Nächstes Jahr in Marienbad: Gegenwelten jüdischer Kulturen der Moderne
 9783666569951, 9783525569955

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V&R

Jüdische Religion, Geschichte und Kultur Herausgegeben von Michael Brenner und Stefan Rohrbacher

Band 6

Vandenhoeck & Ruprecht

Mirjam Triendl-Zadoff

Nächstes Jahr in Marienbad Gegenwelten jüdischer Kulturen der Moderne

Vandenhoeck & Ruprecht

Ausgezeichnet mit dem Promotionspreis der Münchner Universitätsgesellschaft

Mit 8 Abbildungen

Gedruckt mit U n t e r s t ü t z u n g der German-Israeli Foundation for Scientific Research and Development und der Zeit-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius

Bibliografische I n f o r m a t i o n der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über h t t p : / / d n b . d - n b . d e abrufbar. I S B N 978-3-525-56995-5

Umschlagabbildung: „Histadrut iwrit" Karlsbad 1910 — Treffen der Allgemeinen Hebräischen Gewerkschaft im Cafe Schönbrunn, Karlsbad. © Central Zionist Archives, Jerusalem C Z A 1024499

© 2007 Vandenhoeck & Ruprecht G m b H & Co. KG, Göttingen. Internet: www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a U r h G : Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden N u t z u n g für Lehr- und Unterrichtszwecke. - Printed in Germany. Gesamtherstellung: © H u b e r t & C o , Göttingen. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Renault: And what in heaven's name brought you to Casablanca? Rick: My health. I came to Casablanca for the waters. Renault: Waters? What waters? We're in the desert. Rick: I was misinformed. Casablanca Michael C u r t i z u.a., 1942

Die Kultur, das ist ein Buch mit rotem Einband. Was ist das für ein Buch - so sagst du erstaunt und schlägst den Titel auf. Glaubtest du etwa, es sei die Bibel, die jene da mit sich herumführen auf Schritt und Tritt? Ach nein, mein Freund, die Kultur, das ist der Baedeker. G e r s h o m Scholem, Tagebücher, 17.8.1914

Für Noam und Arnos

Inhalt

Vorwort Einleitung: Der Spie(ge)lraum

I.

II.

9 11

Abreise ins Paradies Topographie des Sommers Momente des Ubergangs

11 14 18

Be'era schel Μίήατη

21

1. Ein Brief 2. Consuming Places Eine Art Bühne An einem vertrauten Ort 3. In einem großen Garten der Moderne Der offene und doch geschlossene Ort Professionalisierungsräume jüdischer Ärzte Laboratorien ethnischer Images 4. Bürgerliche Erfahrungsräume der Sorge Die unermüdliche Sorge um sich selbst Zedaka, Philanthropie, Sozialfürsorge - altneue Netzwerke . . .

21 26 26 31 38 38 41 49 56 56 64

Beit dimjoni

73

1. Ein Gespräch 2. Vergegnungen Unter Fremden An den Brunnen, auf den Promenaden, in den Hotels Im Blick der Anderen 3. Begegnungen In Schatten und Versteck Unter Zionisten, Dichtern und freundlichen Exoten An anderen Orten III. Odradek 1. Eine Geschichte 2. Die Stadt in den Hügeln

73 79 79 84 96 106 106 114 120 134 134 137

8

Inhalt

Winterjuden werden Winterantisemitismen ertragen 3. Warmbader Grotesken Scylla und Charybdis Kämpfende Hähne Eigentümliches Werben IV. Jutopia 1. Eine Landkarte 2. Reisen nach Böhmen Das Herz (den Körper heilen) ... und die „Seele der Nation" 3. Nach Böhmen und weiter Zionistische Sommer am Sprudel Im Schatten der Grenze Weltbäder in Palästina

137 147 154 154 164 169 174 174 177 177 182 192 192 200 209

Nachwort: Und wieder

213

Abkürzungen

218

Literatur

219

Orts- und Namenregister

242

Abbildungsnachweis

246

Vorwort

Dieses Buch über die vergangenen Landschaften der böhmischen Bäder entstand im gegenwärtigen Umfeld der Münchner Universität. Die dortige Abteilung für Jüdische Geschichte und Kultur hat dem Projekt nicht nur einen Rahmen gegeben, sondern in vielfältiger Weise zu seiner Form und seinem Inhalt beigetragen. Meinem Doktorvater, Michael Brenner, dessen Unterstützung, Kommentare und Fragen diese Arbeit von Anfang an begleitet haben, sei deshalb besonders gedankt. Die finanzielle Förderung der German-Israeli Foundation for Scientific Research and Development, der ZeitStiftung Ebelin und Gerd Bucerius, des Robert-Goldmann-Stipendiums, sowie des Theodor-Körner-Fonds für Wissenschaft und Kunst gab mir nicht nur die Möglichkeit, in Ruhe an dem Text zu schreiben, sondern zuvor alle erforderlichen Archive und Bibliotheken zu besuchen. Den dortigen Mitarbeitern - in München, New York, Tschechien und Israel - sei ebenso gedankt wie Läszlo A. Magyar und Gabriel Kohner, die mir die Aufzeichnungen ihrer Verwandten überließen, sowie allen Interview- und Briefpartnern: Aharon Appelfeld, Judith Jägermann, Edith Kraus, Otto Meyer, Mimi Ormond, Kurt Reichert und Ruth Shaingarten. Lehrer, Kollegen und Freunde haben mit konstruktiver Kritik, kreativen Ideen und substantiellen Hilfestellungen - beim Suchen, Schreiben und Korrekturlesen - zum Entstehen dieser Arbeit beigetragen: unter ihnen ganz besonders Lida Barner, Petr Brod, Martin Geyer, Sander Gilman, Stefan Haas, Michael Hubenstorf, Robert Jütte, Albert Lichtblau, Werner Lausecker, Gilad Margalit, Andrea Pfeufer, Friedrich Stadler, Richard und Huberta Triendl, Evita Wiecki und Efraim Zadoff. Familienmitgliedern und Freunden danke ich für die Geduld, mit der sie die unterschiedlichen Phasen der Arbeit an diesem Buch hingenommen haben. Noams Fragen und Anmerkungen waren es, die diesen Text immer wieder aufs Neue verändert haben - ohne seine Unterstützung, Kritik und Vertrauen wäre er in dieser Form wohl nicht möglich gewesen. München, im Februar 2007

Mirjam Triendl-Zadoff

Einleitung: Der

Abreise

ins

Spie(ge)lraum

Paradies

- B u t o h , K i t t y ! N o w we c o m e to the p a s s a g e . Y o u can just see a little peep of the p a s s a g e in L o o k i n g glass H o u s e , if y o u leave the d o o r of o u r drawingr o o m o p e n : and it's very like o u r p a s s a g e as far as y o u can see, o n l y y o u k n o w it m a y b e quite d i f f e r e n t o n beyond. Lewis Caroll, Through the Looking-Glass, and what Alice found there, 18721

„Jizchak lag da und blickte zum Himmel; da die Sterne, die auf dem Meere leuchten, die selben sind wie auf dem Festland, dachte er bei ihrem Anblick an seine Heimatstadt; den Sternen ist eigentümlich, daß sie den Sinn der Menschen auf ihre Art und Weise lenken." 2 Seit Jizchak Kummer unterwegs nach Erez Israel war, hatte er viele Tage und Nächte in überfüllten Zügen verbracht, die ihn aus seiner Stadt in Galizien über Lemberg, Tarnow, Krakau und Wien nach Triest führten. 3 Jetzt lag er allein auf dem Deck des Schiffes, das am nächsten Tag Richtung Jaffa auslaufen sollte, und dachte an seine Familie und Freunde zurück in Galizien. Er wurde bitter beim Gedanken an die Zionisten seiner Heimatstadt, die wohl von Palästina sprachen, aber nicht weiter reisten, als allsommerlich in ein europäisches Kurbad: „Sie weisen dir aus dem Talmud nach, daß die Luft des Landes Israel heilkräftig ist, aber wenn sie zur Kur reisen, fahren sie nach Karlsbad oder nach anderen Orten im Ausland." 4 In seinem Roman Gestern, Vorgestern erzählt Shmuel Yosef Agnon das Leben eines jungen galizischen Zionisten, der Europa zu Beginn des Jahrhunderts mit der Zweiten Alija nach Palästina verlässt. 5 Etwa zur selben Zeit ereignete sich in einem anderen Teil Osteuropas, Aus Gründen der Lesbarkeit verzichtet dieser Text auf eine geschlechtsspezifische Differenzierung. Ortsnamen richten sich nach den zeitgenössischen Begriffen, wie sie unter der Mehrzahl der Protagonisten üblich waren. 1 Caroll, Looking-Glass, 8-9. 2 Agnon, Gestern, 28. i Erez Israel (hebr.) - das Land Israel. 4 Agnon, Gestern, 29. 5 Zweite Alija (hebr.) - Einwanderungswelle vornehmlich junger osteuropäischer Pioniere nach Palästina, 1904-1914.

12

Einleitung: Der

Spie(ge)lraum

in der Welt, die Jizchak Kummer hinter sich ließ, eine - gleichfalls fiktionale - Abreise. Israel J. Singer beschreibt in seinem Roman Die Brüder Aschkenasi eine Abschiedszene am Bahnhof der russischen Industriestadt Lodz: Während Chassidim, Bauern und Auswanderer sich vor den Dritte KlasseWaggons eines Zuges drängten, der in Richtung Westen fuhr, wurden vor anderen Abteilen Blumensträuße und Pralines zum Abschied überreicht: „Vor den Wagen der ersten und zweiten Klasse hatten sich gut gekleidete, selbstsicher auftretende Fahrgäste angesammelt. [...] Die Lastträger schleppten Berge von K o f f e r n , Reisetaschen, Hutschachteln und Kleidersäcken, angefüllt mit der nötigen Garderobe für einen zweiwöchigen Aufenthalt in einem eleganten K u r ort. In bodenlangen Kleidern und riesigen Federhüten trippelten die Damen den Bahnsteig entlang und unterhielten sich auf Deutsch, obwohl sie noch weit von der deutschen Grenze entfernt waren." 6

Auf der Flucht vor der drückenden Sommerhitze in Lodz machte sich das wohlhabende jüdische Bürgertum wie jedes Jahr auf den Weg in ein Kurbad. Singers Protagonisten waren innerhalb von zwei Generationen in das Mittel- und Großbürgertum der Stadt aufgestiegen, lebten aber noch ein weitgehend frommes jüdisches Leben. Und so reiste man in ein Bad, das ein jüdisches Umfeld und die nötige Infrastruktur anzubieten hatte: Man fand sich im österreichischen Karlsbad ein. In diesen beiden, sehr unterschiedlichen Abreiseerzählungen verkörpert der westböhmische Kurort das Image eines magnetischen Ortes für jüdische Kulturen der Jahrhundertwende. Das jüdische Bürgertum wurde ebenso von Karlsbad und seinen nahe gelegenen Schwesterstädten Marienbad und Franzensbad angezogen wie Zionisten und Chassidim, während andere, so Israel J. Singers ironischer Kommentar, den Kurort gerade deshalb mieden, „weil er ihnen zu jüdisch war". 7 Einer Anekdote aus den Zwanzigerjahren zufolge galt Karlsbad unter osteuropäischen Juden als Symbol des Kurorts an sich: Stellte man einem Mitreisenden in der Bahn die Frage „Fahren Sie nach Karlsbad?", antwortete dieser mit Ja, selbst wenn er in ein anderes Kurbad fuhr. 8 Tatsächlich hielten während des Sommers ungewöhnlich viele Züge aus Ost- und Westeuropa am Karlsbader Centralhahnhof. Seit der Kurort in den 1870er Jahren an das Bahnnetz angeschlossen worden war und sich die beschwerliche Anreise mit der Postkutsche erübrigte, stiegen seine Beliebtheit und Besucherzahlen um ein Vielfaches. 9 Die Eisenbahn als demokratische ' Singer, Brüder, 305-308. Chassidim - religiöse mystische Bewegung, entstanden im osteuropäischen Judentum des 18. Jahrhunderts. 7 Singer, Brüder, 319. Vgl. zu Chassidim in Karlsbad: idem, Josche Kalb, 50, 132-134. 8 Wilkowitsch, Karlsbad, 4. ' Kisch, Erlebtes, 225-296; Marienbad. Die Perle der böhmischen Weltbäder, 8, 13. Im Jahr 1911 erreichten die Besucherzahlen ihren Höhepunkt, als 70.935 Kurgäste nach Karlsbad ka-

A b r e i s e ins Paradies

13

weil bezahlbare Art des Reisens veränderte die soziale Struktur des Kurpublikums und brachte abgesehen von den alten Eliten auch das Mittel- und Kleinbürgertum, Arbeiter und mittellose Kranke nach Karlsbad. Die Popularität des Kurortes machte den Karlsbader Centralbahnhof bald zu einer attraktiven Station für die Luxuszüge der Compagnie Internationale de Wagon-Lits et des Grands Express Europeens: Nachdem die Zahl der Kurgäste sich in der Zeit von 1880 bis 1895 beinahe verdoppelt hatte, beschloss die South Eastern Railway eine Direktverbindung von London nach Karlsbad einzuführen. 10 Während des Sommers fuhr täglich ein Kurswagen des Orient-Express Oostende-Wien/Istanbul nach Karlsbad, der in Folge großer Nachfrage bald als eigener Luxuszug geführt wurde. Im Sommer 1900 wurde der Karlsbad-Paris Express eingerichtet, während Reisende aus Russland, die mit dem Nordexpress in Berlin ankamen, von dort aus direkten Anschluss in die Kurstadt hatten. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde schließlich noch der Paris-Prag-Warschau-Express als zentrale Ost-Westverbindung über Karlsbad geführt. 11 Am Karlsbader Bahnhof angekommen, hatten Reisende es nicht mehr weit, mit einem Fiaker, Einspänner, Omnibus oder zu Fuß in den Kurbezirk zu gelangen. In einem engen, lang gezogenen Tal an der Tepl gelegen und von waldreichen Hügeln umgeben, öffnete sich den Ankommenden ein dichtes Arrangement von historistischen Promenaden, Wandelhallen und Prunkbauten - ein wild-eklektisches Durcheinander und mehrstöckiges, bonbonfarbenes „Stelldichein der Sahnetorten". 12 Weitab vom großstädtischen Alltag, von Armenhäusern und Fabriken, hatte sich hier im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts aus einem exklusiven Rückzugsraum des Adels ein touristisches und medizinisches Zentrum für jene entwickelt, die es sich leisten konnten. 13 Hatte der geographische Ort Karlsbad, in dem engen Flusstal gelegen, für alle Ankommenden den gleichen Eingang - vom Bahnhof aus durch das kommerzielle Stadtzentrum in den Kurbezirk - so hat der historische Ort viele Zugänge: Diese führen in einen literarischen Ort, einen imaginierten

men. D i e tschechoslowakische Republik, 43. A u c h nach dem Bau des Flughafens Espenthor/ Karlsbad, der seit den 2 0 e r Jahren tägliche Flüge nach Prag und Marienbad anbot, kam der G r o ß t e i l der Reisenden weiterhin mit der Bahn. W i s s e n s w e r t e s f ü r den Kurgast, 3 8 u. 56; W a c k - H e r g e t , Karlsbad, 4. Die tschechoslowakische Republik, 43. Solch, Orient-Express, 2 3 - 2 4 , 199, 2 0 5 ; Reichardt, Schlaf- und Speisewagen, 96; Schlögel, Berlin, 25. 12 So soll Le C o r b u s i e r die Stadt einem W e r b e p r o s p e k t zufolge genannt haben. Karlsbad Carlsbad - K a r l o v y Vary. 13 In Karlsbad betrug der A n t e i l an adeligen Gästen 1 9 1 1 nur noch ein P r o z e n t . C h a r v a t , K u r f r e q u e n z , 4 1 8 ; vgl. auch: Geisthövel, Promenadenmischungen, 2 1 1 ; Steward, Spa Towns, 9 1 ; Kaschuba, Bürgerlichkeit 1 8 0 0 , 4 1 - 4 2 . 10 11

14

Einleitung: Der Spie (ge)lraum

Ort, einen Ort der nostalgischen Erinnerung, einen Ort der Begegnung, einen Ort der Krankheit und Gesundheit, einen Ort des Vergnügens und Amüsements, einen weiblichen Ort, einen jüdischen Ort, einen deutschen Ort und einen tschechischen Ort. Von den möglichen Eingängen wählen diese Überlegungen die angesprochene und weit verbreitete Imagination von Karlsbad als einem jüdischen Ort, von unterschiedlichen Seiten und Protagonisten, positiv wie negativ konnotiert. 1 4 Es gab andere Kurorte, die bei jüdischen Kurgästen beliebt waren, wollte man aber eine jüdische Kurortetopographie Mittel- und Osteuropas zur Zeit des Fin de siecle anlegen, so befänden sich Karlsbad, Marienbad und Franzensbad zweifellos in ihrem Zentrum. 1 5

Topographie des Sommers E s ist schwer, ü b e r K a r l s b a d z u schreiben, nicht etwa, weil es nichts zu erzählen gibt, s o n d e r n weil zuviel da ist. Zevi Hirsch Wachsman, In land fun maharal un masarik, 1936 16

Jeden Sommer bot sich dem Bürgertum aufs Neue ein N e t z von Zielen, die einem internationalen Kurpublikum Erholung und Heilung in Aussicht stellten. Uber die Karte des sommerlichen Europa spannte sich ein „imaginärer Insel-Archipel" 17 von Kurorten, der Oostende, Karlsbad, den Semmering und die Riviera in unmittelbarer Nähe zueinander platzierte. Mit der Einrichtung von Bäderzügen als Direktverbindungen zwischen den großen Kurorten, internationalen Bäderzeitungen und Kurlisten als soziale Plattformen, die nicht nur in örtlichen sondern auch in den Bibliotheken und Kursälen der Konkurrenzorte auflagen, wurde dieser Eindruck von Nähe bewusst hervorgerufen. 18 Der Umstand, dass die Tage in allen Kurorten nahezu identisch strukturiert waren, weckte unter den Kurgästen ebenso Vertrautheitsgefühle, wie die allerorts ähnliche Architektur und Ästhetik der Gärten und Kurhäuser. Nicht wenige unter ihnen verbrachten den ganzen Brenner, Marienbad; Triendl-Zadoff, Herzl; idem, Marienbad. Das ebenfalls in Westböhmen gelegene und bei jüdischen Kurgästen beliebte Teplitz war nicht Teil dieser Einheit und verlor seit Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend an Bedeutung. 16 Wachsman, land, 210. 17 Kos, Amüsement, 226. 18 Lokale Kurzeitungen druckten Werbeanzeigen anderer Kurorte sowie die Fahrpläne der Bäderzüge: u.a. Karlsbader Fremdenblatt 32 (1912) 1, 1-2. 14

15

Topographie des Sommers

15

Sommer damit, von Kurort zu Kurort zu reisen - manche zum Vergnügen, andere weil sie unheilbar krank waren. 19 Seit das Bürgertum im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts begonnen hatte, eine neue Form der Massenkurorte zu konstituieren, spielten jüdische Kurgäste als bürgerliche Kerngruppe eine zentrale Rolle in dieser sommerlichen Erfahrung. 20 Einerseits galten Kurreisen als repräsentative Elemente jüdischer wie nichtjüdischer - Verbürgerlichungsprozesse, andererseits zogen Badeorte als moderne medizinische und touristische Zentren innovative Arzte und Unternehmer, sowie Vertreter urbaner Alltagskulturen an. Internationale Kurorte, die großstädtische Anonymität und Diversität versprachen, waren bei jüdischen Reisenden und Patienten naturgemäß populärer als intime Landbäder, wo ihnen nicht selten Äußerungen von Antisemitismus entgegengebracht wurden. Ihre außergewöhnliche Liebe zu den westböhmischen Bädern ging auf ein Zusammenspiel günstiger Umstände zurück, von denen die zentrale Lage zwischen West- und Osteuropa ein wesentlicher war: Nicht nur waren Karlsbad, Marienbad und Franzensbad aus allen Richtungen leicht erreichbar, ihr geographischer Ort vermittelte gleichzeitig den Eindruck, man hätte den Westen oder Osten Europas gar nicht verlassen. Denn tatsächlich befanden sich die westböhmischen Bäder nicht in West- oder Ost-, sondern in Mitteleuropa, jener Konstruktion eines einheitlichen Gebietes, die den Grenzen der Donaumonarchie folgend die beiden Seiten Europas miteinander verband. 21 Damit einher ging ein weiteres Attribut, das jüdische Kurgäste unterschiedlichen kulturellen und nationalen Hintergrunds in die drei Kurstädte zog: ein dynamisches Zusammenspiel von lokalen jüdischen Gemeinden, Kurgästen und saisonal ansässigen Ärzten, Unternehmern und Angestellten, das im Lauf der Jahre vielseitig funktionierende jüdische Netzwerke und Infrastrukturen formte. So kam es, dass Juden in den westböhmischen Bädern während des Sommers eine dominante Bevölkerungsgruppe bildeten, deren Anwesenheit die aufblühenden Kurorte prägte und mitkonstituierte, aber nicht in Volkszählungen und Matrikeln aufschien, sondern als loser Verband ihre Zahl, Protagonisten und Artikulation immerzu veränderte. Hinzu kam der Umstand, dass diese flüchtige Gemeinde sich in der Praxis als weitgehend heterogen und unzusammenhängend entpuppte, denn Kurgäste, Ärzte und Unternehmer aus ganz Europa unterschieden sich von den lokalen Gemeinden und voneinander nicht nur durch ihre Nationalität, sondern auch durch ihre ver-

" Zu Ersteren gehörten Arthur Schnitzler und Richard Beer-Hofmann, zu Letzteren Scholem Alejchem. Schnitzler, Briefe, 2 6 4 - 2 6 5 , 3 8 7 - 3 8 8 ; L B I , Miriam Beer-Hofmann Lens C o l lection; Landmann, Nachwort, 235. 2 0 Zur Stellung von Juden im deutschen Bürgertum vgl. Gotzmann/Liedtke/van Rahden, J u den, 13. 21 Vgl. Schlögel, Zeit, 3 7 1 - 3 7 8 .

16

Einleitung:

Der Spie(ge)lraum

schiedenartigen kulturellen, gesellschaftlichen und religiösen Hintergründe. Doch in der leichtlebigen Atmosphäre der zeitlichen und räumlichen Begrenztheit des Aufenthaltes entwickelten sie einen kommunikativen Raum der Beobachtung und Begegnung, der den Kurorten nicht nur das Image, sondern auch die Realität jüdischer Orte verlieh. Situative Handlungsrepertoires, die sich über Praktiken wie Konsum, Folklore und Nostalgie äußerten, schufen temporäre Verbindungslinien und Berührungsebenen, die an die besondere Soziabilität und Natur des Kuraufenthalts gebunden waren. Eine wesentliche Voraussetzung für diese Überlegungen war es, die einzelnen jüdischen Gruppen nicht als statische Einheiten zu begreifen, sondern als Kulturen, deren vorgebliche Homogenität es aufzudecken, ihre Differenzen, Selbstbehauptungsdiskurse und Abgrenzungsstrategien es zu hinterfragen gilt. 22 Die Basis für dieses Buch bildet deshalb jedwede Art von kultureller Produktion rund um den Kuraufenthalt als alljährlich wiederkehrende Erfahrung: Neben den wenigen erhaltenen Dokumenten der lokalen jüdischen Gemeinden handelt es sich dabei um regionale und überregionale Printmedien aus Deutschland, Osterreich, der Tschechoslowakei und Palästina, Reiseführer, Stadtpläne, Adressbücher und populärmedizinische Publikationen ebenso wie Romane, Ansichtskarten, Schlagertexte, Unterhaltungsmagazine, Couplets, Witze, satirische Blätter und persönliche Aufzeichnungen, darunter Briefwechsel, Tagebücher und Memoiren. Um die kaleidoskopartigen Einblicke, die diese Quellen vermitteln, zusammenzusetzen, verortet sich die methodologische Herangehensweise in einem relationalen Raum von Mikrohistorie und Diskursanalyse. Dieser Zugang ermöglicht es, die in ihrem Charakter ungleichartigen Bilder und Texte als Evidenzen derselben Geschichte zu begreifen. Ihre literarische, anekdotische, satirische oder subjektive Natur verleiht ihnen dabei besondere Relevanz, erfordert es gleichzeitig aber auch, diese Eigenschaften zu thematisieren. Neuere Forschungen aus den Bereichen der jüdischen Alltagsgeschichte und Bürgertumsforschung haben darüber hinaus ebenso zum wesentlichen Verständnis des Themas beigetragen, wie medizin- und tourismusgeschichtliche Arbeiten der letzten Jahre, die über den mikrohistorischen Blick hinaus die kulturwissenschaftliche Relevanz von Kurbädern und Erholungsräumen behandeln. Der Zeitrahmen dieser Arbeit ist bewusst lang gewählt in der Absicht, Entstehung, Transformation und Auflösung der jüdischen Orte in den Blick zu nehmen: Er setzt mit Beginn der bürgerlichen Massenkurorte im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts an und bricht mit den Ereignissen des Spät-

22

Algazi, Kulturkult, 1 1 8 - 1 1 9 .

Topographie des Sommers

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sommers 1938 ab. D a die Existenz jüdischer Orte in den drei Kurstädten Karlsbad, Marienbad und Franzensbad zeitlich wie inhaltlich weitgehend parallel verlief, stehen Entwicklungslinien innerhalb eines Ortes exemplarisch für die anderen. Unterschieden sich die lokalen Gegebenheiten maßgeblich voneinander, wird explizit darauf verwiesen. D e r Text ist der Räumlichkeit des Themas folgend in Kreisen strukturiert, denen zufolge Inhalte nicht nur an einer Stelle diskutiert, sondern in anderen Kontexten wieder aufgenommen werden. Gleichzeitig werden die einzelnen Teile, manchmal auch Kapitel, chronologisch erzählt, um die zeitlichen Abläufe in der räumlichen Struktur nicht aus dem Blick zu verlieren, sondern im Gegenteil ihre Relevanz zu betonen. Die Gliederung verfolgt dementsprechend die Absicht, die Dialektik zwischen den räumlichen und zeitlichen Erzählsträngen so zu ordnen, dass vieldimensionale Einblicke in das Thema möglich werden. D e r erste Teil dieser Studie beschreibt die entopischen Zusammenhänge, die den Hintergrund für den Möglichkeitsraum jüdischer Orte bildeten: das modernisierte Kurbad als O r t medizinischer Heilsversprechen und Innovation einerseits und O r t bürgerlicher Vorstellungen von Repräsentation, Ästhetik, Konsum, Gesundheit und Krankheit andererseits. Teil zwei schildert die Relationen zwischen den unterschiedlichen jüdischen Kulturen, die das Image und die Realität der jüdischen Orte Karlsbad, Marienbad und Franzensbad konstituierten. In zeitlosen Wiederholungen existierte diese Welt, bis der Bruch des Ersten Weltkriegs das Ende der kosmopolitischen Illusionen auslöste und damit auch deren jüdische Orte nachhaltig veränderte. Teil drei dieses Buches beschäftigt sich mit den ansässigen jüdischen G e meinden als Konstanten jüdischen Lebens und ihrer zunehmend unsicheren Position vor dem Hintergrund des deutsch-tschechischen Nationalitätenkonfliktes. D e r letzte Teil behandelt schließlich die veränderten jüdischen Orte, wie sie sich nach dem Ersten Weltkrieg durch Desillusionierung und Nationalisierung darstellten, als sich der geschützte Raum der Vorkriegsjahre unerwartet in einen Treffpunkt selbstbewusster jüdischer Kulturen verwandelte.

18

Einleitung: Der

Momente

des

Spie(ge)lraum

Übergangs

Wir wissen w o h l , daß die E i n s c h a l t u n g v o n U m - u n d N e u g e w ö h n u n g e n das einzige Mittel ist, u n s e r L e b e n z u halten, u n s e r e n Zeitsinn a u f z u f r i s c h e n , eine Verj ü n g u n g , Verstärkung, V e r l a n g s a m u n g u n s e r e s Zeiterlebnisses u n d damit die E r n e u e r u n g u n s e r e s L e b e n s g e f ü h l s ü b e r h a u p t z u erzielen. D i e s ist der Z w e c k des O r t s - u n d L u f t w e c h s e l s , der Badereise, die E r h o l s a m keit der A b w e c h s l u n g u n d der E p i s o d e . Thomas Mann, Der Zauberberg, 1924 23

Räume stehen im Zentrum dieses Buches, weshalb die wesentlichen Fragen sich nach raumgebundenen kulturellen Praktiken stellen, nach dem utopischen Potential von Räumen und nach Strategien der Verortung innerhalb ihres Rahmens. 2 4 Grundlegend nehme ich an, dass Kurorte in ihrer Positionierung zum Alltag eine bestimmte Funktion und Bedeutung einnahmen, und orientiere meine Gedanken an dem fragmentarisch entwickelten Konzept der anderen Räume von Michel Foucault. 2 5 In zwei Vorträgen, die er in den Jahren 1966 und 1967 hielt, formulierte Foucault erste Überlegungen zu einer Theorie der Heterotopien - entwickelte die von ihm geforderte Heterotopologie als Wissenschaft: der anderen Räume aber nie weiter. 26 Dessen ungeachtet bieten die von ihm skizzierten Grundstrukturen eine Basis für einleitende Überlegungen zum Charakter und der Funktion von Kurorten als Heterotopien moderner jüdischer Kulturen. Am Beginn steht die Vermutung, Kurorte hätten als Ziele temporärer Massenfluchten zur Jahrhundertwende einen besonderen Stellenwert für die in Veränderung befindliche Gesellschaft eingenommen. Als tendenziell exponierte Gruppen der Gesellschaft suchten jüdische Kulturen diese Schutzräume und idealisierten Gegenwelten des Alltags intensiv auf - eine kulturelle Strategie, die Foucault zufolge nicht weiter ungewöhnlich ist, geht er doch davon aus, „ d a s s es - in allen G e s e l l s c h a f t e n - U t o p i e n gibt, die einen genau b e s t i m m b a r e n , realen R a u m , auf der K a r t e zu f i n d e n d e n O r t b e s i t z e n u n d auch eine genau b e s t i m m b a r e Zeit, die sich nach d e m alltäglichen K a l e n d e r festlegen u n d m e s s e n lässt. Wahrscheinlich schneidet jede m e n s c h l i c h e G r u p p e aus d e m R a u m , den sie

Mann, Zauberberg, 147. Vgl. Geppert/Jensen/Weinhold, Verräumlichung, 48-49. 25 Obwohl dieses Konzept seit einigen Jahren intensiv zitiert wird, wurde es theoretisch nicht wesentlich weiterentwickelt: vgl. u.a. Soja, Thirdspace, 154-163. 26 Defert, Raum, 77. 23 24

Momente des Übergangs

19

b e s e t z t hält, in d e m sie wirklich lebt u n d arbeitet, u t o p i s c h e O r t e aus und aus der Zeit, in der sie ihre A k t i v i t ä t e n entwickelt, u c h r o n i s c h e A u g e n b l i c k e . " 2 7

Wesentlich konstituiert wurden diese Welten durch ihre Gebundenheit an zeitliche Brüche und temporär begrenzte Erfahrungen, die sich in ritualisierter Form jeden Sommer wiederholten. Ein System von Offnungen und Schließungen machte den Eingang und die Teilnahme an ihrem Geschehen nicht unmöglich, grenzte sie aber klar von der übrigen Welt ab. 2 8 Innerhalb des Systems von unterschiedlichen Heterotopien, die Foucault sozialen Gruppen und Notwendigkeiten zuordnet, ließe sich das Kurbad als „kompensatorische Heterotopic" beschreiben, da diese „einen anderen Raum" konstituiert, „einen anderen realen Raum, der im Gegensatz zur wirren Unordnung unseres Raumes eine vollkommene Ordnung aufweist". 2 9 Der Kurort als geordnete und paradiesische Idylle, in der scheinbar alles seinen Platz, seine Struktur, seine Form hat, funktionierte demnach wie ein Spiegel, der den modernen Alltag und alles was ihn ausmachte, deplatziert, destrukturiert und deformiert erscheinen ließ. Die Foucault'schen Heterotopien, als Negative der realen Welt betrachtet, „ritualisieren und lokalisieren Klüfte, Schwellen und Abweichungen". 3 0 Gleichzeitig reflektieren sie auch die vielfältigen Verflechtungen von Säkularisierung und Sakralisierung als Charakteristika moderner Räume - angenommen, die Moderne habe „eine gewisse theoretische Entsakralisierung des Raumes" mit sich gebracht, während diese in praktischer Hinsicht möglicherweise noch aussteht: „ U n d vielleicht wird unser L e b e n i m m e r n o c h v o n diversen G e g e n s ä t z e n beherrscht, an die wir nicht rühren k ö n n e n und die w e d e r die I n s t i t u t i o n e n n o c h die Praxis bislang a n z u r ü h r e n wagen. Von G e g e n s ä t z e n , die wir als G e g e b e n h e i t e n h i n n e h m e n , etwa zwischen privatem und ö f f e n t l i c h e m R a u m , zwischen familiärem u n d gesellschaftlichem R a u m , zwischen d e m R a u m der K u l t u r und d e m der N ü t z l i c h k e i t , z w i s c h e n d e m R a u m der Freizeit und d e m der A r b e i t . Alle diese R ä u m e unterliegen i m m e r n o c h einer blinden S a k r a l i s i e r u n g . " 3 1

So mochte auch der rituelle Charakter einer Badereise an die religiöse Konnotation von Kurreisen als Pilgerfahrten, von Kurbädern als mystischen Orten der Heilung erinnert haben, trotzdem sie sich längst in säkulare, medizinische Zentren verwandelt hatten. Angewandt auf die jüdischen Orte Karlsbad, Marienbad und Franzensbad lässt dieses Denkmuster auch dort vielfältige Verflechtungen sakraler, entsakralisierter und resakralisierter

27 28 29 10 31

Foucault, Heterotopien, 9. Foucault, Von anderen Räumen, 939-940. Foucault, Von anderen Räumen, 941. Defert, Raum, 76. Foucault, Von anderen Räumen, 933.

20

Einleitung: Der

Spie(ge)lraum

Ebenen modernen jüdischen Lebens verorten. Sie repräsentierten in diesem Sinn liminoide Schwellenräume, die das Potential hatten, Momente des Ubergangs zu ritualisieren und jüdischen Kulturen im Aufbruch einen temporären Ort anzubieten. 32 Die sommerliche Idylle der Kurreise, außerhalb alltäglicher Raum- und Zeithorizonte, erscheint vor dem Hintergrund dieser Gedanken als sensibler und manchmal verzerrender Spiegel gesellschaftlicher Veränderungen. Das Nachdenken darüber kann demnach ebenso viele Aspekte zur Sprache bringen, wie die Ankommenden in ihrem alltäglichen Leben zurückgelassen hatten.

12 Zum Konzept der liminalen und liminoiden Räume: Turner, Ritual Theater, 34-37, 86-87.

I. Be*era schel Mirjam 1. Ein Brief Nur Wasser, Wasser und keine divrej Wasser verglichen wurden...

tora, die dem

Judah Leib Gordon, Marienbad 18. Juli 18831

Es war an einem Freitagnachmittag im August des Jahres 1 8 8 3 , als Judah Leib G o r d o n einen Brief an S c h l o m o Rubin schrieb, n o c h früh und v o r Beginn des Schabbat. 2 „Es sind nun bereits zwanzig Tage, seit ich in euer Land gekommen bin", beginnt der Brief an den Freund in Wien, „Brunnenwasser trinke und in Bädern von Mist bade. In diesem Schlammloch 3 suche ich nach dem heiligen Geist, 4 der mich verlassen hat, als ich vor vier Jahren in dieses Schlammloch sank. Seitdem war mein Geist überanstrengt und ich habe meine Vitalität verloren; mein Schlaf war mir geraubt und meine Venen weigern sich zu rasten. Die Arzte schickten mich aufs Neue hierher, um meine Gesundheit wieder zu erlangen und meinen Geist in mir zu erneuern. O b ich wirklich ganz geheilt werde, und die Gegenwart Gottes 5 zu mir zurückkommen wird, um zu bleiben, das weiß ich nicht, aber im Moment betrachte ich meine Tasche als eine Art Sieb und ich weiß, das ist Mirjams Brunnen." 6 D e r Brief, unterzeichnet mit Jalag,

dem A k r o n y m G o r d o n s , endet, ohne

dem Adressaten nähere Erklärungen über den Aufenthaltsort des Schreibers zu geben - wäre da nicht eine N o t i z am Ende: „Freitag, 17. August 1883, 14. Av, Marienbad." 7 „ L e o n G o r d o n , Literat aus Petersburg", so der Eintrag in der Marienbader Kurliste, E x p o n e n t der russischen Haskala8

und einer ihrer wichtigsten

literarischen Vertreter, war bekannt dafür, einen ungewöhnlichen Sinn für

1 2 1 4 5 6 7

8

Divrej tora (hebr.) - Worte derThora. Brief vom 18.7.1883, Gordon, Igrot, Bd. 2, 50. Solomon Rubin (1823-1910), hebräischer Schriftsteller und Maskil. Kressel, Rubin. Im hebr. Original: tit ha-javen. Im hebr. Original: ruach ha-kodesch. Im hebr. Original: scbechina. Im hebr. Original: be'era schel Mirjam. Brief vom 17.8.1883, Gordon, Igrot, Bd.2, 53. Brief vom 17.8.1883, Gordon, Igrot, Bd.2, 53. Haskala (hebr.) - die jüdische Aufklärungsbewegung.

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Be'era schel Mirjam

biblische Idiome zu haben. 9 Spielerisch benutzte er eine biblische Parallelwelt und -spräche, wenn er über soziale Missstände oder antijüdische Pogrome schrieb, und entging damit der zaristischen Zensur. 1 0 Die Idee, auch den Kurort Marienbad auf diese Weise neu- und umzubenennen, war ihm bereits einige Jahre zuvor gekommen, als er in Begleitung seiner Frau zum ersten Mal den langen Weg von St. Petersburg in die westlichsten Gebiete der Habsburger Monarchie zurückgelegt hatte. 1 1 Mit der beinahe wörtlichen Ubersetzung des Ortsnamens - be'era schel Mirjam, Mirjams Brunnen - die er seitdem gewohnheitsmäßig verwendete, umging Jalag dessen christliche Konnotation ebenso wie die sichtbare Präsenz des nahen Prämonstratenserstifts Tepl und Eigentümers der Marienbader Quellen. 1 2 Darüber hinaus öffnete der Begriff be'era schel Mirjam auch einen biblischen Assoziationsraum, indem er an den mystischen Brunnen der Prophetin Mirjam erinnerte: Dieser Brunnen hatte, der Aggada13 zufolge, das Volk Israel während seiner vierzig Jahre in der Wüste begleitet und vor dem Verdursten geschützt. Nach dem Tod von Moses' Schwester soll der Brunnen, dem heilende Kräfte zugesprochen wurden, im See Genezareth verschwunden und nur mehr von Zeit zu Zeit an die Oberfläche gekommen sein. i 4 Jalag, der Maskil15, machte den Brunnen mit seinem Wortspiel zu einer Art fernem Vorläufer der Marienbader Mineralquellen und stellte so eine unmittelbare Verbindung zwischen biblischen und modernen Heilungsverfahren her. Haftete den Marienbader Quellen auch tatsächlich noch ein letzter mystischer Hauch an, so verdankten sie ihren Erfolg inzwischen chemischen Analysen, balneologischer Forschung und dem Ruf, Krankheiten der Verdauungsorgane und des Nervensystems zu heilen. 1 6 Der Glaube an diese Quellen war es auch, der den chronisch kranken Dichter wiederholt nach Marienbad brachte. Während seiner Aufenthalte widmete er sich, so stellte er es zumindest Freunden gegenüber dar, mit großem Ernst seiner Bade- und Trinkkur. Der profane Alltag des in Moder' Marienbader Kurliste 1883; Spicehandler, Literature. 10 Ben-Yishai, Gordon. Die poetische Praxis, religiös konnotierte Metaphern zur Beschreibung von Orten als Räume bedeutungsvoller Existenz einzusetzen, war unter modernen jüdischen Autoren nicht unüblich: Eshel, Cosmopolitanism, 124. 11 Shamir, Sadan, 48. 12 Die Entwicklung Marienbads als Kurort geht unter anderem auf die Initiative des Abtes Karl Kaspar Reitenberger zurück, infolge derer das Bad 1818 zum öffentlichen Kurort erklärt wurde. Marienbad. Die Perle der böhmischen Weltbäder, 11-12; Kisch, Curort, 220. 13 Aggada (hebr.) - nichtgesetzliche Geschichten und Sagen im Talmud. 14 Tosefta, masechet sota, Ed. Liebermann, perek 11, halacha 1,8; Ba-midbar Rabba, Vilna, parascha 1, dibur ha-matchil davar acher wa-jedaber; Talmud Babli, schabbat, 35,1; Talmud Jerushalmi, ketubot, perek 12, 35, 2; Ba-midbar Rabba, Vilna, parascha 18, dibur ha-matchil 22, jitbarach schemo. 15 Maskil (hebr.) - Vertreter der jüdischen Aufklärung. 16 Marienbad und seine Heilmittel, 11-14.

Ein Brief

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nisierung befindlichen Kurbades veranlasste ihn dabei ebenso wie die lokale Macht der Badeärzte und die Kostspieligkeit des Aufenthaltes zu scherzhaften Wortspielen und ironischen Ubersetzungen. Rubin gegenüber bezeichnete er die hochkonzentrierten Marienbader Eisenmoorbäder nicht nur als „Mistbäder", sondern auch als tit ha-javen, jenes „Schlammloch", aus dem die Psalmen dem gequälten Menschen ein hoffnungsvolles Ende, metaphysische Heilung und Genesung versprechen: „Hoch zog er mich aus dem brodelnden Loch, aus dem Moorschlamm, stellte auf Gestein meine Füße, festigt meine Schritte. Und er gab mir in den Mund neuen Gesang, Preisung unserem Gott." 1 7 Die Marienbader Quellen, von denen Jalag täglich zahlreiche Becher voll trinken musste, veranlassten ihn zu Vergleichen mit den majim ha-me'arerim, den „Wassern der Bitternisse, den fluchgewissen", die Teil eines biblischen Rituals im Tempel gewesen waren: Schreckliche Bauchschmerzen sollten die Schuld einer Frau beweisen, die des Ehebruchs bezichtigt wurde. 18 So schreibt Jalag in einem anderen Brief während des gleichen Sommers: „All diese Tage waren regnerisch und windig und ich habe so viele Leiden von den Wassern der Bitternisse gelitten, die in mich kamen, um meinen Bauch zu quälen; und als ich einmal aus dem Bad kam, erwischte mich eine Erkältung und ich wurde krank. Aber jetzt hat der H i m m e l sich geklärt und der Regen hat aufgehört; auch das Brunnenwasser beginnt seinen wohltätigen Effekt zu zeigen und nun ist dieser O r t wie der H i m m e l für mich und ich hoffe, dass meine Gesundheit bald zurückkehren wird. N o c h zehn Tage soll ich hier bleiben und dann gehen, wohin mich der D o k t o r schickt, um den Rest meiner Tasche zu leeren." 1 9

Kalt, hochkonzentriert und zum Teil von stark abführender Wirkung legten die Marienbader Quellen eine Assoziation zu den „Wassern der Bitternisse" nahe. Besonders die berühmtesten unter ihnen, der Kreuz- und Ferdinandsbrunnen, verfügen über einen so hohen Anteil an schwefelsaurem Natrium, dass sie unangenehm bitter schmecken und starke Bauchschmerzen auslösen können. 0 Anzunehmen, dass Jalag mit seinem Verweis auf die majim ha-me'arerim auch eine Anspielung auf die Identifikation von Kurbädern mit Zonen freieren Umgangs zwischen Frauen und Männern beabsichtigte, bleibt allerdings eine Spekulation. Mit der Erfindung von be'era schel Mirjam hatte Jalag Marienbad nicht nur einen anderen Namen gegeben, sondern den Ort mit Ironie in einen biblischen und damit jüdischen Erfahrungsraum integriert. Zur Zeit seines Aufenthalts erlebte das kleine Kurbad gerade einen großen Aufschwung

17 18

" 20

Psalm 4 0 , 2 - 3 , zitiert nach B u b e r / R o s e n z w e i g , Schrift, B d . 4, 64. N u m e r i 5 , 1 1 - 2 6 , zitiert nach B u b e r / R o s e n z w e i g , Schrift, B d . 1, 377. Brief, vermutlich 6. A u g u s t 1883, G o r d o n , Igrot, B d . 2, 5 1 - 5 2 . M a r i e n b a d und seine Heilmittel, 8.

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Be'era schel Mirjam

und begann sich zunehmender Beliebtheit nicht nur bei österreichischen und preußischen, sondern auch bei russischen Kurgästen zu erfreuen - so erklärte eine Broschüre, die der Stadtrat 1882 anlässlich der Hygieneausstellung in Berlin veröffentlichte. 21 Der Großteil der Kurgäste aus Russland waren Adelige oder Juden. 2 2 Letztere kamen einerseits in Folge des weit verbreiteten Antisemitismus in Russland, wo ihnen in zahlreichen Kurbädern der Zutritt verboten war, andererseits auf Grund der bereits gut ausgebauten jüdischen Infrastruktur, die Marienbad anbot. 23 Im Sommer 1883 befand sich eine neue Synagoge in Bau, die durch die hohe Zahl jüdischer Kurgäste notwendig geworden war. Bereits kurz nach der Gründung des Kurortes hatten sich in Marienbad einige jüdische Familien niedergelassen, die ein Bethaus eingerichtet und ein Restaurant für jüdische Kurgäste betrieben hatten. Seit den 1860er Jahren bestand auch ein Armenspital, dessen Bethaus sich zum Versammlungspunkt für Patienten, Kurgäste und Einheimische entwickelte. Nachdem mehr und mehr Juden aus der unmittelbaren Umgebung und anderen Ländern, vor allem den südöstlichen Provinzen der Donaumonarchie, Deutschland und Russland, zugezogen waren, um Restaurants, Geschäfte und Hotels zu betreiben, wurde 1875 schließlich eine Gemeinde gegründet. 24 Diese Gegebenheiten verweisen auf das Setting, das den Hintergrund zu Jalags assoziativem Spiel bildete und in eben diesem beschrieben sein wollte. Die neue Entwicklung, in deren Folge auch der Dichter hier hergekommen war, brachte nicht nur das wachsende jüdische Bürgertum regelmäßig in die Bäder, sondern löste außerdem die Entstehung von als jüdisch assoziierten Kurorten aus. Ihre Basis fand sie in einer Bedeutungsverschiebung von religiös konnotierten Heilorten zu relationalen Räumen der Verbürgerlichung und Säkularisierung. 25 Rund um die ehemals mystischen Quellen entstanden moderne Orte, in denen eine verwissenschaftlichte Kurerfahrung das Verhältnis zwischen Ärzten und Patienten ebenso neu definierte

21 Von 8667 Kurparteien (13.063 Personen), die Marienbad 1881 besuchten, kamen 2.673 aus Österreich-Ungarn, 2.363 aus Preußen und 1.140 aus Russland. Marienbad und seine Heilmittel, 4 - 5 . 22 Lamed, Marienbad. Eine russische Kirche war zu dieser Zeit im Entstehen und wurde 1902 eingeweiht. Kisch, Erlebtes, 2 6 1 - 2 7 0 ; Marienbad und seine Heilmittel, 10. 23 Das betraf alle kaukasischen und viele russische Bäder. Erst 1 9 1 6 wurde Juden der Besuch in kaukasischen Bädern wieder gestattet, allerdings nicht ohne zuvor ein erniedrigendes Untersuchungsritual durch eine eigens eingerichtete Regierungskommission über sich ergehen zu lassen. Die Juden in den Kurorten des Kaukasus, 534; Selbstwehr 10 (1916) 3, 3; Mitteilungen aus dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus 13 (1903) 46, 366; Israelitisches Familienblatt, 20.7.1911, zitiert nach Bajohr, Hotel, 152. 24 Steiner, Geschichte, 396; Krizek/Svandrlik, Marienbad, 92-93. 25 „[...] wenn Säkularisierung der Sache nach das Mündigwerden des Menschen meint." Harvey Cox, Stadt ohne Gott, zitiert nach Schlör, Stadt, 145.

Ein Brief

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wie die Wahrnehmung des eigenen Körpers. Das spezifisch jüdische Erleben deckte sich dabei weitgehend mit der allgemeinen bürgerlichen Erfahrung, unterschied sich aber in einem ebenso großen Maß von ihr, wie es sie beeinflusste. In den folgenden Kapiteln werden, um konstitutive Aspekte im M o dernisierungsprozess der O r t e zu beschreiben, wechselweise allgemeine wie spezifisch jüdische Repräsentationsebenen von Karlsbad, Marienbad und Franzensbad dargestellt. Jalags Sprachzauber, der auf seine Weise eine innere Welt des Maskils und Dichters reflektiert, steht hier als Ausgangspunkt. 2 6 Lässt er doch nicht nur Rückschlüsse auf eine neue Konnotation Marienbads zu, sondern verweist gleichzeitig auf eine Desakralisierung religiöser jüdischer Erzählungen. Denn Jalags säkulares be'era schel Mirjam war eben kein mystischer, biblischer Brunnen mehr, sondern ein moderner Kurort im Westen der Donaumonarchie, seine majim ha-me'arerim waren hochkonzentriertes Quellwasser und sein tit ha-javen ein tägliches Moorbad, das von Badefrauen in der richtigen Höhe, Konsistenz und Temperatur vorbereitet, mit schützenden Gummibezügen über den Fingernägeln absolviert und von einem Reinigungsbad gefolgt wurde. 2 7

2 6 Chaim Nachman Bialik soll Jalag als einen der größten Zauberer der hebräischen Literatur bezeichnet haben. Ben-Yishai, Gordon. 17

Vgl. zu dieser Prozedur L B I , Lalla Kaden (nee Bondi), Akt, 1 6 7 - 1 6 8 .

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Be'era schel Mirjam

2. Consuming Eine Art

Bühne

Places28

H i e r , in M a r i e n b a d , ist es behaglicher, u n d die L e u t e , die hier weilen, sind nicht s o s t o l z darauf, d a s s sie da sind, wie in K a r l s b a d . - Ein g r o ß e r freundlicher P a r k , in d e m h o h e s c h ö n e H ä u s e r stehen, die lauter H o t e l s sind, und ringsherum b e s c h e i d e n e H ü g e l , die sich freuen, weil m a n breite Wege zu ihnen h i n g e f ü h r t hat, u n d Wälder, die sich freuen, weil s o brave dicke M e n schen in ihnen spazieren gehen; auch die W i r t e u n d Kellner u n d D i e n s t m ä n n e r lächeln hier; w ä h r e n d sie in K . alle sehr ernst sind u n d ihrer W ü r d e nie vergessen k ö n n e n . Arthur Schnitzler an Hugo von Hofmannsthal, 10. Juli 1895 29

Ein „großer Garten", kein Kurbad wie jedes andere wollte Marienbad sein, und damit ein Erfolgskonzept formulieren, das den Nachteil seiner späten Gründung ausglich. 30 In unmittelbarer Nähe zu dem fashionablen Karlsbad, dem etablierten Teplitz und dem ruhigen, als Frauenbad bekannten Franzensbad, präsentierte Marienbad sich als charmante, kleine Stadt, die zwischen einem riesigen Kurpark und den sie umgebenden Wäldern zu verschwinden drohte: „Nur gegen Süden offen", hieß es in einem Reiseführer, „sonst nach allen Seiten von dunkelgrünen Waldbergen umschlossen, bietet der von anmuthigen Spazierwegen durchzogene und mit prächtigen Parkanlagen versehene Curort dem Besucher ein äusserst wohltuendes interessantes Bild und übt selbst auf das verdüsterteste Gemüth einen erfrischenden Eindruck." 31 Die Lage, inmitten von bewaldeten Hügeln, versprach nicht nur einen klimatischen Schutzraum, sondern auch eine ideale Kurlandschaft. Anders als Karlsbad vermittelte Marienbad einen Eindruck von Offenheit und ließ überall im Ort Durchblicke frei, auf einen scheinbar endlosen Kurwald und einen riesigen Park in seiner Mitte. Der weitläufige Landschaftsgarten dehnte sich von den Promenaden und Wandelhallen in seinem Zentrum bis zu entlegenen Quellen und ging auf sanft gewundenen Wegen in den Wald über. 32 Spazierwege strukturierten die scheinbare Un28 In Anlehnung an John Urry, Consuming Places, schließt dieser Titel die Bedeutungen „Orte konsumieren" und „Konsumorte" ein. 29 Brief vom 10.7.1895, Schnitzler, Briefe, 265. 30 Kisch, Curort, 1. 31 Marienbad und seine Heilmittel, 6; Kisch, Curort, 1. 32 In Marienbad gab es zu Beginn des 20. Jahrhunderts 38 aktive Quellen. Diem, Bäderbuch, 425.

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berührtheit des dichten Laubwaldes, und mündeten, gesäumt von Aussichtstürmen, Pavillons und Denkmälern, in Cafes und Waldrestaurants. In unterschiedlichen Steigungen führten die zahlreichen Wege durch Parks und Wälder und waren Teil des ärztlichen Systems der Marienbader Terrainkur, das fünf Schwierigkeitsgrade für verschiedenste Krankheiten und Konstitutionen empfahl. 33 Im Glauben an die regenerative Kraft des Spaziergangs setzte die Medizin seit dem Ende des 18. Jahrhunderts das langsame Gehen an der frischen Luft gezielt als Therapieform ein. 34 Weitläufige Landschaftsgärten, weiche Hügel und sanftes Klima galten in einer nach Jean Jacques Rousseaus Vorstellungen gesundmachenden Landschaft als wesentliche Heilfaktoren. Als Schutzräumen vor feudaler ebenso wie dörflicher Enge, vor Industrie- und Agrarlandschaften wurde Landschaftsgärten eine ausgleichende Wirkung auf die bürgerliche Seele zugesprochen. 5 Ästhetisches Betrachten einer mit Zurückhaltung arrangierten Natur war das romantische Vergnügen jener, die sich in den Städten von ihr entfremdet hatten. 36 In den weitläufigen Park und die Randzonen des Waldes hinein wurde nach und nach die Kurstadt gebaut. Als der Arzt Enoch Heinrich Kisch im Jahr 1863 aus Prag hierher zog, faszinierte ihn zwar der Landschaftsgarten, den Kurort jedoch beschrieb er als dörflich und rückständig: Die hygienischen Verhältnisse wären ebenso mangelhaft wie das architektonische und kulturelle Niveau der Stadt zu wünschen übrig ließe. 37 Als Marienbad bald darauf an die Kaiser Franz Josef-Bahn angeschlossen wurde, und die Besucherzahlen immer weiter stiegen, begannen das Stift und die Stadt große Summen in den Ausbau und die Entwicklung des Ortes zu investieren. 38 In den 1880er Jahren wurde außerhalb der Saison überall gebaut und renoviert, sodass Marienbad sich zu Beginn des neuen Jahrhunderts als urbane Insel inmitten der böhmischen Provinz präsentierte, in der moderne Dienstleistungskultur und großstädtische Standards gepflegt wurden. Zwischen den Palastbauten der Bäder und Kolonnaden, für deren Bau man Architekten, Baufirmen und Handwerksbetriebe aus Wien engagiert hatte, standen zweiund dreistöckige Stadthäuser, stucküberladen und schönbrunnergelb. Den Stilpluralismus und Bauboom der Großstädte reflektierend war alles da, vom Neoklassizismus über Jugendstil bis zum Neobarock. 3 9 Architekten,

33

Marienbad. Die Perle der böhmischen Weltbäder, 3 1 - 3 2 .

34

Vgl. König, Kulturgeschichte, besonders 2 1 4 - 2 2 3 . Vgl. Fuhs, Orte, 8 0 - 1 3 6 , hier besonders 8 9 - 9 2 u. 98. Simmel, Philosophie, 545. Kisch, Erlebtes, 2 2 5 - 2 9 6 . Marienbad. Die Perle der böhmischen Weltbäder, 8, 13. Vgl. Föhl, Klassizismus; Nicolai, Lebensquell.

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die auf Theaterbauten spezialisiert waren, erfanden Gebäude, hinter deren Palastfassaden sich funktionale Badehäuser und Luxusbäder verbargen.40 Kolonnaden wurden nach dem Vorbild großstädtischer Passagen, Bahnhöfe und Kaufhäuser konzipiert. 41 Und in die unübersehbare Ästhetik der Hauptstadt mischten sich Elemente der boomenden Kurindustrie und formten einen für die westböhmischen Bäder typischen Stil. Das Zentrum des neu entworfenen Ensembles bildete nach wie vor der klassizistische Kreuzbrunnentempel, der anlässlich der Gründung des Kurortes zu Beginn des Jahrhunderts um die zentrale Quelle errichtet worden war. 42 Rundherum hatte man jetzt entlang der Promenaden eine Reihe von Wandelhallen angelegt, die geschütztes Promenieren bei schlechtem Wetter möglich machten. Die Kreuzbrunnenkolonnade, das dominierende Gebäude - trotz seiner filigranen Architektur auch Promenadensaal genannt, war eine neobarocke Eisenkonstruktion, die von innen üppig mit Tiroler Glasund Intarsienmalerei ausgestattet war.43 In den Hotels und Kurhäusern, die sich hinter der Kolonnade über den Hügel zogen, „zumeist schöne große Gebäude, mit luftigen hohen und gut möblierten Zimmern", konnten Wohnungen und Zimmer unterschiedlicher Preisklassen und Komforts gemietet werden. 44 Den Kolonnaden gegenüber reihten sich rund um den Kurpark die Badehäuser, das Neue Moorbadehaus, das Zentralbad und das Neubad, hinter deren Neorenaissancefassaden sich moderne balneologische Zentren befanden. 45 Die verschiedenartige Ausstattung der Bäder, vom barocken Luxus der Fürsten- und Salonbäder zur modernen Sachlichkeit der allgemeinen Badehäuser, reflektierte einerseits die zunehmende Öffnung der Kurorte für mittellose Kranke und Kassenpatienten, andererseits die wachsende Bedeutung sozialer Distinktion. 46 Zwischen den Badehäusern befand sich das soziale und Vergnügungszentrum des Ortes, der Neue Kursaal, wo in Restaurants und Tanzsälen Konzerte, Gesellschafts-Abende und Tanz-Reunionen stattfanden. In den oberen Stockwerken war ein Lesesaal untergebracht, in dem eine Auswahl von 200 Zeitungen und Zeitschriften in zwölf Sprachen angeboten wurde, außerdem ein „Damenlesesaal, Schreibzimmer,

40 Die für ihre Theaterbauten bekannte Wiener Architektengemeinschaft Fellner & Helmer baute in Karlsbad nicht nur das Stadttheater und die großen Konzertsäle, sondern auch die Sprudelkolonnade und das Kaiserbad. Fohl, Klassizismus, 66-67; Linke, Kunstgeschichte, 110. 41 Nicolai, Lebensquell, 104-106. 42 Marienbad. Die Perle der böhmischen Weltbäder, 43. 43 Marienbad. Die Perle der böhmischen Weltbäder, 44. 44 Um 1900 wurden etwa 8.000 Zimmer vermietet. Kisch, Curort, 216; Kurorte, Heilanstalten, Sommerfrischen in der C.S.R., X X I V - X X I X ; Lucca/Lang, Orientierung, 77. 45 Rubritus, Kurstadt, 44-50; Marienbad. Die Perle der böhmischen Weltbäder, 38-40; Kisch, Curort, 217-218. 46 Die tschechoslowakische Republik, 28-36.

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Konversationsräume und Spielzimmer". 47 Im Ortszentrum gab es zur weiteren Zerstreuung der Kurgäste ein Theater, später auch ein Kino, eine Leihbibliothek, sowie Buch-, Kunst-, Papier- und Musikalienhandlungen.48 Daneben befanden sich in geringer Entfernung zum Zentrum auch alle zur Zeit beliebten Sporteinrichtungen - Lawntennisplätze, Radfahrbahnen und Schießstätten, ein Golfplatz, eine Trabrennbahn, ein Reitinstitut, ein Freibad, ein Sportstadion und eine große Turnhalle, betrieben vom Deutschen Turnverein in der Jahnstraße.49 Innerhalb kurzer Zeit war hier ein mehrfach strukturierter öffentlicher Raum und streng durchdachtes Arrangement entstanden, das einerseits aus sozialen Kommunikations-, andererseits aus Rückzugsorten der individuellen, körperlichen Erfahrung zusammengesetzt war. Klein und überschaubar platzierte der Kurort in der Art einer Bühne verschiedenartige Formen von Öffentlichkeit in unmittelbarer Nähe zueinander. Innerhalb des geschützten Raumes der Parks, Promenaden und Spazierrouten öffneten sich weitere Schutzzonen in Form halböffentlicher Gebäude, die das Kurpublikum distinktiv reglementierten: So schloss beispielsweise die Exklusivität der Luxus- und Grandhotels mit den „verinnerlichten Verhaltensregeln" der Hoteletikette ihre Bewohner trotz Anonymität zu einem intimen Kreis zusammen. 50 Verbindend stand dem gegenüber der Umstand, dass dem strukturierten Raum eine strukturierte Zeit entsprach, nach deren akribisch choreographierter Abfolge sich die Kurpatienten aller Klassen während eines Tages durch den Ort bewegten. Da alle zu jeder Zeit mit ähnlichen Abläufen beschäftigt waren und währenddessen von einer, die Zahl der Kurgäste um ein vielfaches übersteigenden Menge von Passanten beobachtet wurden, herrschte überall im Ort permanentes Gedränge.51 Um den Geräuschpegel trotzdem auf einem kurgemäßen Niveau zu halten, war jedweder Verkehr mit Ausnahme von wenigen Kutschen mit gummibereiften Rädern verboten. 52 Und das Tempo auf den Promenaden wurde vom Schritt des gemächlichen Schlenderns bestimmt.

4 7 Beilage zur Marienbader Kurliste für die Saison 1906, 1 5 - 1 6 ; Rubritus, Kurstadt, 7 7 - 7 8 ; Marienbad und Umgebung, 40; Amtliche Nachrichten 1906. 4 8 Vor Einrichtung des Kinos im J a h r 1910 kam regelmäßig ein Wanderkino in die Stadt. Krizek/Svandrlik, Marienbad, 1 3 4 - 1 3 5 ; Marienbad. Die Perle der böhmischen Weltbäder, 3 6 - 3 7 , 55; Kisch, Curort, 2 1 7 - 2 1 8 ; Marienbad und Umgebung, 27; Lucca/Lang, Orientierung, 75.

Marienbad. Die Perle der böhmischen Weltbäder, 5 8 - 5 9 ; Lucca/Lang, Orientierung 41. Vgl. Knoch, Grandhotel, 139. 51 Einer Werbeanzeige zufolge kamen vor dem Ersten Weltkrieg etwa 35.000 Kurgäste und 100.000 Passanten nach Marienbad. Zeitschrift für Balneologie, Klimatologie und K u r o r t - H y giene 7 (1915) 7/8, Einband. In Karlsbad hingegen machten Kurgäste etwa zwei Drittel, Passanten ein Drittel der Besucher aus. Rompel, Wiesbaden, 136. 5 2 Henisch, Tanz, 218. 49 50

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Die künstliche Natürlichkeit des Ortes versuchte darüber hinwegzutäuschen, dass Marienbad nicht weniger modern war als eine Großstadt und hinter seinen historistischen Fassaden eine komplizierte Maschinerie verbarg, die mit großem technischen und personellen Einsatz am Laufen gehalten wurde. Ebensoviel Geld wie in die repräsentativen Bereiche des Kurbades investiert wurde, war nötig, um die Einrichtungen hinter den Kulissen zu modernisieren. Als gesunder Ort und Ort wissenschaftlicher Präsenz, in dem sich auf kleinem Raum sehr viele Leute aufhielten, galt es als Notwendigkeit, ein besonders hohes Niveau an Komfort und öffentlicher Hygiene zu wahren. Neben flächendeckender Gas- und Stromversorgung - Marienbad hatte bereits 1890 im ganzen Ort elektrische Beleuchtung - lag der Schwerpunkt der Kurorthygiene auf den besonderen Bedürfnissen von Kranken und den hohen touristischen Hygienestandards.53 Zugleich mit der Kanalisierung des Ortes wurden zwei getrennte Wasserkreisläufe für Trink- und Nutzwasser eingerichtet, die ebenso unter der ständigen Kontrolle des Städtischen Hygienischen und Balneologischen Instituts standen, wie Mineralquellen, Lebensmittel und mögliche ansteckende Krankheiten. 54 Obwohl allgemeine Industrie- und Handwerksbetriebe im Kurbezirk nicht zugelassen waren, platzierte man Einrichtungen an den Rändern des Kurparks und in der Nähe der Quellen, die als Teil der Kurindustrie galten. Reiseführer präsentierten die Architektenbauten des Salzsudwerks und der Mineralwasserversendung als Sehenswürdigkeiten des Ortes, deren unverhüllte Pumpen - ebensolche befanden sich auch an den Badeanstalten - den Gebäuden exotischen Reiz verliehen.55 Auch an weitaus sichtbareren Stellen verlieh die Modernisierung dem bemüht natürlichen Raum Charme. Mitten auf der Kreuzbrunnenpromenade befand sich die Meteorologische Säule, die in keinem Kurbad fehlen durfte: Auf einem gusseisernen Sockel war ein Wetterhäuschen angebracht, das mit Barometer, Thermometer - eingeteilt in Reaumur, Celsius und Fahrenheit Hygrometer, Höhenmaßtabelle, täglichem Wetterbericht und Situationsplan der Stadt ausgestattet war. 56 In Form von Informationstafeln, die den jeweiligen Mineralgehalt der Quellen auflisteten, Personenwaagen und zahlreichen Uhren auf den Promenaden und in den Badehäusem wurde der allseitigen Vorliebe fürs Messen, Uberprüfen und Prognostizieren Genüge getan. 57 Auch ein früher häufig beklagter Missstand, die Toilettenhäuschen auf den Promenaden, war jetzt in die Kulissen der Kolonnaden verschwun-

Lucca/Lang, Orientierung, 58; Zörkendörfer, Gesundheitspflege, 65. Ärztlicher Führer von Marienbad, 3 1 - 3 3 ; Kisch, Marienbad, 42; Marienbad und U m g e bung, 37; Glax, Hygiene, 4 1 8 - 4 2 3 ; Slokar, Bedeutung, 1 5 9 - 1 6 0 . 5 5 Lucca/Lang, Orientierung, 57, 6 1 - 6 3 . 5 i Lucca/Lang, Orientierung, 5 6 - 5 7 . 53

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57

Rubritus, Kurstadt, 119; Lucca/Lang, Orientierung, 41.

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den: 5 8 Rechts und links neben der Nische für das Kurorchester in der Kreuzbrunnenkolonnade befanden sich „die Zugänge zu den Abort-Gruppen, in welchen die englischen Closets, Pissoirs und Toiletten" untergebracht waren. 59 Wie zufällig und doch kontrolliert gingen die unterschiedlichen Bereiche von Erholung, Vergnügen, Medizin, Konsum, Dienstleistung und Industrie in Marienbad und anderen Kurstädten auf engem Raum ineinander über. Als Schauplätze von, wenn auch sehr eigenwilligen, Urbanisierungs- und Industrialisierungsprozessen, spielten die „wie Pilze auftreibenden Badestädte" deshalb eine zentrale Rolle in der konservativen Stadtkritik des 19. Jahrhunderts: Für Wilhelm Heinrich Riehl waren sie, gleich Fabrik- und Tourismusstädten, als „künstliche Städte durch die Laune und Mode unsres bedürfnisreichen überfeinerten Lebens geschaffen und mit ihrer Existenz in die Luft gestellt worden". Ebenso „liederlich" wie „unsicher" wären die neuen Kurstädte, und „schwankend die künstlichen Existenzen [...], welche sich jetzt zu Tausenden an die künstlichen Städte knüpfen". Nichts bliebe mehr übrig von den alten Badeorten als Konstanten der ständischen Gesellschaft, so Riehl, deren hermetische Grenzen und sozialen Unterschiede sich in den verstädterten Formen der Kurorte auflösen und verschwinden würden. 60 Aber genau darin lag die große Faszination, die die neuen Kurorte auf eine in Bewegung geratene Gesellschaft ausübten. 61

An einem vertrauten

Ort A l s o s c h a u t ' s , Kinder. N i c h t daß M a r i e n b a d s o scheen is - s c h e e n is bald was. A b e r es hat sehr gute K a f f e e häuser, w o m a n alle Z e i t u n g e n kriegt - in ein paar R e s t a u r a n t s kann m a n g a n z a n s t ä n d i g essen - das T h e a t e r ist gar nicht schlecht, b e s o n d e r s mit den G a s t s p i e l e n im S o m m e r - m a n trifft L e u t e - u n d das bissl frische L u f t m u ß m a n eben in K a u f n e h m e n . Friedrich Torberg, Die Tante Jolesch, 1975 62

Auf ihren Wegen von einem Punkt zum nächsten, dem Ablauf eines Kurtages folgend, bewegten die Menschen sich hier in einer der luxuriösesten 58 59 60 61 62

Kisch, Erlebtes, 225-296; Macpherson, Baths, 264. Lucca/Lang, Orientierung, 54. Riehl, Land, 99-100, zitiert nach Fuhs, Orte, 334-335. Fuhs, Orte, 335. Torberg, Tante Jolesch, 71-72.

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Welten, die ihnen zu jener Zeit in Europa zur Verfügung stand - alles war da und alles war extrem. Zwischen den palastähnlichen Gebäuden, auf den breiten Promenaden und in den weitläufigen Parks herrschte eine, von allen Verkehrsgeräuschen ungestörte Ruhe, die nur von gedämpften Unterhaltungen und Konzerten des Kurorchesters unterbrochen wurde. In den Passagen und Kolonnaden reihten sich winzige Geschäfte aneinander, „deren ausgesucht geschmackvolle Auslage auch einen sparsamen Menschen zum Geldausgeben verleiten konnten": 6 3 Knize, Meinl, die Wiener Werkstätte und andere Dependancen aus der Hauptstadt, dazwischen Foto- und Modeateliers, Geschäfte für Galanterie- und Kurzwaren, Koffer, Pelze und englische Stoffe, Karlsbader Porzellan und böhmisches Kristall. 64 In den Kaffeehäusern und Delikatessenläden wurde kurgemäßer Prager Schinken verkauft, feine Oblaten, Gänseleber, geräucherter Aal und lokale Spezialitäten

wie unreife Hühnereier, Karlsbader Pflaumen, Radetzkys, ein in Marienbad beliebtes Gebäck, und Brunnenkuchen, ein die Kur erleichternder Honigkuchen ohne Gewürz. 6 5 Es war ein Schlaraffenland, in dem das Urlaubsgefühl den Eindruck vermittelte, die Brezeln wären knackiger, der Kaffee besser und selbst die diätetische Küche schmackhaft.

Bevor Elsa und Max Brod im August 1916 nach Marienbad fuhren, schickte Franz Kafka ihnen den Führer in die Umgebung von Marienbad, den er und Feiice Bauer wenige Monate zuvor benutzt hatten. Auf die Außen- und Innenseite des Einbanddeckels notierte er die wichtigsten Informationen für den Aufenthalt der Brods in Marienbad: „Natürlich nur nach Marienbad fahren! I m Dianahof frühstücken (süße Milch, Eier, H o n i g , B u t t e r ) , schnell ins Maxtal gabelfrühstücken (saure Milch) schnell im N e p t u n beim Oberkellner Müller Mittagessen, zum Obsthändler O b s t essen, flüchtig schlafen, im D i a n a h o f Milch im Teller essen (vorher bestellen!) schnell ins Maxtal sauere Milch trinken, zum N e p t u n nachtmahlen, dann sich in den Stadtpark setzen und sein Geld nachzählen, zum K o n d i t o r gehn, dann mir ein paar Zeilen schreiben und soviel in einer N a c h t schlafen, als ich in den 21 N ä c h ten zusammen. Das alles läßt sich bei Regen fast noch besser machen, als bei schönem Wetter, da dann die Spaziergänge nicht stören."

Besonders empfehlenswert bei Neptun waren seiner Meinung nach „Gemüseomelette, Emmentaler, Kaiserfleisch, Portion Roheier mit Portion grüne Erbsen", besonders billiges Obst gab es hingegen „am Eingang der Judengasse". 6 6 Als Hilfe im Dschungel des Marienbader Angebots gedacht, gerieLBI, Lalla Kaden (nee Bondi), Akt, 166. Die ersten Filialen der Wiener Werkstätte von Josef Hoffmann und Kolo Moser wurden 1909 in Karlsbad und 1917 in Marienbad eröffnet. Wiener Werkstätte; Palmer, Life, 127; Werbeanzeigen in Feller's Carlsbader Omnibus u. Ganz Carlsbad für 30 kr. 6 5 Henisch, Tanz, 2 1 6 - 2 1 8 ; Spitzer, Hereinspaziert, 84; Baedecker, Osterreich, 303. « Brief an Elsa u. Max Brod, vor dem 22.8.1916, Kafka, Briefe, 2 0 9 - 2 1 0 . 43

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ten die Ratschläge Kafkas ein wenig atemlos. Auch während seines eigenen Aufenthaltes hatte er Feiice Bauer brieflich seinen täglichen Speisezettel berichtet, der in etwa den Empfehlungen an die Brods entsprach und sich, wie er schrieb, „in grotesken F o r m e n täglich" wiederholte. 6 War die Fülle tatsächlich so groß und konnte nur in Eile konsumiert werden? Es ist anzunehmen, dass das Essen in Marienbad verglichen mit den häufig recht einfachen Gerichten des bürgerlichen Alltags wirklich interessanter ausfiel. 6 8 Kafkas hastige Ratschläge beschreiben darüber hinaus aber auch die Menge an Zeit und Entscheidungsfreiheiten, die den Urlaubstag in dem kleinen Kurort von einem Bürotag voller Verpflichtungen unterschieden. Als Gegenwelten moderner Großstadtkulturen und untrennbarer Teil derselben propagierten Kurorte nicht nur einen Urbanen, bürgerlichen Lebensstil, sondern verkörperten gleichzeitig Eldorados von Möglichkeitsund Identifikationsangeboten. Fiel die Wahl auf einen Badeort in Westböhmen, reflektierte sie, neben finanziellen und medizinischen Gründen, auch einen Wunsch an den O r t des temporären Aufenthalts. D i e Inszenierung der Kurstadt musste die Ansprüche ihres Publikums antizipieren und den nervösen, abgespannten Großstädtern eine behütete Insel vertrauter, urbaner Ästhetik anbieten. Abseits von politischen und sozialen Konflikten, von Büroalltag und Haushaltsführung wurden einer kosmopolitischen Kurgesellschaft bürgerliche Freizeitvergnügen geboten, die egal ob an der Nordsee, in Karlsbad oder in Davos nach den gleichen sozialen und ästhetischen Regeln abliefen: „Es war jetzt städtisches T r o t t o i r , auf d e m sie gingen - die H a u p t s t r a ß e eines internationalen T r e f f p u n k t e s , das sah m a n wohl. Flanierende K u r g ä s t e begegneten ihnen, junge L e u t e z u m e i s t , Kavaliere in S p o r t a n z ü g e n und o h n e H u t , D a m e n , ebenfalls o h n e H u t und in weißen R ö c k e n . M a n h ö r t e Russisch und Englisch sprechen. L ä d e n mit s c h m u c k e n Schaufenstern reihten sich r e c h t s und links, und H a n s C a s t o r p , dessen N e u g i e r heftig mit seiner Müdigkeit k ä m p f t e , zwang seine A u g e n , zu sehen, und verweilte lange v o r einem H e r r e n m o d e n g e s c h ä f t , u m festzustellen, daß die Auslage durchaus auf der H ö h e s e i . " 6 9

T r o t z oder gerade in Folge der Internationalität, die in der Ästhetik der westböhmischen K o s m o p o l e n zelebriert wurde, bestand ein individuelles Bedürfnis der Kurgäste nach vertrauten Räumen und Rückzugsorten kulturellen und religiösen Charakters. D i e Vielfalt der Angebote, die an das Kurpublikum gemacht wurden, reflektiert die Pluralität dieser temporären G e sellschaft. So gab es in Karlsbad nicht nur zwei katholische Kirchen, sondern auch eine protestantische, eine anglikanische und eine russische. D e r

67 68 69

Brief an Feiice Bauer, 20./21.7.1916, Kafka, Briefe, 184-185. Landau, Kindheitserinnerungen, 125, zitiert nach Kaplan, Bürgertum, 176. Mann, Zauberberg, 104.

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Wiener Kabarettist Armin Berg, der immer wieder während des Sommers in Karlsbad auftrat, karikierte diese Situation in einem Sketch, der bald als beliebter Witz unter einem Teil der Kurgäste die Runde machte: „Wie alljährlich, war ich auch heuer im Sommer wieder in Karlsbad. Ich kann Ihnen nur das eine sagen, ich bin von diesem Kurort entzückt. Wie Ihnen nicht unbekannt sein dürfte, hat Karlsbad eine Kirche für die Katholiken, eine russische Kirche für die Russen und eine Synagoge für die Kurgäste." 70 Und tatsächlich manifestierten sich die Präsenz der großen Gruppe der jüdischen Kurgäste ebenso wie ihre Heterogenität in den westböhmischen Bädern in einer Fülle unterschiedlichster Institutionen, Einrichtungen und Veranstaltungen. Wer zum Ende des 19. Jahrhunderts nach Karlsbad, Marienbad oder Franzensbad auf Kur reiste, hatte, abgesehen von persönlichen Kontakten und Empfehlungen, verschiedene Möglichkeiten sich im Vorhinein oder vor Ort über die lokale jüdische Infrastruktur zu informieren. Hilfreich waren zum Anfang die Kalender für Israeliten, die ab dem Jahr 1895/1896 auch einen Führer durch die israelitischen Kultusgemeinden in Österreich-Ungarn anboten und alle offiziellen jüdischen Institutionen verzeichneten. 71 Weitaus besser funktionierten aber die Netzwerke jüdischer Zeitungen, die nicht selten Korrespondenten in die böhmischen Bäder entsandten und darüber hinaus Werbeannoncen für jüdische Hotels und Pensionen abdruckten. Die Prager Selbstwehr fungierte seit ihrer Gründung 1907 außerdem als Plattform für lokale zionistische Vereine, während die Vereinszeitung der Loge B'nai B'rith Empfehlungen für Hotels gab, die von Brüdern geführt wurden. 72 Auch in der allgemeinen Presse, besonders in Zeitungen mit vielen jüdischen Lesern, wurden Annoncen von jüdischen Hotels und Pensionen abgedruckt. Hinweise auf Veranstaltungen, Gebetszeiten und Gottesdienste, die von auswärtigen, zur Kur im Ort befindlichen Rabbinern abgehalten wurden, fanden sich auch in der lokalen Badepresse und in den Kurlisten,73 Ein wirkliches Forum für jüdische Kurgäste in Karlsbad, Marienbad und Franzensbad entstand allerdings erst, als die Blütezeit der Bäder schon vorbei war. Die Jüdische Bäder- und Kurortezeitung·, die seit der Saison 1929 von der Brünner Jüdischen Volksstimme als saisonale Beilage herausgegeben wurde, war und blieb die einzige ihrer Art in Europa. Von Armin Wilkowitsch, dem Kantor in Eger, im Stil eines leichten Unterhaltungsblattes geführt, entwickelte sich die wöchentliche Zeitschrift zu einem Forum für jüdische Kurgäste und Einheimische, in dem nicht nur auf Veranstaltungen

70 71

"

Berg, Mann, 17. Kalender für Israeliten für das J a h r 5656 = 1895/96. S U A , B'nai B'rith.

7 3 So etwa Marienbader Kurliste 1867; Karlsbader Zeitung (1914) 1, 3; Karlsbader Eisenbahnzeitung 15 (1903) 2, 2; Karlsbader Saisonanzeiger 6 (1894) 1, 2.

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oder die im Ort weilende jüdische Kurprominenz hingewiesen wurde. Neben Gesellschaftsnachrichten aus den großen europäischen Kurbädern, Reiseberichten aus Palästina, Kurzgeschichten und chassidischen Erzählungen fanden sich vielerlei Reportagen über die jüdischen Orte Karlsbad, Marienbad und Franzensbad. Ausführliche Werbeanzeigen priesen nicht nur rituelle Hotels an, sondern Häuser aller Preisklassen, die von jüdischen Besitzern geführt wurden oder sich zahlreichen jüdischen Publikums erfreuten. Anders als noch vor zwanzig Jahren erschienen diese Anzeigen jetzt mit größerem Selbstbewusstsein und Selbstverständlichkeit: „Solide Bedienung! Streng orthodox! ItPD Restaurant M. Herzig ItTD, streng rituelle, kurgemäße und vegetarische Küche im Kurviertel. Karlsbad, Haus ,Korfu', Gartenzeile (zweites Haus neben der Hauptpost)." 7 4 Auch Hinweise auf Synagogen oder rituelle Bäder im Haus bildeten in der Jüdischen Bäder- und Kurortezeitung keine Ausnahme mehr. Für einen Reisenden, der bereits um die Jahrhundertwende fremd in den Ort kam und sich über dessen jüdische Infrastruktur informieren wollte, wäre fürs erste auch ein beliebiger Reiseführer ausreichend gewesen. Wenn deren Informationsangebot auch sehr eklektisch war, so boten sie doch in den meisten Fällen alle notwendigen Informationen über Gottesdienste, Gemeindeeinrichtungen und Spitäler an und empfahlen eine Auswahl rituell geführter Restaurants und Hotels. In einem Rathgeber und Wegweiser für Curgäste, der 1900 in Marienbad erschien, beschrieben die Autoren in der Reihe der Repräsentationsbauten auch die Architektur der Marienbader Synagoge in allen Einzelheiten: 75 „ D a s G e b ä u d e ist eines der gelungensten Bauwerke, w o d u r c h unser C u r o r t in den l e t z t e n J a h r e n bereichert wurde u n d m a c h t v o n A u s s e n wie v o n I n n e n besehen einen ü b e r r a s c h e n d w o l t h u e n d e n E i n d r u c k . E s ist im m a u r i s c h - b y z a n t i n i s c h e n S t y le ausgeführt u n d enthält im P a r t e r r e 3 2 0 Sitze für H e r r e n und auf d e m E m p o r i u m 2 0 0 Sitze für F r a u e n . D i e E m p o r i e n sowie das D a c h des Mittelschiffes ruhen auf schlanken, g u s s e i s e r n e m Säulen, deren C a p i t o l e sehr geschmackvoll verziert sind. D e r E n t w u r f , sowie die Detailpläne der A u s f ü h r u n g , der inneren A u s s c h m ü c k u n g des G a n z e n , sowie die i m p o n i e r e n d s c h ö n e Bundeslade sind das W e r k des Ingenieurs und B a u m e i s t e r s E d u a r d Stern, H a u s b e s i t z e r in M a r i e n b a d . " 7 6

Die Synagoge war auf einem Grund an der Kaiserstraße, der Hauptstraße des Kurorts, errichtet und während der Kursaison 1884 von Rabbiner Löwenstein aus Lemberg eingeweiht worden, einem Kurgast und Förderer des Projekts. 7 7 Wie die Zeitschrift Jeschurun anlässlich der Einweihung am 14. Jüdische Bäder- und Kurortezeitung 1 (1929) 24, 13. Von der Marienbader Synagoge, die im November 1938 zerstört wurde, sind nur Außenansichten erhalten. 76 Lucca/Lang, Orientierung, 72-73. 77 Steiner, Geschichte, 396. 74

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August berichtete, war die Synagoge samt zugehöriger Mikveh auf Wunsch des wachsenden jüdischen Kurpublikums gebaut worden: „Die Zahl der jüdischen Kurgäste mehrte sich immer mehr, und zwar Derjenigen, die es schmerzlich empfinden, während ihres hiesigen Aufenthalts des gewohnten gemeinsamen Gebets an einer angemessen würdigen Stätte entbehren zu sollen." 78 Nachträglich wurde gegen Ende des Jahrhunderts eine Orgel eingebaut, ein gemischter Chor gegründet und die Reformsynagoge von nun an als Marienbader Tempel bezeichnet.79 Auch die Karlsbader Synagoge, die etwas früher, von 1875 bis 1877 erbaut worden war, wurde bald nach ihrer Einweihung als Orgelsynagoge mit Chor geführt.80 Der orientalisierende Kuppelbau im maurisch-romanischen Stil befand sich in der Parkstraße, einer kleinen Seitenstraße direkt hinter dem Kurhaus.81 Da der Tempel in einer Nische der bereits eng bebauten Straße errichtet wurde und seine Grundfläche auf 800 Quadratmeter begrenzt war, baute der Architekt in die Höhe. 82 So entstand einer der größten Synagogenbauten Böhmens.83 Den besten Eindruck vom „Meisterwerk" des Baus, so erklärte ein einheimischer Kunsthistoriker, vermittelte erst ein Blick ins Innere: Der hohe Raum wurde von grauen Marmorsäulen getragen. Hinter dem vergoldeten Aron Hakodesh befand sich eine riesige Orgel und Platz für den Chor. Die Frauengalerien im ersten Stock wurden von intarsienverzierten Holzsäulen und -bögen geschmückt. „Im Verein mit der bunten Bemalung der Decken und der Farbwirkung der wechselnd ornamental verglasten Fenster an der Stirnwand und den Seitenwänden ergibt sich eine durch Formen und Farben berückende, fremdfeierliche Stimmung des Tempelraumes."84 Etwa zur gleichen Zeit wie in Karlsbad wurde auch in Franzensbad eine Synagoge errichtet - kleiner, zurückhaltender und häufig mit dem, zwanzig Jahre später errichteten, ausladenden Kuppelbau des Kaiser Franz Josef Jubiläumshospitals für arme Israeliten verwechselt.85 Die auffallende Größe und

Jeschurun 17 (1884) 34, 539. Cernoch, History. Die Reformbewegung bevorzugte die programmatische Bezeichnung Tempel, um zum Ausdruck zu bringen, dass das Zentrum der jüdischen Welt nicht Jerusalem sondern beispielsweise Marienbad war. 80 Wilkowitsch, Mode, 2. Vgl. eine Innenansicht der Karlsbader Synagoge: Israel Museum Photo Archives, Jerusalem, abgedruckt in: Carlsbad. 81 Uber den Architekten gibt es sich widersprechende Angaben: Der Bau wird sowohl Adolf Wolff aus Stuttgart als auch Edwin Oppler aus Hannover zugesprochen. Kokkelick/Lemke-Kokkelick, Baukunst, 545-555; Linke, Kunstgeschichte, 13. 82 Gnirs, Topographie, 58. 83 Die Encyclopaedia Judaica spricht von zweitausend Sitzplätzen - eine Angabe, die sich in Ermangelung von Baudokumenten nicht verifizieren lässt. Carlsbad. 84 Linke, Kunstgeschichte, 14. 85 Steiner, Geschichte, 396; Kisch, Marienbad, 252. 78

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zentrale Lage der Karlsbader, Marienbader und Franzensbader Synagogen lässt Rückschlüsse ziehen: auf die in ihrer Zahl und Zusammensetzung schwer greifbaren Sommergemeinden, deren Bedürfnissen die Bethäuser angepasst waren, auf die Wintergemeinden, die im Vergleich dazu verschwindend klein waren und die repräsentativen Sakralbauten nicht nutzten, und auf die große Zahl von Kurgästen und Einheimischen, die entweder überhaupt keine Synagogen besuchten oder ihren F u ß nicht in eine Orgelsynagoge setzten und sich stattdessen in den kleinen orthodoxen und chassidischen Betstuben der rituellen H o t e l s versammelten. In allen drei Kurorten entstand in der zweiten Hälfte des 19. J a h r h u n derts eine Vielzahl von H o t e l s , die unterschiedlichen Vorstellungen von jüdischem Leben entsprachen, von streng rituell geführten Häusern bis zu solchen, in denen es hauptsächlich um die jüdische Gesellschaft ging. Viele koschere H o t e l s lagen an zentralen Plätzen und Straßen und waren entsprechend teuer, während sich die einfachen Kurhäuser und ärmlichen H o t e l s für fromme Juden in kleinen Seitenstraßen und nahe zueinander befanden in Karlsbad rund um den Elisabethpark, in Franzensbad etwas außerhalb des Zentrums in Schiada. 8 6 Außergewöhnlich war die Institution der Marienbader Judengasse. „Es sind dort einige Häuser und Häuserchen zusammengedrängt", beschrieb Franz Kafka die kleine Straße gegenüber dem Tempel, „auf einer A n h ö h e , die eine Verbindung der Häuser, die einem Besitzer gehören, nur durch halb unterirdische Treppen und Gänge zuläßt. Die N a m e n der Häuser sind zum Verwechseln eingerichtet: Goldenes Schloß, Goldene Schüssel, Goldener Schlüssel manche haben zwei N a m e n , vorn einen und hinten einen andern, dann wieder heißt die Restauration anders als das zugehörige Haus, auf den ersten Anlauf k o m m t man also nicht durch. Später zeigt sich allerdings eine Ordnung, es ist eine kleine nach Ständen geordnete Gemeinde, eingefasst von 2 großen eleganten Gebäuden H o t e l National und F l o r i d a . " 8 7 O b w o h l die dicht aneinander gebauten H o t e l s und Kurhäuser, die die Rudolfund spätere Poststraße säumten, in K o m f o r t und Preis nicht miteinander zu vergleichen waren, wurden sie alle von frommen Juden für ein frommes Publikum geführt und verfügten über Betstuben, rituelle Bäder und glattkoschere K ü c h e n . 8 8 In den H o t e l s der Judengasse stiegen zumeist fromme Juden aus O s t e u r o p a ab, unter ihnen viele Chassidim und chassidische Rebbes, die ganze Etagen mieteten und mit ihren eigenen Schächtern und Küchenpersonal anreisten, da sie sich nicht auf das koschere Essen in den Restaurants verlie-

K o h n , Brief, 1; Lucca/Lang, Orientierung, 79. Brief an Max Brod vom 17. u. 18.7.1916, Kafka, Briefe, 177. 8 8 Die notwendige Infrastruktur - Versorgung mit koscherem Fleisch, Milch und Brot - war in Marienbad gegeben. Privatarchiv d. Verf., Brief von Ruth Shaingarten, 8.2.2003; Lucca/Lang, Orientierung, 79; Marienbad und Umgebung, 18. 86 87

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ßen. 89 Relativ isoliert und nach innen gewandt traf man hier beinahe ausschließlich fromme Juden an - und doch lag die Judengasse mitten im Ort, direkt oberhalb der Prachtstraße Marienbads. 90 Die Neuigkeiten, Ereignisse und Veranstaltungen dieser Parallelwelt drangen kaum an die allgemeine Öffentlichkeit, sondern wurden in den, der religiösen Kultur eigenen Praktiken, weitergegeben. Umgeben von einem Emv91 war die Judengasse für ihre Bewohner ein geschützter Raum und vertrauter Ort, besonders „am Freitagabend, wenn die unsichtbare Grenze ihre Wirkung entfaltete". 92

3. In einem großen Garten der Der offene und doch geschlossene

Moderne

Ort

B e t r a c h t e n wir K a r l s b a d v o m S t a n d p u n k t e eines K u r o r t e s , s o gelangen wir zu der U b e r z e u g u n g , dass K a r l s b a d eigentlich ein g r o s s e s H o s p i t a l i s t . . . Franz Zatloukal, Karlsbad und seine therapeutische Bedeutung, 1908 93

Im Jahr 1912 veröffentlichte der Marienbader Arzteverein einen ärztlichen Ratgeber für Kurgäste, dessen Absicht es war, dem Leser „die auf eigener Anschauung fußende, durch keinerlei Winkelzüge gegnerischer Reklame zu erschütternde Ueberzeugung zu verschaffen, daß Marienbad nicht etwa ein Modebadeort, sondern ein ernster Kurort allerersten Ranges ist und ihm zum verständnisvollen Gebrauch der Kurmittel ein verlässlicher Führer zu sein". 94 Der schmale Band umfasste neben einer populärwissenschaftlichen Einführung in die klimatischen, geographischen und hygienischen Gegebenheiten eine Abhandlung über die Marienbader Quellen, balneologischen Einrichtungen und deren Wirkung auf den Körper. Die Autoren wehrten sich gegen die weit verbreitete Ansicht, dass wirklich Kranke nach Karlsbad und Franzensbad fuhren, während Marienbad Anziehungspunkt war für, so der Wiener Humorist Daniel Spitzer boshaft, „Titular-Patienten, keine 89 Privatarchiv d. Verf., Brief von Ruth Shaingarten, 8.2.2003; Kisch, Erlebtes, 266. Auch Israel J. Singer beschreibt in seinen Romanen Rebbes und reiche Chassidim, die mit Dienstboten und Schächter nach Karlsbad reisen, um sich nicht „auf koscheres Fleisch und koschere Küche von fremder Hand verlassen" zu müssen: Singer, Josche Kalb, 134, u. idem, Brüder, 148. 90 Privatarchiv d. Verf., Brief von Ruth Shaingarten, 8.2.2003. 91 Emv (hebr.) - Schabbatgrenze. 92 Schlör, Stadt, 155; Cernoch, History. 93 Zatloukal, Karlsbad, 128. 94 Arztlicher Führer von Marienbad, 4.

In einem großen Garten der Moderne

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wirklichen geheimen Leberkranken, sondern höchstens Fettleibige Erster und Zweiter Klasse". 9 5 Die im Vorwort formulierte Absicht, das Gegenteil dessen zu beweisen, durchzieht als Demonstration ärztlicher Macht den ganzen Text. Zu Hunderten erschienen ähnliche Handbücher und Reiseführer seit der Mitte des 19. Jahrhunderts auch für Karlsbad und Franzensbad und vermitteln den Eindruck, als ob Baineologen keine andere Beschäftigung gehabt hätten, als populärwissenschaftliche Ratgeberliteratur zu verbreiten. Von Schauplätzen adeliger und großbürgerlicher Soziabilität entwickelten Kurbäder sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu Sehnsuchtsorten eines bürgerlichen Massenpublikums. 9 6 Innerhalb solcher internationaler Anziehungspunkte, die sich selbst als Weltkurorte begriffen und bewarben, schien es vordergründig auch weiterhin um den sozialen Charakter des Aufenthaltes, die Versicherung der eigenen Position und einige amüsante Sommerwochen ungestörten Luxus zu gehen. So erklärt Marion Kaplan die Vorliebe bürgerlich-jüdischer Frauen, auf Kur zu fahren, mit dem Wunsch, vielfältige Annehmlichkeiten zu genießen, ohne dabei ein schlechtes Gewissen zu haben: „Die Kur war die beliebteste Ferienart, da sie diejenigen, die eine Ausrede brauchten, mit einer solchen versorgte." Diese Ausrede, so Kaplan weiter, konnte ein langer Winter sein, eine schwere Geburt, eine überstandene Krankheit, selbst eine gelöste Verlobung. 9 7 Tatsächlich hatten Soziabilität und Amüsement, weit ab von der Enge des hinter sich gelassenen Alltags, einen wesentlichen Anteil an der positiven Erfahrung der Kur. Auf der anderen Seite waren es aber in vielen Fällen chronische, unheilbare oder lebensbedrohende Krankheiten, in deren Folge eine Kur in Böhmen verordnet wurde - Krankheiten, die weniger mystifiziert wurden als die weithin sichtbare Tuberkulose, aber häufig ebenso tödlich endeten wie diese: Diabetes, Herzkrankheiten, schwere Neurasthenie oder Hysterie. 9 8 D e r aufwendige architektonische Rahmen des Kurortes bemühte sich, die Ambivalenz des Nebeneinanders von Vergnügen und Krankheit auszugleichen und zu kontrollieren. Kam es vor, dass ein Patient während oder in Folge einer Behandlung schwer erkrankte, oder, was nicht selten passierte, daran starb, so brachte man ihn an die äußeren Ränder des Kurbezirks, wo sich außerhalb der Sichtweite der Kurgäste das Krankenhaus befand, oder noch weiter, zum städtischen Friedhof. D e r Feldzug, den die Ärzte mit Beginn der Blütezeit der westböhmischen Bäder gegen die Zuschreibung des Modebades führten, lässt allerdings darauf schließen, dass ihre Macht im Kurort nicht unbegrenzt war, und sie mögli-

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Spitzer, Hereinspaziert, 205; vgl. auch Julian, Marienbader Saison. Vgl. Steward, Spa Towns, 91. Kaplan, Bürgertum, 175; Sallis-Freudenthal, Land, 5 2 - 5 3 . Seegen, Handbuch, 3 4 8 - 3 4 9 ; Lucca/Lang, Orientierung, 1 1 8 - 1 2 4 .

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cherweise oft ungehört blieben - dass es sich schlussendlich also weder mit Eindeutigkeit so oder anders verhielt." „Das wichtigste Gebot beim Gebrauche der Marienbader Brunnen- und Badecur, so wie eigentlich bei jeder Cur lautet: Sei mässig! Ich kann dem Curgaste nicht genug dringend Mässigkeit im Essen und Trinken, in der Leibesbewegung und überhaupt in jedem Genüsse empfehlen." 1 0 0 Mit solchen und ähnlichen Warnungen vor einem Missbrauch der Kur, deren Kraft nicht zu unterschätzen wäre, wurden neue Kurgäste in Empfang genommen und mahnend immer wieder von neuem ihrer Rolle als Patienten erinnert. Bereits zu Hause wurden die lesenden Kurgäste in spe in den strengen Tagesablauf des Kurbades eingewiesen und aufgefordert, nach ihrer Ankunft im Kurort unverzüglich einen Arzt aufzusuchen und bis zu ihrer Abreise unter dessen Obhut und Kontrolle zu verbleiben. 101 Dieses Bemühen um Imagekorrektur wollte Kurbäder als medizinische Orte verstanden wissen, in denen jeder Schritt - von der Entscheidung für ein Hotelzimmer über den verbotenen Mittagsschlaf bis zur kurgemäßen Nahrungsaufnahme, Kleidung und Freizeitgestaltung - unter Aufsicht und in den strengen Zeitrhythmen der Ärzte abzulaufen hatte. Erstaunlicherweise hatte die auf diese Weise vollzogene Medikalisierung der Kurorte in Westböhmen großen Erfolg - was sich etwa daran zeigt, dass abendliches Amüsement nur in medizinischen Dosen angeboten und konsumiert wurde: Das Theater schloss wie alle anderen Abendunterhaltungen bereits um neun Uhr und Casinos, die besondere Attraktion der deutschen Kurorte, waren in allen Bädern der Habsburgermonarchie verboten. 1 0 2 Ein Beobachter, der sich zur Jahrhundertwende in Westböhmen aufhielt, erklärte, Karlsbad „is not supposed to be a pleasure resort. The object of all the visitors is at least ostensibly, the restoration of health that has broken down under the stress of society functions, or political life, overwork of study, or the cares and worries inseparable from the existence of the great financiers". 1 0 3 Der Umstand, dass sich außer den Kurgästen immer eine hohe Zahl begleitender Angehöriger, Passanten und von Luxus und Schaulust angezogener Touristen im Kurort aufhielt, relativiert diesen Eindruck allerdings und führt zu der bereits formulierten Ambivalenz zurück. In vielerlei Hinsicht offenbarte sich das idyllische Kurbad, der unbeschwerte Ort munterer Leichtigkeit, hinter den Kulissen als Ort biopoliti-

" D i e Interessen der Ä r z t e kollidierten häufig mit denen der U n t e r n e h m e r . K o s , A m ü s e ment, 220. 1 0 0 Kisch, U m g e b u n g , 183. 1 0 1 S o etwa Zatloukal, K a r l s b a d , 3 - 1 3 . 1 0 2 Brief an Friedrich Engels v o m 18.9.1874, M a r x / E n g e l s , Werke, B d . 3 3 , 116. I m S o m m e r 1895 wurde in M a r i e n b a d ein C a s i n o errichtet, das aber bald darauf v o n der k.k. Statthalterei Prag wieder geschlossen wurde. K i s c h , Erlebtes, 2 7 2 - 2 7 3 . 1 0 3 Palmer, Life, 127.

In einem großen G a r t e n der M o d e r n e

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scher Kontrolle, „einem riesigen ärztlichen Wartezimmer vergleichbar" 104 , indem vielfältige Interessen - wissenschaftliche, ökonomische, politische zusammenliefen und Kurgäste ebenso wie Arzte in dynamische Prozesse wechselseitiger Beeinflussung einbanden. Der ärztliche Ratgeber des Marienbader Arztevereins schloss seine mahnenden Aufforderungen an die Kurgäste auf jeden Fall mit einem leisen Bedauern: „Darin, daß die genaue Durchführung der Kurvorschriften dem Patienten selbst gänzlich anheim gegeben ist, scheint ein gewisser Nachteil der Behandlung im .offenen Kurort' zu liegen gegenüber der Kur in einem Sanatorium, wo der Patient stets unter Aufsicht lebt." 1 0 5 Professionalisierungsräume

jüdischer

Arzte

J a , ja, ich w e i ß w o h l , d a ß die V e r h ä l t n i s s e hier i m Vergleich z u vielen a n d e r e n O r t e n klein sind. A b e r hier ist L e b e n . H i e r t u n sich M ö g l i c h k e i t e n auf, eine U n zahl v o n D i n g e n , f ü r die m a n arbeiten u n d

kämpfen

k a n n , u n d d a s ist die H a u p t s a c h e . D r . S t o c k m a n n , Badearzt in H e n r i k Ibsen, Ein Volksfeind, 1 8 8 2 1 0 6

In seinen Memoiren erinnerte sich der alternde Baineologe Enoch Heinrich Kisch der Umstände einer der wichtigsten Entscheidungen in seinem Leben: „Professor Löschner, [...] der wohl wußte, daß ich eine wissenschaftliche Fortbildung anstrebte, aber sogleich auf materiellen Erwerb angewiesen war, riet mir, mich als Badearzt niederzulassen, denn als solcher könne ich während des Winters an den Kliniken und in den Laboratorien der Prager Universität arbeiten." 107 Nach seiner Promotion stellte sich dem 21-jährigen Mediziner, der aus einer nicht besonders wohlhabenden Prager jüdischen Familie stammte, die Frage nach einem lukrativen und zugleich wissenschaftlich interessanten Beruf. Als kurz darauf, im Jahr 1863, ein Badearzt in Marienbad gesucht wurde, nahm er die Stelle in der Hoffnung auf wissenschaftliche Attraktivität und ein gesichertes Einkommen an. In Marienbad angekommen monierte der junge Arzt die Dekadenz und Unseriosität der badeärztlichen Praxis ebenso wie die hygienischen Verhältnisse: Der Kurort wäre „in völliger Stagnation, ja in einem bedauerlichen Rückgange begriffen". 1 0 8 Noch im selben Jahr begann er, anfangs auf Basis von SelbstPrivatarchiv Gabriel K o h n e r , Walter K o h n e r , Karlsbad, 30. Arztlicher F ü h r e r von Marienbad, 3 8 - 3 9 . » » Ibsen, Volksfeind, 11. 1 0 7 E n o c h Heinrich K i s c h ( 1 8 4 1 - 1 9 1 8 ) . Kisch, Erlebtes, 215; D e u t s c h / K i s c h / S i n g e r , Kisch. 1 0 8 Kisch, Erlebtes, 2 1 5 - 2 1 7 , 2 2 5 - 2 9 6 . 104

105

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Be'era sehe! Mirjam

versuchen, später aus den Erfahrungen seiner Ordination, wissenschaftlich zu arbeiten und publizierte die Ergebnisse im Rahmen von regelmäßigen „Badeärztlichen Briefen" in der neu gegründeten Berliner klinischen Wochenschrift: Darin propagierte er eine Reform der Trink- und Badekur, die Einführung konsequenter, kurbegleitender Diäten und die Abschaffung personaler Inszenierungen der Badeärzte, wie die, seiner Meinung nach, lächerliche öffentliche „Brunnenordination" an den Quellen. 109 Während der Winter führte Kisch sein Studium an verschiedenen Universitäten weiter. Er begann die Allgemeine Balneologische Zeitung zu redigieren und, nachdem er sich habilitiert hatte, an der Prager Universität Balneologie zu unterrichten. 110 Im Lauf seiner über fünfzigjährigen Tätigkeit als Kurarzt in Marienbad hatte Enoch Heinrich Kisch etwa zweihundert wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Texte über Balneologie im Allgemeinen und die böhmischen Kurorte, allen voran Marienbad, im Besonderen veröffentlicht. 111 Sein Bemühen um den Erfolg des Kurortes richtete sich sowohl an Kollegen als auch an potentielle Patienten und beeinflusste den Aufschwung Marienbads nachhaltig. Ähnlich wie andernorts konnte sich die Modernisierung des Bades nur auf Basis einer breiten Popularisierung medizinischen Wissens vollziehen, die den mystischen Glauben an die Heilkraft der Brunnen durch den Glauben an eine scheinbar transparente, alles offen legende Wissenschaft abgelöst hatte. Die Autoren wurden nicht müde, zu betonen, dass der „Mangel exakter Kenntnisse" die Grundlage der zuvor aus Erfahrungswerten, „vagen Vorstellungen" und Glauben an „den Heilquellen innewohnenden Kräfte" zusammengestellten Kur war. 112 Mit größtmöglicher Transparenz wollten die Vertreter der neuen Wissenschaft, der „modernen Balneotherapie", von nun an Laien aufklären und schulen. 113 Dieser Textkorpus einer modernen und säkularisierten Kurerfahrung bediente sich erfolgreich alter Narrative, tauschte lediglich die Protagonisten aus und wandelte die Geschichten ein wenig ab: Jedes berühmte Bad hatte seine Gründungslegende - im Fall von Karlsbad war es etwa eine Geschichte über Kaiser Karl IV., der auf der Jagd einen Hirsch verfolgt und dabei eine heiße Quelle entdeckt haben soll. Solchen Legenden, die sich im Alltag des Kurortes folkloristisch konservierten, wurden jetzt andere, wissenschaftliche Neugründungsiegenden nachgestellt. 114 Die Geschichte des

10' 110 111

Kisch, Erlebtes, 2 3 5 - 2 4 0 . Kisch, Erlebtes, 118, 1 3 1 - 1 3 3 . Kisch, Erlebtes, 118, 2 9 7 - 3 0 4 . Er schrieb auch regelmäßig für das Karlsbader Fremden-

blatt. 112

Arztlicher Führer von Marienbad, 36.

113

Arztlicher Führer von Marienbad, 36.

114

Kos, Amüsement, 2 2 9 - 2 3 0 .

In einem großen Garten der Moderne

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Arztes, der das Kurbad im späten 18. Jahrhundert entdeckt, seine Quellen klassifiziert, analysiert und ihre Heilkraft bestätigt hatte, wurde zum G r ü n dungsnarrativ des modernen K u r o r t e s . 1 1 5 Die neuen Helden bekamen ihren Platz im Arrangement der Stadt und säumten Spazierwege an Stelle von Heiligen, Satyren oder N y m p h e n . In Marienbad erinnerten beinahe alle Denkmäler an Ärzte, die zur Entwicklung des Kurortes beigetragen hatten, im Besonderen an J o h a n n J o s e f N e h r , der als wissenschaftlicher Gründer des O r t e s galt und seinen Platz im Kreuzbrunnentempel hatte. N e b e n der Statue des Abtes Karl Kaspar Reitenberger, dem der O r t die ö k o n o m i s c h e Förderung durch das Stift verdankte, fand sich auch die Büste eines ehemaligen Kurgastes: Zwischen 1821 und 1823 hatte G o e t h e sich wiederholt in Marienbad aufgehalten, wo er sich unglücklich in die junge Ulrike von Levetzow verliebte. Diese Männer, denen Marienbad so zahlreiche Denkmäler setzte, waren nicht nur die neuen Helden des O r t e s , sondern auch Symbol und Ausdruck seiner Säkularisierung und Verwandlung. 1 1 6 D i e Einführung eines ärztlich kontrollierten Systems rund um die Brunnen war die Basis des Erfolgs der mitteleuropäischen Bäder, während der zeitgleiche Niedergang der englischen Bäder mit dem Ausbleiben ihrer M o dernisierung ursächlich in Zusammenhang gebracht werden k a n n . 1 1 7 In den westböhmischen Bädern wurde die Medikalisierung außerdem von politischen Veränderungen innerhalb der Donaumonarchie beschleunigt. Auf Grundlage des Sanitätsgesetzes von 1870 und einer Reihe von späteren Erlässen mussten Heilanstalten von nun an unter der Leitung von Ärzten stehen und nach wissenschaftlichen Grundsätzen geführt werden. 1 1 8 H i n t e r dieser Entscheidung standen wesentliche strukturelle und wissenschaftliche Veränderungen an der medizinischen Fakultät der Universität Wien. D o r t , wo ein G r o ß t e i l der in Karlsbad, Marienbad und Franzensbad tätigen Ärzte promoviert hatte oder noch immer tätig war, hatte sich die physikalische Medizin bis in die 1890er Jahre als eigenständiges Fach profiliert. Das neue Spezialgebiet war einerseits aus Randgebieten der Medizin entwickelt worden, die wie Hydrotherapie und Klimatologie als veraltet galten und keine Karrierechancen boten, andererseits aus modernen und innovativen Bereichen, wie der Elektro-, Licht-, Strahlen- und R ö n t g e n t h e r a p i e . 1 1 9 Einzelne D o z e n t e n hatten während der 1870er Jahre begonnen, die Balneologie und

115

Marienbad und seine Heilmittel, 3.

Buttlar, Landschaftsgarten, 1 3 4 - 1 3 5 , zitiert nach Fuhs, O r t e , 96. Bacon, Rise, 184, zitiert nach Steward, Spa Towns, 92. Vgl. zur Medikalisierung der französischen Badeorte Mackaman, Tactics. 1 1 8 Jahresbericht des Wiener Stadtphysikats über seine Amtstätigkeit, 1 8 9 1 - 9 3 und 1 8 9 7 - 9 9 , zitiert nach Krauss, Medizin, 2 8 - 2 9 . Vgl. auch Lesky, Schule. 1 1 9 Krauss, Medizin, 2 - 4 . 116

117

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Be'era schel Mirjam

andere Vorläuferfächer der physikalischen Medizin an der Universität zu etablieren. 120 Sie wurden von einer neuen Generation von Ärzten abgelöst, deren wissenschaftliche Arbeit das Fach nicht nur therapeutisch und theoretisch entwickelte, sondern auch institutionell verselbständigte. 121 Die eigentliche Entwicklung der physikalischen Medizin vollzog sich jedoch nicht innerhalb des universitären Rahmens, wo dem neuen Spezialfach lange Zeit kein Raum zugestanden wurde, sondern in privaten Sanatorien oder Kurorten. 122 Zahlreiche Mediziner der Wiener und Prager Universität praktizierten im Sommer als Kurärzte in Karlsbad, Marienbad und Franzensbad und machten die Kurorte zu großen Laboratorien medizinischer Moden und Innovationen. Längst nicht alle Badeärzte in den westböhmischen Kurorten hatten während der Wintersaison Stellen an der Wiener oder Prager Universität, doch unterhielten fast alle Kontakte zu medizinischen Gesellschaften oder universitären Einrichtungen. 123 Die jungen Arzte brachten aus der Großstadt neue Therapien und Anwendungen mit, die häufig nichts mit den lokalen Heilquellen zu tun hatten, und nahmen am Ende der Saison eine Vielzahl von Beobachtungs- und Erfahrungswerten nach Hause. Hinter den historistischen Fassaden der Badehäuser verbargen sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts längst nicht mehr nur die althergebrachten Moor-, Sprudel-, Eisen- und Sauerbrunnbäder. Jetzt befanden sich dort auch Stahl- und Kohlensäurebäder, Sauerstoffsprudel- und Fichtennadelbäder, Dampf- und Dampfkastenbäder, Gasbäder, elektrische Wasser-, Licht- und Vierzellenbäder, sowie sinusoidale Wechselstrombäder. Neben hydrotherapeutischen Anwendungen wurden Blaulicht-, Saug-, Staubund Heißluftbehandlungen sowie Röntgentherapien angeboten. Darüber hinaus gab es Radiuminhalatorien, Bullinginhalatorien und Gurgelhallen. Modernisierte Versionen von Heilgymnastik wurden im Medico-mechanischen Zander-Institut,

im Institut für physikalische Heilmethoden

und in or-

thopädischen Einrichtungen angeboten. Nicht zuletzt konnten Kurgäste in den westböhmischen Bädern Vibrations- und Pneumomassagen konsumieren und diätetische Einrichtungen besuchen. 124 Die Dozenten, die sich im Rahmen der Universität Wien an der Entwicklung der physikalischen Medizin beteiligten, waren, wie der Medizinhistoriker Wolfgang Krauss nachweist, zu 75 Prozent jüdischer Herkunft; diejenigen, die während der Sommermonate auch als Kurärzte oder Leiter von

Krauss, Medizin, 7 - 9 . Krauss, Medizin, 1 7 - 1 9 ; Teicher, Anteil, 22. 122 Krauss, Medizin, 19. 123 Vgl Fuhrmann, Jahrbuch. 124 Diem, Bäderbuch, 2 8 0 - 2 8 1 , 406-407, 435-436, 752; Rubritus, Kurstadt, 4, 4 4 - 5 0 ; Marienbad. Die Perle der böhmischen Weltbäder, 3 8 - 4 0 ; Marienbad und Umgebung, 37; Arztlicher Führer von Marienbad, 2 8 - 3 0 ; Marienbad und seine Heilmittel, 5; Herz, Sommertage, 42-44. 120 121

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45

physikalischen Instituten arbeiteten, waren es alle. 1 2 5 Obwohl es seit 1867 keine rechtliche Diskriminierung mehr für jüdische Wissenschaftler gab, hatte eine bestehende faktische Benachteiligung in etablierten Bereichen zur Folge, dass jüdische Mediziner in kleinere medizinische Fachgebiete ausweichen mussten. 1 2 6 Wilhelm Winternitz, einer der Begründer der modernen Hydrotherapie, beschrieb die Balneologie am Beginn seiner Karriere, um 1860, als unwissenschaftliches, dekadentes Fach, dem erst langsam wissenschaftliche Aufmerksamkeit zukam: „Sich mit Anwendungen des gemeinen Wassers zu Heilzwecken zu befassen, galt bei der Schulmedizin nicht als ebenbürtig", erklärte er in Anspielung auf seine jüdische Herkunft, wäre doch „die Wasserkur das Armenhaus der Medizin [...], in das nur jene sich flüchteten, die auf andere Weise ihr Fortkommen nicht zu finden wussten." 1 2 7 Der Umstand, dass das Fach als neu, innovativ und wissenschaftlich attraktiv galt, gleichzeitig aber auch ein lukratives Einkommen versprach, machte es besonders für jüdische Mediziner interessant, die in den allermeisten Fällen als Privatdozenten ohne oder gegen sehr geringe Bezahlung an den Universitäten arbeiteten. 1 2 8 Überdurchschnittlich lange, in vielen Fällen bis ins hohe Alter, verblieben jüdische Mediziner in der Position des Privatdozenten und damit in einer „Stellung, die eine einzigartige Kombination von akademischer Unterordnung und wirtschaftlicher Unsicherheit darstellte". 1 2 9 Andererseits, argumentiert Shulamit Volkov, brachte die Privatdozentur mehr Freiheit in der Wahl des Forschungsgebietes mit sich als eine Professur und ermöglichte es, sich in weitaus höherem Grad zu spezialisieren, „zu einer Zeit, als Spezialisierung in der Wissenschaft absolut notwendig und zu einer unerläßlichen Vorbedingung des Fortschritts wurde". 1 3 0 So scheint es, als hätten jüdische Mediziner ihre Diskriminierung in einen Vorteil zu verwandeln verstanden und wurden letztendlich „nicht aus dem System hinausgedrängt, sondern in seine Randgebiete hinein, welche sich oft als Brennpunkt wissenschaftlicher Forschung erwiesen". 1 3 1 Über

1 2 5 Von zwölf Dozenten der ersten Generation, die sich bis 1873 in Vorläuferfächern der physikalischen Medizin habilitierte, waren sieben jüdischer Herkunft. Alle Dozenten hingegen, die sich seit den 1870er Jahren in einem anderen Fach habilitierten, aber als Kurärzte oder Leiter von physikalischen Instituten arbeiteten, waren jüdischer Herkunft. Krauss, Medizin, 9.

Krauss, Medizin, 42; Efron, Medicine, 250. Winternitz, Hydrotherapie, 29. 1 2 8 Vgl. Beller, Vienna, 3 5 - 3 8 . 1 2 9 Volkov, Ursachen, 158. 1 3 0 Volkov, Ursachen, 158. 1 3 1 Volkov, Ursachen, 162. Wie Volkov in einer zehn Jahre später erschienen Revision ihres Artikels betont, ist es problematisch, die Diskriminierung jüdischer Wissenschaftler „als maßgebende [n] Faktor für ihre wissenschaftliche Kreativität" zu generalisieren. Volkov, Mandarine, 126

127

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Be'era schel M i r j a m

die Frage der einzelnen Karrieren hinaus beeinflusste dieser Umstand möglicherweise auch die Spezialisierungsfreudigkeit der Wiener Medizinischen Schule und die Entwicklung der physikalischen Medizin im Besonderen. 132 „Betrachtet man die Arbeitsbedingungen", schließt Wolfgang Krauss, „unter denen das F a c h der physikalischen Medizin entstand - außerhalb staatlich geförderter Institutionen, vor allem durch private Initiative - und zieht man die wissenschaftliche, aber auch ö k o n o m i s c h e Attraktivität, also die Möglichkeit sich wissenschaftlich zu betätigen wie wirtschaftlich unabhängig zu arbeiten, in Erwägung, wird man allerdings sagen können, daß der Impetus in der Entwicklung der physikalischen Medizin zwischen 1890 und 1914 eine seiner Erklärungen in der besonderen Situation der jüdischen D o z e n t e n f i n d e t . " 1 3 3

Der Vorwurf, die Spezialisierung der Medizin voranzutreiben und sie gleichzeitig zunehmend zu kommerzialisieren, war ein häufig formulierter antisemitischer Angriff auf jüdische Mediziner. 134 Für die Gegner der Spezialisierung war sie ein Ausdruck des fragmentierten Charakters modernen, Urbanen Lebens und einer neu definierten Beziehung zwischen Arzt und Patient. 135 Die „deutschen Ärzte", berichteten die Mitteilungen aus dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus, wurden nicht müde zu betonen, dass ihnen „sowohl das übertriebene Spezialistentum als auch der beherrschende Gelderwerbssinn vollkommen fremd" wären. 136 Sie riefen Patienten auf, sich nicht von jüdischen Ärzten behandeln zu lassen, und selbst wenn sie ihren Konkurrenten einen Anteil an der positiven Modernisierung der Medizin zugestanden, erklärten sie diesen Umstand immer mit Hinweisen auf deren kommerzielle Interessen. 137 Von den Medizinern, die um die Jahrhundertwende in Karlsbad, Marienbad und Franzensbad praktizierten, war einerseits ein großer Teil jüdischer Herkunft, andererseits befanden sich unter ihnen zahlreiche Dozenten für physikalische Medizin. Selbst Spezialisten aus anderen Bereichen nutzten die Möglichkeiten, die ihnen ein Kurort für ihre Forschung bot. Gustav Gärtner, Samuel von Bäsch, Marcus Abeles, Julius Schütz und Rudolf Kolisch waren nur einige der zahlreichen Mediziner, die an der Entwicklung

12. I m spezifischen Fall der physikalischen M e d i z i n an der Wiener Universität behält ihr ursprüngliches A r g u m e n t aber durchaus seine A u s s a g e k r a f t . , u K r a u s s , M e d i z i n , 3. 1 3 3 K r a u s s , M e d i z i n , 48. 1 3 4 S o etwa T h e o d o r Fritsch, H a n d b u c h der J u d e n f r a g e , H a m b u r g 1919, zitiert nach E f r o n , Medicine, 2 4 7 - 2 4 8 . F r i t z Ringer z u f o l g e war die Tendenz, Innovation zu marginalisieren im d e u t s c h e n - und vermutlich e b e n s o im österreichischen - U n i v e r s i t ä t s s y s t e m weit verbreitet. F r i t z Ringer, T h e D e c l i n e of the G e r m a n Mandarins, nach A s h , Innovation, 245. 1 3 5 E f r o n , Medicine, 251. 1 3 6 D e r Beruf des A r z t e s , 337. 1 3 7 J ü d i s c h e Ä r z t e , 338.

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der physikalischen Medizin oder anderen Spezialfächern beteiligt waren und sich ihren Lebensunterhalt in Westböhmen verdienten. 1 3 8 Hier, wo ein großer Teil ihrer potentiellen Klientel jüdischen Kreisen aus Berlin, Wien oder Prag angehörte, standen die Karrierechancen für junge Mediziner jüdischer Herkunft nicht schlecht, und so mancher von ihnen betreute in seiner Ordination bald nahezu ausschließlich jüdische Patienten. 1 3 9 Auch der Neurologe Max Löwy arbeitete trotz seiner vielfältigen wissenschaftlichen Tätigkeiten über 37 Jahre lang als Kurarzt in Marienbad. Sein Name findet sich in Fuhrmanns Aerztlichem Jahrbuch für Osterreich aus dem Jahr 1916 mit folgendem Eintrag in der Rubrik der Marienbader Badeärzte: „Löwy Max, BadeA. u. GerPsych., pr. 1900 Prag (d.), n.a. ObA., SL., gew. Ass. d. Prag deutsch. Psych. Klinik, Spez. f. inn. Med., Nervenkr. u. Psych., VertrA. d. Anker u. d. Viktoria, Mitgl. d. deutsch. Ver. f. Psych., Ver. Deutsch. Nervenärzte. ,Lotos' in Prag (Winter: Helouan bei Cairo, Villa Bonavia), Tel. 132 (7-10, 3 - 6 ) - ,Neu-Klinger'." 1 4 0 Neben zahlreichen Mitgliedschaften in medizinischen Gesellschaften war Löwy von 1902 bis 1909 Assistenzprofessor an der Prager Universität gewesen, hatte sich aber in Ermangelung realistischer Karrierechancen für Marienbad entschieden, wo er bis 1939 lebte. 1 4 1 Wie viele jüdische Arzte lebten und arbeiteten nun aber tatsächlich in den westböhmischen Bädern? Auf Basis der vorhandenen Quellen ist es beinahe unmöglich, darüber genaue Angaben zu machen, zumal besonders unter den Medizinern sehr viele zum Christentum konvertierten. 1 4 2 Allerdings lässt der Umstand, dass von 78 Ärzten, die 1937 in Marienbad praktizierten, sich 1939 nur mehr 35 im Ort aufhielten, einige Spekulationen zu: Sechs von den 43 Ärzten, die den Ort verlassen hatten, waren Tschechen gewesen, von den übrigen 37 ist anzunehmen, dass sie jüdischer Herkunft waren. 1 4 3 Auch die Biographie Enoch Heinrich Kischs, des eingangs zitierten langjährigen Marienbader Kurarztes, passt in das typische Schema einer jü-

1 3 8 Gustav Gärtner ( 1 8 5 5 - 1 9 3 7 ) , Samuel von Bäsch ( 1 8 3 7 - 1 9 0 5 ) und Julius Schütz ( 1 8 7 6 - 1 9 2 3 ) in Marienbad, Marcus Abeles ( 1 8 3 7 - 1 8 9 4 ) und Rudolf Kolisch (1867-?) in Karlsbad. Krauss, Medizin, 3 6 - 3 7 , 5 9 - 6 1 ; Singer/Haneman, Rudolf Kolisch. 1 3 9 Privatarchiv Gabriel Kohner, Walter Kohner, Karlsbad, 1. 140 141

Fuhrmann, Jahrbuch, 402. Max Löwy ( 1 8 7 5 - 1 9 4 8 ) war von 1 9 4 2 - 4 5 im K Z Theresienstadt inhaftiert, das er über-

lebte. 142 Angaben, die von 5 6 % jüdischen Ärzten in Karlsbad sprechen (Schönbach, Aufstieg) sind unzuverlässig, da sie einer nationalsozialistischen Quelle entnommen sind. (Deutsche Tageszeitung vom 20. November 1938.) Vgl. auch die polemische Kolumne „Getaufte Jüdische Kurärzte" in der zionistischen Prager Zeitschrift Selbstwehr, in der hauptsächlich Kurärzte in Karlsbad, Marienbad und Franzensbad erwähnt werden. Selbstwehr 4 (1910) 25, 5. 1 4 3 Beilage zur Marienbader Kurliste für die Saison 1 9 3 7 / 1 9 3 8 / 1 9 3 9 .

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dischen Balneologenkarriere. Trotz seines nicht unbeachtlichen wissenschaftlichen und kommerziellen Erfolgs - bis 1938 stand auch sein Denkmal entlang eines Marienbader Spazierwegs - und trotz nachdrücklicher Unterstützung durch seine Professoren, arbeitete er über 37 Jahre als Privatdozent an der Prager Universität. Erst im hohen Alter wurde er zum außerordentlichen Professor ernannt. 144 In seinen Memoiren reflektiert Kisch die Verflechtung seiner Karriere mit der Entwicklung der physikalischen Medizin aufmerksam: „Und freudigen Herzens sehe ich nach Dezennien den idealen Wunsch meiner Jünglingsjahre erfüllt, daß die Balneologie als szientistisches Fach von fortschrittlicher Entwicklung anerkannt, als Lehrgegenstand allgemein an den Universitäten zugelassen, und daß der an den Heilquellen wirkende Arzt nicht geringer als sein Kollega in der Stadt wissenschaftlich und beruflich eingeschätzt wird." 1 4 5 N u r am Rand erwähnt er hingegen, wie zentral seine Rolle bei der Entwicklung und Erhaltung jüdischer Netzwerke in Mareinbad war - als einer der wichtigsten Initiatoren des Marienbader Israelitischen Spitals, dem er nicht nur bis ins hohe Alter vorstand, sondern das er auch täglich als Kurarzt betreute. 1 4 6 Dennoch verachtete Kisch, dessen Vater Joseph die erste moderne Privatschule im Prager jüdischen Viertel gegründet hatte, die Orthodoxie und trat vor allem aus Treue zu seiner Familie nicht zum Christentum über. 1 4 7 Seine Überzeugung war die durchwegs humanistische eines Arztes und entsprach vermutlich in groben Zügen dem, was sein Wiener Kollege Johann Schnitzler, Laryngologe wie sein Sohn Arthur, formuliert hatte: „ D i e Religion des A r z t e s ist die H u m a n i t ä t , d. h. die L i e b e z u r M e n s c h h e i t , o h n e R ü c k s i c h t auf R e i c h t u m u n d A r m u t h , o h n e U n t e r s c h i e d der N a t i o n a l i t ä t u. der K o n f e s s i o n . E r soll u. m u s s daher i m m e r u. überall, w o K a m p f der K l a s s e n u. R a s sen, w o nationaler C h a u v i n i s m u s u. religiöser F a n a t i s m u s herrschen, als A p o s t e l der H u m a n i t ä t f ü r V ö l k e r f r i e d e n u. M e n s c h e n v e r b r ü d e r u n g eintreten u. wirken. Wer nicht s o denkt, nicht s o fühlt, ist kein wahrer, echter A r z t . " 1 4 8

Kisch, Erlebtes, 132-133. Kisch, Erlebtes, 62. 146 Ausweis über die Einnahmen und Ausgaben des Marienbader israel. Spitals 1889. 147 Sein jüngerer Bruder Alexander war Oberrabbiner in der Prager Meiselsynagoge. Kisch, Erlebtes, 16-17. 148 Johann Schnitzler, 10.12.1884, anlässlich seiner Ernennung zum Direktor der Allgemeinen Poliklinik, zitiert nach Schnitzler, Briefe, 717. 144

145

49

In einem großen G a r t e n der M o d e r n e

Laboratorien ethnischer Images T h i r t y - f i v e y e a r s ago, w h e n I w a s a b o y in Berlin, t h e s a y i n g w a s c o m m o n a m o n g t h e J e w s t h e r e t h a t if a G e n t i l e is t h i r s t y , h e g e t s d r u n k a n d b e a t s u p h i s w i f e , b u t if a J e w is t h i r s t y , h e w o u l d d i a g n o s e h i s t h i r s t as a symptom

of

imminent

diabetes

and

would

go

to

C a r l s b a d t o take t h e w a t e r s and regain his health . . . G e r a l d M e y e r , Strudel, Sprudel & C h a s s i d i m ' 4 9

„ ... man ist durstig, trinkt viel, ohne den Durst zu löschen, ist hungrig, ißt viel, ohne den Hunger befriedigen zu können, magert dabei stets ab und geht zugrunde." 150 Anschaulich beschrieb der praktische Arzt Martin Engländer die Symptome des Diabetes mellitus anlässlich eines Vortrags, den er 1902 vor Mitgliedern des Wiener Verbandes Zion hielt. Die Stoffwechselerkrankung spielte eine zentrale Rolle in den medizinischen Debatten der Jahrhundertwende, war sie doch weit verbreitet, ihre Ätiologie gänzlich unbekannt und endete nicht selten tödlich. „It is considered to be a disease of the wealthier classes, and is more common in cities than in the country", erklärten die amerikanischen Mediziner Maurice Fishberg und Joseph Jacobs. „Persons of a nervous temperament are very often affected, and it is not uncommon to find a history of insanity, consumption, and gout among the relatives of diabetics." 151 Da die Krankheit als unheilbar galt, verordneten Arzte Bewegung in der frischen Luft und schickten ihre Patienten zur Trinkkur nach Karlsbad - selbst dann noch, als man in den 20er Jahren begann, erfolgreich Insulinpräparate einzusetzen. 152 Sowohl im populären Empfinden als auch im ärztlichen Verständnis spielten einzelne Kurbäder eine wichtige Rolle in der Diabetesbehandlung: Karlsbad galt auf Grund der Zusammensetzung seiner Quellen neben Bad Neuenahr als beste Kur bei schwerer Diabetes, während die Marienbader Terrainkur eher bei leichter Diabetes und Fettleibigkeit empfohlen wurde. 153 Die besondere Identifikation Karlsbads mit der Stoffwechselkrankheit beruhte allerdings nicht nur auf den durchaus umstrittenen Behandlungserfolgen. Von Karlsbad war um 1850 die wissenschaftliche Empfehlung ausgegangen, Diabetes mit einer Trinkkur zu behandeln. 154 Leopold LBI, G e r a l d M e y e r , Sprudel, 1. Engländer, Krankheitserscheinungen, 34. 151 Jacobs/Fishberg, Diabetes. 1 5 2 N o c h Ende der 30er Jahre w u r d e vielerorts die Behandlung durch T r i n k k u r e n der Insulinbehandlung vorgezogen. J u r e c k y , Diabetesbehandlung. 153 Lucca/Lang, Orientierung, 1 1 8 - 1 1 9 ; Lüthje, Behandlung, 3 8 - 3 9 . 1 5 4 Lüthje, Behandlung, 3 7 - 3 8 . 149

150

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Fleckles war einer der ersten gewesen, der die Wirkung einer Trinkkur auf Diabetiker systematisch beobachtet hatte. Die Krankheit wurde seiner Meinung nach häufig durch Sorge, Kummer, Trauer oder Furcht ausgelöst, war aber keineswegs von nationalen oder hereditären Umständen beeinflusst. 1 5 5 Die Quellen, so Fleckles, brachten den Kranken keine Heilung, milderten aber den qualvollen Hunger und Durst. Weitaus größere Wichtigkeit maß er einer konsequent geführten Diät zu. 1 5 6 Kurz darauf diagnostizierte einer von Fleckles Karlsbader Kollegen, Josef Seegen, Doyen der Wiener Balneologie, eine zwar nicht bleibende, aber durchaus günstige Wirkung der heißen Quellen des Ortes auf die Krankheit. 1 5 7 Der Umstand, dass Karlsbad und Marienbad sich in Folge dieser Empfehlungen zu Anziehungspunkten für Diabetiker entwickelt hätten, würde aber nicht zwingend für den positiven Effekt der Quellen sprechen, erklärte Hugo Lüthje 1914 im Rückblick auf mehr als fünfzig Jahre Diabetesforschung. Anlässlich einer Vortragsreihe über Balneologie, die in Karlsbad veranstaltet wurde, sprach sich der Mediziner aus Kiel besonders für eine strenge Diät und die überwachende und erzieherische Wirkung der Kur aus. Diese Voraussetzungen waren seiner Ansicht nach nicht in allen Kurorten in dem Ausmaß gegeben wie in Karlsbad, da die diätetische Ernährung teuer und aufwendig war: „Es muß strenge Überwachung der Diät und strenge Kontrolle der Zuckerausscheidung stattfinden, kurz die Kurorte sollten den Patienten die gleiche Überwachung und Schulung angedeihen lassen, wie sie sie in guten Sanatorien und Kliniken finden." 1 5 8 Unter besonderer Berücksichtigung der nervösen Komponente der Krankheit betonte Lüthje die Wichtigkeit der „relativen Ruhe und Sorglosigkeit des Lebens in Kurorten" ebenso wie des „inneren Gleichgewichts, der Ruhe der Seele und der Regelmäßigkeit der Tageseinteilung für den Verlauf und die Intensität der diabetischen Störung". 1 5 9 Unter solchen idealen Voraussetzungen könnte auch der Missstand behoben werden, dass zahlreiche Untersuchungen über Diabetes nach wie vor nicht den nötigen wissenschaftlichen Anforderungen entsprachen. Orte wie Karlsbad könnten dann „sicherlich dazu beitragen, die wissenschaftliche Bereicherung der Diabetesforschungen wesentlich zu vergrößern angesichts des bedeutenden Diabetesmaterials, das hier zusammenkommt, und angesichts der großen Anzahl von mit wissenschaftlichen Arbeiten vertrauten Ärzten". 1 6 0 Die ungenauen und unzuverlässigen Forschungsergebnisse, auf die Lüthje sich bezog, hatten ih-

155 156 157 158 159

Fleckles, Diabetes, 2 2 - 2 3 . Fleckles, Diabetes, 29. Seegen, Handbuch, 3 6 4 - 3 6 5 . Lüthje, Behandlung, 51. Lüthje, Behandlung, 48. Lüthje, Behandlung, 36, 57.

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ren Ursprung nicht selten gerade in Karlsbad. Denn für die nur sommers anwesenden Wissenschaftler war der Kurort ein großes Laboratorium, indem ihnen eine nahezu unbegrenzte Menge an Krankengeschichten zur Verfügung stand - ein Umstand, der über Jahre hin einen intensiven Diskurs über vermeintlich innovative Forschungsergebnisse aufrechterhielt. Als Josef Seegen im Jahr 1870 sein Buch Der Diabetes Mellitus auf Grundlage zahlreicher Beobachtungen veröffentlichte, wurde es, ungeachtet dessen, dass es sich um ein medizinisches Fachbuch handelte, in Karlsbader Reiseführern und Kurzeitungen beworben, und seine Lektüre anwesenden Ärzten ebenso wie Patienten ans Herz gelegt. 161 Josef Seegen galt, nachdem er 1854 die zweite Habilitation für Balneologie an der Wiener Universität geschrieben hatte, als einer der ersten Fachärzte für moderne Balneologie. In der Art der typischen Karriere eines jüdischen Spezialisten unterrichtete er während des Winters an der Universität Wien das Fach Heilquellenlehre und ordinierte im Sommer über dreißig Jahre lang, von 1854 bis 1884, im Karlsbader Kurhaus Kanone auf der Alten Wiese.162 Seegen, dessen Spezialgebiet Stoffwechselerkrankungen waren, stellte auf Grundlage seiner langjährigen Untersuchungen in Karlsbad unter anderem fest, dass Diabetes besonders häufig unter jüdischen Patienten zu finden wäre: Er erklärte, dass „jüdische Patienten", die zwar nur zehn Prozent der Karlsbader Kurgäste ausmachten, ein Viertel der von ihm behandelten Diabetiker stellten, somit weitaus häufiger als „christliche Patienten" an dieser hartnäckigen Stoffwechselerkrankung, möglicherweise auch an einer Prädisposition, litten. Eine Erklärung für diesen Umstand sah Seegen in der schmerzhaften Erfahrung der jüdischen Geschichte, infolge derer Juden ein instabiles Nervensystem entwickelt hätten, was wiederum für eine psychologische Störung als Ursache der Krankheit sprach. 163 Mit seinen knappen Ausführungen, die im Übrigen nur einen verschwindend geringen Teil des Buches ausmachten, hatte Seegen den jüdischen Körper in den wissenschaftlichen Diskurs eingebracht, wo er im Verlauf langer Debatten über rassische, psychologische oder soziale Ätiologien verblieb. Mit den Jahren wurden ähnliche Prädispositionen zu Diabetes wie die der europäischen Juden auch Afroamerikanern und den Oberschichten in Indien und Ceylon zugesprochen. Im Zentrum der Auseinandersetzungen stand allerdings kontinuierlich das Judentum in Deutschland und im deutschsprachigen Raum, wo man bald begann, Diabetes mellitus in der Umgangssprache als jüdische Krankheit zu bezeichnen. 1 6 4 Trotz ihrer Intensität und Internationalität wurde die Diabetesdis-

161 S e e g e n , Diabetes; Werbeanzeigen in: Feller's Carlsbader Omnibus oder Ganz Carlsbad für 30 kr. 162 Krauss, Medizin, 9 - 1 0 ; Feller's Carlsbader O m n i b u s oder Ganz Carlsbad für 30 kr., 59. < " Seegen, Diabetes, 1 2 5 - 126. , M Jacobs/Fishberg, Diabetes; Becker, Nervosität, 7.

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kussion mit außergewöhnlicher Uniformität von jüdischen wie nichtjüdischen Wissenschaftlern geführt. 165 Von den vielfältigen Verflechtungen dieser Debatte, vom wachsenden Biologismus in der Medizin, der zunehmenden Andersheit des jüdischen Körpers, die damit begonnen hatte, ihn als außergewöhnlich gesund zu differenzieren, von den kulturellen, sozialen und psychologischen Erklärungsnöten der jüdischen Arzte, kann ich nur jene Ausschnitte erwähnen, die Licht auf die lokale Situation werfen. 166 Das Interesse setzt dort an, wo die Diskussion begonnen hatte und wohin sie immer wieder zurückführte: In den Kurorten konnten aufmerksame Patienten der Krankheit, die zuerst zum Rassenstigma, später zum Klassenstigma und Feindbild zionistischer Ärzte erklärt wurde, die offen geführte Debatte in medizinischen Fachzeitschriften verfolgen, die in den Lesesälen der Kursalons auflagen. 167 Die Diskussion über die vermeintlich jüdische Krankheit lief bereits mit großer Intensität, viele nichtjüdische aber auch eine Minorität jüdischer Arzte favorisierten die biologistische Erklärung, 168 als ein Kollege Josef Seegens sich zu Wort meldete. Arnold Pollatschek, Kurarzt und Chirurg in Karlsbad, 169 veröffentlichte zu Beginn des neuen Jahrhunderts einen Artikel in der Zeitschrift für klinische Medizin, der sich gegen die etablierte Theorie, dass Diabetes „unter den Juden besonders häufig vorkomme", richtete. 170 Trotz allem Respekt für die „von so bedeutenden Autoritäten vertretene Ansicht" beabsichtigte er, sie auf Grundlage seiner eigenen langjährigen Forschungen, deren abweichende Ergebnisse er nicht verschweigen wollte, umzustoßen: „Wie in jeder anderen Wissenschaft passirt es ja des Oefteren auch in der Medicin, dass Impressionen, wenn sie durch - wenn auch nicht einwandfreie - statistische Daten und manche andere U m s t ä n d e gestützt werden, sich allmählig zu feststehenden Anschauungen herausbilden und als solche bestehen, bis g e g e n t e i l i g e Studien und Beurtheilungen, mitunter auch nur Zufälligkeiten, diese D o g m e n erschüttern."

Efron, Medicine, 132. Ein guter Überblick über die Debatte in: ibid., 132-142. Efron, Medicine, 106. 167 So etwa im Medizinischen Lesesaal in Karlsbad. Privatarchiv Gabriel Kohner, Walter Kohner, Karlsbad, 18; Beilage zur Marienbader Kurliste für die Saison 1906, 15-16. " 8 Unter Ersteren zum Beispiel Noorden, Diabetes, 1118, unter Letzteren Singer, Krankheitslehre. Vgl. Efron, Medicine, 135-136. Karlsbader Adress-Buch 1888, 83. 170 Alle Zitate von Pollatschek in: idem, Aetiologie, 478-481. Bereits vor ihm war Ottomar Rosenbach zu ähnlichen Ergebnissen gekommen, nachdem er in seiner Praxis so gut wie keine Unterschiede zwischen jüdischen und christlichen Patienten festgestellt hatte. Es überraschte ihn allerdings nicht, dass die meisten Ärzte zu anderen Ergebnissen gekommen waren, hatten sie doch nur wohlhabende Patienten untersucht und das zumeist in Badeorten, in denen sich hauptsächlich Kurgäste einer bestimmten Klasse oder Religion aufhielten. Rosenbach, Lehre, zitiert nach Efron, Medicine, 136. 165

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Ausgehend von Seegens Karlsbader Untersuchungsergebnissen stellte Pollatschek Ungenauigkeiten in der wissenschaftlichen Beweisführung fest. E r erklärte, dass seiner Kenntnis nach die Besucherzahlen jüdischer Kurgäste weit über den von Seegen für das J a h r 1875 und wiederholt für 1893 angegebenen zehn Prozent lagen. Bereits in den 1880er Jahren wäre ihr Anteil bei einem Viertel gelegen und würde inzwischen vermutlich bereits die Hälfte der Gesamtziffer der Kurgäste ausmachen. Spätere Untersuchungen, die Seegens Ergebnisse auch für andere O r t e bestätigten, erklärte Pollatschek psychologisierend mit der „bekannten Ängstlichkeit und Opferwilligkeit [jüdischer Patienten] für die Erhaltung ihrer Gesundheit" und ihrer „Vorliebe [ . . . ] für das Consultiren berühmter P r o f e s s o r e n " . 1 7 1 Sprachen andere Forschungsergebnisse sogar von sechzig Prozent jüdischen Patienten unter den behandelten D i a b e t i k e r n , 1 7 2 analysierte Pollatschek lokale Umstände, wie Familiendisposition, Heredität und die noch nicht auszuschließende Möglichkeit der Ansteckung als Ursachen. Sein eigentliches Hauptargument gegen diese Untersuchungen war das gleiche, das er auch Seegen gegenüber vorgebracht hatte: ungenaue oder fehlende Angaben zum Verhältnis der jüdischen Patienten zur gesamten untersuchten Gruppe. Seine eigenen Untersuchungsergebnisse aus zehnjähriger Privatpraxis in Karlsbad hatte er erhalten, indem er die jeweiligen Patienten eigenständig einer Religion zuordnete, seiner Ansicht nach das einzig mögliche und deshalb gängige Verfahren, „da man ja in der Privatpraxis nicht die Religion vermerkt". Pollatschek, der als erster die vielfachen Ungenauigkeiten der U n t e r suchungsmethoden offen legte, unterschied seine Patienten deshalb auch in „Christen" und „Juden bezw. Patienten jüdischer A b k u n f t " . Seinen U n t e r suchungen zufolge machten beide Patientengruppen in etwa die Hälfte aus, was das von ihm angegebene Verhältnis von Kurgästen in der Stadt reflektierte. Zudem erklärte er, dass drei von vier Todesfällen, die unter seinen Diabetespatienten während der K u r vorgekommenen waren, „Christen" betrafen. Das veranlasste ihn zu dem Schluss, dass christliche Patienten sich häufig erst im fortgeschrittenen Stadium der Krankheit in Behandlung begaben und deshalb „relativ mehr christliche Personen" Diabetiker wären, als solche behandelt würden. I m Bewusstsein, sich gegen eine von einflussreichen Ärzten und Institutionen vertretene Meinung zu wenden, stellte der Kurarzt seinen Ausführungen die Bemerkung voran, dass er die Frage, o b eine jüdische Prädisposition zu Diabetes bestünde oder nicht, persönlich weder in der Theorie noch in der Praxis für relevant hielte.

171 Bei den erwähnten Untersuchungen handelt es sich um Friedrich T h e o d o r von Frerich, Ü b e r den Diabetes, Berlin 1884, und Rudolf Eduard Külz, Klinische Erfahrungen über Diabetes Mellitus, Jena 1899. 172

Noorden, Zuckerkrankheit.

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Pollatscheks Artikel wurde, obwohl zum Teil mit scharfer Kritik aufgenommen, in weiten Kreisen rezipiert. 173 Auch Joseph Jacobs und Maurice Fishberg bezogen sich in ihrem Eintrag Diabetes mellitus in der zu Beginn des Jahrhunderts in New York erschienenen Jewish Encyclopedia auf seine Einwände. Jacobs und Fishberg, selbst Protagonisten der Diskussion, kommentierten alle Statistiken, die eine besondere Verbreitung von Diabetes unter europäischen Juden feststellten, mit einem Verweis auf Pollatschek: „On the other hand, these statistics have been objected to as valueless, because most of them relate to German bathing-resorts and sanitariums, where wellto-do patients from every country are apt to flock for relief. It is further shown that Jews are attracted to these resorts in relatively greater numbers than other races, because they more often seek relief of celebrated physicians and specialists." 174 Weiters kamen sie zu dem Schluss, dass auf Grundlage vielfältiger und internationaler Untersuchungen der Herkunftsort der Patienten als entscheidend galt. Die deutschen Juden, die sich seit Beginn der Diskussion in ihrem Fokus befunden hatten, waren demzufolge am stärksten betroffen. Erklärungen fanden Jacobs und Fishberg in einer Reihe sozialer, kultureller und psychologischer Um- und Zustände, darunter der hohe wirtschaftliche Status, der großstädtische Alltag, die Tradition der Verwandtenehe und nicht zuletzt: „With the present knowledge of the pathogenesis of diabetes, the only reasonable explanation of the frequency of the disease among Jews is their extreme nervousness, the Jews being known as the most nervous of civilized peoples." 175 Die Theorie über einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Diabetes und nervösen Krankheiten, wie Neurasthenie oder Hysterie, denen eine ähnliche Prädisposition unter Juden nachgesagt wurde, fand ihren unmittelbaren Niederschlag in den populärwissenschaftlichen Konzepten zionistischer Ärzte. 176 In gut besuchten Vorträgen vor zionistischem Publikum griffen sie die Vorstellung des nervösen, degenerierten jüdischen Körpers auf und vermittelten ihren Zuhörern zeitgenössische Theorien der jüdischen „Entartung" als Ergebnis eines Jahrhunderte langen „Uberlebenskampfes". 177 So beschrieb der Wiener Arzt Martin Engländer seinem Publi-

173

So etwa von Arnold Lorand und Adolf Magnus-Levy. Efron, Medicine, 137, Fußnote

119. Jacobs/Fishberg, Diabetes. Jacobs/Fishberg, Diabetes. Joseph Jacobs hatte ähnliche Überlegungen bereits einige Jahre zuvor geäußert und damit die Diskussion in eine neue Richtung gelenkt. Jacobs, Statistics, Anhang X. Zur spezifischen Situation der deutschen Juden vgl. Fishberg, Jews, 3 0 0 - 3 0 1 . Beide zitiert nach Efron, Medicine, 137, 139. 176 So etwa Becker, Nervosität, 11, 16, 2 5 - 3 0 ; Besser, Einfluss, 8. 177 Engländer, Krankheitserscheinungen, 15. Seine Angaben zur Diabetes-Disposition bezieht Engländer von M. Gerstl, dem früheren A r z t der jüdischen Gemeinde von C u ^ a o , inzwischen Badearzt in Karlsbad. Ibid, 39. 174 175

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kum die Beschaffenheit der jüdischen Nerven als eine Folge des Lebens in der Diaspora: „Mit dem Fall der Ghettomauern stürzten sich die Juden aus ihren engen Stübchen sofort auf den großen Kampfplatz, um ein behaglicheres, aber gleichzeitig auch bedürfnisreicheres Dasein sich zu erringen [...]. Dieses Kämpfen, Hasten und Treiben, Jagen nach Glück konnte nicht spurlos an den Nerven vorübergleiten. Das materielle Kapital wurde auf Kosten des Nervenkapitals errungen." U m dem Abhilfe zu verschaffen empfahl Engländer seinen Zuhörern zur „physischen Regeneration" landwirtschaftliche Berufe, körperliche Abhärtung, keine zu intensive intellektuelle Beschäftigung und „Land, Luft und Licht!" 1 7 8 Viele Jahre später, in der Zwischenzeit hatten zahlreiche Ärzte dieselben Klischees bemüht und zitiert, veröffentlichte der zionistische Mediziner Saul Mezan anlässlich der Dresdner Hygieneausstellung einen Text unter dem Titel Morbus judaicus. Wie sehr die vergangenen fünfzig und mehr Jahre vermeintlich wissenschaftlicher Zuschreibungen im allgemeinen Verständnis inkorporiert und in welchen Kontinuitäten sie transportiert wurden, veranschaulicht dieser 1930 in der Sammelschrift Hygiene und Judentum veröffentlichte Text: „ S o l a n g e die J u d e n den Z u f l u ß des belebenden, erfrischenden reineren Blutes ländlicher B e w o h n e r e n t b e h r e n " , schreibt M e z a n , „wird m a n wohl ,das j ü d i s c h e L e i d e n ' b e k ä m p f e n , einschränken, aber niemals seiner H e r r werden k ö n n e n , und es wird f o r t d a u e r n , s o l a n g e das j ü d i s c h e Volk s o leben wird wie bisher. U n d diese u n g l ü c k s e l i g e R a s s e wird weiter die H e i l s t ä t t e n f ü r Irre, Epileptiker und N e u r a s theniker füllen, die Sanatorien f ü r S k r o p h u l ö s e u n d L u n g e n k r a n k e , sie wird sich d r ä n g e n in den K u r o r t e n f ü r D i a b e t i k e r u n d an Arthritis L e i d e n d e n , denn sie verk ö r p e r t eine G e m e i n s c h a f t v o n a n o r m a l e r S t r u k t u r . U n d alle K r a n k e n h ä u s e r , alle F ü r s o r g e f ü r a r m e K r a n k e und alle wohltätigen E i n r i c h t u n g e n werden nur geringe Abhilfe bringen."179

Das „kränkelnde", „nervöse" jüdische Bürgertum versammelte sich also noch immer in Kurorten, um seine Wohlstandskrankheiten zu behandeln. Wie sehr sich dieses Bild vermeintlich wissenschaftlicher Forschungsergebnisse in individuelle körperliche Wahrnehmungen eingeschrieben hatte, reflektieren nicht nur Scherze, wie der zu Beginn des Kapitels zitierte. In einer virtuellen Gemeinschaft der „potenziell Kranken" herrschte eine reale und weit verbreitete Angst vor Diabetes. 1 8 0 Voll Sorge erklärte ein Wiener Arzt

178 Engländer, Krankheitserscheinungen, 29, 46. Etwa zur gleichen Zeit mit Engländers Vortrag erschien Willy Hellpachs Nervenleben und Weltanschauung, indem der Karlsruher Nervenarzt neurasthenische Leiden als Zeitkrankheit des Bürgertums analysierte, die ihren Ursprung im Kapitalismus und Materialismus der bürgerlichen Weltanschauung, im ökonomischen Existenzkampf und in Konsum und Repräsentation hatten. Hellpach, Nervenleben, 26—44, 50-53. 179 Mezan, Morbus, 91. 180 Gilman, Gemeinschaft.

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1931 in der zionistischen Zeitschrift Die Neue Welt: „Die Disposition der Juden zum Diabetes ist weiten Kreisen der jüdischen Bevölkerung w o h l bekannt und hat sogar unter den Juden, besonders unter denen in etwas vorgerücktem Alter, zu einer gewissen, meist übertriebenen Angst geführt, von diesem Leiden befallen zu werden." 1 8 1 Heilung versprachen sich viele dieser möglichen Patienten in Karlsbad, das, so der Kurarzt Walter Kohner, „in jüdischen Kreisen" noch immer „als der K u r o r t für Zucker" galt. 1 8 2

4. Bürgerliche Erfahrungsräume der Sorge Die unermüdliche

Sorge um sich selbst Und sie war erpicht darauf, Kurorte zu besuchen und ausländische Kapazitäten zu konsultieren, deren Befunde den ganzen Winter lang als Gesprächsthema herhalten mussten. Sie reiste von Kurbad zu Kurbad, von einem Arzt zum andern. Ihr Toilettentisch und ihre Kommoden waren voll gestopft mit Fläschchen, Ampullen und Dosen, die verschiedenfarbige Arzneien, Stärkungsmittel und Pillen enthielten, die sie nicht einnahm. Israel J. Singer, Die Brüder Aschkenasi, 1 9 3 3 1 8 3

Eindringlich sprach der eloquente Prediger Adolf Jellinek an einem Schabbat Ende Juli 1852 zu seinen Zuhörern in der Synagoge des Karlsbader Israelitischen Armenspitals: „Zu keiner Zeit und an keinem Orte, meine andächtigen Zuhörer, sind wir mehr geneigt, das beobachtende und prüfende Auge um uns und in uns zu werfen, als während unseres Weilens in dieser Stadt, die das Trosteswort ,Nachamu' des heutigen Sabbaths der leidenden Menschheit zuruft! [...] Umgeben von uns verwandten Wesen, deren Antheil Leiden und Krankheit sind, deren Blicke bald wachsende Hoffnung und bald kummervolles Sehnen, bald steigende Zufriedenheit und bald getäuschte Erwartungen verrathen [...]; in uns jeder Einzelne den Stachel verschiedener Krankheiten tragend, dessen Spitze nur allmählich abgewetzt wird, jeden Tag auf den Zustand unseres Körpers achtend, die Bewegungen und Veränderungen desselben beobachtend - ist es nun nicht begreiflich und natürlich, dass wir da mehr denn je aufmerksam werden auf das was um uns und in uns vorgeht und entsteht?" 1 8 4

Kessler, Disposition, 8. 182 p r ivatarchiv Gabriel Kohner, Walter Kohner, Karlsbad, 14. 183 Singer, Brüder, 1 2 1 - 1 2 2 . 184 Jellinek, Mensch, 5 - 7 . 181

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Der spätere Wiener Oberrabbiner kam häufig nach Karlsbad zur Kur, weshalb er die Wahrnehmungen und Empfindungen eines Kurgastes genau kannte. Seine Zuhörer gehörten jenem neuen Typ von Kurpatienten an, der die Promenaden der Badeorte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu füllen begann. Es war ein gebildetes Laienpublikum, das den eigenen Körper beobachtete, dessen Befindlichkeit an der abendlichen Table d'Hdte besprach und sein Schicksal vertrauensvoll in die Hände erfahrener Spezialisten legte. Die Verwissenschaftlichung der Kurorte durch ambitionierte Arzte, neue Technologien und populäre medizinische Ratgeberliteratur ging nicht spurlos an den Kurgästen vorüber. Patienten waren jetzt nicht mehr bereit, so schreibt John Efron, ihre passive Rolle in der Arzt-Patient Beziehung weiter zu übernehmen, sie entwickelten sich stattdessen zu anspruchsvollen medizinischen Konsumenten: „.Medicalized', just as doctors were becoming professionalized, patients now sought to place themselves under the care of .experts'." 1 8 5 Unter dem Einfluss bürgerlicher Hygiene- und Ratgeberliteratur, die „die Kunst zu leben und die Kunst der unermüdlichen Sorge um sich" lehrte, begannen versierte Laien sich zunehmend für medizinische Details und Innenansichten des eigenen Körpers zu interessieren. 1 8 6 Aus der Fülle der ärztlichen Handbücher und Reiseführer konnten Interessierte sich lange vor ihrer Reise über alle Einzelheiten der Kur informieren, tägliche Abläufe und Rituale kennen lernen und die Eigenschaften der Mineralquellen studieren, deren Wirksamkeit sie später am eigenen Körper erleben würden. Vor Ort angekommen wurde dieser Körper in grenzüberschreitenden Untersuchungssituationen dem ärztlichen Blick exponiert. Die vorhandenen diagnostischen Einrichtungen waren in Karlsbad, Marienbad und Franzensbad auf dem neuesten Stand und brachten nicht selten erst anlässlich der Kur eine genaue Diagnose der Krankheit. 1 8 7 Erlebnisse, wie die erste Röntgenaufnahme, ließen den Patienten in sein vermeintlich Innerstes schauen, und diese Aussicht vielleicht wie Hans Castorp als plötzliche Erkenntnis der eigenen Krankheit und Blick „in sein eigenes Grab" erleben. 1 8 8 Vielfältige neue Therapien ließen Kureinrichtungen fast wie „ein neues Bureau im Dienst des Körpers" erscheinen, gegen das Franz Kafka sich mit Abneigung aussprach, als er an seine Verlobte schrieb: „[...] ich will nicht mich massieren packen elektrisieren heilbaden, untersuchen, durch besonders gute Diagnosen mich besonders gut über meine Krankheiten informie-

Efron, Medicine, 251. Sarasin, Maschinen, 173. Etwas später, in den 20er Jahren, war diese Literatur auch in jüdischen Lebenswelten Osteuropas weit verbreitet. Bley, gesunt; Mats, Kurerter. 187 Goldscheider, Erkrankungen, 1 1 2 - 1 1 3 . 1 8 8 Mann, Zauberberg, 304. In Karlsbad betrieb u.a. Ignaz Zollschan ein Röntgeninstitut. Fuhrmann, Jahrbuch, 393; Ärzteverzeichnis der Amtstelle Karlsbad 1937. 185 186

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ren lassen [...]." 1 8 9 Kafkas Ablehnung richtete sich gegen Sanatorien, deren Geschlossenheit und Ausweglosigkeit nicht der Situation im Kurort entsprachen. Ein fügsamer Kurgast, der sich ganz dem ärztlichen Rhythmus unterordnete, hätte aber auch dort eben diese Abläufe erleben können. Der intimen Selbst- und ärztlichen Fremdbetrachtung stand den Patienten ein alltägliches Erleben gegenüber, das sich fast ausschließlich in den verschiedenen Öffentlichkeiten des Kurorts abspielte und nicht nur Gelegenheit zur gegenseitigen Beobachtung bot, sondern nahezu dazu aufforderte. Ging es hinter den Türen von Ordinationen und Badehäusern um leichte oder schwere Erkrankungen, so wurde auf den Promenaden und Parks Lebensfreude und Vitalität inszeniert. In der Art eines autosuggestiven Spiels der Selbsttäuschung, die sich im Blick des Betrachters festigt, sollte Gesundheit durch ihre Simulierung beschworen werden. 1 9 0 „ I n einem s o l c h e n Milieu des fein g e w o b e n e n O b e r f l ä c h e n s p i e l s p e r f e k t i o n i e r t e der m o d e r n e M e n s c h die F ä h i g k e i t , zwischen intimer Wahrheit und sozialer K o s t ü m i e r u n g eine D o p p e l e x i s t e n z z u f ü h r e n , deren V i r t u o s i t ä t gerade darin b e s t a n d , auch b e d r ü c k e n d e individuelle Realitäten o p u l e n t z u verschleiern", analysiert W o l f g a n g K o s . „ D a s K u r b a d b o t die M ö g l i c h k e i t , p e r s ö n l i c h e L e i d e n s - u n d T o d e s ä n g s t e d u r c h ritualisiertes Verhalten zu s u b l i m i e r e n . " 1 9 1

Krankheiten verbargen sich unter den Kostümen und hinter den Masken einer fröhlichen bürgerlichen Gesellschaft, die sich nichts anmerken ließ. Die Kleider, „die langen Röcke, die auf den Promenaden nachschleppten und den Staub aufwirbelten, die stark farbigen Straussenfedern, die im Winde wehten", waren ausgefallener und aufwendiger, die Dekolletees weiter ausgeschnitten, die Vitalität plakativer als zu Hause. 1 9 2 Ärzte wurden nicht müde, zu betonen, dass solche Toiletten der Kur nicht zuträglich waren und forderten die Frauen auf, Mieder und Korsette durch lockere, gesunde Kleider zu ersetzten, und ihre Zeit mehr der Pflege ihrer Gesundheit als ihres Aussehens zu widmen. 1 9 3 Max Nordau, häufiger Gast in Karlsbad, beschrieb die „Spazierwege vornehmer Badeorte" neben den „Zierplätzen europäischer Großstädte" als Bühnen der von ihm konstatierten Entartung des Bürgertums: „ D e r g e m e i n s a m e C h a r a k t e r aller dieser M e n s c h e n - E r s c h e i n u n g e n ist, dass sie nicht ihre wirkliche Eigenart gaben, s o n d e r n etwas darstellen wollen, was sie nicht s i n d " , schreibt N o r d a u in s e i n e m d e k a d e n z k r i t i s c h e n , kontroversiellen B u c h . „ S o entstehen K ö p f e , die auf Schultern sitzen, zu welchen sie nicht g e h ö r e n , T r a c h -

189 190 1.1 1.2 1.3

Brief an Feiice Bauer, 31.5.1916, Kafka, Briefe an Feiice, 165-166. Sebestyen, Kurpromenade, 37-38. Kos, Amüsement, 221. LBI, Lalla Kaden (nee Bondi), Akt, 168. Kisch, Umgebung, 201-202; Lucca/Lang, Orientierung, 162.

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ten, deren Bestandtheile unzusammenhängend sind wie ein Traumcostüm, Farbengesellungen, die im Dunkeln vorgenommen scheinen. Man hat den Eindruck, auf einem Maskenfeste zu sein, auf dem jeder in einer Verkleidung und mit einem Charakterkopf erschienen ist." 194

Fast alle, die hier promenierten, litten in irgendeiner Form an der Modekrankheit der Moderne, der Neurasthenie, die „einen Leidenszustand, ein Gefühl ängstlicher, zitternder Aufgeregtheit" 1 9 5 bezeichnete, häufig Schlaflosigkeit mit sich brachte und als nervöse Komponente zahlreiche innere Krankheiten begleitete. 196 Die Krankheit der Angst war vor allem in den Großstädten verbreitet, wo die Veränderungen und Unsicherheiten in individuellen Biographien größer waren und sich schneller ereigneten. Als ihre Protagonisten bezeichnete man vornehmlich Intellektuelle und Juden, letztere in vielfältigen Narrativen - antisemitischen, zionistischen, medizinischen - „als Städter, als Großstadtmensch, als .Stadtbewohner par excellence'" stereotypisiert. 1 9 7 „Sicherheit ist nirgends", das heißt ängstliche Besorgnis ist allgegenwärtig, erklärte Arthur Schnitzler in dem Bühnenstück Paracelsus,198 In seinen Erinnerungen beschrieb Stefan Zweig die Vorkriegsgesellschaft als besessen von einem abwesenden, nicht erreichbaren Gefühl von Sicherheit: „Wenn ich versuche für die Zeit vor dem Ersten Weltkriege, in der ich aufgewachsen bin, eine handliche Formel zu finden, so hoffe ich am prägnantesten zu sein, wenn ich sage: es war das goldene Zeitalter der Sicherheit." Ein geregeltes Einkommen versprach ein gewisses Maß an Sicherheit, ebenso wie Rücklagen für Sommerreisen, Krankheiten und Arztbesuche. Versicherungspolicen, die nicht nur auf den Besitz sondern auch auf den Körper abgeschlossen wurden, machten Gesundheit zu einem beschreibbaren und schätzbaren Wert innerhalb einer bürgerlichen kapitalistischen Erwerbsgesellschaft. 199 Gegen Angstzustände und Nervosität empfahlen Ärzte die beruhigende Wirkung von Kuraufenthalten: In gesunder N a t u r und frischer Luft konnten Luxus und Komfort in der Sorglosigkeit eines bürgerlichen Schutzraumes genossen werden. Der ritualisierte und synchronisierte Tagesablauf der Kur 1.4 N o r d a u , Entartung, 16. Max N o r d a u (1849-1923), Arzt, Schriftsteller und führender zionistischer Politiker. 1.5 Gay, Zeitalter, 161. ' " Als Auslöser nervöser Beschwerden (Neuralgien, Neurasthenie und Hysterie) wurden häufig Krankheiten wie Diabetes, Gicht, Magen-Darmerkrankungen und Herzkrankheiten beschrieben. Goldscheider, Erkrankungen, 90. 1.7 Joachim Schlör analysiert dieses Stereotyp in all seinen Aspekten in idem, Stadt, hier besonders 213. 1.8 A r t h u r Schnitzler, Paracelsus. Versspiel in Einem Akt, Elfter Auftritt, zitiert nach Gay, Zeitalter, 165. 1.9 Zweig, Welt, 14-15; vgl. auch Wagner, Krankheit; Hödel, A r m u t , 311.

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wirkte sich positiv auf nervöse Krankheiten aus, da er Sicherheit und Struktur vermittelte, in einer Welt, die sich vielleicht allzu rasch veränderte. 200 Auf diese Weise bot der Kuraufenthalt zwei zentralen Projekten der Moderne Raum - Transparenz und Gewissheit, die Ordnung ins Chaos und eine subjektive Sicherheit zurückbringen sollten, indem sie das „Gespenst der Ungewissheit durch Reglementierung" austrieben. 201 Der Wiener Kabarettist Armin Berg machte sich in seinem Programm über diesen strikten Tagesablauf in Karlsbad lustig, dessen Rhythmus folgend die Kurgäste ihre Bahnen zwischen Brunnen, Bädern und Aussichtspunkten durch den Kurort zogen: „Gleich nach meiner A n k u n f t gehe ich auf der alten Wiese spazieren, der erste, den ich dort getroffen habe, war mein alter Freund Spitzer. , U m Gottes willen', sag ich, ,was ist denn mit dir geschehen? Bist du denn krank?' - ,Na hörst du', sagte er, ,hast du denn eine Ahnung, wie einen die Kur da hernimmt? Gleich in der Früh zwei Glas Mühlbrunn und ein Glas Schloßbrunn, dann eine Stunde Spazierengehen, zum Frühstück nur einen Tee mit einem Zwieback, dann wieder eine Stunde Spazierengehen, zu Mittag nur eine Gemüsegarnitur und ein Glas Mineralwasser, um zwei Uhr nachmittags ein Moorbad, anschließend zwei Glas Bernhardsbrunnen und ein Glas Sprudel, dann wieder eine Stunde spazieren gehen, um sechs Uhr drei Glas Parkbrunnen und ein Glas Felsenquelle, das ist doch furchtbar!' - Darauf frag ich ihn: ,Sag mir, seit wann machst du denn die Kur?' - Darauf gibt er mir zur Antwort: Morgen soll ich anfangen!'"202

Wie sehr die ärztlichen Verhaltensregeln von Kurgästen tatsächlich internalisiert wurden, illustrieren inoffizielle Patientenberichte in Briefen und Tagebüchern. Ging es einerseits darum, Unabhängigkeit von der ärztlichen Kontrolle zu demonstrieren, so bemühten Patienten sich andererseits, alle Vorgaben eigenständig zu befolgen. Diese ernsthafte Einstellung zur Kur hing meist mit den großen Hoffnungen zusammen, die Patienten mit gefährlichen und chronischen Krankheiten in den Aufenthalt setzten - mag ihre Darstellung in Briefen zuweilen auch ein Wunschbild reflektieren. Erstaunlich ist, dass diese in brieflichen Patientenberichten beschriebenen Tagesabläufe sich selbst in kleinen Details kaum voneinander oder von den ärztlichen Vorschriften unterschieden. „Lieber Fred, [...] Wir leben beide strikt nach der Regel. Morgens um 6 U h r an den respektiven Quellen, wo ich sieben Gläser zu trinken habe. Zwischen zwei Gläsern immer fünfzehn Minuten, in denen man auf und ab marschiert; nach dem letzten Glase ein walk von einer Stunde, endlich Kaffee. Abends vor dem Schlafengehn noch ein Kaltes Glas. [...] Die U m g e b u n g hier ist sehr schön, und man

200 201 202

Goldscheider, Erkrankungen, 90, 99-110. Baumann, Flaneure, 172-180. Berg, Mann, 17.

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kann das L a u f e n durch und ü b e r die waldigen G r a n i t b e r g e nicht satt werden. D o c h haust kein Vogel in diesen Wäldern. D i e V ö g e l sind g e s u n d u n d lieben die M i n e r a l d ä m p f e nicht. [ . . . ] B e s t e G r ü ß e an alle v o n d e m M o h r . " 2 0 3

Es war Anfang September 1874, als Karl Marx diesen Brief an seinen Freund Engels schrieb. Er hielt sich zusammen mit seiner Tochter Eleanor zum ersten Mal in Karlsbad auf. Inkognito als „Charles Marx, Privatier, mit Tochter aus L o n d o n " wohnten sie im Kurhaus Germania, am Schlossberg. 2 0 4 D e r maßgebliche G r u n d für die Reise war Marx' schwerkranke Tochter gewesen, aber auch er selbst war so krank, dass sein Arzt ihm die Karlsbader Kur „mehr befahl als anempfahl".205 Seine Leber war erweitert und er litt an Nervosität und zermürbender Schlaflosigkeit. 2 0 6 Marx, der sich die Kur eigentlich nicht leisten konnte, war mit Friedrich Engels Unterstützung und auf dessen Rat gekommen - Karlsbad wäre nicht teuer, hatte dieser erklärt, und bei strenger Einhaltung der Badevorschriften könnte man unmöglich Geld ausgeben. 2 0 7 Der Tagesablauf, nach dem Marx und seine Tochter lebten und den er Engels in einem späteren Brief akribisch erörterte, entsprach tatsächlich den Vorgaben seines Karlsbader Arztes Leopold Fleckles und den allgemeinen Rhythmen des Kurortes. 2 0 8 Morgens, zwischen fünf und halb sechs, machte Marx sich zusammen mit Eleanor auf zu den Brunnen. D o r t trafen sie auf das versammelte Kurpublikum, das zum Teil schon seit vier Uhr, zumeist aber erst gegen sechs die heißen Q u e l l e n frequentierte. Die Morgentrinkkur war für alle Beteiligten der wichtigste Teil der Karlsbader Kur. An den zentralen Quellen, dem Sprudel und dem Mühlbrunnen, herrschte zu dieser Zeit ein solcher Andrang, „daß man im Gänsemarsch erst nach länger als Vi Stunde wieder an die Reihe" kam, um sich von jungen Frauen mit weißen Häubchen das heiße Wasser in die dafür vorgesehenen Gläser füllen zu lassen. 2 0 9 In den Kolonnaden und auf den Promenaden fand sich dicht an dicht eine große „Menge sehr gut angezogener Menschen, die, ernsthaft durch Glasröhrchen aus grossen Henkelbechern das mineralhaltige Wasser saugend, sich langsam hin und her bewegen. Alle hundert Schritte eine Waage, auf der von freundlichen alten Frauen umständlich das Gewicht der Kurgäste festgestellt wird". 2 1 0 Die Glasröhrchen schützten die Zähne vor Verfärbungen, während

Brief an Friedrich Engels, 1.9.1874, Marx/Engels, Werke, Bd. 33, 112-113. Brief an Friedrich Engels, 1.9.1874, Marx/Engels, Werke, Bd. 33, 112-113. 205 Brief an Ludwig Kugelmann, 4.8.1874, Marx/Engels, Werke, Bd.33, 637. 204 Brief an Friedrich Engels, 17.8.1877, Marx/Engels, Werke, Bd. 34, 71. 2 0 7 Kisch, Marx, 5-6. 208 Alle weiteren Angaben zu Karl und Eleanor Marx' Tagesablauf in: Brief an Friedrich Engels, 18.9.1874, Marx/Engels, Werke, Bd.33, 116-117. 209 Baedecker, Österreich, 304; LBI, Lalla Kaden (nee Bondi), Akt, 167. 210 LBI, Lalla Kaden (nee Bondi), Akt, 166. Aufnahmen von den Morgenpromenaden in 203

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man langsam die vorgeschriebene Anzahl an Bechern des stark mineralhaltigen Wassers trank. In den 15-minütigen Pausen zwischen zwei Gläsern spazierte man bedächtig über die Promenaden und unterhielt sich über den Verlauf der Krankheit und erste Kurerfolge. 2 1 1 Währenddessen spielte die Kurkapelle, nachdem sie um sechs U h r mit einem Choral begonnen hatte, beschwingte Unterhaltungsmusik. 2 1 2 Nach dem letzten Glas begab man sich zum Bäcker, um dort sein Frühstück in Form von kurgemäßen Backwaren einzukaufen. 2 1 3 Mit dem Frühstück in der Tasche, so schrieb Marx an Engels, folgte dann „ein Marsch von wenigstens einer Stunde, endlich der Kaffee, der hier vorzüglich ist, in einem der Kaffeehäuser außerhalb der Stadt". D o r t verzehrte man die mitgebrachten Mehlspeisen, um sich danach wieder zu einer „Fußtour durch die umliegenden Berge" aufzumachen. Etwa gegen zwölf U h r mittags, „im Zustande körperlicher und geistiger Ruhe" war dann die Zeit der Bäder oder anderer ärztlich verordneter Kuranwendungen. 2 1 4 Nach einem leichten Mittagessen hielten Marx und seine Tochter, dem ärztlichen Gebot entsprechend, keinen Mittagsschlaf, sondern unternahmen längere Spaziergänge oder Ausfahrten. Als Alternative dazu empfahlen Reiseführer, sich die Zeit mit „Familiencorrespondenz" und leichter Lektüre zu vertreiben oder die Nachmittagskonzerte auf den Promenaden zu besuchen, wo Haydn, Mozart, Beethoven, Wagner, Mussorgski, Lehar und Strauss gespielt wurden. 2 1 5 Was dem ärztlichen Rat weniger entsprach, aber nichtsdestotrotz von vielen Kurgästen intensiv und mit Leidenschaft betrieben wurde, war das nachmittägliche Kartenspiel im Kaffeehaus. 2 1 6 Nach einem kleinen Abendessen, berichtete Marx, ging es entweder direkt ins Bett oder zur Abendunterhaltung ins Theater, Konzert oder Lesekabinett. U m neun U h r wurde allerdings bereits alles geschlossen und ab zehn U h r war es im ganzen O r t ruhig. 2 1 7 Abwechslung vom Kuralltag boten nur die kurfreien Sonntage, an denen es die Gelegenheit gab, längere

Karlsbad und Marienbad erinnern an großstädtische Fußgängerzonen zur Rushhour. In Karlsbad wurden aus diesem G r u n d Schilder angebracht, die z u m „Rechts gehen!" aufforderten. Steward, Spa Towns, 106; Die Tschechoslowakische Republik, 32; Rubritus, Kurstadt. 211 Zatloukal, Karlsbad, 128; Kisch, U m g e b u n g , 185-189; Rubritus, Kurstadt, 78; Spitzer, Hereinspaziert, 84. 212 Zatloukal, Karlsbad, 67, 173. 213 Vgl. die A n n o n c e Kurgemäße Bäckerei von Ferdinand Sander, Karlsbad, in: Die Tschechoslowakische Republik, 193; Zatloukal, Karlsbad, 173. 214 Zatloukal, Karlsbad, 175; LBI, Lalla Kaden (nee Bondi), Akt, 167-168. 215 Lucca/Lang, Orientierung, 158-159; Zatloukal, Karlsbad, 78, 177; N o r d a u , Eindrücke, 210. 216 Torberg, Tante Jolesch, 83-84; Spitzer, Hereinspaziert, 85. 217 Zatloukal, Karlsbad, 174.

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Ausfahrten in die nähere Umgebung zu unternehmen - nach „Amerika", ins „Siechenhaus" oder zu anderen Karlsbader Ausflugslokalen. 218 Marx hielt sich nicht nur während seiner ersten Karlsbader Kur an diesen strengen Tagesablauf. Auch während der beiden auf den Sommer 1874 folgenden Jahre wurde er nicht müde, die Kur zu befolgen und stundenlang durch die Karlsbader Wälder zu spazieren. 219 Zum „Musterkurgast von Karlsbad" würden ihn befreundete Arzte erklären, scherzte er. 2 2 0 Ab dem zweiten Jahr fühlte er sich bereits so sehr mit der Kur vertraut, dass er auf ärztliche Konsultationen verzichtete. „Wie ich mir vorgenommen habe", schrieb er an Engels, „bin ich jetzt mein eigner Arzt, und wie Dr. Gans mir mit stiller Wehmut vertraute, ist das bei einem Drittel der älteren Badegäste der Fall." 2 2 1 Schon im ersten Jahr hatte Marx verinnerlicht, was als wichtigste Voraussetzung für eine erfolgreiche Kur bezeichnet wurde: „Sorgen für Berufsgeschäfte und häusliche Angelegenheiten" ebenso zu unterlassen wie alle „Gemüthsaufregungen". 222 Immer wieder bezog er sich auf diese Vorschrift, indem er erklärte, dass lange Briefe ebenso wenig kurgemäß wären, wie die Lektüre von Fachliteratur oder Tagespresse. 223 „Die .Pflicht' ruft mich vom Schreibtisch weg. Also bis nächstes mal, soweit die magisch verdummende Wirkung des heißen alkalischen Gesöffs mir noch erlaubt, einige Zeilen hinzusudeln" , beendete er einen kurzen Brief an Engels. 2 2 4 Überhaupt verlor er in allen seinen Briefen an den Freund nicht ein Wort über die gemeinsame Arbeit, sondern beschrieb ihm stattdessen ausführlich die Karlsbader Wälder und den Ablauf und Erfolg seiner Kur. Gemeinsam mit Eleanor pflegte Marx distanzierte Bekanntschaft mit Heinrich Graetz und anderen deutschen und polnischen Professoren, „auch gruppierte sich bald die Hälfte der hiesigen medizinischen Fakultät um mich und Tochter; lauter für meinen hiesigen Zweck, wo man wenig denken und viel lachen muß, sehr passende Leute". 2 2 5 An seine Frau Jenny, die ihn nie nach Karlsbad begleitete, schrieb er: „Wir leben hier in den Tag hinein, so gedankenlos, wie es der Erfolg der Kur erfordert." 2 2 6 Die Aufenthalte in Karlsbad taten Marx außerordentlich gut. Bereits ge-

L B I , Lalla Kaden (nee Bondi), Akt, 1 7 0 - 1 7 1 . Brief an Friedrich Engels, 21.8.1875, Marx/Engels, Werke, Bd. 34, 6. 2 2 0 Brief an Friedrich Engels, 8.9.1875, Marx/Engels, Werke, Bd. 34, 10. 2 2 1 Brief an Friedrich Engels, 21.8.1875, Marx/Engels, Werke, Bd. 34, 6. 2 2 2 Lucca/Lang, Orientierung, 159. 2 2 3 Brief an Friedrich Engels, 8.9.1875, Marx/Engels, Werke, B d . 3 4 , 10. 2 2 4 Brief an Friedrich Engels, 19.8.1876, Marx/Engels, Werke, Bd. 34, 25. 2 2 5 Brief an Friedrich Engels, 18.9.1874, Marx/Engels, Werke, B d . 3 3 , 1 1 6 - 1 1 7 ; Graetz, Tagebuch, 3 3 6 - 3 3 7 ; Baron, History, 266 u. 447. 2 2 6 Brief an J e n n y Longuet, Ende August/Anfang September 1876, Marx/Engels, Werke, B d . 3 4 , 193. 218

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gen Ende der ersten Kur erklärte er zufrieden: „Ich habe bis jetzt um 4 Pfund (Zollgewicht) abgenommen und kann selbst mit der Hand fühlen, daß die Leberverfettung im status evanescens ist. Ich glaube, daß ich in Karlsbad endlich meinen Zweck erreicht habe, wenigstens für ein Jahr." 2 2 7 Selbst auf seine nervösen Beschwerden wirkte sich die Kur so gut aus, dass Friedrich Engels nach Marx' Rückkehr nach London an Wilhelm Bracke schrieb: ,,M[arx] ist von Karlsbad ganz verändert zurückgekommen, kräftig, frisch, munter und gesund, und kann sich nun bald wieder ernstlich an die Arbeit setzen." 228 Obwohl Karl Marx in Karlsbad von seinem Leberleiden geheilt wurde, verschlimmerte sich sein körperlicher Zustand zusehends. Zu Schlaflosigkeit und Nervosität kamen jetzt noch verschiedene andere Krankheiten dazu. Aus finanziellen Gründen reiste er 1877 zusammen mit Eleanor und seiner ebenfalls kranken Frau Jenny in das erschwinglichere Bad Neuenahr. Als Jennys Zustand sich bald drauf verschlechterte, rieten die Arzte zu einer Karlsbader Kur. Doch inzwischen war die Gefahr einer Ausweisung aus Deutschland und Osterreich für sie und ihren Mann so groß, dass sie das Risiko einer Reise nicht auf sich nehmen konnten. Jenny starb kurz darauf, im Jahr 1881, Karl Marx zwei Jahre nach ihr. 229 Zedaka, Philanthropie, Sozialfürsorge - altneue

Netzwerke

Nach dem Glaubenswechsel seiner beiden Töchter hatte er das dringende Bedürfnis, etwas zu tun, das in der Waagschale seiner guten Werke besonders schwer wiegen würde. Er ließ ein Krankenhaus f ü r arme Juden errichten, ein jüdisches Hospital, in dem koscher gekocht wurde, keine Kruzifixe und Heiligenbilder aufgehängt, sondern Mesusen an jedem Türpfosten angebracht waren und die männlichen Patienten ihre Gebetsmäntel tragen konnten, ohne befürchten zu müssen, Missfallen zu erregen. Sogar eine kleine Synagoge war angebaut, in der ein Männerquorum für die Kranken beten konnte. Israel J. Singer, Die Brüder Aschkenasi, 193 3 2 3 0

Als das Carlsbader Israelitische Armenspital am 28. Juni 1847 offiziell eröffnet wurde, war es das erste Haus im Ort, das sich offiziell in jüdischem Be227 228 229 230

Brief an Friedrich Engels, 18.9.1874, zitiert nach Kisch, Marx, 17-18. Brief an Wilhelm Bracke, 11.10.1875, Marx/Engels, Werke, Bd. 34, 155. Kisch, Marx, 44-46. Singer, Brüder, 262.

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sitz befand. 231 Das Stifterkollegium, eine Gruppe wohlhabender jüdischer Kurgäste aus Prag, hatte die Genehmigung, einen Baugrund zu erwerben, allerdings nur im Rahmen des bestehenden Karlsbader Judenprivilegiums erhalten. Auf Basis dieser Verordnung aus dem 15. Jahrhundert konnte die Stadt Karlsbad noch zur Mitte des 19. Jahrhunderts die jüdische Präsenz im Ort reglementieren. 232 Demnach war der Aufenthalt von jüdischen Kurgästen und Hausierern nur temporär und während des Sommers erlaubt, während ein generelles Ansiedlungsverbot aufrecht blieb. Die einschränkenden Bedingungen, die an diese Genehmigung gebunden waren, sahen vor, dass das Spital nur in der Zeit von 1. April bis 31. Oktober genutzt werden durfte. Während der Wintermonate musste der jüdische Verwalter die Betreuung des Gebäudes an einen Christen übergeben. Abgesehen von diesen Einschränkungen wurde dem Stifterkollegium allerdings die Einrichtung einer Synagoge genehmigt, „und zwar bloß während dieser Zeitdauer und bloß für die in Karlsbad anwesenden jüdischen Glaubensgenossen". 233 Das Spital lebte im Wesentlichen von den jährlichen Unterstützungen, die es von Israelitischen Kultusgemeinden, allen voran Wien, Prag und Berlin, der Repräsentanz der Landesjudenschaft in Böhmen und den Stadträten Karlsbad und Prag erhielt, sowie von privaten Spenden, die von Kurgästen über das Bethaus eingenommen wurden. Geführt und betrieben wurde das Spital von jüdischen Ärzten und jüdischem Personal, sowie einem Kantor, der für das Bethaus eingestellt wurde. Konnte das Spital während der ersten Jahre etwa achtzig Patienten pro Saison zur freien Unterkunft und Verpflegung aufnehmen, so verdoppelte sich die Zahl bis zur Jahrhundertwende. 2 3 4 Anspruchsberechtigt waren alle, die sich mit ärztlichem Attest und Armuthszeugnis bei der Prager Direktion um einen Kurplatz bewarben. 235 Die Patienten - Arbeiter und Angehörige des Kleinbürgertums - kamen zumeist aus Böhmen, aber auch aus Galizien und anderen Teilen der Habsburger Monarchie. Mit wenigen Ausnahmen bekamen sie eine Kur von vier Wochen zugesprochen, um ihre Krankheiten, vornehmlich Gallensteine, Diabetes und Gicht, in dieser Zeit zu behandeln. Obwohl das Spital selbst über einige Kuranwendungen verfügte, nahmen die Patienten den Großteil der

231 Ziegler, Dokumente, 1 0 4 - 1 0 5 . In Marienbad wurde 1861, zum Teil von denselben Stiftern, das Israelitische Kurhospital gegründet. Vgl. auch ZMP, Tätigkeitsbericht des Israelitischen Kurhospitals in Marienbad für das Jahr 1934; ZMP, Ergänzung des Tätigkeitsberichtes für das Jahr 1935; Lamed, Marienbad; Kisch, Curort, 2 2 1 - 2 2 2 ; idem, Marienbad, 39—40. In Franzensbad wurden bedürftige Kurgäste bis zum Bau des Kaiser Franz Josef-Jubiläumshospitals für arme Israeliten im Jahr 1897 individuell versorgt. Kisch, Marienbad, 252-253. Kalender für Israeliten für das Jahr 5656 = 1895/96, 263. 232 Geschichte der Juden in Karlsbad, 255. 233 Ziegler, Dokumente, 1 0 4 - 1 0 5 . 234 Jahres-Bericht des Carlsbader israelitischen Armen-Hospitals. 235 Kalender für Israeliten für das Jahr 5656 = 1895/96, 245.

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Bäder in den allgemeinen Badeanstalten, was die Stadtverwaltung ihnen kostenlos ermöglichte. 236 Damit blieben die Patienten des Armenspitals nicht isoliert in ihrem Gebäude, sondern waren weitgehend in den Kuralltag und das Bild der Promenaden integriert. Dem Haus, das sich am Rand des Kurbezirks und unweit des öffentlichen Spitals befand, kam zudem eine über seinen humanitären Zweck hinausgehende Bedeutung zu. Das diskriminierende Ansiedlungsverbot für Juden hatte eine absurde Situation geschaffen: Nicht nur mussten jüdische Arzte und Geschäftsleute Karlsbad am Ende der Saison verlassen, auch während des Sommers hatten sie und die temporär anwesenden jüdischen Kurgäste keinen gemeinsamen Ort. Im Bethaus des Spitals, in dem immerhin 120 Personen Platz fanden, gab es jetzt die Möglichkeit, eine jüdische Öffentlichkeit zu entwickeln, die das Fehlen einer Gemeinde zumindest vorübergehend ausgleichen konnte. Wie Rabbiner Salomon Sachs in seiner Einweihungsrede erklärte, war es den Initiatoren vordergründig gar nicht um die Einrichtung eines Armenspitals gegangen, bestand doch bereits ein allgemeines Spital für bedürftige Kranke in Karlsbad. Aber, so Sachs weiter, „auch ein israelitisches Bethaus war ein tiefes dringendes Bedürfnis, ein allgemeiner sehnlicher und langer Wunsch vieler Herzen in Israel, und da der Besitz des Einen nur durch das Bestehen des Anderen behauptet und gefördert werden kann, so mußten beide in Verbindung gebracht werden". 2 7 Mit der Einrichtung des Bethauses im Armenspital bestand nun ein öffentlicher Raum, der - zumindest während des Sommers - religiöse, soziale und kulturelle Prozesse vernetzte. Indirekt war damit die Grundlage für einen jüdischen Ort geschaffen, auch wenn es noch weitere zwanzig Jahre dauern würde, bis offiziell eine Gemeinde entstand. 2 3 8 Diese neue jüdische Öffentlichkeit etablierte Netzwerke zwischen Kurgästen und Kaufleuten, die auch nach Einrichtung der Gemeinde erhalten blieben und ein funktionierendes Fürsorgesystem aufrecht hielten. Im Rahmen der steigenden Bedürfnisse, die innerhalb einer kapitalistischen Erwerbsgesellschaft an Fürsorgeeinrichtungen gestellt wurden, war das Spital bald nicht mehr ausreichend. Vielerlei moderne Krankheiten und ein wachsendes Vertrauen in die physikalische Medizin unter Kleinbürgern und Arbeitern, brachten mehr und mehr Patienten nach Karlsbad. 2 3 9 Private und

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Jahres-Bericht des C a r l s b a d e r israelitischen A r m e n - H o s p i t a l s .

Sachs, O p f e r , 22. D i e Karlsbader Israelitische G e m e i n d e w u r d e 1869 g e g r ü n d e t . O b w o h l die o k t r o y i e r t e Verfassung v o m 4.3.1849 bereits eine Gleichstellung der R e l i g i o n s g e m e i n s c h a f t e n Ö s t e r r e i c h U n g a r n s vorgesehen hatte, erhielten J u d e n und J ü d i n n e n aber erst durch das S t a a t s g r u n d g e s e t z v o m 21.12.1867 alle bürgerlichen Rechte. Friedländer, J u d e n , 36; Ziegler, D o k u m e n t e , 1 0 4 - 1 0 5 , 140-141. 237

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Vgl. auch K o l s k i , Lassar, 7 8 - 8 3 ; Pirhofer/Reichert/Wurzacher, Bäder.

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zunehmend auch staatliche Fürsorgeeinrichtungen begannen, Kurorte als medizinische Zentren von großer Kapazität in ihre Programme einzuschließen. J e teurer und exklusiver Orte wie Karlsbad wurden, umso mehr mittellose Patienten wurden in ihnen untergebracht. 240 Mit der Einrichtung der jüdischen Gemeinde entstanden zahlreiche Wohltätigkeitsvereine, die gemeinschaftlich von Einheimischen, Kurgästen und Saisonarbeitern, wie Ärzten und Geschäftsleuten, gegründet wurden, um sich bedürftiger Karlsbader ebenso anzunehmen wie Kurgästen. Der erste Verein, der unmittelbar nach Einrichtung der Gemeinde entstand, war der Israelitische Frauen-Wohltätigkeits-Verein Karlsbad.241 Bald darauf folgten eine Chewrah Kadisha242 und gegen Ende des Jahrhunderts die Karlsbader Loge des Humanitätsvereins B'nai B'rith243 und der Wohltätigkeits- und Geselligkeitsverein Eintracht.244 Zur Blütezeit des Kurbades erforderten die zahlreichen Anfragen an das Armenspital eine neue und breitere Infrastruktur der Fürsorge. Das bestehende Gebäude wurde abgerissen und durch ein neues zweistöckiges Kurhaus an der gleichen Stelle ersetzt, dessen Leitung Ferdinand Fleckles, der Sohn von Leopold Fleckles, übernahm. 245 Damit war das Problem aber noch nicht gelöst. „Da aber in den letzten Jahren mehr als 500 wirklich kurbedürftige arme Juden jährlich nach Karlsbad kommen, sind diese gezwungen, an die Mildtätigkeit der Gemeinde und, da der Gemeinde ausreichend Gelder für diese großen Anforderungen nicht zu Gebote stehen, auch an wohlhabende jüdische Kurgäste bettelnd appellieren", erklärte der Vorstand der Israelitischen Kultusgemeinde, dem von Seiten der Stadtverwaltung die Verantwortung für die jüdischen Armenverhältnisse im Ort übertragen war. 246 Der Karlsbader Rabbiner, Ignaz Ziegler, begann sich deshalb zusammen mit dem Glasfabrikanten und langjährigen Vorstand der Kultusgemeinde, Ludwig Moser, für den Bau eines Hospizes einzusetzen. 247 Mit Unterstützung von Clara de Hirsch, der Witwe des Baron Maurice de Hirsch, und der Wiener Linie der Rothschilds wurde in einem weitläufigen Garten ein großzügiges Gebäude nach Plänen des Wiener Architekten Wilhelm Sti-

Slokar, Bedeutung, 161. Gegründet 1870. Statuten des Israelitischen Frauen-Wohltätigkeits-Vereins in Karlsbad, 3-4. Frauenvereine wurden in vielen jüdischen Gemeinden früh bzw. zugleich mit der Modernisierung traditioneller Männervereine gegründet. Lässig, Wege, 532-533. 242 SOAKV, Vereinsregister. 2 4 3 Gegründet 1894. Im Jahr 1932 wurde auch eine Schwesternvereinigung der B'nai B'rith gegründet. Ziegler, Dokumente, 141. B'nai B'rith unterstützte auch das Armenspital. SUA, B'nai B'rith, 1926 u. 1932. 244 Gegründet 1897. Ziegler, Dokumente, 141. 2 4 5 Jahres-Bericht des Carlsbader israelitischen Armen-Hospitals; Lang, Israelitenhospital, 478, 481; Karlsbader Adress-Buch, 80; [Israelitische] Gemeindezeitung [Böhmen] (1888) 5, 8. 2 4 6 Das Kaiser Franz Josef-Regierungs-Jubiläums-Hospiz für arme Israeliten, 482. 2 4 7 Selbstwehr 7 (1913) 26, 7. 240 241

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assny errichtet und 1903 eröffnet. Das Kaiser Franz Josef-Regierungs-Jubiläumshospiz für arme Israeliten konnte zusammen mit dem Armenspital und dem 1913 gegründeten Franz Joseph-Ferienheim mehrere hundert mittellose Kranke jüdischer Konfession pro Saison aufnehmen. 248 Die Karlsbader Loge des Humanitätsvereins B'nai B'rith, unter ihren Mitgliedern auch Rabbiner Ziegler, half bei der Finanzierung dieser Einrichtungen und kümmerte sich um den Bau eines Altenheimes, das 1925 eröffnet wurde. 249 Neben einer Reihe privater Fürsorgehäuser war damit ein dichtes Netz von Einrichtungen geschaffen, das bedürftigen jüdischen Patienten einen Kuraufenthalt ermöglichte. 250 Uber den Rahmen der bestehenden Netzwerke hinaus waren es einzelne Philanthropen, die den Kurort in den Rahmen ihrer Stiftungsaktivitäten miteinbezogen. Als Löbel Schottländer, ein erfolgreicher Unternehmer aus Breslau, im Sommer 1872 wie immer zur Kur in Karlsbad war, schrieb die Stadtgemeinde die Pacht auf die Karlsbader Mineralquellen neu aus. Die Pacht hatte sich bisher in den Händen der Familie Mattoni befunden, doch nachdem Schottländer mit seiner Schätzung der geheimen Pachtsumme richtig lag, fielen die Mineralquellen an ihn. Bis zum Einmarsch der Nationalsozialisten im Herbst 1938 war die Löbel Schottländer'sche Karlsbader Mineralwasserversendung Pächter der Karlsbader Quellen und vertrieb Mineralwasser, Sprudelsalz und Sprudel-Pastillen in alle Welt. 251 Als eine der reichsten Familien Breslaus hatten die Schottländers dort Krankenhäuser und Altersheime gegründet und begannen jetzt, die Karlsbader jüdische Gemeinde zu unterstützen und kranke Frauen aus Breslau zur Kur zu schicken. Für Julius Schottländer, der wie sein Vater und anders als seine Kinder sehr fromm lebte, war es Teil seines bürgerlichen Selbstverständnisses, sich auch in nichtjüdischen Fürsorgeeinrichtungen zu engagieren - und er blieb damit nicht allein. 252 Durch Ehrenmitgliedschaften und Spenden unterstützten er und wohlhabende jüdische Familien aus dem Ort die Städtische Armen-Kommission Karlsbad, den Ersten Karlsbader Kranken-Unterstützungs-Verein oder den Verein Gesellschaft Kinderfreund.253

2 4 8 Ziegler, Dokumente, 141; Das Kaiser Franz Josef-Regierungs-Jubiläums-Hospiz für arme Israeliten, 483. 2 4 1 S U A , B'nai B'rith, 1926, 2 6 6 - 2 6 7 . 2 5 0 Andere religiöse Fürsorgenetzwerke in Karlsbad arbeiteten weitaus weniger flächendeckend. Zatloukal, Karlsbad, 170. 2 5 1 Die nach 1945 verstaatlichten Quellen erhielten wieder den Namen Mattoni, unter dem das Karlsbader Mineralwasser bis heute verkauft wird. 2 5 2 L B I , Ledermann, Familienstiftung, 7 - 1 3 ; Karlsbader Adress-Buch 1888, Annoncenteil. 2 5 3 Geschäfts-Bericht der Städt. Armen-Kommission Karlsbad in den Jahren 1910, 1911 und 1912, 8; Gedenkschrift anläßlich des 25jährigen Bestehens des Ersten Karlsbader K r a n k e n - U n terstützungs-Vereines, 8 - 9 ; Gedenkschrift anlässlich seines 25-jährigen Gründungs-Festes herausgegeben vom Verein Gesellschaft Kinderfreund in Karlsbad, 37.

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Die besondere Verdichtung der Sorge um die Gesundheit anderer entsprang nicht zuletzt der Konzentration auf das eigene körperliche Befinden - spielte das Nachdenken über Gesundheit und Krankheit im Kurort doch eine besondere Rolle. Die vermeintliche Solidarität der Kranken untereinander, im Bewusstsein einer Schicksalsgemeinschaft anzugehören, hatte ihren U r s p r u n g in einer metaphysischen Sorge, die das schlechte Gewissen über den hier genossenen Luxus mit guten Taten beruhigen wollte und gleichzeitig hoffte, auf diese Weise die eigene G e s u n d u n g zu beschleunigen. 2 5 4 „ N i r g e n d s aber rührt sich das M i t e m p f i n d e n , M i t f ü h l e n und Mitleiden mit d e m N e b e n m e n s c h e n s o kräftig und s o w i r k u n g s v o l l als in einem C u r o r t e " , p r e d i g t e A d o l f Jellinek anlässlich der E r ö f f n u n g des Israelitischen Spitals im steirischen B a d G l e i c h e n b e r g . „ D a sind wir alle leidend, u n d ein einziger Wunsch beseelt jedes H e r z : zu genesen, zu g e s u n d e n , gestärkt, verjüngt u n d neubelebt in die H e i mat zu den Seinen z u r ü c k z u k e h r e n . " 2 5 5

Mit solchen und ähnlichen Andeutungen auf die Erfüllung zentraler Mitzwot stellten moderne jüdische Fürsorgevereine sich in die Tradition alter religiöser Vereinsstrukturen, entwickelten jedoch zur selben Zeit „moderne und tragfähige Konzepte zur L ö s u n g neuer sozialer Herausforderungen" und verkörperten eine wesentliche Bewegung der innerjüdischen Modernisierung. 2 5 6 Was im Rahmen einer bürgerlichen Kultur der Wohlfahrt des 19. Jahrhunderts entstanden war, erhielt seine spezifisch jüdische Prägung in F o r m von Verweisen auf religiöse G e b o t e wie Zedaka, Wohltätigkeit, Gemilut Chesed, selbstlose Güte, Rachmanut, religiös motiviertes Mitleid, und Bikkur Cholim, das G e b o t Kranke zu besuchen und zu pflegen. 2 5 7 Abgrenzungsversuche zur christlichen Philanthropie beschrieben Zedaka im G e gensatz zur Caritas nicht als Gefühl, das ausschließlich dem Mitleid entsprang, sondern als Verpflichtung, die einem gleichberechtigten Mitglied der Gemeinschaft entgegen gebracht wurde. 2 5 8 Andererseits situierte sich die moderne jüdische Sozialfürsorge durchaus im N e t z w e r k einer wachsenden öffentlichen Gesundheitsfürsorge und als notwendige Ergänzung zu dieser. 2 5 9 Denn obwohl in der Habsburger M o narchie 1888 eine öffentliche Krankenversicherung für Arbeiter und Angestellte eingeführt worden war, die sich auch in den großen Kurorten etablierte, blieb das Bedürfnis nach einer konfessionellen jüdischen Fürsorge weiterhin bestehen. 2 6 0 254 255 256 257 258 259 260

Rappaport, Leben, 155. Jellinek, Rede. Lässig, Wege, 530; vgl. auch Katz, Ghetto. Mitzwot (hebr.) - religiöse Gebote. Rappaport, Leben, 147. Baum, Zedakah, 96. Caspary, Wurzel, 93-94. Stark, Krankenexpositur, 553-555.

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Be'era schel Mirjam

„ D a s wichtigste B e t ä t i g u n g s g e b i e t besteht aber darin, den j ü d i s c h e n B e d ü r f t i g e n die G e w ä h r u n g der ihnen kraft ö f f e n t l i c h e n R e c h t s z u s t e h e n d e n L e i s t u n g e n s o z u e r m ö g l i c h e n , daß sie d a d u r c h nicht in religiöse G e w i s s e n s k o n f l i k t e k o m m e n " , schrieb der Berliner R e c h t s a n w a l t G e o r g B a u m ü b e r diese F r a g e . „ E s m u ß e r m ö g licht werden, daß derjenige, der A u f n a h m e in eine H e i l a n s t a l t o d e r in ein K r a n kenhaus braucht, hierbei nicht mit V o r s c h r i f t e n der Religion, die er s o n s t z u b e achten p f l e g t , in K o n f l i k t k o m m t . " 2 6 1

Auch in Karlsbad waren die Adressaten bürgerlich-jüdischer Philanthropie in vielen Fällen fromme Juden, die meist aus Osteuropa kamen und ein traditionell-religiöses Umfeld vorzufinden hofften. Es ist deshalb wenig verwunderlich, dass die Karlsbader Armenfürsorge immer wieder in das Spannungsfeld der konfliktreichen Beziehung von bürgerlich-akkulturiertem und traditionellem Judentum geriet. War die Situation in den westböhmischen Kurbädern auch nicht mit den in Wien oder Berlin herrschenden Verhältnissen vergleichbar, so spielte doch die sorgende Einmischung eine ambivalente Rolle. 2 6 2 Beispielhaft für ein solches, kaum verhohlenes Bemühen um Verbürgerlichung agierte Löbl Jakobsohn, langjähriger Stammgast in Karlsbad. Im Jahr 1889 berichtete die von Ferdinand Fleckles herausgegebene Badezeitung Der Sprudel, dass der aus Frankfurt stammende Jakobsohn beschlossen hatte, „für die armen polnischen Juden, die so zahlreich in Karlsbad erscheinen und bisher in den entlegensten und schmutzigsten Quartieren nisteten, ein Asyl zu gründen, welches ihnen Wohnung, vollständige Verpflegung, alle Curmittel, ärztliche Behandlung und - Bekleidung bietet". Das Jakobsohn'sehe Kurhaus sollte 1891 fertig gestellt werden und über hundert Betten für bedürftige Kurgäste verfügen. Jakobsohn stellte allerdings die Bedingung, dass mittellose Patienten, die in den Genuss dieser Einrichtung kommen würden, „während des Aufenthaltes in dem Curhause die polnische Kleidung gegen die übliche vertauschen". 2 6 3 Leider gibt es keinerlei Hinweise darauf, ob und in welcher F o r m Jakobsohns Projekt erfolgreich war. Als Jahre später ähnliche Forderungen abseits des innerjüdischen Diskurses gestellt wurden und die Kurdirektionen einiger deutscher Bäder beschlossen, das Tragen des Kaftans im Kurbezirk gänzlich zu verbieten, löste das den mit vielen Antisemitismen geführten Kaftanstreit aus. 2 6 4 Während Löbl Jakobsohn sein Kurhaus errichtete, hatten jüdische Kurgäste aus Osteuropa in Karlsbad längst ihre eigenen Netzwerke auf Basis alter religiöser Strukturen aufgebaut, die sich allerdings weder in Festschrif-

Baum, Zedakah, 97. Vgl. Hödel, Armut, 325-332. 263 Zitiert nach [Israelitische] Gemeindezeitung [Böhmen] (1889) 12, 95. 264 Mitteilungen aus dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus 16 (1906) 37, 282; Bajohr, Hotel, 37-45. 261 262

Bürgerliche E r f a h r u n g s r ä u m e der S o r g e

71

ten noch jährlichen Tätigkeitsberichten niederschlugen. So zumindest stellt Samuel Rappaport, Rabbiner, Mitbegründer der Misrachi und Leiter ihres ostgalizischen Teils, die Situation dar. 2 6 5 Rappaport arbeitete im Rahmen eines unvollendet gebliebenen Buches über das „religiöse Leben der Ostjuden" und veröffentlichte Auszüge davon in Martin Buber's Zeitschrift Der Jude. Ihm zufolge funktionierte das System der Gabba'ei Zedaka, das im westeuropäischen Judentum mit Beginn des 19. Jahrhunderts verschwunden war, unter den osteuropäischen Chassidim noch immer und wurde manchmal auch in den Westen mitgebracht. 266 Die Leiden der Galuth26 wären es, begann Rappaport und fiel in den Chor zahlreicher jüdischer Arzte ein, an denen die osteuropäischen Juden so zahlreich litten: das Leben in den Städten „in engen, dumpfen, allen sanitären Grundsätzen widersprechenden Straßen und Behausungen ohne genügend viel Licht und Luft", unzureichende und falsche Ernährung, konstante Sorge um das Uberleben, „waghalsige und unsichere kommerzielle Unternehmungen" und „Luftgeschäfte". Diese Umstände würden Ostjuden anfällig für nervöse Krankheiten machen und sie in großer Zahl in die Bäder bringen. „Tatsächlich stellen die J u d e n bekanntlich in solchen Bädern einen relativ hohen Prozentsatz von Patienten. Es sind nicht immer die Wohlhabenden, die diese Bäder besuchen. Auch der mittellose kranke O s t j u d e zaudert nicht, eine für seine Gesundheit notwendige Badereise zu unternehmen, selbst wenn er nicht über die nötigen Geldmittel verfügt." D e r Betroffene konnte, so Rappaport weiter, sofern er die Fahrtkosten aufbrachte, seine Reise ohne Bedenken antreten. „ D i e Sorge um die U n t e r s t ü t z u n g der mittellosen Kranken in den Kurplätzen tragen die dort überall tätigen ,Gabbaim'. N i c h t nur in sämtlichen Kurplätzen des O s t e n s , sondern auch in den von O s t j u d e n besuchten Weltkurorten, wie Karlsbad, Marienbad, Meran usw., gibt es ein K r a n k e n f ü r s o r g e - K o m i t e e [ . . . ] . "

Der Kranke konnte also drauf zählen, dass er in einem Kurort, indem sich Juden aus Osteuropa aufhielten, nicht im Stich gelassen würde. 2 6 8 Rappaport zufolge schlossen sich wohlhabende jüdische Kurgäste aus Osteuropa zu Beginn ihres Kuraufenthaltes zu einem solchen Komitee zusammen, das sich künftig um die regelmäßigen Spendensammlungen kümmerte. Sie besuchten neu ankommende Kurgäste, legten ihnen eine Liste der bereits eingegangen Spenden und namentlich genannten Spender vor und bewegten sie so zu großzügigen Zahlungen. Darüber hinaus sammelten sie unter den Besuchern von Synagogen und Beträumen überall im Ort. Die Empfänger

265 266

'

27 268

R a p p a p o r t , L e b e n . Misrachi — o r t h o d o x - z i o n i s t i s c h e O r g a n i s a t i o n . Berman, Philanthropy; Gabba'ei Zedaka (aram.) - Steuereinzieher. Galuth (hebr.) - D i a s p o r a . R a p p a p o r t , L e b e n , 153-154.

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Be'era schel Mirjam

des Geldes, bedürftige Kurgäste, denen auf diese Weise ein Kuraufenthalt außerhalb einer Fürsorgeeinrichtung ermöglicht wurde, blieben anonym. Die Liste der Begünstigten war geheim und ausschließlich den betreuenden Gabba'im bekannt. Bis zum Ende der Saison wurde das Komitee der Gabba'im regelmäßig mit neu angekommenen Kurgästen besetzt, die meist bereits im Jahr zuvor Teil des Komitees gewesen waren. 269 In Karlsbad, wo anzunehmen ist, dass diese Fürsorgesubkultur gut funktionierte, hatte die Israelitische Kultusgemeinde wenig Freude daran und sprach sich wiederholt dagegen aus: „Die Kunde, daß arme Leute im Sommer in Karlsbad bald mehr, bald weniger Geldunterstützungen erhalten, lockt jährlich eine große Anzahl jüdischer Bettler aus Galizien hierher, die bei der Unmöglichkeit geregelter Kontrolle sehr gut auf ihre Kosten kommen", erklärte der Vorstand und empfahl den Bau neuer Fürsorgeeinrichtungen - vermutlich ohne viel Aussicht auf Erfolg, gegen ein gut funktionierendes Netzwerk etwas ausrichten zu können.2 0 Im Vergesellschaftungsprozess des Karlsbader jüdischen Lebens spielten Fürsorgevereine und -netzwerke eine besonders zentrale Rolle, indem sie bereits vor der Etablierung einer Gemeinde, und später parallel zu ihr, vielfältige Verbindungen zwischen den heterogenen, temporär oder permanent ansässigen, jüdischen Gruppen knüpften. 271 Zusammen mit jenen, in den vorangegangenen Kapiteln beschriebenen Veränderungen der modernisierten und säkularisierten Kurorte bildeten sie die Voraussetzung für die Entwicklung spezifisch jüdischer Kommunikationsräume in Karlsbad, Marienbad und Franzensbad.

269 Die Unterstützung beinhaltete notwendigerweise auch das Geld für die Rückreise. Rappaport, Leben, 1 5 4 - 1 5 6 . 270 Das Kaiser Franz Josef-Regierungs-Jubiläums-Hospiz für arme Israeliten, 482. 271 Vgl. Lässig, Wege, 555.

II. Beit dimjoni 1. Ein

Gespräch

Junger Mann: Sie sind noch nicht lange hier, nicht wahr? Junge Frau: Aber, wissen Sie, ich bin früher schon hier gewesen. Junger Mann: Lieben Sie diesen Ort? Junge Frau: Nein, nicht ausgesprochen ... (Die Worte verlieren immer mehr von ihrer Lautstärke, und das Ende des Satzes ist kaum noch zu hören.) ... Es ist Zufall: Man kehrt immer wieder hierher zurück. L'Annee derniere ä Marienbad, Alain Resnais, 1961'

In Shop Talk, einer Sammlung von Gesprächen mit Kollegen über ihre Arbeit, veröffentlichte Philip Roth eine Unterhaltung, die er Ende der Achtzigerjahre mit Aharon Appelfeld in Jerusalem geführt hatte. Uber mehrere Nachmittage, während Stadtspaziergängen und Kaffeehausbesuchen, sprachen die beiden Schriftsteller über Appelfelds Romane, die zu diesem Zeitpunkt in englischen Übersetzungen vorlagen, unter anderem auch über Badenheim. 2 In dieser Erzählung beschreibt Appelfeld einen fiktiven österreichischen Kurort, der vornehmlich von Juden frequentiert wird, wie er Roth gegenüber erklärt, „a rather real place, and spas like that were scattered all over Europe, shockingly petit bourgeois and idiotic in their formalities".3 In dem zeitlosen, historisch nicht mit Eindeutigkeit festzumachenden Ort treffen extreme Charaktere aufeinander: „Jeden Frühling kehrten die Menschen zurück wie Pferde in ihren Stall. Hier konnte man ein Schulmädchen finden, das von der Schule fortgelaufen war, einen Mann von vornehmer Art mit hohlwangigem Gesicht, dem die Bücher das Hirn zerrieben hatten, und hochgestaltige Frauen, an deren Stirnen gewisse Geheimnisse hafteten 1

Robbe-Grillet, Jahr, 31.

D e r hebräische Originaltitel Badenheim der englischen Ubersetzung mit Badenheim wurde der Verweis auf das J a h r weggelassen. 2

3

Roth, Shop Talk, 26.

ir nofesch [Sommerfrische Badenheim] wurde in 1939 wiedergegeben, in der deutschen Version

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Beit dimjoni

wie eine Haut." 4 Das Sommerleben geriert in Badenheim zur Farce, Menschen essen mit beinahe verzweifeltem Genuss Apfelstrudel und Erdbeertörtchen, lassen sich in Droschken durch den Ort kutschieren und unternehmen Spaziergänge im nahen Wald. Sie leben in dem Eindruck, von der Außenwelt abgeschlossen zu sein, lange bevor sie es tatsächlich sind.5 Es liegt ein „geheimes Rauschgift" in der Frühlingsluft, das nicht nur Affären und Verliebtheiten zur Folge hat, sondern verborgene Sehnsüchte aufkommen lässt, wie ein plötzliches Heimweh nach Polen. 6 Während der alljährlich stattfindenden Musikfestspiele tritt ein Wunderkind auf und singt - in welcher Sprache? „Was für eine Frage! In Jiddisch, natürlich in Jiddisch!" 7 Manch einer lehnt einen Besuch in der Idylle Badenheims mit der Begründung ab, es handle sich um einen Ort für Kranke, nicht für Gesunde. 8 Beinahe unbemerkt von den Kurgästen tauchen eines Tages Inspektoren des „Gesundheitsamts" im Ort auf, errichten, ohne viel Aufhebens zu machen, Barrieren an den Stadttoren und verwandeln den Ort in einen Sperrbezirk. Währenddessen folgt der Kuralltag seinen gewöhnlichen Ritualen, Lieferanten bringen weiterhin alles dafür Nötige von draußen.9 Nicht nur in Badenheim, auch in anderen Kur- und Ferienorten werden jüdische Kurgäste unter Quarantäne gestellt. 10 Das „Gesundheitsamt" kündigt allen Kurgästen eine Reise nach Polen an, und die wenigen, die nicht jüdisch oder „nicht ganz jüdisch" sind und sich noch in Badenheim aufhalten, entschließen sich, mit zu kommen. 11 Die anfangs noch als angenehm empfundene Abgeschiedenheit und Geschlossenheit des Mikrokosmos geriert zur pathologischen Enge. Aus dem Kurbad wird ein Seuchensperrgebiet, eine Wartehalle zur Deportation seiner Bewohner nach Polen. Die Erzählung erinnert in ihrer Form ein wenig an die zur Jahrhundertwende populären Kurromane, überzeichnet diese Ähnlichkeit aber mit ihrer kühlen, reduzierten Sprache. Die Darstellung des Ortes reflektiert die Inszenierung des Kurbades als Bühne, während die Protagonisten grotesk zu Marionetten verzerrt erscheinen. Indem Appelfeld eine idyllische Sommerfrische in ein isoliertes Ghetto verwandelte, entwarf er eine Allegorie auf das europäische Judentum kurz vor seiner Vernichtung. Die Lektüre Badenheims evoziert vielfältige Irritationen und veranlasste Philip Roth, nach dem historischen Kontext der Geschichte zu fragen:

Appelfeld, Badenheim, 17. Appelfeld, Badenheim, 1 6 - 1 7 . 6 Appelfeld, Badenheim, 1 5 - 1 7 . 7 Appelfeld, Badenheim, 41. 8 Appelfeld, Badenheim, 39. ' Appelfeld, Badenheim, 4 3 - 4 4 . 1 0 Appelfeld, Badenheim, 72. 11 Appelfeld, Badenheim, 35, 42, 45, 4 7 - 4 8 , 58. 4

5

Ein Gespräch

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„Badenheim 1939 has been called fablelike, dreamlike, nightmarish, and so on. None of these descriptions make the book less vexing to me. The reader is asked - pointedly, I think - to understand the transformation of a pleasant Austrian resort for Jews into a grim staging area for Jewish .relocation' to Poland as being somehow analogous to events preceding Hitler's Holocaust. At the same time your vision of Badenheim and its Jewish inhabitants is almost impulsively antic and indifferent to matters of causality. It isn't that a menacing situation develops, as it frequently does in life, without warning or logic, but that about these events you are laconic, I think, to the point of unrewarding inscrutability. Do you mind addressing my difficulties as a reader with this highly praised novel, which is perhaps your most famous book in America? What is the relation between the fictional world of Badenheim and historical reality?" 12 „Rather clear childhood memories underlie Badenheim 1939", antwortete Aharon Appelfeld. „Every summer we, like all the other petit-bourgeois families, would set out for a resort. Every summer we tried to find a restful place where people didn't gossip in the corridors, didn't confess to one another in corners, didn't interfere with you, and, of course, didn't speak Yiddish. But every summer, as though we were being spited, we were once again surrounded by Jews, and that left a bad taste in my parents' mouth, and no small amount of anger. Many years after the Holocaust, when I came to retrace my childhood from before the Holocaust, I saw that these resorts occupied a particular place in my memories. Many faces and bodily twitches came back to life. It turned out that the grotesque was etched in, no less than the tragic. Walks in the woods and the elaborate meals brought people together in Badenheim - to speak to one another and to confess to one another. People permitted themselves not only to dress extravagantly but also to speak freely, sometimes picturesquely. Husbands occasionally lost their wives, and from time to time a shot would ring out in the evening, a sharp sign of disappointed love. Of course I could arrange these precious scarps of life to stand on their own artistically. But what was I to do? Every time I tried to reconstruct those forgotten resorts, I had visions of the trains and the camps, and my most hidden childhood memories were spotted with the soot from the trains. Fate was already hidden within those people like a mortal illness. Assimilated Jews built a structure of humanistic values and looked out on the world from it. They were certain that they were no longer Jews and that what applied to ,the Jews' did not apply to them. That strange assurance made them into blind or half-blind creatures. I have always loved assimilated Jews, because that was where the Jewish character, and also perhaps Jewish fate, was concentrated with greatest force. In Badenheim I tried to combine sights from my childhood with sights of the Holocaust. My feeling was that I had to remain faithful to both realms. [...] That is a very narrow bridge, without a railing, and it's very easy to fall off." 13 Nicht mehr als eine Saison, vom Frühling bis zum Spätsommer, braucht Appelfeld, um im Zeitraffer die Geschichte des europäischen Judentums in

12 13

Roth, Shop Talk, 28-29. Roth, Shop Talk, 29-30.

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Beit dimjoni

der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu erzählen. Der Literaturwissenschaftler Michael Andre Bernstein kritisiert, dass Appelfeld in Badenheim drei Zeitebenen ineinander verschränkte, von denen jede eine andere historische Situation der österreichischen Juden symbolisiert: vom Beginn der Ersten Republik bis zum Anschluss Österreichs, die darauf folgende Zeit der Diskriminierung und Verfolgung und als dritte Zeitebene, deren sich die handelnden Personen im Gegensatz zum Leser nicht bewusst sind, die Shoah. „Backshadowing" nennt Bernstein die rückwirkend der Situation eingeschriebene Vorbestimmung und vermutet dahinter ein zionistisches Narrativ: „It is as though Appelfeld could only transgress the Israeli taboo against chronicling the unheroic lives of ordinary, assimilated Austro-German Jews, as well as the larger prohibition against any representation of the Shoah, by treating his characters as marionettes whose futile gestures on an absurd stage we watch, half in horror, half in anxiously bemused melancholy at their foolishness." 1 4 Auf den ersten Blick macht die enge Verflechtung der Zeitebenen vor und während der Shoah ebenso wie die teleologische Einschreibung der Protagonisten Badenheim zu einem problematischen Text für eine Einleitung in die Geschichte von Kurorten als jüdische Kommunikationsräume. Die Entscheidung, den Roman den folgenden Kapiteln trotzdem voranzustellen, liegt über seine poetische Dichte hinaus in der Aussage, die er auf den zweiten Blick vermittelt. Alternativ zur Lesart Bernsteins komme ich mit einem Verweis auf die Mikrogeschichte der Kurbäder zu einem anderen Schluss: Die absurde Verkürzung der Zeit in Badenheim reflektiert weitgehend die historische Realität dieser Orte, konservierten sie doch eine spezifische Soziabilität, die sich lange zuvor formiert hatte, über den Ersten Weltkrieg hinaus: in Deutschland bis Mitte, in Osterreich und Böhmen bis Ende der Dreißigerjahre. Tatsächlich zog diese unveränderte Atmosphäre, besonders nach 1933, zahlreiche jüdische Kurgäste nach Böhmen, Österreich und in jene deutschen Bäder, die bereits zuvor bei Juden beliebt gewesen waren und ihrem Besuch jetzt offen blieben. Diese Schutzzonen boten deutschen Juden Erholung vom Alltag der Verfolgung. Als aber auch die Kurorte von den Veränderungen eingeholt wurden, brachen diese plötzlich und schnell über die Idylle herein. Der exterritoriale Schutzraum der westböhmischen Kurorte, ihre besondere jüdische Soziabilität, entstand in den letzten Jahrzehnten der Donaumonarchie, als vor dem Hintergrund zunehmender nationaler Spannungen auch Bäder kulturell, ethnisch oder linguistisch definiert wurden. 15 Ohne Zweifel waren diesen Orten von Anfang an Ambivalenzen und Misstöne

14 15

Bernstein, Conclusions, 58, 61. Steward, Spa Towns, 119.

Ein Gespräch

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eingeschrieben, die zu übersehen Teil des rekreativen Programms, der Pflege und Sorge um sich selbst war. Heilsam und wohltuend wirkte sich dieser Schutz auf alle aus, deren gesellschaftliche Stellung in Veränderung begriffen war - das Bürgertum im Allgemeinen und das jüdische Bürgertum im Besonderen. Obwohl die Kurorte keine unpolitischen Idyllen waren, der Erste Weltkrieg und der Zerfall der Monarchie sich auch in ihnen widerspiegelten, blieb ihre „.paradiesische' Konstruktion" 1 6 aufrechterhalten. In nostalgischer Erinnerung an das vergangene Österreich-Ungarn, dessen Realität hier inszeniert wurde, reisten jüdische Kurgäste weiterhin aus allen Teilen Europas, besonders aus den Nachfolgestaaten der Monarchie an. 1 7 Die folgenden Kapitel beschäftigen sich mit der Ausbildung dieser jüdischen Kommunikationsräume in Karlsbad, Marienbad und Franzensbad und ihrer Geschichte bis zum Ersten Weltkrieg, als die jüdischen Orte sich von Kommunikations- in Schutzräume verwandelten. Um den gesellschaftlichen und politischen Veränderungen in der tschechoslowakischen Republik Rechnung zu tragen, wird ihr Weiterbestehen nach dem Krieg trotz zentraler Kontinuitätslinien in anderen Teilen dieser Arbeit thematisiert. Die Basis der folgenden Kapitel bilden subjektive Blicke, die über Erinnerungen, Reiseberichte, Briefe und fiktionale Texte ein Image der westböhmischen Bäder entstehen lassen, das irgendwo zwischen einem ironischen „zu jüdisch" (Israel J. Singer) und einer „Art Mittelpunkt der jüdischen Welt" (Franz Kafka) liegt. 18 Vielerlei Perspektiven reflektierten und prägten die Vorstellung einer Dominanz jüdischer Kurgäste, obwohl diese als Angehörige heterogener Kulturen und nicht als einheitliche Gruppe auftraten und wahrnehmbar waren. Nach diesen Ebenen von Image und Repräsentation stellen sich letztlich auch die zentralen Fragen, die eine wissenschaftliche Annäherung an das Thema richten kann, zumal Mehr- und Minderheiten in einer instabilen Gesellschaft wie dem Kurpublikum nicht ohne weiteres auszumachen sind - und wenn, dann höchstens klassenspezifisch. In der Internationalität und Anonymität auf den Promenaden kam der nationalen Zugehörigkeit wachsende Bedeutung zu, und die Kurgesellschaft begann sich in nationale und konfessionelle Grüppchen und Gruppen zu segregieren. 19 Hotels, Kurhäuser und Parks, ganze Straßenzüge und Stadtviertel wurden ebenso in nationale Zonen eingeteilt wie Cafes und Restaurants. 20 Innerhalb der vielfältigen Öffentlichkeiten des Kurortes kommunizierten die unterschiedlichen Gruppen im Allgemeinen höchstens über Bli-

"

Fuhs, O r t e , 460. Privatarchiv d. Verf., Interview mit Aharon Appelfeld, 21.3.2005. 18 Singer, Brüder, 319; Brief an Felix Weltsch, 19.7.1916, Kafka, Briefe, 183. 19 Ahnliches beobachten Burkhard Fuhs für Wiesbaden und Hermann Sommer für Bad Ems. Fuhs, O r t e , 372; Sommer, Kur, 485^192. 2 0 L B I , Gerald Meyer, Sprudel, 2 - 3 . 17

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Beit dimjoni

eke miteinander, die Abgrenzung und Selbstversicherung garantieren sollten. Unter den Strategien des Distanzhaltens war der Antisemitismus die aggressivste und radikalste, wenn er sich hier auch vergleichsweise zurückhaltend artikulierte: „ D a s P r e u ß i s c h e , wie i m m e r das P r e u ß i s c h e , v e r k r ü m e l t sich völlig u n d es wäre unsichtbar, w e n n n i c h t ein paar J ü d i n n e n aus Berlin u n d Breslau für p r e u ß i s c h e V e r t r e t u n g s o r g t e n " , polemisierte T h e o d o r F o n t a n e w ä h r e n d eines A u f e n t h a l t e s in Karlsbad. „ A b e r v o n s o l c h e r V e r t r e t u n g wollen wir mit R e c h t n i c h t s wissen u n d was s o n s t n o c h da ist u n d als , e c h t ' gelten kann, hat d e n grauen A s c h e n p u t telcharakter, der ich will n i c h t sagen u n t e r uns heimisch ist, aber s o f o r t in die E r s c h e i n u n g tritt, w e n n wir uns u n t e r andere N a t i o n e n b e w e g e n . " 2 1

In dieser national aufgeladenen Atmosphäre wuchs ein ohnehin waches und sensibles Bewusstsein jüdischer Ethnizität und hatte zur Folge, dass über die vertrauten Kreise hinaus Wahrnehmungs- und Kommunikationsprozesse zwischen heterogenen jüdischen Kulturen zustande kamen. In einem wechselseitig dynamisierenden Prozess imaginierte das andere Kurpublikum die unterschiedlichen jüdischen Gruppen als zueinander gehörig und verstärkte damit innerjüdische Prozesse. Mehr noch als im alltäglichen lebensweltlichen Umfeld kam es in der temporären Situation des Kuraufenthaltes mit seinen permeablen gesellschaftlichen Grenzen zu diffusen Formen von Inklusion und Exklusion und damit besonders beweglichen Erfahrungen von Zugehörigkeit und situativer Ethnizität. 22 Unter diesen Voraussetzungen konnte die gemeinhin bürgerliche Erfahrung des jährlich wiederkehrenden Sommers im Kurbad nichtalltägliche Erlebnisse von Identifikation, Zugehörigkeit, Empathie oder einfach folkloristischem Interesse, ebenso wie Abneigung und Entfremdung eigenen und anderen jüdischen Kulturen gegenüber mit sich bringen. Spiegelungen der eigenen Persönlichkeit mit überwundenen oder utopischen Identitätsmodellen waren in der Öffentlichkeit des Kurbades, in der sich der Großteil des Lebens beobachtend unter Beobachtung abspielte, jederzeit möglich. Diese Kommunikationsräume anhand involvierender Begegnungen und Vergegnungen - im Sinn von verfehlten Begegnungen - zu beschreiben, ist die Absicht der folgenden Kapitel. 23 Als „beit dimjoni" oder „imaginäre Heimat" beschrieb Aharon Appelfeld den Kurort. 24 In diesem Sinn verweist sein Roman nicht nur auf die Blindheit und Naivität der jüdischen Kurgäste in Badenheim, sondern auch auf die Qualität und Überzeugungskraft eines temporären Schutzraums. In der

21 22 23 24

Brief an Emilie Zöllner, 19.8.1893, Fontane, Werke, 276. Vgl. Rahden j u d e n , 17-20. Zum Konzept der Vergegnung vgl. Buber, Begegnungen. Privatarchiv d. Verf., Interview mit Aharon Appelfeld, 21.3.2005.

Vergegnungen

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A b s i c h t , die historischen Z u s a m m e n h ä n g e und die Vorgeschichte seines im Zeitraffer erzählenden R o m a n s zu rekonstruieren, enden die f o l g e n d e n Ü b e r l e g u n g e n dort, w o Badenheim beginnt.

2. Unter

Vergegnungen

Fremden ... zu spazieren, wie man ins Theater geht; sich unter Fremden zu befinden und ihnen ein Fremder zu sein ...; die Fremden als „Oberflächen" zu erfassen - „was sie sind" erschöpft sich in dem, „was man sieht" und vor allem, sie episodisch zu betrachten und zu kennen. ... Begegnungen als Vergegnungen einzuüben, als Begegnungen ohne Auswirkung ... Zygmunt Bauman, Der Spaziergänger, 199 7 2 5

I m Mai 1916, an einem Wochenende während des Ersten Weltkrieges, reiste F r a n z K a f k a dienstlich nach Karlsbad und M a r i e n b a d . 2 6 D i e Reise war im R a h m e n seines Zuständigkeitsbereichs bei der Arbeiter- Unfall-Versiehe rungs-Anstalt für das Königreich Böhmen in Prag nicht ungewöhnlich. A u c h waren die w e s t b ö h m i s c h e n K u r o r t e von Prag aus rasch und ohne U m s t ä n d e zu erreichen und lagen in der Wahrnehmung des Prager B ü r g e r t u m s im erweiterten Bewegungsradius der S t a d t . 2 7 O b w o h l der Aufenthalt k u r z und dienstlich, Marienbad zu Beginn der Saison leer, das Wetter trüb und regnerisch war, bestärkte die Reise eine bestehende Sehnsucht K a f k a s nach einem langen U r l a u b . 2 8 „Es gibt Gespenster der Gesellschaft und solche des Alleinseins", schrieb er am Sonntag, kurz nach seiner Ankunft im Marienbader Hotel Neptun, an Feiice Bauer, „jetzt sind die letztern an der Reihe, besonders wenn es regnet, kühl ist und die Kutscher auf dem Hofe schwätzen. Trotzdem wollte ich gern einige Monate hier allein bleiben, um zu sehen, wie es mit mir steht. Die Zeit vergeht und man vergeht nutzlos mit ihr. Es ist recht trübselig, man muß nicht einmal eine besondere Anlage dafür haben, solche Dinge geradezu ununterbrochen zu bemerken." 2 9

Bauman, Flaneure, 150-151. Bereits im April 1916 war Kafka dienstlich und in Begleitung seiner Schwester Ottla für zwei Tage in Karlsbad gewesen. Brief an Feiice, 9.4.1916, Kafka, Briefe, 155. 2 7 Auch Kafkas Eltern - der Vater hatte ein nervöses Herzleiden - verbrachten häufig den Sommer in Franzensbad. Kafka, Briefe, 447. 28 Brief an Feiice Bauer, 25.4.1916, Kafka, Briefe, 157. 2 ' Brief an Feiice Bauer, 14.5.1916, Kafka, Briefe, 159. 25 24

80

Beit dimjoni

Wie er schrieb, beschäftigte ihn die Überlegung, für möglichst lange Zeit aus dem Büro wegzukommen, bereits seit längerem. Er berichtete von einem Gespräch mit seinem Direktor, der ihm wenige Tage zuvor entgegen allen Erwartungen einen mehrwöchigen Urlaub versprochen hatte, nicht zuletzt infolge seines „Nervenleidens" - einer kurz zuvor ärztlich diagnostizierten Herzneurose. 3 0 Beinahe schon wieder auf dem Weg zurück nach Prag schrieb Kafka am Montag noch eine Karte an Feiice Bauer: „Karlsbad ist recht angenehm, aber Marienbad ist unbegreiflich schön. Ich hätte schon viel früher meinem Instinkt folgen sollen, der mir sagt, daß die Dicksten auch die Klügsten sind. D e n n abmagern kann man überall auch ohne Quellenanbetung, aber in solchen Wäldern sich herumtreiben nur hier. Allerdings ist jetzt die Schönheit gesteigert durch die Stille und Leere und durch die Aufnahmebereitschaft alles Belebten und Ungelebten; dagegen kaum beeindruckt durch das trübe, windige Wetter. Ich denke, wenn ich ein Chinese wäre und gleich nach Hause fahren würde (im Grunde bin ich ja ein Chinese und m u ß nach H a u s e fahren), müßte ich es doch bald erzwingen, wieder herzukommen. Wie würde es dir gefallen! Herzlichst F r a n z . " 3 1

Ein Chinese, der von Marienbad aus nach Hause fährt, evoziert das Bild einer langen Reise, die nicht der geographischen Entfernung zwischen dem Kurort und Prag entsprach, möglicherweise aber der gefühlten Distanz zwischen einem O r t der Erholung und dem zehrenden Alltag in der Großstadt. Kafka benutzte dafür eine zur Jahrhundertwende geläufige Chiffre der Fremdheit. Der Verweis auf den Chinesen eignet sich, ein Gefühl der Entfremdung auszudrücken, einem zurückgelassenen Alltag gegenüber ebenso wie der Realität des modernen Lebens an sich, potenziert in der Erfahrung des Schriftstellers und Juden. Parallelen zwischen Chinesen als exotischen und Juden als paradigmatischen Fremden spielten nicht nur in Kafkas eigenem Schreiben eine Rolle. 3 2 In jüdischen publizistischen Diskursen wurde dieser Vergleich ebenso herangezogen, 33 wie in pseudowissenschaftlichen Antisemitismen, die eine „gelbe Gefahr" einer „jüdischen Gefahr" gegenüberstellten. 34 In Karlsbad und Marienbad intendierte der humoristische 30 Briefe an Feiice Bauer, 19.4.1916 u. 14.5.1916, Kafka, Briefe, 156, 160; Tagebucheintragung vom 2.5.1916, Kafka, Tagebücher, 785-786. 31 Karte an Feiice Bauer, 15.5.1916, Kafka, Briefe, 161. 32 In der Erzählung Beim Bau der chinesischen Mauer stehen Chinesen als Chiffre für das jüdische Volk. Vgl. Robert, Kafka, 25-26; Alt, Kafka, 579-582. 33 Einerseits spielte die Wiederentdeckung der in China lebenden Juden eine Rolle (vgl. Artikelserien in Jeschurun, Die Welt, Ost und West u.a.), andererseits die Bedeutung Chinas als Emigrationsland, so etwa für 3.000 rumänische Juden, die 1902 Rumänien in Folge des wachsenden Antisemitismus verlassen wollten. Nach China!, 4. 34 Vgl. Vortrag des Universitätsprofessors Christian Ehrenfels an der Deutschen Universität Prag. Selbstwehr 5 (1911) 48, 1.

Vergegnungen

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Verweis auf Chinesen immer eine Bestätigung der Exotik und Internationalität der Kurgesellschaft, waren Chinesen - im Gegensatz zu Argentiniern, Australiern oder Persern - doch mit Sicherheit nicht auf den Promenaden anzutreffen. 3 5 Der Karlsbader „Kikriki" hingegen, eine satirische Zeitschrift, die wenige Jahre nach Kafkas Aufenthalt erscheinen sollte, artikulierte seine Kritik an den Ambivalenzen des lokalen Antisemitismus, indem er Chinesen und Juden als prototypische Fremde gleichsetzte. 36 Sich entfremden war ein immer wiederkehrender zeitgenössischer Sehnsuchtstopos. Ein nie zuvor da gewesener Wohlstand und eine nie zuvor erlebte Reiselust lösten einen breiten Mittelklassetourismus aus, der temporäre Abhilfe für ein wachsendes „Heimweh nach der Fremde" versprach. 37 Dieses ursprünglich romantische Konzept aktualisierte und modernisierte sich im Versuch, eine verloren geglaubte Heimat wieder finden zu wollen. Die moderne Ortlosigkeit wurde als zutiefst nostalgische Erfahrung erlebt, während Authentizität und Wirklichkeit woanders gesucht werden wollten. 38 Hilfreich konnte manchmal schon eine Reise in einen nahe gelegenen, unbekannten Ort sein, eine Großstadt oder einen international besuchten Kurort, dessen exotisches Publikum gleichzeitig eine Erfahrung von „Fremde in der Heimat" möglich machte. „Vielleicht darf ich nicht zu lange an einem Ort bleiben", schrieb Franz Kafka einmal an eine junge Freundin, „es gibt Menschen, die sich ein Heimatgefühl nur erwerben können, wenn sie «39

reisen. Als Kafka sich im Mai 1916 in Marienbad aufhielt, befand der Ort sich gerade in einem Moment des Ubergangs und in den letzten Zügen der Verwandlung von einer dörflichen Kleinstadt zur sommerlichen Kosmopole. War das Image des Modekurorts erfolgreich adaptiert, würde Marienbad bald wieder jene Miniaturausgabe der Welt darstellen, die eines der beliebtesten lokalen Werbemotive war: „Fesselnde Bilder internationalen Lebens und Treibens entfalten sich hier dem Auge des Beschauers. Alle Sprachen der Welt klingen an das Ohr: hier atmet der Fremde die Atmosphäre der großen Welt." 40 Fremdsein wurde hier als Privileg in Szene gesetzt, das nicht als bedrohlich, sondern erfreulich erlebt werden sollte, zumal alle fremd waren und dieselbe Luft der Fremde atmeten. Der inszenierte Kosmopolitismus schuf die Realität einer positiv erfahrenen Anonymität, die durch Begrenztheit von Raum und Aufenthalt eine an3 5 Vgl. u . a . den Aufenthalt des persischen Schah M u s s a f e r ed D i n im S e p t e m b e r 1900. P u s tejovsky, Politik, 22; K i s c h , K u r o r t e , 1. M Karlsbader „ K i k r i k i " 2 (1925) 8, 2. 37 38 39 40

Zilcosky, Travels, 7. Kaplan, Q u e s t i o n s , 3 3 - 3 5 . Brief an Tile R ö s s l e r , S o m m e r 1923, zitiert nach R ö s s l e r , Kanaille, 188. Marienbad. D i e Perle der b ö h m i s c h e n Weltbäder, 27.

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dere Verdichtung des Erlebens als in der Großstadt mit sich brachte. Denn die Strukturen des Kurortes konservierten eine längst vergangene Öffentlichkeit mit romantisierender Nostalgie: In den Parks, Cafes und Theatern des 18. Jahrhunderts hatte sich eine kommunikative Vielfalt ausgebildet, die nicht mehr ausschließlich den Angehörigen der Eliten zur Verfügung stand. Dort tauchte die Bezeichnung Kosmopolit auf, als „Mensch, der sich mit Behagen in der Vielfalt bewegt", ein perfekter Öffentlichkeitsmensch, der sich in Anonymität und Fremdheit wohl fühlt.41 In den Augen Jean Jacques Rousseaus entfaltete diese Art von öffentlicher Geselligkeit ein Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeiten, indem sich die Menschen in Schauspieler verwandelten und sich selbst zu Gunsten der Inszenierung einer „grotesken Oper" verloren.42 Richard Sennett zufolge fand diese Öffentlichkeit Wege ins 19. Jahrhundert und formte dort Refugien innerhalb einer sich säkularisierenden, kapitalistischen Erwerbsgesellschaft, in welche sich die von den Veränderungen der Moderne überforderten Menschen zurückziehen konnten. 43 Die großen 'Weltkurorte konservierten und ritualisierten diese alten Öffentlichkeitsstrukturen, entwickelten gleichzeitig aber ein System moderner, fragmentierter, sich aneinanderreihender Öffentlichkeiten, denen unterschiedliche Qualitäten und Funktionen zugesprochen wurden. Um Fragen von Nähe und Distanz, Inklusion und Exklusion zu regeln, wurde innerhalb der alten Strukturen in neuen Handlungsabläufen agiert. Die Promenaden waren ursprünglich die kommunikativen Räume des Kurortes gewesen, auf denen es um soziale Konsolidierung ebenso wie um distanzierte Annäherung zwischen den Ständen ging.44 In der Zeit der Aufklärung hatte sich das Bad durch große soziale Heterogenität ausgezeichnet und in der räumlichen Enge gleichzeitig Distanzen betont wie Entgrenzungen ermöglicht. 45 Die Verbürgerlichung der Bäder in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hinterließ eine veränderte und verunsicherte Kurgesellschaft, die in den Promenaden Erlebnis- und Einübungsräume der bürgerlichen Etikette sah.46 In der Anonymität der Masse von Kurgästen und Passanten, die Karlsbad, Marienbad und Franzensbad bevölkerten, verschwand das gesellige Erleben mehr und mehr und machte, ähnlich der Urbanen Öffentlichkeit, den Monolog zur Grundform der Kommunikation. 47 Jetzt tauchte auch der Flaneur auf den Promenaden auf und bewegte sich unter

41 42 43 44 45 46 47

Sennett, Verfall, 3 2 - 3 3 . Sennett, Verfall, 1 5 5 - 1 5 6 , 279. Sennett, Verfall, 36. Vgl. Geisthövel, Promenadenmischungen, 2 1 8 - 2 2 7 . Kuhnert, Urbanität, 1 7 - 1 8 . Mackaman, Leisure, 1 2 3 - 1 2 4 . Sennett, Verfall, 252, 279.

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Fremden, ohne sich mit tieferen Eindrücken aufzuhalten. 4 8 Fremde verloren oder verzichteten zunehmend auf das Recht, einander anzusprechen, zu G u n s t e n des Rechts, in Ruhe gelassen zu werden. Das öffentliche Leben in den früher so intimen Kurorten wurde zu einer Sache des schweigenden voyeuristischen Beobachtens, einer „Gastronomie des Auges", wie H o n o r e de Balzac es für Paris beschrieben hatte. 4 9 Von städtischen Repräsentations- und Spazierwegen unterschieden sich die Promenaden der Kurorte durch die D o m i n a n z der Brunnen, denen soziale Nivellierungsmacht zugeschrieben wurde. „ W ä h r e n d des H o c h s o m m e r s " , beschrieb ein M a r i e n b a d e r Reiseführer den vermeintlichen gesellschaftlichen S c h u t z r a u m , „dehnt sich dann der Z u g der K r e u z brunnenpilger weithin bis z u r P r o m e n a d e aus. D a gilt kein R a n g u n t e r s c h i e d des Kurgastes

und ,Wer früher k o m m t ,

trinkt

früher'

lautet der G r u n d s a t z

der

G l e i c h b e r e c h t i g u n g . Selbst die Galanterie wird in verzeihlicher Weise bei Seite ges e t z t u n d die D a m e n , welche s o n s t stets g e w o h n t sind, die E r s t e n zu sein, m ü s s e n o f t den M ä n n e r n den V o r r a n g l a s s e n . " 5 0

Das Image einer solidarischen Gemeinschaft der Kurgäste und der egalisierenden Wirkung von Krankheit korrespondierte mit dem Bemühen der Kurorte, medizinische Anerkennung zu finden. So war es wenig überraschend, als 1906 ein Bild durch alle Zeitungen ging, „auf dem König Eduard von England in Marienbad neben einem Kaftanträger sein Glas Brunnen t r i n k t " . 5 1 Auf diese Weise sollte nicht in erster Linie die antielitäre und judenfreundliche Gesinnung des englischen Königs dargestellt, sondern ein Bild des Kurortes vermittelt werden, das selbst zwischen den gegensätzlichsten Figuren innerhalb der entopischen Hierarchie N ä h e herstellte. D i e se Inszenierung zitierte die noch nicht lange zurückliegende „exklusive P r o miskuität" der Kurorte als Vergnügungsplätze der Eliten. 5 2 D e r Einzelne hatte aber in der Zeit der modernen Massenkurorte keinen fixen, unveränderbaren Platz mehr in der Gesellschaft, und so verbarg sich hinter dieser vorgeblichen Egalität längst eine intensive Erfahrung von Differenz. Von den Promenaden als Schauplätze distanzierter Beobachtung verlagerten sich die kommunikativen Räume an exklusivere O r t e , die ihr Publikum vorsortierten. D i e Türen von Kaffeehäusern, Restaurants, H o t e l s und Kursalons öffneten sich nur für ihre Gäste, und die intimen Bereiche, die sich dahinter verbargen, wurden auch von den ansonsten akribisch beschreibenden Reiseführern respektiert. Diese O r t e übernahmen die Rolle der sozialen

48 49 50 51 52

Böttcher, Brunnengeister, nach Geisthövel, Promenadenmischungen, 227. Zitiert nach Sennett, Verfall, 4 5 - 4 6 , 201. Kisch, Blätter, 19-20. Antisemitismus in Badeorten, 271. Geisthövel, Promenadenmischungen, 206.

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Distinktion, die in der Anonymität der Masse und mit den Veränderungen der Mode nicht mehr ohne weiteres möglich war. Seit sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts ein neutraler und unauffälliger Kleidungsstil durchgesetzt hatte, der die Unterschiede im Erscheinungsbild subtiler machte und die tatsächlichen materiellen Verhältnisse in der Öffentlichkeit verschleierte, war es beinahe unmöglich geworden, die gesellschaftliche Stellung des Anderen mit Sicherheit auszumachen. 53 Innerhalb der gemeinschaftlichen Räume der Hotels banden die Verhaltensregeln der Hoteletikette die Gäste trotz Anonymität zu einer intimen Gesellschaft zusammen. 54 In den Restaurants und Speisesälen der Kurorte hielt man an der Einrichtung der Table d'Hote fest, die Unbekannte für die Dauer ihres Aufenthaltes an einem Tisch zusammenbrachte. Und doch bestand auch im Hotel das Recht, allein gelassen zu werden. Als Franz Kafka im Sommer 1916 zu einem längeren Aufenthalt nach Marienbad zurückkehrte, fand er sich zum Briefschreiben immer wieder in der Lobby seines Hotels, des Schloß Balmoral, ein: „... ich schreibe in der Halle, einer wunderbaren Einrichtung sich gegenseitig mit leichten Reizungen zu stören und nervös zu machen [.. .]." 55

An den Brunnen, auf den Promenaden,

in den Hotels

- In K a r l s b a d W i r k u n g der C u r g ä s t e als M a s s e , wie jeder das seine beiträgt z u m E i n d r u c k : Weltcurort; aber m a n darf sie nicht einzeln ansehn, w e n n m a n das g r o ß e s p ü r e n will - denn das sind's H o c h s t a p l e r , Z u ckerkranke, p o l n i s c h e J u d e n , G i g e r l n . . . , einige wirklich elegante M e n s c h e n und ein paar e n t z ü c k e n d s c h ö n e A m e r i k a n e r i n n e n . - Ich bin aus K . bald f o r t m a n kann dort nur zwei Tage o d e r vier W o c h e n bleiben. Arthur Schnitzler an Hugo von Hofmannsthal, 10.7.1895 56

Man bewegte sich in Kreisen durch Karlsbad, Marienbad und Franzensbad, und verbrachte die Kur vornehmlich in Zirkeln von Bekannten oder Verwandten. Zur Blütezeit der westböhmischen Bäder, vom Ende des 19. JahrSennett, Verfall, 36, 210-211. Vgl. Knoch, Grandhotel, 139. 55 Briefe an Max Brod, 12. u. 14. Juli, 17. u. 18. Juli 1916, Kafka, Briefe, 172, 177. 56 Brief an Hugo von Hofmannsthal, 10.7.1895, Schnitzler, Briefe 1875-1912, 265. Gigerln waren die Wiener Variante der Dandys. 53

54

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hunderts bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs, reisten Angehörige jüdischer Kulturen aus allen Teilen Europas zur Kur nach Böhmen. Sie kamen im Gefolge ihrer alltäglichen Netzwerke und Beziehungen und pflegten dieselben am Ziel der Reise recht exklusiv. Obwohl in vielerlei Blicken als zusammengehörige Gruppe innerhalb der Kurgesellschaft wahrgenommen, unterschieden sie sich nicht nur durch andere Abfahrtsorte voneinander, sondern reflektierten die ganze Breite möglicher Identitäten, die zur Zeit im europäischen Judentum bestanden - von konservativ über sozialistisch, kommunistisch und zionistisch bis hin zu fromm in allen religiösen Strömungen. Kontakte zu jüdischen Kurgästen außerhalb der eigenen Zirkel zu knüpfen, war außergewöhnlich, wenn auch nicht so selten wie zu nichtjüdischen Kurgästen. 57 Zielsicher bewegte man sich durch die Massen auf den Promenaden, um alte oder neue Bekannte in vertrauten Kreisen zu entdecken und das Interesse der Kinder in Richtung geeigneter Spielgenossen oder potentieller Ehepartner zu lenken. 58 Das imaginierte Kollektiv der jüdischen Kurgäste projizierte eine fiktive und zuweilen verwirrend unlogische Trennung in West- und Ostjuden. Darin spiegelte sich eine intensive zeitgenössische Debatte wider, die in den Dynamiken der Kurgesellschaft allerdings einen grotesken Beigeschmack bekam. 59 Denn sie reduzierte sich im Kurort weitgehend auf Repräsentation und Beobachtung als Praktiken der Abgrenzung und Selbstvergewisserung über soziale, sprachliche oder ästhetische Codes. Sich selbst darzustellen und währenddessen den Anderen zu beobachten, in der Maske von dessen Äußerem einen Spiegel der eigenen Persönlichkeit zu erkennen, gehörte zum besonderen Vergnügen auf den Promenaden, in den Kaffeehäusern und Parks. 60 Nimmt man mit Gilles Deleuze und Jacques Lacan an, die Betrachtung des Anderen habe immer auch den Zweck, das eigene Selbstbild zu reflektieren und zu erfüllen, entpuppt sich dieses schauende Vergnügen als eine weitgehend narzisstische Angelegenheit.61 Uber die Lektüre der Kurlisten konnte man feststellen, wer sich abgesehen von einem selbst gerade im Ort aufhielt und interessant erschien -

57 Das soziale Mischungsverhalten in Kurorten wird allgemein idealisiert, Kontakte zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen waren in Wirklichkeit selten. Vgl. Blackbourn, Meeting Places, 452. 58 Kaplan, Bürgertum, 177. 59 Verarmte ostjüdische Einwanderer lösten bei einheimischen Berliner oder Wiener Juden um die Jahrhundertwende häufig das Bedürfnis aus, sich zu distanzieren. Einerseits schrieb ihnen die Gesellschaft rassistische Devianzen zu und machte sie zu Außenseitern, andererseits fühlten bürgerliche Juden sich an ihre eigene Vergangenheit erinnert und betrachteten die Neuankömmlinge als Hindernis ihrer vollständigen Integration. Brenner, Renaissance, 142; Hödl, Migration, 154; Aschheim, Brothers; Wertheimer, Strangers. 40 Sennett, Verfall, 46, 207. 61 Vgl. Deleuze, Differenz, 147; Lacan, Spiegelstadium.

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Abb. 1: Familie Grüngard aus Berlin in Marienbad, 13.7.1922.

was wiederum die eigene Verortung innerhalb der temporären Gesellschaft aufzeigte. Die bürgerliche Lust an der Teilnahme am Leben von Zelebritäten spielte in Modekurorten wie den westböhmischen Bädern eine große Rolle. Konzentrierte sich das allgemeine Interesse auf den europäischen Hochadel, so richteten jüdische Kurgäste ihre Blicke außerdem auf die Eliten innerhalb des europäischen Judentums. Neben adeligen Familien, wie den Rothschilds und Hirschs, erregten in Karlsbad und Marienbad besonders die zahlreich anwesenden Rabbiner und Oberrabbiner aus allen Teilen Europas Aufmerksamkeit, über deren Aufenthalt Badeblätter und jüdische Zeitungen berichteten. Dort wurde auch angekündigt, wenn bekannte Künstler, Schriftsteller, Ärzte oder Politiker sich zur Kur im Ort aufhielten, egal ob es sich dabei um Theodor Herzl, Richard Beer-Hofmann, Arthur Schnitzler, Sigmund Freud oder Jizchak Leib Perez, Chaim Nachman Bialik, Scholem Alejchem, Morris Rosenfeld oder Abraham Goldfaden handelte. Von Zeit zu Zeit wurden Festbanketts und Feiern veranstaltet, zu denen kleinere oder größere Gesellschaften geladen waren, so etwa im Sommer 1879, als der Historiker Heinrich Graetz seine fünfundzwanzigste Kur in Karlsbad verbrachte. 62 Reisten Berühmtheiten unter falschem Namen und hofften, "

Israelitische Wochenschrift 10 (1879) 36, 307; Graetz, Leben, 761-764.

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unerkannt zu bleiben, trug dies zum mythischen Flair des kosmopolitischen Kurortes bei. Im Sommer 1908, kurz nach dem versuchten Attentat auf Alfred Dreyfuss während des Begräbnisses von Emile Zola, berichtete die Prager Selbstwehr: „ M a j o r A l f r e d D r e y f u s ist v o r einigen Tagen i n k o g n i t o in K a r l s b a d a n g e k o m m e n u n d nur die E i n g e w e i h t e n wissen, unter w e l c h e m N a m e n er in der K u r l i s t e eingetragen ist u n d w o er w o h n t . E r will g a n z u n g e s t ö r t hier die K u r gebrauchen, die er in der tat n ö t i g zu haben scheint, d e n n sein A u s s e h e n verrät n o c h i m m e r die seelischen Q u a l e n , die er e m p f i n d e t , w ä h r e n d er die phisischen w o h l ü b e r s t a n d e n haben d ü r f t e . " 6 3

Der notwendige Reiz des Neuen, den die räumliche Veränderung mit sich brachte, war Teil der Erwartungshaltung der sich als kosmopolitisch verstehenden Gesellschaft. So kam es innerhalb dessen, was sich hier für eine begrenzte Zeit als imagined community auf supranationalem Territorium zusammenfand, nicht nur zur Bestätigung von Identitäten, sondern auch zu deren Veränderung - für die Dauer des Aufenthaltes und manchmal darüber hinaus. Das begann damit, dass die Menschen sich im Kurort anders kleideten und habituelle Praktiken verstärkten oder veränderten, im Bemühen um eine überzeugende Verkörperung und Selbstdarstellung der eigenen Gruppe in Abgrenzung zu anderen. Uberschritten die gerade Angekommenen die Grenze des Kurbezirks, so taten sie dies in der Regel in eleganter, dem Kuraufenthalt entsprechender Kleidung. Das bedeutete in den meisten Fällen helle Anzüge von plakativer Eleganz für die Männer, weiße Sommerkleider, aufwendiger und gewagter als zu Hause, für die Frauen. 6 4 Auch die Kinder, so man sie mitnahm und nicht währenddessen in die Sommerfrische schickte, bekamen helle Sommerkleider und Matrosenanzüge. 6 5 Der Münchner Anwaltssohn Philipp Loewenfeld, der als Teenager zum ersten Mal nach Marienbad mitkommen durfte, erinnert sich, zu diesem Zweck neu eingekleidet worden zu sein: „Bevor wir hinfuhren wurde ich fashionable ausgestattet, mit den ersten langen weissen Hosen und weissen Schuhen, auf die ich ausserordentlich stolz war." 6 6 Weitaus größer war die symbolische Verwandlung in den meisten Fällen für Reisende aus Osteuropa, über deren Repräsentationssucht und Anpassungsbedürfnis an eine westlich-kosmopolitische Kultur sich jiddische Schriftsteller häufig lustig machten. In seinem Roman Die Brüder AschkenaSelbstwehr 2 (1908) 32,6. Henisch, Tanz, 199. 65 I N J O E S T , Norbert Toller, Erinnerungen. N u r alleinreisende Frauen nahmen häufig ein Kind, meist eine Tochter jeden Alters, auf ihre Reise mit. LBI, Lalla Kaden (nee Bondi), Akt, 165-166; I N J O E S T , Egon Bäsch, Erinnerungen; vgl. auch Kaplan, Bürgertum, 175-177. 66 LBI, Philipp Loewenfeld, Memoiren, 23-24, inzwischen auch publiziert in: Loewenfeld, Recht, 25-28. 43 64

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si karikiert Israel J. Singer die Veränderungen in Kleidung und Habitus, deren sich das vermögende Lodzer jüdische Bürgertum auf den Karlsbader Promenaden unterzog: „Auf den gepflasterten Gehsteigen stellten Damen Roben mit langen Schleppen zur Schau, die sie auf den schmutzigen, rußigen Lodzer Straßen nicht tragen konnten. Die Herren, die kurze Jacketts und enge Beinkleider oder leichte, geschlitzte Gehröcke, Stehkragen und spitz zulaufende Lackschuhe trugen, verbeugten sich und wedelten arrogant mit dem Taschentuch." 6 7 Bereits an der österreichischen Grenze hatten die Männer ihre Zylinder ausgepackt, damit sich die Ehefrauen „nicht vor den protzigen Deutschen zu genieren" brauchten. 68 Die Referenz zu „den Deutschen", einem in der jiddischen Literatur häufig gebrauchten polemischen Narrativ, kritisiert in diesem Fall weniger die „assimilierten" Westjuden als die sich an ihnen orientierenden Ostjuden: Reisten diese nach Karlsbad, verloren sie ihr Selbstbewusstsein und begannen, sich wie daytshe zu benehmen. 6 9 Auch der Spott des aus Russland stammenden jiddischen Schriftstellers Scholem Alejchem ging in eine ähnliche Richtung. Nachdem er um die Jahrhundertwende nicht nur an Tuberkulose sondern auch an Diabetes erkrankt war, verbrachte Scholem Alejchem zusammen mit seiner Familie einige Jahre in verschiedenen europäischen Kurorten. Mit der finanziellen Unterstützung von Lesern und Förderern hielt er sich unter anderem auch immer wieder in Marienbad auf, was ihn dazu anregte, einen unterhaltsamen Kurroman zu schreiben. 70 In dem satirischen Briefroman Marienbad persifliert er die Transformationen des vermögenden jüdischen Bürgertums, das aus Warschau nach Marienbad reist, um sich von seinen Wohlstandskrankheiten zu kurieren: 71 „Vor allem würde ich dir über unsere Weiber von den Nalewki schreiben, die, kaum daß sie über die G r e n z e sind, D a m e n werden, unser schönes Warschauer Jiddisch vergessen und anfangen, deutsch zu sprechen, deutsch direkt aus K a m e netz! Viele - die aus O d e s s a - sprechen nur russisch! U n d was für ein Russisch! . . . D a z u ihr A u f z u g , ihre Sucht, einander zu übertreffen durch H ü t e , Schmuck und Brillanten! D u solltest sehen, was sie treiben! Die Welt ist voll von ihnen. Die ganze Welt." 7 2

Nicht genug damit, dass sie sich mühen, ihre Herkunft zu verbergen, viele dieser „frommen Weibchen" würden in Marienbad auch ihre Perücken, äu67 68 69

Singer, Brüder, 3 1 8 - 3 1 9 . Singer, Brüder, 167. G i l m a n , Rediscovery, 3 6 0 - 3 6 1 .

L a n d m a n n , N a c h w o r t , 235. Alle Zitate aus der, k u r z nach Erscheinen des jiddischen Originals (1917) entstandenen U b e r s e t z u n g v o n Siegfried S c h m i t z (1921). 7 2 S c h o l e m Alejchem, Marienbad, 48. 70 71

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ßeres Zeichen ihrer religiösen Traditionalität, ablegen. 73 Die Reisen in den Westen bleiben für diese Frauen nicht ohne Folgen - denn es sind zumeist Frauen, die sich in den Polemiken jiddischer Schriftsteller den veränderten Bedingungen in den Kurorten unterordnen. Sie begnügen sich nicht mit der Reise, sondern wollen den Westen auch mit nach Hause nehmen. So nutzen die Protagonistinnen das große Angebot an westlichen „Bedarfs- und Luxusartikeln", das sie in den Konsumzentren Karlsbad, Marienbad und Franzensbad vorfinden, um dann mit „ganzen Koffern voller Seidenstoffe, Preziosen, Spitzen, Kristall und Antiquitäten" zurück nach Warschau oder Lodz zu reisen. 74 Ein solches Konsumverhalten - angenommen, der literarischen Uberhöhung lag eine Realität zugrunde - reflektierte unter anderem sich verändernde Identitätskonzeptionen, die in der Anonymität und Unverfänglichkeit der Kuröffentlichkeit spielerisch ausprobiert werden konnten. „In consumer society everyday aesthetic practices come not only to reflect the new .identities' of modernity, but also help to form people's sense of self, of likeness and difference." Leora Auslanders Beobachtung über den Einfluss von Konsum auf Konzeptionen des Selbst im Berliner und Pariser jüdischen Bürgertum scheint auf die temporäre aber umso mehr auf Äußerlichkeiten bedachte Kurgesellschaft ebenso anwendbar wie auf großstädtische Gesellschaften. 7 5 In der jiddischen Literatur werden Karlsbad, Marienbad und Franzensbad zum einen als Verlängerungen Osteuropas in den Westen beschrieben, die eine vertraute Infrastruktur und Atmosphäre versprechen: „Du glaubst, Marienbad sei Marienbad? Nein - Marienbad ist Berditschew, Marienbad ist Warschau, Marienbad sind die Nalewki." 7 6 Zum anderen entwerfen die Autoren ein Negativimage der westböhmischen Kurorte als Konsumtempel, in denen sich die ganze Dekadenz, Oberflächlichkeit und Verkommenheit des Westens konzentriert. In diesem Spannungsfeld von Vertrautheit und Verführung reagieren die zumeist naiven Protagonistinnen mit Schwäche. In Shmuel Yosef Agnons Erzählung Aufstieg und Abstieg beginnt selbst der Verfall einer ganzen Familie mit der Kurreise einer jungen Frau: „Die Schwiegertochter des Rabbi Chanan Abba hatte in Franzensbad eine neue Welt gesehen. K o m m t einer in die Kurbäder und ist nicht wirklich krank, was ist da natürlicher, dieweil er müßig geht, keine Sorgen hat und sein Geld zum Ausgeben bestimmt ist, als daß er den Wünschen seines Herzens nachgehe? U n d ist

73

Scholem Alejchem, Marienbad, 86, 97. Singer, Brüder, 122; Scholem Alejchem, Marienbad, 6 - 7 . Zur tatsächlichen Bedeutung der westböhmischen Kurorte als Werbeträger f ü r die böhmische Industrie in Osteuropa: Slokar, Bedeutung, 161. 75 Auslander, Taste, 300. 76 Scholem Alejchem, Marienbad, 79-80. 74

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er für gewöhnlich auch geizig, hier wird er zum Verschwender. Da er nun einmal gekommen ist, ,um gesund zu werden', muß er seinen Körper pflegen. U n d der Körper, der sich wohl fühlt von Essen und Trinken, Baden und Massagen und den übrigen Vergnügungen des Lebens, kommt gleich dahin, alles haben zu wollen. U n d von da ab befallen ihn Gelüste, die er niemals gekannt hat. K o m m t ein solcher ohne Ehegemahl und stolziert auf seinen Absätzen einher an einem Ort, w o man ihn nicht kennt, sagt der böse Trieb: Der ist mein. Da sei G o t t vor, daß Rabbi Chanan Abbas Schwiegertochter sich eine Übertretung hätte zuschulden kommen lassen, aber die Vergnügungen des Lebens führten sie irre. U n d als sie wieder in ihr Heim kam, war ihr das Städtchen zu eng geworden, und alles, was sie in Franzensbad gesehen hatte, umgarnte sie hier weiter. Sah sie schöne Geräte, sah sie ein schönes Kleid, brannte ihr Herz gleich danach." 77

Die manchmal schmerzhafte Unvereinbarkeit von Tradition und Moderne war wiederholt Thema von Agnons Erzählungen und Romanen über das jüdische Leben in Osteuropa. Der galizische Schriftsteller kannte die unterschiedlichen Welten West- und Osteuropas gut und lebte zu der Zeit, als das hebräische Original von Aufstieg und Abstieg erschien, gerade für einige Jahre im deutschen Bad Homburg. Tatsächlich standen bürgerliche osteuropäische Juden in der west-östlichen Soziabilität der Kurorte nicht selten zwischen zwei Extremen, dem selbstbewussten westeuropäischen Bürgertum und den antibürgerlichen, auf ihre Art aber nicht weniger selbstbewussten Chassidim: Mit den einen hatten sie den bürgerlichen Teil ihrer Welt gemeinsam, mit den anderen den sprachlichen und häufig auch religiösen. Obwohl das Bürgertum den größten Teil des Kurpublikums aus Osteuropa bildete, erregte es weitaus mehr Aufmerksamkeit, wenn ein chassidischer Rebbe mit seiner Entourage und manchmal hunderten Anhängern am Bahnhof ankam oder in einer Gruppe traditionell gekleideter Männer zwischen den Spaziergängern in sommerlich-hellen Farben durch den Ort promenierte: „... ihre schwarzen Kaftane waren aus Seide und wie wallende Gewänder, die Pejes waren dekorativ eingedreht neben den Gesichtern, und die Schnurrbärte und langen Bärte, ob rot, schwarz oder weiß wie Hermelin, hatten sie schön gekämmt und gewellt, wie biblische Patriarchen auf Bildern in der Kirche." 78 In der Kurgesellschaft fielen die chassidischen Rebbes als exotische „umziehende Majestäten" 79 auf und ernteten neben Ablehnung und Spott viel folkloristisches Interesse und religiöse Verehrung. In zahlreichen bedeutenden chassidischen Dynastien war die jährliche Reise in die westböhmischen Bäder Tradition: So kam der Gerer Rebbe

Agnon, Aufstieg und Abstieg, in: idem, Gemeinschaft, 15-16. Langer, Byli a bylo, 244-245. " Franz Kafka über den Beizer Rebbe. Brief an Max Brod, 17. u. 18. Juli 1916, Kafka, Briefe, 180. 77

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ebenso regelmäßig wie der Beizer und nach ihm dessen Sohn, der Satmarer, der Munkatsher, der Vishnitzer, der Alexandrover, der Bialer, der Tshortkover, der Husiatiner und viele mehr. 8 0 Ruth Shaingarten, deren Familie ein rituell geführtes Hotel in Marienbad besaß, erinnert sich, dass der Gerer Rebbe mit seinen Anhängern eine ganze Etage ihres Hotels zu mieten pflegte. In ihrer Erinnerung, so Ruth Shaingarten, waren die Marienbader Straßen hauptsächlich von Chassidim bevölkert. 81 Die Rebbes benutzten ihre Kur nicht ausschließlich zu gesundheitlichen sondern auch zu repräsentativen Zwecken, sodass sich eine Reise nach Karlsbad, Marienbad oder Franzensbad häufig als Werbetour in den Westen entpuppte. 82 Bereits auf ihrer Reise durch Osteuropa zogen sie zahlreiche Anhänger an und nach ihrer Ankunft weitere, für die Böhmen leichter zu erreichen war als der entlegene Hof des Rebbes. Ihre Anwesenheit adelte die westböhmischen Kurorte und machte sie zu Pilgerorten für wohlhabende oder bedürftige Juden. Dem Anziehungseffekt der Hocharistokratie vergleichbar, brachten auch die Rebbes viele potentielle Kurgäste dazu, nach Böhmen zu reisen, und ließen mittellose Kranke auf besondere Wohltätigkeit in den temporären Zentren der jüdischen Welt hoffen. Um ihre Hotels versammelten sich immer zahlreiche Anhänger, die kamen, um Geschenke oder Spenden zu bringen oder den Rebbe in rechtlichen oder familiären Angelegenheiten um Rat und Hilfe zu bitten. 8 3 Fremdheit, Irritation und Faszination löste ihre Anwesenheit bei jüdischen Kurgästen aus Deutschland, Osterreich oder Böhmen aus. Der einzige Kontakt, den viele von ihnen bisher mit Ostjuden gemacht hatten, beschränkte sich auf philanthropische Äußerungen verarmten, hilfsbedürftigen Flüchtlingen gegenüber. Osteuropäische Juden zu erleben, die nicht nur selbstbewusst ihre Andersheit repräsentierten, sondern zudem sichtbare Autorität verkörperten, wurde zur Jahrhundertwende häufig als neue Erfahrung beschrieben: „Das internationale Kur- und Promenadenleben war für mich etwas völlig Uberraschendes und Unerhörtes", erinnert sich Philipp Loewenfeld: „Ich lernte aber dort auch zum ersten mal die Verschiedenheit der aus verschiedenen Ländern kommenden West- und Ostjuden kennen." Auf den Münchner Straßen war Loewenfeld bisher ausschließlich osteuropäischen Juden begegnet, die sich äußerlich nur unwesentlich von ihm selbst unterschieden. Sie hatten ihre eigenen Synagogen und keinen Kontakt zu den Kreisen, in denen seine Familie verkehrte.

80 Privatarchiv d. Verf., Brief von Ruth Shaingarten, 8.2.2003; YIVO, People of a Thousand Towns. 81 Privatarchiv d. Verf., Brief von Ruth Shaingarten, 8.2.2003. 82 Dieses Motiv benutzt u. a. Israel J. Singer in seinem Roman Josche Kalb. Singer, Josche Kalb, 132. 83 Der Wunderrabbi von Sadagora in Karlsbad, 2; Kisch, Erlebtes, 266.

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„Das war in Marienbad anders. Dort traten beispielsweise die reichen und polnischen Juden mit einem äusseren Glanz und einer Pracht auf, die uns etwas völlig Unbekanntes war. Andererseits trat das orthodoxe Element dort in der historischen Kleidung der langen Röcke und Barte und der Löckchen ins Strassenbild. Dies war besonders auffallend bei jungen stattlichen Männern mit riesengrossen braunen und roten Bärten. Ich konnte zum ersten Mal aus diesem Anlass das Gefühl der Fremdheit empfinden, das unter Juden möglich ist. Dass aus solchen äusseren Umständen bei anderen Leuten das Gefühl der Missachtung und der Feindschaft die Konsequenz sein könne, ahnte ich natürlich noch nicht. Mir kam eben nur der ganze Aufzug und zum Teil auch das heftige Gestikulieren etwas komisch vor, zumal wenn man einer Prozession solcher langer Röcke mitten im Wald oder auf der Promenade begegnete." 84 Die Cbassidim kümmerten sich während ihres Aufenthaltes wenig um die restliche Kurgesellschaft, lebten ausschließlich in ihren eigenen Kreisen und Rhythmen, im Rahmen ritueller Hotels und eigens eingerichteter Beträume, nach ihren Gesetzen, in ihrer Sprache. Im polemischen Jargon der K u r o r t e wurden sie deshalb ohne Unterschied von Stand oder Nationalität als die Polnischen bezeichnet, obwohl sie aus allen Teilen Osteuropas kamen. Sie waren Anlass für Spott und gaben Stoff für Gerüchte. A l s Siegmund Deutsch, ein aus der Slowakei stammender und in W i e n praktizierender Zahnarzt, während der Jahre v o r dem Ersten Weltkrieg in Karlsbad arbeitete, beschrieb er seiner Schwester den Saisonbeginn als Kuriosum: „Mein liebes Adelchen, [ . . . ] Hier ist jetzt alles zu einer ,Persermesse' 85 geworden. Kutschen und Automobile kommen nacheinander mit vielen Kurgästen in ihnen, die meisten von ihnen sind Juden - elegante Wiener, zankende Ungarn und Polen mit Pejes. 86 Es wird erzählt, dass diese .Polnischen' nicht bereit sind, sich auszuziehen, und dass sie angezogen in den Bädern sitzen wie große schwarze Frösche. Ich hoffe doch, dass sie nicht sonderlich gute Zähne haben. Es sind hier aber so viele Konditoreien zu finden, dass ich wahrscheinlich ein sicheres Auskommen haben werde." 8 7 Der langjährige Leiter des Marienbader Israelitischen Spitals, Enoch Heinrich Kisch, ging soweit, sich in seinen Memoiren darüber zu ärgern, dass in den Wartezimmern mancher Kollegen „die schmierigsten polnischen Juden neben den glänzendsten aristokratischen Erscheinungen Platz nehmen"

LBI, Philipp Loewenfeld, Memoiren, 2 3 - 2 4 . Persermesse - ungeordneter, chaotischer Menschenauflauf. 86 Hier verwendete er den Ausdruck pölisi, ein S c h i m p f w o r t f ü r polnische Juden in Ungarn. 8 7 Privatarchiv Läszlo A . Magyar, Brief v o n Siegmund Deutsch an seine Schwester Adel, vermutlich April oder Mai 1 9 1 2 . Siegmund (Zsigmond) Deutsch (um 1 8 8 5 - 1 9 4 4 ) , Zahnarzt und Cellist, praktizierte in Wien und während der S o m m e r 1 9 1 2 - 1 9 1 4 in Karlsbad. Er wurde 1 9 4 4 zusammen mit seiner Frau in den slowakischen Bergen v o n der SS ermordet. 84 85

Vergegnungen

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durften. 8 8 Nicht zufällig wurde der west-ostjüdische Konflikt in den Kurorten mehr als anderswo über habituelle und äußerliche Merkmale geführt. Abneigung und Unsicherheit im Umgang miteinander waren, wie Scholen! Alejchem es in seinem Roman Marienbad polemisch formuliert, aber auf beiden Seiten vorhanden: „Und Marienbad selbst ist dasselbe, das es vor einigen Jahren war", lässt er den Warschauer Kaufmann Chaim Soroker seiner daheim gebliebenen Frau gegenüber klagen: „Die gleichen wohlerzogenen Deutschen, welche sich für frömmer als die ganze Welt halten, weil sie den Hut beim Essen aufsetzen und sich nicht das Kinn rasieren. Gott allein weiß, wie sie mir zuwider sind, diese Halbjuden! Aber das beruht auf Gegenseitigkeit. Uns russische Juden hassen sie ärger als Schweinefleisch. Und einen Armen, der von uns kommt - sie nennen ihn .Schnorrer' - würden sie ihn Stücke reißen, wenn es ginge." 8 9 Lalla Kaden, Tochter einer gutbürgerlichen jüdischen Familie aus Dresden, begleitete ihre Mutter als 15jährige nach Franzensbad. In ihren Erinnerungen beschreibt sie den in Franzensbad zum ersten Mal erlebten Konflikt als Anstoß, Fragen über Verbindendes und Trennendes zu stellen, das die unterschiedlichen jüdischen Kulturen in einem Spannungsverhältnis hielt: „ I c h will mich sicher nicht b e s s e r m a c h e n , als ich war; aber oberflächlicher, als ich es in Wirklichkeit war, will ich vor den späteren G e n e r a t i o n e n der F a m i l i e auch nicht erscheinen! S o kann ich der Wahrheit g e m ä ß konstatieren, dass ausser den äusseren D i n g e n d o c h auch eine ganze M e n g e ernsterer F r a g e n anfingen, f ü r mich B e d e u t u n g zu gewinnen. Warum m u s s t e n denn z u m Beispiel die vielen o r t h o d o x e n J u d e n , die wir in F r a n z e n s b a d in K a f t a n u n d Peies hatten u m h e r s c h l e i c h e n sehen, in b e s o n d e r e n k o s c h e r e n G a s t h ä u s e r n essen? G e f i e l e n sie wirklich ihrem G o t t e besser, w e n n sie kein Schweinefleisch aßen, w e n n das Vieh f ü r sie in b e s o n derer Weise geschlachtet, das E s s e n in getrennten S c h ü s s e l n zubereitet w u r d e ? Warum gefielen denn wir, wie mir schien, d i e s e m selben G o t t e e b e n s o gut, w o wir zwischen .Milchern' u n d .Fleischern' keinen U n t e r s c h i e d m a c h t e n u n d uns jedesmal nach d e m B a d unsere mit Prager Schinken belegte S e m m e l a u s g e z e i c h n e t schmecken ließen?"90

Die alltäglichen Praktiken, die man in der Enge des Kurortes aneinander beobachten und voneinander abschauen konnte, lösten ebenso Sympathie wie Distanz aus. Wenn eine großbürgerliche deutsche Familie Freitagabend in einem kleinen chassidischen Lokal zu Abend aß, übertrat sie damit bereits eine unsichtbare Grenze. In den Erinnerungen Gerald Meyers, Sohn eines Berliner Anwalts, wird ein solcher Abend zum zentralen Erlebnis eines Sommers in Karlsbad. Schwärmerisch beschreibt er viele Jahre später das Essen in dem kleinen Familienrestaurant: „I do not want to bore you with a 88 89 ,0

Kisch, Erlebtes, 228. Scholem Alejchem, Marienbad, 47-48. Lalla Kaden, zitiert nach Richarz, Leben, 335-336.

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detailed recital of the boiled carp in its juice, consisting of a perfect blending of onion and fish flavours, of which every fish I had eaten in the past had given only a slight hint; how the chicken was both tender, yet of firm texture; and finally, how a cherry Strudel combined the juiciness and tartness of fresh cherries bounded by an almond flavoured delicacy of its crisp and flaky dough." 9 1 Spielte das Essen im Kuralltag grundsätzlich eine wichtige Rolle, so kam dieser Erfahrung eine darüber hinausgehende symbolische Bedeutung zu: Ethnisch, das heißt jüdisch zu essen löste bei den Protagonisten in Verbindung mit der Atmosphäre eines rituellen, chassidischen Freitagabends nicht zufällig ein Gefühl emphatischer Folklore aus: In einer Welt des Ubergangs und der Loslösung von religiösen und sozialen Traditionen vermochte ein solcher Abend vorübergehend einen Eindruck von Gemeinschaft und Zugehörigkeit vermitteln. So hatte das vielfältige Angebot an Essens- und Alltagspraktiken, das in Karlsbad, Marienbad und Franzensbad an die unterschiedlichen jüdischen Kulturen gemacht wurde, auch das Potential, auf Konflikte und Differenzen zwischen den Generationen zu verweisen. Familie Loewenfeld aus München pflegte in Marienbad immer in einem eleganten und teuren Restaurant zu essen, das zwar koscher aber weitaus weniger streng geführt war, als andere: „ M e i n G r o ß v a t e r war nur sehr schwer zu ü b e r z e u g e n , dass er im , N e w Y o r k ' o h n e V e r s ü n d i g u n g gegen seine R e l i g i o n essen k ö n n e . E r glaubte nicht recht an die R a b b i n a t s k o n t r o l l e , unter der das R e s t a u r a n t angeblich stand. Seine Zweifel darüber, o b im , N e w York' alles mit rechten D i n g e n z u g e h e , waren vor allem d a d u r c h genährt, dass es d o r t m a n c h m a l R e h b r a t e n gab. D a bekanntlich der gläubige J u d e nur g e s c h ä c h t e t e s Fleisch essen darf, wollte er nicht verstehen, dass diese R e h e den A n f o r d e r u n g e n der R e l i g i o n entsprachen, weil er w u s s t e , dass m a n R e h e in der Regel schiesse. E s b e d u r f t e starker Ü b e r r e d u n g s k ü n s t e meiner Eltern, u m ihn d a v o n zu ü b e r z e u g e n , dass der R e b r a t e n im , N e w Y o r k ' v o n g e f a n g e n e n u n d ges c h ä c h t e t e n R e h e n herrühre. I m m e r wieder e r k u n d i g t e er sich bei m e i n e m Vater, o b wir ihn damit nicht in g o t t l o s e r Weise hereinlegten. Ich glaube, s o recht ges c h m e c k t hat es ihm im , N e w Y o r k ' d e s h a l b n i e . " 9 2

Ähnliche generationale Differenzen und Unterschiede traten in der Heterogenität jüdischen Lebens der Kurstädte immer wieder deutlich hervor. In seinen Aufzeichnungen über Karlsbad erinnert sich Gerald Meyer, seinen Großvater in einer Situation erlebt zu haben, die dem Jugendlichen außergewöhnlich erschien. Zufällig passierte er auf seinem Weg durch die Kurstadt eine ihm unbekannte Gegend, den Elisabethpark, ein Treffpunkt frommer Juden:

" 92

LBI, Gerald Meyer, Sprudel, 18. LBI, Philipp Loewenfeld, Memoiren, 24.

Vergegnungen

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„ S u d d e n l y , I saw on o n e of the b e n c h e s a familiar figure. T h e r e sat m y g r a n d f a t her, tall and erect in his well-tailored suit, with his dignified, s t a r c h e d wing collar, pearl gray tie and m a t c h i n g h o m b u r g hat. N e x t to him on the s a m e bench sat several b e a r d e d J e w s in their caftans and r o u n d f u r hats, while o t h e r s were s t a n d i n g a r o u n d the bench. T h e b e a r d e d m e n were actively talking t o each other, o b v i o u s l y deeply involved in a heated a r g u m e n t , and c o m p l e t e l y oblivious t o m y g r a n d f a t her, t o the ,jecke' sitting next t o t h e m , who, they m u s t have t h o u g h t , c o u l d not u n d e r s t a n d a w o r d of Y i d d i s h . [ . . . ] Whatever it was, m y g r a n d f a t h e r was sitting there, his steel blue eyes gazing f o r w a r d into the void, and gave n o sign that he was f o l l o w i n g the c o n v e r s a t i o n a r o u n d him. Yet, l o o k i n g at his face which I k n e w s o well and in which I was able t o r e c o g n i z e the reflections of the d e b a t e of which, this time, he was a listener only, I, f o r one, k n e w that he was nevertheless an alert t h o u g h silent p a r t i c i p a n t . " 9 3

In Anbetracht der Vielfalt möglichen jüdischen Lebens, die zur Jahrhundertwende in den engen Kurbezirken nebeneinander existierte, gehörten Selbstpositionierungen ebenso wie Selbstentfremdungen zu den alltäglichen Erfahrungen des Kuraufenthalts. Bereits über distanzierte Wahrnehmung und Beobachtungen entstand ein jüdischer Erfahrungsraum, in dem es zwar selten zu Interaktionen aber dafür umso häufiger zu emotionalen Reaktionen kam. Ein zunehmendes Erkennen und Anerkennen der Anderen erhielt im wachsenden Bewusstsein jüdischer Ethnizität zusehends mehr Raum und löste manchmal Ablehnung und Angst, manchmal folkloristische Empathie aus. Als gemeinschaftliches Interesse verband die unterschiedlichen Kulturen eine Begeisterung für Fürsten, die wie Kaiser Franz Joseph im Ruf standen, besonders judenfreundlich zu sein. Einer, dessen alljährliche Anwesenheit in Marienbad regelmäßig Aufhebens unter den Kurgästen und in der jüdischen Presse erregte, war der Prince of Wales und spätere Edward VII. von England. 94 Man sagte ihm nach, viele jüdische Freunde zu haben, und Gerüchte, die von seiner angeblich jüdischen Abstammung sprachen, kursierten hartnäckig. 95 Sein politisches Eintreten für die russischen Juden hatte ihm deren besonderen Respekt eingebracht. „So war es unschwer wahrzunehmen, wie die vornehmen und auch einfacheren russischen Juden, denen man in den böhmischen Bädern begegnete, von Verehrung für König Eduard erfüllt waren", schrieb Sigmund Münz, der den König in Marienbad über einige Sommer hin beobachtet hatte. 96 Edwards Respekt für das jüdische Leben in Marienbad trug maßgeblich zur Entstehung des Images eines jüdischen Ortes bei. Nicht nur das Bild,

» J LBI, Meyer, Sprudel, 29-30. 94 Edward VII. kam 1897 und 1899 (noch als Prince of Wales) und ab dem Jahr 1903 jeden Sommer bis zu seinem Tod nach Marienbad. Münz, Eduard VII., 11. 95 Münz, Eduard VII., 203-213. 96 Münz, Eduard VII., 209.

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das ihn neben einem Chassid am Brunnen zeigte, ging um die Welt, auch die Nachricht, dass der passionierte Gourmet regelmäßig im erwähnten Restaurant New York an der Kaiserstraße aß. Dieser Umstand machte großen Eindruck auf die Loewenfelds aus München, die meist zur gleichen Zeit wie der König ihre Mahlzeiten einnahm. Obwohl Edward zum Abnehmen nach Marienbad kam, war, wie Philipp Loewenfeld sich erinnert, „sein Appetit auf gute Sachen [...] fast unbegrenzt, was sich in seinem mächtigen Körperumfang widerspiegelte". Die Familie freute sich über seine Anwesenheit und fand es „ausserordentlich demokratisch, dass er im Essen nur auf die Qualität hielt und sich unter den vielen Juden, mit denen er in einem Raum aß, nicht abzusondern suchte". 97 In seinem Roman Marienbad ging Scholem Alejchem scherzhaft so weit, Edward VII. nicht nur als verehrten Fürsten unter den anwesenden westund osteuropäischen Juden sondern als zentrale Figur des jüdischen Ortes zu beschreiben, deren Verlust nach seinem Tod merklich spürbar war: „Höchstens ist meiner Meinung nach das jüdische Marienbad ein wenig zurückgegangen, seit der englische König Eduard gestorben ist. Ich erinnere mich noch, was, wie ich v o r einigen Jahren in Marienbad war, mit dem Eduard getrieben w o r den ist, der gefüllte Fische im größten jüdischen Restaurant gegessen hat. Nicht nur der W i r t dieses Restaurants, ein dicker ausgefressener Deutscher mit einer Gurkennase, hat sich, G o t t weiß was drauf eingebildet, daß er das Glück gehabt hat, daß der englische König bei ihm Fische gegessen hat, sondern jeder Kurgast, jeder Jude hat es f ü r eine Ehre gehalten, dort zu essen, w o der englische König gegessen hat. [...] M a n kann sagen, daß Eduards Tod, er ruhe in Frieden, f ü r die Marienbader Juden ein viel stärkerer Verlust ist, als f ü r die ganze übrige Welt." 9 8

Im Blick der

Anderen I wish you could see Carlsbad, it is a fantastic place. [...] I've never seen w o m e n so beautifully dressed anywhere, the finest f r o m all over the world and Jews, Jews, Jews f r o m the richest to the poorest. I hated it at first but n o w find it interesting. T h o m a s W o l f e an A l i n e Bernstein, 2 2 . 7 . 1 9 2 8 "

Obwohl es in der Intention der Verantwortlichen lag, das Image des Kurbezirkes als paradiesische Insel und exterritorialen Schutzraum zu präsentieren, reflektierte die Kurgesellschaft soziale und kulturelle Entwicklungen LBI, Philipp L o e w e n f e l d , M e m o i r e n , 23. Scholem A l e j c h e m , Marienbad, 4 8 - 4 9 . " Brief v o m 2 2 . 7 . 1 9 2 8 , Wolfe/Bernstein, Loneliness, 1 6 3 . 98

Vergegnungen

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der Welt außerhalb, verzerrt und den entopischen Dynamiken folgend. So korrespondierte auch hier das wachsende Bewusstsein jüdischer Ethnizität mit Erfahrungen von Ablehnung und Antisemitismus im Blick der A n d e ren. D i e vielfältig segregierte Kurgesellschaft war unentwegt damit beschäftigt, Abgrenzungsstrategien zu formieren und entwickelte auf diesem Weg auch eine besondere Ausdrucksform des Antisemitismus. Diese als Bäderantisemitismus bezeichnete, gesellschaftliche Spielart orientierte sich nur begrenzt an politischen Entwicklungen und folgte ihren eigenen Codes und Rhythmen. 1 0 Hier, wo letztendlich alle fremd waren, lag es nahe, J u d e n nicht nur als F r e m d e im Sinn von U n b e k a n n t e n , sondern zugleich im Sinn von Außenseitern zu betrachten. 1 0 1 In welchen Blicken, Images und Stereotypen sich diese Ablehnung artikulierte, ist T h e m a dieses Kapitels, während eine ausführliche Geschichte des Bäderantisemitismus in Karlsbad, Marienbad und Franzensbad an anderer Stelle folgt. In der performativen Öffentlichkeit des Kurortes waren die dominierenden kulturellen Praktiken Beobachtung und Darstellung, Sehen und G e s e henwerden. U m eine „Entschlüsselung des K ö r p e r s " ging es den B e o b a c h tenden auf den Promenaden, darum, von Erscheinung und Habitus des Gegenübers auf seinen Charakter zu folgern. 1 0 2 Jüdischen Kurgästen gegenüber bedeutete das, eine familiale Relation zwischen den Angehörigen heterogener Kulturen zu erkennen, um von der Ablehnung mittelloser Kurgäste aus O s t e u r o p a auf das jüdische Bürgertum und eine zur Dekadenz erklärte judenfreundliche Politik der Habsburgermonarchie zu schließen. In einer Beschreibung Ö s t e r r e i c h - U n g a r n s zur Jahrhundertwende schilderte der Reiseschriftsteller Francis Palmer die Karlsbader Kurgäste in der Hauptsache als „great financiers from Vienna or Pest, and their less influential but more picturesque confreres from Galicia, unmistakable in their long shiny gabardines, as well as from Prague and all parts o f Bohemia and Austria". 1 0 3 Die westböhmischen Kurorte galten in der europäischen Bädertopographie wie die meisten „großen internationalen Bäder" als O r t e , an denen es vergleichsweise wenig Antisemitismus gab und Juden sich relativ sicher fühlen k o n n t e n . 1 0 4 Weitaus seltener als in kleinen Kurorten wurden jüdische Kurgäste mit Antisemitismus konfrontiert, zumal das segregierte Massenkurpublikum weniger Berührungsflächen und Konfliktpotential bot. T r o t z dem lassen Erfahrungen, wie die Mitteilungen aus dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus sie im Juli 1912 für kleinbürgerliche Badeorte beschrieben, auch Vermutungen auf die hiesige Situation zu:

100

Bajohr, Hotel, 21.

101

S e n n e t t , Verfall, 74.

102

S e n n e t t , Verfall, 2 0 9 .

103

P a l m e r , Life, 1 2 6 - 1 2 7 .

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Bäderantisemitismus, 1 0 5 - 1 0 6 .

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Beit dimjoni „Relativ am besten fährt dann n o c h derjenige, d e r eine ausgeprägte jüdische P h y s i o g n o m i e hat o d e r einen a u s g e s p r o c h e n jüdischen N a m e n trägt. E r weiß wenigstens, was er zu a n t w o r t e n hat, und er r i c h t e t sich drauf ein. A n t i s e m i t i s c h e N a t u r e n w e r d e n ihm in der Regel fernbleiben, und w e r sich ihm anschließt, d e r hat w o h l die Vorurteile einer finsteren Zeit bereits ü b e r w u n d e n . W e r aber nicht gerade jüdisch aussieht und an seinem N a m e n nicht zu e r k e n n e n ist, ist häufig sehr übel d a r a n . " 1 0 5

Jüdische Kurgäste zu erkennen war dem Vergnügen vergleichbar, andere Nationalitäten auf den Promenaden auszumachen. Häufig folgten dem vermeintlichen Demaskieren aber Darstellungen voll rassistischer Antisemitismen, in der Leichtigkeit anekdotischen Kurlebens formuliert und deshalb irritierend ambivalent. Aussehen, Habitus und Familiennamen wurden zu Erkenntnishilfen bei der Entschlüsselung des Gegenübers instrumentalisiert, während man Promenierende beobachtete und Kurlisten studierte: „Liest m a n die Badeliste d u r c h " , schrieb T h e o d o r F o n t a n e im J a h r 1 8 9 3 aus Karlsbad an seine T o c h t e r , „so findet man, daß bis auf Australien, U r u g u a y , B u e n o s A y r e s und C a p s t a d t alle L ä n d e r und N a t i o n e n hier v e r t r e t e n sind, bei n ä h e r e r U n t e r s u c h u n g (glücklicherweise nur der N a m e n ) findet m a n aber freilich daß sie alle gleichmäßig aus J e r u s a l e m s t a m m e n und sich G o d save t h e Q u e e n und Y a n k e e - d o o d l e n u r vorspielen lassen, u m auf diese Weise f r e m d e N a t i o n a l i t ä t

[zu]

heucheln."106

Fontane hielt sich in den letzten fünf Jahren seines Lebens, von 1893 bis 1898, zusammen mit seiner kranken Frau jeden Sommer ein bis eineinhalb Monate in der Kurstadt auf, wo ihm „nur immer Liebes und Nettes" widerfuhr. 107 Bevor er zum ersten Mal nach Karlsbad reiste, war Fontane bereits seit über zwanzig Jahren regelmäßig in deutschen Bädern zur Kur gewesen. Egal, ob er sich in Misdroy, Norderney, Bad Kissingen oder anderswo aufhielt, immer kommentierte er in seinen Briefen die jeweiligen Kurgesellschaften mit häufig aggressiven, antisemitischen Bemerkungen. 108 Karlsbad übertraf seiner Aussage nach alles bisherige und während des ersten Sommers hörte er nicht auf, sich in Briefen an seine Tochter Martha zu beschweren: „Ich hätte nie geglaubt, daß es so viel Juden in der Welt überhaupt giebt, wie hier auf einem Hümpel versammelt sind", schrieb er kurz nach der Ankunft. „Ich halte so viel von den Juden und weiß was wir ihnen schulden, wobei ich das Geld noch nicht mal in Rechnung stelle; aber was zu toll ist, ist zu toll; es hat etwas - auch vom Judenstandpunkt aus angese-

105 106 107 108

Bäderantisemitismus, 106. Brief an Martha Fontane, 21.8.1893, Fontane, Werke, 2 7 8 - 2 7 9 . Brief an Friedrich Paulsen, 2.9.1897, Fontane, Werke, 663. Fleischer, Cohn, 124-139.

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hen - geradezu Aengstliches." 109 Trotz allem kam das Ehepaar von nun an jeden Sommer, bis zum Tod Fontanes im September 1898, wieder hierher. Dem Schriftsteller Theodor Fontane wird in vielen Bereichen, trotz seiner Anfälligkeit für Stereotypenbildung, durchaus eine gewisse Passion für das Fremde zugesprochen. Kam die Rede im privaten Kreis aber auf Juden, so reichen seine Äußerungen „von den vielfältigen Formen eines .Alltagsantisemitismus' über konservativ-antikapitalistische Kulturkritik bis zu rassistischen Ideologemen". 110 Als typischer Vertreter des bürgerlichen Antisemitismus im Kaiserreich hielt er sich zwar mit öffentlichen Aussagen weitgehend zurück, äußerte sich in privaten Korrespondenzen aber umso heftiger, wissend dass seine Aussagen von den Empfängern „als öffentliche Chiffre der Selbstverständigung" begriffen und akzeptiert würden. 111 In seinen Karlsbader Briefen artikulierte Fontane nicht nur eine Abneigung gegen die „Trotz und Uebermuth" zur Schau tragenden „Kaftan-Juden mit der Hängelocke, die hier Weg und Steg unsicher machen" und die er an anderer Stelle als „niedere Judenschaft" bezeichnet hatte. 112 Sie machten ihm letztlich keine Sorgen, waren sie doch einerseits keine Konkurrenz, anderseits ohne Probleme erkennbar. Schwieriger war es mit der „höheren Judenschaft", die auszumachen nicht ganz so einfach war. So erklärte Fontane, in Karlsbad nicht nur auf der Suche nach jüdischen Familiennamen zu sein, sondern auch nach ebensolchen Physiognomien, die er in der Masse des Kurpublikums trotz mancher Verwirrung zu entdecken glaubte. Nachdem er und seine Frau durch Vermittlung von Berliner Freunden eine Reihe neuer Bekanntschaften gemacht hatten, berichtete er einem Freund: „Daß Baron Lauer so jüdisch aussieht, ist übrigens verzeihlich, denn seine Mutter war eine Fränkel, das aber ist unverzeihlich, daß er hierherkommt. Wo schon so viele Juden sind (wenigstens dreiviertel) darf die Gesammtlage durch solche Barone, deren germanischer Christenname jeden Augenblick Lügen gestraft wird, nicht noch extra verwirrt werden." 113 Tatsächlich waren sowohl die alten als auch die neuen Bekanntschaften, mit denen Fontanes sich in Karlsbad die Zeit vertrieben, in den meisten Fällen Berliner Juden. Das nicht besonders wohlhabende Ehepaar wurde zu Diners in elegante Hotels eingeladen und amüsierte sich dort nicht schlecht, wenn Fontane auch in den anschließenden Briefen immer den zynischen

Brief an Martha Fontane, 17.8.1893, Fontane, Werke, 2 7 5 - 276. no Mecklenburg, Portugiesen, 95 und 99. 111 Benz, Antisemitismus, 166. 112 Brief an Martha Fontane, 21.8.1893, Fontane, Werke, 279; Brief an Martha Fontane, Bad Kissingen am 15.7.1889, zitiert nach Fleischer, C o h n , 128. 109

113

Brief an Karl Zöllner, 21.8.1894, Fontane, Werke, 3 7 9 - 3 8 0 .

100

Beit dimjoni

Beobachter vorgab. 1 1 4 N e i d , Utilitarismus, aber auch Faszination lagen in dieser vorgeblichen Überlegenheit. „Als Prototyp des Bildungsbürgertums", schreibt Wolfgang Benz, „,hatte er jüdische Freunde', teilte er die Vorbehalte gegen die Minderheit, artikulierte sie aber nur privat, zeigte weder antisemitischen Fanatismus noch missionarischen Eifer und ist mit Leben und Werk symptomatisch für das Phänomen des modernen Antisemitismus [ . . . ] . " 1 1 5 Jüngeren Forschungen zufolge beeinflusste Fontanes privater Antisemitismus auch sein poetisches Werk: Er setzte Narrative aus dem zeitgenössischen antisemitischen Diskurs ein, u m J u d e n als soziale G r u p p e zu stigmatisieren, bediente sich dabei aber einer, „dem Ideal der gesellschaftlichen Konversation gehorchenden indirekten F o r m u l i e r u n g " . 1 1 6 Naturgemäß fuhr der Schriftsteller Fontane nur äußerst ungern und selten in kleinbürgerliche deutsche Bäder, in denen sich keine jüdischen aber u m s o mehr antisemitische Kurgäste aufhielten. Nicht nur zog er die großbürgerliche Atmosphäre und Annehmlichkeiten der internationalen Kurorte vor, er brachte auch den dortigen J u d e n zahlreiche positive Stereotype entgegen. „Die Karlsbader Tage waren wieder sehr schön", schrieb er 1895 nach seiner Rückkehr nach Berlin, „und selbst mit den J u d e n habe ich Frieden geschlossen. Anfangs außer mir, war ich doch bald so weit, daß ich erschrak, wenn ich einen Christen sah, namentlich D a m e n - alle sahen vergleichsweise wie Wassersuppen aus. Die J u d e n , selbst die häßlichsten, haben doch wenigstens G e s i c h t e r . " 1 1 7 Images stereotypisch verzerrter Gesichter, wie Fontane sie in seiner privaten Korrespondenz entwarf, waren in Karlsbad, Marienbad und Franzensbad auch in F o r m ikonographischer Darstellungen präsent, sichtbar ausgestellt in den Schaufenstern von Buch- und Papierwarenhandlungen, in H o t e l s , C a f e s und Kiosken, am Bahnhof, bei fliegenden Händlern und an Postkartenautomaten. 1 1 8 Zwischen Bildpostkarten, die die internationale Kurgesellschaft stereotypisch karikierten, fand sich dort eine in ihrem M o tivreichtum mit anderen Badeorten kaum vergleichbare Menge judenfeindlicher und antisemitischer Darstellungen. 1 1 9 In Sammlungen von Judenspottkarten, so der heute gängige Begriff unter Händlern, machen Bäderpostkarten aus der Zeit der Jahrhundertwende ei-

114 Briefe an Martha Fontane, 24.8.1893, u. Karl Zöllner, 21.8. u. 6.9.1894, Fontane, Werke, 283-285, 379-380, 383. 115 Benz, Antisemitismus, 167. 116 Jannidis/Lauer, Baruch, 103-106, 116; Balzer, Antisemitismus, 203. 117 Brief an Paul Schienther, 13.8.1895, Fontane, Werke, 481. Zum Stereotyp der schönen Jüdin in Fontanes Werk: Klüger, Katastrophen, 102-104. 118 Vgl. Hax, Isaac, 99-100. 1 , 9 Davon ausgenommen sind die zahlreichen Ansichtskarten aus Borkum, die aggressiv den Ausschluss von Juden aus der Kurgesellschaft forderten.

Vergegnungen

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nen großen Teil aus; besonders häufig sind Ansichtskarten aus Karlsbad und Marienbad, während Franzensbad, ebenso wie die deutschen Kurorte weitaus seltener vorkommen. 1 2 0 Wie der Sammler Wolfgang Haney in einem Interview erklärte, wurden diese Karten in sehr hoher Auflage gedruckt und verkauft: „Sehr häufig werden Bäderkarten aus Marienbad und Karlsbad angeboten. Auf jeder Börse und in jedem Versteigerungskatalog sind diese Motive zu finden. Sie sind jetzt auch entsprechend im Preis gesunken." 1 2 1 Der Großteil der Karten stammt aus der Blütezeit der Bildpostkarte, als um 1890 begonnen wurde, in einer enormen Fülle an Motiven zu produzieren. Ansichtskarten aus den westböhmischen Bädern zeigen neben Karikaturen der Kurgesellschaft meist Sehenswürdigkeiten, Kunstgraphiken der Wiener Werkstätte, zunehmend auch Fotos und Fotomontagen. Machten antisemitische Motive im Allgemeinen nur einen sehr geringen Teil der Bildpostkarten aus, so waren sie hier häufig. 122 Eine Vielzahl der Karten aus Karlsbad und Marienbad karikiert die ganze Kurgesellschaft. In scheinbar enger Freundschaft verbunden reihen sich groteske Figuren um die Brunnen oder tanzen im Kreis um die Kolonnaden: steife Preußen, Bayern in Lederhosen, Afrikaner mit Fez und grinsende Chinesen. Schmächtige osteuropäische Juden im Kaftan fehlen in dieser Gruppe ebenso wenig, wie wohlhabende, beleibte Juden im Anzug - beide mit einer als jüdisch stereotypisierten Physiognomie abgebildet. Vergleichsweise harmlos wirken die Darstellungen auf diesen Karten, lassen sie doch die einzelnen Typen im Gewühl der Promenaden untergehen. 123 Daneben gibt es zahlreiche Motive, die ausschließlich jüdische Kurgäste karikieren. Sie zeigen einerseits den Parvenü, das Image des assimilierten, wohlhabenden Juden, meist ein dicker, saturierter, manchmal auch dünner, effeminierter Mann. Er symbolisiert die Vorbehalte, die sich gegen eine Demokratisierung des ehemals elitären Ortes richten. 1 2 4 An der Hand hält er eine beleibte, unansehnliche Matrone, die mit ihren vielen männlichen Charakteristika eine emanzipierte Frau darstellen soll. 1 2 5 Karikaturen von Juden in Trachten auf den Promenaden sollen auf ihre Kostümiertheit hinweisen, die ihnen einen Platz in den nationalen Gruppen der Kurgesellschaft verweigert. Nicht zufällig unterscheiden die Motive nur unwesentlich zwischen west- und osteuropäischem Bürgertum, sondern subsumieren alle als neureiche Emporkömmlinge, denen es die Maske der Assimilation abzunehmen gilt, hinter der eine andere Wahrheit vermutet wird.

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J M W , Sammlung Martin Schlaff; Dipper, Mensch; Hornemann/Laabs, Bär.

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D e r Sammler Wolfgang Haney, 156. Internetrecherchen ergeben ein ähnliches Bild. Hax, Isaac, 9 7 - 9 8 . Dipper, Mensch, 198.

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Vgl. Geisthövel, Promenadenmischungen, 210. Dipper, Mensch, 201; vgl. auch Leiskau/Geppert, Thaler.

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Besonders viele Karten verspotten fromme osteuropäische Juden im Kaftan, da sie jene Fremdheit verkörpern, die bei westeuropäischen Juden verschwunden ist. Sie werden durchwegs als ungepflegte, schmutzige und gestikulierende Gruppen von Männern dargestellt. Der ungewohnte Anblick, ein für viele Leute „ausgeprägt fremdes Erscheinungsbild", macht sie zum beliebten Ziel von Spott und Verachtung. 126 Tendenzlos witzig ist fast keine dieser Karten, besonders grenzüberschreitend sind sie, wenn etwa der „Börsianer", auf der Toilette sitzend, „schmutzigen" Geschäften nachgeht, ein Chassid in der Schlange vor den Toilettenhäuschen seinem Bedürfnis schon nachgegeben hat, oder nackte, deformierte jüdische Körper aus Moorbädern steigen. 127 Anfangs wurden diese Karten in kommerziellen Großverlagen, wie dem Münchner Verlag Ottmar Zieher, gedruckt. Seit der Jahrhundertwende stiegen aber auch lokale Produzenten in das lukrative Geschäft ein. Unter ihnen war der Karlsbader Buchhändler Hermann Jakob und spätere Bürgermeister der Stadt, dessen Kurhaus bereits zur Jahrhundertwende regelmäßig in Listen aufschien, die jüdische Kurgäste allsommerlich vor antisemitischen Hotels warnten. 128 Es war Teil der entopischen Ambivalenz, dass auch der jüdische Buchhändler Leopold Weil zu den Produzenten und Vertreibern von antisemitischen Ansichtskarten gehörte. Erst Mitte der Zwanzigerjahre, als die Sensibilität für Antisemitismen gestiegen war, fiel einem Kurgast diese paradoxe Situation auf und er verständigte den Centraiverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV). Dieser wandte sich an den Karlsbader Rabbiner Ignaz Ziegler mit der Bitte, sich der Sache anzunehmen: „Diese K a r t e w ü r d e v o n einem christlichen G e s c h ä f t vertrieben, s c h o n A n t i s e mitismus erregen. U m s o m e h r ist dies natürlich der Fall, w e n n sogar ein jüdischer K a u f m a n n s o l c h e K a r t e n verkauft. W i r m ö c h t e n Sie daher bitten, Ihren Einfluss dahin geltend zu m a c h e n , dass ähnliche Fälle in Z u k u n f t unterbleiben. D i e s e K a r te, die sicherlich s c h o n aus der Vorkriegszeit s t a m m t , trägt nur dazu bei, d e m guten R u f des Bades zu schaden u n d d e m G e r ü c h t v o n d o r t h e r r s c h e n d e m A n t i s e mitismus neue N a h r u n g zu g e b e n . " 1 2 9

Wie Iris Hax auf Basis der Sammlung Haney feststellt, wurden antisemitische Karten im Allgemeinen von Männern an Männer gesandt, während andere Bildpostkarten meist von Frauen verschickt wurden. Häufig befanden sich die Absender an Orten, in denen sich viele Juden, zumal fromme Juden aus Osteuropa, aufhielten. 130 Nur selten kommentierten die Schreiber die ' Hornemann/Laabs, Bär, 176-177. Dipper, Mensch, 197. 128 Antisemitische Bade-, Kur- und Erholungsorte (1902). 1 2 9 C A H J P , Bestand C V , N r . 2 3 5 3 , Brief an Ignaz Ziegler, 17.8.1926; vgl. eine von Leopold Weil gedruckte antisemitische Bildpostkarte in: Dipper, Mensch, 200. 130 Hornemann/Laabs, Bär, 176-177; Hax, Isaac, 110. 12

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A b b . 2: B i l d p o s t k a r t e aus Karlsbad, 1903: „ Z o o l o g i s c h e s aus Karlsbad: Bär aus Galizien (männlich, a u s g e w a c h s e n ) " .

antisemitischen Motive auf der Vorderseite; manchmal versuchten sie die Adressaten mit harmlosen Sprüchen zu unterhalten, manchmal wurden sie mit Aussagen wie „Es stinkt nach Knoblauch" aggressiv.131 Auch auf den Karten, die aus Karlsbad und Marienbad verschickt wurden, finden sich Kommentare wie „Polnische Juden in Massen!" 132 Im Jahr 1898 kam es in Deutschland zu einer Diskussion über antisemitische Ansichtskarten, da Postangestellte Karten mit Verweis auf ihren beleidigenden Inhalt an die Absender zurückgesandt hatten. Zur Freude des Centraivereins verteidigte die Post das Vorgehen ihrer Mitarbeiter. 133 In Anbetracht der Flut von täglich versandten Postkarten blieb es bei dieser ei-

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Hax, Isaac, 115-116; Baeumerth, Fremden, 41-52. Dipper, Mensch, 198. Antisemitische Postkarten, 82-85.

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nen Diskussion und es ist anzunehmen, dass antisemitische Karten normalerweise ohne Probleme transportiert wurden. Der Umstand, dass Karten mit antisemitischen Motiven aus Karlsbad und Marienbad in großer Zahl in alle Welt verschickt wurden, nicht zuletzt, um damit für die Orte zu werben, legt utilitaristische Interessen nahe. Einerseits spiegelt sich darin ein lokaler Antisemitismus, der den Kurgästen angeboten und von ihnen zum Teil auch angenommen wurde. Andererseits ist der antisemitische Gehalt der Karten nicht mit der Radikalität kleinbürgerlicher Badeorte in Deutschland vergleichbar, die sich bereits zur Jahrhundertwende als judenfreie Orte zu profilieren suchten. 134 Badeorte wie Karlsbad und Marienbad, die im antisemitischen Umfeld abfällig als Judenschwemmen bezeichnet wurden, 135 versuchten möglicherweise so ihr Image in diesen Kreisen zu korrigieren. Der angeblich harmlose humoristische Gehalt der Karikaturen verschaffte ihnen Legitimität im Kurbezirk, ohne die Stammklientel der jüdischen Gäste zu vergraulen. Von humoristisch spottend bis hin zu diffamierend reicht die Judenfeindlichkeit der Karlsbader und Marienbader Karten. Keine dieser Darstellungen ist untendenziös witzig, immer ist da eine Negativkonnotation, die Vorurteilsbildung und Diffamierung fördert. 136 Auf Basis eines zur Jahrhundertwende bereits weit vorangeschrittenen Prozesses der Norm- und Identitätsbildung propagieren sie „durch die Betonung des wesensmäßig .Anderen' ein rassistisches Judenbild, provozieren Ressentiments und popularisieren auf unterhaltsame Weise - unter dem Deckmantel des Humors antisemitische Klischees. Als preiswertes Propagandamittel, das alle Schichten erreicht, vermögen diese Karten mit Hilfe eingängiger Sehmuster den Blick zu konditionieren und führen damit zu einer verzerrten und voreingenommenen Wahrnehmung". 137 Über ihren populären und unterhaltsamen Charakter vermögen Karikaturen ideologische Zuschreibungen „in einer kulturell normierten, das heißt allgemein zu dekodierenden Verpackung" zu formulieren. Und das Lachen über die Anderen bringt eine Versicherung der eigenen Identität mit sich, möglicherweise sogar ein Gefühl der Überlegenheit. 138 In Räumen sozialer Konsolidierung wie den Kurorten lenkte der Verweis auf jüdische Kurgäste von dem Umstand ab, dass das Bürgertum als Ganzes hier eine neue Erscheinung war. Jüdische Kurgäste als Parvenüs zu entlarven, die nicht wussten, wie man sich zu benehmen hat, verbarg lediglich die

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Vgl. Bajohr, H o t e l , 1 6 - 2 1 . Mein Freund, der Althändler Kohn, 184. Hax, Isaac, 104. Hax, Isaac, 105; Backhaus, C o h n , 314. Schäfer, Judenbilder, 7 0 - 7 1 .

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eigenen Unsicherheiten, die man mit diesem gesellschaftlichen Ereignis verband. Den beiden geschilderten Varianten des Antisemitismus - Äußerungen in privaten Korrespondenzen einerseits, die breite Öffentlichkeit von Ansichtskarten andererseits - stehen neutrale und wohlwollende Wahrnehmungen des jüdischen Ortes im Blick der Anderen gegenüber: Beispielsweise die Karikaturen, die der Münchner Maler Fritz August von Kaulbach in den Jahren 1909 bis 1913 in Karlsbad anfertige, bilden das Kurpublikum und fromme Juden im Besonderen ohne eine, den Ansichtskarten vergleichbare, pejorative Konnotation ab. 1 3 9 Andererseits setzen schriftliche Berichte den einseitigen Erzählungen Fontanes Neugier und Interesse entgegen: Georges Clemenceau, der spätere französische Ministerpräsident, veröffentlichte in der Zeit, als er sich für die Verteidigung Alfred Dreyfuss' einsetzte, ein Buch mit dem Titel Au pied du Sinai. Neben einzelnen jüdischen Biographien beschreibt er darin Reiseeindrücke aus Galizien und Karlsbad, in der Originalausgabe mit Zeichnungen von Henri de Toulouse-Lautrec illustriert, die dieser eigens im Pariser jüdischen Viertel angefertigt hatte. Mit seinen differenzierten Schilderungen osteuropäischer Juden wendet Clemenceau sich gegen den Antisemitismus, der diesen in weiten Teilen Mittelund Westeuropas entgegengebracht wurde: „Der polnische Jude bildet, wenn man vom ,Sprudel' absieht, zweifellos die größte Sehenswürdigkeit von Karlsbad. Der auf sein Erscheinen nicht vorbereitete Westeuropäer bemerkt auf einmal zu seinem größten Erstaunen diese fremdartige Gestalt." 1 4 0 Seinen Aufenthalt in Karlsbad scheint Clemenceau weitgehend der Beobachtung der Cbassidim gewidmet zu haben: Er besuchte ihre Restaurants und Beträume, beobachtete ihre Gottesdienste und beschrieb ihre Feste und Tänze. Obwohl auch er seinen Lesern ein stereotypes Bild präsentierte, bemerkte er doch, dass die in Karlsbad anwesenden chassidischen Juden in Bezug auf Aussehen und sozialen Stand unmöglich in einem einzigen Typ zusammenzufassen wären. 141 Ungeachtet dessen gab er scherzhaft zu, ihren Geschmack im Allgemeinen nicht zu teilen und im Besonderen ihre Schläfenlocken betreffend, „ o b w o h l ich auch die Z w e c k m ä ß i g k e i t dieser E i n r i c h t u n g erkannte. D a die Pajes die b e m e r k e n s w e r t e E i g e n s c h a f t haben, sich bei t r o c k e n e m Wetter einzurollen u n d in der F e u c h t i g k e i t wieder a u f z u g e h e n , s o sind sie ein unfehlbares Mittel, u m die W i t t e r u n g s u m s c h l ä g e im voraus a n z u k ü n d i g e n . S o b a l d ich sehe, daß die L o c k e n a u f g e h e n , n e h m e ich meinen R e g e n s c h i r m mit und ich bin dabei i m m e r gut gefahren."142

139 140 141 142

Kaulbach, Karikaturen. Clemenceau, Gestalten, 82. Clemenceau, Gestalten, 83-84, 91-101. Clemenceau, Gestalten, 88-89.

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3.

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In Schatten und Versteck U n d wie geht es D i r , mein h ö c h s t e r M a r i e n b a d e r K u r gast? H a b e n o c h keine N a c h r i c h t , b e g n ü g e mich mit den E r z ä h l u n g e n der alten Wege ζ. B. heute der T r o t z und Geheimnis-Promenade, Franz. Franz Kafka an Feiice Bauer, 18.7.1916 143

Als Franz K a f k a A n f a n g Juli 1916 in Marienbad eintraf, erwartete ihn Feiice Bauer, gerade aus Berlin angekommen, bereits am Bahnhof. 1 4 4 N a c h d e m er im Mai den Entschluss gefasst hatte, für drei Wochen nach Marienbad zu kommen, entschieden er und Feiice Bauer, einen Teil dieses Urlaubs gemeinsam zu verbringen. Zwei Jahre zuvor, bei Kriegsausbruch, hatten die beiden ihre Verlobung aufgelöst, waren sich aber seither vor allem in Briefen wieder näher gekommen. D a s Zusammensein ließ sich anfangs mit vielerlei Schwierigkeiten und Ambivalenzen an, die aber, anders als bei einem Treffen in Karlsbad ein Jahr zuvor, nach einigen Tagen weitgehend verschwanden. 1 4 5 Beinahe euphorisch schrieb K a f k a an Max Brod, er verbringe mit Feiice „ s o schöne und leichte Tage, wie ich nicht mehr geglaubt hätte, sie erleben zu k ö n n e n " . 1 4 6 Die Frau, die er fast ausschließlich auf große geographische Distanz kannte, war ihm jetzt nah: „Mit F . war ich nur in Briefen vertraut, menschlich erst seit zwei Tagen. So klar ist es ja nicht, Zweifel bleiben. Aber schön der Blick ihrer besänftigten Augen, das Sichöffnen frauenhafter T i e f e . " 1 4 7 N a c h einigen gemeinsam verbrachten Tagen näherten sich die beiden wieder so sehr einander an, dass sie ihre Verlobung inoffiziell erneuerten und planten, nach Kriegsende zu heiraten. 1 4 8 A n seine Schwester Ottla schrieb Kafka, dass es ihm viel besser gehe, „als ich denken konnte und vielleicht auch F . besser als sie dachte". 1 4 9 N a c h eineinhalb Wochen reiste Feiice Bauer ab, und Kafka blieb allein weitere elf Tage in Marienbad, während denen die leichte und glückliche Stimmung anhielt. In seinen Briefen an die inzwischen nach Berlin ZurückBrief an Feiice Bauer, 18.7.1916, Kafka, Briefe, 182. Brief an Max Brod, 5.7.1916, Kafka, Briefe, 168. 145 Kafka, Briefe, 494. ""· Brief an Max Brod, 12. u. 14.7.1916, Kafka, Briefe, 174. 147 Tagebucheintragung vom 6.7.1916, Kafka, Tagebücher, 795. 148 Brief an Max Brod, 12. u. 14.7.1916, Kafka, Briefe, 173. Als Franz Kafka im Dezember 1917 an Tuberkulose erkrankte, löste er auch die zweite Verlobung mit Feiice Bauer. 149 Brief an Ottla Kafka, 12.7.1916, Kafka, Briefe, 171. 143 144

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gekehrte berichtete er von ruhigen Tagen, die er mit langen Spaziergängen, Lesen im Kaffeehaus, gelegentlichen Treffen mit Bekannten und gutem Essen verlebte. Wenn auch Kopfschmerzen und Schlaflosigkeit nie ganz verschwanden, so besserte sich doch beides. Diese Briefe, voll sanfter Innigkeit und H u m o r , spielten mit der romantischen Atmosphäre, die dem O r t nach der gemeinsamen Zeit anhaftete: „Im Dianahof habe ich mit Liselotte der ganz kleinen Rundwangigen angebunden und sie gestern bei Befestigung einer Rose an ihrer Brust, lang beraten", schrieb Kafka kurz nach ihrer Abreise an Feiice. 1 5 0 Etwa eine Woche später reagierte er auf ihre, uns unbekannte aber offensichtlich eifersüchtige Antwort: „ U n d L i s e l o t t e ? Ich habe die Stelle s c h o n sehr o f t gelesen u n d f ü r c h t e n o c h immer mich zu blamieren, wenn ich sie ernst nehme. T r a u s t D u mir die G e s c h m a c k losigkeit zu, mich mit etwas d e r a r t i g e m - ich sage nicht zu b e f a s s e n - aber zu rühm e n ? E s ist das 3jährige runde kleine M ä d c h e n , ü b e r das wir im D i a n a h o f einmal gelacht haben. Sie b e k a m eine R o s e und u m diese handelte es sich. L i e b s t e Felice!"151

Zurück in Prag hielt die befreite Stimmung noch ein wenig an und Kafka erlebte, wie er schrieb, „die Nachwirkungen der inneren und äußeren Ruhe, die ich in Marienbad mit Deiner und der großen Wälder Hilfe haben durft e " . 1 5 2 N o c h Jahre später erinnerte er sich der Zeit als glücklichen M o m e n t der meist komplizierten Beziehung mit seiner Verlobten: „Bleibt nur das Rätsel zu lösen", notierte er 1922 in seinem Tagebuch, „warum ich in Marienbad 14 Tage glücklich war [ . . . ] . " 1 5 3 Es ist unmöglich, zu wissen, was in Marienbad zwischen Franz Kafka und Feiice Bauer vorgefallen war. Lediglich lässt sich nachvollziehen, in welcher Atmosphäre sich ein junges und unverheiratetes bürgerliches Liebespaar zu Beginn des Jahrhunderts bewegte, das nach Monaten der Distanz in Marienbad aufeinander traf. Denn wie andere große Kurorte bot Marienbad nicht nur eine entspannte und gelöste Urlaubsatmosphäre, sondern verkörperte für junge Frauen und Männer, die der Enge ihres bürgerlichen U m f e l d s entkommen wollten, auch einen Schutzraum. Hier hatten sie die seltene M ö g lichkeit, die meist strengen sozialen Grenzen zu übertreten und relativ große Freiheiten zu genießen. 1 5 4 In seinen Erinnerungen beschrieb Stefan Zweig die alltäglichen Erfahrungsräume von jungen Frauen und Männern der Vorkriegsgeneration, der er und Kafka angehörten, als heuchlerisch, beengt und unfrei:

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Brief an Feiice Bauer, 15.7.1916, Kafka, Briefe, 176. Brief an Feiice Bauer, 22.7.1916, Kafka, Briefe, 186. Brief an Feiice Bauer, 28.7.1916, Kafka, Briefe, 190. Tagebucheintragung vom 29.1.1922, Kafka, Tagebücher, 896- 897. Mackaman, Leisure, 135-141.

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„[...] oft, wenn ich mich mit jüngeren Kameraden der Nachkriegsgeneration unterhalte, muß ich sie fast gewaltsam überzeugen, daß unsere Jugend im Vergleich mit der ihren keineswegs eine bevorzugte gewesen. [...] Wir haben besser und mehr die Welt erlebt, die Jugend von heute aber lebt mehr und erlebt bewußter ihre eigene Jugend. Sehe ich heute junge Menschen [...] in allen Formen gesunden, unbekümmerten Lebens ohne jede innere und äußere Belastung verschwistert, dann scheint mir jedesmal, als stünden nicht vierzig sondern tausend Jahre zwischen ihnen und uns, die wir um Liebe zu gewähren, Liebe zu empfangen, immer Schatten suchen mussten und Versteck." 1 5 5

Mit Prüderie und der permanenten Aufforderung, den Anstand zu wahren, wurde die Jugend überwacht, und war trotzdem oder gerade deshalb „tausend mal erotischer disponiert", bemerkte Zweig. 1 5 6 Die Forderungen, die innerhalb des Bürgertums an junge Leute gestellt wurden, waren hoch: Junge Männer durften erst ans Heiraten denken, wenn sie sich „eine soziale Position" verschafft hatten und waren dann meist schon zwischen dreißig und 35 Jahre alt. Und obwohl die jungen Frauen beim Heiraten jünger waren, meist zwischen 20 und 25, produzierte die bürgerliche Gesellschaft auf diese Weise eine sehr lange Jugend und eine große Anzahl junger Singles. 1 5 7 Das verlängerte maßgeblich die Zeit, in der junge Männer und Frauen Liebe in Schatten und Versteck, bei Prostituierten und Hausfreunden suchen mussten, in einer „ungesund stickigen, mit parfümierter Schwüle durchsättigten Luft", deren „unehrliche und unpsychologische Moral des Verschweigens und Versteckens [...] wie ein Alp auf unserer Jugend gelastet hat". 1 5 Eine Befragung, die um 1914 unter jungen bürgerlichen Männern und Frauen durchgeführt wurde, zeigte, dass ein Großteil der Männer mit Prostituierten, Dienstmädchen und Kellnerinnen, aber auch mit bürgerlichen Mädchen Sex vor der Ehe hatte. Uberraschend gab auch etwas mehr als die Hälfte der befragten Frauen an, sexuelle Beziehungen vor ihrer Hochzeit gehabt zu haben, allerdings fast ausschließlich mit zumeist älteren, bürgerlichen Männern. 1 5 9 Obwohl in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg die Zweifel an den alten Moralvorstellungen wuchsen, verteidigten Benimmund Anstandsbücher dieses gesellschaftliche Arrangement weiterhin. Sie prophezeiten das Ende jedweder erotischen Anziehung zwischen den Geschlechtern, sollte das Regime der Prüderie aufgegeben werden:

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43-44.

Zweig, Welt, 1 1 1 - 1 1 2 . Zweig, Welt, 96. Mackaman, Leisure, 137; Zweig, Welt, 102; vgl. auch Gay, Leidenschaft; Flemming, Krise. Zweig, Welt, 90. Johannes Dück, Aus dem Geschlechtsleben unserer Zeit, zitiert nach Flemming, Krise,

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„ I m A u g e n b l i c k , w o die F r a u ihres charakteristischen R e i z e s entkleidet wird, w o z w i s c h e n M ä n n e r n u n d F r a u e n in den hellen Sälen der H ä u s e r , auf den grünen R a s e n der S p o r t p l ä t z e nicht m e h r jene g e s p a n n t e A t m o s p h ä r e , jener spielerische T o n u n d die auf beiden Seiten gesteigerte N e r v o s i t ä t wirken wird, in d i e s e m A u genblick ist die G e s e l l s c h a f t vollends nichts anderes als eine Berufsvereinigung.

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Hysterie, Neurasthenie und zahlreiche andere nervöse Zeiterkrankungen, die unter anderem ein Ergebnis dieser bürgerlichen Moralvorstellungen und Verdrängungsstrategien waren, machten Kurorte zu Anziehungspunkten für junge Leute. Anders als heute, war Jugend in den Kurorten der Jahrhundertwende kein abwesendes Begehren, das die Luft der Promenaden mit seiner symbolischen Bedeutung füllte: Reale junge Frauen und Männer bildeten die größte Gruppe innerhalb der Kurgesellschaft. 1 6 1 Kamen sie nicht aus medizinischen Beweggründen, spielten soziale Anlässe eine Rolle - häufig auch das eine wie das andere. In der Absicht zu finden, was Reiseführer versprachen, hofften sie ihre gesellschaftliche und berufliche Position durch den Kuraufenthalt zu verbessern und in der sinnlichen Atmosphäre des Ortes flüchtige Liebes- oder potentielle Heiratsbekanntschaften zu machen. Die Tage waren frei von alltäglichen Verpflichtungen und konnten dem intensiven Sozialleben im Kurort mit seiner Vielzahl an Begegnungsmöglichkeiten gewidmet werden. 162 Im Karlsbader Kurpark, während Ausflügen und Abendgesellschaften „though all boisterous excitement is tabooed by the medical authorities, who are here supreme, a vast amount of mild flirtation is carried on". 1 6 3 Der Freiraum, moralische Codes der Gesellschaft zu unterminieren, brachte eine jugendliche Subkultur zum Erblühen. 1 6 4 Besonders junge bürgerliche Frauen, deren Leben sich häufig unter permanenter Kontrolle abspielte, genossen ihre relative Freiheit in der Anonymität und gleichzeitigen Geschütztheit großer Kurorte wie Marienbad und Karlsbad. Das Bad galt im Gegensatz zur männlichen Domäne der Städte als weiblicher Raum, indem das Leben sanfter, sinnlicher und körperlich ablief. 165 Franzensbad und andere Kurorte zogen auf Grund ihrer medizinischen Indikation so viele Frauen an, dass sie bald im Ruf standen, Frauen könnten hier ungestört und unter sich sein. Tatsächlich war die Zahl der häufig allein reisenden Patientinnen in manchen Frauenbädem so groß, dass

Fred, Gesellschaft, 104, zitiert nach Flemming, Krise, 55. Mackaman, Leisure, 136. 162 Mackaman, Leisure, 138. 163 Palmer, Life, 127. " 4 Mackaman, Leisure, 135-141. •