erst 1926 mit der Malerei. Als Ergebnis ihres Besuchs in Mondrians Studio begeisterte sie sich für den Neoplastizismus und begann, sich mit ihm zu beschäftigen. Später war sie Mondrian beim Schreiben behilflich und schaute ihm häufig beim Malen zu. Nach Mondrians Tod wandte sie sich der abstrakten Kunst zu. Sie bestand darauf, dass Mondrian für sie der wichtigste Lehrer war. Er „akzeptierte keine Schüler", sagte sie, aber er „verwandelte mein Leben in Kunst und lehrte mich Disziplin und ein Ziel, das zur Freiheit führt.” Die Farbaufzeichnungen und östlichen - ägyptischen, chinesischen, indischen und tibetanischen – Kanons faszinierten sie. An der direkten Quelle, dem Metropolitan Museum of Art in New York, studierte sie die ägyptischen Motive. Sie verwendete die Idee der falschen Tür für das Ka in Ka Tür, 1950, nach einem ägyptischen Sarkophag der Sammlung. Zu dieser Zeit beherrschten die Primärfarben von Wiegands Palette, aber sie verwendete Rot- und Blautöne sowie kleine Quadrate gemäß ihrer ägyptischen Quelle und nicht nach den Ideen des Neoplastizismus. Da der vertikal-horizontale Rahmen Linearflächen enthielt, die von kleinen Quadraten entlang ihrer Längsseiten durchbrochen wurden, erinnerte das Bild trotzdem stark an Mondrians Sieges-Boogie-Woogie (S. 4). Nach und nach wandte sich von Wiegands Interesse nach Osten. Von der Zeit an, als sie Tibetaner traf, begann sie, ihre Bilder ausschließlich mit tantrischen Motiven, hauptsächlich buddhistischer Herkunft, zu gestalten, aber auch mit hinduistischen 50. Komposition in Blau,

Symbolen.

1937.

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Gemeentemuseum,

Sie versuchte nicht zu illustrieren, sondern war überzeugt, ihre orientalischen Freunde

Den Haag

seien in der Lage, die Bilder zu „lesen”.

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Dies, weil sie kanonische Farben und Formen einsetzte, aber auch, weil die reine Tantrakunst stets geometrisch ist. Daher schien es ihr durchaus natürlich, über Mondrians Prinzipien zu einer Malerei zu gelangen, die von östlichen Grundsätzen beeinflusst war. Die späteren Bilder der Künstlerin weichen immer mehr von Mondrians Weg ab. Wenngleich sie es auch nicht eingestand, kann von Wiegand nicht als Neoplastikerin bezeichnet werden. Sie folgte dem älteren Freund in ihrer geometrischen Organisation der relativ flachen Grundebene, versuchte aber nicht, deren Dimension zu ,,bestimmen” oder nur die Primärfarben und rechten Winkel beizubehalten. Sie führte auch Diagonalen und Kurven ein und änderte die Farben so, dass sie eine Vielfalt von Farbtönen und Mischungen einschlossen. Und als von Wiegand noch einen expliziten Gehalt hinzufügte, indem sie farbige und geometrische Figuren mit den dunklen Figuren der orientalischen Systeme vermischte, wurde ihr Werk sogar antithetisch gegenüber dem ihres Mentors. Trotzdem blieb sie dem Mann, den sie ihren Lehrer nannte, verbunden. In den 1940er und 1950er Jahren wurden viele Künstler von den Theorien Mondrians beeinflusst, so z. B. Leon Polk Smith, dessen Bild Hommage an den ‚Sieges-BoogieWoogie’ Nr.1, 1946-47, eine wahre Huldigung an Mondrian darstellt. Aber viele von Mondrian beeinflusste Künstler haben sich auch wieder von seinen Theorien abgewandt; dennoch wurden sie von denen geprägt, die weiter Mondrians Ansichten treu blieben. Das war der Fall für Charles Biedermann, Jackson Pollock, Barnett Newman, Marc Rothko oder auch Ad Reinhardt. Trotz allem ist das wichtigste Vermächtnis Mondrians für damalige wie zukünftige Künstler die Freiheit.

51. New York City, 1941-42.

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BIOGRAFIE 1872: Pieter Cornelis Mondriaan wird am 7. März in Amersfoort geboren. 1886: Nach der Grundschulzeit beginnt der junge Pieter sich autodidaktisch das Zeichnen beizubringen, unter den wachsamen Augen seines Vaters und seines Onkels, dem Maler Frits Mondriaan. 1889: Er besteht die Zeichenlehrerprüfung für die Volksschule. 1892: Er besteht die Zeichenlehrerprüfung für die Oberschule und schreibt sich als Student an der Akademie der Bildenden Künste in Amsterdam ein. 1897: Erste Ausstellung Arti et amicitiae. 1901: Er nimmt an der ersten Prüfung zum Römischen Malereipreis teil. 1904: Lebt und arbeitet in absoluter Zurückgezogenheit in Uden im Herzogtum Brabant. 1908: Erste Reise nach Domburg, wohin er ab diesem Zeitpunkt jedes Jahr eine Reise unternimmt. 52. Komposition in Rot, Gelb und Blau, 1936-43. Moderna Museet, Stockholm

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1909: Erste wichtige Ausstellung zusammen mit Cornelis Spoor und Jan Sluijters im Nationalmuseum in Amsterdam. Es ist das erste Mal, dass seine hellen Werke ausgestellt werden. Im Mai wird er Mitglied der Theosophischen Gesellschaft. 1910: Gründet mit C. Kickert den Moderne Kunst-Ring. 1911: Meldet sich beim Salon des Indépendants in Paris an. Mondrian bereitet seine Abreise nach Paris vor, nachdem er von den Werken Braques und Picassos stark beeindruckt worden war. 1912: Er lässt sich in Paris nieder. 1914: Im Sommer besucht er seinen Vater in Arnhem; der Kriegsausbruch verhindert seine Rückkehr nach Paris. 1916: Mondrian beginnt seine Kunsttheorien in Essays und Dialogen niederzuschreiben, die in einer Revue erscheinen sollten, die er zusammen mit Theo van Doesburg gründen wollte. 1917: Die erste Ausgabe von De Stijl erscheint, in der Mondrian seinen ersten Essay De nieuwe beelding in de schilderkunst (Die neue Plastik in der Malerei) veröffentlicht. Er zeichnet seine ersten vollständig abstrakten Bilder. 1918: Erstes Manifest von De Stijl, zu dessen Unterzeichnern auch Mondrian gehört. 53. Komposition, 1917. Kröller-Müller Museum, Otterlo

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1921: Mondrians Kompositionen beschränken sich auf die Grundfarben Rot, Gelb und Blau. 1922: Retrospektive Ausstellung im Gemeindemuseum Amsterdam anlässlich seines 50. Geburtstags. 1925: Mondrian verlässt De Stijl. 1930: Er stellt mit der Gruppe Cercle et Carré aus, gegründet von J. Torres-Garcia und M. Seuphor. 1931: Er wird Mitglied der Gruppe Abstraction-Création, gegründet von G. Vantongerloo und A. Herbin. 1937: Veröffentlichung seines Essays Plastic Art and Pure Plastic Art. 1938: Mondrian verlässt Paris, um sich in London niederzulassen. 1940: Flieht aus London nach New York, wo er von Harry Holtzman, J.J. Sweeney, F. Glarner, Peggy Guggenheim u. a. empfangen wird. 1942-43: Ausstellungen in der Galerie Valentine Dudensing. 1944: Mondrian stirbt am 1. Februar in New York an einer Lungenentzündung.

54. Komposition in Gelb, 1933. Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf

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INDEX DER WERKE 1. Sieges-Boogie-Woogie, 1943-44

S. 4

30. Gegensatz der Linien: Rot und Gelb, 1937

S. 43

2. Letztes Foto Mondrians in New York, 1944

S. 6

31. Komposition in Rot, Gelb und Blau, 1939-42

S. 44

3. Mühle bei Domburg, 1909

S. 7

32. Komposition in Rot, Gelb und Blau, 1939-42

S. 47

4. Düne, um 1909

S.8

33. New York City II (unvollendet), 1942

S. 48

5. Düne, um 1910

S. 9

34. Erste Seite des Artikels ,,Twelve Artists in

6. Die Mühle, 1907-08

S. 10

7. Windmühle im Sonnenlicht, 1911

S. 11

8. Der rote Baum, 1908

S. 12

9. Grauer Baum, 1911

S. 15

10. Baum, 1912

S. 16

11. Akt, 1912

S. 19

12. Komposition Nr. 3 mit Farbflecken, 1917

S. 20

13. Ovale Komposition, 1914

S. 21

14. Komposition auf weißem Grund A, 1917

S. 22

39. Place de la Concorde, 1938-43

S. 55

15. Komposition auf weißem Grund B, 1917

S. 24

40. Broadway Boogie-Woogie, Details, 1942-43

S. 56

16. Selbstbildnis, 1918

S. 27

41. Entwurf für Sieges-Boogie-Woogie, um 1943

S. 57

17. Schachbrett, Helle Farben, 1919

S. 28

42. Trafalgar Square, 1939-43

S. 58

18. Stillleben mit Ingwertopf, 1911-12

S. 30

43. Erste Ausstellung der AAA,

19. Komposition: Helle Farbflecken und graue S. 31

21. Bild II, 1921-25

S. 32

20. Komposition in Grau, Rot, Gelb und Blau, 1920

S. 33

22. Komposition I, 1921

S. 34

23. Komposition in Rot, Gelb und Blau, 1922

S. 35

24. Komposition mit gelben Linien, 1933

S. 36

25. Mondrians Atelier in der Rue du Départ

S. 38

26. Komposition II mit blauem Quadrat, 1936-42

S. 39

27. Bild I, 1926

S. 40

80

S. 49 S. 51

36. Fotografie Mondrians in seinem ersten Studio in New York, Herbst 1941

S. 52

37. New York City III (unvollendet), 1942

S. 53

38. Mondrian bei der Arbeit an seinem Broadway Boogie-Woogie

S. 54

S. 59

44. Komposition I in Blau und Gelb, 1925

S. 61

45. Komposition in Weiß, Schwarz und Rot, 1936

S. 62

46. Komposition in Rot, Gelb und Blau

S. 64

47. Komposition, 1936-43

S. 66

48. Komposition mit zwei Linien, 1931

S. 67

49. Komposition in Rot, Gelb und Blau, 1930

S. 68

50. Komposition in Blau, 1937

S. 71

51. New York City, 1941-42

S. 72

52. Komposition in Rot, Gelb und Blau, 1936-43

S. 74

S. 41

53. Komposition, 1917

S. 77

S.42

54. Komposition in Gelb, 1933

S. 78

28. Eintrag über Mondrian in Katherine Dreiers Katalog für

29. Komposition in Blau und Gelb

35. New York City, 1942

Squibb Galleries, 1937

Linien, 1919

die Ausstellung Brooklyn, New York, 1926

U.S. Exile"