Kleines Werklexikon der Philosophie
 3520402017, 9783520402011

Table of contents :
Cover
Titelblatt
Impressum
Inhaltsangabe
Vorwort
Benutzungshinweise
Alphabetischer Teil
Abkürzungsverzeichnis
A-Z
Anhang
Mitarbeiterverzeichnis
Hilfsmittel für die akademische Recherche in der Philosophie
Autoren- und Werkregister
Titelregister
Zeittafel

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KRÖNERS TASCHENAUSGABE BAND 402

Michael Quante (Hg.)

Kleines Werklexikon der Philosophie Vorarbeiten von Franco Volpi Unter Mitarbeit von Matthias Hoesch

ALFRED KRÖNER VERLAG STUTTGART

Michael Quante (Hg.) Kleines Werklexikon der Philosophie Vorarbeiten von Franco Volpi

Unter Mitarbeit von Matthias Hoesch Stuttgart: Kröner 2012 (Kröners Taschenausgabe; Band 402) ISBN Druck: 978-3-520-40201-1 ISBN E-Book: 978-3-520-40291-2

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Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© 2012 by Alfred Kröner Verlag Stuttgart Datenkonvertierung E-Book: Alfred Kröner Verlag, Stuttgart

Inhaltsverzeichnis Vorwort.......................................................................... VII Benutzungshinweise....................................................... IX Alphabetischer Teil....................................................... 1 Abkürzungsverzeichnis................................................ 2 A – Z.......................................................................... 3 Anhang.......................................................................... 645 Mitarbeiterverzeichnis................................................. 647 Hilfsmittel für die akademische Recherche in der Philosophie................................................... 650 Autoren- und Werkregister.......................................... 652 Titelregister................................................................. 660 Zeittafel...................................................................... 671

Vorwort Das Kleine Werklexikon der Philosophie versteht sich als hilfreicher Begleiter im Studium, bei der Gestaltung des Schulunterrichts und in der universitären Lehre. Sei es, um ein Referat vorzubereiten, eine Hausarbeit zu schreiben oder den Unterricht zu konzipieren: Das Kleine Werklexikon stellt hierfür mit kompakten und verständlichen Zusammenfassungen 330 zentraler Werke, die den Zeitraum von der Antike bis zur Gegenwart abdecken, eine ausgezeichnete Basis bereit. Hinweise zur Rezeptionsgeschichte und auf Sekundärliteratur bieten einen optimalen Einstieg in das jeweilige Themenfeld. Der ›große Bruder‹ des Kleinen Werklexikons, das von Franco Volpi besorgte, zweibändige Große Werklexikon der Philosophie (1999), hat sich längst zu einem wichtigen Standardwerk entwickelt, das vornehmlich in Bibliotheken benutzt wird. Mit dem Kleinen Werklexikon liegt nun ein Pendant ›für den Hausgebrauch‹ vor. Zahlreiche Artikel sind in gekürzter und aktualisierter Form übernommen worden, andere Beiträge mussten komplett neu verfasst werden; zugleich sind gegenüber dem Großen Werklexikon einige Werke des 20. und 21. Jh.s neu hinzugekommen. Besonderer Wert wurde darauf gelegt, die Artikel in Stil und Inhalt an die Bedürfnisse von Studierenden, Lehrern und Nachwuchswissenschaftlern anzupassen. Die Auswahl der aufzunehmenden Werke fällt naturgemäß schwer. Als Orientierungspunkt diente das Lehrangebot deutscher Universitäten in den letzten Jahren. Darüber hinaus bin ich vielen Kollegen, die meine Nachfragen geduldig beantwortet haben, für ihre Einschätzungen zu Dank verpflichtet. Dennoch erforderte die Rücksichtnahme auf den Umfang des Lexikons immer wieder auch schmerzlichen Verzicht und Entscheidungen, die man in einzelnen Fällen mit guten Gründen auch anders hätte treffen können. Trotzdem bin ich zuversichtlich, dass dieses Lexikon im Kern die für seine Zwecke richtige Auswahl enthält.

VIII Vorwort

Ein solches Projekt lässt sich nicht im Alleingang realisieren, sondern bedarf der Unterstützung vieler. Das Kleine Werklexikon zehrt in vielerlei Hinsicht von dem Engagement des überraschend verstorbenen Franco Volpi, dessen Arbeit ich aufnehmen konnte und hiermit dankbar weitergeführt habe. Bei Matthias Hoesch bedanke ich mich für den unermüdlichen Einsatz und die große organisatorische Umsicht, mit denen er die Mühsal von Redaktion und Lektorat übernommen hat. Der größte Dank gilt freilich den mehr als 120 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, ohne deren Kompetenz und Einsatzbereitschaft dieses Lexikon nicht zu realisieren gewesen wäre. Münster, im Juli 2012

Michael Quante

Benutzungshinweise Anordnung der Artikel Die Artikel sind alphabetisch nach Autoren angeordnet; mehrere Werke eines Philosophen werden alphabetisch nach ihren Originaltiteln angeordnet. Für die Sortierung gilt der fettgedruckte Originaltitel, wobei vorangehende bestimmte oder unbestimmte Artikel unberücksichtigt bleiben.

Artikelaufbau Der Artikelkopf führt zunächst den genauen Titel und Untertitel des Werks an, danach gegebenenfalls in Klammern die Sprachbezeichnung und den deutschen Übersetzungstitel nach gängiger deutscher Ausgabe. Englische Titel, zu denen keine deutsche Ausgabe vorliegt, werden nicht übersetzt, bei griechischen Werken wird häufig zusätzlich die lateinische Form angegeben. Es folgen Jahr und Ort der Erstausgabe (EA), der Erstveröffentlichung in einer Zeitschrift (EV) oder des unselbständigen Erstdrucks in einem Sammelband (ED); die Abkürzung ED steht außerdem für die ersten Druckausgaben antiker und mittelalterlicher Werke. Bei großem Abstand zur Erstausgabe, zur Erstveröffentlichung oder zum Erstdruck wird zusätzlich der Entstehungszeitraum genannt. Der Hauptteil bietet die Darstellung des Werks. Nach einer Einleitung werden die wichtigsten Gedankengänge und Argumente des Werks wiedergegeben, wobei zugleich dessen Aufbau verdeutlicht wird. Abschließend steht ein Ausblick auf die Rezeptionsgeschichte und die Bedeutung des Werks für die Philosophie der Gegenwart. Der bibliographische Anhang gliedert sich in zwei Teile: Ausgabe(n): Wissenschaftlich zuverlässige aktuelle Ausgaben und Übersetzungen ins Deutsche; bei fremdsprachigen Werken auch englische Übersetzungen, sofern sie in der Sekundärliteratur eine Rolle spielen. Bereits im Artikelkopf genannte Ausgaben werden nicht wiederholt. Der Titel der

X Benutzungshinweise

Ausgabe erscheint nur dann, wenn er von dem im Artikelkopf genannten Titel (auch übersetzter Titel) abweicht, andernfalls wird die Ausgabe nur mit Ort und Jahreszahl, gegebenenfalls zusätzlich mit Herausgeber, jeweiliger Sprache und Übersetzer, genannt. Literatur: Sekundärliteratur in chronologischer Reihenfolge. In der Regel finden sich sowohl Standardkommentare als auch neuere Literatur, die einen Einstieg in die aktuelle Diskussion ermöglicht. Nach Möglichkeit wird wenigstens ein deutschsprachiger Text angegeben. Die Auswahl wurde bewusst übersichtlich gehalten.

Typographisches und Abkürzungen Titel von Werken, Aufsätzen und Zeitschriftenartikeln werden durch Kursivschrift hervorgehoben; Überschriften von Teilabschnitten und Kapiteln stehen dagegen in doppelten Anführungszeichen. Der Name des Philosophen, dessen Werk besprochen wird, wird mit dem ersten Buchstaben abgekürzt (gegebenenfalls auch der Vorname). Weitere Abkürzungen finden sich im Abkürzungsverzeichnis.

Mitarbeitersignaturen Alle Artikel sind mit einer Verfassersignatur versehen. Den vollen Namen des Verfassers sowie seinen derzeitigen Wirkungsort kann man dem Mitarbeiterverzeichnis entnehmen.

Anhang Im Anhang findet sich neben dem Mitarbeiterverzeichnis, zwei Registern und einer Zeittafel eine Rubrik Hilfsmittel für die akademische Recherche in der Philosophie. Dort werden Hinweise auf Nachschlagewerke, Reihen und Werke zur Methode der Philosophie sowie Tipps zur Literaturrecherche gegeben. Das Autoren- und Werkregister dient als Inhaltverzeichnis, im Titelregister finden sich außer den Originaltiteln auch gängige Übersetzungen, die Zeittafel listet die enthaltenen Werke in chronologischer Folge.

Alphabetischer Teil

Abkürzungsverzeichnis Anm.: Anmerkungen Aufl.: Auflage Ausg.: Ausgabe Bd./Bde.: Band/Bände Bibl.: Bibliographie Bln.: Berlin Cambr.: Cambridge Drmst.: Darmstadt ders./dies.: derselbe/dieselbe DK: H. Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker. Gr./dt., 3 Bde., Hg.: W. Kranz, Bln. 61951, ND Hildesheim 2004 f. dt.: deutsch EA: Erstausgabe ED: Erstdruck Einl.: Einleitung engl.: englisch entst.: entstanden Erl.: Erläuterungen ern.: erneuert erw.: erweitert EV: Erstveröffentlichung Fbg.: Freiburg im Breisgau Ffm.: Frankfurt am Main Frg.: Fragment frz.: französisch

GA: Gesamtausgabe gr.: griechisch Gttgn.: Göttingen Hbg.: Hamburg Hg.: Herausgeber insb.: insbesondere it.: italienisch Kap.: Kapitel Komm.: Kommentar krit.: kritisch(e) lat.: lateinisch Ldn.: London Lpzg.: Leipzig Mchn.: München NA: Neuauflage ND: Nachdruck/ Neudruck NY: New York Oxfd.: Oxford poln.: polnisch sog.: sogenannt/e Stgt.: Stuttgart Tbg.: Tübingen Ü.: Übersetzung u. d. T.: unter dem Titel Wzbg.: Würzburg zus.: zusammen



Adorno: Ästhetische Theorie 3

Theodor W. Adorno (früher Theodor Wiesengrund), *  11. 9. 1903 Frankfurt am Main, † 6. 8. 1969 Visp (Kanton Wallis); zus. mit Max Horkheimer Begründer der Kritischen Theorie.

Ästhetische Theorie EA Ffm.  1970 (postum), Hg.: G. Adorno/R. Tiedemann.

A. hat sein letztes Werk nicht mehr vollendet; es wurde als Fragment aus dem Nachlass ediert, ohne dass eine vom Autor endgültig bestimmte Reihenfolge der einzelnen Teile hätte zugrunde gelegt werden können. Die publizierte Form geht jedoch auf A.s Plan zurück, das Manuskript nicht streng zu gliedern, sondern die einzelnen Erörterungen zu Konstellationen zusammenzufügen. Größere, nicht durch Überschriften voneinander abgehobene Abschnitte sollen sich gegenseitig ergänzen, indem sie den Gedankenkomplex des Werkes aus jeweils anderer Perspektive mit immer neuem Schwerpunkt präsentieren. – Trotz der problematischen Textgestalt treten die Grundgedanken der Abhandlung klar hervor. A. geht es darum, die Kunst sowohl in ihrer Eigengesetzlichkeit als auch in ihrer Eingebundenheit in gesellschaftliche Prozesse zu

bestimmen. Kunst ist für A. eine Form naturbeherrschender Vernunft; ihre Werke kommen nur dadurch zustande, dass »Material«, d. h. Sprache, Töne, Formen und Farben, zu einer Einheit zusammengestellt wird. Die in der Kunst eine solche Einheit bewirkende Instanz nennt A. »Rationalität«. Weil jedes Kunstwerk daher das Resultat einer rationalen Konstruktion ist, kann es überhaupt als in sich stimmiges erfahren werden. Die rationale Fügung des Materials in der Kunst geschieht nach A. jedoch  so radikal, dass die Werke  in ihrer Stimmigkeit rätselhaft wer­den; bei der Erfahrung von Kunstwerken ist es so die Individualität des Materials, die in erster Linie anspricht. Mit der Freisetzung des Materials bewirkt die Kunst eine Rettung des Vielfältigen, das sonst unter dem beherrschenden Zugriff der Vernunft als solches verschwindet: Kunst ist so die Rettung des »Nichtidentischen«. In der Kunst wird die Herrschaft begreifender Vernunft jedoch nicht wirklich gebrochen oder gar überwunden, weil Kunstwerke als rationale  Konstruktionen ohne diese Vernunft gerade nicht möglich sind. Die Rettung des Nicht­ identischen erfolgt vielmehr im Schein, d. h. auf die einzige, in

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Adorno: Ästhetische Theorie

einer rational bestimmten Welt mögliche Weise. Für A. ist aber nicht jede Kunst zu einer solchen Rettung imstande. Die für ihn maßgebliche Kunst hat sich aus allen kultischen Bindungen gelöst und eine eigene Gesetzlichkeit ausgebildet; sie ist autonom geworden. Diese Autonomie tritt für A. jedoch erst in der modernen Kunst wirklich hervor, da diese mit jedem Werk ihre Unabhängigkeit von künstlerischen Vorgaben vorangegangener Werke beweist. Die scheinhafte Rettung des Nichtidentischen ist nur dort möglich, wo es zur Herausbildung kanonischer  Formen gar nicht erst kommt, sondern jedes Werk ein Angriff auf die ihm vorausgegangenen ist. Nur so kann sich die ratio­ nale Konstruktion im Ästhetischen radikal ausprägen, und die Individualität des Materials kann hervortreten. – A.s Buch ist eine Ästhetik der modernen und avantgardistischen Kunst, die auch an romantischen und klassischen Werken versucht, moderne Züge zu entdecken. Obwohl A.s Ästhetik ganz auf die ästhetische Moderne verpflichtet ist, schließen seine Erörterungen an bedeutende Positionen der philosophischen Tradition an. Kant, Hegel und Schelling sind mit ihren Ästhetiken präsent. Oft bildet A. ei-

gene Bestimmungen erst in der Auseinandersetzung mit ihnen heraus und entwickelt traditio­ nelle Probleme aufgrund seiner Voraussetzungen neu. So z.  B. die Rehabilitierung des Naturschönen: Kunst ist als Rettung des Nichtidentischen die einzige Darstellung einer nicht durch Vernunftherrschaft verstellten Natur. A. hat die Ästhetische Theorie zusammen mit der → Negativen Dialektik und einer geplanten Moralphilosophie als sein Hauptwerk angesehen. Das Werk versammelt die wesentlichen Motive seines Denkens. Konsequenter noch als die Negative Dialektik verweist die Abhandlung zur Ästhetik auf die Kunst als eigentliche Instanz authentischer  Erfahrung. Die Ästhetische Theo­rie löst daher den philosophiekritischen Impuls von A.s Philosophie am deutlichsten ein. Sie kann aber auch als einer der bedeutendsten Beiträge der neueren Philosophie zur Ästhetik gelten. G. Figal Ausgabe: Gesammelte Schriften, Bd. 7, Ffm. 42003. Literatur: G. Figal, T. W. A. Das Naturschöne als spekulative Gedankenfigur, Bonn 1977. – G.  Figal u. a. (Hg.), A. im Widerstreit. Zur Präsenz seines Denkens, Fbg./Mchn. 2004.



Adorno: Dialektik der Aufklärung 5

Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente

EA Amsterdam 1947, verfasst zus. mit Max Horkheimer.

Das in den Jahren 1939–44 geschriebene Buch ist kein ein­heitliches Werk, sondern eine Zusammenstellung von Tex­ten, die ein Thema aus ver­ schiedenen Perspektiven er­ ör­ tern. Es erschien zunächst 1944 in hektographierter Form anlässlich des 50. Geburtstags von F. Pollock. Der systematisch wichtigste 1. Teil ist dem »Begriff der Aufklärung« gewidmet; dieser wird in zwei Exkursen über Homers Odyssee und die Romane des Marquis de Sade illustriert. Die folgenden Abhandlungen über »Kulturindustrie. Aufklärung als Mas­senbetrug« und »Elemente des Antisemitismus« sind Gegenwartsdiagnosen. Das Buch schließt mit »Aufzeichnungen und Entwürfen«, was den im Untertitel genannten fragmentarischen Charakter bestätigt. A. und Horkheimer legten großen Wert auf die gemeinsame Verfasserschaft und identifi­ zie­r­ten sich auch später noch beide mit dem Buch. Dennoch gibt es Anhaltspunkte, die erkennen lassen, wer für welche Teile des Buches verantwortlich ist. Eindeutig zuzuordnen sind die beiden Exkurse, von denen

der erste auf A., der zweite auf Horkheimer zurückgeht. In der überarbeiteten Neuausgabe des Werkes von 1969 sind marxistische Begriffe und Formulierungen gegenüber der Erstausgabe  deutlich zurückgenommen. – Thema des Buches ist eine als herrschaftsförmig begriffe­ ne Vernunft, die zum Opfer ihrer eigenen Herrschaftsansprüche wird. »Aufklärung« ist der Name für diese Vernunft, nicht etwa für eine historische Epoche; »Dialektik« meint die Verstrickung dieser Vernunft in ihre eigenen Netze. Dies wird an einem geschichtsphilosophischen Entwurf genauer gezeigt: Jede Form menschlichen Verhaltens zur Natur ist ein Versuch der Naturbeherrschung, der an das Beherrschte gebunden bleibt. Damit wird in der Naturbeherrschung nicht erreicht, was in ihr beabsichtigt war: Unabhängigkeit von der Natur. Weil der Versuch einer Befreiung durch Herrschaft jedoch das Wesen der Vernunft ist, kann sein Scheitern nicht vernünftig eingesehen werden. Die Vernunft treibt stattdessen immer neue Versuche hervor, die sie nun auch selbst in Mitleidenschaft ziehen: Jeder neue Versuch vernünftiger Naturbeherrschung stellt sich als eine Überwindung der vorhergehenden dar und bleibt so

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Adorno: Minima Moralia

in seiner eigenen Geschichte befangen. Mit der Totalisierung der Naturbeherrschung in der modernen Technik und Wissenschaft totalisiert sich dem­ entsprechend auch die Ein­gebundenheit in die Natur; der Anspruch totaler Freiheit schlägt in totale Unfreiheit um. Dieser Zustand ist nach A. im 20. Jh. mit seiner technischwissenschaftlichen Einrichtung erreicht. Dass Naturbeherrschung und Naturverfallenheit derart zusammengehören, erläutern die Autoren in den Einzeluntersuchungen des Buches. Der Exkurs über die Odyssee soll zeigen, dass der epische Held dort, wo er die verführerischen Sirenen überlistet, bereits ein früher Aufklärer ist; an den Romanen de Sades soll deutlich werden, wie eine sinnenfeindliche Moral in der Sinnlichkeit selbst verfangen bleibt. Weiter soll die von der »Kulturindustrie« organisierte Unterhaltung in Film und Rundfunk als die Verdoppelung gerade jener Arbeitswelt einsichtig werden, von der sie temporär frei machen soll. Schließlich soll der von Anfang an christlich geprägte Antisemitismus als Herrschaftsanspruch gegenüber dem göttlichen Heil verstanden werden können, der sich in seinem Scheitern als Hass entlädt. – Das Werk

ist mit dem Anspruch, eine Geschichte der Vernunft zu geben,  die zugleich Naturgeschichte ist, Programmschrift der Kritischen Theorie im Sinne der Frankfurter Schule geworden. A.s und Horkheimers spätere Schriften können als Versuche gelten, die Thesen des gemeinsamen Werkes weiterzubedenken. G. Figal Ausgaben: Gesammelte Schriften, Bd.  3, Ffm. 1984, 7–296. – M.  Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd.  5, Ffm. 32003, 11– 290. Literatur: J. Habermas, Die Ver­ schlingung von ­Mythos und Auf­klä­ rung. Bemerkungen zur Di­a­lektik der Aufklärung – nach ­einer erneuten Lektüre, in: K. H. Bohrer (Hg.), ­Mythos und ­Moderne, Ffm. 1983, 405– 431. –  W. v. Reijen/G.  SchmidNoerr (Hg.), Vierzig Jahre Flaschenpost. »Dialektik der Aufklärung« 1947–1987, Ffm.  1987. – A.  Hetzel, Interpretation. Max Horkheimer/T. W.  A.: Dialektik der Aufklärung, in: G. Gamm (Hg.), Interpretationen. Hauptwerke der Sozialphilosophie, Stgt. 2001.

Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben EA Bln./Ffm. 1951.

Das 1944 bis 1947 entstandene philosophische Werk ist eine Sammlung von kurzen Texten im Stil Nietzsches. Sie sind



Adorno: Minima Moralia 7

im Inhaltsverzeichnis in drei datierten Teilen (1944, 1945, 1946/47) zusammengestellt. Der Titel spielt auf die aristotelische Schrift Magna Moralia an. A.s ironische Umkehrung bezieht sich dabei nicht in erster Linie auf den Umfang des Buches oder die Länge seiner Beiträge, sondern auf den Anspruch, der mit einer Schrift zur Ethik allein noch verbunden sein kann: Statt einer Lehre vom guten Leben im Sinne der Tradition versammelt A. darin »Reflexionen aus dem beschädigten Leben«. – In der Zueignung an den Freund Horkheimer erläutert A., wie dies genauer gemeint ist: Das Leben, dem traditionelle philosophische Überlegungen eine Richtung geben wollten, ist »zur Sphäre des Privaten und dann bloß noch des Konsums geworden«; die Wahrheit des Lebens zeigt sich nicht mehr unmittelbar, sondern nur noch in »entfremdeter Gestalt«. Den Beschädigungen des Lebens nachzuspüren, ist die einzige Möglichkeit für A., wenigstens noch eine Ahnung des unbeschädigten Lebens wachzuhalten. Die einzelnen Texte gehen dabei aus »vom engsten pri­vaten Bereich, dem des Intellektuellen in der Emigra­ tion«; sie sind nicht durch einen »expliziten theoretischen

Zusammenhang« verknüpft. A. behandelt die Themen des sittlichen Lebens in ihrer ganzen Bandbreite: Ehe und Familie, Eros und Tod, das Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinschaft, Eigentumsverhältnisse und die Einstellung zu ihnen; auch der Kulturkritik, der Wissenschaft, der Kunst und der Philosophie widmet er prägnante Beobachtungen und Überlegungen. Hervorzuheben sind schließlich die theologischen Reflexionen des Werkes: Unter dem Titel »Zum Ende« verpflichtet A. im letzten Text der Sammlung die Philosophie darauf, »alle Dinge so [zu] betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten«, und hält zugleich fest, dass dieser Standpunkt sich philosophisch nicht einnehmen lässt. Dies zu tun, hieße, die Bedingtheit der Philosophie durch die Verhältnisse des beschädigten Lebens zu verleugnen. Der Versuch, über das Bestehende hinauszudenken, muss darum noch seine eigene Unmöglichkeit begreifen – »um der Möglichkeit willen«. Mit besonderer Deutlichkeit ist hier der gebrochene theologische Impuls von A.s Denken im Ganzen gefasst. G. Figal Ausgabe: Gesammelte Schriften, Bd. 4, Ffm. 72003.

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Adorno: Negative Dialektik

Literatur: A. G. Düttmann, So ist es. Ein philosophischer Komm. zu A.s Minima Moralia, Ffm. 2004.

Negative Dialektik EA Ffm. 1966.

Das 1959–66 verfasste Werk ist insofern A.s wichtigster Beitrag zur Philosophie, als er sich nirgends sonst so ausführlich auf systematische Erörterungen philosophischer Grundpositionen einlässt. Das Buch soll jedoch kein systematischer Entwurf im klassischen Sinne sein. A. will keine Theorie anbieten, die sich im Vergleich zu anderen als überzeugender erweist, sondern eine »Methodologie« seiner »materia­ len Arbeiten« geben. Das Buch soll die Grundbegriffe und Grundgedanken von A.s Schriften zu Musik, Literatur, Gesellschaft und Geschichte entfalten und verdeutlichen, weshalb diese Grundbegriffe und Grundgedanken eigentlich nur am »Material« adäquat zur Geltung kommen können. A. legt ein philosophisches Buch vor, das zeigen soll, weshalb sein Autor sich dem philosophischen Denken im üblichen Sinne verweigert. – Das Werk beginnt mit einer ausführlichen Einleitung und ist dann in drei Teile gegliedert. Der 1. Teil, der das »Verhältnis zur Ontologie«

behandelt, hat v. a. polemisch abgrenzenden Charakter; im Einspruch gegen die Philosophie Heideggers soll der Ansatz des Werkes ein erstes Profil gewinnen, indem die leere Allgemeinheit der heideggerschen Rede von »Sein« und die philosophische Verpflichtung gegenüber dem besonderen Seienden geltend gemacht wird. Das mittlere Stück ist dem »Begriff« und den »Kategorien« einer negativen Dialektik gewidmet und bildet so auch der Sache nach das Zentrum. Der 3. Teil entwickelt »Modelle« der negativen Dialektik. Diese sind eine am Begriff der Freiheit orientierte Erörterung zu Kants praktischer Philosophie. Es folgt ein »Exkurs zu Hegel« über »Weltgeist und Naturgeschichte«. Den Abschluss bilden »Meditationen zur Metaphysik«, die die Möglichkeit philosophischen Denkens und der Kultur überhaupt nach der Industrialisierung des Todes umkreisen, die mit dem Namen »Auschwitz« angezeigt wird. A.s Erörterungen einer negativen Dialektik umkreisen die Schwierigkeiten der Philosophie, die aus dem Wesen des Denkens selber entspringen. Denken ist für A. begriffliches Denken. Begriffe sind verallgemeinernde Bestimmungen des Seienden in dem, was es ist:



Adorno: Negative Dialektik 9

Sie sollen das Seiende verfügbar und beherrschbar machen. Diesen Gedanken übernimmt A. aus der →  Dialektik der Aufklärung. Jede begriffliche Bestimmung ist darin für A. dialektisch, dass sie die unmittelbare Gegebenheit des Seienden negiert und so zum Positiven eines bestimmten Gegenstandes kommt, der seine Bestimmtheit nur durch die Vermittlung des Begriffes hat. Kein Begriff sagt einfach nur, was etwas ist, sondern macht das bestimmte Sein des Bestimmten von sich selber abhängig. Hieraus erklärt sich das Programm einer negativen Dialektik: Negativ dialektisch ist ein sich selbstkritisch gegen den Herrschaftscharakter der Begriffe wendendes Denken; die begriffliche Vermittlung wird negiert, so dass sich der Vorrang des unmittelbar Gegebenen vor den Begriffen zeigen kann. Dieses vorrangige unmittelbar Gegebene nennt A. »das Nichtidentische«; es ist durch den bestimmenden Begriff nicht oder noch nicht zu einer bestimmten Identität gebracht. Das Nichtidentische ist das absolut Individuelle. Zum absolut individuellen Nicht­ identischen kann man sich nur angemessen verhalten, indem man sich von ihm betreffen und irritieren lässt. Ein Denken im Sinne der negativen

Dialektik steht so wesentlich im Zeichen von Betroffenheit und Irritation. Da es aber kein unbegriffliches Denken gibt, lässt sich ein solches Denken nicht direkt artikulieren; philosophisch kann man für die Erfahrung des Nichtidentischen nur den Raum freihalten. Für die innere Konsequenz von A.s Philosophie ist es darum bezeichnend, dass er sich in den abschließenden »Meditationen zur Metaphysik« auf die Artikulationsmöglichkeiten der Literatur beruft, um die Möglichkeit einer Erfahrung des Nicht­ identischen zu bedenken. Was die Philosophie nicht kann, traut A. immerhin der Kunst zu. So führen die Erörterungen des Buches auf die »materialen Arbeiten« zurück; ebenso verweisen sie auf A.s → Ästhetische Theorie. – Obwohl die Negative Dialektik ein philosophisches Hauptwerk A.s ist, stand sie immer im Schatten der Dialektik der Aufklärung und der Ästhetischen Theorie. So ist durch die Wirkungsgeschichte bestätigt, dass die wichtigsten Impulse des A.’schen Denkens sich auch einer gebrochenen Systematik entziehen. G. Figal Ausgabe: Gesammelte Schriften, Bd. 6, Ffm. 52003, 7–412. Literatur: L. Stresius, T. W. A.s »Negative Dialektik«: eine kriti-

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Anscombe: Intention

sche Rekonstruktion, Ffm./Bern 1981. – U.  Müller, T. W. A.s »Negative Dialektik«, Drmst. 2006. – A. Honneth/C. Menke (Hg.), T. W. A., Negative Dialektik, Bln.  2006 (Klassiker Auslegen).

Gertrude Elizabeth Margaret Anscombe *  18. 3. 1919 Limerick (Irland), † 5. 1. 2001 Cambridge (England); Schülerin Wittgensteins mit zen­ tralen Beiträgen zur Handlungstheorie und Ethik.

Intention (engl.; Absicht), Oxfd. 1957, 31963 (veränd.).

Mit der Thematisierung der Intentionalität als Spezifikum menschlichen Handelns etabliert A. die genuine Sphäre des Praktischen innerhalb der   sprachanalytischen Philosophie. Insofern sie ›Handeln‹ dabei in einer teleologischen (zielorientierten) Perspektive deutet, stellt A. sich in eine letztlich auf Aristoteles zurückgehende Tradition. Da ihre Analyse sich in Intention allein auf das absichtsvolle Tun (genau das ist ›handeln‹) bezieht, die normativen Aspekte der praktischen Philosophie jedoch nicht reflektiert (z. B. die Frage nach dem guten Handeln, nach der Freiheit und Autonomie der Absichten, nach dem Gut-

Sein der Absichten in einem ethischen Sinne), handelt es sich hier um Handlungstheo­ rie, nicht aber um Ethik. A. ist davon überzeugt, dass eine normative Ethik nicht gelingen kann, solange eine adequate philosophy of psychol­ogy die traditionellen ethischen Begriffe nicht in moderner Weise analysiert hat (Modern Moral Philosophy, in: Philosophy 33/124, 1958). – Zunächst analysiert A. die Verwendungsweisen von ›Absicht‹ (§§  1–27) und unterscheidet v. a. das Phänomen absichtlichen Handelns von der Absicht, die jemand mit einer Handlung verfolgt. Da auf die Frage nach der Absicht mit der Angabe von Handlungsgründen, nicht von Ursachen, geantwortet wird, muss der Antwortende nach A. über ein Wissen vom Zusammenhang zwischen begründender Absicht und absichtlicher Handlung verfügen. A. vertritt gegen die empiristische Tradi­tion die These, dass es sich hierbei um ein Wissen besonderer Art handelt, um praktische Erkenntnis, die kein Modus theoretischen Wissens ist (§§ 32; 48), sondern ein Wissen, das ohne jede »Beobachtung« um sich weiß. Diese Unterscheidung sieht A. in der modernen Philosophie vergessen, findet sie jedoch z. B. bei Aristoteles. Letzterer



Anselm von Canterbury: Proslogion 11

hatte nach A. mit dem »praktischen Syllogismus« (die Sphäre des Handelns betreffender Schluss) den Zusammenhang von Handlungsgründen und Handlung in einer quasi-syllo­ gistischen Struktur formal dar­ gestellt. Dabei bezeichnet die erste Prämisse etwas als begehrenswert, während die zweite Prämisse das Begehrte mit einer realisierenden Handlung verknüpft, so dass die Konklusion angibt, »was zu tun« ist. A. rekonstruiert diesen  Syl­logismus in einer idealen Form, die sich so bei Aristoteles nicht findet. V. a. die These, die Konklu­ sion des praktischen Schlusses »sei« eine Handlung (§ 33), ist für eine bis heute anhaltende Diskussion verantwortlich (G.  H.  v.  Wright). – A. hat das Intentionalitätsschema als grundlegendes Paradigma der Handlungs- und Humanwissenschaften etabliert und so das Verstehen von Gründen als eigenständige analytische Kategorie neben das Erklären durch die Angabe von Ursachen gestellt. Dieser Ansatz erfährt ge­ genwärtig große Aufmerksamkeit im Zusammenhang der Kontroverse um die Frage, ob menschliches Handeln durchgängig naturalisierbar ist oder ob es in irreduzibler Weise te­le­ ologisch ist. Diese Debatte betrifft Kernfragen des personalen

Selbstverständnisses (Rationalität, Freiheit, Moralität, Verantwortung). N. Schneider Ausgaben: Cambr. (Mass.) 22000. – Dt., Ü.: J. Schulte, Bln. 2011. Literatur: G. H. v. Wright, Erklären und Verstehen, Hbg. 2008 (EA 1971). – R.  Teichmann, The philosophy of E. A., Oxfd. 2008. – C.  Horn/G.  Löhrer (Hg.), Gründe und Zwecke: Texte zur aktuellen Handlungstheorie, Bln. 2010.

Anselm von Canterbury * 1033 Aosta, † 21. 4. 1109 Canter­ bury; signifikanter Denker an der Wende des monastischen zum sog. scholastischen Denken.

Proslogion (lat.; Anrede), entst. um 1077/78; ED Nürnberg 1491.

In der Tradition monastischer, von Augustin mitgeprägter Schriftlesung nähert sich A. in der sorgfältig rationalen Argumentation des Monologion – vom Begehren des (in unterschiedlichem Grade) Erstrebenswerten ausgehend – dem höchsten Wesen. Darin findet der Glaube zur Sprache. Dem Gebet eines in Rast- und Ratlosigkeit verstrickten Menschen verdankt sich die Kurzfassung dieser Argumentation im Proslogion, in der er die ihm plötzlich gegebene Einsicht darlegt,

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Anselm von Canterbury: Proslogion

dass »etwas, über dem Größeres nicht gedacht werden kann« (aliquid quo maius cogitari nequit) nicht nur gedacht wird, sondern in Wahrheit ist – soll man nicht dem Widerspruch verfallen, dass es etwas gebe, das größer ist als das, worüber hinaus Größeres nicht gedacht werden kann. Es kann vielmehr gar nicht gedacht werden, dass es nicht ist. (Proslogion 2–4). Es schließen sich Aussagen über das höchste Wesen an, die vom Streben nach dem Guten ausgehend zur Grenzsituation des Denkens führen. Letztlich zeigt sich, dass das höchste Wesen größer ist, als es gedacht werden kann. A. verfügte, dass seinem opusculum die spätere Diskussionen vorwegnehmenden formalen Einwände von Gaunilo mit seinen Erwiderungen beigegeben werden sollten. – A.s Argumentation hat eine sich über Jahrhunderte hinziehende Diskussion über das »ontologische Argument« (Kant), um »das wohl eine jede Philosophie […] kreist« (T.  W. Adorno), ausgelöst. In den unterschiedlichen Traditionen des von Erfahrungsgegebenem ausgehenden Denkens (Thomas von Aquin, Ockham, Hume, Kant) wird dieses abgelehnt, in der (strukturell) theologischen Tradition, die dem Denken Autonomie zugesteht (Bonaventura,

Duns Scotus, Descartes, Leibniz, Hegel) weiterentwickelt. Im 20. Jh. eröffnet K.  Barths betont theologische Deutung des Arguments im Sinne eines »geoffenbarten Gottesnamens« eine neue Diskussion, die über neuscholastische Apologetik sog. Gottesbeweise hinausgeht. Später verselbständigten sich formal(istisch)e Diskussionen – bis in eine gewisse Verlegenheit angesichts der modallogischen Rekonstruktion bei K.  Gödel. Diese Diskussionen blendeten den ursprünglichen Kontext der Argumentation A.s aus, der neuerdings in performativen Ansätzen wieder gesehen wird. K.  Jaspers sah indes den Verpflichtungscharakter von A.s Gedanken, ihn mit Kants Postulat sittlichen Handelns vergleichend, im »Wissen darum, dass die Wirklichkeit der Vernunft ihren Grund nicht in sich selbst hat«. H. Kohlenberger Ausgaben: Opera omnia, 6 Bde., Hg.: F. S. Schmitt, ND Stgt. 1968, Bd.  1, 89–122. – Engl., The Major Works, Hg.: B.  Davies/G. R. Evans, Oxfd. 1998. – Lat./dt., Hg. und Ü.: F. S. Schmitt, Stgt.  21984. – Lat./dt., Hg. und Ü.: R.  Theis, Stgt. 2005. Literatur: K. Barth, Fides quaerens intellectum, Mchn.  1931. – K. Jaspers, A., in: ders., Aus dem Ursprung denkende Metaphysiker,



Arendt: The Human Condition 13

Mchn.  1957, 117 ff. – J.  Vuillemin, Le Dieu d’Anselme et les apparences de la raison, Paris 1971. – J. Bromand/G. Kreis (Hg.), Gottesbeweise von A. bis Gödel, Bln. 2011.

Hannah Arendt *  14. 10. 1906 in Hannover, †  4. 12.  1975 in New York; deutsch-amerikanische Philosophin und Politische Theoretikerin.

The Human Condition (engl.; Vita activa oder Vom tätigen Leben), EA Chicago 1958.

In Vita activa möchte A. über das nachdenken, »was wir eigentlich tun, wenn wir tätig sind«. In systematischer Hinsicht versucht sie zu zeigen, warum Arbeiten, Herstellen und Handeln die drei »Grundtätigkeiten« der Vita activa bilden und unterschiedliche Typen menschlicher Aktivitäten realisieren; in historischer Hinsicht geht es ihr v. a. darum, die Ursprünge der neuzeitlichen »Weltentfremdung« offenzulegen. Wenngleich sie das Verhältnis von Vita activa und Vita contemplativa thematisiert, geht A. in dem vorliegenden Werk auf die Tätigkeit des Denkens nicht eigens ein. – Arbeiten, Herstellen und Handeln bilden deshalb die Grundtätigkeiten der Vita activa, weil sie jeweils einer »Grundbedin-

gung« des menschlichen Lebens entsprechen: das Arbeiten der biologischen Beschaffenheit von Menschen, das Herstellen ihrem Angewiesensein auf »Weltlichkeit« und das Han­ deln dem Umstand, dass »viele Menschen auf der Erde leben«. Begrifflich ist die Arbeit für A. eine Tätigkeit des menschlichen Körpers, durch die Güter erzeugt werden, die zum Verzehr bestimmt sind. Da ihre Produkte keine »Beständigkeit« hätten, könne  die Arbeit nicht weltbildend sein. Vielmehr seien das Arbeiten und Konsumieren nur »Stadien in dem Kreislauf des biologischen Lebensprozesses«. Demgegenüber ist das Herstellen für A. ein Hervorbringen von Dingen, die ein vom Her­ stellungsprozess »unabhängiges Da­­sein« haben und deshalb als Gebrauchsgegenstände fungieren können. Diese Tätigkeit versteht A. als eine Verdinglichung bzw. Vergegenständlichung, durch die »Material« nach Maßgabe eines vorgängig bestehenden »Modells« (etwa eines Tisches) planmäßig »verfertigt« wird. Aufgrund ihrer Dauerhaftigkeit seien die Produkte des Herstellens prinzipiell geeignet, eine Welt zu bilden und den Menschen eine »Heimat« zu bieten. Das sprachlich vermittelte Handeln

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Arendt: The Human Condition

schließlich ist in A.s Verständnis die »höchste und menschlichste Tätigkeit der Vita  acti­ va«, durch die Menschen »Neues in Bewegung setzen« und enthüllen, wer sie sind. Es spielt sich »direkt zwischen den Menschen« ab und dient nicht der Erzeugung von Konsumoder Gebrauchsgegenständen. Das »ursprünglichste Produkt« des Handelns ist nach A. eine sinnstiftende »Lebensgeschichte«, deren Eigentümlichkeit da­rin bestehe, von niemandem »ersonnen« zu sein. – Auf der Grundlage dieser begrifflichen Unterscheidungen nimmt A. eine vielschichtige historische Analyse der von ihr konstatierten Weltentfremdung vor. Sie glaubt, dass die antiken griechischen Stadtstaaten die Tätigkeiten des Arbeitens, Herstellens und Handelns adäquat institutionalisierten, indem sie eine strikte Trennung zwischen der öffentlichen und politischen Sphäre des Handelns (polis) und dem privaten Bereich des Arbeitens (Haus im Sinne von oikos) etablierten und dem Herstellen  lediglich einen nichtpolitischen öffentlichen Raum (den »Tauschmarkt«) zuerkannten. Demgegenüber seien die neuzeitlichen europäischen Gesellschaften dadurch charakterisiert, dass sie die Arbeit und das private Eigentum zu

öffentlichen Angelegenheiten machten (durch die Einrichtung entsprechender Märkte) und die Sphäre des politischen Handelns durch einen Staat ersetzten, dessen Hauptaufgabe in dem Schutz der Einzelnen als »Konkurrenten« bestehe. Darüber hinaus habe die neuzeitliche Wirtschaft im Zuge der Entfaltung ihrer Produk­tivität die »Werktätigkeit in A ­ rbeit« transformiert – nämlich einen gesellschaftlichen Raum geschaffen, in dem Gebrauchsgegenstände wie Konsumgüter behandelt würden. Dieser Triumph des »Animal ­ laborans« erklärt für A. den neuzeitlichen »Weltverlust«. Den frag­li­chen Entfremdungsprozess  sieht sie (zumindest zum Teil) in der politischen Philosophie seit Platon angelegt, in der sich das Bestreben artikuliere, »Handeln durch Herstellen zu ersetzen«. In der neuzeitlichen Physik und Philosophie (seit Descartes) kommt nach A.s Einschätzung die »Flucht aus der Welt in das Selbstbewußtsein« prägnant zum Ausdruck. – Seit ­ihrem Erscheinen hat A.s Schrift Debatten unter  Philosophen, Politikwissenschaftlern und Gesellschaftstheoretikern ausgelöst; sie wird als eines von A.s Hauptwerken angesehen. H.-C. Schmidt am Busch



Aristoteles: Ēthika Eudēmeia 15

Ausgabe: Mchn./Zürich 2007. Literatur: K.-H. Breier, H. A. zur Einführung, Hbg. 2011. – W. Heuer u. a. (Hg.), A.-Handbuch, Stgt./ Weimar 2011.

Aristoteles * 384 v. Chr. Stagira (Chalkidike), †  Oktober 322 v. Chr. Chalkis (Euböa); neben Platon wichtigster griechischer Philosoph.

Ēthika Eudēmeia (gr.; lat.: Ethica Eudemica; Eudemische Ethik), entst. 4. Jh. v. Chr.; ED Venedig 1498 (gr., in: Opera, Bd. 5).

Warum das Werk seinen Titel trägt, ist unbekannt. Es umfasst acht Bücher. Buch I 1–4 handelt von der ›Glückseligkeit‹ (eudaimonia) als Ziel des menschlichen Lebens. Drei Voraussetzungen für ein geglücktes Leben nennt A.: die philosophische Einsicht (phronēsis), die ethische Tauglichkeit  (are­ tē) und die Lust (hēdonē); diese entsprechen drei Lebensformen: dem philosophischen, dem politischen und dem genießerischen Leben. Die Kapitel 4–5 thematisieren die Methode der Ethik. Sie entspricht der dialektischen Methode, die A. in Buch I der Topik entwickelt. Die Kapitel 7–8 unterstreichen mit Nachdruck, dass das Wesen des höchsten Gutes

darin besteht, dass es die höchste Form eines trefflichen Tätigseins des Menschen darstellt. – Buch II setzt die Untersuchung über die eudaimonia fort und thematisiert die Tauglichkeit (aretē) im Allgemeinen. Das Tätigsein der Seele im Sinne ihrer vortrefflichen Tauglichkeit bedeutet eudaimonia, geglücktes Leben. A. unterscheidet zwei Seelenteile, den Teil, der den Logos nicht hat und den, der ihn hat. Entsprechend unterscheidet A. zwei Formen von Tauglichkeiten: die ethischen und die dianoetischen Tauglichkeiten. Die ethischen Tauglichkeiten gehören dem Seelenteil an, der einerseits den Logos nicht hat, andererseits ihn hat, insofern er dem Logos folgen kann. Dem Seelenteil, der den Logos hat, gehören die dianoetischen Tauglichkeiten an. Das Prinzip der rechten Mitte gilt als Grundnorm des Guten. – Buch III erörtert die einzelnen ethischen Tauglichkeiten; deren Analyse wird in den Büchern IV–VI fortgesetzt, die den Büchern V–VII der →  Nikomachischen Ethik entsprechen. Buch VII handelt von der Freundschaft. Buch VIII untersucht den richtigen und falschen Gebrauch der Tauglichkeiten, das Verhältnis von Erfolg (eutychia) und Glück (eudaimonia) und von

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Aristoteles: Ēthika Nikomacheia

Schönheit und Gutheit (kalokagathia). Für die Interpretation des Satzes im Schlussteil der Schrift, dass nicht der Zufall, sondern Gott der Anfang der Tätigkeits-Bewegung der Seele ist, ist von Bedeutung, dass ›Gott‹ nicht den Gott im Kosmos, sondern den Gott in uns meint, der nicht durch Befehlen herrscht, sondern das Ziel (telos) darstellt, um dessentwillen die praktische Umsicht das zu Tuende erschließt. – Die Echtheit des Werkes wurde von L.  Spengel (1841), von Schleiermacher (1817) und von E.  Kapp (1912) mit unterschiedlichen Gründen infrage gestellt. W. Jaeger (1923) brachte den Hinweis ein, dass im Gegensatz zur Nikomachischen Ethik das Streben zu Gott die Zentralidee des Werkes darstellt und phronēsis in Übereinstimmung mit dem Protreptikos noch ganz »exklusiv Schau der göttlichen Arché« (arché = ›Anfang‹) bedeutet. Das Werk wird heute vorbehaltlos A. zugeschrieben; was die Datierung betrifft, so hat die neuere Forschung den Nachweis erbracht, dass es vor der Nikomachischen Ethik entstanden ist. E. Braun Ausgaben: Gr., in: Opera, Bd.  2, Hg.: I.  Bekker, Bln. 1960, 1214a – 1249b 25. – Gr./engl., The Eude­ mian Ethics, Ü.: H. Rackham, Ldn.

1935 (ND 1971). – Engl., Eude­ mian Ethics, Hg.: M. Woods, Oxfd. 1992. – Dt., Ü.: F.  Dirlmeier, in: Werke, Bd.  7, Bln. 1962; 41984 (mit Einl., Komm. und Bibl.). Literatur: F.  Schleiermacher, Über die ethischen Werke des A., in: ders., Sämmtliche Werke, 3. Abt., Bd. 3, Bln. 1835. – E. Kapp, Das Verhältnis der eudemischen zur nikomachischen Ethik, Diss. Fbg., 1912. – W.  Jaeger, A., Bln. 1923, 237–270. – D. J. Allan, The Fine and the Good in the Ethica Eudemica, in: P. Moraux/D. Halflinger (Hg.), Untersuchungen zur Eudemischen Ethik. Akten des 5. Symposium Aristotelicum, Bln. 1971. – A. Kenny, The Aristotelian Ethics, Oxfd. 1978. – M. H. Wörner, Das Ethische in der Ethik des A., Fbg./ Mchn. 1990.

Ēthika Nikomacheia (gr.; lat.: Ethica Nicomachea; Nikomachische Ethik), Entstehungszeit unklar; ED Venedig 1498.

Die Nikomachische Ethik (in zehn Büchern) wird traditionell als ethisches Hauptwerk des A. betrachtet. Daran hat auch die neuere Forschung nichts geändert, obwohl die lange vernachlässigte Eudemische Ethik (in acht Büchern) hier verstärkt Aufmerksamkeit findet. Dass beide Ethiken, die drei identische Bücher enthalten, A. zuzuschreiben sind, ist anders als für die Magna Moralia (in zwei Büchern) weithin unumstritten.



Aristoteles: Ēthika Nikomacheia 17

Ihr Verhältnis genauer zu bestimmen, bereitet aber Schwierigkeiten. – Die Grundzüge seiner Konzeption erläutert A. in den Büchern I und II. Demzufolge strebt jede Handlung (praxis) nach einem für gut gehaltenen Ziel (telos), wobei es zwar eine große Anzahl möglicher Ziele gibt, untergeordnete Ziele aber als Mittel zur Realisierung übergeordneter Ziele beitragen. Letztlich geht es uns immer um ein höchstes oder bestes Ziel (ariston), das in einem guten Leben (eudaimonia) liegt. Praktische Philosophie soll nach A. ermöglichen, dieses Ziel besser zu treffen. Vorausgesetzt wird eine Vernunft (logos), die im guten Leben gemäß der Tugend bzw. Bestheit (aretē) gebraucht werden muss. Auch äußere und körperliche Güter sind erforderlich, entscheidend ist jedoch ihr tugendhafter Gebrauch. A. greift damit – wie schon mit der zentralen Verbindung von eudaimonia und aretē – auf einen Gedanken Platons zurück, ohne ihm durchgängig zu folgen. Vielmehr betont er, dass es keine einheitliche und selbständige Idee des Guten gibt. Entsprechend versteht er Tugend nicht als ein Ideenwissen, sondern als eine Haltung (hexis). Ihre grundlegende Variante liefern Charaktertugenden wie Besonnenheit und Tapfer-

keit, die als Entscheidungshaltungen beständig die Mitte (mesotēs) zwischen schlechten Extremen zu treffen erlauben und ihrerseits daraus entstehen, dass man sich an solche Entscheidungen gewöhnt. Es gilt allerdings zu beachten, dass A. nicht nur Charaktertugenden, sondern auch Verstandestugenden kennt. Wie Buch VI ausführt, spielen v. a. Klugheit (phronēsis) und Weisheit (sophia) eine große Rolle. Während Klugheit benötigt wird, um in der Praxis gut überlegen und entscheiden zu können, ermöglicht Weisheit, das theo­ retische Leben zu vollenden. Und nach Buch X stellt eben diese Vollendung die höchste Form der eudaimonia dar. – Buch III erläutert Freiwilligkeit als Voraussetzung für die Unterscheidung von Tugend und Schlechtigkeit. Demnach sind unsere Handlungen freiwillig (hekōn), wenn wir weder gezwungen noch in Unkenntnis wichtiger Umstände handeln. Obwohl A. Zwangslagen keineswegs leugnet, betrachtet er jede Entscheidung (prohairesis) als freiwillig, weil er sie als überlegtes Streben nach etwas Verfügbarem versteht und Überlegungen Alternativen voraussetzen. Eng damit zusammen hängt die Untersuchung der Unbeherrschtheit (akrasia)

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Aristoteles: Ēthika Nikomacheia

in Buch VII, die zu zeigen versucht, inwiefern Handeln wider besseres Wissen möglich ist. – In der Behandlung einzelner Tugenden verdient v. a. die der Gerechtigkeit (dikaiosynē) in Buch V Beachtung. A. unterscheidet hier eine Verteilungsgerechtigkeit, die Güter proportional zum Verdienst bestimmt, und eine wieder­ herstellende Gerechtigkeit, die auf arithmetischer Gleichheit beruht. – Die Lustabhandlungen der Bücher VII und X, die Lust (hēdonē) als ungehinderte Tätigkeit oder als hinzutretende Vollendung bestimmen, führen aus, inwiefern angemessene Lust nach A. zum guten Leben gehört. Als Grundlage dient die Auffassung, dass nur derjenige wirklich über Tugend verfügt, der ihr gerne oder doch nicht ungern folgt. – Die Freundschaftstheorie der Bücher VIII und IX erläutert verschiedene Formen der philia, indem Beziehungen zwischen Gleichen und Ungleichen anhand verschiedener Ziele wie Lust, Nutzen und Tugend unterschieden werden. Spätestens hier zeigt sich, dass A. kein egoistisches Modell des guten Lebens vertritt. – Obwohl die aristotelische Ethik schon im Hellenismus von konkurrierenden Entwürfen an den Rand gedrängt wurde und für

rund zweihundert Jahre wohl auch als Text nicht vollständig greifbar war – das älteste Schriftenverzeichnis nennt nur eine Ethik in fünf Büchern –, weist sie eine beeindruckende Wirkungsgeschichte auf. Eine erste Renaissance beginnt mit der Ausgabe des Andronikos von Rhodos im 1.  Jh. v. Chr., eine zweite mit der lateinischen Übersetzung durch Wilhelm von Moerbeke im 13. Jh. Seit den mittelalterlichen Aristotelikern Albertus Magnus und Thomas von Aquin wird die Nikomachische Ethik weithin als Grundbuch der praktischen Philosophie angesehen. Auch die vehemente Kritik antiker Ansätze in der modernen Moralphilosophie hat ihre Wirkung nicht nachhaltig beeinträchtigt. Schon Hegel orientiert sich mit seiner Theorie der Sittlichkeit gegen Kant wieder stark an A. Und im 20. Jh. werden verschiedene Varianten eines Neoaristotelismus entwickelt, deren Einfluss bis heute groß ist. W. Mesch Ausgaben: Gr., Aristotelis Ethica Nicomachea, Hg.: I.  Bywater, Oxfd. 1894 (ND 1970). – Engl., Nicomachean Ethics, Hg.: S.  Broadie/C.  Rowe, Oxfd. 2002 (mit Komm.). – Dt., Werke, Bd. 6, Hg.: F. Dirlmeier, Bln. 101999 (mit Komm.).



Aristoteles: Peri tōn katēgoriōn 19

Literatur: R. Kraut (Hg.), Aristotle’s Nicomachean Ethics, Oxfd. 2005. – U.  Wolf, A.’ »Nikomachische Ethik«, Drmst. 22007. – O. Höffe (Hg.), A.: Die Nikomachische Ethik, Bln. 32010.

Peri tōn katēgoriōn (gr.; lat.: Categoriae; Von den Kategorien), entst. 4.  Jh. v. Chr.; ED Neapel 1473–78 (lat., Hg. S. Ries­ singer), Venedig 1495 (gr., in: Opera, Bd. 1).

Der Titel ist bei A. nicht belegt. Möglicherweise trug die Schrift ursprünglich den Titel pro tōn topōn (das der Topik Vorausgehende). Sie ist Teil des → Organon. – In dieser Schrift wird zum ersten Mal in der Philosophie die ontologische Dimension der Kategorien thematisiert. – Die Schrift gliedert sich in zwei Teile: 1. eine Analyse der Aussageformen und Erläuterung der zehn Kategorien (Kap.  1–9), 2. die Thematisierung der sog. »Postprädikamente« (Kap.  10–15). Die Abhandlung beginnt mit dem einfachen Sagen als Ansprechen der Dinge in dem, was sie sind. In diesem Zusammenhang kommt A. auf den Unterschied von ›Homonymität‹ und ›Synonymität‹ zu sprechen. Es gibt A. zufolge zwei Wortarten, die Dinge anzusprechen: homo­nyme und synonyme. Da

in den einfachen Benennungen immer eine Mannigfaltigkeit angesprochen wird, kann das einfache Ansprechen von etwas schon Quelle der Täuschung sein. Homonymität liegt vor, wenn eine gemeinsame Ansprechung benennt, was sachlich nichts miteinander zu tun hat. Synonymität liegt dagegen vor, wenn mit der Ansprechung eine sachliche Identität vorliegt. Im Folgenden stellt A. fest, dass jedes einfachhin für sich Angesprochene auch schon im urteilslosen Ansprechen die Art und Weise seines Seins enthält. Die Kategorien sind die Weisen, das Seiende anzusprechen. Nach A. lässt sich einerseits die logische Struktur des Ansprechens des Seienden durch Kategorien analysieren, andererseits ist das Seiende selbst in seiner Mannigfaltigkeit kategorial differenziert. Die Kategorien sind zugleich Modi der Ansprechung (logos) und des Seins (on). Sie betreffen den logos als Modi der Aussage und das on, insofern sie das logische Instrumentarium zur Analyse der seienden Dinge bieten. Die Mannigfaltigkeit des Seins erscheint nach A. im Lichte der kategorialen Aussage-Struktur des logos. – A. unterscheidet zehn Kategorien als Aussageformen des Seins, die im 4. Kapitel aufgezählt werden. An

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Aristoteles: Peri tōn katēgoriōn

der Spitze der Kategorien steht 1. die Kategorie der Substanz (usia), es folgen 2.  Quantität (poson), 3.  Qualität (poion), 4.  Relation (pros ti), 5.  Wo (pu), 6.  Wann (pote), 7.  Lage (keisthai), 8.  Haben (echein), 9. Wirken (poiein), 10. Leiden (paschein). Die usia ist Träger weiterer Bestimmtheiten, ohne selbst Bestimmung für ein anderes sein zu können. Sein entscheidender Gedanke ist, dass, wenn keine erste usia existierte, überhaupt nichts existierte. Von dieser usia als Einzelnem unterscheidet A. in zweiter Linie eine usia als Gemeinsames, die wie ›Mensch‹, ›Lebewesen‹ usw. nicht nur von einem, sondern von vielen Subjekten ausgesagt wird und somit nicht eine usia im eigentlichen Sinne als Zugrundeliegendes (hypokeimenon) sein kann. Die These, dass die usia im eigentlichen Sinne »hauptsächlich und an erster Stelle und vorzüglich« (2a 11) nur ein mit sich selbst identisches Einzelding ist, richtet sich gegen Platon, nach dem das Wesen eines Seienden durch die Teilhabe (metexis) an der Idee (eidos) bestimmt ist. – In den Kap. 10–15 thematisiert A. die sog. »Postprädikamente«. Es handelt sich um Analysen von Wörtern, die aktuell diskutiert wurden. So analysiert er die vier Arten von Gegen-

sätzen: Relation, Kontrarietät, Privation und Kontradiktion. Es folgt die Unterscheidung der fünf Typen von Priorität sowie die Analyse des Wortes ›zugleich‹. Schließlich diskutiert A. die sechs verschiedenen Arten der Bewegung (kinēsis): Werden, Vergehen, Zunahme, Abnahme, qualitative Veränderung, Ortsveränderung. – Die Schrift bietet einen Überblick über ein zentrales Thema der Philosophie des A., das in der Folge zum grundlegenden Thema der Philosophie wurde. Im Rahmen des Corpus Aristotelicum war sie für mehr als 2000 Jahre das bekannteste Werk. E. Braun Ausgaben: Gr., in: Opera, Bd.  1, Hg.: I. Bekker, Bln. 1960, 1a–15b. – Aristotelis categoriae et liber de interpretatione, Hg.: L. Minio-Paluello, Oxfd. 1949 (ND 1961). – Dt., Ü.: E.  Rolfes, Lpzg. 1920 (ND 1974). – Ü.: O. Gigon, in: Werke, Bd. 1, Zürich 1961. – Ü.: K. Oehler, in: Werke, Bd. 1/1; Bln. 1984, 3 1997. – Engl., Aristotle’s Categories and De Interpretatione, Ü.: J. L. Ackrill, Oxfd. 1963 (ND 1974). Literatur: K. v. Fritz, Der Ursprung der aristotelischen Kategorienlehre, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 40, 1931, 449–496. – Ders., Zur aristotelischen Kategorienlehre, in: Philologus 90, 1935, 244–248. – E.  Vollrath, Studien zur Kategorienlehre des A., Ratingen 1959. – E. Coseriu, Die Geschichte



Aristoteles: Ta meta ta physica 21

der Sprachphilosophie, Tbg.  1969; 2 1975. – K.  Reisinger, Kategorien und Seinsbedeutung bei A., in: I.  Schüssler/W.  Janke (Hg.), Sein und Geschichtlichkeit, Ffm. 1974, 37–51.

Ta meta ta physica (gr.; lat.: Metaphysica; Metaphysik), entst.  4. Jh. v. Chr.; ED Venedig 1483 (lat., in: Opera), 1498 (gr., in: Opera, Bd. 4).

Das Werk ist eine onto-theologische Abhandlung. Lange Zeit herrschte Einhelligkeit darüber, dass weder der Titel »Metaphysik« noch die Komposition der darin enthaltenen Einzelbücher in der vorliegenden Folge von A. stammen. So sei der Titel eine rein editionstechnische Verlegenheitsbezeichnung von Andronikos von Rhodos. H.  Reiner hat dagegen überzeugend die Anordnung und den Namen der Metaphysik im Gesamtkonzept begründet. Was die chronologische Abfolge der 14 Bücher und die Einheit der Metaphysik anbetrifft, gehen die Ansichten auseinander. Unbestritten ist, dass die einzelnen Bücher zu verschiedenen Zeiten entstanden sind. W.  Jaeger geht von der Annahme zweier ursprünglicher Metaphysik-Fassungen aus – einer theologisch-platonischen und einer ontologischen – und bestimmt die zeitliche Abfolge

der metaphysischen Schriften anhand der Nähe bzw. Ferne zu Platons Lehre. Während P.  Aubenque das Konzept der Metaphysik für aporetisch hält, bestreitet I.  Düring, dass A. eine Metaphysik geschrieben hat. Ihm zufolge handelt es sich um unzusammenhängende Schriften. Die Probleme um die Einheit und Abfassung des Werkes hängen unmittelbar mit dem Problem des aristo­ telischen ›Metaphysik‹-Begriffs selbst zusammen. Der Grund liegt in den zwei von A. selbst geprägten, scheinbar unvereinbaren Bestimmungen der »Ersten Philosophie«: Einerseits wird sie als Wissenschaft vom übersinnlichen Unbewegten (akinēton) und Getrennten (chōriston) bestimmt (E  1, 1025b 1–1026c 23), andererseits als Wissenschaft vom Seienden als Seiendem (on hē on), d. h. was allem Seienden zugrunde liegt, bezeichnet (G 1). Gemäß der neueren Aristotelesforschung bezeichnen chō­ riston und on hē on dasselbe (Owens). Für A. (Metaphysik E  I 1026a 23) besteht der anstößige Widerspruch zwischen der »Ersten  Philosophie« als allgemeiner Ontologie und der »Ersten Philosophie« als Theologie nicht (G.  Patzig). »Das ›Erste Seiende‹ ist ein Seiendes unter anderen und zugleich

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Aristoteles: Ta meta ta physica

Prinzip und Grund des Seins für alles Seiende anderer Kategorien, dessen Sein ›in bezug auf ein Identisches ausgesagt wird‹« (H.  Flashar). – A. thematisiert  in Auseinandersetzung mit den Philosophen von Thales bis Platon die Weisheit (sophia) als eine Wissenschaft (epistēmē) von den Ursachen (aitia) und Prinzipien (archai). Diese Wissenschaft unterscheidet sich als eine theoretische (theorētikē) von der hervorbringenden (poiētikē). Ihr Ausgangspunkt ist das Staunen (thaumazein), und im Streben nach dem im höchsten Sinne Wissbaren (malista epistēton) wird sie um ihrer selbst willen betrieben. A. unterscheidet im weiteren vier grundlegende Ursachen: 1.  das Wesen, das, was das Seiende je schon war (usia, to ti ēn einai), 2. den Stoff (hylē), 3.  das Woher des Anfangs aller Bewegung (hothen hē archē tēs kinēseōs), 4. das Ziel (hu heneka). Buch  II (A) zeigt auf, inwiefern die Erforschung der Wahrheit einerseits schwierig, andererseits leicht ist. Buch  III (B) thematisiert die Bedeutung der Aporie für die Philosophie und listet 15  Apo­ rien bezüglich der Wissenschaft vom Sein auf. Buch IV (G) untersucht in Unterscheidung zu den Einzelwissenschaften die Wissenschaft vom Seienden

als Seiendem. Dabei hebt A. hervor, dass das Seiende in vielfacher Bedeutung im Hinblick auf ein Erstes ausgesagt wird (pollachōs legomenon). Ein weiteres wesentliches Thema dieses Kapitels sind die ontologischen Grundaxiome, besonders der Satz vom Widerspruch. Buch V (D) beinhaltet die Definition philosophischer Termini, die in der Metaphysik verwendet werden. Buch  VI (E) umfasst eine Einteilung der Wissenschaften in praktische, hervorbringende und theoretische, von denen die Letzteren in mathematische, physikalische und theologische untergliedert werden. Von allen Wissenschaften unterschieden ist die »Erste Philosophie« als »theo­ retische Wissenschaft«. Die Bücher VII, VIII und IX (Z, H, Θ) handeln von den sinnlich  wahrnehmbaren Substanzen und ihren Prinzipien. Substanz als das Erste Seiende (prōton on) ist als erste in den Körpern vorhanden. Dabei werden vier Bedeutungen von ›Substanz‹ unterschieden: 1.  das, was das Seiende je schon war (to ti ēn einai), 2.  das Allgemeine (to katholu), 3. die Gattung (genos) und 4.  das Zugrundeliegende (hypokeimenon). Substanz wird als Möglichkeit (dynamis) und Wirklichkeit (energeia) verstanden, die Möglichkeit als



Aristoteles: Organon 23

das Prinzip der Veränderung. Buch  X (I) handelt über Eins (hen) und seine mannigfaltigen Bedeutungen (als Zusammenhängendes, als Ganzes, als das der Art nach, als das der Zahl nach), über Identität, Nicht­ identität, Ähnlichkeit und Gegenteil. Buch  XI (K) ist in Wiederaufnahme von Phy­ sik II 1–4, III 4–7 und V 1–3 eine Abhandlung über die Grundprobleme der »Ersten Philosophie« sowie über die Natur. Buch  XII (Λ), oft als ›Aristotelische Theologie‹ bezeichnet, ist eine selbständige Abhandlung über die usia und den »ersten unbewegten Beweger«. Der Gedanke führt von den sinnlich wahrnehmbaren vergänglichen Substanzen über die sinnlich wahrnehmbaren ewigen zu den intelligiblen Substanzen. Buch  XIII und XIV (M, N) sind eine Ausein­ andersetzung über die Ideen und Ideenzahlen und enthalten eine Kritik an der Ideenlehre der platonischen Akademie. – Die Nachwirkung der aristotelischen Metaphysik besteht in der epochemachenden Bedeutung für die Seinsphilosophie. E. Braun Ausgaben: Gr., Hg.: W. D. Ross, Oxfd. 1924 (revid. Text, mit Einl. und Komm.; ND 1966). – Gr., in: Opera, Bd.  1, Hg.: I.  Bekker, Bln. 1960, 980a 22–1093b. – G ­ r./

dt., Hg.: H.  Seidl, 2 Bde., Hbg. 1978–80 (mit Einl. und Komm.; 3 1989–91). – Gr./dt., Bücher VII und VIII. Mit Komm. von W. Detel, Ffm. 2009. – Dt., Ü.: U. Wolf, Hbg. 1994. Literatur: W. Jaeger, A., Bln. 1923. – J. Owens, The Doctrine of Being in the Aristotelian Metaphysics, Toronto 1951; 31978. – H. Reiner, Die Entstehung und ursprüngliche Bedeutung des Namens Metaphysik, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 8, 1954, 210–237 (ND in: F.-P. Hager [Hg.], Metaphysik und Theologie des A., Drmst. 1969). – G.  Patzig, Theologie und Ontologie in der Metaphysik des A., in: KantStudien 52, 1960/61, 185–205. – I. Düring, A., Heidelberg 1966, 183–290, 586–622. – F.-P. Hager (Hg.), Metaphysik und Theologie des A., Drmst. 1969.

Organon (gr.; Werkzeug).

Unter dem Titel Organon sind die sog. logischen Schriften des A. zusammengefasst: →  Peri tōn katēgoriōn, Peri hermēneias, Topika, Peri tōn sophistikōn elenchōn, Analytika protera, Analytika hystera. – Die Gruppierung dieser Schriften unter dem Titel Organon sowie ihre Anordnung innerhalb des Organon gehen auf die Ausgabe des Andronikos von Rhodos zurück, in der diese Schriften den philosophischen Werken des A. vorangehen, und zwar

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Aristoteles: Peri poiētikēs

in der Reihenfolge, die sich gemäß Andronikos’ Auffas­ sung aus dem systematischen Fortschreiten des aristotelischen Denkens vom Einfachen zum Zusammengesetzten ergibt.  Ihm zufolge handeln die Kategorien von den Aussageformen mit Bezug auf das einfache Wort, die Hermeneutik vom Urteil, das im einfachen Satz zum Ausdruck kommt, die Topik von dem dialektischen Syllogismus und die Sophistischen Widerlegungen von dem Trugschluss; schließlich thematisieren die Erste Analytik den  apodeiktischen Syllogismus in seiner perfekten Form und die Zweite Analytik den wissenschaftlichen Beweis. – Alle Schriften des Organon sind noch während der Akademiezeit des A. entstanden. Einhellig wird heute die Auffassung vertreten, dass die Topik vor der Ersten und Zweiten Analytik verfasst ist. Das von F. Solmsen (1929) vorgenommene chronologische Stufenmodell ist dagegen umstritten. – Während das Organon zunächst nach der Wiedergewinnung des Corpus aristotelicum weitgehend unberücksichtigt blieb, stand es von Anfang an bei den Kommentatoren des A. im Vordergrund. Die Wirkung des Organon auf das gesamte abendländische Denken war sehr groß, gleich-

wohl unterschiedlich mit Bezug auf die in ihm enthaltenen Schriften: die Erste Analytik und die Schrift Von den Kategorien für die Logik und deren Weiterentwicklung, die Zweite Analytik für die Entwicklung der Wissenschaftslehre, die Schrift über die Sprachform der Sätze für die Sprach- und Erkenntnisphilosophie, die Topik sowohl für die Dialektik (kata to pragma), als auch insbesondere für den Paradigmenwechsel der Sprachphilosophie im 20. Jh. und die Sophistischen Widerlegungen für die Dialektik als Prüfungskunst (peirastike). E. Braun Ausgabe: Philosophische Schriften, Bd. 1 und 2, Ü.: E.  Rolfes, Hbg. 1995. Literatur: F. Solmsen, Die Entwicklung der aristotelischen Logik und Rhetorik, Bln. 1929. – E. Braun, Zur Einheit der aristotelischen Topik, Köln 1959. – P. M. Huby, The Date of Aristotle’s »Top­ ics« and its Treatment of the Theory of Ideas, in: The Classical Quarterly 12, 1962, 72–80. – Ders., Der Paradigmenwechsel in der Sprachphilosophie, Drmst. 1995.

Peri poiētikēs (gr.; lat.: De arte poetica; Über die Dichtkunst), Entstehungszeit unklar; ED Venedig 1508.

Die Poetik des A. behandelt die Dichtkunst, die sich in der



Aristoteles: Peri poiētikēs 25

Epik, Tragödie und Komödie sowie in den Dithyramben zeigt. Als Grundlage dient ihm der Begriff der Darstellung oder Nachahmung (mimēsis). Erhalten ist nur das erste Buch, das neben allgemeinen Grundlagen v. a. die Tragödie untersucht. Dagegen galt das verlorene zweite Buch wohl primär der Komödie. – Die Kapitel 1–3 erläutern drei Gesichtspunkte der Mimesis, nämlich die Mittel, die Gegenstände, und die Art und Weise der Darstellung, die verschiedene Gattungen der Dichtkunst und verschiedene darstellende Künste zu unterscheiden erlauben. Als Darstellungsmittel verwendet jede Dichtung die Sprache, etwa im Unterschied zur Malerei, die auf Farben und Formen zurückgreift. Wichtig sind aber auch Versmaß, Rhythmus und Melodie. Sieht man vom Epos ab, in dem die Melodie keine Rolle spielt, werden diese Mittel ebenfalls in allen Gattungen benutzt, allerdings nicht überall gleich. Als Gegenstand der Darstellung dienen handelnde Menschen, die entweder besser sind als wir (wie in der Tragödie) oder schlechter (wie in der Komödie). Dabei kann die Darstellung einerseits durch einen erzählenden Bericht und andererseits durch eine direkte Rede handelnder Personen erfolgen.

In Kapitel 4 und 5 geht es um den geschichtlichen Ursprung der dramatischen Dichtung, der im Rückgriff auf anthropologische Grundlagen erläutert wird. Wie A. hier betont, ist dem Menschen das Darstellen oder Nachahmen angeboren. Wir erwerben unsere ersten Kenntnisse auf diese Weise und haben sogar dann Freude daran, wenn wir das Dargestellte in Wirklichkeit nur ungern sehen. Bereits diese Einschätzung zeigt, dass A. – anders als sein Lehrer Platon – in der Mimesis weniger Risiken als Chancen sieht. – Die Kapitel 6–22 behandeln die Tragödie, für die A. zunächst eine berühmte Definition gibt: Eine Tragödie ist die Darstellung einer guten und abgeschlossenen Handlung von bestimmter Größe, und zwar in einer anziehenden Sprache, die in einzelnen Abschnitten unterschiedlich eingesetzt wird. Dabei gibt die Tragödie eine Darstellung von Handelnden, keinen Bericht. Außerdem ruft sie Mitleid (eleos) und Furcht (phobos) hervor, womit sie die Reinigung (katharsis) von derartigen Affekten oder Emotio­ nen bewirkt. Auf dieser Grundlage unterscheidet A. verschiedene Teile der Tragödie wie Handlungsablauf (mythos), Charaktere, Sprache, Denken oder Gedankenführung (dia-

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Aristoteles: Politika

noia), Inszenierung und Melodik. Besonders wichtig ist nach A. die Einheit einer folgerichtigen Handlung, die einen notwendigen oder wahrscheinlichen Ablauf besitzen muss. In denselben Zusammenhang gehört die Unterscheidung von einfachen und zusammengesetzten Handlungen, von denen nur letztere Umschlag (peripeteia) und Wiedererkennung (anagnōrisis) aufweisen. Auch Charaktere und Sprache werden recht ausführlich untersucht. Am Ende stehen die Kapitel 23–26, die dem Epos gewidmet sind. A. erläutert hier nicht zuletzt, wodurch sich das Epos von der Tragödie unterscheidet. – Die aristotelische Poetik hat erst in der Renaissance größere Beachtung gefunden. Besonders wichtig war sie für das Selbstverständnis der französischen Klassik im 17.  Jh. und für Lessing. Seitdem vielfach kritisiert und marginalisiert, hat sie ihren Einfluss in poetologischen Debatten doch nie ganz verloren. In der neueren Rezeption geht es v. a. um die verschiedenen Aspekte des Mimesisbegriffs und um das Verhältnis von Poe­tik und Rhetorik. W. Mesch Ausgaben: Gr., Aristotelis De Arte Poetica Liber, Hg.: R.  Kassel,

Oxfd. 1965. – Engl., The Poetics of A., Hg.: S.  Halliwell, Ldn. 1987 (mit Komm.). – Dt., Werke, Bd. 5, Hg.: A.  Schmitt, Bln. 2008 (mit Komm.). Literatur: A. O. Rorty (Hg.), Essays on Aristotle’s Poetics, Princeton 1992. – M. Fuhrmann, Die Dichtungstheorie der Antike, Düsseldorf 2 2003. – O. Höffe (Hg.), A. Poetik, Bln. 2009.

Politika (gr.; lat: Politica; Politik), Entste­ hungs­­zeit unklar; ED Venedig 1498.

Das acht Bücher umfassende Hauptwerk der politischen Philosophie des A. steht in engem Zusammenhang mit seiner →  Nikomachischen Ethik. Bereits dort wird betont, dass die Untersuchung des guten Lebens (eudaimonia) zur politischen Wissenschaft gehört, weil es im Staat (polis) um das gute Leben vieler Bürger geht und weil eine erfolgreiche Erziehung zur Tugend unter schlechten Gesetzen kaum gelingen kann. – In Buch I der Politik, das die Besonderheit der politischen Gemeinschaft herausarbeitet, greift A. dies auf. Der Staat zielt demnach am meisten auf das wichtigste aller Ziele, d. h. die eudaimonia, und umfasst dabei als wichtigste Gemeinschaft alle übrigen. Von grundlegender Bedeutung



Aristoteles: Politika 27

ist die Differenz von Staat und Haus (oikos). Sie zu übersehen, bedeutet nämlich, den Staatsmann fälschlich für eine Art Hausherrn zu halten und das eigentlich Politische zu ver­fehlen. A. erläutert dies zunächst anhand der Entstehung verschiedener Gemeinschaften. So entsteht ein Haus einerseits aus der Verbindung von Mann und Frau, die primär zur Fortpflanzung dient, und andererseits aus der Zusammenarbeit von Herr und Knecht, die das Überleben durch eine häusliche Erwerbswirtschaft (oikonomia) sichert. A. geht davon aus, dass es Menschen gibt, die von Natur aus Knechte oder Sklaven sind, weil sie nicht über die Vernunft verfügen, die man zum Herrschen braucht. Ein Dorf (komē) entsteht, indem erwachsene Kinder neue Häuser gründen, die mit den älteren in Verbindung bleiben. Doch erst im Staat wird eine neue Ebene erreicht, die durch vollendete Selbständigkeit (au­tar­keia) gekennzeichnet ist. Schon deshalb erlaubt erst der Staat, das höchste Ziel, das wir von Natur aus anstreben, vollendet zu realisieren. Dazu kommt, dass die staatliche Gemeinschaft, obwohl sie zunächst nur um des Überlebens willen entsteht, dann doch um des guten Lebens willen be-

steht. Wie A. im Blick hierauf betont, ist der Staat von Natur aus früher als das Haus und jeder Einzelne von uns, weil das Ganze früher sein muss als sein Teil. Dabei setzt er voraus, dass der Mensch in höherem Maße als andere Arten ein politisches Lebewesen (zōon politikon) darstellt. Ermöglicht wird dies dadurch, dass der Mensch über Sprache verfügt (zōon logon echon). Während Tiere mit ihrer Stimme nur Lust und Schmerz anzeigen können, dient uns die Sprache dazu, Nützliches und Schädliches oder Gerechtes und Ungerechtes klar zu machen. – Auf diese ausführliche Einleitung folgt eine Diskussion von Verfassungen, die im Einzelnen recht unübersichtlich ist. In Buch II kritisiert A. v. a. philosophische Verfassungsentwürfe, nicht zuletzt diejenigen Platons, um dann in Buch III das Wesen des Staates, ausgehend vom Begriff des ›Bürgers‹, zu diskutieren. Es folgt eine prominente Unterscheidung verschiedener Verfassungsformen, die sich daran orientiert, ob nur einer, viele oder alle herrschen. Monarchie, Aristokratie und Politie (politeia – wörtlich bedeutet dies nichts anderes als ›Verfassung‹) werden hier über Tyrannis, Oligarchie und Demokratie gestellt, weil sie

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Aristoteles: Politika

dem Gemeinwohl und nicht nur dem Herrscherwohl dienen. Daneben zeichnet sich ein anderes Modell ab, das die gute Verfassung der Politie als Mitte zwischen Oligarchie und Demokratie auffasst. Außerdem bestimmt A. das politisch Gute als eine Gerechtigkeit, in der das Gemeinwohl liegt. Dabei behandelt er auch die Frage, inwiefern Gleichheit für alle einschlägig sein kann, wenn es um die Verteilung von Gütern und Ämtern geht. In den Büchern  IV–VI folgt eine differenzierte Diskussion von Verfassungsformen, deren Verhältnis zu Buch III umstritten  ist. Manche Interpreten sehen hier bloß eine empiri­ sche ­Ergänzung, andere dagegen eine prinzipielle Ersetzung von Buch III. A. selbst betont, dass es hier nicht zuletzt darum geht, welche Verfassung unter welchen Bedingungen am ehesten passt. Dies spricht dafür, die Bücher vorrangig als eine auf die Praxis bezogene Differenzierung zu betrachten. Im Zentrum steht dabei der Vergleich verschiedener Varianten von oligarchischen und demokratischen Verfassungen, der erneut auf den Ausgleich zwischen wenigen Reichen und vielen Armen zielt. Ergänzt wird dies durch eine Untersuchung der Gründe, die zum

Untergang von Staaten führen und zu ihrer Erhaltung beitragen. Die Bücher VII und VIII erläutern den besten Staat. Dabei rückt die Frage in den Vordergrund, wie der Gesetzgeber die Tugend, die zum guten Leben benötigt wird, fördern kann. – Die Politik wird von der Antike bis zur frühen Neuzeit weithin als eine der wichtigsten Darstellungen der politischen Philosophie betrachtet. Mit den wachsenden Anforderungen an menschenrechtliche Gleichheit, die sich seit dem 17.  Jh. zeigen und über die Französische Revolution bis zum demokratischen Rechtsstaat des 20. Jh.s führen, gerät das aristotelische Modell stark unter Druck. Trotzdem findet die Politik nach wie vor großes Interesse, sei es in der Liberalismuskritik des Kommunitarismus, sei es bei der Suche nach antiken Wurzeln der modernen Theoriebildung. W. Mesch Ausgaben: Gr., A.’ Politik, Hg.: A.  Dreizehnter, Mchn. 1970. – Engl., The Politics of Aristotle, Hg.: W. L. Newman, NY 1973 (ND der Ausg. Oxfd. 1887–1902; mit Komm.). – Dt., Werke, Bd.  9 (in vier Teilbdn.), Hg.: E. Schütrumpf, Bln. 1991–2005 (mit Komm.). Literatur: G. Patzig (Hg.), A.’ Politik, Gttgn. 1990. – O.  Höffe (Hg.), A. Politik, Bln. 2001.



Aristoteles: Peri psychēs 29

– R. Kraut, Aristotle. Political Phi­ losophy, Oxfd. 2002.

Peri psychēs (gr.; lat.: De anima; Über die Seel­e), entst.  4. Jh. v. Chr.; ED Padua 1472 (lat., mit Komm. des Aver­ roes), Venedig 1497 (gr., in: Opera, Bd. 3).

Die wahrscheinlich in der Zeit des zweiten Athen-Aufenthalts entstandene Schrift umfasst drei Bücher, die eine Einheit bilden. – Mit Disposition behandelt A. die Seele als Prinzip des Lebens bei Pflanze, Tier und Mensch. Dabei wird die Seele einerseits als unkörperlich, andererseits als das Prinzip der konkreten körperlichen Naturprozesse verstanden. Insofern betrachtet A. die Seele hier – im Unterschied zu seinem Dia­ log  Eudemos – sowohl aus der Perspektive des Naturforschers (physikos) als auch vonseiten der »Ersten Philosophie« (403b 16). Die Seele ist Thema der Naturwissenschaft, insofern ih­ re Funktionen physiologischer Natur sind; sie ist Thema der Philosophie, insofern es um die Einheit der Seele und ihre vom Körperlichen getrennten Funktionen geht. Dies veranlasst A. im I. Buch zur Kritik an denjenigen, die die Seele ausschließlich als vom Körper getrennt (Platon), als rein körperlich (Atomisten) oder als Harmo-

nie (Empedokles) auffassten. In Buch II werden daher zwei Definitionen der Seele angegeben (412b 5 f.): 1. Die Seele ist »erste Entelechie« eines natürlichen, mit Organen versehenen Körpers, 2. die Seele ist »Prinzip des ­Lebens«. Es folgt eine Erörterung über die Seele als biologisches Phänomen, insbesondere ihre vegetativen Funktionen, die fünf Sinne und deren Objekte. In Buch III werden die inneren Sinne, die Wahrnehmung und die Vorstellung behandelt und daraufhin der denkende Teil der Seele mit ihrem Wahrnehmungsvermögen verglichen. A. unterscheidet zwischen dem rezeptiven Verstand (nous pathētikos), der wie Wachs alle Formen annehmen kann, und dem tätigen Intellekt (nous poiētikos), der wie das Licht alles erhellt. Das Werk schließt mit einer Erörterung über die Seele als Vermögen des  Strebens (orexis). – Besonders die Analysen der Seelenvermögen und der Erkenntnis hatten eine starke Nachwirkung. So schließt die scholastische Philosophie an die aristotelischen Analysen an, und auch die neuzeitlichen Seelenkonzeptionen sind weitgehend durch sie gekennzeichnet, v. a. in ihren nicht-empirischen Kon­zeptionen. E. Braun

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Aristoteles: Technē rhētorikē

Ausgaben: Gr., in: Opera, Bd.  1, Hg.: I.  Bekker, Bln. 1960, 402a– 435b. – Gr./engl., A., De anima, Hg. und Ü.: R. D. Hicks, Cambr.  1907 (ND NY 1976). – Gr., De anima, Hg. W. D. Ross, Oxfd. 1961 (mit Einl. und Komm.). – Dt., Ü.: W.  Theiler, Drmst. 1959; erneut in: Werke, Bd.  13, Bln.  71986. – Ü.: H.  Seidl, Hbg. 1998. Literatur: H. Cassirer, A.’ Schrift »Von der Seele« und ihre Stellung innerhalb der aristotelischen Philosophie, Tbg. 1932 (ND 1968). – W.  Bröcker, A., Ffm. 1957. – I.  Düring, A., Heidelberg 1966, 564–585, 635. – C.  Lefèvre, Sur l’évolution d’A. en psychologie, Löwen 1972. – W. Welsch, Aisthesis. Grundzüge und Perspektiven der Aristotelischen Sinneslehre, Stgt. 1987. – M.  C. Nussbaum u.  a., Essays on A.’ »De anima«, Oxfd. 1995.

Technē rhētorikē (gr.; lat.: De arte rhetorica; Redekunst), entst.  4. Jh. v. Chr.; ED Paris 1475 (lat., Libri rhetoricorum, Ü.: Georgius Trapezuntius); Venedig 1481 (lat., Libri rhetoricum, Ü.: Wilhelm von Moerbeke), 1508 (gr., Hg.: A. Manutius).

Das Werk umfasst drei von A. nicht in einem Zug verfasste Bücher. Es handelt sich um eine frühe Schrift, was die sachliche Affinität zur Topik deutlich macht. Übereinstimmung herrscht darüber, dass die Bücher I und II eine Einheit bil-

den. Sie enthalten die eigentliche ars rhetorica, die Kunst, mit deren Hilfe man Zuhörer für sich gewinnt. – Zuerst thematisiert A. die topoi, allgemeine im Gedächtnis gespeicherte ›Orte‹, die in einer bestimmten Situation als Mittel der Beweisführung aktualisiert werden können. Dann untersucht er das enthymēma, eine rhetorische Schlussfolgerung, die an Stelle des strikt wissenschaftlichen Syllogismus angewendet wird, um die Zuhörer mithilfe von wahr scheinenden Prämissen der Gedankenkette zur Annahme eines Schlusssatzes zu bringen. Das ›Enthymem‹ als einen, wenn auch defizitären Modus der Schlussfolgerung anwenden zu können, ist deshalb von Bedeutung, weil die ars rhetorica logische Argumentation mit psychologischer Einfühlung verbindet. A. unterscheidet drei Hauptredegattungen: die symbouleutische (beratende) Rede mit den Funktionen des Zu- und Abratens, die epideiktische (Fest-) Rede mit den Funktionen von Lob und Tadel und die dikanische (Gerichts-) Rede mit den Funktionen der Anklage und Verteidigung. Mit Bezug auf die Zielsetzungen der drei Redegattungen erörtert A. jeweils die Bereiche, in denen sich der Redende durch Verfügen



Aristoteles: Technē rhētorikē 31

über allgemeine Sätze (topoi) auskennen muss, und die entsprechenden Überzeugungsmittel (pisteis), die der Redner benutzen muss. Für A. gibt es drei Arten von Überzeugungsmitteln: das Ethos des Redners, die  Verfasstheit der Hörer, die Formen der Argumentation. – Das III.  Buch, im  ale­ xandrinischen Schriften­katalog (Nr.  87) unter dem ­Titel Peri lexeōs rubriziert, behandelt die Ausdrucksweise (lexis) und die Stoffanordnung (taxis). Wahrscheinlich gehört es der gleichen Periode an wie  die ersten beiden Bücher. Einige Interpreten halten es für  eine selbständige Abhandlung, während andere (so G ­ rimaldi) die Einheit des Ganzen vertreten. Mit Bezug auf einen guten Stil der Kunstprosa wird die Klarheit als das vornehmste Postulat aufgestellt. Der Metapher, die eine Ähnlichkeitsbeziehung zwischen zwei Gegenständen bzw. Begriffen dadurch veranschaulicht, dass sie aufgrund gleicher oder ähnlicher Bedeutungsmerkmale eine Beziehungsübertragung vornimmt, kommt eine große Bedeutung zu. Was die Sätze betrifft, so hat nicht der anreihende Satzbau (lexis eiromenē), sondern der periodisierende Satzbau (lexis katestrammenē) den Vorrang, weil er »in sich

selbst Anfang und Ende und eine Größe [hat], die besser zu überblicken ist« (1409b 1). Die mündliche und die geschriebene Rede erfordern beide sowohl psychologische Einfühlung wie auch die Fähigkeit, logisch zu argumentieren. Dabei strebt die geschriebene Rede nach einer größeren Exaktheit. Die mündliche Rede kann durch Gesten und Gebärden ergänzt werden. Als Hauptbestandteile der Rede unterscheidet A. die Darstellung und die Beweisführung, deren Funktion er in den verschiedenen Redegattungen erläutert. Von größter Wichtigkeit ist die Angemessenheit der Ausdrucksweisen bei den verschiedenen Redegattungen. – Mit seiner gegen eine Verselbständigung in Form einer Technik konzeptualisierten Rhetorik hat A. keineswegs die Tradition bestimmt. Seine Wirkung blieb zunächst auf Cicero und Quintilian beschränkt. Der eigentliche Durchbruch erfolgte in der Renaissance, die in ihrer Rückwendung zur Antike A. als Garanten einer vernunftmäßigen Rhetorik reklamierte. E. Braun Ausgaben: Gr., in: Opera, Bd.  2, Hg.: I. Bekker, Bln. 1960, 1354a– 1420b 4. – Gr./engl., The »Art« of Rhetoric, Hg. und Ü.: I. H.  Freese, Ldn. 1926 (ND 1967). – Dt.,

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Armstrong: Universals and Scientific Realism

Rhetorik, Hg. und Ü.: F.  Sieveke, Mchn. 1980 (mit Bibl., Erl. und Nachw.). Literatur: W. M. A. Grimaldi, Studies in the Philosophy of Aristo­ tle’s »Rhetoric«, Wiesbaden 1972. – A.  Hellwig, Untersuchungen zu The­orie der Rhetorik bei Platon und A., Gttgn. 1973. – G. K. Mainberger, Rhetorika I, Stgt. 1987.

David Malet Armstrong * 8. 7. 1926 Melbourne; Vertreter einer naturalistischen Meta­physik.

Universals and Scientific Realism Bd.  1: Nominalism and Realism; Bd.  2: A Theory of Universals, EA Cambr. 1978.

Auf zwei Bände aufgeteilt arbeitet A. in der Universaliendebatte seine Position des scien­tific realism aus: Demnach existieren Universalien, verstanden als Eigenschaften und Relationen, die Einzeldingen zukommen können, und lassen sich innerhalb eines naturalistischen Weltbildes beschreiben. Damit grenzt sich A. einmal von einem Nominalismus ab, welcher die Realität von Universalien verneint und behauptet, dass es nichts als Einzeldinge gibt. Zweitens wendet er sich gegen einen »transzendenten« Universalienrealismus, wonach Universalien in einem

eigenen Reich und unabhängig von den Eigenschaften der Einzeldinge existieren. – Der erste Band (Nominalism and Realism) legt seinen Schwerpunkt auf die Widerlegung dieser Positionen. Im Falle des Nominalismus unterscheidet A. fünf Varianten, die sich wesentlich durch die Art von Dingen unterscheiden, die statt der verneinten Universalien als Kandidat zur Erklärung von Eigenschaften herangezogen werden: Prädikate, Begriffe, Klassen oder sonstige Aggregate von Einzeldingen und Musterfälle, zu denen Einzeldinge in einer Ähnlichkeitsrelation stehen können. Die ersten beiden Varianten bezeichnet A. als »subjektivistisch«: Sie bemühen sich, das Universalienproblem unter Verweis auf von Menschen gemachte Instanzen zu lösen. Da es Eigenschaften und deren kausale Wirkungen auch ohne die Existenz menschlicher Wesen gäbe, scheidet diese Form des Nominalismus aus. Demgegenüber berufen sich die drei verbleibenden »objektivistischen« Nominalis­ men  auf unabhängig vom Menschen bestehende Strukturen, die zu den Einzeldingen in einer Beziehung stehen. Diese Relation darf selbst keine Universalie sein; umgekehrt muss es ihr gelingen, unser Sprechen



Armstrong: Universals and Scientific Realism 33

von Eigenschaften und deren Zusammenspiel mit Einzeldingen erklärbar zu machen. Da entsprechende Theorien an beiden Aufgaben scheitern, gibt es zur Annahme von Universalien keine Alternative. Betrachtet man diese ihrerseits als unabhängig von den Dingen, denen sie zukommen, werden wesentliche Probleme des Nominalismus an sie vererbt. Eine aus diesem Befund entwickelte reduktionistische Strategie, Universalien nominalistisch inspiriert selbst zu Einzeldingen zu erklären oder Bündel von ihnen im Geist des Realismus mit Einzeldingen gleichzusetzen, erweist sich als mit unserer Alltagsontologie inkompatibel. – Als Folge daraus konzipiert A. im zweiten Band (A Theory of Universals) Universalien einerseits als Entitäten, die ungeteilt in mehreren Einzeldingen gleichzeitig vorkommen können. Dennoch sind sie unauflöslich mit diesen verschmolzen und nur begrifflich von diesen unterscheidbar, »[as] the size of a thing stands to its shape«. Als primäres Identitätskriterium für Universalien fungieren deren spezifische kausale Kräfte. Dementsprechend ist es Aufgabe der Naturwissenschaften, ihre Anzahl und Art zu bestimmen. Lediglich über Rahmenstruktur und Stufung von

Universalien kann die Philosophie a priori Auskunft erteilen: Es kann komplexe und weniger komplexe Universalien geben, wobei unklar bleibt, inwieweit jede Universalie wiederum als Beziehung mehrerer Universalien analysiert werden kann. Als Universalien kommen alleine Eigenschaften und Beziehungen in Betracht; besondere »substantielle« Eigenschaften (wie ›Gold sein‹) und nur auf ein Einzelding bezogene, reflexive Relationen (wie ›mit sich selbst identisch sein‹) werden abgelehnt. Eine wichtige Klasse bilden sog. »strukturelle Eigenschaften«, die sich aus Eigenschaften zusammensetzen, deren Einzeldinge selbst lediglich Bestandteile des Einzeldings bilden, dem die strukturelle Eigenschaft zukommt. Hinsichtlich ihrer Stufung erlaubt A. Universalien von Universalien (als ihnen zukommende Eigenschaften und Relationen), schränkt aber ein, dass sie rein formalen Charakter haben und etwa im Falle der Relationen notwendige oder kontingente Beziehungen zwischen Universalien beschreiben. Hieraus skizziert A. seine Theorie der Naturgesetze, die er in What is a Law of Nature? (1983) weiterentwickelt hat. – Ein Grund für die Attraktivität von A.s Position liegt nicht zuletzt in dem

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Armstrong: A World of States of Affairs

Umstand, dass sie ihren Universalienrealismus mit einem rigiden Naturalismus verbindet, der abstrakte Gegenstände ausschließt. Dementsprechend setzt die Kritik von zwei Seiten aus ein: Nominalisten wie Devitt und Lewis (»Ostrich Nominalism« or »Mirage Real­ ism«?, 1980; Against Structural Universals, 1986) gehen A.s ontologische Zugeständnisse zu weit, wohingegen starke Rea­ listen wie Moreland (Universals, 2001) in A. einen latenten Nominalisten vermuten. S. Muders Literatur: J. Bacon/K. Camp­ bell/L.  Reinhardt (Hg.), Ontology, Causal­ ity, and Mind, Cambr.  1993. – S.  Mumford, D. A., Durham 2007.

A World of States of Affairs EA Cambr. 1997.

In seinem Buch A World of States of Affairs führt A. seine zuvor entwickelten Theorien zu einzelnen Gebieten der Gegenwartsmetaphysik – seine Theorie der Eigenschaften, der Naturgesetze, der Modalität und der Wahrheit – zusammen zu einem konsistenten und kohärenten Gesamtansatz einer naturalistischen Metaphysik. Das Werk enthält zudem sowohl Reaktionen auf wichtige Einwände gegen seine

Theo­rien als auch Korrekturen einiger problemreicher Theoreme. Das Fundament seiner Metaphysik bilden vier Annahmen:  1.  das Wahrmacherprinzip, wonach der »Wahrmacher« etwas in der Welt ist, das die Wahrheit einer wahren Aussage garantiert, 2. die These, dass alle Wahrheiten durch Sachverhalte (states of affairs) wahr gemacht werden, und dass Sachverhalte die ontologisch fundamentalen Entitäten sind, 3. die These, dass es Universalien gibt und Eigenschaften an Einzeldingen Instanzen von Universalien sind, 4. seine These, dass Naturgesetze Relationen zwischen Universalien sind. – Ein Sachverhalt ist eine Entität, die aus einem Einzelding und einer Eigenschaft, der Instanz einer Universalie, besteht, bzw. der Relation zwischen zwei oder mehr Einzeldingen. Um die These der ontologischen Fundamentalität von Sachverhalten abzusichern, zeigt A., dass Einzeldinge und Eigenschaften bzw. Relationen nicht selbständig existieren können, sondern nur als Momente von Sachverhalten. Welche Sachverhalte bestehen, ist A. zufolge eine Frage, die durch unsere besten Wissenschaften beantwortet wird, was auf die Annahme hinausläuft, dass alle bestehenden Sachver-



Armstrong: A World of States of Affairs 35

halte raum-zeitlich sind (Naturalismus). Da für einen solchen Ansatz mathematische Wahrheiten ein Problem darstellen, will A. zeigen, dass Zahlen und Klassen, zwei Arten von mathematischen Entitäten, auf raumzeitliche Sachverhalte zurückgeführt werden können. Für Sachverhalte gilt A. zufolge die Unabhängigkeitsthese, der zufolge ein Sachverhalt nicht die Existenz oder Nichtexistenz eines anderen Sachverhalts impliziert. – Die These des Universalienrealismus ist, dass Eigenschaften einzelner Objekte nur einzelne Instanzen sind, die in identischer Weise auch von anderen Einzeldingen instanziiert werden können, und dass Universalien solche vielfach instanziierbaren, universellen Eigenschaften sind – sie sind A. zufolge letztlich Sachverhaltstypen. Diese The­se etabliert A., indem er sie gegen den Nominalismus, der These, dass es nur Einzeldinge gibt, einerseits und die Tropen­theo­ rie, deren These ist, dass Eigenschaften selbst Einzel­dinge sind, andererseits verteidigt. Eigenschaften sind für A. kategorischer Natur, das bedeutet, sie sind als solche unabhän­ gig von den kausalen und naturgesetzlichen Rollen, die sie in einer Welt haben. – Eine wichtige Bewährungsprobe für

seine Theorie der Universalien ist ihre Erklärungskraft für seine Theorie der Naturgesetze. A. etabliert sie insbesondere als Gegenspieler zur Regularitätstheorie, wonach Naturgesetzaussagen nur auf kontingente Regularitäten referieren. Die Wahrmacher von Naturgesetzaussagen sind A. zufolge hingegen Relationen zwischen Universalien, die selbst Sachverhalte zweiter Ordnung sind. Damit gelingt es der Theorie A.s besser, die modale Kraft, die wir Naturgesetzen zuschreiben – dass ein Objekt, wenn es Gegenstand eines Naturgesetzes ist, nicht anders kann, als sich so zu verhalten, wie das oder die Naturgesetze es vorschreiben –, zu erklären. Denn wenn der Sachverhalt, dass a F ist, besteht, und wenn eine Relation zwischen F und G besteht, dann muss a – oder b – G instantiieren. Dabei geht A. davon aus, dass das Bestehen eines naturgesetzlichen Sachverhalts kontingent ist. – A.s Philosophie ist in der Gegenwart wirkmächtig, insofern sie die postanalytische Philosophie mitbegründet hat, indem sie erstens ein System der Metaphysik ist und sich zweitens – anders als die Metaphysik von D.  Lewis – von humeschen Paradigmen löst, insbesondere durch A.s Theorie der Natur-

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Audi: The Good in the Right

gesetze, der zufolge es – gegen Hume – notwendige Verknüpfungen in der Natur gibt. K. Engelhard Literatur: S. Mumford, D.  A., Stocksfield 2007.

Robert Audi * November 1941, amerikanischer Philosoph; Beiträge zur philosophischen Handlungstheorie, zur Erkenntnistheorie, Ethik, Metaethik und Religionsphilosophie.

The Good in the Right. A Theory of Intuition and Intrinsic Value EA Princeton 2004.

In diesem Werk bemüht sich A.  um die Re-Etablierung  des ethi­ schen Intuitionismus  als  normativ-ethische sowie als  metaethische Position. Die  systematische Zielsetzung der Schrift besteht damit sowohl in einem Argument für die Anerkennung einer irreduziblen Pluralität moralischer Gründe als auch in einer Verteidigung der moral-epistemologischen Auffassung, der zufolge moralische Prinzipien selbstevident und als solche mittels Intuition erkennbar sind. Das Buch ist in fünf Kapitel untergliedert: Im ersten Kapitel rekapituliert A. die Geschichte des Intuitio-

nismus zu Beginn des 20. Jh.s; im  zweiten liefert er eine sys­ tematische Rekons­truktion des Intuitionismus von W. D. Ross; das dritte Kapitel ist dem Versuch gewidmet, die Ross’schen Prinzipien mittels einer spezifischen Deutung von Kants Kategorischem Imperativ zu integrieren; im vierten Kapitel werden die werttheoretischen und erkenntnistheoretischen Grundlagen der bis dato ent­ wickelten  Konzeption dargelegt; das abschließende fünfte Kapitel umreißt die Grund­ züge  einer intuitionistischen normativen Ethik. A. verbindet so die Anknüpfung an bestimmte Traditionslinien philosophischer Ethik (kantische Deontologie und Intuitionismus) mit der Exposition einer systematischen Konzeption. In deren Mittelpunkt steht die Frage nach dem Status ethischer Prinzipien. A. rekonstruiert und diskutiert Ross’ Vorschlag, eine Liste von sog. prima-faciePflichten aufzustellen. Diese Liste umfasst Pflichten der Treue, der Wiedergutmachung, der Gerechtigkeit, der Dankbarkeit, der Wohltätigkeit, der Selbstverbesserung sowie des Nicht-Schadens, wobei für jede dieser Pflichten gelte, dass sie Handlungsgründe liefern, aber auch gegen andere abgewogen und in konkreten Einzelfällen



Audi: The Good in the Right 37

übertrumpft werden können. A. präzisiert die Ross’sche These, nach der das Bestehen dieser Pflichten selbst-evident, also nicht durch Schlussfolgerungen aus (anderen oder höheren) Prinzipien zu erkennen ist, indem er zwischen dem Erfassen der Wahrheit einer selbstevidenten Proposition und dem Erfassen der Selbstevidenz einer Proposition unterscheidet. Das letztere, höherstufige Wissen bezüglich des Status solcher prima-facie-Pflichten sei jedoch, so A., keine Vor­ aussetzung für moralisches Handeln. Dass das Wissen um diese Pflichten nicht-inferenziell sei, schließe jedoch – A. zufolge – nicht aus, dass man nicht auch auf Basis von Inferenzen um sie wissen könne. – Ein zweites Kernargument dieses Werkes besteht darin, eine bestimmte Interpretation der Zweckformel von Kants Kategorischem Imperativ zur Verdeutlichung, Erklärung und Rechtfertigung der Ross’schen Prinzipien einzusetzen. A.s resultierender kantischer Intui­ tionismus fasst den Kategorischen Imperativ, in seiner auf intrinsischen Wert gemünzten Formulierung, als grundlegend sowohl für die daraus ableitbaren Ross’schen Prinzipien als auch zur Auflösung von Prinzipien- bzw. Pflichtenkollisio-

nen auf. – In werttheoretischer Hinsicht stellt A. heraus, dass seine Konzeption darauf festgelegt ist, grundsätzlich dasjenige als wertvoll anzusehen, das als wertvoll erfahren wird. Insbesondere die Erfahrung des Guten liefert gemäß dieser Konzeption das Fundament für die Erkenntnis und Bestimmung des moralisch richtigen Handelns. A.s Abhandlung schließt mit einer jeweils knappen Darlegung insgesamt zehn konkreter ethischer Prinzipien, die er durch seine Version eines kantischen Intuitionismus gerechtfertigt sieht; dazu zählen NichtSchaden, Wahrhaftigkeit, Versprechenstreue, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung, Wohltätigkeit, Dankbarkeit, Selbstverbesserung, Steigerung und Erhalt der Freiheit sowie Respekt. – A.s Werk kann als besonders ambitionierte Neufassung des ethischen Intuitionismus angesehen werden, die als Aufarbeitung dieser Traditionslinie, insbesondere aber in Verbindung mit der kantischen Deontologie und der Erörterung moralepistemologischer Grundlagen, als innovativer systematischer Vorschlag auftritt. D. Schweikard Literatur: J. G. Hernandez (Hg.), The New Intuitionism, Ldn./NY 2011.

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Augustinus: De civitate dei

Aurelius Augustinus *  13. 11. 354 Thagaste (Numidien), †  28. 8. 430 Hippo Regius; Kirchenvater, Anhänger des Neuplatonismus.

De civitate dei libri viginti duo (lat.; Der Gottesstaat), entst.  413– 426; ED Subiaco 1467.

Das zwischen den Jahren 413 und 426 geschriebene Werk verdankt seine Entstehung der Vorhaltung der Heiden, die den Fall Roms (410) in einen ursächlichen Zusammenhang mit der Ausbreitung des Christentums brachten. Es ist die umfassendste christliche Apologie der Spätantike, verbunden mit einer von der biblischen Offenbarung inspirierten Geschichtstheorie. – Das Werk besteht aus zwei Teilen, den Büchern 1–10 und 11–22. Der 1. Teil weist in den Büchern 1–5 die Ansicht jener zurück, die den Götterkult für das Gedeihen des Menschen für notwendig halten. Die Bücher  6–10 wenden sich gegen jene Heiden, die den Kult der Götter empfehlen. Mit Verve bekämpft A. die natürliche Theologie. Den Platonikern gesteht er zwar im Blick auf ihre Lehre in Logik, Ethik und Ontologie einen Vorrang gegenüber allen anderen Philosophen

zu, tadelt sie jedoch wegen ihres faktischen Polytheismus und setzt sich ausführlich mit ihrem Kult- und Erlösungsverständnis auseinander. – Der 2., geschichtstheoretische Teil erörtert in den Büchern 11–14 den Grund der gleichsam auf zwei Gleisen anlaufenden Geschichte des Gottes- und des Weltstaates. Die Bücher 15–18 beschreiben die Entwicklung beider. Die Bücher 19–22 stellen deren Ausgang dar. A.’ Geschichtskonzept ruht sowohl auf der christlichen Eschatologie wie auch auf philosophischen Grundideen auf. Schon der Anfang der Geschichte bleibt ohne die sie tragende Ontologie und Ethik unverständlich. Geschichte hat die Zeit und beide haben eine veränderliche Welt und damit deren Begrenzung zur Voraussetzung. Ihre Prämisse ist das unveränderliche und unbegrenzte Sein des transzendenten Gottes, der die aus intelligenten und nicht intelligenten Wesen bestehende raum-zeitliche Welt in einem Augenblick erschuf. Die von A. in seinem großen Genesiskommentar De Genesi ad litteram entfaltete Lehre von der Simultanschöpfung wird hier geschichtstheoretisch konsequent zu Ende gedacht. Der philosophische Grund für die von Anfang an zweigleisig



Augustinus: De civitate dei 39

verlaufende Geschichte intelligenter Wesen liegt in deren Ausstattung mit der letztlich aus ihrer Veränderlichkeit ­resultierenden Willensfreiheit, kraft derer sie sich dem Unveränderlichen zu-, aber von ihm auch abwenden können. So verdeutlicht A. den Sündenfall bibeltheologisch als Stolz und ontologisch-ethisch als Abkehr bzw. als Selbstliebe paradigmatisch an den Engeln, von denen ein Teil im Augenblick ihrer Erschaffung abfiel, wodurch die geistbegabte Schöpfung sich sogleich antagonistisch in zwei Staaten bzw. Gesellschaften aufspaltete. Jeden von ihnen charakterisiert seitdem seine ihm eigene Liebe:  »den irdischen die bis zur Gottesverachtung sich steigernde Selbstliebe, den himmlischen die bis zur Selbstverachtung sich erhebende Gottesliebe«. Die in der Antike verbreitete Theo­ rie einer endlosen Wiederkehr des Gleichen in Perioden wird nicht nur mit  theologischen Argumenten, son­ dern auch mit philosophischen zurückgewiesen. Die Geschichte bewegt sich linear; A. gliedert sie in Vorgeschichte, Geschichtsverlauf und Nachgeschichte. Weil er sie strikt von Gott her denkt, spiegelt sich in ihrer Vorgeschichte bereits ihr Ende. Analog wird schon im Sechsta-

gewerk von Gen. 1 nach A. die in sechs Perioden verlaufende Geschichte des Gottesstaates schaubar. Die Perioden korrespondieren im Einzelnen mit der biblischen Geschichtsdarstellung. Sie reichen von Kain und Abel, den Prototypen der beiden Staaten, über Noah, Abraham, David, die Babylonische Gefangenschaft und Christi Menschwerdung bis zu Christi Wiederkunft. Die Kriterien, die er zur Aussonderung beider Staaten heranzieht, sind stets dieselben beiden Weisen des Liebens, die schon in der Vorgeschichte galten und auch in der Nachgeschichte gelten werden. – Dem Werk kommt im Œuvre des A. insofern eine zentrale Bedeutung zu, als es einen Querschnitt seines Denkens bietet. Viele der in seinen früheren Schriften oft nur angedeuteten The­men werden darin wieder aufge­ griffen und umfassend erörtert. Dazu zählen, um nur einiges zu nennen, der Grundgedan­ke von den beiden Staaten selbst mit den sie kennzeichnenden zwei Weisen der Liebe, die differenzierte Beurteilung des Platonismus, die Verwerfung des philosophischen Skeptizismus, die Lehre von der Ordnung, der Vorsehung und dem Glück und nicht zuletzt das Geschichtskonzept. Darüber

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Augustinus: Confessionum

hinaus vermittelt das Werk – wenngleich im Sinne der modernen Geschichtsschreibung oft unkritisch – eine Fülle von Informationen aus der antiken und spätantiken Literatur und verarbeitet auf diese Weise ein stupendes auch philosophisches Quellenmaterial. Seine außergewöhnliche Wirkungsgeschichte verdankt es zweifelsohne der darin enthaltenen Geschichtstheorie. Obgleich von Geschichtstheoretikern  viel­ fach kritisiert, fasziniert es gerade immer wieder auch seine Kritiker. C. Mayer Ausgaben: Corpus Christianorum. Series Latina (CCSL), Turnhout 1954  ff., Bd.  47, 1–314, und Bd. 48, 321–866. – Lat./dt., Hg.: C. J. Perl, Paderborn u. a.  1979. – Dt., Vom Gottesstaat, Einl., Komm. und Ü.: W.  Thimme, in: Werke, Bde.  3/4, Hg.: C.  Andresen, Mchn. 2007. Literatur: H. Scholz, Glaube und Unglaube in der Weltgeschichte. Ein Komm. zu A.’ De civitate Dei, Lpzg. 1911. – W.  Kamlah, Christentum und Geschichtlichkeit. Untersuchungen zur Entstehung des Christen­tums und zu A.’ »Bürgerschaft Gottes«, Stgt./Köln 21951. – C.  Horn, De ci­vitate dei, Bln. 1997. – G. J. P. O’D­aly, Civitate dei (De-), in: A.-­Lexikon, Bd.  1, Basel 1994, Sp.  969–1010. – C.  Müller, His­ toria, in: A.-Lexikon, Bd.  3, Basel 2010, Sp. 366–377.

Confessionum libri tredecim (lat.; Die Bekenntnisse), entst. 397– 401; ED Straßburg 1465–70.

Das zwischen 397 und 401 abgefasste Werk ist eine Werbeschrift (Protreptikos) für das Christentum. Obgleich es A. in die Bücher 1–10, die von ihm, und 11–13, die von Gen. 1,1– 2,2 handeln, zweiteilt, gliedert die Forschung im 1. Teil nochmals zwischen 1–9 (Lebensweg bis zur Bekehrung und zum Tod der Mutter) und 10 (Darstellung der erreichten  Spi­ ritualität). Zusammengehalten werden die Teile durch den begrifflich sowohl das Bekennen wie auch das Preisen beinhaltenden Terminus confessio. – Schon in der Erzählung des Lebensweges spielen philosophische Reflexionen über das Wesen geistiger Substanzen, die Substanzlosigkeit des Bösen sowie die Stufenordnung des Seienden mit der ihr zugrunde liegenden charakteristischen Zweiteilung in Veränderliches und Unveränderliches als Frucht der Begegnung mit dem Neuplatonismus eine wichtige Rolle. Sie verdichten sich im 10.  Buch, das den Aufstieg zu Gott als eine Bewegung des Geistes von außen (foris) nach innen (intus) und von innen in das noch Innerere (interius) darlegt. Die Dinge im Bereich



Augustinus: Confessionum 41

des Draußen tragen Spuren ihrer transzendenten Herkunft; Geistiges ist innerlich. Dorthin wendet sich der Gottsuchende. Scharfsinnig analysiert A. das unter räumlichen Metaphern vorgestellte, alles Empirische jedoch übersteigende Gedächtnis. In der Kraft und Vielfältigkeit der memoria entdeckt er den Geist, der er selbst ist, »ein mannigfaltiges und vielgestaltiges, ein ganz und gar unermessliches Leben«. Dort gewahrt er die Vorstellung von einer Glückseligkeit, die das Vielgestaltige nicht bietet. So gilt es, mit dem Außen- zugleich auch den Innenbereich im Sinne des neuplatonischen Dreistufenschemas – Abkehr, Einkehr, Hinkehr – zur transzendenten Wahrheit zu überschreiten. Denn »Glückseligkeit ist Freude an der Wahrheit«, die für A. der offenbarte Gott ist. – Dieselben ontologischen Strukturen liegen auch der im 11. Buch enthaltenen Zeitanalyse zugrunde. Als Spur der Ewigkeit reduziert A. die dem Nichtsein zustrebende Zeit auf den nicht mehr teilbaren, nur noch in Form der Erinnerung und der Erwartung im Bewusstsein vorhandenen Augenblick. Der ist jedoch nicht messbar: »Die Gegenwart besitzt keinerlei Dauer«. So wendet sich die Suche erneut von außen nach

innen. Die Geistseele empfindet nämlich Eindrücke, welche vorüberziehende Dinge in ihr zurücklassen. Ja, sie umspannt diese in Erwartung und in Erinnerung und verleiht so ihrer eigenen Aufmerksamkeit Dauer. Zeit erweist sich so als ein Ausstrecken der Seele, die darin im Unterschied zur Ewigkeit ihre essenzielle Vielheit wahrnimmt. A.’ Zeitanalyse steht programmatisch im Dienst der Selbst- und der Gotteserkenntnis. – Die gleiche Absicht verfolgt er schließlich mit der Auslegung des biblischen Schöpfungsberichtes in den letzten beiden Büchern 12 und 13. Zur confessio gehört als integrierendes Element der Lobpreis des Schöpfers und seiner Schöpfung. Dabei legt A. Gen.  1,1–2,2 mithilfe der Allegorese so aus, dass sich bereits im Schöpfungsbericht Gottes Heilshandeln an seinen Geschöpfen von der Erschaffung bis zur eschatologischen Vollendung spiegelt. Wichtiges Anliegen dieser Auslegung bleibt die Abwehr dualistischer Ansätze in der Kosmogonie. So erklärt sich das starke Interesse an der philosophischen Begründung der kirchlichen Lehre von der Schöpfung aus dem Nichts. Erschaffen ist wieder gut platonisch ein Vorgang, in dem die formlose Materie auf-

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Austin: How to Do Things With Words

grund der Teilhabe an den unveränderlich geistigen Formen (Ideen) veränderliche, sichtbare und zusammengesetzte Gestalt gewinnt. Während die Ideen schon immer sind, erschafft Gott den Stoff als das »ungeformte beinahe Nichts«. Dieser aus dem Nichts kommende Stoff ist auch der ontologische Grund für die Veränderlichkeit alles Erschaffenen. – Seine ­außergewöhnliche Verbreitung verdankt dieses zur Weltliteratur zählende Werk zunächst gewiss der darin in pastoraler Absicht verarbeiteten Bekehrung seines Verfassers. Die Gründe für seine große Wirkung in philosophischen Fachkreisen dürften indes nicht zuletzt in den Ausführungen über die Strukturen des Gedächtnisses, über die Zeit und über die Schöpfung zu suchen sein. Unter diesem Aspekt zählt das Werk immer noch zu den Klassikern der Philosophie. C. Mayer Ausgaben: Corpus Christianorum. Series Latina (CCSL), Turnhout 1954 ff., Bd.  27, 1–273. – Lat./ dt., Ü.: J. Bernhart, Mchn. 41980. – Dt., Ü.: B.  Mojsisch, Hg.: K. Flasch, Stgt. 1989. Literatur: G. Söhngen, Der Aufbau der augustinischen Gedächtnislehre, in: M.  Grabmann/J.  Mausbach (Hg.), A.  A., Köln 1930, 367–394. – E. P. Meijering, A. über

Schöpfung, Ewigkeit und Zeit. Das elfte Buch der Bekenntnisse, Leiden 1979. – K. Flasch, Was ist Zeit? A. von Hippo. Das XI. Buch der Confessiones, Ffm. 22004. – E.  Feldmann, Confessiones, in: A.-Lexikon, Bd. 1, Basel 1994, Sp. 1134–1193. – C.  Mayer, Creatio, creator, creatura, in: A.-Lexikon, Bd.  2, Basel 2002, Sp. 56–116.

John Langshaw Austin * 26. 3. 1911 Lancaster, † 8. 2. 1960 Oxford; Begründer der Sprechakttheorie, Vertreter der Philosophie der normalen Sprache.

How to Do Things With Words (engl.; Zur Theorie der Sprechakte), EA Oxfd.  1962 (postum; Hg.: J. U. Urmson).

Das Werk geht auf die 1955 von A. in Harvard gehaltenen William James-Vorlesungen  zu­rück. – Gemäß A. hat die philosophische Tradition bis hin zum logischen Empirismus unter den Sprachfunktionen stets die Darstellung und damit die semantische Frage nach der Bedeutung bzw. nach der Wahrheit oder Falschheit von Aussagen bevorzugt oder ausschließlich behandelt. Für A. gibt es außer Sprechhandlungen, mit denen etwas gesagt wird (Lokutionen, deren Funktion die des meaning ist),



Austin: How to Do Things With Words 43

noch solche, in denen man, indem man etwas sagt, zugleich etwas tut (illokutionäre Akte, die über force verfügen), und wieder andere, in denen man dadurch, dass man etwas sagt, bei einem anderen eine Wirkung erzielt (perlokutionäre Akte, die einen effect haben). Unter den illokutionären Akten sind durch Konventionen geregelte Handlungen wie die Taufe eines Kindes oder eines Schiffes, der »Aus«-Ruf eines Linienrichters bei Ballspielen, v. a. aber moralische und rechtliche Institutionen wie das Versprechen die interessantesten Gegenstände. Zur Unterscheidung von den Lokutionen spricht A. auch von »performativen« (im Unterschied zu »konstativen«) Äußerungen; diese werden schließlich als eine Unterform der illokutionären Akte betrachtet. A.s Bemühen um Kriterien für die eindeutige Unterscheidung zwischen den einzelnen Sprachfunktionen, ferner um eine Erfassung der Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit die unterschiedlichen Sprechhandlungen überhaupt gelingen können, sowie um eine Anordnung von Verben nach verschiedenen performativen Funktionen stößt auf vom Autor selbst eingestandene Grenzen. – Searle hat in Anlehnung an den Denkhabitus der

analytischen Philosophie A.s Sprechakttheorie einen strengeren und systematischeren Zuschnitt gegeben. A.s Version dagegen bleibt der klassischen europäischen Rechts- und Moralphilosophie mit ihren Wurzeln in Aristoteles und Kant verbunden und besticht durch ihren leicht ironischen Stil. Anders als Searle hat A. über die ordinary language philosophy und die Habermas’sche Universalpragmatik hinaus auch Philosophen wie J.  Derrida, J.-F. Lyotard und S.  Cavell oder die feministische LacanInterpretin S.  Felman für sich interessieren sowie der Literaturtheorie und -kritik Impulse vermitteln können. H.-D. Gondek Ausgaben: Oxfd.  21975. – Dt., Stgt. 2001 (mit Bibl.). Literatur: J. R. Searle, A. on Locutionary and Illocutionary Acts, in: Philosophical Review 77, 1968, 405–424. – E. v. Savigny, Die Phi­ losophie der normalen Sprache, Ffm. 21974, Kap. 3. – F. C. Dörge, Il­locutionary Acts. A.’s Account and What Searle Made Out of It, Tbg. 2006 (online veröffentl. Diss.). – E. Rolf, Der andere A. Zur Rekonstruktion/Dekonstruktion performativer Äußerungen, Bielefeld 2009.

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Austin: Philosophical Papers

Philosophical Papers (engl.; Gesammelte philosophische Aufsätze), EA Oxfd.  1961; 21970 (erw.); 31979 (nochmals erw.).

Dieser Band, der zuerst 1961, also ein Jahr nach A.s Tod, erschienen ist, enthält alle von A. zu Lebzeiten veröffentlichten Aufsätze sowie mehrere unveröffentlichte Aufsätze und nicht verschriftlichte Vorträge. – Abgesehen von den frühesten Aufsätzen exemplifizieren die versammelten Schriften A.s spezielle philosophische Methode, die er als linguistische Phänomenologie bezeichnet. Diese wird explizit in den Aufsätzen A Plea for Excuses (›Ein Plädoyer für Entschuldigungen‹) und Three Ways of Spill­ing Ink (›Drei Möglichkeiten, Tinte zu verschütten‹) beschrieben. Sie besteht darin, den alltäglichen Gebrauch derjenigen Ausdrücke zu untersuchen, die im Umkreis der Formulierungen philosophischer Probleme stehen. Man sollte sich auf Ausdrücke aus dem Umkreis konzentrieren, da die Formulierungen der Probleme selbst oft schon von philosophischen Theorien infiziert sind. A. geht davon aus, dass im Vokabular und der Grammatik natürlich gewachsener Sprachen Unterscheidungen und Klassifikationen enthalten sind, die sich als

nützlich erwiesen haben. – A. wendet diese Methode in A Plea for Excuses auf das Problem der Verantwortung für Handlungen an, indem er verschiedene Arten von Entschuldigungen betrachtet, durch die die Verantwortung aufgehoben oder eingeschränkt wird. Eine weitere Frage aus diesem Umkreis behandelt A. in Ifs and Cans (›Falls‹ und ›Können‹). Und zwar ist man für Handlungen nur verantwortlich, wenn man auch anders hätte handeln können. A. betrachtet dazu die Aussage »Er hätte anders gehandelt, falls er sich anders entschieden hätte«, die George E. Moore als Analyse von »Er hätte auch anders handeln können« vorgeschlagen hat. – Die Aufsätze Other Minds (›Fremdseelisches‹) und Pretending (›So tun als ob‹) beschäftigen sich mit dem Skeptizismus bezüglich des Fremdpsychischen, also der Position, dass man letztlich nicht wissen kann, ob eine andere Person z. B. wütend ist. A. kritisiert die These, dass man die Gefühle anderer nur an äußeren Anzeichen erkennt, mit dem Hinweis, dass der Ausdruck ›Anzeichen von Wut‹ auf unterdrückte oder erst entstehende Wut hindeutet. Gegen das Argument, über Fremdseelisches sei Wissen unmöglich, weil ich mich, anders als im ei-



Ayer: Language, Truth and Logic 45

genen Fall, immer irren könne, wendet A. ein, dass Ausdrücke der Art »Ich weiß, dass […]« eine performative Rolle spielen. In Pretending werden Verwendungsweisen des Wortes ›vorgeben‹ untersucht, um die These zu kritisieren, dass man letztlich nicht wissen könne, ob eine andere Person wütend ist oder dies nur vorgibt. – Die Aufsätze Truth (›Wahrheit‹) und Unfair to the Facts (›Ungerecht gegen die Tatsachen‹) gehören zu einer Auseinandersetzung mit Peter F. Strawson über den Gebrauch des Ausdrucks ›wahr‹. Nach Strawson dient der Ausdruck ›S ist wahr‹ nur dazu, die vorher schon aufgestellte Behauptung S nochmals aufzustellen, und ist insofern logisch überflüssig. Dagegen behauptet A., dass ›wahr‹ primär so verwendet wird, dass es als Prädikat von einer Behauptung S ausgesagt wird. Er kritisiert außerdem Strawsons These, dass es sich bei Fakten um bloße Pseudo-Entitäten handelt und entsprechend bei dem Ausdruck ›Korrespondenz mit den Fakten‹ um eine bloße Redeweise. – Performative Utterances (›Performative Äußerungen‹) legt dar, dass es neben konstativen Äußerungen, mit denen wir etwas behaupten und die wahr oder falsch sein können, auch performative Äu-

ßerungen gibt, die man nicht als wahr oder falsch beurteilen kann und mit denen wir eher etwas tun als bloß etwas sagen. Beispiele dafür sind das Taufen eines Schiffs, das Schließen einer Ehe oder das Vererben einer Uhr. Dieser Aufsatz formuliert also einige der Hauptthesen der in →  How to Do Things with Words vorgetragenen Sprechakttheorie. Die für diese Theo­ rie zentralen Begriffe ›Lokut­ ion‹, ›Illokution‹ und ›Perlokution‹ kommen allerdings noch nicht zur Sprache. Im Vergleich zu How to Do Things with Words sind die hier versammelten Aufsätze relativ unbekannt und wenig diskutiert geblieben. B. Prien Ausgaben: Wort und Bedeutung: Philosophische Aufsätze, Mchn. 1975. – Dt., Stgt. 1986. Literatur: K. T. Fann (Hg.), Symposium on J. L. A., NY 1969. – G. J. Warnock, J. L. A., Ldn. 1992.

Alfred Jules Ayer * 29. 10. 1910 in London, † 27. 6. 1989 in London; wichtiger Vertreter des logischen Positivismus.

Language, Truth and Logic (engl.; Sprache, Wahrheit und Logik), EA Ldn./NY 1936.

In der Tradition des britischen Empirismus von John Locke

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Ayer: Language, Truth and Logic

und David Hume stehend, argumentiert A. in dieser programmatischen Schrift des logischen Positivismus für eine metaphysikkritische, logischwissenschaftliche Philosophieauffassung. – Ausgangspunkt ist das Verifikationskrite­rium, dem gemäß Aussagen nur dann wissenschaftlich sinnvoll sind, wenn zur Feststellung ihrer Wahrheit oder Falschheit Beobachtungen relevant sind. Sinnvoll sind außerdem analytische Aussagen, deren Wahrheitswert allein aufgrund der Begriffsdefinitionen der in ihnen enthaltenen Ausdrücke bestimmt werden kann. Aussagen, die weder empirisch noch analytisch sind, drücken nach A. keine echten Propositionen aus und sind kognitiv sinnlos. Sie sind somit bloße metaphysische Spekulationen, die im philosophischen Denken A.s keinen Platz haben. Als Auf­ gabenbereich für die Philosophie bleibt die logische Sprachanalyse, deren wichtigste Methode die Aufstellung von Gebrauchsdefinitionen ist, durch die die logische Struktur von Sätzen aufgedeckt, Sprachverwirrung vermieden und philosophische Streitfragen aufgelöst werden sollen. Diese Gebrauchsdefinition sollen nach A. alle Wesensdefinitionen in der Philosophie ersetzen. In

einer Wahrheitstheorie geht es nach A. daher nicht um die Frage nach dem Wesen von Wahrheit, sondern vielmehr um die Frage nach den Gültigkeitsbedingungen von Propositionen. – Eine wichtige Konsequenz des logischen Empirismus A.s ist seine Ablehnung jeglichen apriorischen Tatsachenwissens. Im Unterschied zu Kant sind für A. apriorisch wahre Propositionen stets Tautologien ohne Informationsgehalt. Zu diesen zählen die analytisch wahren Propositionen der Logik und Mathematik, die wir nach A. nur aufgrund der Begrenzung unserer Vernunft als interessant  und informativ empfinden. – Aus A.s Empirismus resultiert zudem eine »emotive Werttheo­rie« in Bezug auf ethische und ästhetische Aussagen. Evaluative Äußerungen besitzen nach A. keinen Wahrheitswert. Sie können lediglich Empfindungen ausdrücken oder hervorrufen. Auch theologische Fragen sind für A. genuin metaphysischer Natur und können nicht durch die Philosophie beantwortet werden. – Dieses Standardwerk des Positivismus enthält in pointierter Weise viele Überlegungen, die auch von den logischen Empiristen des Wiener Kreises geteilt wurden. Auch wenn A.s Metaphysikkritik heute als



Bacon: Instauratio magna 47

zu radikal und überzogen gilt und es v. a erhebliche Kritik an seinem  Verifikationskriterium (etwa von Karl Popper) sowie an der Unterscheidung von analytischen und empirischen Aussagen (z. B. von W. V. O. Quine) gab, zählt A.s Schrift zweifellos zu den bedeutendsten und einflussreichsten der analytischen Philosophie des 20. Jh.s. E. Brendel Ausgaben: Ldn.  2001 (Penguin Clas­sics). – Dt., Stgt. 1996. Literatur: J. Foster, A., Ldn. 1985. – L. E. Hahn (Hg.), The Philosophy of A. J. A., La Salle/Illinois 1992. – R.  Haller, Neopositivismus. Eine historische Einführung in die Philosophie des Wiener Kreises, Drmst. 1993. – D. M. Daniel, A.’s Language, Truth and Logic, Ldn. 2007.

Francis Bacon *  22. 1. 1561 London, † 9. 4. 1626 High-Gate (bei London); Vertreter einer experimentellen Methode der Naturwissenschaft.

Instauratio magna (lat.; Große Erneuerung der Wissenschaften); Bd.  I: The Advancement of Learning, EA Ldn. 1605, 1623 (erw. und umgearb. u.  d.  T. De dig­nitate et augmentis scientiarum, lat.; Über die Würde und die Fortschritte der Wissenschaften); Bd.  II: Novum organum sive indica vera de

interpretatione naturae (lat.; Neue Methode oder wahre Angaben zur Erklärung der Natur), EA Ldn. 1620; Bd.  III/1: Historia naturalis et experimentalis ad condendam philosophiam sive phaenomena universi (lat.; Beschreibung der Natur und des Experiments zur Begründung der Philosophie oder der Phänomene des Universums), EA Ldn. 1622; Bd. III/2: Silva silvarum, or A Natu­ ral History in Ten Centuries (engl.; Stoffsammlung der Stoffsammlungen oder eine Naturbeschreibung in zehn Hundertschaften), EA Ldn. 1627 (postum).

Die Wissenschaft als Kunst der Entdeckung aus der Erfahrung steht im Mittelpunkt von B.s geplantem Werk, von dem nur Bruchstücke bestehen. Der am meisten entwickelte Teil selbst, das Novum organum, besteht aus Aphorismen bzw. einer Sammlung von methodischen Hinweisen. – Der »Einteilung des Werks« zufolge sollte das Ganze sechs Teile bzw. Momente der Wissenschaft umfassen. Der v. a. aus De dignitate bestehende 1. Teil ist eine »Einteilung der Wissenschaften«, wobei auch zukünftige Entdeckungen berücksichtigt sind. Der 2. Teil, das Novum organum, umfasst im 1. Buch die pars destruens und die pars preparens, im 2. Buch die pars informens. Noch vor der pars destruens liefern Aphorismen die anthropologische Grundlage des Novum

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Bacon: Instauratio magna

organum. Als Herr der Erde ist der Mensch »Diener und Erklärer der Natur« (Aph. 1). Er kann sie nur verstehen, wenn er ihren Regeln gehorcht. Durch die Entdeckung wird der Wissenschaftler zum Schöpfer. Er kann zwar die »von der Natur gegebenen Körper« (Aph.  4) nicht schaffen, vermag sie jedoch beliebig zu kombinieren bzw. zu trennen. Um die Prozesse der Natur zu reproduzieren, muss er sie zunächst beobachten, denn »was bei der Betrachtung als Ursache erfasst ist, dient bei der Ausführung als Regel« (Aph. 3). Man sollte nicht durch einen spekulativen Geist allein die Natur erkennen wollen, weil »die Feinheit der Natur die der Sinne und des Verstandes um ein Vielfaches übertrifft« (Aph.  10). Experi­ mentelle »Werkzeuge« sind vonnöten. Die Wurzel aller Irrtümer des Verstandes besteht darin, dass sich der Geist Idole (Trugbilder) macht, von denen es vier Sorten gibt: die des »Stammes«, die der »Höhle«, die des »Marktes« und die des »Theaters«; sie resultieren jeweils aus der menschlichen Natur, der Beschaffenheit der Indivi­ duen, der Kommunikation unter den Menschen und den philosophischen Lehrmeinungen. Nach B. stagnieren die Naturwissenschaften seiner

Zeit, denn »die, welche die Wissenschaften betrieben haben, sind Empiris­ten oder Dogmatiker gewesen«. B. plädiert für »das Verfah­ren der Biene«, das »in der Mit­te liegt: sie zieht den Saft aus den Blüten der Gärten und Fel­der, behandelt und verdaut ihn aber aus eigener Kraft« (Aph. 95). – Daraufhin beginnt die pars preparens, der Aufbruch des auf dem Kupferstich der Titelsei­ te dargestellten Schiffs der Wissenschaft von den bekannten Küsten zu neuen Kontinenten. B.s. Methode gelangt erst über mehrere Stufen von der Er­ fahrung zu den obersten Sät­ zen des Wissens. Am wichtigs­ten sind die mittleren Sätze der E ­ inzelwissenschaften, die zwischen Einzeltatsachen und dem Gesetz stehen. Sie werden durch eine »Tafel der Entdeckung« gewonnen, die die Korrela­ tion und die gegenseitige Ausschließung der einzelnen Ereignis­se aufnimmt, woraus sich »be­jahende Schlüsse« (Aph.  105) ziehen lassen. Dabei sind manche Phänomene hilfreich, auf die der Forscher zufällig stößt, und die der Verstand ohne E ­ rfahrung für unmöglich erklärt hätte, da sie den überlieferten Grundvorstellungen widersprachen: z. B. die Entdeckung der Feuerwaffen, der Seide und des Kompasses. Die Bearbeitung der



Beauchamp: Principles of Biomedical Ethics 49

Naturgeschichte und der »Tafeln der Erfahrung« benötigt die Kooperation vieler Menschen. Damit motivierte B. die Entstehung der ersten wissenschaftlichen Akademien sowie des modernen Wissenschaftsverständnisses. Die pars informens entwickelt B.s Modell weiter. – Die Aufklärung sieht in B.s Werk das Vorbild der modernen Naturwissenschaft. Für Kant vollendet die Instauratio magna eine Revolution: Zum ersten Mal wird die Natur nicht nur beobachtet, sondern sie gilt als experimenteller Prüfstein für die Hypothesen des Naturwissenschaftlers. J.-C. Merle Ausgaben: Lat./dt., Neues Organon, Ü.: R.  Hoffmann/G.  Korf, Hg.: W. Krohn, 2 Bde., Hbg. 1990. – Engl., The New Organon, Hg.: L.  Jardine/M.  Silverthorne, Cam­br. 2000. Literatur: J. Briggs, F.  B. and the Rhetoric of Nature, Cambr. (Mass.) 1989. – M.  Peltonen, The Cambridge Companion to B., Cambr. 1996. – W.  Krohn, F.  B., Mchn. 22006.

Tom L. Beauchamp *  2. 12. 1939 Austin (Texas); Mitbegründer des prinzipienethischen Ansatzes in der Bioethik.

Principles of Biomedical Ethics EA NY/Oxfd. 1979 (bislang sechs stetig überarb. Aufl.n), verfasst zus. mit James F. Childress.

Das Werk wird gemeinhin als erstes amerikanisches Bioethik-Lehrbuch anerkannt und präsentiert gleichzeitig einen eigenständigen Ansatz im Bereich der biomedizinischen Ethik, der als ›Prinzipienethik‹ (principlism) bezeichnet wird. Seit der Erstveröffentlichung 1979 wurde das Werk in der Auseinandersetzung mit Kritikern stetig weiterentwickelt. Während bis zur dritten Auflage die grundlegenden ethischen Prinzipien Respekt vor Autonomie (autonomy), Schadensvermeidung (non-maleficence), Wohltun (beneficence) und Gerechtigkeit (justice) im Vordergrund standen, findet seitdem eine verstärkte Re­ flexion auf die angemessene Methodik in der Bioethik und  die theoretischen Grundlagen der Prinzipienethik statt. In der sechsten Auflage von 2009 gliedert sich das Werk in drei große Teile, einen Teil zu moralischen Grundlagen, einen Teil zu moralischen Prinzipien und einen Teil zu Theorie und Methodik. – Insbesondere vier Merkmale sind für den prinzipienethischen Ansatz charakteristisch:

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Beauchamp: Principles of Biomedical Ethics

Erstens verzichtet er auf eine Grundlegung in e­iner umfassenden moralischen Theorie wie der Deontologie oder dem Konsequenzialismus und beansprucht stattdessen, seinen Ausgangspunkt in allgemein geteilten Moralvor­stellungen (common morality) zu nehmen. Zweitens wird eine dezidiert bereichsspezifische Ethik entwickelt. Die vier Prinzipien sind Prinzipien mittlerer Reichweite und beanspruchen Geltung allein innerhalb der biomedizinischen Ethik. Drittens wird ein Begründungs­ fundament und eine von diesem ausgehende eindirektionale Be­ gründungsweise abgelehnt, d. h. weder kann aus Regeln oder Prinzipien die Anwendung auf den Einzelfall unmittelbar abgeleitet werden (top-down-models), noch sind Einzelfälle die Grundlage für daraus zu generierende Prinzipien (bottom-up-models). Viel­mehr sollen in einem kohärentistischen Verfahren sowohl Prinzipien Orientierung für Einzelfälle bieten als auch Einzelfälle die Prinzipien weiterentwickeln helfen. Viertens schließlich werden die Prinzipien als prima-facie-Prinzipien verstanden: Keinem Prinzip wird grundsätzlicher Vorrang vor dem anderen eingeräumt. Es muss im eventuellen Kon-

fliktfall einzeln entschieden werden, ob einem Prinzip Vorrang eingeräumt werden kann. Die für die Anwendung der Prinzipien grundlegende Methodik wird als ›Spezifikation‹ (specifying) und ›Ausbalancierung‹ (balancing) bezeichnet. Ersteres bedeutet, dass ein Prinzip aufgrund des mittleren Abstraktionsniveaus für einzelne Fälle unterbestimmt ist und deshalb anhand von Fragen wie: ›Was bedeutet NichtSchaden in dieser Situation?‹ für konkrete Fälle mit Inhalt gefüllt, also interpretiert werden muss. Letzteres bezeichnet das Abwägen zwischen den konkretisierten Prinzipien im Einzelfall. – Während im traditionellen ärztlichen Handeln v. a. die Prinzipien des Wohltuns und der Schadensvermeidung im Vordergrund standen, ist bei B. und Childress mit dem Respekt vor Autonomie ein wesentliches Element liberaler Moral integriert. Dabei umfasst dieses Prinzip das Offenlegen relevanter Informationen, das Sicherstellen von Verständigung und Freiwilligkeit sowie die Beförderung adäquater Entscheidungsfindung. Das Prinzip der Gerechtigkeit schließlich verweist auf die richtige zwischenmenschliche Umgangsweise innerhalb einer zivilisierten Gesellschaft. – Die



Benjamin: Geschichtsphilosophische Thesen 51

Wirkung des Werkes kann kaum überschätzt werden. Bis heute ist der Ansatz von B./ Childress der am weitesten rezipierte und diskutierte im Feld der biomedizinischen Ethik. Von seinen Befürwortern wird er weiterentwickelt und auf konkrete Fragestellungen angewendet, während seine Kritiker ihn nicht ignorieren können. D. Düber Ausgabe: NY 62009 (überarb.). Literatur: C.  M. Spicer (Hg.), Special Issue: Theories and Methods in Bioethics: Principlism and its Critics, in: Kennedy Institute of Ethics Journal 5/3, 1995, 181–286. – M.  Quante/A.  Vieth, Welche Prinzipien braucht die Medizin­ ethik? Zum Ansatz von B. und ­Childress, in: M. Düwell/C. Steigleder (Hg.), Bioethik. Eine Einführung, Ffm.  2003, 136–151. – O.  Rauprich/F.  Steger (Hg.), Prinzipienethik in der Biomedizin. Moralphilosophie und medizinische Praxis, Ffm. 2005.

Walter Benjamin 15. 7. 1892 in Berlin, † 26. 7. 1940 (wahrscheinlich Selbstmord) in Portbou (Spanien); deutscher Philosoph, Literaturkritiker und Übersetzer.

Geschichtsphilosophische Thesen (nach B.s eigener Bezeichnung: Über den Begriff der Geschichte),

EV Los Angeles 1942 (postum, in: Zeitschrift für Sozialforschung, Sonderausg. W. B. zum Gedächtnis), EA Ffm. 1955 (in: Schriften, Bd. 1, Hg.: T.  W. Adorno/G. Adorno, 494–506).

Die Thesen Über den Begriff der Geschichte gehören zu den letzten Schriften B.s aus dem Frühjahr 1940. B. bestimmt in den Thesen Perspektive und Aufgabe einer materialistischen Geschichtsschreibung. Gegen den Historismus, der Geschichte aus der Sicht der »Sieger« (These VI) darstellt, und gegen die Sozialdemo­kratie, die in blindem Fortschrittsglauben über die Probleme der Gegenwart hinwegsieht, ist es der mate­ rialistischen Geschichtsschreibung darum zu tun, die Erfahrungen von Leid und Unterdrückung als den historischen Normalzustand aufzuzeigen. – Dem Historismus erscheint der Weg von der Vergangenheit in die Gegenwart als ein Kontinuum, als beständiger Fortschritt, der aber über den Stillstand, den die Unterdrückten erfahren, hinweggeht.  Wird das einmal anerkannt, dann kann eine Geschichtsschreibung, die aufklären will, nur das Kontinuum der Geschichte aufsprengen. In einer »von Spannungen gesättigten Konstellation« hält das Denken ein und erteilt demselben einen

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Benjamin: Geschichtsphilosophische Thesen

»Chock« (These  XVII). Diese veränderte Perspektive auf die Vergangenheit verändert auch die Perspektive auf das gegenwärtige Geschehen, denn die Einsicht, dass in  der Gegenwart Menschen leiden, bleibt verstellt, wenn dieses Leiden lediglich als ein Moment in der ansonsten gnadenlos fortschreitenden Geschichte erscheint. In diesem konstruktiven Prinzip der materialistischen Geschichtsschreibung liegt daher »eine revolutionäre Chance im Kampfe für die unterdrückte Vergangenheit« (These XVII). – Wenn B. in dieser revolutio­ nären Chance ein messianisches Moment und die Verheißung von Glück als Erlösung (These II) sieht, dann zitiert er damit theolo­gische und geschichtsphilosophische Motive insbesondere des Deutschen Idealismus. Anders als in der Theologie und den Geschichtsphilosophien Kants und Hegels begreift er Freiheit und Glück aus der konkreten historischen Situation heraus. Es ist der Leitgedanke B.s, dass »das Bild von Glück, das wir hegen, durch und durch von der Zeit tingiert ist, in welche der Verlauf unseres eigenen Daseins uns nun einmal verwiesen hat.« (These II) – Materialistische Geschichtsschreibung steht danach zwischen den

Extremen von Herrschaft und Befreiung, Glück und Messianismus, Erfahrung und Konstruktion, historischem Materia­ lismus und Sozialdemokratie. Diese Diversität kommt auch in der Textform der Thesen zum Ausdruck – einer Collage aus 18 Thesen, die sich teils literarisch-metaphorisch, teils aphoristisch, teils kritisch interpretierend dem systematischen Zugang auch versperrt. Die Geschichtsphilosophischen Thesen werden so selbst zur Konstellation, in der dem Fortschrittsdenken Einhalt geboten wird. – Mit den Geschichtsphilosophischen Thesen antizipierte B. einen wichtigen Grundgedanken der frühen Frankfurter Schule, mit der er die Einsicht teilte, dass die Priorität im Verhältnis von Allgemeinem und Konkretem, Subjekt und Objekt im Konkreten und den Objekten zu suchen ist, und nicht umgekehrt wie es in den großen philosophischen Entwürfen des Deutschen Idealismus, aber auch der Theologie durchgeführt worden war.  Dagegen steht der von Adorno rezipierte Begriff des Fortschritts als Entfernung von der »Katas­ tro­ phe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft« (These IX); als solch ein ›Trümmerhaufen‹ erscheint die Geschichte im Rückblick. Die



Benjamin: Kunstwerk im Zeitalter 53

68er-Bewegung kritisierte die Interpretation B.s durch die Frankfurter Schule, die über die Einforderung politischer Aktion hinweggesehen habe. Die divergente Qualität des Textes, der sich zwischen Philosophie, politischem Engagement und Literatur bewegt, ohne Literatur, politisches Engagement oder Philosophie zu sein, bot für viele Rezeptionslinien Anknüpfungspunkte: So bildete die Frage nach dem Verhältnis von Judentum und Messianismus ebenso eine Rezeptionslinie wie die marxistische oder die dekonstruktivistische Auslegung der Geschichtsphilosophischen Thesen, zu der Derrida den Grundstein legte. M. Berger/M. Städtler Ausgaben: Gesammelte Schriften, Bd. I (2), Ffm. 1990, 691–704. – Werke und Nachlass, Bd.  19, Ffm. 2008. Literatur: P. Bulthaup, Materia­ lien zu B.s Thesen Über den Begriff der Geschichte: Beiträge und Interpretationen, Ffm. 1975. – R.  Tiedemann, Dialektik im Stillstand: Versuche zum Spätwerk W. B.s, Ffm. 1983. – B. Lindner, B.-Handbuch: Leben, Werk, Wirkung, Stgt. 2006.

Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit entst.  1935–37; EV frz. u.  d.  T. L’œuvre d’art a l’epoque de sa répro-

duction mécanisée (in: Zeitschrift für Sozialforschung 5/1, 1936 [stark redigiert]); EA (2. Fassung) Ffm. 1955.

Die Schrift liegt in einer Vielzahl von Fassungen vor; ­ die heute geläufige ist in 15  Abschnitte gegliedert, die von e­inem Vorwort und einem Nachwort umrahmt sind, in denen B. den politischen Akzent der Kunstwerktheo­ rie setzt: die Veränderung von Kunst im Medium der Wechselwirkung der technischen, sozialen und po­litischen Bedingungen der Moderne mit denWahrnehmungsgewohnheiten des (Massen-)Publikums. – Die  Geschichte der Reproduktionstechnik folgt nicht ästhetischen, sondern technischen Kriterien: Geschwindigkeit  und Verfügbarkeit. Schließlich wird die Reproduktion von Kunst selbst Kunstgattung, was auf ihre Rezeption zurückwirkt. Die Echtheit des Originals, sein Hier und Jetzt, das einzig Irreproduzible, wird von der Reproduktion aufgehoben, die das Werk als Ware der Masse zugänglich macht. Das traditionell Autoritative verkümmert zugunsten einer Demokratisierung von Kunst, der Film erscheint als gesellschaftlich progressivste Form. Das Einzigartige am Kunstwerk ist seine ›Aura‹, die ›ein-

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Benjamin: Kunstwerk im Zeitalter

malige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag‹. Diese verfällt mit der gesellschaftlich bedingten Veränderung der Wahrnehmung. Das Rituelle, Kulthafte wird erschüttert durch die Fotografie, worauf l’art pour l’art die letzte ästhetizistische Reaktion ist. Politik ersetzt das Ritual als Fundament der Kunst. Der ›Kultwert‹ des Kunstwerks weicht dem ›Ausstellungswert‹, der durch die Verfügbarkeit von Reproduktionen, v. a. Fotografien, bestimmt ist. Die Frage ist nicht, ob Fotografie Kunst sei, sondern ob die Kunst nach deren Erfindung noch dieselbe sei, womit das historische und soziale Wesen von Kunst ausgesprochen ist, das B. in der Moderne v. a. am Film wahrnimmt: Im Unterschied zum Bühnenschauspieler ist der Filmschauspieler ständig der Prüfung durch die Aufnahmeapparatur unterworfen. Diese prüfende, distanzierte, Haltung überträgt sich aufs Publikum. Derselbe, der ehrfürchtig einen Picasso betrachtet, wird bei Chaplin zum selbständigen Kritiker. Der Film ist insofern weniger illusionär als das Thea­ ter, hier ist Kunst nicht mehr schöner Schein: Der Schauspieler verliert die Aura, wird zum Requisit, und dieses wird dem Darsteller gleichgestellt.

Die Technik vermag Zusammenhänge zu zerlegen und beliebig zu kombinieren, ist nicht auf Einmaligkeit angelegt. Die Filmtechnik, z.  B. die Großaufnahme, erlaubt es, wissenschaftliche und künstlerische Funktion der Fotografie zusammenzuführen. Analog der Psychoanalyse schließt der Film das (optisch) Unbewußte auf. Der »westeuropäische« Film ersetzt aber die Aura durch den Starkult und dämpft das revolutionäre Potenzial der Form, das durch Vergesellschaftung des Filmkapitals freizusetzen ist. Das Potenzial liegt in der Proletarisierung der Kunst: Jeder ist ein »halber Fachmann« und jeder hat den »Anspruch […] gefilmt zu werden«. Die Wirkung des Films auf Kunstform und Kunstauffassung ist dem Schock vergleichbar, der vom Dadaismus ausging, reicht aber über dessen bürgerlichmoralischen Appell hinaus. Die Haltung des Betrachters wandelt sich nicht durch bewusste Kontemplation, sondern durch Wahrnehmungswandel mittels Gewöhnung an die neue Form. Diese Gewöhnung erfährt der Filmzuschauer in einer Grundhaltung der Zerstreuung. B. bringt seine These von der prüfenden Haltung mit der von der zerstreuten zusammen in dem Satz: »Das Publikum



Bennett: Linguistic Behavior 55

ist ein Examinator, doch ein zerstreuter.« Hatte Benjamin im »Vorwort« die Absicht betont, gegen die Okkupation der Kunst durch Kapitalismus und Faschismus eine für diese unbrauchbare Ästhe­ tik zu entwerfen, so setzt er im »Nachwort« der faschistischen Ästhetisierung der Politik mit dem Ziel der Kanalisierung proletarischen Widerstands­ potenzials eine kommunistische Politisierung der Kunst entgegen. – Dieser Tenor führte schon im Vorfeld der Publikation zeitbedingt zu heftigen Auseinandersetzungen, v. a. mit Horkheimer. Adorno hat den Text auch ästhetisch kritisiert, so die Affirmation der Zerstreuung oder die »undialektische« Beurteilung der traditionellen wie der modernen Kunst. In der Kritik an der Kulturindustrie münden diese Bedenken. Die 68er-Bewegung griff den Text begeistert auf. Die Funktion der Apparatur wurde später zum Thema der psychoanalytisch fundierten ›Apparatusdebatte‹. Bis heute gilt der Text als grundlegend für die Theorie des Films und für die gesellschaftliche Funk­ tion von Ästhetik, aber auch für die Kultur- und Medienwissenschaften. M. Berger/M. Städtler

Ausgaben: Gesammelte Schriften, Hg.: R.  Tiedemann/H.  Schweppenhäuser, Bd. I/2, Ffm. 1974, 431–508 und 709–739. – Werke und Nachlass. Kritische GA, Hg.: C. Gödde/H. Lonitz, Bd. 16, Hg.: B. Lindner, Ffm. 2011. Literatur: Anm. der Herausgeber, in: Gesammelte Schriften I/3, Ffm. 1974, 982–1063. – B. Lindner, B.Handbuch, Stgt. 2006, 229–251.

Jonathan Francis Bennett *   1930 in Greymouth (Neuseeland); analytischer Sprachphilosoph, Phi­ losophiehistoriker der frühen Neuzeit.

Linguistic Behavior (engl.; Sprachverhalten), EA Cambr. (Mass.) 1976.

B. möchte in diesem Buch zeigen, dass Sprachen aus systematischem kommunikativen Verhalten bestehen, wobei er in vier Schritten vorgeht: Zunächst erläutert er, was es bedeutet, dass ein Sprecher, indem er x äußert, meint, dass p der Fall ist. Hierbei greift er auf Paul Grice’ Analyse der Sprecher-Intentionen zurück. Danach meint ein Sprecher mit x, dass p, genau dann, wenn er mit x den Adressaten zu der Meinung bringen möchte, dass p, wobei er zusätzlich beabsichtigt, dass diese Absicht erkannt wird, und beabsichtigt, dass der

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Bennett: Linguistic Behavior

Adressat gerade deshalb glaubt, dass p, weil er diese Absicht erkennt. – Nach dieser Analyse hängt das, was ein Sprecher mit einer Äußerung x meint, von den Intentionen ab, mit denen er x äußert. Wenn diese Erklärung nicht zirkulär werden soll, muss man Sprechern die genannten Absichten unabhängig von Sprache, bloß aufgrund nicht-sprachlichen Verhaltens, zuschreiben können. Zur Erklärung, wie dies möglich ist, verweist B. darauf, dass wir Tieren aufgrund ihres nicht-sprachlichen Verhaltens Ziele und, wie er es nennt, Registrierungen von Zuständen ihrer Umwelt zuschreiben. Diese Zuschreibungen sind dadurch gerechtfertigt, dass sie beobachtbares Verhalten erklären. Der Begriff der Registrierung ist letztlich durch diese explanatorische Rolle definiert, also durch Rückgriff auf be­o­ bachtbares nicht-sprachliches Verhalten und ohne Rückgriff auf sprachliche Bedeutung. Meinungen oder Überzeugungen sind eine spezielle Art von Registrierungen von Zuständen der Umwelt, die vorliegen, wenn das registrierende Wesen zusätzlich die Bedingungen der Lernfähigkeit und Wissbegierde erfüllt. B. zeigt außerdem, wie allein das nicht-sprachliche Verhalten eines Wesens es er-

möglicht, diesem komplexere Meinungen zuzuschreiben, wie Meinungen und Wünsche über die mentalen Zustände anderer Wesen und insbesondere die Absichten, die in Grice’ Analyse der Sprecherbedeutung vorkommen. – Im zweiten Schritt führt B. den Begriff der Konvention ein. Dabei greift er auf einen Vorschlag von David Lewis zurück, wonach Konventionen bei wiederkehrenden Koordinationsproblemen entstehen können, also in Situationen, in denen alle Beteiligten ihr Ziel dadurch erreichen können, dass sie koordiniert handeln. Haben z. B. zwei Personen das Ziel sich zu treffen, können beide dies erreichen, indem sie dorthin gehen, wo der je andere hingeht. Wenn für alle Beteiligten gilt, dass sie auf eine bestimmte Weise handeln, z. B. zum Ort O gehen, weil sie glauben, dass die anderen auf eine entsprechende, koordinierte Weise handeln, nämlich auch zum Ort O zu gehen, dann liegt eine Konvention vor. Auch sprachliche Kommunikation ist ein Koordinationsproblem, da Sprecher und Hörer beide ihr Ziel der Verständigung dadurch erreichen können, dass sie koordiniert handeln. Der Sprecher muss mit seiner Äußerung x genau das meinen,



Bentham: An Introduction to the Principles of Morals 57

was der Hörer bei x versteht. B. wandelt Lewis’ Definition der Konvention dahingehend ab, dass er sie vom Bereich des Handelns auf den des Tuns ausweitet. Tun umfasst Handeln, schließt aber auch unwillkürliche Reaktionen wie das Bilden einer Meinung ein. Dies ist notwendig, weil es im Fall der Kommunikation zur Koordination gehört, dass der Hörer bestimmte Meinungen bildet. – Mithilfe des Begriffs der Konvention geht B. im dritten Schritt von der sog. Sprecherbedeutung (also dem Umstand, dass ein Sprecher mit x meint, dass p) zur Satzbedeutung über (also dem Umstand, dass der Satz x in einer Sprache, wie dem Deutschen, bedeutet, dass p). Ein Satz x bedeutet in einer Sprache, dass p, genau dann wenn eine Konvention besteht, mit x zu meinen, dass p. Da Sätze ihre Bedeutung in einer Sprache letztlich (vermittelt über Konventionen) aufgrund dessen haben, was mit einzelnen Äußerungen dieser Sätze kraft der Intentionen der jeweiligen Sprecher gemeint ist, bezeichnet B. seine Position als Bedeutungsnominalismus. – Im vierten Schritt geht B. von der Satzbedeutung zur Wortbedeutung über. Bisher wurden nur die Bedeutungen ganzer Sätze, die mindestens

aus einem Subjekt und einem Prädikat bestehen, betrachtet. B. erklärt nun die Bedeutung der Bestandteile von Sätzen, nämlich von Wörtern, durch den systematischen Beitrag, den sie zur Bedeutung von Sätzen leisten. B. Prien Ausgabe: Dt., Ffm. 1982.

Jeremy Bentham *  15. 2. 1748 London, †  6. 6. 1832 London; Gründer der utilitaristischen Schule.

An Introduction to the Principles of Morals and Legislation (engl.; Einführung in die Prinzipien der Moral und der Gesetzgebung), EA Ldn. 1789.

Dieses Hauptwerk B.s enthält die einzige Gesamtdarstellung seiner Philosophie sowie die erste des Utilitarismus. Das Vorwort nennt die Umstände der 1781 verschobenen, erst 1789 veranlassten Veröffentlichung: Ursprünglich wollte B. ein ideales Strafrecht konzipieren. Inzwischen setzte er sich aber mit der Unterscheidung zwischen Strafrecht und dem übrigen Recht, v. a. dem Zivilrecht, auseinander. Als B. sich schließlich für die Publikation entschied, um seine

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Bentham: An Introduction to the Principles of Morals

unkontrolliert kursierenden Essays zu einzelnen Themen der Rechtsphilosophie durch eine Darstellung seines Systems zu ersetzen, wirkte die ursprüngliche Absicht immer noch mit, so dass das Werk von zwei Elementen geprägt ist. In Bezug auf die Darstellung der zentralen Bereiche seiner Theorie formuliert B. in den ersten beiden Kapiteln das Nützlichkeitsprinzip, d. h. die Vermehrung des Glücks bzw. die Verminderung des Leids. Dieses Prinzip gilt ihm als Ziel­ ursache von Moral und Gesetzgebung. B. stützt sich dabei auf ein deterministisches Bild des Menschen: Dieser ist ihm zufolge von Natur aus gänzlich durch Leid und Freude, nicht durch Freiheit oder Gewissen bestimmt. Sodann verteidigt B. seine eigene gegen zwei entgegengesetzte Positionen: zum einen das Prinzip der Askese bzw. der Vermehrung des Leides (Stoa und christliche Moral) und zum anderen das Prinzip der Sympathie bzw. Anti­pathie (die rein subjektive, daher willkürliche Moral des Gewissens). In den Kapiteln  3–6 wird die Empfindlichkeit, d.  h. die Wahr­nehmung von Leid und Freude, behandelt. V. a. aber werden die »Sanktionen« der Handlung untersucht, die Leid und Freude verursachen und

somit Ursprung der Motive sind. Vier Sanktionen werden unterschieden: die physische, aus der Natur stammende, die religiöse, von Gott ausgehende, die machtbefugte, politische sowie die moralische der öffentlichen Meinung. Diese Sanktionen fungieren nach B. als Wirkursache der Moral und der Gesetzgebung nach dem Nützlichkeitsprinzip. – In den Kapiteln  8–11 folgt eine Analyse der Handlung (8 behandelt die Intentionalität der Handlung, 9 das Bewusstsein bei der Handlung, 10 ihre Motive, 11 die menschlichen Anlagen). Das 12.  Kapitel entwickelt eine Einteilung der aus einer Handlung folgenden Leidensarten, d.  h. Schäden. Anschließend geht B. von den Konsequenzen der schädlichen Handlung auf deren Ursache zurück. Die genannten Faktoren Intentionalität, Bewusstsein, Motive und menschliche Anlagen, die die Handlung beeinflussten, vermindern oder erhöhen nach B. die Unsittlichkeit der Handlung. Zu den natürlichen Folgen einer solchen Handlung – den Schäden – kommt noch eine künstliche Konsequenz hinzu: die Strafe. Die Kapitel 13 und 17 weisen auf die Bedeutung des gesamten Rechts hin. Das Zivilrecht wird aber erst in dem von Du-



Bergson: Essai sur les données immédiates de la conscience 59

mont herausgegebenen Traité de Législation civile et pénale dargestellt. – Anders als der Traité fand diese Schrift wenig Echo bei den Zeitgenossen. Für die Verhütungstheorie des Strafrechts ist sie heute allerdings ein Nachschlagewerk. J.-C. Merle Ausgaben: Collected Works, Bd. 1, Hg.: J. H. Burns/H. L. A.  Hart, 1968. – Dt., Tbg. 21992. Literatur: H. L. A. Hart, Essays on B.: Jurisprudence and Political Theo­ ry, Oxfd. 1982. – B. Parekh, J. B. Critical Assessments, Bd.  2, Ldn./ NY 1993. – W. Hofmann, Politik des aufgeklärten Glücks, Bln. 2002. – P.  Schofield, Utility and Democracy, Oxfd. 2006.

Henri Bergson * 18. 10. 1859 in Paris, † 4. 1. 1941 in Paris; Vertreter der Lebensphilosophie.

Essai sur les données immédiates de la conscience (frz.; Zeit und Freiheit. Abhandlung über die unmittelbaren Bewußtseinstatsachen), EA Paris 1889.

Die der Sorbonne als Dissertation vorgelegte Arbeit untersucht unsere Bewusstseinszustände und will die Problematik von Freiheit und Determinismus auf eine neue, veränderte Basis stellen. Ausgehend von der Unterscheidung von Reiz

und Empfindung zeigt B. in Auseinandersetzung mit den physikalischen Theorien seiner Zeit, dass zwar der Reiz, nicht aber die Empfindung einer quantitativen zeitlichen Messung unterworfen werden kann. Damit eröffnet sich ein neuer Zugang zur psychophysischen Einheit des Ich, wie sie in den gängigen Theorien  der Experimentalpsychologie ange­ nommen wurde, zugleich aber auch ein neuer Zugang zum Phänomen der Zeit. – In dieser Auffassung wird Zeit als erlebte Dauer (durée) inter­pretiert, die keine quantitative, sondern nur eine qualitative  Differenzierung kennt. B. geht von der Überzeugung aus, dass die bisherige (metaphysische und naturwissenschaftliche) Vorstellung von Zeit am Modell des Raumes orientiert ist. Der Raum wiederum eröffnet eine homogen wiederholbare, schematische Welt, die der mechanischen Notwendigkeit, dem kausalen Atomismus und der statischen  Diskontinuität unterliegt. Dem entspricht eine analytische Psychologie der Bewusstseinszustände, die das Bewusstsein und seine Gegebenheit gewissermaßen nur von außen zu untersuchen vermag und damit zur Erfassung assozia­ tiver und kausaler Zusammenhänge gelangt.

60 Bergson: Essai sur les données immédiates de la conscience

Bereits bei einer näheren Untersuchung ästhetischer oder moralischer Gefühle und deren möglicher Intensität zeigen sich nach B. qualitative Unterschiede, die nicht allein quantitativ erfasst werden können. Wenn Zeit analog dem Raum gedacht wird, entsprechen die Bewusstseinszustände äußeren materiellen Gegenständen und lassen sich in ein kausal-deterministisches Schema  pressen. Wird dagegen Zeit als unun­ terbrochener Fluss der Dauer aufgefasst, erschließt sich Freiheit als Grund unserer psychischen Akte. Am Beispiel der zenonschen Paradoxien und deren Gleichsetzung von Raum und Bewegung versucht B. zu zeigen, dass der Raum und der Akt der Bewegung, durch den er durchlaufen wird, streng voneinander unterschieden werden müssen. B.s Auffassung der Zeit als Dauer bietet die Basis für eine Ablehnung der phänomenalistischen und physikalisch orientierten Psychologie, weil sie zugleich die Freiheit des Ich behaupten kann. Diese Freiheit kann im Grunde nicht definiert werden, da sie jenseits der Problematik des Determinismus empirischkausal weder aufzuweisen noch zu widerlegen ist. B. nimmt neben einem »Oberflächen-Ich« der äußeren und räumlichen

Welt ein konkretes Ich an, das der Zeit als Dauer anheimgegeben ist und sich darum als frei verstehen kann. Freiheit lässt sich nicht als empirische Tatsache darstellen, sondern nur in Hinblick auf die reine Dauer interpretieren. Freiheit kann nur geleugnet werden, wenn Raum und Zeit identifiziert werden. – Die psychische Zeit der Dauer, die B. in seinen Analysen der mechanisch-naturwissenschaftlichen Zeit entgegensetzt, sowie die Annahme von zwei Ich-Begriffen, von denen der eine äußere Projektion in den Raum, der andere hingegen unser lebensweltlicher wäre, begründet einen Dualismus, der auch die weitere Entwicklung des Denkens B.s bestimmt. P. Kampits Ausgaben: Paris 2007. – Dt., Jena 1920. – Engl., Time and Free Will. An Essay on the Immediate Data of Consciousness, NY 2001 (ND der Ausg. Ldn. 1913). Literatur: R. Ingarden, Intuition und Intellekt bei H. B. Darstellung und Versuch einer Kritik, in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, Bd.  5, 1922, 286–461. – G. Deleuze, H. B. zur Einführung, Hbg. 21997. – J. Mullarkey, B. and philosophy, Edinburgh 1999.



Berkeley: Treatise 61

George Berkeley *  12. 3. 1685 Kilkenny (Südirland), † 14. 1. 1753 Oxford; Theologe und Philosoph, der den Empirismus mit dem Immaterialismus verbindet.

A Treatise Concerning the Principles of Human Knowledge, wherein the chief causes of error and difficulty in the ­sciences, with the grounds of scepticism, atheism, and ­irreligion, are inquired into

(engl.; Eine Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis, worin die Hauptursachen der Irrtümer und Schwierigkeiten in den Wissenschaften zusammen mit den Gründen des Skeptizismus, des Atheismus und der Irreligion untersucht werden), EA Dublin 1710.

B.s erkenntnistheoretisches Hauptwerk (benannt als »Part  I«, von dem jedoch kein weiterer Teil entstand) führt den Empirismus John Lockes fort, kritisiert jedoch dessen Annahme einer materiellen Substanz »hinter« der Ebene der Wahrnehmungen. Viele Zeitgenossen nahmen an, B. würde die Realität der Außenwelt leugnen. Das ist jedoch nicht der Fall: Im Gegenteil zeigt er gerade auf, dass der philosophische Materiebegriff Lockes zu einer unerwünschten Verdopplung der Welt führt, bei der die  wahrnehmbaren

Gegenstände unserer Alltagswelt zu bloßen Abbildern einer angeblich »wirklichen« Welt werden, die uns unzugänglich ist. In seiner Kritik schwankt B. zwischen zwei Strategien: Einerseits hält er die Annahme materieller Substanzen für widersprüchlich, andererseits argumentiert er zurückhalten­ der, dass diese Annahme überflüssig  sei (und zwar sowohl für den gesunden Menschenverstand als auch für die ­wissenschaftliche Forschung). Außerdem befürchtet B., dass der Locke’sche Materialismus zu einem entfremdeten Weltverhältnis führt, bei dem man sich aufgrund philosophischer Scheinprobleme der alltäglichen Dinge nicht mehr sicher ist und sich nicht mehr an der Schönheit der wirklichen Welt (die für B. eben die wahrnehmbare Welt ist) erfreut. Nachdem sein Hauptwerk auf Missverständnisse gestoßen war, versuchte er in dem Folgewerk Drei Dialoge zwischen Hylas und Philonous (1713) seine Philosophie zugänglicher darzustellen (wobei er in dem langen Untertitel ausdrücklich erwähnt, diese diene dazu, »ein Verfahren einzuführen, die Wis­senschaften leichter, nützlicher und knapper zu  gestalten«). Auf dieser Grundlage ist es durchaus möglich,

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Berkeley: Treatise

zwischen der Wahrnehmung wirklicher Dinge und bloßen Scheinwahrnehmungen zu unterscheiden: Diese Unterscheidung kann überzeugend auf der Ebene der Wahrnehmungen rekonstruiert werden. So unterscheidet sich die Fata Morgana einer Oase von einer wirklichen Oase dadurch, dass sich dieser Wahrnehmungsgegenstand radikal ändert, wenn man sich ihm nähert. Man hat in diesem Fall zwar tatsächlich eine Oasenwahrnehmung; aber man zieht daraus eine falsche Schlussfolgerung über weitere Wahrnehmungsmöglichkeiten. Der Widerstand, den uns die reale Welt liefert, kann ebenfalls problemlos erklärt werden; denn dabei handelt es sich ja um eine Wahrnehmung und Wahrnehmungen sind nicht denkbar ohne ein wahrnehmendes Subjekt (das von B. als mit einer Geistsubstanz ausgestattet gedacht wird). Eine Frage bleibt jedoch: Wenn man mit B. postuliert, esse est percipi (›Sein ist Wahrgenommenwerden‹), was geschieht dann mit den Gegenständen unserer Wahrnehmung, wenn sie gerade von niemandem wahrgenommen werden? Haben diese Gegenstände nur eine sehr flatterhafte Existenz? B. selber (der 1734 anglikanischer Bischof von Cloyne wurde)

wählt hier einen theistischen Ausweg: Danach gibt es einen großen Geist, der ­immer alles wahrnimmt, und das ist Gott. Allerdings deutet sich in seinen Werken auch ein anderer Ausweg an: Man könnte Existenz nicht nur auf fak­tisches Wahrgenommenwerden  reduzieren, sondern könnte erweitert sagen: Sein ist Wahrgenommenwerden oder Wahrgenommenwerdenkönnen. Dann kann man sagen, dass ein unbeobachteter Schreibtisch in einem Arbeitszimmer auch noch  un­ beobachtet existiert; und das bedeutet dann, dass man ihn wahrnähme, wenn man in das  Arbeitszimmer ginge. – Kants Transzendentalphilosophie ver­bindet ebenso wie B. einen transzendentalen Idea­ lismus mit einem empirischen Realismus, wobei Kant auf artifizielle Weise seine Differenzen zu B. betont. – Später knüpft der Phänomenalismus Ernst Machs ausdrücklich an B. an, verzichtet jedoch sowohl auf dessen Theismus als auch auf die Annahme einer Geistsubstanz. Die Theorie wurde daher prägnant als »B. ohne Gott« charakterisiert. B. Gräfrath Ausgaben: A Treatise Concerning the Principles of Human Knowledge, Hg.: J.  Dancy, Oxfd./NY 1998. – Dt., Eine Abhandlung über die



Bloch: Erbschaft dieser Zeit 63

Prinzipien der menschlichen Erkenntnis, Hg.: G. Gawlick/L. Kreimendahl, Stgt. 2005. Literatur: A.  Kulenkampff, G.  B., Mchn. 1987. – R. J. Fogelin, B. and the Principles of Human Knowledge, Ldn./NY 2001. –K. P. Winkler (Hg.), The Cambridge Companion to B., Cambr. 2005.

Ernst Bloch *  8. 7. 1885 in Ludwigshafen, †  4. 8. 1977 in Tübingen; Vertreter einer gleichermaßen von der Romantik, Marx und Freud beeinflussten utopisch angelegten »Hoffnungsphilosophie«.

Erbschaft dieser Zeit EA Zürich 1935.

Die Schrift, an der B. seit den 1920er Jahren arbeitete, war als geschichtsphilosophische Auseinandersetzung mit zivilisatorischen Destruktionstendenzen geplant und erlangte in den theoretischen Debatten um den zur Macht gekommenen Faschismus besondere Bedeutung. – Kern des Werkes ist B.s »Theorie der Ungleichzeitigkeit«, welche es ermöglichen soll, das Entstehen barbarischer Praktiken an der Spitze der Moderne zu erklären. Kernthese dieses Entwurfs, den B. ansatzweise schon in seiner antimilitaristischen Publizistik während des Ersten Weltkrie-

ges ausgearbeitet hatte, ist der Gedanke, dass der neuzeitliche Modernisierungsschub archaische, auf Solidarität und Gemeinschaftlichkeit gerichtete soziale Praktiken außer Kraft gesetzt hat. Die faschistischen Bewegungen, in ihrer Art dennoch nur der Ausdruck umfassender imperialistischer Modernisierung, aktivieren diese verdeckten Riten, Praktiken und Wunschträume wieder und missbrauchen sie. In Abwehr dieser pervertierenden Instrumentalisierung versucht B., diese archaischen Restpotenzia­ le für eine marxistische Theoriebildung aufzuschlüsseln und für die sozialistische Praxis zur Entfaltung zu bringen. Dahinter steht für B. die Grundfrage nach dem Verhältnis geschichtlicher Ratio zu geschichtlicher Irrationalität. Inspiriert von geschichtsphilosophischen Positionen der Frühromantik, polemisiert B. gegen einen flachen aufklärerischen Rationalismus und gegen die gewollte »Entzauberung der Welt« (Weber), die er tendenziell auch der kommunistischen Bewegung anlastet. Einen Ausdruck dieser einförmigen Rationalität sieht er insbesondere in bestimm­ ten marxistischen Kunsttheorien und in der Verfemung des Expressionismus. Folgerichtig gipfelt B.s Werk, welches im

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Bloch: Das Prinzip Hoffnung

1.  Teil die moderne zivilisatorische Entfremdung und im 2. die faschistische Reaktion darauf behandelt, in einen 3.  Teil, der expressionistische Kunsttechniken verteidigt und diese als soziale Paradigmen eines dionysischen progressiven Rausches versteht. In diesem Sinne fungiert Kunst, welche die gelungene Synthese von Ungleichzeitigem, von Archaischem und Modernem bewerkstelligt, bei B. als Ideal entfremdungsfreien Zusammenlebens. – Mit seiner Verknüpfung von publizistischen, essayistischen und philosophischen Momenten fand B.s Schrift in Exilkreisen breite Beachtung und wurde wegen seiner unorthodoxen Verquickung von Basis- und Überbauprozessen ebenso gewürdigt wie kritisiert. Einflüsse zeigen sich in Werken der Frankfurter Schule, etwa Horkheimer/Adornos →  Dialektik der Aufklärung, Marcuses Der eindimensionale Mensch und Triebstruktur und Gesellschaft oder auch in Weiss’ Ästhetik des Widerstands. O. Briese Ausgabe: Werkausgabe, Ffm., Bd. 4 (erw. Ausg.), 1985. Literatur: G. Klatt, Vom Umgang mit der Moderne. Ästhetische Konzepte der dreißiger Jahre, Bln. 1985, 141–177. – H.  Gekle, Zur Bedeutung des Dionysos in der Phi-

losophie E. B.s, Tbg. 1990, 50–92. – A. Kessler, B.s Ästhetik. Fragment, Montage, Metapher, Wzbg. 2006.

Das Prinzip Hoffnung entst. 1938–47; EA Bln. 1954–59 (3 Bde.).

Mit diesem Werk, das sich als einer der folgenreichsten philosophischen Entwürfe des 20. Jh.s erweisen sollte, begann B.s Öffentlichkeitseinfluss in Deutschland. Es gilt zugleich als B.s Hauptwerk. – Den Kern  bildet eine Theorie der Utopie, die aus allen Seinsphänomenen gewonnen wird: Alle Daseinserscheinungen drängen B. zufolge dahin, sich selbst zu übersteigen; sie treiben von ihrem So-Sein zu ihrem utopischen Noch-Nicht. B. verklammert dabei eine metaphysischontologische Grundlegung, die oftmals als Modifikation des Schelling’schen Weltwillens cha­rakterisiert wurde, mit einer Praxisphilosophie, die unter Berufung auf Marx einen imaginären Sozialismus als das utopische Totum des Seins verheißt. In diesem Totum – in anderen Metaphern: Goldenes Zeitalter, höchstes Gut, ens perfectissimum, Pleroma des Lichts, Reich der Fülle – verschmelzen Soziales, Politisches, Religiöses, Philosophisches und Künstlerisches zu einem Ziel, welches der Weltgeschichte bzw. sogar



Bloch: Das Prinzip Hoffnung 65

dem ganzen kosmischen Geschehen von jeher innewohnte. Obwohl B.s Stil essayistische Züge trägt, ist das Werk systematisch klar aufgebaut: Der 1. Teil (»Bericht«) nähert sich, ausgehend von lebensweltlichalltäglichen Erscheinungen, dem Problem utopischen Hoffens. Der 2.  Teil (»Grundlegung«) schlägt den Bogen von einer Anthropologie der Hoffnung, in der Motive des UnBewussten, Nicht-Bewussten und Noch-Nicht-Bewussten behandelt werden, zum Ontischen und dessen Kategorien wie Möglichkeit, Front, Novum oder Horizont. Diese Anthropologie bezieht sich ausdrücklich auf Theoreme Freuds (»Mensch als ziemlich umfängliches Triebwesen«), will sie aber reformulieren, da Freuds Triebtheorie reduktiv nur auf Sexualität und Aggressionsaspekte beschränkt sei und die Positiv-Potenziale von Trieben ausgeblendet habe. Der 3. Teil (»Übergang«) widmet sich v. a. zeitgenössischen ästhetischen Wunschbildern etwa in Tanz, Mode, Film usw. Der 4.  Teil (»Konstruktion«) stellt die allmähliche Bewusstwerdung menschlichen Hoffens anhand der Geschichte theoretischer Utopie-Entwürfe dar. Der 5. und letzte Abschnitt (»Identität«) umreißt schließlich die

vollendete theoretische Selbsterkenntnis und die praktische sozialistische Selbstverwirklichung des utopischen Wollens unter neuen kosmologischen Bedingungen einer Synthese von veränderter Natur und veränderter Kultur (die selbst den Tod hinfällig machen wird); sie schillert aber – konsequent utopisches Konzept – zwischen der Verheißung einer Heimat und Identität und dem Gebot zu ewiger Fahrt. – Mit diesem Werk, das ebenso kritisch wie zustimmend aufgenommen wur­ de (Marxismus, Kritische Theorie, Theologie der Hoffnung), zog B. einerseits das Fazit seiner bisherigen Studien, andererseits steckte er damit den Rahmen für seine weiteren Arbeiten an einer »Metaphysik der Hoffnung« ab. O. Briese Ausgaben: Werkausgabe, Bd. 5/1– 3, Ffm. 1985. Literatur: H. Kimmerle, Die Zu­ kunftsbedeutung der Hoffnung. Auseinandersetzung mit dem Hauptwerk E.  B.s, Bonn 1966. – R.  Becker/H. P. Delfosse/N.  Y. Shin, Handbuch zum Textstudium von E.B.s »Das Prinzip Hoffnung«, Stgt. 2004. – B.  Schmidt (Hg.), Materialien zu E. B.s »Prinzip Hoffnung«, Ffm. 32007.

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Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit

Hans Blumenberg * 13. 7. 1920 Lübeck, † 28. 3. 1996 Altenberge; Philosoph mit wichtigen Beiträgen zum Selbstverständnis der Neuzeit.

Die Legitimität der Neuzeit EA Ffm. 1966; 21988 (erw.).

Im Mittelpunkt dieses Werkes steht das Begriffspaar »theologischer Absolutismus« und »humane Selbstbehauptung«; Ersterer wird dem spätmittelalterlichen Nominalismus und Letztere der gesamten Neuzeit  zugeordnet. – Theologischen Absolutismus nennt B. den spätmittelalterlichen Glauben, dass Gott eine uneingeschränkte Willkürmacht sei und souveräne Willkürfreiheit habe. Gott kann mit der Welt machen, was ihm beliebt, wodurch diese selbst unberechenbar und ungewiss wird. Das forderte die Menschen heraus, ihr Geschick selbst in die Hand zu nehmen und die Welt den eigenen Bedürfnissen gemäß verfügbar und beherrschbar zu machen; sie wurden zu humaner Selbstbehauptung gezwungen. Das verdeutlicht B. an der neuzeitlichen Durchsetzung des Selbsterhaltungsbegriffs, an der Vorherrschaft von Naturwissenschaft und Technik sowie an der Rehabilitierung der im Mittelalter als Laster

diskriminierten Wissbegierde, auch theoretische Neugierde genannt. In der Neuzeit ist sie Antriebskraft der modernen Wissenschaft, mit deren Hilfe sich die Menschen die übermächtige Natur unterwerfen und dadurch ihr Dasein sichern. B. zufolge bekämpften auch Nikolaus von Kues und G. Bruno den theologischen Absolutismus des Spätmittelalters. Allerdings ist Nikolaus weder Vorläufer der Neuzeit noch Vordenker des kopernikanischen Systems gewesen. Seine Philosophie steht noch fest auf dem Boden des Mittelalters. Bruno dagegen gehört auf die Seite der Neuzeit. Die Neuzeit stellt B. zufolge keinen Neuanfang dar, sondern ist der gelungene Versuch einer Antwort auf den theologischen Absolutismus des Spätmittelalters. Darüber hinaus gelingt der Neuzeit die endgültige Überwindung der spätantiken Gnosis, für die eine weltverneinende Grundhaltung charakteristisch war. Das Mittelalter ist der erste, misslungene Versuch, die in der Gnosis negativierte Welt zu positivieren. Den geglückten zweiten Anlauf, die Gnosis durch Weltbejahung zu überwinden, stellt die Neuzeit dar. – Beides – Selbstbehauptung des Menschen gegen den theologischen Absolutismus



Bodin: Les six livres de la république 67

und Überwindung der Gnosis – begründet die Legitimität der Neuzeit, die immer wieder der Illegitimität verdächtigt wird. Eine Kategorie, welche die »Unrechtmäßigkeit« der Neuzeit besonders deutlich ausdrückt, ist etwa der Begriff Säkularisierung. Darunter versteht B. die Umformung ursprünglich theologischer Inhalte in weltliche – wie etwa des apokalyptischen Messianismus in politische Heilserwartungen. Solche Umwandlungen werden von vielen modernen Denkern als charakteristisch für die Neuzeit angesehen und als Entstellung ursprünglicher Bedeutungen verurteilt. Säkularisate wie politische Heilserwartungen sind keine entstellenden Verformungen theologischer Ideen, sondern vielmehr deren Ablösung und Ersetzung. Allerdings übernehmen sie die gleiche Funktion wie theologische Auffassungen, an deren Stelle sie stehen. Das christliche Mittelalter hatte Fragen hervorgebracht, die auch nach dem Ende der traditionellen Metaphysik bestehen blieben. Allerdings verfügt die Neuzeit nicht über die erforderlichen Mittel, um diese überzeugend zu beantworten. Alle neuzeitlichen Ersetzungen theologischer Gehalte des christlichen Mittelalters bieten nur Surro-

gate, weshalb regelmäßig zu einer Wiederbelebung religiösmetaphysischer Vorstellungen aufgerufen wird. Nicht so B., der die vom Christentum hinterlassenen höchsten Fragen für überzogen hält, da sie der Wirklichkeit nicht angemessen sind. Deshalb kommt es seiner Ansicht nach darauf an, das überdehnte Sinn- und Wissensbedürfnis einzuschränken; dann wird die Neuzeit auch nicht länger als unberechtigt erscheinen. – B.s Legitimität der Neuzeit hat in den 1970er Jahren eine heftige Diskussion in der Theologie ausgelöst. F. J. Wetz Ausgabe: Ffm. 1999. Literatur: O. Müller, Sorge um die Vernunft. H.  B.s phänomenologische Anthropologie, Paderborn 2005. – F. J. Wetz, H. B. zur Einführung, Hbg. 2011.

Jean Bodin * 1529/30 in Banchais bei Angers, † 1596 in Laon; prägte den Begriff der ›Souveränität‹ und gilt neben Hobbes als wichtigster Theoretiker des Absolutismus.

Les six livres de la république (frz.; Sechs Bücher über den Staat), EA Paris 1576.

B.s umfangreiches staatsphilosophisches Hauptwerk kann

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Bodin: Les six livres de la république

als Reaktion auf den religiösen Bürgerkrieg im damaligen Frankreich, der in der Bartholomäusnacht kulminierte, verstanden werden. Der unumkehrbaren religiösen Pluralisierung setzt B. in seiner Schrift die alleinige Souveränität des säkularen Staates entgegen. – Der Staat bzw. die Republik wird definiert als rechtmäßige souveräne Regierung über eine Vielzahl von Familien und die ihnen gemeinsamen Dinge. Diese Definition enthält die Hauptelemente von B.s Staatslehre: die Familien, die gemeinsamen Dinge und die Souveränität der rechtmäßigen Regierung. Mit dem direkten Bezug der Regierung auf die Familien schaltet B. ein weitverzweigtes Geflecht innerstaatlicher Nebengewalten aus. Unter gemeinsamen Dingen versteht B. Eigentum, aber auch Sitten, Gebräuche und Rechtsauffassungen. Die Souveränität definiert B. als die absolute und dauernde Gewalt eines Staates. Diese Staatsgewalt kann nicht in Teilen und nicht befristet übertragen werden. Sie ist nur dem göttlichen und dem natürlichen Recht verpflichtet und äußert sich in der Macht des Souveräns, Gesetze zu erlassen, ohne die Zustimmung anderer einzuholen. B.s Staatsformenlehre kennt

die Staatsformen Demokratie, Aristokratie und Monarchie. Daneben unterscheidet B. drei Regierungsformen, weil jede Staatsform ihrerseits demokratisch, aristokratisch oder königlich regiert werden kann. Weiterhin unterscheidet B. nach den Eigentumsverhältnissen legitime, despotische und tyrannische Regierungsarten. Dieses differenzierte begriffliche Instrumentarium soll die Annahme gemischter Staatsformen überflüssig machen. B. präferiert die legitime  aristokratische Monarchie, der auch die Mehrzahl seiner Beispiele entstammt. Sie kommt seinem Prinzip der Harmonie am nächsten. Vor dem Hintergrund der Annahme, dass Gott über alle Dinge mittels der Zahlen verfügt, postuliert B., dass eine »harmonische Gerechtigkeit« auch das gesamte Leben im Staat durchwalten soll. An ihr muss sich sowohl die Ämtervergabe wie die Rechtsprechung orientieren. – B.s Schrift fand schnell Verbreitung in ganz Europa. In der politischen Praxis diente seine Souveränitätslehre dazu, die Ansprüche imperialer, religiöser und innerstaatlicher Nebengewalten abzuwehren. Auch bereitete sie der klas­ sischen Epoche des Völkerrechts und Versuchen zur ju-



Boethius: De consolatione philosophiae 69

ristischen Einhegung des Krieges den Weg. Zuletzt wurde bei Diskussionen über die politische Zusammenarbeit in Europa auf sie verwiesen. In der ­politischen Philosophie  trug B.s Souveränitätslehre wesentlich zur Herausbildung des ­ modernen Staatsbegriffs bei. Sie war von Grotius und Hobbes über Rousseau und ­ Kant bis hin zu Rawls und zu neueren Theorien des gerechten Krieges äußerst wirkungsreich, wenn auch teilweise als Gegenstand von Abgrenzung und Kritik. B.s Harmonielehre ist dagegen weitgehend vergessen. Die berühmte Formulierung in  der lateinischen Ausgabe von B.s Schrift, der Souverän sei legibus solutus (›der Gesetze entbunden‹), gab der Epoche des Absolutismus ihren Namen. T. Hitz Ausgaben: Frz., Aalen 1961 (ND der Ausg. Paris 1583). – Dt., Ü.: B.  Wimmer, 2 Bde., Mchn. 1981/86. – Engl., The Six Books of a Commonweale, Ü.: R.  Knolles, Cambr. 1962 (ND der Ausg. Ldn. 1606). Literatur: H. Denzer (Hg.), J.  B. Verhandlungen der internationalen B.-Tagung, Mchn. 1973. – Q.  Skinner, The Foundations of Modern Political Thought, 2  Bde., Cambr. 1978. – P. Mayer-Tasch, J. B., Stgt. 2011.

Anicius Manlius Torquatus Severinus Boethius * um 480 in Rom, †  um 524 in Pavia; spätrömischer Staatsmann und Philosoph, Vertreter des Neuplatonismus.

De consolatione philosophiae, libri V

(lat.; Vom Trost der Philosophie, 5  Bücher), entst. um 523; ED Nürnberg 1473 (dt.); Savigliano um 1474 (lat.).

B. schrieb das Werk, das der antiken Trostliteratur zuzuordnen ist, während er im Gefängnisturm zu Pavia auf die Vollstreckung seines Todesurteils wartete, als Dialog zwischen ihm und der Frau Philosophia. Zu Beginn verschafft er seinem Leid in einem elegischen Gedicht Ausdruck, bis ihm die Seelenärztin Philosophia erscheint, um ihm wieder Mut und Hoffnung zu geben: Das tatsächliche Ziel des Menschen ist die Erkenntnis der Wahrheit, somit rührt B.’ wahres Leid von der mangelnden Erkenntnis seiner selbst und des Endzwecks aller Dinge her; es besteht aber Hoffnung auf Genesung des Kranken, da er erkannt hat, dass die Welt von Gottes Weisheit regiert wird (1.  Buch). Philosophia wirft ihm vor, sich Fortuna und da-

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Boethius: De consolatione philosophiae

mit der Unbeständigkeit anvertraut zu haben (2.  Buch). Da irdische Güter wie Reichtum, Würde, Macht wandelbar und zufällig sind und Fortuna den Menschen wieder fallen lässt, soll sich dieser auf die beständigen und damit eigentlichen Güter konzentrieren, die in ihm selbst liegen, in den Tugenden und dem geistigen Wert der unsterblichen Seele. In Gott, dem Ziel aller Dinge und dem höchsten Gut, befindet sich die vollkommene Glückseligkeit (3.  Buch). Der Weg zum wahren Glück des Menschen besteht daher in der Suche nach Wahrheit und sittlichem Wert in seinem Innern, wobei Gott als Ursprung und Ziel aller Dinge miteinbezogen werden muss. Im 4.  Buch klärt Philosophia nun die Fragen, wie das Böse in einer zum Guten geschaffenen Welt zu existieren vermag und wie es unbestraft bleiben kann. Das Böse besitzt ihr zufolge nur scheinbar die Oberhand, auch bestimmt nicht der Zufall unseren Lebenslauf, sondern Gott; das Schicksal des Einzelnen ist Teil des nicht leicht zu durchschauenden göttlichen Gesamtplans. Das Glück eines Bösen ist trügerisch und nicht von Dauer, denn auf ihn wartet die gerechte Strafe. Dagegen besitzt das Unglück des Gu-

ten einen tieferen, therapeutischen Sinn: Durch den Kampf mit seinem Geschick übt und läutert er seinen Geist. Das 5. Buch ist der Frage nach der Vereinbarkeit der göttlichen Vorsehung mit der Willensfreiheit des Menschen gewidmet. B. beschränkt ihren Vollbesitz auf Gott; bei größerer Nähe zu ihm nimmt der Grad der Freiheit zu, mit der Entfernung von ihm, d. h. der größeren Verhaftung in der Körperlichkeit, ab. Somit besitzt die menschliche Seele die größte Freiheit, wenn sie auf Gott gerichtet ist, und die größte Unfreiheit, wenn sie sich von den Lastern leiten lässt. Gott schränkt die Freiheit des menschlichen Handelns nicht ein, sondern lässt den Menschen im Wissen um seine Handlungsmöglichkeiten frei entscheiden. Gott sieht jedoch sowohl das Geplante als auch das Vollbrachte. Mit dem Aufruf an den Leser, den Lastern zu widerstehen und die Tugenden zu pflegen, beendet B. seine Abhandlung. – Das neuplatonisch geprägte Werk wurde als eines der meistgelesenen Bücher im Mittelalter vielfach übersetzt und kommentiert und hat die scholastische Philosophie stark beeinflusst, besonders durch die Definition des Menschen als »vernünftiges Tier« (rationale animal, Buch 1



Bolzano: Wissenschaftslehre 71

und 5), durch die Formulierung des Universalienproblems (Buch  5) und durch die Bindung der Erkenntnis an die Fähigkeit des Erkennenden. Die Diskussion des Verhältnisses von Freiheit, Schicksal und Vorsehung hat bis in die Renaissance fortgewirkt. M. Lieber Ausgabe: Lat./dt., Hg. und Ü.: E. Gegenschatz/O. Gigon, Zürich/ Mchn. 1990. Literatur: J. Gruber, Komm. zu »De consolatione philosophiae«, NY/ Bln. 22006.

Bernard Bolzano * 5. 10. 1781 in Prag, † 18. 12. 1848 in Prag; Vorläufer der modernen, analytisch orientierten mathematischen Logik.

Wissenschaftslehre. Versuch einer ausführlichen und größtentheils neuen Darstellung der Logik mit steter Rücksicht auf deren bisherige Bearbeiter EA Sulzbach 1837 (4 Bde.).

Die Wissenschaftslehre (WL) wurde ursprünglich als Einleitung zu einem Werk über die Größenlehre geplant. Sie umfasst in streng systematischer Form die gesamten Ergebnisse der logischen, methodologischen und erkenntnistheoretischen Untersuchungen, die

B. als Versuch einer Neubegründung der mathematischen Erkenntnis auf der Basis einer erneuerten Logik ausführte. In Bezug darauf muss also die Überwindung des radikalen Skeptizismus – in der doppelten Gestalt des ontologischen und des epistemologischen – im Rahmen einer Theorie der Wissenschaft, die als System der gesamten wahren Erkenntnisse auftreten will (vgl. WL  I, §§ 30–33), eine zentrale Rolle spielen. – Die WL besteht aus fünf Teilen. In der »Fundamentallehre« (WL  I, §§ 17–45) geht es um das Dasein von Wahrheiten an sich, d. h. von wahren Sätzen an sich und deren Erkenntnis. Ein Satz an sich kann entweder falsch oder wahr sein und besteht aus subpropositionalen Bestandteilen, die B. Vorstellungen an sich nennt. Im Kontext der »Elementarlehre« (WL  I–II, §§ 46–268) untersucht B. die formalen Möglichkeitsbedingungen jeder Vorstellung und jedes Satzes an sich. In dieser Hinsicht fällt die Elementarlehre mit der heutigen formalen Logik zusammen. Ein Satz an sich existiert nicht konkret in Raum und Zeit und lässt sich deshalb nicht mit gegenständlichen, sprachlichen Mitteln oder psychischen Gegenständen identifizieren. Daraus

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Bolzano: Wissenschaftslehre

ergibt es sich, dass alle Sätze an sich ein von psychischen Gegenständen unabhängiges Dasein besitzen. Im Sinne B.s ist ein Satz an sich eine Folge von Vorstellungen an sich, die aber selbst keine Sätze an sich sind. Eine Vorstellung an sich kann entweder gegenstandslos oder gegenständlich, entweder einfach oder komplex sein. Einfache Vorstellungen, die sich von sprachlichen Ausdrücken unterscheiden, sind z. B. die durch die Worte ›nicht‹, ›und‹, ›etwas‹, ›sein‹, ›haben‹ gekennzeichneten logischen Konstanten. Eine komplexe Vorstellung kann ihrerseits durch eine Definitionskette ausgedrückt werden. B. legt an dieser Stelle drei wichtige Stücke seiner Logik dar: 1. die Reduktionstheorie der Sätze der Umgangssprache auf gewisse kanonische Sätze, 2. die Variationslogik, der gemäß sich der Wahrheitswert eines Satzes an sich bei Variation von gewissen Elementen ändern kann, 3. seine Beweistheorie, die auf die sog. »Abfolge-Relation« eingeht. In der »Erkenntnislehre« (WL  III, §§ 269–321) analysiert B. die subjektiven Vorgänge des Vorstellens, des Urteilens, des Meinens und des Wissens. Ein Urteil hat sein Dasein nicht für sich, sondern seine Existenz liegt konkret im

Geist des gerade beurteilenden Menschen. Jedes Urteil, insofern es einen Satz an sich enthält, ist die Form einer Erkenntnis im Allgemeinen; es ist das Fürwahrhalten eines Satzes an sich. Der 4.  Teil (WL  III, §§ 322–391) über die »Erfindungskunst« oder Heuristik behandelt die Regeln für das zweckmäßige Verhalten bei der Suche nach der Wahrheit. Der 5. und letzte Teil (WL IV, §§ 392–718) ist der »eigentlichen Wissenschaftslehre« gewidmet. Hier wird die Logik als Theorie der Wissenschaft ausgelegt. Als Wissenschaftslehre ist die Logik eine Metatheorie, die das gesamte Gebiet der Wahrheiten an sich systematisch zu klassifizieren versucht. – Obwohl B. in der Spätmoderne fast unbekannt blieb, übte sein Hauptwerk laut seines antipsychologistischen Ansatzes einen entscheidenden Einfluss auf das logisch-phänomenologische Werk Husserls aus und insbesondere auf die Ausarbeitung der Methoden der eidetischen Reduktion. B. wurde später von Otto Neurath als einer unter den wichtigsten Vorläufern des Wiener Kreises gepriesen. F. Valerio Ausgabe: GA, Reihe 1: Schriften, Bde.  11–14, Hg.: J.  Berg, Stgt.Bad Cannstatt 1985–2000.



Bradley: Appearance and Reality 73

Literatur: F. Voltaggio, B.  B. e la dottrina della scienza, Milano 1974. – S.  Dähnhardt, Wahrheit und Satz an sich. Zum Verhältnis des Logischen zum Psychischen und Sprachlichen in B. B.s Wissenschaftslehre, Pfaffenweil 1992. – E. Morscher, B. B.’s Life and Work, Bonn 2008.

Francis Herbert Bradley * 30. 1. 1846 in Clapham (Surrey), †  18. 9. 1924 in Oxford; einfluss­ reichster Vertreter des Britischen Idealismus.

Appearance and Reality. A Metaphysical Essay

(engl.; Erscheinung und Wirklichkeit. Ein metaphysischer Versuch), EA Ldn. 1893.

B. versteht sein metaphysisch-erkenntnistheoretisches Hauptwerk als »an attempt to become aware of and to doubt all preconceptions« wider den dogmatischen Individualismus seiner Zeit. Appearance and Reality demonstriert eine originäre kritische Rezeption der Philosophie Kants und Hegels und ist ein Versuch, die Welt als ein Ganzes, als »Realität« im Gegensatz zu bloßer Erscheinung zu begreifen. – Im kürzeren 1.  Buch (Appearance) verwirft B. Begriffe wie ›Raum und Zeit‹, ›Kausalität‹, ›Ding‹, ›Ich‹ als ungeeignet für das philoso-

phische Verständnis der Welt. Sie arrangieren das der »unmittelbaren Erfahrung« noch als »vieles in einem« (many in one) Gegebene in Qualitäten und Relationen; ein zwar praktisch notwendiger, theoretisch jedoch nicht durchschaubarer Kompromiss. Dieser Makel betrifft nach B. das Denken selbst: Denken ist ihm zufolge »Denken von«: Ein unmittelbarer Zusammenhang wird in Charakter/das »was« (what) und Existenz/das »dass« (that) auseinandergekoppelt. Diese Relation kann vom Denken nicht selbst in eine Einheit transzendiert werden, daher können seine Begriffe immer nur Erscheinungen erfassen. – Der negative Befund wird im 2.  Buch (Real­ity) nur wenig abgemildert. Dem Kriterium konsistenter Allumfassendheit, die das Absolute verkörpert, kann vom Denken nicht entsprochen werden, ohne dass es sich selbst als Denken aufhebt, denn Relationalität ist seine conditio sine qua non. Ein vollkommen intellektuelles Begreifen der Welt als eines Ganzen ist uns daher nicht möglich; dasselbe Kriterium zeigt dem Denken jedoch, dass das Absolute nicht außerhalb der Erscheinungen angesiedelt ist, sondern sich in ihnen mehr oder weniger vollkom-

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Brandom: Making It Explicit

men ausdrückt, je nachdem, wie sehr sie dem Kriterium konsistenter Allumfassendheit genügen. Das Denken gelangt so nach B. immerhin zur Erkenntnis seiner selbst als einer Erscheinung der Realität und weiß von seiner eigenen unvermeidlichen Unzulänglichkeit hinsichtlich ihres Begreifens. In diesem skeptischen Wissen um seine eigene Transzendenz im Absoluten ohne ihr vollständiges Begreifen muss das Denken letztlich ruhen. – Der Britische Idealismus wurde in der Folge in toto aufgrund der pauschal unterstellten mutmaßlichen Verbindung mit Hegels Philosophie verworfen; die Vertreter des logischen Positivismus lehnten Metaphysik als sinnlos ab. Erst in den 1970er Jahren begann nach Rortys grundlegender Kritik in → Philosophy and the Mirror of Nature (1979) innerhalb der Analytischen Philosophie eine kritische Auseinandersetzung um die eigenen Gründungsmythen. Das wiedererwachte Interesse an B. brachte Monographien, Sammelbände und eine eigene Zeitschriftenreihe B. Studies hervor; 1999 erschienen die Collected Works, darunter der bis dato unveröffentlichte Nachlass. C. Moser

Ausgaben: Oxfd.  1978 (ND von 2 1897). – Dt., Lpzg. 1928. Literatur: R. Wollheim, F. H. B., Harmondsworth 21969. – R.-P. Horstmann, Ontologie und Rela­ tionen, Königstein (Taunus) 1984. – S.  Candlish, The Russell/B. Dispute and Its Significance for Twen­ tieth Century Philosophy, Basingstoke 2007.

Robert Boyce Brandom * 13. 3. 1950; Schüler Wilfrid Sel­ lars’ und Richard Rortys, einflussreicher Neo-Pragmatist.

Making It Explicit. Reasoning, Representing, and Discursive Commitment

(engl.; Expressive Vernunft. Be­ gründung, Repräsentation und diskursive Festlegung), EA Cambr. (Mass.) 1994.

B. vertritt die These, dass sprachliche Ausdrücke aufgrund dessen einen bestimmten Gehalt haben, dass sie in bestimmter Weise gebraucht werden sollten. Dieser Gebrauch besteht in einem Spiel des Gebens und Forderns von Gründen. Die Züge in diesem Spiel bestehen im Aufstellen von Behauptungen, wodurch der Sprecher sich einerseits auf weitere Behauptungen festlegt, die aus der ersten folgen, und die er andererseits durch weitere Behauptungen begründen



Brandom: Making It Explicit 75

muss, wenn andere Sprecher dies fordern. B. bezieht in dieses Spiel auch Spracheingangsund -ausgangsregeln mit ein, d.  h. man kann Behauptungen auch durch Hinweis auf Beobachtungen rechtfertigen (Spracheingang), und Behauptungen können Sprecher auch auf nicht-sprachliche Handlungen festlegen (Sprachausgang). Der Gehalt einer Behauptung wird nun sowohl durch das bestimmt, was aus ihr folgt, als auch dadurch, woraus sie folgt, bzw. wodurch sie begründet werden kann. – Somit präsentiert B. eine Spielart einer Begriffsrollen-Semantik, also einer Theorie, nach der Behauptungen ihre Bedeutung aufgrund der inferenziellen Rolle haben, die sie spielen. Für derartige Theorien stellt sich die Frage, inwiefern man sagen kann, dass Behauptungen sich aufgrund ihres Gehalts auch auf bestimmte Gegenstände beziehen, um etwas von ihnen auszusagen. In B.s Worten formuliert ist dies die Frage, ob der Gehalt auch eine referenzielle Dimension aufweist, wenn dieser als inferenzielle Rolle erklärt wird. – Um diese Frage behandeln zu können, weitet B. den Begriff der ›Inferenz‹, der ursprünglich eine Relation zwischen Behauptungen bedeutet, so aus, dass man auch

von inferenziellen Beziehun­ gen zwischen singulären Termen, die ja in erster Linie auf Gegenstände referieren, spre­ chen kann. Der weitaus wichtigere Teil von B.s Antwort besteht aber in einem Verweis auf eine intersubjektive Dimension im Spiel des Gebens und Forderns von Gründen. Durch die Aufnahme dieser Dimension unterscheidet sich B.s Variante der Begriffsrollen-Semantik deutlich von anderen. Diese intersubjektive Dimension ist folgendermaßen zu verstehen: Nach B. akzeptieren verschiedene Sprecher verschiedene Inferenzen bzgl. einer Behauptung. Dies hängt damit zusammen, dass Inferenzen zwischen Behauptungen immer empirische Sachverhalte ausdrücken. An dieser Stelle geht ein, dass B. Quines Zurückweisung der Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Sätzen übernimmt und argumentiert, dass es keine Inferenzen gibt, deren Gültigkeit rein auf der Bedeutung der involvierten Behauptungen beruht, sondern immer auch darauf, wie die Welt faktisch beschaffen ist. Da verschiedene Sprecher nun bezüglich empirischer Fragen manchmal verschiedene Meinungen haben, akzeptieren sie auch verschiedene Inferenzen bezüglich einer Behaup-

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Brentano: Psychologie vom empirischen Standpunkte

tung. – Wie B. selbst einräumt, führt dieser Umstand zu einem Problem der Kommunikation. Wenn eine Behauptung für verschiedene Sprecher verschiedene inferenzielle Rollen spielt, hat sie für sie auch verschiedene Bedeutung. Die Folgerung, dass Sprecher immer aneinander vorbeireden, scheint unausweichlich. B. zeigt jedoch, dass Sprecher diese sog. doxastischen Lücken überbrücken und zwischen den verschiedenen inferenziellen Perspektiven navigieren können. Aufgrund der Art, wie dies geschieht, glaubt B. zeigen zu können, dass die singulären Terme, die unsere Behauptungen enthalten, sich auf Gegenstände beziehen. – Durch den Verweis auf die interpersonale Dimension des Spiels des Gebens und Forderns von Gründen will B. außerdem die Objektivität von Gehalten erklären. B. betont, dass es eine objektive Tatsache ist, ob eine Behauptung p aus einer Behauptung q folgt oder nicht, so dass die Gültigkeit inferenzieller Beziehungen nicht durch gesellschaftliche Übereinkunft festgelegt sein kann, da inferenzielle Beziehungen auch dann bestehen können, wenn sie niemand in der Sprachgemeinschaft akzeptiert. – Making It Explicit gehört zu den meist diskutierten Werken

in der gegenwärtigen analytischen Philosophie und wird zudem über die Grenzen des Faches Philosophie hinaus rezipiert, z. B. in den Rechtswissenschaften. Dieses Buch hat zu einem starken Anwachsen des Interesses an (neo-)pragmatistischen Ansätzen geführt. B. Prien Ausgabe: Dt., Ffm. 2002. Literatur: J. Wanderer, R. B., Durham 2008. – J. Wanderer/B. Weiss (Hg.), Reading B., NY 2010. – C.  Barth/H.  Sturm (Hg.), R.  B.s expressive Vernunft, Paderborn 2011.

Franz Brentano *  16. 1. 1838 in Marienberg bei Boppard, †  17. 3. 1917 in Zürich; Philosoph und Psychologe; Begründer der Brentano-Schule.

Psychologie vom empirischen Standpunkte EA Lpzg. 1874 (2 Bücher in 1 Bd.).

Das Werk ist thematisch und inhaltlich einzuordnen in B.s Psychologie des Aristoteles (1867), Deskriptive Psychologie (1982) und Sinnespsychologie (1907). – B. verfolgt vor dem und in kritischer Absicht gegen den zeitgenössischen Hintergrund des Deutschen Idealismus wie des Englischen Empirismus zwei Hauptziele: 1.  die



Brentano: Psychologie vom empirischen Standpunkte 77

Ausarbeitung der »Methode der Psychologie, insbesondere die Erfahrung, welche für sie die Grundlage bildet«, um »an die Stelle der Psychologien […] eine wissenschaftliche Psychologie zu setzen«, 2. die Analyse der im Erleben gegebenen Bewusstseinsphänomene, die Aufdeckung von deren Interdependenzen und den Nachweis der »Einheit, nicht Einfachheit des Bewusstseins«. – Im 2.  Buch des Bandes nimmt B. eine Klassifikation der psychischen Phänomene in 1.  Vorstellungen, 2.  Urteile, 3.  Gemütsbewegungen vor und ersetzt damit die klassische Einteilung in Denken, Fühlen, Wollen. Nach B. sind psychische Phänomene oder Akte »Vorstellungen sowie auch alle jene Erscheinungen, für welche Vorstellungen die Grundlage bilden«. Vorstellungen sind »fundamentale« psychische Akte; Urteile und Gemütsphänomene (worunter auch der Wille fällt) darauf »supraponierte« Akte, die Vorstellungen je zur Voraussetzung haben und diese je einschließen: Nichts kann beurteilt, geliebt oder gehasst werden, ohne vorgestellt zu sein. Urteile und Emotionen sind komplexe Phänomene je eigener Kategorie, nicht bloße Summen von Vorstellungen. Allen psychischen Phänomenen ist ge-

meinsam, dass sie als bewusst, als evident und als intentional wahrgenommen werden. – Von eminenter Bedeutung ist B.s Theorie der »Intentionalität« der psychischen Akte/Funktio­ nen/Phänomene (im Unterschied zur Intention, ein Ziel zu verfolgen). Wer denkt, bezieht sich 1. auf etwas als »primäres Objekt« seines Denkens (z. B. auf Physisches, etwa Farbiges, oder aber auch auf frühere, damit zeitlich modifizierte, eigene geistige Zustände) und dabei 2. auf sich selbst als jetzt denkendes selbstbewusstes (etwa als sehendes) »sekundäres Objekt«. Das Denken ist nicht mit sich allein. Selbst wenn der Gegenstand des Denkens nicht (oder nicht aktuell) existiert, ist er als gedachtes, »immanentes Objekt« objective, »als Objekt«, oder als »Inhalt« des Denkens rein kognitiv »mit da«. Kein Denken ist ohne Inhalt. Betont wird hier 1. die Unterscheidung von »mentaler Einwohnung, Inexistenz« und »Existenz im eigentlichen Sinn«, 2.  die Unterscheidung von »äußerer Wahrnehmung« der »primären Objekte« und der damit einhergehenden, bewussten »inneren, sekundären Wahrnehmung«, einer Wahrnehmung »im eigentlichen Sinn«, 3.  die Differenz und Gleichzeitigkeit von rezeptiv-

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Broad: Five Types of Ethical Theory

intransitiver und transitiver Tätigkeit. Die Wahrnehmung der je eigenen psychischen Akte ist nach B. der »Beginn der für die psychologische Forschung unentbehrlichen Erfahrungen«. Diese innere Wahrnehmung ereignet sich »nebenher«, »unmittelbar«, während der »äußeren Wahrnehmung« von »primären Objekten«. »Innere Wahrnehmung« darf nicht mit »innerer Beobachtung« (mit der sog. »Introspektion«) verwechselt werden, darf auch nicht auf Physisches und auf physiologische Prozesse allein reduziert werden. – B.s philosophische Psychologie ist v. a. Bewusstseinsphilosophie, die den epistemischen Status der inneren Wahrnehmung und ihr vorzügliches Merkmal, die Intentionalität, herausstellt. Durch seine Analysen psychischer Akte gilt B. als Inaugurator der ›Aktpsychologie‹; durch seine »Deskriptive Psychologie oder beschreibende Phänomenologie« als Wegbereiter der Phänomenologie; durch seine Theorie der Intentionalität und der Nicht-Reduzierbarkeit intentionaler Ausdrucksformen als Inspirator der Philosophie des Geistes. W. Baumgartner Ausgaben: Erw. Ausg. von Buch 1 und 2 als 2-bändige Psychologie

vom empirischen Standpunkt, Lpzg. 1924/25; Hbg. 1971/73. – NeuAusg. in 1 Bd.: Psychologie vom empirischen Standpunkt. Von der Klassifikation der psychischen Phänomene, Heusenstamm 2008. Literatur: W. Stegmüller, F.  B., Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, Bd.  1, Kap.  1, Stgt.  71989. – Brentano-Studien III (»Intentionalität«), 1990/91. – E. Baumgartner u. a. (Hg.), Phenomenology & Cognitive Science, Kap.  1, 2, 4 und 5, Dettelbach 1996.

Charlie Dunbar Broad * 30. 12. 1887 in Harlesden (England), † 11. 3. 1971 in Cambridge; Schüler von Bertrand Russel und G.E. Moore, bekannt für seine Beiträge zur Philosophie des Geistes und der Wahrnehmungstheorie.

Five Types of Ethical Theory EA Ldn. 1930.

B.s Five Types of Ethical Theory gibt seiner eigenen Einschätzung nach einen einführenden Einblick in fünf historische Positionen der ethischen Theorie, der sowohl für Laien verständlich als auch für Fachphilosophen geeignet sein soll. Der Grund, aus dem B.s darstellende Einführung in die Ethik bis heute wahrgenommen wird, liegt weniger in der Akkuratheit oder Vollständigkeit seiner Rekonstruktion als in



Broad: Five Types of Ethical Theory 79

B.s außergewöhnlicher Fähigkeit, klassische Positionen der philosophischen Ethik mit analytischen Mitteln nachzuvollziehen, miteinander ins Gespräch zu bringen und einer systematischen Würdigung und Kritik zu unterziehen. – In seiner Abhandlung behandelt B. in chronologischer Reihenfolge die Positionen von Spinoza, Butler, Hume, Kant und Sidgwick. Der philosophischen Darstellung geht ein Kapitel voraus, in dem kurze biographische Skizzen zu den Autoren zu finden sind. Die Auswahl richtet sich einerseits nach dem philosophischen Stellenwert der behandelten Denker. Andererseits will B. ein möglichst breites Spektrum an philosophischen Positionen darstellen, um ein Gesamtbild zentraler Einsichten der philosophischen Ethik zu gewinnen, die jeweils einseitig zu verfolgen zu einer unplausiblen ethischen Theorie führt. – Five Types of Ethical Theory ist nur bedingt als Einführung zu lesen. Vielmals stellt B. die behandelten Positionen nicht nur dar, sondern verfolgt, mit welchen Problemen begriffliche Entscheidungen der Autoren behaftet sind und welche Argumentationsstrategien ihnen womöglich offen stehen. B.s erklärtes Ziel ist es, neben der

Darstellung der Positionen ein Urteil über die in ihnen enthaltenen Wahrheiten und Irrtümer zu treffen und damit selbst einen systematischen Beitrag zur ethischen Theorie zu leisten. So werden in seiner Diskussion der behandelten Autoren B.s eigene philosophische Positionen zur Ethik sichtbar. – In einem Abschlusskapitel fasst B. die systematischen Einsichten aus der Beschäftigung mit den historischen Positionen aus seiner Abhandlung zusammen. B. nimmt an, dass es notwendige Propositionen gibt, die ethische mit nicht-ethischen Merkmalen verbinden. Er weist jedoch den ethischen Naturalismus zurück, d. h. er bestreitet, dass ethische Merkmale auf außerethische (B. nennt hier biologische, theologische und psychologische) Merkmale im Sinne einer Reduktion zurückzuführen sind. – In Abgrenzung von naturalistischen Theorien versteht B. ›richtig‹, ›sollen‹ oder ›gut‹ als Begriffe eigener Art, wobei er gleichzeitig glaubt, dass die Vernunft nur unter bestimmten empirischen Bedingungen dazu gelangt, ein Verständnis dieser Begriffe auszubilden. Insofern sind ethische Urteile in einer Hinsicht unabhängig vom ethischen Empfinden, weil dies nicht Teil ihres Gehalts ist. Das Treffen

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Broad: Mind and Its Place in Nature

ethischer Urteile geht aber mit bestimmten Empfindungen einher. – B. verwehrt sich gegen zwei Formen ethischer Vereinfachung. Zum einen argumentiert er gegen Theorien, die ethisches Sollen auf ein einziges Grundprinzip zurückzuführen versuchen. In diesem Sinne monistische Theorien verfehlen seiner Ansicht nach die Komplexität ethischer Phänomene. Des Weiteren weist er den Versuch der Bestimmung des Richtigen über das Gute zurück. Er deutet umgekehrt eine Analyse des Guten über die jeweils angemessene Einstellung (fitting attitude) an. Dass etwas gut ist, bedeutet in dieser deontologischen Bestimmung, dass ein Urteilender Grund hat, es wertzuschätzen, wenn er mit dessen außerethischen Merkmalen hinreichend vertraut ist. – Im Laufe seiner Untersuchung werden eine Reihe von Unterscheidungen und Begriffsverwendungen durch B. eingeführt oder geprägt (etwa zwischen deontologischen und teleologischen Ansätzen), die noch in der gegenwärtigen ­Metaethik vorzufinden sind. S. Derpmann Ausgabe: Ldn. 2000. Literatur: P. Schilpp (Hg.), The Philosophy of C. D. B., NY 1959. – D. Cheney (Hg.), B.’s Critical Essays in Moral Philosophy, NY 1971.

Mind and Its Place in Nature EA Ldn. 1925.

Die aus seinen Tarner Lect­ures von 1923 hervorgegangene Schrift enthält die Grundgedanken B.s zur Frage, wie eine philosophische Theorie über den menschlichen Geist, dessen wichtigstes Definitionsmerkmal Bewusstsein darstellt, konzipiert sein muss, um mit einer physikalistischen Naturauffassung vereinbar zu sein. Den Beweggrund für diese Fragestellung bildet eine Diagnose des philosophischen status quo: Denn laut B. führen viele der bisherigen Verhältnisbestimmungen zu revisionären Konsequenzen – entweder müssen unsere gängigen Überzeugungen über den menschlichen Geist oder unsere Konzeption der ihm äußerlichen Natur aufgegeben werden. Methodisch führt B. diese These an nicht weniger als siebzehn verschiedenen Bestimmungen des Verhältnisses von mentalen und physikalischen Zuständen aus. Dabei ergibt sich seine Taxonomie aus vier Überzeugungen über das Wesen des jeweiligen Relatums: Mentale und physikalische Zustände können als eliminierbar, reduzierbar, emergent oder different, d. h.: eigenständig, charakterisiert werden. So betrachtet ergibt



Broad: Mind and Its Place in Nature 81

sich dann aus den verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten eine Vier-mal-vier-Matrix, die der Vollständigkeit halber noch um eine weitere substanzdualistische Position ergänzt wird. Letztendlich, so argumentiert B., kann von diesen siebzehn Optionen aber lediglich ein Bestimmungsversuch überzeugen – nämlich derjenige, in dem mentale Zustände als emergente Zustände aufgefasst werden, die sich aus physikalischen Zuständen ergeben. Dieser Emergenzthese widmet sich B. ausführlich im letzten Kapitel seines Werkes. Dort nimmt er eine zweifache Präzisierung vor: Erstens wird der Emergenzbegriff im Hinblick auf seine semantische Exten­ sion erläutert; zweitens werden die Existenzbedingungen von emergenten Zuständen untersucht. Beide Problembereiche sind nach B. inhaltlich unabhängig voneinander. Wer etwas über die Bedeutung von Emergenz aussagt, trifft noch keine Aussage darüber, ob emergente Zustände tatsächlich existieren. Im Hinblick auf die Bedeutungsfrage fällt B.s Antwort eindeutig aus: Die Tatsache, dass es sich bei mentalen Zuständen um emergente Zustände handelt, reflektiert das Faktum, dass sie nicht identisch mit physikalischen Zuständen

sind. Im Hinblick auf die Existenzfrage ist Broad zurückhaltender, geht aber aufgrund der strukturellen Schwierigkeiten einer eliminativistischen Alternative am Ende dazu über, mentalen Zuständen ein eigenständiges Existenzrecht zuzubilligen. – Zweifellos gehört Mind and Its Place in Nature zu einem der kanonisierten Klassiker in der Analytischen Philosophie. B.s enorme Differenzierungsleistung und die subtile Analyse der Dialektik in der Mind-Nature-Debatte machen das fast 700-seitige Werk für jeden Leser zu einer in­ tellektuellen Herausforderung. In der jüngeren Vergangenheit sind dabei insbesondere seine ontologischen Überlegungen zur Emergenztheorie als möglicher dritter Weg zwischen Reduktionismus einerseits und Dualismus andererseits in den Fokus des philosophischen Interesses gerückt. M. Rüther Ausgabe: Ldn. 2008. Literatur: P.  A.  Schilpp (Hg.), The Philosophy of C. D. B., NY 1959. – K.  Gustavsson, Emergent Consciousness. Themes in C.  D. B.’s Philosophy of Mind, Göteborg 2002.

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Bruno: De la causa, principio e uno

Giordano Bruno * Januar oder Februar 1548 in Nola bei Neapel, †  17. 2. 1600 in Rom (als Ketzer verbrannt); Naturphilosoph der Renaissance.

De la causa, principio e uno (it.; Über die Ursache, das Prinzip und das Eine), EA Venedig (recte Ldn.) 1584.

Im Anschluss an sein Werk La cena de le ceneri, dessen Apologie den ersten Abschnitt dieser 1584 in London entstandenen Schrift bildet, entfaltet B. die philosophische Prinzipienproblematik, aus der seine Philosophie hervorgeht. – In fünf Dialogen werden die Probleme von Entstehen und Vergehen, Aktivität und Passivität, materiellem Substrat und strukturierendem Einheitsprinzip erörtert. Neben der universellen formalen Ursache, der einen Seele des Universums (das allerdings bei B. nur negativ, nicht im eigentlichen Sinne ein Organismus sein kann, da es unendlich ist), gibt es nach B. partikulare formale Ursachen in allen Dingen. Diese Ursachen sind ins Unendliche der Vervielfältigung fähig – ein in De monade (1591) fortgeführtes Thema – und formen in unterschiedlich vollkommener Weise die Dinge. Die bewirkende Ursache, als die Natur selbst,

lockt dabei die formale Ursache gleichsam aus dem Schoß der Materie hervor. Mithilfe des von Cusanus explizierten Theorems Omnia in omnibus kann die Beziehung zwischen dem Einen und dem Einzelnen begründet werden. Die gnostisch-hermetische  The­orie des ›Schattens‹ aufnehmend, lässt B. den ewigen Geist immer mit der Materie als sei­nem Schatten verbunden sein, so dass eine völlige Vernich­ tung der Dinge undenkbar scheint. Stattdessen ist Werden und Vergehen in der Welt blo­ ße Verwandlung: für B. ein gemeinsames Theorem von Sa­ lomo, den Pythagoräern und der epikureischen Atomtheorie. In Kritik am aristotelischen Substanzbegriff wendet sich B. gegen die Vorstellung der aktiven Formung einer passiven Materie. Er begreift die Materie, die er im 3. Dialog »etwas Göttliches« nennt, als etwas, in dem Potenz und Akt in eins zusammenfallen, so dass die Materie aus sich heraus schöpferisch wird. Aus der Identität von Akt und Potenz hat B. später in De l’infinito universo e mondi (1584) die kosmologischen Konsequenzen gezogen: Materie hat, wenn sie nicht als Substrat potenziell gedacht wird, das Begehren, Formen hervorzubringen (Dialog  4).



Campanella: Civitas solis 83

Der 5. Dialog hat das Eine zum Thema, das zwar neuplatonisch gedacht, aber mit unverkennbar immanentistischer Tendenz dargestellt wird. So hat B. auch die cusanische Koinzidenz der Gegensätze (coincidentia oppositorum), die für seine Philosophie eine große Rolle spielt, konkretisiert: Der Zusammenfall der Gegensätze geschieht nicht in einem transzendenten Bereich des Absoluten und Unendlichen, sondern Bestätigungen der Koinzidenz lassen sich überall in der Natur finden. Das Göttliche ist bei B. nichts über der Natur stehendes. – Wenngleich B.s dynamisches Weltbild viele Züge modernen Denkens vorwegnimmt, so darf dennoch nicht übersehen werden, dass es die Art seiner  philosophischen Innova­ tion ist, vorgefundene Elemente zu transformieren. B. hat aus der thomistisch-aristotelischen Tradition, in der er aufgewachsen ist und die er perfekt beherrschte, Themen wie die von der Allgegenwart Gottes, der Materie des Himmels oder der Unendlichkeit Gottes aufnehmen können; während sie dort aber nur partiell oder ablehnend diskutiert worden waren, hat er aus ihnen – bestärkt von seinen hermetisch-neuplatonischen Grundüberzeugungen – eine neue und originäre Theo­

rie geformt. Das Schlagwort vom ›Pantheismus‹ in B.s Philosophie geht besonders auf die Thesen dieser Schrift zurück. F. H. Jacobis Teilübersetzung in der zweiten Auflage seines Buches Über die Lehre des Spinoza hat B.s Thesen 1789 im Zusammenhang mit denen Spinozas (im ›Pantheismusstreit‹) zu einem wichtigen Ferment in der Entwicklung des deutschen Idealismus gemacht. M. Mulsow Ausgaben: It./dt., in: Werke Bd. 3. Ü., Einl. und Komm.: T. Leinkauf, Hbg. 2007. – Engl., Cause, Princ­i­ ple and Unity. And Essays on Magic, Ü.: R. de Lucca, Cambr. 1998. Literatur: P.  R. Blum, G.  B., Mchn. 1999. – M. A. Granada, G.  B. Universo infinito, unión con Dios, perfección del hombre, Barcelona 2002.

Tommaso Campanella *  5. 9. 1568 in Stilo (Kalabrien), †  21. 5.  1639 in Paris; Renais­ sancephilosoph, Metaphysiker und Vertreter einen neuen Naturphilosophie.

Civitas solis Idea republicae philosophiae (lat.; Der Sonnenstaat oder Idee einer philosophischen Republik), entst.  1602; EA Ffm.  1623 (als

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Campanella: Civitas solis

Anhang zu Realis philosophiae epilogisticae partes quatuor, Hg.: ­ T. Adami).

Das utopisch-politische Werk in der Tradition von Platons →  Politeia und Morus’ →  Utopia ist dasjenige von C.s Büchern, das bis heute am stärksten nachwirkt. 1602 entstanden nach dem Scheitern der neapolitanischen Revolte, stellt es C.s Ideal der menschlichen Gesellschaft dar. – In der fiktiven Erzählung eines Genueser Seefahrers wird die Beschreibung des »Sonnenstaates« entfaltet, den der Mann auf der Höhe des Äquators gesehen zu haben vorgibt. Schon die architektonische Anlage des Staates spiegelt die Naturweisheit seiner Bewohner wider; C. hat hier astrologischkosmologische Sachverhalte mit Strukturprinzipien seiner Philosophie verbunden. So besteht die Stadt analog zu den sieben Planetenbahnen aus sieben ineinander liegenden Ringen. Diesen Kreisen sind sieben Bereiche von Wissenschaften und Künsten zugeordnet, und auf ihren Mauern sind – didaktisch wie später bei Comenius im Orbis sensualium pictus (1653/58) – die Grundlagen der jeweiligen Bereiche aufgemalt. In der Mitte thront ein Tempel, in dem der »Meta-

physicus« regiert, eine Verbindung von Papst und Philosophenkönig. Seine »Minister« Pon (Macht), Sin (Weisheit) und Mor (Liebe) sind Chiffren für C.s drei »Primalitäten«; entsprechend stehen sie für die staatlichen Aufgabenbereiche. Die Weise, in der C. diese Strukturen interpretiert, ist bezeichnend für die ›aufklärerische‹ Intention seiner Wissenschaftskonzeption. Pon ist der Kriegsminister, Sin ist ein Beauftragter für Volkspädagogik, denn er sorgt dafür, dass das Wissen von den Naturkräften für alle zugänglich und verständlich ist, da es den Schlüssel zur Politik und zum Nutzen der Bürger bildet. Mor ist für gesellschaftlich-moralische Fragen zuständig. C. entwickelt hier Visionen von Eugenik, Gemeinschaftseigentum und gemeinsamem Besitz der Frauen. Die Kindererziehung soll zu umfassender Bildung führen. Abrisse der Kriegs- und Friedenspolitik, »Ökonomik« im Sinne von haus- und landwirtschaftlichen Fertigkeiten, Diätetik, Jurisprudenz, Reli­ gionsausübung und Astrologie runden das Bild ab. Die Figur des Metaphysicus Sol repräsentiert das philosophisch-theologische Grundwissen, das nach C. hinter der staatlichen Herrschaft stehen soll. Für sie wird



Camus: L’homme révolté 85

zudem ein enzyklopädisches Wissen von der Geschichte der  Völker bis zur Prophetie und Astro­logie verlangt – Spiegel von C.s eigener umfassender Bildung. Der Sonnenkult, den die Chiffre Sol ausdrückt, ist Ausdruck einer Mythologie der Sonne in der Renaissance, in der Licht, Gott, Wissen und Weltzentrum in Übereinstimmung gesehen wurde. – C. hat in seinem Buch die fast unmittelbare Übersetzung seiner Metaphysik in politische Philosophie vorgenommen, was ihm den Vorwurf der realpolitischen Blindheit eingetragen hat. Das Ideal, das hinter dem Entwurf steht, ist ein gesellschaftliches Leben in völligem Einklang mit den Gesetzen und Rhythmen der Natur, wie es in der Ethik von C.s Philosophia realis (1623) begründet wird. – Die Wirkung des Werkes ist ambivalent geblieben. Nachahmung fand es einerseits  in religiös motivierten Utopien wie der Christianopolis Andre­ aes (1619), aber auch in realen Projekten wie dem sog. Jesuitenstaat in Paraguay. Andererseits wirkte es auf kommunistische Gesellschaftsideale, so dass man in C. einen »Vorläufer des Sozialismus« gesehen hat. M. Mulsow

Ausgaben: It., La città del sole, Hg.: L. Firpo, Bari 1997. – Dt., Die Sonnenstadt, Ü.: J.  Ferner, Stgt. 2008. – Engl., The City of the Sun – A Poetical Dialogue, Ü.: D. J. Donno, Berkeley 1981. Literatur: G. Bock, T.  C. Politisches Interesse und philosophische Spekulation, Tbg.  1974. – J. M. Headley, T. C. and the Transformation of the World, Princeton 1997. – G. Ernst, T. C. The Book and the Body of Nature, Dordrecht 2010.

Albert Camus *  7. 11. 1913 in Mondovi (Algerien), †  4. 1. 1960 bei Villeblevin; Schriftsteller und Philosoph, Nähe zum Existenzialismus.

L’homme révolté. Essais

(frz.; Der Mensch in der Revolte. Essays), EA Paris 1951.

Unter Aufnahme des Motivs der Revolte aus seinem → Mythos von Sisyphos untersucht C. die Möglichkeit, wie sich ein nicht nur individuelles Auflehnen gegen ein vornehmlich geschichtliches Schicksal der Unterdrückung und Ungerechtigkeit vollziehen kann, ohne in Nihilismus und Totalitarismus verkehrt zu werden. Dies bedingt neben einer Analyse der Bewegung der Revolte auch eine Auseinandersetzung mit den neuzeitlichen Theo­ rien der condition humaine von

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Camus: L’homme révolté

der Aufklärung über Nietzsche und Dostoevskij bis hin zum Nationalsozialismus und Marxismus. Der bereits im Roman Die Pest (1947) von C. entwickelte atheistische Humanismus im Kampf gegen eine ungerechte und Leid bringende condition humaine bildet dabei den Rahmen der Untersuchung, die in die Skizze eines »mittelmeerischen Denkens«, des Gleichgewichtes zwischen Natur und Geschichte einmündet. – C. sieht in der Revolte zunächst ein solidarisches Element: In der Auflehnung gegen seine Endlichkeit entdeckt der homme révolté eine Gemeinsamkeit der Menschen, die von C. eher appellativ auf eine »menschliche Natur« oder »Würde« zurückgeführt wird. Die Verweigerung des Revoltierenden, sein Nein zu einem als unerträglich befundenen Zustand des menschlichen Lebens, enthält jedoch auch eine Bejahung, die sich ebenfalls auf die »Natur« bezieht, auf etwas, das der homme révolté verletzt und dem Menschen vorenthalten sieht. Freilich handelt es sich dabei um ein »Sein« oder einen »Wert«, der für C. nicht a priori gegeben ist, sondern erst im Vollzug der Revolte entdeckt wird. Im Grunde geht es erneut um die Frage, ob der Mensch ohne Bezug auf religiö-

se Transzendenz oder aufklärerisch-rationalistisches Denken seine eigenen Werte zu schaffen vermag, ohne sich selbst zu verabsolutieren oder den Willen Gottes durch ein geschichtliches Gesetz zu substituieren. C. unterscheidet zwischen einer »metaphysischen Revolte«, in der sich der Mensch gegen seine Lebensbedingungen und die Ziele der Schöpfung auflehnt (bes. Dostoevskij und Nietzsche), und einer »historischen Revolte«, die die Utopie einer gerechten und humanen Gesellschaft als Endziel der Geschichte postuliert. Die metaphysische Revolte erscheint zunächst als eine solche, die angesichts des Todes und der Zerrissenheit des Daseins die Forderung nach Glück und Einheit erhebt und dabei Gott als den Urheber von Tod und Leid herausfordert. Das »Alles ist erlaubt« impliziert die Ursprünge des Nihilismus, den C. in Nietzsches Denken mit seinem Ausgang vom Tod Gottes zugleich prophezeit, angebrochen und vollendet sieht. Nietzsches Gedanken vom amor fati, das Jasagen zu dem, was ist, und sein konsequentes Durchdenken der Umwertung aller Werte implizieren jedoch nicht minder jene Selbstvergöttlichung des Menschen, die C. als eine Mitursache der men-



Camus: L’homme révolté 87

schenverachtenden Geschichte der Revolutionen erkennt. In der historischen Revolte, die für C. mit den Aufklärern und der Französischen Revolution anhebt, sieht er eine Verabsolutierung der Geschichte, die an die Stelle des abgeschafften Gottes tritt. Diesem absolutistischen Geschichtsdenken, das bei Hegel und Marx seinen Höhepunkt erreicht, ordnet die Revolution alles andere unter. Der darin implizierte moralische Nihilismus, den C. bereits Hegel vorwirft, verlegt alle Werte an das Ende der Geschichte und rechtfertigt damit sowohl den individuellen Terror (etwa der russischen Nihilisten des 19. Jh.s) als auch den kollektiven Terror des Nationalsozialismus und des Kommunismus. Die Auflösung des menschlichen Seins in die Geschichte und deren Verabsolutierung pervertieren die Forderung nach Menschlichkeit und Gerechtigkeit: Im Namen eines Reiches des sich vergöttlichenden Menschen sind der Terror und die Unfreiheit gerechtfertigt. Nur in einem Denken des Maßes, das gegenüber der Geschichte wiederum der Natur Beachtung schenkt, sieht C. eine Möglichkeit, dieser Raserei der Geschichte Einhalt zu gebieten. Dem Nihilismus des geschichtlichen

Denkens ist eine Philosophie der Grenzen entgegenzusetzen, die sich an einem letztlich mythisch geprägten Begriff der Natur als solcher wie auch der menschlichen Natur orientiert. Gegen die »deutschen Ideologien« setzt C. ein »mittelmeerisches Denken«, das, inspiriert von Schönheit und Maß, von Grenze und Endlichkeit des menschlichen Seins, allem Absolutismus eine Absage erteilt. – C.’ Kritik am geschichtlichen Denken hat zunächst erbitterte Gegnerschaft hervorgerufen, v. a. diejenige Sartres. Als Konservativer und Illusionär bezeichnet, wurde C. zunächst durch den Neomarxismus der 1960er und 1970er Jahre regelrecht verteufelt. Erst in den Denkfiguren der Nouvelle Philosophie (C.  Glucksmann, B. H. Levy u. a.) sowie im postmodernen Denken bahnt sich eine Renaissance an, die sein unsystematisches Denken allerdings eher in die Reihe der französischen Moralisten stellt. P. Kampits Ausgaben: Paris 2006. – Dt., Ü.: J. Streller, Reinbek 2009. – Engl., The Rebel. An Essay on Man in ­Revolt, Ü.: A. Bower, NY 1991. Literatur: O. Todd, A.  C.: ein ­Leben, Reinbek 1999. – E.  Mairhofer, Das Absurde und die ­Würde des  Menschen: A.  C.’ Denken im ­ rechtsphilosophischen Zusammen­

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Camus: Le mythe de Sisyphe

hang, Innsbruck 1999. – Z.  Bou­ chentouf-Siagh/P.  Kampits, Zur Aktualität von A. C., Wien 2001.

Le mythe de Sisyphe. Essai sur l’absurde

(frz.; Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde), EA Paris 1942.

Ausgehend vom Lebensgefühl und der Erfahrung des Absurden stellt sich C. die Frage, ob der Mensch das Absurde, das aus dem Zwiespalt zwischen dem Sinnanspruch des Menschen und dem Schweigen der Welt entsteht, auszuhalten vermag oder ob der Selbstmord die unausweichliche Lösung ist. – Der seines Haltes in einer religiösen Transzendenz verlustig gegangene Mensch, dem auch die rationalen Denksysteme keine Antwort geben, sieht sich völlig auf sich selbst gestellt und dem Widerspruch zwischen seinem Sinnverlangen und einer bloß faktischen, absurden Welt ausgeliefert. C. verwirft sowohl den leiblichen Selbstmord als Konsequenz wie auch jene Form von Flucht, die er im Sprung in das Religiöse (Kierkegaard) oder in der Rückkehr zur Rationalität  (Phänomenologie) verwirklicht sieht. Die Sehnsucht des Menschen nach Einheit, nach Glück und Übereinstimmung mit sich selbst steht der Zerrissenheit,

Fremdheit und Absurdität des Lebens gegenüber. Die Unausweichlichkeit des Todes und die Ausgeliefertheit an die Zeit verstärken dieses Lebensgefühl ebenso wie das Scheitern aller rational-logischen Erklärungsversuche. C. plädiert nun für eine gleichsam ›positive‹ Konsequenz aus dieser Situation: Gerade im Wegfall von vorgegebenen Sinn- und Wertmustern eröffnet sich die Möglichkeit, Freiheit und Wahrheit neu zu bestimmen. Das vivre le mieux, das qualitativ orientierte Leben, wird durch ein vivre le plus, ein möglichst intensives Leben, ersetzt. Durch die bewusste Annahme der condition absurde erreicht der Mensch eine Klarheit (lucidité) und Ehrlichkeit (honnêteté), die ihn sein absurdes Schicksal annehmen lässt. Nur in der Auflehnung gegen das absurde Geschick zeigt sich Akzeptanz, wie auch die Überwindung des Absurden, die mit einem Zurückweisen des Absoluten einhergeht. Prototypen eines solchen in Auflehnung und Freiheit sich vollziehenden Lebens sind der Verführer Don Juan, der Schauspieler und der Eroberer, von denen jeder auf seine Weise das Problem der Ausgeliefertheit an die Zeit und den Tod löst; Don Juan, indem er die unmögliche ›ewige Liebe‹ durch die unent-



Carnap: Der logische Aufbau der Welt 89

wegte Perpetuierung der gegenwärtigen Erfüllung ersetzt, der Schauspieler, indem er wechselnde Gestalten verkörpert, und der Eroberer, indem er der Hoffnung auf das Ewige die geschichtlich verwirklichte Ständigkeit der Tat entgegensetzt. Noch intensiver wird der Künstler mit diesem Leben im Absurden konfrontiert: Die vergebliche Schöpfung ohne ein Morgen wird zugleich zum Zeichen der Freiheit, Auflehnung und Mannigfaltigkeit. In einer neuen Ausdeutung des Sisyphosmythos formuliert C. ein Paradigma der absurden Existenz: Sisyphos, von den Göttern verurteilt, ewig und vergeblich einen Felsblock einen Berg hinaufzurollen, wird durch das bewusste Akzeptieren seines absurden Geschicks zum Herrn über dieses. Nach C. liegt darin das Glück des dem Absurden standhaltenden Menschen. – C.’ essayistische Abhandlung enthält nur wenig philosophischen Tiefgang, dabei manche unaufgelöste Spannung. Sein Versuch über das Absurde will nicht philosophische Systematik bieten, sondern Möglichkeiten eines Lebens ohne Gott und ohne vorausbestehende Werthierarchien anzeigen. Das auf den Begriff des Absurden gebrachte Lebensgefühl blieb für die

weitere Entwicklung von C.’ Denken, v. a. für die existenzialistischen Philosophen der Nachkriegszeit, bestimmend. P. Kampits Ausgaben: Paris 2005. – Dt., Ü.: V.  v.  Wroblewsky, Reinbek 2006. – Engl., The Myth of Sisyphus. And other Essays, NY 1991. Literatur: P. Kampits, Der Mythos vom Menschen. Zum Atheismus und Humanismus von A.  C., Salzburg 1968. – B. Sändig, A. C., Lpzg.1992. – O. Todd, A. C.: ein Leben, Reinbek 1999.

Rudolf Carnap *  18. 5. 1891 Ronsdorf bei Wuppertal, †  14. 9. 1970 Santa Monica (Calif.); ein Hauptvertreter des logischen Empirismus und Mit­ glied des Wiener Kreises.

Der logische Aufbau der Welt EA Bln. 1928.

Im Anschluss an die von Frege und Russell durchgeführten Bemühungen, die Mathematik auf die Logik zurückzuführen, beabsichtigte C. in seiner Schrift, mit den Mitteln der von Russell für die Grundlegung der Mathematik konzipierten Relationenlogik ein axiomatisches Begriffssystem für die empirischen Wissenschaften zu konstruieren. Es ging ihm darum, die Begrif-

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Carnap: Der logische Aufbau der Welt

fe aller Erkenntnisgebiete auf der Grundlage von solchen Begriffen zu gewinnen, die sich auf etwas unmittelbar Gegebenes beziehen. C. führte diese Aufgabe aus, indem er das Erbe des u. a. von Avenarius und Mach vertretenen Immanenzpositivismus, dem zufolge Empfindungen bzw. Sinnes­daten die reale Basis des in der  Erfahrung  Gegebenen darstellen, mit der Logik Freges und Russells verband. Sein Buch kann dabei als der erste systematisch ambitionierte Versuch gelten, das Programm des Logischen Positivismus zu realisieren. – Auf der Grundlage einer eigenpsychischen Basis, d. h. von subjektiven Erlebnissen, konstruiert C. eine phänomenalistische Sprache, deren Grundbegriffe sich auf sog. »Elementarerlebnisse« beziehen. Als »Elementarerlebnis« bezeichnet C. die Gesamtheit einer uns in einem Augenblick unseres Erlebnisstroms unmittelbar gegebenen Wahrnehmung. Außer den Elementarerlebnissen arbeitet C. lediglich mit der Relation der Ähnlichkeitserinnerung zwischen den einzelnen Elementarerlebnissen, um alle höheren Begriffsklassen zu konstituieren. Seine  Kernthese lautet, dass sich alle wissenschaftlichen Begriffe und Aussagen auf diese Grund­

relation zurückführen lassen. Die Zurückführung komplexer Begriffe auf einfache Begriffe nennt C. »konstitutionale Definition«. Charakteristisch für seine Position ist eine extensionale Sprachauffassung. Als Extension bezeichnet man den Umfang eines Begriffs. Handelt es sich beispielsweise um einen Prädikatsausdruck, ist dessen Extension die Klasse derjenigen Objekte, auf die das Prädikat zutrifft. Im Gegensatz zur bisherigen Auffassung der Logik, nach der nicht alle Aussagen über Begriffe in die Form von Extensionsaussagen gebracht werden können, geht C. davon aus, dass es keine intensionalen, auch den Sinn bzw. Inhalt von Begriffen betreffenden Aussagen gibt und alle Aussagen über Aussagefunktionen extensional sind. Diese These hat C. jedoch später wieder aufgegeben. Den größten Teil seines Buches widmet C. der präzisen Ausgestaltung des geplanten begrifflichen Konstitutionssystems. C.s Grundidee besteht darin, eine Reihe von Regeln zu formulieren, die angeben, wie Aussagen, in denen ein bestimmter Begriff vorkommt, in Aussagen transformiert werden können, in denen statt dieses Begriffs elementare Begriffe vorkommen. Dabei unterscheidet er vier verschiedene Typen



Carnap: Meaning and Necessity 91

von Gegenständen, die sich auseinander konstituieren lassen sollen: »Eigenpsychisches«, »Physisches«, »Fremdpsychisches« und »Geistiges«. C.s Ausführungen zur Konstitu­ tion höherer Begriffsklassen aus den Grundbegriffen bleiben an vielen Stellen lediglich programmatisch. – C. hat das Programm des logischen Aufbaus später verworfen. Als größte Schwierigkeit stellte sich ihm die Wahl einer eigenpsychischen Basis dar. Seine eigene Rechtfertigung, es handle sich bei seinem Verfahren lediglich um einen methodischen So­ lipsismus, hat er später nicht mehr gelten lassen und eine physikalistische Basis gewählt. C. Demmerling Ausgaben: Hbg.  1999. – Engl., The Logical Structure of the World and Pseudoproblems of Philosophy, Illinois 2003. Literatur: K. Brockhaus, Untersuchungen zu C.s »Logischem Aufbau der Welt«, Münster 1963. – M. Friedman, C.’s Aufbau Reconsidered, in: Nous 21, 1987, 521–545. – A.  Richardson, C.s Construction of the World: The Aufbau and the Emergence of Logical Empiricism, Cambr. 1998. – C.  Pincock, A Reserved Reading of C.’s Aufbau, in: Pacific Philosophical Quarterly 86, 2005, 518–543.

Meaning and Necessity. A Study in Semantics and Modal Logic

(engl.; Bedeutung und Notwendigkeit. Eine Studie zur Semantik und modalen Logik), EA Chicago u. a. 1947; 21956 (erw.).

Hatte C. bei seinem Entwurf einer logischen Syntax zunächst von der Bedeutung der Ausdrücke abstrahiert, so traten in den Folgejahren zunehmend semantische Probleme in den Vordergrund seiner Arbeit. Diese semantische Wende in C.s Denken geht v. a. auf die formalsemantische Definition des Wahrheitsbegriffs durch Alfred Tarski zurück. Die Faszination der Ergebnisse Tarskis bestand für die Anhänger des logischen Empirismus darin, dass es diesem gelungen war, einen nicht mehr metaphysischen Begriff von Wahrheit zu explizieren, der gleichwohl mit unseren alltäglichen Intuitionen vereinbar war. C. publizierte in kurzer Folge mehrere Studien zur Semantik (Introduction to Semantics, 1942; Formalization in Logic, 1943), deren letzte, Meaning and Necessity, als die ausgereifteste gelten kann. Von diesem Werk gingen entscheidende Anstöße für die Entwicklung der intensionalen Semantik und der Modallogik aus. – C.

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Carnap: Meaning and Necessity

entwickelt ein Verfahren zur Interpretation der Ausdrücke eines syntaktischen Kalküls. Die an sich bedeutungslosen Symbole der Syntax – C. verwendet den Begriff »Designatoren« – werden nun dadurch interpretiert, dass ihnen von ihnen bezeichnete Entitäten, »Designata«, zugeordnet werden. Um die Beziehungen, die zwischen Designatoren und Designata bestehen können, zu klären, unterscheidet C. grundlegend zwischen der Extension und der Intension von Designatoren und Sätzen. Er knüpft an die semantischen Untersuchungen Freges an, der gezeigt hatte, dass bei der Analyse von Sprache mit Bedeutungen im Sinn eines Bezugs von Ausdrücken alleine nicht auszukommen ist. Die Intension eines Designators gibt nach C. dessen Sinn an, die Extension gibt Auskunft über seinen Anwendungsbereich, d. h. sie gibt an, auf welche Objekte sich ein Designator beziehen kann. Als Intension eines einstelligen Prädikats gilt demzufolge die Eigenschaft, die durch den Prädikatausdruck bezeichnet wird; als Extension die Klasse derjenigen Objekte, die unter das Prädikat fallen. Die Intension eines Satzes wird als die durch ihn ausgedrückte Proposition bestimmt, seine Extension ist

ein Wahrheitswert. Die Intension eines Namens besteht für C. in einem Individualbegriff; seine Extension ist der Gegenstand, der durch den Namen bezeichnet wird. Großen Raum nehmen C.s Überlegungen zu Ausdrücken ein, die sich aus rein logischen Gründen und allein auf der Grundlage semantischer Regeln ganz unabhängig von der Empirie auf etwas anwenden lassen. Dabei geht es C. ebenso um eine Präzisierung seines Grundbegriffs der Intension. Die rein logischen Begriffe sind nach C. Gegenstand der »L-Semantik«, in der die zentralen Begriffe der »L-Wahrheit« (logische Wahrheit), »L-Falschheit«, »L-Implikation« und »L-Äquivalenz« geklärt werden sollen. Einen Sachverhalt, der mithilfe einer Sprache S ausgedrückt werden kann, nennt C. einen »L-Zustand in Bezug auf S«. Für den Satz, der diesen Zustand beschreibt, benutzt C. den Begriff der »Zustandsbeschreibung«. Für die Menge aller L-Zustände, bei denen eine solche Zustandsbeschreibung wahr ist, gebraucht C. den Begriff des »L-Spielraums«. Der Begriff der »L-Äquivalenz« schließlich soll C. dazu dienen, in Bezug auf alle Ausdruckstypen zu einer Bestimmung der Intension zu gelangen. Er lässt sich von der These leiten, dass



Carnap: Scheinprobleme der Philosophie 93

die Kenntnis der Intension eines Ausdrucks die Bestimmung seiner Extension erlaubt, was dann allerdings nicht mehr im Rahmen der L-Semantik geschehen kann. Im letzten Kapitel seines Buches wendet C. seine Unterscheidungen bei der Diskussion modallogischer Probleme an. – Die zweite Auflage enthält als Supplement einige Aufsätze, in welchen sich C. mit kritischen Reaktionen auf sein Werk auseinandersetzt. Hervorzuheben sind die Aufsätze Meaning Postulates und Meaning and Synonymy in Natural Languages, in denen C. v. a. auf Quines Skeptizismus gegenüber seinem Programm reagiert. Obschon C.s intensionale Semantik in ihrer Gesamtanlage von einer Vielzahl bedeutender Sprachphilosophen kritisiert worden ist, erlangte sie innerhalb der Linguistik einen zentralen Einfluss. C. Demmerling Ausgaben: Chicago 1988 (ND der 2. Aufl.). – Dt., Wien 1972. Literatur: W. Stegmüller, Das Wahrheitsproblem und die Idee der Semantik, Wien 1957. – G.  BarElli, Identity, Semantics and Ontology in Carnap, in: Philosophia. Philosophical Quarterly of Israel 16, 1986, 315–331. – W. H. Berge, C. and Translational Indeterminacy, in: Synthese 105, 1995, 115–121.

Scheinprobleme in der Philosophie. Das Fremdpsychische und der Realismusstreit EA Lpzg./Bln. 1928.

In diesem schmalen Bändchen demonstriert C. die metaphysikkritischen Implikationen des Logischen Empirismus. – Im 1. Teil diskutiert C. Probleme der Erkenntnistheorie, insbesondere die Frage nach der Erkenntnis des Fremdpsychischen. Diese Überlegungen gehören in das Umfeld seiner ebenfalls 1928 erschienenen Schrift Der logische Aufbau der Welt. Im 2.  Teil des Buches formuliert er in dezidierter Form ein Sinnkriterium für Aussagen: Aussagen sind nur dann sinnvoll, wenn sie sich empirisch überprüfen lassen, d. h. Bedingungen angegeben werden können, unter denen eine Aussage sich als wahr bzw. falsch erweisen lässt. Aussagen, welche sich nicht im Hinblick auf dieses Kriterium überprüfen lassen, sind C. zufolge sinnlos. Auf der Grundlage dieses Gedankens kommt C. zu der Auffassung, dass die meisten philosophischen Sätze sinnlos sind, da sich für sie keine Verifikationsbedingungen angeben lassen. Viele Sätze halten wir nach C. allein deshalb für Aussagen, weil sie die grammatische Form von Aussagen

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Cartwright: How the Laws of Physics Lie

besitzen. Philosophische Probleme, die mithilfe solcher Scheinaussagen diskutiert werden, nennt C. »Scheinprobleme«. Als Beispiel führt er die Auseinandersetzung zwischen Vertretern des erkenntnistheo­ retischen Realismus und den Anhängern des Idealismus an, in der es für C. kein Krite­rium gibt, das es uns erlaubt, die Frage zu entscheiden, ob die Außenwelt unabhängig von unserem Bewusstsein existiert. Für unsere Praxis erweist sich diese Frage zudem als belanglos. C. fingiert dazu die Situa­tion zweier Geographen, welche die Frage, ob sich ein bestimmter Berg in Afrika befindet, beantworten sollen und die ganz unabhängig von ihrer jeweiligen erkenntnistheoretischen Einstellung beide zu dem gleichen Ergebnis gelangen. – Anfang der 30er Jahre hat C. sein Programm einer Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache weiterentwickelt und v. a. gegen die Philosophie Heideggers gerichtet. C. Demmerling Ausgaben: Hbg.  2005. – Engl., The Logical Structure of the World and Pseudoproblems of Philosophy, Illinois 2003. Literatur: G. Bergmann, The Metaphysics of Logical Positivism, Ldn. 1954. – G. Patzig, Nachwort, in: R.  C., Scheinprobleme in der

Philosophie, Ffm. 1966, 85–136. – M.  Cordes, R.  C.s verschiedene  Scheinproblemkonzeptionen, in: Kri­terion. Journal of Philosophy 25, 2011, 2–18.

Nancy Cartwright * 24. 6.1944 in Pennsylvania; Wissenschaftstheoretikerin, Vertreterin der sog. Stanford-Schule.

How the Laws of Physics Lie EA Oxfd. 1983.

In einer Sammlung von neun Essays (acht davon bereits ­davor oder kurz danach auch anderweitig veröffentlicht; Kap.  8 ist  ein Originalbeitrag  argumentiert C. für einen moderaten Realismus innerhalb der Wissenschaftstheorie: Beobachtbaren wie nur in Theorien angenommenen Entitäten, die in Kausalbeziehungen  zuein­ ander stehen, sowie den sie beschreibenden phänomenologischen Gesetzen soll Faktizität (facticity) zu­kommen; Aussagen darüber zielen auf Wahrheit. Demgegenüber dienen fundamentale naturwissenschaftliche Gesetze, die verschiedene phänomenologische Gesetze systematisieren, nicht der Wahrheitsfindung, sondern wollen lediglich gute Erklärungen geben, die uns etwa bei der Vorhersage von Phäno-



Cartwright: How the Laws of Physics Lie 95

menen helfen. Erklärung  und Wahrheit erweisen sich als zwei ­unterschiedliche Zielvorgaben wissenschaftlicher Theorien, die sich wechselseitig ausschließen: Je mehr eine Theorie erklärt, desto unwahrer wird sie – und umgekehrt. Begründet wird dies mit C.s Bild einer »unordentlichen«, nicht auf wenige fundamentale Gesetzmäßigkeiten wissenschaftlich zu vereinheitlichenden Welt und ihrem Verständnis von ­ ›Erklärung‹. Die Welt verhält sich demnach in so gut wie ­keinem Fall so, wie sie die b­ esten Theorien der ­theoretischen Physik beschreiben. Stattdessen sind für Versuche, kausale Gesetzmäßig­ kei­ten aus fundamentalen phy­ sikalischen Theorien abzuleiten, weitreichende Korrekturen und Zusatzan­nahmen notwendig. Diese müssen gleichsam ›von außerhalb‹ an die Theorie her­ angetragen werden. Als Anwendungsbeispiel nennt  C. das Zusammenspiel unterschiedlicher, über mathematische  Be­ziehungen beschreibbarer Grundkräfte der Natur (Elektromagnetische Kraft, Gra­vitation). Diese führen erst in ihrem gemeinsamen Wirken auf einen Körper zu annähernd korrekten Ergebnissen; der dabei vorgenommenen Vektoraddition der unterschiedlichen Kräfte kommt aber keine

Wirklichkeit zu: »We add forces […]. Nature does not ›add‹ forces. For the ›components‹ of forces are not there, in any but a metaphorical sense, to be add­ed; and the laws that say they are there must also be giv­ en a metaphorical reading.« – Gegen das klassische deduktiv-­ nomologische Erklärungsmodell, nach dem ein Phänomen durch dessen Ableitbarkeit aus allgemeinen Gesetzmäßigkeiten erklärt wird, entwickelt C. das von ihr so bezeichnete »Simulacrum-Modell« der Erklärung: Theorien werden als Modelle verstanden, die nur einige Eigenschaften der Gegenstände, über die sie Aussagen treffen, auch tatsächlich aufweisen. Andere sind rein fiktiv, bloße »properties of convenience«, wie C. in Anlehnung an Paul Grice schreibt. Sie ermöglichen der Theorie die Überführung der von ihr zu erklärenden Phänomene in eine mathematische Form. Dadurch kann sie viele der diese Phänomene beschreibenden phänomenologischen Gesetze unter sich fassen, was einerseits ihre Erklärungskraft erhöht. Andererseits wird sie dadurch bezüglich der Adäquatheit der von ihr getroffenen Vorhersagen ungenau: »If we aim for descriptive ad­ equacy, and do not care about the tidy organization of pheno-

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Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen

mena, we can write better phenomenological laws than those a theory can produce.« – C.s in How the Laws of Physics Lie vertretene Thesen grenzen sich einmal von Vertretern des wissenschaftlichen Realismus wie Carl Gustav Hempel ab. Dessen klassisches Bild einer nach immer stärker vereinheitlichenden Gesetzen strebenden Wissenschaft zur vollständigen Erklärung der Wirklichkeit wird von C. abgelehnt. Andererseits wendet sie sich ebenso gegen mehr dem Antirealismus zugewandte Wissenschaftstheo­ retiker wie Bas van Fraassen: C. verneint dessen Einteilung in beobachtbare und unbeobachtbare Entitäten und seinen Agnostizismus hinsichtlich der Kausalbeziehung. In weiteren Werken wie The Dappled World (1999) und Hunting Causes and Using Them (2007) hat sie ihre Theorie weiterentwickelt und gegen Einwände verteidigt. S. Muders Literatur: M. Paul (Hg.), N.  C.: Laws, Capacities and Science, Münster 1998. – S.  Hart­ mann/C. Hoefer/L. Bovens (Hg.), N.  C.’s Philosophy of Science, NY 2008.

Ernst Cassirer * 28. 7. 1874 Breslau, † 13. 4. 1945 New York; Philosophiehistoriker, Erkenntnistheoretiker und Kulturphilosoph, der Marburger Schule des Neukantianismus entstammend, Vertreter eines ›symbolischen Idealismus‹.

Philosophie der symbolischen Formen EA Bln. 1923–29 (Teil 1: Die Sprache, 1923; Teil 2: Das mythische Denken, 1925; Teil 3: Phänomenologie der Erkenntnis, 1929).

C.s Hauptwerk enthält den groß angelegten Entwurf einer systematischen Philosophie der Kultur im Sinne einer »Morphologie des menschlichen Geistes«. C. bezieht den kritischen Idealismus Kants auf die Totalität des Sinnverstehens. Damit erweist sich das Erkenntnisproblem als ein Sonderfall des Bedeutungsproblems. »Die Kritik der Vernunft wird zur Kritik der Kultur«, d.  h. zu einer Untersuchung der Bedingungen der Möglichkeit des Verstehens. Der durch Goethe inspirierte Begriff des Symbolischen bezeichnet bei C. das gemeinsame Bildungsprinzip aller Bereiche der Kultur. Religion, Sprache, Kunst, Wissenschaft sind ihm zufolge irreduzible »symbolische Formen«. Innerhalb der Symbolfunktion bilden die Dimensio­



Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen 97

nen: ›Ausdruck‹, ›Darstellung‹ und ›Bedeutung‹ ein Koordinatensystem, in welchem sich der Entwicklungsgang jeder symbolischen Form von seinen Anfängen im Mythos bis in die Kultur des 20. Jh.s beschreiben lässt. C. demonstriert dies unter Einbeziehung reichen Materials aus allen Gebieten der Kulturgeschichte. – Dem 1. Teil des Werkes – »Zur Phänomenologie der Sprache« – vorangestellt ist eine programmatische Einleitung, in der C. seinen Plan einer allgemeinen Theo­ rie der geistigen Ausdrucksformen darlegt. Im 1.  Kapitel betrachtet er daraufhin die verschiedenen Ausformungen, welche das Sprachproblem in der Geschichte der Philosophie und Wissenschaft erfahren hat. In vier weiteren Kapiteln wird dann die Entwicklung der Sprache als symbolische Form behandelt. Beginnend als Nachahmung des unmittelbar Gegebenen, gewinnt die Sprache nach C. immer distanziertere, abstraktere Formen bis hin zur Formelsprache der Mathematik und der exakten Naturwissenschaften. Gleichwohl bleibt über alle diese Phasen hinweg die »Wechselbestimmung des Sinnlichen durch das Geistige, des Geistigen durch das Sinnliche« erhalten. – Der 2.  Teil des Werkes – »Das

mythische Denken« – ist der Untersuchung jener geistigen Formung gewidmet, die C. im Anschluss an Hegel als »unmittelbaren Geist« bzw. »sinnliches Bewußtsein« begreift. Der Mythos bildet den gemeinsamen Mutterboden, aus dem »die theoretischen Grundbegriffe der Erkenntnis, die Begriffe von Raum, Zeit und Zahl, oder die Rechts- und Gemeinschaftsbegriffe, […] weiterhin aber auch die einzelnen Gestaltungen der Wirtschaft, der Kunst, der Technik« hervorgehen. Letzteres ist nur dann verständlich, wenn bereits der Mythos »als eine eigene Weise der geistigen Formung erkannt« wird – in seinen Funktionen als »Denkform«, als »Anschauungsform« und als »Lebensform«. Die Welt des mythischen Bewusstseins ordnet sich für C. nicht nach Dingen und Eigenschaften, sondern nach Potenzen und Kräften, Dämonen- und Göttergestalten. In der Struktur des Ritus kommt die Einheit aller Erfahrung zum Ausdruck: Der Handelnde ist identisch mit dem Akt, die Darstellung mit dem Dargestellten. Im Anschluss daran arbeitet C. die eigentümliche Dialektik heraus, in welcher der Mythos die verschiedenen Weisen symbolischer Formung hervorbringt: indem er sich in

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Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen

der Bildwelt offenbart, »beginnt für ihn diese Äußerung selbst zu etwas ›Äußerlichem‹ zu werden, das seinem eigenen Ausdruckswillen nicht adäquat ist«. – Die Aufgabe des 3. Teils des Werkes – »Phänomenologie der Erkenntnis« – liegt in der systematischen Rekons­ truktion der Symbolfunktion. Die drei Teile des Buches, die der »Ausdruckswelt«, der »anschaulichen Welt« und der Welt der »wissenschaftlichen Erkenntnis« gewidmet sind, verfolgen die drei Dimensionen des Sinnverstehens in ihrer immanenten Entwicklung und ihren Vermittlungen. C. zeigt dabei, dass »angefangen von dem schlichten Ausdruckswert der Wahrnehmung und von den repräsentativen Charakteren der Vorstellung, insbesondere der Raum- und Zeitvorstellung, bis hinauf zu den allgemeinen Sinndeutungen der Sprache und der theoretischen Erkenntnis, ein einheitlicher Zusammenhang besteht«. An allen Arten des Symbolischen lässt sich ein gemeinsames Konstituens aufweisen, das C. als »symbolische Prägnanz« bezeichnet, nämlich »die Art […], in der ein Wahrnehmungserlebnis, als ›sinnliches Erlebnis‹, zugleich einen bestimmten nichtanschaulichen ›Sinn‹ in sich fasst«, in dem

sich geistige Bedeutungsgehalte mit konkreten sinnlichen Zeichen verknüpfen. Indem C. diese nicht weiter auflösbare Funktion als Äquivalent für die Kantische Synthesis einführt, sucht er einen neuen philosophischen Ansatz zu begründen. – C. hatte den Plan, das Werk mit einem 4. Teil abzuschließen. Wie die inzwischen veröffentlichten Manuskripte aus diesem Kontext zeigen, wollte er seine Konzeption im Anschluss an Goethes Lehre von den »Urphänomenen« vertiefen und ihr Verhältnis zu anderen zeitgenössischen Richtungen, insbesondere der Lebensphilosophie, systematisch bestimmen. – International gab C. wichtige Impulse für die Semio­tik, die Philosophie des Geistes, die Kunstphilosophie sowie die Kulturanthropologie. In Deutschland wirkte er zunächst als Historiker der Philosophie. Seit Ende der 1980er Jahre zeigt sich auch hierzulande ein Interesse an seiner symboltheo­retischen Konzep­ tion, die zum Ausgangspunkt für neue Ansätze der Kulturphilosophie wurde. W. Gessner Ausgaben: Nachgelassene Manuskripte und Texte, Hbg. 1995 ff., Bd.  1.– Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, Hbg. 2001  ff., Bd. 11–13.



Castañeda: The Phenomeno-Logic of the I 99

Literatur: A.  Graeser, E.  C., Mchn.  1994. – E. W. Orth, Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie. Studien zu E.  C.s Philosophie der symbolischen Formen, Wzbg. 1996. – O.  Schwemmer, E.  C. Ein Philosoph der europäischen Moderne, Bln. 1997. – H. J. Sandkühler/D. Pätzold (Hg.): Kultur und Symbol. Ein Handbuch zur Philosophie E. C.s, Stgt. 2003.

Hector-Neri Castañeda *  13. 12. 1924 San Vicente (Guate­ mala), †  7. 9. 1991 Bloomington (Indiana); Philosoph der analytischen Tradition; Beiträge zur Praktischen Philosophie und deren logischen und methodologischen Grundlagen, v. a. zur Sprachphilosophie, Ontologie und zur Philosophie des Geistes.

The Phenomeno-Logic of the I. Essays on Self-Consciousness

EA Bloomington/Indiana 1999 (postum; Hg.: J.  G. Hart und T. Kapitan).

Dieser Band, acht Jahre nach C.s Tod publiziert, umfasst zehn Aufsätze zur Theorie der Selbstreferenz und des Selbstbewusstseins, von denen neun – Kap. 7 erscheint hier erstmals – zwischen 1966 und 1989 veröffentlicht wurden. Wie die Herausgeber in ihren einleitenden Beiträgen betonen, spiegelt diese Sammlung nur einen Teil von C.s enormer Produktivität

wider, doch liefert die Auswahl einen Überblick über seine Positionen zu den genannten Themenbereichen. Die Texte selbst, vom modernen Klassiker ›He‹: A Study in the Logic of Self-Consciousness über Indicators and Quasi-Indicators und die titelgebende Überblicksdarstellung bis zu I-Structures and the Reflexivity of Self-Consciousness, können nicht nur inhaltlich als repräsentativ für C.s Arbeiten zum Selbstbewusstsein angesehen werden, sondern ermöglichen auch einen lebhaften Einblick in seinen philosophischen Stil sowie seine oftmals bemerkenswert konzisen Definitionen und Argumentationen, denen aufgrund teils eigenwilliger Terminologie und Nomenklatur nicht immer leicht zu folgen ist. – C.s Arbeiten zur Selbstbewusstseinstheorie sind durch die Überzeugung geprägt, dass die Formen der Selbstbezugnahme im Denken und Wollen von Subjekten sich anhand der Struktur und der Logik der sprachlichen Form dieser Selbstbezugnahme studieren lassen. Mit Blick auf das Pronomen ›er‹ untersucht C. die Verwendungsweisen, in denen ›er‹ in indirekter Rede auf selbstbezügliche kognitive Einstellungen oder Akte eines Subjekts Bezug nimmt. Eindeutig werden diese Bezugnah-

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Castañeda: The Phenomeno-Logic of the I

men durch die Schreibweise ›er (selbst)‹ (he [himself]) oder die Notation mit Asterisk: ›er*‹ (he*); beispielhaft ist der Satz: ›Er glaubt, dass er (selbst) Millionär ist.‹ C.s zentrales Anliegen ist es zu zeigen, dass diese besonderen Pronomina der dritten Person (Singular) eine spezifische logische Kategorie bilden, die sich nicht mittels anderer Referenzmechanismen analysieren lässt, und dass die Darlegung dieser Logik Anhaltspunkte für die Logik von Selbstbezugnahme im Allgemeinen liefert. Aufschlussreich ist etwa seine frühe Analyse des  Pronomens ›ich‹, das nach C. referenzielle, ontologische und epistemologische Priorität hat, woraus nicht auf Eigenheiten der Sprachpraxis, sondern auf charakteristische Elemente von Subjektivität und ihrem sprachlichen Ausdruck geschlossen wird. Einen eng damit verbundenen Punkt führt C. im Rahmen seiner Analyse von Indikatoren und QuasiIndikatoren bzw. indexikalischer und quasi-indexikalischer Ausdrücke aus (Kap.  2). Für seine Theorie des Selbstbewusstseins sind die Formen interner reflexiver Bezugnahme zentral, mit der sich ein Subjekt insbesondere im Denken auf sich selbst bezieht und – wie C. es mit dem Terminus

guises (›Gegebenheitsweise‹) ausdrückt – ›sich gegeben ist‹. Bezieht sich etwa ein 60 Jahre alter Philosoph auf seine Kindheit in Guatemala, so kann er dies auf externe Weise tun, wie er sich auf ein beliebiges Kind in Guatemala in den 1930er Jahren bezöge, oder intern und reflexiv, indem er sich selbst als sich selbst zum Gegenstand der Bezugnahme macht. Dieses erstpersönliche Denken, das im Standardfall die besondere Qualität subjektiver Erfahrung im Hier und Jetzt erfasst – womit ein wesentlicher Bezug zur Phänomenologie als Methodenlehre wie als Strömung in der Philosophie des Geistes hergestellt ist –, bezeichnet C. (in Kap.  9) als konstitutives  Merkmal von Personen. Eingebettet ist C.s Selbstbewusstseinstheorie in die Vorstellung einer internen Hierarchie von Bewusstseinsebenen, welche von der niedrigsten Ebene sinnlichen, begrifflich unartikulierten Gehalts bis zu der Stufe des Selbstbewusstseins reicht. Selbstbewusstsein ist demnach durch einen Gehalt bestimmt, der angeeignet wird und der auch die soziale Interaktion zwischen dem Selbst und anderen artikuliert. C. zufolge ergibt sich die Einheit des Bewusstseins, gemessen an diesem Ebenenmodell,



Castañeda: Sprache und Erfahrung 101

aufwärts, sie erklärt sich aber abwärts durch die Integration niedrigerer auf höheren Stufen. – C.s Arbeiten entfalten seit ­ihren Erstveröffentlichungen ihre Wirkung v. a. beim spezia­ lisierten Fachpublikum. Die Komplexität der Problemstellungen und ihrer Bearbeitung durch C., seine analytische Auseinandersetzung mit den Arbeiten seiner Zeitgenossen sowie seine wiederkehrenden Anspielungen auf klassische Themen der Subjektivitätsphilosophie (v.  a. des Deutschen Idealismus) erschweren den unvorbereiteten Zugang. Gleichwohl handelt es sich bei den Aufsätzen dieses Bandes um Meilensteine der neueren Subjektivitätsphilosophie. D. Schweikard Literatur: H.-N. C./J. Tomberlin (Hg.), Agent, Language, and the Structure of the World: Essays Pres­ ented to H.-N. C., With His Replies, Indianapolis 1983. – J. Tomberlin (Hg.), H.-N. C., Dordrecht 1986. – M.  Frank, Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis. Essays zur analy­ tischen Philosophie der Subjektivität, Stgt. 1991. – F. Orilia/W. J. Rapaport (Hg.), Thought, Language, and Ontology. Essays in Memory of H.N. C., Dordrecht 1998.

Sprache und Erfahrung. Texte zu einer neuen Ontologie EA Ffm. 1982.

Die Aufsatzsammlung enthält C.s bedeutendste Arbeiten zur Sprachphilosophie und Ontologie in deutscher Übersetzung. – Die bis auf das Jahr 1967 zurückgehenden Texte sind auf durchgängige Lesbarkeit hin überarbeitet und ergänzt durch ein einleitendes Kapitel zur Methodik der Philosophie, das als Kurzdarstellung seines 1980 erschienenen Buches On Philosophical Method gelesen werden kann. Danach zielt die Philosophie in ihrem Kern auf die Erkenntnis der »allgemeinsten Strukturen der Realität«, zu der sie durch die Untersuchung des Redens über die Welt einen Beitrag leisten kann: Da menschliche Praxis im Großen und Ganzen als erfolgreich gelten darf, darf auch angenommen werden, dass die hierbei eingesetzten Sprachen einen Ansatzpunkt bieten, die ontische Struktur der Welt zu erschließen. – Das nachfolgende Kapitel behandelt die Themen »Sprachliche Kommunika­tion und Subjektivität« in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit. Den Kern der Argumentation bildet C.s Theorie der »QuasiIndikatoren«: Indikatoren wie ›er‹, ›dies‹, ›jetzt‹, ›dort‹ sind

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Castañeda: Sprache und Erfahrung

von der jeweiligen Verwendungsumgebung abhängige Mittel zur sprachlichen Bezugnahme auf Gegenstände, die im Äußerungskontext häufig bereits durch Individuen-Nominatoren oder Kennzeichnungen explizit angeführt sind. Problematisch sind Vorkommnisse von Indikatoren innerhalb intensionaler Kontexte nach Art der indirekten Rede: Sie sind für C. als subjektive Bezugnahme nicht stets salva veritate (i.e. ohne Änderung der Wahrheitsbedingungen) durch Nominatoren ersetzbar, auch dann nicht, wenn diese nach intersubjektiven Kriterien Identisches bezeichnen. So ist etwa in Aussagen wie (1) ›Herr Beutler behauptet, er sei Newton‹ der Ausdruck ›er‹ nicht einfach durch ›Herr Beutler‹ ersetzbar. Nach C.s Vorschlag dient ein Ausdruck wie ›er‹ in solchen Kontexten nicht der Bezugnahme auf einen Gegenstand aus dem Erfahrungsbereich desjenigen, der die Aussage (1) äußert, sondern desjenigen, der in dieser Aussage (indirekt) zitiert wird. Ausdrucksvorkommnisse wie ›er‹ gehören in solchen Kontexten nach C. einer eigenen Ausdruckskategorie an: Sie sind »Quasi-Indikatoren«. Zur eindeutigen Identifizierung werden sie als ›er*‹ (›dies*‹, ›dort*‹

usw.) notiert. »Quasi-Indikatoren« werden als ein Ausdrucksmittel verstanden, mit dem die subjektiven Bewusstseinsinhalte anderer intersubjektiv vermittelt werden können. In ähnlicher Weise wird in Aussagen, die unter Verwendung des Indikators ›ich‹ (wie in ›Ich bin Newton‹) gemacht werden, das subjektive Selbstbewusstsein manifest; mit Aussagen wie (1) ist auch dieses subjektive Selbstbewusstsein intersubjektiv zugänglich. – Das 3. Kapitel entwickelt auf dieser Grundlage eine »Ontologie der Erfahrung«, die auf der sog. »Theorie der Gestaltungen« (guise theory) aufbaut: Das, worauf sich Sprecher mit Indikatoren und »Quasi-Indikatoren« beziehen, sind subjektive Gestaltungen der empirischen Gegenstände und Personen, die aus ihrer je subjektiven Erfahrung resultieren – Gestaltungen sind somit nach C. die eigentlichen Gegenstände des Denkens und der Rede. Solche Gestaltungen sind formal fassbar als Mengen von Eigenschaften, die durch eine »Individuation« genannte Auswahloperation aus umfassenderen Eigenschaftsmengen gebildet werden. In deutscher Standardwiedergabe hat der hierbei eingesetzte »Individuator« die Form: »das Individuum, das als einziges ausschließ-



Castañeda: Thinking and Doing 103

lich […] ist«, wobei in die Leerstelle eine die Eigenschaftsmenge repräsentierende Liste von Adjektiven einzufügen ist. Das 4.  Kapitel (»Gegenständlichkeit und  Wahrnehmungsbewußtsein«) führt diese Ergebnisse weiter aus und bezieht sie in eine philosophische Theorie der Wahrnehmung ein, mit der die Alternative  zwischen Phänomenalismus und Realismus überwunden werden soll. – C.s Konzeption der »Quasi-Indikatoren« und die damit verbundenen Ansätze zu einer Theorie der Subjektivität haben breite Aufnahme in die Debatten der philosophy of mind gefunden. Demgegenüber wird der mit der Theorie der Gestaltungen gegebene Beitrag zur Sprachphilosophie und Ontologie, den C. 1989 in Thinking, Language, and Experi­ ence noch einmal zur Diskussion stellt, gegenwärtig noch kontrovers diskutiert. G. Kamp Thinking and Doing. The Philosophical Foundations of Institutions EA Dordrecht u. a. 1975.

Der hochkomplexe Entwurf einer praktischen Philosophie will eine einheitliche Konzeption von Norm-Systemen (Institutionen), Handlungen und

Handelnden in engem wechselseitigen Bezug entwickeln. Hierbei sollen sowohl logische und semantische als auch ontologische und »metapsychologische« Fragen behandelt werden, wie sie sich aus den realistischen und mentalistischen Hintergrund-Annahmen C.s und seiner Orientierung an einer linguistisch-sprachbeschreibenden Grammatik  ergeben. – Der 1.  Teil (»The Logico-Ontological Structure of the Representational Image of Practical Thinking«) zielt auf die Bereitstellung eines für die Erfordernisse des normativen Räsonierens (practical think­ ing) geeigneten Sprachrahmens.  Hierfür wird in einem ersten Schritt unterschieden zwischen ›Propositionen‹ (propositions) als den wahrheitsfähigen Gehalten deskriptiver Redehandlungen und ›Anweisungen‹ (mandates) als den nicht wahrheitsfähigen Gehalten  präskriptiver Redehandlungen. So wie Propositionen in Behauptungen finden Anweisungen in Befehlen, Aufforderungen, Ratschlägen u.ä. Verwendung. Redehandlungen dieser Art notiert C. in der standardisierten Form ›Befehl/Aufforderung/Ratschlag (X,  tue A)‹. Die Infinitiv-Form mit ›zu‹ in Sätzen wie ›B befiehlt X, A zu tun‹ (›B orders X to do A‹)

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Castañeda: Thinking and Doing

dient als Standardform sog. »Präskriptionen«. Analog enthalten Anweisungen, die ein Autor an sich selbst adressiert (›X fordert X auf, A zu tun‹), Intentionen. Unter Bezugnahme auf Präskriptionen und Intentionen, zusammengefasst als ›Praktitionen‹ (practitions), können sog. normative Urteile (deontic oder auch normative judgements  bzw. normatives) der Form ›X ist es geboten, A zu tun‹ (›X ought to do A‹) gefällt werden. Diese Urteile entsprechen – jedenfalls in einigen ihrer Verwendungen – wahrheitsfähigen Modalaussagen. Da für C. Folgerbarkeits-Beziehungen in einem engeren Sinne nur zwischen (wahrheitsfähigen) Aussagen bestehen können, sind mit den normativen Urteilen die Voraussetzungen für den Aufbau einer deontischen Logik gegeben. Wie in der propositionalen Logik den Aussagen die Bewertungen ›wahr‹ und ›falsch‹ zugeordnet werden, so ordnet C. dann den Anweisungen die Werte ›Legitimität‹ und ›Illegitimität‹ zu und entwirft auf dieser Grundlage eine dem klassischen Folgerbarkeits-Konzept analoge Imperativ-Logik. Beide Varianten, die deontische wie die imperativische Logik, werden dabei analog als modale Quantorenlogiken erster Stufe in

syntaktischer und semantischer Charakterisierung aufgebaut. – Der 2. Teil (»The Meta-Psychology of Practical Thinking: The Action Schema«) stellt den Zusammenhang zwischen dem »praktischen Denken« und den hierdurch angeleiteten Handlungen in den Vordergrund: Das normative Räsonieren ist nach C. stets abhängig von Überlegungen, die auf die Rea­ lisierung von Wünschen bzw. die Befriedigung von Bedürfnissen zielen. Aus ›hypothetischen Imperativen‹ (hypothetical imperatives), die den Handelnden sagen, dass sie A tun müssen, wenn sie dies oder jenes wollen, enthalten letztlich die normativen Ausdrucksteile in normativen Urteilen (etwa ›ist geboten‹) ihre handlungsanleitende Kraft. Und da die Rechtfertigung hypothetischer Imperative notwendig auf ein Wissen über kausale Zusammenhänge in der empirischen Welt zurückgreift, muss auch das normative Räsonieren dieses Wissen einbeziehen. – In diesem Zusammenhang sich ergebende Fragen zum ontologischen Status normativer Denkgehalte (practical noematas) behandelt der 3.  Teil des Werkes (»The Metaphysics of Practical Thinking: The Real­ ity of Doing and of Deontic Properties«): Zwar sind für



Chomsky: Cartesian Linguistics 105

C. die normativen Denkgehalte praktisch auf die empirische Welt bezogen, zugleich aber betont er deren ontologische Unabhängigkeit. Dadurch  soll einerseits der moralische Naturalismus, andererseits der  moralische Intuitionismus zurückgewiesen werden: Normative Gehalte lassen sich einerseits nicht auf propositionale Gehalte reduzieren, andererseits aber ist das Erkennen der normativen Gehalte ein rationales Geschäft. – Der von C. entwickelte Ansatz kommt in vielen Punkten überein mit den unabhängig davon (v. a. im deutschen Sprachraum) entwickelten diskursethischen Konzeptionen. Während diese jedoch die Ergebnisse der Redehandlungstheorie systematisch einbeziehen und somit auf starke Hintergrundannahmen weitgehend verzichten können, sind der praktischen Philosophie C.s v. a. aufschlussreiche Vorschläge für die in der diskursethischen Diskussion  kaum reflektierte Methodik ›praktischer Diskurse‹ zu entnehmen. G. Kamp Literatur: R. M. Chisholm, C.’s Thinking and Doing (Critical Review), in: Noûs 13.3, 1979, 385– 396. – P.  Gärdenfors, Thinking and Doing (Review), in: The Journal of Symbolic Logic 50.1, 1985, 248–250.

James Franklin Childress * 4. 10. 1940 in Mount Airy (NC); Mitbegründer des prinzipienethischen Ansatzes in der Bioethik.

Principles of Biomedical ­Ethics → Tom L. Beauchamp

Avram Noam Chomsky * 7. 12. 1928 in Philadelphia; Linguist und analytischer Philosoph des Geistes und der Sprache.

Cartesian Linguistics. A Chapter in the History of Ration­alist Thought

(engl.; Cartesianische Linguistik. Ein Kapitel in der Geschichte des Rationalismus), EA NY 1966.

Es handelt sich bei diesem Buch um eine philosophiehistorische Untersuchung, mit der C. nachweisen möchte, dass der Gedanke, dass die grundlegende Form der Sprache dem Menschen angeboren ist, in der Tradition der cartesianischen Rationalisten im 17.  Jh. und in der deutschen Romantik im 19. Jh. weit verbreitet war. Der Diskussionskontext dieser Untersuchung ist durch die sog. kognitive Revolution in der Linguistik gegeben, womit die von C. maßgeblich geprägte Etablierung generativer Grammatiken in den 1950er Jahren gemeint ist. Eine generative

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Chomsky: Cartesian Linguistics

Grammatik ist ein Regelsystem, nach dem sich die Sätze einer Sprache aus einzelnen Komponenten (den Wörtern) generieren lassen. Dieses Regelsystem nimmt C. als angeboren an. Diese kognitive Revolution der Linguistik richtet sich gegen eine empiristische Erklärung der sprachlichen Fähigkeiten von Menschen, die in der ersten Hälfte des 20. Jh.s vorherrschend war. Solche Erklärungen versuchen sprachliche Kompetenzen allein durch Konditionierung zu erklären. Nach C. sind sie allerdings unzureichend, weil Kinder viel mehr können und wissen, als die Erfahrung liefert. – Zur Untermauerung seiner Posi­ tion betrachtet C. eine Vielzahl von sprachtheoretischen Untersuchungen, die größtenteils zum Rationalismus des 17. oder zur Romantik des 19. Jh.s gehören. Er möchte zeigen, dass ein mentalistisches Bild des menschlichen Sprachvermögens, das dessen kreativen Aspekt erklärt, historisch akzeptiert war. Diesem Bild zufolge können alle Aspekte des Verhaltens von Tieren durch die Annahme erklärt werden, dass es sich bei ihnen um Automaten handelt. Im Verhalten von Menschen gibt es hingegen einen kreativen Aspekt, der sich am deutlichsten in der

menschlichen Sprache manifestiert. Somit sind Menschen als denkende Wesen fundamental verschieden von Tieren. – Eine Konsequenz dieser Annahme besteht im Postulieren einer universellen Grammatik, wie z. B. Wilhelm von Humboldt es tut. Er spezifiziert den kreativen Aspekt des Sprachgebrauchs als generative Aktivität. Es gibt einen konstanten und gleichförmigen Faktor dieser Aktivität, der die Form der Sprache ausmacht, und der Regeln der Bildung von Sprache und Wörtern beinhaltet. Allerdings lässt W. v. Humboldt C. zufolge eine Reihe von Fragen unbeantwortet, da er den genauen Charakter der organischen Form der Sprache nicht angibt. – Der am weitesten gehende Versuch, den kreativen Aspekt des Gebrauchs von Sprache zu erfassen, findet sich C. zufolge in der Grammatik von Port Royal von 1660, nach der es eine allgemeine Form jeder Grammatik gibt. Es wird hier auch schon eine Unterscheidung zwischen der Tiefen- und der Oberflächenstruktur der Sprache gezogen. Während die erste allen Sprachen gemeinsam ist, unterscheidet sich die zweite von Sprache zu Sprache. Derartige Gedanken weist C. bei einer Reihe von Autoren der rationalistischen als auch der



Cicero: De finibus bonorum et malorum 107

romantischen Periode nach. – C. betont, dass Ansätze dieser Art im Kontrast zur zu Beginn des 20.  Jh.s verbreiteten empiristischen Ausrichtung der Linguistik stehen. Die historische Entwicklung sieht grob gesprochen so aus, dass solche Ansätze im 17.  Jh. weit verbreitet waren, dann durch den Empirismus verdrängt wurden, um später im 19.  Jh. von den Romantikern wiederbelebt zu werden. C. sieht seine eigenen linguistischen Theorien als Weiterführung dieser Tradi­ tion der cartesianischen Linguistik. – C.s Interpretationen historischer Abhandlungen, die in ihnen Grundgedanken und Hintergrundannahmen von ihm selbst vertretener linguistischer Theorien nachweisen sollen, sind verbreitet auf Kritik gestoßen. B. Prien Ausgaben: Cambr.  2009. – Dt., Tbg. 1971. Literatur: U. Keil, Das rätselhafte Sprachorgan, Köln 2004.

Marcus Tullius Cicero *  3. 1. 106 v.  Chr. in Arpinum, †  (ermordet) am 7. 12. 43 v. Chr. bei Formiae; wichtigster Transformator der antiken griechischen Philosophie ins Lateinische, 63.  v. Chr. Konsul der Römischen Republik.

De finibus bonorum et malorum (lat.; Über das höchste Gut und das größte Übel), entst. 45 v. Chr.; ED Köln um 1480.

Thema der fünf Bücher des Dialogs ist die Frage nach dem letzten Ziel bzw. höchsten Gut sittlichen Lebens und richtigen Handelns sowie nach dem schlimmsten Übel (I, 11). Dazu diskutiert C. (der sich als Rollenfigur auch selbst in den Dialog einschaltet) nacheinander die Vorschläge der zu seiner Zeit wirksamen Philosophenschulen: Epikureismus, Stoa und Peripatos, die jeweils erst dargestellt, dann kritisiert werden. − Angelehnt an Epikur wird in Buch  I die Lust (voluptas) als höchstes Gut des Menschen und die These ihrer Vereinbarkeit mit sittlichem Handeln (virtus) verteidigt. Dagegen versucht C. in Buch  II einen prinzipiellen Gegensatz zwischen Lust und Tugend nachzuweisen. Ausgehend von der Selbstzweckhaftigkeit der Tugend (II, 45) wird die epikureische Position, der gemäß tugendhaftes Handeln an die Bedingung der Lust geknüpft ist, zugunsten des Moralischen zurückgewiesen. − Der Stoa gelten nur Tugend und Weisheit als zulässige Bestimmungen des höchsten ­

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Cicero: De finibus bonorum et malorum

Gutes und Grund der Glückseligkeit (III und IV). Daneben gibt es sog. adiaphora, Dinge, die zwar als mehr oder weniger wertvoll erachtet werden, sich aber der ethischen Zuordnung zum Guten und Schlechten entziehen (III, 51). C. weist auf eine Unklarheit hin, die sich aus der so bestimmten moralischen Neutralität der adiaphora ergibt, und stellt die spezifische Differenz der stoischen Lehre infrage: Hängt die Glückseligkeit neben der Tugend von weiteren Gütern ab, verschwindet die Differenz zur Lehre des Peri­ patos. Soll sie nur von der Tugend abhängen, scheint eine rigoristische Position unvermeidbar, die außer Tugend und Laster keine moralisch relevanten Unterschiede kennt und mit der öffentlich zu bewältigenden Praxis unvereinbar ist, für die Werte wie Besitz und Gesundheit gerade nicht gleichgültig sind. C.s Kritik, dass die moralische Pflicht allein der Angewiesenheit auf Triebfedern des Handelns nicht Rechnung tragen kann, berührt zudem ein Problem, das heute in Debatten um moralische Motivation eine Rolle spielt. − Der Peripatos vermeidet diese Probleme, da er außer der Tugend auch Güter wie Gesundheit, Freundschaft und gesellschaft-

liche Stellung als Bestandteile des glückseligen Lebens ansieht (V). Wegen der unvollkommenen Verfügbarkeit des Menschen über diese Güter zielt C.s Kritik hier aber darauf, dass diese Ethik das Erreichen der Glückseligkeit nicht garantieren kann. Der Dialog endet ohne eindeutige Präferenz einer Position. Als akademischer Skeptiker bezweifelt C. die Möglichkeit endgültig wahrer Urteile und beschränkt sich auf Urteile nach Maßgabe der Wahrscheinlichkeit. Allerdings kann man seine generelle Kritik am System Epikurs, die eine Zäsur zwischen dem 1. und 2. Redepaar markiert, von einer partiellen Kritik unterscheiden, nach der die beiden anderen Lehren weder vollständig abgelehnt noch anerkannt werden. Damit bleibt unentschieden, ob eine Verbindung der Tugend mit weiteren Gütern oder nur die Tugend das höchste Gut ausmacht. − Für die antike Philosophie (z. B. Seneca) sind die in De finibus etablierten lateinischen Begrifflichkeiten prägend. Ab dem neuplatonisch-christlichen 4. Jh. n. Chr. verliert C.s Diskussion der drei Philosophenschulen an Aktualität. Petrarca liest C. im 14.  Jh. unter humanistischen Vorzeichen. Kant entlehnt aus De finibus stoische Elemente



Cicero: De officiis 109

für seine →  Kritik der praktischen Vernunft. N. Mooren Ausgaben: Lat./Dt., Über die Ziele des menschlichen Handelns, Komm. und Einführung: O.  Gigon/L.  Straume-Zimmermann, Mchn./Zürich 1988. – Lat./ dt., Stgt. 1989. – Engl., On moral ends, Cambr. 2001. Literatur: K. Bringmann, Un­ ter­ suchungen zum späten C., Gttgn. 1971.

De officiis (lat.; Vom pflichtgemäßen Handeln), entst. 44 v. Chr.; ED Mainz 1465.

De officiis ist Teil der Moralphilosophie C.s und der Darstellung seiner Pflichtenlehre gewidmet. Innerhalb seines sonst in Dialogform verfassten philosophischen Werks stellt der Traktat De officiis die Ausnahme dar. Die Widmung an den Sohn bringt die pädagogische Absicht und den appellativen Charakter der Schrift zum Ausdruck, deren spezifische Adressatengruppe die angehenden Politiker der römischen Oberschicht sind. Sie stellt den Versuch dar, die Lehre des griechischen Stoikers Panaitios über das Sittliche und Nützliche auf die römischen Verhältnisse zu übertragen. C. gilt als Eklektiker, da er stoische mit weiteren Elementen antiker Philosophien (z. B. der akademischen

Skepsis) kombinierte. In der ethischen Grundausrichtung folgt er der deontologischen Ethik der Stoa (I, 6). Für die Bewertung von Handlungen und Personen ist der Bezug auf das sittlich Richtige (honestum) entscheidend. In drei Büchern geht es um die Bestimmung des sittlich Richtigen (Buch I), des Nützlichen (utile; II) und den Konflikt zwischen Sittlichem und Nützlichem (III). − Die Relevanz seines Themas begründet C. in Buch I damit, dass kein Bereich des Lebens frei von Pflichten sei. Sittliche  Ehrenhaftigkeit beruht auf Pflichtbeachtung. C. übernimmt die stoische OikeiosisLehre, nach der dem Menschen nicht nur die Anlage zur Selbstund Arterhaltung gegeben ist, sondern er mit der Pflichtausübung auch die Vernunftnatur realisiert. Die vier Kardinaltugenden (Weisheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Mäßigung) dienen zur Gliederung von Buch  I: Alles Sittliche soll auf einen der vier Bereiche zurückführbar sein. An den ungleich geringeren Ausführungen zur Weisheit im Gegensatz zu den drei ethisch-sozialen Tugenden lässt sich eine Gleichgültigkeit C.s gegenüber der Theorie ablesen. Dies steht in Einklang mit C.s Abwertung der Theorie zugunsten eines Primats der

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Cicero: De re publica

Praxis, der bei Panaitios nicht vorhanden ist. − Nach C. steht das Nützliche (Buch  II) zur Ehrenhaftigkeit in einem syllogistischen Zusammenhang: Da 1. das, was gerecht ist, nützlich sei und 2.  das, was ehrenhaft ist, gerecht sei, müsse 3.  das, was ehrenhaft ist, nützlich sein. C. denkt v. a. an den Politiker, der dauerhaften Eigennutzen nicht ohne das Wohlwollen der Bürger und dieses nur durch Ehrenhaftigkeit erreiche. − Buch  III behandelt den  scheinbaren (bei Panai­ tios nicht behandelten) Widerspruch zwischen honestum und utile. C. bestreitet, dass es sich dabei um einen echten Konflikt handelt, geht aber anhand von Beispielen Zweifeln nach, um die These zu bekräftigen, dass das, was nicht ehrenhaft ist, auch nicht nützlich sein kann. − In der Spätantike war De officiis Vorlage für Ambrosius’ christliche Pflichtenethik; Augustinus griff auf Theorieelemente aus De officiis zurück. In der Neuzeit wurde C.s Moralphilosophie teils abgelehnt (so in Montaignes Essais), teils geschätzt (von Spinoza, der die Oikeiosis-Lehre in seine Ethik integriert). Bedeutsam für die heutige praktische Philosophie ist, dass C.s Ethik anders als rigoristische Pflichtenethiken kontraintuitive Konsequenzen

vermeidet, die aus der Annahme unbedingt geltender Pflichten folgen. An Pflichten ist nicht in allen Fällen ohne Einschränkung festzuhalten. Ihre Geltung ist nach Maßgabe der konkreten Situation zu bestimmen; im Konfliktfall konkurrierender Pflichten ist zugunsten des Gemeinwohls zu entscheiden. Zugleich wird C.s Pflichtenlehre dem Prinzip ethischer Nichtüberforderung gerecht, da es C. gelingt, eine gemäßigte Version stoischer Ethik zu entwerfen, die anders als die Ethik der alten Stoa nicht allein an ethische Ausnahmeakteure adressiert ist. N. Mooren Ausgaben: Lat./dt., Stgt.  1980. – Engl., On obligations, NY 2001. Literatur: E. Lefèvre, Panaitios’ und C.s Pflichtenlehre, Stgt. 2001.

De re publica (lat.; Vom Gemeinwesen), entst. 54– 51 v. Chr.; EA Rom 1822.

De re publica gehört zu den  praktisch-philosophischen Schriften C.s und widmet sich in Anlehnung an Plato der Frage nach dem idealen Staat. Das Werk galt lange, abgesehen von  Fragmenten, als verschollen, große Teile des Buches wurden 1820 in der Bibliothek des Vatikans aufgefunden, so dass heute etwa ein Drittel



Cicero: De re publica 111

des  Textes überliefert ist. Die römische Republik befand sich zur Abfassungszeit durch die Herrschaft des 1.  Triumvirats bereits in einer schweren Krise, der C. mit seiner Abhandlung entgegentreten wollte. Die Schrift verknüpft dabei praktische politische Kenntnisse, wie sie auch C. besaß, mit einer Umwandlung griechischen Philosophierens für römische Zwecke. C. fingiert im Proömium einen Dialog, von dem er gehört haben will und an dem geachtete römische Staatsmänner teilgenommen haben sollen, die sich im Jahre 129 v. Chr. an drei Tagen, zurückgezogen auf dem Lande, über den Staat verständigt haben. Dieses Gespräch selbst wird in den 6 Büchern des Werkes dargestellt. Zentrale Figur der Gespräche ist Scipio Africanus (185–129 v.  Chr.), der sowohl ein geachteter Staatsmann und Militär war als auch als offen gegenüber der griechischen Kultur galt und damit zum einen dem Staatsmannideal C.s gleichkommt, zum anderen als exemplarisch für C.s Ziel, griechische Philosophie und römische Lebensform zu verknüpfen, gelten kann. Von den sechs Büchern entfallen jeweils zwei auf einen der drei Tage, an  ­ denen das ­Gespräch stattfindet. Das

1. Buch betont die Bedeutung der praktischen  Tätigkeit gegenüber der bloßen Theorie und handelt die Vor- und Nachteile der drei  Staatsformen, Demokratie, Monarchie und Aristokratie, sowie deren Entartungen ab. Als bestmögliche Verfassung entpuppt sich eine Mischverfassung, wie sie sich in Rom  auch tatsächlich ausgeprägt habe. Da zu Zeiten  der  Publikation von C.s Schrift diese Verfassung nicht mehr gegeben war, markiert diese Ansicht eine Kritik an der Politik der Triumvirn. Das 2.  Buch bestimmt den Menschen als Mängelwesen, der auf  die Gemeinschaft angewiesen sei, und bietet eine historische Aufarbeitung der römischen Geschichte und der damit einhergehenden Entwicklung der Mischverfassung. Das 3. Buch widmet sich dem Gerechtigkeitsbegriff und, soweit aus den Fragmenten ersichtlich, einer naturrechtlichen Fundierung desselben. Das 4.  Buch konkretisiert die allgemeinen Gerechtigkeitser­ wä­gungen des vorherigen  Buches. In den beiden letzten Büchern widmen sich die Gesprächspartner der Frage nach dem idealen Herrscher. C. tritt für eine gründliche Bildung sowie praktisch-politische Tätigkeit und Erfah-

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Comte: Cours de philosophie positive

rung von früher Jugend an ein. Das Werk schließt mit der Wiedergabe des Somnium Scipionis, eines Traumes Scipios. Hier wird zu politisch gerechtem Handeln durch die Verheißung der Unsterblichkeit der Seele motiviert. Dieser letzte Teil war aufgrund einer unabhängigen Überlieferung und seiner christlichen Ausdeutungsmöglichkeiten über alle Jahrhunderte hinweg bekannt (EA Straßburg nach 1485). – Aktualität gewinnt C.s Abhandlung durch die Betonung der Umsetzbarkeit und konkreten Situierung seiner philosophischen Überlegungen in der je eigenen Staats- und Verfassungswirklichkeit. Attraktiv ist C.s. Vorgehen, das sich gegen eine bloße Abstraktion von sozialen Praxen und historisch  geronnenen Werten sowie gegen einen Idealstaat als unumsetzbare Utopie wendet, insbesondere für Debatten um eine kommunitaristische oder kontraktualistische Staatsbegründung. T. Rojek Ausgaben: Lat./dt., Stgt. 1979. – Engl., On the Commonwealth and on the Laws, Cambr. 1999. Literatur: K. Büchner, M. T. C.: De re publica. Komm., Heidelberg 1984.

Auguste Comte *  19. 1. 1798 in Montpellier, †  5. 9.  1857 in Paris; Begründer und Hauptvertreter des frühen französischen Positivismus.

Cours de philosophie positive (frz.; Abhandlung über die positive Philosophie), EA Paris 1830–42 (6 Bde.).

Das Werk ging aus Privatvorlesungen C.s hervor und bildet die Grundlegung seiner positiven Philosophie in der ersten Periode. – Am Anfang steht das »Dreistadiengesetz«: Jeder Mensch durchläuft wie die Menschheit insgesamt drei historische Stadien: das theologische (unterteilt in eine ­fetischistische, polytheistische und monotheistische Periode), das metaphysische sowie das positive Stadium. Im ersten Stadium werden nach C. alle Gegebenheiten als Wirkungen übernatürlicher Wesen aufgefasst; im zweiten treten an ihre Stelle abstrakte Kräfte (z. B. das Absolute, der Wille); im dritten werden die beobachteten Tatsachen nur noch dadurch erklärt, dass man die einzelnen Erscheinungen miteinander in Beziehung setzt und daraus Gesetze der Natur und Gesellschaft ableitet. Da aber nicht alle Wissenschaften gleichzeitig das positive Stadium erreichen (die



Comte: Cours de philosophie positive 113

Naturwissenschaften befinden sich bereits darin, während die Soziologie erst noch dorthin geführt werden muss), kommt es, wie C. für seine Zeit feststellt, zur geistigen Anarchie und zu gesellschaftlichen Krisen, die aber durch den vollständigen Übergang zum Positivismus überwunden werden können. Im positiven Stadium verzichtet die Wissenschaft auf absolute Einsicht in die Wirkursachen der Phänomene, geht von den empirischen Gegebenheiten aus, verknüpft sie miteinander und ermöglicht verlässliche Prognosen und darauf gegründetes rationales Handeln bzw. nützliche Anwendungen der Erkenntnisse. – Das »enzyklopädische Gesetz« besagt, dass alle Wissenschaften in einer historischen und dogmatischen Reihenfolge stehen, die sowohl die tat­ sächliche geschichtliche Entwicklung als auch ihre innere logische Verknüpfung wiedergibt: den Gang vom Abstrakten zu immer größerer Konkretion und von einfachen zu immer komplexeren Sachverhalten. So ergibt sich folgende Anordnung der Wissenschaften: Mathematik, Astronomie, Physik, Chemie, Biologie und Soziologie (oder »soziale Physik«). Die Mathematik steht am Anfang, weil alle Wissenschaft mit reinen

Zahlenspekulationen beginnt. Es folgt die Beobachtung der Gestirne, die sich bereits früh von Theologie und Metaphysik befreite. Bei der Physik und der Chemie war dies erst später der Fall. Die Biologie hat sich noch nicht völlig von der Metaphysik gelöst, und die Soziologie hat dieses Stadium noch gar nicht verlassen. Die Psychologie ist für C. keine Wissenschaft, weil Selbstbeobachtung und innere Wahrnehmung nicht möglich sind. Da diese Reihenfolge der Wissenschaften auch der individuellen geistigen Entwicklung entspricht, ist sie auch für den wissenschaftlichen Unterricht und die Forschung geeignet. C. geht daraufhin die einzelnen Wissenschaften in ihrem Verhältnis zur positiven Philosophie durch. Bei der Behandlung der sozialen Gesetzmäßigkeiten, die den breitesten Raum einnimmt, unterscheidet C. zwei verschiedene Aufgabenbereiche: auf der einen Seite die soziale Statik, die die Ordnung, Harmonie und den Konsens der sozialen Einheiten (Familie, Gesellschaft) zum Gegenstand hat sowie deren Zusammenwirken zu einem einheitlichen Organismus, auf der anderen Seite die soziale Dynamik, die die fortschreitende Entwicklung des gesamten gesellschaftlichen

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Comte: Cours de philosophie positive

Organismus untersucht sowie dessen Vervollkommnung gemäß dem Dreistadiengesetz. Die rein empirisch orientierte Soziologie muss der Biologie nachfolgen (den Krankheiten der Lebewesen entsprechen die Krisen und Störungen des sozialen Organismus), untersucht aber zusätzlich die Wirkung der äußeren Einflüsse und des Milieus auf den Einzelmenschen. Ihre Methode ist der historische Vergleich, der an die Stelle des Versuchs in der Physik und Chemie tritt. Aus Anzeichen in der Gegenwart trifft sie Voraussagen für die Zukunft. – Gegenüber den revolutionären und restaurativen Kräften ihrer Zeit bietet die positive Philosophie den Ausweg, die sozialen Vorgänge wie solche der Natur anzusehen und so willkürliche Entscheidungen in der Politik zu vermeiden. Die Orientierung an der Wissenschaft soll eine politische Wiedergeburt und eine Reorganisation der Gesellschaft herbeiführen. So soll z. B. der Gegensatz von Arbeitern und Unternehmern überwunden werden. An die Stelle des Egoismus wird eine lebendige Moral der Nächstenliebe treten, unterstützt durch ein auf der positiven Philosophie beruhendes Erziehungssystem. Damit erfüllt die positive Philosophie

auch einen moralischen und politischen Zweck, indem sie Sympathie, Menschlichkeit und Versöhnung der Interessen der Menschen bewirkt. – Das Werk bildete die Grundlage für den Positivismus in Frankreich (É.  Littré) und – mit Einschränkungen – in England (J. S. Mill, H. Spencer). U. Dierse Ausgaben: Œuvres complètes, Bd. 1–6, Paris 1968/69. – Philo­so­ phie première. Cours de philosophie positive, leçons 1 à 45, Hg.: M. Serres u. a., Paris 1975. – Physique sociale. Cours de philosophie positive, leçons 46 à 60, Hg.: P. Eint­hoven, 2 Bde., Paris 1975. – Dt., Soziologie, Ü.: V. Dorn, 3 Bde., Jena 21923. – Die Soziologie. Die Positive Philosophie im Auszug, Hg.: F.  Blaschke, Stgt. 2 1974. Literatur: L. Lévy-Bruhl, Die Philosophie A.  C.s, Lpzg. 1902 (frz.  1900). – W.  Fuchs-Heinritz, A.  C. Einführung in Leben und Werk, Opladen/Wiesbaden 1998. – A.  Kremer-Marietti, Le positi­ visme d’A. C., Paris 2006.

Nikolaus Cusanus → Nikolaus von Kues

Charles Robert Darwin *  12. 2. 1809 in The Mount bei Shrewsbury, † 19. 4. 1882 in Down House (Kent, heute zu LondonBromley); Begründer der Evolu­ tionstheorie der Organismen.



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On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life

(engl.; Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl), EA Ldn. 1859.

Das Werk enthält D.s Theorie der Entstehung und der Veränderlichkeit der Arten der Organismen. Nachdem der Naturforscher D. seine Weltumsegelung mit der Vorstellung, dass in jeder Region der Erde an ihre Umwelt angepasste Arten von Anbeginn an lebten, 1831 angetreten hatte, erhärteten sich bei der Bearbeitung des Beobachtungsmaterials aus Biologie, Biogeographie, Geologie und Paläontologie nach seiner Rückkehr 1836 seine Zweifel an den Lehrmeinungen. Nach Notizen von 1837/38 und einem Entwurf von 1842 entwarf D. bis 1844 die Grundlagen seiner Theo­ rie. Sie festigte sich durch vergleichende Studien über die  gesammelten Objektgruppen,  südamerikanische Fossi­ lien (bearbeitet durch R. Owen), Vögel der Galápagos-Inseln (J.  Gould) und Rankenfußkrebse (D.: Cirripedia, 1851–54). Nach weiteren Untersuchungen zur Varietätenbildung und Verbreitung der Arten seit 1854 veröffentlichte D. am 1. Juli

1859 eine Kurzfassung seiner Selektionstheorie bei der ›Linnean Society‹ in London. – D. berücksichtigte v.  a. paläontologische, biogeographische und ökologische Gegebenheiten mit ihren Beziehungen zur Morphologie und Lebensweise der Arten in verschiedenen Regionen. Die Struktur fossiler Überreste von ausgestorbenen Tieren war der rezenter Arten ähnlich (Vergleich zwischen Mastodon und Elefanten). Als Wirkungen der geographischen Isolation fand er, dass Spezies auf Inseln im Ozean solchen eines benachbarten Kontinents ähnlich waren; Arten auf den  ­Ga­lápagos­-Inseln glichen denen des südamerikanischen Festlands, während unter  ähnlichen geologischen und physischen Gegebenheiten lebende Faunen auf den Galápagosund den kapverdischen Inseln sich voneinander unterschieden. Finken auf den Galápagos-Inseln waren entsprechend ihrer Ernährungsweise morphologisch verschieden. Solche Beobachtungen ließen sich nur durch die Annahme einer Variabilität der Arten und verzweigter Deszendenzreihen  erklären. Indem D. als Feldforscher Populationen mit ihren Lebensbedingungen betrachtete, stellte er erstmals Hypothesen über natürliche Mechanis-

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Darwin: On the Origin of Species

men der Art-Umbildung auf, die Hinweise auf Umwelteinwirkungen (J.-B. Lamarck) übertrafen. Als Erklärungsmus­ ter dienten D. züchterische Erfahrungen, wobei er in seiner Annahme der Wirksamkeit einer »natürlichen Selektion« 1838 durch das Werk über die Erhaltung menschlicher Populationen An Essay on the Principle of Population (1798) des Nationalökonomen T. R. Malthus bestärkt wurde. Dieser Mechanismus sollte in der Natur dadurch verwirklicht werden, dass von den übermäßig produzierten, sich geringfügig unterscheidenden Individuen diejenigen, die an ihre Lebensbedingungen am besten angepasst waren, mit den meisten Nachkommen überlebten,  deren günstige Eigenschaften sich über viele G ­ enerationen vererbten. Eine wesentliche Lücke seiner Theorie, die Erklärung der Bildung und Vererbung von Varietäten, versuchte D. teils durch lamarckistische Annahmen (Vererbung erworbener Eigenschaften, Gebrauch oder Nichtgebrauch von Organen), teils durch seine Hypothese einer »Pangenesis« zu füllen. Erst die auf G. Mendels Arbeiten (1865) aufbauende Vererbungsforschung förderte Lösungen der Probleme seit ungefähr 1930. – Sein 1859

eröffnetes Programm zur Erforschung der Evolution der Organismen begann D. in vielen folgenden  Arbeiten zu erfüllen: u. a. über die Beziehungen zwischen Blütenstrukturen und Befruchtungsweisen sowie zwischen Blütenbau und Bestäubung durch Insekten bei Orchideen u. a. (1862), über die Variabilität von Tieren und Pflanzen bei der Züchtung (1868), über tierisches und menschliches Verhalten (1872) und die Abstammung des Menschen sowie die geschlechtliche Auslese bei Tieren und Menschen (1871) u. a. Naturforscher entwickelten D.s Theorien sogleich weiter (T. H. Huxley), deuteten sie aber auch in weltanschaulich-materialistischer Richtung um (E.  Hae­ ckel, seit 1866). ­Besonders das Prinzip der Selektion und die durch den Philosophen  und Soziologen H. Spencer verbreitete Annahme vom »Überleben der Geeignetsten« (1862; sur­ vival of the fittest bei D. 51869), deren Grundsätze auf die menschliche Gesellschaft übertragen wurden (Sozialdarwinismus), entfalteten ausgedehnte Wirkungen bis ins 20. Jh. hin­ ein. Von der Biologie ausgehend wirkte D.s dynamische Naturauffassung (vgl. Astronomie) revolutionierend. Ihre Ausarbeitung im Einzelnen ist



Davidson: Essays on Actions and Events 117

bis zur Gegenwart nicht abgeschlossen. B. Hoppe Ausgaben: Ldn.  2009 (Penguin Classics). – Dt., Drmst. 1988. Literatur: J. E. Browne, D.’s Origin of Species, NY 2006. – T. M. Berra, C.  D. The Concise Story of an Extraordinary Man, Baltimore 2009. – G.  Altner, C.  D. und die Instabilität der Natur, Bad Homburg 2009.

Donald Davidson * 6. 3. 1917 in Springfield (Mass.), †  30. 8. 2003 in Berkeley (CA); zentrale Figur der analytischen Philosophie.

Essays on Actions and Events (engl.; Handlung und Ereignis), EA Oxfd. 1980.

Der Band beinhaltet 15 Aufsätze D.s zu handlungstheoretischen und bewusstseinsphilosophischen Fragen. Der Titel verweist auf eine angestrebte Verknüpfung von Handlungen und Ereignissen; sie wird durch eine bestimmte Auffassung des Verhältnisses von mentalen und physikalischen Vorgängen, zwischen Geist und Materie gestützt. Damit sind die drei Themenbereiche genannt, um die D. seine Aufsätze gruppiert. – Den Ausgangspunkt bildet die Abhandlung Actions, Reasons, and Causes (1963).

Ihre These markiert eine Wende in der analytischen Handlungstheorie: Das Verhältnis zwischen dem Grund einer Handlung und ihrer Ausführung soll anhand des kausalen Schemas von Ursache und Wirkung expliziert werden. Dabei zielt D. zugleich auf eine Theorie des praktischen Urteilens. So stößt die deduktive Verknüpfung von Grund und Handlung auf Schwierigkeiten: Zum einen resultiert die Entscheidung zu einer bestimmten Handlung oftmals erst aus einem Abwägungsprozess zwischen verschiedenen Handlungsalternativen; zum anderen muss das Phänomen der bloßen Absicht zu einer Handlung berücksichtigt und die Möglichkeit einbezogen werden, dass trotz der Entscheidung für eine bestimmte Handlung ihre Ausführung unterlassen werden kann. Diese Überlegungen fasst D. in ein Modell praktischen Urteilens zusammen, das die Handlungsintention als  ­ Ergebnis eines komplexen Abwägungsprozesses versteht. Der Übergang von der Abwägung von Gründen zur eigentlichen Handlungsintention steht dabei unter der Bedingung des principle of continence, das um der Erklärbarkeit von Handlungen willen eine ra­ tionale Verknüpfung von Grund und

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Davidson: Essays on Actions and Events

Intention  ­unterstellen muss. –  D. führt diese Kausali­ tätsthese  durch, indem er zwischen einer logischen Beschreibungsebene und einer kausalen Ereignisebene von Handlungen unterscheidet. In seinem Aufsatz The ­Logical Form of Action ­Sentences (1967) werden Handlungen als welthafte  Ereignisse vorgestellt, die einen be­ schreibungsunabhängigen ontologischen Status aufweisen. Damit wird es möglich, trotz differenter Beschreibungsmög­ lichkeiten an der Identität von Handlungen festzuhalten. D. legt sich damit auf eine Ereignisontologie fest. Diese fordert nicht nur die sprachliche Existenzquantifikation über Er­ eignisse, sondern setzt zudem die Angabe eines Kausalnexus  voraus, der jedes einzelne Ereignis raumzeitlich zu identifizieren erlaubt. Umgekehrt werden Handlungserklärungen als Kausalaussagen über die ­Relation zweier distinkter Ereignisse verständlich: Das Haben eines Grundes wird von D. als mentales Ereignis interpretiert und als Ursache für das Ereignis der Handlung selbst in Anschlag gebracht. Diese kausale Handlungserklärung entzieht sich jedoch der Unterordnung unter ein striktes Kausalgesetz. Den Rahmen für diese Wendung bildet D.s

erstmals im Aufsatz Mental Events (1970) vertretene These des »anomalen Monismus«. Sie versucht, die Annahme einer Korrelation von Geist und Materie mit der Wahrung der Eigenständigkeit des Mentalen zu verbinden: So sind physikalische und mentale Ereignisse für D. zwar über die Ereignis­ ontologie kausal miteinander verknüpft; dennoch lassen sich seiner Ansicht nach für mentale Ereignisse keine strikten Gesetze angeben. Sie weisen vielmehr eine grundsätzliche ›Anomalie‹ auf, die ihre physikalistische Reduktion unterbindet. – D.s handlungs- und bewusstseinstheoretische Überlegungen haben eine breite Debatte ausgelöst. Im Mittelpunkt der Kritik stehen neben der Kausalitätsthese v.  a. D.s Ereignisontologie und seine These vom »anomalen Monismus«. In D.s späteren Arbeiten tritt zunehmend das Interesse in den Vordergrund, mittels einer Begrenzung der Reichweite theoretischer Handlungserklärungen den Anschluss an seine Interpretationsphilosophie zu gewinnen, die vornehmlich an der lebensweltlichen Vorgängigkeit einer bestimmten Sprach- und Handlungspraxis orientiert ist. M. Laube Ausgabe: Dt., Ffm. 1985.



Davidson: Inquiries into Truth and Interpretation 119

Literatur: E. LePore/B.  Mc­ Laugh­lin (Hg.), Actions and Events. Perspectives on the Philosophy of D.  D., Oxfd. 1985. – L. E. Hahn (Hg.), The Philosophy of D.  D., Chicago 1999. – K.  Glüer, D.  D. zur Einführung, Hbg. 1993. – M. Joseph, D. D., Chesham 2004.

Inquiries into Truth and Interpretation (engl.; Wahrheit und Interpreta­ tion), EA Oxfd. 1984.

Der Band beinhaltet 18 Aufsätze D.s zu sprachphilosophischen und erkenntnistheoretischen Fragen. Im Mittelpunkt steht der Entwurf einer systematischen Bedeutungstheorie, die das Phänomen des Verstehens sprachlicher Äußerungen aufzuklären versucht. – Der Aufsatz Truth and Meaning (1967) führt die Elemente von D.s sprachphilosophischer Grundthese bereits im Titel: Der Wahrheitsbegriff bildet nach D. die Grundlage für die Explikation des Bedeutungsbegriffs. Damit legt sich D. auf eine wahrheitskonditionale Semantik fest. Zur Ausarbeitung dieses Ansatzes greift er auf eine im Sinne Tarskis formalisierte Wahrheitstheorie zurück, die auf natürliche Sprachen ausgeweitet und in Umkehrung Tarskis dazu in Anspruch genommen wird, mit den Wahrheitsbedingungen eines Satzes

dessen Bedeutung anzugeben. – Diese formale Bedeutungstheorie muss sodann, soll sie das alltägliche Sprachverstehen erfassen, als empirisch angemessen aufgewiesen werden. In seinem Aufsatz Radical Interpretation (1973) führt D. daher das Gedankenexperiment der »radikalen Interpretation« einer unbekannten Sprache ein: Ihr Verständnis erschließt sich erst durch die stufenweise Konstruktion einer Bedeutungstheorie, die die jeweiligen Äußerungen eines Sprechers mit den jeweilig beobachtbaren Umständen verknüpft und daraus die zur Explikation der Bedeutung unerlässlichen Wahrheitsbedingungen gewinnt. Dabei ist nicht nur einer grundsätzlichen Unbestimmtheit der Interpretation Rechnung zu tragen; der Interpret muss dem Sprecher zudem unterstellen, dass er sich zumeist weder irrt noch widersprüchliche Auffassungen vertritt. Dieses von D. als principle of charity bezeichnete Rationalitätspostulat bildet eine notwendige Bedingung für das Gelingen von Verstehen und Interpretation. Die Situation der radikalen Interpretation zeigt, dass das sprachliche Verstehen immer schon einen gemeinsamen Weltbezug von Sprecher und Interpret voraussetzt. Die Möglichkeit ­

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Davidson: Inquiries into Truth and Interpretation

des Verstehens sprachlicher Äußerungen beruht somit auf der Vorgängigkeit eines intersubjektiven Wahrheitsverständnisses, das den Sprecher wie den Interpreten dieselben Sätze für wahr halten lässt. – In dem Aufsatz On the Very Idea of a Conceptual Scheme (1974) zieht D. daraus die Konsequenzen: Die notwendige Voraussetzung eines gemeinsamen Weltbezugs widerlegt nicht nur die relativistische These inkommensurabler Welten, sondern nötigt auch zur Aufgabe des dritten ›Dogmas‹ des Empirismus – der klassischen Dichotomie zwischen Begriffsschema und empirischem Inhalt. An die Stelle des repräsentational verstandenen Gegenübers von Sprache und Welt tritt nunmehr ein ›externalistischer‹ Ansatz, der die Wahrheit sprachlicher Äußerungen im Rückgang auf ihre kausale Verankerung in der Welt einsichtig zu machen versucht. Mit der Überwindung der Dichotomie von Sprache und Welt verliert zugleich auch der philosophische Skeptizismus seinen Ansatzpunkt. D. zielt mithin auf eine Konzeption, die sich jenseits der Alternative von Realismus und Antirealismus stellt und stattdessen den transzendentalen Charakter des gemeinsamen sprachlichen Weltbezugs in

den Vordergrund rückt. – D.s sprachphilosophische Arbeiten haben eine anhaltende Debatte zwischen wahrheitskonditionaler und verifikationistischer Semantik ausgelöst. Als Gegenspieler D.s ist dabei in erster Linie M. Dummett zu nennen. Rorty zieht D. – gegen dessen Willen – als Kronzeugen für seine postanalytische Philosophie heran. Später arbeitet D. seinen Ansatz in Richtung auf einen »neuen Antisubjektivismus« aus, der an die Stelle des cartesianischen Dualismus zwischen subjektiven Vorstellungen und objektiven Sachverhalten treten soll. Zudem betont er die Grenzen einer systematischen Bedeutungstheorie. M. Laube Ausgabe: Dt., Ffm. 1986. Literatur: E. LePore (Hg.), Truth and Interpretation. Perspectives on the Philosophy of D.  D., Oxfd. 1986. – E. Picardi/J. Schulte (Hg.), Die Wahrheit der Interpretation. Beiträge zur Philosophie D.  D.s, Ffm. 1990. – E. LePore/K. Ludwig (Hg.), D. D.: Meaning, Truth, Language, and Reality, Oxfd. 2005.

Demokrit von Abdera * 460 v. Chr., † 371 v. Chr.; Schüler Leukipps, gilt als wichtigster Vertreter des antiken Atomismus und zählt gemeinsam mit Anaxagoras



Demokrit von Abdera: Fragmente und Zeugnisse 121

und Empedokles zur Generation der ›Jüngeren Naturphilosophen‹ der vorsokratischen Epoche.

Fragmente und Zeugnisse Aristoteles bemerkt an einer Stelle, D. habe »über alles nachgedacht«. Tatsächlich umfasst das bei Diogenes Laertios überlieferte Werkverzeichnis D’s mehr als 60 Schriften. Erhalten sind davon nur wenige Fragmente, hauptsächlich bei Aristoteles selbst, während Platon an keiner Stelle namentlich auf D. eingeht. Sonstige biographische Zeugnisse und Berichte, die sich mit der Person D.s verbinden, sind (wie die Stilisierung zum ›lachenden Philosophen‹) historisch meist wertlos. – Der von Leukipp und D. begründete Atomismus stellt innerhalb der ›vorsokratischen‹ Philosophie (D. war Zeitgenosse Sokrates’) den radikalsten Versuch dar, zwischen der parmenideischen Ontologie des ewigen, unveränderlichen Seins und den Phänomenen der Bewegung, des Entstehens und Vergehens zu vermitteln (vgl. Aristoteles, De generatione et corruptione 325 a 23 ff.). Dabei überträgt D. zunächst den Gegensatz von Sein und NichtSein auf die Differenz zwischen dem Vollen und dem Leeren (vgl. Aristoteles, Metaphysika

985 b 4 ff.). Anders als bei Parmenides ist das Sein bzw. das Volle für D. jedoch nicht numerisch Eines, sondern die Totalität unendlich vieler Atome, von denen jedes einzelne als »voll« bezeichnet werden kann, weil es zwar Ausdehnung, aber keine Leere besitzt: Die Atome sind »kompakt«, und damit im physikalischen Sinne unteilbar (vgl. Simplikios, de caelo 242, 18). Als solche soliden Körper, die weder notwendig Korpuskel – minimal klein – noch unsichtbar sind, bewegen sich die Atome im leeren Raum, wobei aus Kollisionen jeweils weitere kinetische Impulse folgen. Durch verschiedene Mechanismen (D. nennt u. a. das Verhaken, die Deckung konvexer und konkaver Oberflächen) verbinden sich die Atome, »bis eine stärkere Notwendigkeit sie trennt« (ebd. 295, 11), und bewirken so das Entstehen und Vergehen natürlicher Gegenstände. Verbindung wie Trennung der Atome setzen voraus, dass auch zwischen den miteinander kombinierten Atomen Leerraum bleibt: Natürliche Gegenstände setzen sich aus Atomen und leerem Raum zusammen – darin liegt die Neuerung Leukipps und D.s gegenüber älteren elementaristischen Konzeptionen bei Empedokles oder Anaxagoras. Für die Ab-

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Demokrit von Abdera: Fragmente und Zeugnisse

leitung der »realen« und »phänomenalen« Qualitäten natürlicher Gegenstände aus den Eigenschaften der sie aufbauenden Atome spielt deshalb nicht nur die Form der einzelnen Atome, ihre jeweilige Position und gegenseitige Anordnung eine Rolle, sondern auch ihre Größe und das Quantum des leeren Zwischenraums. Im Unterschied zu den realen Qualitäten wie Gewicht oder Dichte, die unmittelbar auf Form und Größe der Atome zurückgehen, erklärt D. phänomenale Qualitäten daraus, dass im Medium der Luft durch einzelne Atomverbindungen, die sich von den natürlichen Gegenständen lösen, sowie durch Ausströmungen der Sinnesorgane Abbilder (eidōla) der Gegenstände entstehen, die über Poren in die Sinnesorgane transportiert werden (vgl. Theophrast, de sensu 49 ff.). In einem für atomistische Theorien typischen Modell erscheinen so die visuelle oder akustische Wahrnehmung als Sonderfälle der taktilen Wahrnehmung. Integriert ist der Atomismus Leukipps und D.s in eine, allerdings eher traditionelle, Kosmogonie, nach der im unendlichen Raum unendlich viele Welten durch Zusammenballung von Atomen entstehen: Die Kollision einzelner Atome erzeugt

einen Wirbel, der gleichartige Atome zu Haufen gruppiert, die sich aufgrund ihrer Schwere ins Zentrum bewegen und leichtere Atome an die Peripherie drängen, wo diese allmählich die Himmelskörper bilden, während sich die schweren Atome zur Erde formieren. – Obwohl die Naturphilosophie in der Rezeptionsgeschichte D.s bis heute dominiert, behandeln vier Fünftel der überlieferten Fragmente D.s nicht physikalische, sondern ethische Themen. Zentralbegriff der D.’schen Ethik ist die ›Euthymie‹, die Ausgeglichenheit. Sie bildet die Norm eines an rationalen Prinzipien des weder zu viel noch zu wenig (vgl. Frg.  191) orientierten Lebens, in dem der Einzelne die Gesetze der Polis aus Einsicht respektiert – »denn eine gut regierte Polis ist die sicherste Grundlage, wenn diese erhalten bleibt, bleibt alles erhalten, und wenn dieses zugrunde geht, geht alles zugrunde« (Frg.  252). Was den Menschen zur Erfüllung des Guten disponiert, sind aber nicht allein Einsicht und Vernunft, sondern v. a. die Fähigkeit zur Selbstachtung (vgl. Frg. 264). D.s Ethik der Euthymie antizipiert damit über epikureische und stoische Ansätze hinaus ein Grundprinzip neuzeitlicher Ethik: das Gewissen



Dennett: Consciousness Explained 123

als innere Motivation moralischen Handelns. D. Kaegi Ausgaben: DK, Bd.  2, 70–230. – Gr./dt., D. Fragmente zur Ethik, Ü.: G.  Ibscher/G.  Damschen, Stgt. 1996. – Gr./dt., in: Die Vorsokratiker. Ausw., Ü. und Erl.: J.  Mansfeld/O.  Primavesi, Stgt. 2011, 656–761. Literatur: J. Barnes, The Presocratic Philosophers, Ldn. 21982. – P.  Cartledge, Democritus, Ldn. 1997. – C.  Rapp, Vorsokratiker, Mchn. 22007 (mit Bibl.).

Daniel Clement Dennett *  28. 3. 1942 in Boston (Mass.); wich­tiger Vertreter der gegenwärtigen analytischen Philosophie des Geistes.

Consciousness Explained (engl.; Philosophie des menschlichen Be­wußtseins), EA Boston (Mass.) 1991.

D.s Hauptwerk lässt sich als eine Synthese zweier Ansätze begreifen: Mit seiner konsequenten Zurückweisung des cartesianischen Körper-GeistDualismus steht das Werk in der Tradition Wittgensteins und Ryles; der Versuch hingegen, das Bewusstsein mit naturwissenschaftlichen Mitteln zu erklären (und nicht im Sinne des logischen Behaviorismus zu deuten), steht Quines Idee einer naturalisierten Philoso-

phie nahe. D. selbst hat sich zu diesen beiden Einflussquellen einmal wie folgt bekannt: »What do you get when you cross a Ryle with a Quine? A Dennett, apparently.« – Im 1. Teil formuliert D. Ziele und Methoden des Werkes: Es geht um die Entwicklung einer empirisch fundierten Theorie des Bewusstseins, die aktuelle naturwissenschaftliche Ergebnisse berücksichtigt. Eine solche Theorie muss, um dem  wissenschaftlichen Anspruch auf intersubjektive Geltung zu genügen, auf eine »heterophänomenologische« Methode zurückgreifen, d. h. auf der »Perspektive der dritten Person« basieren. Verfahren wie die Introspektion sind daher nicht zulässig. – Der 2.  Teil setzt sich kritisch mit einer Konzep­ tion des Bewusstseins auseinander, die D. als »Cartesianisches Theater« bezeichnet. Diesem Modell gemäß werden von den Sinnesorganen erhaltene Informationen zunächst unbewusst vom Gehirn verarbeitet, überschreiten dann die »Bewusstseinsschwelle« und werden schließlich im Gedächtnis gespeichert. Dementsprechend gäbe es einen klar abgegrenzten Bereich der bewussten Erlebnisse, für den ein bestimmter Teil des Gehirns verantwortlich sei (D. bezeichnet diese Theorie

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Dennett: Consciousness Explained

als »Cartesianischen Materialismus«). Dem setzt D.  das  Modell der »verschiedenen Fas­ sungen« (multiple drafts) entgegen: Zwischen unbewusster Informationsverarbeitung und bewusstem Erleben gibt es keinen fundamentalen Unterschied, weil es keinen Teil des Gehirns gibt, »wo alles zusammenkommt« (where it all comes together). Informationen werden vielmehr im Gehirn  von verschiedenen Modulen pa­ rallel verarbeitet und durchlaufen einen ständigen »Revisionsprozeß«, wobei man jedoch nie von einer endgültigen Fassung sprechen kann. Selbst die intuitiv klare Unterscheidung zwischen Halluzinationen und falschen Erinnerungen (Orwellian vs. Stalinesque revisions) ist nach D. bei sehr kleinen Zeitabständen so unscharf, daß sie ihren Sinn zu verlieren droht. Im eigentlichen Sinne bewusst sind aus D.s Sicht vielmehr diejenigen Inhalte unseres Geistes, die so lange überdauern, dass sie auf das Gedächtnis und das Verhalten eine hinreichend große Wirkung ausüben. Das Bewusstsein insgesamt betrachtet D. als eine von der Hardware des Gehirns simulierte »virtuelle Maschine« (d. h.als Software), deren Funktionen sich auf der Grundlage der Evolutionstheorie erklären

las­sen. – Der 3.  Teil setzt sich mit Theorien auseinander, die das Bewusstsein als subjektive, anderen unzugängliche »Innensphäre« deuten. Dabei richtet sich D. insbesondere gegen den ›Qualia‹-Begriff und mit diesem verbundene Gedankenexperimente: Dass Menschen mentale Zustände haben, die sich durch eine spezifische »Erlebnisqualität« auszeichnen, ist nach D. nicht als unbezweifelbare Erfahrung anzusehen, sondern als Resultat einer problematischen Theorie. Wenn die Rede von Qualia überhaupt einen Sinn haben soll, dann müssen diese als komplexe Dispositionen verstanden werden. Versteht man hingegen den Ausdruck ›Qualia‹ im traditionellen Sinne und unter einem ›Zombie‹ ein Wesen, das über keinen Zugang zu Qualia verfügt, dann gilt für D.: »We’re all zombies«. – Kritiker wie etwa J. R. Searle und T.  Nagel haben v. a. gegen D.s Eliminierung der Qualia Einwände erhoben und bemängelt, dass D. das Bewusstsein nicht erkläre, sondern wegerkläre. T. Sander Ausgaben: Ldn.  1993 (ND der Ausg. Boston 1991). – Dt., Hbg. 1994. Literatur: B. Dahlbohm (Hg.), D. and His Critics, Oxfd. 1993. – D.  Ross u. a. (Hg.), D.’s Phi-



Dennett: The Intentional Stance 125

losophy: A Comprehensive Assessment, Cambr. (Mass.) 2000. – A.  Brook/D.  Ross (Hg.), D.  D., Cam­br. 2002.

The Intentional Stance EA Cambr. (Mass.) 1987.

Die insgesamt zehn Arbeiten enthaltende Aufsatzsammlung, deren Grundgedanken D. bereits in seinem Aufsatz Inten­ tional Systems (1971) dargestellt hatte, beschäftigt sich mit dem Begriff der Intentionalität, den D. zusammen mit dem des Bewusstseins als das wesentliche Problem der Philosophie des Geistes betrachtet. Zentraler Text der Sammlung ist der Aufsatz True Believers. – Die Intentionalität mentaler Zustände, also deren Bezogenheit auf Gegenstände oder Sachverhalte, wird in der neueren Diskussion vielfach als intrinsische Eigenschaft (zumindest einiger) mentaler Zustände begriffen. Demgegenüber geht D. von einer »Perspektive der dritten Person« aus und beschäftigt sich mit der Frage, zu welchen Zwecken einem Objekt oder einem »System« intentionale Zustände wie z.  B. Überzeugungen oder Bedürfnisse zugeschrieben werden. Generell unterscheidet D. – wenn es um den Zweck der Erklärung oder der Prognose des Verhaltens ei-

nes Systems geht – drei mögliche Einstellungen (stances). Bei der in den Naturwissenschaften üblichen physical stance wird die physische Beschaffenheit des Systems beschrieben und unter Heranziehung von Naturgesetzen das zukünftige Verhalten vorhergesagt. Praktische Gründe wie z. B. übergroße Komplexität können auch bei deterministischen Systemen eine Vorhersage auf der Grundlage dieser Einstellung verhindern. Bei der design stance hingegen liegt das Augenmerk auf der funktionalen Organisation des Systems. So sind z. B. verlässliche Aussagen über das künftige Verhalten eines Computers unabhängig von der Kenntnis seiner physischen Beschaffenheit möglich, wenn bekannt ist, wie sich der Computer verhalten soll. Bei der intentional stance schließlich wird ein System als vernünftiger Akteur betrachtet. Ist ein Bedürfnis eines Akteurs bekannt und zugleich dessen Überzeugung, dass sich dieses Bedürfnis in der gegebenen Situation nur durch ein bestimmtes Verhalten befriedigen lässt, so kann (mit einiger Sicherheit) vorhergesagt werden, dass sich der Akteur entsprechend verhalten wird. Intentionale Zustände sind nach D. nicht als subjektive Erlebnisse zu deuten; insofern

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Derrida: De la grammatologie

kann die intentionale Haltung nicht nur gegenüber Menschen eingenommen werden, sondern auch gegenüber Tieren, Pflanzen oder Artefakten. Da es keine facts of the matter gibt, die ein System intentional machen, kann die Zuschreibung intentionaler Zustände nur instrumentalistisch gerechtfertigt werden. Dabei lässt sich jedoch die intentionale Haltung erstens nicht ohne Verlust durch eine der anderen Haltungen ersetzen, und zweitens ist sie nicht beliebig: Es hängt von uns ab, welche Haltung wir gegenüber einem System einnehmen, nicht hingegen, ob wir damit einen prognostischen Erfolg haben werden. – Kritiker wie J.  Fodor haben v. a. gegen D.s anti-realistische Haltung gegenüber intentionalen Zuständen Einwände erhoben. T. Sander Literatur: B. Dahlbohm (Hg.), D. and His Critics, Oxfd.  1993. – D.  Ross u. a. (Hg.), D.’s Philosophy: A Comprehensive Assessment, Cambr. (Mass.) 2000. – A.  Brook/D.  Ross (Hg.), D.  D., Cambr. 2002.

Jacques Derrida * 15. 7. 1930 in El-Biar (Algerien), †  8. 10. 2004 in Paris; gilt als Erfinder der Denkrichtung ›Dekonstruktion‹.

De la grammatologie (frz.; Grammatologie), EA Paris 1967.

Zusammen mit La voix et le phénomène (Die Stimme und das Phänomen) und L’écriture et la différence (Die Schrift und die Differenz) bildet das Werk eine Trias von allesamt 1967 erschienenen Büchern, die D.s frühen Ruhm begründen. De la grammatologie legt die umfassende Ausarbeitung eines radikalisierten Verständnisses von Schriftlichkeit und Textualität vor und wendet sich – mit Heidegger – gegen eine sich von Platon bis Husserl durchhaltende »Metaphysik der Gegenwärtigkeit«, die explizit oder implizit eine im unmittelbaren Hören des eigenen Sprechens innerlich bei sich selbst bleibende Stimme unterstellt (›Logozentrismus‹). Ziel ist nicht die Umkehrung einer solchen Unterordnung der Schrift unter die Sprache, sondern die Zurückführung beider auf eine gemeinsame Wurzel, die in ihren Zügen indes mehr der Schrift nahesteht: Schrift wie Sprache müssen von einer gestifteten Spur (trace instituée) als der Bedingung ihrer Wiederholbarkeit her gedacht werden. Ohne eine solche ›UrSchrift‹ (archi-écriture) lässt sich kein Gedächtnis denken,



Derrida: De la grammatologie 127

weder ein natürliches noch ein  künstliches (mit Implikationen für Biologie, Techniktheorie und Psychoanalyse). Unter Nutzung phänomenologischer Ressourcen – Husserl, Heidegger, Fink – sowie über Anleihen bei Levinas (Spur) und Freud (Nachträglichkeit) wird das Denken der (Ur-)Impression und der Zeitlichkeit nach Husserl von D. über den phänomenologischen Horizont hinaus um die Dimension der niemals gegenwärtigen Spur und der différance – endlose Unterscheidung/endloser Aufschub – erweitert. – Der Ansatz einer »Grammatologie als positiver Wissenschaft« wird als naiv verworfen, und noch F. de Saussures Entwurf einer allgemeinen Semiologie oder der Strukturalen Anthropologie von C. Lévi-Strauss werden trotz ihres Ansinnens, Sprache als ein Zeichensystem unter anderen zu begreifen, eine Privilegierung der Sprache gegenüber der Schrift nachgewiesen. Generell entzieht D. den zeitgenössischen Strukturalismen mit der Erschütterung der zentralen Unterscheidung von Signifikant und Signifikat den Boden. – Der Schlussteil ist Rousseau gewidmet, dessen Pathologie eines – immer aufs Neue enttäuschten – Strebens nach Fülle von D. als dem Gesetz einer

»Logik des Supplements« unterliegend beschrieben wird: Jedes Ganze erweist sich stets als ein nur vermeintlich Ganzes, insofern es eines Supplements, einer Ergänzung bedarf, was letztlich jede Ganzheit unmöglich macht. – De la Grammatologie hat eine Umwälzung der philosophischen und literarischen Hermeneutik eingeleitet, die unter spezifischer Beachtung der Dynamik von Schreib- und Leseprozessen das literarische und metaphorische Eigenleben von Texten gegenüber einer subjektzentrierten Bedeutungsgenerierung aufwertet. H.-D. Gondek Ausgaben: Engl., Of Gramma­ tology, Baltimore/Ldn.  1998. – Dt.,  Ffm.  102009 (Ü. revisionsbedürftig). Literatur: D. Thiel, Über die Genese philosophischer Texte. Studien zu J.  D., Fbg./Mchn. 1990. – H.-D. Gondek/B.  Waldenfels (Hg.), Einsätze des Denkens. Zur Philosophie von J.  D., Ffm. 1997. – S.  Gaston/I.  Maclachlan (Hg.), Reading D.’s »Of Grammatology«, Ldn./NY 2011.

René Descartes * 31. 3. 1596 in La Haye en Touraine, † 11. 2. 1650 in Stockholm; französischer Naturwissenschaftler,  Mathematiker, Philosoph, Be­ gründer des erkenntnistheoretischen Ra­tionalismus.

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Descartes: Discours de la méthode

Discours de la méthode pour bien conduire sa raison, et chercher la vérité dans les sciences (frz.; Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung), EA Leiden 1637 (anonym).

Die Abhandlung ist das erste Werk, das D. zu Lebzeiten veröffentlicht hat. Es ist in Form einer intellektuellen Autobiographie verfasst und enthält einen programmatischen Entwurf zu der neuen Methode als sicheres Fundament für die wissenschaftliche Forschung. Gleichzeitig werden alle wichtigen Themenbereiche abgehandelt, die in den späteren Werken D. zum Gegenstand gemacht werden (Metaphysik, Naturphilosophie, praktische Philosophie). Die Abhandlung ist in sechs Teile gegliedert. Der erste Teil ist die Beschreibung D.’ wissenschaftlichen Studiums. Enttäuscht von der Beschäftigung mit den einzelnen Wissenschaften hält er fest: »Ich fand mich in so viele Zweifel und Irrtümer verstrickt, daß es mir schien, der einzige Gewinn meines Bemühens, mich zu unterrichten, wäre nur der, zunehmend meine Unwissenheit entdeckt zu haben.« Geleitet von dem Grundsatz, dass man alte Fundamente zerstören muss,

um zur Wahrheit zu gelangen, gibt D. im zweiten Teil vier Hauptregeln seiner Methode an. (1) Niemals eine Sache als wahr anerkennen, von der man nicht ganz evident erkennt, dass sie wahr ist: d. h. Übereilung und Vorurteile sorgfältig vermeiden und keine Urteile über das fällen, was nicht so klar und deutlich ist, dass man keinen Anlass hätte, daran zu zweifeln. (2) Jedes Problem in Teile zergliedern, um es leichter lösen zu können. (3) Die Ordnung beachten: mit einfachsten und leichtesten Gedanken beginnend, zu den schwieri­ geren und zusammengesetzten aufsteigen. (4) Vollständige Aufzählungen vornehmen. Im dritten Teil wird eine vorläufige Moral entwickelt – einige praktische Regeln –, die D. als Richtlinien für sein Handeln dienen sollen, bis die Methode vollendet und auch auf den praktischen Bereich angewandt werden kann. Der vierte Teil handelt von der Metaphysik. Es werden Überlegungen angestellt, die in den vier Jahre später erschienenen und berühmt gewordenen →  Meditationes de prima philosophia weiter fortgeführt wurden. So finden sich hier bereits in Ansätzen (1) der methodische Zweifel: all das als völlig falsch verwerfen, wofür man sich nur den



Descartes: Meditationes de prima philosophia 129

geringsten Zweifel ausdenken könnte; (2) das Traumargument – »daß genau dieselben Gedanken, die wir haben, wenn wir wach sind, uns auch kommen können, wenn wir schlafen, ohne daß irgendeiner davon wahr wäre«; (3) das cogito-Argument: Je pense, donc je suis – ›Ich denke, also bin ich‹; (4) die Bestimmung des Ichs als einer denkenden Substanz – »Daraus erkannte ich, daß ich eine Substanz war, deren ganzes Wesen oder deren ganze Natur nur darin bestand, zu denken, und die, um zu sein, weder einen Ort benötigt, noch von irgendeinem materiellen Ding abhängt«; (5) die Wahrheitsregel – dass die Dinge, die wir klar und deutlich begreifen, alle wahr sind; und schließlich (6) die Gottesbeweise. Im fünften Teil referiert D. in verkürzter Form seine naturphilosophischen Überlegungen, die er ursprünglich unter dem Titel Le Monde veröffentlichen wollte. Jedoch stellte D. die Arbeit daran ein, als er von der Verurteilung Galileis erfuhr. Die Naturphilosophie umfasst Ausführungen zur unbelebten Materie (Sterne, Planeten, Licht, Feuer) und zu beseelten Körpern (Pflanzen, Tiere, der Mensch), sowie eine relativ ausführliche Beschreibung des Herzmechanismus. Der letz-

te Teil gibt Auskunft über die Gründe der Veröffentlichung der Schrift. – Das Werk entfaltete bereits zu Lebzeiten D. eine große Wirkung, da es auch von Laien gelesen werden konnte, und gehört zu den Klassikern des neuzeitlichen Rationalismus. Es beindruckt zudem durch eine Vielzahl von Elementen, die für das nachfolgende Zeitalter der Aufklärung bestimmend werden sollte. A. Panteos Ausgaben: Frz./dt., Discours de la méthode, Einl.: C.  Wohlers, Hbg. 2011. – Engl., Discourse on the Method, in: The Philosophical Writings of D., Ü. und Hg.: J. Cottingham u. a., Volume I, Cambr. 1999. Literatur: L. Roth, D.’ Discourse on Method, 1937. – H.-M. Gerlach u. a. (Hg.), D. und das Problem der wissenschaftlichen Methode, Halle 1989. – J. Cottingham (Hg.), The Cambridge Companion to D., Cambr. 1992.

Meditationes de prima philosophia, in qua Dei existentia et animae immortalitas demonstratur (lat.; Meditationen über die erste Philosophie, in der die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit der Seele bewiesen werden), EA Paris 1641.

Dieses bekannteste Werk  D.’ gilt allgemein als der Beginn der erkenntnistheoretischen  Pha­ se in der Philosophie. In den

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Descartes: Meditationes de prima philosophia

sechs Meditationen beschreibt D. einen Weg, um zu einer sicheren Erkenntnis zu gelangen. – Die erste Meditation liefert den wichtigen Schritt der Beseitigung aller vermeintlichen Gewissheit. Bei diesem Umsturz der alten Meinungen geht D. methodisch vor: 1) Statt alles als falsch zu erachten, weist er das zurück, woran auch nur gezweifelt werden kann; 2) er zieht nicht alle Erkenntnisse einzeln in Zweifel, sondern die Prinzipien, auf denen sie beruhen. Schritt­weise  werden Erkenntnisse, die  auf sinnlicher Erfahrung beruhen, methodisch bezweifelt: entfernte, nahe Gegenstände, eigener Körper, Erkenntnisse empirischer Wissenschaften. Außerdem können auch die nichtempirischen Wissenschaften (Mathematik, Geometrie) kein sicheres Wissen liefern, wenn man die Möglichkeit eines »bösen Geistes« in Erwägung zieht, der uns permanent täuscht. Die zweite Meditation enthält die erste sichere Erkenntnis – »Ich bin, ich existiere«. Diese wird aus der Überlegung gewonnen, dass, wenn jemand von dem bösen Geist getäuscht wird, es immerhin jemanden geben müsste, der getäuscht wird: »Er möge mich täuschen, soviel er kann, niemals wird er bewirken, daß ich nichts bin, solange

ich denken werde, daß ich etwas bin.« Das Ich zeichnet sich nun allein dadurch aus, dass es ein »denkendes Ding« ist, wobei D. unter ›Denken‹ alle mentalen Prädikate versteht (einsehen, behaupten, bestreiten, wollen, vorstellen). Zu Beginn der dritten Meditation formuliert D. eine Wahrheitsregel: Alles ist wahr, was klar und deutlich erkannt wird. Die Regel wird gebraucht, um weitere Erkenntnisse mithilfe der Vernunft gewinnen zu können. Die Geltung der Wahrheitsregel kann nur Gott sicherstellen, der aufgrund seiner Güte nicht möchte, dass wir uns immer irren. Daher enthält diese Meditation den ersten – kosmologischen – Gottesbeweis: (1) In einer bewirkenden und hinreichenden Ursache muss zumindest ebensoviel enthalten sein wie in der Wirkung derselben Ursache. (2) Ich finde in mir selbst die Idee eines vollkommenen Gottes. (3)  Aufgrund meiner Unvollkommenheit  kann ich nicht die Ursache dieser Idee sein, sondern es kann nur Gott sein. Also existiert Gott. Darüber hinaus findet sich hier die Einteilung der Ideen in angeborene, erworbene und selbsterzeugte. In der vierten Meditation geht es um wahre und falsche Erkenntnisse und die Quellen des Irr-



Descartes: Les passions de l’âme 131

tums. Zunächst wird festgehalten, dass nur Urteile wahr und falsch sein können. Als Quelle der Irrtümer wird der Wille ausgezeichnet: »Nun – allein daraus, daß ich, weil der Wille weiter auslangt als der Verstand, ihn nicht in denselben Grenzen halte, sondern auch auf das ausweite, was ich nicht einsehe […], weicht er leicht vom Wahren und Gutem ab, und so täusche ich mich und gehe fehl.« Die fünfte Meditation enthält neben einer Reihe Bemerkungen zum Wesen der materiellen Dinge den zweiten – ontologischen – Gottesbeweis: (1) Zum Vollkommensein gehört Existenz notwendig dazu. (2) Gott ist vollkommen. Also kommt Gott Existenz zu. In der sechsten Meditation soll nun all der Zweifel wieder beseitigt werden, indem mithilfe der Wahrheitsregel die Existenz der materiellen Gegenstände in der Außenwelt wieder bewiesen wird. Außerdem versucht D. die Unabhängigkeit des Geistes vom Körper zu zeigen (Substanzdualismus). – Zu den ersten Rezensenten gehörten sechs Gelehrte – u. a. Mersenne, Arnauld, Hobbes, ­ Gassendi –, deren Einwände samt den Erwiderungen von D. der ersten Auflage der Meditationen beigegeben waren. Sowohl die Rigorosität der

Begründungsmethode als auch der ehrgeizige Begründungsanspruch prägten die neuzeitliche Philosophie. Im 20. Jh. wurde das Werk u. a. von Edmund Husserl, Martin Heidegger und Gilbert Ryle rezipiert. A. Panteos Ausgaben: Lat./dt., Ü. und Hg.: C.  Wohlers, Hbg. 2008. – Dt., Meditationen. Mit sämtlichen Einwänden und Erwiderungen, Ü. und Hg.: C.  Wohlers, Hbg. 2009. – Engl., in: The Philosophical Writings of D., Ü. und Hg.: J. Cottingham u. a., Volume II, Cambr. 1999. Literatur: J. Cottingham (Hg.), The Cambridge Companion to D., Cambr. 1992. – A.  Kemmerling (Hg.), Meditationen über die erste Philosophie, Bln. 2009 (Klassiker Auslegen).

Les passions de l’âme (frz.; Die Leidenschaften der Seele), EA Amsterdam/Paris 1649.

Die letzte Schrift von D. hat seine praktische Philosophie zum Gegenstand und ist der Untersuchung der Leidenschaften gewidmet. Da D. mit dem Stand der Forschung in diesem Bereich nicht zufrieden ist, behandelt er das Thema so, als ob niemand vor ihm sich damit befasst hätte. Ausgehend von der Unterscheidung zwischen Körper und Seele werden im ersten Teil zunächst physiologische Betrachtungen angestellt

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Descartes: Les passions de l’âme

(Körperorgane, Blutkreislauf, Muskeln, Nerven usw.). D. geht davon aus, dass für die meisten Vorgänge in unserem Körper die Lebensgeister – kleine Blutpartikel – verantwortlich sind. Anschließend wendet er sich den seelischen Funktionen zu (Willensakte und Leidenschaften). Die Leidenschaften werden definiert als »Wahrnehmungen oder Empfindungen oder Emotionen der Seele, die ihr in besonderer Weise zugehören und die durch die Bewegung der Lebensgeister veranlasst, unterstützt und verstärkt werden«. Der Körper und die Seele interagieren miteinander vermittels einer kleinen Drüse im Gehirn. So kann etwa die Seele die Drüse veranlassen, bestimmte Bewegungen hervorzurufen. Die Wirkung der Leidenschaften besteht also darin, die Seele anzuregen, etwas zu wollen: Z.B. regt die Furcht an, fliehen zu wollen. Die Leidenschaften können durch den Willen kontrolliert werden, sie sind jedoch nicht vollständig kontrollierbar. Man kann sich nach D. jedoch darin üben, durch Vorstellungen die Leidenschaften zu zügeln. So unterscheiden sich starke Seelen von den schwachen dadurch, dass sie ihre Leidenschaften durch den Willen beherrschen und nicht von ihnen beherrscht

werden. Im zweiten Teil führt D. einige Leidenschaften auf nach einer Ordnung, die sich von der traditionellen Aufzählung der Affekte in Zuordnung zu den Seelenteilen unterscheidet. Er erläutert zunächst die sechs ursprünglichen Affekte: Verwunderung, Liebe, Hass, Begehren, Freude und Traurigkeit. Alle anderen Leidenschaften ergeben sich aus den Kombinationen dieser sechs Affekte. Im weiteren Verlauf werden die ursprünglichen Leidenschaften definiert, und es wird erläutert,  wie man sie kontrollieren kann. D. befasst sich darüber hinaus ausführlich mit den körperlichen Vorgängen im Inneren – Pulsschlag, Organe –, die von den Leidenschaften  verursacht werden. Außerdem beschreibt er die äußeren körperlichen Veränderungen, wie etwa das Erröten, Zittern, Lachen usw. Im dritten Teil werden die ­übrigen Leidenschaften be­ handelt. – Die Betrachtungen der Leidenschaften werden von D. jedoch nicht als Zweck an sich angestellt. Im Zentrum steht die moralphilosophische Einsicht, dass Zufriedenheit im Leben erreicht werden kann, wenn die Menschen tugendhaft handeln und ihre Leidenschaften beherrschen lernen. Der Tugend zu folgen, bedeutet nach D.,



Descartes: Principia philosophiae 133

das nicht zu unterlassen, was man als gut beurteilt hat. Die Leidenschaften sind von Natur aus alle gut, nur ihr schlechter und falscher Gebrauch kann schädlich sein. Daher empfiehlt D. als Allheilmittel gegen die Leidenschaften, unmittelbar vor ihrem »Ausbruch« innezuhalten und sich zu vergegenwärtigen, dass der Einfluss der Leidenschaft nicht so stark ist, wie man zunächst meint. – Mit der Schrift legt D. keine ausgearbeitete Moraltheorie vor, wie sie noch in den → Discours de la méthode in Aussicht gestellt wird. Es handelt sich vielmehr um eine physiologisch-psychologische Untersuchung der Emotionen mit dem Ziel, sie besser beherrschen zu können. A. Panteos Ausgaben: Frz./dt., Die Leidenschaften der Seele, Einl.: K.  Hammacher, Hbg. 21996. – Engl., The Passions oft the Soul, in: The Philosophical Writings of D., Ü. und Hg.: J.  Cottingham u. a., Volume  I, Cambr. 1999. Literatur: A. Klemmt, D. und die Moral, Meisenheim 1971.

Principia philosophiae (lat.; Die Prinzipien der Philosophie), EA Amsterdam 1644.

Das Werk war konzipiert als eine Darstellung der gesamten Lehre D.’. Von den ursprüng-

lich geplanten sechs Teilen wurden jedoch nur vier realisiert. Unausgeführt blieben Teile über die Lebewesen (Botanik und Zoologie) sowie über den Menschen. Im ersten Teil behandelt D. die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis und legt somit erneut die metaphysischen Grundlagen seiner Physik dar. Er präsentiert die wichtigsten Argumente aus den → Meditationes de prima philosophia (methodischer Zweifel, das cogito-Argument, Gottesbeweise, Substanzdualismus). Diese Zusammenfassung wird ergänzt durch Ausführungen zur Unendlichkeit, Freiheit und zum Willen. Außerdem erläutert D. ausführlich das Substanz-Akzidens-Verhältnis, Erkenntnisprobleme bei Empfindungen sowie die Ursachen für menschliche Irrtümer. Der Rest der Prinzipien besteht in der Darstellung cartesianischer Physik. Im zweiten Teil werden  die Prinzipien der materiellen Dinge behandelt. Zunächst wird festgestellt, dass das Hauptmerkmal körperlicher Dinge die Ausdehnung ist. Dies führt zusammen mit der Definition des Raums als einer Ausdehnung in Länge, Breite und Tiefe zur Ablehnung der Vorstellung vom Vakuum als einem »leeren« Raum. Außerdem präsentiert D. »Beweise«

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Descartes: Principia philosophiae

der Unmöglichkeit von unteilbaren Teilen der Materie (Atomen), der unbegrenzten Ausdehnung der Welt sowie einen »Beweis« dafür, dass es nur eine Welt geben kann. Nach den allgemeinen Ausführungen zum Begriff der Bewegung werden drei Naturgesetze aufgestellt: (1) Ein jedes Ding behält von sich aus denselben Zustand bei; daher fährt ein Ding, das sich einmal in Bewegung gesetzt hat, immer fort, sich zu bewegen (Trägheitsprinzip). (2) Jede Bewegung ist aus sich selbst heraus geradlinig, und deshalb tendiert alles, was sich kreisförmig bewegt, sich vom Mittelpunkt des Kreises zu entfernen, den es beschreibt. (3) Ein Körper verliert nichts von seiner Bewegung, wenn er auf einen anderen auftrifft, der eine größere Kraft besitzt; trifft er hingegen auf einen mit geringerer Kraft auf, verliert er gerade so viel Bewegung, wie er auf jenen überträgt. Aus diesen Bewegungsgesetzen werden sieben Stoßregeln abgeleitet. In den letzten Abschnitten des zweiten Teils finden sich Ausführungen zu harten und flüssigen Körpern. Der dritte Teil – über die sichtbare Welt – enthält eine Theorie über die Entstehung und die Beschaffenheit des Sonnensystems. D. setzt sich dabei mit Theorien

von Ptolemäus, Kopernikus und Brahe auseinander. Seine eigene Theorie der Erdbewegung erlaubt ihm zu behaupten, dass sich die Erde einerseits um die Sonne dreht (insofern, als die äthergefüllten Himmelsbahnen in ihrer Bewegung um die Sonne die Erde und andere Planeten mit sich führen), andererseits bewegt sie sich jedoch nicht im strengen Sinne, da sie nicht angestoßen wird. Diese Kons­truktion erlaubt D., an der These von der Unbeweglichkeit der Erde festzuhalten. Darüber hinaus enthält der dritte Teil die Wirbeltheorie, eine Erklärung des Lichts, der Sonnenflecken, Sterne, Planeten und Kometen. Das Themenspektrum des vierten Teils ist sehr reichhaltig. D. präsentiert darin seine mechanistische Theorie des Lichts, beschäftigt sich mit den Elementen Feuer, Wasser, Erde und Luft. Er setzt sich sehr eingehend mit dem Magnetismus auseinander sowie mit Gezeiten, alchemistischen Elementen, Metallen, Ölen, Glas usw. Abschließend befasst er sich mit physiologischen Beschreibungen der Sinne und Empfindungen. Die umfassende Darstellung der cartesianischen Physik entfaltete unter den zeitgenössischen Wissenschaftlern große Wirkung. Sie übte u. a. einen



Dewey: Art as Experience 135

großen Einfluss auf Newton aus (→  Philosophiae naturalis principia mathematica, 1687). A. Panteos Ausgaben: Lat./dt., Die Prinzipien der Philosophie, Ü. und Hg.: C.  Wohlers, Hbg. 2005. – Engl., Principles of Philosophy, in: The Philosophical Writings of D., Ü. und Hg.: J. Cottingham u. a., Vol­ ume I, Cambr. 1999. Literatur: R. C. Olby u. a. (Hg.), Companion to the History of Modern Science, Ldn./NY 1990. – S. Gaukroger u. a. (Hg.), D.’ Natural Philo­ sophy, Ldn./NY 2000.

John Dewey * 20. 10. 1859 in Burlington (Vt.), † 2. 6. 1952 in New York; einer der Hauptvertreter des nordamerikanischen Pragmatismus.

Art as Experience (engl.; Kunst als Erfahrung), EA NY 1934.

In den an der Universität Harvard gehaltenen WilliamJames-Vorlesungen entwickelt D. seine Philosophie der Kunst. Im Gegensatz zur gängigen Absonderung und Vergeistigung des ästhetischen Phänomens will D. die Kontinuität zwischen den dichteren, intensiveren und feineren ästhetischen Erfahrungsformen und den Alltagserfahrungen nachweisen. – Kunst begreift er primär

als eine spezifische Form von Erfahrung. Alles, was sich über die Erfahrung im Allgemeinen sagen lässt, wird D. zufolge auch für die ästhetische Erfahrung gelten. ›Erfahrung‹ versteht D. als das Resultat einer komplexen Interaktion zwischen einem lebendigen Organismus (auch ›Selbst‹ genannt) und bestimmten Dimensionen der Welt (auch ›objektive Bedingungen‹ genannt), in der der Organismus lebt und sein Leben gestaltet. ›Erfahrung‹ ist die bewusstseinsmäßige Vollendung (consummation in  consciousness) einer in diesem Kontext vollzogenen Bewegung, durch welche diese zu einer kognitiv und emotional qualifizierten Ganzheit oder Einheit wird. Die ästhetische Erfahrung stellt für D. den besonderen Fall von Erfahrung dar, an dem das Grundmuster des ›Erfahrung-Habens‹ bzw. ›Erfahrung-Machens‹ wiederholt und intensiviert wird. Kunstwerke sind Objekte oder Formen intensivierter Erfahrung, die zu neuen, intensiven Erfahrungen anregen. Sie sind nicht Teile einer anderen Realität, sondern – in der metaphorischen Redeweise D.s – wie die Berggipfel beson­dere Gestaltformen des Bodens, keineswegs Konstruktionen oder Formationen außerhalb des-

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Dewey: Experience and Nature

selben. D. hebt die expressive Qualität ästhetischer Phänomene hervor, wobei er damit die konstruktive, formgebende, Bedeutungen schaffende Verarbeitung von rohen Materialien (Stoffen, Farben oder Wörtern) meint. Aufgrund der Bedeutungsstruktur des Expressiven sind Kommunikationsprozesse die natürliche Folge der ästhetischen Produktionen. In kommunikativen Wirkungsgeschichten entfalten diese ihre Energien bindende und Erfahrung organisierende Kraft. Die ästhetische (produktive wie rezeptive) Erfahrung findet nach D. immer in einem soziokulturellen Kontext statt, den man sich vergegenwärtigen muss, will man deren konkrete Bedeutungsgehalte erfassen. D. betont nicht nur die Konti­ nuität zwischen ästhetischer Erfahrung und Alltagserfahrung, sondern weist durchgehend auf die ästhetischen Qualitäten des Wissenschaftshandelns, des Erziehungsprozesses und des politischen Entscheidens hin. – In der gegenwärtigen ästhetischen Diskussion greift insbesondere M.  Seel auf D.s Kunsttheorie zurück. T. Gil Ausgaben: NY 1980. – Dt., Ffm. 1980. Literatur: G. Deledalle, L’idée d’expérience dans la philosophie de

J.  D., Paris 1967. – M.  Seel, Die Kunst der Entzweiung. Zum Begriff der ästhetischen Rationalität, Ffm. 1985. – U.  Engler, Kritik der Erfahrung. Die Bedeutung der ästhetischen Erfahrung in der Philosophie J. D.s, Wzbg. 1992. – L. A. Hickman u. a. (Hg.), The Continuing Relevance of J.  D.: Reflections on Aesthetics, Morality, Science, and Society, Amsterdam 2011.

Experience and Nature (engl.; Erfahrung und Natur), EA Chicago/Ldn. 1925.

In den 1925 gehaltenen PaulCarus-Vorlesungen wendet D. bei einer Erörterung klassischer philosophischer Probleme die Methode des ›empirischen Naturalismus‹ konsequent an. Er behandelt u. a. das Erkenntnisproblem, die Kommunikations- oder Sprachauffassung, die Begriffe des Lebens, des Bewusstseins, der Kunst und der Werte sowie die Subjektivitätsthematik. Er argumentiert dabei stets im Sinne seines ­eigenen Kontinuitätsprinzips gegen etablierte Dualismen (Körper-Geist, Natur-Erfahrung, Subjekt-Objekt, Theo­riePraxis, Sein-Sollen, ExistenzWerte, Kunst-Wissenschaft, Alltagsverstand-Wissenschaft, Reales-Ideales). – D.s Konti­ nuitätsprinzip nimmt eine einzige Lebens- und Handlungswirklichkeit intelligenter



Dewey: Experience and Nature 137

Lebewesen an, die im Umgang mit einer Natur, der sie selbst angehören, Strategien zur Lösung entstehender Probleme und Herausforderungen der konkreten Lebensbewältigung erarbeiten. Die verschiedenen Größen, die von dualistischen Philosophien separiert und hypostasiert werden, gehören für D. als verschiedene Aspekte und Entwicklungsstufen eines einzigen Lebens- und Erfahrungsprozesses zusammen. Die Seele, der Geist und das Bewusstsein werden als emergente komplexe Handlungskompetenzen und Handlungsmuster verstanden, deren Entstehungsgeschichte empirisch rekons­ truierbar ist. Einem verdinglichenden, dissoziierenden, dualistischen Denken setzt D. eine seiner Ansicht nach dem Geist der modernen Wissenschaft entsprechende »experimentelle Philosophie« entgegen, die ohne spekulative Ideen und Vorstellungen auszukommen beansprucht. Die zentralen Kategorien der experimentellen Philosophie D.s sind der Begriff der Erfahrung sowie ein instrumenteller Handlungsbegriff, der die biologischen, sozialen und kulturellen Bedingungen menschlichen Handelns und Erlebens in Rechnung stellt. D. hebt die Instrumentalität menschlichen Handelns, d. h.

die komplexe Interpenetration von Mitteln und Zwecken hervor, die im Alltag, in der Kunst und in der Wissenschaft stattfindet. Das Alltagshandeln, die künstlerische produktive Tätigkeit und das wissenschaftliche Forschungshandeln haben für D. dieselbe instrumentell-experimentelle Struktur. Er stellt sie demnach als verschiedene Formen der einen menschlichen Praxis dar. Die Entwicklung der modernen Naturwissenschaften erklärt D. vor diesem Hintergrund als progressive quantifizierende Entfinalisierung bzw. Entteleologisierung der Erkenntnisobjekte, die aufhören, Endzwecke zu sein, und zu bloßen Mitteln depotenziert werden. In der Sprache sieht er ein Instrument sozialer Kooperation, durch das Bedeutungen festgelegt und übermittelt werden können. Das Erkennen begreift D. primär als ein intelligentes Handeln in bestimmten Erfahrungskontexten, in denen der Denkende Anpassungsleistungen vollbringen muss, indem er die eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten entwickelt. – Im Rahmen seines ›empirischen Naturalismus‹ wendet sich D. gegen die Tradition des cartesianischen Rationalismus und entwickelt einen integralen Erfahrungsbegriff, der Erfahrung als die produkti-

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Dewey: Logic

ve Interaktion von Subjektivem und Objektivem, Organismus und Umwelt auffasst. – In Experience and Nature antizipiert D. viele kritische Gedankengänge, die man später u. a. bei Sellars, Quine, Putnam, Rorty und Dennett finden wird. T. Gil Ausgaben: NY 1958. – Dt., Ffm. 1995. Literatur: M. Suhr, J. D. zur Einführung, Hbg. 1994. – J. A. Popp, Evolution’s First Philosopher. J.  D. and the Continuity of Nature, Albany 2007. – M.  Cochran (Hg.), The Cambridge Companion to D., Cambr. 2010.

Logic. The Theory of Inquiry (engl.; Logik. Die Theorie der Forschung), EA NY 1938.

Bei diesem Werk handelt es sich nicht um einen Logik-Traktat im klassischen Sinne. D. entwickelt vielmehr eine Theorie des Forschungshandelns (inquiry), die beansprucht, der modernen Wissenschaft und der mo­ dernen, verwissenschaftlichten Welt gerecht zu werden. – Das Forschungshandeln begreift D. als ein Verfahren mit vielen Facetten und Aspekten, die den engen Rahmen der klassischen Logik und der traditionellen Erkenntnistheorie übersteigen. Deswegen plädiert er für eine radikale Reform der traditionel-

len Logik. Die neue, reformierte Logik kann D. zufolge nur eine empirische, d.  h. Erfahrungslogik sein, deren Grundthema das viel dimensionierte Forschungshandeln ist und die psychologische, biologische, kulturtheoretische und soziologische Erkenntnisse und Einsichten bewusst verwertet. D. sieht das Ziel des Forschungshandelns in der methodisch kontrollierten und deswegen nachprüfbaren Transforma­tion einer unbestimmten Situa­ tion in eine vereinheitlichte, bestimmte Situation. Am Anfang eines jeden Forschungshandelns stehen zunächst der Zweifel, die Unsicherheit und eine Vielfalt ungeordneter Elemente und Variablen. An seinem Ende steht, wenn es erfolgreich, d. h. im Sinne einer effizienten Reflexion vollzogen wurde, die bewährte, jederzeit verifizierbare Aussage. Die einzelnen logischen Formen oder Prinzipien werden von D. als Momente des Forschungsprozesses (Regeln der Forschung oder Regeln im Dienste der Forschung) bestimmt. Sie verlieren damit den Status von invarianten Größen und erhalten ihre relative Bedeutung innerhalb des verschiedene Operationen umfassenden Gesamthandlungszusammenhangs der Forschung. D.s Theorie des



Diderot: Encyclopédie 139

Forschungshandelns versteht sich als ›naturalistische‹ Theo­ rie, da sie das Forschungshandeln als Erarbeitung (Erfindung oder Entdeckung) kontinuierlicher einfacher und komplexer Überlebens- und Lernstrategien seitens der Organismen in natürlich-soziokulturellen Umwelten deutet und dabei die traditionellen Dualismen von Natur und Geist, natürlich-unterlegenen und geistig-überlegenen Tätigkeiten überwindet. D.s Schrift enthält aber nicht nur eine Theorie des wissenschaftlichen instrumentell-operativen Forschungshandelns, sondern auch verschiedene bemerkenswerte historische Exkurse. So wird oftmals auf die Differenz von griechischer Philosophie und moderner Naturwissenschaft hingewiesen und historisch rekonstruiert, wie die (zum Teil aufgrund der Klassenstruktur der griechischen Gesellschaft zustande gekommenen) Dualisierungen und Idealisierungen der klassisch-griechischen Philosophie in die modernen Erfahrungswissenschaften Eingang fanden. – D.s Theorie des Forschungshandelns, deren zweckgerichteten Instrumentalismus Horkheimer radikal kritisiert hat, antizipiert viele Theoreme der gegenwärtigen pragmatisierten Wissenschafts-

philosophie, die sich u. a. als Folge der Arbeiten Kuhns, Hansons und Feyerabends etabliert hat. T. Gil Ausgaben: Carbondale/Edwardsville 1991. – Dt., Ffm. 2008. Literatur: T. Burke, D.’s New Logic. A Reply to Russell, Chicago 1994. – F.  T. Burke/D. M. Hes­ ter/R. B. Talisse (Hg.), D.’s Logical Theory, Nashville 2002.

Denis Diderot * 5. 10. 1713 Langres, † 30. 7. 1784 Paris; bedeutender Philosoph, Essayist und Romancier der französischen Aufklärung.

Encyclopédie, ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, par une société de gens de lettres (frz.; Enzyklopädie oder wohlbegründetes Lexikon der Wissenschaften, Künste und Handwerke, von einer Gesellschaft von Gelehrten), EA Paris 1751–80 (17 Text-Bde., 11 Bde. Tafeln, 5 Suppl.-Bde., 2 Register-Bde.; Hg.: Jean Le Rond d’Alembert und Denis Diderot, ab Bd. 8, 1765, von Diderot allein).

Zunächst als erweiterte Übersetzung der englischen Cyclopae­ dia (1728) von E.  Chambers geplant, wurde eine völlige Neubearbeitung nötig, um den neuesten Wissensstand umfassend präsentieren zu können.

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Diderot: Encyclopédie

Dabei waren unter den fast 150 Autoren viele der namhaften Aufklärer Frankreichs, so dass die Bezeichnungen ›Enzyklopädist‹ und ›Aufklärer‹ fast zu Synonymen wurden. Von einer einheitlichen Tendenz der Artikel kann aber nicht gesprochen werden. Mit Rücksicht auf die Zensur mussten viele Kompromisse geschlossen werden; viele kritische Bemerkungen konnten nur an versteckter Stelle angebracht werden. Um den fortdauernden Anfeindungen zu entgehen, publizierte der Verleger die letzten 10 Bände ohne Wissen D.s in gekürzter Form. – Obwohl die Artikel alphabetisch angeordnet sind, verstanden die Herausgeber den Begriff ›Enzyklopädie‹ als System und Verknüpfung der Wissenschaften, gleichsam als Weltkarte, aus der die Verkettung der Wissensgebiete ersichtlich werden soll. Um dies zu demonstrieren, wird in der Einleitung von d’Alembert ein Stammbaum zur Klassifikation aller Disziplinen entworfen. Siglen, die bei jedem Artikel auf diese Wissenschaftstabelle verweisen, und Querverweise auf benachbarte Artikel sollen ein Minimum an systematischem Zusammenhang gewährleisten. Obwohl d’Alembert in der Einleitung den Grundsatz des Sensualismus, dass alle Erkenntnis

von der sinnlichen Wahrnehmung ausgeht, teilt, fließt diese Maxime nicht in alle einschlägigen Artikel ein. Für die Ontologie und Metaphysik werden manche Anleihen bei der deutschen Schulphilosophie (C. Wolff) gemacht, für die ältere Philosophiegeschichte bei J. J. Brucker. In anderen Artikeln zeigen sich Übernahmen aus den Lexika von P. Bayle und E. Chambers. An der Religion wird keine radikale Kritik geübt. In theologischen Spezial­ artikeln erscheinen die christlichen Dogmen in der Regel sachlich-respektvoll referiert. Vielfach werden jedoch Aberglauben und Wundererzählungen, kirchliche Hierarchie und Klerus, Intoleranz und Fanatismus kritisiert. Eine auf der Vernunft gegründete Religion wird bevorzugt; die Offenbarung wird aber nicht generell abgelehnt. Die Religion besteht im Wesentlichen in der Moral, deren Grundsätze universell gelten. In den Artikeln zu Recht und Staat erscheint der Fürst als Sachwalter der Staatsgewalt, der die Gesetze der Natur und des Staats vollzieht und von der Zustimmung des Volkes abhängig ist (D., Artikel »Autorité politique«). Aus dem Naturzustand und dem Gesellschaftsvertrag werden Freiheit und Gleichheit vor dem Gesetz als oberste Nor-



Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt 141

men für das Gemeinwesen abgeleitet (E. de Jaucourt, Artikel »État de nature«). Der Kirche gebührt keine Kontrolle des Staates. Das Gottesgnadentum und die absolute Monarchie werden zurückgewiesen, eine Monarchie in den Grenzen der Gesetze jedoch bejaht. – Gemeinsam ist allen Artikeln die Überzeugung, dass in diesem philosophischen Jahrhundert die Fesseln der Autorität abgelegt, das Wissen kritisch geprüft und zum Nutzen aller verbreitet werden soll. Dadurch wird der Fortschritt der Vernunft gefördert; die Menschen werden nicht nur gebildeter, sondern auch tugendhafter und glücklicher. Die Philosophie prüft alle Dinge vorurteilsfrei nach ihren Grundlagen; der Philosoph engagiert sich in der Wissenschaft und Gesellschaft seiner Zeit, statt sich in weltabgewandten Grübeleien zu verlieren (D., Artikel »Philosophe«). – Die Encyclopédie erreichte nicht zuletzt durch die Nachdrucke anderer Verleger eine für das 18. Jh. starke Verbreitung und bildet den Beginn der allgemeinen Wissensvermittlung durch Lexika im 19. und 20. Jh. U. Dierse Ausgaben: ND Stgt. 1966/67. – Dt., D.s Enzyklopädie. Eine Auswahl, Lpzg. 2001, Hg.: M.  Naumann.

Literatur: J. Proust, D. et l’Ency­ clopédie, Paris 1967. – R. Darnton, Glänzende Geschäfte. Die  Verbreitung von D.s Encyclopédie oder: Wie verkauft man Wissen mit Gewinn? Bln. 1993 (engl.  1979). – R.  Geißler, Die Enzyklopädie, in: Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie des 18. Jh.s, Bd.  2: Frankreich, Hg.: J.  Rohbeck/H.  Holzhey, Basel 2008, 263–282.

Wilhelm Dilthey *  19. 11. 1833 in Biebrich am Rhein, †  1. 10. 1911 in Seis am Schlern (Süd­tirol); Vertreter einer hermeneutisch-geschichtlichen Lebensphilosophie.

Der Aufbau der geschicht­ lichen Welt in den Geisteswissenschaften ED Bln.  1910 (in: Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse, 1–123).

D.s letzte große Ausarbeitung zur erkenntnistheoretisch-me­ thodologischen Grundlagenproblematik der Geisteswissenschaften basiert auf verschiedenen Akademie-Abhandlungen und -Vorträgen. Sie knüpft hinsichtlich ihrer Themenstellung direkt an die Einleitung in die Geisteswissenschaften von 1883 an und soll wohl Ersatz bieten für ihren nicht realisierten zweiten Band. Die angekündigte

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Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt

Fortsetzung der Abhandlung, in der D. den konkreten »Aufbau der Geisteswissenschaften« darstellen wollte, kam nicht mehr zustande. – D. nimmt sein Projekt einer »Kritik der historischen Vernunft« wieder auf und stellt sich die konkrete Aufgabe, das Wesen der Geisteswissenschaften zu erkennen, um diese eindeutig von den Naturwissenschaften abzugrenzen. In einer ersten Annäherung bestimmt er die Geisteswissenschaften als diejenigen Wissenschaften, die sich auf die Tatsache »Menschheit oder menschlich-gesellschaftlichegeschichtliche Wirklichkeit« be­ziehen. Die nähere Untersuchung der Art dieser Beziehung zeigt, dass die Geisteswissenschaften durch ein besonderes Verhalten, den Vorgang des »Verstehens«, konstituiert werden. Ihr Thema ist das »Innere«, das sich im sinnlich gegebenen »Äußeren« objektiviert. Dieses Innere ist nichts Psychisches, daher kann das primäre Verfahren geisteswissenschaftlicher Forschung nicht auf die Psychologie gegründet werden. Es zielt vielmehr auf den »Geist« eines Werks, einer Epoche, eines Kultursystems etc. Das Geistige, das im Verstehen zugänglich wird, ist für D. der objektive »Ausdruck« menschlichen Erlebens, d. h. »objektiver

Geist«: Menschliche Zustände und Vorgänge werden erlebt, gelangen in Lebensäußerungen zum Ausdruck und werden verstanden. Insofern beruhen die Geisteswissenschaften auf dem »Zusammenhang von Leben, Ausdruck und Verstehen«. Den Mittelpunkt der Schrift bildet D.s Versuch, vom erkenntnistheoretischen Problem aus den Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften zu untersuchen, wozu er eine Untersuchung der Struktur der Geisteswissenschaften vornimmt. Dabei geht D. von einer Analyse des Lebens aus und hebt die fundamentalen Bestimmungen des »Lebensbezugs« und der »Lebenserfahrung« heraus. Keine Neutralität, sondern »Stellungnahme, Verhalten, Schaffen an Dingen und Menschen und Leiden durch sie« bilden nach D. den permanenten Untergrund, auf dem sich dann die differenzierteren Leistungen der Auffassung, der Wertgebung und der Zwecksetzung erheben. Für die Geisteswissenschaften besitzt der Zusammenhang von Leben und Wissenschaft daher konstitutive Bedeutung. Dieser Grundgedanke bestimmt auch D.s Analyse der verschiedenen »Verfahrungsweisen, in denen die geistige Welt gegeben ist«. Dabei hält D. die fundamen-



Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt 143

tale Bedeutung von Erleben und Verstehen und ihre wechselseitige Abhängigkeit vonein­ ander fest: »Das Verstehen setzt ein Erleben voraus, und das Erlebnis wird erst zu einer Lebenserfahrung dadurch, dass das Verstehen aus der Enge und Subjektivität des Erlebens hinausführt in die Region des Ganzen und des Allgemeinen. Und weiter fordert das Verstehen der einzelnen Persönlichkeit zu seiner Vollendung das systematische Wissen, wie andererseits wieder das systematische Wissen abhängig ist von dem lebendigen Erfassen der einzelnen Lebenseinheit«. Damit zeigt D., dass für die geisteswissenschaftliche Arbeit eine grundsätzliche Zirkularität konstitutiv ist; diese Wechselwirkung zwischen Erleben und Verstehen ist nach D. »der allgemeinste Zug der Struktur der Geisteswissenschaften«. Das Verstehen schließt in den Geisteswissenschaften die Objektivierung, Realisa­tion, Manifestation oder Veräußerlichung des Lebens auf. Ihr Objekt ist die »Realisierung des Geistes in der Sinnenwelt«, die geistige Welt oder der objektive Geist, den D. im Gegensatz zu Hegel aus der »Realität des Lebens« herleitet. Die entscheidende Kategorie zur Erfassung der geistigen Welt ist für D. der »Wir-

kungszusammenhang«.  Dieser unterscheidet  sich vom Kausalzusammenhang in der Natur dadurch, dass er »nach der Struktur des Seelenlebens Werte erzeugt und Zwecke realisiert«. Die verschiedenen Wirkungszusammenhänge (von den einzelnen Kultursystemen bis zu den Nationen und historischen Epo­ chen) sind in sich zentriert, in ihnen sind »Wirklichkeitsauffassen, Wertung, Er­zeugung von Gütern zu einem Ganzen verbunden«. So wird der Wirkungszusammenhang für D. zum Grundbegriff der geistes­wissenschaftlichen Praxis: »In den Geisteswissenschaften er­fas­sen wir die geistige Welt in der Form von Wirkungszusammenhängen, wie sie sich in dem Zeitverlauf bilden. Wirken, Energie, Zeitverlauf, Geschehen sind so die Momente, welche die geisteswissenschaftliche Begriffsbildung charakterisiert.« – Das Werk ist ein Grundtext der Theorie der Geisteswissenschaften, der vielfach rezipiert wurde. Besonders wirksam wurde D.s Gedanke, dass die Geisteswissenschaften auf dem Zusammenhang von Erlebnis, Ausdruck und Verstehen beruhen, sowie seine Begriffe ›objektiver Geist‹ und ›Wirkungszusammenhang‹. H.-U. Lessing

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Diogenes Laertios: Philosophōn biōn

Ausgaben: Gesammelte Schriften, Bd.  7, 1927, 77–188. – Hg. und Einl.: M. Riedel, 1970; 31990. Literatur: H. Johach, Handelnder Mensch und objektiver Geist, Meisenheim a. G. 1974. – F. Rodi, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, in: Kindlers Literatur Lexikon, Bd.  4, 1989, 694  f. – H.-U. Lessing, W.  D., Köln/Weimar/Wien 2011, 121–152.

Diogenes Laertios 1. Hälfte 3. Jh.; spätantiker Gelehrter.

Philosophōn biōn kai dogmatōn synagogē (gr.; lat.: De vitis dogmatis et apophthegmatis clarorum philosophorum libri X; Sammlung der Lebensbeschreibungen und Lehrmeinungen der Philosophen), ED Rom etwa 1472 (lat.); Basel 1533 (gr.).

Diese vollständigste aus dem Altertum überlieferte Geschichte der Philosophie in zehn Büchern folgt im Aufbau dem vom Peripatetiker Sotion aus Alexandrien (1. Hälfte des 2.  Jh.s v.  Chr.) entwickelten Schema der Abfolge von Lehrern und Schülern, auf welcher nicht nur die Einheit der einzelnen Schulen, sondern auch die Verbindung der verschiedenen Schulen untereinander beruht. Die Philosophie ist

nach D. eine Schöpfung der Griechen (I,1–11). D. unterscheidet dabei zwei Entwicklungslinien, die er nicht mehr auf einen gemeinsamen Ursprung zurückführt: die mit Anaximander beginnende ionische und die auf Pythagoras zurückgehende italische Philosophie (I,13). Vorgänger der Philosophie sind für ihn die sog. Sieben Weisen, deren Reihe mit Thales, dem Lehrer des Anaximander, beginnt, und zu denen D. auch Pherekydes, den Lehrer des Pythagoras, zählt (I,22–122). Die ionische Richtung führt von den Milesiern Anaximander und Anaximenes über Anaxagoras und Archelaos zu dessen Schüler Sokrates (II), wo sie sich verzweigt: Der Sokratiker Antisthenes gründet die kynische Schule (VI), aus der die Stoa (Zenon, Kleanthes, Chrysipp) hervorgeht (VII); über Platon (III) gehen die Akademie (IV) und Aristoteles mit dem Peripatos (V) auf Sokrates zurück. Zur italischen Philosophie zählt D. außer den Pythagoreern Empedokles (VIII), Heraklit, Xenophanes und dessen Schüler Parmenides von Elea. Der Eleat Zenon ist Lehrer des Atomisten Leukipp und dessen Schüler Demokrit Lehrer des Sophisten Protagoras; in Demokrits Tradition steht u. a. Pyrrhon, der Begrün-



Diogenes Laertios: Philosophōn biōn 145

der der Skepsis (IX). Demokrits Atomismus wird von Epikur fortgeführt (X). – Das Werk ist eine Mischung aus Biographie und Doxographie. D. ist mehr am Leben und an der Persönlichkeit der Philosophen als an den philosophischen Problemen und der philosophiegeschichtlichen Entwicklung interessiert; die Lehre soll durch das Leben exemplifiziert werden. Er will dabei nicht nur informieren, sondern auch unterhalten; sein Publikum sind nicht die Fachphilosophen, sondern die interessierten, gebildeten Laien. D. ist ein Kompilator und kein selbständiger, kritischer Denker. Die Schriften der Philosophen hat er nicht im Original gelesen. Auszuschließen ist auch, dass er einer einzigen Vorlage gefolgt ist; vielmehr hat er Handbücher unterschiedlicher Art, z. B. Biographiensammlungen, Doxographien, Darstellungen philosophischer Sukzessionen, Anekdoten- und Apophthegmensammlungen benutzt. Die Anordnung des Materials ist sein eigenes Werk; hier dürfte er sich an bestimmten in der biographischen Literatur seiner Zeit üblichen Schemata orientiert haben. – Das Werk hat keine abschließende Redaktion erfahren; so stehen z. B. Exzerpte aus verschiedenen

Quellen unverbunden nebeneinander. Neben vielem von zweifelhaftem Wert finden sich Texte, die unsere Kenntnis der antiken Philosophie wesentlich bereichern. Genannt seien: die drei Lehrbriefe und der Katechismus Epikurs (X), die für unsere Kenntnis der Stoa wichtigen Exzerpte aus der Philosophiegeschichte des Diokles von Magnesia (ca.  80–20 v. Chr.) (VIII), eine Darstellung der skeptischen Tropen, die auf eine andere Quelle zurückgeht als die, welche Sextus Empiricus benutzt hat (IX), die Liste der Schriften des Aristoteles (V,22–27) und schließlich als wertvolle biographische Zeugnisse die Testamente des Aristoteles sowie seiner fünf Nach­ folger in der Leitung des Peripatos (V). F. Ricken Ausgaben: Gr./engl., D.  L., Lives of Eminent Philosophers, Ü.: R. D. Hicks, 2 Bde., Ldn. 1925. – Dt., Leben und Meinungen berühmter Philosophen, Ü.: O.  Apel, 2 Bde., Hbg. 2008. Literatur: G. Giannantoni (Hg.), D.  L., Storico del pensiero antico, Neapel 1986. – D.  L., in: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt II (36/5 f.), 1992.

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Dummett: Truth and Other Enigmas

Sir Michael Anthony Eardley Dummett *  27. 6.  1925 in London, †  27. 12. 2011 in Oxford; bedeutender britischer Philosoph, der v. a. als Frege-Interpret und durch Arbeiten zur Sprachphilosophie, Philosophie der Logik und Metaphysik bekannt geworden ist.

Truth and Other Enigmas EA Cambr. (Mass.) 1978.

Die Textsammlung enthält insgesamt 25 Aufsätze. Neben einigen Erstveröffentlichungen handelt es sich um Arbeiten, die D. zwischen 1954 und 1975 bereits separat veröffentlicht hatte. Auf den ersten Blick beschäftigen sich die Aufsätze mit vielen unterschiedlichen Themen der theoretischen Phi­losophie, insbesondere mit Fragen der Sprachphilosophie, der Metaphysik sowie der Philosophie der Logik und Mathematik. Daneben enthält der Band auch einige Arbeiten zur Geschichte der analytischen Philosophie, insbesondere zu Frege. Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass die Texte ein größeres philosophisches Forschungsprogramm D.s (den »Anti-Realismus«) von verschiedenen Seiten beleuchten. Kern der anti-realistischen Position ist die Akzeptanz eines »epistemischen Wahrheitsbe-

griffs«, dem zufolge alle Wahrheiten prinzipiell verifizierbar sind; für uns unzugängliche Tatsachen kann es nicht geben (principle of knowability). Damit einher geht bei D. ein logischer Revisionismus: Die klassische Logik, die auf die These festgelegt ist, dass jeder Satz entweder wahr oder falsch ist (Prinzip der Bivalenz) bzw. dass stets eine Aussage oder ihre Negation gilt (tertium non datur), ist zurückzuweisen und durch eine schwächere intuitio­ nistische Logik zu ersetzen. Die Realität kann somit, bildlich gesprochen, in manchen Bereichen »Lücken« aufweisen; es kann sinnvolle Fragen geben, die von der Realität weder positiv noch negativ beantwortet werden. Ein Beispiel wären für D. unentschiedene Probleme der Mathematik wie etwa die »Goldbachsche Vermutung«. – Eine genauere Begründung für den Anti-Realismus findet sich insbesondere in dem Aufsatz The Philosophical Basis of Intui­ tionistic Logic. Hier entwickelt D. sein Meisterargument für diese Position, das auf Überlegungen Wittgensteins basierende »Manifestationsargument«. Für D. wie auch für Wittgenstein wird die Bedeutung sprachlicher Gebilde vollständig durch ihren beobachtbaren Gebrauch bestimmt; einem



Dummett: Truth and Other Enigmas 147

Akteur kann entsprechend nur dann die Kenntnis der Bedeutung eines Satzes zugesprochen werden, wenn sich diese in seinem sprachlichen oder nicht-sprachlichen Handeln manifestiert. Diese Manifestation kann darin bestehen, die Bedeutung eines Ausdrucks durch andere Ausdrücke zu erläutern. Da der Versuch, jeden Ausdruck einer Sprache zu definieren, in einen Zirkel oder einen infiniten Regress führen würde, kann sprachliche Kompetenz aber nicht allgemein ein explizit verbalisierbares Wissen sein. Somit muss sich sprachliche Kompetenz auch in anderer Form, nämlich in der praktischen Beherrschung einschlägiger Entscheidungsverfahren, manifestieren können. Wer z. B. in Gegenwart einer Katze auf die Frage, ob er den Satz ›Hier ist eine Katze‹ für wahr halte, mit ›Ja‹ antwortet, hat damit seine Kenntnis der Bedeutung des Satzes manifestiert, ohne hierbei auf einen synonymen Satz zurückzugreifen. Entscheidend ist nun für D., dass diese Form der Manifestation nur bei entscheidbaren Aussagen zur Verfügung steht; bei unentscheidbaren Sätzen kann es keine vollständige Manifestation sprachlicher Kompetenz geben. Entsprechend muss in der Bedeutungstheorie

der Begriff der (»objektiven«) Wahrheit durch den epistemischen Begriff des Beweises ersetzt werden; der semantische Gehalt von Sätzen wird nicht durch realistisch verstandene Wahrheitsbedingungen, sondern durch ihre proof conditions bestimmt. – Viele der übrigen Texte stellen Versuche dar, das  allgemeine anti-realistische Programm zu verteidigen und es auf bestimmte Klassen von Sätzen anzuwenden. Zentral sind die Bereiche Logik und Mathematik; genauer untersucht werden aber auch Sätze über die Vergangenheit, die D. als Testfall für den Anti-Realismus versteht. – Das Buch hat zusammen mit späteren Werken D.s (insb. The Seas of Language, 1993, und The Logical Basis of Metaphysics, 1991) eine breite Debatte über den AntiRealismus ausgelöst. D.s Position wurde u. a. von C. Wright weiterentwickelt; prominente Gegner sind u. a. M.  Devitt und C. McGinn. T. Sander Ausgaben: Ldn.  1978, 21980. – Dt., Wahrheit. Fünf philosophische Aufsätze, Stgt. 1982 (Teil-Ü. mit einem zusätzlichen Text). Literatur: B.  McGuinness/ G.  Oliveri (Hg.), The Philosophy of M.  D., Dordrecht 1994. – K.  Green, D.: Philosophy of Language, Oxfd. 2001. – R.  E.

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Duns Scotus: Tractatus de primo principio

Auxier/L. E. Hahn (Hg.), The Philosophy of M. D., Chicago 2007.

Johannes Duns Scotus *  1265/66 in Duns (Schottland), †  8. 11. 1308 in Köln; Philosoph und Theologe der Scholastik.

Tractatus de primo principio (lat.; Abhandlung über das erste Prinzip), entst. um 1305; ED Venedig 1497 (in: Quaestiones in Metaphysicam Aristotelis).

D. S. präsentiert in dieser Abhandlung, der eine abschließende Überarbeitung fehlt, eine Zusammenfassung seiner metaphysischen Gotteslehre, wobei er in großem Umfang Text aus den Distinktionen 2, 3 und 8 des 1. Buches der Ordinatio übernimmt. Literarisch der Gattung der Theoremata-Texte nahestehend, stellt der Traktat in vier Kapiteln eine Reihe von Sätzen auf, denen eine Erläuterung oder ein Beweis folgt, wobei die zu beweisenden Sätze teilweise voneinander abhängig sind. – Ausgangspunkt der Argumentation sind die »Transzendentalien«, d. h. diejenigen Bestimmungen, die dem Seienden als solchem noch vor jeglicher kategorialen Bestimmung zukommen. Aus ihnen wählt D.  S. zur Beweisführung die Bestimmtheit der wesenhaften

Zuordnung (ordo essentialis) aus. Demnach ist ein Seiendes als ein Späteres seinem Wesen nach auf ein anderes als Früheres hingeordnet. Nachdem die beiden ersten Kapitel sechs solcher Ordnungen beschrieben und die Notwendigkeit einer solchen Einteilung bewiesen haben, behandeln die beiden letzten das zentrale Thema der Untersuchung: Im Hinblick auf die wesentlichen Ordnungen der »äußerlichen Ursächlichkeit« und des »Vorrangs« weist D. S. im 3. Kapitel nach, dass es in jeder dieser Ordnungen nur ein einziges schlechthin Erstes geben kann. Dies bedeutet: Aus der notwendigen Feststellung, dass ein hier und jetzt bewirktes Seiendes seinem Bewirktsein nach aus sich lediglich möglich ist, kann auf ein erstes Verursachendes geschlossen werden, das aus sich nicht bloß möglich, sondern notwendig ist. Im 4.  Kapitel zeigt D.  S. auf, dass diesem Ersten die Vollkommenheiten der Einfachheit und Geistigkeit eigen sind, aus denen seine zahlenmäßige Einheit gefolgert werden kann. Sodann wird in Form von sieben Wegen aufgezeigt, dass dem Ersten auch die Eigenschaft der Unendlichkeit zukommt, aus der die Notwendigkeit seiner Existenz folgt, womit für D. S. ein zwei-



Dworkin: The Theory and Practice of Autonomy 149

ter Existenzbeweis erbracht ist. Im Zusammenhang mit seinen eigenen Beweisen unterzieht D. S. auch den von Anselm von Canterbury im →  Proslogion geführten Gottesbeweis einer modifizierenden ­Interpretation (coloratio), die u.  a. auf der Grundlage modaltheoretischer Überlegungen den später auch von Kant geäußerten Einwand entkräftet, Anselm verwende ›Sein‹ fälschlicherweise als reales Prädikat, während die Existenz einem (zunächst) ›nur‹ Gedachten nichts hinzufüge. Die Rahmung der Abhandlung durch ein Gebet weist bereits der Form nach auf den Glauben als Ausgangspunkt und Horizont der argumentativen Denkbemühung hin, entsprechend dem Leitspruch Anselms von Canterbury vom ›Glauben, der nach Einsicht verlangt‹ (fides quaerens intellectum). M. Dreyer/S. Seit Ausgaben: Hg.: M. Müller, Fbg. 1941. – Lat./dt., Hg. und Ü.: W.  Klu­xen, Drmst., 31994 (mit Komm.). – Lat./engl., A Treatise on God as First Principle, Hg. und Ü.: A. B. Wolter, Chicago 21982 (mit Komm.). Literatur: R. P. Prentice, The Basic Quidditative Metaphysics of D. S. as seen in his De primo principio, Rom 1970. – T.  Williams (Hg.), The Cambridge Companion to D. S., Cambr. 2002.

Gerald Dworkin * 27. 12. 1937, amerikanischer Phi­ losoph mit wichtigen Beiträgen zu den Debatten um Autonomie und Paternalismus.

The Theory and Practice of Autonomy EA Cambr. 1988.

Dieses Buch behandelt begriffliche und normative Fragen von Selbstbestimmung, generell und in praktischen Zusammenhängen. Die zehn durch Querverweise aufeinander be­ zogenen Kapitel sind je zur Hälfte einem »Theorie«- und einem »Praxis«-Teil zugeordnet und wurden überwiegend zuvor (zwischen 1978 und 1985) separat publiziert. Die von D. in seinem berühmten Aufsatz Acting Freely (1970) parallel zu Harry Frankfurt (Freedom of the Will and the Concept of a Person, 1971) entwickelte Vorstellung zweistufig strukturierter Willensfreiheit wird in diesem Buch zur Grundlage eines normativen Theorievorschlags gemacht. Autonomie sei, so die Argumentation des 1. Kapitels, als die hinreichend ausgeprägte globale Fähigkeit einer Person zu kritischer Reflexion auf die eigenen Handlungsgründe zu verstehen und als solche zu schützen. Sie sei weder auf Inhalte noch auf ein

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Dworkin: The Theory and Practice of Autonomy

anspruchsvolles Niveau, noch auf »Authentizität« im Sinne einer positiven Identifikation mit den Wünschen erster Ordnung festgelegt. Erforderlich sei hingegen die »prozedurale Unabhängigkeit« der Überzeugungen zweiter Stufe von unzulässiger Einflussnahme durch Dritte. Dieser »vergleichsweise schwache« Begriff (Kap.  2) von Autonomie spiegele wider, dass deren Wert darin liege, eine Voraussetzung für Urheberschaft im Handeln zu sein. Autonomie sei wichtig, aber nicht wichtiger als andere Werte wie etwa Empathie oder Integrität. Bereits hier lassen sich (mit L. Haworth) drei wichtige Anschlussfragen der nachfolgenden Debatten verorten: Ist der Verzicht auf die Authentizitätsbedingung plausibel? Kann »prozedurale Unabhängigkeit« nicht auch durch interne Faktoren beeinträchtigt werden? Was folgt aus dem vertretenen Wertepluralismus systematisch für den Fall konfligierender Prinzipien? Kapitel 3 und 4 beleuchten die Rolle von Autonomie in Fragen des moralischen Urteilens. Auch hier gehe es um die höherstufige Refle­xion derjenigen Regeln, denen man folgen wolle. Diese Auffassung sei vereinbar mit der Anerkennung legitimer moralischer Einflussnahme und Autorität,

aber auch mit einem recht verstandenen moralischen Ob­ jektivismus, der moralische Wahrheiten ablehne und Normen als soziale Konstrukte verstehe. Den Abschluss des »Theorie«-Teils bildet eine Abhandlung über die Bedeutung der Anzahl von Wahlmöglichkeiten für Autonomie und persönliches Wohl – ein Thema, das gegenwärtig zum Gegenstand interessanter empirischer Forschung avanciert ist. Gegen eine naive Je-mehrdesto-besser-Annahme ließen sich, so D., die Opportunitätskosten zusätzlicher Optionen anführen, unter Umständen auch die steigende Verantwortungslast, die Rückwirkungen neuer auf alte Optionen sowie die sozial(ethischen) Folgen zusätzlicher Wahlmöglichkeiten. Der geforderte Respekt vor jemandes Fähigkeit zu wählen bedürfe einiger, aber nicht maximal vieler Optionen. – Das erste Praxisthema (Kap. 7 und 8) sind Selbstbestimmung, ihre legitimen Substitute und Grenzen im Kontext medizinischer Behandlungsentscheidungen. Manche der hier formulierten Unterscheidungen und Einsichten sind auch noch für heutige Debatten hilfreich: Kontrafaktische Willensmutmaßungen oder StellvertreterEntscheidungen seien keine



Dworkin: Law’s Empire 151

Zustimmungs-Varianten. Was es heiße, einen inkompetenten Patienten zu »respektieren«, sei theoretisch (noch) ungeklärt. Dem wird man noch immer zustimmen – mit Blick etwa auf den Umgang mit Demenzkranken im frühen 21.  Jh. – Das kurze Kapitel  9 enthält einige Nachgedanken zu D.s bekanntem Aufsatz Paternalism, während es in den beiden letzten Kapiteln um normative Fragen von Autonomie und Verhaltensbeeinflussung geht: etwa um agents provocateurs und um genetisches Design. Im Epilog mahnt D. selbst weitere Klärungen an: Was genau sei unter der »prozeduralen Unabhängigkeit« höherstufiger Reflexion zu verstehen? Wie ließen sich Autonomie, Rationalität, Willensschwäche u. a. in ihrem Verhältnis zueinander präziser bestimmen? Worin genau liege der Wert von Autonomie und wie seien Konflikte zwischen Individual- und Gruppenautonomie zu bewerten? – Das schmale, in Teilen etwas repetitive Buch ist als Plädoyer für ein gewollt ›schlankes‹ globales Konzept von Autonomie nach wie vor von Bedeutung. B. Schöne-Seifert Literatur: L. Haworth, D. on Autonomy, in: Ethics 102, 1991, 129–139.

Ronald Dworkin *  11. 12. 1931 in Worcester (Mass.); Vertreter einer Theorie des Rechts als Interpretation.

Law’s Empire EA Cambr. (Mass.) 1986.

Mit diesem Werk legt D. in Form einer Monographie die rechtsphilosophische Konzeption dar, die er zuvor in Aufsätzen und Kommentaren zu Gerichtsentscheidungen und aktuellen politischen Debatten vorgezeichnet hatte. An die Stelle von Einzelargumenten und separaten Fallstudien, wie sie in früheren Aufsatzsammlungen enthalten sind, tritt mit dieser Schrift eine groß an­ gelegte systematische Abhandlung und ein weiter an Kontur gewinnender Ansatz normativer Gesellschafts­theorie. D.s Konzeption zufolge ist eine philosophische Theo­ rie des Rechts als Phänomen, das alltägliches Handeln und Interagieren in hohem Maße durchdringt und teils entscheidend prägt, eng verflochten  mit moralphilosophischen und politisch-philosophischen Erörterungen. Wie die Praxis des Rechts von normativen Erwägungen nicht frei bzw. unabhängig ist, so D. in direkter Opposition gegen den Rechtspositivismus H. L. A. Harts, so

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Dworkin: Law’s Empire

hat auch die Rechtsphilosophie D.s Argumentation zufolge die Grundsätze juristischer Praxis im Zusammenhang mit moralischen Urteilen darzustellen, die Juristen in der Deutung und Anwendung von Recht fällen. D. argumentiert hier für die Thesen, dass juristisches Überlegen, Argumentieren und Entscheiden als Praxis konstruktiven Interpretierens aufzufassen seien, dass Recht in der besten verfügbaren Rechtfertigung der rechtlichen Praxis insgesamt und somit in der Narration bestehe, welche diese Praxis bestmöglich mitgestalte. Diese Konzeption systematisch zu entwickeln, erfordert D. zufolge, die verschiedenen und oftmals widerstreitenden politischen Werte zu identifizieren und voneinander zu unterscheiden, die in das komplexe Urteil eingehen, dass eine Gesamtinterpretation Grund und Sinn des Rechts besser erfassbar macht als auf Einzelaspekte bezogene Deutungen. Damit ist v. a. das erste Hauptthema dieses Werks benannt: die Analyse von Rechtsbegriffen als ›interpretativen Begriffen‹ (interpretive concepts). Dieser Analyse zufolge sind Rechtsbegriffe nicht, wie es z. B. Hart vertritt, als Manifestationen bestimmter sozialer Praktiken zu begreifen, sodass etwa ein Gesetz

in einer eindeutigen Praxis der Konformität und Akzeptanz einer Verhaltensregel gründet, sondern unterliegen stets von moralischen Urteilen geprägten Interpretationen. Die Erörterung eines Rechtsbegriffs, etwa ›Vertrag‹ oder ›Eigentum‹, erfordert D. zufolge keinen Blick in die Genese einer Regelung, sondern eine Prüfung seiner normativen Geltung im Lichte moralischer und politischer Prinzipien. Der wichtigste Streitpunkt ist hierbei, ob und inwiefern Rechtsbegriffe ohne Rekurs auf normative Urteile bestimmt werden können und wie der Prozess juristischen Urteilens zu analysieren ist; gegen Autoren wie Austin, Kelsen, Hart und Raz vertritt D. die Auffassung, dass juristische Argumente moralische als konstitutive Bestandteile einschließen. D. benennt Integrität als zentrales normatives Prinzip, dessen Bestimmung das zweite Hauptthema des vorliegenden Werkes ausmacht. Er betont die Funktion von Integrität als politisches Ideal, das im Hintergrund der Rechtspraxis steht und dort in Argumenten und Prozessen zum Tragen kommt, und das ferner politischen Gemeinschaften Legitimität und Gestalt verleiht. Solche Gemeinschaften (communities of principle) vermögen es D. zu-



Dworkin: A Matter of Principle 153

folge auch, ihre Mitglieder auf Konformität und insbesondere auf die Befolgung von Rechtsvorschriften zu verpflichten; D. spricht sich hier für politische Verpflichtungen als Spielart assoziativer Verpflichtungen aus und tritt in Opposition zu Ansätzen, die Rechts- und Bürgerpflichten in Akten der Zustimmung oder Gesellschaftsverträgen begründet sehen. Integrität wird hier als Tugend innerhalb legitimer Rechtssysteme, von moralisch gerechtfertigter politischer Gemeinschaft und von nach den Grundsätzen dieser Gemeinschaft handelnden Mitgliedern bzw. Bürgern dargestellt. D. weitet die Diskussionen dieser grundsätzlichen Thesen zur Integrität auf die Begründungsdebatten hinsichtlich des Common Law sowie rechtlicher Statuten und Verfassungen aus. – Die Rezeption dieses Werkes ist v. a. dadurch bestimmt, dass D. einen umfassenden Entwurf vorzulegen anstrebt, in dem Recht und Rechtspraxis als von Moral durchdrungen aufgefasst werden. D.s Argumentationen gegen rechtspositivistische Ansätze, seiner Grundlegung einer Interpretationstheorie des Rechts, seiner Deutung von Integrität als politisches Ideal und seiner Verteidigung politischer als assoziativer Verpflichtungen

wird dabei die größte Aufmerksamkeit zuteil. D. Schweikard Literatur: A.  Hunt, Reading D. Critically, NY 1992. – P.  Gaffney, R. D. on Law as Integrity: Rights as Principle of Adjudication, Lampeter 1996. – A.  Ripstein (Hg.), R.  D., Cambr. 2007.

A Matter of Principle EA Cambr. (Mass.) 1985.

Dieser Band umfasst 19 Aufsätze, mit denen D. sein in →  Taking Rights Seriously begonnenes rechtsphilosophisches und liberales politischphilosophisches Programm fortschreibt. Neun der Beiträge sind zuvor in akademischen Publikationen, sieben als Zeitungs- oder Magazinbeiträge veröffentlicht worden, die drei weiteren erscheinen hier erstmals. Insgesamt sind Beiträge zu akademischen Debatten einerseits und kommentierende Auseinandersetzungen mit Gerichtsprozessen, richterlichen Entscheidungen und aktuellen politischen Diskussionen andererseits versammelt, die grundlegenden theoretischen Problemen der Politischen Philosophie und der Jurisprudenz gewidmet sind. D. zielt insgesamt – in separat angelegten Studien über die Bestimmung des Liberalismus, über Skepsis

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Dworkin: A Matter of Principle

bezüglich Moral und Recht, über Wohlfahrt und über die Rolle von Interpretation in Recht und Rechtsprechung – auf das Zusammenspiel zwischen zwei Ebenen politischen Bewusstseins: praktische Probleme und philosophische (Grundlagen-)Theorie, Fragen der Dringlichkeit und Prinzipienfragen. Der Band ist in sechs Teile untergliedert, von denen die ersten beiden Teile – »The Political Basis of Law« und »Law as Interpretation« – Themen früherer, in Taking Rights Seriously enthaltener Arbeiten aufnehmen. Hier geht D. den Fragen nach, welche Rolle die politischen Grundsätze einer Gemeinschaft in der juristischen Fallbeurteilung, in gerichtlichen Verfahren und im individuellen politischen Handeln spielen. Außerdem legt er die Grundlage für eine Deutung rechtlicher Grundbegriffe und Methoden als interpretativ, als auf Deutung von Rechtssetzungsabsichten und fallspezifische Anwendung zielend, die er in späteren Werken ausarbeitet. Der dritte Teil, »Liberalism and Justice«, enthält den in Debatten über die Definition des Liberalismus und seine vermeintlich stabile Opposition zu Perfektionismus und Paternalismus in der Politischen Philosophie ein-

flussreichen Aufsatz Liberalism (Kap.  8). Darin argumentiert D. dafür, den Rekurs auf das Recht auf gleiche Berücksichtigung und Respekt als Kern des Liberalismus als Politischer Philosophie aufzufassen. Eine zentrale Folgerung aus dieser Bestimmung besteht für D. in dem Neutralitätsprinzip, das staatlichem Handeln prinzi­ pielle Zurückhaltung hinsichtlich des Eingriffs in individuelle Lebensgestaltung empfiehlt; dies sei, so D., ein Grundsatz liberaler Demokratie, die auf rechtliche Gleichstellung und politische Gleichbehandlung von Bürgern als Realisierung fundamentaler Werte aus sei. In den zwei Beiträgen, die den vierten Teil des Bandes (»The Economic View of Law«) ausmachen, wendet sich D. dem Wert des Wohlstandes und der  Rechtfertigung von Effi­ zienz zu. Gegen die Auffassung, Recht und Richter sollten den Wohlstand der Gemeinschaft zu fördern versuchen, argumentiert D. dafür, Ansprüche nach Maßgabe von Fairness, gleicher Berücksichtigung und Respekt einzuräumen und erteilt damit der ökonomischen Deutung des Rechts eine klare Absage. In den Teilen fünf und sechs wendet sich D. den Standpunkten zu, die eine (in seinem Sinn) liberale Politische



Dworkin: Sovereign Virtue 155

Philosophie hinsichtlich Problemen der positiven und negativen Diskriminierung sowie der Zensur und Pressefreiheit einnimmt. D. prüft dabei (in Kap.  14) die Prinzipien, die Fördermaßnahmen zugunsten benachteiligter Gruppen oder Minderheiten zugrunde liegen, und stützt mit Blick auf einen vom Obersten Gerichtshof verhandelten Fall die Entscheidung, Fördermaßnahmen auch dann aufrecht zu erhalten, wenn Fairness und Respekt gegenüber Angehörigen von Minderheiten Benachteiligungen für andere erfordern. Mit Blick auf Pornographie geht D. (in Kap.  17) der Frage nach, inwiefern die liberale Theorie zulassen kann, dass Menschen auch rechtlichen Anspruch haben können, etwas Falsches zu tun. D. unterscheidet die Verbreitung pornographischer Inhalte in der Öffentlichkeit vom möglicherweise gerechtfertigten Anspruch auf ihren Konsum im Privaten, erörtert Bestimmungen wünschenswerter Präferenzen von Individuen und spricht sich für eine wenigstens prinzipielle Achtung moralischer Unabhängigkeit und Selbstbestimmung aus. Philosophisch interessant ist daran insbesondere D.s Diskussion der Tragweite von Präferenzabwägungen einer-

seits und rechte-basiertem Liberalismus andererseits. – Die Wirkung der in diesem Band enthaltenen Beiträge entfaltet sich in ihrem Zusammenhang mit D.s Opposition gegen den Rechtspositivismus, in seiner Grundlegung einer hermeneutisch orientierten Theorie des Rechts und in seinen Abhandlungen zu einer auf konkreten Streitigkeiten gemünzten, liberalen politischen Theorie. In den jeweiligen Kontexten liefern D.s Arbeiten zentrale Bezugspunkte. D. Schweikard Literatur: M. Cohen (Hg.), R.  D. and Contemporary Jurisprudence, Lanham 1984. – S. Guest, R. D., Stanford 1991.

Sovereign Virtue. The Theory and Practice of Equality

(engl.; Was ist Gleichheit?), EA Cambr. (Mass.) 2000.

Dieser Band versammelt insgesamt 14 Aufsätze zur Politischen Philosophie, von denen 12 im Zeitraum zwischen 1981 und 1998 in Fachpublika­ tionen und als Zeitungsartikel erschienen waren. Die Texte sind zu zwei Teilen zusammengefasst, wobei die ersten sieben im engeren Sinne theoretischen Grundlagen, die verbleiben­ den sieben Anwendungen sowie Ausarbeitungen gewidmet

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Dworkin: Sovereign Virtue

sind. Die ersten beiden Aufsätze – Equality of Welfare und Equality of Resources –, zuerst 1981 erschienen, geben nicht nur das Kernthema des Bandes vor, sie sind auch die Hauptbezugspunkte der Rezeption von D.s Politischer Philosophie. In diesen zwei Abhandlungen legt D. seine Position zum klassischen, in der Folge von Rawls →  Theorie der Gerechtigkeit (1971) wieder verstärkt diskutierten Problem der Ver­ teilungsgerechtigkeit dar, die im Wesentlichen in der Ableh­ nung der Wohlfahrtsorientierung in Fragen der Güterverteilung und in einem Argument für das Ideal der Ressourcengleichheit besteht. D. geht es hierbei vorrangig um den Widerspruch gegen im weitesten Sinne utilitaristische Konzep­ tionen egalitärer Güterverteilung und um die Einbettung seiner eigenen Konzep­ tion in eine ethische Theorie, die insbesondere die Werte Freiheit, Verantwortlichkeit und Gleichheit zu einem Ganzen integriert. D. zufolge ist eine Ressourcenverteilung dann gerecht, wenn sie der Verteilung entspricht, die sich unter den beteiligten Individuen mitsamt ihren grundlegenden Überzeugungen und Ambitionen auf einem Markt ergeben hätte, ­ der aus einer egalitären Auktion

hervorgeht und durch ein Steuersystem beschränkt ist, welches einem Versicherungsmarkt ähnelt. Im dritten Kapitel argumentiert D. dafür, dass Freiheit als politisches Ideal mit dem zuvor dargelegten Gleichheitsverständnis nicht kollidieren könne, weil Freiheit zugleich als konstitutiver Bestandteil der Definition und als Bedingung der konkreten Umsetzung oder gar Verbesserung von Gleichheit im Politischen aufzufassen sei. Das vierte Kapitel entfaltet demokratietheoretische Implikationen der vorangegangenen Argumentationen, indem es insbesondere ein Argument für eine Abhängigkeitskonzeption (dependent conception) hinsichtlich des Verhältnisses zwischen demokratischen Verfahren und Verteilungsprinzipien liefert. In den übrigen Kapiteln des ersten Teils wendet sich D. dem Begriff des ›Wohlergehens‹ und insbesondere den Fragestellungen zu, wie eine egalitär verfasste liberale Gemeinschaft zur Beförderung des individuellen Wohlergehens beitragen kann und welche Grenzen der kollektiven Einflussnahme auf individuelle Lebensgestaltung zu setzen sind. D. betont die Abhängigkeit des Wohlergehens von der jeweils eigenen Entscheidung für bestimmte Parameter und lehnt damit



Dworkin: Taking Rights Seriously 157

insbesondere Positionen ab, die er als perfektionistisch bezeichnet. Ein gutes Leben ist D. ­zufolge als Leistung zu begreifen, zu deren Parametern auch die Rahmenbedingungen gehören, anhand derer Gerechtigkeit bestimmt wird, und die vor dem Hintergrund der jeweiligen Startbedingungen und Ressourcenausstattung zu bewerten ist. Im Zusammenhang mit diesen fundamentalen Fragen geht D. detailliert auf Gegenvorschläge ein, die zum einen zur Stützung wohlfahrtstheoretischer Positionen (insb. bei G. A. Cohen) und zum anderen im Rahmen von auf Fähig­ keiten abstellenden egalitaristischen Konzeptionen (v. a. bei A.  Sen) vorgebracht wurden. – In den Beiträgen des zweiten Teils, die zum Teil für ein breiteres Publikum verfasst sind, weitet D. den Skopus seiner ­Erörterungen und kommentiert politische Maßnahmen sowie Gerichtsentscheidungen zur Gesundheits- und Bio­ politik, zu Meinungsfreiheit und politischer Diskriminierung. – D.s Beiträge zur Rechtsphilosophie und Politischen Philosophie werden v. a. aufgrund des systematischen Anspruchs, eine konsistente wertmonistische Position zu entfalten, und der hohen explikativen Kraft zentraler Überle-

gungen weitläufig rezipiert. D. gilt in den zugehörigen Debatten nicht nur als Verteidiger einer abstrakten egalitaristischen Theo­rie, sondern als engagierter Kritiker politischer Prozesse, der sich für eine gerechte Gestaltung des Gemeinwesens einsetzt. D. Schweikard Ausgabe: Dt., Bln. 2011. Literatur: J. Burley (Hg.), D. and his critics – with replies by D., Oxfd. 2004.

Taking Rights Seriously (engl.; Bürgerrechte ernstgenommen), EA Ldn. u. a. 1977.

D. entwickelt und verteidigt in dieser Schrift eine liberalistische Position in der Rechtsphilosophie. Im Mittelpunkt stehen dabei die ›Rechte‹, wobei D. im Gegensatz zu Hart nicht sprachanalytisch das, was Recht bedeutet, sondern realistisch das, was es ist, untersuchen will. – D.s »These der Rechte hat zwei Aspekte. Ihr deskriptiver Aspekt erklärt die gegenwärtige Struktur der Institution der richterlichen Entscheidung. Ihr normativer Aspekt gibt eine politische Rechtfertigung für diese Struktur« (Kap.  4 und 6). D. argumentiert aus der Perspektive des Richters. Von dort her kritisiert er auf die Gesetzgebung zentrierte Posi-

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Dworkin: Taking Rights Seriously

tionen. So wendet D. zunächst gegen soziologische Theorien ein, dass »sie die entscheidende Tatsache nicht beachten, dass rechtswissenschaftliche Fragen im Kern moralische Prinzi­ pienfragen sind und nicht Fragen der rechtlichen Tatsachen oder Strategie« (Kap.  1). Hart sieht D. zufolge zwar die normative Dimension der Verbindlichkeit; D. wirft aber Hart vor, zu Unrecht das Recht auf Regeln zu reduzieren. Im Fall eines Konfliktes zwischen zwei Regeln – in »schwierigen Fällen« – muss nämlich »durch Bezugnahme auf Erwägungen entschieden werden, die über die Regeln selbst hinausgehen« (Kap. 2). Dabei handelt es sich nicht notwendigerweise um Hart’sche sekundäre Regeln; »ein Rechtssystem könnte auch diejenige Regel vorziehen, die durch die wichtigeren Prinzipien gestützt wird«. Anders als Regeln, die »in der Weise des Alles-oder-Nichts anwendbar« sind und nur wegen ihrer positiven Herkunft gelten, müssen Prinzipien im Einzelfall gewichtet werden. In der einzigen in der Schrift untersuch­ten Rechtsordnung, nämlich in der amerikanischen, sieht D. »beide Verfahren« verwendet: Bei jedem schwierigen Fall muss der Richter aus den bestehenden Regeln und einander oft

widersprechenden Prinzipien ein ideales, d. h. möglichst kohärentes Modell des Rechts rekonstruieren. Dass solcherlei Abwägung nur annähernd die ›richtige Lösung‹, die es nicht an sich gibt, finden kann, zeigt deutlich der Name des D.’schen Musterrichters: Herkules. Jeder Richter muss dennoch nach diesem Ideal stre­ben und verfügt also nicht über den Ermessensspielraum, den ihm Hart gewährt, sondern er soll das Recht interpretieren. Eine weitere Gegenposition zu D. ist der Utilitarismus, der sich – wie auch die Absolutset­ zung des Demokratie-Prinzips – nicht auf Regeln oder Prinzi­ pien, sondern nur auf kollektive Zielsetzungen beruft, während das Prinzipienmodell garantiert, dass (u. a. individuelle) Rechte »nicht von allen gesellschaftlichen Zielen ausgestochen werden« können. Ak­ tuelle Probleme werden in diesem Licht von D. untersucht, z.  B. der bürgerliche Ungehorsam (Kap.  8) und die umgekehrte Diskriminierung (Kap.  9). Obwohl D. seine auf Abwägung mehrerer Prinzipien gestützte Konzeption gegen die von Mill und Rawls absetzt, die einfacheren moralischen Intuitionen folgen, und sich dadurch vom klassischen Liberalismus distanziert, legt



Epikur: Kyriai doxai 159

er nahe, dass der Grundsatz der gleichen Berücksichtigung Aller immer Priorität genießt. – Umstritten sind D.s These der ›richtigen Lösung‹, seine Hart-Interpretation und seine Prinzipienauffassung. J.-C. Merle Ausgabe: Dt., Ffm. 1984. Literatur: C. Bittner, Recht als interpretative Praxis, Bln. 1984. – M.  Cohen (Hg.), R.  D. and Contemporary Jurisprudence, Totowa 1986. – S. Guest, R. D., Stanford 1992. – J.  Burley (Hg.), D. and his Critics, Oxfd. 2004. – A.  Ripstein (Hg.), R.  D., Cambr. 2007. – S.  Hershovitz (Hg.), Exploring Law’s Empire. The Jurisprudence of R. D., Oxfd. 2008.

Friedrich Engels * 28. 11. 1820 Barmen, † 5. 8. 1895 in London; Kritiker des Kapita­ lismus, Sozialwissenschaftler, His­ to­ riker, Philosoph, politischer Jour­nalist, Protagonist der Arbeiterbewegung.

Die deutsche Ideologie → Karl Marx Manifest der Kommunisti­ schen Partei → Karl Marx

Epikur 342/341 v.   Chr. auf Samos, †  271/270 v. Chr. in Athen; griechischer Philosoph und Begründer des ›Gartens‹ (Kēpos) in Athen.

Kyriai doxai (gr.; Hauptlehrsätze), ED Basel 1533 (in: Diogenis Laertij De vitis, decretis & responsis celebrium philosophorum Libri decem, nunc primum excusi, verlegt von H. Froben).

Bei den Hauptlehrsätzen handelt es sich um einen gedrängten Abriss vorrangig der Ethik (I–XXI und XXVI–XXX), der Erkenntnislehre (XXII–XXV) und der Gerechtigkeits- sowie Gesellschaftstheorie (XXXI– XL) E.s in Form von 40 einprägsamen Sentenzen, der von allen Epikureern auswendig gelernt werden musste. Wann die Hauptlehrsätze entstanden sind, kann nicht geklärt werden. Da sie eng mit der generellen Lehre E.s zusammenhängen, sollen im Folgenden auch weitere Elemente derer berücksichtigt werden. Der größte Teil der Werke E.s ist nicht erhalten; daher liefert Diogenes Laertios in Buch X seines Werks → Über Leben und Lehren berühmter Philosophen eine wichtige Quelle zur Rekons­ truktion der Philosophie E.s, da dort dessen Testament, die drei Lehrbriefe – An Herodot (über die Naturwissenschaft), An Pythokles (§§ 84–116, über die Himmelserscheinungen und die meteorologischen Phänomene) und An Menoikeus (über die Ethik) – und die 40

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Epikur: Kyriai doxai

Hauptlehrsätze wiedergegeben sind. Ein in der vatikanischen Bibliothek aufbewahrtes Ma­ nu­skript überliefert darüber hinaus 81 Maximen (einige identisch mit den Hauptlehrsätzen, andere dem Metrodoros zuzuschreiben), die das sog. Gnomologium Vaticanum Epicureum bilden. Neben E.s Hauptwerk Über die Natur (→ Peri physeōs) sind als weitere erhaltene epikureische Quellen – sieht man von den Werken einiger Epikureer (z. B. des Philodemos von Gadara) ab – De rerum natura des Titus Lucretius Caro und die monumentale fragmentarische Inschrift in Oinoanda (Lykien) zu nennen, die einem gewissen Diogenes zuzuschreiben ist. – Die Philosophie E.s ist gemäß einem System aufgebaut, dessen Teile einer »zunehmenden« und unabänderlichen Ordnung folgen: (1) Kanonik, (2) »Physiologie« (= Naturlehre) sowie (3) Ethik. Die Kanonik ist der erkenntnistheoretische Teil des Systems und übernimmt in Bezug auf die »Physiologie« eine propädeutische Funktion. Sie beschäftigt sich mit den Kriterien der Wahrheit (kritēria tēs alētheias), die zur Kenntnis der Natur nötig sind: den Sinneswahrnehmungen (aisthēseis), den Prolēpseis (›Vorwegnahmen‹ oder Allgemeinbegriffen), den Empfindungen (pathē) und

den vorstellenden Hinwendungen des Verstandes (phantastikai epibolai tēs dianoias). Die Wahrheit und die »Wirklichkeit« der Sinneswahrnehmungen werden garantiert durch die beständige Ablösung der eidōla (lat. simulacra; Bilderchen, die die Sinnesorgane affizieren sollen), von der Oberfläche des zu erkennenden Objekts. – Die Natur besteht aus den Atomen und dem leeren Raum, ewigen und unveränderbaren Prinzi­ pien. Die Formen der Atome, die Größe und Gewicht besitzen, sind – wenn auch unfassbar zahlreich – endlich. Andererseits gibt es für jede Form eine unendliche Anzahl von Atomen. Dank der Existenz des leeren Raumes können sich die Atome bewegen und zu Aggregaten zu­sammenfügen, den Gegenständen unserer Wahrnehmung. In Anbetracht der Unendlichkeit der Atome und des leeren Raumes ist der Kosmos unbegrenzt und enthält unzählige Welten. – Cicero und insbesondere Lu­k­rez (II  216– 293) schreiben E. die Lehre des clinamen (der ­zufälligen Abweichung der Atom­e von ihrer ursprünglichen Bewegungsrich­ tung) zu; diese Theorie, die allerdings nicht in den überlieferten Werken E.s enthalten ist, rechtfertigt die Möglichkeit der Aggregation der Atome, sowie



Epikur: Peri physeōs 161

die li­be­ra voluntas, die Willensfreiheit als Selbstbestimmung. Krönung der gesamten epiku­ reischen Philosophie ist die Ethik, die im Tetrapharmakos – zur Glückseligkeit füh­ rende »vierfache Medizin« – wirkungs­voll zusammengefasst ist. (1) Da die Götter (obwohl aus Atomen zusammengesetzte Aggregate) unverderblich und glückselig sind, kümmern sie sich nicht um uns, weder im Guten noch im Schlechten; daher ist es unsinnig, sie zu fürchten. (2) Der Tod bedeutet das Ende der Wahrnehmung; dabei gilt: Wenn das, was nicht wahrnehmbar ist, für uns bedeutungslos ist, dann ist der Tod nicht zu fürchten. (3) Die Lust ist Beseitigung und Abwesenheit von Schmerz und daher auf natürliche Weise erreichbar. (4) Der Schmerz ist erträglich: Ist er stark, hält er nicht lange an; ist er nicht stark, kann man ihn leicht ertragen. Das Erreichen des Glücks – das mit der Seelenruhe (ataraxia) und mit der Schmerzfreiheit des Körpers (aponia) zusammen fällt – gründet auf der rationalen Berechnung von Nutzen und Schaden, die aus Lüsten und Schmerzen hervorgehen. F. Verde Ausgaben: Gr./dt., E. Briefe, Sprüche, Werkfragmente, Ü. und Hg.: H.-W. Krautz, Stgt.

2005 (1980, bibliograph. ern. Ausg.  2000). – Dt., Ausgewählte Schriften, Ü. und Hg.: C.  Rapp, Stgt. 2010. – Frz., Les Épicuriens, Hg.: D.  Delattre/J.  Pigeaud, Paris 2010 (vollst. Ü. der Werke der Epikureer). Literatur: M. Erler, E. – Die Schule E.s – Lukrez, in: H. Flashar (Hg.), Grundriß der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike, Bd.  4: Die hellenistische Philoso­phie, Basel 1994, 29–490. – M. Hossenfelder, E., Mchn. 32006. – J. Warren (Hg.), The Cambridge Companion to Epicureanism, Cambr. 2009.

Peri physeōs (gr.; Über die Natur), ED einiger Ausschnitte Neapel 1793–1855 und 1862–76 (in: Herculanensium Voluminum quae supersunt. Collectio prior; Herculanensium Voluminum que supersunt. Collectio altera).

Diogenes Laertios berichtet, dass E.s Über die Natur aus 37 Büchern bestand. Es handelt sich um sein Hauptwerk zur Naturlehre. Das Werk ist nicht vollständig erhalten; die Reste der wenigen bekannten Bücher wurden (teilweise in mehreren Abschriften) in der Villa der Papyri in Herculaneum gefunden und entstammten wahrscheinlich der Bibliothek des Philodemos von Gadara. Zitate oder Hinweise auf die Schrift erscheinen in dessen Werken (und vielleicht in denen an-

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Epikur: Peri physeōs

derer Epikureer) sowie in den Scholien zu den von Diogenes Laertios überlieferten Briefen des E. Die Rekonstruktion der Argumentfolge des Werkes wird durch den Vergleich mit dem Brief An Herodot (und An  Pythokles) erleichtert, der, nach Sedleys Meinung, ein Kompendium der ersten 13 Bücher des Werkes darstellt; diese Bücher seien geschrieben worden, während E. in Lampsakos lehrte (311/310–307/306 v. Chr.), wohingegen die übrigen Bücher in Athen verfasst worden seien (Bücher  XIV und XV sind 301/300 bzw.  300/299 v. Chr. abgefasst worden; Buch XXVIII wurde 296/295 v. Chr. geschrieben). Als Hauptquelle zur epikureischen Naturlehre hat Lukrez – weiterhin nach Ansicht Sedleys – die ersten 15 Bücher von Über die Natur benutzt. – Folgende Papyri aus Herculaneum betreffen die Bücher des Werkes: Buch II (2 Kopien: PHerc. 1149/993;  PHer c.  1783/1691/1010); Buch XI (2 Kopien: PHerc. 1042; PHerc. 154); Buch XIV (1  Kopie: PHerc. 1148); Buch XV (1 Kopie: PHerc. 1151); Buch XXV (3 Kopien: PHerc. 419/1634/697; PHerc. 1420/1056; PHerc. 1191); Buch XXVIII (1 Kopie: PHerc. 1479/1417); Buch XXXIV (1 Kopie: PHerc.  1431); drei bisher nicht identifi-

zierte Bücher (PHerc.  989; PHerc.  1413; PHerc.  362); andere Papyri sind dem Werk paläographisch zugeschrieben worden. – Das Buch II handelte von der Kosmogonie sowie der Lehre von den Bildern (eidōla); das Buch XI beschäftigte sich mit Kosmologie und astronomischen Fragen, wahrscheinlich in polemischer Auseinandersetzung mit den Eudoxianern von Kyzikos; das Buch  XIV war der kritischen Betrachtung der philosophischen Doktrinen der Monisten, der Pluralisten und der im →  Timaios enthaltenen platonischen Theorie der Elemente gewidmet; das Buch XV enthielt eine Kritik der Philosophie des Anaxagoras; das Buch XXV behandelte die Zusammensetzung des menschlichen Geistes aus Atomen in Bezug auf das Problem der Freiheit, wahrscheinlich im Gegensatz zu dem von Demokrit behaupteten Determinismus; das Buch XXVIII, eine Diskussion zwischen E. und Metrodoros, behandelte die Sprache innerhalb der philosophischen Forschung, vermutlich in einer Polemik mit den Dialektikern/ Megarikern (bes. Diodoros Kronos); das Buch  XXXIV beschäftigt sich mit der Verwirrung, die aus einer irre­ führenden Erkenntnismetho-



Erasmus von Rotterdam: De libero arbitrio 163

dologie der nicht wahrnehmbaren Wirklichkeiten sowie aus der Unfähigkeit entsteht, die auf Atombewegung beruhende Na­tur der Träume zu verstehen. Von großer Bedeutung ist das in PHerc. 1413 enthaltene liber incertus (nach Sedley könnte es sich um Buch X handeln), dessen Hauptthema die Analyse des Zeitbegriffs war. F. Verde Ausgaben: Gr./it., E., Opere, Hg.: G.  Arrighetti, Torino 2 1973, [23]–[39]. – Les Épicuriens, Hg.: D.  Delattre/J.  Pigeaud, Ü.: J.  Brunschwig, A.  Monet und D.  N. Sedley, Paris 2010, 79–117, 1099–1140 (mit Anm.). – Buch  II: G.  Leone, Per la ricostruzione dei PHerc.  1149/993 e 1010 (E., Della natura, libro II), in: Cronache Ercolanesi (= CE) 35, 2005, 15–25. – Buch XI: D. Sedley, E. and the Mathematicians of Cyzicus, in: CE 6, 1976, 23–54. – G. Arrighetti/M. Gigante, Frammenti del libro undicesimo Della natura di E. (PHerc. 1042), in: CE 7, 1977, 5–8. – Buch XIV: G. Leone, E., Della natura, libro XIV, in: CE 14, 1984, 17–107. – Buch XV: C.  Millot, E., De la nature, livre XV, in: CE 7, 1977, 9–39. – Buch XXV: S.  Laursen, The Early Parts of Epicurus, On Nature, 25th Book, in: CE 25, 1995, 5–109. – S.  Laursen, The Later Parts of E., On Nature, 25th Book, in: CE 27, 1997, 5–82. – F. G. Masi, Epicuro e la filosofia della mente. Il XXV libro dell’opera Sulla Natura, Sankt

Augustin 2006. – Buch XXVIII: D.  Sedley, E., On Nature, Book XXVIII, in: CE 3, 1973, 5–83. – Buch XXXIV: G. Leone, E., Della natura, libro XXXIV (PHerc. 1431), in: CE 32, 2002, 7–135. – Liber incertus (PHerc.  1413): R. Cantarella/G. Arrighetti, Il libro Sul tempo (PHerc. 1413) dell’opera di Epicuro Sulla natura, in: CE 2, 1972, 5–46. Literatur: D. Sedley, Lucretius and the Transformation of Greek Wisdom, Cambr. 1998. – G.  Le­ one, E. fondatore del Giardino e l’opera sua conservata nei papiri, in: CE 30, 2000, 21–33. – S. Laursen, The Silentbook Shelf in the Herculanean Library, in: Analecta Romana Instituti Danici XXVII, 2001, 129–140.

Desiderius Erasmus von Rotterdam *  28. 10. 1466/69 in Rotterdam, †  12. 7. 1536 in Basel; Hauptvertreter des Humanismus.

De libero arbitrio diatribe sive collatio

(lat.; Unterredung oder Textzusammenstellung über den freien Willen), EA Basel 1524.

Erst nach langem Zögern und auf vielfaches Drängen von katholischer Seite hat E. das gegen Martin Luther gerichtete Werk verfasst, in dem er die Argumente für und wider die Annahme eines freien Willens in

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Erasmus von Rotterdam: De libero arbitrio

Hinordnung auf das Heil diskutiert und selbst nach Auffassung des angegriffenen Luther den Kern der reformatorischen Lehre getroffen hat. – In der Einleitung seiner Schrift wirft E. die Frage nach der rechten Auslegung der Bibel auf, die von Luther als einzige Autorität in theologischen Streitfragen anerkannt wird. Im 1.  Hauptteil, der collatio (›Textzusammenstellung‹), trägt er die Bibelstellen zusammen, die für bzw. gegen den freien Willen sprechen, um im 2. Hauptteil, der diatribe (›Unterredung‹), auf dieser Basis das Problem zu diskutieren. E. macht dabei deutlich, dass es für ihn, der wie Luther jede Selbsterlösung des Menschen ausschließt, durchaus einen freien Willen gibt. Dieser ist aufgrund des Sündenfalls der ersten Menschen keineswegs ausgelöscht, wie Luther annimmt, sondern lediglich geschwächt, durch die Erlösung in Jesus Christus aber wiederhergestellt. Die Leugnung des freien Willens ist für E. weniger ein Unrecht gegenüber den Menschen, des­sen Schwachheit er nicht bestreitet, sie ist seiner Ansicht nach vielmehr ein Unrecht Gott gegenüber, der den Menschen erlöst und dadurch gleichsam neu geschaffen hat. Gottes Gnade und der freie Wille des

Menschen verhalten sich nach E. zueinander wie die Erstursache zur Zweitursache. Gott regt den freien Willen an und führt ihn zur Vollendung, aber er nimmt ihm die Entscheidung nicht ab, das Heilsan­ gebot anzunehmen bzw. dessen Annahme zu verweigern. Oh­ne ei­nen solchen freien Willen wä­ re verantwortliches moralisches Handeln unmöglich. Am En­de überlässt E., entsprechend der literarischen Gattung der diatribe dem Leser die Entscheidung in der Streitfrage, die für ihn, im Gegensatz zu Luther, die Glaubensgemeinschaft nicht sprengen muss. In der Tat waren die von E. bzw. Luther bezogenen unterschiedlichen Positionen, die letzt­ lich auf einer verschiedenarti­ gen Augustinus-Interpretation grün­ deten, auch in der Vergangenheit eingenommen worden, etwa von spätmittelalterlichen Augustinertheologen wie Gregor von Rimini und Hugolin von Orvieto, ohne dass dies zu einer Kirchenspaltung geführt hätte (Burger). – Auf Luthers kämpferische Gegenschrift De servo arbitrio (›Vom unfreien Willen‹) von 1525 antwortete E. 1526/27 mit der umfangreichen Verteidigungsschrift  Hy­ peraspistes (Schutzschild). Damit war der Bruch zwischen beiden endgültig. – Auch wenn



Feinberg: The Moral Limits of the Criminal Law 165

E. theologisch kaum rezipiert wurde, vertreten heute viele Theologen eine ähnliche Position. P. Walter Ausgaben: Lat./dt., Ausgewählte Schriften, Bd.  4, Drmst. 1969, 1–195. – Engl., Collected Works of E., Bd. 76, Toronto 1999, 1–89. Literatur: M. O’Rourke Boyle, Rhetoric and Reform. E.’ Civil Dispute with Luther, Cambr. (Mass.)/ Ldn. 1983. – C. P. Burger, E.’ Auseinandersetzung mit Augustin im Streit mit Luther, in: L. Grane u. a. (Hg.), Auctoritas Patrum, Mainz 1993, 1–14. – K.  Flasch, Kampfplätze der Philosophie. Große Kontroversen von Augustin bis Voltaire, Ffm. 2008, 243–273.

Joel Feinberg *  19. 10. 1926 in Detroit (Mich.), †  29. 3.  2004 in Tucson (Arizo­ na); einer der wichtigsten amerikanischen Rechtsphilosophen des 20. Jh.s, Vertreter eines moderaten Liberalismus.

The Moral Limits of the Criminal Law 4 Bde., EA NY/Oxfd.  1984–88: Bd.  1, Harm to Others, 1984; Bd.  2, Offense to Others, 1985; Bd. 3, Harm to Self, 1986; Bd. 4, Harmless Wrongdoing, 1988.

F.s vierbändiges Werk versucht dem eigenen Bekunden nach, eine Frage zu beantworten: Welche Verhaltensweisen darf

der Staat gerechtfertigterweise unter Strafe stellen? F. untersucht damit die moralischen Grenzen des Strafrechts, ohne sich bezüglich moralischer Grenzen in anderen Rechtsgebieten oder von staatlichem Handeln allgemein zu äußern. Weiterhin soll allein geprüft werden, welches Verhalten strafrechtlich sanktioniert werden darf, ohne damit festzulegen, dass dies auch geschehen sollte. Auch wenn F. das Werk der angewandten Moralphilosophie zuordnet, möchte er sich bezüglich des Verhältnisses von Recht und Philosophie neutral verhalten und hält seine Position für kompatibel sowohl mit dem Rechtspositivismus als auch mit Naturrechtsansätzen. – In jedem der vier Bände untersucht F. ein freiheitsbeschränkendes Prinzip, d. h. jeweils ein Prinzip, das einen bestimmten Grund für einen guten Grund für staatliche Intervention in freies Handeln hält: Band  1 untersucht die Schädigung anderer, Band  2 die Beleidigung anderer, Band 3 die Selbstschädigung und Band  4 unmoralisches Verhalten unabhängig davon, ob jemand dadurch zu Schaden kommt. F. versucht dabei eine liberale Position zu verteidigen, der zufolge Schädigung und Beleidigung anderer

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Feinberg: The Moral Limits of the Criminal Law

legitimerweise strafrechtlich sanktioniert werden können, was für Selbstschädigung und unmoralisches Verhalten nicht zutrifft. – In Band  1 unterscheidet F. eine nicht-normative Verwendung des Begriffs der ›Schädigung‹, verstanden als Zurücksetzung von Interessen, von einer normativen Verwendung, die Schädigung als Rechteverletzung begreift. Anhand schwieriger Fälle wird das Verständnis von Schädigung als Interessenverletzung präzisiert. Zudem wird, in Opposition zur common-law-Tradition, dafür argumentiert, dass auch unterlassene Schadensabwendungen als Schädigung verstanden werden können. Schließlich werden vermittelnde Maximen eingeführt, die das entwickelte ›Schadensprinzip‹ (harm principle) in der Gesetzgebung anwendbar machen sollen. – Band  2 untersucht Angriffe und Beleidigungen anderer, die nicht als Schädigung verstanden werden können. Auch hier wird ein nicht normativer Sinn, der die Herbeiführung aller Art ungeliebter mentaler Zustände umfasst, von einem normativen Sinn unterschieden, der nur die unrechtmäßige Herbeiführung solcher mentalen Zustände umfasst. Nach F. schließt das ›Beleidigungsprinzip‹ (offense principle) nur

Letzteres ein. In Abgrenzung zu einem extremen Liberalismus verteidigt F. die Position, dass auch solches Handeln vom Strafrecht sanktioniert werden darf. – Im Band 3 verteidigt F. die Position, dass bloß selbstschädigendes Verhalten nicht strafrechtlich geahndet werden darf, solange dieses Verhalten hinreichend freiwillig ist. F. wendet sich damit gegen harten Paternalismus. Weicher Paternalismus hingegen, also das Ahnden von Verhalten, das substanziell unfreiwillig ist, kann strafrechtlich sanktio­niert werden. Aus diesem Grunde wird ein großer Teil des Bandes auf die Unterscheidung von freiwilligem und unfreiwilligem Verhalten verwendet. – Band 4 schließlich weist e­ine rechtsmoralistische Position zurück, wonach schadenloses Fehlverhalten strafrechtlich verfolgt werden kann, wenn es unmoralisch ist. Schadenloses Verhalten umfasst dabei sowohl solches Verhalten, das keine Interessen verletzt, als auch solches, das Interessen verletzt, ohne Rechte zu verletzen. – Das Werk wird gemeinhin als einer der wichtigsten Beiträge zur Rechtsphilosophie in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s angesehen, und über viele Aspekte der vier Bände finden ausgedehnte Diskussionen insbeson-



Feuerbach: Grundsätze der Philosophie der Zukunft 167

dere unter Philosophen und Rechtswissenschaftlern statt. D. Düber Literatur: S. P. Green (Hg.), Symposium: The Moral Limits of Criminal Law, Themenheft in: Buffalo Criminal Law Review 5/1, 2001, 1–319. – J. A. Corlett, The Philosophy of J. F., in: The Journal of Ethics 10/1 f., 2006, 131–191.

Ludwig Andreas Feuerbach *  28. 7. 1804 in Landshut, †  13. 9. 1872 in Rechenberg (bei Nürnberg); einflussreicher Vertreter des Linkshegelianismus und Begründer einer sensualistischen Anthropologie.

Grundsätze der Philosophie der Zukunft EA Zürich/Winterthur Lpzg. 21846 (überarb.).

1843;

Die Grundsätze versteht F. als Fortsetzung und nähere Explikation seiner Vorläufigen Thesen zur Reformation der Philosophie (1843). Der Zweck der aus 67 aphoristischen Paragraphen bestehenden Schrift ist es, die Notwendigkeit einer »Philosophie des Menschen, d. i. Anthropologie« aufzuzeigen. Die Begründung dieser Philosophie der Zukunft, auch »neue Philosophie« genannt, soll mittels einer grundlegenden Kritik

der neuzeitlichen Philosophie erfolgen. Zugrunde liegt ihr der zentrale Gedanke aus F.s →  Wesen des Christentums, dass das Wesen Gottes nichts anderes ist als das Wesen des Menschen. In den Grundsätzen wird diese anthropologische Grundfigur auf die Philosophie insgesamt angewandt. – Die Neuzeit kennzeichnet F. zufolge eine zunehmende Nega­ tion von christlicher Theologie und göttlicher Transzendenz. Der Protestantismus habe im Hinblick auf die menschliche Praxis zur Vermenschlichung Gottes beigetragen, weil er die Christologie und damit Christus als menschlichen Gott, nicht wie er an sich, sondern wie er für den Menschen ist, ins Zentrum gestellt habe (§ 2). Die Naturwissenschaften, deren materialistische Ausrichtung F. als ­charakteristisch für seine Zeit ansieht (§ 15), etablierten zudem eine Auffassung, der zufolge Gott überhaupt keine relevante Größe mehr darstellt. In theoretischer Hinsicht kommt der spekulativen Philosophie Hegels eine entscheidende Rolle zu, weil sie das göttliche Wesen mit dem denkenden Wesen der Vernunft identifiziert. Obwohl Vollendung der neuzeitlichen Philosophie stellt sie für F. aber eine letzte Form von Theologie dar,

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Feuerbach: Grundsätze der Philosophie der Zukunft

weil Hegel die Materie nicht als konstitutive Voraussetzung des Denkens bestimmt, sondern aus dem Denken zu erklären versucht (§ 21). In diesem Primat des Geistes wie auch in dem Anspruch darauf, dass die Philosophie (nicht anders als der nur aus-sich-selbst-seiende Gott der Theologie, § 13) von keinen Voraussetzungen abhänge, sieht F. ein Erbe und eine strukturelle Analogie der spekulativen Philosophie zur Theologie. Die idealistische Tradition habe (im Gegensatz zum Empirismus) zwar recht, dass sie den Ursprung der ­Ideen im Menschen suche, aber unrecht, weil sie in unzulässiger Weise von der Sinnlichkeit des Denkens − durch die allein ein wirklicher, nicht bloß gedachter Gegenstand gegeben werde − und von der Du-Bezogenheit des Denkers abstrahiere. So ­erschließe sich die Wirklichkeit erst, wenn sie der sinnlichen Anschauung zum Objekt und statt der monologischen die dialogische Bewährung der Wahrheit anerkannt wird. Als Erkenntnisprinzip der neuen Philosophie, die den Menschen zum höchsten Gegenstand und die Anthropologie zur Universalwissenschaft erhebt (§ 55), soll darum auch kein unbedingtes Tätigkeitsprinzip, sondern der Mensch als dualis-

tisches (tätiges und leidendes) Wesen fungieren. Ferner soll die Haltung des Philosophen keine von den zu begreifenden Phänomenen entkoppelte, sondern eine in diese eingebettete, menschliche Perspektive sein. − F.s Kritik an Theologie  und Philosophie haben v. a. Marx und Engels für ihre Ideologiekritik fruchtbar gemacht und zur Kritik an Recht, Politik und Moral erweitert. F.s Bestimmung des Ich-Du-Verhältnisses wirkte auf die Philosophie des Dialogs (Buber, Rosenzweig); Löwith erweiterte diese Verhältnisbestimmung zu einer phänomenologischen Analyse des Miteinanderseins. Gegenwärtiger Gegenstand der Forschung sind auch die antiphilosophischen Züge F.s. Strittig ist dabei, ob F. die Philosophie überhaupt (Brudney) oder nur eine bestimmte (d. h. rationalistische) Form des Philosophierens kritisiert. N. Mooren Ausgabe: In: Kleinere Schriften  II (1839–1846). Gesammelte Werke, Bd. 9, Hg.: W. Schuffenhauer, Bln. 1970. Literatur: E. Kamenka, The Philosophy of L.  F., Ldn.  1970. – D.  Brudney, F.’s Critique of Philosophy, in: Marx’s Attempt to Leave Philosophy, Cambr. (Mass.)/Ldn. 1998, 58–108. – C.  Weckwerth, L. F. zur Einführung, Hbg. 2002.



Feuerbach: Das Wesen des Christentums 169

Das Wesen des Christentums EA Lpzg.  1841; 21843 (erw.); 3 1849 (nochmals erw.).

Nach der in diesem Werk vorgelegten Religionskritik ist die Religion das Verhalten des Menschen zu seinem eigenen Wesen, aber das Verhalten zu sich selbst als zu einem anderen Wesen. Die Eigentümlichkeit der Religion besteht darin, dass der Mensch sich nicht bewusst ist, dass er in seinen religiösen Überzeugungen von Gott nur sein eigenes Wesen zum Gegenstand hat. Die Schrift soll nachweisen, dass den überna­ türlichen Mysterien der Reli­ gion »ganz einfache, natürliche Wahrheiten zugrunde liegen« (Vorwort zur 1.  Aufl.), die im Zusammenhang mit dem menschlichen Gattungswesen zu verstehen sind. Sie gliedert sich in eine Einleitung und zwei Hauptteile: Teil  I soll zeigen, dass zwischen den Prädikaten des göttlichen und menschlichen Wesens kein Unterschied besteht; Teil  II weist die Widersprüche der theologischen Dogmatik auf. – Die Einleitungskapitel erläutern das Wesen des Menschen und der Religion im Allgemeinen. Die spezifische Differenz des Menschen vom Tier, seine Fähigkeit, ein Bewusstsein seines Gattungswesens auszuprägen,

ist der Grund dafür, warum der Mensch im Gegensatz zum Tier Religion hat. In der Religion macht sich der Mensch laut F. die Unendlichkeit seines eigenen Wesens zu einem ihm äußeren Gegenstand. Bevor er sich seine Wesenseigenschaften (Vernunft, Wille und Liebe) bewusst aneignen kann, verlegt er diese auf ein göttliches Wesen, weil er sie selbst nicht glaubt realisieren zu können. – Um die in der Einleitung erläuterte Konzeption zu belegen, werden in Teil  I die übernatürlichen Wahrheiten einzelner  christlicher Dogmen auf ihre anthropologischen Gehalte zu­rückgeführt. So ist etwa das unendliche, ewige, allmächtige Wesen, mit dem sich  der Mensch entzweit fühlt, das vergegenständlichte Bewusstsein des Verstandes von seiner eigenen Vollkommenheit, Gott als moralisch vollkommenes Wesen nichts anderes als das personifizierte moralische Wesen des Menschen. Die Trinität wird auf die Wahrheit reduziert, dass nur gemeinschaftliches Leben wahres Leben ist. Die Menschheit als ganze ist F. zufolge vollkommen. Beschränkt und unvollkommen ist nur das Individuum, das fälschlicherweise die eigenen intellektuellen und moralischen Beschränkungen zu Schranken des menschli-

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Feuerbach: Das Wesen des Christentums

chen Wesens macht. Die von F. verwandte Methode der Umkehr von Subjekt und Prädikat zeigt sich besonders klar an der Deutung der christlichen Passion. Dass Gott für den Menschen leidet, wird dort zu der Einsicht transformiert, dass leiden für andere göttlich ist. Das Leiden Christi repräsentiert die Anerkennung der menschlichen Empfindsamkeit und Leidensfähigkeit. − Teil II stellt in negativer Stoßrichtung Unstimmigkeiten innerhalb  der theologischen Reflexion heraus, z. B. den Widerspruch von poly- und monotheistischen Vorstellungen in der Trinitätslehre. V. a. geht es um den Widerspruch zwischen  der durch keinen Glauben beschränkten Liebe und dem  Glauben, der die Pflichten gegen den Menschen (Moral und Liebe) den Pflichten gegen Gott unterordnet und zwischen Christ  und Mensch unterscheidet. Das letz­ te Kapitel des Werks (die sog. »Schlußanwendung«) fun­ giert als Ausblick auf eine Epoche, in der der Mensch sich von der Religion emanzipiert hat, und erhebt »die Liebe des Menschen zum Menschen« zum obersten praktischen bzw. moralischen Grundsatz. − Von A. Ruge durch die Zensur manövriert, fand das Werk rasche Verbreitung; noch 1841 wurde

die 2. Auflage vorbereitet. Große Anerkennung fand F.s Kritik von Religion und Theologie bei den Linkshegelianern. Marx und Engels kritisierten aber die fehlende Berücksichtigung von Gesellschaft und Geschichte. M.  Stirner zufolge blieben bei F. wegen der Annahme eines allgemeinen ›Wesens des Menschen‹ religiöse Strukturen in Kraft. Unter modernen Theologen haben z. B. K. Barth und W.  Pannenberg auf F.s Reli­ gionskritik reagiert. – F. unterscheidet sich dadurch von anderen Religionskritikern,  dass er Religion als Ausdruck des menschlichen Wesens zu begreifen sucht. Auch wenn er das Selbstverständnis der Religion transformiert, ermöglicht seine Religionsphilosophie eine differenzierte Analyse der Religion, die den kognitiven Ansprüchen, affektiven Aspekten und der bildlichen Form der Religion Rechnung trägt. N. Mooren Ausgaben: Gesammelte Werke, Bd. 5, Hg.: W. Schuffenhauer, Bln. 1984. – Stgt. 2005. Literatur: H.-J. Braun, Die Religionsphilosophie L. F.s. Kritik und Annahme des Religiösen, Stgt. 1972. – M.  Wartofsky, F., Cambr. u. a. 1977. – D.  Brudney, F.’s Critique of Christian­ity, in: ders., Marx’s Attempt to Leave Philosophy, Cambr. (Mass.)/Ldn. 1998, 25–57.



Feyerabend: Against Method 171

Paul Karl Feyerabend * 13. 1. 1924 in Wien, † 11. 2. 1994 in Genolier (Schweiz); bedeutender Wissenschaftstheoretiker, Begründer des wissenschaftstheoretischen Anarchismus.

Against Method. Outline of an Anarchistic Theory of Knowledge

(engl., Untertitel nur in der  EA; Wider den Methodenzwang.  Skizze einer anarchistischen Erkenntnistheorie), EA Ldn. 1975; 21988 (stark überarb.); 31993 (erneut überarb.).

Während F. den im Untertitel – der in späteren Ausgaben ersatzlos gestrichen wurde – erwähnten Anarchismus im Politischen für keine wünschenswerte Ideologie hält, vertei­digt er einen wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Anarchismus im Wesentlichen aus zwei Gründen: Zum einen erachtet er strikte erkenntnis­ theoretische Prinzipien gegenüber der zu erkundenden vielschichtigen Welt für unangemessen. Zum anderen erfordert das Ideal einer humanistischen und freien Gesellschaft die Zurückweisung universeller Standards und festgelegter Traditionen als Grundlage der Wissenschaft. – Den weitaus größten Teil des Werks widmet F. der Ausarbeitung der Begrün­dung der ersten These, während jene für die zweite knapper aus­fällt

und später in Science in a Free Society (1978) ausführlicher formuliert wird. F.s zentrale These besagt, dass es keine wissenschaftliche Methode  gibt, deren Verletzung nicht zu irgendeinem Zeitpunkt zum Anwachsen wissenschaftlichen Wissens beiträgt. Das einzige – negative – Prinzip, das über alle Zeiten und Erkenntnisprojekte hinweg Gültigkeit beanspruchen kann, lautet daher: anything goes. Dies muss nicht zwingend als Appell für umfassende Willkür verstanden werden, sondern lediglich als Ablehnung allgemeingültiger Methoden. – Die Explikation von Beispielen für produktive Verletzungen anerkannter Methoden bildet daher ein wesentliches Element des Werkes. So kann es, statt auf gut begründeten Theorien aufzubauen, ebenfalls sinnvoll sein, den »Antiregeln« der Kontrainduktion zu folgen, die eine solche Theorie gerade infrage stellen. Dies soll insbesondere beinhalten, alternative Theorien zu formulieren, in deren Rahmen es erst möglich wird, einer gängigen Theorie widersprechende Befunde zu formulieren. Damit ist auf F.s These der Theo­ rieabhängigkeit von Fakten verwiesen. Entsprechend weist F. des Weiteren eine Konsistenz­ anforderung mit bestehenden

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Fichte: Die Bestimmung des Menschen

Theorien als Gütekriterium zurück. Genauso wenig darf Vernunft eine exklusive Rolle für sich beanspruchen. An Galileo zeigt F. beispielhaft, dass dieser bei den Auseinandersetzungen mit den Gegnern des kopernikanischen Weltbildes gleichermaßen durch die alternative Deutung von Fakten wie durch rhetorische Mittel triumphierte, Propaganda und psychologische Tricks also mit Vernunft gleichrangig sind. – Das mit Thomas Kuhn geteilte wissenschaftshistorische Vorgehen wird von F. radikalisiert. Wissenschaftsgeschichte wird, insbesondere aufgrund ihrer Bereicherung der Wissenschaft durch eine Vielzahl inkommensurabler Ansätze, für einen unverzichtbaren Teil von Wissenschaft selbst gehalten. F. bezweifelt die geltungstheoretische Trennung eines normativ irrelevanten Entdeckungs- von einem normativ allein relevanten Rechtfertigungszusammenhang. – Die These, dass wissenschaftliche Erkenntnisse nicht gegenüber anderen Wissensformen wie Mythos, Voodoo oder Religion privilegiert sind, bildet einen Übergang von negativer Wissenschaftstheorie zu politischer Philosophie, da F. nicht nur den Verzicht auf methodische Gängelung in der Ausbildung von Nachwuchs-

wissenschaftlern, sondern auch – analog zur Trennung von Kirche und Staat – eine Trennung von Wissenschaft und modernem, weltanschaulich neutralen Staat fordert. D. Düber Ausgaben: Ldn.  42010 (ND der Ausg. von 1993). – Dt., Ffm.  31986 (ND der überarb. dt. Aufl. von 1983). Literatur: H. P. Duerr (Hg.), Versuchungen. Aufsätze zur Philosophie P. F.s, Ffm. 1980. – G. Andersson, Kritik und Wissenschaftsgeschichte, Tbg. 1988 (insb. Kap.  5). – P.  Hoyningen-Huene, P. K. F., in: Journal for General Philosophy of Science 28/1, 1997, 1–18.

Johann Gottlieb Fichte *  19. 5. 1762 in Rammenau, †  29. 1. 1814 in Berlin; wichtiger Vertreter des Deutschen Idealismus.

Die Bestimmung des ­Menschen EA Ffm./Lpzg. 1800.

Das Werk ist F.s erste populäre Schrift. Sie soll einerseits dem Leser, der nicht Philosoph ist »von Profession«, die Resultate des Jenaer Systems nahebringen und andererseits aufzeigen, dass F.s Philosophie im sog. Atheismusstreit zu unrecht beschuldigt wurde. Es lässt sich als eine Ausein-



Fichte: Die Bestimmung des Menschen 173

andersetzung mit Jacobis Vorwurf, Transzendentalphilosophie sei Nihilismus, lesen. – F. wählt eine literarische Form, in der ein Ich-Erzähler über die Entwicklung seines philosophischen Denkens berichtet. Das Werk ist in drei Teile gegliedert. Im 1.  Teil: Zweifel vertritt der Erzähler zunächst einen strengen Determinismus. Alles faktisch Vorfindliche ist bestimmt  durch die Reihe aller vorhergehenden Zustände, durch eine geschlossene Kausalkette. Allem Werden ist daher ein Sein als Grund vorausgesetzt. Die Beschaffenheiten der Dinge kommen ihnen zu wie Akzidenzien einer Substanz. Alle Veränderungen werden durch Naturkräfte erklärt. Das Ich ist ebenfalls der strengen Naturnotwendigkeit unterworfen. Die Veränderungen des Denkens, der Fortschritt der Menschheit, entspringt der Denkkraft. Es ergibt sich eine an Spinoza erinnernde Kosmologie, in der die Freiheit des Einzelnen bloßer Schein ist und der Wille auf einen Bewusstseinsakt reduziert bleibt. Gegen den Determinismus erhebt sich das Bewusstsein der eigenen Freiheit. Der Mensch will frei sein und nach selbst entworfenen Zweckbegriffen frei handeln. Der Determinismus befriedigt den »Ver-

stand«; Freiheit ist jedoch eine Forderung des »Herzens«. Der 2. Teil Wissen löst diese Aporie – dargestellt in einem Dialog des Erzählers mit einem Geist – durch die Transzendentalphilosophie. Der Ursprung der Vorstellung von Gegenständen liegt nicht außerhalb des Ich, das als Subjekt-Objektivität verstanden wird. Vielmehr wird der Gegenstand durch ein konstitutives Handeln hervorgebracht, nicht von einem Sein verursacht. Der Gegenstand erscheint dem unmittelbaren Bewusstsein als gegeben, dem reflektierten Bewusstsein aber durch sich selbst gesetzt. Das Ich ist sowohl das Anschauende als auch das Angeschaute. Über die Vorstellung hinaus ist kein Wissen möglich, Vorstellung aber ist Repräsentation, Bild, das Wissen daher ein »System bloßer Bilder« (I,6, 252), eine Traum- und Schattenwelt ohne Realität. Der 3.  Teil Glaube – nun wieder monologisch – ergänzt den erkenntnistheo­ retischen Idealismus durch einen Realismus des Willens, entsprechend dem Primat des Praktischen. Die Realität entspringt der Fähigkeit, frei nach selbständig erzeugten Zweckbegriffen zu handeln. Glaube ist für F. das Interesse für die Realität und bewirkt, dass die Vorstellungen etwas bedeuten.

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Fichte: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre

Hierdurch gewinnen die Vernunftwesen, die unter theoretischer Perspektive nur Produkte meines Denkens sind, praktische Realität: Interpersonalität. Die Welt wird ausschließlich Objekt meiner Pflicht. Der irdische Zweck des Menschen ist die Realisierung des Vernunftstaates und des ewigen Friedens, der überirdische die Realisierung der intelligiblen Welt, d. h. der Sittlichkeit. Das Gesetz der übersinnlichen Welt ist der ewige, lebendige Wille, die Vernunft, Gott. – Das Werk besitzt einen dialektischen Aufbau. Realistische und idealistische Positionen wechseln sich durch einander bedingt und sich auf einander beziehend ab. Der erkenntnistheoretische Idealismus hat die Funktion der Kritik, die hier durch den Geist personalisiert auftritt. Die monologischen Teile zeigen die Unvertretbarkeit von Skeptizismus und sittlichem Handeln auf. C. Asmuth Ausgaben: Sämmtliche Werke, Bd.  II, ND Bln. 1965, 165–319. – GA, Abt. I, Bd.  6, Stgt. 1981, 145–311. Literatur: W. Janke, Das empirische Bild des Ich, in: Philosophische Perspektiven 1, 1969, 229–246. – I.  Radrizzani, Die Bestimmung des Menschen: Der Wendepunkt zur Spätphilosophie?, in: F.-Studien 17, 2000, 19–42. – H.  Verweyen, In

der Falle zwischen Jacobi und Hegel. F.s Bestimmung des Menschen (1800), in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 48, 2001, 381–400.

Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre als Handschrift für seine Zuhörer EA Lpzg. 1794.

In diesem Werk findet die Systemphilosophie F.s ihren frühen Kulminationspunkt. Auch wenn F. die Wissenschaftslehre als eine die kantische Transzendentalphilosophie fortführende Grundlagendisziplin in immer neuen Vorlesungszyklen revidierte, blieb die frühe Fassung in ihrer eigentümlichen Ausprägung wirkungsgeschichtlich maßgebend. Erst in neuerer Zeit wird verstärkt auf spätere Versionen rekurriert (→  Wissenschaftslehre, 2.  Vortrag im Jahre 1804). Anders als die Grundlage, die in Neuauflagen 1802 nur geringfügig ergänzt wurde, hat F. diese jedoch niemals veröffentlicht. Auch die Grundlage war freilich nicht »eigentlich für das Publikum bestimmt«, sie diente F. primär als Handschrift für die Hörer seiner Vorlesungen. Seit 1794 in Jena lehrend, ließ er in aller Eile die ausgearbeiteten Kapitel bogenweise publizieren, was die Geschlossenheit des Werks beeinträchtigt haben



Fichte: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre 175

mag. – Als Einleitung in sein System verfasste F. 1794 die programmatische Schrift Über den Begriff der Wissenschaftslehre. Hier wird die Wissenschaftslehre  bestimmt als »Wissenschaft der Wissenschaft überhaupt«, »welche alle möglichen Wissenschaften zu begründen hat«. F. knüpft damit unmittelbar an die fundamentalistische Philosophiekonzeption Reinholds an und widmet sich der Suche nach einem »absolut ersten, schlechthin unbedingten Grundsatz alles menschlichen Wissens«. Anders als Reinholds »Satz des Bewußtseins« wird dieser bei F. jedoch nicht durch Reflexion auf Tatsachen des Bewusstseins gewonnen, sondern durch den Vollzug einer Tathandlung. So entwickelt §  1 der Schrift den zentralen Gedanken einer Selbstsetzung des Ich. Die Gewissheit des Gedankens ›Ich bin‹, der als Implikat  allen Denkens (vgl. Kants Transzendentale Deduktion) »höchste Tatsache des Bewußtseins« ist, gründet nicht auf Introspektion, sondern auf seiner Eigenschaft, sich implizit selbst zu verifizieren. Ich, der ich denke und eo ipso denke: ›Ich bin‹, bin aufgrund dieses Denkens. Diese Selbstverifikation betrifft nicht mich als individuelle Person, sondern allein als absolutes Subjekt, als Denkendes bar je-

der Bestimmung, dessen Wesen und Existenz sich in der Rolle des Denkenden erschöpfen, d. h. ihm kommt keine vom Denken losgelöste Existenz zu. Das absolute Subjekt bildet für F. den Ausgangspunkt aller kategorialen Ableitungen. Zunächst wird dem Setzen ein formal unabhängiger Akt der Gegensetzung zur Seite gestellt. Dem Ich entsteht so ein »NichtIch«, die Objektwelt. Nun soll auch das Nicht-Ich im Ich gesetzt sein, denn es ist abgeleitet aus einer Tatsache des Bewusstseins. Ich und Nicht-Ich treten in einen Widerstreit, der sich nur auflösen lässt durch die Annahme einer inhaltlich unbedingten Handlung des Einschränkens beider. Sie werden als teilbar und die gemeinsame Sphäre allen Bewusstseins komplementär ausfüllend gesetzt. Weil das Nicht-Ich dem »absoluten Ich  entgegengesetzt schlechthin Nichts ist«, müssen teilbares Ich und absolutes Ich ihrerseits unterschieden werden. In der begrifflichen Hierarchie steht das absolute Ich als höchster Vereinigungspunkt über der Disjunktion von teilbarem Ich und Nicht-Ich. Diese Konstellation setzt den Kritizismus vom Dogmatismus ab, welcher dem Begriff des Dinges den Vorzug gibt und das Ich darunter subsumiert. In der so

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Fichte: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre

umrissenen Trias der Grundsätze sieht F. ein Fundament höchster Gewissheit, auf dem er fortschreitend die Lehrsätze theoretischer und praktischer Philosophie errichtet. Lassen sich bestimmte geistige Akte als Bedingungen jener Prinzipien erweisen, indem sie etwa deren immanente Gegensätze vermitteln, so kommt ihnen derselbe Gewissheitsstatus zu. Ausgehend von dem Satz »Das Ich setzt sich selbst als beschränkt bzw. bestimmt durch das NichtIch«, behandelt F. zunächst die Grundlagen des theoretischen Wissens (§ 4). Aus dem Widerspruch zwischen aktiver und passiver Rolle des Ich in diesem Bestimmungsverhältnis erwächst das argumentative Potenzial für die Ab­leitung der Kategorien der Wechselbestimmung (Relation), Kausalität und Substanzialität. Mittels dieser Begrifflichkeit erläutert F. die Sonderstellung seines »kritischen Idealismus« gegenüber dogmatischem Realismus und Idealismus: Während der Realist das Nicht-Ich als »Ding an sich« zur grundlegenden Substanz und Ursache unserer Vorstellungen erklärt, billigt sein dogmatischer Widerpart diese Rolle dem Ich zu; der kritische Idealist dagegen hält eine solche Grundfrage für theoretisch unentscheidbar  und

verweist sie in den Bereich der praktischen Philosophie. Gleichwohl lehrt die theoretische Wissenschaftslehre, dass für uns alle Realität vermittels der Anschauung durch produktive Einbildungskraft gegeben und danach durch den Verstand fixiert werde. Die praktische Wissenschaftslehre nimmt den Widerstreit des Ich, zugleich theoretisierende Intelligenz und schlechthin absolut zu sein, zum Ausgangspunkt für ihre Ableitung des Strebens. Der rein setzenden Tätigkeit des Ich bleibt mit dem NichtIch ein äußerer Anstoß entgegengesetzt. Das Ich ist nicht Bestimmungsgrund aller Realität, soll dies aber laut praktischem Postulat werden; es ist unendlich, aber nur seinem Streben nach. Spezifische Formen dieses Strebens, der Trieb und das Sehnen nach einem Ideal, werden abschließend entwickelt. – V. a. der Begründungsansatz der Grundlage  bescherte F.s Werk eine außergewöhnliche Resonanz. Schon kurz nach dessen Erscheinen trat der junge Schelling 1795 mit den Schriften Vom Ich […] und Philosophische Briefe […] hervor, die quasi als Kommentar zur Grundlage rezipiert wurden. Erst mit Hegel wurde die Idee einer Grundsatzphilosophie zu­rückgedrängt. Einer moder-



Fichte: Grundlage des Naturrechts 177

nen, auf Logik und Sprachanalyse gegründeten  Philosophie schien F.s Wirken suspekt. Für Russell grenzt sein Subjektivismus an Wahnsinn. Allein die Logik der Selbstsetzung bietet im Rahmen aktueller Diskussionen zum cogito-Argument (selbstverifizierende Aussagen, Wahrheitsautonomie) ein bemerkenswertes, wenn auch wenig rezipiertes Erklärungsmodell. J.-P. Mittmann Ausgaben: Sämmtliche Werke, Bd.  1, ND Bln. 1965, 83–328. – GA, Abt. I, Bd.  2, Stgt. 1969, 173–461. Literatur: P. Baumanns, F.s Wis­senschaftslehre. Probleme ihres ­Anfangs, Bonn 1974. – F.  Neuhouser, F.’s Theory of Subjectivity, Cambr. 1990. – J.-P. Mittmann, Das Prinzip der Selbstgewißheit, Boden­heim 1993.– W. Class/A.  K. Soller, Komm. zu F.s »Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre«, Amsterdam 2004.

Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre EA Jena/Lpzg. 1796.

Mit Fragen des Naturrechts beschäftigte sich F. schon frühzeitig. Doch anders als in den anonymen Flugschriften, die er 1793/94 zur Französischen Revolution verfasste, erhebt er in diesem Werk erstmals den

Anspruch einer Grundlegung auf der Basis des philosophischen Gesamtsystems. – F.s Rechtsphilosophie zielt darauf ab, den Rechtsbegriff als Bedingung von Selbstbewusstsein und damit aus Grundsätzen der Wissenschaftslehre zu deduzieren, statt ihn aus Begriffen der Sittlichkeit und Moral abzuleiten. Die Untersuchung geht aus von der Freiheit als erster Bedingung selbstbewusster Vernünftigkeit. Die Freiheit des Einzelnen setzt diesen in Beziehung zu einer Sinnenwelt, in die hinein er wirkt und aus der andere freie Vernunftwesen auf ihn einwirken, ihn zum Handeln »auffordern«. Diese Einwirkung wiederum ist notwendige Bedingung menschlichen Selbstbewusstseins, »der Mensch wird nur unter Menschen ein Mensch«. Er tritt in ein wechselseitiges  Anerkennungsverhältnis, in dem die ­individuelle Freiheit der grundlegenden Rechtsregel unterworfen wird: »Beschränke deine Freiheit durch den Begriff der Freiheit des anderen«. Jedes Wesen von »menschlicher Gestalt« verfügt sonach über unveräußerliche Urrechte, die im Begriff der Person selbst wurzeln. Sie betreffen die Fortdauer von Freiheit, Unantastbarkeit des Leibes und eine freie Einflusssphäre

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Fichte: Grundlage des Naturrechts

in der Welt, worauf das Eigentumsrecht beruht. Dieses leitet F. nicht aus einer praktischen Beziehung zu den Dingen, aus Bau, Bearbeitung, Anbau oder Pflege ab, sondern sieht schon im theoretischen Erkennen einen Akt der Aneignung. Nun können die Urrechte vernünftiger Wesen miteinander kollidieren und bedürfen daher der Begründung und Vermittlung. Der Einzelne muss seine Ansprüche deklarieren und mit anderen vertraglich abstimmen. Kommt es zum Konflikt der Interessensphären, so erweist sich der Vertrag auf Treue und Glauben als untauglich. Nur eine äußere, unabhängige Instanz kann in diesem Fall Rechtssicherheit garantieren, indem sie das unrechte Handeln »mit mechanischer Notwendigkeit« auf das Gegenteil seines Zweckes zurückwirft. Dies ist Aufgabe der Zwangs­gesetze, die sich nur im Gemeinwesen und dort als positives Recht finden. Folglich wendet sich F. nun dem Staatsrecht zu. Indem der Einzelne dem Staatsbürgervertrag beitritt, ordnet er sich dem Willen einer Gemeinschaft unter. Zugleich wird ihm deren Rechtsschutz zuteil. Die Institutionalisierung des Gemeinwillens verlangt, da die Gemeinschaft in eigener Sache nicht zugleich

Richter und Partei sein kann, dass die gesamte Staatsgewalt – eine Gewaltenteilung lehnt F. ab – in die Hände von Repräsentanten gelegt wird. Ob diese gewählt oder durch Geburt bestimmt sind, ob der Staat republikanisch, aristokratisch oder monarchisch verfasst sei, ist für F. eine Frage der Politik und soll in der Naturrechtslehre unentschieden bleiben. Als Regulativ der exekutiven Gewalt und somit als höchste Aufsichtsins­ tanz wird ein Ephorat vorgeschlagen, d. h. ein vom Volk bestimmtes Experten- und Ho­noratiorengremium, das bei Versagen der Exekutive befugt ist, deren Rechtsgewalt durch eine Art »Staatsinterdikt« aufzuheben. Die höchste Gewalt – und per definitionem alles Recht – geht somit vom Volk aus. Richtet sich der Volkswille gegen die Gewalthaber, so ist der Aufstand gerecht. Gelingt es Aufrührern aber nicht, das Volk hinter sich zu bringen, so werden sie zu Recht bestraft, ungeachtet der moralischen Güte ihrer Absichten, »sie hätten ihre Nation besser kennen sollen«. – Im angewandten Naturrecht vertieft F. die bisher gewonnenen Einsichten und bezieht sie auf Fragen des Strafund Zivilrechts, des Ehe- und Familienrechts sowie auf vielfältige Bestimmungen zur Aus-



Fichte: Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters 179

übung der Polizeigewalt. Das Werk schließt mit dem Völkerrecht und der von Grotius und Kant entlehnten Idee eines Völkerbundes. – Dem Interesse entsprechend, das jene Epoche Fragen des Naturrechts entgegenbrachte, wurde F.s Schrift rege und zumeist wohlwollend rezipiert. J.-P. Mittmann Ausgaben: Sämmtliche Werke, Bd.  3, ND Bln. 1965, 1–385. – GA, Abt. I, Bd. 3, Stgt. 1966, 291 – Bd. 4, 165. Literatur: L. Siep, Methodische und systematische Probleme in F.s »Grundlage des Naturrechts«, in: Der transzendentale Gedanke, Hg.: K.  Hammacher, Hbg. 1981, 290–306. – M. Kahlo u. a. (Hg.), F.s Lehre vom Rechtsverhältnis, Ffm. 1992. – T. Rockmore/D. Breazeale (Hg.), Rights, bodies and recogni­ tion: new essays on F.’s Foundations of natural right, Ldn. 2006.

Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters

EA Bln. 1806. F.s geschichtsphilosophisches Hauptwerk hat seine Vor­ läufer in den bis 1800 verfassten gesellschaftskritischen und politischen Schriften; seine Auswirkungen sind noch in der Religions-, Staats- und Geschichtsphilosophie des Spätwerks festzustellen. – F. hat die 17 Vorträge vom 4. November

1804 bis zum 17.  März 1805 in Berlin öffentlich gehalten. Ihr Anliegen ist kein im engeren Sinne wissenschaftli­ ­ ches, sondern ein populärphilosophisches. Durch eine methodologische Dreiteilung der Vorträge (eine begrifflichapriorische, eine historischhypothetische und eine existenzielle Ebene) wird jedoch der Zusammenhang zwischen wissenschaftlicher, angewandter und populärer Philosophie sichergestellt. – Die ersten beiden Vorlesungen entwickeln eine theologisch akzentuierte Epochenlehre a prio­ ri, den göttlichen Weltplan. Sie gliedert die Menschheitsgeschichte in fünf Stufen: das Zeitalter natürlicher Vernünftigkeit (Stand der Unschuld des Menschengeschlechts),  das Zeitalter »entäußerter Vernunft« (Fremdbestimmung  durch äußere Autoritäten und Lehrsysteme, Stand der anhebenden Sünde), das Zeitalter der Befreiung von Vernunftinstinkt und entäußerter Vernunft (Stand der vollendeten Sündhaftigkeit), das Zeitalter der Vernunftwissenschaft (Stand der anhebenden Rechtfertigung), das Zeitalter freier Verwirklichung der Vernunft (Stand der vollendeten Rechtfertigung und Heilung). – Auf der Grundlage von F.s Ideenlehre explizieren die Vor-

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Fichte: Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters

lesungen  2–4 die Konzeption eines vernünftigen Lebens, das F. als ein Leben im Dienst der  göttlichen Idee versteht. Vermittels einer empirischen Analyse charakterisieren die Vorle­sungen 5–8 das gegenwärtige Zeitalter als Epoche der Be­ freiung. Zentrale Indikatoren für F.s Zeitalterdia­gnose sind: ein radikaler Individualismus, ein durch die individualisie­ rende Leiblichkeit dominierender Materialismus und Hedonismus, ein individualistisch relativierter wissenschaftlicher  Empirismus, Ratio­na­ lismus und Skeptizismus. F. rechnet hier mit Vertretern des wissenschaftlichen Zeitgeistes, insbesondere mit Schelling, ab. Die Vorlesungen 9–12 befassen sich systematisch und historisch mit der Rolle des Staates als der Gestaltungsmacht der Menschheitsgeschichte. Zen­ tra­les Ereignis dieser Analyse ist die Entstehung des Christentums (13. Vorlesung). Mit der Lehre von der Unmittelbarkeit, der Gleichheit und Freiheit des Menschen vor Gott besteht nach F. seitdem der doppelte politisch-pädagogische Auftrag einer Befreiung des Menschen aus den unbedingten Zwängen weltlicher Macht einerseits (14.  Vorlesung) und der Ver­ einigung der individualisierten Menschen zum Projekt einer

freiheitlichen und vernunftorientierten Menschheitsgeschichte andererseits (15.  Vorlesung): »Der Zweck des Erdenlebens der Menschheit ist der, daß sie in demselben alle ihre Verhältnisse mit Freiheit nach der Vernunft einrichte.« Diesen Übergang, der das Engagement des Individuums für den Zweck des Erdenlebens der gesamten Menschheit beschreibt, charakterisieren die 16. und 17. Vorlesung als den Aufgang des Lichts der wahren Religion. Durch sie wird dieser Prozess als Offenbarung Gottes in der Welt erkannt. – Die Erscheinung der göttlichen Heilsgeschichte im Leben des Einzelnen behandelt dann die Anweisung zum seligen Leben (1806); ihre gesellschaftlich-politischen Konsequenzen  the­matisieren die Reden an die deutsche Nation (1808). – Neben der Überwindung der Aporien der Kulturphilosophie Rousseaus überbieten die Grundzüge die bis dahin verbreiteten vertragstheoretischen Staatsphilosophien durch eine moralisch-religiöse Deutung der Geschichte, in der, was politisch geleistet werden kann, als Verwirklichung des Absoluten in der Zeit verstanden wird. Damit nehmen die Grundzüge im Ansatz Schellings Philosophie der Offenbarung (1856–



Fichte: Das System der Sittenlehre 181

58) vorweg. Als notwendiger und unhintergehbarer Voraus­ setzung jeglicher kulturgeschichtlichen Entwicklung hält F. jedoch, anders als Hegel, an der freien Entschlossenheit des Individuums zur Vereinigung »der Vernünftigen zum Vernünftigen« fest. Damit denkt F., wenn auch universalistisch gebunden, weiterhin indivi­ dualistisch und existenzphilosophisch. Auf diesen Grundzug seines Denkens stützen sich im Folgenden der individualistische Anarchismus Stirners, der Nihilismus Nietzsches sowie der anthroposophische Individualismus Steiners. H. Traub Ausgaben: Sämmtliche Werke, Bd.  VII, ND Bln. 1965, 3–256. – GA, Abt. I, Bd.  8, Stgt. 1991, 141–396. – Hbg. 41979 (Einl.: A. Diemer). Literatur: H. Schüttler, Freiheit als Prinzip der Geschichte, Wzbg. 1984. – R.  Lauth, F.s Geschichtskonzeption, in: ders., Vernünftige Durchdringung der Wirklichkeit, Neuried 1994. – P.  L. Oesterreich/H.  Traub, Der ganze Fichte, Stgt. 2006.

Das System der Sittenlehre nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre EA Jena/Lpzg. 1798.

Die Sittenlehre ist nach der Rechtslehre (→ Grundlage des

Naturrechts, 1796) das  zweite philosophische Gebiet, des­ sen Ausarbeitung F. im Rahmen und auf Basis seiner Wissenschaftslehre von 1794 (→ Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre) unternimmt. Der Gegenstand der Sittenlehre ist ein zweifacher: Zunächst sucht F. im ersten Hauptstück das Prinzip der Sittlichkeit überhaupt zu entwickeln, um im direkten Anschluss (zweites und drittes Hauptstück) auch der Frage nach der so­ zialen Wirklichkeit des von ihm herausgearbeiteten Prinzips nachzugehen. Im Zuge der Einleitung zur Sittenlehre motiviert F. den Gegenstand seiner Schrift über die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der praktischen Einflussnahme des Menschen auf die Außenwelt. Dabei bildet sein Verständnis von Selbstbewusstsein die methodische Basis seiner transzendentalen Deduktion der moralischen Wirksamkeit vernunftbegabter Wesen. F. deduziert das Prinzip der Sittlichkeit aus dem Begriff des transzendentalen Ichs und vertritt in diesem Zusammenhang die These, dass wir ohne die unmittelbar evidente Annahme »absoluter Selbsttätigkeit« zu keinem Begriff von Selbstbewusstsein gelangen  können. Anhand des Zweckbegriffs

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Fichte: Das System der Sittenlehre

entwickelt F. ein Freiheitsund Sittlichkeitskonzept, das sich auf ein Vergegenständlichungsmodell des Handelns stützt: Der innerliche Zweck des freien Subjekts wird in die Objektivität übersetzt, so dass die hervorgebrachte praktische Veränderung der Wirklichkeit als Resultat der Selbsttätigkeit des Subjekts bewusst wird. Den mit diesem Bewusstsein notwendigerweise verbundenen Gedanken nennt F. das Sittengesetz, das dem Subjekt aufgibt, seine »Freiheit nach dem Begriffe der Selbstständigkeit« zu bestimmen. – Im zweiten und dritten Hauptstück expliziert F. die verschiedenen Pflichtbestimmungen, die sich aus dem Sittengesetz ableiten lassen. Dabei geht er über eine bloß formale Betrachtungsweise der Pflichten hinaus, indem er einen Grundkatalog von konkreten sittlichen Pflichten entwickelt. Implizit kritisiert F. damit Kants formalistischen Zuschnitt des Kategorischen Imperativs, dessen adäquates Verständnis auch die Formulierung von Grundzügen einer konkreten Ethik erlauben soll. Diesen Zug zur philosophischen Exploration der materialen Anwendbarkeit des »Prinzips der Sittlichkeit« erreicht F. bemerkenswerterweise über den Naturbegriff. Insofern der

Mensch nicht bloß Vernunftwesen, sondern auch Naturwesen ist, muss das Prinzip der absoluten Selbsttätigkeit mit der Natur des Subjekts und somit der äußerlichen Natur überhaupt als in prinzipiellem Einklang stehend gedacht werden können. F. deduziert auf dieser Basis die notwendige Verkörperung des Selbstbewusstseins, Voraussetzungen und Formen der Trieb- und Bedürfnisbefriedigung und die Bedingungen der Harmonie zwischen Naturtrieb und absoluter Selbsttätigkeit, die F. als »gemischten« oder als »sittlichen Trieb« bezeichnet. Im dritten Abschnitt der »Sittenlehre im engern Sinne« unterscheidet F. im Rahmen seiner Pflichtenlehre zwischen bedingten und unbedingten Pflichten, die er selbst noch einmal in allgemeine und besondere Pflichten gliedert. Die Liste der Pflichten umfasst dabei die Pflicht des Individuums zur Selbsterhaltung, zur Ausübung eines bestimmten Berufs, zum Besitz von und Respekt vor Eigentum, zur Anerkennung der Freiheit anderer Personen und zur Verbreitung des sittlichen Geistes und des Zusammenhalts der Gemeinschaft überhaupt. Abschließend entwickelt F. den systematischen Ort der Ehe, der Familie und der verschie-



Fichte: Versuch einer Kritik aller Offenbarung 183

denen Stände einer sittlichen Gesellschaft. – Die unmittelbare und euphorische Rezeption von F.s System der Sittenleh­ re steht in keinem Verhältnis zu seiner langfristigen Wirkungsgeschichte. Zeitgenössische Rezensionen zeigen, dass das Werk in Teilen als Spitze der Geisteskraft europäischer Philosophie begriffen wurde, während aus heutiger Perspektive die praktische Philosophie Kants oder Hegels – auf Letztere hat die Sittenlehre enormen Einfluss gehabt – viel häufiger Gegenstand der wissenschaftlichen Auseinandersetzung sind. A. Mohseni Ausgaben: GA, Abt. I, Bd. 5, Stgt. 1977, 1–317. – Sämmtliche Werke, Bd. IV, ND Bln. 1965, 1–365. Literatur: G. Gurwitsch, F.s Sys­ tem der konkreten Ethik, Hildesheim/NY 1981 (ND der Ausg. Tbg. 1924). – A. Wildt, Autonomie und Anerkennung. Hegels Moralitätskritik im Lichte seiner F.-Rezeption, Stgt. 1982. – W. Becker, Das Selbstverhältnis des sprachlich Handelnden. Sprachpragmatische Überlegungen zum Handlungsbegriff bei F., in: Zeitschrift für philosophische Forschung 39, 1985, 35–59. – C.  Asmuth/W.  Metz (Hg.), Die Sittenlehre J.  G. F.s 1798–1812 (=  F.-Studien 27), Amsterdam/NY 2006.

Versuch einer Kritik aller Offenbarung EA Königsberg 1792.

Das Anliegen von F.s Erst­ lingsschrift besteht in dem Nachweis der Vernunftmäßigkeit der  geoffenbarten Reli­ gion. Dabei knüpft F. einerseits an systematische Probleme seiner Aphorismen über Religion und Deismus (1790) und andererseits an die Denkmittel der Kant’schen ›Moraltheologie‹ an. – F.s Beantwortung der dem Buch zugrunde liegenden Leitfrage »Wie ist geoffenbarte  Religion möglich?« erfolgt auf mehreren Begründungsebenen und ist an einem engen Zusammenhang von Moral und Religion orientiert. In der Bestimmung des Religionsbegriffs geht F. zwar von Kants Bestimmungen der Moralbegriffe aus, verändert jedoch dessen Konzeption, indem er das Anwendungsproblem des Moralgesetzes in der reinen praktischen Vernunft selbst lokalisiert und somit auch den Endzweckgedanken neu bestimmt. Die Übereinstimmung von Sittlichkeit und Glückseligkeit wird von F. für die reine praktische Vernunft selbst behauptet und nicht erst für die Anwendung des Moralgesetzes auf endliche Wesen, die jederzeit durch sinnliche Hand-

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Fichte: Versuch einer Kritik aller Offenbarung

lungsgründe bestimmt sind. Mit dieser gegenüber Kant veränderten Konzeption steht der Gottesgedanke schon für die reine praktische Vernunft in Geltung. Er veranschaulicht sowohl die Inhalte des Moralgesetzes als auch den Anspruch der reinen praktischen Vernunft, Einheitspunkt des theoretischen und praktischen Vermögens des Bewusstseins sein zu können. Der Religion wird von F. die Funktion des empirischen Gewahrwerdens der im Endzweckgedanken gedachten Einheit von Sittlichkeit und Glückseligkeit zugewiesen. Sie hat ihren notwendigen Ort in der konkreten Anwendung des Moralgesetzes. Indem sie die Verbindlichkeit des Moralgesetzes durch den Gottesgedanken verstärkt, ist sie ein Moment der Willensbestimmung für endliche Wesen. Ausgehend von diesem moralphilosophischen Religions­ begriff unterscheidet F. drei Religionsformen (Vernunft-, Natur- und Offenbarungsreligion), denen drei Stufen von Moralität entsprechen. Während die Vernunftreligion die höchstmögliche Stufe der Moralität repräsentiert, auf welcher der Mensch allein durch das Moralgesetz bestimmt wird, ist die der Naturreli­ gion entsprechende Moralstufe

durch einen ständigen Konflikt von moralischen und sinnlichen Bestimmungsgründen charakterisiert. Die unterste Stufe der (Un-)Moral, welche eine Offenbarung notwendig macht, ist durch eine gänzliche Abwesenheit moralischer Bestimmungsgründe gekennzeichnet. Die Offenbarung als ein sinnliches Geschehen hat die pädagogische Funktion, in dem sinnlich gebundenen Menschen die Stimme der Vernunft zu erregen. Damit ist ein moraltheoretischer Nachweis der Vernunftgemäßheit der Offenbarungsreligion in zweifacher Hinsicht durch F. erbracht: Bei dem Begriff der Offenbarung handelt es sich um einen apriorischen Begriff, und mit dem Widerstreit von sinnlichen und moralischen Bestimmungsgründen um die reale Willensbestimmung des Menschen ist ein empirisches Bedürfnis angegeben, welches eine Offenbarung notwendig macht. – Die große Wirkung von F.s erster Druckschrift ist zum Teil dem Umstand geschuldet, dass sie ohne Angabe des Autors und ohne Vorrede erschien und für die erwartete Religionsschrift Kants gehalten wurde. Die zeitgenössische Auseinandersetzung um diese Schrift dokumentiert sich bei F.  Schleiermacher, W. T. Krug,



Fichte: Die Wissenschaftslehre 185

J. H. Tieftrunk, F. I. Niethammer, F. G. Süskind u. a. C. Danz Ausgaben: GA, Abt. I, Bd. 1, Stgt. 1964, 1–162. – Hg., Einl. und Anm.: H. Verweyen, Hbg. 21998. Literatur: M. Kessler, Kritik aller Offenbarung. Untersuchungen zu einem Forschungsprogramm J. G. F.s und zur Entstehung seines »Versuchs« von 1792, Mainz 1986. – F. Wittekind, Theologie und Religion in J. G. F.s Offenbarungsschrift, in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie 39, 1997, 87–105. – C. Danz, Über den Versuch einer Kritik aller Offenbarung (1792). Niethammer als F.-Rezipient, in: G. Wenz (Hg.), Friedrich Immanuel Niethammer (1766–1848). Beiträge zu Biographie und Werkgeschichte, Mchn. 2009, 15–28.

Die Wissenschaftslehre, 2. Vortrag im Jahre 1804 EA Bonn 1834/35.

Dieser Text gehört zu den ca.  20 bekannten, voneinander verschiedenen Fassungen der Wissenschaftslehre aus dem Nachlass. Er zeichnet sich durch einen vergleichsweise guten literarischen Zustand aus und ist deshalb von der Forschung lange Zeit als Leittext für die Entwicklung der späteren Wissenschaftslehre herangezogen worden. – Es lassen sich vier Teile des Textes unterscheiden: 1.  Einleitung und

Propädeutik, 2.  Wahrheitslehre, 3.  Wissenschaftslehre im engeren Sinne, 4. Applikation. – 1. Einleitung und Propädeutik: Das Wesen der Wissenschaftslehre ist: »Alles Mannigfaltige […] zurückzuführen auf absolute Einheit.« Das Prinzip muss absolute Einheit sein, die nicht einmal die Möglichkeit eines Unterschieds zulässt. Das Prinzip ist deshalb nicht das dinghafte Sein, dem das Denken oder Bewusstsein entgegensteht, sondern die Einheit beider. F. knüpft explizit an die Transzendentalphilosophie Kants an, der er sich positiv verpflichtet weiß, korrigiert Kant jedoch, indem er den Zusammenhang von sinnlicher und intelligibler Welt in einer »unerforschlichen Wurzel« für unzureichend begründet hält. Das Wissen selbst ist allen wandelbaren Inhalten gegenüber selbst unwandelbar, selbständig und eins mit sich selbst. Die absolute Einheit muss allerdings auch das Unwandelbare und das Wandelbare organisch vereinen, und zwar innerhalb des Wissens. Der Begriff kann das absolut unmittelbare Absolute nicht vermitteln, er begreift jedoch das Unbegreifliche als Unbegreifliches. Die Begriffsform lässt sich faktisch nicht transzendieren, muss jedoch intelligibel als ungültig

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Fichte: Die Wissenschaftslehre

betrachten werden im Hinblick auf das Absolute. Der Begriff begreift sich selbst zunächst als Repräsentation, als Bild des Absoluten, darin als vom Absoluten verschieden, als unselbständig und dependent. Urbild und Abbild sind jedoch Korrelationsbegriffe und insofern wechselseitig voneinander abhängig. Dem Inhalt nach sind sie schließlich identisch; ihr Unterschied beruht bloß auf der Form. Dieses wechselseitige Begreifen des einen durch das andere nennt F. »Urbegriff« oder »Durcheinander« als absolute, organische Einheit, insofern von den wechselnden Begriffen abgesehen wird. Aber auch der Urbegriff ist Begriff; die Realität kann aber nur im Vollzug selbst gelebt, nicht aber begriffen werden. Aufgabe ist es nun, den Zusammenhang von Begriff und Realität zu erklären und diese Erklärung selbst zu erklären: Es folgt die – nicht an historisch vorhandene Systeme anknüpfende – Dialektik von Idealismus und Rea­ lismus. Beide Welt-Ansichten potenzieren den Dualismus von vermittelnder Einsicht und unmittelbarem Vollzug. Allerdings stehen sie sich nicht symmetrisch gegenüber, denn der Idealismus enthält stets einen Realismus. Dies verhilft ihm zu einem höheren Grad erkläre-

rischer Potenz. Der Realismus insistiert jedoch auf der Unmittelbarkeit seines Gegenstandes, bleibt dabei jedoch selbstvergessen. – 2. Wahrheitslehre: Durch die »Vernichtung« jeder Ansicht gelangt die Wissenschaftslehre schließlich zum Absoluten. »Das Sein ist durchaus ein in sich geschlossenes Singulum unmittelbaren lebendigen Seins, das nie aus sich heraus kann.« F. benennt das Absolute mit 7  verschiedenen Namen: Sein, Leben, Einheit, Immanenz, Vernunft, Wir, Ich. Die Wahrheitslehre ist nur dieser eine Gedanke in seiner Einheit. Die Wissenschaftslehre gelangt zu ihm in einer realistischen Argumentation. – 3.  Wissenschaftslehre im engeren Sinne: Die Wissenschaftslehre argumentiert insgesamt idealistisch. Im Reflex auf sich selbst entdeckt sich die Wissenschaftslehre als Bild des Absoluten: formale Duplizierung. Das in der Wahrheitslehre aufgewiesene Absolute wird in die Ansicht der Wissenschaftslehre zurückgeholt, aber nicht wiederum in einem einseitigen Idealismus, sondern unter dem Primat des Praktischen. Die Argumente werden aus einem ›Soll‹ gewonnen, das letztlich auf absolute Freiheit zurückweist. Der Weg der Propädeutik ist jetzt prinzipiert durch das ›Soll‹, der



Fichte: Die Wissenschaftslehre 187

Realismus eingebettet in den Idealismus, die Wissenschaftslehre durch sich selbst abgeleitet. – 4.  Applikation: Aus der Struktur des Wissens entwickelt F. die Prinzipien der fünf Welt-Ansichten: Sinnlichkeit, Legalität, Moralität, Wissenschaft als Wissenschaftslehre. Die Wissenschaftslehre hat ihren Standpunkt im endlichen Wissen, das sich seiner selbst und seiner Intelligibilität versichert. Zu diesem Zweck konstruiert sie ein Subjekt der Wissenschaftslehre, das ›Wir‹, das sich durch Reflexion und Abstraktion bis zur Identität mit dem Absoluten, dem ›Ich‹, erhebt, das zugleich ›Sein‹ ist. Von hier aus gewinnt die Welt, d.  h. die Erscheinung, Realität, gewinnt Bedeutung für ein handelndes und tätiges vernünftiges Wesen. – F. hat mit der Wissenschaftslehre ein philosophisches Programm geschaffen, das, ausgehend von der Transzendentalphilosophie Kants, die Vernünftigkeit der Welt aus dem Prinzip absoluter Identität begreift. Dabei reflektiert es stets auf die Bedingungen der Möglichkeit der eigenen Argumentation. Sprache und Gehalt der Wissenschaftslehre erinnern an den Neuplatonismus, ohne dass ein direkter Einfluss nachweisbar ist. Wissenschaftlich umstrit-

ten ist die Frage, ob die späte Wissenschaftslehre eine grundlegend veränderte oder eine vertiefende Fassung der prima philosophia F.s darstellt. – Die Wirkungsgeschichte der späten Wissenschaftslehre beginnt erst im 20.  Jh., beispielsweise bei E. Cassirer, M. Wundt und H. Plessner. Die philosophischsystematische Auseinandersetzung mit dem zentralen Anliegen F.s dürfte noch lange Zeit nicht als abgeschlossen gelten. C. Asmuth Ausgaben: GA, Abt. I, Bd. 8, Stgt. 1991, 145–311. – Hbg. 21986. Literatur: W. Janke, F., Sein und Reflexion, Bln. 1970. – J.  Widmann, Die Grundstruktur des transzendentalen Wissens nach J. G. F.s Wissenschaftslehre 18042, Hbg. 1977. – M.  Brüggen, F.s Wissenschaftslehre, Hbg. 1979. – C.  Asmuth, Das Begreifen des Unbegreiflichen, Stgt.-Bad Cannstatt 1998. – U.  Schlösser, Das Erfassen des Einleuchtens, Bln. 2001.

Michel Foucault *  15. 10. 1926 in Poitiers, † 25. 6. 1984 in Paris; Psychologe, Soziologe, Historiker und Philosoph, Schöpfer historisch ansetzender Analysen von Wissensformen (Archäologie) und Machtbeziehungen (Genealogie), die sich im Spätwerk zu einer Theorie der Subjektivierung verbinden.

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Foucault: Folie et déraison

Folie et déraison. Histoire de la folie à l’âge classique

(frz.; Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft), EA Paris 1961.

In seiner Dissertationsschrift und ersten großen sog. archäologischen Arbeit untersucht F., wie seit der Renaissance über die frühe Neuzeit bis in die Moderne hinein der Wahnsinn durch die soziale Praxis der Ausschließung bestimmt ist. »Der Wahnsinn existiert nur in einer Gesellschaft« – F. geht ausdrücklich nicht von einer einheitlichen Entwicklung, sondern von disparaten und sich zum Teil kreuzenden Bestimmungen und sozialen Praktiken in Bezug auf den Wahnsinn aus, nimmt aber zugleich an, dass sich historisch vier Formen des Bewusstseins von Wahnsinn verschoben haben: (i) das kritische Bewusstsein, das sich als Gegensatz zum Wahnsinn verstehe, (ii) das praktische Bewusstsein, das sich auf die Normen einer Gruppe, die verletzt werden und so den Unterschied von Vernunft und Unvernunft markieren, aber auch auf die Normen, wie der Ausschluss zu vollziehen sei, bezieht (iii) das enunziative Bewusstsein, das auf die Möglichkeit, den Wahnsinn zu erkennen und

zu bezeichnen, konzentriert ist und (iv) das analytische Bewusstsein, das den Wahnsinn erfassen will. Diese Verschiebungen oder Epochen (Klassik usw.) macht Foucault jedoch nicht nur an historischen Gegebenheiten fest, sondern auch an fiktionaler Literatur. – F.s Entwicklungsgeschichte will auch eine Beschreibung und Kritik der Moderne sein, die den Kontakt zum Wahnsinn verloren habe. Nach dem Verschweigen und zum Schweigen-Bringen des Wahnsinns in der Klassik fürchte sich die Moderne vor dem Wahnsinn und trenne Vernunft und Wahnsinn ganz und endgültig. Die wichtigsten Stationen dieser Entwicklung sind: Nach den Ausschlusspraktiken und den Institutionen (z. B. Leprosorien) des Mittelalters werden ab dem 17.  Jh. Wahnsinnige zusammen mit Armen und Kranken interniert. »Ursprünglich ist dabei die Zäsur, die die Dis­ tanz zwischen Vernunft und Nicht-Vernunft herstellt.« An Descartes macht F. eine Vernunftauffassung fest, die den Wahnsinn ab- und ausgrenzt und dabei eine Selbstbestimmung und Selbstvergewisserung vollzieht. Der Wahnsinn ist nicht nur das Gegenteil der Vernunft, sondern ist das, was er ist, durch den Blick der Ver-



Foucault: Histoire de le sexualité 189

nunft. Damit korrespondiert die Form der Internierung des Wahnsinns in den Zuchthäusern oder houses of correction als Unvernunft, denn sie geschieht nicht zu therapeutischen Zwecken, sondern um zu strafen und v. a. um den Wahnsinn zum Schweigen zu bringen. Die Auffassung des Wahnsinns als Krankheit ist in dieser Zeit zwar vorhanden, wird aber erst Ende des 18.  Jh.s durch W. Tuke und J. B. Pinel wirkmächtiger. Zu Beginn des 19.  Jh.s erfolgt, z. B. in Frankreich, eine Neuorganisation der Irrenhäuser, in denen der Wahnsinn als besondere Form der Krankheit auch gesondert interniert wird. F. konstatiert, dass zunehmende wirtschaftliche Perspektiven und nicht wissenschaftliche Begriffsbildungen den Umgang mit dem Wahnsinn bestimmen. Wahnsinnige seien, wie Kriminelle, unwirtschaftlich und daher auszuschließen. Schließlich werde in den modernen Psychiatrien der Wahnsinn analysiert, dokumentiert und therapiert. – Das Echo auf F.s erste große historische Studie war und ist sehr geteilt. Einerseits wurden gravierende Zweifel an der Korrektheit der historischen Darstellung plausibilisiert. Ferner gab es Kritik aus verschiedenen philosophischen Richtungen (u.  a. von

Derrida, der die Unterschiede zwischen F.s Archäologie und der Dekonstruktion deutlich macht). Andererseits war die Rezeption v. a. in der Literaturwissenschaft positiv. Sein Werk gehört zum Kanon der antipsychiatrischen Bewegung. M. v. Ackeren Ausgaben: Paris 1976. – Dt., Ffm. 182010. Literatur: A.  Still/I.  Velody (Hg.), Rewriting the History of Madness: Studies in F.’s Histoire de la folie, Ldn. 1992. – E.  Roudinesco et al. (Hg.), Penser la folie: Essais sur M.  F., Paris 1992. – C.  Kammler/R.  Parr/U. J. Schneider (Hg.), F. Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stgt. 2008.

Histoire de la sexualité Vol. 1: La volonté de savoir, vol. 2: L’usage des plaisirs, vol.  3: Le souci de soi (frz.; Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit 2, Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit 3), EA Paris 1976 (Bd.  1), Paris 1984 (Bde.  2 und 3).

F. plante eine sechsbändige Studie, die nicht sexuelles Verhalten, sondern Diskurse über Sexualität behandeln sollte. Wegen seines Todes blieb sie unvollendet. Band  1 ist eine Fortsetzung der an Machttypen interessierten Studien infolge von →  Überwachen und

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Foucault: Histoire de le sexualité

Strafen. F. wendet sich gegen die Repressionsthese, stattdessen wollen die Diskurse (von der christlichen Lehre und der Beichtpraxis, bis hin zur Pädagogik, Eugenik und Psychologie/Psychoanalyse ab dem 18. und 19. Jh.) eine für verborgen erklärte Sexualität ans Licht bringen. In allen historischen Formen wird dabei vorausgesetzt, dass Sexualität nicht einfach da ist (z. B. als Teil des Reproduktionsmechanismus oder zur Lust), sondern dass es um ein besonders relevantes Wissen von Wahrheit über den Menschen geht. Diese Diskurse konstituieren einen eigenen Machttyp, Biomacht, der weniger verbietet oder verschweigt, sondern positiv ein bestimmtes Reden und Verhalten fördert und dabei auf die gesamte Bevölkerung ausgerichtet ist. Band  2 und 3 erscheinen mit großem zeitlichem Abstand. F. wechselt den untersuchten Zeit­raum, von der Neuzeit zur Antike, und auch die Perspektive (siehe seine Hermeneutik des Subjekts, 1982), denn statt des Einflusses von Diskursen und der Macht auf das Subjekt orientieren sich die Bände stärker an den Möglichkeiten und den Techniken der Selbstkons­ ti­ tu­ tion. Untersucht wird in Band 2 das Feld der Lüste (aphrodisia) anhand der Diätik des

Körpers, der Knabenliebe und der Ökonomik bzw. Ehe. Für alle Bereiche macht F. je eine Kunst aus, deren Gemeinsamkeiten die Prinzipien Maßhalten und Mitte (mesotes) sind. Band 3 erweitert das Spektrum historisch betrachtet auf die Ausläufer des Hellenismus, die römische Kaiserzeit und den Beginn der Spätantike und systematisch auf die Felder der Traumdeutung, des Verhältnisses von Selbstkonstitution und Politik, den Körper, die Ehe und die Knabenliebe. Die vorrangige und intensivierte moralische Betrachtung sieht F. nicht als »eine Verschärfung der Verbotsformeln, sondern als die Entwicklung einer Kunst der Existenz«, als eine »Intensivierung des Selbstbezuges« an. Besonders die Berücksichtigung von politischen Aspekten bei der Sorge um sich darf als innovativ gelten, da F. hier der These widerspricht, vom Hellenismus zur Kaiserzeit vollziehe sich ein auch philosophisch geforderter Rückzug ins Privatleben. F. untersucht die Antike nicht, um dort ein wahres und substanzielles Selbst entdecken zu können, denn ›Selbst‹ bestimmt er als »Summe aller Selbstverhältnisse«, die für ihn frei wählbar sind. F. untersucht Techniken, die helfen können, sich selbst frei «im Verhältnis



Foucault: Les mots et les choses 191

zu diesen gesellschaftlichen, bürgerlichen und politischen Tätigkeiten […] in welchem Abstand man sich davon halten möchte, als Moralsubjekt zu konstituieren«. – Band  1 wurde v. a. wegen seiner Kritik an der Psychoanalyse, der Bevölkerungspolitik und des Dispositivbegriffes rezipiert. In jüngerer Zeit hat die Auseinandersetzung mit den modernen Biotechnologien zusätzliches Interesse hervorgerufen. Band  2 und 3 wurden (wie seine Hermeneutik des Subjekts) wegen ihrer Behandlung von antiken Themen und Texten auch von der Disziplin Classical Studies stark berücksichtigt. Dabei sind Fragen nach dem antiken Verständnis von einem Selbst und einer Lebenskunst oder Lebensform stark rezipiert worden. F. gilt neben P. Hadot hier als ein Hauptvertreter, wobei er dafür kritisiert wurde, kein gegebenes, substanzielles Selbst anzunehmen. M. v. Ackeren Ausgaben: La Volonté de savoir (Histoire de la sexualité, I), Paris 1994; L’ usage des plaisirs (Histoire de la sexualité, II), Paris 1997; Le souci de soi (Histoire de la sexualité, III), Paris 1997. – Dt., Bd. 1, Ffm.  181987; Bd.  2, Ffm. 101989; Bd. 3, Ffm. 101989. Literatur: W. Schmid, Auf der Suche nach einer neuen Lebenskunst.

Die Frage nach dem Grund und die Neubegründung der Ethik bei F., Ffm. 1991. – W.  Schmid (Hg.), Denken und Existenz bei M.  F., Ffm. 1991. – W. Detel, F. und die klassische Antike, Ffm. 22006. – P. Gehring, Was ist Biomacht?, Ffm. 2006. – C. Kammler/R. Parr/U. J. Schneider (Hg.), F. Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stgt. 2008.

Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines

(frz.; Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften), EA Paris 1966.

Die Ordnung der Dinge entwirft  eine »Archäologie der Humanwissenschaften«, die weit über eine reine Wissenschaftsgeschichte hinausgeht, sofern sie Ordnungen des Wissens freizulegen sucht, deren Prinzipien sich im Alltagswissen und in den Wissenschaften, in der Kunst und Philosophie einer Epoche gleichermaßen aufweisen lassen. F. nennt diese elementaren Ordnungen des Wissens »Episteme«. – Der Untersuchungszeitraum des Buches erstreckt sich vom 15. bis zum 19.  Jh.; F. unterteilt ihn, den Gepflogenheiten französischer Geschichtsschreibung folgend, in Renaissance, Klassik und Moderne. Die ersten Kapitel des Buches analysieren die Episteme der Renaissance als eine Ordnung der

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Foucault: Les mots et les choses

Analogie und der Ähnlichkeit (Kap.  2), die im Zeitalter der Klassik durch das Prinzip der Repräsentation abgelöst wird (Kap.  3). Damit greift F. eine These auf, die schon Heidegger in seinem Aufsatz über Die Zeit des Weltbildes (1938) formuliert hat: Das Denken der neuzeitlichen Wissenschaften seit Descartes ist ein Denken der repraesentatio. Anders als Heidegger stellt F. seine Analyse auf eine sehr breite empirische Basis, indem  er ausführlich die Diskurse der Sprachwissenschaft, der Naturgeschichte und der aufkommenden Wirtschaftswissenschaft untersucht (Kap.  4.–6.). Auf dieser Grundlage ersetzt er Hei­ deggers pauschalen Befund, der Mensch erkläre sich, kraft seines Vorstellungs- oder Repräsentationsvermögens, zur »Bezugsmitte« des Seienden, durch eine differenziertere Geschichte des epistemischen Konstrukts ›Mensch‹. Nach F. besteht das Grundproblem der Episteme der Klassik darin, dass sie letztlich alles repräsentieren kann – außer dem repräsentierenden (vorstellenden) Subjekt selbst. Diese These ist für den Grundriss des Buches so wichtig, dass F. sie in seinem ersten Kapitel, der berühmten Analyse des Gemäldes Die Hoffräulein (1654) von Diego Velázquez, vorweg-

nimmt. Der zweite Teil des Buches (Kap.  7–10) versucht dann zu zeigen, wie die moderne Episteme die Lücke, die die klassische Episteme nicht schließen konnte, durch das Konstrukt ›Mensch‹ zu füllen sucht. Wichtigste Vorarbeit zu diesem Teil des Buches ist F.s Einführung in Kants Anthropologie, die er 1961 als thèse complementaire zu seiner großen Studie über die Geschichte des Wahnsinns (Histoire de la folie à l’âge classique) einreichte. F. fragt darin nach dem Verhältnis zwischen Anthropologie und kritischer Philosophie bei Kant und hält als »Lektion« des  Kant’schen Denkens fest, dass sich die Anthropologie nicht selbst begründen kann, sondern immer an das Unternehmen der Vernunftkritik gebunden bleibt. Schon in diesem Zusammenhang formuliert F. die Diagnose, die er im zweiten Teil der Ordnung der Dinge ausführlich entfalten wird: Die anthropologischen Entwürfe des 19.  Jh.s, aus ­denen die modernen Hu­ manwissenschaften hervorgehen werden, vermischen die Ebene des Empirischen und des Transzendentalen, die Kant sorgfältig geschieden hatte, und lassen das System der kritischen Philosophie in einen vagen, empirisch-transzendenta-



Foucault: Surveiller et punir 193

len Monismus aufgehen. Eine Erneuerung des kritischen Unternehmens hat daher mit anderen Gegnern zu kämpfen als Kant 200 Jahre zuvor. Wo Kant durch Hume aus dem »dogmatischen Schlummer« geweckt wurde, bedarf es nun eines Weckrufs, der den »anthropologischen Schlummer« unterbricht (Kap. 9). – F.s Versuch, diesem Weckruf Nachdruck zu verleihen, indem er den »Tod des Menschen« (lies: das Ende des epistemischen Konstrukts ›Mensch‹) ankündigt, ist dann allerdings gründlich missverstanden worden. Die Ordnung der Dinge war im Jahr ihres Erscheinens ein philosophischer Bestseller, sie war aber ebenso von Anfang an heftigen Angriffen ausgesetzt. Populäre Autoren wie Kojève und Sartre hatten das Publikum so nachhaltig auf eine anthropologisch fundierte Freiheitslehre eingeschworen, dass F.s Befreiungsschlag von vielen Lesern nur als Angriff auf die Freiheit wahrgenommen werden konnte. In der sich allmählich versachlichenden Diskus­sion ist der Begriff der Episteme dann häufig mit Kuhns Begriff des Paradigmas verglichen worden. F. hat ihn selber später für zu eng (zu stark auf Wissen beschränkt) befunden und ihn durch den weiteren, machttheoretisch an-

setzenden Begriff des Dispositivs ersetzt. A. Gelhard Ausgabe: Dt., Ffm. 1974. Literatur: G. Deleuze, F., Ffm. 1992. – P.  Gehring, F. – die Philosophie im Archiv, Ffm./NY 2004. – A.  Hemminger, Nachwort, in: M. F., Einführung in Kants Anthropologie, Ffm. 2010, 119–141.

Surveiller et punir. La naissance de la prison

(frz.; Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses), EA Paris 1975.

F. untersucht gesellschaftliche Machtprozesse in und durch Institutionen, sog. Diszipli­ narräume, am Beispiel der Entstehung und Verbreitung der Strafinstitution des Gefängnisses im 19. Jh. Nach eher theo­ retischen wissenschaftshistorischen Arbeiten ist diese Studie Teil des genealogischen Projekts von F. und seiner Beschäftigung mit der Mikrophysik der Macht. Wie so oft bei F. handelt es sich nur vordergründig um eine historische Beschreibung, hier von der Entwicklung von Formen des Strafens im Rahmen der öffentlichen Hinrichtung mit ausschweifender Folter und völliger Vernichtung des Körpers im 18. Jh. bis hin zum modernen Strafvollzug in nicht öffentli-

194

Foucault: Surveiller et punir

chen Einrichtungen, den Gefängnissen, in denen nicht der Körper bestraft, sondern die Seele durch einen feinen, aber umfassenden »Apparat von Zwängen« diszipliniert wird. Dabei geht es F. um unterschiedliche Konzep­tionen  von Strafen, die ihrerseits unterschiedliche Typen von Macht und Machtausübung repräsentieren. F. prä­ sentiert so eine Kritik an der  vermeintlichen Humanisierung des Strafvollzuges durch die historisch junge Form des Gefängnisses und an der Disziplinargesellschaft ingesamt. – Im Ancien Régime ist die Strafe in Form der öffentlichen Hinrichtung eine Zurschaustellung der absoluten Macht des Souveräns. Die Absolutheit der Macht wird durch den rituellen und extensiven Einsatz körperlicher Martern demonstriert. Die Tat wird als Verletzung der Souveränität und die Strafe als deren Wiederherstellung verstanden. Nachdem die Brutalität und die Öffentlichkeit als anstößig empfunden werden, bekommt das Strafen eine andere Bedeutung, es geht nun um die Besserung und damit um den Delinquenten selbst. An der Entstehung und Etablierung der Institution des Gefängnisses zeigt sich auch, dass die Strafmechanismen zwar weni-

ger brutal, aber umfangreicher, feiner und minutiöser werden, weil sie alle Handlungen des Delinquenten betreffen. Dies verdeutlicht F. an dem Gefängnistyp des ­Pan­optikums, der durch J. Bent­ham entworfen wurde. Das Strafen wird darüber hinaus auch verbreiteter, es kommt zu einer Disziplinargesellschaft, in der an vielen Orten oft gestraft wird. Die Macht betrifft nun mehr Menschen und häufiger. Sie wird dabei unpersönlich und abstrakt, sie ist nicht mehr an die Person des Souveräns gebunden, sondern an Regeln und sie vollzieht sich durch sie. Macht richtet sich nun auf die Seele, die innere Ordnung der Subjekte, und in letzter Konsequenz auf deren Selbstdisziplinierung. Diese Machtund Strafform, die durch den Panoptismus geprägt ist, dient der Ökonomisierung, und entsprechend werden durch die Regeln den Individuen Räume und Funktionen zugewiesen bzw. die Einhaltung dieser Zuschreibungen sanktioniert. Die auf die Disziplinierung der Seele zielenden Regeln und den Panoptismus in den modernen Gefängnissen bringt F. mit der im Christentum entwickelten Pastoralmacht in Verbindung, insofern es in beiden Fällen darum geht, Macht



Frankfurt: The Importance of What We Care About 195

qua Seelenleitung auszuüben. – Im Gesamtwerk von  F. ist dieses Buch besonders bedeutend. Unterstützt durch F.s politisches Engagement für Reformen in der Strafjustiz hat kein anderes seiner Bücher so ein breites öffentliches Interesse gefunden, das gilt insbesondere für die USA. Seitens der Forschung wurde einerseits kritisiert, F. reduziere alles auf Disziplinierung, während andererseits viele weitere Studien,  zum Teil in anderen Bereichen, genau hierin die Ori­ginalität und das Fruchtbare dieses Werkes von F. sahen. So knüpft u. a. G.  Agambens Homo sacer (1995) an F.s Überlegungen an. M. v. Ackeren Ausgaben: Paris 1993. – Dt., Ffm. 18 2010. Literatur: M. Perrot, Lektionen der Finsternis. M.  F. und das Gefängnis, in: Comparativ 5–6, 2003, 50–66. – M.  Ruoff, F.-Lexikon, Paderborn 2007. – C.  Kammler/R.  Parr/U. J. Schneider (Hg.), F. Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stgt. 2008.

Harry G. Frankfurt * 29. 5. 1929 in Longhorn (Pa.); einflussreicher, v. a. die Debatten um Verantwortlichkeit und personale Autonomie prägender Vertreter der analytischen Philosophie.

The Importance of What We Care About EA Cambr. 1988.

Der Band versammelt wichtige Aufsätze F.s aus den Jahren 1969–87, die unserem  Selbstverständnis als Personen gewidmet sind, v. a. insoweit wir uns als frei, autonom und verantwortlich sehen. – In Alternate possibilities und moral responsibility (1969) argumentiert F. dafür, dass es für Freiheit und Verantwortlichkeit  unerheblich ist, ob dem Akteur alternative Möglichkeiten offenstehen. F. führt dazu ein Beispiel an, dessen Implikationen noch immer intensiv diskutiert werden.  Black möchte, dass Jones x tut, überwacht Jones’ Hirnaktivität und würde auch entsprechend eingreifen, wenn Jones im Begriff wäre, anders zu handeln. Jones aber entscheidet sich von sich aus dafür, x zu tun. Obschon Black also nicht eingreift, kann Jones nicht anders handeln. F. zufolge hat Jones frei und verantwortlich gehandelt. Das Prinzip alternativer Möglichkeiten  ist als Bedingung für Freiheit und Verantwortlichkeit folglich  nicht notwendig. – In Freedom of the Will and the Concept of a Person (1971) entwickelt F. seine einflussreiche hierarchische  Konzeption des Willens

196

Frankfurt: The Importance of What We Care About

als Auszeichnung von Personen und Analyse von Freiheit. Er unterscheidet Wünsche erster Stufe, die sich auf äußere Dinge richten, und Wünsche zweiter Stufe, die Wünsche erster Stufe zum Gegenstand haben. Man hat also einen Wunsch zweiter Stufe, einen bestimmten Wunsch erster Stufe, z. B. nach einer Droge, zu haben oder nicht zu haben. Personen zeichnen sich aber nicht nur durch diese Zweistufigkeit in ihrer Willensstruktur aus, sondern besitzen darüber hinaus Volitionen zweiter Stufe, die sich darauf richten, dass ein bestimmter Wunsch erster Stufe handlungswirksam werde. Ein Süchtiger wider Willen ist demnach zwar eine Person, da er die Volition hat, der Wunsch erster Stufe nach der Droge möge nicht handlungswirksam werden; er ist aber nicht frei, sofern er die Droge dennoch nimmt und seine Volition damit kausal wirkungslos bleibt. Sind Volition und handlungswirksamer Wunsch hingegen in Einklang, dann hat die Person frei gehandelt. – In den weiteren Aufsätzen entwickelt F. seine Position zu beiden Themen weiter und präzisiert sie mit Blick auf eine Reihe von Fragen, etwa mit Blick auf die Bedeutung unterschiedlicher Arten von Zwang, welche Rolle die

Unterscheidung zwischen Passivität und Aktivität für unser Selbstverständnis als Handelnde spielt, und wie die Rede von der Identifikation  mit  eigenen Wünschen genau zu  verstehen ist. In dem hierfür exemplarischen, titelgebenden Aufsatz The Importance of What we Care About (1982) rückt F. den für die weitere Debatte um personale Autonomie einflussreichen Begriff des ›Sorgens‹ (caring) ins Zentrum. Worum wir uns sorgen oder was uns wichtig ist, stellt eine längerfristige, die eigene Identität prägende Willensstruktur dar. F. erläutert ›Sorgen‹ dabei als volitionale Notwendigkeit. Wir können also nicht einfach einen gegenläufigen Willen  ausbilden und uns gegen das, was uns wichtig ist, entscheiden und handeln. Dennoch ist unser Handeln autonom, da es unserer eigenen Identität entspringt. – In dem zum Bestseller avancierten Aufsatz On Bullshit (1986) schließlich grenzt F. bullshit (›heiße Luft‹) von Lügen ab und analysiert es als Ergebnis einer Gleichgültigkeit gegenüber der Wahrheit. – Besonders die beiden zuerst genannten Aufsätze haben den Debatten um Verantwortlichkeit, Freiheit und Autonomie neue Impulse gegeben und sie nachhaltig geprägt. M. Kühler



Frankfurt: Necessity, Volition, and Love 197

Ausgabe: Dt., teilweise in: Freiheit und Selbstbestimmung. Ausgewählte Texte, Hg.: M.  Betzler/B.  Guckes, Bln. 2001. Literatur: M. Betzler/B. Guckes (Hg.), Autonomes Handeln. Bei­ träge zur Philosophie von H. G. F., Bln. 2000. – S.  Buss/L.  Overton (Hg.), The Contours of Agency. Essays on Themes from H. F., Cambr. 2002. – D. Widerker/M. McKenna (Hg.), Moral Responsibility and Alternative Possibilities. Essays on the Importance of Alternative Pos­ sibilities, Aldershot 2003.

Necessity, Volition, and Love EA Cambr. 1999.

Der Band versammelt Aufsätze F.s aus den Jahren 1964–99, die primär der Interpretation Descartes’ und der Weiterentwicklung der Analyse personaler Autonomie gewidmet sind, aber auch Überlegungen zu Verantwortlichkeit weiterführen und die Analyse der Gerechtigkeit betreffen. – In The Logic of Omnipotence (1964) und Descartes on the Creation of the Eternal Truths (1977) argumentiert F. dafür, dass Descartes göttliche Allmacht unabhängig von logischen Beschränkungen versteht und Gott deshalb auch logisch Unmögliches vollbringen kann. Dies können wir mit unserer durch Logik begrenzten Vernunft jedoch nicht verstehen. Auch Gottes Wille

ist durch nichts begrenzt oder gebunden. Er ist deshalb zwar arbiträr, aber Grundlage aller für uns gültigen Wahrheiten. In Descartes’s Discussion of His Existence in the Second Medita­ tion (1966) wendet sich F. gegen solche Interpretationen von Descartes’ berühmtem Diktum cogito ergo sum, die es als einfache Schlussbeziehung oder das ergo als mentale Handlung auffassen. F. zufolge handelt es sich um eine spezielle Folgerung, in der die Geltung von sum deshalb nicht bezweifelt werden kann, da bei jeder Gelegenheit möglichen Zweifelns die Prämisse cogito gilt. – In der Weiterentwicklung seiner Analyse personaler Autonomie rückt F. die Konzeption voli­ tionaler Notwendigkeiten und damit die Grenzen dessen, was wir wollen können, ins Zen­ trum. So argumentiert F. in On the Necessity of Ideals (1993), dass unsere Entscheidungen, wäre unser Wille völlig ungebunden, bloß zufällig und also nicht unsere eigenen wären. F. zufolge können wir nur dann autonom wollen und handeln, wenn unser Wille durch voli­tionale Notwendigkeiten und die durch diese festgelegte eigene Identität begrenzt und geprägt wird. Was volitionale Notwendigkeiten sind, erläutert F. u. a. in On Caring

198

Frankfurt: The Reasons of Love

(1999). Mit ›Sorgen‹ (caring) ist gemeint, dass uns etwas wichtig ist. Dies ist wiederum nicht so zu verstehen, dass wir etwas nur sehr stark wünschen oder dass wir etwas für wertvoll erachten. ›Sorgen‹ drückt vielmehr eine Identifikation mit einem Wunsch aus. Wir wünschen (auf zweiter Stufe) nicht nur, dass der Wunsch erster Stufe erfüllt werde, sondern dass er selbst im Falle seiner Nichterfüllung bestehen bleiben möge, da er Bestandteil unserer Identität ist. ›Sorgen‹ ist damit ein konstitutives Merkmal von uns als Personen. Es verleiht unserem Leben eine volitionale thematische Kontinuität und Kohärenz, so dass uns unabhängig von bestimmten Inhalten auch das Sorgen selbst wichtig ist. – Eine spezielle Form des Sorgens ist die Liebe. Neben in On Caring analysiert F. die Liebe in Autonomy, Necessity, and Love (1994) entsprechend nicht als eine kognitive oder affektive Angelegenheit, sondern als eine primär volitionale, als Ausdruck dessen, wer wir aufgrund unserer Willensstruktur wesensmäßig sind. Zwar haben wir keinen direkten Einfluss darauf, wen oder was wir lieben. Dennoch ist die Liebe kein bloßer innerer Zwang, sondern besitzt volitionale Autorität. Als Ausdruck unseres

Wesens identifizieren wir uns mit ihr. Handeln wir aus Liebe, so handeln wir folglich selbstbestimmt und autonom, da unser Handeln Ausdruck unserer Identität ist. – In Equali­ ty and  Respect (1997) schließlich argumentiert F., dass bei der Analyse der Gerechtigkeit der Idee des Respekts Vorrang eingeräumt werden sollte gegenüber der Idee bloßer Gleichheit, da es auf die Frage ankommt, ob Personen in substanzieller Hinsicht ein gutes Leben führen. – Neben dieser gerechtigkeitstheoretischen Argumentation haben besonders F.s Überlegungen zu personaler Autonomie die entsprechende Debatte weiterhin maßgeblich geprägt. M. Kühler Ausgabe: Dt., teilweise in: Freiheit und Selbstbestimmung. Ausgewählte Texte, Hg.: M. Betzler/B. Guckes, Bln. 2001. Literatur: M. Betzler/B. Guckes (Hg.), Autonomes Handeln. Beiträge zur Philosophie von H.  G. F., Bln. 2000. – S. Buss/L. Overton (Hg.), The Contours of Agency. Essays on Themes from H. F., Cambr. 2002.

The Reasons of Love (engl.; Gründe der Liebe), EA Princeton 2004.

Das Buch bietet eine konzise Formulierung von F.s neuerer Analyse unseres Selbstverständ-



Frankfurt: The Reasons of Love 199

nisses als Personen. Ausgangspunkt ist die Frage, wie wir leben sollten. F. zufolge sollten hierbei weder moralische Forderungen noch bloße Wünsche den zentralen Bezugspunkt bilden, sondern das, worum wir uns sorgen und was wir lieben. – ›Sorgen‹ (caring) heißt dabei nicht, dass wir etwas nur sehr stark wünschen oder es für wertvoll erachten. ›Sorgen‹ drückt vielmehr aus, dass wir uns mit einem Wunsch identifizieren, uns ihm verschrieben haben (commitment). ›Sorgen‹ ist damit ein konstitutives Merkmal von uns als Personen. Es verleiht unserem Leben eine volitionale Kontinuität und Kohärenz, so dass uns unabhängig von bestimmten Inhalten auch das Sorgen selbst wichtig ist. Würden wir uns hingegen um nichts sorgen, so wäre uns auch nichts wichtig und wir könnten uns keinerlei Antwort auf die Frage geben, wie wir leben sollten, und wir könnten dann ebensowenig autonom handeln. Die Frage aber, worum wir uns sorgen sollten, führt F. zufolge in einen Zirkel, da wir für mögliche Antwortkriterien und Gründe nur wieder wissen müssten, worum wir uns sorgen. Die Frage, wie wir leben sollten, ist also keine normative und zielt nicht auf Gründe für Entscheidungen. Sie zielt auf

eine Selbsterkenntnis dessen, worum wir uns sorgen. – Liebe analysiert F. als spezielle Form des Sorgens. Sie ist eine uneigennützige, nicht von weiteren Interessen geleitete Sorge um das Geliebte als Selbstzweck. Paradigmatischer Fall ist für F. die Elternliebe. Romantische Liebe und Verliebtheit spielen hingegen keine Rolle. Sie würden die Analyse gar in die Irre führen. Als Gegenstand der Liebe kommen nicht nur Personen infrage, sondern auch andere Einzeldinge, etwa bestimmte Traditionen oder Ideale. Hervorgerufen wird die Liebe nicht durch die Wahrnehmung des Gegenstands als wertvoll. Liebe ist für F. keine Reaktion auf Wertvolles, sondern umgekehrt Ursache dafür, dass wir etwas als wertvoll ansehen. Deshalb gibt es auch keine Gründe für die Liebe, sondern die Liebe gibt uns umgekehrt Gründe, im Sinne des Wohlergehens des Geliebten zu handeln. Als spezielle Form des Sorgens ist Liebe zudem weder eine kognitive noch eine affektive Angelegenheit, sondern primär eine volitionale. In ihr drücken sich volitionale Notwendigkeiten  aus, die uns erst zu der Person machen, die wir sind. Was wir lieben, repräsentiert diejenigen Zwecke, die wir um ihrer selbst willen im Le-

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Frege: Über Begriff und Gegenstand

ben verfolgen und die wir für unser praktisches Überlegen brauchen, da uns andernfalls alles gleichgültig wäre. Zwar haben wir keinen direkten Einfluss darauf, wen oder was wir lieben. Dennoch ist die Liebe laut F. kein bloßer innerer Zwang, sondern besitzt volitio­ nale Autorität. Sie ist schlicht Ausdruck dessen, wer wir aufgrund unserer Willensstruktur sind. – Zuletzt plädiert F., in Abgrenzung zu einem bloßen Egoismus, für ein positives Verständnis von Selbstliebe, das als volitional notwendige Sorge um die eigene Person als Selbstzweck zu verstehen ist. Selbstliebe bedeutet dann, dass wir uns mit uns selbst aus ganzem Herzen identifizieren (wholeheartedness) und zufrieden mit uns sind. – Neben anderen Texten F.s hat auch dieses Buch die Debatten um die Analyse von Personalität und praktischer Rationalität sowie die Debatte um den Liebesbegriff stark beeinflusst und eine rege Auseinandersetzung damit angestoßen. M. Kühler Ausgabe: Dt., Ffm. 2005. Literatur: M. Betzler/B. Guckes (Hg.), Autonomes Handeln. Bei­ träge zur Philosophie von H. G. F., Bln. 2000. – S.  Buss/L.  Overton (Hg.), The Contours of Agency. Essays on Themes from H. F., Cambr.

2002. – G.  Foster, Bestowal Without Appraisal: Problems in F.’s Characterization of Love and Personal Identity, in: Ethical Theory and Moral Practice 12, 2009, 153–168.

Gottlob Frege *  8. 11. 1848 in Wismar, †  26. 7. 1925 in Bad Kleinen; bahnbrechende Arbeiten auf den Gebieten der formalen Logik, der mathematischen Grundlagenforschung sowie der Semantik und damit entscheidender Wegbereiter der modernen sprachkritischen Philosophie

Über Begriff und Gegenstand EV 1892 (in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie 16, 192–205).

Über Begriff und Gegenstand repräsentiert zusammen mit Funktion und Begriff (1891) und →  Über Sinn und Bedeutung (1892) die Gründungsschriften der modernen Semantik. Im Unterschied zu den Logischen Untersuchungen (1918 ff.) handelt es sich bei diesen drei Aufsätzen nicht um eine Aufsatzfolge. Bereits in Funktion und Begriff hatte F., ausgehend von einer möglichst allgemeinen Charakterisierung des Funktionsbegriffs, normiert, dass Begriffe ganz bestimmte Funktionen sind, deren Wert stets ein Wahrheits-



Frege: Über Begriff und Gegenstand 201

wert ist. Aufgrund von zeitgenössischen Einwänden, die auf einem Missverstehen gründen, sieht sich F. dazu gezwungen, seinen »rein logischen Gebrauch [des Ausdrucks ›Begriff‹] streng durchzuführen«. Da der Begriff des Begriffs nur im Kontext seiner Rolle in Urteilen angemessen verstanden werden kann, widmet sich der Aufsatz einer umfassenden lo­ gico-semantischen und epis­ temologischen Analyse der für F. letztlich ka­tegorialen Begriff-Gegenstand-Unterscheidung. Da diese Differenzierung sowohl logisch grundlegend als auch erkenntnistheoretisch un­­ hintergehbar ist, sieht sich F. nicht in der Lage, eine explizite Definition der Unterscheidung zu geben: »was logisch einfach ist, kann nicht eigentlich definiert werden«. Vielmehr gibt er bildliche Hinweise – »Winke« –, welche Rolle ein Begriff bzw. ein Gegenstand in einem Urteil übernehmen kann. Um die Bedeutung des Ausdrucks ›Begriff‹ zu erhellen, bedarf es der Bezugnahme auf die Bedeutung des Ausdrucks ›Gegenstand‹ und vice versa. Nach F. können Eigennamen in ­Ur­teilen nur die Rolle des Gegenstandes übernehmen, weil sie »durchaus unfähig [sind], als grammatisches Prädikat gebraucht zu werden«. Da die »Sprache Mittel [hat],

bald diesen, bald jenen Teil des Gedankens als Subjekt erscheinen zu lassen«, sind Begriffe indes dazu befähigt, sowohl prädikativ als auch nominativ gebraucht zu werden. Sagen wir in einem Urteil etwas (Wahres) über ein logisches Individu­ um aus, wie etwa ›F. ist Philosoph‹, dann fällt der fragli­che Ge­ genstand unter einen Begriff erster Stufe. Übernimmt indes ein Begriff die Rolle des Gegenstandes in einem Ur­ teil, wie­ etwa ›Der ­Begriff des Phi­ losophen ist nicht leer‹, dann fällt dieser Begriff unter einen höheren, er fällt in einen Be­ griff zweiter Stufe. Dies ist nicht zu verwechseln mit der Unter­ ordnung eines Begriffs unter einen anderen wie etwa im Fall ­›Philosophen sind Menschen‹. – F.s Analyse der Begriff-­ GegenstandUnterscheidung  ist nicht nur bahnbrechend gewesen für die Möglichkeiten der logischen Analyse der Sprache und der Entwicklung der damit verbundenen Disziplinen der Bedeutungstheorie und Sprachphilosophie, sondern hatte auch entscheidenden Einfluss auf Arbeiten in der modernen Ontologie und Metaphysik. M. Wille Ausgaben: Kleine Schriften, D­rm­ st. 1967. – Funktion, Begriff, Be-

202

Frege: Der Gedanke

deutung. Fünf logische Studien, Gttgn. 2011. Literatur: P. F. Strawson, Individ­ uals. An Essay in Descriptive Metaphysics, Ldn. 1959. – W. Kienzler, Begriff und Gegenstand. Eine historische und systematische Studie zur Entwicklung von G.  F.s Denken, Ffm. 2009.

Der Gedanke. Eine logische Untersuchung

EV 1918 (in: Beiträge zur Philosophie des Deutschen Idealismus 1/2, 58–77).

Der Gedanke repräsentiert den ersten Aufsatz der Aufsatzfolge Logische Untersuchungen (bestehend zudem aus Die Verneinung, 1919; Gedankengefüge, 1923, sowie dem seinerzeit unveröffentlichten Frg. Logische Allgemeinheit). Der Aufsatz setzt es sich zum Ziel zu klären, von was wir aussagen können, dass es wahr/falsch ist, womit sogleich eine Bedeutungsexplikation der Beurteilungsprädikate ›wahr‹/›falsch‹ einhergeht. Hierfür räumt F. mit einer Vielzahl von Missverständnissen auf, beginnend mit der strikten Verpflichtung auf die Einhaltung der GeltungGenese-Unterscheidung, denn die Ursachen des Fürwahrhaltens dürfen nicht verwechselt werden mit den Gründen des Wahrseins. F. verpflichtet sich damit wiederholt (wie bereits

in vielen anderen Schriften) auf ein normatives Verständnis von Logik, deren Aufgabe im Erkennen der Gesetze des Wahrseins besteht. Nachfolgend erteilt F. nicht nur Korrespondenztheorien der Wahrheit eine Absage (Wahrheit ist keine Form der Übereinstimmung), sondern führt aus, dass es im Besonderen keine Vorstellungen sind, die wahr/ falsch sein können. Andernfalls wäre Wissenschaft nicht möglich. »Ohne damit eine Definition geben zu wollen, nenne ich Gedanken etwas, bei dem überhaupt Wahrheit infrage kommen kann«. Wahrheit wird damit als eine Eigenschaft von Gedanken erwogen, wobei zwei Behauptungssätze denselben Gedanken »ausdrücken«, wenn sie sinngleich sind – also denselben Sachverhalt zum Ausdruck bringen. F. unterscheidet hierbei das »Fassen« eines Gedankens (das Denken) von der Anerkennung seiner Wahrheit (das Urteilen) und der Kundgebung des Urteils (das Behaupten). Gedanken sind »weder Dinge der Außenwelt noch Vorstellungen«. Sie dürfen nicht mit Vorstellungen verwechselt werden, obwohl beide nicht sinnlich wahrnehmbar sind, denn im Unterschied zu Vorstellungen bedürfen Gedanken keines Trägers,



Frege: Über Sinn und Bedeutung 203

weil sie von denjenigen, die sie »fassen«, logisch unabhängig sind – ein Gedanke kann von vielen Personen gefasst werden. Indes sind Gedanken auch keine Einzeldinge der  Erfahrungswirklichkeit, obwohl sie wie diese selbständig existieren: »Ein drittes Reich muß anerkannt werden« – die Sphäre der abstrakten Gegenstände, in der nach F.s Auffassung nicht nur die Gedanken, sondern im Besonderen auch Begriffe und mathematische Gegenstände zu verorten sind. In diesem Reich sind Gedanken zeitlos wahr/falsch, unabhängig davon, ob sie einer für wahr/ falsch hält: »Zum Wahrsein eines Gedanken gehört nicht, daß er gedacht wird«. Doch damit sichergestellt ist, dass überhaupt verschiedene Personen denselben Gedanken fassen können, setzt sich F. mit einem »seltsamen Einwurf« auseinander, die Existenz der Außenwelt betreffend. In der nachfolgenden ­Argumentation wird die These widerlegt, dass alles nur Vorstellung sein könnte, und gezeigt, dass auch andere Menschen als selbständige Träger von Vorstellungen anzuerkennen sind. – Als »Ernte  meines Lebens« bezeichnet (Wissenschaftlicher Briefwechsel, 45), verkörpert Der Gedanke nicht nur mustergültig die enge

Verknüpfung zwischen logischen, sprachphilosophischen, wahrheitstheoretischen und erkenntnistheoretischen  Fragen, sondern bestimmt in Allgemeinheit den Gegenstandsbereich der Logik. M. Wille Ausgaben: Kleine Schriften, Drmst. 1967. – Logische Untersuchungen, Gttgn. 2003. Literatur: R. Stuhlmann-Laeisz, G.  F.s ›Logische Untersuchungen‹. Darstellung und Interpretation, Drmst. 1995. – W.  Künne, Die philosophische Logik G.  F.s. Ein Komm., Ffm. 2010.

Über Sinn und Bedeutung EV 1892 (in: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik NF 100, 25–50).

Über Sinn und Bedeutung repräsentiert zusammen mit  Funktion und Begriff (1891) und → Über Begriff und Gegenstand (1892) die Gründungsschriften der modernen Semantik. Im Unterschied zu den Logischen Untersuchungen (1918 ff.) handelt es sich bei diesen drei Aufsätzen nicht um eine Aufsatzfolge. Im vorliegenden Aufsatz bringt F. die bereits bekannte, wenngleich nicht gemeinhin praktizierte Unterscheidung zwischen Zeichen und Bezeichnetem auf eine terminologisch exakte Form, die es ihm erlaubt, die Unterschiede

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Frege: Über Sinn und Bedeutung

sowie Gemeinsamkeiten von Identitätsaussagen der Form a=b und a=a präzise zu bestimmen, wenn die Namen a und b tatsächlich auf dasselbe referieren. In beiden Fällen wird zwar die Identität ein und desselben Gegenstandes behauptet, doch im Unterschied zur logischen Wahrheit a=a ist a=b eine gehaltvolle Aussage. Beide Urteile sind wahr, weil die Namen a und b auf denselben Gegenstand referieren, sie besitzen nach F. dieselbe Bedeutung (das durch das Zeichen Bezeichnete). Wird in einem Urteil ein Name durch einen bedeutungsgleichen Namen ersetzt, so verändert sich der Wahrheitswert des Urteils nicht, weil wir weiterhin über denselben Gegenstand urteilen. Dies erklärt aber noch nicht den zwischen a=a und a=b offensichtlichen Unterschied im Aussagengehalt. Hierfür führt F. den Sinn eines Zeichens ein, der in der Art des Gegebenseins besteht. a=b ist deshalb im Unterschied zu a=a gehaltvoll, weil in diesem Fall die Identität eines Gegenstandes behauptet wird, der uns auf verschiedene Weise gegeben ist, wie etwa im Fall der Aussage ›Der Morgenstern ist der Abendstern‹. Die Verschiedenheit des Gegebenseins resultiert aus den verschiedenen Kennzeichnungsvollzügen,

die den Taufakten zugrunde liegen. »Demnach kommt es bei einem Eigennamen darauf an, wie der, die oder das durch ihn Bezeichnete gegeben ist« (in: →  Der Gedanke): ›Jenen Himmelskörper, der am Abendhimmel/Morgenhimmel als erster/letzter zu sehen ist, nennen wir Abendstern/Morgenstern.‹ »Wir drücken mit einem Zeichen dessen Sinn aus und bezeichnen mit ihm dessen Bedeutung.« Doch was ist im Fall von Behauptungssätzen der Sinn und die Bedeutung? Ersetzen wir in einem Urteil ein Zeichen durch ein bedeutungsgleiches, dann kann dies keine Bedeutungsveränderung des Urteils zu Folge haben. Damit kann die Bedeutung eines Urteils nicht im ausgedrückten Gedanken bestehen, denn durch die bedeutungsgleichen Urteile a=a und a=b werden verschiedene Gedanken gefasst: »So werden wir dahin gedrängt, den Wahrheitswert eines Satzes als seine Bedeutung anzuerkennen«. Der durch ein Urteil ausgedrückte Gedanke repräsentiert den Sinn des Behauptungssatzes. Sinngleiche Urteile sind damit immer auch bedeutungsgleich. Indes kann ein Urteil einen Sinn haben, ohne eine Bedeutung zu besitzen, wenn zweifelhaft ist, ob ein verwendeter Name einen



Gadamer: Wahrheit und Methode 205

Gegenstand bezeichnet. Es ist indes ausgeschlossen, dass ein Urteil eine Bedeutung besitzt, ohne zugleich einen Sinn zu haben. – Der Text zählt zu den einflussreichsten Aufsätzen der jüngeren Philosophiegeschichte. Die hierin bereitgestellte grundlegende Terminologie  war und ist prägend für die gesamte ihm nachfolgende sprachkritische Philosophie. M. Wille Ausgaben: Kleine Schriften, Drm­ st. 1967. – Funktion, Begriff, Bedeutung. Fünf logische Studien, Gttgn. 2011. Literatur: C. Thiel, Sinn und Bedeutung in der Logik G. F.s, Meisenheim am Glan 1965. – M. Dummett, F. Philosophy of Language, Ldn. 1973. – W.  Kienzler, Begriff und Gegenstand. Eine historische und systematische Studie zur Entwicklung von G.  F.s Denken, Ffm. 2009.

Hans-Georg Gadamer *  11. 2. 1900 in Marburg, †  13. 3. 2002 in Heidelberg; Begründer der philosophischen Hermeneutik.

Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik EA Tbg. 1960.

G.s magnum opus bildet das Grundwerk der philosophi-

schen Hermeneutik. Traditio­ nell war die Hermeneutik die Kunstlehre der korrekten Interpretation in den Auslegungswissenschaften, ­insbesondere der Exegese der Heiligen Schrift, der Philologie und der Jurisprudenz. Sie verstand sich dabei als methodische Regelanweisung. Dilthey hatte die Hermeneutik in Beziehung mit dem methodologischen Problem der Geisteswissenschaften gebracht: Sie sollte die Methoden klären helfen, die es diesen Wissenschaften erlauben könnte, fundierte Erkenntnisse zu liefern, etwa wie die Methoden der Naturwissenschaften deren Erfolge möglich machen. G. übernimmt Diltheys Fragestellung nach der Wahrheit in den  Geisteswissenschaften, stellt aber dessen Prämisse infrage, wonach allein eine methodologische Reflexion  im­ stande sei, dieser Wahrheit gerecht zu werden. Die Methodenidee bleibt nach seiner Ansicht zu sehr dem naturwissenschaftlichen Modell verpflichtet, bei dem die Erkenntnis unabhängig vom Beobachter sein soll. G.s Grundeinsicht ist, dass diese Konzeption an der Erkenntnisweise der Geisteswissenschaften vorbeigeht, wo die Einbeziehung des Verstehenden in das, was er versteht, ausschlaggebend ist. – G.s

206

Gadamer: Wahrheit und Methode

Ansinnen ist es, eine philosophische Rechtfertigung dieser Erkenntnis zu erbringen, die sie weder von einer Methodologie allein abhängen lässt noch dem Relativismus Tür und Tor öffnet. Er beruft sich dabei zunächst im 1. Teil seines Werkes auf das vergessene Erbe des Humanismus, für den die Erziehungsaufgabe darin besteht, Bildung zu erwerben und damit den eigenen Horizont zu erweitern. G. beruft sich ferner auf die Kunsterfahrung, die auch mit einer Verwandlung des Beobachters einhergeht, der sich vom Spiel des Kunstwerkes ergreifen lässt. Das Spiel ist dabei weniger als ein Tun des Subjekts als ein vom Werk ausgehendes Geschehen zu denken, das uns die Welt mit neuen Augen sehen lässt. Ein Bild lässt nämlich eine Wirklichkeit mit einem »Zuwachs an Sein« erscheinen, wo das Dargestellte verwandelt und seiender hervortritt, aber nicht ohne dass wir dabei selber mitverwandelt werden. Die Kunst bietet damit eine Wahrheitserfahrung, die über den Kontrollbereich methodischer Wissenschaft hinausgeht. – Von diesem Modell des teilnehmenden Verstehens aus versucht G. im 2. Teil eine den Geisteswissenschaften  gemäße Hermeneutik auszuarbeiten. Wie in der humanistischen

Tradition und der Kunsterfahrung hat in ihnen der Verstehende produktiven Anteil am Erkenntnisgeschehen. G. geht von Heideggers Analyse aus, die die antizipierende Struktur des Verstehens in den Vordergrund gerückt hatte, wendet sie aber originell auf die Geisteswissenschaften an: Der hermeneutische Zirkel besagt, dass es keine Interpretation ohne Vorurteile gibt, die indes im Auslegungsverlauf einer ständigen Revision unterliegen. Die schlechten werden auf die Dauer ausgesondert, während sich die guten bewähren. Der Zeitenabstand erweist sich in dieser Hinsicht als produktiv. Das bringt G. dazu, die Bedeutung der Tradition und der Geschichte im Verstehen zu betonen. Wir verstehen, weil wir geschichtliche Wesen sind und in der Geschichte Antworten auf unsere Fragen finden. Die Verstehensgegenstände  sind ihrerseits von der Tradition vermittelt und getragen. G. spricht hier von der »Wirkungsgeschichte«, in der jeder Verstehende und seine Objekte stehen. Das Verstehen erweist sich dabei »nicht so sehr als eine Handlung der Subjektivität, […] sondern als Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart beständig ver-



Galilei: Dialogo 207

mitteln« (GW  1, 295). Diese Einsicht führt zur Entwicklung eines »wirkungsgeschichtlichen Bewusstseins«, wobei sowohl ein Bewusstsein der jeweils in uns wirkenden Geschichte als auch ein Bewusstsein der Grenzen einer solchen Reflexion gemeint ist. Ein sich geschichtlich wissendes Bewusstsein  geht nicht in Selbstwissen auf. Deshalb ist das wirkungsgeschichtliche Bewusstsein mehr Sein als Bewusstsein, d.  h. mehr eine Bestimmung unseres Seins und Bewusstseins durch die Geschichte als eine restlose Erkenntnis dieser Bestimmung. Diese Grenze der Reflexion hat eine positive Kehrseite: Sie mündet in eine grundsätzliche Anerkennung unserer Endlichkeit, die uns für neue Erfahrung und den Anspruch des anderen offen macht. – Der 3. und letzte Teil des Werkes gilt dem Nachweis, dass die im Verstehen vollzogene Horizontverschmelzung die Leistung der Sprache ist. G. verteidigt hier die These, dass die Sprache sowohl den Vollzug als auch den Gegenstand des Verstehens bestimmt: den Vollzug, weil menschliches Verstehen immer sprachlich verfasst sei, den Gegenstand, weil das Sein, das wir verstehen, immer schon sprachlichen Charakter habe. Diese universale These über

die sprachliche Verfassung unseres Verstehens und des Seins, das verstanden werden kann, erlaubt es der Hermeneutik von G., einen Universalitätsanspruch zu erheben, der Gegenstand zahlreicher Debatten wurde, insbesondere mit der Ideologiekritik von Habermas und der Dekonstruktion von Derrida. J. Grondin Ausgabe: Gesammelte Werke, Bde. 1–2, Tbg. 51986 (erw.). Literatur: K.-O. Apel (Hg.), Her­ meneutik und Ideologiekritik, Ffm. 1971. – J. Grondin, Einführung zu G., Tbg. 2000. – J. Grondin, Einführung in die philosophische Hermeneutik, Drmst. 22001.

Galileo Galilei * 15. 2. 1564 in Pisa, †  8. 1. 1642 in Arcetri (heute zu Florenz); Philosoph und Wissenschaftler.

Dialogo. Dove ne i congressi di quattro giornate si discorre sopra i due massimi sistemi del mondo, tolemaico e copernicano, proponendo indeterminatamente le ragioni filosofiche e naturali tanto per l’una, quanto per l’altra parte

(it.; Dialog. Wo auf vier Tage währenden Sitzungen über die beiden hauptsächlichen Weltsysteme, das ptolemäische und das kopernikanische, disputiert wird, wobei die

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Galilei: Dialogo

philosophischen und naturwissenschaftlichen Gründe für beide Teile vorgebracht werden, ohne daß eine Entscheidung fällt), EA Florenz 1632.

In seinem astronomischen Hauptwerk will G. einen physikalischen Beweis der Erddrehung erbringen sowie die scheinbaren Bewegungen der Himmelskörper erklären bzw. die auf naiver alltäglicher Erfahrung beruhenden Vorurteile gegen die Erdbewegung – und damit gegen das kopernikanische Weltbild – widerlegen. – Die drei Gesprächsteilnehmer des sich über vier Tage erstreckenden und in italienischer Sprache geführten Dialogs sind charakteristisch differenziert: Salviati redet als Fachmann mit hoher philosophischer Kompetenz dem kopernikanischen Weltbild das Wort; ihm sind unverkennbar grundlegende Züge G.s eingeschrieben. Gegen ihn vertritt Simplicio, weniger elegant, doch redlich, die antik-mittelalterliche Schulwissenschaft mit all den Vorurteilen des ptolemäischen Weltbilds; Sagredo schließlich stellt den gebildeten und interessierten Laien dar, die unparteiische, sich nur den besseren Argumenten beugende Instanz; schwer verständliche Argumente werden von ihm des Öfteren in populärer Form rekapitu-

liert. Salviati und Sagredo sind historische Figuren: Freunde und Schüler G.s; Simplicio, eine erfundene Gestalt, evoziert mit seinem Namen die Einfalt, weckt aber auch Assoziationen an den gleichnamigen Aristoteleskommentator aus dem 6. Jh. – Am 1.  Tag wird die aristotelische Bewegungslehre und insbesondere die Lehre von der Grundverschiedenheit der Erdund Himmelskörper kritisiert. Gerade weil man sich mit Aristoteles bislang zu Recht auf die sinnliche Erfahrung als Beleg für diese Grundverschiedenheit berufen hat – die sinnliche Erfahrung nämlich lehre uns, dass auf Erden ein beständiges Entstehen, Vergehen und Verändern vor sich gehe, dass diese Veränderungen aber am Himmel ausblieben –, muss man sich nun aufgrund der mit dem Fernrohr neu gemachten Erfahrungen, etwa der Beobachtung von Sonnenflecken und der Entstehung und Vernichtung vieler Kometen in Regionen oberhalb der Mondsphäre, zu einer Revision der These von der Grundverschiedenheit entschließen. Dank des Fernrohrs ist sogar die Annahme des Aristoteles hinfällig, dass man über die Himmelskörper wegen der großen Entfernung nicht mit voller Bestimmtheit etwas aussagen könne. Am 2.  Tag



Galilei: Dialogo 209

überprüfen die Gesprächsteilnehmer nun v. a., ob die Erde »für feststehend und völlig unbewegt zu halten« ist bzw. welche »Wahrscheinlichkeitsgründe« für ihre Beweglichkeit sprechen. »Vernünftiger und glaublicher« ist für Salviati und Sagredo die Annahme, die tägliche Bewegung sei eher der Erde als der Himmelssphäre zuzuschreiben. Freilich muss dann die Vereinbarkeit gewisser Bewegungen auf der Erde mit deren Achsendrehung dargelegt werden. G.s Erläuterungen hierfür waren für die spätere Formulierung eines allgemeinen Trägheitsbegriffes von entscheidender Bedeutung: Der vom Turm fallende Körper wird auch bei Erdrotation unmittelbar neben dem Turm aufschlagen und die senkrecht abgefeuerte Kanonenkugel auf den Abschussort zurückfallen, da die Körper während des Falles die Bewegung der Erde, die sie bereits vor der senkrechten Bewegung innehatten, beibehalten. – Themen des 3. Tages sind neue Sterne (bes. der 1572 im Sternbild der Kassiopeia erschienene), die Missstände des ptolemäischen und die Vorzüge des kopernikanischen Systems, die Größe des Universums sowie die Abstände zwischen den Sternen. Die nicht zu beobachtende Parallaxe der Fixster-

ne wird mit deren sehr großer Erdentfernung erklärt. – Am 4.  Tag soll mit der (falschen) Erklärung der Gezeiten aus der doppelten Erdbewegung (anstatt aus der Mondanziehung) erneut die Richtigkeit des kopernikanischen Systems bewiesen werden. – Obgleich das Werk nach langwierigen Verhandlungen G.s mit der Kurie, in denen es auch zu Umarbeitungen kam, das Imprimatur erhalten hatte, wurde bereits im Jahr seines Erscheinens auf Betreiben der Jesuiten der weitere Vertrieb untersagt und gegen G. der inquisitorische Prozess angestrengt. Am 22. 6. 1633 musste G. dem kopernikanischen System, als der Heiligen Schrift zuwiderlaufend, abschwören. G. Seubold Ausgaben: Dialogo sui massimi sis­ temi, Hg.: F. Brunetti, Bari 1963. – Dialogo sopra i due massimi sis­temi del mondo, tolemaico e coperni­cano, Hg.: L.  Sosio, Turin 1970. – Dt., Dialog über die beiden hauptsächlichen Weltsysteme, das Ptolemäische und das Kopernikanische, Ü.: E.  Strauss, Lpzg. 1891 (ND Stgt. 1982). – Dt., Dialog über die Weltsysteme, in: H. Blumenberg (Hg.), Sidereus Nuncius, Ffm. 21980 (Auswahl). Literatur: T. de Padova, Das Weltgeheimnis. Kepler, G. und de ­ Vermessung des Himmels, Mchn. 2010.

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Gehlen: Der Mensch

Arnold Gehlen * 29. 1. 1904 Leipzig, † 30. 1. 1976 in Hamburg; deutscher Soziologe, Vertreter der Philosophischen Anthropologie.

Der Mensch, seine Natur und seine Stellung in der Welt EA Bln. 1940.

Den Ausgangspunkt der Anthropologie G.s bildet die Einsicht, dass sich die Frage nach dem Menschen nicht auf der Grundlage einer Aufspaltung seines Wesens in Leib, Seele und Geist beantworten lässt. Es muss einen Zusammenhang zwischen dem Inneren und Äußeren des Menschen geben, der nicht auf die bloße Leiblichkeit des Menschen reduziert werden kann, da der Mensch schon als leibliches Wesen im Gegensatz zum Tier steht. – Aus der Bestimmung dieses Gegensatzes entwirft G. die Grundlinien einer elementaren philosophischen Anthropologie, die den Menschen statt als Tier mit Geist als einen »Sonderentwurf der Natur« betrachtet. Denn im Gegensatz zum Tier, das genau und vollständig in seine Umwelt eingepasst ist, ist der Mensch ein nicht festgelegtes Wesen, das sich nur durch eine von ihm selbst geschaffene Kultur »in Form bringen« kann. Diese Mängel sind insofern

zugleich Vorteile, als die Belastung die Chance einer Entlastung gibt. Für das »Mängelwesen« Mensch stellt die Welt nach G. daher ein Überraschungsfeld unvorhersehbarer Struktur dar, das durchgearbeitet und somit erfahren werden muss. Dazu bedarf es nach G. der Vereinfachung und der »gebahnten Wege«. Die persönlichen, aber auch die geschichtlichen »kulturellen Leistungen«, ohne die der Mensch lebensunfähig wäre, beruhen auf einer Seinsgrundlage, die durch die Natur des Menschen und seine elementare Stellung in der Welt bestimmt wird. Daher, so G., wird die Bedeutung der Handlung für den Menschen gar nicht sichtbar, wenn man Handlung als bloß spekulative Weltsetzung versteht und somit die Welt von einem absoluten Ich her zu deduzieren versucht. Menschliches Handeln kann als solches daher nur verstanden werden, wenn man vom existierenden Menschen ausgeht. Das Weltverhalten des realen Menschen zu interpretieren, ist Sache der Anthropologie, wobei es darauf ankommt, den Handlungsbegriff als den Schlüsselbegriff zu verstehen, von dem her die vielfältigen und differierenden Verhaltensformen erfasst werden können. Im letzten Teil seines anthropo-



Goodman: Fact, Fiction, Forecast 211

logischen Hauptwerkes entwickelt G. unter der Überschrift »Antriebsüberschuß, Haltungsgefüge, Führungsordnungen« erstmals seine Philosophie der Institutionen, die er in Urmensch und Spätkultur weiter ausgebaut und durch eine Fülle ethnologischer Detailkenntnisse gestützt hat. – G.s Frühwerk ist erst relativ spät im Zusammenhang der Rezeption seiner Institutionentheorie wieder aufgenommen und diskutiert worden. Die Tatsache, dass die philosophische Anthropologie zwischen allen disziplinären Stühlen sitzt, aber auch die Beurteilung des G.’schen Werkes als »konservativ« hat die Wirkungsgeschichte verzögert. Neuerdings hat G.s Werk in der sog. Sozio-Biologie wieder eine gewisse Aufmerksamkeit gefunden. G.  Kamphausen/ A. Knirim Ausgabe: GA, Bd.  3, Hg.: K.-S. Rehberg, Ffm. 1993. Literatur: K.-S. Rehberg, A.-G.Bibliographie (Teil I: Schriftenverzeichnis, Teil  II: Sekundärliteratur), in: H.  Klages/H.  Quaritsch (Hg.), Zur geisteswissenschaftlichen Bedeutung A. G.s, Bln. 1994, 899– 1001. – K.-S. Rehberg, A.  G., in: D. Kaesler (Hg.), Klassiker der Soziologie, Bd. 2, Mchn. 1999.

Nelson Goodman *  7. 8. 1906 Somerville (Mass.), †  25. 11. 1998 Needham (Mass.); führender Vertreter der analytischen Philosophie mit maßgeblichen Beiträgen zur Erkenntnis-, Wissenschafts- und Zeichentheorie sowie zur Ästhetik.

Fact, Fiction, Forecast (engl.; Tatsache, Fiktion, Voraussage), EA London 1954; Parallelausg. Cambridge (Mass.) 1955.

In dem aus Vorlesungen hervorgegangenen Buch untersucht G. ein ganzes Bündel wissenschaftstheoretischer Fragen: Wie sind kontrafaktische Konditionale (›Wenn p der Fall wäre, wäre q der Fall‹) zu verstehen? Wie sind Dispositionsprädikate (›brennbar‹, ›wasserlöslich‹ etc.) zu analysieren? Wie unterscheiden sich wissenschaftliche Gesetze von zufälligen Generalisierungen? Welche Aussagen können bestätigt werden? Wie G. in den ersten beiden Vorlesungen zeigt, ist eine Beantwortung dieser Fragen auf die Lösung eines allgemeinen Rätsels angewiesen: des allgegenwärtigen Problems der Fortsetzung oder ›Projektion‹, d. h. des richtigen Übergangs von einer gegebenen Menge von Fällen zu einer umfassenderen Menge. – In der dritten Vorlesung wendet sich

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Goodman: Fact, Fiction, Forecast

G. dem Problem der Induktion zu. Hume dachte vor allem an Voraussagen über die Zukunft auf der Grundlage von Daten über die Vergangenheit. Aus unserer Erfahrung schließen wir beispielsweise, dass morgen die Sonne aufgeht und dass uns Brot wie bisher nähren wird. Aber wie lassen sich solche induktiven Schlüsse rechtfertigen? Nach G. ist das alte Problem der Induktion aufzulösen. Wäre eine Methode verlangt, um im Vorhinein zwischen wahren und falschen Vorhersagen zu unterscheiden, dann würde man etwas Unmögliches fordern: ein Wissen zu begründen (Hellsehen), das wir gar nicht besitzen. Wir können einen induktiven Schluss nur so rechtfertigen, dass wir zeigen, dass er den Regeln induktiven Schließens entspricht, und diese Regeln sind ihrerseits dadurch gerechtfertigt, dass sie mit der akzeptierten induktiven Praxis übereinstimmen. Rechtfertigung ist somit ein komplizierter Vorgang wechselseitiger Abstimmung zwischen Regeln und akzeptierten Schlüssen, und in der erreichten Übereinstimmung liegt die einzige Rechtfertigung für beide. Die konstruktive Aufgabe der Bestätigungstheorie besteht darin, die Regeln des induktiven Schließens präzise anzugeben,

anders gesagt: den Unters­chied zwischen gültigen und ungültigen induktiven Schlüssen zu definieren. Bei der Durchmusterung von Vorschlägen für solche Abgrenzungen stößt G. auf das neue Rätsel der Induktion. Wie sich herausstellt, hängt die Bestätigung einer Hypothese nicht bloß von ihrer syntaktischen Form, sondern auch von den in ihr enthaltenen besonderen Prädikaten ab. G. zeigt: Zu jedem ›normalen‹ Prädikat F (z. B. ›grün‹/›green‹) lässt sich ein neues Prädikat F* (z. B.: ›glau‹/›grue‹ = ›wurde vor einem bestimmten Zeitpunkt t untersucht und ist grün oder wurde nach t untersucht und ist blau‹) derart konstruieren, dass sich mithilfe des neuen Prädikats eine Hypothese formulieren lässt (z. B. ›Alle Smaragde sind glau‹), die genauso gut bestätigt ist wie die vertrautere Hypothese ›Alle Smaragde sind grün‹. Die beiden Hypothesen führen freilich zu miteinander unverträglichen  Prognosen. Nun ist intuitiv zwar klar, welche der Hypothesen wir tatsächlich fortsetzen,  aber wir verfügen über kein allgemeines Kriterium, um zwischen projizierbaren und nicht-projizierbaren Prädika­ ten zu unterscheiden. G.s Lösungsvorschlag läuft darauf hinaus, dass wir auf die Verwendungsgeschichte der Prädi-



Goodman: Languages of Art 213

kate, d.  h.: die tatsächlichen Fortsetzun­ gen in der Vergangenheit,  re­kurrieren müssen. Grob ge­spro­chen, sind Aussagen be­stä­tigungsfähig und damit Kandidaten für Naturgesetze, wenn die in ihnen vorkommenden Prädikate besonders gut ›verankert‹ sind. Insgesamt hat G. gezeigt, dass sich das Problem der Unterscheidung zwischen bestätigungsfähigen Hypothesen auf der einen Seite und nicht-bestätigungsfähigen Hypothesen auf der anderen Seite weder syntaktisch noch semantisch lösen lässt, wie dies die Logischen Empiristen (Carnap, Hempel) gehofft hatten. Es kann keine induktive Logik geben, die in demselben Sinne formal ist wie die deduk­ tive Logik; eine befriedigen­de Theorie der Fortsetzung muss pragmatische und historische Informationen einbeziehen. – G.s neues Rätsel der Induktion löste eine umfangreiche De­ batte aus. Keiner der ca. zwanzig Lösungsvorschläge konnte sich durchsetzen. Fact, Fiction, Forecast ist und bleibt einer der meistdiskutierten Klassiker der Wissenschaftstheorie. O. R. Scholz Ausgaben: Vorwort: H. Putnam, Cambridge (Mass.) 41983. – Dt., Ü.: H.  Vetter, Ffm. 1988. Literatur: W. Stegmüller, Conditio irrealis, Dispositionen, Natur-

gesetze und Induktion, in: KantStudien 50, 1957–58, 363–390. – D. Stalker (Hg.), Grue! The New Riddle of Induction, Chicago/La Salle (Ill.) 1994 (mit kommen­ tierter Bibl.).

Languages of Art. An Approach to a Theory of Symbols

(engl.; Sprachen der Kunst. Ein Ansatz zu einer Symboltheorie), EA Indianapolis 1968.

In diesem Werk verbinden sich zeichentheoretische mit ästhetischen und erkenntnistheoretischen Untersuchungen. Primäres Ziel ist eine allgemeine Zeichentheorie, welche die Strukturen der verschiedenartigen Symbolsysteme des Alltags, der Wissenschaften sowie der Künste aufklären soll. Fragen der Ästhetik dienen als Ausgangspunkte und erfahren originelle Lösungen. – So untersucht G. eingangs die Natur der bildhaften Darstellung (Kap.  1) und des ästhetischen Ausdrucks (Kap. 2). Beide Relationen expliziert er als Weisen der Bezugnahme. Im Zuge einer scharfen Kritik an Ähnlichkeitstheorien des Bildes wird Repräsentation als Unterfall der Denotation (Bezeichnung) bestimmt. Zur Analyse des Ausdrucksbegriffs weist G. auf die vernachlässigte Zeichenbeziehung der Exemplifikation hin, bei der ein Gegenstand als

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Goodman: Languages of Art

Muster (sample) auf Prädikate verweist, die es instantiiert. Dass ein Werk ein Gefühl (z. B. ›Trauer‹) ausdrückt, bedeutet dann, dass es das entsprechende Prädikat (›traurig‹) metaphorisch exemplifiziert. Mit Kapitel 3 beginnt ein neuer Gedankengang, der erst im letzten Kapitel mit dem Anfang zusammengeführt wird. G. wirft die Frage auf, woran es liegt, dass in einer Kunst Fälschungen (und damit die Differenz Original/Fälschung) möglich sind. Es bestehen grundlegende Unterschiede zwischen autographischen Künsten (Malerei, Bildhauerei), bei denen sich die Echtheit der Werke nur historisch sichern lässt, und allographischen Künsten (Musik, Literatur), bei denen die konstitutiven Züge der Werke in einer Notation fixiert werden können. Die Klärung der Identitätskriterien für Kunstwerke führt zu der Aufgabe, die Natur und Funktion von Notationssystemen zu untersuchen. Kapitel 4 entwickelt mit der Theorie der Notation ein begriffliches Instrumentarium, das die Klassifikation beliebiger Symbolsysteme ermöglicht. Notationssysteme stellen einen systematisch aufschlussreichen Grenzfall dar: Sie lassen sich durch fünf Anforderungen kennzeichnen, die in anderen

Systemen nicht oder nur zum Teil erfüllt sind. Vereinfacht gesagt, ist in einem notationalen System ein Höchstmaß an syntaktischer und semantischer Eindeutigkeit verwirklicht.  (Prä­ ziser und technischer: Notationssysteme sind – sowohl syntaktisch als auch semantisch – disjunkte und endlich differenzierte Systeme, und sie sind frei von Mehrdeutigkeiten.) Das Kapitel  5 zeigt die Fruchtbarkeit der Theorie an der Musik, den bildenden Künsten, der Literatur, dem Tanz und der Architektur. Im Schlusskapitel  6 können lose Fäden verknüpft werden. So wird der Unterschied zwischen bildhaften und verbalen Symbolsystemen präziser gefasst. Abschließend (Kap.  6.3–6.7) wird eine kognitivistische Konzeption des Ästhetischen und der Künste umrissen: Die Künste sind wie die Wissenschaften kognitive Praxen. Sie tragen aktiv zum Strukturieren, Verstehen und Konstituieren der Welten bei, in denen wir leben. Die Kontraste zwischen den Wissenschaften und den Künsten beruhen auf Unterschieden in der Dominanz gewisser Charakteristika der verwendeten Symbole. G. schlägt vier semiotische »Symptome des Ästhetischen« vor, die er in Ways of Worldmaking (1978)



Grice: Studies in the Way of Words 215

um ein fünftes ergänzt. – Das Werk gilt als Klassiker der Ästhetik. Zunehmend findet es auch in der Semiotik und in der Erkenntnistheorie Beachtung. O. R. Scholz Ausgaben: Indianapolis 21976. – Dt., Ü.: B. Philippi, Ffm. 1995. Literatur: C. Z. Elgin, With Ref­ erence to Reference, Indianapolis 1983. – J.  Steinbrenner/O.  R. Scholz/G.  Ernst (Hg.), Symbole, Systeme Welten. Studien zur Philosophie N. G.s, Heidelberg 2005.

Herbert Paul Grice *  15. 3.  1913 in Birmingham, †  28. 8. 1988 in Berkeley (Calif.); analytischer Sprachphilosoph.

Studies in the Way of Words EA Cambr. (Mass.) 1989.

Dieses Buch ist eine Sammlung von Aufsätzen, die G. zwar selbst zusammengestellt hat, das allerdings erst postum 1989 veröffentlicht wurde. Es enthält G.s 1967 gehaltene William James Lectures Logic and Conversation sowie, im zweiten Teil, 12 zwischen 1946 und 1988 verfasste Aufsätze, die zum Teil Vorläufer oder Weiterführungen der dort präsentierten Ideen sind. – In Logic and Conversation entwickelt G. das Konzept der Implikatur sowie eine Analyse von Sprecherab-

sichten. Eine konversationale Implikatur liegt vor, wenn der Sprecher mehr oder etwas anderes meint, als er wörtlich sagt. Z.B. ist in bestimmten Kontexten die Äußerung »Es ist Bier im Kühlschrank« eine Einladung oder Aufforderung an den Adressaten, sich eines zu nehmen. Ähnlich ist die Äußerung »Kannst Du die Tür schließen?« normalerweise keine Frage, sondern eine Aufforderung, dies zu tun. – G.s Analyse dieses Phänomens geht davon aus, dass Konversationen kooperative Vorhaben sind, in denen die Norm gilt, dass man nur solche Äußerungen tun sollte, die dem Ziel oder der Richtung der Konversation zuträglich sind. Diese Norm wird in vier konversationale Maximen aufgegliedert: Beiträge sollten 1. nicht mehr und nicht weniger informativ als nötig, 2. wahr, 3. relevant und 4. verständlich sein. – Werden die genannten Beispiele nun wörtlich verstanden, verstoßen sie gegen die Maxime der Relevanz, d. h. wörtlich verstanden tragen sie nicht zum Erreichen des Ziels der Konversation bei. Es ist deshalb für den Hörer notwendig, sie anders zu verstehen, nämlich als Einladung bzw. als Aufforderung. Die Einladung bzw. Aufforderung ist das konversationale Implikat der Äuße-

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Grice: Studies in the Way of Words

rung. Für Implikaturen ist charakteristisch, dass der Sprecher sie widerrufen kann; er kann also z. B. sagen »Es ist Bier im Kühlschrank« und, nachdem die Hörer dies als Einladung verstanden haben, fortfahren »Es ist nicht für Euch«. Eine frühere Version bzw. eine Anwendung dieser Theorie findet sich im zweiten Teil des Buchs, und zwar in den Aufsätzen The Causal Theory of Perception und Presupposition and Conversational Implicature. – Bei G.s Analyse von Sprecherabsichten handelt es sich genauer gesagt um eine Analyse des Umstands, dass ein Sprecher mit einer Äußerung etwas meint. Die Äußerung kann dabei eine beliebige Handlung x sein, muss also keine im üblichen Sinne sprachliche Äußerung sein. In einem ersten Schritt nimmt G. an, dass ein Sprecher mit dem Vollziehen seiner Handlung x meint, dass p der Fall ist, wenn er den Adressaten dazu ­bringen möchte zu glauben, dass p. Da diese Bedingung nicht hinreichend ist, fügt G. zwei ­Offenheitsbedingungen  hinzu, die darin bestehen, dass der Sprecher 1.  zudem möchte, dass der Adressat erkennt, dass er ihn zu der Meinung, dass p, bringen will, und 2.  dass der Adressat diese Meinung bilden soll, gerade weil er dies

erkennt. – Ausgehend von der Analyse des Umstands, dass ein einzelner Sprecher mit einem Ausdruck etwas meint (Sprecherbedeutung), wendet G. sich dann dem davon verschiedenen Umstand zu, dass ein Ausdruck etwas in einer Sprache, wie dem Deutschen, bedeutet (Wort- oder Satzbedeutung), und zwar wird die Bedeutung, die ein Ausdruck in einer Sprache hat, dadurch bestimmt, was Sprecher üblicherweise mit ihm meinen. Die Vorgehensweise, zunächst den Begriff der Sprecherbedeutung zu klären und dann darauf aufbauend den der Satzbedeutung, wird als G.’sches Programm bezeichnet. Die Aufsätze Mean­ing und Mean­ing Revisited aus dem zweiten Teil des Buchs sind Vorläufer bzw. Weiterentwicklungen dieser Gedanken. – Der zweite Teil enthält weiterhin eine Reihe von methodischen Aufsätzen, die sich mit der Rolle der Betrachtung der Alltagssprache in der Philosophie befassen. Der bekannteste unter diesen ist der gemeinsam mit Peter F. Strawson verfasste Aufsatz In Defense of a Dogma, der auf Quines Aufsatz Two Dogmas of Empiricism (1951, → From a Logical Point of View) reagiert. Quine greift dort die These an, dass es einen Unterschied zwischen analytischen  und



Grotius: De Jure Belli ac Pacis 217

synthetischen Sätzen gibt. G. und Strawson verteidigen diesen Unterschied gegen Quines Argumente. – G.s Theorie der Implikatur sowie seine Analyse der Sprecherabsichten gehören zu den meistdiskutierten Themen der analytischen Sprachphilosophie. Aufbauend auf Letztere hat Strawson eine Interpretation bzw. Ausarbeitung von Austins Sprechakttheorie vorgeschlagen, an die heute ein Großteil der einschlägigen Diskussion anschließt. B. Prien Literatur: R. Grandy/R. Warner (Hg.), Philosophical Grounds of Rationality, Oxfd. 1986. – G. Meggle, Handlung, Kommunikation, Bedeutung, Ffm. 1993. – G. Cosenza (Hg.), P.  G.’s Heritage, Turnhout 2001.

Hugo Grotius (Huig de Groot), * 10. 4. 1583 in Delft, †  28. 8. 1645 in Rostock; bedeutender Natur- und Völkerrechtstheoretiker des 17. Jh.s.

De Jure Belli ac Pacis. Libri Tres, in quibus ius naturae et gentium, item iuris publici praecipua explicantur

(lat.; Drei Bücher vom Recht des Krieges und des Friedens), EA Paris 1625.

Das vor dem Hintergrund der europäischen Religionskriege

des 16. und 17.  Jh.s entstandene Werk ist ein Klassiker der Theorie des Natur- und Völkerrechts und zudem einer der wichtigsten neuzeitlichen Beiträge zur Theorie des gerechten Krieges. Um den Bereich des Rechts zwischen den Völkern theoretisch zu erfassen, gilt es nach G., sich mit dem Recht des Krieges und des Friedens zu befassen, wobei G.’ Überlegungen, die sich dabei größtenteils mit dem Recht des Krieges beschäftigen, auf das Ziel eines zu erreichenden Friedens hin formuliert sind. Dieser soll auf der Grundlage friedlicher Beziehungen zwischen den Staaten, insbesondere einer Verrechtlichung der Beziehung zwischen ihnen, erreicht werden – ein Gedanke, der später vom Abbé de Saint Pierre und Immanuel Kant weiterentwickelt wurde. Damit steht G. in der theoriegeschichtlichen Linie idealistischer Konzep­ tionen der internationalen Beziehungen, die nicht als ein Bereich gesehen werden, in dem allein das Recht des Stärkeren gilt, sondern deren Gerechtigkeit durchaus anhand moralischer Kriterien beurteilt werden kann. Der Humanist G. schöpft zur Entfaltung seiner Konzeption aus den reichhaltigen Quellen vom zeitgenössischen Humanismus über

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Grotius: De Jure Belli ac Pacis

die spanische Spätscholastik, Thomas von Aquin und das Römische Recht bis zurück zur Tradition der Stoa und des Aristoteles und nimmt vielfältig Bezug auf die Geschichte ebenso wie auf biblische Quellen. – Im ersten der drei Bücher befasst sich G. mit der Frage nach dem Wesen des Krieges und des Rechts und zeigt, dass eine Beurteilung des Krieges vom Standpunkt der Gerechtigkeit aus möglich ist. Das zweite und dritte Buch, die den größten Teil des Werkes ausmachen, sind der Diskussion der Bestimmungen des Rechts zum Krieg (ius ad bellum) und des Rechts im Krieg (ius in bello) gewidmet. Als legitime Gründe für den Beginn eines Krieges diskutiert G. die Selbstverteidigung, die Wiedererlangung von Eigentum und die Bestrafung von Rechtsverletzungen. Mit Blick auf das Recht im Krieg werden beispielsweise Fragen nach List und Betrug, Tötung von Feinden, Beuterecht und Umgang mit Gefangenen behandelt, wobei G. schon dabei ein besonderes Augenmerk auf die gewaltbegrenzende Funktion der Regeln des ius in bello richtet, etwa indem er Beschränkungen des Tötungsrechtes im Krieg, der Verwüstung und des Beuterechts aufzeigt. Mit Blick auf den zu

erreichenden Frieden und das Recht des Friedens finden sich im dritten Buch schließlich die Bestimmungen zur Beendigung des Krieges, insbesondere zu Friedensschlüssen, aber auch zum Umgang mit Vermittlern etc. Die Überlegungen G.’ enden mit einer »Ermahnung zur Treue und zum Frieden«, in der betont wird, dass die Einhaltung bestimmter Regeln im Krieg notwendig ist, »was dazu dient, daß man die Hoffnung auf Frieden nicht verliert«. – De Jure Belli ac Pacis erfährt schon in seiner Zeit eine breite Rezeption, angefangen bei Politikern des 17. Jh.s über Theo­ retiker des Völkerrechts wie Pufendorf, Thomasius, Vattel und Wolff bis hin zu Philosophen wie Hobbes, Locke, Rousseau und Kant, die ebenso kritisch wie produktiv daran anknüpfen. Neben der Bedeutung für die Entwicklung des Völkerrechts im 20. Jh. ist das Werk auch in gegenwärtigen Debatten von Bedeutung, sowohl für Diskussionen über Fragen der politischen Philosophie der internationalen Beziehungen als auch mit Blick auf aktuelle Fragen der Theorie des gerechten Krieges, wie etwa die Frage nach der Rechtfertigung humanitärer militärischer Interventio­nen. S. Laukötter



Habermas: Diskursethik 219

Ausgaben: Hg.: B. J. A. de Kantervan Hettinga Tromp, Leiden 1939 (ND Aalen 1993). – Engl., The Rights of War and Peace, Hg. und Einl.: R.  Tuck, 3 Bde., Indianapolis 2005. – Dt., Ü. und Einl.: W. Schätzel, Tbg. 1950. Literatur: W. G. Grewe, G. – Vater des Völkerrechts, in: Der Staat 23, 1984, 161–178. – J. Dunn/I. Harris (Hg.), G., Cheltenham/Lyme 1997 (umfangreiche Sammlung zentraler Artikel zu G.). – R. Tuck: The Rights of War and Peace. Politi­ cal Thought and the International Order from G. to Kant, Oxfd. 1999.

Jürgen Habermas * 18. 6. 1929 in Düsseldorf; Sozial­ philosoph in der Tradition der Kritischen Theorie, bedeutendster Vertreter der Diskursethik.

Diskursethik. Notizen zu einem Begründungsprogramm

ED 1983 (in: J. H., Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, 53–126).

Der Aufsatz gilt als bedeutendster Text des von H. gemeinsam mit K.-O. Apel vertretenen diskursethischen Theorieansatzes. Wie der Titel andeutet, handelt es sich eher um eine programmatische Vorstellung als um eine detaillier­te Durchführung des Ansatzes, im Rahmen derer H. insbesondere die Differenzen zu Apel offenlegt. H. arbei-

tet seinen Ansatz später in mehreren Veröffentlichungen, insbesondere in den Erläuterungen zur Diskursethik (1991), weiter aus. – Argumentationsziel ist eine säkulare und metaphysikfreie Grundlegung der Moral, die diese gleichwohl als ein intersubjektiv verbindliches Regelsystem ausweist. H. grenzt sich dazu auf der einen Seite von subjektivistischen Theo­rien ab, die moralische Aussagen als Ausdruck von Wünschen oder Han­dlungsempfehlungen analysieren und ihnen somit eine in­tersubjektiv relevante Wahrheitsfähigkeit absprechen. Auf der anderen Seite betont H. gegen den Wertrealismus, dass der objektive Charakter normativer Aussagen nicht in gleicher Weise auf Tatsachen zurückgeführt werden kann wie im Falle deskriptiver Aussagen. Vielmehr soll die Objektivi­tät der Moral auf deren diskursi­ ver Begründbarkeit beruhen. H. spricht deshalb nicht von der ›Wahrheit‹ normativer Sätze, sondern von ›Richtigkeit‹ als einem »wahrheitsanalo­ gen« Geltungsanspruch. – Soll ein praktischer Diskurs eine rationale Wahl von Normen ermög­ lichen, muss aus zunächst  wi­derstreitenden Ansichten ar­gumentativ ein Konsens erreicht werden können. Als Voraussetzung dieser Mög-

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Habermas: Diskursethik

lichkeit führt H. eine Argu­ mentationsregel ein, nämlich den Universalisierungsgrundsatz U, dem zufolge jede Norm der Bedingung genügen muss, dass »die Folgen und Nebenwirkungen, die sich jeweils aus ihrer allgemeinen Befolgung für die Befriedigung der Interessen eines jeden Einzelnen (voraussichtlich) ergeben, von allen Betroffenen akzeptiert« werden können. – Die Überzeugungskraft der Diskursethik hängt damit von der Begründung von U ab, die H. in Anlehnung an Apels Transzendentalpragmatik durchführt. H. zufolge gerät in einen performativen Widerspruch, wer selbst Geltungsansprüche erhebt, aber die Bedingungen verständigungsorientierter Argumentation zurückweist. Diese Bedingungen seien hinreichend, um U abzuleiten. Möchte sich der moralische Skeptiker nicht als Diskursverweigerer jeglicher  Kommunikation entziehen, müsse er U zugestehen. H. betont gegen Apel, dass diese Argumentation keinen Letztbegründungsanspruch erheben könne; auch die transzendentalpragmatische Begründung könne nur dialogisch in Auseinandersetzung mit dem Skeptiker erfolgen und sei falsifizierbar. – Nach erfolgreicher Verteidigung von

U ist auch der »diskursethische Grundsatz« D gerechtfertigt, der besagt, dass »nur die Normen Geltung beanspruchen dürfen, die die Zustimmung aller Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses finden (oder finden könnten)«. Diskursethisch gerechtfertigt werden können allerdings nur moralische Normen. Ethische Werte, die das gute Leben betreffen, gehen dagegen für H. auf geteilte Überzeugungen zurück, denen der kognitive Charakter der Moral abgeht. Gegen die Vorstellung, dass Philosophen monologisch Normen begründen können – etwa wie Rawls durch ein Gedankenexperiment –, beharrt H. auf der Unverzichtbarkeit der tatsächlichen Durchführung praktischer Diskurse. Reale Diskurse können sich dabei den idealen Diskursbedingungen nur annähern. – Nach einer anfänglich sehr intensiven globalen Rezeption findet die Diskursethik heute v. a. in der Demokratietheorie und politischen Philosophie (z. B. bei S.  Benhabib und R. Forst) ein starkes Echo. M. Hoesch Ausgabe: Studienausgabe, Bd.  3, Ffm. 2009, 31–115. Literatur: A. Wellmer, Ethik und Dialog, Ffm. 21999. – H.  Brunkhorst u.  a. (Hg.), H.-Handbuch, Stgt. 2009, 234–240.



Habermas: Erkenntnis und Interesse 221

Erkenntnis und Interesse EA Ffm. 1968.

Das Werk greift die Fragestellung der Transzendentalphilosophie nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis auf, um sie auf dem Boden der modernen Sozialwissenschaften zu beantworten. Für H. ist Erkenntniskritik – und hier liegt ein Schlüssel zu seinem ganzen Werk – nur noch als Gesellschaftstheorie möglich. Das Werk soll eine solche Theorie, die H. in späteren Arbeiten (→  Theorie des kommunikativen Handelns) ausgeführt hat, vorbereiten. Es hat jedoch zunächst die wissenschaftstheoretische Debatte der 70er Jahre und die Logik der So­ zialwissenschaften nachhaltig geprägt. – In der Theorie von Marx sieht H. den Schlüssel zur Lösung einer in die Krise geratenen Erkenntniskritik. Deren Krise besteht nach H. in latenten und deshalb undurchschauten Voraussetzungen der als Letztbegründung postulierten Bedingungen möglicher Erkenntnis. Kants letzte Bedingung, das zeitenthobene, sich selbst durchsichtige und daher zu gültiger Einsicht fähige Subjekt hat selbst Voraussetzungen, die es nicht durchschaut. Diese liegen im Bildungsprozess des Subjekts und in den Formen

gesellschaftlicher Arbeit. Das 19. und frühe 20.  Jh. ist laut H. das Zeitalter einer radikalen »Transformation der Transzendentalphilosophie« (Apel). Sie hat eine ideologiekritische und eine konstruktive Seite; H. möchte beide zusammenfügen. Die Ideologiekritik legt von Hegel über Marx bis Nietzsche und Freud immer neue Schichten latenter, empirischer Voraussetzungen vermeintlich voraussetzungsloser, intelligibler Subjektivität frei. Es sind nach H. v. a. Interessen, denen die Erkenntnis folgt und ohne die diese nicht möglich wäre. Im Anschluss an die pragmatistische Sinnkritik kann jedoch gezeigt werden, dass die Interessen, die Erkenntnis ermöglichen, selbst einen allgemeinen, nicht relativierbaren Status aufweisen. Sie sind mit dem evolutionären Bildungsprozess der menschlichen Gattung gleichursprünglich. H. spricht deshalb auch von anthropologisch tiefsitzenden Erkenntnisinteressen. Im Anschluss an Marx, Dilthey und Freud versucht H. zu zeigen, dass es sich um drei wesentliche Erkenntnis leitende Interessen handelt, die jeweils einem fundamentalen Funktionskreis der materiellen Reproduktion der Gattung zugeordnet werden können. Die technischen Erkenntnisinter-

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Habermas: Faktizität und Geltung

essen entstammen dem Funktionskreis des arbeitenden, die praktischen dem des sprechenden und fantasierenden Tiers. Die emanzipatorischen Erkennt­nisinteressen sind demgegenüber sekundär. Sie stellen Reaktionen auf Fehler, Fehlleistungen und systematische Störungen der Reproduktion eines kommunikativen Gattungswesens dar. Solche Störungen sind geschichtlich durch Herrschaft und Ausbeutung verursacht. Emanzipatorische oder therapeutische Reaktionen darauf sind der praktische Nachfolger und Erbe des Reflexionsbegriffs der idealistischen Philosophie. Ein mikrologisches Modell der Einheit von emanzi­patorischem Interesse und praktischer Erkenntnis ist die Psychoanalyse als dialogi­ scher Verständigungsprozess zwischen Arzt und Patient. Problematisch ist der Begriff des Gattungswesens, weil er selbst (latent) ein Subjekt oberhalb kommunikativer Verständigung voraussetzt. Eine Transformation von Erkenntniskritik in Gesellschaftstheorie muss aber, wenn sie gelingen soll, alle Voraussetzungen möglicher Erkenntnis in Prozesse und Strukturen gesellschaftlicher Kommunikation auflösen. Deshalb ist H. bald nach Erscheinen der Schrift vom Begriff des Gat-

tungswesens abgerückt, um ihn durch »kommunikatives Handeln« zu ersetzen. – Die Schrift hatte Wirkungen, die weit über die fachphilosophische Debatte hinausgingen und auf die Einzelwissenschaften und sogar auf den politischen Diskurs ausgestrahlt haben. Kritisch hat v. a. die Frage nach den Interessen hinter der Erkenntnis gewirkt, wobei Emanzipation zum normativen Maßstab wurde. H. Brunkhorst Ausgabe: Nach dreißig Jahren. Bemerkungen zu »Erkenntnis und Interesse«, Hbg. 2008 (mit Anhang). Literatur: W. Dallmayr (Hg.), Materialien zu H.’ Erkenntnis und Interesse, Ffm. 1974. – S.  MüllerDoohm (Hg.), Das Interesse der Vernunft. Rückblicke auf das Werk von J. H. seit »Erkenntnis und Interesse«, Ffm. 2000.

Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats EA Ffm. 1992.

Das Werk führt das Programm von H., den philosophischen Begriff einer kommunikativen Vernunft auf seine Tauglichkeit für einzelwissenschaftliche Fragestellungen zu testen, zu einem vorläufigen Abschluss. Als Rechtsphilosoph kritisiert H. entschieden die These einer



Habermas: Faktizität und Geltung 223

Entkopplung von Recht und Demokratie. Dies beinhaltet einerseits basis- und radikaldemokratische Implikationen, andererseits eine polemische Spitze gegen juristische Expertokratien und eine weitere gegen die gegenüber dem parlamentarischen Souverän verselbständigte (Verfassungs-) Gerichtsbarkeit. – Die These des Werks ist: keine Demokratie ohne Rechtsstaat, aber auch keinen Rechtsstaat ohne Demokratie. Vorausgesetzt ist dabei, dass moderne Demokratie nichts anderes ist als die Einwirkung der Gesellschaft auf sich selbst im Medium des Rechts. H. erneuert dabei die Lehre der klassischen politischen Moderne von der Volkssouveränität mit den Mitteln der von ihm und Apel entwickelten Diskurstheorie. Recht vermittelt Faktizität und Geltung. Für die Faktizität ist die funktionalistische Soziologie, für die Geltung die Diskurs­ theorie zuständig. Das Recht selbst bedarf nach H. keiner philosophischen Begründung, sondern ist ein Faktum der Evolution, ausdifferenziert, positiviert  und von Moral getrennt. Begründung und Erzeugung von Rechten und Recht ist allein Sache realer Diskurse, und da es hier um Recht und nicht um Moral geht, ist der Diskurs

auf die Faktizität von stets partikularen Rechtsgenossenschaften ebenso angewiesen wie auf Ergebnisse, die zu bindenden Entscheidungen führen. Menschen- und Bürgerrechte, die die Rechtsgenossen sich wechselseitig zugestehen, ermöglichen ein faires Prozedere bei der Ausgestaltung dieser Rechte und im Alltagsgeschäft einfacher Gesetzgebung. H.’ Begriff der Volkssouveränität ist prozedural und von substanziellen ethischen und moralischen Vorgaben entlastet. An die Stelle einer dem Willen aller fraglos vorgeordneten sittlichen Substanz tritt für ihn die spontane Macht des öffentlichen Lebens einer Zivilgesellschaft, aus der die am Prozedere der Selbstgesetzgebung Beteiligten die wechselnden Motive ihres Engagements schöpfen. Das Begründungsverfahren ist, wie auch in anderen Schriften H.’, nicht hierarchisch (›Letztbegründung‹), sondern in einem zeitlich gestreckten Verfahren selbstbezüglich, zirkulär. Demokratische Legitimität gewinnen die Gesetze durch die Legalität des Verfahrens, in dem sie zuvor schon in Anspruch genommen werden mussten. An die Stelle des naturrechtlichen Liberalismus und der materialen Gerechtigkeitsvorstellungen des Sozialstaats tritt ein

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Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit

prozedurales Rechtsparadigma, das sich seinerseits – ebenfalls zirkulär – im Fortgang der Wissenschaft bewähren muss. – Rezipiert wurde das Werk bislang v.  a. von amerikanischen Juristen und Rechtsphilosophen; in Deutschland stellt es ein gewisses Gegengewicht zur funktionalistisch dominierten Rechtstheorie dar. H. Brunkhorst Literatur: H. Brunkhorst,  So­li­­ darität, Ffm. 2002. – S.  Bes­son/ J.  Louis Marti (Hg.), Deliberative Democracy and its discontents, Aldershot 2006. – R. Forst, Das Recht auf Rechtfertigung, Ffm. 2007.

Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft EA Neuwied 1962.

Es handelt sich hierbei um eine staatstheoretische Abhandlung, die den modernen Begriff der Öffentlichkeit gegen den klassischen Repräsentationsbegriff abgrenzt und in der Idee demokratischer Selbstorganisa­ tion verankert. Die These vom Strukturwandel enthält im selben Begriff einer deformierten, zerfallenen und manipulierten Öffentlichkeit zugleich das normative Ideal eines anderen, demokratischen, engagierten und selbstbewussten öffentlichen

Lebens. – H. hat den Begriff der Öffentlichkeit mit diesem Buch repolitisiert, mit Folgen von der Studentenbewegung bis weit in die Demokratiediskussion und die Kontroverse um die Zivilgesellschaft in den 1980er und 90er Jahren. In H.’ Werk ist der Begriff das staatstheoretische Pendant zum philosophischen der kommunikativen Vernunft und zum soziologischen des kommunikativen Handelns. In seiner späteren Rechtstheorie (→  Faktizität und Geltung) ist die deliberative Öffentlichkeit eines aktiven Publikums das Medium einer auf Dauer gestellten Demo­ kratisierung des Rechtsstaats. Die staatstheoretische Kernthese des Buches ist die von der widerspruchsvollen Institutionalisierung der Öffentlichkeit im bürgerlichen Rechtsstaat. In diesem Staat ist die Öffentlichkeit nach H. nicht länger – wie im feudalen Ständestaat oder auch in der römischen Republik – repräsentativ, d. h. die öffentliche Darstellung fraglos hingenommener Herrschaft. Repräsentation im klassischen Verständnis heißt Darstellung der ganzen Gesellschaft in der Gesellschaft durch ihren herrschenden Teil bzw. die herrschende Oberschicht. Erst mit der vorranglosen Trennung von privater und öffentlicher Au-



Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit 225

tonomie – die die abbildliche Darstellung des Ganzen durch einen Teil ausschließt – wird eine sich selbst produzierende öffentliche  Willensbildung möglich. Die Bindung aller Staatsgewalt an die Herrschaft des öffentlichen Gesetzes enthält bereits die Intention auf eine herrschaftsfreie Ordnung, die niemanden ausschließt und die jeweils dem Gesetz Unterworfenen zu dessen Autoren macht. Mit der Gesetzesherrschaft wird deren Legitimation zur alleinigen Angelegenheit der öffentlichen Diskussion in einem Publikum von Privatleuten. Sie müssen gewaltlos das Richtige ermitteln. Die normative Pointe dieses Begriffs der Öffentlichkeit besteht in der postulierten Einheit von Wille (voluntas) und Vernunft (ratio) und damit in der exakten Gegenposition zu Hobbes’ Satz: »Die Autorität, nicht die Wahrheit, macht das Gesetz« (auctoritas, non veritas facit legem). Widersprüchlich ist nach H. die Institutionalisierung dieses normativen Begriffs der Öffentlichkeit unter dem Vorzeichen bürgerlicher Klassenherrschaft. Privatautonomie wird dann mit Privatbesitz identifiziert, öffentliche Partizipation zum Privileg der Wenigen und ihr Begriff zur Ideologie. Der durch solche Asymmetrien

forcierte Zerfall bürgerlicher Öffentlichkeit führt schließlich zu dem schon von Horkheimer  und Adorno als ›Kulturindustrie‹ beschriebenen Strukturwandel der Öffentlichkeit. Der Sozialstaat realisiert (in Maßen) materiale Gerechtigkeit, aber um den Preis basaler demokratischer Selbstgesetzgebung. – Die Chancen einer möglichen Repolitisierung der ausge­trockneten Öffentlichkeit sieht H. unter Bedingungen bürokratisch organisierter Subsysteme v. a. in Versuchen,  organisationsinterne Öffentlichkeiten zu schaffen, um von dort aus die bürokratischen Strukturen zu demokratisieren. Das ist eine Perspektive, die in den 60er Jahren zur Parole radikaler Studenten, in den 70er Jahren ein Reformprogramm wurde und die mittlerweile von ihrer eigenen Dialektik einer Bürokratisierung durch Partizipation eingeholt wird. H. ist deshalb später von der Idee organisationsinterner Demokratisierung abgerückt und hat in einer Theo­rie spontaner und autonomer Öffentlichkeiten (›Zivilgesellschaft‹) diese wieder stärker an Prozesse legislativer Gesetzgebung zurückgebunden. H. Brunkhorst Ausgabe: Ffm.  1990 (ergänzt um ein Vorwort).

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Habermas: Theorie des kommunkativen Handelns

Literatur: O. Negt/A.  Kluge, Öffentlichkeit und Erfahrung, Ffm. 1972. – C.  Calhoun, H. and the Public Sphere, Cambr. (Mass.) 1992. – B. Peters, Der Sinn von Öffentlichkeit, Ffm. 2007.

Theorie des kommunikativen Handelns Bd.  1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Bd. 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft; EA Ffm. 1981.

H.’ Hauptwerk ist die Übersetzung des philosophischen Problems der Vernunft in Sprache und Theoriedesign der Soziologie. Die Transformation der Philosophie in Begriffe rationalen Handelns, gesellschaftlicher Rationalisierung und funktionaler Differenzierung ist in der Sache selbst begründet. – Einleitend und dann in der ersten Zwischenbetrachtung wird der Vernunftbegriff kommunikations- und sprechakttheoretisch rekonstruiert und mit der kommunikationstheoretischen Wende der Soziologie verbunden, die zur selben Zeit auch Luhmann, der vernunftskeptische Antipode von H., vollzogen hatte. Im Zentrum des ersten Bandes steht die Ausein­ andersetzung mit Max Weber. Der hierarchisch gegliederte, philosophische Totalitätsbegriff, an dessen theoretischer Spitze die ewigen Ideen, in der

Praxis die Könige, Adligen und Philosophen stehen und dessen Basis die vergänglichen Erscheinungsformen der schlechteren Wirklichkeit bilden – in der Praxis: Bauern und Sklaven –, wird selbst als Ergebnis der sozialen Evolution betrachtet. Der Übergang von traditionellen Standes- und Klassengesellschaften zu modernen, auf egalitären Prinzipien errichteten Gesellschaften verändert auch die alten philosophischen Hierarchien. Sie verwandeln sich (mit Weber) in eine Vielzahl autonomer Wertsphären. Diese sind die gesellschaftliche Quelle kommunikativer Ratio­ nalisierung, des Wachstums der Produktivkräfte, der Wissenschaft ebenso wie der egalitären Verallgemeinerung des moralischen Standpunkts, des professionellen Rechts ebenso wie der avantgardistischen Kunst. Da der an sich egalitär strukturierte (niemand ist von der Kunst, der Wissenschaft, der Politik usw. prinzipiell, aus Gründen seiner Klassenlage und Geburt, ausgeschlossen) Rationalisierungsprozess unter Bedingungen sozialer Selektion (kapitalistischer Klassenherrschaft, Herrschaft von Verwaltungseliten) stattfindet, kommt es zu sozialen Pathologien, die Legitimationsprobleme erzeugen und zu Krisen, Reformen,



Habermas: Theorie des kommunkativen Handelns 227

Revolutionen und sozialen Katastrophen führen können. Vor allem die kapitalistische Marktwirtschaft und der bürokra­ tische Staatsapparat sind inhärent katastrophische Systeme, auch wenn ihre Produktivi­tät und Stabilisierungskraft für den Fortbestand moderner Gesellschaften vorerst unerlässlich zu sein scheinen. – Im zweiten Band wird (im Anschluss an Durkheim und Mead) zunächst gezeigt, dass der Begriff der ›kommunikativen Vernunft‹, den H. in Einleitung und erster Zwischenbetrachtung philosophisch-abstrakt  expliziert hatte, der sozialen Integration der Gesellschaft zugrunde liegt, der er entstammt und durch die er zum »existierenden Begriff« (Hegel) wird. Man könnte hier mit Marx von einem Aufstieg vom Abstrakten zum Konkreten sprechen. Das gesell­ schaftliche Operationsfeld der kommunikativen Vernunft ist die ›soziale Lebenswelt‹, die dann in der zweiten Zwischenbetrachtung und (im kritischen Anschluss an Parsons) vom Begriff ›System‹ analytisch getrennt wird. Beide Begriffe gehören empirisch zusammen, sind Gesellschaften doch »systemisch stabilisierte Handlungszusammenhänge sozial integrierter Gruppen«. Während die Integration von So-

zialsystemen sich allein an der gelungenen Umweltanpassung bemisst  (Systemintegration), bemisst sich die Integration sozialer Gruppen negativ an den Verletzungen ihrer Integrität, am sense of injustice (Barrington Moore), an Ausbeutung, Unterdrückung und Erniedrigung. Die Begriffe ›Lebensweltpathologie‹ und ›Legitimationskrise‹ markieren die Belastungsgrenzen sozialer Integration. Damit erneuert H. das Programm der marxistischen Theorie sozialer Evolution, die »systemische Stabilisierung« ans Wachstum der Produktivkräfte und »normative Lernprozesse der Gesellschaft« an die Geschichte der Klassenkämpfe gekoppelt hatte. Von Letzterer, von so­ zialen Kämpfen nämlich, hängt in der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft ab, ob die Medien Geld, Macht und Recht auf Instrumente der Kolonialisierung der Lebenswelt, der sozialen Klassenherrschaft, politischen Unterdrückung  und kulturellen Hegemonie eingeschränkt werden oder ob sie dem Zugriff von System und Herrschaft auf die soziale Lebenswelt normative Grenzen ziehen und dadurch deren egalitäre Selbstbestimmung ermöglichen. – Während andere Werke von H. seit den 1990er Jahren breit rezipiert

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Habermas: Die Zukunft der menschlichen Natur

wurden, verebbte die zunächst sehr breite und globale Rezep­ tion der Theorie des kommunikativen Handelns seit den späten 1980er Jahren. H. Brunkhorst Ausgabe: Ffm. 2006 (ND). Literatur: N. Luhmann, Autopoiesis, Handlung und kommunikative Verständigung, in: Zeitschrift für Soziologie 4, 1982, 366–279. – H.  Brunkhorst, Paradigmenwechsel und Theoriendynamik der kritischen Theorie der Gesellschaft, in: Soziale Welt 34, 1983, 22–56. – A.  Nassehi, Der soziologische Diskurs der Moderne, Ffm. 2006. – H. Brunkhorst/R. Kreide/C. Lafont (Hg.), H.-Handbuch, Stgt. 2009.

Die Zukunft der mensch­ lichen Natur. Auf dem Weg ­ zu einer liberalen Eugenik EA Ffm. 2001.

In seinem Werk versucht H. einen moralphilosophisch angemessenen Umgang mit den aktuellen und prospektiven Entwicklungen der Gentechnik zu finden. Ausgangspunkt bildet dabei H.’ Selbstverständnis als postmetaphysischer Philosoph. H. sieht einen solchen Ansatz durch Fragen nach dem richtigen Leben, wie sie die Gentechnik aufwirft, mit besonderen Herausforderungen konfrontiert. – Der kürzere erste Teil des Werks widmet sich der

Schilderung des postmetaphysischen Ausgangspunktes und bildet damit gleichzeitig die theorieimmanente Problemexposition, auf die der ausführlichere zweite Teil eine Antwort zu formulieren sucht. Die postmetaphysische praktische Philosophie versteht sich als Endpunkt eines aufklärerischen Loslösungsprozesses, der Fragen gesellschaftlicher Organisation nicht länger an Anschauungen religiöser oder weltanschaulicher Gemeinschaften knüpft. Charakteristisch für diesen Ansatz ist eine strenge Trennung von Fragen der Ethik und Fragen der Moral. Unter Letzteren werden Fragen des gerechten Zusammenlebens verstanden, die sich mit den Mitteln der Philosophie ratio­ nal entscheiden lassen. Erstere dagegen umfassen Fragen des guten Lebens, für die eine universale Beantwortung nicht mehr möglich ist, da eine solche nur auf Basis bestimmter Lebensweisen ge­troffen werden könnte. Partikulare Lebensweisen dürfen jedoch keinen Verbindlichkeitsanspruch mehr erheben: »Gerade in Fragen, die für uns die größte Relevanz haben, begibt [die Philosophie] sich auf eine Metaebene und untersucht nur mehr die Formeigenschaften von Selbstverständigungsprozessen, ohne



Habermas: Die Zukunft der menschlichen Natur 229

zu den Inhalten selbst Stellung zu nehmen.« – Dies trifft auf den ersten Blick auf Fragen der Gentechnik zu, da H. diese als Fragen der Gattungsethik, also Fragen des guten oder richtigen Lebens der Gattung Mensch versteht. In Fragen der Gentechnik möchte H. die selbst auferlegte philosophische Zurückhaltung jedoch aufgeben, da die mit Verbindlichkeitsanspruch formulier­bare Moral selbst wiederum in ei­ner inhaltlich minimalen Ethik der Gattung  gegründet ist. Dieses fundierende gattungsethi­ sche Selbstverständnis sieht H. durch  genetische Manipula­ tionen  gefährdet, da die einst­ mals na­ turgegebene Ausstattung in den Bereich menschlicher Verfügbarkeit rückt.  In einem Durchbrechen der Grenze zwischen Hergestelltem und von Natur aus Gewordenem sieht H. die Gefahr einer Selbstinstrumentalisierung der Gattung, die ihre kommunikativ strukturierte Lebensform untergraben könnte. Problematisch ist dies in erster Linie für Praxen der Verantwortungszuschreibung und der Autorschaft über das eigene Leben. Es entsteht ein besonderer, irreversibler Paternalismus, indem Angehörige der älteren Generation wohlmeinend, aber irreversibel über

die genetische Ausstattung der Jüngeren entscheiden, womit Letztere in unumkehrbarer Weise von Ersteren abhängig sind. – Während eine negative Eugenik, die auf die Heilung von Krankheiten zielt, nach H. zulässig sein kann, läuft die für die Gegenwart diagnostizierte abnehmende Sensibilität für die menschliche Natur Gefahr, eine liberale Eugenik der individuellen Entscheidung pro oder contra Verbesserung der genetischen Ausstattung und damit das sukzessive Unterlaufen der Gattungsnatur vorzubereiten. – Unmittelbar im Anschluss an die Formulierung von H.’ Position entwickelte sich insbesondere im deutschsprachigen Raum eine kontroverse und breite Rezeption der H.’schen Thesen. Auf erste Einwände reagiert H. im später hinzugefügten Postscriptum. An H.’ Werk lässt sich paradigmatisch erkennen, vor welche Herausforderungen sich formal-prozedurale ethische Ansätze in der Auseinandersetzung um materiale Konflikte gestellt sehen. D. Düber Ausgabe: Ffm. 2005 (erw. um ein Postscriptum von 2001/02). Literatur: R. Spaemann, H. über Bioethik, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 50, 2002, 105–109. – L.  Siep, Moral und Gattungsethik, in: ebd., 111–120. – D.  Birn-

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Hare: The Language of Morals

bacher, H.’ ehrgeiziges Beweisziel – erreicht oder verfehlt?, in: ebd., 121–136.

Richard Mervyn Hare *  21. 3. 1919 in Backwell (bei Bristol), †  29. 1. 2002 in Ewelme (Oxfordshire); einer der einflussreichsten Vertreter der analytischen Moralphilosophie.

The Language of Morals (engl.; Die Sprache der Moral), EA Oxfd. 1952.

Die Abhandlung zu grundlegenden Fragen der Moralphilosophie verfährt metaethisch, untersucht also, welche Bedeutung moralische Urteile haben. Der Leitgedanke ist, dass moralische Urteile prinzipiellen und handlungsleitenden Charakter haben; sie sind universell und präskriptiv. – Teil  1 behandelt Imperative. Imperative sind paradigmatisch präskriptiv und können zueinander und zu Indikativen in logischen Beziehungen stehen, folgen aber nie allein aus Indikativen; oft folgen sie, mehr oder weniger direkt, aus Prinzipien. – Teil 2 untersucht Werturteile. Auch Werturteile sind präskriptiv, sie empfehlen etwas. Allerdings tun sie dies nicht von ungefähr, sondern aufgrund von Tatsachen. Werturteile haben also

auch deskriptiven Gehalt und sind insofern universell: Wenn wir ein Bild, weil es die und die Eigenschaften hat, ›gut‹ nennen, legen wir uns auch darauf fest, ein anderes Bild, das dem ersten in allen relevanten Eigenschaften gleicht, ›gut‹ zu nennen. – Teil  3 nimmt ›Sollens­ urteile‹ in den Blick, also Urteile darüber, was zu tun richtig oder geboten ist, und bindet sie definitorisch an Werturteile an. Wenn wir in einer gegebenen Situation jemandem sagen, er solle die Wahrheit sagen, fordern wir ihn auf, die Wahrheit zu sagen. Dies tun wir wiederum aufgrund von Tatsachen, so dass wir uns mit dem Urteil auch darauf festlegen, bezüglich einer anderen Situation, die der gegebenen in allen relevanten Hinsichten gleicht, der handelnden Person zu sagen, sie solle die Wahrheit sagen. Das Urteil ›Du sollst die Wahrheit sagen‹ ist also ebenfalls präskriptiv und universell. Präskriptiv und universell ist allerdings auch manch ein Urteil, das in den meisten Kontexten kein moralisches ist, etwa ›Du sollst ihr Zyankali verabreichen‹. Moralische Urteile unterscheiden sich von anderen universellen Vorschriften dadurch, dass sie Urteile über »das Verhalten von Menschen als Menschen



Hare: Moral Thinking 231

(und nicht als Giftmörder oder Architekten […])« sind. Wenn wir in einer gegebenen Situation jemandem sagen, er solle die Wahrheit sagen, fordern wir deshalb auch für den Fall, dass wir in eine solche Situa­tion geraten, uns selbst auf, die Wahrheit zu sagen. Allerdings gibt es nichts, was uns darauf festlegen würde, überhaupt moralische Urteile zu fällen. Moralische Urteile stehen im Dienste von Entscheidungen; zugleich sind Entscheidungen ihr letztes Fundament. – H.s Werk wurde zum Locus classicus des Präskriptivismus (der Lehre, dass moralische Urteile wesentlich präskriptiv sind) und der Meta­ ethik insgesamt. Es ist ein Paradigma der sprach­analytischen Methode und wirkte insbesondere als einer ihrer frühesten nicht-trivialen Beiträge zur prak­tischen Philosophie bahnbrechend. Der Nachweis, dass auch Vorschriften logischen Regeln unterliegen und dass mo­ralische Entscheidungen we­ sentlich prinzipiellen Charakter haben, machte präskriptivistische Analysen des moralischen Urteilens salonfähig, indem er sie vom Ruch des Irrationalismus zu befreien half. Die Frage nach der motivationalen Kraft moralischer Urteile beherrscht die Forschung heute in den moralphilosophischen

Diskussionen um Subjektivismus und Objektivismus, Rea­ lismus, Ex- vs. Internalismus und entscheidungstheoretische Versuche der Normenbegründung. C. Fehige/U. Wessels Ausgaben: Oxfd. 1961 (geringfügig korrigierte Fassung). – Dt., Ü.: P. v. Morstein, Ffm. 1972. Literatur: S. Toulmin, Discussion, in: Philosophy 29, 1954. – G.  Grewendorf/G. Meggle (Hg.), Seminar: Sprache und Ethik, Ffm. 1974. – H.-U. Hoche, Elemente einer Anatomie der Verpflichtung, Fbg. 1992.

Moral Thinking: Its Levels, Method, and Point

(engl.; Moralisches Denken: seine Ebenen, seine Methode, sein Witz), EA Oxfd. 1981.

H.s wichtigste Schrift entwickelt die Argumentation weiter, die letztlich auf der Metaethik von →  The Language of Morals beruht. Herzstück der Schrift ist die sprachanalytische und entscheidungstheoretische Begründung des Utilitarismus. Stellt jemand die moralische Frage, was in einer Situation geschehen soll, so stellt er die universelle Wollensfrage: Von was will er, dass es in allen ­Situationen geschieht, die sich höchstens in der Rollenver­ teilung von der vorliegenden

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Hare: Moral Thinking

unterscheiden? Hinsichtlich jeder einzelnen dieser Situationsvarianten wird er zunächst wollen, dass der Wille jeweils der Person geschieht, deren Rolle er in der Variante innehat. Sein universelles Wollen hinsichtlich aller Varianten kann dann, so er rational ist, nur das sein, das seine Präferenzen hinsichtlich der einzelnen Varianten insgesamt maximal befriedigt. Da diese seine Präferenzen ­hinsichtlich der einzelnen Varianten jedoch die Präferenzen aller spiegeln, wird er die Präferenzen aller maximal befriedigen wollen. Der moralische Denker ist somit Utilitarist, und bereits die Analyse der Bedeutung moralischer Urteile legt ihn darauf fest. Dieses Argument wird in den Kapiteln 1, 5 und 6 entwickelt. Kapitel  1 präsentiert die metaethischen Prämissen: Moralische Urteile sind universell und präskriptiv (vgl. The Language of Morals). Kapitel  5 und  6 nehmen die verschiedenen Präferenzen in den Blick, Kapitel 5 die vormoralischen Präferenzen hinsichtlich der einzelnen Situationsvarianten und Kapitel  6 die universelle Präferenz für die maximale Befriedigung der Präferenzen aller. Flankiert wird das Argument durch eine Kritik konkurrierender Metaethiken (Kap. 2, 4, 10 und 12),

ein Argument dafür, dass eine moralische Disposition dem, der sie hat, zum Vorteil gereicht (Kap. 11), und eine Theorie des interpersonellen Nutzenvergleichs (Kap. 7). Diese Theorie überführt inter- in intra-personelle Vergleiche: So wie wir ­unsere gegenwärtigen Präferenzen mit unseren vergan­ genen und zukünftigen hinsichtlich ihrer Stärke vergleichen können, so können wir auch unsere gegenwärtigen  hinsichtlich ihrer Stärke mit unseren erweiterten Präferenzen vergleichen, d. h. mit unseren Präferenzen für das, was in dem Fall geschehen  möge, dass wir in den  Schuhen eines anderen stecken. Den Vorwürfen der Impraktikabilität und der Kontraintuitivität des Utilitarismus begegnet H. mit einer Theorie, die zwei Ebenen des moralischen Denkens, die intuitive und die kritische oder utilitaristische, unterscheidet (Kap.  2 und 3). Das intuitive Denken orientiert sich an Prima-facie-Prinzipien und hat die  Funktion, unter Normalbedingungen eine brauchbare Annäherung an die Resultate des kritischen Denkens zu liefern, während das kritische Denken die Funktion hat, die Prima-facie-Prinzipien gemäß ihres Akzeptanznutzens zu wählen und dort, wo eine



Hart: The Concept of Law 233

Orientierung an ihnen in die Irre führen würde, das intuitive Denken zu korrigieren. Die gängigsten Bedenken gegen den Utilitarismus versucht H. als terminologische Varianten desselben oder als utilitaristisch rechtfertigbare Komponenten der intuitiven Ebene darzustellen (Kap.  8 und 9). – H.s Moral Thinking ist die ausgereifteste Version und klarste Darstellung des ›universellen Präskriptivismus‹; ihre beiden zentralen Anliegen,  Utilitarismus-Begründung und ZweiEbenen-Modell, fanden eine umfangreiche und kontroverse Resonanz. H.s Anspruch, eine im Wesentlichen kantische Grundlegung des Utilitarismus vorgelegt zu haben, ist umstritten. Das Werk zählt in jedem Fall zu den großen Schriften der Moralphilosophie und insbesondere – zusammen mit denen Benthams, Mills und Sidgwicks – des Utilitarismus. C. Fehige/U. Wessels Ausgabe: Dt., Ü.: C.  Fehige/ G. Meggle, Ffm. 1992. Literatur: D. Seanor/N. Fotion (Hg.), H. and Critics, Oxfd. 1988. – C. Fehige/G. Meggle (Hg.), Zum moralischen Denken, Ffm. 1995. – O. Hallich, R. H.s Moralphilosophie, Fbg. 2000.

Herbert Lionel Adolphus Hart *  18. 7. 1907 in Harrogate, † 19. 12. 1992 in Oxford; wichtigster Vertreter des zeitgenössischen Rechtspositivismus.

The Concept of Law (engl.; Der Begriff des Rechts), EA Oxfd. 1961.

H.s in dieser Schrift entwickelte sprachanalytische  Rechts­ theorie bietet »eher eine Erläuterung des Begriffs des Rechts, als eine Definition des Rechts«. – Verbindlichkeit inklusive Sanktionen, die Verbindung mit der Moral sowie den Charakter gesellschaftlicher Regeln bezeichnet H. als die drei Komponenten des Rechts. Daher will H. das Recht nicht per  ­ genus et differentiam von den sozialen Regeln aus definieren, da sonst der »innere Aspekt« der Rechtsbefolgung übersehen  würde. H. weist ferner die klassische Dichotomie der Rechtsphilosophie zwischen Imperativtheorie und Naturrecht zurück und sieht im Recht ein zweistufiges Regelsystem. Gegen Austins Imperativtheorie unterscheidet H. den dauerhaften Befehl des Rechts von der momentanen, Gehorsam erzwingenden Drohung, auch wenn diese von einem Gesetzgeber kommt.

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Hart: The Concept of Law

Vielmehr ist der Gesetzgeber nach H. selber Pflichten unterworfen; das Gewohnheitsrecht streitet ihm den Titel des alleinigen Autors des Rechts ab. Zudem besteht das Recht für H. nicht nur aus Handlungsgeboten, sondern ermöglicht auch den freiwilligen Erwerb mancher Rechte und Pflichten, etwa durch Eheschließung oder Testament. H. sieht »das Recht als die Vereinigung von primären und sekundären Regeln« (Kap.  5) an. Die primären Regeln verpflichten die Bürger zu bestimmten Handlungen bzw. deren Unterlassung, ob aus freiwilliger Kooperationsbereitschaft oder wegen angedrohter Strafen. Primitive Gesellschaften kennen nach H. ausschließlich solche Regeln. Diese bleiben jedoch defizitär, denn: 1. bleiben ihr Inhalt und Anwendungsbereich immer unsicher; 2.  sind sie statisch, d.  h. sie können sich neuen Umständen nicht anpassen; 3.  sagen sie nicht, wie zu beurteilen ist, wann sie verletzt werden: sie regeln nicht ihre Auslegung. Darum nehmen entwickelte Gesellschaften  H. zufolge sekundäre Regeln (z. B. Verfassungsregeln) an, die die Befugnis regeln, primäre Regeln zu erlassen. Zu den sekundären Regeln gehören: 1. Anerkennungsregeln, die Kriterien

für die Geltung der primären Regeln nennen, 2.  Veränderungsregeln, die ein Prozedere für die Veränderung der primären Regeln vorschreiben, 3.  Verurteilungsregeln, die bestimmen, wie wer wegen welcher Rechtsverletzungen  von wem zu verurteilen ist. H. weist auf zwei weitere Merkmale jeder Rechtsordnung hin: 1.  besteht sie aus der  öffentlichen Anerkennung der Regeln durch Behörden und Gesellschaft sowie aus dem privaten Gehorsam der Individuen. Fehlte einer dieser Aspekte, so wäre eine »Pathologie des Rechts« – etwa eine ­Revolution oder eine Besatzung – zu dia­ gnostizieren. 2.  lässt jedes Gesetz einen begrenzten Spielraum für das Ermessen der Behörde, da »manche Ähnlichkeiten bzw. Unterschiede zwischen den Einzelfällen nur in Ansehung sozialer Ziele sichtbar« sind. Diese antiformalistisch gemeinte These wurde von Dworkin kritisiert: Den primären übergeordnet seien nicht nur die sekundären Regeln; H.  erkennt minimale Forderungen des Naturrechts als überpositiv an; sie erlauben es, bestehendes Recht zu kritisieren. Dazu gehört die Gerechtigkeit der Verteilung von Nutzen und Lasten, d. h. die unparteiliche Berücksich-



Hartmann: Der Aufbau der realen Welt 235

tigung aller Betroffenen. H. unterscheidet dabei das Recht streng von der Moral. Das Moralische im Recht will er auf die conditio humana stützen, die er als teleologisch ansieht: Leben ist ein von allen Menschen geteiltes Ziel, das Koexistenz aller fordert. Der minimale Inhalt des traditionellen Naturrechts H.s lässt sich dann unter ­Berücksichtigung anthropo­ logischer Merkmale bestimmen: Verletzbarkeit, ungefähre Gleichheit der körperlichen Verfassung, beschränkter Altruismus, begrenzte Ressourcen, Neigung, die Rechtsordnung wegen ihrer Vorteile zu wollen, sich aber den entsprechenden Lasten zu entziehen. Damit erweist sich H. als der Position Dworkins näher, als dieser behauptet. J.-C. Merle Ausgaben: Oxfd.  1997. – Dt., Ffm. 2011. Literatur: M. Pawlik, Die reine Rechtslehre und die Rechtstheorie H. L. A. H.s, Bln. 1993. – N. MacCormick, H. L. A. H., Stanford 2 2008.

Nicolai Hartmann * 20. 2. 1882 in Riga, † 9. 10. 1950 in Göttingen; bedeutender Systematiker und wichtigster Vertreter der Neuen Ontologie des 20. Jh.s.

Der Aufbau der realen Welt. Grundriß der allgemeinen Kategorienlehre EA Bln. 1940.

Das Werk behandelt H.s Grundlegung der Kategorienlehre. Sein Gegenstand sind die Grundstrukturen des Seienden, die allgemeinsten Kategorien, die Seiendes überhaupt (reales wie irreales) bestimmen. Diese fundamentalen Kategori­en analysiert H. hier am Realen, und zwar unter den Aspek­ten der Einheit und der Binnen­ gliederung der Realsphäre. – Die Realwelt gliedert sich kategorial in vier unterschiedene, aufeinander aufruhende Schichten (Anorganisches, Organisches, Psychisches, Geistiges), wobei jeweils die höhere Schicht die niederen voraussetzt. In jeder treten je spezifische Kategorien auf; zugleich kehren in allen Schichten die fundamentalen Strukturprinzipien wieder. – Die Funda­mentalkategorien treten als Gegensatzpaare auf (Einheit-Mannigfaltigkeit, Ele­ ment-Gefü­ge, Determination-­ Dependenz etc.). Sie sind elementare Kategorien von geringster Inhaltlichkeit. Die Seinsgegensätze bilden ferner einen durchgehenden Implikationszusammenhang, so dass sie das Konkrete stets gemein-

236

Hartmann: Der Aufbau der realen Welt

sam bestimmen. Einmal implizieren die beiden Glieder eines jeden Gegensatzes einander, also Einheit und Mannigfaltigkeit usf. (»innere Bezogenheit«), ferner aber implizieren auch alle Gegensatzpaare einander, etwa Einheit-Mannigfaltigkeit und Element-Gefüge (»äußere Bezogenheit«). Bei ihrer Wiederkehr in den verschiedenen Schichten treten die elementaren Gegensätze mit dem in den jeweiligen Schichten neu auftretenden kategorialen Gehalt in einen Verband ein. Dadurch erfahren sie selbst eine Abwandlung und Spezifikation. So spezifiziert sich z. B. die elementare Kategorie der Determination zu je schichtspezifischen Determinationstypen (Naturkausalität, spezifische  Determinationsformen des Organischen, psychische Determination wie z. B. die Motivation, geistige Determination wie etwa historische Beeinflussung). Die Kategorialanalyse hat die kategoriale Verschiedenheit der Schichten (anhand der Abwandlung) wie auch deren kategoriale Verbundenheit (anhand der Wiederkehr) aufzuweisen; sie deckt damit den kategorialen Aufbau der Realsphäre auf. Innerhalb der Kategorienlehre H.s begründet die Schichtenlehre die Möglichkeit von Re-

gionalontologien, welche  die einzelnen Realbereiche auf ihre spezifischen Kategorien hin untersuchen. – Ein besonderer Teil bringt die Lehre von den »kategorialen Gesetzen«. Danach stehen die Kategorien selbst unter einer kategorialen Gesetzlichkeit. Die Gesetze besagen: 1.  Kategorien sind nicht vom Konkreten, für das sie gelten, ablösbar. Ihre Bestimmungsfunktion gegenüber dem zugehörigen Konkreten ist vollständig und unverbrüchlich. 2. Bestimmtheit haben sie allein im Verband der ganzen Kategorienschicht, der sie angehören und innerhalb derer sie einander wechselseitig bedingen. 3.  Die Kategorien der höheren Schicht enthalten als Elemente viele der niederen, aber nicht umgekehrt. In der Wiederkehr wandeln sich die niederen Kategorien durch das kategorial Spezifische der höheren Schicht (»Novum«) ab, so dass zwischen den Schichten eine Kategoriendistanz besteht. 4. Die Abhängigkeit ist einseitig eine solche der höheren kategorialen Schicht von der niederen; als partiale lässt sie Spielraum für eine Eigenständigkeit der höheren Kategorien. – Abgeschlossen wird das Werk durch eine Weiterführung und Präzisierung von H.s Methodenlehre der Philosophie (vgl.



Hartmann: Ethik 237

seine Systematische Methode, 1912). – Das Werk hat, v. a. durch das Schichtentheorem, eine starke Wirkung gehabt. In den 1950er und 60er Jahren hat die Diskussion der Grundlagen der Naturwissenschaften und der Biologie sich intensiv auf H.s Kategorienlehre bezogen. Nachdem diese später in den Hintergrund geraten war, findet sie gegenwärtig erneut großes Interesse, wie eine Reihe von Publikationen sowie etliche Tagungen und internationale Kongresse seit Beginn dieses Jh.s zeigen. S. Nachtsheim Ausgabe: Bln. 31964. Literatur: M. Brelage, Die Schichtenlehre N.  H.s, in: Studium Generale 9, 1956, 197–306. – R. Breil, Kritik und System, Wzbg. 1996. – A.  Peruzzi, H.’s stratified reality, in: Axiomathes 12, 2002, 227–260.

Ethik EA Bln. 1926.

Von Schelers Idee einer materialen Wertethik angeregt, gibt H. hier die systematische Durchführung einer solchen Ethik. Gegen Kants Formalismus gerichtet, nimmt sie Motive von Platon, Aristoteles, Nietzsche, aber auch Kant selbst auf und versucht, die Theorie apriorischen Sollens (Kant) mit der

Theorie einer Pluralität von Werten (Aristoteles, Nietzsche) zu vereinigen. Das Werk beruht sachlich auf H.s Wendung zur Ontologie; es setzt sowohl den Begriff des idealen Seins als auch Lehrstücke der Realontologie voraus. Einer Phänomenbeschreibung und Darlegung der Hauptmerkmale ethischer Werte (1.  Teil) sowie kritischen Würdigung der Hauptpositionen (2.  Teil) folgt im 3.  Teil die Behandlung des Freiheitsproblems. – Die Sittlichkeit ist in Werten grundgelegt. Deren Relativität sucht H. auszuschließen, indem er sie ontologisch fasst und ihnen ontologisch ideales Ansichsein zuspricht: Sie sind überzeitlich und allgemein geltende Normen, zwar auf reale Handlungen bezogen, aber in ihrem Anspruch nicht durch den empirischen Wechsel der Handlungssituationen bedingt. Erfasst werden sie in einem apriorischen Wertgefühl. – Der geschichtliche Wandel der Moralvorstellungen widerstreitet dem Status der Werte nicht. Denn er ist nicht ein solcher der Werte selbst, sondern der Aufgeschlossenheit des Wertfühlens. H. erklärt ihn so: Das Wertfühlen ist je nach den historisch-kulturellen Umständen für je verschiedene Wertgruppen aufgeschlossen. Daher

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Hartmann: Ethik

erfasst es immer nur einen Ausschnitt der Wertsphäre, so dass in der Geschichte stets neue Wertgruppen ins Bewusstsein treten und bevorzugt werden. – Ethische Werte vermögen nicht von sich aus die reale geschichtliche Welt zu bestimmen. Zu ihrer Durchsetzung bedürfen sie des personalen Geistes, der sich für sie entscheidet. Weiterhin bilden die Werte im sittlichen Verhalten nicht den unmittelbaren Gegenstand des Strebens (sind nicht intendiert), sondern sie haften an den Strebensakten (sind Werte der Intention). Dabei ist der oberste Wert, der des Guten, inhaltlich nicht unmittelbar angebbar, weil er nicht in einer einzelnen Tugend liegt. Vielmehr besteht das Gute im Vorziehen des höheren Wertes. In der inhaltlichen Ausführung der Werttafel hält H. sich an die antike Ethik, wobei v. a. das aristotelische Prinzip der Mitte (mesotēs) hervortritt, weiterhin an die christliche Ethik sowie an moderne Autoren wie v. a. Nietzsche. – Wegen der Wertmannigfaltigkeit gibt es neben dem Konflikt zwischen Wert und Unwert auch einen solchen zwischen Werten. Daher stellt sich das Problem des gesetzlichen Zusammenhangs der Werte. Es wird unter den Aspekten des Verhältnisses der

Werte und einer Wertrangordnung untersucht. – Eingehend behandelt H. dann unter Bezugnahme auf Kant das Problem der Willensfreiheit (in Anspielung auf Kant überschreibt er das Kapitel mit »Metaphysik der Sitten«). Dieses ist ein doppeltes: Zum einen muss in die Realwelt trotz ihrer durchgängigen Determiniertheit eine zusätzliche Determinante im Sinne positiver Freiheit eintreten können, zum anderen muss der Mensch sich für oder gegen Werte entscheiden können. Die Lösung des ersten Problems findet sich in der theoretischen Ontologie, denn die Theorie der kategorialen Gesetze zeigt, dass der Kausalnexus des natürlichen Geschehens (final) überformt werden kann. Das zweite ist nicht völlig lösbar. Aber es genügt nach H., die Freiheit des Subjekts gegenüber den Werten als eine negative fassen zu können. – Das Werk hat eine außerordentliche Beachtung erfahren und wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt. Es gilt in der gegenwärtigen Ethik-Diskussion als Musterbeispiel eines ›ethischen Realismus‹. S. Nachtsheim Ausgabe: Bln.  2011 (ND von 2 1935). Literatur: H.  M. Baumgartner, Die Unbedingtheit des Sittlichen,



Hayek: Law, Legislation, and Liberty 239

Mchn. 1962. – A. J. Buch, Wert, Wertbewußtsein, Wertgeltung, Bonn 1982. – M.-W. Kim, Grundlegung der Werte in der Lebenswelt des Menschen, Marburg 2000.

Friedrich August von Hayek * 8. 5. 1899 in Wien, † 23. 3. 1992 in Freiburg i.Br.; Ökonom, Vertreter des Neoliberalismus.

Law, Legislation, and ­Liberty. A New Statement of the Liberal Principles of Justice and Political Economy

(engl.; Recht, Gesetzgebung und Freiheit. Eine neue Darstellung der liberalen Prinzipien der Gerechtigkeit und der politischen Ökonomie), EA Ldn.  1973–79 (Bd.  1: Rules and Order, 1973; Bd.  2: The Mirage of Social Justice, 1976; Bd.  3: The Political Order of a Free People, 1979).

H.s dreibändiges Werk ist ein  Versuch wissenschaftlicher Auf­klärung. Es zielt darauf ab, den Bürgern moderner Demokratien die gesellschaftlichen Funktionszusammenhänge sowie jene intellektuellen und institutionellen Voraussetzungen aufzuzeigen, denen zivilisatorische Errungenschaften zu verdanken sind und ohne deren Verständnis weiterer Fortschritt immer weniger wahrscheinlich wird. – Im 1. Band unter-

scheidet H. zwei Arten gesellschaftlicher Ordnung. Die eine kommt mithilfe des Rechts zustande, die andere durch Befehl: Eine »spontane Ordnung« ist für H. das Ergebnis regelkoordinierter Eigenbewegungen, während in einer »Anordnung« den fremdbestimmten Individuen das Ergebnis von außen vorgegeben wird. Eine »Anordnung« kann ferner nur das Wissen der Befehlsinstanz widerspiegeln, während in  eine »spontane Ordnung« das Wissen aller Teilnehmer des ge­ sellschaftlichen Koordinationsprozesses eingeht. H. legt dar, dass eine spontane Ordnung keineswegs evolutio­ närer Regeln bedarf, sondern durchaus auch durch künstliche Regeln zustande kommen kann, wie sie im Gesetzgebungsverfahren parlamentarischer Demokratien festgelegt werden. Für H. gibt es keinen Automatismus, aufgrund dessen bewusst gestaltende Politik notwendig in Totalitarismus münden müsste, aber es gibt Gefahren, deren man sich bewusst sein sollte, wenn man die gesellschaftlich tradierten Bedingungen für zivilisatorischen Fortschritt erhalten und weiterentwickeln will. Von daher wird es verständlich, dass sich der 2.  Band mit den grundlegenden Ideen, der 3. mit

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Hayek: Law, Legislation, and Liberty

den  grundlegenden  Verfahren demokratischer Gesetzgebung beschäftigt. – Für das Selbstund Welt­verständnis der Bürger moderner Gesellschaften ist die Kategorie der Gerechtigkeit zentral. H. unterscheidet hier zwei Varianten: »Verfahrensgerechtigkeit« bedeutet,  Regeln ohne Ansehen der Person anzuwenden, d. h. Ungleiches gleich zu  behandeln. »Ergebnisgerechtigkeit« hingegen  kommt in der auf Platon zurückgehenden  For­ derung zum Ausdruck, Ungleiches ungleich zu behandeln, um gleiche Ergebnisse herbeizuführen. Der kategoriale Unterschied beider Begriffe zeigt sich nach H. besonders deutlich im Bereich der Wirtschaftspolitik: Für H. ist der Markt ein »Wettbewerbsspiel«, in dem der Erfolg bzw. Misserfolg des einzelnen Marktteilnehmers nicht nur vom eigenen Fleiß und Können, sondern auch von Faktoren abhängt, die er nicht kontrollieren, ja oft nicht einmal beeinflussen kann. In diesem Sinn gleicht der Markt einem Glücksspiel, dessen sozialer Sinn allerdings darin besteht, nicht nur den unmittelbaren Gewinnern,  sondern – via Innovation und Imitation – der Allgemeinheit zu nützen. Damit der Markt zu einem Positivsummenspiel werden kann,

müssen die entsprechenden »Spielregeln« eingehalten werden. Für H. ist Verfahrensgerechtigkeit mithin eine conditio sine qua non, ohne die jener  allmähliche Wachstumsprozess nicht möglich gewesen wäre, dem gerade die breiten Bevölkerungsschichten westlicher  Gesellschaften ihre historisch unübertroffenen Lebenschancen verdanken. Dass sich die Menschen auf ein solches »Marktspiel« umso leichter einlassen können, wenn etwaige Verlierer nicht ins Bodenlose fallen, sondern durch gesellschaftliche Sicherungssysteme aufgefangen werden, betont H. ausdrücklich. Aus seiner Sicht wird der Wettbewerb durch eine marktkonforme Sozialpolitik erst richtig produktiv und gerade dadurch auch für Demokratien akzeptabel. Orientiert sich die Sozialpolitik jedoch an der Vorstellung einer  Ergebnisgerechtigkeit, dann eliminiert sie die Zufallselemente und setzt an die Stelle unverdienten Glücks, dem im Wettbewerb eine wichtige Funktion zukommt, eine Einkommensverteilung nach Verdienst. Für H. tendiert eine solche Politik dazu, den Wettbewerb und damit letztlich den gesellschaftlichen Fortschrittsprozess zu blockieren, worunter gerade die Ärmsten der



Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften 241

Armen zu leiden hätten. – Der 3. Band setzt sich mit der Frage auseinander, wie die institutionellen Anreize für Politiker beschaffen sein müssten, um eine stärker gemeinwohlförderliche Gesetzgebung zu ermöglichen. H. schlägt dazu ein parlamentarisches Zweikammersystem mit klar definierten Kompetenzabgrenzungen vor: Eine Kammer soll sich mit Verwaltungsfragen befassen, die im tagespolitischen Geschäft Regelungen in Form detaillierter Befehle erfordern; die andere Kammer soll sich mit grundlegenden Politikproblemen beschäftigen, die am besten mithilfe allgemeiner Regeln gelöst werden. – H.s zweistufige Unterscheidung zwischen law und legislation, zwischen einer konstitutionellen und subkonstitutionellen Ebene der Regelsetzung, hat die Diskussion in Verfassungsökonomik und Verfassungsphilosophie maßgeblich bereichert. I. Pies Ausgabe: Dt., 3 Bde., Landsberg am Lech 21986. Literatur: I. Pies/M. Leschke (Hg.), F. A. v. H.s konstitutioneller Liberalismus, Tbg. 2003. – B.  Caldwell, H.’s Challenge. An Intellectual Biography of F. A. H., Ldn. 2004.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel *  27. 8.  1770 in Stuttgart, † 14. 11. 1831 in Berlin; wichtigster Vertreter des Deutschen Idealismus.

Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse EA Heidelberg 1817; Heidelberg 21827 (verändert und erw.); Bln. 31830 (nochmals verändert).

In diesem als Vorlesungs-Kompendium konzipierten Werk legt H. sein Gesamtsystem der Philosophie dar. Unter ›System‹ versteht H. ein in sich strukturiertes Ganzes, dessen Teile selbst eine Ganzheit bilden, so dass jeder Inhalt allein als Moment eines Gesamtzusammenhangs seine Einseitigkeit, d. h. Abstraktheit, überwindet und dadurch Rechtfertigung findet. Die Enzyklopädie will demnach den höchsten Grad an Sachangemessenheit und Konkretheit verbürgen, wobei Letztere in der begriffssystematischen Organisierung ihrer Prinzipien und Kategorialität besteht. Die daraus resultierende Totalität des Wissens ist zugleich Darstellung des Göttlich-Absoluten oder der Idee als der dynamischen Selbstkonstitution der Wirklichkeit. Hierbei beruft sich H. auf Pla-

242 Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften

tons Definition der Idee und auf den aristotelischen Begriff der energeia (Wirklichkeit als Tätigkeit oder tätige Wirksamkeit), die rein geistiger Natur und dennoch voller Sachbestimmtheit ist. Als vollständige Entfaltung der Konkretion der Idee kann die Philosophie daher nur Idealismus sein. Dessen Grundthese lautet, dass alles Seiende und das Endliche überhaupt veränderlich und vergänglich, mithin »ideell« ist, d. h. nur als Erscheinungsweise der Idee Bestand hat. Diesen Sachverhalt auf den Begriff zu bringen, macht die philosophische Methode aus, die als der Gang der Sache selbst betrachtet wird. Sie vollzieht sich in drei Momenten, die für alle Bereiche des Wirklichen und also für die Aufgliederung des Systems gelten. 1.  Jede Seins- und Denkbestimmung ist in ihrer Unmittelbarkeit eindeutig festgesetzt und von anderen unterschieden. Sie ist »einfache Beziehung auf sich« mit Ausschluss der »Beziehung auf Anderes«. 2. Indem sie dabei auf ihr Gegenteil verweist, entsteht ein Vermittlungsverhältnis von entgegengesetzten Bestimmungen, in dem jede in ihr Gegenteil übergeht bzw. umschlägt und somit »das Andere ihrer selbst« wird. Dieser einen Widerspruch implizie-

rende Vorgang macht das Prinzip sowohl aller Betätigung in der Wirklichkeit als auch des wissenschaftlichen Fortschritts aus (»dialektisches Moment«). 3.  Das aus der Aufhebung des Widerspruchs Resultierende ist eine konkretere Bestimmung als Einheit von Unterschiedenen bzw. von Selbst- und Andersheitsbeziehung (»spekulatives Moment«), die ihrerseits Ausgangspunkt für eine weitere Explikation wird – bis alles restlos miteinander ins Verhältnis gesetzt ist. – Das Werk (hier in der 3. Aufl.) gliedert sich in die Wissenschaft der Logik, die Naturphilosophie und die Philosophie des Geistes. Nach einer kritischen Erörterung von drei »Stellungen des Gedankens zur Objektivität« (Wolff’sche Metaphysik, Empirismus und Kritizismus sowie unmittelbares Wissen im Sinne Jacobis) schließt sich der 1.  Hauptteil ganz an die → Wissenschaft der Logik an, deren Inhalt mit einigen Veränderungen in gekürzter Form dargestellt wird. Hier werden die reinen Denkbestimmungen als Struktur des Wirklichen und die Grundbegriffe der klassischen und neuzeitlichen Substanzmetaphysik thematisiert, Letztere auf der Basis der von Kant statuierten, aber für H. nicht zu Ende gedachten transzendentalen Subjekti-



Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften 243

vität umgestaltet. Daraus folgt, dass Subjektivität im Vollsinn nicht das endlich-individuelle Bewusstseinssubjekt, sondern der ›Begriff‹ ist. Die Partition der Logik in Sein, Wesen und Begriff als solchem entspricht demnach den Explikations­ phasen des Begriffs, die zugleich als eine Reihe von zunehmend adäquateren Definitionen des Absoluten gelten. Die Seins­ lehre behandelt die Kategorien der Qualität, der Quantität und des Maßes als deren Einheit. Die Wesenslehre betrachtet die  »Reflexionsbestimmungen«, die Erscheinung und die Wirklichkeit als die Einheit von Wesen und Erscheinung. Die Lehre vom Begriff als der Einheit des Seins und des Wesens gliedert sich in die Abschnitte »Subjektivität« (hier werden Begriff, Urteil und Schluss behandelt), »Objektivität« (Mechanismus, Chemismus und Teleologie) und in die Darstellung der sich als Leben und Erkennen artikulierenden Idee bis zur absoluten Idee als der Einheit von Subjektivität und Objektivität. Im 2.  Hauptteil bestimmt H. die Natur als das Produkt eines freien Sichentäußerns der Idee. Der Übergang der Idee zur Natur lässt sich zudem aus einem Leitgedanken H.s erklären, dass nämlich die höchste Reife und Stufe,

die etwas erreicht, zugleich der Beginn seines Unterganges sei. Gegen Empirismus und Materialismus ist die Natur damit zwar selbst als Idee gefasst, diese aber in ihrer Andersheit bzw. Äußerlichkeit, wie H. im Gegensatz zur romantisch-pantheistischen Verherrlichung der Natur betont. Die behandelten drei Stufen der Natur sind: die durch Raum, Zeit, Bewegung, Schwere und Gravitation gekennzeichnete Mechanik; die durch Kohäsion, Elektrizität und chemische Prozesse bestimmten Phänomene der Physik; die Organik als geologische und vegetabilische Natur und als tierischer Organismus mit seinen Gestaltungs-, Assimila­ tions- und G ­ attungsprozessen. Mit dem Untergang des tieri­ schen Individuums, ­dessen Tod als Folge seiner »Unan­ gemes­ senheit zur Allgemeinheit« sei­ner Gattung gedeutet wird, beginnt die Ablösung des Geistes von der Äußerlichkeit der Natur. Nach dem Gedanken der progressiven Selbstverwirklichung des Geistes, dessen Grundcharaktere Freiheit und Selbstmanifestation sind, wird der 3. Hauptteil in die Behandlung des subjektiven, objektiven und absoluten Geistes aufgegliedert. »Subjektiver Geist« ist die Gesamtbezeichnung für die Gegenstände a)  der An­

244 Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften

thropologie, b)  der Phänomenologie des Geistes, die also ins System eingebettet wird, und c) der Psychologie. Der subjektive Geist umfasst a) den Geist als natürliche, fühlende und wirkliche Seele eines Leibes, die in ihren Beziehungen zu natürlichen und lokalen Zuständen erörtert wird, b) das Ich auf den verschiedenen Stufen seines Verhältnisses zur Natur als dem Nicht-Ich und zu seinesgleichen (sinnliches Bewusstsein, Selbstbewusstsein  und Vernunft), c)  den Geist zunächst als theoretische, dann als praktische Intelligenz und endlich den freien Geist als deren Einheit. Die Theorie des »objektiven Geistes« gliedert sich in: a)  Personen- und Eigentumsrecht, b) Moralität als Selbstbestimmung des Willenssubjekts und c)  Sittlichkeit in den Bereichen der Familie, der bürgerlichen Gesellschaft und des Staates als Institu­tion verwirklichter Freiheit. Die Leh­re vom »absoluten Geist« thematisiert die Kunst, die (geoffenbarte) Religion und die Philosophie. Sie sind die Grundweisen, in denen sich  die Menschen im Medium der Anschauung, der Vorstellung und des Denkens zu Bewusstsein bringen, was das Absolute ist, und zugleich die Gestalten, in denen das Absolute sich selbst erfasst. In

den letzten Paragraphen des Werkes, das seit der 2. Ausgabe mit einem Zitat aus der aristotelischen Lehre von der noēsis noēseōs (das sich selbst denkende Denken) schließt, betont H., dass die dargestellte Reihenfolge der drei Haupt­teile des Systems nicht die einzig mögliche sei. Das System ist vielmehr ein Syllogismus, in dem das Ganze sich in seinen Momenten (Logik, Natur, Geist) mit sich selbst vermittelt bzw. ein Schluss von drei Schlüssen, in dem jedes Moment jeweils zur Mitte wird. – Das Werk stellt den Bezugspunkt sowohl aller H.-Aus­ legung als auch jeglicher Theoriebildung dar, die sich mit der Frage nach dem ­Systemcha­ra­k­ter des  Wissens konfron­ tiert. Neuere For­ schungs­ansätze ana­lysieren  die Motive und die Dynamik des in dem Werk entwickelten Theo­rietypus u. a. im Hinblick auf das Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft. F. Longato Ausgaben: Werke in 20 Bdn., Bde.  8–10, Ffm. 1986. – Gesam­ melte Werke, Bd. 13, Hg.: W. Bon­ siepen/K.  Grotsch, Hbg. 2000 (= Ausg. von 1817); Bd. 19, Hg.: W.  Bonsiepen/H.-C. Lucas, Hbg. 1989, 10–417 (= Ausg. von 1827); Bd. 20, Hg.: W. Bonsiepen/H.-C. Lucas, Hbg. 1992, 1–572 (= Ausg. von 1830).



Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts 245

Literatur: H. Schnädelbach (Hg.), H.s Enzyklopädie der phi­ losophischen Wissenschaften (1830). Ein Komm. zum Systemgrundriß, Ffm. 2001. – H. C. Lucas/ B.  Tuschling/U.  Vogel (Hg.), H.s enzyklopädisches System der Philosophie. Von der »Wissenschaft der Logik« zur Philosophie des absoluten Geistes, Stgt.-Bad Cannstatt 2003. – C.  Halbig/M.  Quante/L. Siep (Hg.), H.s Erbe, Ffm. 2004.

Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse EA Bln. 1821.

Thema des Werkes ist die systematische Ausführung der Idee des Rechts. Die Rechtssphäre beruht auf den in der → Wissenschaft der Logik und in der →  Enzyklopädie dargelegten spekulativen Prinzipien, die hier zum Erschließen der gesellschaftlich-geschichtlichen und politischen Wirklichkeit dienen. Der tragende Begriff dafür ist der freie Wille, in dem sich die Einheit der Allgemeinheit und der Besonderheit des Wollens ausdrückt. Das Recht besteht somit nicht wie bei Kant aus gegenseitiger Beschränkung bzw. Übereinstimmung der Willkür des einen mit der des anderen, sondern ist das »Dasein des freien Willens«, d. h. des konkret allgemeinen

Willens. Thema und Methode der Rechtsphilosophie bestimmen sich demnach als Darstellung der dialektischen Bewegung, wodurch die Freiheit zur Verwirklichung  kommt. Diese Entwicklung des Rechts gliedert sich in das abstrakte (formelle) Recht, das dem vorpolitischen Zustand des alten Naturrechts entspricht, in die Moralität sowie in die Sittlichkeit, die ihrerseits in Familie, bürgerliche Gesellschaft und Staat unterteilt ist. In allen diesen Gestalten gilt: »was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.« Damit will H. die geschichtliche Wirksamkeit der in Institutionen verwirklichten Vernunft ausdrücken. So bildet der Staat die vernünftige Wirklichkeit der Freiheit, weil er das Recht garantiert, in dem allein die Freiheit überhaupt ihre Objektivität erhält. In diesem Sinne besteht die Aufgabe der Philosophie darin, anstatt bei abstrakten Sollensvorstellungen von zukünftigen Weltzuständen zu verweilen, die Gegenwärtigkeit der ewigen Idee in der Zeit und in der geschichtlichen Welt anzuerkennen. Denn die Philosophie ist »ihre Zeit in Gedanken erfaßt« und erscheint – wie die Eule der Minerva, die erst mit der einbrechenden Dämme-

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Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts

rung ihren Flug beginnt – erst, wenn »die Wirklichkeit ihren Bildungsprozeß abgeschlossen hat«. Das Werk versteht sich als Versuch der Überwindung der modernen Antithese zwischen Naturrecht und Staatswissenschaft bzw. Moral und Politik im Anschluss an Rousseau und vor dem Hintergrund der Französischen Revolution einerseits, in kritischer Anknüpfung an die klassische, insbesondere aristotelische Politik andererseits. Die traditionell durch ihre Rechtsfähigkeit definierte Person bildet das erste Dasein des Rechts, das sich die Freiheit im Privateigentum gibt; dann wird es im Vertrag zum Verhältnis der Personen zueinander und geht endlich, indem sich der Wille in besonderen und allgemeinen unterscheidet, in Unrecht über. Das durch Strafe wiederhergestellte Recht führt zur Einheit des Rechts und des subjektiven Willens auf der Stufe der moralischen Handlung. Deren Triebkräfte, Kriterien und Wirkungen werden in Auseinandersetzung mit Kants praktischer Philosophie, insbesondere mit deren Trennung von Moralität und Legalität abgehandelt. Auf dem Standpunkt der Moralität, deren Prinzip die »unendliche Subjektivität der Freiheit« ist, holt der freie Wille die äu-

ßerlichen Bestimmungen des abstrakten Rechts in die Innerlichkeit des Subjekts hinein und setzt sie als die seinigen. Aufgrund dieser Zurücknahme führt der moralisch Handelnde seine Zwecke aus; sofern aber das Gute bloß als ein Sollen ausgesprochen wird, setzt sich die Autonomie des Subjekts in Unbestimmtheit um, von der aus keine konkreten Pflichten erzeugt werden können. Dieser Formalismus des Moralprinzips wird erst in der Sittlichkeit aufgelöst, welche die am Vorbild der Polis orientierte Einheit der Individuen mit den »sittlichen Mächten« eines Volkes und Staates meint. In Sitte und Gewohnheit als einer zweiten Natur des Menschen ist der Wille mit dem konkreten Allgemeinen des Guten vereint, die Pflichten erweisen sich sodann als Bedingungen der Konkretisierung der Freiheit. Familie und Staat, die für H. nicht auf einer vertraglichen Vereinbarung, sondern auf Liebe bzw. Volksgeist beruhen, sind die Realitäten des sich objektivierenden Geistes, d. h. der sich verwirklichenden Freiheit. Zwischen ihnen steht die bürgerliche Gesellschaft, die ein »System der Bedürfnisse« und ihrer Befriedigung durch arbeitsteilige Produktion bildet. Die Desintegration der bürger-



Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts 247

lichen Gesellschaft wird ­allein durch ihr Einge­ordnetsein im Staate aufgehoben. Sich im Staat zu vereinigen und dadurch ein »allgemeines Leben« zu führen, bildet die höchste Pflicht und Bestimmung der Menschen. Nach der Darstellung der innerstaatlichen Organisation, die in der konstitutionellen Erbmonarchie gipfelt, behandelt H. das Verhältnis der Staaten zueinander, die als die eigentlichen Subjekte der Weltgeschichte bezeichnet werden. Nach der be­ haupteten Übereinstimmung von Vernunft und Wirklichkeit wird die Weltgeschichte als ein teleologischer Prozess der Realisation der Freiheit in der Welt gedeutet. Dieser Fortschritt erscheint in einer Folge von Staatsformen, in der die  entsprechenden Volksgeister durch den Kampf um Anerkennung das Bewusstsein der Freiheit entwickeln. Dasjenige Volk, das sich des besonderen Prinzips seiner staatlichen Verfassung und seines Schicksals bewusst wird und somit ein Moment der Vernunft realisiert, wird zum Träger der jeweils gegenwärtigen Entwicklungsstufe des Weltgeistes. Aus dem Fortschrittsprinzip im Bewusstsein der Freiheit ergibt sich das Maß an politischer Freiheit in den Hauptepochen

der Geschichte. Während die Orientalen nur einen Freien, den Despoten, kannten und die Griechen und Römer nur einige, die Bürger, haben die germanischen Völker die erstmals im Christentum ausgesprochene Freiheit des Menschen als Menschen zum Prinzip staatlichen Lebens erhoben. Dadurch hat sich der Staat als Endzweck zum Bilde und zur Wirklichkeit der Vernunft entfaltet. – Das Werk war seit seinem Erscheinen Gegenstand kontroverser Stellungnahmen, die mit zur Spaltung der H.Schule in (Alt-)Rechts-Hegelianer und (Jung-)Links-Hegelianer führten bzw. zu konservativen (Erdmann, H. W. F. Hinrichs), liberalen (E.  Gans, Rosenkranz, Michelet) und revolutionären (Rüge, der junge Marx, Bauer, Stirner,) H.-Auslegungen beitrugen. Der Affinität von H.s Staatstheorie zu totalitären Ideologien (Popper) wurde durch eine in den 50er und 60er Jahren des 20.  Jh.s entstandene und an H. und Aristoteles orientierte politische Philosophie (Weil, J. Ritter) widersprochen. F. Longato Ausgaben: Werke in 20 Bdn., Bd.  7, Ffm. 1986. – Gesammelte Werke, Bd.  14 (1–3), Hg.: K.  Grotsch/E. Weisser-Lohmann, Hbg. 2009–12.

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Hegel: Phänomenologie der Geistes

Literatur: G. Lübbe-Wolff, Die Aktualität der H.’schen Rechtsphilosophie (H.-Studien, Beiheft 52), Hbg. 2009, 328–349. – M. Quante, Die Wirklichkeit des Geistes. Studien zu H., Ffm. 2011. – K.  Vie­ weg, Das Denken der Freiheit. H.s Grundlinien der Philosophie des Rechts, Mchn. 2012.

Phänomenologie des Geistes EA Bamberg/Wzbg. 1807.

Die Einführung in die spekulative Vernunfterkenntnis konzipiert H. als »Geschichte der Bildung des Bewußtseins«, das alle Formen seines Verhältnisses zum Objekt durchläuft und zum absoluten Wissen gelangt, in dem sich Subjekt und Objekt vollkommen decken. Dieses Ziel ist der sich selbst durchsichtig gewordene Geist, dessen Entwicklungsprozess durch die »erinnernde« Nachzeichnung des im Bewusstsein erscheinenden Wissens begriffssystematisch organisiert wird. So erklärt sich die Phänomenologie des Geistes selbst schon als »Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins«, welches sich zum Geist läutert. Diese Erfahrung konstituiert sich sukzessiv aus der Selbstprüfung des Bewusstseins in seinem Anspruch auf Wahrheit als Übereinstimmung von Gegenstand und Begriff anhand eigener Maßstäbe. Letztere werden von ihm selbst

korrigiert, wenn sie für den jeweiligen Gegenstand unangemessen erscheinen. Der stets neu zu vollziehende Korrekturvorgang, den H. »Umkehrung des Bewußtseins« nennt, geschieht durch eine dialektische Bewegung. Deren Kern ist die »bestimmte Negation« der jeweiligen Bewusstseinsgestalt, wobei der daraus resultierende neue Gegenstand und die ihm entsprechende Wissensart das Negierte zugleich enthalten. In dieser doppelten Funktion der Negation, die den Inhalt des zunächst Gesetzten auf der nachfolgenden Stufe in einer umfassenderen Gestalt auch bewahrt, besteht H.s Grundbegriff von »Aufhebung«. Erst die Philosophie sieht eine Notwendigkeit in der Reihenfolge der Bewusstseinsgestalten und begreift sie als Momente einer geordneten Totalität, in der das Wahre und das Ganze zusammenfallen. In den Hauptabteilungen werden Bewusstsein, Selbstbewusstsein, beobachtende und handelnde Vernunft, sittlicher, gebildeter und moralischer Geist, die Religion und das absolute Wissen abgehandelt. Als sinnliche Gewissheit versucht das »natürliche« Bewusstsein vergeblich, den konkreten Gegenstand in seiner Einzelheit zu erfassen und geht in wahrnehmendes Bewusst-



Hegel: Phänomenologie der Geistes 249

sein über, das ihn als komplexes Ding mit mannigfaltigen Eigenschaften betrachtet. Im Bereich des Verstandes, dessen Hauptfunktion im Setzen unbeobachtbarer Gegenstände für die Erklärung der Phänomene besteht, erweist sich das Ding als Wechselspiel von Kräften und ihren Äußerungen. Die formalen Verstandesgesetze erscheinen zunächst als eine hinter den Sinnesdaten liegende »verkehrte Welt«, bis das Bewusstsein sie und das »Ansich« des Dinges als sein eigenes Produkt anerkennt. Mit der Erfahrung des Selbstbezugs, der in jedem Gegenstandsbezug enthalten ist, wird es zum Selbstbewusstsein, das sich zuerst als Streben nach Selbsterhaltung manifestiert und dann im Kampf um Leben und Tod zur Anerkennung durch seinesgleichen kommt. Im HerrKnecht-Verhältnis befreit sich der Knecht durch seine Arbeit von dem bloß konsumierenden Herrn, und mittels dieser formierenden Tätigkeit an den Dingen erhebt er sich über das unmittelbare Verhaftetsein mit dem Naturgegebenen. Das historische Modell des auch in Sklavenketten freien Menschen ist der Stoiker, dessen gleichgültige Einstellung zur Welt dann zum Skeptizismus führt. Auf der Suche nach einer Haltung

im Zustand der Verwirrung erlebt der Mensch in der jüdisch-christlichen Religion des Mittelalters die innere Zerrissenheit des »unglücklichen Bewußtseins«, das den Gegensatz zwischen wandelbarem Diesseits und unwandelbarem Jenseits durch Andacht und Aufopferung zu vermitteln sucht. Auf der Ebene der Vernunft schlägt das negative Verhältnis des Selbstbewusstseins zum anderen in ein positives um. Mit der Gewissheit, alle Realität zu sein, d. h., dass das Gegebene nur im Medium des Denkens gegenwärtig sei – darin besteht der Idealismus –, forscht die Vernunft nach den Gesetzen der anorganischen und organischen Welt und selbst des Bewusstseins. Darin findet sie aber ihre Grenzen, weil Letzteres somit als ein bloßes Ding behandelt wird. Das Innere des Selbstbewusstseins äußert sich allein im sittlichen Bereich, in dem sich die Einzelnen in die »allgemeine Substanz« eines Volkes einfügen. Am Anfang des Geist-Kapitels bemerkt H., dass die bisherigen Bewusstseinsgestalten nur analytische Momente des Wesens des Geistes sind. Der Geist als »das allgemeine Werk, das sich durch das Tun Aller und Jeder als [seine] Einheit […] erzeugt«, wird für sich, d. h. verwirklicht sich

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Hegel: Phänomenologie der Geistes

erst in der Geschichte. Damit beginnt abermals eine Reihe von Gestalten, die der Antike, der Neuzeit und der Romantik entsprechen. In ihnen erneuern sich die Gegensätze von Allgemeinem und Individuellem. Die sittliche Einheit der Polis zerfällt durch innere Konflikte und geht in den Formalismus des römischen Rechtszustandes über. Auf der Suche nach Wiederherstellung der sittlichen Substanz errichtet »der sich entfremdete Geist« das Reich der Kultur mit seinen Grundwerten (Staatsmacht  und  Reichtum), an denen sich das die bestehende Ordnung bejahende »edelmütige« Bewusstsein von dem zum Aufruhr bereiten »niederträchtigen«  scheidet.  Selbst die Begriffe ›gut‹ und ›schlecht‹ verkehren sich je nachdem, ob sie auf das Allgemein- oder auf das Einzelinteresse bezogen werden. Aus dem Bewusstsein der Eitelkeit aller Dinge entsteht einerseits der Glaube als Flucht in eine bessere Welt, andererseits die ihn bekämpfende »reine Einsicht« der Aufklärung, welche die Dinge auf Nützlichkeit reduziert und – durch die Französische Revolution – die von allen sozialen Bindungen emanzipierte Freiheit des Subjekts bis zur Willkür proklamiert. Aus der Zuspitzung der Entzweiung kehrt

der sich entfremdete Geist zu sich zurück, indem er der Freiheit einen positiven Sinn in der Moralität als Selbstbestimmung verleiht. Um die Wirklichkeit durchdringen zu können, muss sich die Moralität über das inhaltslose Sollen des kantischen kategorischen Imperativs und die isolierte Selbstbespiegelung der romantischen »schönen Seele« erheben. Damit wird sie zur »wahren Moralität« als der Einheit des handelnden und des urteilenden Bewusstseins im Horizont gegenseitiger Anerkennung und Nachsicht unter Menschen. In der Erfahrung der Verzeihung, in der der Einzelne die Fremdheit des Anderen überwindet, erblickt H. den absoluten oder religiö­ sen Geist. Auch die Religion durchläuft eine Reihe von Erscheinungsformen, in denen die früheren Beziehungen des Bewusstseins zur Welt wieder aufgenommen werden. Auf die »natürliche Religion«, die Gegenstände der Natur vergöttlicht, folgt die »Kunstreligion« des Griechentums, die das Göttliche als Geist in menschlicher Gestalt verehrt. Die Ablösung des Geistes von der Dinghaftigkeit vollzieht sich erst in der »geoffenbarten Religion« des Christentums durch die Menschwerdung Gottes selbst, der durch seine »geistige



Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik 251

Auferstehung« nach dem Tode im Bewusstsein der somit versöhnten Gemeinde weiterlebt. Dieser in der Religion durch die Sprache der Vorstellung ausgedrückte Gehalt, dass nämlich das Absolute nicht nur die Substanz der Welt, sondern ebenso sehr Subjekt, lebendiger Geist ist, wird im Medium des Denkens zum absoluten Wissen, das zugleich Sichwissen des Absoluten ist. – Die Wirkungsgeschichte des Werkes reicht von den durch Existen­ zialismus und Marxismus beeinflussten Positionen J. Wahls, Koyrés, Kojèves, J. Hyppolites, Sartres, Merleau-Pontys, über den Neomarxismus (Lukács, Bloch) bis zur Hermeneutik (Gadamer), zur Frankfurter Schule (Habermas, Honneth) und zu einigen Interpretationen der Psychoanalyse (Marcuse, Ricœur). F. Longato Ausgaben: Gesammelte Werke, Bd. 9, Hg.: W. Bonsiepen/R. Heede, Hbg. 1980, 1– 434. – Werke in 20 Bdn., Bd. 3, Ffm. 1986. Literatur: H.-F. Fulda, Das Problem einer Einleitung in H.s Wissenschaft der Logik, Ffm. 2 1976. – L.  Siep, Der Weg der Phänomenologie des Geistes. Ein einführender Komm. zu H.s »Differenzschrift« und zur »Phänomenologie des Geistes«, Ffm. 2000. – A.  Arndt/E.  Müller (Hg.), H.s »Phänomenologie des Geistes« heu­te

(Sonderband der Deutschen Zeitschrift für Philosophie), Bln. 2004. – K. Vieweg/W. Welsch (Hg.), H.s Phänomenologie des Geistes. Ein kooperativer Komm. zu einem Schlüsselwerk der Moderne, Ffm. 2008.

Vorlesungen über die Ästhetik Gehalten in Heidelberg 1817/18 und Bln.  1820/21, 1823, 1826 und 1828/29; EA Bln.  1835–38 (3 Bde., postum).

In seinen kunstphilosophischen Vorlesungen behandelt H. die Ästhetik als »Philosophie der schönen Kunst« und analysiert die geschichtliche Entwicklung der Kunsterscheinungen auf der Basis seines Systems. Weder ist Naturschönheit Gegenstand der Kunst, insofern sie bloß einen Reflex des dem Geist angehörigen Schönen darstellt, noch ist Nachahmung ihre Tätigkeit. Ebenso wenig besteht der Zweck der Kunst in der Reinigung der Leidenschaften oder in der Befestigung der Moralität durch Belehrung und Besserung, wie H. in der einleitenden Auseinandersetzung mit den bisherigen Kunsttheorien erklärt. Im 1. Teil wird die Kunst als Weise der geschichtlichen Manifestation des absoluten Geistes definiert. Als Geist versteht H. sowohl den endlich-menschlichen Geist in der Selbstvergewisserung seiner Freiheit als auch den göttlichen

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Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik

Geist, der sich im freien Produzieren des Menschen offenbart. Höchste Aufgabe der Kunst ist darum, gemeinsam mit Religion und Philosophie das Absolute auszusprechen, dessen Darstellung sie im Medium der Sinnlichkeit und in der Form der Anschauung leistet. So erzeugt der Geist ein versöhnendes Mittelglied zwischen dem Sinnlich-Endlichen und dem nur dem Denken begreiflichen Unendlichen, nämlich das Kunstwerk, in dem die Menschen bzw. die Völker ihre gehaltreichsten inneren Anschauungen niedergelegt und somit der Wahrheitserfahrung erschlossen haben. Das (Kunst-) Schöne bezeichnet H. daher auch als »das sinnliche Scheinen der Idee«. Die vollkommene Entsprechung von Idee und Gestalt macht das Ideal aus. Dessen Verwirklichungsgrad bildet das Entwicklungsbzw. Einteilungskriterium der drei möglichen Kunstformen – symbolische, klassische und romantische –, die im 2.  Teil abgehandelt werden. Ihr jeweiliger Grundzug besteht im Erstreben, Erreichen und Überschreiten des Ideals. Die Symbolik entwickelt sich von der unbewussten über die der Erhabenheit bis zur eigentlichen Symbolik Ägyptens. Die Enträtselung der Sphinx leitet

die klassische Kunstform ein, in der sich geistiger Inhalt und sinnliche Form vollständig decken, wie es von den Griechen in der menschlichen Gestalt repräsentiert wird. Obwohl für H. damit die höchste Ausdrucksmöglichkeit der Kunst erreicht ist, führt die unmittelbare leibliche Gestaltung des Göttlichen gleichzeitig zur Auflösung des klassischen Ideals, die schon Komödie und Satire vorbereiten. Die romantische, d. h. vom Christentum geprägte Kunstform akzentuiert die Disproportion zwischen Idee und Realität, weil der sich als unendlich enthüllende Geist nur in der selbstbewussten Innerlichkeit sein entsprechendes Dasein finden kann. Die Momente der romantischen Kunst sind der religiöse Kreis, der die Glaubensgehalte darstellt, das Rittertum, das die Ideale des christlichen Lebens (Ehe, Liebe, Treue) ausdrückt, und schließlich der Kreis der individuellen Charaktere, deren Handlung zum Abenteuer wird. Gerade das Überwiegen der Innerlichkeit gegenüber dem zufällig gewordenen Stoff trägt aber zum Zerfall der romantischen Kunst bei, weil in ihr alle Lebenserscheinungen, die alltäglichsten wie die höchsten, gleichermaßen Platz finden und die Subjektivität



Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte 253

des Künstlers sich in Ironie bzw. Humor verwandelt. Mit der Unmöglichkeit, den christlichen Gott durch Sinnlichkeit und Anschauung in den Kunstprodukten des menschlichen Geistes adäquat darzustellen, begründet H. die These vom Vergangenheitscharakter der Kunst in ihrer höchsten Bestimmung, die darum in angemessenere Auffassungsweisen des Geistes (Religion und Philosophie) übergehen muss. Dass die Kunst ihre Zukunft in der Religion hat, bedeutet nicht den Tod der Kunst, sondern dass sie »nicht mehr als die höchste Weise gilt, in welcher die Wahrheit sich Existenz verschafft«. Im 3.  Teil gliedert H. nach dem Prinzip der zunehmenden Vergeistigung des Natürlichen das System der einzelnen Künste, in denen sich die drei Kunstformen verkörpern. Die Sphären der schönen Architektur, der Skulptur und der Malerei, Musik und Poesie dominieren jeweils in der symbolischen, der klassischen und der romantischen Kunstform. Auf der Stufe der Dichtkunst steigt aber die Kunst über sich selbst hinaus, indem sie »aus der Poesie der Vorstellung in die Prosa des Denkens hinübertritt«. Expliziten Bezug auf H.s Ästhetik nahmen im 19.  Jh. Vischer, Weisse, M.  Schasler,

K.  Fischer, Rosenkranz u.  a. Das Werk wirkte weiterhin auf die Kunsttheorien u. a. von Lukács, Adorno, M. Bense, auf Kultur- und Kunstgeschichte (H.  Wölfflin, K.  Lamprecht, A. Riegl, E. Panofsky) und erfährt neuerdings eine Reaktualisierung in den jüngsten hermeneutischen und ästhetischen Strömungen. F. Longato Ausgaben: Sämtliche Werke, Bde. 12–14, Stgt. 1927–40. – Werke in 20 Bdn., Bde.  13–15, Ffm. 1986. Literatur: B. Hilmer, Scheinen des Begriffs. H.s Logik der Kunst, Hbg. 1996. – A. Arndt (Hg.), H.s Ästhetik. Die Kunst der Politik, die Politik der Kunst (= H.-Jahrbuch 2000), Bln. 2000. – A. GethmannSiefert, Einführung in H.s Ästhetik, Mchn. 2005.

Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte Gehalten in Bln.  1822/23, 1824/25, 1826/27 und 1830/31; EA Bln. 1837 (postum).

Thema der Vorlesungen ist die Weltgeschichte, die schon in der →  Enzyklopädie und in den →  Grundlinien der Philosophie des Rechts die »Lehre des objektiven Geistes« abschließt. Die Weltgeschichte bildet einen vernunftbeherrschten und daher vernünftig begreifbaren Prozess, den H. als »Fortschritt

254 Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte

im Bewußtsein der Freiheit« expliziert. Da Freiheit der Wesenszug des Geistes und dieser als Weltgeist Resultat des sich in der Zeit objektivierenden Tuns des Menschengeschlechts nach seinem Wissen von sich ist, stellt die Weltgeschichte einen aufsteigenden Verlauf der Freiheitsverwirklichung dar. Träger dieses Prozesses sind die staatlich organisierten Völker bzw. Volksgeister, deren besonderes Prinzip darin besteht, wie sie in Kunst, Religion und Philosophie ihre eigenen sittlichen und politischen Institutionen als Werk verwirklichter Freiheit anerkennen. Das den höchsten Begriff des Geistes auffassende Volk ist das jeweils regierende, während die anderen keine Bedeutung für die Weltgeschichte haben. Diese erweist sich somit auch als »Weltgericht«. Diesem Schicksal unterliegt aber auch das führende Volk, wenn es seinen Beitrag zur Freiheitsverwirklichung der Menschheit vollbracht hat. Der Weltgeist als Volksgeist bildet sich durch die »welthistorischen Individuen« (wie Alexander, Cäsar, Napoleon), aber so, dass sie unbewusste Werkzeuge einer »List der Vernunft« sind, welche die Leidenschaften und die Begebenheiten für sich wirken lässt. Der Fortschritt in den Weltereignissen vollzieht sich

in den Knotenpunkten des geschichtlichen Werdens, in denen der Geist eines Volkes nicht mit seiner Verfassung und diese nicht mit der Freiheitsidee übereinstimmt. H. fasst den Fortschritt als dialektische Einheit von Fort- und Untergang auf. Er ist Resultat eines harten Kampfes des Geistes gegen das ihm zunächst Entgegenstehende, die Natur, und gegen sich selbst, sofern ihm die Produkte seiner Tätigkeit in den ersten Entwicklungsphasen als fremde Macht erscheinen. In diesem Sinne ist der Zweck der Geschichte das Beisichbleiben des Geistes in seinem Anderen, letztlich seine Rückkehr zu sich. Nach einer Darlegung der geographischen Grundlagen der Weltgeschichte behandelt H. deren Haupt­ epochen, die sich aus dem Freiheitsbewusstsein ergeben, nämlich die orientalische Welt, die griechisch-römische Antike und die christlich-germanische Welt. Während im alten Orient nur der Willkürherrscher frei ist und die Individuen von den Gesetzen wie von einer fremden Macht regiert werden – was ihre unmittelbare Unterwerfung unter die Natur widerspiegelt –, geht das Bewusstsein der subjektiven Freiheit erst in der griechischen Welt auf, in der die Einzelnen



Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte 255

in unbefangener Einheit mit dem Sittlichen als Staat leben. Mit dem Aufkommen des Individualitätsprinzips wird die harmonische Sittlichkeit im Römischen Reich in die Extreme der Person und ihres Privatrechts einerseits, der Macht des Staates andererseits gespalten. In der Antike tritt jedoch das Menschsein als Rechtsprinzip nur in der Beschränkung auf den Bürger und in der Ausschaltung der Sklaven auf. Erst die germanischen Nationen sind für H. zu dem Bewusstsein gekommen, dass der Mensch als Mensch frei ist. Dieses vom Christentum verkündete unbeschränkte Freiheitsprinzip macht die Geschichte der verschiedenen Völker damit zur Geschichte der Menschheit als solcher. Mit der Befreiung des Menschen zu sich selbst entsteht zugleich das Zutrauen zur durch die christliche Schöpfungslehre entgötterten Natur, was zur Entwicklung der modernen Erfahrungswissenschaften führt. Seine religiöse Vollendung erreicht das Freiheitsprinzip durch die Reformation, die dem Menschen die Gesinnung seiner innerlichen Freiheit von aller äußeren Autorität verleiht. Als Prinzip des freien Willens (im Sinne Rousseaus) wird es auf der politischen Ebene durch die Französische

Revolution zum Rechtsprinzip erhoben, die H. – bei aller Verurteilung des späten Terrors und trotz seiner Kritik an der Unfähigkeit des Liberalismus, zu einer dauerhaften politischen Organisation zu kommen – als die notwendige Voraussetzung aller künftigen staatlichen Ordnungen betrachtet. Wahrhafte Freiheit ergibt sich jedoch nur dort, wo, wie im Protestantismus, die Versöhnung der Religion mit dem Recht zustande kommt, deren weltliche Verwirklichung der Staat ist. – H.s Geschichtsphilosophie beeinflusste u.  a. den historischen und dialektischen Materialismus, den Historismus von Croce, Gentile und Collingwood und das Geschichtsverständnis der Frankfurter Schule. Sie wirkte indirekt auf die Historische Schule und – trotz der Ablehnung der Einheit von Historischem und Systematischem – auf die verschiedenen Theorien des »objektiven Geistes« (Dilthey, H. Freyer, Hartmann). F. Longato Ausgaben: Sämtliche Werke, Bd. 11, Stgt. 1927–40. – Werke in 20 Bdn., Bd. 12, Ffm. 1986. – Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte, Bd. 12: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte (1822/1823), Hg.: K.-H. Ilting, Hbg. 1996, 1–521.

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Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion

Literatur: R. Bubner/W. Mesch (Hg.), Die Weltgeschichte – das Weltgericht?, Stgt. 2001. – U. Thiele, Verfassung, Volksgeist und Religion. H.s Überlegungen zur Weltgeschichte des Staatsrechts, Bln. 2008. – L. Siep, H.s praktische Philosophie und das »Projekt der Moderne«, Baden-Baden 2011.

Vorlesungen über die ­Philosophie der Religion Gehalten in Bln.  1821, 1824, 1827 und 1830; EA Bln. 1832 (2 Bde., postum).

Die Religionsphilosophie wird als die vernünftige Erkenntnis Gottes bestimmt. H. weist der Religion innerhalb der »Lehre des absoluten Geistes« die mittlere Stelle zwischen Kunst und Philosophie zu, wobei Geist die höchste Definition des Absoluten und insofern auch des endlich-menschlichen Geistes ist. Wesenszüge des Geistes sind die Freiheit, d. h. das Nichtabhängigsein vom anderen  und das Sichmanifestieren als »Werden für ein Anderes«. Die Religion stellt daher die Beziehung des subjektiven Bewusstseins auf Gott dar, was zugleich das Sichrealisieren Gottes im Bewusstsein ist. Dieses grundlegende Verhältnis von Geist zu Geist erscheint auf der reli­ giösen Ebene im Medium der Vorstellung, die zwischen der ästhetischen Anschauung und

dem spekulativen Denken vermittelt. Der Unterschied in der Erkenntnisweise widerspricht für H. aber nicht der Identität des Inhalts von Religion und Philosophie. Denn der Gegenstand beider ist »nichts als Gott und seine Explika­ tion«, so dass die Philosophie nur durch die Explikation der religiösen Gehalte zu ihrer vollen Darlegung kommt. Die Hauptmerkmale der Reli­ gion werden im 1.  Teil (»Begriff der Religion«) erörtert, in dem sich H. mit der Jacobi’schen und Schleiermacher’schen Lehre  des unmittelbaren Wissens und des Gefühls sowie mit der Schulmetaphysik auseinandersetzt. Beide erweisen sich als gegensätzliche Mängelformen der Religion, weil die erste die Religion auf den endlichen Geist reduziert, während die zweite Gott bloß in seiner Aseität, d. i. in seiner unbedingten, unendlichen Existenz auffasst. In diesem Zusammenhang verteidigt H. die Berechtigung der Beweise der Existenz Gottes, insbesondere die Stichhaltigkeit des ontologischen Arguments. Die praktische Erfüllung des Verhältnisses zu Gott vollzieht sich im Kultus, der die Innerlichkeit wie die äußerliche Erscheinung umspannt. Das andächtige Handeln führt zur Teilnahme am Absoluten



Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion 257

und bildet somit eine innere Umkehrung des Gemüts. Sein Begriff ist der Glaube als die Gewissheit von der wahrhaften Präsenz des absoluten Geistes in der Gemeinde, in der sich die Erhebung zu Gott und das Tun Gottes im Menschen durchdringen. Gemäß der in der →  Wissenschaft der Logik dargestellten Dialektik des Begriffs wird die Religion weiter (Teile 2–4) in »bestimmte« und »absolute« Religion aufgeteilt. Der Entwicklung ihrer historischen Gestaltungen liegt die jeweils verschiedene Vorstellung des Absoluten und des Verhältnisses von Endlichem und Unendlichem zugrunde. Die Naturreligion, in der das Göttliche und der Mensch in ungetrübter Einheit mit dem Natürlichen stehen, schreitet fort von der Zauberei über die Religion des Maßes (chinesische), der Fantasie (indische) und des Insichseins (Buddhismus) zur Religion des Lichts (persische), des Schmerzes  (syrische) und schließlich des Rätsels (ägyptische). Die höhere »Religion der geistigen Individualität« durchläuft drei Stadien: die jüdische Religion der Erhabenheit mit der unüberholbaren Trennung von Gott und Menschen, die griechische Religion der Schönheit und der freien Harmonie innerhalb der Polis und

die durch die Zweckmäßigkeit der Staatsräson bestimmte römische Religion. Im Unterschied zur »bestimmten Religion«, die Gott nur unter einer seiner Bestimmungen  fasst, erkennt ihn die »absolute Religion« des Christentums als unendlichen Geist an, was heißt, dass der endliche Geist nicht mehr aus eigener Kraft sich die Wahrheit vorstellt, sondern diese ihm von Gott dargeboten wird. Indem er sich durch den Menschen offenbart, gewinnt Gott sein eigenes Selbstbewusstsein, und zugleich gelangt der Mensch zum wirklichen Freisein. In spekulativer Umdeutung der Dogmen erklärt H. die Selbstbestimmung und Selbstmanifestation Gottes als dreistufigen Prozess: 1.  Gott in seiner Ewigkeit vor der Erschaffung der Welt (Reich des Vaters), 2. die Erschaffung der Welt als Sichentäußern Gottes in das Andere seiner selbst (in die Natur und den endlichen Geist) und die Menschwerdung Gottes (Reich des Sohnes), 3. das Leben des Heiligen Geistes in der durch den Tod und die Auferstehung Christi versöhnten weltweiten Gemeinde der Kirche (Reich des Geistes). – An H.s Deutung der christlichen Dogmatik spaltete sich die H.-Schule um 1835 in die ›orthodoxen‹ Positionen der

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Hegel: Wissenschaft der Logik

Althegelianer (G.  A. Gabler, K.  Daub, K. F. Göschel, P. K. Marheineke)  und in die die Religion historisierenden Interpretationen der Junghegelianer (Strauß, Feuerbach, Bauer), was auch die divergierenden Beurteilungen im 20.  Jh. erklärt. An H.s Religionsphilosophie knüpfen u. a. die ›Gottist-tot‹-Theologie (T. J. J. Altizer) und die Theologien von K.  Rahner, W. D. Marsch und W. Pannenberg an. F. Longato Ausgaben: Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte: Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Hg.: W. Jaeschke, Hbg. 1983–85, Bd. 3, 1–363; Bd.  4a, 1–648; Bd.  5, 1–305. – Werke in 20 Bdn., Bde.  16–17, Ffm. 1986. – Gesammelte Werke, Bd.  17, Hg.: W.  Jaeschke, Hbg. 1987, 1–300. Literatur: A.  Chapelle, H. et la religion, 3  Bde., Paris 1964–71. – W.  Jaeschke, Die Vernunft in der Religion. Studien zur Religionsphilosophie H.s, Stgt. 1986. – T. A. Lewis, Religion, modernity, and politics in H., Oxfd. 2011.

Wissenschaft der Logik EA Nürnberg 1812–16 (2 Bde.).

Hauptthema des Werkes ist die Aufstellung einer Theorie des »objektiven Denkens«, d.  h. des begreifenden Denkens, das seine reinen Bestim-

mungen zum Inhalt hat und zugleich die »innerste« Verfassung alles Seienden ausmacht. Ausgangspunkt ist die in der →  Phänomenologie des Geistes erreichte Stufe des absoluten Wissens. Vor dem Hintergrund der antiken Logosphilosophie will das Werk die »logische Natur, die den Geist beseelt, zum Bewusstsein bringen«. H. konzipiert sie zugleich als die »Darstellung Gottes in seinem ewigen Wesen«. Das bedeutet keine bloße Wiederherstellung der klassischen bzw. spinozistischen Substanzmetaphysik, sondern erfordert die Umgestaltung ihrer Motive auf der Grundlage des von Kant aufgestellten, aber für H. nicht konsequent zu Ende geführten Prinzips der Subjektivität. Insofern H. die »Vollendung« der Einen Substanz als Subjekt »Begriff« nennt, entwickelt das Werk eine Theorie der Subjektivität, die als das Sich-Denken des Begriffs verstanden wird. Den verschiedenen Phasen der Begriffsexplikation entspricht die Einteilung des Werkes in die »objektive Logik« des Begriffs als Sein und Wesen und in die »subjektive Logik« des Begriffs als Begriff. Die Lehre vom Sein, die 1831 überarbeitet wurde, wird in den Abschnitten »Bestimmtheit (Qualität)«, »Größe (Quantität)«



Hegel: Wissenschaft der Logik 259

und »Maß« abgehandelt, die wiederum in drei Kapitel aufgeteilt sind, in denen ihre jeweiligen Hauptmomente  dargestellt werden: Sein, Dasein, Fürsichsein;  Quantität, Quantum,  quantitatives  Verhältnis; spezifische Quantität, reales Maß, das Werden des Wesens. In der Anfangskonstellation Sein/Nichts/Werden erweist sich das Sein in seiner Unmittelbarkeit als die abstrakteste und inhaltsleere Bestimmung, die zugleich mit dem Nichts identisch, aber von ihm auch unterschieden bzw. in es immer »übergegangen« ist. Im wechselseitigen Ineinander  Verschwinden von Sein und Nichts besteht als ihre Einheit das Werden, aus dessen Momenten (Entstehen und Vergehen) sich das Dasein ergibt. Als ein qualitatives und reales »Etwas« (Ansichsein) steht es seiner Negation, dem »Anderen« gegenüber, so dass beide einander negieren und zugleich begrenzen. Anhand des Verhältnisses zwischen Grenzziehung und Grenzüberschreitung behandelt H. dann die Dialektik von Endlichem und Unendlichem und differenziert die »wahrhafte« von der »schlechten« Unendlichkeit. Während diese ein bloßes Weiterschreiten von Grenze zu Grenze ist, besteht jene im Prozess der das Endli-

che mitumgreifenden bzw. aufhebenden und sich so bewährenden Unendlichkeit, wobei das Endliche selbst als Produkt der Selbstvermittlung aus dem Jenseits der Grenze betrachtet wird. Durch diesen Rückbezug wird das Sein zum Fürsichsein, dessen Bestimmungen das Eins und das Viele sind. Ihre Wechselbeziehung durch Attrak­ tion und Repulsion führt zum Umschlag der Qualität in die Quantität, die im 2.  Kapitel abgehandelt wird, in dem H. die spekulative Tragweite der damaligen Mathematik und Physik analysiert. Die Wesenslehre thematisiert die Vermittlungssphäre der Reflexion. Diese versteht H. als Zurückbiegen der Sache in sich selbst, als deren innere Gegenläufigkeit, wobei sich das unmittelbare Sein als abhängig vom Wesen und daher als »Schein« erweist. Während der Fortgang der Seinskategorien im Übergehen in jeweils anderes besteht, entfaltet das »System der Reflexionsbestimmungen« (von Identität/Unterschied  bis hin zum Widerspruch und Grund) in spekulativer  Umdeutung der traditionellen Axiomatik die ­ internen Verhältnisse von Selbst- und Andersheitsbezie­hung. Sie  liegen den w ­eiteren  Wesens­ bestimmungen (Erscheinung/

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Hegel: Wissenschaft der Logik

Ding an sich, Ganzes/Tei­ le,  Substanzialität/Kausalität/ Wechselwirkung) sowie den Modalkategorien (Zufälligkeit, Wirklichkeit, Mög­lichkeit, Notwendigkeit) zugrun­de. Die »immanente« Widerlegung des Spinozismus lokalisiert H. am Übergang vom Substanzbegriff zum Begriff als solchem, der im 2.  Band abgehandelt wird. Der Begriff als Einheit von Sein und Wesen umfasst die Grundstruktur der Substanz – die Gleichheit mit sich in ihren verschiedenen Bestimmungen – und die des Subjekts – den wissenden Selbstbezug – und zeigt sich somit als das Wirk­liche, das sich durch seine ­ denkende Selbstbeziehung konstituiert. Auf dem Wege zu seiner vollständigen Selbstbestimmung durchläuft der Begriff die Momente der Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit sowie die Figuren des Urteils (als »Urteilung« des Begriffs im Subjekt-PrädikatVerhältnis) und des Schlusses. Im 1. Abschnitt (»Die Subjektivität«) wird die Schlussstruktur als das adäquate Explikationsmittel des Begriffs und ebenso als die Grundverfassung der objektiven Welt bezeichnet. Deren mechanische und chemische Prozesse wertet H. im 2.  Abschnitt (»Die Objektivität«) auf die Teleologie hin

aus. Die Einheit von Subjektivität und Objektivität bildet die vollendete Form des Begriffs, die H. Idee nennt. Im Bereich des Daseins nimmt sie die Gestalt des Lebens als eines organischen Ganzen an und entwickelt sich ferner im Theoretischen und Praktischen bis hin zur absoluten Idee als Identität des Wahren und des Guten. Auf dem Niveau der Idee als »der Kongruenz des Begriffs und der Realität« fallen das fortschreitende Bestimmen des Anfangs und die rückläufige Begründung desselben ineinander. In der abschließenden Erörterung versteht H. die »Methode« als die immanente Bewegung des Begriffs, also der »Sache selbst«. Sie vollzieht sich in drei Momenten. 1. Jede anfängliche Denkbestimmung ist zunächst eindeutig festgesetzt und gegen andere unterschieden. 2.  Dabei verweist sie auf ihr Entgegengesetztes, wodurch beide ihre Eigenständigkeit verlieren, weil sie sich gegenseitig aufeinander beziehen. Die entgegengesetzten Bestimmungen verhalten sich wie »das Positive« und »das Negative« zueinander, die jeweils ihr Gegenteil in ihrer eigenen Bedeutung enthalten, so dass sie ihren Inhalt ineinander verkehren. 3.  Das Resultat ist eine inhaltsreichere und höhe-



Hegel: Wissenschaft der Logik 261

re Bestimmung, die die beiden vorhergehenden enthält. Das zweite Moment dieser vielschichtigen Bewegungsstruktur nennt H. das »dialektische«, dessen Kern – im Rückgriff auf Spinozas Satz, dass jede Determination Negation ist – die »bestimmte Negation« bildet. Indem die Gegensatzglieder sich negativ aufeinander beziehen, enthalten und schließen sie sich gleichzeitig aus. Dieser Sachverhalt impliziert einen Verstoß gegen das Identitätsbzw. Widerspruchsprinzip, der nicht als Hinweis auf Inkonsistenz angesehen wird. Die permanente Aufstellung und Auflösung des Widerspruchs innerhalb der Gegensatzbeziehung bildet vielmehr »den innersten Quell lebendiger  und geistiger Selbstbewegung«.  Somit erweist sich jede Denkbestimmung und folglich jedes Ding zugleich als Moment der selbstreferenziellen Prozessualität des Begriffs, die H. als »absolute Negativität« oder »Negation der Negation« definiert. Die so verstandene Methode, die Idee, bildet sich dann zum System als einem sich entwickelnden Ganzen aus, in dem alle Denkbestimmungen miteinander vermittelt sind. – Das Werk steht im Mittelpunkt der Diskussion um H.s Dialektik. Ihre Rezeptionsgeschichte

reicht von der ablehnenden Kritik (durch den späten Schelling, F. A. Trendelenburg, Schopenhauer, Kierkegaard,  Feuerbach, Popper) über die »Reformen« der Dialektik (K. Fischer, Spaventa, Croce, Gentile) bzw. deren »Umstülpung« im dialektischen Materialismus bis zur Aneignung dialektischer Motive im Neomarxismus, in der Frankfurter Schule, in der philosophischen Hermeneutik und im Rahmen gegenwärtiger Theorien der Subjektivität (D.  Henrich). Eine Formalisierung der dialektischen Methode unternehmen G.  Günther, L.  Apostel, D.  Dubarle, M.  Kosk und – mithilfe semantischer Kategorien – H.-F. Fulda. F. Longato Ausgaben: Gesammelte Werke, Bde.  11, 12 und 21 (= Die Lehre vom Sein, 1832), Hg.: F.  Hogemann/W.  Jaeschke, Hbg. 1978–84. – Werke in 20 Bdn., Bde. 5 und 6, Ffm. 1986. Literatur: A. F. Koch/F. Schick (Hg.), G. W. F. H. Wissenschaft der Logik, Bln. 2002. – M. Wolff, Der Begriff des Widerspruchs. Eine Studie zur Dialektik Kants und H.s, Ffm.  22009. – D. Henrich, H. im Kontext, Ffm. 22010.

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Heidegger: Sein und Zeit

Martin Heidegger *  26. 9. 1889 in Meßkirch, † 26. 5. 1976 in Freiburg i.Br.; neben Edmund Husserl der wichtigste Vertreter der Phänomenologie.

Sein und Zeit EV Halle 1927 (in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung 8).

H. hat in sein philosophisches Hauptwerk nahezu alle Gedanken und Analysen seiner vorangegangenen Vorlesungen aufgenommen. Der Anspruch des Werkes ist groß: H. möchte philosophisch die Möglichkeit der Philosophie, genauer der Ontologie verständlich machen, indem er auf den Ursprung des philosophischen Denkens zurückgeht; darauf zielt die Bezeichnung der im Werk entwickelten Konzeption als »Fundamentalontologie«. Der Ursprung philosophischen Denkens ist für H. dabei etwas anderes als sein historischer Beginn. Die Philosophie soll aus der Weise des Menschen zu sein, die H. »Dasein« nennt, verständlich werden, und zwar aus dem Wesenszug des »Seinsverständnisses«: Zum Dasein gehört, dass man das eigene Sein erfährt. Diese Erfahrung muss aber durch eine »Daseinsanalyse« erst freigelegt werden. H. versteht sein Unternehmen

als »Phänomenologie«, da sich in dieser Freilegung die Struktur des Daseins zeigt. Die phänomenologische Analyse wird im Dasein vollzogen und gibt dem Dasein sich selbst zu verstehen; H. bezeichnet sie daher als »Hermeneutik«. Der 1. Abschnitt des Werkes ist der »Fundamentalanalyse des Daseins« gewidmet. H. profiliert seinen Begriff des Daseins hierbei gegenüber der Vorstellung isolierter »Subjekte«, die im Erfahren und Erkennen in ein Verhältnis zu den Dingen treten. Dasein heißt für ihn »In-der-Weltsein«, d. h.: Daseiend befindet man sich im Spielraum bestimmter Möglichkeiten des Erfahrens, in dem sich einzelne Erfahrungen und Erfahrungskorrelate erst abheben können. Auch ausdrückliche Begegnungen mit anderen gehören immer schon in den Zusammenhang des »Mitseins« und seiner meist unausdrücklich bleibenden Begegnungsmöglichkeiten. Dasein ist primär Möglichsein; Möglichkeit ist »die ursprünglichste und letzte positive Bestimmtheit des Daseins« überhaupt. H. will also in seiner Daseinsanalyse v. a. den Möglichkeitssinn des Daseins herausarbeiten. Er findet ihn in der »Befindlichkeit« der Stimmungen und im »Verstehen«, das gleichbedeutend ist mit



Heidegger: Sein und Zeit 263

der Aufgeschlossenheit für bevorstehende Möglichkeiten zu sein. Der Möglichkeitssinn des Daseins ist zwar gleichbedeutend mit seinem Seinsverständnis. Zur Struktur des Daseins gehört aber, diesen Möglichkeitssinn immer wieder durch die Orientierung am Wirklichen zu überdecken; das Mögliche ist nicht nur der offene Bereich, in dem man sein kann, sondern auch das in seiner Unbestimmtheit Bedrohliche und Ängstigende. – H. fragt daher im 2.  Abschnitt von Sein und Zeit, wie die »uneigentliche« Orientierung am Wirklichen zugunsten einer Daseinsweise, in der man den »eigentlichen« Möglichkeitscharakter des Daseins wahrhaben will, durchbrochen werden kann. Weiter will H. zeigen, dass diese »Eigentlichkeit« des Daseins im unverstellten Austragen seiner »Zeitlichkeit« besteht. Zeit soll sich als »Horizont« des Seinsverständnisses erweisen. In diesen Zusammenhang gehört auch die berühmt gewordene Analyse des »Vorlaufens zum Tode«. Der Tod ist das in jedem Augenblick Mögliche und das Vorlaufen zum Tode daher eine radikale Möglichkeitserfahrung, in der die Zukunft nicht durch bestimmte Vorstellungen und Pläne verstellt wird. Das Vorlaufen zum Tode

ist eng mit der Stimmung der Angst verbunden. Die Angst offenbart, dass man immer schon in der Offenheit des Möglichen ­ »gewesen« ist; so durchbricht sie die Orientierung an ei­ner vom Wirklichen her verstandenen Vergangenheit. Wo der Möglichkeitscharakter von Ge­ wesenheit und Zukunft über­ nommen wird, zeigt sich im Dasein das »Gewissen«. Angst, Vorlaufen zum Tode und Gewissen führen aus der »Verschlossenheit« der Orientierung am Wirklichen in den Möglichkeitscharakter des Daseins, seine »Erschlossenheit«. Da sie die Befreiung aus der Verschlossenheit ermöglichen, werden sie als »Entschlossenheit« bezeichnet. – Für das Projekt von Sein und Zeit ist damit aber erst ein vorläufiges Ergebnis gewonnen. H. will letztlich auf das philosophische Seinsverständnis hinaus, wie es sich in der ontologischen Frage, was der Ausdruck »seiend« bedeute, seit Platon immer wieder artikuliert hat. Bei dieser Analyse will H. beim »vorontologischen« Dasein ansetzen: Ontologie, so heißt es schon in der Einleitung des Werkes, ist nur möglich, wenn die ontologische Fragestellung dem Sein des Daseins nicht fremd ist. Doch das heißt nicht, dass die ontologische Fragestellung aus

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Hempel: Aspects of Scientific Explanation

dem vorontologischen Seinsverständnis auch abgeleitet oder verständlich gemacht werden kann. Genau an der Stelle, wo das geschehen sollte, bricht Sein und Zeit ab: Der 3.  Abschnitt des Werkes, der mit »Zeit und Sein« betitelt werden sollte, ist nicht geschrieben worden. Auch der 2.  Teil, der Kant, Descartes und Aristoteles exemplarisch erörtern sollte, ist unausgeführt geblieben. – Veröffentlicht wurden nur die beiden ersten, das gesamte Unternehmen lediglich vorbereitenden Abschnitte des 1. Teils. Das hatte Folgen für die Wirkungsgeschichte, gegen die H. sich immer wieder gewehrt hat: Er wollte Sein und Zeit nicht als Beitrag zur Anthropologie oder zur Existenzphilosophie verstanden wissen, als der das Buch immer wieder gelesen wurde – und gelesen werden konnte. So ist die Wirkung von H.s Hauptwerk immer auch ein produktives Missverständnis gewesen, das sich nur korrigieren lässt, wenn man das ganze Projekt von Sein und Zeit betrachtet und auf die Inten­ tion seines Autors bezieht. G. Figal Ausgaben: GA, Bd.  2, 1977. – Tbg. 192006. Literatur: H. Feick, Index zu H.s »Sein und Zeit«, Tbg. 1961; 21968. – G. Figal, M. H. – Phänomenolo-

gie der Freiheit, Weinheim 32000. – G. Figal, M. H. zur Einführung. Hbg. 42003.

Carl Gustav Hempel * 8. 1. 1905 in Oranienburg (bei Berlin), † 9. 11. 1997 in Princeton Township; zählt zu den Hauptvertretern des logischen Empirismus.

Aspects of Scientific Explanation and other Essays in the Philosophy of Science

(engl.; Aspekte wissenschaftlicher Erklärung und andere Aufsätze zur Wissenschaftsphilosophie), EA NY/ Ldn. 1965.

Das Werk enthält in teilweise modifizierter Form elf zwischen 1942 und 1960 erschienene Aufsätze H.s sowie den umfangreichen Titelessay. – In Studies in the Logic of Confirmation (1943) stellt H. u. a. das sog. »Raben-Paradox« dar: Die Beobachtung eines schwarzen Raben scheint den All-Satz ›Alle Raben sind schwarz‹ zu bestätigen. Entsprechend wäre ein nicht schwarzes Objekt, das kein Rabe ist, eine Bestätigung des Satzes ›Alles was nicht schwarz ist, ist kein Rabe‹. Die zwei All-Sätze sind aber logisch äquivalent, und wenn von einem adäquaten Bestätigungsbegriff verlangt wird, dass eine Bestätigung eines Satzes auch



Hempel: Aspects of Scientific Explanation 265

jeden dazu äquivalenten Satz bestätigt, so ergibt sich die anscheinend paradoxe Konsequenz, dass z. B. rote Stifte als Bestätigung für ›Alle Raben sind schwarz‹ zu werten sind. Nach H. beruht der Eindruck eines Paradoxes jedoch auf einer Illusion: Nur scheinbar sagt der Satz ›Alle Raben sind schwarz‹ nur etwas über Raben; tatsächlich behauptet er von jedem x, dass x kein Rabe oder schwarz ist. – In Empiricist Criteria of Cognitive Significance (1950) diskutiert H. eine der Grundüberzeugungen des logischen Empirismus – dass ein Satz genau dann »kognitiv signifikant« ist, wenn er (a) aus rein logischen Gründen wahr oder falsch ist, oder (b) unter geeigneten Umständen anhand empirischer Evidenz geprüft werden kann. H.s Analyse nimmt Quines berühmte »holistische« Kritik an den »Dogmen des Empirismus« teilweise vorweg: »Kognitive Signifikanz« kommt nur theoretischen Systemen als ganzen zu; ob ein einzelner Satz »signifikant« ist, hängt vom sprachlichen Rahmen und vom theoretischen Kontext ab. H. liefert ferner eine bündige Kritik an Poppers Ansicht, dass Falsifizierbarkeit als ein Abgrenzungskriterium dienen könne, welches Erfahrungswissenschaft von Metaphysik,

Pseudowissenschaft u.ä. trennt. – Eine zweite Grundüberzeugung des logischen Empirismus liegt The Theoretician’s Dilemma von 1958 zugrunde – nämlich, dass sich das Vokabular jeder wissenschaftlichen Theorie zerlegen lässt in (a) das logisch-mathematische, (b) das theoretische und (c) das Beobachtungsvokabular. Wenn theoretische Terme nicht direkt beobachtbare Entitäten bezeichnen und Wissenschaft die Aufgabe hat, Sinnesdaten zu systematisieren, so steht jede Verwendung theoretischer Terme vor folgendem Dilemma: Wenn theoretische Terme und Prinzipien ihre Aufgabe der Systematisierung von Beobachtbarem nicht erfüllen, so sind sie offenbar unnötig; aber wenn sie diese Aufgabe erfüllen, so sind sie ebenfalls unnötig, denn Zusammenhänge zwischen Beobachtbarem lassen sich unter ausschließlicher Verwendung von Beobachtungs- und logisch-mathematischem Vokabular darstellen. – Bekannt ist H. insbesondere durch das in Studies in the Logic of Explanation (1948) gemeinsam mit P. Oppenheim vorgeschlagene Modell einer deduktiv-nomologischen Erklärung. Ein aus (zu erklärendem) Explanandum und (erklärendem) Explanans bestehendes Argu-

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Heraklit: Peri Physeōs

ment gilt danach als adäquate Erklärung, wenn (a) das Explanandum aus dem Explanans logisch deduzierbar ist, (b) das Explanans ein allgemeines Gesetz wesentlich enthält, (c) empirischen Gehalt hat und (d) wahr ist. Dieses Modell, im Titelaufsatz mit deduktiv- bzw. induktiv-statistischen Erklärungsschemata unter der Bezeichnung covering-law-Modell zusammengefasst, hat eine umfangreiche Diskussion ausgelöst, in der besonders dessen – von H. bejahte – Anwendbarkeit in Sozial- und Geschichtswissenschaften umstritten ist. Viele von H.s mit großer Klarheit entwickelten Argumente sind von nachhaltigem Einfluss auf die Wissenschaftstheorie gewesen. A. Vilks Ausgabe: Dt., Bln./NY 1977 (nur Titelessay, ergänzt und bearbeitet). Literatur: W. Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und analytischen Philosophie, Bd. I: Erklärung Begründung, Kausalität, Bln. 21983. – J. Woodward, Scientific Explanation, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy (2010, http://plato.stanford.edu).

Heraklit von Ephesos Mittlere Lebenszeit Ende 6. Jh. v. Chr., philosophische Zeugnisse um 480 v. Chr.; Vorsokratiker.

Peri Physeōs (gr.; Über die Natur), ED Paris 1573 (in: Poēsis Philosophica, Hg.: H. Stephanus).

Es liegen von H. 139 Fragmente vor, die unter dem Titel Über die Natur (Peri Physeōs) zusammengefasst werden. Sie sind bei DK nicht nach sachlichen Gesichtspunkten, sondern alphabetisch nach jenen antiken Autoren angeordnet, die H. zitieren. Sein Stil ist dunkel (die Antike nannte ihn skoteinos: ›den Dunklen‹), die Wortwahl ungewöhnlich und reich an Wortspielen (»Des Bogens Name ist Leben, sein Werk der Tod«, B 48; biós = ›Bogen‹, bíos = ›Leben‹). H. sagt von sich: »Ich durchforschte mich selbst« (B 101). Den Grundgedanken des Logos (›Sinn‹, ›Sammlung‹, ›Wort‹, ›Verhältnis‹) begreifen die »anderen« Menschen nicht (B  1); sie liegen vollgefressen wie das Vieh (B  29). Zumeist ziehen sie es vor, ihr Glück in Freuden des Körpers zu suchen (B 4) und zu leben, als hätten sie eine eigene Einsicht (B  2). Sie können weder hören, noch verstehen noch reden (B  19), ihre Meinungen sind nur Spielzeug (B 70). Für die Wissenden aber gebraucht H. als Erster das Wort »weisheitsliebend« (philosophos, B  35). Doch trifft dies auf Dichter wie Homer (den



Heraklit: Peri Physeōs 267

man mit Stöcken verprügeln sollte, B  42) und Hesiod (der Tag und Nacht nicht erkannte, B  57) nicht zu, auch nicht auf Philosophen wie Pythagoras und Xenophanes (die trotz Vielwisserei keine Vernunft besitzen, B 40). Doch auf den Einzelnen kommt es nicht an: »Haben sie nicht mich, sondern den Logos vernommen, ist es weise, in Übereinstimmung mit dem Logos zu sagen: Alles ist Eins« (B 50). Spruchweisheit (gnōmē) kommt den Menschen nicht zu, nur göttlichem Wesen (B 78); so ist für Gott (der Tag und Nacht, Winter und Sommer, Krieg und Frieden, Sattheit und Hunger ist, B 67) alles schön, gut und gerecht (B 102). – Die Einheit des Logos ist eine solche von Gegensätzen: Der Kampf ist der Vater von allem und zeigt die einen als Götter, die anderen als Menschen, macht die einen zu Knechten, die anderen zu Freien (B  53). Hades und Dionysos (Tod und Leben) sind eins (B  15). Der Weg hinauf und hinab ist ein- und derselbe (B 60). Das Meer, das den Fischen Leben gibt, ist für Menschen tödlich (B 61). Die Hölzer von Bogen (todbringend durch Apollon und Artemis) und Leier (die zum Musenführer Apollon gehört) (B  51) sind gegeneinander gespannt

und doch eine »harmonische« Fügung (harmonie). Die unsichtbare Fügung ist mächtiger als die sichtbare (B  54). Wir steigen in die selben Flüsse und doch nicht, sind es und sind es nicht (B  49a). Das Leben der Unsterblichen ist Tod für die Sterblichen und umgekehrt (B 62). Die Natur (die nie untergeht, B 16) ist dem Verbergen innig verbunden (B  123). – Der Kosmos (die Welt) wurde von keinem der Götter noch von Menschen erschaffen; er war stets ewig lebendiges Feuer, ist es und wird es sein (B 30). Das Feuer (vom Kirchenvater Hippolyt von Rom christlich gedeutet und dem Endgericht zugeordnet, B 36) schlägt um: Es wird Meer, aus diesem werden zur Hälfte Erde und Gluthauch (feurige Ausdünstung), daraus gehen wieder Erde und Himmel und das, was zwischen ihnen ist, hervor, dann wird die Erde wieder zum Meer; dies alles geschieht nach dem Maß desselben Logos (B 31). Das All steuern Donner und Blitz (keraunos, B 64), die Attribute des Zeus. Doch dieses einzig Weise will und will aber auch nicht den Namen des Zeus erhalten (B  32). Die archaische Zeit identifiziert Gott  mit seinem Bild (bretas), H. spricht von einem Weihegeschenk (agalma), zu dem die Menschen be-

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Herder: Ideen

ten, als wären es Götter (B 5). Auch bedient er sich der Analogie: Der schönste Affe ist, mit dem  Menschengeschlecht verglichen, hässlich, und der weiseste Mensch erscheint, verglichen mit Gott, wie ein Affe (B 82, B 83). H. Vetter Ausgaben: Gr./dt., DK, Bd.  I (Fragmente = ›B‹). – Gr./dt., Die Vorsokratiker, Bd.  1, Hg.: L.  Gemelli Marciano, Bln. 2007. – Engl., C. H. Kahn, The Art and Thought of Heraclitus. An edition of the fragments with translation and commentary, Cambr. 1981. Literatur: K. Held, H., Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft. Eine phänomenologische Besinnung, Bln. 1980. – T. Hammer, Einheit und Vielheit bei H. von Ephesus, Wzbg. 1991. – J.-E. Pleines, H. – Anfängliches Philosophieren, Hildesheim 2002.

Johann Gottfried Herder *  25. 8. 1744 in Mohrungen, †  18. 12. 1803 in Weimar; Dichter, Theologe und Philosoph der Aufklärung.

Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit EA Riga/Lpzg. 1784–91 (4 Teile).

H.s Bückeburger Schrift Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774) bildet eine Urzelle dieser ausgereiften Universalgeschich-

te. Neu sind die stark von Goethe beeinflussten naturphilosophischen Betrachtungen  des 1. Teils. – H. vertritt darin ein mit viel empirischem Mate­rial unterlegtes Entwicklungsschema. Einsetzend mit der anorganischen Materie führt eine gestufte Aufwärtsbewegung  über Pflanzen- und Tierreich zur Krönung der Schöpfung, dem Menschen, der in seiner Freiheit und in seinem enzyklopädischen Wissen den Geist Gottes angemessen auszudrücken vermag. Vertieft hat H. im 2., 3. und 4.  Teil seines Werkes die Völker- und Länderkunde. Materialreich  dokumentiert, untersucht H. im 2.  Teil die genetische Kraft, den Einfluss von Klima, Geographie, Sinnlichkeit, Tradi­tion und Nachahmung auf die Entwicklung des Menschen. Dabei wird die Wiege und Bildungsstätte der Menschheit in Asien lokalisiert. Der 3. und 4. Teil entfaltet schließlich anhand von umfangreichen Studien eine Physiognomik der Länder und Völker, in denen der »Genius der Erleuchtung« im Laufe der menschlichen Entwicklung Gestalt gewonnen hat. – Vergleicht man die drei geschichtsphilosophischen Werke H.s, die Bückeburger Geschichtsphilosophie, die Ideen und die Adrastea (1801–03), eine Phy-



Hobbes: De Corpore 269

siognomik des 18.  Jh.s, dann überwiegt in den Ideen am deutlichsten der optimistische Tonfall. Der Glaube an einen Humanitätszuwachs, der für H. nicht wie bei Kant an der Entwicklung des Gemeinwohls gemessen wird, sondern an der individuellen Entfaltung und am Glück des Individuums, steht im Vordergrund. – Während H. seine Universalgeschichte in den Ideen nur bis zum Mittelalter ausschreibt, nimmt er sich später in der Adrastea das eigene Jahrhundert vor. Dort überwiegt der skeptische Tonfall, weil, wie H. moniert, die Persönlichkeitsentfaltung im 18. Jh. bei aller Geistverliebtheit die leib-sinnlichen Bedingungen unterreflektiert lässt. Dieser unterschwellig vorhandene kritische Tonfall wurde in der Rezeptionsgeschichte von H.s Hauptwerk bisher weitgehend überhört. Die Wirkung von Herders Ideen verlief zudem äußerst pluriform. Er wurde einerseits als Huma­nitätstheoretiker, andererseits als Programmgeber diverser Germanisierungskulturkonzepte gelesen, man entdeckte in ihm den Aufklärer oder Antiaufklärer und deutete ihn einmal als differenzierten Fortschrittstheoretiker, dann wieder als Kulturhermeneut mit ästhetischen Prämissen.

Die pluriforme  Lesart seiner Schriften ist nicht zuletzt dem schillernden Stil und der verschlungenen Argumentation Herders geschuldet. K. Huizing Ausgaben: Sämtliche Werke, Bde.  13–14, Bln. 1887–1909. – Wiesbaden 1985. – Werke, Bd.  6, Ffm. 1989. Literatur: H. und H. Schlaffer, Studien zum ästhetischen Historismus, Ffm. 1975. – R.  Gleiser, Die Entstehung der ästhetischen Humanitätsidee in Deutschland, Stgt. 1988. – R. Otto (Hg.), Vom Selbstdenken. Aufklärung und  Aufklärungskritik in H.s »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit«, Heidelberg 2001. – A.  Löchte, J. G. H. Kulturtheorie und Humanitätsidee der »Ideen, Humanitätsbriefe und »Adrestea«, Wzbg. 2005.

Thomas Hobbes * 5. 4. 1588 Westport, † 4. 11. 1679 Hardwick; einer der Hauptvertreter der Vertragstheorie und Mitbegründer der politischen Philosophie der Neuzeit.

Elementorum Philosophiae Sectio Prima De Corpore (lat.; Vom Körper), EA Ldn. 1655; engl. Ldn. 1656.

De Corpore ist der erste Teil der Elementa Philosophiae, eines dreiteiligen Werkes zu den

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Hobbes: De Corpore

Grundlagen der Philosophie, das um 1937 konzipiert wurde und neben De Corpore die Schriften →  De Homine und → De Cive umfasst. Angesichts der politischen Wirren, die dem englischen Bürgerkrieg vorausgingen, wurde die Veröffentlichung des staatsphilosophischen dritten Teils vorgezogen. De Corpore entstand in verschiedenen Arbeitsphasen zwischen 1637 und 1655. – Die Zielsetzung von De Corpore lautet, im Geiste von Kopernikus, Galileo und Harvey und in Abgrenzung von der aristotelischen Scholastik die wahren Grundlagen der Physik darzulegen. Die Abhandlung gliedert sich in vier Teile. Im »Berechnung oder Logik« überschriebenen ersten Teil identifiziert H. die Philosophie mit der von klaren Definitionen ausgehenden und in gültigen Schlussfolgerungen fortschreitenden Vernunft und weist ihr zwei Aufgaben zu: die Erkenntnis von Wirkungen im Ausgang von bekannten Ursachen und die Erkenntnis von Ursachen im Ausgang von bekannten Wirkungen. Dinge, bei denen sich keine Erzeugungsweise begreifen lässt, wie dies etwa bei Gott der Fall ist, sind folglich nicht Gegenstand der Philosophie. Die Regeln, nach denen die Vernunft verfährt, werden

von H. durch die Beschreibung verschiedener Arten von Namen, Sätzen und logischen Schlüssen dargelegt. Zu den Charakteristika von H.’ Logik zählt seine Bestimmung des Schlussfolgerns als Rechnen mit allgemeinen Namen und die nominalistische Leugnung der Existenz von Universalien. Die philosophia prima des zweiten Teils liefert Definitionen fundamentaler philosophischer Begriffe wie Raum und Zeit, Körper und Akzidenz, Ursache und Wirkung, Potenz und Akt. H.’ Bestimmungen fußen auf der Vorstellung, dass das Einzige, was in der Welt existiert, matter in motion ist. Alle Ursachen bestehen folglich in bewegten Körpern und alle Wirkungen in der Bewegung eines erleidenden Körpers bzw. seiner Teile. Die mechanistische Deutung des Kausalitätsprinzips führt H. zu einer Umdeutung aristotelischer  Konzepte: H. setzt den Begriff der Substanz mit dem Begriff des Körpers und die Begriffe Potenz und Akt mit denen von Ursache und Wirkung gleich und behauptet, dass sich causa materialis, causa formalis und causa finalis allesamt auf den Begriff der Wirkursache reduzieren lassen. Das letzte Kapitel des zweiten Teils, in dem H. geometrische Figuren mecha-



Hobbes: De Homine 271

nistisch auf die Bewegungen zurückführt, mit denen sie sich konstruieren lassen, leitet zur reinen Bewegungslehre des dritten Teils über. Dieser enthält neben Erörterungen zur Geschwindigkeit und zum Bewegungsansatz (conatus)  auch H.’ berüchtigten Versuch einer Quadratur des Kreises. Im »Physik oder die Phänomene der Natur« überschriebenen Teil 4 findet die zweite Methode der Philosophie Anwendung: die Suche nach möglichen Ursachen wahrgenommener Wirkungen. H.’ vorrangiges Interesse gilt dabei dem Phänomen der Wahrnehmung selbst. H. entwickelt eine mate­rialistisch-mechanistische Deutung der Wahrnehmung, nach der es sich bei dieser – wie bei allen mentalen Prozessen – um Bewegungen innerhalb des wahrnehmenden Individuums handelt, und weist den cartesianischen Dualismus von res extensa und res cogitans ebenso zurück wie die Annahme der Willensfreiheit. Die restlichen Kapitel des vierten Teils widmen sich der Astronomie und den Qualitäten Farbe, Ton, Wärme und Schwere. – Obwohl De Corpore immer eine gewisse Beachtung gefunden hat, ist der Einfluss von H.’ Naturphilosophie bei weitem nicht mit dem seiner politi-

schen Philosophie vergleichbar. Ein Grund liegt in H.’ Ausführungen zur Kreisquadratur, die eine polemische Debatte mit den Oxforder Professoren John Wallis und Seth Ward auslösten und H.’ Reputation bei seinen naturwissenschaftlich gesinnten Zeitgenossen nachhaltig beschädigten. Ein zweiter Grund dürfte darin liegen, dass H., bei aller Prägung durch die moderne Naturwissenschaft, mit seiner Geringschätzung in­duktiver Verfahren und der experimentellen Methode zum Teil die Zeichen der Zeit verkennt. D. Eggers Ausgaben: The English Works, Bd.  I, Hg.: W.  Molesworth, Ldn.  1839. – Elemente der Philosophie, Erste Abteilung: Der Körper, Hg.: K. Schuhmann, Hbg., 1997. Literatur: F. Brandt, T.  H.’ mechanical conception of nature, Kopenhagen/Ldn. 1928. – T.  Sorell, H., Ldn. 1986. – M.  Esfeld, Mechanismus und Subjektivität in der Philosophie von T.  H., Stgt.-Bad Cannstatt 1995.

Elementorum Philosophiae Sectio Secunda De Homine (lat.; Vom Menschen), EA Ldn. 1658.

De Homine ist der zweite, zuletzt veröffentlichte Teil der Elementa Philosophiae (→  De Corpore, → De Cive). – H.’ Ab-

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Hobbes: De Homine

handlung über den Menschen widmet sich zunächst der Entstehung des Embryos und den menschlichen Körperfunktionen. Ihr eigentliches Ziel besteht aber darin, den Fähigkeiten des menschlichen Geistes auf den Grund zu gehen. Die hierzu vorgesehenen Kapitel zerfallen in zwei Abschnitte. Die Kapitel  2 bis 9 befassen sich mit Fragen der Optik. Bei ihnen handelt es sich um eine lateinische Bearbei­ tung von Teilen der 1646 verfassten Schrift A Minute or First Draught of the Optiques. Die Kapitel  10 bis 15 versammeln sprachphilosophische, wissenschaftstheoretische, handlungstheoretische, moralpsychologische und religionsphilosophische Überlegungen, die sich in ähnlicher Form in De Corpore und dem → Leviathan finden. An die Erörterung der Sprache, die H. als Ergebnis menschlicher Konventionen begreift, schließt sich eine Charakterisierung der Wissenschaft an, die weitgehend mit den Definitionen der beiden früheren Werke identisch ist. H. betont, dass demonstrative Beweisführungen nur von Gegenständen möglich sind, deren Erzeugung vom Menschen abhängt. Laut H. können entsprechende Erkenntnisse nicht nur in der Geometrie, sondern auch in

der Staats- und Moralphilosophie erlangt werden, da sich ihre zentralen Begriffe Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit auf menschliche Verträge zurückführen lassen. Im Mittelpunkt der Handlungstheorie stehen Überlegungen zu Entstehung und Wesen des menschlichen Willens, die ebenfalls aus den früheren Schriften vertraut sind. Gleiches gilt für H.’ Ausführungen zur Relationalität der Begriffe ›gut‹ und ›schlecht‹ und seine Leugnung eines summum bonum. Kapitel 12 liefert Definitionen verschiedener Affekte, Kapitel  13 befasst sich mit den Ursachen und der  Bewertung der menschlichen Charaktereigenschaften. H. behauptet, dass es keine objektiven Begriffe von Tugend und Laster geben kann, und folgert, dass sich mit Blick auf das Leben außerhalb des Staates keine wirkliche Moralwissenschaft entwickeln lässt, weil erst mit den bürgerlichen Gesetzen der dazu erforderliche objektive Maßstab existiert. Das Kapitel zur Reli­ gion konzentriert sich auf die Unterscheidung von bloßem Glauben und religiösem Kultus und die Vereinbarkeit von religiöser Verpflichtung und bürgerlichem Gehorsam. Das letzte Kapitel führt den Begriff der Rechtsperson und, zumin-



Hobbes: De Cive 273

dest der Sache nach, die Konzepte der A ­utorisierung und Repräsentation ein. Da beiden Konzepten in De Cive aber keine so explizite Rolle zukommt wie im Leviathan, läuft die ­damit angedeutete Überleitung zum dritten Teil der Elementa Philosophiae ein wenig ins Leere. – Obwohl De Homine aufgrund seiner Zugehörigkeit zu den Elementa Philosophiae zu H.’ Hauptwerken gezählt werden kann, ist die Schrift kaum rezipiert worden, wohl weil die Kapitel zur Optik nur von ­geringem philosophischen Interesse sind und viele der weiteren Ausführungen in anderen  Werken enthalten sind. Da die Entstehungszeit vieler Passagen nicht bekannt ist und der Eindruck entsteht, H. habe De Homine nur veröffentlicht, um seiner Pflicht zur Vervollständigung der Elementa Philosophiae nachzukommen, ist zudem die Autorität einiger Darstellungen fragwürdig. Dies gilt etwa für H.’ Aussagen zu Tugend und Laster, die in Widerspruch zu dem im Levia­ than formulierten Anspruch stehen, mit der Lehre von den natürlichen Gesetzen den wahren Maßstab von Tugend und Laster geliefert und die wahre Moralphilosophie begründet zu haben. D. Eggers

Ausgaben: Man and Citizen, Hg.: B.  Gert, Indianapolis 1991. – Vom Menschen. Vom Bürger, Hg.: G. Gawlick, Hbg. 31994. Literatur: U. Weiß, Das philosophische System von T. H., Stgt.-Bad Cannstatt 1980. – B.  Gert, H., Cambr. 2010.

Elementorum Philosophiae Sectio Tertia De Cive (lat.; Vom Bürger), EA Paris 1642; Amsterdam 21647 (erw.).

De Cive ist der dritte, zuerst veröffentlichte Teil der Elementa Philosophiae (→ De Corpore, → De Homine). De Cive weist große Übereinstimmungen mit der Schrift The Elements of Law auf, die H. vor seiner Flucht nach Paris im November 1640 unter den Abgeordneten des englischen Parlaments zirkulieren ließ, aber nie selbst in Druck gab. Entgegen anders lautenden Einschätzungen in der früheren Hobbes-Forschung geht die 1651 unter dem Titel Philosophicall Rudiments erschienene englische Übersetzung von De Cive vermutlich nicht auf H. selbst zurück. – De Cive beginnt mit der berühmten Aussage homo homini lupus, deren Geltung H. aber ausdrücklich auf das Verhältnis von Staaten beschränkt und durch die Wendung homo homini deus relativiert. H.’

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Hobbes: De Cive

Ziel besteht darin, die Lehre von Recht und Gerechtigkeit auf eine sichere Grundlage zu stellen und die Leser über ihre Pflichten als Menschen, Bürger und Christen aufzuklären. Der Haupttext gliedert sich in drei große Abschnitte, die »Freiheit«, »Staatsgewalt« und »Religion« überschrieben sind. Im ersten Abschnitt entwickelt H. mit seiner Naturzustandstheorie seine einflussreiche Begründung des Staates. Nach H. nimmt ein Leben außerhalb des Staates zwangsläufig die Form eines ›Krieges aller gegen alle‹ an. Die Befolgung von friedenssichernden Verhaltensregeln, die H. als ›natürliche Gesetze‹ bezeichnet, ist aber erst dann wahrhaft vernünftig, wenn eine Zwangsgewalt ihre allgemeine Beachtung sicherzustellen vermag. Der zweite Abschnitt widmet sich der Entstehung und dem Wesen des Staates. H. führt den Staat auf einen Gesellschaftsvertrag zurück, in dem die Bürger einander zusagen, den Befehlen des staatlichen Herrschers zu gehorchen. Laut H. kann es sich bei diesem um eine Einzelperson oder eine Versammlung handeln. Auf H.’ Betonung der Absolutheit und Unteilbarkeit der souveränen Gewalt und die Unterscheidung der möglichen Staatsformen folgt eine

Beschreibung derjenigen Herrschaftsformen, die nicht auf ein Übereinkommen der Untertanen zurückgehen. Auch diese Formen, die despotische und die elterliche Herrschaft, werden von H. letztlich im Sinne eines Vertragsverhältnisses gedeutet. Die restlichen Kapitel des zweiten Teils befassen sich mit den Vorteilen der Monarchie, mit den Lehren, die die Stabilität eines Staates bedrohen, mit den Pflichten des Souveräns (die sich auf eine Gewissenspflicht zur Achtung der natürlichen Gesetze beschränken) sowie mit dem Begriff des Gesetzes. Der dritte Abschnitt soll die Vereinbarkeit von bürgerlicher Gehorsamspflicht und religiösem Bekenntnis aufzeigen und deutlich machen, dass kein Bürger dem Souverän aus religiösen Gründen den Gehorsam verweigern darf. – De Cive hat seinen Verfasser nicht nur als Philosophen bekannt gemacht, sondern mit der impliziten Anerkennung der Begründungsbedürftigkeit des Staates und der Ausgestaltung des Vertragsgedankens die Staatsphilosophie in neue Bahnen gelenkt. In England wurde der Einfluss von De Cive bald durch den 1651 erschienenen →  Leviathan überlagert. Auf dem europäischen Festland blieb De Cive jedoch lange die einflussreiche-



Hobbes: Leviathan 275

re Schrift. Bis heute finden sich in der H.-Forschung Einschätzungen, nach denen die Argumentation von De Cive der des Leviathan philosophisch überlegen ist. D. Eggers Ausgaben: On the Citizen, Hg.: R.  Tuck, Cambr. 1998. – Vom Menschen. Vom Bürger, Hg.: G. Gawlick, Hbg. 31994. Literatur: H. Warrender, The political philosophy of H., Oxfd. 1957. – L.  Strauss, H.’ politische Wissenschaft, Neuwied 1965. – D. Eggers, Die Naturzustandstheorie des T. H., Bln./NY 2008.

Leviathan, or The Matter, Forme, & Power of a CommonWealth Ecclesiasticall and Civill

(engl; Leviathan, oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates), entst.  1649– 51; EA Ldn. 1651; lat. Amsterdam 1668.

H.’ opus magnum ist in vier Bücher unterteilt. Bücher  I und II folgen in ihrem Aufbau dem 1640 verfassten Manuskript The Elements of Law und widmen sich der Lehre vom Menschen und der Lehre vom Staat. Das dritte Buch ist, wie schon in → De Cive, der Erörterung der Religion gewidmet, die sich im neu hinzugefügten vierten Buch fortsetzt. Die anthropologischen Ausführungen konzentrieren sich zunächst auf

erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Aspekte, die – wie H.’ mechanistische Theorie der Sinneswahrnehmung, seine Theorie der Sprache und seine Definitionen von Vernunft und Wissenschaft – kaum direkten Bezug zur Sphäre des Politischen haben. Von größerer Relevanz sind die handlungstheoretischen Ausführungen des sechsten Kapitels, die den Anlass zur Erörterung der Begriffe Gut und Schlecht liefern und zur Diskussion der Leidenschaften, der menschlichen Sitten und der psychologischen Grundlagen der Religion überleiten. Die eigentliche staatsphilosophische Abhandlung be­ginnt wie in De Cive mit der Theorie des Naturzustands und der Herleitung des ›Krieges aller gegen alle‹, deren Akzent nun stärker auf der Konkurrenz um lebenswichtige Güter und der daraus resultierenden Notwendigkeit präventiver Gewalt liegt. Die anschließende Begründung des ›Rechts auf alles‹ und die Ableitung der natürlichen Gesetze weisen ebenfalls leichte Unterschiede zu De Cive auf. Die zentrale These lautet aber weiterhin, dass eine Befolgung der natürlichen Gesetze nur dann vernünftig ist, wenn eine allgemeine Zwangsgewalt existiert. Die eigentliche Staatslehre folgt ebenfalls eng

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Hobbes: Leviathan

der Argumentation von De Cive. H. betont die Unteilbarkeit der souveränen Gewalt, hebt hervor, dass der Souverän den Untertanen kein Unrecht tun, sondern sich mit der Missachtung der natürlichen Gesetze höchstens unbillig verhalten kann, und behauptet die Überlegenheit der Monarchie. Die wichtigste Neuerung besteht darin, dass H.’ Deutung des Gesellschaftsvertrags von den im neu hinzugefügten 16. Kapitel eingeführten Konzepten der Repräsentation und Autorisierung Gebrauch macht. Im letzten Kapitel versucht H. zu zeigen, dass es keinen Konflikt zwischen den qua Vernunft verkündigten natürlichen Gesetzen Gottes und den Gesetzen des Staates geben kann. Das dritte Buch soll beweisen, dass auch die positiven Gesetze Gottes, d. h. die Gesetze der Offenbarung, den bürgerlichen Gesetzen nicht widerstreiten. H.’ Argument beruht darauf, dass sowohl die Gesetze selbst als auch die Indizien, die ihren göttlichen Ursprung verbürgen, der Auslegung durch die Kirche bedürfen; dass in einem christlichen Staat die Kirche mit dem Staat identisch ist; und dass es keine Weltkirche gibt, die über alle Christen Autorität beanspruchen könnte. Da folglich allein der staatli-

che Souverän verbindlich zu bestimmen vermag, was die positiven Gesetze Gottes fordern, ist ein Konflikt zwischen religiöser und bürgerlicher Gehorsamspflicht praktisch ausgeschlossen. Im vierten Buch mit dem Titel »Vom Reich der Finsternis« kritisiert H. in stark polemischer Weise Fehldeutungen der Bibel, Formen des Aberglaubens und die Lehren der Schulen Platons und Aristoteles’. – Die von H. selbst geäußerte Sorge, seine unorthodoxe Auslegung der Bibel könne Anstoß erregen, erweist sich nach der Veröffentlichung des Leviathan als allzu begründet. Für Entrüstung sorgt aber nicht nur H.’ Diskussion religiöser Inhalte, sondern auch der »A Review and Conclu­sion« überschriebene Schlussteil: Die darin bekräftigte These, dass sich die bürgerliche Gehorsamspflicht auch auf Herrschaftsverhältnisse erstreckt, die aus unrechtmäßigen Eroberungen hervorgegangen sind, wird von H.’ royalistischen Weggefährten als Rechtfertigung der republikanischen  Regierung und Verteidigung der Revolution verstanden. Die Debatte um H.’ religiöse Auffassungen führt 1666 zur Einsetzung eines Komitees, das im Auftrag des Parlaments den Vorwurf des Atheismus und der Ketzerei



Horkheimer: Eclipse of Reason 277

prüfen soll. Auch nach H.’ Tod im Jahr 1679 setzen sich die gegen den Leviathan gerichteten Bestrebungen fort: Im Jahr 1683 werden H.’ Bücher von der Universität Oxford verurteilt und öffentlich verbrannt. Dass H. nicht nur bei seinen Zeitgenossen, sondern auch in der politischen Philosophie lange Zeit den Status einer persona non grata hat, lässt sich weniger auf seine religions- als auf seine moral- und staatsphilosophischen Positionen zurückführen: auf sein vermeintlich pessimistisches Menschenbild, seine Lehre vom natürlichen ›Recht auf alles‹ und seine Verteidigung der Absolutheit souveräner Gewalt. Als Folge einer um 1960 einsetzenden Renaissance der H.-Forschung ist der Leviathan mittlerweile jedoch als eines der Hauptwerke der politischen Philosophie und der englischen Literatur anerkannt. D. Eggers Ausgaben: Engl., Hg.: R. Tuck, Cambr. 1996. – Dt., Hg.: I. Fetscher, Ffm. 71997. Literatur: F. S. McNeilly, The Anatomy of Leviathan, Ldn. 1968. – D. Gauthier, The Logic of Leviathan, Oxfd. 1969. – B.  Ludwig, Die Wiederentdeckung des epikureischen Naturrechtes, Ffm. 1998.

Max Horkheimer * 14. 2. 1895 Stuttgart, † 7. 7. 1973 Nürnberg; Sozialphilosoph der Frankfurter Schule.

Dialektik der Aufklärung → Theodor W. Adorno Eclipse of Reason (engl.; Zur Kritik der instrumentellen Vernunft), EA NY 1947.

H.s geschichtsphilosophischzeitdiagnostisches Werk, das auf Vorlesungen des Jahres 1944 an der Columbia Universität zurückgeht, unterzieht die wissenschaftlich-technische Degradierung der Vernunft zum kalkulierenden Instrument im Dienste subjektiver Selbstbehauptung und die damit einhergehende Materialisierung von Natur und Mensch einer scharfen Kritik. Neben der Errechnung effektiver Mittel verliere die »instrumentelle« Vernunft die Fähigkeit, die Vernünftigkeit der Zwecke zu beurteilen: Die Hyperrationalität bezüglich der Mittel gebiert die Irrationalität der Zwecke. Die Eigendynamik einer derart reduzierten Vernunft untergrabe aber das Ziel aller Rationalisierung: die Humanisierung und Selbstverwirklichung des Menschen. – Herrschte über einen langen Zeitraum der abendländischen Entwicklung,

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Horkheimer: Eclipse of Reason

wie das 1. Kapitel »Mittel und Zwecke« darlegt, ein Begriff »objektiver Vernunft« vor – Vernunft war von Platon bis zum deutschen Idealismus eine Natur und Welt bestimmende Kraft, an der sich das Denken und Leben des Menschen auszurichten vermochte –, so wird im Verlauf der Geschichte dieser Vernunftbegriff destruiert und von der »subjektiven Vernunft« verdrängt: Vernunft erweist sich ausschließlich als die Fähigkeit, gegebenen Zwecken die effizientesten Mittel zuzuordnen. Für diese Vernunft wird es aber »sinnlos, den Vorrang eines Ziels gegenüber andern unter dem Aspekt der Vernunft zu diskutieren«. Vernunft wird zum Werkzeug im Dienste der Interessen: »Ihr operativer Wert, ihre Rolle bei der Beherrschung der Menschen und der Natur, ist zum einzigen Kriterium gemacht worden«. – Zur Bewältigung der damit allenthalben sichtbar werdenden »gegenwärtigen Kulturkrise« werden »gegensätzliche Allheilmittel«, die positivistische und die neuthomistische Philosophie, angeboten, die für H. aber, wie er im 2.  Kapitel ausführt, nur noch tiefer in die Krise führen. Der Neuthomismus empfiehlt eine Restitution der zerstörten objektiven Vernunft. Sie dient dem Zweck, die Menschheit

vor dem Chaos zu erretten. Das Absolute wird damit »selbst ein Mittel, objektive Vernunft ein Entwurf für subjektive Zwecke, so allgemein sie sein mögen«. Die positivistische (pragmatistische) Philosophie, wie H. exemplarisch an Texten von S. Hook, Dewey und E. Nagel zeigt, verspricht sich dagegen die Rettung von einer Vollendung und Universalisierung der wissenschaftlich-technischen Vernunft. Dieser »Tendenz zur Hypostasierung der Wissenschaft« fehlt nach H. die Selbstreflexion: die Besinnung darauf, dass der Begriff der Tatsache ein »Produkt gesellschaftlicher Entfremdung« ist. Philosophie wird im Positivismus zur »Dienerin des Bestehenden«, sie propagiert eine Anpassung an die Macht: »Positivismus ist philosophische Technokratie«. – Die Instrumentalisierung der Vernunft zum Zwecke der Herrschaft über die äußere Natur impliziert die Herrschaft des Subjekts über sich selbst. Die unterdrückten natürlichen Triebe, das legt H. im 3. Kapitel »Die Revolte der Natur« dar, lehnen sich im Verlauf des Zivilisationsprozesses immer wieder in Form individueller und gesellschaftlicher Rebellion dagegen auf. Nationalsozialismus und Populärdarwinismus verstanden es, selbst diese Revol-



Horkheimer: Kritische Theorie 279

te noch einmal zu instrumentalisieren. – Nachdem H. im 4. Kapitel in einem geschichtlichen Abriss den »Aufstieg und Niedergang des Individuums« dargelegt hat (griechisches, hellenistisches,  christliches,  bürgerlich-liberales,  industriellmassenkulturelles Stadium), legt er in Kapitel  5 seinen »Begriff der Philosophie« dar: Nur in der Selbstkritik kann Vernunft sich heute treu bleiben; aufgegeben ist der Philosophie im gegenwärtigen Stadium daher v. a. die »Methode der Nega­tion […], die Denunziation dessen, was gegenwärtig Vernunft heißt«. – H.s Werk teilt viele Motive, Analysen und Beurteilungen mit der (zusammen mit Adorno verfassten) → Dia­ lektik der Aufklärung, steht allerdings auch in deren Schatten. Die erst 1967 erschienene deutsche Übersetzung versteht H. daher als »Dokumentation«. G. Seubold Ausgaben: Gesammelte Schriften, Bd.  6, Hg.: A.  Schmidt, 1991. – Ü.: A. Schmidt, Ffm. 2007. Literatur: H. Gumnior/R. Ringguth: H., Reinbek 1973. – S. Benhabib u. a. (Hg.), On M.  H. New Perspectives, Cambr. (Mass.), 1993.

Kritische Theorie. Eine Dokumentation EA Ffm. 1968, Hg.: A. Schmidt.

Das zweibändige Werk enthält die wichtigsten der in den Jahren 1932–41 entstandenen und sämtlich – bis auf »Autorität und Familie« – in der Zeitschrift für Sozialforschung (bzw. in deren englischsprachiger Fortsetzung), dem Organ des Instituts für Sozialforschung, erschienenen Abhandlungen H.s. Die Aufsätze artikulieren, wie H. im Vorwort zur Neupublikation bekundet, eine »theoretische Alternative gegenüber der Resignation vor dem mit Schrecken sich vollziehenden Lauf zur verwalteten Welt«. Mit dem historischen Materialismus von Marx und in Absage an die idealistische Philosophie zielen die Abhandlungen auf die »Beendigung der Vorgeschichte der Menschheit«: die Emanzipation des Menschen aus versklavenden Verhältnissen. – Im programmatischen Essay »Traditionelle und kritische Theorie« legt H. seine grundlegenden Intentionen dar: Organisiert die traditionelle, von Descartes (deduktiv) begründete und in den Fachwissenschaften nun induktiv praktizierte Theorie die Wirklichkeit scheinbar wertfrei unter affirmativer Be-

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Horkheimer: Kritische Theorie

zugnahme auf letzte, schlechthin gegebene Tatsachen sowie unter Ausschluss der sozialen Genesis ihrer Probleme und des Zwecks ihrer Anwendung, so hat die kritische Theorie der Gesellschaft »die Menschen als die Produzenten ihrer gesamten historischen Lebensformen zum Gegenstand«. Für eine kritische Theorie gibt es daher keine letzten Gegebenheiten, denn das, was »gegeben« ist, hängt nicht allein von der Natur, sondern immer auch von der gesellschaftlichen Beziehung zu ihr ab. Die kritische Theorie orientiert sich zwar an den Fachwissenschaften, zielt aber nicht bloß auf die Vermehrung des Wissens. Essenziell mit ihr verknüpft ist das »Interesse an der Aufhebung des gesellschaftlichen Unrechts«. Diese negative Formulierung ist für H. »der materialistische Inhalt des idealistischen Begriffs der Vernunft«. Obgleich in der gegenwärtigen geschichtlichen Periode die wahre Theorie »nicht so sehr affirmativ als kritisch« und das ihr gemäße Handeln »nicht ›produktiv‹« sein können, ist es das auszeichnende Merkmal der denkerischen Tätigkeit, »selbst zu bestimmen, was sie leisten, wozu sie dienen soll«. Eine Wissenschaft, die sich bei der Trennung von Denken und Handeln bescheidet, hat »auf

die Humanität schon verzichtet«. – Der Band enthält darüber hinaus folgende Beiträge: »Bemerkungen über Wissenschaft und Krise«, »Geschichte und Psychologie«, »Materialismus und Metaphysik«, »Zu Henri Bergsons Les deux sources de la morale et de la religion«, »Materialismus und Moral«, »Zum Problem der Voraussage in den Sozialwissenschaften«, »Zum Rationalismusstreit in der gegen­wärtigen Philosophie«, »Zu Bergsons Metaphysik der Zeit«, »Bemerkungen zur philosophischen Anthropologie«, »Zum Problem der Wahrheit«, »Autorität und Familie«, »Zu T. Haeckers Der Christ und die Geschichte«, »Gedanke zur Religion«, »Egoismus und Freiheitsbewegung«, »Der neueste Angriff auf die Metaphysik«, »Montaigne und die Funktion der Skepsis«, »Die Philosophie der absoluten Konzentration«, »Psychologie und Soziologie im Werk Wilhelm Diltheys«, »Die gesellschaftliche Funktion der Philosophie«, »Neue Kunst und Massenkultur«. Das Aufgreifen dieser so verschiedenartigen Themen ist vom Willen zur solidarischen Gesellschaft motiviert und von der Hoffnung geleitet, dass der Lauf der Geschichte letztlich doch auf ein vernünftiges Endsta­ dium zustrebt, das zu befördern das



Hume: Dialogues Concerning Natural Religion 281

fundamentale Anliegen H.s ist. Im Vorwort zur Neupublikation von 1968 – die Studentenbewegung stand im Zenit – warnt H. vor einer »unbedachten und dogmatischen Anwendung kritischer Theorie auf die Praxis in der veränderten historischen Realität«. Eine solch direkte Anwendung würde den Prozess, der zu denunzieren wäre, nur beschleunigen. G. Seubold Ausgaben: Hg. und Nachwort: A. Schmidt, 2 Bde., Ffm. 1968. – Traditionelle und kritische Theorie, Ffm. 1970 (Auswahl). – Gesammelte Schriften, Bd. 3/4, Ffm. 1988. Literatur: G. Schweppenhäuser, Kritische Theorie, Stgt. 2010.

David Hume *  7. 5. 1711 in Edinburgh, †  25. 8. 1776 in Edinburgh; wichtigster Vertreter der Schottischen Aufklärung.

Dialogues Concerning ­Natural Religion (engl.; Dialoge über natürliche Religion), entst. wahrsch. zwischen 1751 und 1761; EA Ldn.  1779 (postum).

H.s bedeutendste religionstheoretische Schrift zeichnet sich sowohl durch literarische Qualitäten als auch durch eine differenzierte Argumentation

aus. Es ist bis heute nicht zweifelsfrei geklärt, welcher der drei Dialogpartner H.s eigene Position vertritt, obwohl vieles dafür spricht, dass Philos Position derjenigen H.s am nächsten steht. H. war offensichtlich an einer Verschleierung dieser Beziehung gelegen. Das Werk wurde mit Rücksicht auf die drohenden Konflikte mit der Kirche zu Lebzeiten des Autors nicht veröffentlicht. – Von den drei Dialogpartnern vertritt Demea die orthodox theistische Position, Cleanthes einen aufgeklärten Deismus und Philo einen religiösen Skeptizismus. Obwohl im Dialog vielerlei religionstheoretische Fragen angesprochen werden, stehen doch zwei Probleme im Vordergrund der Überlegungen: 1. die Frage eines rationalen Nachweises für die Existenz Gottes (Gottesbeweis) und 2.  das Problem der Vereinbarkeit des christlichen Gottesbildes mit dem tatsächlichen Zustand der Welt (Theodizee-Problem). Die Gesprächspartner diskutieren v. a. zwei Arten von Gottesbeweisen: den kosmologischen Gottesbeweis, der Gott als die notwendige letzte Ursache des Universums nachzuweisen sucht, und den teleologischen Gottesbeweis,  der von der Planmäßigkeit der Welt ausgeht und eine unendliche

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Hume: Dialogues Concerning Natural Religion

Intelligenz als einzig mögliche Ursache einer solchen Schöpfung erweisen soll. Der (von Demea vorgebrachte) erste Gottesbeweis wird von Philo hauptsächlich in zwei Hinsichten kritisiert: Erstens behandelt dieser Gottesbeweis in seiner Sicht die Frage der Existenz Gottes wie eine Tatsachenfrage; da aber in empiristischer Sicht keine Tatsache Notwendigkeit beanspruchen kann, ist auf diese Weise die Notwendigkeit der Existenz Gottes niemals zu erweisen. Zweitens liefert der Beweis allenfalls einen Nachweis für die Existenz Gottes, sagt aber nichts aus über dessen Eigenschaften. Alle Gesprächsteilnehmer scheinen jedoch den  teleologischen Gottesbeweis für wichtiger zu halten. Dieser wird von Cleanthes dargestellt. In seinem Zentrum steht die Idee der Planung (design). Gegen dieses argument from design wendet Philo v. a. ein, dass es auf einem Anthropomorphismus (d. h. auf einer Übertragung menschlicher  Eigenschaften auf das göttliche Wesen) beruht. Zudem ist offen, ob aus der planmäßigen Gestalt des sehr kleinen uns Menschen bekannten Teils des Universums auf die Planmäßigkeit des Ganzen der Welt geschlossen werden kann; und schließlich ist fraglich, ob die

sichtbare oder vermutete Ordnung der Welt notwendig auf eine planende Vernunft verweist oder nicht vielmehr als naturwüchsiges Resultat der inneren Struktur der Materie angesehen werden kann. Da keine dieser Fragen von der schwachen Vernunft des Menschen endgültig beantwortet werden kann, empfiehlt Philo in diesen Fragen eine Urteilsenthaltung. Positiv entwickelt Philo darüber hinaus allerdings einen Alternativgedanken: Um die Schöpfung der Welt zu verstehen, muss der menschliche Verstand zu fragwürdigen Analogien greifen. Die Verteidiger des teleologischen Gottesbeweises vergleichen das Universum mit einer Maschine. Stattdessen könnte man die Welt aber auch mit einem Tier vergleichen und Gott nicht als ›Schöpfer‹, sondern als ›Seele‹ der Welt begreifen. – Das Theodizee-Problem wird in den  letzten Dialogen behandelt. Dabei kreist die Diskussion um die aus der antiken Philosophie stammende Frage, ob alle Gott aufgrund seiner Vollkommenheit zugesprochenen Eigenschaften miteinander vereinbar sind. Dies wird auf der Basis einer Deutung der Welt als chaotisch und menschenfeindlich infrage gestellt, wobei v. a. hervorgehoben wird, dass gerade den ­ Ungerechten



Hume: Enquiry Concerning Human Understanding 283

besonders häufig ein glückliches und erfolgreiches Leben gelingt. Philo schließt aus dieser Beschreibung der Welt, dass Gott  als ihr Schöpfer nicht ­zugleich allmächtig und allgütig sein kann; Cleanthes dagegen vertritt die Idee, dass Gottes ­Allgüte als von Weisheit kontrolliert und durch unüberwindliche Notwendigkeiten begrenzt aufgefasst werden muss. Im letzten Dialog diskutieren Cleanthes und Philo über den  gesellschaftlichen Nutzen von Religiosität. Cleanthes betont dabei die Nützlichkeit der Religion zur Aufrechterhaltung von Moral und staatlicher Ordnung. Philo dagegen hebt unter Hinweis auf historische Erfahrungen die Gefahr des Missbrauchs der Religion hervor. Es scheint Philos höchst persönliches Fazit zu bleiben, dass für einen Intellektuellen der erste Schritt zu einem sinnvollen Christentum derjenige in die philosophische Skepsis ist. – Die Schrift wurde schon im 18.  Jh. vielfach re­zensiert, kommentiert und auch schnell übersetzt, stieß jedoch überwiegend auf heftige Kritik und Ablehnung. Heute gilt sie als eine der bedeutendsten Arbeiten zur Religions­kritik. R. Lüthe Ausgaben: The Philosophical Works, Bd.  2., Hg.: N. K. Smith,

Ldn. 1947; Indianapolis 131979. – Dt., Hg. und Ü.: N.  Hoerster, Stgt. 1981. Literatur: N. Hoerster, D.  H. Existenz und Eigenschaften Gottes, in: J. Speck (Hg.), ­Grundprobleme der großen Philosophen. P ­ hilosophie der Neuzeit  I, Gttgn. 1979. – S.  Tweyman, Scepticism and ­Belief in H.’s »Dialogues Concerning ­Natural Religion«, Dordrecht 1986.

An Enquiry Concerning Human Understanding (engl.; Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand), EA Ldn.  1748.

Dieses Werk gilt inzwischen zu Recht als ein book in its own right (A. Flew). Im Unterschied zu H.s → Treatise ist es nicht als geschlossene Abhandlung, sondern als eine Folge von Essays konzipiert, die die zentralen Themen des 1. Buches des Treatise in konzentrierter, teils auch vereinfachender Form wieder aufnimmt, jedoch auch andere Akzente setzt und neue Themen aufgreift. – Der einleitende Essay entwickelt das Projekt einer »kritischen Metaphysik«: Nur eine Metaphysik in unkritischem Geist läuft ­Gefahr, Schlupfwinkel von Aberglaube und Irrtum zu werden. Die folgenden beiden Essays formulieren die Grundzüge von H.s Bewusstseinstheorie: (1) Alle Vorstellungen (ideas) gehen auf

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Hume: Enquiry Concerning Human Understanding

Eindrücke (im­pres­sions) zurück und (2) zusammengesetzte Vor­ stellungen (complex ideas) werden aus einfachen Vorstellungen (simple ideas) durch Assoziation gebildet. Die Assoziationsprinzipien sind: Ähnlichkeit (resemblance), raum-zeitliche Nachbarschaft (contiguity) und Kausalität (cause or effect). Die Überlegungen in den folgenden vier Essays stellen insgesamt eine Auseinandersetzung mit der Skepsis dar. Ausgangspunkt der Untersuchungen ist die Unterscheidung von Vorstellungsbeziehungen (relations of ideas) und Tatsachen (matters of fact). Nur Vorstellungsbeziehungen liefern Gewissheit; Tatsachen können nämlich niemals notwendig wahr sein. Dies wirft die Frage nach dem Geltungsanspruch des induktiv gewonnenen Erfahrungswissens auf. H.s Antwort ist: Zwar gibt es keinen objektiven Grund, sich auf die Geltung induktiver Schlüsse zu verlassen, doch funktioniert unser Bewusstsein so, dass die durch Wiederholung von Erfahrungen herausgebildete Gewohnheit (custom) uns bestimmte stabile Verhältnisse erwarten lässt. Die sich anschließende berühmte Kritik an der traditionellen Kausalitätstheorie richtet sich gegen die Vorstellungen, in der Kausalerfahrung werde eine

Kraft (power, force, energy) zugänglich, die die fraglichen Ereignisse miteinander verbindet, oder wir erführen auf anderem Wege eine notwendige Verknüpfung (necessary connexion). Demgegenüber betont H., dass die eine Ursache und eine Wirkung miteinander verbindende Kraft empirisch unzugänglich ist und auch auf andere Weise die »Notwendigkeit« der Kausalbeziehungen nicht erfahren werden könne. Kausale Verbindungen bleiben bloße Tatsachen und können keinen Anspruch auf Notwendigkeit erheben. Daher ist der Zusammenhang von Ursache und Wirkung nicht als notwendige Verknüpfung, sondern vielmehr bloß als beständige Verbindung (constant conjunction) zu verstehen. Bei der Behandlung des Themas ›Freiheit und Notwendigkeit‹ geht es H. um die für die Erkenntnistheorie der historischen Forschung relevante Frage, ob menschliches Handeln frei oder determiniert ist. Das Zentrum von H.s Antwort ist die Kritik dieses Problems als eines Streits um Worte; seine Beendigung ist leicht möglich durch die Unterscheidung von Determiniertheit und Erklärbarkeit einerseits sowie die Trennung der Perspektive des Handelnden von der des erklärenden Historikers



Hume: Enquiry Concerning the Principles of Morals 285

andererseits. Unabhängig davon nämlich, dass aus der Sicht eines Historikers eine bestimmte Handlung kausal erklärbar ist, kann der Handelnde selbst seine Entscheidung als gänzlich frei erfahren. – Der 10. Essay Über Wunder hat ebenfalls einen Bezug zur Methodologie der historischen Forschung: Nachdem H. im 1.  Teil dieses Essays die Unmöglichkeit eines Wunders bereits aus dessen Definition als Verletzung eines Naturgesetzes abgeleitet hatte, prüft er im 2. ausführlich die Voraussetzungen für die Glaubwürdigkeit von historischen Zeugen angeblicher WunderTätigkeiten. – Der 11.  Essay behandelt religionstheoretische Fragen, die in den → Dialogues Concerning Natural Religion ausführlicher erörtert werden. – Der abschließende 12. Essay skizziert H.s philosophisches Grundpostulat. Dieses steht in engem Zusammenhang mit der im 1. Essay formulierten Maxime, auch der Philosoph müsse eine »mittlere« Lebensform anstreben: »Be a philosopher; but, amidst all your philosophy, be still a man«. Aus einer solchen, lebenspraktisch definierten Perspektive heraus erscheint für H. die radikale Skepsis als eine Verfehlung. Gegen sie argumentiert er pragmatisch: Radikale Skepsis ist nutzlos

und kann deshalb trotz ihrer Unwiderlegbarkeit nicht zu einer wirklichen Überzeugung werden. Demgegenüber vertritt H. selbst nun die gemäßigte Skepsis (mitigated scepticism). Diese ist eine lebenspraktisch kontrollierte kritische Erkenntnistheorie, welche sowohl eine geordnete Praxis als auch eine selbstkritische Form der Theorie erlaubt. – Die Schrift machte H.s theoretische Philosophie bei den Zeitgenossen schnell bekannt. Hauptsächlich kritisch kommentiert wurden die Beiträge zu den Wunderberichten und zum Freiheitsproblem. Heute ist diese Arbeit H.s einer der am meisten gelesenen Texte der Philosophiegeschichte überhaupt. R. Lüthe Ausgaben: The Philosophical Works, Bd.  4., Hg.: L. A. SelbyBigge/P. H. Nidditch, Oxfd. 1975. – Dt., Hg. und Ü.: H.  Herring, Stgt. 1967. – Mit Komm. von L. Wiesing, Ffm. 2007. Literatur: A.  Flew, H.’s Philosophy of Belief. A Study of His First Enquiry, Ldn. 1961; 41980.

An Enquiry Concerning the Principles of Morals (engl.; Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral), EA Ldn. 1751.

Diese moralphilosophische Schrift betont die Bedeutung

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Hume: Enquiry Concerning the Principles of Morals

emotionaler Grundlagen bei der Entstehung moralischer Bewertungen, ohne allerdings die wichtige Rolle des Verstandes bei diesen Vorgängen zu leugnen. Die Grundideen gehen auf H.s Überlegungen im 3. Buch des → Treatise zurück. – In den Analysen geht es eher um die Frage, wie die Menschen tatsächlich eigenes und fremdes Handeln beurteilen, als darum, ob und warum diese Art von Beurteilung richtig ist oder nicht. Die Schrift ist also eher beschreibend als wertend. H.s argumentative Anstrengungen richten sich dabei auf den Nachweis, dass die (sozialen) Tugenden nur deshalb generelles Lob finden, weil sie sich als für Stabilität und Wohlstand des Gemeinwesens nützlich erweisen. Methodisch wird dieser Nachweis anhand von Gedankenexperimenten geführt, in denen die Abhängigkeit des Wertes der Kardinaltugenden Wohlwollen (benevolence) und Gerechtigkeitssinn (justice) vom jeweiligen Zustand der Gesellschaft nachgewiesen wird. In H.s Sicht verlieren diese Tugenden ihren Wert in Gesellschaften extremen Überflusses ebenso wie in solchen extremen Mangels. Daher haben sie offensichtlich keinen Wert ›an sich‹; sie erhalten ihn vielmehr erst

durch ihren Bezug zum öffentlichen Nutzen. Dies führt zu der Frage, warum denn Nützlichkeit, insbesondere Nutzen für das Gemeinwohl, spontan gefällt. Diese Fragestellung ist das eigentliche Herzstück von H.s Untersuchung. Im 5.  Abschnitt der Schrift liefert H. viele Nachweise dafür, dass die Menschen an der Begegnung mit (sozialer) Nützlichkeit tatsächlich ein spontanes Gefallen finden. Eine eigentliche Erklärung für dieses Phänomen aber liefert er nur ansatzweise in dem Hinweis auf eine ursprüngli­che Bezogenheit der Menschen aufeinander, der zufolge sie ein natürliches Interesse an dem haben, was die menschliche Gemeinschaft betrifft, und eine spontane Freude an allem, was diese fördert. Diese  moralische Ursprungsemo­ tion, welche in H.s Treatise als fellow-feeling bezeichnet wird, heißt hier sympathy oder auch humanity, so dass H.s Moralphilosophie als eine Ethik der Sympathie bezeichnet werden kann. Eine gründliche Analyse dieser Emotion liefert H. allerdings nicht. Stattdessen verwendet er viel Mühe darauf, seine Grundlegung der Ethik von egoistischen Varianten der Nützlichkeitsethik abzuheben. Das Gefallen an einer moralisch guten Tat entsteht nach



Hume: Enquiry Concerning the Principles of Morals 287

H. nicht aus einer Reflexion über den konkreten Nutzen, den das beurteilte Verhalten oder die beurteilte Eigenschaft für die urteilende Person selber hat oder haben könnte. Vielmehr drückt sich im Gefallen an sozialer Nützlichkeit unmittelbar eine ursprüngliche Sozialität des Menschen aus, die einen Umweg über egoistische Reflexionen überflüssig macht. Ein Indiz für die ursprüngliche Sozialität der Menschen sieht H. auch darin, dass jeder auch solche Tugenden schätzt, die bereits dem Träger selber von Nutzen sind, wie etwa Fleiß, Ordnungssinn u.ä. Allerdings ist diese Sozialorientierung der Menschen H. zufolge nicht ohne ein Gegengewicht: Menschen sind auch eigennützig, gelegentlich bis zum Egoismus. Deshalb ist eine Institution notwendig, die die Befolgung der moralischen Gebote durch die einzelnen Bürger überwacht. Diese Institution ist die staatlich verfasste Gesellschaft (political soci­ety). Die Schlussabschnitte der Schrift entwickeln die Grundzüge einer Tugendlehre, deren Gliederungsprinzipien H. den einschlägigen Abschnitten aus dem Treatise entnimmt: Tugenden sind entweder angenehm oder nützlich, und zwar entweder für den Besitzer oder

für die anderen. Diese Grund­ orientierung an den Werten der Nützlichkeit und der Annehmlichkeit hat entscheidende Konsequenzen: »Mönchische Tugenden« wie etwa Zölibat, Fasten und Selbstverleugnung sind wegen ihres mangelnden Beitrags zu persönlichem oder gesellschaftlichem Nutzen bzw. Annehmlichkeit keine Tugenden im Sinne des H.’schen pragmatischen Humanismus. Wieso aber die behauptete ursprüngliche Sozialität angenommen werden muss und warum sie alleiniger Maßstab moralischer Qualitäten sein soll, klärt H. nicht abschließend. – Große philosophiegeschichtliche Bedeutung hat die Schrift wegen ihrer prägenden Wirkung auf die Hauptvertreter des klassischen Utilitarismus, Bentham und J. S. Mill. Auch in der zeitgenössischen ethischen Diskussion spielen Argumente und Thesen aus diesem Werk noch eine wichtige Rolle. R. Lüthe Ausgaben: The Philosophical Works, Bd.  4, Hg.: L.  A. Sel­ by-Bigge/P.  H. Nidditch, Oxfd. 1975. – Dt., Hg., Anm. und Einl.: M. Kühn, Hbg. 2003. Sekundäriteratur: J. L. Mackie, H.’s Moral Theory, Ldn. 1980. – D.  H.: Über Moral. Komm. von H. Pauer-Studer, Ffm. 2007.

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Hume: A Treatise of Human Nature

A Treatise of Human Nature: Being an Attempt to Introduce the Experimental Method of Reasoning into Moral Subjects

(engl.; Ein Traktat über die menschliche Natur. Ein Versuch, die erfahrungsorientierte Methode der Begründung auf die Gegenstände der Geisteswissenschaften anzuwenden), EA Ldn.  1739/40 (anonym, 3 Bde.).

Diese Schrift umfasst sowohl den Bereich der theoretischen als auch den der praktischen Philosophie. Sie entwickelt in beiden Bereichen die Grundzüge von H.s Philosophie. Die Arbeit ist als Grundlegung einer empirischen Wissenschaft von der »menschlichen Natur« konzipiert. Als solches ist sie Ausdruck von H.s Wunsch, ein »Newton der Geisteswissenschaften« zu werden. In strenger Parallele zu den erfolgreichen Naturwissenschaften sollen die empirischen Geisteswissenschaften das Ensemble von einfachen und allgemeingültigen Gesetzen formulieren, welche Denken, Fühlen und Handeln der Menschen zu allen Zeiten und in allen Kulturen bestimmt haben. Dieses Ensemble ist nach H. »die Natur des Menschen«. Trotz der deutlichen Orientierung an der Grundstruktur naturwissenschaftlicher Forschung ist H. sich von vorneherein darü-

ber im Klaren, dass die neuen Geisteswissenschaften gegenüber den Naturwissenschaften den methodischen Nachteil haben, keine Experimente durchführen zu können. Der Untertitel des Werkes ist daher so zu verstehen, dass die Geisteswissenschaften streng der empirischen Methode folgen sollen. Die Rolle des fehlenden Experiments übernimmt in H.s Konzeption der Geisteswissenschaften ebenso wie in seinem eigenen Gesamtwerk die historische Forschung. – Das erste 1.  Buch »Of the Understanding« behandelt H.s atomistische und empiristische Bewusstseins- und Erkenntnistheorie: H. erklärt das Zustandekommen zusammengesetzter Vorstellungen (complex ideas) als Ergebnis der Assoziation einfacher Vorstellungen (simple ideas) und behauptet zudem, dass alle Vorstellungen (ideas) letztlich auf Eindrücke (impressions) zurückgehen. Die entscheidenden Ergebnisse von H.s Analysen sind: 1. Nur Vorstellungsbeziehungen liefern Gewissheit; 2.  Kausalschlüsse beruhen nicht auf einer Einsicht in Notwendigkeiten, sondern auf psychologischen Mechanismen der Assoziation. Konsequent ersetzt H. daher auch den traditionellen Gewissheitsanspruch durch die



Hume: A Treatise of Human Nature 289

Idee eines auf Gewohnheit (custom) beruhenden »Fürwahr-Haltens« (belief). – Das 2.  Buch »Of the Passions« entwickelt H.s Anthropologie, die als Basis seiner gesamten Philosophie anzusehen ist. Das Herzstück dieser Anthropologie ist H.s »Naturalismus«, die Lehre also, der Mensch werde weniger durch seine Vernunft als durch seine Affekte bestimmt, und dies solle auch so sein: »Reason is, and ought only to be the slave of the passions, and can never pretend to any other office than to serve and obey them«. Neben Liebe, Hass, Stolz und Scham (als den wichtigsten Affekten) wird außerdem noch die Sympathie als die besondere Fähigkeit der emotionalen Identifikation mit anderen Menschen und deren Interessen und Einstellungen analysiert. H. sieht die Grundlage moralischer Urteile nicht in der Vernunft, sondern in einem moral sense, der der affektiven Seite des Bewusstseins zuzurechnen ist. – Unter dem Titel »Of Morals« thematisiert das 3.  Buch v. a. Fragen der Staatslehre und der Politik. Der Staat und die Rechtsinstitutionen sind für H. notwendig, weil der Mensch durch die Affekte bestimmt ist, diese aber wegen ihrer egoistischen Grundorientierung die Stabili-

tät der Gesellschaft tendenziell gefährden. Andererseits aber ist gerade diese affektive Orientierung des Menschen am Eigennutz der Ansatzpunkt für eine Vermittlung von privaten und öffentlichen Interessen; um in seinem Handeln sein persönliches Glück zu verwirklichen, braucht der Mensch nämlich die Gewissheit, dass bestimmte soziale Gegebenheiten, an denen er sein Handeln orientiert, verlässlich sind. Daher haben der Staat und die Rechtsinstitutionen die Aufgabe, dem individuellen Handeln eine Basis von »Sicherheit und Ordnung« zu geben. Die Fundamente dieser sozialen Sicherheit sind das Eigentum, der bindende Charakter von Versprechen (Verträgen) sowie die (Verteilungs-) Gerechtigkeit. Die neben der politischen Theorie entwickelte Tugendlehre H.s unterscheidet soziale und persönliche Tugenden einerseits sowie künstliche und natürliche Tugenden andererseits. Allen Tugenden ist nach H. gemeinsam, dass sie im Betrachter Sympathie auslösen, weil sie als Eigenschaften wahrgenommen werden, die Glück bewirken. Soziale Tugenden (wie Wohlwollen und Gerechtigkeit) tragen zum Glück der anderen Menschen bei, persönliche Tugenden (wie Klugheit und Mut)

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Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften

eher zu dem ihres Besitzers. Im Allgemeinen werden so­ ziale Tugenden mehr geschätzt. Natürliche Tugenden (wie Dankbarkeit) entwickeln sich aus affektiven Orientierungen, die in der menschlichen Natur selber angelegt sind. Künstliche Tugenden (wie Gerechtigkeit, Verlässlichkeit und politische Loyalität) dagegen werden über die Erfahrung ihrer Nützlichkeit erlernt. – Die Schrift fand bei H.s Zeitgenossen zunächst wenig Beachtung. Im deutschsprachigen Raum lenkte später v. a. Kant die Aufmerksamkeit auf H.s theoretische Philosophie. R. Lüthe Ausgaben: The Philosophical Works, Bd.  1–2, Hg.: L. A. SelbyBigge/P. H. Nidditch, Oxfd. 1978. – Dt., Ü.: T. Lipps, Hg. und Einl.: R. Brandt, Hbg. 1978–89. Literatur: A. C. Baier, A Progress of Sentiments. Reflections on H.’s »Treatise«, Cambr. (Mass.)/Ldn. 1991. – G. Streminger, D. H. Der Philosoph und sein Zeitalter. Eine Biographie, Paderborn 2011.

Edmund Husserl * 8. 4. 1859 in Prossnitz (Mähren), † 27. 4. 1938 in Freiburg i.Br.; Philosoph und Mathematiker, Gründungsfigur der phänomenologischen Schule.

Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie

entst.  1935–36; EA (teilw.) Belgrad 1937; (vollst.) Den Haag 1954.

Es handelt sich um H.s letztes, unvollendet gebliebenes Buch, dessen postume vollständige Veröffentlichung zu einer Renaissance der Phänomenologie führte. Nach einer Periode der »Arbeit für den Nachlaß« hat H. in seinen letzten Lebensjahren, angeregt von Vorträgen in Prag und Wien, wieder versucht, eine umfassende Einleitung in die transzendentale Phänomenologie zu schreiben. Das Werk ist nicht nur ein Torso geblieben, sondern H. hat 1936 die zweite Hälfte des geschriebenen Textes vor der Veröffentlichung zurückgezogen, überarbeitet und mit neuen Texten ergänzt. – Die im Titel angedeutete Krise der Wissenschaften ist eine Krise der Wissenschaftlichkeit als Verlust der Lebensbedeutsamkeit der Wissenschaften. Die Wissenschaft ist zu einem Restbegriff geworden, im Gegensatz zu der ursprünglichen Idee von einem Leben aus der reinen Vernunft. Die richtig verstandenen (»ernstlichen«) Philosophen sind als Funk-



Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften 291

tionäre der Menschheit dazu berufen, diese ursprüngliche Aufgabe (die absolute Idee des europäischen Menschentums) zu verwirklichen. Deren Möglichkeit will H. in der verborgenen Teleologie der Philosophiegeschichte aufzeigen. – Anhand des Beispiels der sukzessiven Mathematisierung der Natur in der Entwicklung der Geometrie (bes. durch Galileo Galilei) bietet H. eine reiche Studie des Prozesses, wie die Welt der Idealitäten unbemerkt der einzig erfahrbaren alltäglichen Lebenswelt untergeschoben wird. Die Aufgabe der Phänomenologie besteht darin, diese fertigen Gebilde in einer Zickzack-Bewegung zwischen den ursprünglichen Bedeutungen und Endgestalten der Gebilde zu deren Ursprüngen zurückzuverfolgen. Auch die Philosophie ist von verhängnisvollen Unterschiebungen belastet, die H. bei den neuzeitlichen Empiristen und Rationalisten zu diagnostizieren versucht. Kant hat zwar in seiner Transzendentalphilosophie nach den letzten Quellen aller Erkenntnisbildungen zurückgefragt, er hat aber weder Humes Problem (das Sein der Welt aus subjektiver Leistung) noch die Tiefe des cartesianischen Zweifelsversuchs vollständig verstanden. – Die

Untersuchungen der Krisensituation und der dazu leitenden Entwicklungen bilden jedoch nur den Ausgangspunkt für H., um seinen eigentlichen Plan, die Etablierung der transzendentalen Phänomenologie mithilfe von neuen Gedanken, die in den letzten Jahrzehnten seines Denkens zum Vordergrund gekommen sind, durchzuführen. Diesem Ziel ist die zweite, von H. selbst zurückgezogene Hälfte des Werkes gewidmet. Von H.s neuen Gedanken hatte die philosophische Themati­ sierung der Lebenswelt die größte Nachwirkung. Die Lebenswelt, ein Reich der nie befragten Selbstverständlichkeiten, erweist sich bei H. als das letzte Sinnesfundament aller höherstufigen Evidenzen. Eine nicht-objektivistische Wissenschaft der Lebenswelt ist laut H. möglich, die das Apriori der Lebenswelt bestimmt und letztlich zu einer solchen Einstellungsänderung führt, die das universal konstituierende transzendentale Leben erkennen lässt. In dem letzten Teil des Werkes versucht H., dieses transzendentale Leben von der traditionellen Psychologie her verständlich zu machen. – H.s Buch löste eine breite, aber in einigen Bezügen – besonders in den verschiedensten Weiterentwicklungen des Lebenswelt-

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Husserl: Logische Untersuchungen

Begriffs und in der Diskussion über H.s angebliches Aufgeben des Traums von der Philosophie als strenger Wissenschaft – sehr diskrepante Rezeption aus. H.s Beschreibung der Ursprünge der Sinngebilde, besonders seine Fallstudie über den Ursprung der Geometrie und die Rolle der schriftlichen Vermittlung (schon 1939 separat veröffentlicht), wurde ein wichtiger Anhaltspunkt für die Vertreter der französischen Phänomenologie. P. Varga Ausgaben: Husserliana, Bd.  6, Den Haag 21962. – Ergänzungsband (Texte aus dem Nachlaß), Husserliana, Bd. 29, Dordrecht 1993. Literatur: H. Vetter (Hg.), Krise der Wissenschaften – Wissenschaft der Krisis?, Ffm. 1998. – E. W. Orth, E.  H.s »Krisis der europäischen Wissenschaften und die ­transzendentale Phänomenologie«, Drm­st. 1999. – J. Dodd, Crisis and Reflection, Dordrecht 2004.

Logische Untersuchungen (I. Bd.: Prolegomena zur reinen Logik, II. Bd./1. Teil: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, II. Bd./2.Teil: Elemente einer phänomenologischen Aufklärung der Erkenntnis), EA Halle 1900–01 (2 Bde.), 21913–21 (3 Bde.).

Das Werk gilt als Bahnbrecher der Phänomenologie. Im

I.  Band wird die Logik zuerst als eine rein theoretische Disziplin, die als Grundlage der Auffassungen über die Logik als Kunstlehre und als normative Wissenschaft verstanden werden kann, bestimmt. In diesem Zusammenhang wendet sich H. gegen jede Art des Psychologismus, der die logischen Begriffe durch psychologische Analysen zu erklären versucht und somit notwendig zum Relativismus führt. Reine Logik ist dagegen eine a priori, eine formale und unabhängige Wissenschaft, die »die idealen Bedingungen der Möglichkeit von Wissenschaft überhaupt« umspannt. Die sechs Untersuchungen zielen auf die phänomenologische Grundlegung der reinen Logik ab. Unter Phänomenologie versteht H. hier die deskriptive Analyse der reinen Erlebnisse überhaupt, welche die Bewusstseinsakte  nicht empirisch-psychologisch, sondern intuitiv in ihrer ­Wesensallgemeinheit betrachtet. In der I.  Untersuchung, »Ausdruck und Bedeutung«, führt H. eine phänomenologische Bedeutungstheorie  ein, wonach die bedeutsamen Ausdrücke von bestimmten ­Bedeutungsintentionen (oder auch bedeutungsverleihenden Akten) beseelt sind. Hinsichtlich dieser Akte ist die Unter-



Husserl: Logische Untersuchungen 293

scheidung des psychologischen Gehalts, der von Fall zu Fall immer ein anderer sein kann, vom logischen Gehalt, i.e. der idealen Bedeutung, von entscheidender Wichtigkeit. Da die Logik mit Bedeutungen als idealen Einheiten zu tun hat, betrifft die II.  Untersuchung »Die ideale Einheit der Spezies und die neueren Abstraktionstheorien«. Hier unterzieht H. die empiristischen Theorien der  Abstraktion einer strengen Kritik, gemäß dem Leitfaden der phänomenologischen Analyse des Allgemeinheitsbewusstseins. In der III.  Untersuchung, »Zur Lehre von den Ganzen und Teilen«, stellt die ontologische Unterscheidung von selbständigen und unselbständigen Gegenständen bzw. Inhalten das theoretische Mittel dar, um die formal-analytische und die sachhaltig-synthetische Wesenssphäre voneinander abzugrenzen. Solch eine Unterscheidung wendet die IV. Untersuchung, »Der Unterschied der selbständigen und unselbständigen Bedeutungen und die Idee der reinen Grammatik«, auf den Bereich der Bedeutungen an, deren apriorische Gesetze Sinn und Unsinn trennen. Die V. Untersuchung, »Über intentionale Erlebnisse und ihre »Inhalte«, beginnt eine phänomenolo-

gisch strukturelle Analyse der Bewusstseinsakte. In diesem Kontext wird der Begriff vom intentionalen Akt eingeführt, der ein Sich-Richten unserer Erlebnisse auf die Welt und seine Objekte bedeutet. Die analytische Betrachtung der intentionalen Akte zeigt einige Grundunterschiede, die auch zum Zweck einer neuen Urteilstheorie wichtig sind. Die VI.  Untersuchung stellt die »Elemente einer phänomenologischen Aufklärung der Erkenntnis« dar. Ausgehend von der ausführlichen Unterscheidung von Bedeutungsintentionen und Bedeutungserfüllungen, wird die Erkenntnis als anschauliche Erfüllung von leeren Denkakten bestimmt, wobei das Konzept von Anschauung bzw. Intuition – darin besteht der größte Gewinn der Untersuchung – nicht nur die sinnliche, sondern auch die kategoriale Sphäre betrifft. Dies bringt einen neuen Wahrheitsbegriff hervor. – Es handelt sich um das wahrscheinlich einflussreichste Werk von H. Einerseits stellte es einen zentralen Ausgangspunkt für die Entstehung vieler phänomenologischer Reflexionen, v. a. der sog. Münchener und Göttinger Schulen sowie Schelers und des jungen Heideggers, dar. Andererseits hat das Werk aber

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Husserl: Méditations Cartésiennes

auch andere Forschungs- und Denkrichtungen beeinflusst: darunter den damaligen Neukantianismus, die Debatte der analytischen Philosophie und die gegenwärtige kognitive Psychologie. M. Deodati Ausgabe: Gesammelte Werke (Husserliana), Bde. XVIII–XIX, Den Haag 1975–84. Literatur: V. Mayer (Hg.), E. H. Logische Untersuchungen, Bln. 2008. – D.  Zahavi/F.  Stjernfelt (Hg.), One Hundred Years of Phe­ nomenology. H.’s Logical Investiga­ tions Revisited, Dordrecht 2002.

Méditations Cartésiennes. Introduction á la phénoménologie

(frz.; Cartesianische Meditationen. Eine Einleitung in die Phänomenologie), EA Paris 1931.

Die Cartesianischen Medita­ tionen gehören zum Spätwerk H.s; sie wurden von ihm anlässlich einer Vorlesungsreihe an der Pariser Sorbonne niedergeschrieben und zuerst auf Französisch publiziert. Die deutsche Erstausgabe erschien 1950. Wie in den anderen späten Werken H.s, etwa der →  Krisis der europäischen Wissenschaften, versucht H. in den Cartesianischen Meditationen sowohl eine Einleitung in die von ihm entwickelte und sich noch immer in Arbeit befindliche Phänomenologie als

adäquate philosophische Methode zu geben als auch diese Methode und ihre Resultate zu verbessern und zu erweitern. Anders als der Titel vermuten lässt, schließt H. bei seinem Einleitungsversuch nur in ­einigen Motiven an Des­cartes’ →  Meditationes (1641) an, im Gegensatz dazu lehnt H. jedoch »fast den ganzen bekannten Lehrgehalt der Cartesianischen Philosophie« (Husserliana  I/43) ab. H. meint, dass sich die Philosophie und die modernen Wissenschaften in seiner Zeit in einer Krise befinden, die derjenigen ähnelt, die zur Zeit Descartes’ vorlag, und aus der Descartes’ Methode einen Ausweg bot, der auch heute von Aktualität ist. Die Krise der modernen Wissenschaften und der Philosophie besteht in ihrer Ausdifferenzierung in mannigfaltige Richtungen, die sich untereinander nicht verstehen. Ihre Stellung und systematische Ordnung ist uneinsichtig und unverständlich. H. übernimmt mithin von Descartes das Programm einer radikalen und strengen Philosophie als Begründungsprogramm. Hierbei ist ein Zweifel an allen geltenden Wissensbeständen leitend. Dieser betrifft sowohl die Wissensbestände der Naturwissenschaften als auch unsere alltäglichen Un-



Husserl: Méditations Cartésiennes 295

terstellungen sowie diejenige einer von uns unabhängigen Außenwelt, zudem Logik, Mathematik und Geometrie. H. versteht den radikalen Zweifel an unseren Wissensbeständen nicht als skeptische Methode, sondern als Epoché bzw. transzendentale Reduktion, d.  h. die Wissensbestände werden eingeklammert und sollen durch eine Analyse der sie hervorbringenden epistemischen Akte, die es in der Phänomenologie zu untersuchen gilt, rekonstruiert und somit auf neue Weise einsichtig gemacht werden. H.s Phänomenologie verfolgt das Programm, die Krise durch eine transparente Rekonstruktion dieser Wissensbestände verständlich zu machen und damit das Orientierungsproblem der modernen Wissenschaften zu lösen. – H. setzt zur Lösung dieser Aufgabe mit einer Analyse der Subjektivität, des cartesianischen ego cogito, als evidentem Gehalt an. Von hier ausgehend eröffne sich die Möglichkeit, in systematischer Weise die Relationen zwischen dem epistemischen Subjekt und seinen jeweiligen Gehalten zu untersuchen. H. nennt dies die ego-cogitocogitatum-Analyse, also die spezifische Untersuchung der Relationen zwischen dem cartesianischen Ich, diesem Ich

als Denkendem und den Gegenständen, die gedacht werden. Hierbei geht es H. nicht darum, ob die entsprechenden Gegenstände, auf die der jeweilige Erkenntnisakt abzielt, tatsächlich vorhanden sind oder nicht – die Gegenstände selbst werden eingeklammert. Analysiert werden vielmehr die spezifischen Bezugsweisen auf die entsprechenden Gegenstände. H. nähert sich dabei in fünf Meditationen sowohl einer Analyse der verschiedenen Gegenstandsregionen und ihren jeweiligen Zugangsweisen als auch einer Analyse des ego selbst. Insbesondere in der fünften Meditation widmet sich H. dabei dem bis heute aktuellen Problem, wie eine Fremderfahrung von anderen Subjekten möglich ist. – Aktualität kommt dem Buch insbesondere hinsichtlich H.s strengem Vorgehen bei dem Versuch einer systematischen Rekonstruktion unseres Weltwissens zu. H.s Programm lassen sich darüber hinaus entscheidende Hinweise für eine systematische Analyse des Geistes sowie der Subjektivität entnehmen, wie sie auch die Debatten in der analytischen Philosophie des Geistes prägen. T. Rojek Ausgaben: Dt., Hbg.  1995. – Engl., Cartesian Meditations. An

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James: Pragmatism

Introduction to Phenomenology, Dordrecht u. a. 1977. Literatur: M. Frank/N. Weidtmann (Hg.), H. und die Philosophie des Geistes, Bln. 2010.

William James * 11. 1.  1842 in New York City, †  26. 8. 1910 in Chocorua (New Hampshire); amerikanischer Psychologe und Philosoph, Mitbegründer des Pragmatismus, Beiträge zur Philosophie der Psychologie, Philosophie des Geistes, Methodologie der Philosophie, Wahrheitstheorie und Religionsphilosophie.

Pragmatism. A New Name for Some Old Ways of Thinking

(engl.; Pragmatismus. Ein neuer Name für einige alte Wege des Denkens), EA Ldn. 1907.

In den unter dem Titel Pragmatism versammelten acht Vorlesungen, die J. in der publizierten Form zwischen November 1906 und Januar 1907 am Lowell Institut in Boston gehalten hat, wird ein philosophisches Programm dargelegt, das v. a. im Umfeld des Metaphysical Club in Boston in den 1860er und 70er Jahren und in den Arbeiten von C. S. Peirce, C.  Wright, O. W. Holmes sowie J.  Dewey und ­ F. C. S. Schiller formuliert wurde. J. geht es hier nicht um eine systematische Darlegung für

das zeitgenössische Fachpublikum, sondern um einen allgemeinverständlichen Überblick über Kerngedanken der »pragmatischen Bewegung« (pragmatic movement). Thema sind dabei sowohl die innerhalb dieser Bewegung vertretenen Positionen bezüglich spezieller philosophischer Probleme – etwa zum Materialismus, zur Willensfreiheit, zu Einheit und Vielheit und zum Wahrheitsbegriff – als auch Fragen nach Methode und Sinn philosophischer Theo­rien. In der ersten Vorlesung erläutert J. seine Einschätzung, der zufolge sich die Philosophie seiner Zeit in einem Dilemma zwischen rationalistischen und empiristischen Theorieentwürfen befindet. Dabei kommt es ihm nicht darauf an, den von ihm vertretenen Pragmatismus einer Seite dieser Unterscheidung zuzuordnen, sondern  er zielt auf den Hinweis, dass der Unterschied zwischen  philosophischen Konzeptionen  stets mit Unterschieden in den intellektuellen und lebenspraktischen Neigungen ihrer Vertreter einhergeht. Rationalisten richten ihr Interesse demnach auf Prinzipien und vertreten idealistische, optimistische,  religiöse, monistische und dogmatische Positionen, wohingegen Empiristen sich an Tatsachen



James: Pragmatism 297

orientieren und für materialistische, pessimistische, unreligiöse, pluralistische und skeptische Positionen eintreten. Die jeweils genannten Merkmale scheinen einander auszuschließen, so dass sich insbesondere das Problem ergibt, dass religiöse und an konkreter Erfahrung von Tatsachen orientierte Weltanschauungen als inkonsistent abgewiesen  werden. Zu den wichtigsten Grundgedanken des Pragmatismus zählt, dass Theorieentwürfe Anschluss  an die Lebenswelt und vielfältige Erfahrungshorizonte sicherstellen sollen. Gemäß der pragmatischen Methode, wie J. sie charakterisiert, kommt sog. metaphysischen Disputen – bezüglich Einheit und Vielheit, Schicksal bzw. Determiniertheit und Freiheit oder der Frage nach der materiellen oder geistigen Verfasstheit der Welt – kein Selbstzweck zu; sie sieht stattdessen vor, fundamentale Fragen mit Blick auf ihre jeweiligen praktischen Konsequenzen zu behandeln; und nur dann, wenn ihre Beantwortung praktisch folgenreich ist, kann demnach eine Frage als sinnvoll angesehen werden. Die Gestalt von Überlegungen, die dieser Maxime folgen, führt J. mit Blick auf »einige metaphysische Probleme« (Vorl.  3) und das Prob-

lem der Einheit und Vielheit (Vorl.  4) vor. Kennzeichnend für J.’ Pragmatismus ist hier die Kritik metaphysischer Spekulation zugunsten der Analyse von Tatsachen sowie der Weisen ihrer Erfahrung, womit eine pluralistische Konzeption ebenso Kontur gewinnt wie die prinzipielle Anknüpfung an den common Sense, verstanden als sozial geteilte, historisch gewordene Erfahrungswirklichkeit. J.’ Darlegung des pragmatistischen Wahrheitsbegriffs (Vorl. 6) zählt zu den bekanntesten Passagen dieses Werks. Als wahr ist demnach das­jenige anzusehen, das sich in der Praxis aneignen, validieren, aufweisen und verifizieren lässt; ent­scheidend ist also auch hier die Frage nach den prak­ti­schen Kon­ sequenzen einer Theorie, eines Gedankens oder einer Aussage.  J. erteilt abstrak­ ten und spe­kulativen Wahrheits­be­ griffen eine Absage, ge­steht aber zu, dass die Details ei­ner derart verifikationisti­schen  Kon­ zeption näher auszuarbei­ ten sind, um insbesondere die praktische Dimension des pragmatistischen Wahrheits­ begriffs gegen den Vorwurf der Beliebigkeit abzusichern. Die abschließenden zwei Vorlesungen sind den Beziehungen zwischen dem hier vorgestellten Pragmatismus einerseits und

298

James: The Varieties of Religious Experience

Humanismus (Vorl.  7) und Religion (Vorl.  8) andererseits gewidmet. Hier expliziert J. zum einen die Differenz zum Rationalismus, welche durch die Ablehnung einer beobachterunabhängigen und ewigen Realität seitens des Pragmatismus markiert wird, und zum anderen erläutert er, inwiefern der Pragmatismus den Weg zu einer pluralistischen Weltanschauung weist, die zwischen krudem Naturalismus und transzendentalem Absolutismus anzusiedeln ist. – J.’ klassisch gewordene Exposition des pragmatistischen Programms ist von einigen seiner Zeit­ genossen, v. a. von J.  Dewey, fortgeschrieben worden und wurde in neuerer Zeit v. a. von R.  Rorty aufgenommen. Im Zen­trum steht dabei, in Orientierung an der pragmatischen Me­ thode und dem pragma­ tis­t­ischen Wahrheitsverständnis, eine schon vom späten Wittgenstein geteilte Kritik an übersteigerten Theorieansprüchen in der Philosophie. D. Schweikard Ausgabe: Dt., Hbg. 21994. Literatur: K. Oehler (Hg.), W. J. – Pragmatismus, Ein neuer Name für einige alte Wege des Denkens, Bln. 2000.

The Varieties of Religious Experience. A Study in Human Nature

(engl.; Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Eine Studie über die mensch­ liche Natur), EA NY 1902.

Dieser Schrift liegen die Gifford Lectures on Natural Religion zugrunde, die J. im akademischen Jahr 1901–02 gehalten hat. Die insgesamt 20 Vorlesungen sind, wie der Untertitel des Werkes ankündigt, dem Studium menschlicher Natur gewidmet und fügen sich so in J.’ mit The Principles of Psychology (1890) begonnenes Programm ein. Auch hier geht es um die konstitutiven Merkmale und die unterscheidbaren Formen individuellen Erfahrens und geistiger Tätigkeit, allerdings um den Teil, den religiöse Erfahrungen an der menschlichen Natur ausmachen. J. stellt sich diesem Thema, wie er seinem möglicherweise einen metaphysischen Traktat erwartenden Publikum gegenüber klarstellt, als Psychologe; eine psychologische Untersuchung dürfe insbesondere nicht auf religiöse Institutionen gerichtet sein, sondern müsse religiöse Gefühle und Impulse in den Blick nehmen. Methodisch gilt J.’ Interesse den hochentwickelten subjektiven Phänomenen, wie sie von artikulier-



James: The Varieties of Religious Experience 299

ten und voll selbstbewussten Menschen literarisch, d. h. v. a. in frommen Schriften oder Autobiographien, aufgezeichnet wurden. Damit legt J., der in Beispielen wiederholt auf Erfahrungsberichte und Zeugnisse von Walt Whitman, Leo Tolstoi und John Bunyan rekurriert, gewissermaßen sein Datenmaterial offen. Religion versteht er im Rahmen dieser Untersuchung als die Gefühle, Akte und Erfahrungen von Individuen, die sich zu dem in Beziehung setzen, was sie als das Göttliche auffassen. Ein zentraler Unterschied besteht J. zufolge zwischen der »Religion of Healthy-Mindedness« und der »Sick Soul«, jeweils als religiöse Grundhaltung Einzelner verstanden. Die Erstere begreift das Gute als wesentlichen und universellen Aspekt des Seins und schließt das Böse aus ihrem Sichtfeld aus, wobei das unwillkürlich geschehen kann, meist aber willentlich vollzogen wird. Für J. ist das liberale Christentum, das sich insbesondere von der alten Fegefeuer-Theologie abgrenze, hier beispielhaft (vgl. 5. Vorl.). Für die kranke Seele, wie J. die zweite Grundhaltung nennt, ist das Leid charakteristisch, das sich auch in vermeintlichen Glücksmomenten in Form von Ekel, Freudlosigkeit

oder Melancholie zeigt; dabei werden diese Regungen nicht als bloß negativ empfunden, sondern als aus einer tieferen Region kommend sowie auf beängstigende Weise einnehmend gedeutet. Als Beispiele dienen hier besonders Tolstois Bekenntnis und Bunyans Autobiographie. J. geht verschiedene Variationen der Typisierung von Religionen auf Basis dieser individuellen Grundhaltungen nach, hält sich aber beim Studium der zugehörigen psychologischen Phänomene mit Wertungen zurück. In den Vorlesungen über Das geteilte Selbst (8.) und Konversion (9. und 10.) legt J. exemplarische Schilderungen von Fällen vor, in denen Individuen einen Zustand des Zutrauens (state of assurance) zu erreichen versuchen, für den – unabhängig von den faktisch gegebenen äußeren Umständen – v. a. die Freiheit von Sorge sowie Frieden und Harmonie kennzeichnend seien. J. hebt hervor, dass es sich hierbei um eine affektive Erfahrung handelt, die sich dem epistemischen Status nach von religiösen Überzeugungen unterscheidet. Im Anschluss an eine ausgedehnte Erörterung von Formen der Frömmigkeit entwickelt J. (in der 16. und 17.  Vorl.) eine Bestimmung mystischer Erfahrung, ange-

300

James: The Will to Believe

leitet von der verbreiteten Bezugnahme auf mystische Bewusstseinszustände. Mystische Erfahrung sei, wie er ausführt, durch die Merkmale der Unbeschreiblichkeit, der noetischen Qualität, der Vergänglichkeit sowie der Passivität bestimmt; solche Erfahrungen ließen sich also nicht mitteilen, weil sie zwar Einsichten enthielten, diese aber dem diskursiven Intellekt entzogen seien; außerdem seien sie unbeständig und mit dem Gefühl verbunden, von einer höheren Macht beeinflusst zu werden. In der Auseinandersetzung um den Stellenwert dieser Form von Erfahrung nimmt J. zur Position des rationalistischen Kritikers Stellung, der die Bedeutsamkeit des Mystischen leugnet. J. meint dazu, es müsse eine offene Frage bleiben, ob mystische Zustände vielleicht sogar übergeordnete Standpunkte seien, »Fenster, durch die der Geist auf eine reichhaltigere und umfassendere Welt hinausblickt« (17. Vorl.). Die in diesen Formulierungen Gestalt annehmende, schon pragmatistisch zu nennende Haltung entfaltet J. in den beiden abschließenden Vorlesungen weiter. Dort wird religiöse Erfahrung als besonders nützliche biologische Funktion der Menschheit bezeichnet,

wenngleich die Nützlichkeit dieser Form der Erfahrung die damit verbundenen Urteile nicht wahr mache. J.’ eigener Überzeugung nach – und dieser Position hatte er in The Will to Believe schon Berechtigung eingeräumt – eröffnet religiöse Erfahrung ein weites Spektrum an kognitiver Bezugnahme auf die Welt, die nicht allein auf das ›verständliche‹ an ihr bezogen ist. – Relevanz und Wirkung dieser Schrift sind in erster Linie durch ihren besonderen, an der Schnittstelle zwischen Psychologie und (pragmatistischer) Philosophie liegenden Zugang begründet. J. wird das Verdienst zugeschrieben, die systematische Diskussion über die Struktur und den epistemischen Status religiöser Haltungen vorangetrieben zu haben. D. Schweikard Ausgaben: The Works of W.  J., Bd.  15, Cambr. 1985. – Oxfd. 2010. – Dt., Ffm. 31997. Literatur: M. R. Slater, W.  J. on Ethics and Faith, Cambr. 2009.

The Will to Believe and Other Essays in Popular Philosophy

(engl.; Der Wille zum Glauben und andere popularphilosophische Essays), EA NY 1897.

Dieser Band umfasst zehn kleinere Arbeiten, die J. auf Einladung in verschiedenen



James: The Will to Believe 301

Kontexten vor Fachpublikum vorgestellt hat und gemeinsam als Verteidigung einer Haltung ansieht, die er als »radikalen Empirismus« bezeichnet. Die hier versammelten Studien liefern erste Formulierungen der grundsätzlichen Auffassungen, die J. in Auseinandersetzung mit Fachdebatten seiner Zeit entwickelt und in späteren Vortragsreihen und Monographien ausarbeitet. Als »empiristisch« klassifiziert er seinen Zugang mit Blick auf die zentrale Rolle, die er der Bildung von Hypothesen bezüglich erfahrbarer Tatsachen zumisst, »radikal« nennt er ihn, da er auch die Lehre des Monismus als theoretische Hypothese ernst nimmt, wenngleich er diese Lehre von der Einheit und Einheitlichkeit des Erfahrungsraums letztlich verwirft. Die einzelnen Beiträge sind Fragen der Religionsphilosophie, Erkenntnistheorie, der philosophischen Psychologie sowie der Moralphilosophie gewidmet, unterscheiden sich jedoch hinsichtlich ihrer Länge und Komplexität erheblich. Im berühmten Titelaufsatz des Bandes – The Will to Believe – unternimmt J. eine Rechtfertigung religiösen Glaubens in der Absicht, das Recht darauf zu verteidigen, in Fragen der Religion Einstellungen des Glaubens oder der Über-

zeugung auch dann zu bilden und aufrecht zu erhalten, wenn sich diese epistemischen Einstellungen nicht logisch oder durch Evidenz aufdrängen. Zum Kontext von J.’ Ausführungen zählt die Auseinandersetzung mit der These, dass es ethisch gefordert sei, nur evidenzgestützte Überzeugungen zu haben und als handlungsleitend zu begreifen. J. widerspricht nicht der Orientierung an Tatsachen, wohl aber der Ab­ lehnung jedweder Berechtigung religiöser Überzeugungen. Diese sind, so J. weiter, repräsentativ für diejenigen spekulativen Hypothesen, die für Menschen von existenzieller Bedeutung sind, hinsichtlich derer sie dringend eine Haltung einnehmen wollen, die aber mittels der verfügbaren Evidenz nicht entscheidbar sind. Angesichts dieser Lage sei das Recht auf religiöse Überzeugungen nicht unter Verweis auf ihre mangelnde Stützung durch Evidenz vorzuenthalten. – Das Thema des Verhältnisses zwischen Wissenschaft und Religion steht auch in dem Aufsatz Reflex Action and Theism im Vordergrund. Hier stellt J. ein biologisches Modell des in erster Linie reflexhaften Handelns einfacher Organismen vor und setzt die Lebensform denkender und reflektierender

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James: The Will to Believe

Wesen davon ab. Für Letztere, also auch für Menschen, stellen sich zwischen externen Reizen und eigenem Handeln Sinnfragen, und ebendort entstehe der Gedanke an Gott; dies ergibt sich J. zufolge als natürliche Reaktion darauf, wie dem Menschen das Universum gegeben ist. J. schließt mit der Darlegung eines Theismus, der postuliere, dass die Dinge in der Welt durch eine spezifische Opakheit gekennzeichnet seien, eine Seinsdimension, die sich unserer theoretischen Kontrolle entziehe. – Der Aufsatz The Moral Philosopher and the Moral Life kann als Kurzfassung einer Moralphilosophie gelesen werden, die J. nie ausgearbeitet hat. Grund dafür mag sein, dass er das Unternehmen, eine Ethik in abstrakter Allgemeinheit zu formulieren, für sinnlos hielt. Dies legt er in dem genannten Kapitel dar, indem er aufzeigt, dass sich die geschichtliche Abfolge geteilter moralischer Standards als Folge von Experimenten zur Realisierung des Guten deuten lässt. J. zufolge gibt es keinen Anlass zu der Vermutung, diese Abfolge gerate an ein Ende. Da es keinen moralexternen Standpunkt zur verlässlichen oder gar autoritativen Reflexion über Moral zu geben und sich im moralischen Leben keine Stabilität

einzustellen scheint – wobei er andeutet, dass ein stabiles moralisches Universum nur in Verbindung mit einem allumfassenden göttlichen Denker möglich erscheint –, nimmt J. gegenüber dem Projekt einer philosophischen Ethik eine skeptische Haltung ein. Klar ist aber zugleich sein Hinweis darauf, dass ethische Reflexion empirisch und insbesondere anthropologisch informiert zu erfolgen hat. – J. hat die Themen der hier versammelten Beiträge fast ausnahmslos in späteren Vorlesungsreihen und Werken wieder aufgegriffen. Informativ bleiben die Texte jedoch als Belege für die Kontinuität in seinen Arbeiten, die auch in ihrer Rezeption im Vordergrund steht. D. Schweikard Ausgaben: The Works of W. J., Bd.  6, Cambr. 1979. – Dt., Ü.: T.  Lorenz, Vorwort: F.  Paulsen, Whitefish (Mont.) 2010. Literatur: R. A. Putnam (Hg.), The Cambridge Companion to W. J., Cambr. 1997.

Karl Jaspers *  23. 2. 1883 in Oldenburg, †  26. 2. 1969 in Basel; wichtiger Vertreter der deutschen Existenzphilosophie, kritische Beiträge zur Zeitgeschichte und Politik der frühen Bundesrepublik.



Jaspers: Philosophie 303

Philosophie (Bd. I: Philosophische Weltorientierung, Bd. II: Existenzerhellung, Bd. III: Metaphysik), EA Bln. 1932 (recte 1931).

In seinem Hauptwerk entfaltet J. seine Vorstellung von Aufgabe, Methode und Gegenstand der Philosophie. Der Gliederung in Weltorientierung, Existenzerhellung und Metaphysik entspricht die Einteilung des Seins in Welt (Objektsein), Existenz (Sein aus Freiheit), Transzendenz (Grund allen Seins). – Philosophische Weltorientierung: J. versteht Welt als das Ganze dessen, was als jeweils bestimmtes Sein von Objekten vorkommt und sich in einem allgemeingültigen Wissen erfassen lässt. Wissenschaftliche Weltorientierung eröffnet nicht nur dem zweckhaften Handeln in der Welt weitreichende Möglichkeiten, vielmehr ist die wissenschaftliche Haltung Vorbild für methodisch gesichertes und auf Klarheit zielendes Denken. Aber die Wissenschaften geraten an Grenzen: »Wissenschaftliche Sacherkenntnis ist nicht Seinserkenntnis«. Sie bleibt begrenzt auf den durch ihre methodischen Voraussetzungen erschlossenen Objektbereich. Das Ganze des Seins entzieht sich dem wis-

senschaftlichen Zugriff. Der Versuch, die Weltorientierung zu einem geschlossenen Weltbild zu runden, scheitert an der prinzipiellen Unabschließbarkeit unseres Wissens. Daher ist es die Aufgabe philosophischer Weltorientierung, im Aneignen und Durchschreiten der wissenschaftlichen Welterkenntnis deren Sinn und Grenzen aufzuzeigen. – Existenzerhellung: Mit diesem Titel bezeichnet J. »das alle Sachkunde nutzende, aber überschreitende Denken, durch das der Mensch er selbst werden möchte. Dieses Denken erkennt nicht Gegenstände, sondern erhellt und erwirkt in einem das Sein dessen, der so denkt«. Mit dem Begriff ›Existenz‹ wird die menschliche Seinsweise wesentlich als ein »Seinkönnen« gefasst, das sich nicht in seinem faktischem Sosein erschöpft. Der Mensch führt sein Leben, indem er sich zu sich selbst verhält und sich auf diese Weise individuell je neu bestimmt. Daher muss sich die Existenzerhellung  auch einer anderen Methode als die Weltorientierung bedienen: Sie kann sich nicht auf objektiv Gegebenes beziehen, sondern appelliert an die Möglichkeiten der Freiheit, die erst zur Wirklichkeit werden, wenn der Mensch sie in seinem konkret-geschichtlichen

304

Jonas: Das Prinzip Verantwortung

Dasein als die seinen ergreift. Für J. sind es besonders Grenzsituationen (wie Tod, Leiden, Kampf und Schuld), die die vordergründige Geborgenheit im alltäglichen Lebensvollzug zusammenbrechen lassen und den Einzelnen mit seinem ursprünglichen Selbstseinkönnen konfrontieren. Der Wille zum Selbstsein findet aber erst im Prozess existenzieller Kommunikation inhaltliche  Klärung durch die unbedingte Offenheit eines »liebenden Kampfes«, der auf das gegenseitige Hervortreiben des Selbst gerichtet ist. – Metaphysik: Die Möglichkeit existenzieller Freiheit gegenüber den immanenten Bedingungen des Daseins gründet nach J. in der Transzendenz, die nicht allgemeinverbindlich objektivierbar, sondern nur dem Seinsbewusstsein der Existenz unmittelbar gegenwärtig ist. Deren Erfahrung teilt sich in Chiffren mit, die als Ausdruck der Transzendenz verstanden werden können (z. B. Natur, Geschichte, Freiheit, Scheitern). J. unterscheidet dabei drei »Sprachen« der Chiffren: Die erste ist nur dem Seinsbewusstsein der Existenz unmittelbar gegenwärtig im geschichtlichen Augenblick; die zweite wird anschaulich in Bildern und Mythen; die dritte ist die der Reflexion entsprin-

gende Sprache metaphysischer Spekulation. – J.’ Philosophie ist neben Heideggers Sein und Zeit das erste Hauptwerk der deutschen Existenzphilosophie. In enger Anlehnung an Kierke­ gaard versucht J. in ihr die der Zeit gemäße Form der Philosophie zu finden. Die hier entwickelten Grundbegriffe seines Denkens bilden den systematischen Kern seiner späteren Philosophie des Umgreifenden (Von der Wahrheit, 1947). F.-P. Burkard Ausgabe: Bln. 2008. Literatur: P.  A. Schilpp (Hg.), K.  J. Werk und Wirkung, Stgt. 1957. – K. Salamun, K. J., Wzbg. 2006.

Hans Jonas * 10. 5. 1903 in Mönchengladbach, † 5. 2. 1993 in New York; Schüler von Husserl und Hei­degger, Arbeiten zur Religions- und Wertphilosophie.

Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation EA Ffm. 1979.

J. versucht in seinem Hauptwerk, angesichts der entgrenzten Möglichkeiten moderner Technologie die Notwendigkeit einer neuen Form von Ethik aufzuzeigen, diese ontologisch



Jonas: Das Prinzip Verantwortung 305

grundzulegen und von marxistisch-utopischen Modellen abzugrenzen. Der Titel des Werkes spielt auf Blochs → Prinzip Hoffnung an, mit dem sich J. kritisch auseinandersetzt. – Moderne Technologie stellt den Menschen vor Herausforderungen, die die philosophische Tradition nicht gekannt hat. Menschliches  Handeln hat Auswirkungen auf Umwelt, Klima und durch gentechnische Manipulation zur Verbesserung genetischer Eigenschaf­ ten (enhancement)  möglicherweise sogar auf das Wesen des zukünftigen Menschen selbst. Dadurch wird die vormals un­beeinflussbar vorgegebene Exis­ tenz menschlichen Daseins überhaupt zu einem Gegenstand der Ethik. Weil der oberste ethische Grundsatz for­ dere, dass es Menschen geben müsse, ergibt sich – in Anlehnung an und Abgrenzung zu Kant – als kategorischer Imperativ: »Handle so, daß die Wir­ kungen deiner Handlung ver­träglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.« Im Gegensatz zu traditionellen Ethiken ist die­ser Imperativ seinem Wesen nach zukunftsgerichtet und begründet keine wechselseitigen Pflichten zwischen Personen, son­ dern eine asymmetrische Pflicht der heute Lebenden

ge­genüber noch nicht existenten Nachkommen. Urtyp der Ver­antwortung ist die ElternKind-Relation, auf die J. immer wieder zurückkommt, um das Konzept politischer Verantwor­ tung einerseits zu plausibilisieren, andererseits von dieser ab­zugrenzen. – Mögliche Auswirkungen moderner Technologie sind schlecht vorhersehbar. Nicht zuletzt weil es mit dem Bestehenden – eine Welt mit moralfähigen Subjekten – »Unendliches zu verlieren« gibt, gilt der Grundsatz des Vor­ rangs der schlechten Prognose vor der guten. Richtig ver­standene Furcht gegenüber der vorgestellten Katastrophe wird emotionale Bedingung für verantwortliches Handeln. Das Bewahren des Vorhandenen und die Sicherung seines zu­künftigen Weiterbestehens hat stets Vorrang vor dem Versuch einer Verbesserung der Le­ bensbedingungen. – Gegen den naturalistischen Zeitgeist ver­sucht J. eine metaphysische, aber bewusst säkulare Fundierung der Theorie der  Verantwortung. Demzufolge sei im Sein selbst – in der Natur – ein ob­ jektives Sollen enthalten. Ein weitgefasster Gedankengang führt von Überlegungen zum Wesen von Zwecken und Werten überhaupt zu der These, das Leben selbst sei ein in

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Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?

der Evolution manifest werdender Zweck der Natur – und damit der Vorrang des Lebens vor dem Nicht-Leben ein normatives Prinzip, das die Natur offenbart. Die Umwelt und ihre Artenvielfalt bekommen somit einen Eigen­ sinn, der ihre Bewahrung unmittelbar zur Pflicht macht, ohne dass diese Pflicht noch von mensch­ lichen Interessen abhinge. – Obwohl J. kommunistischen Staatsformen  aus  Sicht der Verant­wortungs­e­thik in eini­ gen Aspek­ten den Vorzug gibt, lehnt er das Geschichtsbild der marxistischen Utopie, das er anhand von Blochs Prinzip Hoffnung diskutiert, letztlich entschieden ab. Die Vorstellung von ei­ner gehobenen Le­ bensquali­tät für al­le stößt schon auf­ grund von Ressourcenknappheit an Grenzen, beruht aber v. a. auf dem Ba­con’schen Ideal ei­ ner zukünftigen vollkommenen  Be­herr­schung  der Natur durch Erfolge von Technologie und Wis­senschaft. Dieses birgt  Gefahren, die nicht riskiert werden dürfen; schon die wis­sen­schaftliche Forschung  ist  einzudämmen, um gar nicht erst in die schwierige Situa­tion zu kommen, vorhandene tech­ni­sche Möglichkeiten aus ethi­schen Gründen verbieten zu müssen. – Das Prinzip Verantwortung hat der

angewandten Ethik wichtige Impulse ge­ge­ben, ist aber aufgrund seines voraussetzungsreichen  Gesamtzusammenhangs an die heu­tigen hoch spezialisierten De­batten um Umweltund Kli­ maschutz, Medizin­ ethik so­wie Enhancement nur noch be­grenzt anschlussfähig. M. Hoesch Ausgabe: Ffm. 2003. Literatur: W. E. Müller, Der Begriff der Verantwortung bei H.  J., Ffm. 1989. – F.-J. Wetz, H. J. zur Einführung, Hbg. 2000, Kap. 5. – W. E. Müller, H. J., Drmst. 2008, Kap. 4.

Immanuel Kant * 22. 4. 1724 in Königsberg (heute Kaliningrad), † 12. 2. 1804 in Königsberg; deutscher Philosoph der Aufklärung, Begründer der Transzendentalphilosophie.

Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? EV 1784 (in: Berlinische Monatsschrift, Hg.: J.E. Biester/F. Gedike, IV. Bd., 481–494).

Der Aufsatz zählt zu den bedeutendsten Programmschriften der Aufklärung. Den historischen Hintergrund bilden zwei Streitfragen der deutschen Spätaufklärung: (I) Was ist Aufklärung? (II) Dürfen Geistliche und Lehrer per Eid auf



Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? 307

bestimmte religiöse Lehrinhalte verpflichtet werden? – Ein Mitglied der Berliner Mittwochsgesellschaft, J.F. Zöllner, hatte öffentlich die Frage gestellt: »Was ist Aufklärung? Diese Frage, die beinahe so wichtig ist, als: Was ist Wahrheit, sollte doch wohl beantwortet werden, ehe man aufzuklären anfinge! Und doch habe ich sie nirgends beantwortet gefunden!« M.  Mendelssohn hatte in Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum (1783) die speziellere Frage aufgeworfen, »ob es erlaubt sey, die Lehrer und Priester auf gewisse Glaubenslehren zu beeidigen.« – K. gibt zunächst eine direkte Antwort auf die erste Frage: »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.« Haupt­ ursachen der Unmündigkeit seien »Faulheit und

Feigheit«. Für jeden einzelnen Menschen sei es schwer, sich aus der Unmündigkeit zu befreien; dass ein Publikum sich selbst aufkläre, sei »eher möglich«, ja »beinahe unausbleiblich«, denn es sei wahrscheinlich, dass sich darunter einzelne Selbstdenkende fänden, die den der Aufklärung förderlichen Geist um sich verbreiteten. Zu der Aufklärung eines Publikums sei nichts weiter erforderlich als die Freiheit, »von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen«. Diese Freiheit des öffentlichen Vernunftgebrauchs dürfe unter keinen Umständen eingeschränkt werden. Dagegen dürfe der amtliche (»private«) Gebrauch der Vernunft begrenzt werden, denn in der Ausübung seines Amtes habe sich jeder gemäß den vertraglichen Bedingungen zu verhalten, unter denen er angenommen worden sei. Außerdem würde er Gefahr laufen, das Funktionieren der »Maschine« des Staates zu stören. – Ausführlich erörtert K. die von Mendelssohn aufgeworfene Frage, ob es erlaubt sei, jemanden auf unveränderliche religiöse Glaubenslehren zu verpflichten. K.s Lösungsvorschlag umfasst zwei Punkte: Ein Geistlicher ist verpflichtet, seiner Gemeinde nach dem Bekenntnis seiner Kirche zu pre-

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Kant: Zum ewigen Frieden

digen. Dies kann er auch dann mit gutem Gewissen tun, wenn sein eigenes Fürwahrhalten in einzelnen Punkten davon abweicht. Wenn sich jedoch eine Gemeinschaft von Geistlichen auf ein unveränderliches Bekenntnis verpflichtete, wäre dies eine Verletzung der »heiligen Rechte der Menschheit«. Allgemein gilt: Jeder Vertrag, der geschlossen würde, um alle weitere Aufklärung der Menschheit zu verhindern, wäre »null und nichtig«. K. meinte durchaus nicht, bereits in einem »aufgeklärten Zeitalter« zu leben; immerhin lebe er jedoch in »einem Zeitalter der Aufklärung«. O. R. Scholz Ausgaben: Gesammelte Schriften (Akademie-Ausg.), Bd.  8, 33–42. – Was ist Aufklärung? Beiträge aus der Berlinischen Monatsschrift, Hg.: N.  Hinske, Drmst. 41990 (mit Einl. und Anm.). Literatur: W.  Schneiders, Die wahre Aufklärung, Fbg./Mchn. 1974. – H. Klemme (Hg.), K. und die Zukunft der europäischen Aufklärung, Bln./NY 2009.

Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf EA Königsberg 1795, 21796 (erw.).

Die sechs Präliminarartikel der kleinen Schrift zur Philosophie von Staat und Politik, die in

ihrer äußeren Gestaltung der Form eines Friedensvertrages angelehnt ist, erläutern Umstände, die mit dem Begriff des Friedens nicht vereinbar sind. Demnach ist Frieden nur möglich, wenn 1. ein Friedensschluss ohne Vorbehalt erfolgt, 2. Staaten nicht wie Sachen behandelt und erworben werden, 3. keine stehenden Heere existieren, 4.  keine Staatsschulden in Bezug auf äußere Auseinandersetzungen gemacht werden, 5.  die Autonomie jedes Staats geachtet wird und 6.  Kriege nur so geführt werden, dass ein wechselseitiges Vertrauen gewahrt bleibt. Während es bei den Punkten 2, 3 und 4 einen gewissen Spielraum gibt, gelten 1, 5 und 6 unbedingt. In den drei Definitivartikeln wird demgegenüber dargestellt, in welcher Weise die menschliche Gemeinschaft dem Anspruch der Vernunft, mittels des Rechtsgedankens die Vielheit der Menschen und ihrer Staaten zur allumfassenden und absoluten Einheit zu bringen, zu genügen vermag. Hierzu ist 1.  erforderlich, dass der Staat im Innern republikanisch verfasst ist, indem er eine Regierung hat, die den Gemeinwillen repräsentiert; der jeweilige Machthaber vollzieht in seinem partikularen Handeln den Willen aller. Die Staats-



Kant: Zum ewigen Frieden 309

form der Demokratie lehnt K. hingegen als notwendig despotisch ab; lediglich in Monarchie und Aristokratie zeigt sich für K. die Möglichkeit, der Versuchung der Macht zu widerstehen: »[…] so ist es bei ihnen doch wenigstens möglich, daß sie eine dem Geiste eines repräsentativen Systems gemäße Regierungsart annähmen, wie etwa Friedrich  II. wenigstens sagte: er sei bloß der oberste Diener des Staats, da hingegen die demokratische es unmöglich macht, weil Alles da Herr sein will«. 2.  wird verlangt, dass das Völkerrecht auf den Föderalismus freier Staaten zu gründen ist und ein allmählich die ganze Welt übergreifender Friedensbund gestiftet wird, der den Krieg auf immer ausschließt. 3.  ist es erforderlich, dass das Weltbürgerrecht auf dem freien, arglosen Verkehr der Völker der Welt beruht, »vermöge des Rechts des gemeinschaftlichen Besitzes der Oberfläche der Erde«, wobei nach K. die Kugelgestalt der Erde als der sinnliche Ausdruck der intelligiblen, moralischen Einheit aller Menschen, die im Friedensgedanken gemeint ist, verstanden werden muss. Der 1.  Zusatz, »Von der Garantie des ewigen Friedens« zeigt, inwiefern die Natur die Menschheit gerade durch Zwietracht

und Kriege zur Vernunftkultur zwingt, während der 2., erst in der 2.  Auflage als »Geheimer Artikel« eingefügte Zusatz verlangt, durch das öffentliche Nachdenken der – von aller Machtausübung abgeschnittenen – Philosophen zu Fragen der Staatsführung das »freie Urteil der Vernunft« in die politische Praxis einzubringen. Die beiden Anhänge befassen sich mit dem Verhältnis von Politik und Moral: Allein der seinem Wesen nach öffentliche Rechtsgedanke hat das politische Handeln der Mächtigen zu bestimmen, deren Pflicht es ist, individuelle Interessen der Idee der Gerechtigkeit unterzuordnen. Dem Volk kommt dabei ein Recht zum Widerstand nicht zu, da Aufstand und Rebellion dem Rechtsgedanken als solchem zuwiderlaufen. – Die Schrift fand unmittelbar nach Erscheinen eine lebhafte Rezeption im Umfeld der Französischen Revolution. Nach geringer Beachtung in der 2. Hälfte des 19. Jh.s wurden zentrale Thesen K.s in der Folge der großen Kriege des 20. Jh.s politisch wirksam (Völkerbund, Vereinte Nationen). In der aktuellen Debatte findet gerade diese praktische Relevanz des 2.  Definitivartikels, auch im Zusammenhang mit den Kriegen und militärischen

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Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten

Interventionen der letzten Jahre und Jahrzehnte, besondere Beachtung. L. Baumann Ausgaben: Gesammelte Schriften (Akademie-Ausg.), Bd.  8, Bln. 1923, 340–386. – Hg.: R. Malter, Stgt. 2008. Literatur: H. Ottmann (Hg.), K.s Lehre von Staat und Frieden, Baden-Baden 2009. – O.  Höffe (Hg.), I.  K.: Zum ewigen Frieden (Klassiker Auslegen), Bln. 32011.

Grundlegung zur Metaphysik der Sitten EA Riga 1785.

Ziel von K.s erster moralphilosophischer Abhandlung ist die »Aufsuchung und Festsetzung des obersten Prinzips der Moralität« (AA  IV, 392). Da Moralität nicht von außen an den Menschen herangetragen werden kann (AA  V, 8, Anm.), beginnt das Aufsuchen ihres obersten Prinzips im ersten Abschnitt (»Übergang von der gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis zur philosophischen«) beim alltäglichen moralischen Bewusstsein. Insofern das moralisch Gute hier als das ohne alle Einschränkung Gute verstanden wird, dieses aber nur ein guter Wille sein kann (AA  IV, 394 ff.), muss die Aufgabe der Vernunft als praktisches Vermögen darin

bestehen, einen »an sich selbst guten Willen hervorzubringen« (396). Diese Aufgabe findet ihren Ausdruck im Begriff der moralischen Pflicht als »Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz« (400). Ihm zufolge liegt der sittliche Wert einer Handlung weder in ihren Folgen noch in einer lediglich äußerlichen Übereinstimmung mit dem Gesetz (pflichtmäßiges Handeln), sondern in der Beschaffenheit des ihr zugrunde liegenden subjektiven ›Wollensprinzips‹ (Maxime, 400), namentlich der im »Handeln aus Pflicht« verkörperten »reinen Achtung« für das praktische Gesetz (400). Dieses Gesetz kann nur in der »allgemeinen Gesetzmäßigkeit der Handlung überhaupt« bestehen, die von mir als Handelnden verlangt, niemals anders zu verfahren, »als so, daß ich auch wollen könne, meine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden« (402). – Das so in der »gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis« aufgefundene oberste Prinzip der Moralität wird im zweiten Abschnitt (»Übergang von der populären  sittlichen Weltweisheit zur Metaphysik der Sitten«) vom Begriff eines »vernünftigen Wesens überhaupt« (412) abgeleitet. Anders als die übrigen Dinge der Natur wird Letzteres



Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten 311

nicht durch Gesetze bestimmt, sondern hat die Fähigkeit, nach der Vorstellung von Gesetzen zu handeln (Wille) (412, 427), wobei die Handlungen erst durch Vernunft von den Gesetzen abgeleitet werden müssen. Da diese Ableitung durch den Einfluss sinnlicher Triebfedern auch unterbleiben kann, müssen die Gesetze als Imperative gedacht werden, und ein  Gesetz der Sittlichkeit als ein  kategorisch, d. h. unbedingt und nicht bloß hypothetisch oder bedingt gebietender Imperativ (414 f., 416), dessen allgemeine Formel sein wird: »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde« (421). – Den Nachweis, dass »Sittlichkeit  kein Hirngespinst sei« (445) und dass der kategorische Imperativ wirklich für alle vernünftigen Sinnenwesen gültig ist, führt K. im dritten Abschnitt des Werks (»Übergang von der Metaphysik der Sitten zur Kritik der reinen praktischen Vernunft«) als Beantwortung der Frage, wie ein kategorischer Imperativ möglich ist. K. argumentiert dahin, dass ein vernünftiges Wesen, das einen Willen hat, nicht anders als unter der Idee der Freiheit handeln (448), d. h. nicht umhin kann, die eigenen Handlungen als in

selbstgegebenen Gesetzen und nicht in »bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt« (452) gegründet anzusehen. Damit ist es aber in praktischer Hinsicht als wirklich frei zu betrachten, und das Gesetz der Freiheit bzw. Sittengesetz (kategorischer Imperativ) gilt für dieses Wesen, weil es selbstgegeben ist (Autonomie). – Die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten ist eines der schwierigsten und zugleich einflussreichsten Werke der abendländischen Moralphilosophie. Seine Thesen wurden u. a. von Schiller, Hegel, Schopenhauer, Nietzsche und Marx diskutiert und bilden heute einen wesentlichen Bezugspunkt sowohl für kontinentaleuropäische (Habermas, Höffe) wie ­angloamerikanische Ansätze der Ethik (Rawls, O’Neill, Korsgaard, Herman, Hill, Baron). A. Lazzari Ausgaben: Gesammelte Schriften (Akademie-Ausg.), Bd.  4, Bln. 1903, 385–463. – Hg.: B.  Kraft/D.  Schönecker, Hbg. 1999. Literatur: H. J. Paton, Der kategorische Imperativ. Eine Untersuchung über K.s Moralphilosophie, Bln. 1962. – D.  Schönecker, K.: Grundlegung III. Die Deduktion des kategorischen Imperativs, Fbg. 1999. – H.  Allison, K.’s Groundwork for the Metaphysics of Morals: A Commentary, Oxfd. 2011.

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Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte

Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht EV Bln. 1784 (in: Berlinische Monatsschrift 4).

In der kleinen, in neun »Sätze« gegliederten Schrift entwirft K. in Anknüpfung an die → Kritik der reinen Vernunft die Grundzüge seines teleologischen Geschichtsverständnisses. – Der historischen Entwicklung der Menschheit liegt, als ihr intelligibles Fundament, das gattungshafte Wesen der menschlichen Vernunft zugrunde. Die Vielheit der Individuen, Völker und Staaten hat dabei lediglich erscheinungshafte Bedeutung; sie ist in ihrer zeitlichen Entwicklung durch die aprio­ rische Gesetzmäßigkeit bzw. »die Anordnung eines weisen Schöpfers« bestimmt, welcher der Philosoph »am Leitfaden a priori« folgt. Demzufolge wird sich das menschheitsübergreifende, verbindende Wesen der Vernunft in allmählichem Fortschreiten gegen den »Anta­ gonismus in der Gesellschaft« durchsetzen. Die Vernunftkultur resultiert dabei aber gerade aus dieser »ungesellige[n] Geselligkeit der Menschen; d. i. den Hang derselben, in Gesellschaft zu treten, der mit einem durchgängigen Widerstande, welcher diese Gesell-

schaft beständig zu trennen droht, verbunden ist«. Hieraus erklärt sich die Begründung der bürgerlichen Gesellschaft, in welcher die Regierung die Prinzipien des allgemeinen Rechts gegen den Hang der Menschen zu Ungeselligkeit und Zwietracht durchzusetzen hat: »Das größte Problem für die Menschengattung, zu dessen Auflösung die Natur ihn zwingt, ist die Erreichung einer allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft«. Rousseau, auf den sich Kant im siebten Satz ausdrücklich bezieht, hat mit seiner Philosophie den gesellschaftlichen Antagonismus und damit den Zustand der bloßen Zivilisierung zwar kritisiert, ohne ihn dadurch wahrhaft überwunden zu haben: »Wir sind im hohen Grade durch Kunst und Wissenschaft kultiviert. Wir sind zivilisiert bis zum Überlästigen zu allerlei gesellschaftlicher Artigkeit und Anständigkeit. Aber uns für schon moralisiert zu halten, daran fehlt noch sehr viel.« K. zufolge kann die Überwindung der bloßen Zivilisierung und damit der menschlichen Bosheit, die sich in der Rivalität der Individuen und der einzelnen Staaten manifestiert, nur im langen Prozess der Errichtung eines Systems der Staatenverbindung, das den



Kant: Kritik der praktischen Vernunft 313

Krieg allmählich tilgt, erreicht werden. Die Geschichte strebt notwendig auf die Stiftung dieses vollkommenen weltbürgerlichen Zustandes, der der Zustand vollendeter Moralität sein wird, hin. Die kritische Philosophie K.s zeigt den apriorischen Charakter dieses Prozesses auf und trägt damit selbst zur Stiftung des geistigen Reiches auf Erden und damit zur Erlangung der vollkommenen Moralität bei: »Man sieht: die Philosophie könne auch ­ihren Chiliasmus haben; aber einen solchen, zu dessen Herbeiführung ihre Idee, obgleich nur sehr von weitem, selbst beförderlich werden kann, der also nichts weniger als schwärmerisch ist. « – Eine dogmatische Umgestaltung der Kant’schen Position findet sich bei Fichte (→  Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, 1806; Reden an die deutsche Nation, 1808). L. Baumann Ausgaben: Gesammelte Schriften (Akademie-Ausg.), Bd.  8, Bln. 1923, 15–31. – Schriften zur Geschichtsphilosophie, Hg. M. Riedel, Stgt. 1986. Literatur: A. O. Rorty/J. Schmidt (Hg.), K.’s ›Idea for a Universal History with a Cosmopolitan Aim‹: A Critical Guide, Cambr. 2009. – O.  Höffe (Hg.), I.  K.: Schriften zur Geschichtsphilosophie (Klassiker Auslegen), Bln. 2011.

Kritik der praktischen ­Vernunft EA Riga 1788.

Die Kritik der praktischen Vernunft, die zweite der drei Kritiken K.s, führt das Projekt einer Kritik der Vernunftvermögen auf dem Gebiet der Moralphilosophie fort. Die Grobgliederung folgt dem Aufbau der →  Kritik der reinen Vernunft: Einer »Elementarlehre«, die wiederum in »Analytik« und »Dialektik« unterteilt ist, folgt eine (sehr kurze, der moralischen Pädagogik gewidmete) »Methodenlehre«. Die Parallele im Aufbau kann allerdings nicht über die methodischen Differenzen der beiden Schriften hinwegtäuschen. – Die Analytik greift mit dem Versuch einer Moralbegründung durch ein formales Prinzip die Thematik der →  Grundlegung zur Metaphysik der Sitten auf. Weshalb K. diese Fragestellung nochmals neu behandelt, und inwiefern er seine ältere Theorie revidiert, ist umstritten. K. definiert »hypothetische Imperative« als solche, deren Verbindlichkeit davon abhängt, dass ein bestimmter Zweck angestrebt wird; sie geben die notwendigen Mittel zur Erreichung des Zwecks an. Ein »kategorischer Imperativ« wäre dagegen ein solcher, der unbedingt

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Kant: Kritik der praktischen Vernunft

gilt, d. h. unabhängig von der Setzung subjektiver Zwecke. Aufgrund des Objektivitätsanspruchs der Moral können nur kategorische Imperative als praktische Gesetze dienen. Prinzipien, die eine »Materie« des Willens, d. i. einen konkreten Zweck voraussetzen, führen stets nur auf hypothetische Imperative und fallen letztlich alle unter das Prinzip der eigenen Glückseligkeit. Wenn es kategorische Imperative geben soll, dann muss es ein Gesetz geben, das von aller Materie des Willens absieht, also einen rein formalen Charakter hat. Übrig bleibt dann nur noch die »bloße Form einer allgemeinen Gesetzgebung«, die ein subjektiver Handlungsgrundsatz (Maxime) widerspruchsfrei annehmen können muss. Entsprechend formuliert K. als »Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft«: »Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.« Endlichen Wesen gegenüber tritt das Grundgesetz als kategorischer Imperativ auf. – Dass ein rein formales Gesetz als hinreichender Bestimmungsgrund des Willens auftreten kann, hieße, dass reine Vernunft unabhängig von der Naturkausalität Wirkung entfalten kann, mithin, dass

der Wille frei ist. Gleichbedeutend mit der Freiheit des Willens ist dessen Autonomie, d. i. die Fähigkeit, sich von seinem eigenen Gesetz bestimmen zu lassen. Freiheit als Autonomie und praktisches Gesetz sind also wechselseitig aufeinander verwiesen. Nach der Standardmeinung gibt K. in der Kritik der praktischen Vernunft den noch in der Grundlegung verfolgten Anspruch auf, das bislang nur als möglich gedachte praktische Gesetz deduzieren, d.  i. seine objektive Realität im strengsten Sinne rechtfertigen zu können. Stattdessen stehe das praktische Gesetz »gleichsam als ein Faktum der reinen Vernunft« unbezweifelbar fest. Andersherum kann aber vom Gesetz ausgehend die Freiheit des Willens deduziert werden. – Im weiteren Verlauf der Analytik führt K. die Begriffe des Guten und Bösen ein, die nur durch das Sittengesetz bestimmt werden können (2.  Hauptstück) und ergänzt als Moralpsychologie das Konzept der Achtung vor dem Sittengesetz (3.  Hauptstück). – In der Dialektik entwickelt K. erstmals ausführlich die sog. Postulatenlehre, d. i. die Lehre, nach der die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit der Seele zwar nicht theoretisch erwiesen werden kann,



Kant: Kritik der reinen Vernunft 315

aber praktisch postuliert werden muss. Das »höchste Gut« wird als Zusammenfallen von Glückswürdigkeit (Moralität) und Glückseligkeit definiert. Es bildet als »unbedingte Totalität des Gegenstands der reinen praktischen Vernunft« den letzten Zweck menschlichen Handelns. Wie sich aus der Analytik ergibt, führt Glückswürdigkeit aber nicht zwingend zur Glückseligkeit. Das höchste Gut ist somit zugleich von der Vernunft gefordert und in unserer Welt unmöglich, was K. als »Antinomie« darzustellen versucht. Das Postulat der Existenz Gottes soll diesen Mangel beheben. K. betont mehrfach, dass Moral die Existenz Gottes nicht voraussetzt, sondern diese vielmehr erst durch die Realität der Moral eingefordert wird. Die Postulatenlehre wird in der Vorrede der →  Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft und in der →  Kritik der Urteilskraft nochmals modifiziert. – In der bis heute gewaltigen Rezeption der Moralphilosophie K.s verbleibt die Kritik der praktischen Vernunft häufig im Schatten der Grundlegung. Die Postulatenlehre wird ebenfalls viel diskutiert, überwiegend jedoch als unhaltbar zurückgewiesen. M. Hoesch

Ausgabe: Mit Einl., Anm. Bibl.: H. Klemme, Hbg. 2003. Literatur: L. W. Beck, K.s »Kritik der praktischen Vernunft«. Ein Komm., Mchn. 1974; 31995. – O.  Höffe (Hg.), I.  K. Kritik der praktischen Vernunft, Bln. 2002. – A.  Wood, K.ian Ethics, Cambr. 2008. – J. Timmermann/A. Reath (Hg.), K.’s Critique of Practical Reason: A Critical Guide, Cambr. 2010.

Kritik der reinen Vernunft EA Riga 1781; Riga 21787 (umgearb.).

Den Ausgangspunkt des Werks bilden Überlegungen der 1770er Jahre zur antinomischen Verfassung der menschlichen Vernunft und die Einsicht in die Unmöglichkeit der Demonstration metaphysischer Aussagen durch reines Denken. Insofern sich durch reine Vernunft sowohl die Existenz wie die Nicht-Existenz Gottes, der Freiheit des Willens und der Unsterblichkeit der Seele beweisen lasse, müsse der dogmatische Anspruch einer rein vernünftigen Begründung metaphysischer Aussagen insgesamt aufgegeben werden. Der hier naheliegenden Konsequenz des Skeptizismus könne nur entgangen werden durch eine »Kritik […] des Vernunftvermögens überhaupt,

316

Kant: Kritik der reinen Vernunft

in Ansehung aller Erkenntnisse, zu denen sie, unabhängig von aller Erfahrung, streben mag« (A XII), die gleich einem »Gerichtshof« (A  XI, B  779) zwischen legitimen und illegitimen Vernunftansprüchen zu unterscheiden erlaube. Kritik ist damit »die notwendige vorläufige Veranstaltung zur Beförderung einer gründlichen Metaphysik als Wissenschaft« (B  XXXVI). Sie ist »transzendental«, insofern sie die Bedingungen der Erkenntnis a priori von Gegenständen untersucht, verkörpert aber noch nicht das System aller transzendentalen Erkenntnisse (Transzendental-Philosophie, B  25 f.). Gleichsam als »Traktat von der Methode« (B XXII) bzw. »Propädeutik« (B 25, B 869) ist sie einem metaphysischen System vorauszuschicken, mit dem Ziel, Umfang und Grenzen eines reinen Vernunftgebrauchs auszumachen und so der Frage, ob und wie Metaphysik als Wissenschaft möglich sei (B  22), eine sichere Antwort zu geben. – Metaphysik als Wissenschaft muss nach Kant zwei Bedingungen genügen. Insofern wir durch sie »unsere Erkenntnis a priori erweitern« wollen (B  18), muss sie ein System von Urteilen aufstellen, die zum einen a priori, d. h. unabhängig von jeglichem

Rekurs auf Erfahrung zustande kommen und dadurch notwendig und allgemeingültig sind (B  869), zum anderen unsere Erkenntnis erweitern (Erweiterungsurteile), d. h. an sie anknüpfen (Synthese) und nicht lediglich das Resultat einer Zergliederung schon vorhandener Erkenntnisse (Analyse) darstellen. Die Frage nach der Möglichkeit einer Metaphysik als Wissenschaft führt deshalb zur Frage nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori (B 19), deren Beantwortung die erste Hälfte des theoretischen Hauptteils (»Transzendentale Elementarlehre«) des Werks gewidmet ist. Kants Verfahren zielt auf eine »Umänderung der Denkart« (B XVI, B XXII), die der kopernikanischen Revolution in der Kosmologie analog ist: So wie durch Kopernikus das geozentrische durch das heliozentrische Weltbild abgelöst wurde, soll in der Metaphysik die Annahme, unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten, zugunsten der Annahme preisgegeben werden, die Gegenstände richteten sich nach unserer Erkenntnis (B XVI), so dass von den Gegenständen nur das a priori erkannt werden könne, was in sie hineingelegt wird (B XVIII). – Insofern Erkenntnis a priori von Gegenständen



Kant: Kritik der reinen Vernunft 317

weder allein durch Begriffe zustande kommen kann (sie erlauben, für sich genommen, keine inhaltliche Erweiterung des Wissens) noch durch Anschauungen (die nur Wirkungen von Gegenständen auf unsere Sinnlichkeit sind), sondern erst durch das Zusammenspiel beider (»Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind«, B 75), besteht dasjenige, was wir in die Gegenstände der Erkenntnis hineinlegen, in a priori gegebenen reinen Formen der Anschauung, in reinen Verstandesbegriffen und in aus beiden zusammengesetzten Grundsätzen. Während dem Nachweis, dass es synthetische Urteile a priori gibt und diese nur durch die Annahme von reinen Formen der Anschauung (Raum und Zeit) möglich sind, der erste Teil der »Elementarlehre«, die »Transzendentale Ästhetik«, gewidmet ist, untersucht K. die reinen Verstandesbegriffe (Kategorien) in ihrem zweiten Teil, der »Transzendentalen Logik«. Im ersten Abschnitt derselben, der »Transzendentalen Analytik«, werden die Kategorien zunächst aufgesucht (metaphysische Deduktion), dann ihre Anwendung a priori auf Erfahrung legitimiert (transzendentale Deduktion). Es folgt schließlich die Begründung der

Grundsätze des reinen Verstandes, auf denen die Naturgesetze beruhen (B  198). – Resultat dieses Teils der Kritik ist die Einsicht, dass Erkenntnis a priori nur von Dingen, wie sie uns erscheinen (Erscheinungen), möglich ist, nicht von Dingen, wie sie an sich selbst sind (Dinge an sich), d. h. ohne von uns vorgeformt zu werden. Erkenntnis a priori kann es nur im Bereich möglicher Erfahrung geben. Synthetische Urteile a priori sind deshalb allein dadurch möglich, dass der Erfahrung »Prinzipien ihrer Form a priori zum Grunde liegen« (B  196). Hinsichtlich der Hauptfrage der Kritik folgt daraus, dass spekulative Metaphysik im Sinne eines Systems wissenschaftlicher Erkenntnis nur als Metaphysik der Erfahrung bzw. der Natur möglich ist, während die Gegenstände der metaphysica specialis, Gott, Freiheit und die Unsterblichkeit der Seele, nicht erkannt werden können. – Der irrtümliche Glaube des Gegenteils beruht nach K. auf einem »transzendentalen Schein« (B  349), der aus dem Missverständnis des Vernunftvermögens entsteht. Seiner Erörterung ist der zweite Teil der »Transzendentalen Logik«, die »Transzendentale Dialektik«, gewidmet. Vernunft ist hier dargestellt als

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Kant: Kritik der Urteilskraft

das Vermögen, vom Bedingten auf das Unbedingte zu schließen; dieses Unbedingte ist aber nicht als gegebener Gegenstand zu verstehen – daraus entstünde ein Widerstreit der Vernunft mit sich selbst –, sondern als Idee. Als solche verstanden sind Gott, Freiheit und Unsterblichkeit eine bloss gedachte Totalität von Bedingungen, die zwar keinen Gegenstand konstituiert, aber doch die »vortreffliche« und »unentbehrliche« Aufgabe erfüllt, den Verstand in seiner Tätigkeit auf ein Ziel hin zu orientieren (regulativer Gebrauch der Ideen, B 672). Eine darüber hinausreichende Rolle der transzendentalen Ideen als Postulate einer nicht mehr auf das Erkennen, sondern auf das moralische Urteilen und Handeln gerichteten reinen Vernunft, bzw. als Gegenstände eines moralischen Vernunftglaubens wird in  der das Werk abschließenden  »Trans­ zendentalen Methodenlehre« kurz skizziert. – Als fundamentales Werk der abendländischen Philosophie hat die Kritik der reinen Vernunft nahezu das gesamte nachfolgende Denken bis in die Gegenwart hinein beeinflusst. In unmittelbarer Auseinandersetzung mit ihr sind die idealistischen Systeme Fichtes, Schellings und Hegels, aber auch Schopenhauers ent-

standen, vermittelt durch die Entwicklung der Naturwissenschaften und der Psychologie, ihre Rezeption im Neukantianismus (Cohen, Natorp, Cassirer). Nach der metaphysisch-ontologischen Deutung Hei­deggers ist v. a. ihr Einfluss auf die sprachanalytische Metaphysik (Strawson), den Pragmatismus (Peirce) und auf die vom Pragmatismus geprägten Ansätze der Philosophie des Geistes (Sellars, Brandom, McDowell) und der Ethik (Apel) hervorzuheben. A. Lazzari Ausgaben: Gesammelte Schriften (Akademie-Ausg.), Bd.  3 (21787 =  B), Bd.  4 (11781 = A), Bln. 1903–04. – Hg.: J. Timmermann, Hbg. 2010. Literatur: P.  F. Strawson, Die Grenzen des Sinns, Königstein 1980. – M.  Heidegger, K. und das Problem der Metaphysik, Ffm. 6 1998. – G.  Mohr/M.  Willaschek (Hg.), I.  K.: Kritik der reinen Vernunft, Bln. 22012.

Kritik der Urteilskraft EA Bln./Libau 1790; Bln. 21793.

Die Kritik der Urteilskraft, K.s dritte und letzte Kritik, umfasst neben Vorrede und Einleitung die Kritik der ästhetischen und der teleologischen Urteilskraft. K. leistet darin einen Beitrag zu zahlreichen Teildisziplinen der Philosophie, u. a. zur Ästhetik



Kant: Kritik der Urteilskraft 319

und Kunstphilosophie, zur Philosophie der Biologie und zur Geschichts- und Religionsphilosophie. Die dritte Kritik hat dabei insgesamt die Funktion, eine Brücke zu schlagen zwischen theore­tischer und praktischer Philosophie. – In der »Kritik der ästhetischen Urteilskraft« nimmt K. im Grundsatz eine subjektivistische Position ein: Schön ist, was dem Subjekt gefällt. Gleichwohl ist der mit Geschmacksurteilen verbundene Anspruch auf Notwendigkeit, allgemeine Zustimmung und Interesselosigkeit K. zufolge berechtigt. Denn seine Grundlage ist die intersubjektive Fähigkeit zur ästhetischen Reflexion. Hierbei fasst unsere Einbildungskraft das Mannigfaltige einer sinnlichen Vorstellung zu einer Gestalt zusammen, wobei der Verstand zwar angeregt wird, aber keine bestimmte Erkenntnis sucht. Dieser Gemütszustand wird als Lust erlebt. Schönheit ist also die vom Subjekt gefühlte innere Zweckmäßigkeit im Verhältnis seiner eigenen Vermögen bei der Reflexion über einen Gegenstand. – Im Ausgang von dieser Analyse entfaltet K. seine Überlegungen zum Erhabenen und zur Kunst. Auch vom Erhabenen werden Einbildungskraft und Verstand in Tätigkeit versetzt; der hierdurch bewirk-

te Zustand ist jedoch zunächst unlustbetont, entweder weil die schiere Größe eines Gegenstands das Fassungsvermögen der Urteilskraft übersteigt (Mathematisch-Erhabenes), oder weil er uns physisch bedroht (Dynamisch-Erhabenes). Sofern das Erhabene uns jedoch zugleich daran erinnert, dass wir als moralische Wesen von unserer Sinnlichkeit unabhängig sind, ruft es Lust hervor. – Das Kunstschöne wird mit Absicht hervorgebracht, was dem freien Spiel eher entgegenzustehen scheint. K. zufolge beruht jedoch das Kunstwerk auf dem Genie des Künstlers und damit auf einem nichtbegrifflichen Vermögen. Das Genie ist die nicht erlernbare, natürliche Fähigkeit, eine ästhetische Idee, d. h. eine innere Anschauung, die durch keinen Begriff erschöpft werden kann, zunächst zu finden und dann in einem künstlerischen Medium, sei es Dichtung, Musik oder bildende Kunst, zum Ausdruck zu bringen. – Die systematische Bedeutung einer Kritik der ästhetischen Urteilskraft liegt K. zufolge darin, dass sie uns den Begriff eines übersinnlichen Substrats des Subjekts an die Hand gibt, in dem sowohl seine Sinnlichkeit wie auch seine Vernunft wurzeln. In der Freiheit, mit der diese Vermögen

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Kant: Kritik der Urteilskraft

zusammenspielen, erkennt K. ein Symbol für die moralische Freiheit. Auf diese Weise erfüllt das Schöne den Anspruch, die Kluft zwischen Naturbegriff und Freiheitsbegriff zu überbrücken. – Die innere subjektive Zweckmäßigkeit »veranlasst« zwar K. zufolge den Begriff der Zweckmäßigkeit der Natur, ist aber definitorisch von ihm zu unterscheiden. Er ist Thema der »Kritik der teleologischen Urteilskraft«. Objektive Zweckmäßigkeit ist entweder Nützlichkeit oder innere Zweckmäßigkeit. Letztere ist K. zufolge eine Eigenschaft von Organismen. Sie wirft besondere epistemologische Schwierigkeiten auf, da Organismen zwar Naturprodukte sind, sich ihre Entstehung aber nicht wie die anorganischer Produkte aus den zwischen den Teilen wirkenden Naturkräften erklären lässt. Vielmehr greifen wir dazu immer auf den Begriff des Ganzen zurück, der die Zusammensetzung der Teile in der Ontogenese wie auch bei Regenerationsprozessen zu bestimmen scheint. K. zufolge können wir uns diese Bestimmung nur in Analogie zu menschlichen Kunstprodukten denken: Wir beurteilen Organismen so, als ob ein verständiges Wesen sie geschaffen hätte. Die kausalmechanische Erklärung wird

mit der teleologischen verein­ bart, indem Erstere Letzterer untergeordnet wird. K. zieht aus seinen Überlegungen weitreichende Schlüsse für die Biologie seiner Zeit. Präformationstheoretische und kreationistische Ansätze weist er aufgrund ihrer theologischen Implikationen zurück; hält aber auch mechanistische Theorien, die eine Biologie ohne Teleologie postulieren, für illusionär. – Neben der inneren stellt K. auch die äußere Zweckmäßigkeit und damit das Verhältnis zwischen den Organismen  auf den Prüfstand. Aufgrund der wechselseitigen Abhängigkeit aller Lebewesen scheint es zunächst willkürlich, den Menschen als letzten Zweck der Natur auszuzeichnen. Die Moralphilosophie belehrt uns allerdings darüber, dass der Mensch auch Vernunftwesen und als solcher Endzweck ist. In unserer Natur liegt K. zufolge die Fähigkeit zur Kultur (und hier bes. zur Selbstdis­ ziplin), die dazu beiträgt, der Idee unserer selbst als Vernunftwesen gemäß zu leben. In einem geschichtsphilosophischen Ausblick führt K. vor, dass die Natur sich als zweckmäßig für die Ausbildung dieser Neigungen begreifen lässt; damit ist die Auszeichnung des Naturwesens Mensch als letzter Zweck der Natur



Kant: Die Metaphysik der Sitten 321

entgegen der ersten Diagnose gerechtfertigt. Die Teleologie überbrückt die Kluft zwischen Natur und Freiheit, indem sie uns mit dem Begriff der Naturzweckmäßigkeit die Möglichkeit an die Hand gibt, die Welt als auf einen moralischen Endzweck hin geordnet zu begreifen. – Wie schon in der →  Kritik der reinen Vernunft weist K. auch in der Kritik der Urteilskraft die Physikotheologie, die aus der Naturteleologie einen Beweis für die Existenz Gottes ableiten will, zurück. Er führt jedoch einen moralischen Gottesbeweis, dem zufolge wir aufgrund der Verpflichtung, zur Realisierung des höchsten Guts beizutragen, zugleich auf die Annahme festgelegt sind, dass seine Realisierungsbedingungen erfüllt sind. – Die Teleologie war wegweisend für die weitere Entwicklung des deutschen Idealismus. Für die K.-Forschung der Gegenwart wie für aktuelle systematische Debatten hat die Ästhetik jedoch eine weitaus größere Rolle gespielt. Der Zusammenhang zwischen den Teilen der Schrift, der für K. außer Frage stand, wurde darüber nicht selten vernachlässigt. S. Mischer Ausgabe: Gesammelte Schriften (Akademie-Ausg.), Bd.  5, Bln. 1908/13, 1–485.

Literatur: P. Guyer, K. and the Claims of Taste, Cambr./Ldn. 1979. – P. McLaughlin, K.s Kritik der teleologischen Urteilskraft, Bonn 1989. – O. Höffe (Hg.), I. K., Kritik der Urteilskraft, Bln. 2008.

Die Metaphysik der Sitten EA Königsberg 1797.

Unter diesem Titel fasst K. die beiden im selben Jahr erschienenen Schriften Metaphy­sische Anfangsgründe der Rechtslehre und Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre in einem Band zusammen und stellt ihnen eine neu verfasste Einleitung voran. – Die Schrift basiert auf der →  Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) und der →  Kritik der praktischen Vernunft (1788) und entwickelt im Ausgang von den Kritiken systematische Darstellungen der Folgerungen für das menschliche Handeln. – K. bezeichnet die »Metaphysik der Sitten« als ein apriorisches, begriffliches Erkenntnissystem, auf dem eine praktische Philosophie der Willensfreiheit beruht. Dabei geht er aus vom »Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft«, dem Kategorischen Imperativ, der gleichzeitig als oberstes Sittengesetz allen moralischen Handlungen zugrunde liegt. Weil der Mensch einen freien

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Kant: Die Metaphysik der Sitten

Willen und praktische Vernunft hat, ist er als sinnliches Vernunftwesen zur Moralität fähig. – Als allgemeines Rechtsgesetz formuliert K.: »Handle äußerlich so, daß der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne«. Die Art der Gesetzgebung bedingt die Einteilung der Sittenlehre in Rechtslehre (juridische Gesetzgebung) und Tugendlehre (ethische Gesetzgebung): Ein Gesetz, das zu einer Handlung verpflichtet und zugleich diese Pflicht zur »Triebfeder« dieser Handlung macht, ist ein ethisches, während eines, das zu einer Handlung nötigt und die Motive unberücksichtigt lässt, juridisch heißt. Demzufolge ist die Handlung moralisch (sittlich) oder bloß legal (gesetzmäßig). Entsprechend gibt es Rechts- und Tugendpflichten. Die Rechtspflichten sind: 1. die der rechtlichen Ehrbarkeit, die in K.s Termini besagt, man solle sich anderen nicht zum bloßen Mittel, sondern zugleich zum Zweck machen; 2.  die Pflicht, niemandem Unrecht zu tun und 3.  die Pflicht der Staatsgründung, d. h. aus dem Naturzustand (status naturalis) der Rechtsunsicher­ heit in einen Zustand zu treten, in dem eine (bürgerliche) Verfassung

die Rechte des Einzelnen sichert (status civilis). Das Recht auf Frei­heit des Einzelnen, sofern die anderer nicht behindert wird, ist das einzige angeborene; alle anderen Rechte werden kraft eines rechtlichen Aktes erworben. Im 1. Teil der Rechtslehre behandelt K. demnach das »Privatrecht«, d. h. das Recht auf Privateigentum und die Bedin­ gungen der Erwerbung desselben; hier werden sub­su­miert Sachenrecht, persönliches  Recht (Eherecht, Elternrecht, Hausherren-Recht, Erbrecht u. a.) und Vertragsrecht. Der 2.  Teil der Rechtslehre behandelt das öffentliche Recht unter den Aspekten Staatsrecht, Völkerrecht und Weltbürgerrecht. Der Staat ist »die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen« und sollte als Idee der praktischen Vernunft mittels einer rechtsmäßigen Verfassung gewaltenteilig, d.  h. als Republik, organisiert sein, um dem Volkswillen entsprechen zu können. Das Völkerrecht  ergibt sich aus der Notwendig­keit, den ursprünglichen  Kriegszustand zwischen den Völkern zu beenden; es befasst sich mit dem Recht »zum Kriege«, »im Kriege« und »nach dem Kriege« und begründet die Idee eines ursprünglichen  gesellschaftlichen Vertrages (Völ-



Kant: Die Metaphysik der Sitten 323

kerbund) in Form einer Genossenschaft (Föderalität). Das Weltbürgerrecht ergibt sich aus der Vernunftidee einer friedlichen Gemeinschaft aller Völker auf Erden. – Die Tugendlehre ist der Teil der allgemeinen Sittenlehre, der sich mit der für die innere Freiheit maßgeblichen Gesetzgebung  befasst. Tugendpflichten sind nach K. Zwecke, die zugleich Pflicht sind. Nur aus der inneren Freiheit heraus kann der Mensch seinen Handlungen Zwecke setzen, und die reine praktische Vernunft verbindet Zweck- und Pflichtbegriff, indem sie kategorisch gebietet: »Handle nach einer Maxime der Zwecke, die zu haben für jedermann ein allgemeines Gesetz sein kann«. Daraus ergeben sich die innere Tugendpflicht, die eigene Vollkommenheit, und die äußere, die Glückseligkeit anderer zu fördern. Als moralische Eigenschaften des sittlichen Wesens Mensch, die weder erworben noch erzwungen werden können, aber »die Empfänglichkeit des Gemüts für Pflichtbegriffe überhaupt« bedingen, nennt K. das moralische Gefühl,  das Gewissen, Nächstenliebe und Selbstachtung. Um eine dogmatische Kasuistik in der Ethik zu vermeiden, legt K. den Schwerpunkt auf die formale Analyse

der Tugendpflichten als Pflichten sich selbst und anderen gegenüber (1. Teil: »Ethische Elementarlehre«) und hinsichtlich ihrer Zwecke, d. h. als Üben der Vernunft in Theorie und Praxis der Pflichten (2. Teil: »Ethische Methodenlehre«). Der Mensch hat Pflichten gegen sich als animalisches Wesen (Selbsterhaltung im weitesten Sinne), als moralisches Wesen (Wahrhaftigkeit und Selbstachtung) sowie gegen sein Gewissen. Das oberste Gebot aller Pflichten gegen sich selbst ist die Selbsterkenntnis. Anderen gegenüber gibt es Pflichten der Liebe und der Achtung. Die Methodenlehre besteht aus der ethischen Didaktik, worunter K. »die katechetische Lehrart« und das gute Beispiel des Lehrenden versteht, und der ethischen Asketik, in der sich K. für ein heiteres Üben der Tugendregeln ausspricht; es handele sich um »eine Art Diätetik für den Menschen, sich moralisch gesund zu erhalten«. K. beschließt die Ethik mit »Anmerkungen« zur »Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft«, die als Lehre der Pflichten gegen Gott außerhalb der reinen Moralphilosophie liegt. – Beide Schriften der Metaphysik der Sitten, Tugend- wie Rechtslehre, wurden von Zeitgenossen K.s lebhaft rezipiert und

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Kant: Religionsschrift

rezensiert. Das Interesse an der Tugendlehre ließ bald nach, da die Auseinandersetzung mit K.s Ethik als Rekurs auf die → Grundlegung zur Metaphysik der Sitten stattfand, während der Rechtslehre in neuerer Zeit auch über die Philosophie hin­ aus erneut Aufmerksamkeit gewidmet wird. Eine abschließende Untersuchung der Metaphysik der Sitten als Beitrag zu einer systematischen Ethik steht noch aus. M. Ruffing Ausgabe: Gesammelte Schriften (Akademie-Ausg.), Bd.  6, 1914, 203–493. Literatur: M. Timmons (Hg.), K.’s Metaphysics of Morals. In­ terpre­tative Essays, Oxfd. 2004. – G.  Römpp, K.s Kritik der reinen Freiheit: eine Erörterung der Metaphysik der Sitten, Bln. 2006. – B. S. Byrd/J.  Hruschka: K.’s Doctrine of Right: a Commentary, Cambr. 2010 (ND 2011).

Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft EV des »Ersten Stücks« u.  d.  T. Über das radikale Böse 1792 (in: Berlinische Monatsschrift); EA Königsberg 1793; 21794 (erw.).

K.s Religionsschrift unterscheidet sich von anderen  religionskritischen Schriften  der Aufklärung darin, dass nicht nur wesentliche religiöse Gehalte zurückgewiesen, sondern

ebenso zahlreiche ­Spezifika der christlichen Theologie ­ einer vernünftigen Rechtfertigung un­terzogen werden, indem sie in den Kontext der Moralphilosophie K.s transponiert werden. K. nimmt in diesem Zusammenhang mehrere Modifika­ tionen seiner Ethik vor. Der Versuch einer Veröffentlichung als Aufsatzfolge führte zu kuriosen Konflikten mit der staatlichen Zensurbehörde, die K. mit der Veröffentlichung als Buch schließlich umgehen konnte. Im Anschluss wurden K. weitere Äußerungen zum Thema Religion untersagt, was er bis zum Tod Friedrich Wilhelms  II. durchhielt. – Die Vorrede zur 1.  Auflage enthält neben der Kurzfassung einer reifen Ver­sion der Lehre vom Postulat der Existenz Gottes Bemerkungen zum Verhältnis von Reli­gionsphilosophie und Theologie. Die Schrift selber gliedert sich in vier »Stücke«, denen jeweils eine ausführliche »Allgemeine Anmerkung« zugeordnet ist. Während im Haupttext theologische Gehalte vollständig philosophisch rekonstruiert  (und damit zugleich kritisiert) werden sollen, versteht K. die Anmerkungen als Reflexionen über solche Gehalte, die sich der Vernunft grundsätzlich verschließen:  Gnadenwirkungen,



Kant: Religionsschrift 325

Wunder, Geheimnisse  und Gnadenmittel. – Das Erste Stück setzt bei dem Problem an, wie Menschen trotz ihrer praktischen Vernunft böse handeln können. In Auseinandersetzung mit der christlichen Erbsündenlehre löst K. dieses Problem mit der Konzeption eines unerklärlichen, zeitlosen und selbstverschuldeten »Hanges zum Bösen«, der sich darin äußert, dass sinnliche Triebfedern der Triebfeder des moralischen Gesetzes vorgezogen werden können. Trotz seiner »ursprünglichen Anlage zum Guten« ist der Mensch deshalb »von Natur böse«. Der Hang zum Bösen kann nur durch eine ebenso atemporale »Revolution in der Gesinnung« überwunden werden, der allerdings im beobachtbaren Verhalten nur eine »allmähliche Reform« korrespondiert. Im Zweiten Stück wird unter Rückgriff auf eine Christologie aufgezeigt, dass der Mensch darauf verwiesen ist, nach dem Vorbild Jesu – der zugleich als Mensch dem Bösen ausgeliefert ist und sich aufgrund seiner göttlichen Abstammung darüber hinwegsetzen kann – das Böse zu überwinden. Für K. folgt daraus, dass er die Überwindung des Bösen auch können muss – und zwar so weitgehend, dass er trotz seines ursprüngli-

chen bösen Charakters letztlich als »Gott wohlgefällig« gelten kann. Die endgültige Überwindung des Bösen ist aber nur als gemeinschaftliche denkbar und wird im Dritten Stück entfaltet. Menschen leben demnach zunächst in einem »ethischen Naturzustand«, in dem sie sich durch ihr bloßes Dasein wechselseitig ihre moralische Anlage verderben. Der ethische Naturzustand kann nur überwunden werden, wenn sich alle Menschen zu einem »ethischen Gemeinwesen« zusammenschlie­ ßen, das nur als Volk unter göttlichen Geboten, d.  h. als Kirche denkbar ist. In tatsächlichen Religionsgemeinschaften ist dieser vernünftige Kern stets unvollkommen entwickelt; die Geschichte des Christentums kann aber als Weg in Richtung eines kollektiven reinen Vernunftglaubens gedeutet werden, der das Böse im »Reich Gottes auf Erden« endgültig überwinden würde. Das Vierte Stück enthält eine radikale Kritik an den bestehenden kirchlichen Hierarchien und Machtansprüchen, indem klargestellt wird, dass der »wahre Dienst der Kirche« nur in der Gründung eines ethischen Gemeinwesens bestehen kann, nicht aber in der Auferlegung willkürlich gesetzter Pflichten. – Auf K.s Methode einer phi-

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Kelsen: Reine Rechtslehre

losophischen Transformation theologischer Gehalte bezieht sich heute u.  a. Habermas. Die Schrift hat mittlerweile über die Religionsphilosophie hinaus durch eine Interpretationsrichtung Beachtung gefunden, nach der K. durch den Rückgriff auf die Theologie v. a. moralisch-politische Problemstellungen lösen wolle. M. Hoesch Ausgabe: Hg., Einl. und Anm.: B. Stangneth, Hbg. 2003. Literatur: J. Bohatec, Die Religionsphilosophie K.s in der »Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft«. Mit besonderer Berücksichtigung ihrer theologischdogmatischen Quellen, Hildesheim 1966 (ND der Ausg. Hbg. 1938). – B. Stangneth, Kultur der Aufrichtigkeit. Zum systematischen Ort von K.s »Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft«, Wzbg. 2000. – J.  Habermas, Die Grenze zwischen Glauben und Wissen. Zur Wirkungsgeschichte und aktuellen Bedeutung von K.s Religionsphilosophie, in: H.  NaglDocekal/R. Langthaler, Recht – Geschichte – Religion. Die Bedeutung K.s für die Gegenwart, Bln. 2004, 141–160 (ND in: J.  Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion, Ffm. 2005). – M.  Städtler (Hg.), K.s »ethisches Gemeinwesen«. Die Religionsschrift zwischen Vernunftkritik und praktischer Philosophie, Bln. 2005.

Hans Kelsen *1881 Prag, †1973 Orinda (nahe Berkeley, USA); Rechtswissenschaftler und Verfassungsrichter.

Reine Rechtslehre. Einleitung in die rechtswissenschaftliche Problematik

EA Lpzg./Wien 1934, Wien 21960 (stark erw. und veränd.).

Das Werk bietet eine allgemeine »Theorie des positi­ ven Rechts«, die ihren Gegenstand als eigengesetzliche soziale Technik beschreiben will, ohne »ideologische«, also politische oder moralische  bzw. naturrechtliche Werturteile  ein­flie­ ßen zu lassen. Es untersucht, »was und wie das Recht ist, nicht aber die Frage, wie es sein oder gemacht werden soll«. Im Anschluss an den Neu­kantianismus insbesondere der Marburger Schule und sei­ner Grundunterscheidung von Sein und Sollen analysiert K. rechtliche Sollens-Normen als objektive Sinngehalte, die im Modus der Geltung existieren. Dieses präskriptive Erkenntnisobjekt verlangt für K. nach einem nichtnaturalistischen methodischen Zugriff: Der »normative Sinn des Rechts« kann nur durch eine werturteilsfreie Strukturanalyse rechtlicher Normativität, nicht aber durch die empirische (z. B.



Kelsen: Reine Rechtslehre 327

rechtssoziologische) Beobachtung menschlichen Verhaltens oder der dieses bestimmenden Kausalfaktoren  erfasst werden. – Für K. sind alle Rechtsnormen Zwangsnormen in der Form konditionaler Sollenssätze, in denen an eine bestimmte Bedingung – ein dem Normbefehl widerstreitendes tatsächliches Verhalten – ein staatlicher Zwangsakt als negative Folge geknüpft ist. Rechtliches ›Sollen‹ bezeichnet nach K. nur diese Verknüpfung von Bedingung und Folgenanordnung der Norm; entsprechend geht seine Analyse vom Begriff der ›Rechtspflicht‹  aus, in deren Begründung er die wesentliche Funktion des objektiven Rechts (als Summe  der geltenden, im Großen und Ganzen wirksamen, d. h. effektiv verhaltenssteuernden Zwangsnormen) erkennt. In der Durchführung seiner Theo­ rie werden die vernunftrechtlich aufgeladenen Begriffe der ›Person‹ bzw. des ›Rechtssubjekts‹ als bloße Platzhalter »für ein Bündel von Rechtspflichten und Berechtigungen« dekonstruiert. Auch der Staat ist für K. nur die Gesamtheit rechtlicher Sollenssätze, er ist identisch mit der Rechtsordnung. Diese stellt ein gestuftes, widerspruchsfreies Normensystem dar, in dem jede Norm ihren Geltungs-

grund in einer höheren Norm finden muss, weshalb nach K. eine hypothetisch gedachte oberste »Grundnorm« (der zufolge die Verfassung als höchste positivrechtliche Norm als geltend zu denken ist) als transzendental-logische Voraussetzung sowohl der Gültigkeit der gesamten Ordnung als auch ihrer theoretischen Erfassbarkeit eingeführt werden muss. – In K.s Rechtspositivismus wird der Begriff des Rechts radikal von seiner traditionalen Verbindung mit Moral (»Gerechtigkeit«) getrennt. Jeder beliebige Inhalt kann Recht sein. Rechtliche Normen gelten, weil sie nach einer – ihrerseits rechtlich definierten – höherstufigen Regel durch Willensakt erzeugt und gesetzt wurden. Hierbei gilt K.s Aufmerksamkeit v. a. der Dynamik des positiven Rechts, das die Verfahren seiner eigenen Erzeugung und Änderung selbst regelt. Zugleich wird die Frage nach der Gerechtigkeit als einem »irrationalen Ideal« und einem Gegenstand stets nur subjektiver Wertung aus dem Bereich möglicher Erkenntnis ausgeschlossen und dem Bereich der wertrelativistisch verstandenen politischen (also willensbasierten, für K. aber vorzugsweise demokratischen) Auseinandersetzung  zugeschlagen. – Das

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Kierkegaard: Begrebet Angest

»epochale« (H.  Dreier) Werk markiert den Beginn einer systematischen Auseinandersetzung mit der ausdifferenzierten »Eigengesetz­lichkeit« des Rechts und behält hierin seine Bedeutung. Es wurde nicht zuletzt von Vertretern eines soziologischen Rechtsbegriffs heftig angefeindet. Die neuere analytical jurisprudence bzw. Rechtstheorie schließt überwiegend an K. an, problematisiert aber u.  a. seine Engführung des Normbegriffs auf Zwangs- bzw.  Sanktionsnormen (H. L. A. Hart). Angesichts des Umstands, dass westliche Verfassungsordnungen mit den Prinzipien der Menschenwürde, der grundrechtlich garantierten Individualfreiheiten, der Gleichheit und des Rechtsstaats we­ sentliche Gerechtigkeitsgehalte des Vernunftrechtsdenkens als Prinzipien des positiven Rechts inkorporiert haben, ist zu fragen, ob die Grenzen möglicher Begründung und Rechtfertigung juridischer Normen nicht weiter zu ziehen sind, als K. dies vertrat (R. Dworkin). T. Gutmann Ausgabe: Studienausgabe der 1.  Aufl. 1934, Hg. und Einl.: M. Jestaedt, Tbg. 2008. Literatur: H. Dreier, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei H.  K., Baden-Baden

1990. – S. L. Paulson/M.  Stolleis (Hg.), H.  K. Staatsrechtslehrer und Rechtstheoretiker des 20. Jh.s, Tbg. 2005. 2

Søren Aabye Kierkegaard *  5. 5. 1813 in Kopenhagen, †  11. 11. 1855 in Kopenhagen; Begründer der Existenzphilosophie und wichtiger christlicher Denker.

Begrebet Angest. En simpel psychologisk-paa-pegende Overveielse i Retning af det dogmatiske Problem om Arvesynden

(dän.; Der Begriff Angst. Eine schlichte psychologisch-andeutende Überlegung in Richtung auf das dogmatische Problem der Erbsünde), EA Kopenhagen 1844 (Pseudonym: Vigilius Haufniensis).

Ausgangspunkt der Schrift ist das theologische Problem der Erbsünde, das für K. jedoch kein Thema einer wissenschaftlichen Abhandlung, sondern Gegenstand einer Predigt ist. Deshalb sollen hier nur die psychologischen Voraussetzungen geklärt werden, die dem Übergang von Unschuld zu Schuld zugrunde liegen; Leitfaden dabei ist der biblische Bericht vom Sündenfall. – Hinsichtlich der Erbsünde kommt es K. darauf an zu zeigen, dass jedes spätere Individuum nicht durch sein Verhältnis zu Adam an der Sünde teilhat, sondern sich



Kierkegaard: Begrebet Angest 329

aus eigener Schuld versündigt. Der Übergang von Unschuld zu Schuld ist daher nach K. für jedes Individuum anthropologisch zu erklären, steht aber insofern in Bezug zu Adam, als jeder Einzelne »zugleich er selbst und das ganze Geschlecht« ist. So befindet sich der Mensch in einer geschichtlichen Abfolge des Geschlechts, in der Adams Sünde deshalb von Bedeutung ist, weil sie als erste Sünde die Qualität gesetzt hat. Der Mensch ist nach K. eine Synthese von Seele und Leib, deren einigendes Drittes der Geist ist (→ Sygdommen til Døden). Im Zustand der Unschuld herrscht eine unmittelbare natürliche Einheit von Seelischem und Leiblichem, in der der Geist zwar anwesend ist, jedoch nur »träumend«. Das Selbstverständnis des Menschen im Zustand der Unschuld ist ambivalent und daher nicht von Dauer. Für K. ist es die Aufgabe des Menschen, als Geist die Synthesis selbst zu vollziehen und die Differenz von Seele und Leib im Bewusstsein zu durchdringen, d. h. sie trennend zu unterscheiden. Daher stört die Anwesenheit des Geistes die unmittelbare Einheit. Träumend verhält sich der Geist zu seiner Wirklichkeit als der Möglichkeit seiner Freiheit (sich selbst bestimmen zu können), aber

diese Möglichkeit ist nichts, solange der Geist sich nicht selbst gesetzt hat. Zu dieser seiner Freiheit  als seiner Möglichkeit verhält sich der Geist nach K. in »Angst«. Die unbekannte Wirklichkeit erweckt die Neugierde, das Wissenwollen, doch zugleich erschreckt die Ungewissheit  über das zu erwartende Unbekannte. Die Angst ist daher für K. »eine sympathetische Antipathie und eine antipathetische Sympathie«. Dieser psychologisch  zweideutige Zustand führt nach K. schließlich zum Sprung, mit dem der »erwachende« Geist sich selbst setzt, sich jedoch zugleich schuldig weiß. Mit der Freiheit ist das Wissen um die Differenz von Gut und Böse gesetzt und der Mensch wird schuldfähig. Nach dem Sprung ist die Angst jedoch nicht verschwunden, nur ihr Gegenstand hat sich geändert. War im Zustand der Unschuld das Können der Freiheit als solches Gegenstand der Angst, so sind es nun die Inhalte dieses Könnens. So entwickelt sich die Angst vor dem Bösen, d. h. vor dem noch größeren Verstricken in Sünde, oder aber vor dem Guten, wenn der Mensch sich nicht zu seiner Sünde bekennen will und sich weigert, Gott in Freiheit anzuerkennen (das Dämonische). In ihrer höchsten Form schließlich

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Kierkegaard: Sygdommen til Døden

enthüllt die Angst die Unendlichkeit möglicher Schuld; dabei stößt sich der Mensch ab von allem bloß Endlichen und erfährt im Glauben die Möglichkeit einer Erlösung durch Gott. – K.s Analyse der Angst hat in der Philosophie (Heidegger, Jaspers) und der Psychologie nachgewirkt. Ihren terminologischen Niederschlag findet sie in der Abgrenzung der Angst von der Furcht, die auf etwas Bestimmtes, innerweltlich Vorhandenes bezogen wird. F.-P. Burkard Ausgaben: Dt., Gesammelte Werke, Abt. 11 und 12, Düsseldorf 1958. – Engl., The Concept of Anxiety, Princeton (NJ) 1981. Literatur: A.  Grøn, Angst bei S. K., Stgt. 1999. – A. Pieper, S. K., Mchn. 2000.

Sygdommen til Døden. En christelig psychologisk Udvikling til Opbyggelse og Opvækkelse

(dän.; Die Krankheit zum Tode. Eine christlich psychologische Entwicklung zur Erbauung und Erweckung), EA Kopenhagen 1849 (Pseudonym: Anti-Climacus, Hg.: S. Kierkegaard).

K. behandelt das Phänomen der Verzweiflung im 1. Teil des Werkes als existenzielle Grundverfassung des Menschen und im 2.  Teil unter christlichdogmatischer Sicht als Sünde.

– K.s anthropologische Bestimmung des Menschen lautet: »Das Selbst des Menschen ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält und, indem es sich zu sich selbst verhält, sich zu einem anderen verhält« (durch das es gesetzt ist). Dem Selbstverhältnis des Menschen liegt dabei zugrunde, dass er als eine Synthese von Unendlichem und Endlichem, von Ewigem und Zeitlichem, von Möglichkeit und Notwendigkeit zu denken ist. Der Begriff ›Selbst‹ (oder Geist) bezeichnet die Fähigkeit (und Aufgabe) des Menschen, sich zu diesen Differenzen verhalten zu können und darüber hinaus das Wie der Synthese selbst herstellen zu müssen. Insofern der Mensch sich nicht selbst erschaffen hat, erkennt er sich nach K. in dieser Struktur als ein von Gott gesetztes Selbst, wodurch er in seinem Selbstverhältnis zugleich in ein Gottesverhältnis tritt. Verzweiflung bedeutet für K., dass der Mensch in einem Missverhältnis zu den Differenzen seiner Synthese und zu Gott steht. Sie ist eine »Krankheit« des Geistes, die jedem Menschen innewohnt und die mit dem Grad ihres Bewusstwerdens an Intensität zunimmt. Verzweiflung bedeutet, dass der Mensch sich gegen die Verhältnisstruk-



Kripke: Naming and Necessity 331

tur seines Selbst wendet. K. zeigt daraufhin die verschiedenen Gestalten verzweifelter Existenz auf: Unter dem Aspekt des Ungleichgewichts der Synthesismomente entsteht z.  B. der Fantast aus der grenzenlosen Verunendlichung seines Daseins, während die bornierte, beschränkte Existenz die Endlichkeit des Alltäglichen verabsolutiert. Betrachtet man die Verzweiflung unter dem Gesichtspunkt des Bewusstseins, so finden sich Menschen, die sich gar nicht bewusst sind, ein Selbst zu sein, dann solche, die im Bewusstsein ihres Selbstseinkönnens verzweifelt sie selbst sein wollen (Trotz) oder aber verzweifelt nicht sie selbst sein wollen (Schwachheit). In der potenziertesten Form hält der Mensch bewusst an seiner Verzweiflung fest, um so seine Auflehnung gegen Gott zu demonstrieren (das Dämonische). Dagegen gelingt die Überwindung der Verzweiflung für K. nur, wenn das Selbst sich in Gott gründet: »Indem es sich zu sich selbst verhält und indem es es selbst sein will, gründet das Selbst durchsichtig in der Macht, die es setzte«. Insofern das Selbst von Gott herrührt, ist ein Verfehlen des Selbst ein Verfehlen der eigenen Seinsbestimmung vor Gott und somit Sünde. K.

arbeitet daraufhin den christlichen Sündenbegriff heraus und formuliert dessen Steigerungen als die Sünde, über seine Sünde und an ihrer Vergebung zu verzweifeln und schließlich die Wahrheit des Christentums aufzugeben. – K.s Bestimmung des Menschen als eines bedrohten und erst noch zu leistenden Selbstverhältnisses war für den Ansatz der Existenzphilosophie entscheidend und für die Anthropologie im Allgemeinen von grundlegender Bedeutung. F.-P. Burkard Ausgaben: Dt., Gesammelte Werke, Abt. 24 und 25, Düsseldorf 1954. – Engl., The Sickness Unto Death, Princeton (NJ) 1983. Literatur: M. Theunissen, Das Selbst auf dem Grund der Verzweiflung, Ffm. 1991. – A. Pieper, S. K., Mchn. 2000.

Saul A. Kripke *  13. 11. 1940 Bay Shore, Long Is­ land (NY); Philosoph und Logiker, insbesondere Beiträge zur Modallogik und zur Sprachphilosophie.

Naming and Necessity (engl.; Name und Notwendigkeit), EA Cambr. (Mass.) 1980.

Naming and Necessity ist ein überarbeitetes Transkript einer Reihe von drei Vorlesungen, die der Autor im Januar 1970 in Princeton gehalten hat. Be-

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Kripke: Naming and Necessity

handelt werden dabei zunächst Fragen der Sprachphilosophie, dann aber auch Probleme der Metaphysik und Erkenntnistheorie. – K. argumentiert gegen eine bestimmte philosophische Konzeption von Eigennamen (also von Namen wie ›Gödel‹ oder ›Lassie‹), die er mit Frege und Russell in Verbindung bringt. Dieser Konzeption zufolge ist mit jedem Eigennamen eine Menge von Eigenschaften semantisch verknüpft, so dass der Name genau den Träger dieser Eigenschaften herausgreift. Dabei unterscheidet K. den Fall, in dem z. B. der Gehalt von ›Gödel‹ eine Beschreibung wie ›der Mann, der die Unvollständigkeit der Arithmetik entdeckt hat‹, ist, von dem Fall, in dem der Name ›Gödel‹ zwar keinen solchen Gehalt hat, sondern nur einen Referenten (eben Gödel), in dem dieser Referent aber durch die Beschreibung semantisch festgelegt (»fixiert«) wird. Gegen beide Optionen entwickelt K. durchschlagende Argumente. Sein modales Argument widerlegt die erste Konzeption. Es verweist darauf, dass Sätze wie: ›Es hätte so sein können, dass Gödel die Unvollständigkeit der Arithmetik nicht entdeckt hat‹, wahr sind, während ›Es hätte so sein können, dass der Mann, der die Unvollständig-

keit der Arithmetik entdeckt hat, die Unvollständigkeit der Arithmetik nicht entdeckt hat‹, nicht wahr ist. K.s epistemisches Argument richtet sich dann gegen beide erwähnten Konzeptionen. Es lautet etwa so: Angenommen, wir täuschen uns darin, dass Gödel die Unvollständigkeit der Arithmetik entdeckt hat; es war Schmidt. Wir verbinden aber neben dieser Eigenschaft nichts weiter mit dem Namen ›Gödel‹. Trotzdem wird unsere Aussage ›Gödel war klug‹ sich auf Gödel beziehen und nicht auf den, der unsere Kriterien erfüllt. – Diese Punkte zeigen, dass Namen konstant bestimmte Individuen herausgreifen – und zwar auch in kontrafaktischen Umständen, in denen ihnen die Eigenschaften, die Sprecher mit ihnen verknüpfen, fehlen. K. nennt sie daher »starre Bezeichner« (rigid designators). Zum anderen wird deutlich, dass Namen ihre Referenten unabhängig davon herausgreifen, ob die Vorstellungen der Sprecher vom Referenten richtig sind oder nicht. K. skizziert eine alternative Theorie, der zufolge Namen ihren Bezug der Kausalgeschichte ihrer Verwendung in einer Gemeinschaft verdanken. Verwender des Namens ›Gödel‹ müssen diese Geschichte nicht kennen; dennoch legt sie seinen



Kuhn: The Structure of Scientific Revolutions 333

Bezug fest. K. weitet diese externalistische Semantik auch auf Ausdrücke für natürliche Arten (wie ›Wasser‹ und ›Tiger‹) aus. – Diese Theorie hat weitreichende Konsequenzen. So sind bestimmte modale Aussagen mit Eigennamen notwendig wahr, ohne a priori als wahr erkennbar zu sein. Da jedes Ding notwendig mit sich selbst identisch ist und Eigennamen in allen möglichen Welten dieselbe Entität herausgreifen, ist z. B. ›Tullius ist Cicero‹ notwendig wahr, nicht aber a priori als wahr erkennbar. Ähnliches gilt laut K. auch für Aussagen, die den genetischen Ursprung und die Artzugehörigkeit des Trägers eines Eigennamens benennen, etwa für ›Wenn Gödel existiert, so ist er ein Mensch‹, oder für Aussagen mit Namen für natürliche Arten, wie ›Tiger sind Säugetiere‹. Da Namen zudem keinen semantischen Gehalt haben, der sich durch eine Beschreibung wiedergeben ließe, können solche Notwendigkeitsaussagen nicht als implizite analytische Wahrheiten aufgefasst werden. Sie müssen wegen modaler Eigenschaften des Referenten zutreffen (Essen­zialismus). – Gleichwohl gibt es die Möglichkeit, einen Bezeichner N einzuführen, indem man stipuliert, dass er als »starrer Bezeichner« der Entität

fungieren soll, die faktisch eine Beschreibung ›F‹ erfüllt. Dann ist ›N ist F‹ a priori als wahr erkennbar, kann aber dennoch eine kontingente Aussage sein. – Wegen solcher Konsequenzen gilt Naming and Necessity nicht nur in der Sprachphilosophie als Klassiker. Auch für die Renaissance der Metaphysik in der aktuellen analytischen Philosophie ist es der entscheidende Einfluss. Noch immer ist es der Hauptbezugspunkt in Debatten um Referenz, Modalität, modale Epistemologie, natürliche Arten und essenzielle Eigenschaften. T. Henning Ausgabe: Dt., Ffm. 1993. Literatur: C. Hughes, K.: Names, Necessity, and Identity, Oxfd. 2004. – N. Salmon, Reference and Generality, Amherst 22005.

Thomas Samuel Kuhn *  18. 6.  1922 Cincinnati (Ohio), †  17. 6. 1996 Cambridge (Mass.); Wissenschaftstheoretiker und -historiker, der die Wissenschaftsphilosophie entscheidend prägte.

The Structure of Scientific Revolutions (engl.; Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen), EA Chicago 1962.

K. etabliert mit seinem Werk eine neuartige Wissenschafts-

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Kuhn: The Structure of Scientific Revolutions

theorie, die wesentliche Probleme seiner Vorgänger, insbesondere der Ansätze des Logischen Positivismus und des Kritischen Rationalismus Karl Poppers, zu meiden versucht. K.s Hauptkritikpunkt an diesen besteht darin, dass ihre normativen Maßstäbe in der faktischen Geschichte und Praxis wissenschaftlichen Arbeitens  keine oder kaum Entsprechung finden. Charakteristisch für K. ist eine wissenschaftshistorische Herangehensweise, die versucht, aus der (überlieferten) Wissenschaftspraxis diejenigen Leitvorstellungen zu extrapolieren, die für wissenschaftliches Arbeiten kennzeichnend seien. Wissenschaftler machen demzufolge keine theoriefreien Beobachtungen, aus denen sie dann, wenn hinreichend viele Daten vorliegen, auf allgemeine Gesetze schließen. Vielmehr brauchen Wissenschaftler  implizit theoretische Hintergrundannahmen, um die Welt strukturiert und zielgerichtet beobachten zu können. Darüber hinaus sind Wissenschaftler nicht bereit, Theorien bei Einzelfällen, in denen sie sich als problembehaftet oder ›falsch‹ herausstellen, gleich aufzugeben. – Nach K. ist die Wissenschaftsgeschichte nicht als fortschreitender, kumulativ Wissen ansammelnder Prozess

zu verstehen, sondern Wissenschaft durchläuft verschiedene, in struktureller Hinsicht wiederkehrende Phasen. Zunächst gibt es eine Phase der Vorwissenschaft, in der die Wissenschaftler in erster Linie über ihre Grundlagen und metaphysischen Annahmen debattieren. Spezialisierte Untersuchungen und Experimente finden in dieser Phase nicht oder kaum statt. Es gibt eine Vielzahl von (Vor-) Wissenschaften, die diese Phase bis heute nicht überwunden haben und daher nicht als ›reife‹ Wissenschaften gelten können. In der Phase der Vorwissenschaft kann sich ein Paradigma durchsetzen und ermöglicht damit im Gelingensfall eine Phase der Normalwissenschaft. Der Begriff ›Paradigma‹ entzieht sich einer präzisen Definition, verweist jedoch auf ein disziplinäres System, das Gesetze, Grundannahmen und typische Problemlösungsstrategien umfasst. Gleichwohl muss es hinreichend unbestimmt und offen sein, um dem Forscher nicht nur ausreichend Orientierung zu geben, sondern auch genügend interessante ›Rätsel‹ zu bieten. Ein geteilter Konservatismus hinsichtlich der Grundlagen ermögliche spe­ zialisierte Untersuchungen, die den Wissenskorpus erweitern und vertiefen. – Auch in einer



Leibniz: Discours de métaphysique 335

Phase der Normalwissenschaft kommt es immer wieder zu Ano­malien, also Fällen, in denen das Lösen von einigen Rätseln innerhalb des Paradigmas nicht gelingt. Häufen sich solche Fälle, bestehen sie über längere Zeiträume oder verfehlen praktische Bedürfnisse, können  Grundlagenstreitigkeiten sukzessive erneut aufbrechen, und die wissenschaftliche Gemeinschaft kann das Vertrauen in ein herrschendes Paradigma verlieren. Den Wechsel von einem herrschenden Paradigma zu einem neuen bezeichnet K. als wissenschaftliche Revolution. K. charakterisiert Revolutionen im Bilde eines Gestaltwandels oder der religiösen Konversion der Wissenschaftlergemeinschaft, da sich nicht nur die Theorie, sondern auch der Zugang zur Welt und damit der Gegenstandsbereich der  Wissenschaft ändert. Durch diese radikale Veränderung des Fürwahrgehaltenen sind altes und neues Paradigma inkommensurabel. Ob auf dieser Basis die Rede von wissenschaftlichem Fortschritt zwischen Paradigmen sinnvoll Verwendung finden kann, wurde vielfach bestritten, K. setzte sich jedoch bereits im Postskriptum von 1969 gegen den Vorwurf des Relativismus zur Wehr. – Neben der fächerübergreifenden

Rezeption fand K.s Theorie besonderen Niederschlag in den Ansätzen von Feyerabend, der sie zu einem Wissenschaftsanarchismus ohne verbindliche Methoden radikalisierte, während Lakatos’ Fortführung in der Theorie der Forschungsprogramme relativistische Implikationen zu vermeiden suchte. D. Düber Ausgaben: Chicago/Ldn.  31996 (erw. um das Postscript von 1969). – Dt., Ffm. 21979 (revidiert und um das Postskriptum von 1969 ergänzt). Literatur: I. Lakatos/A.  Musgrave (Hg.), Criticism and the Growth of Knowledge, Cambr. 1970. – P. Hoyningen-Huene, Reconstructing Scientific Revolutions, Chicago 21993. – A. F. Chalmers, Wege der Wissenschaft. Einführung in die Wissenschaftstheorie, Bln. u. a. 6 2006 (insb. Kap. 8).

Gottfried Wilhelm Leibniz *  1. 7.  (21. 6.)  1646 Leipzig, †  14. 11. 1716 Hannover; Univer­ salgelehrter am Beginn der Auf­klä­ rung, Vertreter des Rationalismus.

Discours de métaphysique (frz.; Metaphysische Abhandlung), entst.  1686; EA Hannover 1846 (in: Gesammelte Werke, 2. Folge, Bd. 1, Hg.: K. L. Grotefend).

L.’ erste geschlossene Darstellung seiner Philosophie steht

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Leibniz: Discours de métaphysique

im Zusammenhang mit seinem Briefwechsel mit dem jansenistischen Theologen und Philosophen Arnauld, dem er eine Zusammenfassung der Schrift übermittelte. Dessen ablehnende Haltung führte zu einem vierjährigen Briefwechsel, in dem L. seine Auffassung differenziert. Das Werk wurde erst 1846 veröffentlicht. Es behandelt die Vollkommenheit Gottes, den Begriff der individuellen Substanz, das Wesen der Körperwelt, die Erkenntnisproblematik, das Verhältnis Gott-Mensch (Gnade, Freiheit und Leib-Seele-Verhältnis) und die Unsterblichkeit der Seele. Zugeschnitten auf den Adressaten stehen im Vordergrund 1.  die Prädestinationslehre, in der der Jansenismus eine Auffassung ähnlich dem Calvinismus vertrat, 2.  L.’ Lösungsvorschlag zum Verhältnis von Allmacht, Güte und Weisheit Gottes und 3.  das cartesianische Leib-Seele-Problem, das Malebranche durch die okkasionalistische Theorie des ständigen Eingreifens Gottes hatte lösen wollen – eine Lösung, die L. wie Arnauld ablehnten. So entfaltet L. den 1686 erreichten Stand seiner Metaphysik, die er später zwar differenziert, aber in den Grundpfeilern nicht mehr ändert. L.’ Ausgangspunkt: Gott ist das aller-

vollkommenste Wesen (§ 1). L. nutzt dies zur Kritik am ontologischen Gottesbeweis, weil man erst beweisen müsste, dass der Maximalbegriff »allervollkommenst« möglich, d. h. widerspruchsfrei ist, da keineswegs alle Maximalbegriffe möglich sind (Negativ-Beispiele: »größte Zahl«, »größte Geschwindigkeit«; §  23). Gegen Descartes wie Arnauld betont L., dass Gott kein Willkürgott ist, der festsetzt, was gut und vernünftig ist, sondern der nach Gründen handelt. So beruhen die ewigen Wahrheiten der Mathematik, des Guten, Gerechten und Vollkom­menen nicht auf Gottes Willen, sondern machen sein Wesen aus (§ 2). Dieses ist die Voraussetzung für die Lösung des Theodizeeproblems: Jede Welt, die Gott schaffen könnte, ist aufgrund seiner Vernünftigkeit geordnet; unter ihnen wählt Gott die vollkommenste, nämlich die einfachste an Voraussetzungen und zugleich reichste an Erscheinungen (§ 6). Was Gott schafft, sind die »individuellen Substanzen«. Dieses neue Konzept ist entgegen der cartesianischen res cogitans 1.  radikal auf Individuen bezogen, 2.  wird es über Menschen hinaus ausgedehnt auf alle Wesen mit Wahrnehmung. Zugleich entwickelt L. dank



Leibniz: Discours de métaphysique 337

seiner Generales Inquisitiones de Analysi Notionum et Veritatum ein neues logisches Konzept des Individuenbegriffs, den »vollständigen Begriff« der individuellen Substanz: Dieser enthält den ganzen Lebenslauf des Individuums (§  8). Zugleich ist dies die Grundlage der L.’schen sog. »analytischen Wahrheitstheorie«, wonach für jede wahre Aussage der Prädikatbegriff im Subjektbegriff enthalten ist, weil sie über die Substanz immer etwas prädiziert, was im Substanzbegriff bereits enthalten ist. Da nun die Substanzen das einzig Reale sind (alles andere ist abgeleitet), gilt allgemein die Analytizität aller Wahrheiten. Damit ist ein Lebenslauf wie eine aristotelische substanzielle Form als ein »individuelles Gesetz« gegeben. Eine Ereignisfolge wird damit jedoch nicht (logisch) notwendig, denn notwendig ist nur dasjenige, dessen Negation einen Widerspruch impliziert (§  13); die Abfolge der Zustände im Individuum bleibt darum kontingent. Das ist die Voraussetzung der Freiheit des Individuums; denn wenn sein vollständiger Begriff auch die freien Entscheidungen enthält, bleiben sie doch frei: Gott sieht sie vorher, determiniert sie aber nicht. Dies ist die entscheidende Modifikation der

Prädestinationslehre zur Lehre von Gottes Voraussicht (praevisio). Zugleich ist damit der Freiheitsbegriff der →  Essais de Théodicée angelegt. – Hinsichtlich der  Körperwelt entwickelt L. seine Ablehnung der cartesianischen These über die Größe der Erhaltung der »Bewegungsquantität«: Diese ist nach L. nicht mv (Masse x Geschwindigkeit; der heutige ›Impuls‹, aber als skalare Größe); vielmehr muss sie mv2 sein (die heutige ›kinetische Energie‹). Damit formuliert L. eine Form des Energieerhaltungssatzes  mit weitreichenden metaphysischen Folgerungen: mv2 ist keine Extensions-Größe; wenn mv2 aber das Beharrende, also das Substanzielle in der Veränderung ist, kann Descartes’ res extensa keinen Substanzcharakter besitzen, dies kommt vielmehr der »vis« mv2 zu (§ 18). Wenn aber die res extensa keine Substanz ist, wird der cartesia­ nische wie der  okkasiona­ lis­ ti­sche Leib-Seele-Dualismus ge­genstandslos. An seine Stelle tritt eine Spiegelung (réprésentation) der ganzen Welt – d. h. aller Substanzen einschließlich Gottes – in jeder einzelnen Substanz (§ 9): Das wechselseitige Spiegelungsverhältnis von Mikrokosmos und Makrokosmos wird so zum Zentrum eines vernunftgegründeten Har-

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Leibniz: Essais de Théodicée

monieprinzips, das die göttliche Schöpfung leitet. – Seit der Text 1846 aufgefunden wurde, gilt er als erste fundamentale Darstellung der L.’schen Metaphysik. H. Poser Ausgaben: Frz., Sämtliche Schriften und Briefe (AA), Reihe  6, Bd. 4, 1529–1588. – Frz./dt., Monadologie und andere metaphysische Schriften, Ü.: U. J. Schneider, Hbg. 2002. Literatur: P. Burgelin, Commentaire du »Discours de métaphysique« de L., Paris 1959.

Essais de Théodicée sur la bonté de Dieu, la liberté de l’homme et l’origine du mal (frz.; Die Theodizee), EA Amsterdam 1710.

Der Skeptiker P. Bayle hatte 1702 in der 2. Auflage seines Dictionnaire historique et critique L.’ Système nouveau kritisiert. Die Preußenkönigin Sophie Charlotte bat L. um Erläuterung; so entstand eine Gelegenheitsschrift mit Anhängen, darunter die thesenhafte Causa Dei. Der von L. geprägte Begriff ›Theodizee‹ bezeichnet das Problem, wie ein gütiger Gott angesichts des Übels in der Welt – oder das Übel angesichts eines gütigen und allmächtigen Gottes – zu rechtfertigen ist. Als »HiobProblem« bei Laktanz scharf

formuliert, wurde traditionell auf die Unerforschlichkeit der Werke und des Willens Gottes verwiesen. Doch angesichts des Erfolgs der Naturwissenschaften erschien das nicht mehr tragfähig. – L. sieht das Theodizeeproblem im Rahmen der Verträglichkeit von Vernunft und Glaube: Sie können einander nicht widersprechen, weil sich menschliche und göttliche Vernunft nur graduell unterscheiden und alle Wahrheiten miteinander verträglich sind (Disc. Prél. § 1–5). Seine Lösung des Problems entwi­ ckelt L. seit der Confessio philosophi von 1673. Der Leitgedanke: Gott musste das Übel in der Welt zulassen, um die beste aller möglichen Welten zu schaffen; denn hätte er etwas absolut Vollkommenes schaffen wollen, hätte er nur sich selbst verdoppelt. Vorausgesetzt ist eine alles durchdringende Rationalität in drei Prinzipien: 1. Das Prinzip der Identität und des Widerspruchs, wonach a) von einer Aussage und ihrer Negation immer die eine wahr, die andere falsch ist, b) jede Identität immer wahr ist und c) jede Kontradiktion immer falsch ist. Diese »Vernunftwahrheiten« sind alle absolut notwendig (I. 44). 2. Das Prinzip des zureichenden Grundes, wonach nichts ohne Ursache (cause)



Leibniz: Essais de Théodicée 339

oder Grund (raison) geschieht (I.  44); es liegt allen »Tatsachenwahrheiten« als kontingenten Wahrheiten zugrunde. Es gilt in der Welt und sichert so deren Erkennbarkeit; es gilt aber auch für das göttliche Handeln, denn Gott handelt nie grundlos, sondern indem er unter allen Möglichkeiten die beste wählt. Daraus folgt 3. das Prinzip des Besten (»Regel des Besten«, I. 24): Das, worunter Gott wählt, sind die möglichen Welten (I.  8; II.  168), die gemäß dem ersten Prinzip im Reich der Ideen existieren. L. will nicht etwa beweisen, diese Welt sei nach menschlichen Kriterien die beste; das schließt die Begrenzung menschlichen Wissens aus (I. 19). Vielmehr: Da Gott alles mit Vernunft tut, da diese Welt existiert und da sie von Gott geschaffen ist, muss sie die bestmögliche sein, sonst hätte er überhaupt nichts geschaffen (I. 8). – Es gibt drei Formen des Übels: das metaphysische Übel als Unvollkommenheit, das physische Übel als Schmerz und das moralische Übel als Sünde (I. 21). Gott hat sie nicht gewollt, sondern um des Besten willen als Folge zugelassen (I. 22). Das metaphysische Übel ist zuzulassen, damit überhaupt eine Welt geschaffen werden kann. Das physische Übel als Leiden ist in einer

Welt mit Tätigkeit unvermeidlich. Das moralische Übel ist der Preis für die Freiheit, die es dem Menschen ermöglicht, wie ein kleiner Gott vernünftig zu handeln, um sich und die Welt zu vervollkommnen und Gott reflektierend zu erkennen. Wie aber soll der Mensch frei sein, wenn Gott diesen Weltlauf frei ausgewählt hat? L. antwortet, auch die möglichen freien Entscheidungen der Individuen seien Bestandteil der möglichen Welten. Gott wählt also mit einem Weltlauf zugleich diese freien Entscheidungen (I.  52): Er sieht sie voraus, aber er determiniert sie nicht, vielmehr bringt jedes Individuum seine Willenshandlungen spontan und autonom hervor (I. 65); wenn diese auf vernünftigen Gründen beruhen, ist die Handlung frei (III.  349). Das alles ist in L.’ Monaden-Metaphysik eingebettet: Die Seelen als das eigentlich Geschaffene befinden sich untereinander in prästabilierter Harmonie,  weil sie trotz ihrer Unabhängigkeit als Substanzen Teil eines Weltplanes sind. – L.’ optimistischer Gedanke von der besten aller möglichen Welten erschien  den Zeitgenossen als tragfähig, weil er Individualität und Freiheit mit der kausalen  Naturbetrachtung einerseits, der Gottgeschaffenheit

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Leibniz: Monadologie

der Welt andererseits versöhnte. Doch seit dem Erdbeben von Lissabon 1755 wurde er  von Voltaires Candide (1759) bis zu Schopenhauer mit beißendem Spott bedacht. Die gegenwärtige Theodizeediskussion zeigt, dass das Problem des Übels in der Welt in gewandelter Form heute so präsent und komplex wie zu L.’ Zeit. H. Poser Ausgaben: Frz., Die philosophischen Schriften, Bln.  1885 (ND Hildesheim 1965), Bd. 6, 1–365. – Dt., Ü.: A. Buchenau, Hbg. 21968, 1996. Literatur: L. Kreimendahl, G. W. L. Die Theodizee, in: ders., Interpretationen. Hauptwerke der Philosophie, Rationalismus und Empirismus, Stgt. 1994, 351–384. – P. Rateau (Hg.), Lectures et interprétations des »Essais de théodicée« de G. W. L., Stgt. 2011.

Monadologie (frz.; Monadologie), entst.  1714; EA Ffm./Lpzg.  1720 (dt.; Lehrsätze über die Monadologie); Paris 1840 (frz.).

Das Werk stellt L.’ philosophisches Vermächtnis dar: In 90 knappen Paragraphen fasst er seine Substanzmetaphysik zusammen. Am Beginn steht der Begriff der Monade als einfache Substanz (§ 1). Es muss sie geben, weil es Zusammengesetztes gibt, das selbst nur

Aggregat von Einfachem ist (§ 2). Einfache Substanzen sind unteilbar, also ausdehnungslos; deshalb ist die cartesianische res extensa keine Substanz (§  3). Als Substanz ist die Monade unvergänglich, also unsterblich (§ 4–6), sie kann weder von außen beeinflusst werden, noch nach außen wirken: sie ist fensterlos (§ 7). Sie ist Einheit ihrer inneren Qualitäten, die zugleich ihre Individuierung bewirken; diese Qualitäten sind ihre »Perzeptionen« (einschließlich der »Apperzeptionen« als bewusste Perzep­ tionen), die durch ein Streben (appétit) vorangetrieben werden (§  14  f.). Monaden sind als Seelen (einschließlich Tierund Pflanzenseelen) zu verstehen. Damit wird Des­ cartes’ res cogitans in eine unendliche Zahl von Individuen aufgelöst; die cogitatio, die Apperzeption, kann nicht einziges Bestimmungsmerkmal sein, sondern muss ersetzt werden durch die Fähigkeit zum Perzipieren. So ergibt sich eine kontinuierlich absteigende Folge von Individuen mit immer verworreneren Perzeptionen bis hinab zu den petites perceptions einer »ganz nackten Monade«, während den oberen Abschluss die immer distinkt apperzipierende göttliche Monade bildet (§ 20 und 24). Alle Monaden sind



Leibniz: Monadologie 341

wegen ihres inneren Strebens aristotelische ›Entelechien‹, die als »unkörperliche Automaten« ihr Tätigkeitsprinzip und ihren ganzen Lebenslauf in sich tragen und aus sich hervorbringen (§ 18 und 22). – Durch die Perzeptions-Abstufung erhalten die apperzipierenden Seelen als »vernünftige Seelen oder Geister« eine Sonderstellung: Sie sind des Gedankens des »Ich« und der Erkenntnis Gottes fähig. – Es folgen die Erkenntnisprinzipien (§ 31–35): 1. Das Prinzip des Widerspruchs: »falsch ist, was einen Widerspruch einschließt, und wahr, was dem Falschen kontradiktorisch entgegengesetzt ist« (§ 31); es regiert die Vernunftwahrheiten (Logik, Mathematik, Geometrie), die L. für auf Identitäten zurückführbar hält. Sie sind notwendig, weil ihre Negation einen Widerspruch enthält (§ 33–35). 2. Das Prinzip des Grundes, wonach »keine Tatsache als wahr oder existierend, keine Aussage als wahr gelten kann, ohne dass es einen zureichenden Grund gäbe« (§ 32). Es regiert die Tatsachenwahrheiten, doch unterliegt ihm auch das Handeln Gottes; damit sichert es die Vernünftigkeit und prinzipielle Erkennbarkeit der Welt. – Tatsachenwahrheiten sind kontingent, weil ihre Negation möglich ist

(§ 33); denn während die Analyse der Vernunftwahrheiten nach endlich vielen Schritten auf Identitäten führt, bricht sie bei Tatsachenwahrheiten nie ab (§ 36). Deshalb muss ihr letzter zureichende Grund »außerhalb der Folge der kontingenten Dinge« in einer notwendigen Substanz, d. h. in Gott liegen (§ 37 f.). Der Realität der geschaffenen Dinge stellt L. die Realität der »Möglichkeiten« als ein platonisches »Reich der Ideen« gegenüber (§ 45 f.), wo auch die möglichen Welten verankert sind (§ 44 f.; § 53 f.), unter denen Gott nach dem Prinzip des Besten (als Spezialfall des Prinzips des Grundes) (§ 46 und 53) die beste Welt wählt. – All das wendet L. auf das Leib-Seele-Verhältnis an: Da das Erschaffene bereits in der möglichen Welt aufeinander abgestimmt ist, ist jede Monade trotz Fensterlosigkeit »ein lebender Spiegel des Universums« (§  56). Dabei wird ihr Körper »aufs Deutlichste« dargestellt (§ 62). Er ist »organisch« und ein »natürlicher Automat«, in dem wiederum Automaten enthalten sind bis ins Unendliche; so ist die Welt bis ins Kleinste belebt und beseelt (§ 66 ff.). Geburt und Tod sind nur Veränderungen im monadischen Ein- und Unterordnungsverhältnis (§ 73 und

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Leibniz: Nouveaux Essais sur l’Entendement humain

76). Abschließend geht L. zur prästabilierten Harmonie über. Sie umfasst die Parallelität von Seele und Körper und damit von Zweckursachen der Monaden und Kausalursachen der Körperbewegungen, allgemein vom »Reich der Natur« und dem »moralischen Reich der Gnade« (§ 87). Die Geist-Monaden können dies erkennen und sich wegen ihres Vermögens vernünftig zu handeln als Gott ähnlich begreifen, um mit ihm in eine »Gemeinschaft« einzutreten, den »Gottesstaat« (§  85  ff.). Darin ist alles auf die Vergrößerung der Glückseligkeit gerichtet (§ 90): Der Mensch soll seine Erkenntnis erweitern und anwenden, um Harmonie und Glück zu mehren. – L. gelang mit diesem Werk der Entwurf des ersten umfassenden Systems neuzeitlichen Denkens: Das Individuum wird zum einzig Existierenden, die Erkenntnisprinzipien erlauben eine Deutung der Welt als vernünftig und erkennbar, und die christlichen Glaubensinhalte erscheinen als damit vereinbar. In der beseelten Welt mit ihrer Spiegelung von Mikro- und Makrokosmos und ihrer Entsprechung von kausaler und finaler Ordnung folgt göttliches und menschliches Handeln dem Prinzip des Besten: Unsere Welt ist verbes-

serbar, wenn wir vernünftig handeln. So legt die Schrift zugleich den Grundstein für die Hoffnung der Aufklärung auf bessere Lebensbedingungen und auf moralisch besseres Handeln aus Einsicht. H. Poser Ausgaben: Frz., Die philosophischen Schriften, Bln. 1885 (ND Hildesheim 1965), Bd.  6, 607–623. – Hg.: A.  Robinet, Paris 1954, 31985 (krit.). – Dt., Ü.: A.  Buchenau, Hg.: H. Herring, Hbg. 21982. Literatur: H. Busche (Hg.), G. W. L: Monadologie, Bln. 2009.

Nouveaux Essais sur ­l’Entendement humain (frz.; Neue Untersuchungen über den menschlichen Verstand),  entst. 1703–05; EA Amsterdam/Lpzg. 1765 (in: Œuvres philosophiques latines et françaises).

Die Schrift gilt als L.’ erkenntnistheoretisches Hauptwerk. Er antwortet darin auf die empiristische Erkenntnistheorie von Lockes →  Essay Concern­ ing Human Understanding in der französischen und lateinischen Übersetzung von 1700 bzw. 1701. L. wählt hierzu die Dialogform, wobei Philalèthe Lockes, Théophile L.’ Auffassungen vertritt. Der Aufbau folgt bis in die Paragraphen dem Werk Lockes, vielfach



Leibniz: Nouveaux Essais sur l’Entendement humain 343

auch dessen oft nicht sehr präzisen Terminologie, was die Interpretation erschwert. Locke vertritt in Aufbau und Inhalt das diametrale Gegenteil der L.’schen Auffassung: Während Locke eine genetische Begründung von Erkenntnis verficht, betont L., dass die Analyse der Entstehung eines Urteils dieses nicht begründet. Er zeigt an vielen Beispielen der Wissenschaften seiner Zeit, dass Locke der wissenschaftlichen Erkenntnis nicht genug Beachtung schenkt; sonst hätte er erkannt, dass Wissenschaften einen Ordnungszusammenhang ihrer Erkenntnisse verlangen, der einzig der Vernunft entstammen kann. – Im Kern geht es L. um eine Verteidigung des platonistischen Anteils seiner Philosophie (d. h. der absolut einfachen Begriffe, des Reichs der Ideen und der Wahrheitsprinzipien) gegen die Auffassung, alle Begriffe entstammten der Erfahrung. Für Locke ist der menschliche Geist zunächst gleichsam eine leere Wachstafel, eine tabula rasa: »Nihil est in intellectu quod non fuerit in sensu« (›Nichts ist im Verstand, was nicht zuvor in den Sinnen war‹). L. zeigt, dass dies zwar für Erfahrungsgegebenes zutreffen mag, nicht aber für das Denken und die es konstituierenden Begriffe wie ›Sein‹,

›Möglichkeit‹, ›Identität‹ (I.  3, §  3), ebenso ›Einheit‹, ›Existenz‹ etc. (Préf.): Diese können nach L. keinesfalls der Erfahrung entstammen, sondern sind deren Voraussetzung. Dabei dürfen sie nicht als eingeboren im Sinne von ›präexistent‹ verstanden werden, sondern als Dispositionen oder angelegte Möglichkeiten. Dem genannten Locke’schen Satz ist deshalb hinzuzufügen: »exipe: nisi ipse intellectus« (›ausgenommen: der Verstand selbst‹; II. 1, § 2). Diese Ergänzung bezieht sich nicht nur auf Begriffe oder Ideen, sondern schließt die für das Denken unverzichtbaren Prinzipien ein, so das Prinzip der Identität und des Widerspruchs (II.  2, § 13) und die aus ihm folgenden Vernunftwahrheiten: Logik, Mathematik und Geometrie. Hinsichtlich der Tatsachenwahrheiten bestreitet L. keineswegs deren Herkunft aus der Erfahrung; ja, er fasst sie so weit, dass das cartesianische »Ich denke, also bin ich« als eine erste und unmittelbare Tatsachenwahrheit aufzufassen ist (IV.  7, § 7). Doch kommt ihnen keinerlei (logische) Notwendigkeit zu. – Eine damals völlig neue Einsicht vertritt L., wenn er hervorhebt, dass es Wahrnehmungen gibt, die unterhalb der Schwelle des Bewussten liegen (die petites per-

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Leibniz: Nouveaux Essais sur l’Entendement humain

ceptions; Préf., AA VI. 6. 54 f.): L. ist damit Urheber einer Theo­rie des Unbewussten. Den »kleinen Perzeptionen« kommt eine überragende Rolle zu, denn 1.  konstituieren sie das Individuum in seiner Individualität (weil jedes Individuum die Welt perspektivisch anders wahrnimmt, wie L. später sagen wird), 2.  können sie nur zum geringsten Teil nachträglich zu Bewusstsein gebracht werden. Damit ist 3.  eine Grenze des Erkennens markiert, da alle unsere Wahrnehmungsbilder zwar klar, in ihren Teilen aber – weil auf kleinen Perzeptionen beruhend – verworren sind (Préf ). Nur zurückhaltend deutet L. an, dass die Perzeptionen in seiner Monadenlehre der »intelligiblen Welt« als der eigentlichen Realität der individuellen Substanzen zugehören, während das Wahrgenommene nur zu den »Phänomenen der Sinne« zählt (IV. 3, § 6). – Bemerkenswert ist L.’ etymologische Erörterung zum Ursprung und Wandel der Sprachen; sie zeigt, dass er nicht nur Theoretiker der formalen Sprachen ist, sondern die natürlichen Sprachen in ihrer Vielfalt und Flexibilität für ein unverzichtbares Instrument menschlichen Denkens und Erkennens hält. Gerade hier ist heute eine Neubewertung von L. zu beob-

achten. – Mit Hinweis auf Lockes Tod verzichtete L. auf eine Publikation; erst 1765 wurde das Werk veröffentlicht. Kant bezieht sich in der →  Kritik der reinen Vernunft (1781/87) mehrfach auf das Buch, und seine Kategorien nehmen als apriorische Denkformen ein zentrales Element der absolut einfachen Begriffe L.’ auf; doch Kants Vorwurf, L. habe die Erfahrung ›intellektuiert‹ (die herausragende Bedeutung der petites perceptions wird von Kant nicht gesehen), zeigt, wie fern er L.’ Sicht stand. Der deutsche Idealismus allerdings zog aus Kants kritischer Philosophie ontologische Konsequenzen, die fraglos auch durch L.’ Idealismus vorgezeichnet waren. H. Poser Ausgaben: Frz., Sämtliche Schriften und Briefe (AA), Reihe 6, Bd. 6, 39–527. – Dt., Ü.: E.  Cassirer, Lpzg. 1915, Hbg. 1996. Literatur: H. M. Wolff, L. All­ beseelung und Skepsis, Bern 1961. – M. de Gaudemar (Hg.), Locke et L., Hildesheim 2011.

Gotthold Ephraim Lessing * 22. 1. 1729 Kamenz, † 15. 2. 1781 in Braunschweig; führender Vertreter der deutschen Aufklärungsphilosophie, Dichter und Literaturkritiker.



Lessing: Die Erziehung des Menschengeschlechts 345

Die Erziehung des Menschengeschlechts ED Braunschweig 1777 (§§ 1–53, in: Zur Geschichte und Litteratur. Aus den Schätzen der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel; anonym), EA Bln. 1780 (anonym).

Die anonym erschienene Schrift – L. gibt vor, nur der Herausgeber zu sein – ver­ bindet  religionsphilosophische Ge­dan­ken mit einem geschichtsphilosophischen  Entwurf. Die Geschichte der Re­ligionen wird in Auseinandersetzung mit H. S. Reimarus und W. Warburton als Erziehungsgeschichte der Menschheit gedeutet: »Was die  Erziehung bei dem einzelnen Menschen ist, ist die Offenbarung bei dem ganzen Menschengeschlechte.« (§ 1) Die göttlichen Erziehungsmittel  muß­ten dabei dem jeweiligen Stand der menschlichen Entwicklung akkommodiert werden. Aus diesem Gesichtspunkt betrachtet teilt sich die Menschheitsgeschichte in drei Zeitalter: die jüdische Offenbarungsgeschichte (§§ 8–52), die christliche Offenbarungsgeschichte (§§  53–79) und schließlich die »Zeit eines neuen ewigen Evangeliums« (§§ 80–100). – Der erste Erziehungsschritt, für den das israelitische Volk erwählt worden sei, beschränke sich auf die der »Kindheit«

des Menschengeschlechts angemessene Lehre, dass es einen einzigen Gott gebe, der die Menschen auf Erden belohne und bestrafe. Auf die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele und künftigen Vergeltung bereite das Alte Testament lediglich durch Vorübungen, Anspielungen  und Fingerzeige vor (§§ 43–47). Im zweiten Schritt werde Christus zu dem »erste[n] zuverlässige[n], praktische[n] Lehrer der Unsterblichkeit der Seele« (§ 58). Das Neue Testament weise alle Menschen an, ihre inneren und äußeren Handlungen auf ein künftiges Leben zu richten, in dem sie nach ihrem moralischen Verdienst belohnt und bestraft werden. Solange die Menschen die Tugend jedoch nur »wegen ihrer ewigen glückseligen Folgen […] lieben« (§ 79), sei ihr Herz noch nicht wahrhaft rein. Erst wenn der Mensch die Tugend »um ihrer selbst willen« (§ 80) liebe, wenn er »das Gute tun wird, weil es das Gute ist« (§ 85), sei das letzte Zeitalter des Menschengeschlechts erreicht. In ihm sei wahre Moralität endlich ihr eigener Lohn; einer Bestätigung durch andere Instanzen bedürfe sie dann nicht mehr. L. schließt mit der ergänzenden Hypothese von der Möglichkeit wiederholter Erdenleben

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Levinas: Totalité et infini

(§§ 94–100), die er als rationale Unsterblichkeitsvorstellung anbietet: Könne es nicht sein, dass jeder Mensch so oft auf der Erde wiedergeboren werde, wie zu seiner Vervollkommnung erforderlich sein möge? – L.s Schrift löste theologische, religionsgeschichtliche und geschichtsphilosophische Debatten aus. Kontrovers diskutiert wurde besonders die Frage, ob sich in der Geschichte der Menschheit ein beständiger moralischer Fortschritt zeige. Während M. Mendelssohn gegen seinen Freund L. geltend machte, die Menschheit behalte zu allen Zeiten »ungefähr dieselbe Stufe der Sittlichkeit«, verteidigte Kant mit zusätzlichen Argumenten L.s Hypothese eines Fortschritts der Menschheit zum Besseren. O. R. Scholz Ausgabe: Sämtliche Schriften, Bd.  12, Hg.: L. F. Helbig. Bern/ Ffm. 1980 (hist.-krit.), 413–436. Literatur: M. Waller, L.s Erziehung des Menschengeschlechts.  Interpretation und Darstellung ihres rationalen und irrationalen Gehalts, Bln. 1935. – H.  E. Allison, L. and the Enlightenment. His Phi­ losophy of Religion and Its Relation to Eighteenth-Century Thought, Ann Arbor 1966. – D.  Cyranka, L. im Reinkarnationsdiskurs. Eine Untersu­chung zu Kontext und Wirkung von G. E. L.s Texten zur Seelenwanderung, Gttgn. 2005.

Emmanuel Levinas (in frz. Schreibweise: Lévinas), *12. 1. 1906 in Kaunas (Litauen), †  25. 12. 1995 in Paris; Wegbereiter der phänomenologischen Philosophie in Frankreich und wichtigster Vertreter einer Ethik des Anderen.

Totalité et infini. Essai sur l’extériorité

(frz.; Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität), EA Den Haag 1961.

Totalität und Unendlichkeit entwickelt eine Ethik, die nicht vorrangig nach Handlungszielen, Handlungsfolgen oder der Verallgemeinerbarkeit von Maximen fragt, sondern, auf einem sehr elementaren Niveau, nach der Genese von Verbindlichkeit aus der Begegnung mit dem anderen Menschen. – Besonders prägend für L.’ Denken war ein Freiburger Studienjahr bei Edmund Husserl und Martin Heidegger, wo er sich insbesondere mit Fragen der Fremderfahrung und der Intersubjektivität beschäftigte. In seinen eigenen Schriften fragt er deutlich radikaler als seine Lehrer, wie die Erfahrung der Fremdheit des anderen Menschen philosophisch formuliert werden kann, ohne das Fremde von vornherein in Vertrautes (in ein Analo-



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gon des Ich, das Produkt eines Entfremdungsprozesses etc.) zu verwandeln. – Inbegriff des Anderen in seiner radikalen Fremdheit ist nach L. le visage: ›das Antlitz‹. Dieser Terminus bezeichnet nicht das sinnlich wahrnehmbare Gesicht des Anderen, sondern eine Dimension der unaufhebbaren Transzendenz, die sich zwar »in der sinnlichen Erscheinung des Antlitzes« eröffnet, aber jedes »Maß« der Wahrnehmung, des Erkennens und Verstehens überschreitet. Zur Erläuterung dieser Struktur verweist L. auf Descartes’ →  Meditationes de prima philosophia (1641), wo Gott als »Idee des Unendlichen in uns« gedacht wird: als Idee, die unser Vorstellungsvermögen übersteigt und dennoch »in uns hineingelegt« ist. L. überträgt diesen Begriff der Unendlichkeit auf das Antlitz und bestimmt die Beziehung zum Anderen in seiner Unendlichkeit als unerfüllbares »Begehren« (im Unterschied zum »Bedürfnis«, das sich erfüllen lässt). Die Beziehung zum Antlitz ist »ethische« Beziehung, deren Kern in der »Nötigung zur Antwort auf den Anspruch des Anderen« liegt. – Der Titel des Buches verweist auf den grundlegenden Konflikt zwischen dieser Erfahrung des Unendlichen im Antlitz des

Anderen und einer Ordnung der »Totalität«, die Individuelles als Teil eines Ganzen fasst und Fremdes auf Bekanntes reduziert. Ihre volle Schärfe entfaltet diese Konfrontation in L.’ Ausführungen über Gewalt und »ethischen Widerstand«. L. bestimmt die Totalität als eine Ordnung des Krieges, die dem Einzelnen seine Rolle in einem übergreifenden Geschehen zuweist und Gewalt tendenziell als »Gegengewalt« (gegen die Bedrohung durch einen Gegner oder die ständige Gewaltneigung in einem Naturzustand) legitimiert. Die Frage, wie sich ein Widerstand gegen diese Ordnung denken lässt, der ihr nicht – als Gegengewalt – von vornherein zugehört, beantwortet L. mit der Idee des »ethischen Widerstandes«. Kern dieser Idee ist die Einsicht, dass Gewalt »nur auf ein Antlitz« zielen kann (ein Ding leidet keine Gewalt, sondern wird bearbeitet, zerstört etc.). Gewalt erscheint so als der paradoxe Versuch, zu zerstören, was sich nicht zerstören lässt: die Transzendenz des Anderen. Der Andere ist immer auch Naturding, dessen Widerstand gegen Gewaltakte »gleichsam null« ist; als Anderer setzt er dem Gewaltakt aber einen »unendlichen Widerstand« entgegen. – L.’ Ethik fokussiert stark

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Levinas: Totalité et infini

auf die singuläre Beziehung zum Anderen, die die Ordnung der Totalität durchbricht. Sie ist aber gerahmt durch ausführliche Analysen familiärer, staatlicher und intergeneratio­ neller Beziehungen, die dem Umstand Rechnung tragen, dass wir nie nur dem Anderen begegnen, sondern unter Anderen leben. Besonders bedeutend für L.’ Rezeption als politischer Philosoph wurde seine Theorie des »Dritten« als Stifter von Vergleichbarkeit, Gerechtigkeit und Recht. Kernstück dieser Theorie ist die These, dass der Dritte nicht zu der Begegnung mit dem Anderen »hinzutritt«, sondern im Antlitz des Anderen begegnet. Die duale Struktur der ethischen Beziehung öffnet sich so von vornherein auf die Sphären des Rechts und der Institutionen; sie ist immer schon eine Beziehung zu mehreren Anderen, die jederzeit die Haltung des Dritten einnehmen und vergleichend urteilen können. – Die Rezeption des Buches in Frankreich wurde maßgeblich geprägt durch einen großen Essay Jacques Derridas aus dem Jahr 1964 (Violence et métaphysique). Das Buch wurde in der Folge vorwiegend als Radikalisierung phänomenologischer Untersuchungen zur Fremderfahrung und nur in zweiter Linie als

philosophische Ethik gelesen. Die Rezeption in Deutschland konzentrierte sich dagegen stark auf die ethische Grundlehre, wobei die Rede von der Transzendenz des Anderen bei einigen Lesern zu dem Missverständnis führte, es handle sich um eine theologisch begründete Ethik. Dem widerspricht L. – schon in Totalität und Unendlichkeit – ausdrücklich. Wie Kant die Religion in den Grenzen der bloßen Vernunft denkt (und nicht umgekehrt), so bestimmt L. die »Höhe«, in der sich eine Offenbarung Gottes ereignen kann, von der Begegnung mit dem anderen Menschen her (und nicht umgekehrt). A. Gelhard Ausgabe: Dt., Ü.: W. N. Krewani, Fbg./Mchn. 1987. Literatur: J. Derrida, Gewalt und Metaphysik. Essay über das Denken E. L.’, in: ders., Die Schrift und die Differenz, Ffm. 1972, 121–235. – P.  Delhom, Der Dritte. L.’ Philosophie zwischen Verantwortung und Gerechtigkeit, Mchn. 2000. – A. Gelhard, L., Lpzg. 2005.

David K. Lewis * 28. 9. 1941 in Oberlin (Ohio), †  14. 10. 2001 in Princeton (New Jersey); Vertreter der analytischen Philosophie, wichtige Beiträge v. a. zur Metaphysik und Sprachphilosophie.



Lewis: Convention 349

Convention. A Philosophical Study

(engl.; Konventionen. Eine sprachphilosophische Abhandlung), EA Cambr. (Mass.) 1969.

In Convention, seiner Dissertation, verteidigt L. die These, dass sprachliche Bedeutung eine Sache der Konvention ist. W.V. Quine, der Betreuer der Dissertation, hatte einflussreich gegen diese Ansicht argumentiert. Die Verabredung einer semantischen Konven­ tion, so Quine, setzt schon eine hinreichend komplexe Sprache mit Bedeutungen voraus. L. weist diesen Einwand zurück. Er zeigt, dass Konventionen keine Übereinkünfte voraussetzen, die selbst eine Sprache erfordern. Dazu gibt er eine neue Antwort auf die Frage, was eine Konvention überhaupt ist. Damit, so L., steht auch der Erläuterung der Analytizität in Begriffen der Konvention nichts im Wege. – L. beginnt mit einer formalen Analyse desjenigen Problems, auf das Konventionen eine Antwort sind. Konventionen sind nötig, wo eine Festlegung einerseits arbiträr ist, andererseits aber ein großes Interesse an der intersubjektiven Übereinstimmung in Festlegungen besteht. Es ist uns z.  B. weitgehend gleichgültig, welches Laut-

material wir zum Ausdrücken welcher Bedeutungen verwenden. Wichtig ist uns aber, dass wir dieselben Lautfolgen zum Ausdruck derselben Inhalte benutzen. L. zeigt, dass damit ein Problemtypus vorliegt, der in der formalen Spieltheorie (seit Arbeiten von T. Schelling, die L. und Convention beeinflusst haben) studiert wird: ein Koordinationsproblem. Formal zeichnet es sich dadurch aus, dass es eine Interessenkon­ vergenz der Spieler und mehrere sog. Gleichgewichtspunkte gibt. – Treten solche Koordinationsprobleme wiederholt auf, kann sich eine Regularität ausbilden. Die meisten Beteiligten wählen dann regelmäßig eine Handlungsweise, die sie präferieren – vorausgesetzt, dass auch die meisten anderen sich für diese Handlungsweise entscheiden. Dies, so L., ist notwendig, aber nicht hinreichend für die Existenz einer Konvention. Damit es sich um eine Konvention handeln, muss das Vorliegen dieser Bedingungen (gegenseitige Erwartungen und Interessen) »gemeinsames Wissen« sein. Jeder Beteiligte weiß also, dass sie bestehen; und jeder weiß, dass jeder weiß, dass sie bestehen, usw. ad infinitum. Wenn auch dies gilt, dann besteht allerdings in der Tat eine Konvention, ohne dass es einer

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Lewis: Counterfactuals

expliziten Übereinkunft bedurft hätte. – Es gibt eine weitere Frage, die in der traditionellen Konzeption sprachlicher Konventionen vernachlässigt wird und der sich Convention mit großer Genauigkeit widmet. Diese Frage lautet, wie genau eine Menge von Konventionen aussehen müsste, die dafür sorgt, dass eine bestimmte Sprache die Sprache einer bestimmten Gemeinschaft ist. Welche Konventionen sorgen dafür, dass wir Deutsch sprechen – und nicht eine der zahllosen anderen möglichen Sprachen? L. nähert sich dieser Frage, indem er zunächst eine formale Semantik für eine beliebige Sprache entwickelt. Er berücksichtigt die Kompositionalität und Generativität von Sprachen, skizziert eine Grammatik, usw. Ebenso werden spezifische Phänomene wie Indexikalität und Modi im formalen Apparat repräsentiert. Die zentrale Frage lautet dann, was der Fall sein muss, damit eine solche Sprache S die Sprache einer Gemeinschaft ist. L.s Antwort lautet, dass es eine Konvention der »Wahrhaftigkeit« geben muss. Diese besteht darin, dass alle Beteiligten sich (meistens) an eine Regularität halten (und dies von einander erwarten, etc.), die darin besteht, Laute zu äußern

und Formen zu schreiben etc., die (nach ihrem besten Wissen) wahre Aussagen darstellen, wenn sie wie in S interpretiert sind. Da L. Sprachen über die Wahrheitsbedingungen individuiert, die sie allen möglichen Sätzen zuweisen, kann eine solche Konvention eine bestimmte Sprache festlegen. T. Henning Ausgaben: Oxfd.  2002. – Dt., Bln./NY 1975. Literatur: J. Bennett, Linguistic Behaviour, Cambr. 1976. – W. Schwarz, D. L. Metaphysik und Analyse, Paderborn 2009.

Counterfactuals EA Oxfd. 1973.

Counterfactuals entwickelt eine formale semantische Theorie für kontrafaktische Konditionale, also für konjunktivische Wenn-Dann-Aussagen wie z. B.: ›Wenn ich größer wäre, würde ich längere Hosen brauchen‹. L. zufolge verbirgt sich hinter dem grammatischen Unterschied zwischen indikativischen und konjunktivischen Konditionalaussagen ein fundamentaler logischer Unterschied. Das zeigt sich an dem Paar: ›Wenn die USA letztes Jahr in Schweden einmarschiert wären, wäre es erfolgreich vertuscht worden‹, und: ›Wenn die USA letztes



Lewis: Counterfactuals 351

Jahr in Schweden einmarschiert sind, ist es erfolgreich vertuscht worden‹. Letzteres ist unserem intuitiven Urteil zufolge wahr, Ersteres hingegen falsch. Was indikativische Konditionale betrifft, ist die Position von L. komplex. Generell sind ihre Wahrheitsbedingungen ihm  zufolge aber die des materialen Konditionals der Aussagenlogik (mit anspruchsvolleren Bedingungen der Behauptbarkeit). – Die Analyse kontrafaktischer Kondi­ tionale in Counterfactuals geht zunächst von dem Vorschlag aus, sie als strikte Konditionale aufzufassen – also als materiale Konditionale, die notwendig (oder in allen möglichen Welten) gelten. Jedoch haben kontrafaktische Konditionale eine logische Eigenschaft, die mit dieser Analyse unverträglich ist: Sie sind nicht-monoton, d. h. sie können den Wahrheitswert wechseln, wenn man ihr Antezedens logisch stärker macht. Z.B. ist: ›Wenn ich ein Bier trinken würde, würde ich es genießen‹, wahr. Aber ›Wenn ich ein Bier trinken würde und es vorher salzen würde, würde ich es genießen‹, ist falsch. Deshalb kann die erste Aussage kein striktes Konditional sein. Denn dann würde ihr Antezendens bereits alle Welten einschließen, in denen ich Bier trinke

– eben auch die, in denen ich es salze. – Ein kontrafaktisches Konditional betrifft also nicht einfach alle möglichen Welten, in denen sein Antezedens gilt. Vielmehr, so der zentrale Gedanke von L., betrifft es nur die möglichen Welten, in denen das Antezedens gilt und die ansonsten möglichst wenig von der Aktualität abweichen. Kurz gesagt: Wenn wir sagen ›Wenn ich ein Bier trinken würde, würde ich es genießen‹, dann dürfen wir Welten ignorieren, in denen das Bier gesalzen oder giftig ist oder in denen während des Trinkens mein Haus einstürzt etc. Denn diese Welten weichen zu weit von der Aktualität ab. Die Semantik, die L. vorschlägt, ordnet mögliche Welten nach dem Maß, in dem sie der aktualen Welt nahe kommen. Die Relation der Nähe soll Ähnlichkeit zwischen Welten modellieren. Der semantische Vorschlag lau­tet dann: ›Wenn es so wäre, dass P, dann wäre es so, dass Q‹, ist genau dann wahr, wenn entweder der Vordersatz P etwas Unmögliches benennt (der triviale Fall) oder es mindestens eine Welt gibt, in der P&Q gilt und die der Aktualität näher ist als jede Welt, in der P&nicht-Q gilt. – Ähnlichkeit ist eine vage Relation, und diese Vagheit kann in verschiedenen Kon-

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Lewis: Papers in Metaphysics and Epistemology

texten, abhängig von unseren Interessen, verschieden aufgelöst werden. L. behauptet, dass seine Analyse damit die Vagheiten der kontrafaktischen Konditionale in natürlichen Sprachen gerade korrekt abbildet und erklärt. Dies zeigt sich in Quines berühmtem Aussagenpaar: ›Wenn Cäsar den Krieg in Korea führen würde, würde er Katapulte benutzen‹, und ›Wenn Cäsar den Krieg in Korea führen würde, würde er die Atombombe benutzen‹. Welche dieser Aussagen wahr ist, so L., hängt einfach davon ab, welche Dimensionen der Ähnlichkeit in unserem Kontext zählen. – Counterfactuals macht viele Vorschläge zu dieser Theorie kontrafaktischer Konditionale, Vorschläge, die von der Pragmatik bis zu ­ technischen und formalen Fragen reichen. Aufgrund der Arbeit von L. ist die Bedeutung kontrafaktischer Konditionale in der Metaphysik und der Epistemologie deutlich geworden. Daher ist Counterfactuals auch in Debatten um Kausalität, Naturgesetze, Dispositionen und Wissen ein zentraler Bezugspunkt. Durch die zentrale Rolle möglicher Welten in der Theorie (und speziell L.s offensive Behauptung ihrer R ­ ealität) hat Counterfactuals auch für metaphysische Diskussionen

über Modalität wegweisende Bedeutung. T. Henning Ausgabe: Oxfd. 2001. Literatur: J. Bennett, A Philoso­ phical Guide to Conditionals, Oxfd. 2003. – W. Schwarz, D.  L. Metaphysik und Analyse, Paderborn 2009.

Papers in Metaphysics and Epistemology EA Cambr. 1999.

Dieser Band versammelt (neben zwei weiteren) die wichtigsten Aufsätze von L., die nicht bereits in → Philosophical Papers aufgenommen wurden. Eines der wichtigen Themen in diesen Texten ist das, was L. »vollkommen natürliche Eigenschaften« nennt. Wie sein Lehrer W. Quine (und N.  Goodman) ging L. lange davon aus, dass Eigenschaften einfach Mengen von Gegenständen seien, wobei es unter diesen Mengen keine gebe, die sich als ›richtige‹ Eigenschaften vor anderen beliebigen Mengen auszeichnen. Wenn wir finden, dass nur die Elemente mancher Mengen in einem substanziellen Sinne eine Eigenschaft teilen, liegt dies nur an unseren selektiven Interessen. In den neueren Arbeiten, die dieser Band versammelt, kommt L. jedoch zu der Überzeugung, dass



Lewis: Papers in Metaphysics and Epistemology 353

nur manche solche Eigenschaften »natürliche« Eigenschaften seien. Er erwägt verschiedene Wege, Natürlichkeit in eine Ontologie einzuführen: etwa die Idee, natürliche Eigenschaften als Universalien (im ›sparsamen‹ Sinne D. M. Armstrongs) oder als tropes aufzufassen, oder die Idee, Natürlichkeit als metaphysisch unanalysierbare  Kategorie einzuführen, und weitere Strategien. – L. zeigt eine Vielzahl theoretischer Probleme auf, die sich nur mithilfe einer Kategorie natürlicher Eigenschaften lösen lassen sollen – etwa eine befriedigende Definition intrinsischer Eigenschaften oder eine adäquate Formulierung naturalistischer Supervenienzthesen. Die interessanteste (und kon­troverseste) Anwendung betrifft jedoch das Problem der »Unbestimmtheit der Referenz«. W.  Quine und H.  Putnam zufolge gibt es in unserem Verhalten, in unserer Praxis und in unseren kognitiven Aktivitäten nichts, was unseren Ausdrücken einen eindeutigen Bezug sichert. Theoretisch ließen sich alle unsere Gedanken und Äußerungen in beliebigen Weisen reinterpretieren. So könnten wir dann, wenn wir über einen Hasen zu sprechen meinen, eigentlich ebenso gut auf ›nichtabgetrennte Hasenteile‹ oder

›Portionen von Hasenartigkeit‹ etc. referieren. L. akzeptiert, dass sich solche Interpreta­ tionen auf Grundlage unserer Einstellungen und Praktiken nicht ausschließen lassen. Aber er schließt nicht, dass nichts solche Interpreta­ tionen ausschließt. Er zieht den umgekehrten Schluss: In der Tat reden Sprecher des Deutschen von Hasen, und das zeigt, dass es andere Determinanten der Referenz außerhalb der Sphäre unserer Praktiken gibt. Die Welt selbst stellt privilegierte semantische Modelle bereit – fertig vorzufindende Klassen (mehr oder minder) natürlicher  Referenten. Die  Interpreta­tion unserer Ausdrücke muss so verfahren, dass sie nicht nur möglichst gut zu unserem Verhalten passt, sondern auch so, dass ihre Extensionen in möglichst hohem Maße durch natürliche Eigenschaften definiert werden. – Ein weiterer zentraler Beitrag in der Sammlung stellt L.’ einflussreiche Version eines Kontextualismus in der Erkenntnistheorie dar. L. zufolge muss eine adäquate Theorie des Wissens einerseits erklären, wieso wir uns im Alltag ein umfangreiches Wissen über kontingente Fakten zuschreiben dürfen. Andererseits ist ein Fallibilismus zu vermeiden. Wenn wir zugeben

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Lewis: Philosophical Papers

müssen, auch nur  irgendeine Möglichkeit des Irrtums in Bezug auf P nicht ausschließen zu können, möchten wir nicht mehr sagen, wir wüssten, dass P. Drittens akzeptiert L., dass wir in Bezug auf jedes Thema bestimmte, weit hergeholte skeptische Szenarien (etwa solche, denen zufolge wir träumen oder von einem cartesianischen Dämon getäuscht werden) nicht ausschließen können. Man könnte meinen, dass diese Ansichten unvereinbar sind. L. zufolge sind sie es jedoch nicht. »Wissen«, so L., ist nämlich ein »kontextsensitiver‹ Ausdruck. Einfach gesagt, sprechen wir von ›Wissen‹ dort, wo sich alle im aktuellen Kontext relevanten Irrtumsmöglichkeiten ausschließen lassen. Und in gewöhnlichen Kontexten sind weit hergeholte skeptische Szenarien nicht relevant. Nur wenn philosophieren und skeptische Szenarien in Betracht ziehen, ändert sich das vorübergehend. – Die Texte in diesem Band sind zeitgenössische Klassiker, die Diskussionen über die Struktur der Wirklichkeit, über Eigenschaften und über Wissen maßgeblich prägen. T. Henning Literatur: W. Schwarz, D.  L. Metaphysik und Analyse, Paderborn 2009. – T. Sider, Writing the Book of the World, Oxfd. 2011.

Philosophical Papers Volume 1, EA Oxfd. 1983; Volume 2, EA Oxfd. 1986.

Die Bedeutung der Arbeiten, die diese zwei Bände versammeln, für die analytische Gegenwartsphilosophie ist nicht zu überschätzen. Aus der Fülle wichtiger Thesen, Argumente und Ideen kann hier nur ein winziger Bruchteil erwähnt werden. L. ist – wie er selbst in einer koketten Klage im Vorwort zu Band  1 bekennt – kein piecemeal philosopher, der seine Arbeit ausschließlich der Lösung einzelner philosophischer Probleme widmet. Vielmehr ist er ein Systemphilosoph und Metaphysiker im traditionellen Sinne. Trotz aller systematischen Vernetzung bilden alle diese Aufsätze aber auch in isolierter Betrachtung selbständige Beiträge. – Die beiden Bände setzen etwas unterschiedliche Schwerpunkte. Zunächst zu Volume  1. Hier ist eine bahnbrechende Arbeit zur Theorie der Gegenstücke (counterpart theory) in der Modallogik erläutert. In den 1950er und 60er Jahren haben Logiker begonnen, Wahrheitsbedingungen modaler Aus­ sagen in einer Metasprache durch Bezug­ nahme auf mögliche Welten und Individuen zu modellieren. L.’ Idee ist es



Lewis: Philosophical Papers 355

zunächst, dieses Instrumenta­ rium als Teil der »Objektsprache‹ aufzufassen. Letztlich lässt sich ›modales‹ Denken und Sprechen so als nichtmodal analysieren: Wenn wir über Mögliches sprechen, sprechen wir also nicht in einer bestimmten Weise (modus) über die Dinge – sondern über andere Dinge: andere Welten und Individuen in ihnen. Sagen wir etwa, dass Peter Fußballer hätte sein können, dann greift unsere Aussage ein Gegenstück Peters in einer anderen Welt heraus und sagt, dass es Fußballer ist. Dies heißt freilich, dass Gegenstücke von Dingen nicht mit diesen Dingen identisch sein können. (Peter ist, wie gesagt, kein Fußballer.) Gegenstücke eines Dings sind Entitäten in anderen Welten, die dem Ding insgesamt hinreichend ähnlich sind. Ähnlichkeit ist dabei kontextsensitiv. Welche Eigenschaften wir einem Ding als mögliche oder notwendige zuschreiben können, hängt also davon ab, welche Dimensionen der Ähnlichkeit in unserem Kontext besonders wichtig sind und was also als Gegenstücke gilt. – Weitere Beiträge in Vol­ ume 1 wenden die counterpart theory an, um z. B. Probleme in der Philosophie des Geistes zu lösen (»Counterparts of Persons and their Bodies«). L.,

selbst Materialist, akzeptiert, dass eine Person auch ohne ihren speziellen Körper existieren könnte. Das spreche aber nicht für die Nichtidentität von Person und Körper. Der counterpart theory zufolge heißt es nur, dass wir für die eine Person Gegenstücke in anderen Welten finden können, die uns wegen der Ähnlichkeit in geistigen Hinsichten als ›Person‹Gegenstücke erscheinen, die wir aber – wenn wir eher körperliche Ähnlichkeit betonen – nicht als ›Körper‹-Gegenstücke gelten lassen. – Neben solchen Arbeiten zur counterpart ­theory enthält Volume 1 weitere wichtige Beiträge zur Semantik natürlicher Sprachen, zum Funktionalismus in der Philosophie des Geistes sowie zur Wissenschaftstheorie und Methodologie (siehe v. a.: »How to Define Theoretical Terms«). – Vol­ume  2 legt betont einen weiteren wichtigen Aspekt des Systems: die Hypothese der ­Humean Supervenience. Im Vorwort benennt L. sein Ziel, zu erklären, wie alles in der Welt sich vollständig aus einem mikrophysikalischen  Mosaik ergeben kann. Letztlich, so die Idee, müsse die Philosophie nichts weiter postulieren als winzige (»punktgroße«) Vorkommnisse eines kleinen Arsenals fun­ damentaler physikalischer Ei-

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Lewis: On the Plurality of Worlds

genschaften, die ohne jegliche notwendige Verknüpfungen (da­her: humeanisch) nebenein­ ander existieren. Aufgabe der Philosophie sei es, zu erklären, wie diese Basis auf einer Makroebene doch allerlei Verbindungen  gene­rie­ren kann: Objekte wie Tische und Personen, kausale  Zusammen­hänge, aber auch Wahrscheinlichkeiten. – L. bedient sich  verschiedener Mittel. Seine Analyse von counterfactuals (→  Counterfactuals) soll z. B. zeigen, wie sich kausale Relationen und Naturgesetze auf das humeanische MikroMosaik reduzieren lassen. Eine andere Arbeit zeigt auf, wie sich objektive Wahrscheinlichkeiten (chances) in diesem Rahmen erklären lassen – wobei L. bekennt, dass speziell sie noch einige Fragen aufwerfen, die die Arbeiten in diesem Band nicht beantworten. Neben diesen Arbeiten enthält Volume 2 weitere einflussreiche Aufsätze – z. B. zur Möglichkeit von Zeitreisen, zum freien Willen und zur sog. kausalen Entscheidungstheorie. – In der zeitgenössischen theoretischen Philosophie gibt es kaum eine Debatte, in der Texte aus diesen zwei Bänden nicht eine maßgebliche Rolle spielen. T. Henning Literatur: D. Nolan, D. L., Montreal 2005. – W. Schwarz, D.  L.

Metaphysik und Analyse, Paderborn 2009.

On the Plurality of Worlds EA Oxfd. 1986.

On the Plurality of Worlds, basierend auf den Locke Lectures von 1984, verteidigt eine These, für die L. bekannt geworden ist: die These, dass unsere Welt nur eine von unendlich vielen Welten ist, die alle real existieren und konkrete Gegenstände von derselben Art wie unser Universum sind. Diese These begegnet – verständlicherweise, wie L. einräumt – ungläubigen Blicken. Es hat sich jedoch als schwierig entpuppt, L.s Argumente zu ihren Gunsten zu entkräften. – Diese Argumente, die L. schon früher formuliert hat, die On the Plurality of Worlds jedoch weiter entwickelt und in großem Detail ausbuchstabiert, sind letztlich Unverzichtbarkeitsargumente. L. selbst zieht Parallelen zur Mathematik. So wie D.  Hilbert die Mengenlehre Cantors ein »Paradies« genannt hat, sind mögliche Welten laut L. ein philosopher’s paradise. Und ebenso wie das beste Argument für die Annahme der Existenz von Mengen in ihrer theoretischen Fruchtbarkeit besteht, besteht auch das Argument für die Existenz möglicher Welten



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eben darin. – Im ersten Teil des Buches weist L. zunächst diese Fruchtbarkeit nach. Er rekapituliert und verfeinert seine Argumente dafür, dass die Wahrheitsbedingungen modaler Aussagen nicht nur in einer Metasprache durch Mengen möglicher Welten modelliert werden sollten, sondern dass diese objektsprachlichen Aussagen selbst als Aussagen über solche Welten verstanden werden sollten. Dies, so weist er an zahlreichen Beispielen nach, erhöht die Ausdruckskraft modaler Sprachen entscheidend. Auch betont er (wie in → Counterfactuals), dass mögliche Welten, wie sie in der Analyse kontrafaktischer Konditionalaussagen verwendet werden, Entitäten sein müssen, zwischen denen Ähnlichkeitsbeziehungen bestehen können, die ihrerseits von vielfältigen qualitativen Aspekten der Relata abhängen. Weitere Bereiche, in denen Welten he­rangezogen werden sollten, sind Analysen mentalen Gehalts oder Theorien von Eigenschaften. In all diesen Bereichen erweist sich die Bezugnahme auf Welten als fruchtbar bis hin zur Unverzichtbarkeit. Dies, so L., sollte ontologische Skrupel überwiegen. – Ebenso ist dies L. zufolge ein hinreichend gewichtiger Grund, unser Alltagsverständ-

nis zu revidieren. Dabei nimmt L. Alltagsüberzeugungen und -aussagen überaus ernst. Er zeigt jedoch, dass die meisten unserer Aussagen über die Nichtexistenz alternativer Universen leicht mit seiner These vereinbar sind. Sie beruhen, wie die meisten unserer Aussagen, auf einer Beschränkung des Bereichs unserer Quantoren. Ebenso wie die Aussage: ›Es gibt kein Bier mehr‹ sich meist auf die Existenz von Bier in einem Haushalt (oder einem Geschäft etc.) beschränkt, beschränken: ›Es gibt keine fliegenden Esel‹ oder ›Es gibt keine anderen Welten‹ in legitimer Weise ihren Quantifikations­ bereich auf unsere Welt. Keine dieser Aussagen sagt aber, es gebe wirklich überhaupt kein Bier mehr, oder überhaupt keine fliegenden Esel oder anderen Welten. – Die weiteren Teile von On the Plurality of Worlds befassen sich zum Teil damit, spezifischere Einwände gegen die Theorie zu widerlegen. So vertritt L. in der Frage, welche anderen Welten es gibt, ein Rekombinationsprinzip, das  besagt, dass es für jede beliebige Menge von möglichen Entitäten eine Welt gebe, die (alle und nur) Duplikate dieser Entitäten enthält. Kritiker hatten gezeigt, dass dieses formale Prinzip zu Paradoxien führt –

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Locke: Epistola de tolerantia

etwa auf die Existenz von Welten, die größer sein müssten als sie selbst. L. löst diese Probleme mittels einer Restriktion seines Prinzips. – Ein weiteres Kapitel argumentiert gegen die Ansicht, dass die theoretischen Früchte der Vielzahl möglicher Welten viel einfacher zu haben seien, indem man Welten nicht als konkrete Universen versteht, sondern als Abstrakta – z. B. als maximalkonsistente Satzmengen (wie bei Carnap) oder andere Entitäten. Für Vertreter, die sich auf solche Substitute berufen (L. nennt diese Philosophen polemisch ersatzers) wirft L. jedoch eine Vielzahl von Problemen auf. In einem letzten Kapitel zeigt er dann z. B. an Fragen materialer Konstitution und akzidenteller intrinsischer Eigenschaften erneut Vorzüge seiner counterpart theory auf, die Möglichkeitsaussagen über individuelle Dinge als relationale Aussagen über Dinge und ihre Gegenstücke in anderen Welten versteht. – Alle Teile dieses Textes beeinflussen die Debatten in der analytischen Philosophie wegen ihres Reichtums und ihrer philosophischen Schärfe nach wie vor maßgeblich. T. Henning Literatur: D. Nolan, Topics in the Philosophy of Possible Worlds, NY 2002. – W. Schwarz, D.  L.

Metaphysik und Analyse, Paderborn 2009.

John Locke *  29. 8. 1632 in Wrington (Somer­ set), †  28. 10.  1704 in Oates (­Essex); einflussreicher Vertreter der englischen Frühaufklärung.

Epistola de tolerantia (lat.; engl.: A Letter Concerning Toleration; Ein Brief über Toleranz), ED Gouda 1689 (lat., anonym); Ldn.  1689 (engl., anonym, Ü.: W. Popple).

Nach dem Essay on Toleration (1667) ist der Letter Concerning Toleration L.s zweite Schrift, die sich vorrangig dem Problem religiöser Toleranz widmet; es folgen später drei weitere Briefe über Toleranz, die sich mit Einwänden gegen den Letter auseinandersetzen. Den zeitgeschichtlichen Hintergrund bilden Konflikte zwischen Anglikanern, Katholiken und protestantischen Nonkonformisten (dissenters). Der Letter entstand bereits 1685 – also vor der ›Glorious Revolution‹ und dem ›Toleration Act‹ durch Wilhelm von Oranien (1689) – im Exil in Amsterdam, vermutlich weniger als ein privater Brief an den Theologen Philipp van Limborch, sondern eher als ein zur (anonymen) Veröffentlichung bestimmter,



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sich der Briefform bedienender philosophischer Text. Obwohl ursprünglich in lateinischer Sprache verfasst, hat sich die englische Fassung durchgesetzt. – Zur Stützung der Forderung nach der Trennung von Kirche und Staat sowie nach einer weitreichenden Glaubensfreiheit bringt L. eine Mischung aus pragmatischen, rechtsphilosophischen und (teils biblisch gestützten) theologischen Argumenten. Die Leitidee ist eine Bestimmung des jeweiligen Daseinszwecks von Staat und Religion: Der Staat wird, wie auch in den →  Two Trea­ tises on Government, als zwangsbefugte Instanz zur Sicherung individueller Rechte wie körperlicher Unversehrtheit, Freiheit und Eigentum verstanden. Eine Sorge für das Seelenheil ist dem Staat nicht übertragen. Staatlicher Zwang wäre hierfür auch kein denkbares Mittel, denn die »wahre und heilbringende Religion« beruht auf einer inneren Überzeugung, die sich nicht in der äußerlichen Teilnahme am Gottesdienst erschöpft. Die Kirche ist deshalb – im Gegensatz zum Staat – eine auf Freiwilligkeit basierende Vereinigung mit dem Zweck der öffentlichen Verehrung Gottes und der Erlangung des Seelenheils. Sie darf über keine Zwangsinstrumente ver-

fügen; neben Ermahnungen ist der Ausschluss aus der Kirche die einzige Möglichkeit, ihre Mitglieder zu sanktionieren. – Aus dieser Zweckbestimmung von Kirche und Staat folgert L. zahlreiche Normen, die das Verhältnis beider regeln sollen, insbesondere ein gegenseitiges Einmischungsverbot von Kirche und Staat sowie der Kirchen untereinander, und  das Recht jeden Bürgers auf Glaubensfreiheit. Missachtet der Staat die Grenzen seiner Befugnisse, gibt es – ebenso wie in den Treatises on Government – ein Recht auf Widerstand. Die Berufung auf Rechtgläubigkeit als Rechtfertigung der religiösen Bevormundung anderer muss ausscheiden, denn jeder einzelne bzw. jede Kirche ist aus der je eigenen Sicht rechtgläubig; welcher Glaube letztlich der wahre ist, kann nicht abschließend beurteilt werden. – Staatliche Toleranz findet für L. ihre Grenze bei Religionen, die die Grundsätze der Gesellschaft zu zerstören drohen, und beim Atheismus. Zu Ersteren zählen insbesondere Religionen, die sich zu blindem Gehorsam gegenüber dem Oberhaupt eines fremden Staates verpflichtet fühlen – L. nennt zwar ausdrücklich den »Mufti von Konstantinopel« als Oberhaupt der Mohammeda-

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Locke: An Essay Concerning Human Understanding

ner, denkt aber unverkennbar an den Papst. Atheisten kennen für L. überhaupt keinen Grund letzter Verbindlichkeit, weshalb sie sich weder Verträgen noch Eiden verpflichtet fühlen. Inwiefern die Ablehnung der Atheisten und Katholiken aus L.s Theorie folgt oder eher zeitbedingten Vorurteilen entspricht, ist umstritten. – Der Letter wird heute als berühmtester Beitrag zum Toleranzdiskurs der Aufklärung und als Wegbereiter der modernen Religionsfreiheit gewürdigt,  wo­ bei die internen Spannungen der Argumentation L.s, die u. a. auf die Vermengung der pragmatischen, biblischen und rechtsphilosophischen Argumente zurückgehen, zuweilen übersehen werden. M. Hoesch Ausgaben: Lat./engl., Hg.: R. Kli­ bansky, Oxfd. 1968. – Engl., Hg.: J.  Tul­ly, Indianapolis 1983. – Engl./dt., Ü., Einl. und Erl.: J.  Ebbinghaus, Hbg. 2007 (ND der Ausg. Hbg. 1966; folgt dem engl. Text). Literatur: R. Forst, Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs, Ffm. 2003, 276–312. – J. Horton/S. Mendus, J. L., ›A Letter Concerning Toleration‹ in focus, Ldn. 2004 (ND der Ausg.  1991). – J. Marshall, J. L., Toleration and Early Enlightenment Culture, Cambr. 2006.

An Essay Concerning Human Understanding (engl.; Versuch über den mensch­ lichen Verstand), EA Ldn. 1689.

Der 721 Druckseiten umfassende Essay ist L.s philosophisches Hauptwerk und behandelt vorwiegend Probleme der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie sowie der Philosophie des Geistes und der Sprache. Ziel des Essay ist es, mittels einer psychologischen Logik eine kritische Grundlegung für Philosophie und Wissenschaft zu schaffen. Wie viele frühneuzeitliche Autoren geht L. dabei von der Theorie der Ideen (ideas) aus, die als Objekte allen Denkens und neben den sprachlichen Zeichen mithin als die wesentlichen Einheiten einer solchen Logik zu verstehen sind. Eine zentrale Grundthese liegt in dem gegen die aristotelische Philosophie gerichteten Essenzagnostizismus, also der Annahme, dass wir das Wesen der Dinge nicht erfassen können; vielmehr sind unsere Erkenntnisvermögen, mittels deren unser Geist Ideen empfängt und verknüpft, nach L. auf die Erfordernisse der menschlichen Lebensführung abgestimmt. Die Art, wie wir Gegenstände klassifizieren, verdankt sich demnach nicht bloß rezeptiven Erkenntnisleistungen, sondern



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unseren pragmatisch geleiteten Zuschreibungen. Angesichts dieser Annahme erscheint es folgerichtig, nicht bei den erkannten Gegenständen selbst, sondern bei den Ideen und den ideenverarbeitenden Erkenntnisvermögen anzusetzen. Statt die Erkenntnistheorie mit Blick auf die äußeren Gegenstände oder aus einem bestimmten Prinzip zu entwickeln, konzentriert L. sich daher auf die Leitfrage, worin die Bedingungen und Grenzen unserer Erkenntnis bestehen, und hält fest, dass unser Wissen nicht weiter reicht als die aus der Erfahrung stammenden Ideen. Diese Position entwickelt er in den vier Hauptteilen bzw. Büchern des Essay: Buch  I bietet eine umfassende Widerlegung des sog. Innatismus, also der These, dass unserem Geist bereits Prinzi­ pien bzw. Ideen angeboren seien. In Buch  II setzt L. dann zum Aufweis des Ursprungs all unserer Ideen aus der äußeren Erfahrung (sensation) und der Reflexion (reflection) auf die Tätigkeiten unseres Verstandes an. Buch  III liefert eine Untersuchung des komplizierten Verhältnisses von Sprache und Ideen, Buch IV schließlich die Analyse der zentralen Einheiten unseres Wissens, nämlich der aus Ideen verknüpften geistigen Sätze. Entsprechend der

essenzagnostischen Grundthese ergibt sich aus diesen Untersuchungen, dass unser Wissen von der natürlichen Welt höchst spekulativ bleibt, während die Ethik zumindest im Prinzip als sichere Wissenschaft gelten kann, da die moralischen Ideen (wie die mathematischen Ideen) von uns konstruiert sind. In der Verteidigung dieser Position diskutiert L. eine große Fülle einschlägiger ­Detailfragen: so etwa Probleme der Wahrnehmungstheorie, die Fundierung unserer Erkenntnis in den primären und sekundä­ ren Qualitäten bzw. Eigenschaften, den metaphysischen Status von Substanzen und  deren erkenntnistheoreti­sche  Funktion, Fragen der per­sonalen Identität und der  Handlungstheorie, die Rolle der Gesellschaft in der Festlegung sprachlicher Bedeutung sowie Fragen nach dem Zusammenhang von Wissen, Glauben und Wahrscheinlichkeit. Entsprechend  facettenreich  ist die enorme Wirkungsgeschichte  des Essay, die bis heute nicht abreißt. Prominente Reaktionen finden sich bereits bei Leibniz und Berkeley, die in detaillierter Ausein­ andersetzung mit dem Essay eigene Positionen ausarbeiten, aber auch bei Condillac und Hume, die L.s Ansätze kritisch fortführen. In den Gegenwarts-

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Locke: Two Treatises of Government

debatten sind es u. a. Fragen nach der Rolle der Erfahrung für die Erkenntnis, nach der personalen Identität, nach der Etablierung sprachlicher Bedeutung sowie nach dem Status wissenschaftlicher Artbegriffe, die den Essay weiterhin zu einem Ausgangspunkt philosophischer Auseinandersetzung machen. M. Lenz Ausgaben: Hg.: P. H. Nidditch, Oxfd. 1979. – Dt., Ü.: C. Winckler, Hbg. 41981 (2 Bde.). Literatur: E. J. Lowe, L. on Hu­ m­an Understanding, Ldn. 1995. – U. Thiel (Hg.), J. L.: Essay über den menschlichen Verstand, Bln. 1997 (Klassiker Auslegen). – L. Newman (Hg.), The Cambridge Companion to L.’s »Essay Concerning Human Understanding«, Cambr. 2007.

Two Treatises of Government (engl.; Zwei Abhandlungen über die Regierung), entst. ca. 1679–82; ED Ld. 1690 (anonym).

Die beiden Hauptschriften L.s zur politischen Philosophie gehören zur Vorbereitung der ›Glorious Revolution‹ von 1688, durch die der Absolutismus in England überwunden wurde. Die erste Abhandlung ist hauptsächlich der Widerlegung von Robert Filmers Patriarcha (ED 1680; zuvor bereits Abschriften vorhanden) gewidmet. Die Schrift, mit der die

Thronfolge des katholischen Stuartkönigs James  II. verteidigt wurde, führt das absolute Recht der Könige auf Adams von Gott empfangene und an sie vererbte Herrschaft zurück. L. antwortet überwiegend mit biblischen und historischen Argumenten. Die zweite Abhandlung, vermutlich vor der ersten verfasst, enthält seine systematische Begründung einer beschränkten Monarchie, die an den Schutz bürgerlicher Rechte und die Zustimmung eines Parlamentes gebunden ist. Ausgangspunkt sind die natürlichen Rechte der Menschen, die aber nicht, wie bei Hobbes, allein auf die Mittel für die ­eigene Selbsterhaltung zu­ rückgehen. Bei L. haben zwar alle Menschen von Natur gleiche Freiheitsrechte (life, liberty, possession), aber als Geschöpf Gottes ist ihnen auch die Gattungserhaltung aufgetragen. Sie dürfen weder sich selbst noch andere ohne Not schädigen oder töten und ihnen nicht durch Monopole oder Verschwendung die notwendigen Lebensmittel entziehen. L.s Begriff der property wurde vielfach missverstanden als natürliches vorstaatliches Sacheigentum. Es umfasst dagegen Grundrechte auf Leben, Freiheit, Gesundheit und den Erwerb von Privateigentum. Dieses ist



Locke: Two Treatises of Government 363

legitimiert durch eigene Arbeit, nicht nur körperliche, sondern auch Ideen und die Leistungen vertraglich angeeigneter Arbeitskraft. Der Naturzustand, den L. im Blick auf die Ureinwohner Amerikas auch historisch zu belegen sucht, kann anders als bei ­Hobbes friedlich sein, ist aber mangels autorisierter Streitschlichter instabil. Nach der Einführung der Geldwirtschaft, die allerdings auf zwangfreien Konventionen beruht, tritt die rücksichtslose Ausweitung des Besitzes an die Stelle der Subsistenzwirtschaft. Die entstehenden Konflikte machen eine Gesetzesherrschaft mit Gewaltmonopol notwendig. Gerechtfertigt ist sie durch freiwillige Übereinkunft und Bindung an den Schutz der Freiheiten der Bürger. Die Gesetzgebung ist oberste Gewalt und erfolgt durch Mehrheitsentscheidungen im Parlament. Wie in der englischen Tradi­ tion kann an ihr die Spitze der exekutiven Gewalt teilnehmen (king in parliament). L. kennt weitere mit legitimer Gewalt verbundene Kompetenzen, wie die Gewalt des Gemeinwesens nach außen (Föderative) und die Befugnis der Exekutive zu Notmaßnahmen (Prärogative), die nachträglich gesetzlich legitimiert werden müssen. Werden diese Gewalten durch

schwerwiegende und dauerhafte Eingriffe in die Freiheiten der Bürger missbraucht, ist gewaltsamer Widerstand berechtigt. Wenn der staatliche Rechtsweg ausfällt, ist der einzelne darauf angewiesen, in seinem Gewissen den überirdischen Herrscher anzurufen (appeal to heaven) und zusammen mit gleich urteilenden Mitbürgern den Spruch des Gewissens auch mit Gewalt zu vertreten. – L.s Theorie der Grundrechte, des Eigentums, der Gewaltenteilung und des Widerstandes haben sowohl in der politischen Philosophie wie in den politischen Kämpfen vom 18. Jh. bis heute große Wirksamkeit gehabt. Überwiegend wurde er in die Tradition des Liberalismus eingeordnet. Seine Rechtfertigung des Eigentums durch die darin investierte Arbeit sowie die Pflicht des Staates, auch die Rechte auf körperliches Wohl zu sichern, wurden aber auch in sozialistischen oder sozialstaatlichen Traditionen fortgesetzt. Heute gilt L. als einer der ersten Theo­ retiker der Menschenrechte. Kontrovers diskutiert werden v. a. die Abhängigkeit der Theo­ rie von ihren metaphysischen Voraussetzungen (L. vertritt die vernünftige Beweisbarkeit des Schöpfergottes) sowie das Gewicht der liberalen, sozialen

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Luhmann: Soziale Systeme

und egalitären Komponenten der Theorie. L. Siep Ausgaben: Hg.: P. Laslett, Cambr. 21970 (krit.). – Dt., Ü.: J. Hoffmann, Einl.: W.  Euchner, Ffm. 1977. – Zweite Abhandlung über die Regierung, mit Komm. von L. Siep, Ffm. 2007. Literatur: R. Ashcraft, L.’s »Two Treatises of Government«, Ldn. 1987. – J.  Waldron, L., God, and Equality, Cambr. 2002. – B.  Ludwig/M.  Rehm (Hg.), J.  L.: Zwei Abhandlungen über die Regierung, Bln., voraussichtlich 2012.

Niklas Luhmann *  8. 12. 1927 in Lüneburg, †  6. 11. 1998 in Oerlinghausen bei Bielefeld; Soziologe und Gesellschaftstheoretiker, Begründer der Systemtheorie.

Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie EA Ffm. 1984.

L. versteht den Grundriss, den sein theoriearchitektonisches Hauptwerk präsentiert, als einen soziologischen Beitrag zum Paradigmenwechsel in der Systemtheorie, die Maschinen, Organismen, soziale und psychische Systeme gleichermaßen betrifft. An die Stelle des alteuropäischen Denkens in Begriffen Teil/Ganzes, Allgemeines/Besonderes tritt für ihn

die neue Leitdifferenz von System und Umwelt, wobei Systeme – anders als in der älteren Systemtheorie – autopoietisch geschlossene Systeme sind, die gerade durch Geschlossenheit Offenheit erzeugen. – Im 1. Teil der Schrift (Kap.  1–4) entwickelt L. aus den Grundbegriffen Funktion, Sinn und Kommunikation die spontane Entstehung (Autokatalyse) sozialer Systeme durch »doppelte Kontingenz«. Doppelter Kontingenz sind Personen ausgesetzt, die ihre Erwartungen (und das, was sie erwarten, was der jeweils andere erwartet) wechselseitig koordinieren müssen und dabei nur einen Bruchteil der Möglichkeiten (der möglichen Erwartungen und Erwartungserwartungen) überblicken können. In den folgenden Kapiteln geht es um die Umweltbeziehungen sozialer Systeme (Kap. 5–7) sowie um klassische Themen der Soziologie, wie sozialer Wandel, Konflikt und Evolution (Kap.  8–10), in den Schlusskapiteln (11, 12) dann um Folgerungen für philosophische Themen wie Rationalität und Erkenntnis. Die Funktion von Systembildung ist nach L. die Steigerung systemeigener Komplexität durch Reduktion von Weltkomplexität. Jedes System kann zu einem gegebe-



Luhmann: Soziale Systeme 365

nen Zeitpunkt nur einen winzigen Bruchteil der Möglichkeiten realisieren, die es hat. Die ungeheure Vielzahl der Möglichkeiten (Komplexität) zwingt somit zur stets riskanten Selektion. Die durch Sprache und Bewusstsein vermittelte Co-Evolution sozialer und psychischer Systeme verwandelt Komplexität in Sinn, der von Operation zu Ope­ ration mitgeführt wird und auf einen stets präsenten Überschuss anderer Möglichkei­ ten verweist. Durch das zu­fäl­lige  Aufeinandertreffen psychischer Systeme kommt es zur Autokatalyse sozialer Systeme. Soziale Systeme sind nach L. Kommunikationssysteme, für die es nur auf die Fortsetzung der Kommunikation ankommt und nicht auf Bewusstseinszustände,  Gedanken, Neuronenstürme, Herzfrequenzen oder körperliche Schmerzen. Für soziale Systeme existieren Gedanken nur, wenn sie verstanden werden. Das Bewusstsein psychischer Systeme gehört insofern ebenso zur Umwelt sozialer Systeme wie die Organismen. Auf die fortgesetzte Produktion von Gedanken ist das soziale System freilich ebenso angewiesen wie auf Organismen, die Laute hervorbringen und sich so bewegen, dass eine ­Verständigung über Sinn mög-

lich ist. L. spricht deshalb von der strukturellen Kopplung von Systemen, die füreinander blind sind. Die Eigenevolution sozialer Systeme treibt deren Komplexität bis zur Schwelle der primär funktional differenzierten Weltgesellschaft hoch. Um auf diesem Komplexitätsniveau Probleme überhaupt noch identifizieren zu können, brauchen die So­ zialsysteme eine wachsende Zahl von Widersprüchen und Konflikten. Sie müssen ihre »Neinsagepotenz« erheblich steigern, um ein stabiles Immunsystem ausbilden zu können, dessen Funktionen dann vom positiven Recht wahrgenommen werden. Auf diese Weise wird die in modernen Gesellschaften erhöhte Störanfälligkeit selbst zum Stabilitätsfaktor. Gehen uns die Krisen aus, so ist es bald um uns geschehen. Widersprüchlich ist für L. auch das Schicksal der Vernunft in der Gesellschaft. Sie fällt als Steuerungsmedium aus, weil nach der Umstellung von Hierarchie auf Heterarchie Reflexion zur Leistung vieler Systeme geworden ist, die sich selbst und einander beobachten und auch das noch (polykontexturell) beobachten. Deshalb ist die Darstellung (Repräsentation) der Gesellschaft als Ganzheit durch einen Teil an der Spitze

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Lukrez: De rerum natura

oder im Zentrum unmöglich geworden. Es gibt – hier trifft sich L.s Systemtheorie mit Naturalisten wie Quine, Pragmatisten wie Putnam oder Kommunikationstheoretikern wie Habermas – keinen Gottesgesichtspunkt mehr, von dem aus alles zu überblicken und zu kontrollieren wäre. – Das Werk hat der System­ theorie zum Durchbruch in den Sozial­ wissenschaften verholfen und sie aus der Bielefelder Soziologischen Esoterik herausgeführt, ohne doch irgendwelche Zugeständnisse an Allgemeinverständlichkeit zu machen. H. Brunkhorst Literatur: W. Krawietz/M. Welker (Hg.), Kritik der Theorie sozia­ler Systeme, Ffm. 21992. – A. Nasse­hi, Der soziologische Diskurs der Moderne, Ffm. 2006.

Lukrez (Titus Lucretius Carus), *  94 v. Chr. (?), †  50 v. Chr. (?); rö­ mischer Dichter.

De rerum natura (lat.; Von der Natur), entst.  1. Jh. v. Chr.; ED Brixiae ca. 1473.

De rerum natura ist ein Lehrgedicht, aus sechs Büchern bestehend und wahrscheinlich unvollendet. Das Gedicht legt die Lehre des Epikur dar und

soll – nach Aussage des Kirchenvaters Hieronymus in seinen Zusätzen zum Chronicon des Eusebios – von L. per inter­ ualla insaniae (zu Zeitpunkten der Klarheit innerhalb einer Phase geistiger Krankheit) verfasst worden sein. Möglicherweise gab es auch in der Bibliothek des Philodemos von Gadara in der Villa der Papyri ein Exemplar des Gedichts (Kleve), was allerdings immer noch umstritten ist. Das Werk ist Gaius Memmius gewidmet, 57  v. Chr. Proprätor in Bythinien. Nach Meinung Sedleys muss L. als »fundamentalistischer« Epikureer gelten, weil ihn die doktrinäre Entwicklung des Epikureismus nicht interessiert habe, so dass er sich auf den Gebrauch der Werke Epikurs beschränkt habe, in erster Linie der Schrift → Über die Natur; als literarisches und poetisches Modell habe L. hingegen das Werk des Empedokles verwendet. L. habe daher nicht nur den zu seinen Lebzeiten verbreiteten Epikureismus (Philodemos) ignoriert, sondern auch die Polemiken der Epikureer mit gegnerischen Schulen, in erster Linie der Stoa. – Das Gedicht folgt einer geordneten und genauen Gliederung; die sechs Bücher sind thematisch in Paare eingeteilt: Die ersten zwei beschäf-



Lukrez: De rerum natura 367

tigen sich mit den Prinzipien des Ganzen, den Atomen und der Leere; das zweite Paar handelt von der Seele; das dritte Paar betrifft den Kosmos und die natürlichen Phänomene. – Das Hauptthema des ersten Buchs ist die Existenz der Atome (primordia rerum) und der leere Raum, d.  h. diejenigen Naturprinzipien, denen sich alles Entstehen verdankt. Es folgt eine kritische Auseinandersetzung mit Materiekonzeptionen einiger vorsokratischer Philosophen, namentlich Heraklit, Empedokles und Anaxagoras. Das Buch endet mit der Schilderung der Unendlichkeit des Ganzen und der folglich abzustreitenden Existenz eines Zentrums des Universums. Das zweite Buch beschäftigt sich mit den Atomen und ­ ihrer Aggregation, also ihrer Bewegung und Geschwindigkeit durch den leeren Raum; es enthält auch die Beschreibung der Lehre der Bahn-Abweichung der Atome (clinamen), die einerseits die Aggregationsmöglichkeit der Atome und andererseits die Selbstbestimmung des menschlichen Willens garantiert. Zum Schluss kehrt der Dichter zur Unendlichkeit des Universums zurück: Es gibt unendlich viele Welten, und sie werden nicht von den Göttern regiert; als

atomaren Aggregaten sind ihnen Auflösung und folglich Auslöschung vorherbestimmt. Das dritte Buch widmet sich der Seelenlehre, der Unterscheidung der Funktionen des animus (Verstandes- und Vernunftsteil) und der anima (Lebensprinzip und verantwortlich für die Wahrnehmung). L. fährt mit einer Analyse der atomaren und materiellen Natur der Seele sowie der falschen und sinnlosen Todesfurcht fort. Das vierte Buch ­behandelt das Thema der Wahrnehmung durch die simulacra. Diese sind dünnste »­atomare Häutchen«, die sich auf der Oberfläche der Aggregatkörper mit äußerster Schnelligkeit entwickeln und dann lösen. Die Lehre der simulacra erklärt eine beträchtliche Anzahl von Phänomenen, von den fünf Sinnen über die Träume bis zu den Sinnestäuschungen. Der Schlussabschnitt des Buches ist der Betrachtung einer Art Phänomenologie des Geschlechtstriebs und der Liebe vorbehalten, die ebenfalls mithilfe der simulacra zu rechtfertigen seien. Das fünfte Buch handelt von der Welt, die, wie jedes Aggregat, nicht ewig ist; die Götter identifizieren sich nicht mit der Welt und sind nicht für ihre Erschaffung verantwortlich. Nach einer Beschreibung

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Lyotard: La condition postmoderne

einiger astronomischer Phänomene endet das Buch mit der Geschichte und der Entwicklung der Menschheit. Im sechsten Buch findet sich eine Erklärung der Wetterphänomene; anschließend werden die Ursachen für die Epidemien und den Tod angegangen. Das Buch schließt mit der berühmten Beschreibung der Pest im Athen des Jahres 430 v. Chr., vorher schon von Thukydides (II,47 ff.) erzählt. F. Verde Ausgaben: Lat., Hg.: C.  Müller, Zürich 1975. – Lat./it., Edizione cri­tica con Introduzione e Versione a cura di E. Flores, 3 Bde., Napoli 2002–10. – Lat./dt., De rerum natura/Welt aus Atomen, Ü. und Hg.: K. Büchner, Stgt. 2005 (11973). Literatur: K. Algra/M.  Koenen/ P.  H. Schrijvers (Hg.), Lucretius and his Intellectual Background, Amsterdam 1997. – D.  Sedley, Lucretius and the Transformation of Greek Wisdom, Cambr. 1998. – S.  Gillespie/P.  Hardie (Hg.), The Cambridge Companion to Lucretius, Cambr. 2007. – B.  Beer, L. und Philodem. Poetische Argumentation und poetologischer Diskurs, Basel 2009.

Jean-François Lyotard *  10. 8. 1924 in Versailles, †  21. 4. 1998 in Paris; Begründer des philosophischen PostmoderneDiskurses.

La condition postmoderne. Rapport sur le savoir

(frz.; Das postmoderne Wissen. Ein Bericht), EA Paris 1979.

Diese Schrift über das Wissen in den höchstentwickelten Gesellschaften stellt die früheste philosophische Studie zur Postmoderne dar. Als Gelegenheitsarbeit im Auftrag des Universitätsrates der Regierung von Québec entstanden, machte sie L. weltweit berühmt und löste die philosophische Postmoderne-Diskussion der 1980er Jahre aus. – Während bisheriges Wissen durch Rahmenerzählungen zusammengehalten wurde (in der Moderne: Emanzipation der Menschheit, Teleologie des Geistes, Hermeneutik des  Sinns), sind derlei Metaerzählungen im 20.  Jh. hinfällig geworden. In der Postmoderne wird dieses Zerbrechen imaginärer Einheitsrahmen nicht pessimistisch registriert oder melancholisch betrauert, sondern als Befreiung der partikularen und heterogenen Sprachspiele (bzw. Lebensformen oder Handlungsweisen) in ihrer irreduziblen Unterschiedlichkeit begrüßt. Zur Postmoderne gehört somit eine Umstellung sowohl der Gefühls- und Erwartungslage als auch der kognitiven Ausrichtung. Die Postmoderne



Lyotard: La condition postmoderne 369

beginnt, wo das Ganze aufhört und wo die Sehnsucht nach dem Einen der Anerkennung des Vielen Platz macht. Die postmodernen Gesellschaften, die durch eine Gemengelage unterschiedlicher  Sprachspiele gekennzeichnet sind, enthalten stark agonale Momente, weil die Sprachspiele unaufhebbar different sind. Diese Heterogenität darf weder system­theoretisch (Luhmann) eliminiert noch konsenstheo­ retisch (Habermas) übergangen werden. Nicht Systemintegra­ tion, sondern Autonomie des Partikularen, nicht Konsens, sondern Dissens sind postmoderne Leitvorstellungen. Darin stimmt die Postmoderne mit Innovationen der modernen Wissenschaft (Heisenberg, Gödel, B. Mandelbrot, R. Thom) sowie der avantgardistischen Kunst des 20.  Jh.s (J.  ­ Joyce, M.  Duchamp, G.  Stein, J.  Cage) überein. Schon diese haben ihr Interesse den Diskontinuitäten, Antagonismen und Instabilitäten zugewandt. ›Postmoderne‹ bezeichnet nicht eine neue Epoche, welche die Moderne hinter sich lässt, sondern diejenige Geistes- und Gemütshaltung, welche Pluralität offen akzeptiert. Postmodernes Denken negiert die Moderne nicht, sondern kritisiert nur deren Ideologie. Politisch plädiert

L. für eine Verfassung, in der das Streben nach Gerechtigkeit und die Anerkennung von Unbekanntem gleichermaßen zum Tragen kommen. Voraussetzung dafür ist die Freigabe der Sprachspiele in ihrer Multiplizität und Heterogenität. Die aktuellen Informationstechnologien sind diesbezüglich ambivalent. Sie können als Operatoren von Systemherrschaft wirken und neue Uniformierung bringen. Bei freiem Zugang zu den Speichern und Datenbanken könnten sie aber auch im postmodernen Sinn der Pluralität genutzt werden. Sofern postmodernes Wissen sich nicht durch Rekurs auf Metaregeln, sondern durch die immanenten Regeln der jeweiligen Sprachspiele legitimiert, besteht eine Affinität zu Kunst und Literatur. – Das Werk fand breites Echo – in der deutschen Philosophie zumeist kritisch, im internationalen und über die Philosophie hinausgehenden Diskurs jedoch vielfach zustimmend. Die Konzeption führte u. a. zu der von L. betreuten Postmoderne-Ausstellung »Les Immatériaux« (Paris 1985). W. Welsch Ausgaben: Dt., Graz/Wien 1986, 6 2009. – Engl., The Postmodern Condition: A Report on Knowledge, Minneapolis 1984, 121999.

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Machiavelli: Il Principe

Literatur: W. Welsch, Unsere postmoderne Moderne, Weinheim 1987, Bln.  72008. – W.  Reese-Schäfer, L. zur Einführung, Hbg. 1988, 31995. – A.  Benjamin (Hg.), Judging L., Ldn./NY 1992.

Niccolò Machiavelli * 3. 5. 1469 Florenz, †  22. 6. 1527 Florenz; Politiker, Geschichtsschreiber und politischer Theoretiker mit einflussreichen Beiträgen zur politischen Philosophie der Frühen Neuzeit.

Il Principe, dedicato a Lorenzo duca d’Urbino

(it.; Der Fürst, Lorenzo, dem Herzog von Urbino gewidmet), entst.  1513 u. d. T. De principatibus; EA Rom 1532 (postum).

M.s bekanntestes Werk enthält eine Klassifikation politischer Herrschaft sowie die Diskussion der moralischen Eigenschaften des Regenten und der Techniken eines effizienten Regierens. – M. hat die 25 Kapitel der kleinen Schrift zwischen Juli und Dezember 1513 in einem Zug niedergeschrieben. Nur das 26. Kapitel der Schrift, sein ›Aufruf, sich Italiens zu bemächtigen und es von den Barbaren zu befreien‹ (»Exhortatio ad capessendam Italiani in libertatem que a barbaris vindicandam«), ist zu einem späteren Zeitpunkt verfasst worden,

wahrscheinlich zwischen September 1515 und September 1516. Damit hat M. der zuvor sich allgemein an politische Aufsteiger richtenden Schrift eine protonationale Zielorien­ tierung angehängt, die für seine Rezeption im italienischen Risorgimento von großer Bedeutung war. M. hat die im Frühjahr 1513 aufgenommene Arbeit an den Discorsi mit dem 18.  Kapitel des 1.  Buches abgebrochen, um den Principe zu schreiben, nach dessen Niederschrift er sich wieder den Discorsi zuwandte. Werkgeschichtlich stehen somit die pro­ republikanischen Discorsi im Mittelpunkt, und dem Principe kommt eher der Status ­ einer Gelegenheitsschrift zu. Ob deren Abfassung durch den Argumentationsgang der Discorsi oder durch ein aktuelles politisches Ereignis veranlasst war, muss offenbleiben. – In dem 1.  Kapitel bestimmt M. den Geltungsbereich seiner Schrift: Er unterscheidet zwischen Freistaaten (repubbliche) und Alleinherrschaften (principati) und hält fest, dass er sich hier nur mit Letzteren beschäftigen will. Sodann unterscheidet er zwischen ererbten und neu erworbenen Alleinherrschaften, und auch hier will er sich nur mit Letzteren beschäftigen. Und schließlich unterschei-



Machiavelli: Il Principe 371

det er zwischen durch eigene Tüchtigkeit (virtù) oder durch Glück (fortuna) erworbenen Alleinherrschaften, und wiederum beschränkt er sich auf Letzteres. M. hat die Geltung seiner Handlungsanweisungen im Principe auf durch Glück neu erworbene Alleinherrschaften beschränkt. Das erklärt auch, warum Cesare Borgia im Principe eine paradigmatische Bedeutung zukommt. Andererseits befreit sich M. im Stil seiner Darlegung bald wieder von diesen Restriktionen und formuliert, als wolle er allgemein gültige Gesetze für Erfolg versprechendes politisches Handeln aufstellen. Das gilt insbesondere für das 17.  Kapitel, in dem er nahelegt, dass ein Herrscher eher gefürchtet als geliebt werden solle, »denn von den Menschen kann man im allgemeinen sagen, daß sie undankbar, wankelmütig, verlogen, heuchlerisch und raffgierig sind«. Ähnliches gilt für das 18. Kapitel, in dem M. den Herrschenden zugesteht, dass sie ihr gegebenes Wort nicht zu halten brauchen, wenn dies für sie von Nutzen ist. M. empfiehlt dem Herrscher, ebenso die Natur des Tieres (Gewalt) anzunehmen wie die des Menschen (Recht), denn nur so könne er auf Dauer erfolgreich sein. Unter den Tiergestalten

favorisiert M. Löwe und Fuchs, Ersteren als Symbol der Stärke, Letzteren als Symbol der List. Hier setzt sich M. implizit mit dem Katalog der Herrschertugenden in den Fürstenspiegeln auseinander und wendet gegen  deren Verhaltensnormierung ein, dass es nicht darauf ankommt, so zu sein, wie in den Specula principis gefordert, sondern man bloß den Anschein dessen erwecken müsse. – Die Schrift bildet über weite Strecken eine Auseinandersetzung mit verschiedenen Herrschaftstechniken, die M. unter dem Gesichtspunkt von Effi­ zienz und Praktikabilität dis­ kutiert. Durchgehender Tenor ist seine Warnung, sich auf Söldner oder Verbündete zu verlassen, sowie die Forderung, ein vorausschauender Herrscher solle eigene Truppen aufstellen. Dieser Aspekt des M.’schen Werks hat bei der Rezeption durch Fichte und Clausewitz nach 1806 eine erhebliche Rolle gespielt. In der Gegenüberstellung von eigenen und fremden Waffen nimmt M. die Kontrastierung von virtù und fortuna wieder auf, die am Anfang des Werkes steht. Im 25.  Kapitel beschäftigt er sich mit dem Einfluss unbeherrschbarer Zufälle (fortuna) auf den Gang der Politik und fordert zu entschlossenem Zupacken auf.

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MacIntyre: After Virtue

Er bezeichnet fortuna als ein Weib, das man schlagen und stoßen müsse, um es unterzukriegen. – Obwohl der Principe nur einen Bruchteil von M.s Gesamtwerk darstellt, wird seine politische Theorie – zumindest in der kontinentaleuropäischen Rezeption – v. a. auf die in ihr enthaltenen Handlungsanweisungen eingeschränkt. Insbesondere der Begriff des Machiavellismus und die damit verbundene Vorstellung skrupelloser Politik leitet sich aus den Kapiteln  17–19 des Principe her. Das Werk stand im Zentrum der politiktheoretischen Auseinandersetzungen des 17. und 18. Jh.s, zu denen auch der Anti-Machiavel des Preußenkönigs Friedrich II. gehört. Die Diskussion um den Principe erhielt durch die Französische Revolution neue, teilweise nationalistische Impulse. In jüngerer Zeit sind Klassiker der Gesellschaftstheorie wie M.  Weber und Staatsrechtler wie C. Schmitt von M.s Werk beeinflusst worden. H. Münkler Ausgaben: It., Hg.: L.  Firpo, Turin 1979. – It./dt., Hg. und Ü.: P.  Rippel, Stgt. 1986. – Dt., Der Fürst und kleinere Schriften, Hg.: F. Meinecke, Bln. 1923. – Dt., Hg. und Ü.: R. Zorn, Stgt. 61978. Literatur: H. Baron, The »Principe« and the Puzzle of the Date

of the »Discorsi«, in: ­ Bibliothè­que d’Humanisme et Renaissance 18, 1956, 405–428. – A.  Buck, M., Drm­ st. 1985, 58–78. – H.  Münkler/R.  Voigt/R.  Walkenhaus (Hg.), Demaskierung der Macht. N.  M.s Staats- und Poli­ tikverständnis, Baden-Baden 2004.

Alasdair MacIntyre * 12. 1. 1929 in Glasgow; Vertreter des Kommunitarismus, der wesentlich zur Renaissance neoaristotelischer Tugendethik im 20. Jh. beigetragen hat.

After Virtue. A Study in Moral Theory

(engl.; Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart), EA Ldn./Notre Dame (Ind.) 1981; 2 1984 (verbessert).

M.s moralphilosophisches Haupt­ werk versucht, die an Aristoteles’ →  Nikomachische Ethik anknüpfende Tradition von Tugendethiken zu rehabilitieren und zu ak­ tualisieren. – Nach M. beruht die universalistisch inspirierte, weil rationalistische Moral der Aufklärung (von Kant bis  Hare und Gewirth) auf Geschichtsvergessenheit und dem Nichtwahrhabenwollen der Tatsache, dass die Sprache und das Erscheinungsbild der Moral im Übergang zur funktional dif­ ferenzierten Gesellschaft der



MacIntyre: After Virtue 373

Moderne in erheblichem Umfang aufgebrochen und teilweise zerstört worden ist. In Kapitel  1–3 des Werks erweist M. den seit Anfang des Jh.s gängigen ethischen Intuitionismus (G. E. Moore) und Emotivismus  (C. L. Stevenson) als den wahren Ausdruck der verdrängten Fragmentierung, Heterogenität, Unbegründbarkeit und Willkürlichkeit unserer Moralvokabulare. Die Kap.  4–5 erklären, wie die philosophische Aufklärung seit dem 17.  Jh. zum Aufkommen einer Rationalitätsumgebung beigetragen hat, die ihrem eigenen Projekt, eine für alle vernünftigen Menschen verbindliche Moral zu begründen, definitiv keine Wurzeln mehr bieten kann, v. a. keinen normativ gehaltvollen Begriff der menschlichen Natur. In Kap.  6–8 diagnostiziert M. mit den Mitteln der Weber’schen Bürokratietheorie die unerfreulichen kulturellen Ausprägungen dieser Dialektik der Aufklärung. Ab Kapitel  9, in dem der Moralnihilismus Nietzsches als Alternative verworfen wird, bemüht sich M. um den Nachweis, dass die Aufklärung mit der aristotelischen Tradition die eigentlich rational überlegene Theorielinie verworfen hat. Eine von M. dargelegte Kulturgeschichte der Tugenden in Kap.  10–13

untermauert diesen Anspruch. Kapitel  14 (und das wichtige »Postskript« in der 2.  Aufl.) begründet M.s komplexen Begriff von Tugend; sie ist für M. eine »Personeigenschaft«, die zum Gut jener Art von ganzem menschlichen Leben beiträgt, in dem diverse, in der Verfolgung bestimmter Praxisarten einem sich erst aufschließende Güter in ein lebenslanges Gesamtmuster von Zielen inte­ griert werden. Dieses Gesamtmuster stellt eine Antwort auf die Frage dar: »Welche Art von Leben ist für ein menschliches Wesen wie mich das beste?« In Kap.  15–18 wird dieser Begriff durch Überlegungen zur Gerechtigkeit zu einem handlungstheoretisch-pragmatischen Begriff des Selbst, das M. als eine wesentlich narrative Form auffasst, und zu einem kommunitaristischen Begriff von vernünftiger Tradition konkretisiert. M. Kettner Ausgaben: Notre Dame (Ind.) 3 2007 (mit einem Prolog »After Virtue after a Quarter of a Century«). – Dt., Ffm. 1987. Literatur: A. M. u. a., Book Symposium on »Whose justice?«, in: Philosophy and Phenomenological Research 2, 1991, 149–178. – P. McMylor, A.  M. Critic of Modernity, Ldn. 1994.

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MacIntyre: Whose Justice? Which Rationality?

Whose Justice? Which Rationality? EA Notre Dame 1988.

In dem Werk setzt sich M. mit  dem Phänomen der Ver­ schiedenheit von Gerechtigkeits- und Rationalitätsvorstellungen in modernen Gesellschaften auseinander. Dies wirft die Frage auf, wie wir mit rivalisierenden Konzeptionen der Rationalität und Gerechtigkeit umgehen sollen, die sich nicht in ein kohärentes Bild fügen lassen. Gegen das nach seiner Auffassung dominierende moderne Verständnis der Tradition der Aufklärung, nach dem sich eine richtige Konzeption der Gerechtigkeit genauso wie eine richtige Konzeption der Vernunft theoretisch erfassen und systematisch begründen lässt, betont M., dass verschiedene Vorstellungen der Gerechtigkeit ebenso wie verschiedene Konzeptionen der Rationalität gleichberechtigt nebeneinander bestehen. Grund dafür ist v. a. eine zweifache Standortgebundenheit, der wir verhaftet sind. Unser Gerechtigkeitsverständnis hängt nicht nur von unserem Rationalitätsverständnis ab und vice versa, sondern ist ebenso wie auch unsere Ratio­ nalitätskonzeption vom historischen und vom kulturellen Kontext abhängig, innerhalb

dessen wir uns bewegen und der sich auch im Rahmen der Theoriebildung nicht vollständig transzendieren lässt. – Vor diesem Hintergrund wendet sich M. hier, wie auch schon in seinem Hauptwerk →  After Virtue, an das dieses Werk anschließt, gegen eine »einseitige« philosophische Theoriebildung, die in der Tradition der europäischen Aufklärung davon ausgeht, dass praktische Fragen auf der Grundlage einer einzigen Vernunft endgültig und sicher beantwortet werden können. Nach Auffassung M.s besteht das gravierende Problem des Denkens der Aufklärung (und ihrer Tradition) mit ihrer Konzentration auf Abstraktheit, Neutralität und Universalität gerade im Ausblenden der Kontextabhängigkeit unseres Denkens. Deshalb fordert M., alternativ zum Paradigma der Aufklärung einen Ansatz zu verfolgen, der als »traditionconstituted and tradition-constitutive enquiry« verstanden werden kann. Es handelt sich dabei um eine Konzeption rationaler Forschung, die in eine Tradition eingebettet ist, nicht zuletzt deswegen, weil auch unser Konzept rationaler Rechtfertigung selbst wesentlich historisch ist. Aus dem engen Zusammenhang von Gerechtigkeits- und Rationa-



Mackie: Ethics. Inventing Right and Wrong 375

litätskonzeption ergibt sich, dass die jeweils akzeptierte Konzeption der Gerechtigkeit davon abhängt, welche Rationalitätskonzeption dem Überlegen zugrunde liegt. Dabei ist es nach Auffassung M.s mittels der von ihm entwickelten dialektischen Methode durchaus möglich, qualitative Vergleiche zwischen solchen Konzeptionen anzustellen – seine Auffassung führt demnach nicht in einen bloßen Konventionalismus oder Relativismus. – Um die Kontextabhängigkeit von Gerechtigkeits- und Rationalitätskonzeptionen zu beschreiben, setzt sich M. v. a. mit historischen Positionen aus vier Traditionen auseinander, die den Hintergrund unserer Kultur und unseres Denkens bilden. Diese Traditionen sind das klassische griechische Denken (bes. Aristoteles), die Philosophie des Augustinus und Thomas von Aquin, die schottische Aufklärung und schließlich der moderne Liberalismus, den M. massiv kritisiert. In der Auseinandersetzung mit diesen theoriegeschichtlichen Epochen zeigt M., wie Vorstellungen von Gerechtigkeit und Rationalität in den verschiedenen historischen Diskus­ sionskontexten jeweils zusammenhängen. – Das von vielen liberalen Autoren kritisch dis-

kutierte Werk ist ein wichtiger Text für die Debatte über eine kommunitaristische politische Philosophie, die philosophische Auseinandersetzung mit dem Relativismus und Neoaristotelismus und stellt wie After Virtue einen wichtigen Beitrag zur neueren Diskussion der Tugendethik dar. S. Laukötter Literatur: J. Horton/S. Mendus (Hg.), After M., Notre Dame 1994. – K. Knight (Hg.), The M. Reader, Notre Dame 1998. – M. Murphy (Hg.), A. M., Cambr. 2003.

John Leslie Mackie * 28. 8. 1917 Sydney, † 12. 12. 1981 Oxford; austra­ lischer Philosoph analytischer Schule, bekannt für seine Beiträge zur Metaethik, Erkenntnistheorie, Theorie der Kausalität und Religionsphilosophie.

Ethics. Inventing Right and Wrong

(engl.; Ethik. Die Erfindung des ­moralisch Richtigen und Falschen), EA Ldn. 1977.

M. unterscheidet in Ethics drei Fragen, die eine philosophische Ethik behandeln muss: Fragen zum Status, zum Gehalt und zu den Grenzen der Ethik. Der erste Teil behandelt die Bedeutung und den Gegenstand ethischer Urteile. Der zweite Teil entwickelt darauf aufbau-

376

Mackie: Ethics. Inventing Right and Wrong

end die Grundlage einer re­ gelutilitaristischen normativen Ethik. Der dritte Teil macht die Wechselwirkungen von Ethik und Metaphysik, Psychologie, Religion und Gesellschaft zum Gegenstand. – M. verteidigt die grundlegende These, dass es keine objektiven ethischen Werte gibt. Werte gehören nach M. schlichtweg nicht zur Struktur der Welt (fabric of the world). Er beschreibt diese Position als moralischen Skeptizismus. Im Gegensatz zum ethischen Subjektivismus, der die Grundlage ethischen Sollens im ethischen Subjekt verortet, bestreitet M.s Skeptizismus die Existenz einer bestimmten Art von Entitäten, vertritt also eine ontologische These, keine linguistische oder begriffliche. Moralische Urteile enthalten laut M. zwar für gewöhnlich die implizite Unterstellung objektiver Werte. Gerade diese Unterstellung sucht er aber als falsch auszuweisen. Mit dieser Irrtumstheorie vertritt M. keinen Nonkognitivismus, d.  h. er behauptet nicht, dass moralische Urteile weder wahr noch falsch sind (etwa weil sie Empfehlungen, Wünsche oder Befehle zum Ausdruck bringen), sondern er behauptet, dass moralische Urteile zwar einen Wahrheitsanspruch stellen – nonkognitivistische und natu-

ralistische Positionen verfehlen diesen Anspruch –, aber falsch sind, weil sie auf etwas referieren, das es in der Welt nicht gibt. – M. bringt zwei Argumente für seinen Skeptizismus vor: einerseits das ›Argument der Relativität‹ (argument from relativity), andererseits das ›Argument der Absonderlichkeit‹ (argument from queerness). Das Argument der Relativität verweist auf die faktischen Abweichungen ethischer Überzeugungen in  verschiedenen Epochen und Kulturen. Die Uneinigkeit innerhalb der Ethik lässt sich laut  M. durch unterschiedliche Lebensstile, nicht aber durch eine abweichende Wahrnehmung desselben objektiven Gegenstands erklären. Das Argument der Absonderlichkeit enthält eine metaphysische und eine epistemische Behauptung. Die Entitäten, die mit der Annahme objektiver Werte vorausgesetzt werden, unterscheiden sich laut M. grundlegend von allen anderen Entitäten, die etwa die Naturwissenschaften zum Gegenstand haben. Dementsprechend unterscheidet  sich auch das Vermögen, das vorausgesetzt werden müsste, damit Menschen Werte dieser Art erkennen könnten, von allen anderen menschlichen Erkenntnisvermögen. Eine philosophi-



Mackie: The Miracle of Theism 377

sche Ethik, die objektive Werte annimmt, postuliert laut M. ad hoc Entitäten und Erkenntnisvermögen, die uns aus unserem gewöhnlichen Umgang mit der Welt nicht vertraut und in diesem Sinne absonderlich sind. – Der Zweifel an der Existenz objektiver Werte wird für M. durch die Beobachtung untermauert, dass sich die alltägliche Vorstellung objektiver Werte, die unser ethisches Urteilen prägt, psychologisch erklären lässt. M. schlägt nicht vor, Ethik qua soziale Praxis als überflüssig zu verstehen, weil die im ethischen Urteilen vor­ ausgesetzten Werte unverfügbar sind. Er plädiert vielmehr dafür, die Gegenstände ethischer Urteile nicht als etwas zu begreifen, das vorgefunden oder entdeckt werden kann, sondern vielmehr als etwas, das Menschen erfinden. – Insbesondere M.s metaethische Position aus Ethics ist einflussreich für die philosophische Ethik geworden. Mit der Formulierung der Irrtumstheorie hat M. der Debatte um den Status moralischer Werte und Urteile eine systematische Option hinzugefügt. S. Derpmann Ausgabe: Dt., Ü.: R. Ginters, Stgt. 2000. Literatur: T. Honderich (Hg.), Morality and Objectivity. A Trib-

ute to J.  L. M., Ldn. 1985. – R. Joyce/S. Kirchin (Hg.), A World Without Values. Essays on J.  M.’s Moral Error Theory, Dordrecht 2009.

The Miracle of Theism. ­Arguments for and against the Existence of God

(engl.; Das Wunder des Theismus. Argumente für und gegen die Existenz Gottes), EA Oxfd. 1982 (postum).

Das postum erschienene Buch bietet eine umfassende Verteidigung des Atheismus. Der Titel der Schrift spielt auf ­ Humes ironische Bemerkung ­ an, die christliche Religion könne von keinem vernünftigen Menschen ohne ein Wunder geglaubt werden (Enquiry, Abschnitt 10). Die geistige Macht, die der Theismus über viele vernünftige Menschen hat,  erscheint M. als ein erstaunliches Phänomen, in keinem Fall,  so will er zeigen, lasse sie sich ra­ tional begründen. Einige Kapitel von Das Wunder des Theismus sind in direkter Auseinandersetzung mit der wenige Jahre zuvor von  R.  Swin­burne  veröffentlichten Verteidigung des Theismus The Existence of God (1979) entstanden. Trotz diametral entgegengesetzter Resultate teilt M. mit seinem langjährigen Diskussionspartner wichtige Grundannahmen:

378

Mackie: The Miracle of Theism

Unter ›Gott‹ verstehen beide eine körperlose Person, die u. a. allmächtig, ­allwissend und vollkommen gut ist, beide sehen im Vorliegen theoretischer Argumente eine unabdingbare Voraussetzung für die Rationalität religiösen Glaubens. Schließlich sind beide davon überzeugt, dass die Beschäftigung mit Argumenten für und wider die Existenz Gottes in eine Abwägung von epistemischen Wahrscheinlichkeiten münden muss. – Im weitaus größten Teil des Buches beschäftigt sich M. mit theoretischen Argumenten für die Existenz Gottes: u. a. mit Wunderberichten, ontologischen, kosmologischen, teleo­logischen und moralischen Argumenten. M.s Verdikt ist eindeutig: Keines dieser Argumente, weder in klassischer noch in moderner Form, sei geeignet, die Plausibilität des Theismus bedeutend zu erhöhen; die Ausgangswahrscheinlichkeit der Existenz Gottes müsse im Übrigen so gering angesetzt werden, dass (selbst das bescheidene Gewicht einiger Argumente zugestanden) der Theismus inakzeptabel bleibe. – M. befasst sich außerdem mit zwei Einwänden wider die Existenz Gottes: 1) Auch wenn sich nicht strikt beweisen lasse, dass die schrecklichen Übel der Welt mit jeglicher (annehm-

baren) Form des Theismus unverträglich sind, sei bislang keine befriedigende Theodizee vorgeschlagen worden:  Das Problem des Übels senke die Wahrscheinlichkeit der Existenz eines gütigen Gottes daher drastisch. Insbesondere die beliebte Strategie, die Übel der Welt als notwendige Bedingung oder unvermeidliche Folge des hohen Guts menschlicher Wahlfreiheit zu rechtfertigen, wird von M. einer umfassenden Kritik unterzogen. 2) Naturalistische Alternativerklärungen religiösen Glaubens und religiöser Erfahrung, wie sie bereits von Feuerbach, Marx oder Freud vorgeschlagen wurden, bilden laut M. zwar kein entscheidendes Argument gegen den Glauben, zeigten aber immerhin, dass die Gotteshypothese nicht benötigt werde, um das Bestehen theistischer Religionen zu erklären. – Obwohl M.s Hauptinteresse der natürlichen Theologie gilt, also Argumenten für und wider die Existenz Gottes, unterschlägt er keineswegs, dass viele Theologen und Religionsphilosophen in solchen Argumenten die Eigenart religiösen Glaubens gerade verfehlt sehen. M. weist in zwei späten Kapiteln seines Buches solche Vorbehalte jedoch in Auseinandersetzung mit Autoren wie Kierkegaard oder



Malebranche: De la recherche de la vérité 379

Wittgenstein überzeugend zurück. – Die Schrift ist frei von herablassender oder polemischer Attitüde; Gegner werden ausnahmslos fair behandelt; als intellektuelle Kontrahenten dienen nicht fundamentalistische, bigotte Strohmänner, sondern einige der größten Denker der Philosophiegeschichte (u. a. Thomas, Descartes, Pascal, Leibniz, Kant) sowie kompetente moderne Verteidiger des Theismus (u. a. Küng, J. Leslie, Plantinga, Swinburne). Der philosophische Scharfsinn, die intellektuelle Redlichkeit und sprachliche Klarheit, sowie die Noblesse, mit der abweichenden Auffassungen begegnet wird, haben Das Wunder des Theismus zu einem weithin anerkannten Musterbeispiel der Kritik religiösen Glaubens gemacht. C. Weidemann Ausgabe: Dt., Stgt. 1985. Literatur: R. Swinburne, The Existence of God, Oxfd. 22004 (11979; dt. Die Existenz Gottes, Stgt. 1987) – J. Bromand/G. Kreis (Hg.), Gottesbeweise von Anselm bis Gödel, Bln. 2011.

Nicolas Malebranche * 5. 8. 1638 in Paris, † 13. 10. 1715 in Paris; Hauptvertreter des Okkasionalismus in Frankreich durch Verbindung des Cartesianismus mit dem Augustinismus.

De la recherche de la vérité, où l’on traite de la nature de l’esprit de l’homme et de l’usage qu’il en doit faire pour éviter l’erreur dans les sciences

(frz.; Von der Erforschung der Wahrheit oder Von der Natur des menschlichen Geistes und dem Gebrauch seiner Fähigkeiten, um Irrtümer in den Wissenschaften zu vermeiden), EA Paris 1674/75 (Bd. 1–2), 1678 (Bd.  3; mit Éclaircissements sur les principales difficultés des volumes précédents); Umarbeitungen und Erweiterungen bis Paris 61712 (4  Bde., mit Lois du mouvement und Réponse à Regis).

Ausgangspunkt dieses sechs Bücher umfassenden Werkes ist eine Analyse des an sich unteilbaren Geistes zur Bestimmung der Irrtumsquellen aufseiten des Verstandes und des Willens. – M. untersucht 1. die drei Formen des menschlichen Geistes: Sinne, Einbildungskraft und Verstand sowie 2. die beiden Formen der Liebe bzw. des Willens: unsere Neigungen und Leidenschaften, um wie Descartes mit der Evidenzmethode zu schließen (Buch 1–2). Nach dieser Übereinstimmung mit dem Cartesianismus führt Buch  3 über die Untersuchung des reinen Verstandes und der Natur der Ideen zur liebenden Schau aller Dinge in Gott. Hierbei nimmt M. augustinisch-neuplatonisches

380

Malebranche: De la recherche de la vérité

Gedankengut auf: Die Ideen gelten als Urbilder der geschaffenen Ideen in Gott, so dass das Reich der Ideen die eigentliche Wirklichkeit vertritt. So wie Sinne, Einbildungskraft und Gedächtnis eine praktische Bedeutung für die eigene Lebensführung besitzen, sind auch Neigungen und Leidenschaften für die reine Welterkenntnis nützlich, wenn sie von ihrer Irrtumsdisposition durch die Ideenschau der Dinge ge­läutert werden (Bücher  4–5). Wahrheitsentdeckung und  Wis­ senschaftsfortschritt können so mithilfe der Erkenntnis ideeller Beziehungsgefüge (wie in der Mathematik) und durch die Ausübung ständiger Aufmerksamkeit auf einer differenzierten Methode aufbauen (Buch  6). Diese muss sowohl die Sinnestäuschungen wie die mögliche Verwicklung der Gedanken bei der Verfolgung einer Gedankenreihe korrigieren. – Die Éclaircissements  I– XVII (Bd.  3) greifen einzelne Probleme der vorangegangenen Untersuchungen auf und setzen die ethisch-religiöse Seite der Recherche fort: Gott ist einziger Beweger der Welt, da die Freiheit als nichtkörperliche, moralische Kraft der Weltkraft nichts hinzufügt. Die »Vision aller Dinge in Gott« umfasst die Vollkommenheitsverhält-

nisse oder Ordnung der Schöpfung, so wie eine einzige Idee »intelligibler Ausdehnung« allen Körpern entspricht. Gott handelt zudem in allem allein; die Ursachen sind nur der Ort der Ausübung von allgemeinen Gesetzen regelmäßig verknüpfter Bewegungsvorgänge. Damit ist dieser von A. Geulincx inspirierte »Okkasionalismus« nicht nur ein Erkenntnisprinzip, sondern zugleich auch ein metaphysischer Sachverhalt, was M.s spekulativem Theozentrismus entspricht. Geu­ lincx betonte in seinem Okkasionalismus bereits, dass Gott bei jeder sich bietenden Gelegenheit (occasion) den Kontakt zwischen dem Körper und dem Geist herstelle. Im Allgemeinen ist für eine ständige Korrespondenz zwischen diesen beiden Substanzen Vorsorge getroffen, indem sie wie zwei gleichgestellte Uhren zueinander verlaufen. Für M. ist der Okkasionalismus jedoch nicht nur Metaphysik- und Erkenntnisprinzip, sondern die Verursachung aller körperlichen wie geistigen Vorgänge durch Gott erlaubt ihm zufolge zugleich die Erkenntnis einer höheren Einheit aller Ursachen (occa­ sions). Diese Verknüpfung von Bewegungsvorgängen erregt im Menschen unmittelbar auch die Liebe zur ewigen Seinsord-



Marcus Aurelius: Ta eis heauton 381

nung als »Ort der Geister«, so dass ein Beweis Gottes nicht nötig ist. – M.s Ideen- und Erkenntnislehre hat auf die Lehre der »unmittelbaren Apperzeption« bei Maine de Biran eingewirkt; Husserl hat den Zusammenhang von attentionaler Abwandlung und Wesensschau als eine Vorform des phänomenologischen Idealismus verstanden. S. Weil unterstrich in der Nachfolge M.s die Möglichkeit, mithilfe der Aufmerksamkeit als einem »natürlichen Gebet« von den unklaren Ideen wegzuführen. R. Kühn Ausgaben: Œuvres complètes, Bd.  1–3, Hg.: G.  Rodis-Lewis, Paris 1962–64; 21972–76. – Dt., Drittes Buch, Hg., Einl. und Ü.: A.  Klemmt, Hbg. 1968. – Engl., The Search after Truth: With Elucidations of the Search after Truth, Hg.: T. M. Lennon/P. J. Olscamp, Cambr. 1997. Literatur: J. Reiter, System und Praxis. Zur kritischen Analyse der Denkformen neuzeitlicher Metaphysik im Werk von M., Mainz 1972. – D. Radner, M. A Study of a Cartesian System, Assen/Amsterdam 1978. – P.  Steinfeld, Realität des Irrtums: die Konzeption von Wahrheit und Irrtum in N. M.s Recherche de la vérité, Ffm. 1997.

Marcus Aurelius *  26. 4. 121 in Rom, †  17. 3. 180 in Vindobona (Wien); römischer Kaiser, Vertreter der späten Stoa.

Ta eis heauton (gr.; lat.: Ad se ipsum, libri XII; Wege zu sich selbst; Selbstbetrachtungen), entst. ab 172; EA Zürich 1559.

Dieses Hauptwerk der späten Stoa legt hauptsächlich konkrete Handlungsmaximen  nieder und ist weniger kosmologisch als ethisch orientiert. – Die Bewahrung der geistigen Freiheit gegenüber den äußeren Verhältnissen steht im Mittelpunkt. Übereinstimmung mit sich selbst wird durch Übereinstimmung mit dem göttlichen und kosmischen Gesetz erreicht. Die einzelnen Handlungsmaximen haben sich nach der menschlichen Natur zu richten. Das daraus resultierende Naturrecht wird als kosmisches und göttliches Recht angesehen. Die Einordnung aller Handlungsmaximen hat unter dem Gesichtspunkt der Vernunftseele zu geschehen, wobei es ausdrücklich als Ziel der Philosophie dargestellt wird, alles Handeln unter die Einsicht in die allgemeine Vernunft zu stellen. Der formale Grundsatz der Stoa »Tugend ist Einsicht« wird in einer kosmisch-natur-

382

Marcus Aurelius: Ta eis heauton

rechtlichen Auffassung vom Menschen und seinen Handlungszielen inhaltlich differenziert und angereichert. Daraus resultieren sowohl eine kosmopolitische Grundeinstellung als auch das Ideal einer humanitas, die beide für die Gesetzgebung M.  A.’ bestimmend blieben (bes. hinsichtlich Frauen, Kindern und Sklaven). Weniger spekulativ als andere Werke der Stoa geben M. A.’ Betrachtungen der praktischen Lebensführung besonderen Raum. Für ihn lässt sich öffentliches Leben nur dort mit den Prinzipien der Bewahrung einer inneren Freiheit verbinden, wo die Gleichmut gegenüber äußeren Widerfahrnissen sich mit einer Gelassenheit gegenüber den Affekten verbindet. Das Gebot der Apathie, der Gleichmütigkeit gegenüber allen Leidenschaften und äußeren Antrieben, verbindet sich mit der Forderung, allen Pflichten des öffentlichen Lebens unermüdlich zu entsprechen. Affekte sind zum Schweigen zu bringen, die innere Ruhe und Gelassenheit gegenüber den Anfechtungen und Querelen der äußeren Welt ist zu bewahren. Auch der Tod verliert so seinen Schrecken, da er – mag er nun Übergang oder Auflösung sein – ebenso in das große Vernunftgesetz des Alls ein-

geschrieben ist wie das Leben selbst. – Nur wer seine innere Freiheit bewahrt, ist wahrhaft weise. Besonders wesentlich ist die Einheit von Freiheit und Notwendigkeit, von Freiheit und Fatum: Die Gesetzlichkeit des Geschehens ist anzuerkennen und ihr gemäß zu handeln. Damit wandelt sich das in Freiheit anerkannte Geschick selbst zu Freiheit. Das Prinzip des Ertragens und Entsagens (sustine et abstine) erweist sich als Anerkennung des kosmischen Gesetzes. Die resignative Grundstimmung und das heroische Aushalten machen die Originalität der Maximen M. A.’ ebenso aus wie die Verbindung von politischem Handeln mit individueller Tugend. – Die Grundhaltung der Maximen M.  A.’ ist in viele moralische Grundsätze der christlichen Philosophie, vornehmlich im frühen Christentum, eingeflossen. P. Kampits Ausgaben: Gr., Hg.: J. Dalfen, Lpzg. 1979. – Gr./dt., Hg. und Ü.: W. Theiler, Zürich 31984. – Dt., Ü.: O. Kiefer, Bln. 2011. Literatur: A.  Birley, M.  A.: a biography, Ldn. u. a. 2001 (ND der Ausg. New Haven 1987; dt. M. A. Kaiser und Philosoph, Mchn. 2 1977).



Marx/Engels: Die deutsche Ideologie 383

Karl Marx *  5. 5. 1818 Trier, †  14. 3. 1883 London; Kritiker des Kapitalismus, Ökonom, Sozialwissenschaftler, Philosoph, politischer Journalist, Protagonist der Arbeiterbewegung.

Die deutsche Ideologie. Kritik der neuesten deutschen Philoso­phie in ihren Repräsentanten Feu­erbach, B. Bauer und S­ tirner und des deutschen ­Sozialis­mus in seinen ­verschiedenen ­Propheten

entst.  1845/46, EA Bln.  1932 (postum, in: Marx-Engels-GA), verfasst zus. mit Friedrich Engels.

Die deutsche Ideologie ist ein zu Lebzeiten unveröffentlicht gebliebenes und unvollständig erhaltenes Manuskript­konvolut, das überwiegend von M. und in Teilen von F. Engels verfasst, aber auch unter Mitarbeit von M.  Hess und J.  Weydemeyer entstanden ist. Die Texte sind in erster Linie gegen die Philosophie der Linkshege­ lianer (B. Bauer, L. Feuerbach, M.  Stirner) gerichtet, denen eine naive Auffassung der sozialen Wirklichkeit attestiert wird. Zentral ist dabei der Vorwurf, dass den ökonomisch-poli­ tischen und kulturellen Missständen nicht bloß durch die Forderung nach einem Einstellungswandel der Bevölkerung begegnet werden könne. Viel-

mehr offenbare dieser Fokus auf das Bewusstsein der Menschen die prinzipielle Blindheit der Philosophie gegenüber denjenigen Verhältnis­sen, die für die interne Organisa­tion einer Gesellschaft entscheidend seien: die Formen der mate­ riellen Produk­tion. Denn jede Sozialität – und darum auch menschliche Geschichte überhaupt – impliziere die Existenz  lebendiger Individuen und somit Prozesse der Selbsterhaltung. Mit dieser natürlichen Seite der Produk­tion und Reproduktion des Lebens seien aber gleichzeitig bestimmte gesellschaftliche »Verkehrsverhältnisse« gegeben, deren Struktur dem je­weiligen Niveau der Produktion »entspricht«. In den frühesten Formen der arbeitsteilig produzierenden Familie beispielsweise äußere sich dieser Zusammenhang darin, dass Frauen und Kinder den Männern als deren Sklaven unterworfen seien. Einfachsten Formen der Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur entsprächen somit einfachste Formen so­zialer Verhältnisse (insb. Eigentumsformen), deren jeweilige Re­ organisation immer dann eintrete, wenn sie der Entwicklung der  Produk­ tivkräfte hinderlich seien. Die Überzeugung, dass das Selbstverständnis der Subjekte, ihre

384

Marx/Engels: Die deutsche Ideologie

Vorstellungen von Politik, Moral und Ästhetik, wesentlich  von den materiellen Verhältnissen bedingt werden, bringen die Au­ toren auf die viel diskutierte Formel: »Nicht das Bewußtsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewußtsein.« ­ So schlügen sich Machtver­ hält­ nisse im Rahmen der ­ma­teriellen Produk­tion auch in der geistigen Welt der  Gesellschaftsmitglieder als Ideolo­ gien nieder, deren allgemeiner Zweck in der Legitimation der gegebenen Zustände bestehe. Ohne die Kritik und prak­ tische Veränderung der ökonomischen Verhältnisse hän­ge darum die linkshege­ lianische Forderung nach allgemeinem Bewusstseinswandel in der Luft. Bemerkenswerterweise wird – nach dem Selbstverstän­ dnis der Autoren – der Kommunismus selbst dagegen nicht als »ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben« wird, aufgefasst, sondern als »die wirkliche Bewegung« zur Überwindung des bestehenden Kapitalismus. – Die deutsche Ideologie ist in der Rezeption immer wieder als locus classicus der Theorie des ›Historischen Materialismus‹ – eine Formulierung, die sich bei M. nirgends findet – behandelt

worden. Dabei ist nicht nur der Titel selbst eine Zugabe späterer Veröffentlichung (D.  Rjazanov), sondern die gesamte Anordnung und Zusammengehörigkeit der Manuskriptteile, die in kritischer Ausgabe noch nicht vollständig verfügbar sind, äußerst umstritten. Unabhängig aber von der Frage, ob und inwiefern Die deutsche Ideologie als ausgereifte, einheitliche und überzeugende Darstellung einer materialistischen Geschichtsauf­fassung zu betrachten ist, hat sich – wie M. später selbst bekennt – der dort formulierte allgemeine Zusammenhang zwischen den verschiedenen Produktionsverhältnissen und den ihnen entsprechenden Bewusstseinsformen zum »Leitfaden« von M.ens Denken entwickelt. Für die sozialtheoretische Forschung insgesamt hat seine Insistenz auf der sozialen Bedingtheit subjektiver Einstellungen seither geradezu konstitutive Bedeutung. A. Mohseni Ausgaben: M.-Engels-Werke (MEW), Bd.  3, Bln. 1959. – K.  M./F.  Engels/J.  Weydemeyer, Die deutsche Ideologie (Auszüge), in: M.-Engels-Jahrbuch 2003, Bln. 2004. Literatur: D. Brudney, M.’s Attempt to Leave Philosophy, Harvard 1998. – H. Bluhm (Hg.), K.  M.,



Marx: Das Kapital 385

F.  Engels, Die deutsche Ideologie, Bln. 2009.

Das Kapital. Kritik der ­politischen Ökonomie

EA Hbg. 1867 (Bd. 1); Hbg. 1885 (Bd. 2); Hbg. 1894 (Bd. 3).

In seinem Hauptwerk analysiert und kritisiert M. die Grundlagen der kapitalistischen Produktionsweise. Von den drei Bänden, die er im Rahmen des Vorworts zur ersten Auflage von Band 1 ankündigt, erscheint zu Lebzeiten lediglich der erste Band, der sich dem Produktionsprozeß des Kapitals widmet. Aus M.ens Manuskripten stellt F. Engels nach dessen Tod die Bände 2 und 3 zusammen: Der Zirkulationsprozeß des Kapitals (1885) und Der Gesamtprozeß der kapitalistischen Produktion (1894). – In methodischer Abstraktion von der Komplexität kapitalistischen Wirtschaftens eröffnet M. seine logisch-systematische Darstellung mit der Erörterung der Doppelnatur von Waren, die als Gebrauchsgegenstände Bedürfnisse befriedigen und als Tauschgegenstände in quantitativer Relation zueinander stehen. Basis dieser Vergleichbarkeit von Waren ist ihre Bewertung als Produkte menschlicher Arbeit überhaupt – Waren sind insofern Träger von

Wert. Die M.’sche Formanalyse der Waren kritisiert diese Art der Vergesellschaftung der Arbeitsprodukte: Statt dass die Subjekte ihre Produktion auf gesellschaftlich-diskursive Weise organisieren, sind sie als vereinzelte Privatproduzenten tätig und lassen die gesellschaftliche Relevanz ihrer Arbeiten durch die dissoziative Vermittlung des Marktes etablieren, der den Produkten die Waren- und Wertform verleiht. Die soziale Kategorie des Werts erscheint darum als sachliche, intrinsische Eigenschaft der Güter – M. bezeichnet diesen Umstand als »Fetischismus« der Warenproduktion. Aus der Wertform entwickelt M. die Geldform und zeigt auf, dass das »Mehrprodukt«, d. i. derjenige Teil der Produktion, der über die bloße Reproduktion der Arbeitskraft hinausgeht, im Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise die Form des »Mehrwerts« annimmt. Dieser Mehrwert wird nicht einfach durch die Zirkulation der Güter generiert, sondern setzt die Existenz und Behandlung von Arbeitskraft als Ware voraus. Im Produktionsprozess zeigt sich, dass der Arbeiter deutlich mehr Wert schaffen kann als er zur Reproduktion seiner Arbeitskraft benötigt – dieser Überschuss vollendet

386

Marx: Das Kapital

die »Bewegung des Kapitals«: Eine Geldmenge wird in die Zu­ sammenführung von Arbeitskraft und Arbeitsmittel investiert, deren produktives Resultat verkauft wird und als größere Geldmenge zu ihrem Ausgangspunkt zurückkehrt. Da das Ziel dieses Kreislaufs nicht in der Bedürfnisbefriedigung, sondern in der unbestimmten Vergrößerung des Werts liegt, ist der Prozess des Kapitals maßloser »Selbstzweck«. Zur Erhöhung der Gewinnspanne ist der Kapitalist als »perso­ nifiziertes Kapital« gezwungen, den Arbeitstag in die Länge zu ziehen, so dass der Arbeitsprozess zum größtmöglichen »Verwertungsprozess« wird. In rechtlicher Hinsicht zwar frei, ist der Arbeiter zu diesem Produktionsverhältnis dennoch strukturell gezwungen, da ihm die Produktionsmittel zur Betätigung seiner Arbeitskraft fehlen. – In der systematischen Entfaltung der Einzelheiten dieser allgemeinen Struktur des Kapital-Prozesses beschreibt M. im Fortgang seines Werks den Kapitalismus als ungeheuer dynamische, notwendig konflikt- und krisenhafte Wirtschaftsweise, deren bislang beispielloses Tempo der Produktivkraftentwicklung mit ebenso beispielloser Destruk­tion und Degradation

von Natur und Kultur verbunden ist. – Spätestens mit der Oktoberrevolution von 1917 entfaltet das Kapital – das als Zentrum der M.’schen Kapitalismus-Kritik betrachtet wird – eine gewaltige politische Wirkungsgeschichte. Im Laufe des 20.  Jh.s bezogen sich die verschiedensten sozialen Bewegungen und Staatsformen bekennend oder abgrenzend auf das M.’sche Denken, das dabei von beiden Seiten in der Regel bis zur Unkenntlichkeit verstellt worden ist. Der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Kapital hat dieser politische Kontext häufig geschadet. Indessen kann die Tatsache, dass auch die politisch-ökonomischen Krisen des 21. Jh.s ein rasant steigendes Interesse an der Auseinandersetzung mit M.ens Kapital hervorrufen, als Beleg für dessen ungebrochene Aktualität gewertet werden. A. Mohseni Ausgaben: M.-Engels-Werke (MEW), Bd.  23–25, Bln. 1962 ff. – M.-Engels-GA (MEGA), Abteilung  II: »Das Kapital« und Vorarbeiten, Bln. 1976 ff. Literatur: L. Althusser/E. Balibar, Das Kapital lesen, Hbg. 1972. – M. Heinrich, Kritik der politischen Ökonomie. Eine Einführung, Stgt. 2004. – D. Harvey, A Companion to M.’s Capital, Ldn./NY 2010.



Marx/Engels: Manifest der Kommunistischen Partei 387

Manifest der ­Kommunistischen Partei EA Ldn.  1848 (anonym), verfasst zus. mit Friedrich Engels.

Das Manifest der Kommunistischen Partei (auch Das Kommunistische Manifest) ist eine von M. und F.  Engels im Auftrag des ›Bunds der Kommunisten‹ gemeinsam verfasste politische Kampf- und Programmschrift. Auf die kurze Einleitung, deren Eröffnungssatz (»Ein Gespenst geht um in Europa – das ­Gespenst des Kommunismus«) heute weltberühmt ist, folgen vier größere Abschnitte: »I.  Bourgeois und Proletarier«, »II.  Proletarier und Kommunisten«, »III.  Sozialistische und  kommunistische Literatur« und »IV.  Stellung der Kommunisten zu den ­verschiedenen oppositionellen Parteien«. – Geschichtlicher Fortschritt, so formulieren die Autoren zu Beginn, ist stets das Resultat von gesellschaftlichen Kämpfen zwischen herrschenden und unterdrückten Klassen, wobei Herrschaft durch die Verfügungsgewalt über die materiellen und geistigen Produktionsmittel und somit über die Diktion bestimmter Produktionsverhältnisse begründet ist. Hemmen diese politischrechtlichen Verhältnisse die Entwicklung der Produktiv-

kräfte, dann treten radikale soziale Umwälzungen ein – so auch im Falle des Kampfes der Bourgeoisie gegen die feudalen Herrschaftsstrukturen. Mit der sukzessiven Durchsetzung der kapitalistischen Produk­ tionsweise sind ältere, meist auf Stand und Blut gegründete Abhängigkeitsverhältnisse aufgebrochen und durch den einen Zweck der Steigerung des »Tauschwerts« ersetzt. Im Zuge der Globalisierung und Rationalisierung ihrer Interessen hat die Bourgeoisie eine äußerst progressive, alle Gesellschaftsbereiche modernisierende Rolle gespielt. Grundlage ihrer Profitmaximierung ist allerdings das von ihr ausgebeutete Proletariat, das als der Bourgeoisie feindlich gegenüberstehende Klasse die größte Bevölkerungsschicht der europäischen Gesellschaften bildet. Dieses Proletariat wird, so der provokative Ausruf der Autoren, den notwendigen »Untergang« der Bourgeoisie bewirken, da die kapitalistische Produk­ tionsweise zwar von der Arbeit des Proletariats lebt, gleich­ zeitig aber nicht dazu imstande ist, die materielle Fortexistenz der unterdrückten Klasse auf hinreichendem Niveau zu sichern. Im zweiten Abschnitt setzen sich M. und Engels mit gegen Kommunisten und den

388

Marx/Engels: Manifest der Kommunistischen Partei

Kommunismus gerichteten Vorwürfen (Enteignung, Auflösung der Familie, Faulheit der Menschen etc.) auseinander. Die wesentliche Stoßrichtung der Gegenargumente der Autoren läuft auf deren These hinaus, dass der Kommunismus nicht als Set von Idealen zu begreifen ist, sondern als wirkliche Protestbewegung im Rahmen der gegenwärtigen Verhältnisse. Diese Verhältnisse selbst zeichnen sich durch ständige Enteignung bzw. Eigentumslosigkeit der Bevölkerungsmehrheit aus, durch die Faulheit und Vielweiberei der Kapitalisten etc. Die ›Theorie‹ der Kommunisten ist darum nichts anderes als die Forderung nach Veränderung der bestehenden Verhältnisse – im Kern lässt sie sich »in dem einen Ausdruck: Aufhebung des Privateigentums zusammenfassen«. Ist dies einmal gelungen, dann beseitigt das Proletariat den Antagonismus des Klassengegensatzes und hebt damit Herrschaft überhaupt auf. In Abschnitt drei distanzieren sich die Autoren von verschiedenen sozialistischen Weltanschauungen, deren inhaltliche Positionen jeweils auf ihre Position im politischen Kräftefeld zurückgeführt werden. So wird beispielsweise dem feudalen Sozialismus vorgeworfen, dass

er keineswegs die Beseitigung jeder Klassengesellschaft, sondern lediglich die Restauration der feudalen Herrschaftsverhältnisse anstrebt. In dieser Hinsicht sprechen die Autoren sogar über die Angemessenheit der politischen Koalition zwischen Kommunisten und der Bourgeoisie, solange die Gemeinsamkeit in der Distanzierung von alten feudalen Strukturen gegeben ist. Der wesentliche Unterschied zwischen dem von M. und Engels formulierten Kommunismus und den übrigen sozialistischen Ideologien besteht in der – im vierten Abschnitt hervorgehobenen – Einsicht, dass nur der Kommunismus an dem strukturellen Gegensatz von Bourgeoisie und Proletariat festhält und die Eigentumsfrage in das Zentrum der politischen Auseinandersetzung rückt. Die Schrift endet mit der bekannten Aufforderung: »Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!« – Das Manifest der Kommunistischen Partei hat unmittelbar weniger Wirkungskraft entfaltet als von M. und Engels erhofft. Im 20. Jh. hat sich das Werk dagegen zur einflussreichsten politischen Programmschrift überhaupt ent­wickelt. Dies ist ohne Zweifel auch auf die meisterhafte Prosa des Texts zurückzufüh-



Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte 389

ren, dessen viele einzelne Teile heute jeweils zum geflügelten Wort geworden sind. Kontrovers werden nach wie vor die materialistische Geschichtsauffassung und der mit ihr zusammenhängende Determinismus diskutiert. A. Mohseni Ausgabe: M.-Engels-Werke (MEW), Bd.  4, Bln. 1972, 459– 493. Literatur: E. Hobsbawn, Introduction, in: The Communist Manifesto. A Modern Edition, Ldn./NY 1998, 1–31. – D. Harvey, Introduction, in: The Communist Manifesto. K.  M. and F.  Engels, Ldn. 2008, 1–31.

Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844 EA Bln. 1932 (in: Historisch-kritische GA, Abt. I, Bd. 3).

Die 1844 in Paris verfassten, zu Lebzeiten unveröffentlichten, von M. nicht betitelten und nur fragmentarisch erhaltenen Überlegungen zur Ökonomie und Philosophie gelten als wichtigste Frühschrift M.ens. Für den Entstehungskontext der Ökonomisch-philosophischen Manuskripte (auch als Pariser Manuskripte oder National­ ökonomie und Philosophie bekannt) sind die mit der voranschreitenden Industrialisierung steigenden Armutsphänome-

ne, die repressiven politischen Zustände Preußens und die linkshegelianische Kritik an Religion und Staat entscheidend. Das Besondere der Manuskripte liegt darin begründet, dass sich der 26-jährige M. hier bereits ausführlich mit ökonomischen Kategorien und Statistiken auseinandersetzt, um auf dieser Grundlage Thesen über das menschliche Zusammenleben schlechthin zu entwickeln. – Insbesondere im Rahmen des ersten Manuskripts widmet sich M. den Arbeiten von Smith, Say, Malthus und Ricardo und diskutiert dabei vornehmlich die Konzepte des Arbeitslohns, des Profits und der Grundrente. M. sucht nachzuweisen, dass selbst auf der Grundlage jener nationalökonomischen Theorien sich die kapitalistische Produktionsweise keineswegs für alle Akteure vorteilhaft ausnimmt, sondern die Situation des Arbeiters sowohl bei der Stagnation und Rezession als auch in der Phase des Aufschwungs der Konjunktur miserabel ist. Herzstück aber des ersten Manuskripts und von philosophischem Interesse sind die Ausführungen zur »entfremdeten Arbeit«, in denen sich die Hegel’schen Spuren in der Argumentation am deutlichsten zeigen. M. vertritt hier eine bestimmte Auffassung

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Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte

von der Natur des Menschen: Sein Leben in ­ bewusster Tätigkeit selbst zu erzeugen, das ist sein Wesen. Die in ihm zu entwickelnden Wesenskräfte entdeckt der Mensch in der produktiven Auseinandersetzung mit der Natur und vergegenständlicht sein Wesen in materiellen Produkten und in sozialen Relationen. In der kapitalistischen Gesellschaft steht das »menschliche Gattungswesen« – stärker noch als in allen vorherigen Gesellschaften – zu dieser von ihm selbst geschaffenen Welt in entfremdeter Beziehung. M. entwickelt in den Manuskripten vier miteinander zusammenhängende Aspekte der Entfremdung: Der Mensch ist entfremdet von seiner Tätigkeit, d. i. von seinem Wesen, da er nicht selbstbestimmt und frei, sondern unter Aufsicht, aus Not und nach den Plänen anderer arbeitet (1). Diese Unfreiheit findet folglich ihren Ausdruck auch in den Produkten, die den Produzenten als fremdes Eigentum entgegentreten (2).  Insofern die Individuen der produktiven Tätigkeit nur nachgehen, um sich außerhalb dieser Tätigkeit frei zu fühlen, machen sie das Gattungsleben zum Mittel des individuellen Lebens und setzen dadurch Gattung und Individuum in Opposition zueinan-

der (3).  Wenn die Individuen in ihrer produktiven Tätigkeit mithin nicht die Bedürfnisse der anderen Individuen zum wirklichen Zweck haben, sondern nur die eigenen, dann sind sie insgesamt ihrer Tätigkeit, ihren Produkten, ihrer Gattung und darum auch den anderen Individuen entfremdet (4).  Die vollständige Aneignung des Wesens setzt folglich eine historische Entwicklung voraus, sodass der M.’sche Essenzialismus auch mit einer teleologischen Geschichtsphilosophie verknüpft ist, die hauptsächlich im dritten Manuskript skizziert wird. Darin umreißt M. Phasen des Übergangs von Kapitalismus zu Kommunismus, entwickelt Ansätze zu einer Theorie der Bedürfnisse (»Das Privateigentum hat uns so dumm und einseitig gemacht«), des Geldes und zu einer an Feuerbach orientierten Kritik der Hegel’schen Philosophie. – Durch die Veröffentlichung der Manuskripte in den 1930er Jahren ist in der Rezeption sofort der humanistische Impetus des M.’schen Denkens gegenüber der realsozialistischen Orthodoxie und Praxis geltend gemacht worden. Ob und inwiefern sich der spätere M. von den in den Manuskripten zum Ausdruck kommenden philosophischen Grundüber-



Marx: Thesen über Feuerbach 391

zeugungen gelöst hat, darüber herrscht nach wie vor große Uneinigkeit. A. Mohseni Ausgaben: M.-Engels-GA (MEGA), I.2, Erste Wiedergabe, 187–323, Bln. 1982. – Ökonomisch-philosophische Manuskripte, mit Komm. von M. Quante, Ffm. 2009. Literatur: H. Marcuse, Vernunft und Revolution, Ffm. 1989. – D. Brudney, M.’s Attempt to Leave Philosophy, Cambr. (Mass.) 1998. – L. Althusser, Für M., Ffm. 2011.

Thesen über Feuerbach entst. 1845 als Notiz u. d. T. 1. ad Feuerbach, EA Stgt.  1888 (postum).

Die elf Feuerbach-Thesen, die M. im Frühjahr 1845 verfasst hat, sind von Friedrich Engels nach M.ens Tod in einem von dessen Notizbüchern entdeckt und 1888 publiziert worden. Frei von Engels Modifikationen erscheinen sie erst 1925 im Marx-Engels-Archiv. – In stän­ diger Bezugnahme auf Feu­erbachs →  Das Wesen des Chris­tentums (1841) formuliert M. Notizen zu zentralen Fragen der Erkenntnistheorie, Anthropologie, Religionsphilosophie und der Sozialphilosophie. M. kri­tisiert jede bisherige materia­ lis­tische Weltanschauung für ihr Versäumnis, die Wirklichkeit nicht bloß als anzuschauen­

de, sondern auch als durch die Ak­tivität des Menschen stets in Ver­änderung begriffene aufzufassen. Der Idealismus dagegen fas­se diese »thätige Seite« der Wirk­ lichkeit ohne adäquaten Be­zug auf die konkreten gesellschaftlichen Verhältnisse. Insofern die Philosophie praktisch in­volvierter Teil dieser Verhältnisse ist, kann sie sich nicht prin­zipiell als Vordenkerin der Gesellschaft betrachten – hier formuliert M. Ansätze einer Edukationismus- und Avantgardismuskritik. An der Religionsphilosophie Feuerbachs kritisiert er die fehlende Konsequenz bei der Auflösung der Religion in ihre weltliche Grundlage: M. vermisst die Erklärung dafür, warum die Wirklichkeit sich von sich selbst absetzt, d. h. welche besonderen Verhältnisse dafür sorgen, dass eine jenseitige Welt angenommen wird. Re­ ligion auf das menschliche Wesen zurückzuführen, dürfe nicht bedeuten, sie in das Innere des einzelnen Subjekts zu verlagern, sondern fordere, sie aus dem jeweiligen »en­ semble der gesellschaftlichen Verhältnisse« zu erklären. Diese »Selbstzerissenheit« der Gesellschaft müsse verstanden und praktisch beseitigt werden. Da Feuerbach aber auf geschichtliche Prozesse nicht eingehe, sei er gezwungen, sich in seiner

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Marx: Thesen über Feuerbach

Auseinandersetzung mit dem menschlichen Wesen auf einen ab­strakten Gattungs­begriff und auf »isolirt« ­betrachtete Indivi­ duen zu beziehen. Dabei sei die­ses »abstrakte Individuum« selbst nur aus den spezifischen Ver­ hältnissen der kapitalistischen Gesellschaft er­ klärbar. M. iden­ tifiziert darum die Weltanschauung des »alten Materia­lis­mus« mit dem Standpunkt der bür­ gerlichen Gesellschaft, die die gegenseitige Isolation der In­ dividuen hervorbringt. Ent­ge­­genzusetzen ist, so pro­ klamiert M., ein neuer Materialis­mus, der keine Gesellschaft der Vereinzelten, sondern die ­»ge­sellschaftliche Menschheit« zum Ausdruck bringt. Seine In­sistenz auf ein Denken, das im Zusammenhang mit gesell­schaft­licher »Praxis« steht, mar­ kiert M. in der abschließenden  und weltberühmten elften The­ se: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden in­ter­ pretirt, es kömmt drauf an sie zu verändern.« – Die in fas­zi­ nierender Sprache notierten Be­ merkungen zu Feuerbach ha­ ben aufgrund der politischen Er­ eignisse des 20.  Jh.s ein im­menses Maß der Rezep­ tion hervorgerufen. In diesen Feuerbach-Thesen ist häufig die konzise Darstellung des M.’schen Gesamtwerks gesehen

worden; die gleichzeitige theo­ re­ tische Destruktion Lockes, Kants, Hegels und Feuerbachs; die Grundlage zu einer neuen »Philosophie der Praxis« (Labriola); die Dokumentation des end­ gültigen Übergangs von M.’ philosophischer Orientierung zu seiner Arbeit an der politischen Ökonomie. Der Be­kanntheitsgrad der Notizen zu Feuerbach und das ungeheu­ re Pathos, durch das sich ihre Rezeption auszeichnet, stehen allerdings im umgekehrten Ver­ hältnis zur Strenge der wissen­ schaftlichen Auseinandersetzung mit selbigen. A. Mohseni Ausgaben: M.-Engels-Werke (MEW), Bd.  3, 5–7, Bln. 1959. – M.-Engels-GA (MEGA), IV.3, 19–21, Bln. 1998. Literatur: H. Fleischer, Das Verändern interpretieren, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 2, 1995, 280–96. – D.  Brudney, M.’s Attempt to Leave Philosophy, Cambr. (Mass.) 1998, 227–267. – M.  Heinrich, Praxis und Fetischismus, in: C. Engemann u. a. (Hg.), Gesellschaft als Verkehrung, Fbg. 2004, 249–270.

John McDowell * 7. 3. 1942 in Boksburg (Südafrika); wichtiger Vertreter der ana­ lytischen Philosophie der Gegenwart, insbesondere der Erkenntnistheorie.



McDowell: Mind and World 393

dann, wenn wir den dem Denken zugänglichen Gehalt selbst als Bestandteil des »Raums der Gründe« (space of reasons), also Die aus den John Locke Lec­tures dem Bereich des Denkens, zuvon 1991 hervorgegangene ordnen. In diesem Fall droht Schrift enthält die Grundge- aber bereits der Fall auf das danken M.s zur zentralen er- zweite Horn des Dilemmas. kenntnistheoretischen Frage, Zum anderen nämlich führt wie sich denkende Wesen mit- die Konzentration auf den Behilfe von Begriffen auf eine von reich des Denkens zu einem ihnen denkunabhängige Welt Kohärentismus, der selbst keibeziehen können. Das Movens ne Reibung mit der Welt mehr für diese Fragestellungen bildet aufweist. Mit dieser Diagnose die These, dass viele der bishe- kritisiert M. erkenntnistheorerigen Verhältnisbestimmungen tische Positionen wie die von von Geist und Welt in ein phi- Donald Davidson und verweist losophisches Dilemma führen. auf ihr problematisches VerZum einen droht als erstes hältnis zur alltäglichen ErfahHorn ein Paradigma, das M. in rung. Beide Optionen, sowohl Anlehnung an Winfried Sellars der Mythos des Gegebenen als den »Mythos des Gegebenen« auch der idealistische Kohären(myth of the given) nennt. Mit tismus, stellen für M. unbefrieihm verbindet er die Tendenz, digende Lösungen dar. Um ein dass der Nexus zwischen Geist Changieren zwischen beiden und Welt durch einen nicht- Paradigmen zu vermeiden, begrifflichen Gehalt (z.  B. schlägt M. vor, das Wesen der Sinneswahrnehmungen) her- Erfahrung, die er mit Kant als gestellt wird, der dann vom Zusammenspiel von Begriffen Subjekt durch ein subjektives und Anschauungen versteht, Begriffschema zu interpretie- als grundsätzlich untrennbare ren ist. M. bestimmt diese Verbindung zwischen RezeptiVerhältnisbestimmung als pro- vität und Spontaneität zu verblematisch, da der so gegebe- stehen. Erfahrungen sind zum ne Gehalt nicht als normative einen passive Widerfahrnisse, Rechtfertigung unserer Über- die durch die Welt hervorgezeugungen dienen kann, son- rufen werden. Zum anderen dern allenfalls als Entschuldi- sind sie aber auch durch das gung (exculpation). Lösen lässt Denken geprägt, so dass sie sich diese Schwierigkeit nur ebenfalls zum Bereich der BeMind and World

(engl.; Geist und Welt), EA Cambr. (Mass.)/Ldn. 1994.

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McDowell: Mind and World

gründungen gehören. Diese Bestimmung erlaubt es nun, Erfahrungen als begründbare und begründungsfähige Überzeugungen anzusehen, in denen die denkunbhängige Welt selbst einen Beitrag leistet. Was M. damit im Kern anstrebt, ist ein an Aristoteles angelehnter Naturbegriff, in dem Vernunft und Welt zusammengedacht werden, um so den Dualismus zwischen Geist und Welt aufzulösen. Nach M. besteht mithin kein Grund, von einer ontologischen Trennung beider Bereiche auszugehen. Den strategischen Ausgangspunkt für M.s vorsichtige »Wiederverzauberung der Natur« bilden dabei die Konzepte der »zweiten Natur« (second nature) und der »Bildung«, die von ihm mit bewusster Bezugnahme auf Hegel und Gadamer interpretiert werden. Menschliche Subjekte sind zwar Wesen, die naturgegebene Anlagen besitzen, die aber im Laufe eines Sozialisations- und Bildungsprozesses aktualisiert werden und sie zu denkenden und intentional handelnden Wesen machen. Die Ausbildung einer so verstandenen zweiten Natur stellt für M. den kategorialen Rahmen dar, in dem zum einen die Integration der Spontaneität in den Bereich der Natur stattfinden kann und zugleich

der Bezug zwischen Geist und Welt unproblematisch bleibt. – Ohne Zweifel gehört Mind and World zu den einflussreichsten, aber auch schwierigsten Texten der neueren Analytischen Philosophie. M.s Schrift ist ein vielrezipiertes Prolegomenon, das in kreativer und origineller Weise mit der philosophischen Tradition umgeht und zahlreiche Ansatzpunkte zum Weiterdenken bietet. So haben in jüngerer Zeit neben seiner Exe­ gese des deutschen Idealismus speziell seine antiszientistische Naturauffassung und sein an Wittgenstein anschließender Quietismus besondere Aufmerksamkeit erfahren. M. Rüther Ausgaben: Cambr. (Mass.) 1996 (ergänzt um eine neue Einl.). – Dt., Ffm. 2001. Literatur: M. Willaschek (Hg.), Reason and Nature, Münster 2000. – N. H. Smith (Hg.), Reading M.: On Mind and World, Ldn. 2002. – S. M. Dingli, On Thinking and the World: J. M.’s Mind and World, Aldershot 2005.

George Herbert Mead *  27. 2. 1863 in South Hadley (Mass.), † 26. 4. 1931 in Chicago; Vertreter des Pragmatismus, durch die Grundlegung der Sozialpsychologie Schlüsselfigur der Chicagoer Schule der Soziologie.



Mead: Mind, Self, and Society 395

Mind, Self, and Society. From the Standpoint of a ­ Social ­Behaviorist

(engl.; Geist, Identität und Gesellschaft. Aus der Sicht des Sozialbehaviorismus), EA Chicago 1934.

Das Werk geht auf (vom Herausgeber C. Morris bearbeitete) Nachschriften der Vorlesung über Sozialpsychologie zurück, die M. jahrzehntelang regelmäßig an der University of Chicago hielt. – Es besteht aus vier Teilen. Im methodologischen Teil (»Der Standpunkt des Sozialbehaviorismus«) wird die Sichtweise des Behaviorismus eingeführt. Dabei verwendet M. diesen Begriff anders, als er sich in der Geschichte der Psychologie durchgesetzt hat. Er bezeichnet damit das Programm, von beobachtbaren Aktivitäten auszugehen, nicht aber, die innere Erfahrung der Individuen zu leugnen. Zudem betont M. den social act als eine ursprüngliche komplexe Gruppenaktivität, nicht als die Aggregation von Individual­ handlungen. – Der 2.  Teil (»Geist«) entwickelt im Dialog mit Darwin und Wundt den Gedanken, dass menschliche Kommunikation durch »signifikante Symbole« stattfinde. Damit bezeichnet M. die Fähigkeit des Menschen, auf die von ihm hervorgebrachten Ge-

bärden und Äußerungen selbst zu reagieren, und zwar in einer antizipatorischen und damit das mögliche Antwortverhalten des Handlungspartners innerlich repräsentierenden Weise. M. bestimmt als Grundzug spezifisch menschlicher Sozialität die Steuerung über gemeinsam verbindliche Muster wechselseitiger Verhaltenserwartungen. – Im 3. Teil (»Identität«) führt M. die Differenzierung der Persönlichkeitsinstanzen I, me und self ein. I bezeichnet eine aus dem konstitutionellen Antriebsüberschuss des Menschen hervorgehende Spontaneität und Kreativität. Me bezeichnet dagegen meine Vorstellung von dem Bild, das ein Partner von mir hat, oder – auf primitiverer Stufe – meine Verinnerlichung seiner Erwartungen an mich. Tritt die Person mehreren für sie bedeutsamen Bezugspersonen gegenüber, dann gewinnt sie nach M. mehrere unterschiedliche mes. Diese müssen, wenn konsistentes Verhalten möglich sein soll, zu einem einheitlichen Selbstbild synthetisiert werden. Gelingt dies, dann entsteht das self, die Ich-Identität als eine einheitliche und doch auf die Verständigung mit stufenweise immer mehr Partnern hin offene und flexible Selbstbewertung und Handlungsorientierung; zugleich entwickelt sich

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Merlau-Ponty: Phénoménologie de la perception

eine stabile, ihrer Bedürfnisse sichere Persönlichkeit. M. illus­ triert diese Entwicklung mit einer Theorie kindlicher Spielformen: von der imaginären Interaktion (play) zur Teilhabe an organisierten Gruppenspielen (game). – Im 4. Teil (»Gesellschaft«) liefert der Autor zunächst biologisches Material zu den Unterschieden zwischen der menschlichen Sozialität und der der Insekten und Wirbeltiere. Dann entwickelt er empirisch und normativ Ideen über eine universeller werdende Sozialität. Die Demokratie erscheint ihm dabei weltweit als beste Sozialform: Sie ist insofern in den Grundprinzipien der Sozialität des Menschen angelegt, als in der menschlichen Kommunikation ein formales Ideal des Diskurses enthalten ist, welches in demokratischen Institutionen auch annähernd realisiert werden kann. – Die unzuverlässige Textgestalt hat den Aufstieg des Werkes in den Kreis klassischer Schriften nicht verhindert. Es handelt sich um den Schlüsseltext einer anthropologischen Theorie menschlicher Kommunikation und Intersubjektivität. H. Joas Ausgabe: Dt., Ffm. 1968. Literatur: D. L. Miller, G. H. M. Self, Language, and the World, Austin (Tex.) 1973. – H.  Joas, Prak-

tische Intersubjektivität. Die Entwicklung des Werkes von G. H. M., Ffm. 1980; 32000. – H. Joas (Hg.), Das Problem der Intersubjektivität. Beiträge zum Werk G. H. M.s, Ffm. 1985. – G. A. Cook, G. H. M. The Making of a Social Pragmatist, Urbana (Ill.) 1993. – F. C. da Silva, M. and Modernity. Science, Selfhood, and Democratic Politics, Lanham (Md.) 2008.

Maurice Merleau-Ponty *  14. 3. 1908 Rochefort-sur-Mer, †  3. 5. 1961 Paris; Phänomenologe im Umfeld von Neokritizismus, Existenzialismus, Dialektik, Strukturalismus und Gestalttheorie.

Phénoménologie de la perception (frz.; Phänomenologie der Wahrnehmung), EA Paris 1945.

M.-P. versucht in Auseinandersetzung mit der Phänomenologie (Husserl, Heideg­ ger), der Gestaltpsychologie (K.  Goldstein, Binswanger, D.  Katz, E.  Straus), der Dia­ lektik (Hegel, Marx), dem Existenzialismus (Sartre) und dem französischen Neokritizismus bzw. Neokantianismus (Alain, Brunschvicg) das Verhältnis von Bewusstsein und Welt jenseits von Empirismus und Materialismus einerseits, Rationalismus und Idealismus andererseits neu zu bestim-



Merlau-Ponty: Phénoménologie de la perception 397

men. – Die einleitende Kritik am Sensualismus, Assoziationismus und der intellektualistischen Urteilslehre mündet in der These, dass in diesen Positionen die Welt als Tatsachenoder als Ideenkomplex bereits fertig vorliegt. Die Wahrnehmung bildet für M.-P. dagegen einen Zugang zur Wahrheit jenseits der prädikativen Unterscheidung von wahr und falsch. Als Initiation in die Wahrheit veranschaulicht die Wahrnehmung, wie sich Vernunft und Faktizität verbinden und unter kontingenten Bedingungen einen Sinn stiften, der einer Offenheit und Polyvalenz (Mehrwertigkeit) der Erfahrung  entstammt. – Im 1.  Hauptteil (»Le corps«) bestimmt M.-P. den Leib als »Vehikel des ZurWelt-Seins«. Der Leib ist nicht Gegenstand des Bewusstseins, sondern selbst Ausgangspunkt und Gesichtspunkt aller Wahrnehmung. Auch die Sprache wurzelt M.-P. zufolge in den intentionalen Ausdrucksmöglichkeiten des Leibes. – Im 2.  Teil (»Le monde perçu«) zieht M.-P. hieraus Konsequenzen für das Verständnis von Welt, die dem Leib nicht als Gegenstand gegenübersteht, sondern als Bezugspunkt aller Dimensionen gegenwärtig ist (Motorik, Kunst, Politik usw.). Die wahrgenommenen Gegen-

stände sind für M.-P. Konkretionen menschlicher Seinsmöglichkeiten, da sie überhaupt erst durch die Vermittlung des Leibes konstituiert werden, bevor sie zu Bedeutungsträgern für den Verstand werden können. Wahrnehmung kann so bestimmt werden als »Kommunikation oder Kommunion, Aufnahme und Vollendung einer fremden Intention in uns«. Dieser Begriff von Wahrnehmung erlaubt es M.-P., das Problem der Existenz des Anderen zu lösen. Der Andere kann für das Bewusstsein existieren, ohne sofort auf ein Objekt reduziert zu werden, das um sich herum seine eigene Welt von Objekten konstruiert. Beide bewegen sich intentional in der gleichen Welt; »in vollkommener Gegenseitigkeit sind wir füreinander Mitwirkende«. – Der 3.  Teil (»L’être-pour-soi et l’être-au-monde«) ist einer neuen Konzeption von Subjektivität gewidmet. Als Grund der Subjektivität wird das Paradox der Zeit freigelegt, da die Zeitlichkeit der Existenz das Bewusstsein begrenzt und die Freiheit konkreten Bedingungen unterstellt. Gleichwohl erlaubt die Zeitlichkeit nach M.P. eine Transzendenz der gegebenen Situation durch einen schöpferischen Ausdruck. Das letzte Kapitel (»La liberté«) ent-

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Mill: On Liberty

hält hieran anknüpfend Überlegungen zu revolutionären Bewegungen, die er mit künstlerischen Aktionen parallelisiert. Erst hier zeigt sich der Zusammenhang der Phénoménologie de la perception mit M.-P.s politischem Engage­ment und seiner in den folgenden Jahren in Les Temps modernes vertretenen politischen Theorie. – M.-P. modifizierte die Phänomenologie der Wahrnehmung in seinem Spätwerk Das Sichtbare und das Unsichtbare (1964) zu einer Ontologie des Sehens und des Denkens. – In allen Bereichen der Kunst (Literatur- und Theaterwissenschaften, Tanztheorie, Architektur, Medien- und Bildtheorie usw.), den Kultur- und Sozial­ wissenschaften oder auch der medizinischen Psychotherapie und den Neurowissenschaften spielt M.-P. insbesondere durch seine Theorie von Leiblichkeit, Wahrnehmung und Räumlichkeit eine teilweise beträchtliche Rolle. A. Kapust Ausgaben: Dt., Bln.  1966. – Engl., Phenomenology of Perception, Ldn./NY 2012. Literatur: R. Barbaras, Le tournant de l’expérience. Recherches sur la philosophie de M.-P., Paris 1998. – A.  Kapust, Berührung ohne Berührung. Ethik und Ontologie bei M.-P. und Levinas, Mchn. 1999.

– A.  Kapust/B.  Waldenfels (Hg.), Kunst. Bild. Wahrnehmung. Blick. M.-P. zum Hundertsten, Mchn. 2010.

John Stuart Mill * 20. 5. 1806 London, † 8. 5. 1873 Avignon; klassischer Vertreter des Empirismus, des Liberalismus und des Utilitarismus.

On Liberty (engl.; Über die Freiheit), EA Ldn. 1859.

M.s sozial- und rechtsphi­ losophisches Hauptwerk ist die klassische Verteidigung des Rechts eines jeden Individuums, seine Überzeugungen frei zu bilden und das eigene Le­ ben nach diesen Überzeugungen frei zu gestalten. Der darin ­enthaltene radikale Rechtsli­beralismus wendet sich gegen jede Form des Fundamentalismus, aber auch gegen eine »Tyrannei der Mehrheit« (Tocqueville), die das von manchen Gesellschaftsreformern (etwa Comte) betonte Staatswohl über das Selbstbestimmungsrecht des einzelnen Bürgers stellt. M. will aber dennoch das utilitaristische Grundprinzip des »größten Glücks der größten Zahl« als alleinige Rechtfertigung für die Förderung von Originalität



Mill: On Liberty 399

und individualistischer Vielfalt zulassen. Dadurch ergeben sich notorische Konsistenzprobleme. Wenn man M.s Widmung ernst nimmt, in der er Harriet Taylor einen wesentlichen Anteil an der Autorschaft des Werks zuschreibt, liegt es nahe, zwei Argumentationsstränge zu unterscheiden: die Theorie einer Liberalistin und die Theo­ rie eines Utilitaristen. – M.s radikaler Empirismus in der theoretischen Philosophie (der sogar die Grundlagen der Mathematik betrifft) ist relevant für seine progressive Position in der praktischen Philosophie: Die rationalistische Berufung auf Intuitionen verhindert M. zufolge eine intersubjektive Überprüfung der Erkenntnisansprüche und kann daher schädlichen Vorurteilen in Moral, Politik und Religion eine scheinbare Stütze geben. – M. verteidigt zunächst ausführlich die Meinungsfreiheit, deren Rechtfertigung er analog auf die Verteidigung der Freiheit der persönlichen Lebensgestaltung übertragen will. Dabei geht es M. um den normativen Grundsatz, »dass der einzige Zweck, um dessentwillen man Zwang gegen den Willen eines Mitglieds einer zivilisierten Gemeinschaft rechtmäßig ausüben darf, der ist: die Schädigung anderer zu verhüten«. Er

will darüber hinaus dem Staat lediglich das Recht einräumen, sicherzustellen, dass der Einzelne seine Handlungsentscheidungen wohlinformiert und wohlüberlegt trifft. Auch soziale Rahmenbedingungen sind notwendig für wirkliche Selbstbestimmung; M. ist kein Wirtschaftsliberalist. – Moderne Rechtsliberalisten wie J.  Feinberg zeigen, dass M.s Ablehnung des Rechtsmoralismus und des Rechtspaternalismus auch ohne Bezugnahme auf utilitaristische Erwägungen begründet werden kann. Aktuelle Anwendungen betreffen z. B. die Frage, ob das Strafrecht Pornographie, Homosexualität, harte Drogen oder Sterbehilfe zulassen sollte. B. Gräfrath Ausgaben: Collected Works of J. S. M., Bd.  18, Hg.: J. M. Robson, Toronto 1977. – Engl./dt., Hg.: B. Gräfrath, Stgt. 2009. Literatur: G. Himmelfarb, On Liberty and Liberalism: The Case of J. S. M., NY 1974 (ND San Francisco 1990). – J.  Feinberg, The Moral Limits of the Criminal Law (4 Bde.), Oxfd./NY 1984–88. – B.  Gräfrath, J. S. M.: »Über die Freiheit«: Ein einführender Komm., Paderborn u. a. 1992.

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Mill: Utilitarianism

Utilitarianism (engl.; Der Utilitarismus), zunächst EV als dreiteiliger Zeitschriftenaufsatz in Frazer’s Magazine 1861; EA Ldn. 1863.

Das als eine Verteidigungsschrift konzipierte Werk gilt neben Benthams →  An Intro­ duction to the Principles of Mor­als and Legislation (1789) als das Hauptwerk der klassischen utilitaristischen Ethik. – M. entwickelt in dieser Abhandlung den Utilitarismus Benthams in zwei Punkten wei­ ter: Zum einen bestimmt er das ›Glück‹, das nach dem ­Nützlichkeitsprinzip maximiert wer­den soll, nicht rein hedonistisch, sondern berücksichtigt bei der Kalkulation neben der Quantität auch die Qualität einer Lustempfindung. Zum anderen glaubt er, Prinzipien der Verteilungsgerechtigkeit aus dem Prinzip des »größten Glücks der größten Zahl« ableiten zu können. In beiden Punkten will M. unseren grundlegenden Überzeugungen besser entsprechen als die Theorie Benthams. Hierdurch entstehen allerdings systematische Konsistenzprobleme. So gilt etwa die in den 1950erJahren entwickelte Theorie des Regelutilitarismus, die sich auf M. beruft, heute als gescheitert, weil sich Gerechtigkeitsprinzi-

pien nicht auf Nützlichkeitserwägungen reduzieren lassen und deshalb auch in Konflikt mit diesen geraten können. – M.s Begründungsversuch des utilitaristischen Grundprinzips brachte ihm den Vorwurf eines »naturalistischen Fehlschlusses« (G. E. Moore) ein, weil er angeblich die Doppeldeutigkeit des Wortes desirable dazu benutzt, einen logischen Schluss vom Begehrbaren auf das Begehrenswerte zu ziehen. Allerdings zeigen das letzte Kapitel von M.s System of Log­ ic, Ratiocinative and Inductive (1843) sowie M.s Essay Nature (verfasst 1853/54), dass er sehr genau zwischen Sein und Sollen unterscheidet. Eine wohlwollendere Deutung der desirable-Passage würde deshalb M. nicht den Anspruch einer logischen Ableitung zuschreiben, sondern den pragmatischrelevanten Punkt hervorheben, dass jede Diskussion über das intersubjektiv Wünschenswerte von den tatsächlich feststell­ baren Präferenzen aller Betroffenen ihren Ausgang nehmen muss. – Der später entwickelte ›Präferenz-Utilitarismus‹ ist allerdings eher eine Alternative zu M.s klassischem Utilitarismus: Dann geht es nicht mehr um die Erreichung des Glücks, sondern um die Erfüllung von Wünschen, unabhängig von



Montaigne: Essais 401

dem Ausmaß an Glück, das dadurch hervorgebracht wird. Gerechtigkeitsprobleme ergeben sich aber auch dann noch, denn nicht alle Interessen können vollständig befriedigt werden. B. Gräfrath Ausgaben: Collected Works of J. S. M., Bd.  10, Hg.: J. M. Robson, Toronto 1969. – Engl./dt., Hg.: D. Birnbacher, Stgt. 2006. Literatur: N. Rescher, Distributive Justice: A Constructive Critique of the Utilitarian Theory of Dis­ tribution, Indianapolis 1966 (ND Washington, D. C. 1982). – J.-C. Wolf, J.  S. M.s »Utilitarismus«: Ein kritischer Komm., Fbg./Mchn. 1992. – D. Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, Bln./NY 2003.

Michel Eyquem de Montaigne * 28. 2. 1533 auf Schloss Montai­ gne (bei Bordeaux), †  13. 9. 1592 auf Schloss Montaigne; bedeutender französischer Humanist.

Essais (franz.; Versuche/Essays), EA Bordeaux 1580.

M.s Sammlung von Essays kann ebenso als philosophischer wie auch als literarischer Klassiker gelten. Mit der Arbeit an dem Werk beginnt M. in den Jahren 1571/72, als er sich

von seinen öffentlichen Ämtern vorerst in den Turm seines Schlosses zurückzieht und seine Zeit der Reflexion über verschiedenste Fragen, v. a. aber über sich selbst, widmet. Im Jahr 1580 veröffentlicht M. die beiden ersten Bände, nach weiteren Auflagen erscheint 1588 eine vierte, um einen weiteren Band und Zusätze erweiterte Auflage. Grundlage moderner Übersetzungen ist M.s mit zahlreichen Kommentaren versehenes Handexemplar dieser Ausgabe, das sog. Exemplaire de Bordeaux. – In den Essays, deren Struktur keiner übergeordneten Systematik folgt und die M. als »zusammenhangloses Flickwerk« bezeichnet, werden Themen unterschiedlichster Natur behandelt. »Ich selbst, Leser«, so formuliert es M. im Vorwort, »bin also der Inhalt meines Buches«, aber die Reflexionen, die in diesen Prozess der Selbstbetrachtung eingebettet werden, umfassen die Behandlung von Fragen aus verschiedenen Bereichen und beziehen M.s eigene Erfahrungen ebenso ein wie den reichen Schatz der Geschichte und Literatur. Die Fragen, die in dem von M. geprägten Stil des Essays thematisiert werden, reichen von der Behandlung der Leidenschaften über Themen wie Kriegsführung,

402

Montaigne: Essais

Müßiggang, Lüge, Standhaftigkeit, Eitelkeit, Furcht, Glück, Erziehung, Erfahrung, Ruhm, Gewissensfreiheit, Gesprächsund Diskussionskunst bis zum Phänomen der »Menschenfresser«, und dies ist nur ein kleiner Einblick in die Themen der insgesamt 107 Texte, die in den Essays versammelt sind. Sehr berühmt sind insbesondere die Essais Philosophieren heißt sterben lernen oder Über die Freundschaft, in denen besonders deutlich wird, dass die Philosophie M.s, der hier in der Tradition der stoischen Philosophie steht, insbesondere an lebenspraktischen Fragen interessiert ist. Zugleich ist M., dessen gesamte Philosophie sich in den Essays findet, ein wichtiger Vertreter des Renaissance-Humanismus, was sich inhaltlich etwa an der Unterstützung der Ideen von Freiheit, Toleranz und Differenz ebenso wie in der Form seiner Texte in der Behandlung zahlreicher historischer Themen und in der breiten Rezeption und Diskussion literarischer Klassiker zeigt. – M.s Denken, das besonders auf das Ausräumen von Vorurteilen zielt, ist durch einen Skeptizismus geprägt, der das eigene Urteilen und die eigene Urteilsfähigkeit immer wieder infrage stellt. Verbunden damit ist ein ›Relativismus‹, der gerade mit

Blick auf Gewohnheiten und Sitten verschiedener Kulturen die Probleme von Vorstellungen der Überlegenheit der je eigenen Kultur thematisiert und durch das Aufzeigen unterschiedlicher Gewohnheiten und Sitten einen kritischen Blick auf die eigenen erzeugt. – Das Werk hat innerhalb und außerhalb der Philosophie eine breite Rezeption erfahren. M.s Skeptizismus beeinflusste die Arbeiten Descartes’ und Pascals, sein Denken beeinflusste aber auch Philosophen wie Diderot, Rousseau und Hume. Einen starken Einfluss auf die deutsche Philosophie übte M. etwa durch die Rezeption durch Nietzsche aus. Gegenwärtige philosophische Diskussionen finden Inspiration bei M. in der Ausarbeitung einer Konzeption des Selbst, aber auch in Diskussionen über Postmodernismus, Pragmatismus und Liberalismus. S. Laukötter Ausgaben: Œuvres complètes, Hg.: A.  Thibaudet/M.  Rat, Paris 1962. – Essais, Ü.: H. Stilett, Mchn. 2011. Literatur: A.  Hartle, M. de M.: Accidental Philosopher, Cambr. 2003. – U. Langer (Hg.), The Cambridge Companion to M., Cambr. 2005. – H. Stilett, Von der Lust auf dieser Erde zu wandeln. Wanderungen durch M.s Welten, Ffm. 2008.



Montesquieu: De L’Esprit des Loix 403

Charles Louis de Secondat, Baron de La Brède et de Montesquieu *  18. 1. 1689 in La Brède (bei Bordeaux), †  10. 2. 1755 in Paris; bedeutender Staatstheoretiker der Aufklärung, Theoretiker der Gewaltenteilung.

De L’Esprit des Loix ou du rapport que les Loix doivent avoir avec la Constitution de chaque Gouvernement, les Mœurs, le Climat, la Religion, le Commerce, etc.

(franz.; Vom Geist der Gesetze), EA Genf 1748.

Die Schrift, die über einen Zeitraum von 20 Jahren entstanden ist und 31 Bücher mit zahlreichen Unterkapiteln umfasst, ist ein Klassi­ker der Staatsphilosophie und das Hauptwerk M.s. Er entwickelt darin seine bald nach der Veröffentlichung indizierte Staatslehre auf der Grundlage einer vergleichenden Analyse politischer Ordnungen. Dabei geht es ihm nicht vorrangig um den Entwurf und die Begründung eines Staatsmodells; vielmehr beschreibt der Jurist verschiedene Staatsformen,  die er vorfindet, mit Blick auf deren Gesetze und Prinzipien. Dabei geht M. auch auf Fragen der Ökonomie und der Reli­ gion ein. Nach Auffassung M.s

entspricht »die Regierungsform […] am besten der Natur, deren Eigenart dem Wesen des betreffenden Volkes am meisten angepaßt ist«, denn die Menschen werden von verschiedenen Dingen wie Klima, Religion, Gesetzen oder Vorbildern der Vergangenheit regiert, wodurch wiederum die Verfassungen beeinflusst werden. Es sind diese verschiedenen Elemente, aus denen sich der Gemeingeist eines Volkes (es­ prit général) bildet. – M. unterscheidet zwischen der republikanischen, der monarchischen und der despotischen Regierungsform, von denen sich die republikanische je nach Zahl der Regierenden in Demokratie und Aristokratie einteilen lässt. Die Natur der republikanischen Regierungsform liegt darin, dass das Volk (in der Demokratie) oder ein Teil desselben (in der Aristokratie) die souveräne Gewalt besitzt. Monarchie und Despotie werden dagegen durch einen Einzelnen regiert, der in Ersterer nach Gesetzen herrscht, in Letzterer aber »ohne Gesetz alles nach seinem Willen und seinen Launen lenkt«. Prinzipien, nach denen die verschiedenen Regierungsformen funktionieren, sind in der Republik die Tugend, in der Monarchie die Ehre und in der Despotie, die

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Montesquieu: De L’Esprit des Loix

M. massiv ablehnt und kritisiert, die Furcht. – Von besonderer Bedeutung für die moderne Verfassungsgeschichte ist M.s Idee der Gewaltenteilung, die von der Erfahrung ausgeht, dass der Mensch dort, wo er Macht hat, dazu neigt, diese zu missbrauchen, weshalb die »Macht der Macht Schranken setzen« muss. Diese Idee arbeitet M. v. a. in der Analyse des Machtgleichgewichts in der englischen Verfassung heraus. Gegen die Despotie formuliert M. eine Konzeption der politischen Freiheit, die an den Gedanken der wechselseitigen Kontrolle der Gewalten geknüpft ist: »Politische Freiheit findet sich nur in gemäßigten Regierungsformen. Aber sie ist nicht immer in den gemäßigten Staaten vorhanden. Sie findet sich dort nur dann, wenn man die Macht nicht mißbraucht.« Um einen solchen Missbrauch der Macht möglichst auszuschließen, sind die Vollmachten im Staat aufzuteilen in legislative, exekutive und richterliche Gewalt, die sich wechselseitig begrenzen. – Die Wirkung der Schrift ist sowohl im Bereich der Staatstheorie als auch der Politik enorm. Historisch spielte sie eine wichtige Rolle bei der Gründung der amerikanischen Republik und der Formulierung der ameri-

kanischen Verfassung sowie der französischen Verfassung von 1791 wie auch bei jüngeren Formulierungen moderner Verfassungen. Zudem spielt M.s Denken auch für ganz unterschiedliche Autoren und Politiker von Rousseau und Robespierre über Denker wie Herder und Hegel, die an den Gedanken des esprit général anknüpfen, Auguste Comte, Alexis de Tocqueville, Émile Durkheim, Max Weber und Hannah Arendt bis hin zur neueren Soziologie und zur gegenwärtigen philosophischen Diskussion über den Republikanismus eine bedeutende Rolle. S. Laukötter Ausgaben: In: Œuvres complètes, Bd. I, Hg.:. A. Masson, Paris 1950. – Dt., Ü. und Hg.: E. Forsthoff, 2 Bde., Tbg. 21992. – Engl., The Spirit of the Laws, Ü. und Hg.: A. M. Cohler/B. C. Miller/H. S. Stone, Cambr. 1989. Literatur: T. Pangle, M.’s Philoso­ phy of Liberalism: A Commentary on ›The Spirit of the Laws‹, Chicago 1973. – J. Shklar, M., Oxfd. 1987. – M.  Hereth, M. zur Einführung, Hbg. 1995. – M.  Hereth, M., Vom Geist der Gesetze (1748), in: M.  Brocker (Hg.), Geschichte des politischen Denkens. Ein Handbuch, Ffm. 2007, 273–287.



Moore: Principia Ethica 405

George Edward Moore *  4. 11. 1873 in London, †  24. 11. 1958 in Cambridge; Gründungsfigur der analytischen Philosophie.

Principia Ethica (engl.), EA Ldn./NY 1903.

Principia Ethica gilt als einer der Klassiker der praktischen Philosophie im 20. Jh. Insbesondere Ms. methodisches Vorgehen, sprachliche Analysen mit sachbezogenen Begründungen zu verknüpfen, wurde wegweisend für die Entwicklung der analytischen Ethik und Metaethik. M. versteht die Ethik nicht als beschränkt auf Fragen, die sich mit menschlichen Handlungen beschäftigen, etwa die Fragen danach, was wir tun sollen oder aber warum wir eher die Handlung x anstatt die Handlung y ausführen sollten, sondern als »general enquiry into what is good«. Zum einen meint M., es sei ein klassisches Ziel der Ethik, den Ausdruck ›gut‹ zu definieren; darüber hinaus habe man es mit der Frage zu tun, welche Entitäten um ihrer selbst willen existieren sollten, und erst dann mit der Frage, welche Handlungen wir ausführen sollten. Die Handlungen sind dabei so bestimmt, dass sie keinen intrinsischen Wert haben, wir aber durch diese zu den En-

titäten beitragen können, die um ihrer selbst willen existieren sollen. Das Werk besteht aus sechs längeren Kapiteln. Zunächst bestimmt M. den Gegenstand der Ethik und entfaltet seine metaethische Analyse des Ausdrucks ›gut‹. Besondere Aufmerksamkeit widmet M. dabei seiner These, es sei eine unmögliche Aufgabe ›gut‹ zu bestimmen. M. hält ›gut‹ für eine einfache, undefinierbare nicht-natürliche Eigenschaft, deren Bedeutung sich nicht definitorisch durch die Reduktion auf einen alternativen und uns bereits bekannten Ausdruck explizieren lasse, wie etwa durch die Definition: ››gut‹ ist identisch mit ›verschafft Lust‹‹. Alle Definitionsversuche sind zum Scheitern verurteilt, da wir uns mit ›gut‹ auf etwas beziehen, das durch keinen anderen Ausdruck adäquat erfasst werden kann. M. vergleicht die Eigenschaften von ›gut‹ mit denen des Ausdrucks ›gelb‹, der gleichfalls nicht durch andersartige Begriffe substituiert werden kann. Zentral sind insbesondere zwei Argumente für seine These bezüglich des Ausdrucks ›gut‹. Zum einen der sog. naturalistic fallacy, dessen man sich schuldig macht, wenn man (i) den Ausdruck ›gut‹ definiert und damit dessen eigenständige und irreduzible Be-

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Moore: Principia Ethica

deutung auflöst bzw. (ii) ›gut‹ mit einer Eigenschaft identifiziert, auf die wir ohne den Ausdruck ›gut‹ Bezug nehmen können oder aber (iii) ›gut‹ als eine bestimmte natürliche oder eine bestimmte metaphysische Eigenschaft festlegt. Zum anderen verwendet M. das open question-Argument: Bei jedem Prädikat p, mit dem jemand versucht, ›gut‹ zu definieren, kann man als offene Frage formulieren: x ist p, aber ist x auch gut? Dass diese Frage offen bleibt, d. h. nicht abschließend beantwortet werden kann, zeigt das Scheitern solcher Defini­ tionsversuche und damit die Untilgbarkeit des Ausdrucks ›gut‹ aus unseren moralischen Sprachspielen. Als nicht-natürliche bzw. metaphysische fasst M. alle die Eigenschaften auf, die wir uns nicht losgelöst von einem Objekt vorstellen können. Alle Eigenschaften, bei denen wir dies leisten können, sind hingegen natürliche Eigenschaften, die als solche in den Gegenstandsbereich der Naturwissenschaften und der Psychologie fallen. – In den Kapiteln 2 und 3 verteidigt M. seinen Ansatz gegen naturalistische (Kap. II) und hedonistische (Kap. III) ethische Ansätze, wobei das Begehen des naturalistischen Fehlschlusses M.s zentralen Angriffspunkt bildet.

Im vierten Kapitel sucht M. die Fehlerhaftigkeit von metaphysischen Ansätzen nachzuweisen, die ›gut‹ mit einer spezifischen nicht-natürlichen Eigenschaft identifizieren wollen. Im fünften Kapitel entwickelt er seine an utilitaristische Lösungsmodelle angelegte  Antwort auf die Frage danach, welche Handlungen gut sind. Im letzten Kapitel werden die Gegenstände identifiziert, von denen M. meint, dass sie die höchsten intrinsischen Güter bzw. Übel darstellen. – M.s ethisches Hauptwerk entfaltete eine breite Wirkung insbesondere in der Debatte um den moralischen Realismus und ist als negativer wie als positiver Bezugspunkt nach wie vor ein zentraler Beitrag von aktueller Bedeutung. T. Rojek Ausgaben: Mineola (NY) 2004. – Dt., Stgt. 1992. Literatur: B. Hutchinson, G. E. M.’s Ethical Theory: Resistance and Reconciliation, Cambr. 2001.

Thomas Morus (engl. Sir Thomas More), *  7. 2.  1477/78 in London, †  6. 7. 1535 in London; Staatsmann und humanistischer Schriftsteller, kann als Begründer der utopischen Literatur bezeichnet werden.



Morus: Utopia 407

De optimo reip.[ublicae] sta­ tu, deque nova insula Utopia (lat.; Von der besten Staatsverfassung und von der neuen Insel Utopia), EA Löwen 1516 u. d. T. Libellus vere aureus nec minus salutaris quam festivus de optimo reip. statu ….

Der staatsphilosophische Dia­ log Utopia dreht sich um die Frage, wie Moral und Politik zusammenwirken können. – Das Werk besteht aus zwei Büchern, die in kontrastie­ render Beziehung zueinander stehen: Im 1.  Buch wird die aktuelle Lage Englands beschrieben: ständige Kriege, wachsende Steuerlast und daraus resultierende Verarmung der Bevölkerung, Kriminalität, Hunger und Elend. Dem steht der Bericht des Weltreisenden Raphael Hythlodaeus über die Insel Utopia gegenüber, die durch gesteigerte Produktivität, gefestigte Sozialstrukturen und ein stabiles Wertesystem gekennzeichnet ist. Verbindungsglieder beider Bücher sind die Rückführung der englischen Verhältnisse auf die Existenz des Privateigentums, die Zweifel an der Funktionsfähigkeit einer Gesellschaft ohne Privateigentum und der daraufhin gegebene Bericht des Reisenden vom Leben der Utopier. In der Forschung gilt als gesichert, dass M. zunächst

den 2.  Teil, den Bericht über Utopia, und anschließend erst die Sozial­ kritik an den eng­ lischen Verhältnissen verfasst hat. Charakteristisch für das Werk ist die  komplexe Beziehung zwischen ernst gemeinten Über­ legungen und ironischer Distanz, didaktischer Satire und humanistischer Rhetorik, die zur Folge hat, dass von ­einzelnen Aussagen nicht ohne Weiteres auf die Überzeugung des Autors geschlossen werden kann. In starker Anlehnung an  das in Platons →  Politeia entwickelte Paradigma des besten Staates wird das von Platon als zumindest möglich Behauptete von M. als real fingiert. Dabei  bedient M. sich des nach der Entdeckung Amerikas beliebten Genres des Reiseberichts. Unverkennbar wendet er sich in der Beschreibung der utopischen Subsistenz­ wirtschaft gegen die Dynamik des europäischen Handelskapitalismus, bei der Subsistenz­ orientierung durch Akkumulation ersetzt wird. Das Werk, das der Gattung der Utopie den Namen gegeben hat, steht am Anfang der utopischen Literatur der Neuzeit und ­ hat  insbesondere Campanellas →  Civitas solis (1602/23) und F. Bacons New Atlantis (1627) beeinflusst. H. Münkler

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Nagel: The Structure of Science

Ausgaben: Lat., Utopia, Hg.: E.  Surtz, New Haven/Ldn. 1964. – Dt., Utopia, Ü.: G. Ritter, Einl.: H. Oncken [1922], Drmst. 1979. Literatur: T. Nipperdey, Die Utopia des T.  M. und der Beginn der Neuzeit, in: ders., Reformation, Revolution, Utopie, Gttgn. 1975, 113–146. – J. C. Davis, Utopia and the Ideal Society. A Study of Eng­ lish Utopian Writing, 1516–1700, Cambr. 1989. – R.  Saage, Utopische Profile, Bd. 1, Münster 2001, 71–93.

Ernest Nagel * 16. 11. 1901 in Nové Mesto (Slo­ wakei), † 20. 9. 1985 in New York; US-amerikanischer Philosoph und Wissenschaftstheoretiker.

The Structure of Science. Problems in the Logic of Scientific Explanation EA NY 1961.

In seinem Hauptwerk entwickelt N., ausgehend von einer Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Common Sense, eine umfangreiche und vielschichtige Analyse der Logik wissenschaftlicher Erklärungen. Hierbei ist er insbesondere darum bemüht, neben naturwissenschaftlich-mathematischen Disziplinen auch die Sozial- und Geschichtswissenschaften in seine Überlegun­gen mit einzubinden. – Das Ziel der

Wissenschaft besteht laut N. darin, Wissen auf der Grund­ lage systematischer Erklärungen zu organisieren und zu klassifizieren. Vier unterschiedliche Erklärungsmodelle seien zu unterscheiden, die in den Wissenschaften zum Tragen kommen: (1)  deduktiv-nomologische, (2)  pro­babilistische, (3)  funktionalistische/teleologische und (4)  genetische, die auf die historische Entwicklung der zu erklärenden Phänomene Bezug nehmen. Im Rahmen einer detaillierten Untersuchung der Natur und der Reichweite dieser Modelle berührt N. ein breites Themenspektrum: Neben generellen Fragen nach dem Wesen von Gesetzen oder dem epistemischen Status von Theorien greift er auch zahlreiche Themen aus der Wissenschaftstheorie der Einzelwissenschaften auf, u. a. zu den Grundlagen der Physik und zur Unterscheidung zwischen Verstehen und Erklären in den Geistes- und Sozialwissenschaften. N.s wissenschaftstheo­ retische Perspektive ist hierbei we­sentlich durch den logischen Empirismus, aber auch durch den Amerikanischen Pragmatismus geprägt. – N. führt die Unterscheidung zwischen experimentellen Gesetzen  und Theorien ein, die mit der Gegenüberstellung von Beobach-



Nagel: The Structure of Science 409

tungsbegriffen und theoretischen Begriffen einhergeht. Während sich experimentelle Gesetze auf in einem weiten Sinne beobachtbare Entitäten beziehen, enthalten Theorien ein umfassenderes System von Erklärungen, das auch abstrakte Entitäten wie Elektronen oder Gene mit einschließt. N. zufolge sind Theorien durch drei Komponenten gekennzeichnet: (1)  durch einen ab­ strakten Kalkül, der das Gerüst der Theorie bildet und die grundlegenden Begriffe festlegt, (2)  durch ein Regelwerk, das dem Kalkül einen empirischen Gehalt zuordnet, indem es ihn auf das aus Beobachtung und Experiment stammende, konkrete Material bezieht, und (3) durch ein Modell (bzw. eine Interpretation) des Kalküls, welches das Gerüst mit weiteren konzeptuellen oder visualisierbaren Mitteln anreichert. N.s Unterscheidung ist auf unterschiedliche Kritik gestoßen; Feyerabend wandte etwa unter Bezugnahme auf die Theoriebeladenheit der Beobachtung ein, dass die von N. angenommene Bedeutungsinvarianz der Beobachtungsbegriffe gegenüber Theorien unhaltbar ist. – Zu den wirkungsmächtigsten Kapiteln gehört das über die Theorienreduktion. Ausgehend von der konstatierten Rück-

führung der Thermodynamik auf die statistische Mechanik entwickelt N. ein vielschichtiges Reduktionsmodell, das in der Wissenschaftstheorie überwiegend als Standardmodell der Reduktion rezipiert wird. N. versteht unter der Reduk­ tion einer (reduzierten) Theorie T1 auf eine (reduzierende) ursprünglich auf einen anderen Gegenstandsbereich bezogene Theorie T2 eine Erklärung von T1 durch T2. Der hierbei verwendete Erklärungsbegriff ist auf das deduktiv-nomologische Modell bezogen, d. h. Reduzierbarkeit bedeutet für N. im Wesentlichen logische Deduzierbarkeit. – N. unterscheidet homogene von heterogenen Reduktionen. Erstere sind lediglich als Ausweitung oder Fortführung von reduzierten Theorien zu verstehen, wobei die in beiden Theorien verwendeten Begriffssysteme überwiegend identisch sind. Bei heterogenen Reduktionen tritt mindestens ein deskriptives Prädikat in T1 auf, das nicht in T2 enthalten ist. N. diskutiert ausführlich die Anforderungen, die an heterogene Reduktion gestellt werden sollten, u. a. die beiden formalen Bedingungen der Verknüpfbarkeit und der Ableitbarkeit. Auf Nagels Forderung nach sog. Verknüpfungsregeln wird in der Lite-

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Nagel: Equality and Partiality

ratur oft mit dem Begriff des Brückengesetzes Bezug genommen. Einwände gegen N.s Reduktionstheorie beziehen sich häufig auf das von Feyerabend und Kuhn entwickelte Konzept der Inkommensurabilität und die damit verbundene Behauptung, dass sich inkommensurable Theorien einer Reduktion im Sinne N.s entziehen. E.-M. Jung Literatur: A. Grünbaum, Discussion: The Structure of Science, in: Philosophy of Science 29(3), 1962, 294–305. – P.  Feyerabend, Review of »The Structure of ­Science«, in: British Journal for the Philosophy of Science 17 (3), 1966, 237–249. – S.  Morgenbesser u. a. (Hg.), Philoso­ phy, Science, and Method. Essays in Honor of E.  N., NY 1969. – P.  Suppes, E.  N., in: S. Sarkar/J. Pfeifer (Hg.), The Philosophy of Science: An Encyclopedia, Bd. 2, NY 2006, 491–496.

Thomas Nagel * 4. 7. 1933 in Belgrad; bekannt für seine Beiträge zur Philosophie des Geistes, zur Ethik und zur Metaphysik.

Equality and Partiality (engl.; Eine Abhandlung über Gleichheit und Parteilichkeit), EA NY 1991.

N.s Abhandlung über Gleichheit und Parteilichkeit nimmt

eine Unterscheidung aus → The View from Nowhere auf und überträgt die mit ihr verbundenen Einsichten auf die seiner Ansicht nach zentrale Frage der politischen Philosophie. Wie analog in anderen Fragen der Philosophie geht es N. um die Vermittlung und Versöhnung eines unpersönlichen mit einem persönlichen Standpunkt, im Fall der politischen Philosophie eines gemeinschaftlichen mit einem individuellen Standpunkt. Die Unterscheidung dieser beiden Standpunkte gründet sich auf das Vermögen einer jeden Person, neben ihrem eigenen Blick auf die Welt, der verbunden ist mit ihren jeweiligen Ansichten, Beziehungen und Projekten, gleichzeitig eine Perspektive auf die Welt einzunehmen, in der sie ausblendet, welche Position sie selbst einnimmt und in der sie gleichzeitig alle Positio­nen in den Blick nimmt. – N. stellt sich dieser Vermittlung nicht in Form einer Opposition von unparteilichen Institutionen einerseits und parteilichen Individuen andererseits. Es geht ihm vielmehr darum, eine politische Theorie zu entwickeln, die eine Aufspaltung beider Perspektiven sowohl innerhalb gesellschaftlicher Institutionen als auch innerhalb von Personen vermeidet. Demnach sind



Nagel: Equality and Partiality 411

diese Perspektiven nicht in eine moralische und eine außermoralische zu unterschei­den, sondern ihre Vermittlung ist selbst eine Aufgabe, die innerhalb der Moral liegt. Die Unterscheidung beider Perspektiven ist Ausgangspunkt von N.s Argumenten zu Debatten der Verteilungsgerechtigkeit,  der Chancengleichheit, zu Grundrechten und Toleranz. In all diesen Fragen will N. sowohl politischen Utopismus als auch die bloße Anpassung an vorherrschende gesellschaftliche Praxen vermeiden. Gesellschaften können weder nach den Prinzipien vollkommener Unparteilichkeit und Gleichheit strukturiert werden, noch können sie eine vollständige Parteilichkeit ihrer Angehörigen aushalten. – N. formuliert eine grundlegende Bedingung für die Legitimität von Institutionen, die seiner Ansicht nur dann gegeben ist, wenn sie von den von ihnen betroffenen Individuen nicht vernünftigerweise abgelehnt werden können. In der Frage des gerechtfertigten Einflusses von Institutionen auf die individuelle Lebensführung schlägt N. eine moralische Arbeitsteilung vor. Institutionen sollen in dieser Aufteilung moralische Ansprüche von einem unparteilichen Standpunkt  aus beurteilen,

während sie es Individuen erlauben, ihre eigenen Beziehungen und Projekte in den Vordergrund zu stellen. – Obwohl N. für die Verminderung von sozialer Ungleichheit argumentiert, sieht er, dass eine gerechte Gesellschaft nicht alle Ungleichheiten ausräumen  kann. Unparteilichkeit bedeutet  gleiche Berücksichtigung, die soziale Ungleichheiten zulässt, wenn diese nicht aus Diskriminierung resultieren. N. begründet mit Verweis auf Rawls eine darüber hinausgehende Priorisierung  der schlechtestgestellten gesellschaft­lichen Positionen in Verteilungsfragen. – Schließlich stellt sich N. dem Problem moralischer Motivation innerhalb politischer Gemeinwesen. Das Ideal persönlicher moralischer Motivation besteht für ihn darin, dass Personen sich selbst gegenüber parteilich sind, gleichzeitig anderen gegenüber unparteilich sind, und die Parteilichkeit einer jeden anderen Person anerkennen. Er glaubt, dass das Ideal einer weitgehend gleichen Gesellschaft von der moralischen Motivation ihrer Angehörigen abhängt, solange die Intervention in grundlegende Freiheitsansprüche ausgeschlossen ist. – Das Fazit, das N. in seiner Untersuchung zieht, läuft auf eine pessimis-

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Nagel: Mortal Questions

tische Gesamtsicht bezüglich der Möglichkeit einer vollständigen Lösung gesellschaftlicher Konflikte hinaus. N. hält das Vorliegen gesellschaftlicher  Ungleichheit in einer Form für möglich, die keine politische Lösung zulässt und die gleichzeitig von jeder betroffenen Partei angenommen werden muss. – N.s Abhandlung wird insbesondere für seine Kritik der Bedeutung eines neutralen oder unpersönlichen Standpunkts innerhalb liberaler Gerechtigkeitskonzeptionen diskutiert. S. Derpmann Ausgabe: Dt., Eine Abhandlung über Gleichheit und Parteilichkeit und andere Schriften zur politischen Philosophie, Ü. und Hg.: M. Gebaur, Paderborn 1994. Literatur: W. Kersting, Theorien sozialer Gerechtigkeit, Stgt. 2000, 280–300.

Mortal Questions (engl.; Letzte Fragen), EA NY 1979.

Der Band versammelt 14 Aufsätze aus den Jahren 1969 bis 1979. Die deutsche Ausgabe enthält darüber hinaus Übersetzungen der Aufsätze Personal Rights and Public Space (1995) sowie The Objective Self (1983). Alle Texte dieser Sammlung teilen laut N. den philosophischen Blick auf die

Perspektive eines individuellen menschlichen Lebens und auf die Relation dieser Perspektive zu objektiven oder unpersönlichen Auffassungen der Wirklichkeit. Die Themen der Beiträge reichen vom Tod, dem Absurden, sexueller Perversion, Menschenrechten und Krieg bis zum Panpsychismus und zur Bestimmung von Objektivität. – Der bekannteste Aufsatz aus Mortal Questions ist What is it like to be a bat? N. stellt hier Überlegungen zu den Grenzen der objektiven Beschreibung subjektiver Erlebniszustände an. Er versteht dies nicht als Argument gegen den Physikalismus, obwohl er ein Problem für reduktionistische Positionen dieser Art formuliert: N. legt dar, dass wir keine Vorstellung davon besitzen, wie die Beschreibung einer allein physikalischen Natur mentaler Phänomene aussehen könnte. Die Tatsache, dass Wesen bewusste Erlebnisse haben, geht laut N. damit einher, dass etwas für sie irgendwie ist. Er stellt die Frage, wie dieser subjektive Charakter des Erlebens zu erfassen ist, etwa wie es ist, eine Fledermaus zu sein. Der fundamental verschiedene Wahrnehmungsapparat einer Fledermaus legt laut N. nahe, dass Menschen keinen Begriff davon ausbilden können, wie



Nagel: Mortal Questions 413

es etwa ist, allein über Schallwellen eine räumliche und gegenständliche Wahrnehmung der Welt zu gewinnen. Das Beispiel zeigt, dass die Beschreibung bestimmter Sachverhalte durch die Einnahme eines Standpunktes bedingt ist. Wenn dies der Fall ist, dann scheint eine physikalische Beschreibung für solche Tatsachen ungeeignet, weil diese sich gerade dadurch auszeichnet, unabhängig von der Einnahme solcher Standpunkte zu sein. – Dieses für N.s Denken zentrale Thema behandelt auch der Aufsatz Subjective and Objective. Die Nichtzurückführbarkeit einzelner Standpunkte illustriert N. hier an fünf Beispielen: Die Vorstellung von einem Sinn des Lebens beinhaltet, dass bestimmte Aktivitäten innerhalb eines Lebensplans als sinnvoll beschrieben werden, aber nicht losgelöst von allgemeinen oder besonderen menschlichen Zwecken. Um darüber hinaus Handlungen als durch einen freien Willen bestimmt beschreiben zu können, müssen sie als vom Handelnden und nicht von vorhergehenden Ereignissen bestimmt verstanden werden, und eine vollständige Beschreibung des Handelns kommt nicht ohne die Beschreibungen der in ihm enthaltenen subjek-

tiven Einstellungen aus. Auch die Personale Identität im Sinne der Kontinuität zwischen verschiedenen Lebensabschnitten einer Person lässt sich laut N. nicht aus einer drittpersönlichen Perspektive erfassen, weil sie von der Perspektive der fortbestehenden Person abhängt. Der irreduzibel subjektive Kern mentaler Ereignisse macht es unmöglich, sie von einem objektiven Standpunkt aus zu beschreiben, weil er nicht erfasst, wie es für ein Subjekt ist, diese Erfahrungszustände zu haben. Ethikkonzeptionen schließlich, die den Standpunkt des Handelnden, etwa in Form akteurrelativer Gründe, nicht berücksichtigen, werden laut N. der Komplexität ethischer Phänomene nicht gerecht. – N.s Überlegungen fordern uns dazu auf, uns von der Überzeugung zu trennen, die Wirklichkeit sei allein aus einer objektiven Perspektive adäquat beschreibbar. Die objektive Perspektive zeigt laut N. zwar kein unvollständiges, jedoch nur ein partielles Bild von der Wirklichkeit, denn es gibt nicht genau eine Weise, in der die Welt an sich ist, sondern unsere Perspektiven sind Teil der Welt. Die Überlegungen zur Möglichkeit der Vermittlung eines subjektiven und eines objektiven Standpunkts

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Nagel: The View From Nowhere

hat N. später systematisch in → The View from Nowhere ausgearbeitet. Seine Argumente prägen die verfügbaren Optionen und die an sie zu stellenden Anforderungen innerhalb grundlegender Debatten in der Erkenntnistheorie, der Philosophie des Geistes und der Ethik. S. Derpmann Ausgabe: Dt., Hg.: M. Gebauer, Hbg. 2008. Literatur: A.  Thomas: T.  N., Chesham 2009.

The View From Nowhere (engl.; Der Blick von Nirgendwo), EA NY 1986.

The View From Nowhere enthält die systematische Ausarbeitung von Ideen, die N. zuvor in Aufsätzen – insbesondere Subjective and Objective (1979) und The Objective Self (1983) – sowie in der Vorlesungsreihe The Lim­ its of Objectivity (1979) vorbereitet hat. Die Untersuchung behandelt laut N. verschiedene Gestalten eines einzigen Problems: die subjektive oder interne Perspektive einer einzelnen Person innerhalb der Welt mit einer externen oder objektiven Perspektive auf diese Welt und auf diese Person samt ihrem Standpunkt zu verbinden. N. versucht, die Vereinbarkeit der Einnahme dieser Perspektiven in der Philosophie des Geis-

tes, der Erkenntnis­ theorie, der Willensfreiheit und der Ethik aufzuzeigen. Auf all diesen Feldern bietet dies laut N. eine Möglichkeit, klassische Aporien der Philosophie zu vermeiden, auszuhalten oder aus ihnen zu lernen. – N. folgt unterschiedlichen philosophischen Problemen, die mit einer in seinen Augen zu weit gehenden Objektivierung von Per­ spektiven verbunden sind. Die Objektivität von Überzeugungen und Einstellungen besteht für N. darin, dass das Subjekt dieser Einstellungen von seiner jeweiligen Position oder besonderen Verfasstheit absieht. Ergebnis dieser Abstraktion ist eine Vorstellung von der Welt, die unabhängig von diesen Besonderheiten ist, jedoch seinen vorigen Standpunkt enthält. In N.s Verständnis bilden ›objektiv‹ und ›subjektiv‹ keinen disjunkten Gegensatz, sondern die Endpunkte eines Kontinuums. – N.s Grundidee ist, dass das Absehen von Besonderheiten eines Standpunkts zwar in vielen Fällen zu einer überlegenen Vorstellung von der Welt führt, jedoch vereinzelt unvollständigere Beschreibungen hervorbringt. Eine rein objektive Beschreibung der Welt ist deshalb unvollständig, weil sie die Phänomene, die durch die Einnahme einer



Nagel: The View From Nowhere 415

bestimmten Perspektive kon­ stituiert werden, wie Selbstbewusstsein oder Schmerz, nicht erfassen kann. – N.s Auffassung der Bedeutung des subjektiven Standpunktes hat Auswirkungen auf seine Überlegungen zur Philosophie des Geistes, insbesondere hinsichtlich phänomenaler Eigenschaften und der Willensfreiheit. N. wendet sich gegen metaphysische Reduktionsprogramme und argumentiert für das Bestehen einer physischen wie einer mentalen Objektivität. Dabei vertritt er keinen Dualismus, sondern nimmt an, dass Entitäten Träger wechselseitig irreduzibler Eigenschaften sein können. N. glaubt, dass Willensfreiheit für uns nur dann ein Problem darstellt, wenn wir uns gezwungen fühlen, allein eine objektive Perspektive auf unser Handeln einzunehmen, die wir letztlich nicht aushalten können, ohne unser Selbstverständnis zu beschädigen. – Zwei Themen aus N.s Abhandlung haben besondere Bedeutung erlangt: die Vorstellung eines objektiven Selbst und die Unterscheidung zwischen neutralen und relativen Gründen. Die Überlegung zum objektiven Selbst motiviert N. mit der Beobachtung, dass seine selbstverortende Überzeugung ›Ich bin T.  N.‹ eine eigenständige Tatsache in

der Welt auszumachen scheint, die sich nicht durch die Angabe aller Eigenschaften von T.  N. wiedergeben lässt. Den Gegensatz zwischen dieser irreduzibel subjektiven Perspektive und einer rein objektiven Perspektive versucht N. durch die Vorstellung eines objektiven Selbst aufzuheben. In dieser umstrittenen Vorstellung nimmt laut N. jede Person einen »Blick von Nirgendwo« ein, in dem sie zum Subjekt eines unpersönlichen Standpunkts wird. – Die von N. eingeführte Unterscheidung zwischen akteurrelativen und neutralen Gründen hat große Bedeutung für die Moralphilosophie erlangt. N. wendet sich gegen neutralistische Ethikkonzeptionen, in denen der Perspektive eines jeweiligen Akteurs im ethischen Urteilen keine Rechnung getragen wird. Eine plausible Moraltheorie muss laut N. irreduzibel relative Gründe der Deontologie, der Autonomie und der Verpflichtung nachvollziehen können. Nur Gründe dieser Art erfassen, dass Personen dazu berechtigt sind, ihre eigenen Projekte zu verfolgen, dass Personen in besonderer Weise für ihr eigenes Handeln verantwortlich sind und dass Personen besondere Verpflichtungen gegenüber ihnen nahestehenden Anderen haben. – N.s View from No­where

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Newton: Philosophiae naturalis

zählt zu den Klassikern der Philosophie und wird in einer Vielzahl gegenwärtiger Debatten diskutiert. S. Derpmann Ausgabe: Dt., Ü.: M. Gebauer, Ffm. 2012. Literatur: A.  Thomas: T.  N., Chesham 2009.

Isaac Newton *  4. 1. 1643 (25. 12. 1642) Wolls­ thorpe (Lincolnshire), † 31. 3. 1727 (20. 3. 1726) in Kensington (heute zu London); Hauptvertreter der neuzeitlichen mathematischen Naturphilosophie.

Philosophiae naturalis ­principia mathematica (lat.; Die mathematischen Prinzi­ pien der Physik), EA Ldn. 1687.

N.s Hauptwerk beginnt mit einem Vorwort zur Geschichte und Methode der mathematischen Naturphilosophie. Daran schließen sich Definitionen ihrer Grundbegriffe, ein Scholium (d. h. eine ›Erläuterung‹) zu Raum und Zeit sowie N.s drei Bewegungsgesetze an. Die folgenden drei Bücher handeln über Bewegungen ohne Reibung  (1) bzw. solche in Medien mit Reibung (2) sowie »Über das Weltsystem«  (3); Letzteres wendet seine Mechanik auf das Planetensystem an

und macht im Wesentlichen den später besonders bekannt gewordenen Teil der Schrift aus. Die Vereinheitlichung von irdischer Mechanik (Galilei) und Himmelsmechanik (Kepler) mithilfe des Gravitationsgesetzes wird im Allgemeinen als wichtigste Leistung des Werkes angesehen; sie hob die aristotelische Unterscheidung von »sub-« und »supralunarer« Welt (d. h. der bis zur Mondbahn reichenden und der außerhalb liegenden Welt) endgültig auf. – Buch 3 mit seinen (ab 21713 sog. und erweiterten) Regulae philosophandi (›Regeln des Philosophierens‹) und dem ebenda angefügten Scholium generale (d. h. der ›allgemeinen Erläuterung‹) ist neben dem Einleitungsteil philosophisch besonders relevant. Hier artikuliert N. Grundzüge einer empiristischen Wissenschaftstheorie, die Experiment und Induktion als Methoden zur Gewinnung allgemeiner und sicherer Naturerkenntnis auszeichnet und spekulative, d. h. empirisch nicht abgesicherte Theoriebildung verwirft, wie in dem berühmten Hypotheses non fingo (›Hypothesen erdichten wir nicht‹) prägnant zum Ausdruck kommt. – Der tatsächliche wissenschaftstheoretische Aufbau des Werkes ist nach dem Vorbild der euklidischen



Newton: Philosophiae naturalis 417

Geometrie ein axiomatisch-deduktiver: Neben der Definition von Grundbegriffen werden zunächst die Bewegungsgesetze als Axiome ausgewiesen; aus Definitionen und Axiomen werden dann Folgesätze deduktiv abgeleitet. Die axiomata sive leges motus (›Axiome oder Gesetze der Bewegung‹) selber sieht N. als induktiv begründet und sicher an. Hierdurch rückt seine rationale Mechanik als mathematische und vermeintlich evidente Wissenschaft in die Nähe der Geometrie. Die einzelnen leges motus wurden oftmals als singulärer Beitrag zur axiomatischen Grundlegung der Mechanik dargestellt. Die neuere Forschung dagegen hat sie in ihren historischen Kontext eingebettet und nähert sich wieder der ursprünglichen Beurteilung, wonach das Werk kaum eine neue Entdeckung zu den Prinzipien der Mechanik enthält. – Naturphilosophisch stellt das Werk zunächst eine Kritik des cartesianischen Systems dar: N. verwirft Des­ cartes’ Identifizierung von Ausdehnung und Materie, das Postulat der unendlichen Teilbarkeit der Materie sowie das der Relativität jeder Bewegung. Descartes’ Erklärung der Planetenbewegung durch einen Ätherwirbel widerlegt N. in Buch  2 und macht auch jede

andere Nahwirkungserklärung der Gravitation problematisch. Dieser Differenzpunkt zu Des­ cartes wie auch zu Leibniz stellte zunächst das wichtigste Rezeptionshindernis für das Werk auf dem Kontinent dar. Ontologisch geht mit der Des­ cartes-Kritik eine Ablehnung des Dualismus von passiver res extensa (Materie) und aktiver res cogitans (Geist) einher: Die Materie ist nach N. atomistisch strukturiert und durchaus aktiv. Der Status von Gravitationsund anderen Kräften bei N. wird unterschiedlich beurteilt. Während er in seinem Hauptwerk Kraft v. a. als mathematischen Begriff verstanden wissen will und ihn für weitergehende kausale Er­klärungen offenhält, entfaltet er in verschiedenen Manuskripten eine komplexe Ontologie der Kräfte. Insbesondere im Hinblick auf die Trägheitskraft ist diese eng verknüpft  mit der hier artikulierten Raum- und Zeitvorstel­ lung. Neben einer atomistisch konstituierten Materie und  Kräften sind die »absolute, wahre und mathematische Zeit« und der »absolute Raum« Setzungen, die durch die Phänomene ausdrücklich nicht begründet werden, sondern der em­piri­schen Naturforschung vorausge­hen und diese erst ermöglichen. Es finden sich bei

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Nietzsche: Also sprach Zarathustra

N. dennoch Versuche, solche ontologischen Setzungen empirisch einzuholen, aber auch – in die­ sem Werk nur angedeutet – theologische und (von H. More beeinflusste) neuplatonistische Begründungsversuche. – Von philosophischen Kritikern wurden N.s Aprioris teils als unbegründet und seiner Methodologie widersprechend verworfen (Leibniz, Berkeley, Mach u. a.), teils (etwa trans­ zendentalphilosophisch) gerechtfertigt (Kant, Fries u. a.). Die Physik hat die RaumZeit-Lehre N.s bis zum Ende des 19.  Jh.s fast durchgängig akzep­ tiert und lange einen ›Atomismus der Zentralkräfte‹ als ihr Wissenschaftsideal propagiert (Laplace, S. D. Poisson u. a.). N.s Methodologie einschließlich ihrer – zumeist positivistischen – Überzeichnungen wurde zum wissenschaftstheoretischen Paradigma: Kein Werk dürfte die neuzeitlichen Naturwissenschaften und ihr Rationalitätsverständnis stärker beeinflusst haben als dieses. H. Pulte Ausgaben: Engl., The Princi­pia, Mathematical Principles  of Natural Philosophy, Ü.: I.  B. Cohen/ A.  Whitman, Berkeley 1999. – Dt., Ü. und Hg.: V. Schüller, Bln. u. a. 1999. Literatur: D. G. King-Hele/A. R. Hall, N.s Principia and Its Legacy,

Ldn. 1988. – H. Pulte, Axiomatik und Empirie. Eine wissenschafts­ theoriegeschichtliche Untersuchung zur mathematischen Naturphilosophie von N. bis Neumann, Drmst. 2005. – S.  Mandelbrote/H.  Pulte (Hg.), The Reception of I. N. in Europe, 2 Bde., Ldn. 2012.

Friedrich Nietzsche *  15. 10. 1844 in Röcken, †  25. 8. 1900 in Weimar; Philosoph, Altphilologe, Dichter, radikaler Kritiker von metaphysischen, moralischen und religiösen Vorstellungen.

Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen

EA Chemnitz 1883 (1. Teil), 1883 (2. Teil), 1884 (3. Teil), Lpzg. 1885 (4.  Teil; Privatdr.); Lpzg.  1887 (Teile 1–3); Lpzg. 1892 (alle 4 Teile, Hg.: P. Gast).

Die vier Teile erschienen einzeln von 1883 bis 1885. Die Restexemplare der ersten drei wurden 1887 zu einer neuen Ausgabe zusammengebunden. Der 1885 nur als Privatdruck hergestellte, von N. weitgehend geheim gehaltene vierte Teil wurde von ihm sonst nie veröffentlicht. Er wurde erst in die nach N.s geistigem Zusammenbruch durch H. Köselitz (P.  Gast) besorgte vierteilige Ausgabe (1892) aufgenommen. – Nach zehnjähriger Ein­



Nietzsche: Also sprach Zarathustra 419

samkeit verlässt Zarathustra seine Höhle; »dass Gott todt ist«, hat sich inzwischen herumgesprochen; in seiner ersten Rede – seiner »Vorrede« – stellt Zarathustra das auf dem Marktplatz versammelte »Volk« vor eine Alternative: Wenn der Mensch nach Gottes Tod nicht zum unschöpferischen, unverwüstlich mittelmäßigen »letzten Menschen« ausarten will, muss er den »Übermenschen« schaffen, dessen Konturen hier allerdings äußerst unscharf bleiben. Zarathustra wird ausgelacht und beschließt dann, seine jedes Mal von der Formel »Also sprach Zarathustra« abgeschlossenen Reden nur vor einem ausgesuchten Kreis zu halten. Die erste beschreibt drei »Verwandlungen«: Zuerst wird der Geist zum entsagenden und ehrfürchtigen Kamel, mitten in der Wüste verwandelt er sich in einen Löwen, der mit seinem »ich will« den Drachen »Dusollst« besiegt und sich Freiheit »zu neuem Schaffen« erkämpft; Letzteres kann er aber noch nicht; um neue Werte zu schaffen, muss der Geist noch zum Kind werden, denn dazu bedarf es »eines heiligen Ja-sagens«. Am Ende des 1.  Teils verlässt Zarathustra die neu gewonnenen Jünger; erst nach Jahren kehrt er zu den inzwischen abtrünnig gewordenen zurück.

Schließlich trennt er sich noch einmal von ihnen, um sich mit seinem »abgründlichen Gedanken« der ewigen Wiederkunft auseinanderzusetzen. Im 4. Teil überwindet er seine letzte Versuchung: das Mitleid mit den am Tod Gottes verzweifelnden »höheren Menschen«, die ihn in seiner Höhle aufgesucht haben. – Ecce homo nennt die ewige Wiederkunft die »Grundconception des Werks«: Übermensch und Wille zur Macht gehören damit zusammen. Schopenhauers Willen zum Leben stellt N. eine andere Deutung gegenüber: Das Leben muss sich ständig überwinden und über sich selbst hinaus schaffen; sein Grundcharakter ist Wille zur Macht. Dieser muss die »Rache« – »des Willens Widerwille[n] gegen die Zeit und ihr ›Es war‹« – überwinden und die Vergangenheit »erlösen«, d. h., »alles ›Es war‹ um[]schaffen in ein ›So wollte ich es!‹«. Der Wille zur Macht muss die ewige Wiederkunft des Gleichen bejahen. »Muss nicht, was geschehen kann von allen Dingen, schon einmal geschehn, gethan, vorübergelaufen sein? […] müssen wir nicht Alle schon dagewesen sein? […] müssen wir nicht ewig wiederkommen?« Nach einer qualvollen Auseinandersetzung mit seinem »Gedanken

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Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft

der Gedanken« wird Zarathus­ tra schließlich zum Lehrer der ewigen Wiederkunft. Der künftige Übermensch wird sie bejahen. – Unmittelbar nach Abschluss des 3.  Teils wollte N. mit dem Zarathustra »nichts als eine Vorrede, Vorhalle« gebaut haben; in der späten Autobiographie Ecce homo (1888) wiederum blickt er auf die Zarathustra-Dichtung wie auf den sonst nie erreichten Gipfel seines Denkens zurück. – Das Werk, das im Mittelpunkt der ersten breiten N.-Rezeption bis zum Ersten Weltkrieg stand, hatte es zunächst schwer, als ein genuin philosophisches anerkannt zu werden; im Grunde leiteten erst Jaspers, Löwith und v. a. Heidegger eine neue Phase philosophischer Interpretation ein. M. Brusotti Ausgaben: Werke. Krit. GA, Abt. VI, Bd. 1, Bln. 1968. – Sämtliche Werke. Krit. Studienausg., Bd. 4, Neuausg. Mchn./Bln. 2009. Literatur: L. Lampert, N.’s Teach­ ing. An Interpretation of Thus ­Spoke Zarathustra, New Haven/Ldn. 1986. – M. Brusotti, Die Leidenschaft der Erkenntnis. Philosophie und ästhetische Lebensgestaltung bei N. von Morgenröthe bis Also sprach Zarathustra, Bln./NY 1997. – M. Mayer (Hg.), Also wie sprach Zarathustra? West-östliche Spiegelungen im kulturgeschichtlichen Vergleich, Wzbg. 2006.

Die fröhliche Wissenschaft EA Chemnitz 1882; Lpzg.  1887 u. d. T. Die fröhliche Wissenschaft (»la gaya scienza«). Neue Ausgabe mit einem Anhange: Lieder des Prinzen Vogelfrei.

Die erste Ausgabe besteht aus vier Aphorismen-Büchern,  de­ nen die Gedichtsammlung Scherz, List und Rache vorangeht; die zweite enthält zusätzlich eine Vorrede, ein 5.  Buch und als Anhang die Lieder des Prinzen Vogelfrei. Der provenzalische Untertitel verdeutlicht jetzt die Anspielung auf die mittelalterliche Dichtung der Troubadours. Nach dem 1.  Buch, das v.  a. moralgeschichtliche Analysen enthält, ist das 2. im Wesentlichen der Kunst gewidmet sowie Themen, die N. als damit verwandt ansieht (v. a. die Frau und die alten Griechen). »Gott ist todt«, teilt das 3.  Buch gleich am Anfang mit; und später verkündet »der tolle Mensch« – ursprünglich war es Zarathus­ tra –: »Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet!« Gemeint ist – so die zweite Ausgabe – das historische Ereignis, »dass der Glaube an den christlichen Gott unglaubwürdig geworden ist«. Die Folgen sind nach N. kaum absehbar; bis in die Naturwissenschaften hinein bleiben noch unzählige ›Schatten‹ des toten Gottes zu



Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft 421

beseitigen: Die radikale Kritik von Metaphysik, Erkenntnis und Moral bildet den Schwerpunkt des 3.  Buches, in dem N. hauptsächlich den verneinenden Teil seiner Philosophie entwickelt. Demgegenüber soll im 4. Buch (»Sanctus Januarius«) v. a. deren bejahende Seite zu Wort kommen. Durch den »Gedanke[n], dass das Leben ein Experiment des Erkennenden sein dürfe«, sieht N. sein Dasein gerechtfertigt; insofern steht die in Morgenröthe (1881) eingeführte »Leidenschaft der Erkenntniss« weiterhin im Mittelpunkt. Zugleich aber will N. – so der Schluss des 2. Buches – »aus einer künstlerischen Ferne her« nicht nur »den Helden«, sondern auch »den Narren entdecken, der in unsrer Leidenschaft der Erkenntnis steckt«. Das 4. Buch beginnt mit dem Gedanken des amor fati, der uneingeschränkten Liebe zum Schicksal, die alles und jedes als notwendig ansieht und bejaht: »Ich will immer mehr lernen, das Nothwendige an den Dingen als das Schöne sehen: – so werde ich Einer von denen sein, welche die Dinge schön machen. Amor fati: das sei von nun an meine Liebe!« Im vorletzten Aphorismus, gleichsam am Rand, taucht die ewige Wiederkunft auf, der Gedanke, der im Hintergrund der

Schrift steht: Erführe der Leser durch einen »Dämon«, dass er sein Leben bis ins Kleinste »noch einmal und noch unzählige Male« wird »leben müssen«, würde er den Dämon verfluchen oder den Gedanken bejahen? Und wie würde dieser auf ihn wirken? Im letzten Aphorismus erscheint zum ersten Mal Zarathustra: »Incipit tragoedia« ist bis auf geringfügige Änderungen mit dem Anfang von → Also sprach Zarathustra identisch. »Wir Furchtlosen«, das 1887 hinzugefügte 5. Buch, gehört eher zu einem späteren Gedankenkreis: N. vertritt hier u. a. die These, »dass es immer noch ein metaphysischer Glaube ist, auf dem unser Glaube an die Wissenschaft ruht,« nämlich der Glaube an den unbedingten Wert der Wahrheit, der »unbedingte Wille zur Wahrheit«. – »Der tolle Mensch« (Tod Gottes), »Zum neuen Jahr« (amor fati), »Das grösste Schwergewicht« (ewige Wiederkunft) zählen seit jeher zu N.s bekanntesten Aphorismen. Mit dem Interesse für N.s ›Lebenskunst‹ ist auch dasjenige für diese mittlere Schrift gestiegen, die in N.s Selbstverständnis seine »Freigeisterei« zum Abschluss gebracht hat. M. Brusotti

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Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Ausgaben: Werke. Krit. GA, Abt. V, Bd. 2, Bln. 1972. – Sämtliche Werke. Krit. Studienausg., Bd. 3, Neuausg. Mchn./Bln. 2009. Literatur: M. Brusotti, Die Leidenschaft der Erkenntnis, Bln./NY 1997. – J.  Salaquarda u. a., Die fröhliche Wissenschaft, in: N.-Studien 26, 1997, 163–259. – M. M. Langer, N.’s Gay Science. Dancing Coherence, Houndmills u. a. 2010.

Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik EA Lpzg.  1872; 21874 (ausgeliefert Chemnitz 1878); Lpzg.  1886 u. d. T. Die Geburt der Tragödie, oder: Griechenthum und Pessimismus. Neue Ausgabe mit dem Versuch einer Selbstkritik.

Gleich am Anfang stellt N. einen »ungeheuren Gegensatz« auf: den »zwischen der Kunst des Bildners, der apollinischen, und der unbildlichen Kunst der Musik, als der des Dionysos«. Hinter den beiden Kunstgattungen stehen die zwei »Kunsttriebe der Natur«, das Apollinische und das Dionysische, die sich jeweils im Traum und im Rausch unmittelbar ausdrücken. Zum Dionysischen gehört die Erkenntnis und Empfindung der »Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins«: »Das Allerbeste« – so die Weisheit des Silen – sei, »nicht geboren zu sein, nicht zu sein, nichts zu sein«, das Zweitbeste

aber, »bald zu sterben«. Erlösung fanden die Griechen im Apollinischen: im schönen, heiteren Schein der Olympier. Der Gegensatz zwischen der Welt des Scheins, dem Schleier der Maya, und Dionysos, dem Ur-Einen, nimmt Schopenhauers Unterscheidung von Willen und Vorstellung auf. Ob diese Metaphysik so naiv ist, wie sie zunächst scheint, ist bei N.s früh einsetzender erkenntnistheoretischer Skep­ sis allerdings fraglich. – Die aus Asien heranströmenden or­ giastischen Dionysos-Kulte ebnen soziale Unterschiede und Hierarchien tenden­ ziell ein und gefährden den auf Sklaventum gründenden apollinischen (dorischen) Staat. Dio­ nysos wird jedoch gebändigt: In der Tragödie ver­schmelzen apollinische und dio­ nysische Kunst zur Einheit. Die tragische Handlung ist e­igentlich nur eine apollin­i­sche Vision des berauschten dionysischen Chors: Der tragische Held ist im Grunde Diony­ sos selbst, der an sich die Leiden der Individuation erfährt. In dieser Vision wird das Dasein ästhetisch gerechtfertigt. Das gilt nach N. aber nur für ­Ai­schylos und Sophokles. Mit Euripides beginnt bereits der Untergang der Tragödie: Auf der Bühne setzt sich nun die rationalisti-



Nietzsche: Die Geburt der Tragödie 423

sche, psycholo­gisierende Tendenz durch. Mit Sokrates siegt der theoretische Mensch über die tragische Weltanschauung, der wissenschaftliche Optimismus über den tragischen Pessimismus. Deshalb ist Sokrates gleichsam der Wendepunkt der Welt­geschichte. Zu N.s Zeit bahnt sich jedoch eine Gegenbe­wegung an. Mit Schopenhauer und Kant hat eine tragische Erkenntnis bereits begon­nen, die Wissenschaft und ihren sokratisch-alexan­ drinischen Op­ timismus abzulösen. Diese Erkenntnis bedarf nach N. eines metaphysischen Trostes, wie ihn nur die tragische Kunst gewähren kann. In Wagners Dramen wird die Tragödie aus der Musik wiedergeboren. – Im Versuch einer Selbstkritik (1886) bereut N., dass er sich »durch Einmischung der modernsten Dinge«, durch wagnerianische und philogermanische Aktualisierungen, »das grandiose griechische Problem« verdorben habe, distanziert sich von Schopenhauer und beabsichtigt zugleich eine Reinterpretation: Die Griechen stehen für einen »Pessimismus der Stärke«; sein philosophischer Erstling habe »Wissenschaft zum ersten Male als problematisch, als fragwürdig gefasst« und sich an die Aufgabe »herangewagt«, »die

Wissenschaft unter der Optik des Künstlers zu sehn, die Kunst aber unter der des Lebens …« – die Dualität von Apollinischem und Dionysischem im alten Griechentum hat sich als »genialer Irrtum« herausgestellt, auch wurde sie keineswegs erst von N. »entdeckt«: Sie hat eine lange Tradition mit einem Höhepunkt in der Frühromantik. Während die Grundidee, die Kunst sei die »eigentlich metaphysische Thätigkeit dieses Lebens«, den Ästhetizismus ansprach, wirkte das Buch nach dem Verriss durch U. von Wilamowitz-Möllendorff nur unterschwellig auf die Philologie; kunst- und kulturwissenschaftliche bzw. -philosophische Ansätze prägte es trotzdem entscheidend mit. M. Brusotti Ausgaben: Werke. Krit. GA, Abt. III, Bd. 1, Bln. 1972. – Sämtliche Werke. Krit. Studienausg., Bd. 1, Neuausg. Mchn./Bln. 2009. Literatur: K. Gründer (Hg.), Der Streit um N.s »Geburt der Tragödie«. Die Schriften von E.  Rohde, R.  Wagner, U. v.  WilamowitzMöllendorff, Hildesheim 1969. – B. v. Reibnitz, Ein Komm. zu F. N. »Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik« (Kap. 1–12), Stgt./Weimar 1992. – T.  Borsche,  F.  Gerratana/A.  Venturelli (Hg.), »Centauren-Geburten«. Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen N., Bln./NY 1994.

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Nietzsche: Zur Genealogie der Moral

Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift EA Lpzg. 1887.

Die drei Abhandlungen samt Vorrede wurden »dem letztveröffentlichten ›Jenseits von Gut und Böse‹ zur Ergänzung und Verdeutlichung beigegeben«. Die Vorrede bestimmt die »Kenntniss der Bedingungen und Umstände«, aus denen die moralischen Werte »gewachsen, unter denen sie sich entwickelt und verschoben haben«, als das unentbehr­liche Mittel einer »Kritik«: »[D]er Werth dieser Werthe ist selbst erst einmal in Frage zu stellen«. Entstehungsgeschichte und  Kritik werden so voneinander unterschieden, zugleich aber auf­ einander bezogen. Organische, soziale oder politische Prozesse sind N. zufolge keine linearen Entwicklungen, sondern »die Aufeinanderfolge von mehr oder minder tiefgehenden, mehr oder minder von einander unabhängigen […] Überwältigungsprozessen […]. Die Form ist flüssig, der ›Sinn‹ ist es aber noch mehr […].« So stellt »eine gewisse strenge Abfolge von Prozeduren« »das relativ Dauerhafte« an der Strafe dar, der »Sinn«, der »Zweck«, hingegen »das Flüssige«. Diese »fortgesetzte Zeichen-Kette von immer neuen Interpretationen

und Zurechtmachungen«, die jeweils auf einen Willen zur Macht zurückgehen, ist der Gegenstand des Moralgenealogen. Der Titel der 1. Abhandlung »›Gut und Böse‹, ›Gut und Schlecht‹« nennt den jeweiligen Leitunterschied der zwei entgegengesetzten Moraltypen, die bei N. »Herrenmoral« und »Sklavenmoral« heißen. Nicht Handlungen wurden ursprünglich als ›gut‹ beurteilt, sondern nur Menschen: Mit ihrem »Pathos der Distanz« bezeichnen die »Herren« sich selbst als gut und die eigenen Untertanen als ›schlecht‹; die dem Ressentiment entspringende »Sklavenmoral« nennt dagegen den Starken »böse«, also gerade den Guten der vornehmen Moral. Die Wende der westlichen Moralgeschichte stellt nach N. ein »Sklavenaufstand in der Moral« dar: Mit dem Christentum habe sich die Ressentimentmoral durchgesetzt. – »Ein Thier heranzüchten, das versprechen darf«: Die 2.  Abhandlung (»›Schuld‹, ›schlechtes Gewissen‹ und Verwandtes«) soll zeigen, wie dieses »Problem vom Menschen« gelöst wurde, durch welche grausame »Mnemotechnik«  die »Verantwortlichkeit«, die Fähigkeit, Verpflichtungen ein­zuhalten, zustandekam. N. beschreibt auch die Herausbildung einer frühen, noch prä-



Nietsche: Jenseits von Gut und Böse 425

moralischen Form von schlechtem Gewissen: Die Angehörigen eines  primitiven Volkes wurden plötzlich unterworfen, und die Eroberer zwangen sie mit äußerster Brutalität dazu, ihre Instinkte zu unterdrücken und zu verinnerlichen. – »Was bedeuten asketische Ideale?«, die 3. Abhandlung, leitet gegen Schopenhauer, der Askese als Verneinung des Willens auffasst, die ungeheure historische Bedeutung jener Ideale von der »Grundthatsache des menschlichen Willens« ab: Dieser »braucht ein Ziel, – und eher will er noch das Nichts wollen, als nicht wollen«. Während die 1.  Abhandlung im Ressentiment die Wurzel der Sklavenmoral ausmacht, zeigt die 3. die vom asketischen Priester eingeleitete »Rückwärtsrichtung des Ressentiments«: Dieses nimmt dann die Gestalt eines Schuldgefühls an. – N.s schroffe Schlagworte (die im philogermanischen Sinn missverstandenen »blonden Bestien«, der Gegensatz zwischen »Herren- und Sklavenmoral«) konnten durch die Nationalsozialisten leicht missbraucht werden. Zur theo­ retisch anspruchsvollen Wirkungsgeschichte gehören etwa die Aufnahme durch Freud (die Entstehung des Gewissens), Scheler (das Ressentiment) und Foucault. Seit dieser sich zu N.s

historischer Methodik bekannte, sind ›Genealogien‹ zu einem verbreiteten Genre geworden. M. Brusotti Ausgaben: Werke. Krit. GA, Abt. VI, Bd. 2, Bln. 1968. – Sämtliche Werke. Krit. Studienausg., Bd. 5, Neuausg. Mchn./Bln. 2009. Literatur: M. Brusotti, Ressentiment, Wille zum Nichts, Hypnose. »Aktiv« und »reaktiv« in N.s Genealogie der Moral, in: N.-Studien 30, 2001, 107–132. – O.  Höffe (Hg.), F.  N.: Zur Genealogie der Moral, Bln. 2004. – C. D. Acampora (Hg.), N.’s On the genealogy of morals. Critical essays, Lanham u. a. 2006.

Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft EA Lpzg. 1886.

Das Buch, mit dem N. nach der Zarathustra-Dichtung zur Prosa zurückkehrt, besteht  in einer kurzen Vorrede und neun betitelten »Hauptstücken«,  die 296 Aphorismen enthalten; den Abschluss bildet ein »Nachgesang« mit dem Titel »Aus hohen Bergen«. Jenseits von Gut und Böse sollte ein »Vorspiel« zum damals geplanten, doch nie zustande gekommenen Hauptwerk Der Wille zur Macht sein und »eine Art Einführung in die Hintergründe des Zarathustra«; dessen »Grundconception«, die

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Nietsche: Jenseits von Gut und Böse

ewige Wiederkehr, wird jedoch nur einmal angedeutet als circulus vitiosus deus. Nachdem mit dem →  Zarathustra der ja-sagende Teil seiner Aufgabe ausgeführt sei, habe er, so N. in Ecce homo (1888), deren »neinsagende, neinthuende Hälfte« in Angriff genommen. Die Themenvielfalt versucht er dabei als »Kritik der Modernität« auf einen Nenner zu bringen. N., der Metaphysisches auch noch in den Wissenschaften aufspüren will, beginnt mit den »Vorurtheilen der Philosophen«. Eine historisch-genetische Betrachtung entdeckt hinter ihren Systemen »irgend ein[en] Volks-Aberglaube[n] aus unvordenklicher Zeit«. Die sprachphilosophische Kritik zeigt, dass »eine Verführung vonseiten der Grammatik her« den »Grundstein« metaphysischer Systeme bilden kann: Sie verraten etwas wie eine »Philosophie  der Grammatik«, d. h. die »unbewusste […] Herrschaft und Führung« durch allen  indoeuropäischen Sprachen gemeinsame »grammatische Funktionen«, z. B. durch die Unterscheidung Subjekt/ Prädikat. Sollte man statt »ich denke« nicht besser »es denkt« sagen? Am besten lernt man schließlich, auch »ohne jenes kleine ›es‹ (zu dem sich das ehrliche alte Ich verflüchtigt hat)

auszukommen«. Die psychologische Kritik betrachtet ein metaphysisches System als »eine verwegene Verallgemeinerung von  sehr engen, sehr persönlichen, sehr menschlich-allzumenschlichen Thatsachen«; »jede grosse Philosophie« sei bisher »das Selbstbekenntnis ihres Urhebers« gewesen »und eine Art ungewollter und unvermerkter mémoires«. Selbst bei den »entlegensten metaphysischen Behauptungen« sei immer zu fragen, »auf welche Moral will es (will er –) hinaus?« Moralischer Natur ist auch der »Grundglaube der Metaphysiker«: »der Glaube an die Gegensätze der Werthe«. Kommt »dem Wahren, dem Wahrhaftigen, dem Selbstlosen« wirklich »ein für alles Leben höherer und grundsätzlicherer Werth« zu als »dem Scheine, dem Willen zur Täuschung und der Begierde«? Möglicherweise besteht der Wert der Ersteren gerade darin, dass sie mit den Letzteren doch »auf verfängliche Weise verwandt, verknüpft, verhäkelt, vielleicht gar wesensgleich« sind. Der »Wille zur Wahrheit« selbst erscheint als Problem, und zwar als eines, das noch nicht »gesehn, ins Auge gefasst, gewagt« worden sei: das »Problem vom Werthe der Wahrheit«. Die »neuen Philosophen« sollen dement-



Nikolaus von Kues: De docta ignorantia 427

sprechend zwar »freie, sehr freie Geister«, aber »nicht bloss freie Geister sein«. Die eigentlichen Philosophen sind v. a. »Gesetz­ geber«:  Ihre Hauptaufgabe ist es, neue Werte zu schaffen. Nicht »Begründung der Moral« – »nur eine gelehrte Form des guten Glaubens an die herrschende Moralität« – sei die Aufgabe, sondern »Beschreibung« der Vielfalt gegebener Moralen, eine »Naturgeschichte der Moral«. Im letzten »Hauptstück« stellt N. u. a. den typologischen Gegensatz von »Herrenmoral« und »Sklavenmoral« auf, der → Zur Genealogie der Moral weiterführen wird, und beantwortet die Frage »Was ist vornehm?« durch seine persönliche Moral. – Stolz war N. auf das Urteil des Rezensenten J. V. Widmann, in diesem »gefährlichen Buch« liege »Dynamit«. M. Brusotti Ausgaben: Werke. Krit. GA, Abt. VI, Bd. 2, Bln. 1968. – Sämtliche Werke. Krit. Studienausg., Bd. 5, Neuausg. Mchn./Bln. 2009. Literatur: P. J. van Tongeren, Die Moral von N.s Moralkritik. Beitrag zu einem Komm. von »Jenseits von Gut und Böse«, Bonn 1987. – L.  Lampert: N.’s Task. An Interpretation of Beyond Good and Evil, New Haven/Ldn. 2001. – D.  Burnham, Reading N.: an Analysis of Beyond Good and Evil, Montreal u. a. 2007.

Nikolaus von Kues (Nikolaus Cusanus, eigtl. Nikolaus Cryfftz), *  1401 in Kues an der Mosel, †  1464 in Todi (Umbrien); Kardinal, Kirchenpolitiker und bedeutender Denker des späten Mittelalters, der für den Übergang zur Neuzeit wegweisend war.

De docta ignorantia (lat.; Über die belehrte Unwissenheit), entst.  1440; ED Straßburg 1488.

Im Widmungsschreiben seines ersten philosophischen Hauptwerkes führt N. den titelgebenden Grundgedanken der docta ignorantia auf eine göttliche Eingebung zurück, die er auf der Schiffsreise von Konstantinopel nach Venedig erfahren habe. Das sich anschließende vertiefte Studium des PseudoDionysios (Areopagita), der Kirchenväter u. a. spätantiker, v.  a. neuplatonischer Autoren führt zu den drei Büchern, deren Leitthema philosophisch-theologische Spekula­ tionen über das absolut Größte sind. Dieses absolut Größte oder Unendliche, das theologisch mit Gott gleichgesetzt wird, kann nicht als Summe alles Endlichen gedacht werden. Dieses Größte – N. prägt den Kunstbegriff ›Größheit‹ (maximitas) – ist »alles, was sein kann« (I  4). Da ihm folglich

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Nikolaus von Kues: De docta ignorantia

nichts entgegengesetzt werden kann, entzieht es sich jeder Vergleichbarkeit. Menschliche Erkenntnis beruht aber darauf, dass Unbekanntes zum schon Bekannten in Bezug gesetzt wird. Das Wissen darum, dass das Absolute, das als Eines, Unendliches, Größtes, als das Sein und die Wahrheit schlechthin angesprochen wird, trotz unseres Verlangens nach Wissen und Wahrheit niemals genau erreicht wird, macht unser Nichtwissen zur »belehrten« Ignoranz. Die Spekulationen der drei Bücher versuchen den Abgrund, der sich zwischen der Unzulänglichkeit menschlichen Wissens und dem menschlichen Verlangen nach dem Absoluten auftut, durch eine neue Denkmethode zu überbrücken. N. spricht davon, dass die unendliche Wahrheit auf nicht begreifende Weise begriffen (incomprehensibiliter intelligi) werden solle (I 4 n. 11). Dazu bedarf es eines dreifachen Schritts des Übergangs (transcensus). N. geht von gezeichneten geometrischen Figuren wie Kreis und Winkel aus, die als mathematische Figuren dem Intellekt entstammen und ihm daher bekannt sind (1. Schritt). Als finite Figuren sind sie gegensätzlich und unterschieden. Die Unterscheidung zwischen den Figuren, die der Geist

vornimmt, bleibt zunächst auch dann erhalten, wenn der Winkel oder der Kreisdurchmesser mehr und mehr vergrößert werden. Allerdings gerät die Vorstellungskraft an ihre Grenzen, wenn die Figuren als unendlich groß vorgestellt werden. Wenn der Durchmesser des Kreises größer und größer wird, nähert sich die Krümmung des Umfangs solange der Geraden (einer Tangente) an, bis der Gedanke der Ununterscheidbarkeit beider Figuren bei unendlicher Größe evoziert wird (2.  Schritt). Dieses von Hans Blumenberg als »Sprengmetaphorik« bezeichnete Verfahren dient dazu, in einem weiteren, dritten Schritt von der mathematischen Unendlichkeit zur absoluten Unendlichkeit Gottes zu führen und den Gedanken der Aufhebung aller Unterschiede und des Zusammenfalls aller Gegensätze (coincidentia oppositorum) in der unendlichen göttlichen Einheit zu fassen. Auch wenn der Intellekt die Wahrheit nicht erreicht, so nähert er sich ihr doch auf diesem symbo­lischen Wege, so wie ein Vieleck, das in einen Kreis eingeschrieben ist, sich durch Vermehrung der Ecken der Kreisform immer mehr angleicht, ohne sie jemals ganz zu erreichen (I  3 n.  10). Diese Grundgedanken



Nikolaus von Kues: De docta ignorantia 429

dienen im ersten Buch der Entwicklung einer trinitarischen Gotteslehre und der Auseinandersetzung mit einer affirmativen und negativen Theologie . – Im zweiten Buch wendet sich N. der Welt als einem zweiten Maximum zu, das aber im Unterschied zur göttlichen Einheit nur als in Vielheit eingeschränkte Einheit besteht. Die Welt oder das Universum wird als Ausfaltung der Unendlichkeit Gottes verstanden und ist insofern eingeschränkte Größe. Jeder einzelne Gegenstand ist wiederum in spezifischer Weise kontrahiertes Sein, in den einzelnen Dingen spiegelt sich insofern in bestimmter Weise das gesamte Universum. Daher ist »alles in allem« (II 5 n. 117). Aus diesem metaphysischen Ansatz zieht N. weitreichende kosmologische Folgerungen: Das Universum ist unbegrenzt, hat keinen festen Mittelpunkt und keinen Fixsternhimmel als Grenze. Die Erde ist daher Stern unter Sternen. N. durchschaut die Illusion, der jeder unterliegt, wenn er sich im Mittelpunkt des Universums wähnt. Erst die belehrte Unwissenheit zeigt, »dass sich die Welt und ihre Bewegung und Gestalt nicht erfassen lässt, erscheint sie doch wie ein Rad im Rad oder Sphäre in der Sphäre, die […] nirgends Mit-

telpunkt oder Umkreis hat« (II  11 n.  161). – Im dritten Buch bemüht sich N. um eine ihm notwendig erscheinende Vermittlung zwischen der unendlichen Einheit Gottes und der aktualen Unendlichkeit des Universums. Er findet sie in der Gestalt des Gottmenschen. Die Kosmologie des zweiten Buches wird also spekulativ fortgeführt in einer Einheitsspekulation, die die Kluft zwischen dem maximum absolutum (Gott) und dem maximum contractum (Welt) überwinden soll. Die Konzeption einer kosmischen Teleologie trägt die Überlegungen zur christologischen Dogmatik, Soteriologie und Eschatologie des dritten Buches, die eine spekulative Auslegung des apostolischen Glaubensbekenntnisses darstellen. N. Herold Ausgaben: Opera omnia, Bd. I, Hg.: E.  Hoffmann/R.  Klibansky, Lpzg. 1932. – Lat./dt., Buch  I, Hg.: P.  Wilpert/H.  G. Senger, Hbg. 41994; Buch II, Hg.: P.  Wilpert/H.  G. Senger, Hbg.  21977; Buch III, Hg.: R.  Klibansky/H. G. Senger, Hbg. 1977. Literatur: K. Flasch, N. Geschichte einer Entwicklung, Ffm. 1998, 97–142. – R. Ott, Erl. zu dem Werk »De docta ignorantia – Die belehrte Unwissenheit« (3  Bde.), Norderstedt 2009/10.

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Nozick: Anarchy, State and Utopia

Robert Nozick *  16. 11. 1938 Brooklyn (NY), †  23. 1. 2002 Cambridge (Mass.); wissenschaftsnah arbeitender Vertreter der analytischen Philosophie, bedeutendster Befürworter eines Minimalstaates.

Anarchy, State and Utopia (engl.; Anarchie, Staat und Utopie), EA NY 1974.

In Auseinandersetzung mit Argumenten des sog. »AnarchoKapitalismus« entwickelt N. auf der Basis seiner profunden Kenntnisse der ökonomischen Theorie der Rationalentscheidungen seine politik-philosophische Auffassung von den Grundzügen eines radikal liberalen Minimalstaates. – In Auseinandersetzung mit dem libertären Anarchismus sucht N. im 1. Teil des Werkes eine Antwort auf die Frage, warum es unter individuell-rational  handelnden Individuen überhaupt einen Staat geben sollte. Um den Anarchismus  zu widerlegen, wird ein bestmöglicher staatsfreier Zustand angenommen, auf den man noch rational hoffen darf. Dieser entspricht im Wesent­ lichen dem Locke’schen Naturzustand. N. zeigt auf, dass aus diesem Zustand heraus, geleitet von der unsichtbaren Hand der individuell-rationalen Interessenverfolgung, ein Staat

entstehen würde, wenn man die »naturrechtlich« vorausgesetzte individuelle Vertrags­ freiheit  nicht einschränkt. Da der Anarchist jede Einschränkung der Vertragsfreiheit ablehnen muss, wäre seine Position anscheinend ad absurdum geführt, wenn der Übergang zum Staat tatsächlich in freier Übereinkunft erfolgen würde. Der regulatorische Anspruch auf ein Monopol der Gewaltausübung beinhaltet jedoch  unaus­weich­ lich eine Rechtsverletzung. Die Gewährung gleichen rechtlichen Schutzes unabhängig von Zahlungsbereitschaft und -willigkeit setzt ebenfalls die rechtsverletzende Erhebung von Zwangsbeiträgen voraus. N. rechtfertigt die im universellen Rechtsschutz liegende Umverteilung als  Kompensation der vorherigen Rechtsverletzung durch den Monopolanspruch und damit als Akt ausgleichender, nicht austeilender Gerechtigkeit. – Im 2. Teil versucht N. zu zeigen, dass man über den Minimalstaat nicht hinausgehen kann, ohne das Naturrecht zu verletzen. Jede nicht einen vorherigen Rechtsbruch kompensierende Umverteilung, die sich der fundamentalen Zwangsge­walt des Staates bedient (d. h. einer Zwangsgewalt, die nicht auf vorheriger Zustimmung der Betroffenen



Nozick: Philosophical Explanations 431

beruht), um erwünschte Verteilungs-Endzustände herbeizuführen, ist für N. illegitim. Nur solche Zustände, die aus legitimen Vorzuständen durch die zwangsfreie Zustimmung aller Betroffenen herbeigeführt werden (bzw. herbeigeführt werden können), dürfen Anspruch auf Legitimität erheben. – Im 3.  Teil seines Werkes versucht N. ein libertäres Utopia zu entwerfen, in dem das freie Zusammenleben freier Menschen verwirklicht werden könnte. Dabei kehrt er zu Vorstellungen der amerikanischen Gründungsväter zurück. In einer auf Konkurrenz-Föderalismus be­ruhenden Friedensordnung können die einzelnen Staaten unterschiedliche Angebote an öffentlichen Gütern machen. Bürger können den Mix von öffentlicher und privater Verantwortung, den sie bevorzugen, durch Ab- und Zuwanderung frei wählen, wobei in N.s Modell die sub-staatlichen Einheiten freilich weitaus kleiner geraten als amerikanische Bundesstaaten. Sie gleichen den autonomen Einheiten in Skinners Walden Two (1948). – Die in Lehre und Forschung breite Strömung von Philosophy & Economics ist in ihrer heutigen Form durch das Werk N.s wesentlich mitgeprägt. H. Kliemt

Ausgaben: Oxfd.  2010 (ND der Ausg. von 1974). – Dt., Mchn. 2011. Literatur: Arizona Law Review 19, 1977, Heft 1 (Symposium).

Philosophical Explanations EA Cambr. (Mass.) 1981.

Bei diesem Band handelt es sich um eine Sammlung von mehr oder weniger lose zusammenhängenden Untersuchungen aus den Bereichen Metaphysik, Erkenntnistheorie und Wertethik, die auch einige von N.s bekannteren Positionen beinhält. – In der Einleitung erläutert N. zunächst seine Auffassung davon, wie Philosophie zu betreiben sei. Hier spricht er sich insbesondere gegen eine Suche nach zwingenden und unausweichlichen Argumenten aus und befürwortet stattdessen hypothesenbasierte Erklärungsversuche. – Im ersten Teil des Bands, der sich der Metaphysik widmet, stellt N. u. a. seine Auffassung von personaler Identität über die Zeit hinweg vor. Seine Auffassung zum Thema personale Identität ist bekannt als closest continuer theory. Diese Theorie kann als eine Reaktion auf gängige Gedankenexperimente verstanden werden, mit denen das Verständnis davon, unter welchen Umständen eine Per-

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Nozick: Philosophical Explanations

son über die Zeit hinweg die gleiche Person bleibt, getestet werden soll. Sollten Szenarien wie Körpertausch oder psychologische Verdoppelung von Personen möglich sein, so gilt laut N.: Eine Person kann nicht die gleiche sein wie eine vorherige, wenn sie unter den vorhandenen Kandidaten nicht die meisten Ähnlichkeiten mit der ursprünglichen Person aufweist. Als zentrale Eigenschaft von Personen führt N. sodann die Fähigkeit zu reflexivem Selbstbezug ein und konstatiert, das Ich basiere auf der Möglichkeit, sich auf sich selbst zu beziehen. Reflexiv sei dieser Selbstbezug, weil er sozusagen aus einer Innenperspektive her­ aus geschehe. – Nach einem Beitrag über die Frage »Why Is There Something Rather Than Nothing?« wendet N. sich anschließend in mehreren Beiträgen der Erkenntnistheorie zu. Hier gesellt er sich zu den Vertretern externalistischer Auffassungen des Wissens, denen zufolge die Abgrenzung des Wissens von bloßem Glauben durch Faktoren bedingt sein kann, deren sich der Wissende keineswegs bewusst sein muss. N.s eigener Beitrag zu derartigen Positionen besteht in der Hinzufügung kontrafaktischer Bedingungen, um die problematischen Aspekte dieser Po-

sitionen abzudämpfen. So legt er zum einen fest, wir hätten es nur dann mit einem Fall von genuinem Wissen zu tun, wenn ein Subjekt eine Sache nicht glauben würde, wenn sie nicht wahr wäre. Zum anderen müsse es der Fall sein, dass das Subjekt die Sache auch unter etwas veränderten Umständen noch immer glauben und das Gegenteil für falsch halten würde. Unter diesen Bedingungen »folge« der Glaube der Wahrheit, einen Umstand den N. wiederholt als tracking the truth bezeichnet. Mittels dieser Überlegungen glaubt N. auch den Skeptizismus in den Griff zu bekommen. Zwar könne es auch auf Grundlage der kontrafaktischen Zusatzbedingungen kein Wissen darüber geben, ob die Existenz der Welt eine komplette Illusion sei, doch zumindest im Bezug auf Alltagsaussagen sei ein »Verfolgen« der Wahrheit im Sinne der kontrafaktischen Bedingungen des Wissens durchaus möglich. – Der wertethische Teil des Bandes beginnt mit drei Untersuchungen über die Willensfreiheit. N. vertritt dabei eine kompatibilistische Position, der zufolge unser Wille insofern frei von den determinierenden Naturgesetzlichkeiten sei, als dass Entscheidungen für und gegen Handlun-



Nussbaum: The Fragility of Goodness 433

gen aus gewichteten Gründen heraus geschehen. Gewichtete Handlungsgründe konstituierten zugleich kontinuierlich die Persönlichkeit der Entscheider. Dies ermögliche die Annahme von Verantwortung für unser Handeln, wie N. sie in seiner anschließenden, retributiven Rechtfertigung für Strafe auf Grundlage des Schuldprinzips zugrunde legt. – Sechs weitere Beiträge befassen sich anschließend mit den Grundlagen der Ethik. In diesen Teilen unterscheidet N. zunächst zwischen einem ethischen »Schub« und einem ethischen »Zug«. Die Theorie des ethischen Schubs legt dabei dar, warum genau es für ein Individuum gut sei, sich moralisch zu verhalten. Die Theorie des ethischen Zugs hingegen spezifiziert, auf welcher Basis andere Personen moralische Ansprüche gegen das Individuum vorbringen können und welche Verhaltensbeschränkungen gegenüber diesen anderen sich daraus ergeben. Hieraus hervorgehend schlägt N. eine Auffassung von ethischem Wert als graduell verstandener organischer Einheit vor, der zufolge der Wert von Dingen und Sachverhalten sich aus ihrem Beitrag zu einem organischen Ganzen ergibt, dessen Gesamtheit mehr wert sein kann als die Summe aller

Teile. Da diese Auffassung von ethischem Wert sich auf die Wert- und Sinnsuche sowie auf die Selbstentwicklung der Individuen auswirken soll, trägt sie die teleologischen Züge einer funktionalen Bestimmung des Seins. Ein abschließender Beitrag trägt die Bedeutung dieser Überlegungen für die Frage nach dem Sinn des Lebens zusammen. Aufgrund dieser Art von Fragestellung unterscheidet sich Philosophical Explanations deutlich von N.s früherem und bekannterem Werk → Anarchie, Staat und Utopie. A. Dufner Literatur: D. Schmidtz (Hg.), R. N., Cambr. 2002.

Martha C. Nussbaum * 6. 5. 1947 in New York; bedeu­ tende zeitgenössische Philosophin, prominente Vertreterin des capabil­ities approach.

The Fragility of Goodness. Luck and Ethics in Greek ­Tragedy and Philosophy EA Cambr. 1986.

In dem Werk behandelt N. die Problematik von moral luck vor dem Hintergrund des griechischen Denkens des 5.  vorchristlichen Jh.s. Dazu diskutiert sie ausgewählte ­ Werke der drei großen griechischen

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Nussbaum: The Fragility of Goodness

Tragödiendichter Aischylos, Sophokles und Euripides und der Philosophen Platon und Aristoteles. Mit Ausnahme der Behandlung der aristotelischen Werke stellen alle Kapitel des Buches, in dem N. nicht den Anspruch auf eine streng systematische Behandlung der Thematik erhebt, jeweils auch einen eigenständigen Essay zu einem der behandelten griechischen Werke dar. – Die Bedeutung von Zufall für die Bewertung der Güte oder Vorzüglichkeit eines menschlichen Lebens ergibt sich nach Auffassung N.s aus der Verfasstheit des Menschen als zugleich bedürftiges und verletzliches, aber auch vernünftiges Wesen. Ob ein Leben gelingt, hängt zum einen von äußeren Einflüssen ab, die außerhalb seiner Kontrolle liegen. Zugleich ist der Mensch diesen Zufälligkeiten aber nicht bloß ausgeliefert, da er sich mittels der Vernunft zu ihnen verhalten und versuchen kann, ein selbstgenügsames Leben zu führen. Zwischen diesen Polen der Schicksalsausgeliefertheit und dem philosophischen Ideal der Selbstgenügsamkeit sind wir als Menschen situiert, und es geht N. darum auszuloten, mit wie viel Zufall wir leben können. – In der jeweils sehr vielschichtigen Behandlung der Thematik durch

die antiken Autoren macht N. Tendenzen aus: Während verschiedene Tragödien zunächst die irreduzible Rolle des Zufälligen für das menschliche Leben und seine Güte betonen, unternimmt Platon in den mittleren Dialogen nach N.s Lesart den Versuch, Menschen gegen derlei Zufälligkeiten zu immunisieren, indem er aufzeigt, wie ein an der Vernunft orientiertes Leben als selbstgenügsames gelingen kann. N. liest schließlich Aristoteles als den Autor, der eine Mittelposition zwischen diesen Polen einnimmt und eine Konzeption praktischer Rationalität entwickelt, die ein in angemessener Weise selbstgenügsames menschliches Leben ermöglicht und den Menschen dabei sowohl in seiner Rolle als Vernunft- wie auch als Bedürfniswesen anerkennt. Im Anschluss an diese Auffassung verfolgt N. das Ziel der Entwicklung einer eigenen aristotelischen Position in der praktischen Philosophie – nicht allein in diesem Buch, sondern zugleich als Programm weiterer philosophischer Arbeiten. – Originell ist N.s methodischer Zugriff auf die Thematik, denn sowohl philosophische als auch literarische Texte fungieren hier als Instrument der ethischen Analyse. Nicht zuletzt in Abgrenzung



Nussbaum: Frontiers of Justice 435

zum Selbstverständnis der analytischen Philosophie hält N. die Einbeziehung literarischer Texte in eine philosophische Analyse ethischer Fragen für sinnvoll und nötig, da diese ethische Phänomene, etwa durch die Berücksichtigung einer emotionalen und affektiven Komponente, in anderer Weise zu erfassen vermögen als streng analytische Texte. – Neben dem Beitrag, den das Buch zur Diskussion des praktischen Denkens in der griechischen Antike leistet, ist v. a. die Entwicklung einer aristotelisch inspirierten praktischen Philosophie, die in N.s Denken hier ihren Ausgang nimmt, für die Gegenwartsphilosophie, insbesondere für die Strömung des Neoaristotelismus, von besonderer Bedeutung. Für die gegenwärtige philosophische Diskussion bildet das Werk darüber hinaus einen wichtigen Referenztext ebenso für die Diskussion um moral luck wie auch für die neuere Tugend­ ethik. S. Laukötter Ausgabe: Cambr./NY 22001 (über­arb.). Literatur: N. P. White, Rational Self-Sufficiency and Greek Ethics, in: Ethics 99 (1), 1988, 136–146. – R. V. Norman/C. H. Reynolds (Hg.), A Symposium on The Fragility of Goodness, in: Soundings – An Interdisciplinary Journal LXXII (4),

1989, 571–781. – C. Scherer, Das menschliche und das gute menschliche Leben. M.  N. über Essentialis­ mus und menschliche Fähigkeiten, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 41 (5), 1993, 905–920.

Frontiers of Justice. Disability, Nationality, Species Membership

(engl.; Die Grenzen der Gerechtigkeit. Behinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit), EA Cambr./ Ldn. 2006.

In Frontiers of Justice weitet N. den schon in früheren Arbeiten – v. a. in Women and Human Development (2000) – formulierten Fähigkeitenansatz (capabilities approach) auf weitere gerechtigkeitstheoretische Fragen aus. Die Grenzen der Gerechtigkeit, die sie aufzeigt, sind die der dominierenden gegenwärtigen Gerechtigkeitstheorien, v. a. der Vertragstheo­ rien, die nach N. drängende Gerechtigkeitsprobleme in drei Bereichen nicht angemessen behandeln können. Dies sind gerechtigkeitsbezogene Aspekte des Umgangs mit Menschen mit Beeinträchtigungen, Fragen globaler Gerechtigkeit sowie Fragen der Gerechtigkeit gegenüber nichtmenschlichen Tieren. Der Fähigkeitenan­ satz dagegen kann diese Probleme, wie N. argumentiert, vermeiden und diese Bereiche gerechtigkeitstheoretisch besser

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Nussbaum: Frontiers of Justice

erfassen. Ein zentraler Gedanke dieses Ansatzes mit Blick auf die ersten beiden Problem­ felder ist, dass es grundlegende menschliche Bedürfnisse und Fähigkeiten gibt, die bis zu einem Mindestmaß er­füllt bzw. gewährleistet sein müssen, damit Menschen ein gutes und menschenwürdiges Leben führen können. Demnach kann ei­ ne Gesellschaft dann als gerecht gelten, wenn sie gewährleistet, dass ihre Mit­glieder über diesen Schwellen­ wert gehoben wer­den. Hier kann der Ansatz nach N. auch als Theo­rie der Men­schenrechte verstanden wer­den. – N., die sich in diesem Buch deutlicher als in früheren Arbeiten im Feld des politischen Liberalis­mus veror­ tet, grenzt sich hier v. a. von ei­ ner Idee sozialer ­Ko­o­peration ab, die sich vorrangig auf das Erzielen wechselseiti­ger Vortei­ le konzentriert, da es auf der Grundlage eines sol­ chen Kooperationsverständnisses nicht möglich sei, Gerechtigkeitspflichten gegenüber Menschen mit Beeinträchtigungen zu begründen, weil von ihnen kein Vorteil im Rahmen der Kooperation erwartet werden kann. Anders als in kontraktualistischen Theorien wird Kooperation nach N.s Verständnis, das unter Rückgriff auf Aristoteles und Hugo Grotius entwickelt

wird, nicht als allein an das Eigeninteresse gebunden verstanden. An dessen Stelle tritt stattdessen ein »nichtkontraktualistisches Verständnis des Sorgens für andere«, nach dem Menschen schon aufgrund ihrer Bedürfnisse als Subjekte der Gerechtigkeit angesehen werden. So können nach N. auch Menschen mit Beeinträchtigungen (sowie die Menschen, die sie versorgen) als primäre Subjekte der Gerechtigkeit gesehen werden. – Auch mit Blick auf das Problem massiver globaler Ungleichheiten, das kontraktua­ listische Ansätze nach Auffassung N.s – egal ob im Modell des zweistufigen (Rawls) oder des globalen Vertrags (Beitz, Pogge) – nicht angemessen zu behandeln ver­ mögen, betont N. den »Vorrang von Ansprüchen« und fordert eine »Globalisierung des Fähigkeitenansatzes«. Gerechtigkeitspflichten im globalen Bereich bestehen gemäß dieser Auffassung für Akteure unterschiedlicher Art (Staa­ ten, Individuen, Unternehmen)  und betreffen ebenso die Gestaltung internationaler Institutionen wie auch das Handeln wirtschaftlich agierender Akteure und das von Individuen etwa in ihrer Rolle als Konsumenten. – Zuletzt rückt N. mit Blick auf die Frage nach den



Parfit: Reasons and Persons 437

Verpflichtungen der Gerechtigkeit gegenüber (nichtmenschlichen) Tieren sowohl von einem kantisch geprägten Ver­ständnis ab, das Verpflichtungen gegenüber Tieren lediglich als indirekte Pflichten kennt, als auch von utilitaristi­schen Ansätzen, die Pflichten gegenüber Tie­ren allein als sol­ che des Mitleids verstehen. Stattdessen sollen Tiere als Wesen mit Würde betrachtet werden, deren Wohlergehen und Gedeihen es zu befördern gilt. – In der gegenwärtigen gerechtigkeitstheoretischen Diskus­sion stellt der Fähigkeitenansatz ein wichtiges Gegenmodell zu kontraktualistischen Theorien dar, an das in verschiedenen Anwendungsdiskursen ebenso wie in politischen Zusammenhängen, etwa der Entwicklungspolitik, angeknüpft wird. S. Laukötter Ausgabe: Dt., Ü.: R.  Celika­ tes/E. Engels, Ffm. 2010. Literatur: S. Freeman, Frontiers of Justice: The Capabilities Approach vs. Contractarianism, in: Texas Law Review 85, 2006, 385–430.

Derek Parfit *  11. 12. 1942 in China; bedeutendster zeitgenössischer Befürworter einer reduktionistischen Auffassung personaler Identität, wichtige Beiträge zur Ethik.

Reasons and Persons EA Oxfd. 1984.

In Reasons and Persons argumentiert P., verschiedene normative Theorien seien aufgrund falscher Annahmen über die Natur des Ichs zu revidieren. Der erste Teil des Buchs befasst sich mit der rationalen Entscheidungstheorie und Problemen wie den Gefangenendilemmata. Die zentrale These dieses Teils besteht in der Behauptung, verschiedene Auffassungen des ökonomischen Prinzips des Eigeninteresses seien entweder direkt oder indirekt selbstwidersprüchlich. Teil  II des Buchs befasst sich mit dem Problem zeitrelativer Präferenzen. Das traditionelle Prinzip des Eigeninteresses ist laut P. unvollständig relativ: Indem es Vorteile für den Handelnden zu jeglichem Zeitpunkt für rational bevorzugens­wert hält, ist es vollständig akteursrelativ, aber nicht zeitrelativ. Damit kann das Prinzip des Eigeninteresses laut P. von zwei Seiten, also sowohl von Vertretern akteursneutraler als auch von Vertretern zeitrelativer Theorien, angegriffen werden. Nach einer Diskussion der Frage, ob man vergangenen oder zukünftigen Wünschen, die man zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht oder nicht mehr hegt, Bedeutung

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Parfit: Reasons and Persons

beimessen sollte, spricht P. sich in diesem Teil für seine Critical Present Aim Theory aus, der zufolge es gerade nicht am rationalsten ist, immer den eigenen Vorteil zu suchen. – Der dritte Teil befasst sich mit dem Problem der personalen Identität. In diesem Teil legt P. dar, dass der psychologische Zusammenhang einer Person über die Zeit hinweg weitaus weniger stark sei als von gängigen Theorien der personalen Identität sowie im Rahmen der Alltagsintui­ tion gemeinhin angenommen. Solche gängigen Auffassungen unterstellen seines Erachtens, es gebe eine metaphysisch höher gelagerte Art von SelbstIdentität und folglich eine metaphysische Separatheit der Personen. Dieser Auffassung zufolge hängen die verschiedenen zeitlichen Teile des Ichs auf höherer Ebene zusammen und sind dadurch klar von anderen Personen  getrennt. Diese Auffassung verwirft P.  zugunsten seines einschlägig gewordenen reduktionistischen Ansatzes der personalen Persistenz. Dieser Auffassung zufolge ist das, was für unsere Fortexistenz wirklich wichtig ist, lediglich unsere graduell ausgeprägte, zeitübergreifende psychologische Verbundenheit und Kontinuität. Sollte diese Auffassung richtig sein, so würden laut P. ver­schiedene

normative Revisionen notwendig. Insbesondere die Gewichtigkeit des Prinzips der Verteilungsgerechtigkeit müsste laut P. nach unten korrigiert werden. – Teil  IV stellt einen der bekanntesten zeitgenössischen Beiträge zur Populationsethik dar. In diesem Teil problematisiert P. das Verhältnis zu zukünftigen Generationen, also zu Personen, die noch gar nicht existieren. Die zentrale Frage lautet, ob wir Personen, die noch gar nicht existieren, eigentlich schaden können – eine zentrale Annahme im Rahmen der Umweltethik, aber auch im Rahmen der Bevölkerungspolitik. Laut P. haben alle traditio­ nellen Denkschulen ein Problem mit dieser Frage. So müsste z. B. das utilitaristische Prinzip der Glücksmaximierung die Position zur Folge haben, es sei moralisch geboten, die Existenz so vieler Menschen wie möglich herbeizuführen, solange diese noch eine minimal positive Glücksbilanz aufzuweisen hätten. Diese Folgerung ist unter dem Namen Repugnant Conclusion (›abstoßende Konklusion‹) in die Literatur eingegangen. Aber auch deontologische Theorien haben laut P. ein Problem mit zukünftigen Generationen. So hilft die Annahme, auch zukünftige Personen hätten bestimmte Rechte, laut



Parmenides: Peri Physeōs 439

P. nicht weiter, da nicht ohne Weiteres davon ausgegangen werden kann, dass Rechte von Individuen beachtet werden müssen, deren Existenz noch völlig unklar ist. Insbesondere diese Aussagen über Generatio­ nengerechtigkeit und P.s Position zu personaler Identität sind mittlerweile einschlägig geworden und haben für eine Vielzahl an unterschiedlichsten Reaktionen gesorgt. A. Dufner Literatur: J. Dancy (Hg.), Reading P., Oxfd. 1997. – M. Quante, Person, Bln. 2007.

Parmenides von Elea * um 515 oder 540 v. Chr., †  vor 480 v. Chr.; Vorsokratiker, Hauptvertreter des Eleatismus.

Peri Physeōs (gr.; Über die Natur), entst. nach 515 v. Chr.; ED Paris 1573 (in: Poēsis Philosophica, Hg.: H. Stephanus).

Gedicht in Hexametern, Titel nicht original. 19  Fragmente aus antiker Überlieferung in drei verschieden großen Teilen: Proömion (Einleitungsgesang) (B  1–32), erster Teil über das Sein (B 2–8, Vers 52), zweiter Teil über den Kosmos (B  8, Vers  53 bis B 19). – Im Proömion berichtet ein »wis-

sender Mann« von einer rasenden Auffahrt zum Licht, mit Rossen, die ihn in Begleitung weiblicher Gottheiten ans Tor von Nacht und Tag bringen, wo er, von Dike (Recht) und Themis (Sitte und Ordnung) entsandt, Eintritt erhält. Die Fahrt hat ihn »über alle Wohnstätten hin« getragen, er trennt sich damit vom Alltag der übrigen Menschen, der »Sterblichen«. Eine (ungenannte) Göttin heißt ihn willkommen und stellt ihm in Aussicht, er werde alles erfahren: der »wohlgerundeten, unerschütterlichen Wahrheit Herz« [Alētheies etor] und der »Sterblichen Meinungen« (brotōn doxai), die kein wahres Vertrauen (keine pistis) enthalten; auch wird er lernen, dass der Schein (die doxa) alles durchdringt (B 1, Verse  8–32). – Im ersten Teil verkündet die Göttin drei Wege der Forschung. Der erste ist der Weg des Seins; er ist der einzig mögliche; »denn dasselbe sind Denken [noein] und Sein [ei­nai]« (B 3). Der zweite Weg, der des Nichts (mē einai), ist nicht zu erkunden; denn das, was nicht ist, kann weder erkannt noch gesagt werden (folgerichtig die Paradoxien des Zenon von Elea und kritisch Gorgias von Leontinoi). Der dritte Weg ist jener der Sterblichen, die nichts wissen und von Rat-

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Parmenides: Peri Physeōs

losigkeit getrieben werden. P. nennt sie »doppelköpfig«: Bald gilt ihnen Sein und Nichts für dasselbe, dann wieder nicht; sie sind taub und blind, blöde und unentschiedene Haufen (B  6, Vers  7); denn ihnen fehlt die Unterscheidungskraft des logos (der Rede), um sich mit dessen Hilfe einer Prüfung (einem elenchos) zu unterziehen (B  7, Vers  5). Demgegenüber gilt dies: »Not ist zu sagen wie auch zu denken, dass Seiendes ist; es ist nämlich Sein« (B 6, Vers 1). Auf dem Weg des Seins gibt es Zeichen: Das Sein ist ungeboren und unvergänglich, kann auch nicht von etwas kommen, das nicht ist; es ist ein Ganzes, unerschütterlich und ohne ein Ende; es war nie, noch wird es sein, sondern es ist jetzt zugleich alles (B 8, Vers 2–7): Das Sein ist reine Gegenwart. Erfasst die Vernunft (der nous) das Anwesende, so gleichermaßen auch das Abwesende; sie trennt nicht das eine vom anderen (B 4). – Der zweite Teil ist besonders bruchstückhaft überliefert, und so hat sein innerer Zusammenhang mit dem ersten Teil schon früh Philologen wie Eduard Zeller und Philosophen wie Friedrich Nietzsche beschäftigt; dieser meinte, P. habe, »gleichsam aus Eis und Feuer geformt und kaltes, stechendes Licht um sich ausbreitend«, mit

dem zweiten Teil einen gemäßigteren Weg gewiesen (Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, Nr. 9). Einen Durchbruch bringt 1916 Karl Reinhardt, P. und die Geschichte der griechischen Philosophie. Die alten Kosmologien reißen die Gegensätze in zwei Teile auseinander. Doch müssen diese als Einheit gesehen werden, angefangen vom ätherischen Flammenfeuer und der lichtlosen Nacht. Die Göttin verspricht dem Wissenden, ihm eine Weltordnung (einen diakosmos) zu verkünden, die allen anderen überlegen ist; sie wird über die Sternbilder sprechen, über Sonne und Mond, den Äther, die himmlische Milchstraße und den Olymp. Mitten darin ist eine Göttin (daimōn), die alles lenkt, die die engeren Ringe mit ungemischtem Feuer (pyr) füllt und die nachfolgenden mit Nacht; dazwischen ist das hoch aufleuchtende Feuer (der phlox). Diese Göttin veranlasst Geburt und Paarung des männlichen und weiblichen Geschlechts (B  12). Der erste der Götter ist Eros (B 13). Doch gibt es auch diese Monstren: Krieg und Zwietracht, Begehren und Krankheit, Schlaf, Vergessen und Alter (überliefert von Cicero, De natura deorum = DK A 37). H. Vetter



Pascal: Pensées 441

Ausgaben: Gr./dt., DK, Bd.  I (Fragmente=›B‹). – Gr./dt., Die Vorsokratiker, Bd.  2, Hg.: L.  Gemelli Marciano, Bln. 2009. – Engl., P. A text with translation, commentary, and critical essays, Hg.: L. Tarán, Princeton 21966. Literatur: H. Schwabl, P. 1. und 2. Bericht, in: Anzeiger für die Altertumswissenschaft IX und XXV, 1956 und 1972, 129–155, 15–43. – P.  Kingsley, In the Dark Places of Wisdom, Ldn. 2001. – G. Neumann, Der Anfang der abendländischen Philosophie. Eine vergleichende Untersuchung zu den P.-Auslegungen von Emil Angehrn, Günter Dux, Klaus Held und dem frühen Martin Heidegger, Bln. 2006. – M. Marcinkowska-Rosól, Die Konzeption des »noein« bei P. von Elea, Bln. 2010.

Blaise Pascal *  19. 6. 1623 in Clermont (Auvergne), †  19. 8.  1662 in Paris; französischer Mathematiker, Physiker, Philosoph und religiöser Schriftsteller.

Pensées de M. Pascal sur la religion et sur quelques autres sujets, qui ont esté trouvées après sa mort parmy ses papiers

(frz.; Gedanken über die Religion und einige andere Themen), EA Paris 1670.

Es handelt sich bei diesem Werk um fragmentarisch hinterlassene Aufzeichnungen zur Apolo-

gie des Christentums. P.s Nachlass wurde von seinen Erben sogleich kopiert und sorgfältig aufbewahrt. 1670 erschien mit der sog. Port Royal-Ausgabe eine redigierte Fassung der ausgearbeiteteren Fragmente mit ergänzenden Texten, die bis ins 18.  Jh. mehrfach angereichert wurde. Im 19.  Jh. wurde von V.  Cousin eine Edition nach dem erhaltenen Manuskript gefordert und von P.  Faugère ausgeführt. Damit begannen zugleich die Versuche, das Material in der Form der geplanten Apologie zu ordnen. Zusätzliche Grundlage dafür sind das Vorwort zur Port-Royal-Ausgabe sowie ein späterer Bericht über einen diesbe­züg­ lichen Vortrag P.s 1658 in Port Royal. L. Brunschvicg dage­gen ordnete (1897 u.ö.) das Material nach subjektiven Kriterien. Ein objektives Editionsprin­ zip liegt der Ausgabe von L.  Lafuma (1951) zugrunde, der nachwies, dass die erhaltenen beiden N ­ achlasskopien eine sachli­ che Anordnung der Fragmente  durch P. selbst dokumen­tieren, wobei die von ihm edierte, ursprünglich in selbständigen Heften zirkulierende erste Kopie kleinere Abweichungen von der ursprünglichen An­ord­nung  aufweist (Ausg. der 2. Kopie durch P. Sellier). Neuere Untersuchungen

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Pascal: Pensées

wollen nach materialen und philologischen Kriterien die Stadien vor dieser Anordnung und damit die Chronologie klären. – P.s Argumentation in 27 Schritten (nach den Ko­ pien) setzt anthropologisch bei den Phänomenen der Nichtigkeit menschlicher Lebensvollzüge, der  Beherrschung durch die Einbildungskraft, dem Elend der existenziellen Situation, dem Phänomen der Langeweile sowie dem oszillierenden Wechselspiel von »Ursachen und Wirkungen« ein; dem entgegen steht die Größe des Menschen in Geist und Herz, die es ihm ermöglicht, sein Elend zu erkennen, und die die Widersprüchlichkeit seiner Natur zeigt. Das Christentum kann nach P. die Größe (Schöpfung) und das Elend (Sündenfall) der menschlichen Natur erklären (1–7). In der Zerstreuung sucht der Mensch der Einsicht in sein Wesen zu entgehen, in der Suche nach dem höchsten Gut (vergeblich) zur Erfüllung zu gelangen (7– 10). – Der 1.  Teil der Schrift soll eine offene Haltung gegenüber der Religion bewirken. Ein 2. Teil führt daraufhin über die Einsicht in die Grenzen der Vernunft zur religiösen Suche. Sie ist inhaltlich christozen­ trisch angelegt: »Die Erkenntnis  Gottes ohne die Erkennt-

nis des eigenen Elends führt zu Hochmut. Die Erkenntnis des eigenen Elends ohne die Erkenntnis Gottes führt zur Verzweiflung. Die Erkenntnis Jesu Christi steht in der Mitte, weil wir in ihr sowohl Gott wie auch unser Elend finden«. Im 15.  Kapitel steht das Fragment über das Missverhältnis des (ungläubigen) Menschen mit den Ausführungen über die zwei Unendlichkeiten und dem berühmten Satz über das schauerliche Schweigen der unendlichen Räume. Die Suchbewegung wird sodann methodisch über (heute teilweise befremdliche) historische Beweisschritte vermittelt: Allein die jüdische Religion besitzt eine Zeugenkette, die bis zur Schöpfung zurückreicht; das bildlich gelesene Alte Testament verweist ebenso wie die »Verknüpfungen der Wunder« und die Prophezeiungen auf Christus. P.s Argumentation führt schließlich zur Menschlichkeit, Vorbildhaftigkeit und Überzeugungskraft des christlichen Lebensvollzugs sowie zu den Bedingungen der Konversion. Weitere nicht in den Aufriss einsortierte Fragment­ serien enthalten neben parallelen Texten auch Fragmente, die entweder Notizcharakter haben oder als größere Stücke nicht ohne Weiteres in den



Peirce: How to Make our Ideas Clear 443

Ablauf einzuordnen sind (z. B. die der Argumentation wohl vorausgehende sog. »Wette«, die ein handlungstheoretisches Argument für ein christliches Leben gegenüber einer agnostischen Position zu gewinnen sucht). – Ihren großen Erfolg gewann die Schrift v. a. aus den an­thropologischen Bemerkungen, die, obwohl vielfach direkt an M. de Montaigne anknüpfend, in der Schärfe der Beobachtung, in ihrer Ungewöhnlichkeit und Paradoxalität, ihrer sprachlichen Prägnanz und der eigentümlichen Verbindung von rhetorischem Spiel und existenziellem Ernst den Leser ständig zur Stellungnahme drängen. Wirkungen las­sen sich bis in M.  Blondels L’Ac­ tion (1893), die Existenzphilo­ sophie und die Daseinsanalyse M.  Heideggers nachweisen. Die logischen Aspekte des Frag­ments der »Wette« wurden besonders in der angelsächsischen Philosophie diskutiert. A. Raffelt Ausgaben: Œuvres complètes, Bd.  2, Hg.: M. LeGuern, Paris 2000 (enthält die EA und eine Neuausg. nach der 1. Kopie). – Opuscules et lettres, Hg.: P.  Seller, Paris 2001 (Ausg. nach der 2. Kopie; derzeitige Referenzausg.). – Engl., Pensées and Other Writings, Ü.: H.  Levi, Oxfd. 1995 (nach Sellier). – Dt., Gedanken, Ü.:

U.  Kunzmann, Stgt. 2004 (nach Lafuma). Literatur: A. R. Pugh, The composition of P.’s Apologia, Toronto 1984. – J. Mesnard, Les Pensées de P., Paris 31995. – A. Raffelt/P. Reifenberg, Universalgenie B. P., Wz­ bg. 2011.

Charles Sanders Peirce * 10. 9. 1839 in Cambridge (Mass.), † 19. 4. 1914 in Milford (Pa.); Be­ gründer des älteren Pragmatismus, Urheber bahnbrechender Beiträge zur Logik und Semiotik.

How to Make Our Ideas Clear (engl.; Über die Klarheit unserer Gedanken), EV Januar 1878 (in: Popular Science Monthly 12).

P. verfolgte ab der Mitte der 1860er Jahre die Absicht, die traditionelle Syllogistik zu einer Theorie auch der erkenntniserweiternden Schlussweisen, also etwa der induktiven Logik, auszubauen. Ein Gesamtüberblick über sein Schaffen lässt erkennen, dass er diese Forschungsfelder mit semiotischen Grundlagen versehen und im Entwurf einer evolutionären Kosmologie wechselseitig verknüpfen wollte. Aus den Jahren 1877/78 stammt eine Reihe von Essays, die wir unter der Sammelbezeichnung der Illustrations of the Logic of Science

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Peirce: How to Make our Ideas Clear

kennen. Diese greifen die Frage auf, wie man zur Festigung einer Überzeugung gelangen könne, und gipfeln im Entwurf einer Naturordnung, die im Unterschied zum Weltbild der klassischen Mechanik auch nicht-deterministische und sto­­chastische Regularitäten berücksichtigt. – In diesem thematischen Kontext entwickelt der zweite und bedeutendste dieser Essays, How to Make Our Ideas Clear, die pragmatische Maxime: »Überlege, welche Wirkungen, die denkbarerweise praktische Bezüge haben könnten, wir dem Gegenstand unseres Begriffs in Gedanken zukommen lassen. Dann ist unser Begriff dieser Wirkungen das Ganze unseres Begriffs des Gegenstandes.« P. hebt noch viel später als wesentlich hervor, dass die pragmatische Maxime zunächst nur einen vorgestellten Bezug zwischen dem Gedanken und möglichen Handlungen herstellt und so selbst in gewisser Weise im Bereich des Gedanklichen, des Gedankenexperiments, verbleibt; in dieser Funktion soll sie die erfahrungswissenschaftliche  Heuristik und die Bewahrheitung oder Entkräftung von Hypothesen anleiten. Er illustriert sie positiv an der neuzeitlichen Physik, insbesondere an Kepler; als Kontrastbeispiel dient

die katholische Transsubstan­ tiationslehre. – Die Begründung der pragmatischen Maxime stellt unter Beweis, dass P. sie aus einer Fortentwicklung der tragenden Beweisfigur der cartesianischen Philosophie und Erkenntnistheorie gewinnt. Descartes und seine Nachfolger hatten klare und dunkle Vorstellungen und Ideen einerseits, gegliederte und verworrene Vorstellungen und Ideen andererseits unterschieden  Bereits Descartes selbst hatte in der cogitatio, d. h. dem Akt des Denkens und insbesondere des Zweifels, das unerschütterliche Fundament der Erkenntnis zu gewinnen geglaubt und von ihr auf die Existenz Gottes extrapoliert, der seinerseits Bestand und Erkennbarkeit des natürlichen Universums zu gewährleisten hatte. Bei Leibniz und Kant spielt das denkende Ich eine andere und bescheidenere, aber doch vergleichbare Rolle. P. bricht nun den Begründungszirkel der Erkenntnistheorie der Neuzeit auf, indem er den cartesia­ nischen Erkenntnisattributen der Klarheit und Deutlichkeit in der pragmatischen Maxime einen überlegenen Gesichtspunkt  vorordnet. Er bleibt der cartesianischen Erkenntnistheo­rie insofern verbunden, als er jene grundsätzliche Affinität von Begriff



Peirce: How to Make our Ideas Clear 445

und Gegenstand voraussetzen muss, die Descartes aus der mittelalterlichen Philosophie übernommen hatte und die P. in seiner Logik, Semiotik und evolutionären Kosmologie neu zu explizieren hoffte. – In der Durchführung der pragmatischen Maxime finden zuvörderst die Begriffe der ›Wahrheit‹ und ›Realität‹ eine allerdings prinzipiell nur vorläufige Klärung: »Die Meinung, der sich jeder Forschende zuletzt beizupflichten bestimmt sieht, ist das, was wir unter Wahrheit verstehen, und das in dieser Meinung vorgestellte Objekt ist das Reale.« Als Umschreibung der Bedingungen der Bedeutungsverleihung an Begriffe ist die pragmatische Maxime zugleich eine Anweisung zur Elimination prinzipiell sinnloser Terme. Weiterhin lässt ihr Wortlaut erkennen, dass P. einen inklusiven (umfassenden) Begriff von Erfahrung zu beschreiben versuchte, der die mit Kant einsetzende Tendenz einer formalen Restriktion der Erfahrungsinhalte korrigieren sollte. – Die von P. konzipierte pragmatische Maxime oder doch sein Pragmatismus im Allgemeinen sind aufgegriffen worden beispielsweise von W.  James, J.  Dewey, G.  H. Mead und C. I. Lewis; doch ist die Geschichte ihrer Rezep­

tion unter seinen Zeitgenossen und Nachfolgern der ersten Generation zugleich  eine Geschichte partieller Missverständnisse, wie insbesondere die Wahrheitstheorie von James und Deweys Instrumentalismus  unter Beweis stellen. Eine authentische Fortsetzung der originären Intention von P. kann demgegenüber in dem Werk von H. Putnam und N.  Rescher, neuerdings auch von R.  Brandom, erblickt werden. Die Bestrebungen zur Wiederbelebung eines reflektierenden oder gar spekulati­ven Pragmatismus  weisen in dieselbe Richtung, indem sie den intellektuell-noetischen Aspekt der pragmatischen Maxime herausarbeiten, d. h. ihre Dienlichkeit als Richtschnur für den  verstandesmäßigen Umgang mit (auch begrifflichen) Objekten. K.-F. Kiesow Ausgaben: Writings of C. S. P. A Chronological Edition, Bd.  3, Hg.: C. J. W. Kloesel u. a., Bloomington 1986, 257 – 276. – Engl./dt., Hg. und Ü.: K.  Oehler, Ffm. 1968, 3 1985. Literatur: J. v. Kempski, C. S. P. und der Pragmatismus, Stgt. 1952 (ND in: ders., Schriften 3: Prinzipien der Wirklichkeit, Hg.: A.  Eschbach, Ffm. 1992, 193– 309). – ­K.-O. Apel, Der Denkweg von C. S.  P. Eine Einführung in den  amerikanischen Pragmatismus,

446

Perry: Reference and Reflexivity

Ffm. 1975. – K. Oehler, C. S. P., Mchn. 1993. – H. Pape, C. S. P. zur Einführung, Hbg. 2004. – C.  Misak (Hg.), The Cambridge Companion to P., Cambr. 2004.

John Perry * 16. 1. 1943 in Lincoln (Nebraska); amerikanischer Vertreter der Sprachphilosophie und der Theorie des Selbstbewusstseins.

Reference and Reflexivity EA Chicago 2001.

In diesem Werk untersucht P. ein Teilproblem der Sprachphilosophie: die Bedeutung von Eigennamen und Pronomen, insbesondere von indexikalischen Ausdrücken wie ›ich‹, ›du‹, ›diese Person‹, ›hier‹, ›dort‹, ›jetzt‹, ›heute‹ oder ›diese Woche‹. Das Buch stellt eine Fortführung der Argumenta­ tionen in P.s Knowledge, Pos­ sibil­ity and Consciousness (2001) dar; das Thema wird in seinen anschließenden Arbeiten über die Natur des Ichs weiter verfolgt. – Indexikalische Ausdrücke verändern ihre Bedeutung je nachdem, von wem, wann oder wo sie geäußert werden. Dies gilt auch für Eigennamen und Pronomen. So mag der Satz »Bill Clinton mag Gurken zu seinem Hamburger« nicht notwendigerweise ein Satz über

den ehemaligen Präsidenten der Vereinigten Staaten sein, sondern – zumindest unter gewissen Äußerungsumständen – eben auch ein Satz über eine unbekanntere Person gleichen Namens. – Im Bezug auf die Bedeutung solcher Ausdrücke schlägt P. eine »reflexiv-referenzielle Theorie« vor. Die reflexivreferenzielle Theorie fußt auf der Ablehnung und Weiterentwicklung rein referenzieller Theorien, die Namen als semantische Anzeiger für bestimmte Objekte verstehen, als seien sie durch die sprachlichen Konventionen sozusagen direkt mit diesen Objekten verbunden. Gegen diesen Theorietyp sprechen laut P. zwei Gesichtspunkte: das Problem der KoReferenz und das Problem der Nicht-Referenz. Das Problem der Ko-Referenz charakterisiert P. folgendermaßen: Man stelle sich vor, Bill Clinton habe als Kind noch den Nachnamen eines anderen Elternteils getragen und einigen seiner damaligen Schulkameraden sei sowohl seine Namensänderung als auch seine Tätigkeit als Präsident unbekannt. Diese alten Bekannten könnten die Aussage »Bill Blythe mag Gurken zu seinem Hamburger« vertreten, würden aber der Aussage »Bill Clinton mag Gurken zu seinem Hamburger« nicht ohne



Perry: Reference and Reflexivity 447

Weiteres zustimmen. Möchte man die Auffassung vertreten, die unterschiedlichen Haltungen gegenüber den beiden Aussagen seien unter den gegebenen Umständen gerechtfertigt, so muss es laut P. etwas geben, das die referenzielle Theorie nicht abbilden kann. Ähnlich verhält es sich mit dem Problem der Nicht-Referenz. Viele Menschen sind geneigt, Aussagen über den Weihnachtsmann oder über Sherlock Holmes zuzustimmen, obwohl diese als Referenzobjekte überhaupt nicht existieren. Will man die Haltung dieser Sprecher dennoch für plausibel erklären, so muss es laut P. wiederum etwas geben, das die referenzielle Theorie alleine nicht erklären kann. Beide Probleme scheinen, so P., eher eine »deskriptive Theorie« zu stützen, der zufolge die Bedeutung von Namen sich schlicht auf das bezieht, was die Sprecher jeweils gerade im Sinn haben – eine Theorie, die P. zu Abgrenzungszwecken zwar wiederholt diskutiert, aber nicht ernsthaft als Lösung des Problems in Erwägung ziehen möchte. – Stattdessen argumentiert er, sein reflexiv-referenzieller Ansatz könne die Probleme lösen. Diesem Ansatz zufolge haben indexikalische Ausdrücke sowohl eine referenzielle als auch eine

indexikalische Komponente. Im Bezug auf die beiden Aussagen »ich bin ein Computerspezialist« (geäußert von einem Herrn namens David Israel) und »Sie sind ein Computerspezialist« (geäußert von einem vor Israel stehenden Kunden) sieht diese Unterscheidung folgendermaßen aus: Der referenzielle Gehalt beider Aussagen ist gleich. Als Referenzanzeiger spielen sowohl ›ich‹ (geäußert von David Israel) als auch ›Sie‹ (geäußert von einem vor Israel stehenden Kunden) die gleiche Rolle. Beide verweisen auf David Israel. Der indexikalische Gehalt der beiden Aussagen ist jedoch unterschiedlich. So stellt die erstere Ich-Aussage eine Aussage über den Sprecher der Aussage dar, während die Du-Aussage eine Aussage über den angenommenen Adressaten eines Sprechers darstellt. – Reference and Reflexivity ist ein Beispiel für die intensive Auseinandersetzung mit von Gottlob Frege ins Leben gerufenen Diskussionen der Sprachphilosophie auch im englischsprachigen Raum. A. Dufner Literatur: M. O’Rourke/C.  Wa­ sh­ington, Situating Semantics. Essays on the Philosophy of J. P., Cambr. (Mass.) 2007.

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Platon: Apologia Sōkratus

Platon *  429/428 v. Chr. in Athen, †  349/348 v. Chr. in Athen; Philosoph, Kosmologe, politischer Denker und Pädagoge, Schüler des Sokrates, Begründer der ›Akademie‹, der ältesten Philosophenschule Griechenlands.

Apologia Sōkratus (gr.; Die Verteidigung des Sokrates), entst. nach 399 v. Chr.; ED Venedig 1513 (gr.; Hg.: E. Musuros).

Mit diesem Werk macht P. ein historisch eher unbedeutendes Ereignis zu einer Schlüsselszene innerhalb der Geschichte der europäischen Philosophie: die Verurteilung des Sokrates im Jahre 399 v. Chr. – Der Form nach setzt sich Sokrates in einer Gerichtsrede als Angeklagter vor dem Richtergremium mit dem Vorwurf auseinander, die Jugend verdorben und neue Götter eingeführt zu haben. In Wahrheit jedoch ist die Situation, wie sie P. vorführt, umgekehrt. Denn Sokrates will sich nicht im eigenen Interesse verteidigen; vielmehr treibt ihn Sorge um die Seelen der Richter, die er vor Fehlern bewahren will. Aus Anklägern werden somit Angeklagte. Von dieser Haltung werden die drei Reden des Sokrates getragen. Zunächst grenzt sich Sokrates von Naturphilosophie und So-

phistik ab. Sein Leben wird als Selbsterforschung und »Sorge um die Seele« vorgestellt, legitimiert durch den Spruch des Orakels von Delphi, niemand sei weiser als Sokrates, sowie das Daimonion. Die vom Orakelspruch initiierte Prüfung angeblich kompetenter Mitbürger mündet für Sokrates im Wissen des eigenen Nichtwissens, das im prüfenden Gespräch scheinbarer Gewissheit überlegen ist und dadurch die Seele vor Schaden bewahrt. Mit dieser »Sorge um die Seele« tritt ein wesentlich neuer Aspekt philosophischer Haltung in den Vordergrund, die auch von anderen Umdenken verlangt, bei ethischen Fragen scheinbar sichere Antworten durch ernsthaftes Suchen ersetzt und sich dem demokratischen Recht der alleinigen Entscheidung durch das Volk nicht beugt. Grundlage dieser Haltung des Sokrates ist die Überzeugung vom Vorrang der Seele, deren philosophische Begründung ausdrücklich beiseitegelassen (der Unsterblichkeitsglaube erscheint lediglich als Mythologem und Hypothese), im →  Phaidōn aber nachgeliefert wird. Sokrates’ scheinbar paradoxe Forderung nach ehrenvoller Speisung im Prytaneion in der 2.  Rede nach dem Schuldspruch ist Konsequenz dieser Grund-



Platon: Euthydēmos 449

überzeugung. Eben diese lässt Sokrates schließlich in einer 3.  Rede die Todesstrafe in der Gewissheit akzeptieren, nicht der Tod, sondern Schaden an der Seele sei ein Übel. – Nicht zuletzt wegen der Verkehrung der Anklagesituation ist die Historizität der Verteidigungsreden fraglich. Ihr platonischer Hintergrund ist kaum zu bestreiten. Historisches ist daher eher in Sokrates’ Haltung als in den Reden selbst zu suchen. Aus diesem Grund ist auch eine Frühdatierung keineswegs sicher. Obgleich nur eine unter zahlreichen Stellungnahmen von Anhängern und Gegnern des Sokrates nach seinem Tod, hat P.s Werk einen wesentlichen Einfluss in der Geschichte der europäischen Philosophie ausgeübt. M. Erler Ausgaben: Gr., Euthyphro, Apology of Socrates, Crito, Hg.: J.  Burnet, Oxfd. 1924 (mit Erl.; ND 1977). – Gr., Opera, Hg.: W. A. Duke u. a., Oxfd. 1995. – Gr./dt., Hg.: M.  Fuhrmann, Stgt. 1986. – Gr./ dt., in: Werke, Bd. 2, Ü.: F. Schleiermacher, Drmst. 21990, 1–69. – Dt., Ü.: R. Rufener, Einführung: A. Szlezak, Zürich 1991. Literatur: E. Wolff, P.s Apologie, Bln. 1929, 21970. – H.  Kuhn, Sokrates, Mchn. 21959. – T. Meyer, P.s Apologie, Stgt. 1962. – T. G. West, P.’s Apology of Socrates, Ithaca (NY)/Ldn. 1979. – S. R. Slings, P.’s

Apology of Socrates. A Literary and Philosophical Study with a Running Commentary, Leiden 1994.

Euthydēmos (gr.), entst. nach 399 v. Chr.; ED Florenz ca.  1482–84 (lat.; Ü.: M.  Ficino); Venedig 1513 (gr.; Hg.: E. Musuros).

Anders als andere Sophistendialoge behandelt dieses Werk P.s keine politisch-ethische Fragestellung, sondern macht die sophistische Streitkunst selbst zum Thema. – Der (referierte) Dialog zeichnet sich durch kunstvolle Gliederung aus: In die Partien mit Streitgesprächen der Sophisten sind zwei sokratische Teile eingelagert, in denen zu Demonstrationszwecken ein Werbegespräch mit offenem Ausgang vorgetragen wird. In Kontrast hierzu illus­ triert der Wortkampf der beiden Streitvirtuosen Euthydem und Dionysodor, die widerlegen, »was immer gesagt wird, sei es wahr oder falsch«, Topik und Praxis sophistischer Argumentationsweise. Die Gegenüberstellung dieser Metho­ de mit der im sokratischen Gespräch vorgeführten, sach­ orientierten Widerlegung dient der Verteidigung dieser Art der Gesprächsführung gegen Verwechslung mit dem sophistischen Streitgespräch und als Warnung vor ihrem Miss-

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Platon: Euthyphrōn

brauch. Daneben lassen Streit als bloßes Spiel und Sokrates’ Antworten den Ernst philosophischer Konzepte erkennen, die in anderen Dialogen im Kontext platonischer Philosophie eine Rolle spielen: die Wiedererinnerungslehre  (ana­ m­nesis), das Gesetz vom Widerspruch, die Frage, wie NichtSeiendes ›ist‹, der Gebrauch von ›sein‹, die logische Möglichkeit von Nega­tion, Irrtum und Widerspruch, das Wesen des Logos, das von Identität und Differenz, Selbstwiderlegung sowie die Nutzung der Mathematik durch die Dialektik. Der Regress und damit das offene Ende von Sokrates’ zweiter Werberede lässt sich leicht auflösen, wenn in der »königlichen Kunst« das oberste Objekt des Wissens (megiston mathēma) erkannt wird, von dem die →  Politeia spricht, das über der Mathematik steht und das nur mithilfe der Dialektik erreicht werden kann. – Der Dialog spricht somit verschiedene Leser an. Für den einen dient er als Werbung für eine bestimmte Methode philosophischer Auseinandersetzung, für den anderen ist er ein Handbuch von Sophismen mit Anregung zu einer Art der Analyse, wie sie Aristoteles in den Sophistici Elenchi bietet. Für den schon mit Grundleh-

ren platonischer Philosophie vertrauten Leser dienen die Hinweise auf Konzepte seiner  Philosophie (Wiedererinnerung, Ideen, Dialektik) als Erinnerungshilfe und bieten die Möglichkeit, das Vorwissen zu testen. M. Erler Ausgaben: Gr., Opera, Hg.: H.  Stephanus, Bd.  1, 1578, 271– 307. – Gr., Opera, Hg.: J. Burnet, Bd.  1, 1900. – Engl., Hg.: E. H. Gifford, Oxfd. 1905 (ND NY 1973). – Gr./dt., in: Werke, Bd. 2, Ü.: F.  Schleiermacher, Drmst. 2 1990, 109–219. – Dt., P. Sämtliche Werke, Bd. 1, Hg.: U. Wolf; Ü.: F. Schleiermacher, Reinbek 2004. Literatur: R. K. Sprague, P.: Euthydemos, Indianapolis 1965. – R. S. W. Hawtrey, A Commentary on P.’s Euthydemus, Philadelphia 1981. – T.  H. Chance, P.’s Euthydemus, Berkeley 1992. – T. M. Robinson/L.  Brisson (Hg.), P. Euthydemus, Lysis, Charmides. Proceedings of the V. Symposium Platonicum, St. Augustin 2000.

Euthyphrōn (gr.), entst. nach 399 v. Chr.; ED Florenz ca.  1482–84 (lat.; Ü.: M. Ficino); Venedig 1513 (gr.; Hg.: E. Musuros).

Der soeben wegen Unfrömmigkeit (Einführung neuer Götter, Unglaube an die alten Götter) angeklagte Sokrates trifft Euthyphron. Der versteht sich als Fachmann in religiösen



Platon: Euthyphrōn 451

Dingen und will vor diesem Hintergrund eine Klage gegen seinen Vater wegen Mordes vorbringen. Aus dieser Situation ergibt sich Sokrates’ Frage nach dem Wesen (usia) der Frömmigkeit. Mit dieser Frage steht zugleich Euthy­ phrons Kompetenz und damit die Grundlage seines Handelns auf dem Prüfstand. Wie in anderen aporetischen Dialogen misslingen jedoch auch hier die Versuche des Experten, den Gegenstand der von ihm reklamierten Kompetenz näher zu bestimmen. Sowohl der Hinweis auf sein Verhalten als Beispiel von Frömmigkeit als auch die nach einem ersten Versuch modifizierte und schließlich formal korrekte Bestimmung: ›Fromm ist, was alle Götter lieben‹, greifen zu kurz, wird doch das Wesen der Sache durch eine Eigenschaft substituiert. Sokrates’ Versuch, die Gerechtigkeit ins Spiel zu bringen, führt zwar zur Spezifizierung des Frommen als den die Götter betreffenden Teil des Gerechten, verstanden als Dienst an den Göttern. Doch bleibt das Verhältnis von fromm und gerecht letztlich unklar (Dienst wofür und wobei). Der letzte Versuch des Euthyphron, das Fromme als Willfährigkeit gegen die Götter in Opfer und Gebet zu bestimmen, greift jedoch auf die

schon widerlegte Bestimmung (fromm ist das den Göttern Liebe) zurück. Das Gespräch dreht sich im Kreise; freilich bestreitet Sokrates, an diesem Kreislauf schuld zu sein. In der Tat ist das Scheitern hier wie in anderen aporetischen Dialogen durch die Unfähigkeit seines Partners verursacht, seine durchaus nicht gänzlich verfehlten Thesen angemessen zu begründen. Das Werk geht freilich darin über andere aporetische Dialoge hinaus, dass es mit der Wesenfrage (usia) bei der Definition den Unterschied von extensionaler Äquivalenz und intensionalem Inhalt (logisches proprium) einführt, ein Aspekt, der im →  Menōn weitergeführt wird und auf die Ideenlehre der mittleren Dialoge vorausweist. Dies geschieht jedoch nicht im Sinne eines ›noch nicht‹, sondern wie die Gestaltung des Gespräches durch P. (z. B. die Hinweise auf die Vorläufigkeit der Argumentation) im Sinne einer bewussten Aussparung. Eine Lösung der Probleme scheint möglich, die Aporie erweist sich daher nur als Durchgangsstadium. – Mit der hier zum ersten Mal angedeuteten Ideenlehre wird ein Begründungshorizont nahegelegt, der den Weg zu einer Lösung darstellt. M. Erler

452

Platon: Gorgias

Ausgaben: Gr., Opera, Hg.: H. Ste­phanus, Bd. 1, 1578, 2–26. – Gr., Opera, Hg.: W. A. Duke u. a., Oxfd. 1995. – Gr./dt., in: Werke, Bd.  1, Ü.: F.  Schleiermacher, Drmst. 21990, 391–397. – Gr./dt., Ü.: O. Leggewie, Stgt. 1986. Literatur: R. E. Allen, P.’s »Euthyphro« and the Earlier Theory of Forms, Ldn. 1970. – R.  Merkelbach, P.s Euthyphron, Mchn./ Lpzg. 2003. – M. Forschner: Über Frömmigkeit und Heiligkeit, in: B.  Hamm/K.  Herbers/H.  SteinKecks (Hg.), Sakralität zwischen Antike und Neuzeit, Stgt. 2007.

Gorgias (gr.), entst. nach 399 v. Chr.; ED Florenz ca.  1482–84 (lat.; Ü.: M. Ficino); Venedig 1513 (gr.; Hg.: E. Musuros).

Der Dialog stellt die radikalste Auseinandersetzung P.s mit der Sophistik dar. Eng verbunden mit der Frage nach Wesen und Zweck der Rhetorik ist das Problem der richtigen Wahl zwischen zwei Lebensweisen: dem Streben nach politischer Macht oder aber nach moralischer Integrität und philosophischer Wahrheit. Diese Alternative wird in den beiden Methoden Rhetorik und Dialektik und den Zielvorgaben ›Lust und das Gute‹ für die Lebensführung konkretisiert. Die wertneutrale Rhetorik steht ebenso zur Diskussion wie eine auf naturgegebene Vorteilnahme pochende

Lebensweise. – In dem als Gespräch zwischen Sokrates, Gorgias, Polos und Kallikles gestalteten Dialog werden beide Themen kunstvoll verflochten. Als widersprüchlich erweist sich zunächst der Anspruch der Rhetorik auf moralische Kompetenz bei gleichzeitiger Instrumentalisierung für jeden Inhalt ohne moralische Verantwortung (Gorgias). Der Verzicht (Polos) auf die moralische Komponente scheitert ebenfalls wegen inkonsequenter Rücksichtnahme auf populäre Auffassungen (Scham-Motiv). Auch die radikale Haltung des Kallikles, der die populäre Moral als Instrument der Schwachen zur Behinderung der Starken entlarven will und das Naturgesetz der Vorteilnahme propagiert, muss sich So­ krates’ Nachweis von Unrecht als Selbstschädigung der Seele beugen. Mit bemerkenswerter Bestimmtheit vertritt Sokrates seine These vom Guten als Maß allen Handelns und die damit verbundene Maxime, wonach »Unrecht zu tun schädlich für den Täter ist«, denn Unrecht zu tun, bedeutet Schaden für die Seele. Resultat ist die für viele paradoxe Auffassung, dass Unrecht tun schlimmer ist als Unrecht leiden, das Schlimmste aber die Nichtbestrafung. Hieraus folgt, dass Rhetorik als



Platon: Kritōn 453

seelsorgerische Praxis bei Unrecht zur Bestrafung verhelfen soll. Damit wird der Unterschied der sokratischen Elenktik als Seelsorge von  der gängigen Rhetorik deutlich. Wie die Argumentation mit  Polos und Kallikles unterstreicht ein Schlussmythos die These, es sei besser, als anständiger Mensch zu leben als trotz weltlichen Erfolgs an der Seele Schaden zu nehmen. Denn der Mythos führt aus, dass der Tod nicht von Unrecht entlastet, sondern die Seele einem göttlichen Totengericht überantwortet.  Auch hier wird philosophische Methode als Sorge um die Seele kenntlich. Ziel des »Prüfungsgespräches zwischen Richter und Seele« ist nämlich, durch Gespräch und eventuell Strafe Schaden von der Seele zu nehmen: sokratische Elenktik und Seelsorge also auch beim »Letzten Gericht«. – Der Gor­ gias gehört mit Phaidōn, Timai­ os, Symposion, Politeia und Nomoi zu den Dialogen, die schon in der Antike große Nachwirkung gehabt haben. Insbesondere we­ gen seiner Auseinandersetzung mit der Rhetorik, aber auch als ethischer Dialog ist der Gorgias schon in der Antike viel gelesen worden; er war Bestandteil des Schulkanons. In moderner Zeit ist besonders seine Rezeption, insbesondere

des Anti-Platon in P., Kallikles, durch Nietzsche zu erwähnen (z. B. das Bild vom durch die Gesellschaft nicht gezähmten Löwen 483e–484a). M. Erler Ausgaben: Gr., Opera, Hg.: H.  Stephanus, Bd.  1, Genf 1578, 447–527. – Gr., Opera, Hg. J. Burnet, Bd. 3, Oxfd. 1903. – Gr./dt., in: Werke, Bearb.: H.  Hofmann, Bd. 2, Drmst. 21990, 269–503. – Gr./dt. T. Kobusch/M. Erler, Stgt. 2011. – Dt., Ü.: K.  Hildebrandt, Stgt. 1985. Literatur: Kommentare in den Ausg.n von J.  Deuschle/C.  W.  J. Cronn, Lpzg. 1886; G.  Lodge, Boston/Ldn. 1896; E. R. Dodds, Oxfd. 1959; I.  Irvin, Ldn. 1979 (mit Bibl.) – M.  Canto, Gorgias, Paris 1987 (frz. Ü. mit ausf. Einl. und Bibl.). – J. Dalfen, P.: Gorgias. Übersetzung und Komm., Gttgn. 2004.

Kritōn (gr.), entst. nach 399 v. Chr.; ED Florenz ca.  1482–84 (lat.; Ü.: M. Ficino); Venedig 1513 (gr.; Hg.: E. Musuros).

Der Dialog spielt nach Sokrates’ Prozess und kurz vor dessen Hinrichtung. Kriton, Sokrates’ Freund seit seiner Jugendzeit, besucht diesen im Gefängnis und möchte ihn zur bereits vorbereiteten Flucht bewegen: Er soll dies um seiner selbst, seiner Kinder und seiner Freunde willen tun. Da es nach Sokrates je-

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Platon: Kritōn

doch um die Seele geht, ist ein Fachmann für Seelenforschung notwendig, nicht die Menge. Sokrates lehnt das Angebot ab. Er erinnert an die Prinzipien, die sein Handeln bestimmt haben: Man soll unter keinen Umständen Unrecht begehen, nie Unrecht mit Unrecht vergelten, keinem Schaden zufügen oder vergelten. Diese für die Menge eher erstaunlichen Maximen macht Sokrates zur Grundlage seiner Überlegungen. Flucht wäre demnach Unrecht, und Unrecht würde mit Unrecht vergolten. Eine gültige Entscheidung des Gerichtes, auch wenn sie ungerecht ist, kann nicht von einem Einzelnen ohne Weiteres korrigiert werden. Denn wichtiger als das Leben selbst ist ein Leben nach sittlichen Maßstäben; diese aber lassen ungerechtes Handeln nicht zu. Dieser Position des Sokrates verleiht P. besonderes Gewicht, indem er die personifizierten Gesetze auftreten und eine Rede halten lässt. In dieser verweisen sie darauf, dass der Einzelne der Stadt alles verdankt und deshalb kein Recht hat, sich gegen die Polis und ihre Gesetze zu wenden. Denn mit dem ansonsten von ihm akzeptierten Recht würde er die Grundlage des Zusammenlebens negieren. Flucht bedeutet zudem einen Schaden

für seine Seele sowie Gefahr für seine Anhänger. Durch diesen rational argumentierenden Appell der heiligen Gesetze, die als Kinder der Gesetze des Hades vorgestellt werden, verleiht P. der sokratischen Auffassung eine gleichsam religiöse Legitimation. Somit vollzieht sich während des Gespräches ein bemerkenswerter Rollentausch: Kriton, der potenzielle Retter vor dem vermeintlichen Übel Tod, wird von Sokrates vor Schaden an seiner Seele bewahrt. Der Dialog führt das unbeirrbare Festhalten an der These vor, dass der Tod geringeres Übel ist als dasjenige, Unrecht zu leiden. – Diese Treue des Sokrates gegenüber demokratischen Gesetzen hat modernen Interpreten allerdings Probleme gemacht. Freilich kommt dem Motiv des Festhaltens und Bleibens (z. B. bei Übereinkunft oder im Kerker des Lebens: → Phaidōn) in P.s Werk eine besondere Bedeutung zu und gewinnt vor dem Hintergrund von P.s Staatskonzeption an Profil. Zudem mag die Darstellung von Sokrates’ Verhalten auch der Rechtfertigung gegenüber den Athenern dienen. Eine Legitimation für bürgerlichen Widerstand ist dem Dialog jedenfalls nicht zu entnehmen. M. Erler



Platon: Menōn 455

Ausgaben: Gr., Opera, Hg.: H.  Stephanus, Bd.  1, Genf 1578, 43–54. – Gr., Opera, Hg.: J. Burnet, Bd. 1, Oxfd. 1900. – Gr., Opera, Hg.: W. A. Duke u. a., Oxfd. 1995. – Gr./dt., Werke, Bd.  1, Ü.: F.  Schleiermacher, Drmst. 2 1990, 71–107. – Dt., Ü., Anm. und Nachw.: M.  Fuhrmann, Stgt. 1986. Literatur: L. Noussan-Lettry, Spe­ kulatives Denken in P.s Frühschriften, Apologie und Kriton, Mchn. 1974. – C. H. Kahn, Prob­ lems in the Argument of P.’s Crito, in: Apeiron 22, 1989, 29–43. – L. Brisson, Apologie de Socrate. Criton, Paris 1997. – H. Flashar, Überlegungen zum Platonischen Kriton, in: ders., Spectra. Kleine Schriften zu Drama, Philosophie und Antikerezeption, Tbg. 2004, 135–144.

Menōn (gr.), entst. wohl nach 387 v. Chr.; ED Florenz ca. 1482–84 (lat.; Ü.: M. Ficino); Venedig 1513 (gr.; Hg.: E. Musuros).

Zentrales Thema des Dialoges ist die Frage nach der Lehrbarkeit und Lehrmethode der Tugend (aretē, im Sinne von Tüchtigkeit und Vortrefflichkeit). Damit steht die Grundlage sophistischen Unterrichts zur Diskussion, die auf Tugendvermittlung durch Umgang und Vorbild vertraut. – Der Gorgiasschüler Menōn stellt zu Beginn die Frage nach der Lehrbarkeit der Tugend.

Aus Sokrates’ Gegenfrage nach ihrem Wesen ergibt sich das weitere Gespräch, in dem Menōn verschiedene Definitionen der Tugend anbietet. Seine Vorschläge sind formal fehlerhaft und beantworten nicht die Frage nach dem Wesen der Tugend. Menōn bekennt seine Aporie, stellt aber die »eristische« Frage, wie man suchen kann, wovon man nicht weiß, was es ist. Dieses Problem regt zu grundsätzlichen Überlegungen an. Wissen wird als Wiedererinnerung (anamnesis) von latent vorhandenem Vorwissen dargestellt, was die Unsterblichkeit der Seele voraussetzt. Als Beleg für Sokrates’ These führt die Befragung eines der Mathematik unkundigen Sklaven nach der Seitenlänge eines Quadrates bei Verdoppelung von dessen Flächeninhalt zur richtigen Antwort. Da Menōn sich einer Untersuchung der Wesensfrage der Tugend verweigert, nimmt Sokrates die der Mathematik entlehnte Hypothesismethode zu Hilfe. Es wird gezeigt, dass die Tugend Wissen ist, insofern Tugend gut ist, alles Gute aber auf Wissen beruht. Doch ergeben sich Zweifel an ihrer Lehrbarkeit und damit an ihrem angenommenen Wissenscharakter. Freilich führt auch richtige Meinung zu Erfolg, ist also gut

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Platon: Nomoi

und kann somit Ursache von Tugend sein. Doch bleibt das Problem, dass Tugend dann kein Wissen, somit auch nicht lehrbar, sondern ein göttliches Geschick (theia moira) ist, ungelöst. Die betonte Vorläufigkeit des Ergebnisses (zu klären bleibt das Wesen der Tugend), die Wahl bestimmter Vergleiche (bloße Meinung als ›herumlaufende Standbilder‹) und der Hinweis, wonach richtige Meinung durch argumentatives Verfahren gesichert und zu Wissen werden kann, zeigen, dass das Problem nicht als unlösbar angesehen wurde. Die für das argumentative Verfahren notwendigen objektiven Maßstäbe bietet P. freilich nicht, sondern behandelt sie in den Ideendialogen. Mit der Sokratesfigur belegt er hier gleichsam die Existenzmöglichkeit eines wirklichen Lehrers und relativiert auf diese Weise die  im Gespräch auftretenden Zweifel. – Wie andere aporetische Dialoge kann dieses Werk der Werbung für die Philosophie, aber auch zur Übung kundiger Leser dienen. Zahlreiche nur angedeutete Gedanken sind wohl als Hinweis auf innerakademische Diskussionen zu verstehen. M. Erler Ausgaben: Gr., Opera, Hg.: H.  Stephanus, Bd.  2, Genf 1578,

70–100. – Gr., Opera, Hg.: J. Burnet, Bd. 3, Oxfd. 1903. – Gr./dt., in: Werke, Bd. 2, Ü.: F. Schleiermacher, Drmst. 21990, 505–599. – Gr./dt., Ü.: O. Apelt/E. Zehl, Hg.: H. Reich, Hbg. 21982. – Dt., Ü.: M. Krantz, Stgt. 2003. Literatur: Kommentare von R. S. Bluck, Cambr. 1961; J.  Klein, Chap­ el Hill (N.C.) 1965; J.  E. Thomas, Ldn. 1980; R.  Sharples, Chicago (Ill.) 1985. – R. Robinson, P.’s Earlier Dialectic, Oxfd. 21953. – W. K. C. Guthrie, A History of Greek Philosophy, Bd.  4, Cambr. 1975, 236–265. – E.  Heitsch, P.s hypothetisches Verfahren im Menon, in: Hermes 105, 1977, 257–268. – R. Merkelbach, P.s Menon, Ffm. 1988. – M.  Canto-Sperber, Menon, Paris 1991. – J. M. Day (Hg.), P.’s Meno in Focus, Ldn./NY 1994 (Ü. mit Aufsatzsammlung).

Nomoi (gr.; lat.: Leges; Gesetze), entst. als letztes Werk vor 347 v. Chr., nicht vollendet; ED Florenz ca.  1482– 84 (lat.; Ü.: M. Ficino); Venedig 1513 (gr.; Hg.: E. Musuros).

In P.s umfangreichster Schrift unterhalten sich ein namenloser Athener, der Spartaner Megillos und der Kreter Kleinias während einer Wanderung zur Zeusgrotte auf dem kretischen Berg Ida (dort empfing Minos von Zeus die kretischen Gesetze) über Staatsform und Gesetzgebung. Dabei kommen Probleme aus der Philosophie,



Platon: Nomoi 457

der Theologie, der Geschichte, der Pädagogik und des Rechts zur Sprache. Das Werk ist in zwei große Hauptteile gegliedert. In den Büchern 1–3 werden mit Bezug auf die spartanische und kretische Verfassung prinzipielle Fragen der Gesetzgebung diskutiert. Die Bücher 4–12 haben dagegen eher praxisbezogenen Inhalt. – Auf Grundlage der theoretischen Überlegungen der Bücher  1–3 wird eine Koloniegründung in Kreta (Magnesia) entworfen. Dabei geht es um konkrete Fragen wie Topographie und Herkunft der Siedler, v. a. aber um die beste Verfassungsform, in der nicht die Interessen der Einzelnen, sondern die Gesetze herrschen sollen. Die histo­ rische Entwicklung der Staa­ten wird geschildert (Buch 3). Ei­ne als Proömium bezeichnete Ansprache an die Siedler (Buch 4) gibt den Rahmen für Weite­­res vor: Gott als Maß aller Dinge liebt Mäßigung; göttli­chen Mächten wie auch Eltern und Vorfahren schuldet man Verehrung. Die rechte Einstellung gegenüber Leib und Seele (dem Göttlichsten und Eigentli­chen des Menschen) und die Pflichten gegenüber Kindern werden angemahnt; außerdem wird daran erinnert, dass tugendhaftes Leben lustvoll ist (Buch 5). Es folgt darauf die eigentliche

Gesetzgebung mit Vorschriften über die äußere Lage der Stadt, die Einteilung der Bevölkerung, über die mittlere Verfassungsform zwischen  Allein- und Volks­herrschaft, über Beamte und Gerichte bis hin zu Vorschrif­ten für die Bestattung, biswei­len verbunden mit grundsätzli­chen Erörterungen. Bei den Ehegesetzen wird das Wesen der Erziehung diskutiert (Buch 7); die Darstellung des Strafrechts geht mit Refle­ xionen über Ungerechtigkeit und Strafe einher (Bücher 9 und 10). Dem Gesetz gegen Gottesfrevel (asebia) ist eine Vor­rede über platonische Theologie und Kosmologie vorangestellt, die sich gegen ein mechanisti­sches Weltbild richtet (Buch  10). Hauptthesen sind ein Beweis der Existenz der Götter ­(Bewegungsursprung); Götter küm­mern sich um Menschen, Götter sind nicht bestechlich. Nach Bemerkungen über privates und bürgerliches Recht (Buch  11) schließt das Werk mit den Pflichten der Staatsbeamten (Buch  12). Mit der sog. »Nächtlichen Versammlung« als oberste Überwachung ins­ tanz werden notwendige Kenntnisse angedeutet (Tugendlehre, Dialektik, Psychologie, Theologie). Viel diskutiert ist das Verhältnis des Werkes zur →  Politeia, der gegenüber

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Platon: Parmenidēs

sich das Werk durch Realitätsnähe auszeichnet; gleichwohl markiert es kaum einen Bruch in P.s Denken, sondern bietet nur andere Aspekte und folgt Ansätzen des → Politikos. Zwar steht das Werk an Wirkung hinter der Politeia zurück, doch ist es nicht zuletzt als Beleg und Quelle für P.s historisches Interesse von großer Bedeutung. M. Erler Ausgaben: Gr., Opera, Hg.: H.  Stephanus, Bd.  2, Genf 1578, 624–969. – Gr., Opera, Hg.: J.  Burnet, Bd.  5, Oxfd. 1907. – Gr./dt., in: Werke, Bd.  8, Bearb.: K.  Schöpsdau, Drmst. 2 1990, 1–516. – Ü. und Komm.: K.  Schöpsdau, Buch  I–III, Gttgn. 1994; Buch  IV–VII, Gttgn. 2003; Buch VIII–XII, Gttgn. 2011. Literatur: L. Strauss, The Argument and the Action of P.’s Laws, Chicago/Ldn. 1975. – R. F. Stalley, An Introduction to P.’s Laws, Oxfd. 1983. – P. M. Steiner, P. Nomoi X, Bln. 1992. – G. Morrow, P.’s Cretan City, Princeton 21993.

Parmenidēs (gr.), entst. vor 347 v. Chr., wohl zwischen 370 und 360 v. Chr.; ED Florenz ca.  1482–84 (lat.; Ü.: M. Ficino); Venedig 1513 (gr.; Hg.: E. Musuros).

Der Dialog erzählt von einer (fiktiven) Begegnung des Sokrates mit Parmenides und Zenon. Er bietet darin Re-

flexionen über das Verhältnis von Einheit und Vielheit, von Sein und Nicht-Sein. – Zenon versucht zunächst in einem Buch, das vorgelesen wird, Parmenides’ These »Alles ist eins« durch den Nachweis zu unterstützen, dass die Annahme der Gegenthese: »Es gibt Viel­heit« zu unmöglichen Folgerun­ gen führt. Die demgegenüber von Sokrates vertretene Ideenleh­ re wird von Parmenides durch fünf Fragen und Einwände radikal kritisiert: a)  ob es von allen Dingen (d. h. auch den hässlichen) Ideen gibt; b)  wie Sinnendinge an den Ideen teilhaben können, c)  ob zwi­ schen Sinnending und Idee eine dritte Idee anzunehmen ist, kraft derer die beiden ande­ ren ihre Eigenschaften haben  (das  »Dritte-Mann«-Argument), d) die Unerkennbarkeit der getrennt von den Sinnendingen existierenden Ideen und e)  das Problem einer Erkennbarkeit der Sinnendinge durch Gott. Der junge Sokrates kann diese Probleme nicht befriedigend lösen. Die Argumente sind vermutlich als eine indirekte Richtigstellung von Missverständnissen der traditionellen Ideenlehre zu werten, denn die Probleme erwachsen einer gegenständlichen Auffassung der Ideenlehre. Eine noch mangelnde Übung des jungen



Platon: Parmenidēs 459

So­ krates wird als Grund für dessen unangemessene Verteidigung angeführt. – Dem zweiten, als Übung deklarierten Dialogteil mit einem Gespräch zwischen Parmenides und Aristoteles liegt Parmenides’ These zugrunde: »Wenn das Eine ist«, und die entsprechende Nega­ tion »Wenn das Eine nicht ist«; untersucht werden die Folgen für das absolut Eine in Bezug auf sich selbst (1), für das Eine in Bezug auf das Viele (2) (mit einem Korollar), für das Viele in Bezug auf das Eine (3), für das Viele in Bezug auf es selbst (4). Die 2. Hypothese setzt das Eine als nicht seiend und fragt nach den Folgen für das Eine in Bezug auf das Viele (5), für das Eine in Bezug auf es selbst (6), für das Viele in Bezug auf das Eine (7), für das Viele in Bezug auf sich selbst (8). Das Gespräch endet aporetisch sowohl für die Hypothese der Annahme des Seins des Einen als auch für deren Verneinung, und zwar sowohl für das Eine wie für das Viele und zudem in Bezug auf sich selbst als auch auf das Viele. Relativismus und Skeptizismus hinsichtlich der Ideen scheinen die Folge der Argumentation zu sein, doch wird – wie in den früheren aporetischen Dialogen auch – das Ergebnis offen gehalten. Zudem soll das Übungsprogramm

auch für die Vielheit als Gegenprinzip des Einen sowie für Sein und Nichtsein, Ruhe und Bewegung, Ähnlichkeit und Unähnlichkeit, Werden und Vergehen durchgeführt werden. Vorgeschlagen wird damit eine Art Prinzipiendialektik, was auf einen metaphysischen Hintergrund der Übung deutet. – Kaum ein Dialog P.s ist so unterschiedlich gedeutet worden: als antieleatischer Traktat, als eine logische Übung mit fragwürdigen Mitteln oder als eine Übung mit metaphysischer Bedeutung. In der Tat ist es am Leser, zwischen Haltbarem und Unhaltbarem der Argumentation zu unterscheiden. Damit im dialektischen Spiel ein auch ernsthaftes Anliegen deutlich wird, ist vom Leser das Niveau der Gesprächspartner zu berücksichtigen und mit Blick auf Ideenlehre oder Prinzipienlehre zu überschreiten. Wie in anderen aporetischen Dialogen hat die literarische Gestaltung des Werkes Appellcharakter. M. Erler Ausgaben: Gr., Opera, Hg.: H.  Stephanus, Bd.  3, Genf 1578, 126–166. – Gr., Opera, Hg.: J.  Burnet, Bd.  2, Oxfd. 1901. – Gr./dt., Hg.: H.  G. Zekl, Hbg. 1972. – Gr./dt., Ü.: E.  Martens, Stgt. 1987. – Gr./dt., Werke, Bd. 5, Drmst. 21990, 195–317.

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Platon: Phaidōn

Literatur: H. G. Zekl, Der Parmenides, Marburg 1971. – M. Miller, P.’s Parmenides, Princeton 1986. – L.  Brisson, P. Parménide, Paris 1994. – F. v. Kutschera, P.s »Parmenides«, Bln./NY 1995. – F. M. Cornford, P. and Parmenides, Ldn. 2000 (ND der Ausg. Ldn. 1939). – W. Wyller: P.s Parmenides: In seinem Zusammenhang mit Symposion und Politeia, Wzbg. 2007. – T.-B. Yang, Das Problem des Nichtseienden in P.s Parmenides: Zur neuen Interpretation des platonischen Dialoges Parmenides, Wzbg. 2008.

Phaidōn (gr.), entst. wohl zwischen 385 und 378 v. Chr.; ED Florenz ca. 1482– 84 (lat.; Ü.: M. Ficino); Venedig 1513 (gr.; Hg.: E. Musuros).

Das Werk gehört zur mittleren Schaffensphase P.s – Phaidon gibt dem Pythagoreer Echekrates einen Bericht über Sokrates’ letzte Stunden vor seinem Tod, die er mit Freunden, insbesondere Kebes und Simmias, im Gespräch verbrachte. Zunächst entwickelt Sokrates seine These von der Philosophie als einer »Einübung in den Tod« (Befreiung der Seele vom Körper) und von der Vorbereitung auf das Leben im Jenseits. Dann verteidigt er diese These gegen Einsprüche der Freunde. Vor seinen Freunden als wahrhaft kompetenten Richtern bietet Sokrates die eigentliche Verteidigung seines Lebens mit

philosophischen Argumenten, indem er die Unsterblichkeit der Seele in mehreren Anläufen gegen die Skepsis der Mitunterredner Simmias und Kebes zu verteidigen und zu begründen sucht. Die Situation erhält ihre besondere Dramatik durch die unmittelbar bevorstehende Hinrichtung. Grundlage für Sokrates’ positive Haltung ist der Nachweis der Weiterexistenz der Seele nach dem Körpertod. Das wird durch die rationale Begründung u. a. alter orphisch-pythagoreischer Vorstellungen bewiesen. Die bleibende Erkenntnisfähigkeit ergibt sich aus der These, dass Lernen und Erkennen Wiedererinnerung sind. Begriffe, die nicht aus der sinnlichen Wahrnehmung stammen, belegen die Präexistenz der Seele. Aus den Argumenten ergibt sich die Weiterexistenz der Seele auch nach dem Tode, weil andernfalls eine zyklische Entstehung des Menschen nicht möglich wäre. Daraufhin wird mithilfe des Gesetzes der Ähnlichkeit von Erkennendem und Erkanntem aus der Verwandtschaft der Seele mit Göttlichem, Unsterblichem und Eingestaltigem auf die Unveränderlichkeit und Unzerstörbarkeit der Seele geschlossen. Simmias’ Einwände und Kebes’ Zweifel führen zu



Platon: Phaidōn 461

einer grundlegenden Reflexion der Aufgabe der Philosophie. In einer sich autobiographisch gebenden Beschreibung zeichnet Sokrates dabei seinen  intellektuellen Weg nach. Enttäuscht von der Naturphiloso­ phie (anaxagoras) habe er  sich als »zweitbester Seefahrt«  der Begriffsphilosophie zugewandt, welche die jeweils stärkste Erklärung vorläufig annimmt, und untersucht, was mit dieser Hypothese übereinstimmt (99d–102a). Als beste Erklärung für die Beschaffenheit der Dinge ergibt sich die Ideenhypothese, der zufolge es neben der phänomenalen Welt einen Bereich des an sich selbst Schönen, Guten, Großen gibt, an dem das sinnlich Schöne, Gute, Große partizipiert. Die Darlegung der Ideenlehre mündet in den letzten Unsterblichkeitsbeweis. Demnach kann die von der Idee des Lebens bestimmte Seele nicht das Gegenteil ihrer selbst (Tod) annehmen. Es folgt ein Mythos über das Schicksal der Seelen im Jenseits. Der Dialog schließt mit der Schilderung von Sokrates’ Tod, einer Illustration eben der Lebenshaltung, die aus der im Gespräch dargelegten Philosophie folgt. Wenn die Apologia Sokrates in seiner Todeszuversicht unerschütterlich vorführt, so liefert P. in diesem

Dialog den Grund hierfür und somit in der Tat die eigentliche Apologie des Sokrates. Sokrates wird als der ideale Philosoph vorgestellt, ohne Emotion und nicht bereit, Emotionen zu wecken, von einer Würde angesichts des Todes, die zu keiner Zeit ihre Wirkung auf den Leser verfehlt hat. Viel diskutiert wurde die Stichhaltigkeit der einzelnen Unsterblichkeitsbeweise, wobei die Argumente allerdings im jeweiligen Kontext zu beurteilen sind. – Das Werk hat wegen seiner glänzenden literarischen Gestaltung, aber auch infolge der behandelten grundlegenden Fragen philosophischer Methode (z.  B. Hypothesenbildung, Logosphilosophie) und Inhalte (z. B. Psychologie, Ideenlehre) in der europäischen Geistesgeschichte eine große Wirkung entfaltet. M. Erler

Ausgaben: Gr., Opera, Hg.: H.  Stephanus, Bd.  1, Genf 1578, 55–118. – Gr., Opera, Hg.: J. Burnet, Bd. 1, Oxfd. 1900. – Gr./dt., in: Werke, Bd.  3, Drmst. 21990, 1–207. – Gr./dt., Ü.: B.  Zehnpfennig, Hbg. 22008. – Dt., Ü.: F.  Schleiermacher [1809], Stgt. 1967. Literatur: Kommentare von R. Hack­forth, Cambr. 1955; K. D. Archer-Hind, NY 1973 [Ldn. 1894]; D.  Gallop, Oxfd. 1975; M.  Dixsaut, Paris 1991; C.  J. Rowe, Cambr. 1993. – K. Dorter,

462

Platon: Phaidros

P.’s Phaedo: An Interpretation, Toronto u. a. 1982. – D. A. White, Myth and Metaphysics in P.’s Phaedo, Ldn./Toronto 1989. – V. J. Müller (Hg.), P.: Phaidon, Bln. 2011 (Klassiker Auslegen).

Phaidros (gr.), entst. entweder um 370 v. Chr. oder um 360 v. Chr.; ED Florenz ca.  1482–84 (lat.; Ü.: M. Ficino); Venedig 1513 (gr.; Hg.: E. Musuros).

Der Dialog ist ein kunstvoll gestaltetes Werk von thematischer und stilistischer Vielfalt. – In einer stimmungsvoll, wenn auch ironisch geschilderten sommerlichen Szenerie außerhalb der Stadt werden drei Reden auf Eros präsentiert: In einer spielerischen Behandlung des Eros à la Lysias (umstritten ist, ob die Rede wirklich von Lysias stammt oder von P. in lysianischem Stil verfasst wurde) wirbt ein nicht verliebter Liebhaber um einen schönen Knaben und setzt dabei verliebte Mitbewerber herab. Sokrates bietet eine improvisierte, gleichwohl formal ausgefeilte Rede, in der er Liebe mit einer Art Wahnsinn gleichsetzt. Doch lässt er eine – gleichfalls improvisierte – Palinodie folgen. In dieser ErosRede unterscheidet Sokrates vier Formen des Wahnsinns, von denen die Liebe als oberste und edelste Form dargestellt

wird. Zur Begründung wird die Unsterblichkeit der Seele aus dem Begriff der Selbstbewegung entwickelt und ihr Wesen durch das Bild eines dreiteiligen, geflügelten Seelengespannes und seiner Auffahrt zum überirdischen Bereich der Ideen illustriert. Dort erblickt die Seele die Ideen, die in der Körperwelt nur schwer erkennbar sind. Allein die Idee der Schönheit strahlt im sinnlich erkennbaren Bereich hervor und weckt das Verlangen, sich der Welt der Ideen anzunähern. Das Streben nach Rückgewinnung der Ideenschau stachelt die Menschen als Eros zum gemeinsamen Philosophieren an (platonische Liebe). Mit dieser Rede des Sokrates erreicht der 1. Teil des Dialogs seinen Höhepunkt. – Der prosaischere 2.  Teil setzt sich mit der zeitgenössischen Rhetorik, ihren Kunstmitteln, Vorschriften sowie ihrem Selbstverständnis auseinander; Zielsetzung und Rahmenbedingungen für den mündlichen und schriftlichen Gebrauch des Wortes in einer philosophischen Rhetorik werden erörtert. Als notwendig erweist sich dabei für Sokrates eine Wende der Rhetorik zur Philosophie, bei der aus bloß formaler Redekunst Seelenleitung wird, die das Wesen der Seele kennt und mithilfe der



Platon: Philēbos 463

Dialektik (Hinführung des vielfach Zerstreuten in Einheit und begriffliche Teilung des Einen in Vielheit) Wahrheit erschließt. In diesem Kontext wird die Frage nach der Rolle der Schriftlichkeit virulent und die Bedeutung des geschrie­ benen logos im Erkenntnisprozess relativiert. Ein angemessener Umgang mit geschriebenen Texten wird geradezu zu einem Wesensmerkmal des Philosophen. – Diese ›Schriftkritik‹ erlangte besondere Bedeutung in der Diskussion über das Verhältnis der indirekt überlieferten ›Prinzipienlehre‹ P.s zu seinen Dialogen, deren Struktur und deren protreptische Funktion. Stilistische sowie inhaltliche Unterschiede zwischen dem 1. und dem 2.  Teil des Dialoges haben Kritik hervorgerufen sowie die Frage nach der Einheitlichkeit der Komposition eines Werkes aufkommen lassen, in welchem gerade die Kohärenz zum wichtigen Merkmal eines Kunstwerkes erklärt wird. Die qualitativen Unterschiede der Reden des 1.  Teils können jedoch der Illustration der rhetorischen Prämissen dienen, die im 2.  Teil expliziert werden. Die Frage nach unterschiedlichen (mündlichen wie schriftlichen) Kommunikationsformen, deren Gesetzmäßigkeiten und Wirkung

auf die Rezipienten lässt sich daher als ein Leitmotiv des Dialoges betrachten. – Als eine Art Eigenkommentar P.s zu seiner philosophischen Schriftstellerei hat gerade die Schriftkritik und ihr historischer Kontext das besondere Interesse der neueren Forschung gefunden. Aber auch mit seiner Eroslehre und Psychologie ist die Schrift von zentraler Bedeutung für die europäische Geistesgeschichte. M. Erler Ausgaben: Gr., Opera, Hg.: H.  Stephanus, Bd.  3, Genf 1578, 227–279. – Gr., Opera, Hg.: J.  Burnet, Bd.  2, Oxfd. 1901. – Gr./dt., Werke, Bd.  5, Drmst. 2 1990, 1–193. – Dt., Ü.: K. Hildebrandt, Stgt. 1986. Literatur: R. Hackforth, P.s Phaidros, Cambr. 1952. – G. R. F. Ferrari, Listening to the Cicadas. A Study of P.’s Phaedrus, Cambr. 1987. – C.  Rowe, P.: Phaedrus, Warminster 1988 (mit engl. Ü.). – L. Rossetti (Hg.), Understanding the Phaedrus, St. Augustin 1992. – E.  Heitsch, Phaidros, Gttgn. 2 1997.

Philēbos (gr.), entst. wohl nach 360 v. Chr. und vor 347 v. Chr.; ED Florenz ca. 1482–84 (lat.; Ü.: M. Ficino); Venedig 1513 (gr.; Hg.: E. Musuros).

Mit dem Thema der Lust (hēdonē) und ihrem Verhältnis

464

Platon: Philēbos

zum Wissen greift P. in dem späten Dialog ein Problem auf, das ihn auch schon früher beschäftigt hatte. – In dem in seiner Anlage an das Frühwerk erinnernden Dialog (Sokrates als Hauptfigur) springt Protarchos für Philebos ein und verteidigt dessen Position: Lust ist das Gute. Protarchos erkennt, dass Lust sich nicht auf eine einheitliche Wesenheit bezieht, indem er einräumt, dass Wissen und Lust verschiedener Art sind. Die Forderung nach Analyse und Aufzählung dieser Arten führt zu einer Darstellung der hierfür notwendigen dialektischen Methode. Sokrates betont die Notwendigkeit, verschiedene Formen von Lust und Wissen zu klassifizieren. Hierfür verweist er auf die »gottgeschenkte Methode« der Dialektik und rekurriert außerdem auf eine Prinzipienlehre, die mit der »ungeschriebenen« Lehre P.s konvergiert. Wirklichkeit als Bereich des Mehr oder Weniger von Qualität ist als Bereich der Mischung anzusehen, bestehend aus Begrenztem und Unbegrenztem, verursacht von Vernunft. Im Bewusstsein, dass Lust und Wissen nur in Mischform für gutes Leben relevant sind, und unter Rückgriff auf Prinzipien – Unbegrenztes (apeiron), Begrenztes (peras), Mischung und

Ursache – wird der Vorrang der mit der Ursache der Ordnung verbundenen Vernunft vor der von Natur unbegrenzten Lust für ein gutes Leben erwiesen; eine durch Zahlen fassbare Verbindung von Lust und Vernunft erweist sich als spezifisches Merkmal menschlichen Lebens. Bemerkenswert sind die zahlreichen empirischen Beobachtungen, u. a. über seelische Zustände (Mischung von Lachen und Weinen, von Behagen und Unbehagen bei Tragödie bzw. Komödie) im Mittelteil des Dialogs. Eine Klassifikation von Lust und Wissen mit Blick auf das gute Leben beschließt die Diskussion im 3.  Teil des Dialogs. Maß (metron), Maßvolles (metrion) und Angemessenes (kairion) haben den obersten Rang, gefolgt vom Symmetrischen, Schönen, Vollendeten und Ausreichenden, dann von Vernunft (nous) und Einsicht (phronēsis), von niederen Formen des Fachwissens und Technik als richtiger Meinung und schließlich der reinen (unlustfreien) Form der Lust. Der Vorrang der Dia­ lektik (nous) als höchster Erkenntnisweise hängt mit dem herausragenden Stand ihres Objektes hinsichtlich Ebenmaß, Schönheit und Wahrheit zusammen. Grundlage für die Ablehnung des Hedonismus



Platon: Politeia 465

ist die Erkenntnis, dass die Anhänger weltlicher Lust ein falsches Weltbild haben mit ihrer Meinung, die Sinneswelt sei real und wertvoll. Damit geht der Dialog über die antihedonistische Position des →  Gor­ gias und der → Politeia hinaus. Mit der Scheidung wahrer von falscher Lust antwortet P. offenbar auf innerakademische Diskussionen über die Lust (Eudoxos von Knidos). M. Erler Ausgaben: Gr., Opera, Hg.: H. Ste­ phanus, Bd. 3, Genf 1578, 11–67. – Gr., Opera, Hg.: J. Burnet, Bd. 2, Oxfd. 1901. – Gr./dt., in: Werke, Bd.  7, Drmst. 21990, 255–449. – Dt., Erl. und Ü.: O.  Apelt, Hbg. 1955. – Engl., Erl. und Ü.: J. C. B. Gosling, Ldn. 1975. Literatur: R. Hackforth, P.’s Examination of Pleasure, Cambr. 2 1958. – H.-D. Voigtländer, Die Lust und das Gute bei P., Wzbg. 1960. – H.-G. Gadamer, P.s dialektische Ethik [1931], Hbg. 1983. – K. M. Sayre, P.’s Late Ontology, Princeton 1983. – C.  Hampton, Pleasure, Knowledge, and Being, Albany 1990. – M. Migliori, L’uomo fra piacere, intelligenza e Bene, Mailand 1993. – S. Frede, P. Philebos. Übersetzung und Komm., Gttgn. 1997.

Politeia (gr.; lat.: Res publica; Der Staat), entst. nach 387 v. Chr.; ED Florenz ca. 1482–84 (lat.; Ü.: M. Ficino); Venedig 1513 (gr.; Hg.: E. Musuros).

Das Hauptwerk P.s. wurde lange Zeit als politische Schrift interpretiert; doch wird zunehmend die zentrale Stellung der ethischen Aspekte hervorgehoben. Verfasst in P.s mittlerer Schaffensphase, geht es um Wesen und Wirkung der Gerechtigkeit beim Menschen und im Staat. Im Rahmen dieser Untersuchung werden das Selbstverständnis der Philosophie und ihre Bedeutung für das menschliche Leben neu festgelegt. Dabei kommen das wahre Wesen der Wirklichkeit und die Zuweisung verschiedener Erkenntnisweisen zu verschiedenen Rängen der Realität zur Sprache. – Ausgangspunkt der Untersuchungen ist die Frage nach dem Glück des gerechten Gemeinwesens, dessen Bürger notwendig moralisch gut sind. Dabei kommt es zum Entwurf einer politischen Idealkonzep­ tion (Paradigma), der eine ­Realisierungsmöglichkeit nicht abgesprochen wird. – Erste Bestimmungsversuche der Gerechtigkeit mit verschiedenen Partnern in Buch I, das bisweilen als eigenständiges Werk angesehen wird, scheitern. Gegen

466

Platon: Politeia

Thrasymachos’ Hinweise auf Vorteile der Ungerechtigkeit verficht Sokrates die These vom Nutzen der Gerechtigkeit. Seine wichtige Gleichsetzung des Definiendums (›gerecht‹) mit dem Wertbegriff ›gut‹ lässt die in den folgenden Büchern zentrale Thematik des Guten anklingen. Nach Thrasymachos’ Ausscheiden übernehmen Glaukon und Adeimantos die Rolle des Gesprächspartners. Für die Suche nach der Gerechtigkeit in der dreiteiligen Seele (die Vernunft, das Muthafte, das Begehrliche) bietet sich die Analogie zur Polis mit ihren drei Ständen (Herrscher, Wächter, Handwerker) an. Der Ursprung von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit soll damit sinnfällig werden. Besteht im Staat Gerechtigkeit im konfliktfreien Zusammenwirken dreier Stände, so in der Seele als Harmonie ihrer Teile. Wie in der Seele der Vernunftteil, ist im Staat der Herrscherstand oberste Instanz und bedarf deshalb besonderer Erziehung. Der Wunsch, das von Sokrates erwähnte Konzept der Frauen- und Kindergemeinschaft als Teil der Staatskonzeption besser zu begründen, führt zu den als Exkurs bezeichneten Ausführungen der Bücher  V– VII über Realisierungsmöglichkeiten der Thesen von der

gemeinsamen Erziehung von Mann und Frau, der Frauenund Kindergemeinschaft sowie dem Satz vom Philosophenkönig, nach dem das Wohlergehen der Menschen von wissenden Philosophen garantiert wird, die der Gemeinschaft ihr Wissen zur Verfügung stellen. Der Exkurs bietet u. a. ein Bildungsprogramm, bei dem die Ideenerkenntnis und die Konstitution der Ideen von der Idee des Guten her zur Sprache kommen und das in Andeutungen über das oberste Bildungsziel gipfelt: die Idee des Guten (megiston mathema) als Grund der Verbindung von Ontologie, Epistemologie, Ethik und Pädagogik. Wiederholte Hinweise auf einen notwendig längeren Weg, der aber nicht beschritten wird, lassen alles in einer gewissen Schwebe. Von zentraler Bedeutung sind in diesem Zusammenhang drei Gleichnisse: das Sonnen-, das Linien- und das Höhlengleichnis. Mit ihrer Hilfe wird Erkenntnis in der Vernunft gegründet und die Vernunft auf die Idee des Guten als ihren Ursprung verwiesen. Sie ist Bedingung der Wahrheit und Grund des Seins, hierin der Sonne gleichend, welche die Bedingung von Leben und Sehen ist. Im Liniengleichnis werden die Erkenntnisweisen illus-



Platon: Politeia 467

triert: bloße Wahrnehmung von Abbildern der Gegenstände und Meinungen über sie im unteren Abschnitt der proportional geteilten Linie stehen im oberen Abschnitt Verstandeserkenntnis (Mathematik) und jene Vernunft gegenüber, welche den hypothetischen Charakter der Grundlagen von Verstandeserkenntnis mittels der Dialektik zu überwinden weiß. Das Höhlengleichnis betont die ethische Komponente, indem es das vertikale Schema des Liniengleichnisses durch das Bild vom Auf- und Abstieg des Philosophen gleichsam dramatisiert: Aufgestiegen aus der Umgebung bloßer Schatten in der Höhle gelangt die Seele zur Sicht der Dinge und zur Erkenntnis der Ideen, muss hernach jedoch wieder in die Höhle hinab, um anderen Erkenntnis zu vermitteln. – Der Exkurs der Bücher V–VII bietet somit die ontologische Grundlage sowohl des idealen Staatskonzeptes wie auch der Gerechtigkeit. Denn sowohl im Staat wie bei der Gerechtigkeit geht es um die Vorherrschaft des vernünftigen Teils, die auf Erkenntnis des wahren Seins und der Idee des Guten durch die Philosophen beruht. Das Gute für die Stadt liegt in ihrer Einheit, die Frieden im Innern und Verteidigungsfähigkeit nach au-

ßen bewahrt. Nach Abschluss des Bildungsplanes kehrt das Gespräch zu Staatsformen zurück, welche die Gerechtigkeit in verschiedenem Maße verfehlen. Der Vergleich mit den Lebensformen zeigt, was Gerechtigkeit bzw. Ungerechtigkeit in der Seele des Menschen bewirkt. – Buch  IX schildert die Gefahren durch ungeeignete Religion und Dichtung und belegt, dass allein der gerechte Mann glücklich ist. Damit wird Sokrates’ in Buch I aufgestellte These eingelöst. – Im X. Buch wird noch einmal die Frage nach dem Verhältnis von Mimesis und Dichtung aufgegriffen, die schon in den Büchern  II und III angeklungen war. Es kommt zu einer grundlegenden Kritik althergebrachter und zeitgenössischer Auffassungen mit Blick auf die ontologischen Grundlagen und die Rezipienten von Dichtung. Demnach richtet sich mimetische Dichtung an die unteren Seelenteile, setzt Luststreben frei und zerstört die Seelenordnung. Grund hierfür ist, dass der mimetische Künstler Nachbilder von Abbildungen schafft und sich deshalb nicht an den vernünftigen, den Ideen zugewandten Seelenteil richtet. Schließlich schildert der Mythos vom Pamphylier ›Er‹ eine Vision vom Urteil über die

468

Platon: Politikos

Seelen nach dem Tode und den jenseitigen Lohn der Gerechtigkeit. Das Miteinander von Argumentation und Mythos zeigt, dass am Ende des Werkes politische, psychologische und metaphysische Aspekte des Werkes in einer religiösen Vision zusammenfinden. – Die Politeia galt schon in der Antike als eines der wichtigsten Werke P.s. M. Erler Ausgaben: Gr., Opera, Hg.: H.  Stephanus, Bd.  2, Genf 1578, 327–621. – Gr., Opera, Hg.: J.  Burnet, Bd.  4, Oxfd. 1902. – Gr./dt., Werke, Bd.  4, Drmst. 2 1990. – Dt., Ü.: K. Vretska, Stgt. 1982. Literatur: J. Adam, The Republic of P., 2 Bde., Cambr. 1902. – C. D. C. Reeve, Philosopher-Kings: The Argument of P.’s Republic, Princeton 1988. – O. Höffe (Hg.), P.: Politeia, Bln. 32011 (Klassiker Auslegen).

Politikos (gr.; Der Staatsmann), entst. wohl nach 365 und vor 347 v. Chr.; ED Florenz ca.  1482–84 (lat.; Ü.: M. Ficino); Venedig 1513 (gr.; Hg.: E. Musuros).

Das Werk gehört zu einer Dialogtrilogie, in der der →  Theaitētos die Erkenntnistheorie, der →  Sophistēs die Ontologie und der Politikos die politische Theorie behandelt. Die in Aussicht gestellte

Abhandlung über den Philosophen hat P. nicht geschrieben: Bei der Beschreibung des wahren Staatsmannes klingt jedoch das Konzept des Philosophen an. Der gedankliche Verlauf des Gesprächs zwischen dem »Fremden« und Sokrates, dem Jüngeren, ist verschlungen und wird durch zahlreiche Exkurse unterbrochen, in denen die Methode der Untersuchung reflektiert und der philosophische Horizont für die Problemlösung erweitert wird. Neben einer Bestimmung des Staatsmannes soll das Gespräch der dialektischen Übung dienen. – Ausgangspunkt des Gesprächs ist die These, dass Staatskunst eine Wissenschaft ist. Leitend ist die Überzeugung, dass es auch im Bereich von Normen und Handlungszielen objektives Wissen gibt, an denen sich der Philosoph-Herrscher orientiert (→  Politeia). Die im Gespräch angewandte Methode, Begriffe durch inhaltliche Gliederung (diahairese) zu bestimmen (→  Sophistēs), lässt die dialektische Kunst des Philosophenherrschers durchscheinen. Wesentliche Momente werden aber nur angedeutet, wohl mit Rücksicht auf das Denkniveau des Partners. Ein Mythos über zwei antithetische (nicht historische) Weltperioden (Kronoszeit mit Gottesherrschaft,



Platon: Prōtagoras 469

Zeuszeit und Autonomie der Welt) wird eingeführt als Korrektiv eines Definitionsfehlers. Darüber hinaus gibt er die Aufgabe des wahren Staatsmannes an: In der Jetztzeit als Perio­de gottferner Unordnung hat der Staatsmann nach P. durch Überwindung der Vergessenheit und Orientierung an ab­ soluten Maßstäben zur Ordnung zurückzuführen. Der weitere Verlauf des Dialoges dient der detaillierten Ausfüllung der bis dahin nur in Umrissen ­gewonnenen Wesensbestimmung des Staatsmannes. Dabei wird Staatskunst als der Webkunst verwandt dargestellt. Das Gespräch ist gekennzeichnet durch ein Nebeneinander von Untersuchungsmethode und Reflexion über die Bedingungen dieser Methode, wobei wiederholt auf das Normwissen des platonischen Philosophen verwiesen wird. Der Bezug von Web- und Staatskunst führt zur Frage nach Kriterien für eine Unterscheidung guter von schlechten Verfassungen, wobei die Souveränität des Wissenden gegenüber dem Gesetz zwar hervorgehoben, dem Gesetz aber eine relative Bedeutung nicht abgesprochen wird. Die Staatskunst des Wissenden bestimmt ferner über Handlungsziele der ihr dienenden Disziplinen. – Der Dialog

stimmt mit der Politeia überein, indem er Herrschaft an ein (nur angedeutetes) Normwissen bindet. Indem er dabei den Aspekt der politischen Wirklichkeit in Betracht zieht, wirkt er realitätsnäher, doch handelte es sich hierbei nur um verschiedene Sichtweisen. Auf eine Änderung in P.s Haltung in grundsätzlichen Fragen lässt sich daraus nicht schließen. M. Erler Ausgaben: Gr., Opera, Hg.: H.  Stephanus, Bd.  2, Genf 1578, 257–311. – Gr., Opera, Hg.: E. A. Duke u. a., Bd.  1, Oxfd. 1995. – Gr./dt., Werke, Bd.  6, Drmst. 2 1990, 403–579. Literatur: Kommentare von J. B. Skemp, New Haven 1952; A. E. Taylor, Ldn. 1961; C. Rowe, Warminster 1995. – A.  Capelle, P.s Dialog Politikos, Hbg.  1939. – M.  Miller, The Philosopher in P.’s Statesman, Boston 1979. – H. R. Scodel, Diaeresis and Myth in P.’s Statesman, Gttgn. 1987. – C. Rowe (Hg.), Reading The Statesman, St. Augustin 1995.

Prōtagoras (gr.), entst. nach 399 v. Chr., wohl um 388/387 v. Chr.; ED Florenz ca. 1482–84 (lat.; Ü.: M. Ficino); Venedig 1513 (gr.; Hg.: E. Musuros).

Das Werk ist stilistisch, dramaturgisch und inhaltlich  einer von P.s abwechslungsreichsten

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Platon: Prōtagoras

und anregendsten Dialogen. P. zeichnet ein Bild von Athens kulturellem Leben am Ausgang des Perikleischen Zeitalters. Das geschilderte Treffen berühmter Intellektueller und ihrer Anhänger im Hause des reichen Kallias vermittelt dar­über hinaus einen Eindruck von der agonalen Atmosphäre zwischen Sokratik und Sophistik und ihrer Werbung von Schülern. – Das Werk verbindet zwei zentrale Problembereiche sokratischer Wissenslehre: die Lehrbarkeit der Tugend und deren Einheit. Leitend ist hierbei die Frage nach dem Ziel moralischer Erziehung und der Erreichbarkeit dieses Zieles. Protagoras’ Anspruch, durch Redekunst Hilfe in privaten und öffentlichen Angelegenheiten zu bieten, steht Sokrates’ Konzept der Tugend als einer Befindlichkeit der Seele entgegen. Die unterschiedlichen Auffassungen werden durch verschiedene Kommunikationsformen illustriert: therapeutisch orien­tierte Seelsorgegespräche zwischen Sokrates und Hippokrates zu Beginn und rein erfolgsorien­tierte Disputation mit den Sophisten im Hauptgespräch. In den verschiedenen Formen intellektueller Kommunikation – Makrologie, philosophisches Wechselgespräch, Gedichtinter­ pretation – ist

eine agonale Grundstimmung kenntlich. In allen erweist sich Sokrates als dem professionellen Meister überlegen. Anders als Protagoras hat Sokrates Zweifel an der Lehrbarkeit der Tugend. Protagoras begegnet den Zweifeln mit einem Kulturentstehungsmythos, dem zufolge Zeus jedem Menschen Scham (aidos) und Recht (dikē) als Grundlage sozialen Verhaltens verliehen hat. In einer beweisenden Darlegung vertritt er die Lehrbarkeit der Tugenden. Sokrates greift deren Vielzahl auf und stellt die Frage nach der Einheit: Sind Tapferkeit, Weisheit, Besonnenheit, Gerechtigkeit selbständige Teile der Tugend oder aber eine einzige Tugend mit verschiedenen Namen? Sokra­ tes’ Gleichsetzung einzelner Tugenden mit der Weisheit findet zunächst Protagoras’ Zustimmung. Dessen Protest bei der Behandlung der Tapferkeit aufgrund einer Fehlerhaftigkeit der Argumentation führt zu einem Neuansatz durch Sokrates und die Frage nach einem einheitlichen Ziel aller Handlungen. Protagoras’ Vorschlag der »Nützlichkeit« erweist sich als zu vage. Die Interpretation eines Gedichtes von Simonides erlaubt Sokrates, die Quintessenz platonisch-sokratischer Wissensethik anklingen zu las-



Platon: Sophistēs 471

sen (Unfreiwilligkeit des Unrechtes) und für die weitere Diskussion den Begriff des Guten zur Grundlage zu machen. Die (hypothetische) Gleichsetzung des Guten mit der Lust im Sinne der Menge (der »Vielen«) und das damit verbundene Zugeständnis eines hedonistischen Kalküls führen schließlich zu einer über den Hedonismus hinausweisenden »Messkunst« und zu einem Wissen, das Scheinhaftes von Wirklichem zu trennen weiß. Damit ist erwiesen, dass jede tugendhafte Handlung auf Wissen beruht und somit die Tugenden mit Weisheit identisch sind. Mit Sokrates’ Sieg geht jedoch die Erkenntnis einher, dass sich am Ende des Dialogs die anfangs aufgestellten Thesen umgekehrt haben: Aus der Einheit der Tugenden, die Sokrates gegen Protagoras nachweist, folgte ihre von Sokrates zu Beginn bezweifelte Lehrbarkeit. Eine neue Untersuchung, so das Resümee, hätte das Wesen der Tugend selbst in den Blick zu nehmen. M. Erler Ausgaben: Gr., Opera, Hg.: H.  Stephanus, Bd.  1, Genf 1578, 309–362. – Gr., Opera, Hg.: J.  Burnet, Bd.  1, Oxfd. 1903. – Gr./dt., in: Werke, Bd.  1, Drmst. 2 1990, 83–218. – Engl., Erl. und Ü.: C. C. W. Taylor, Oxfd. 1976.

Literatur: M. C. Stokes, P.’s Socratic Conversations, Baltimore/ Ldn. 1986 (Bibl.). – B.  Manuwald. P. Protagoras. Übersetzung und Komm., Gttgn. 2006.

Sophistēs (gr.; Sophist), entst. nach 369 v. Chr. und vor 347 v. Chr.; ED Florenz ca.  1482–84 (lat.; Ü.: M. Ficino); Venedig 1513 (gr.; Hg.: E. Musuros).

Das Werk gehört zu einer Dia­ logtrilogie, die Erkenntnistheo­ rie (→  Theaitētos), Ontologie (Sophistēs) und politische Theo­rie (→  Politikos) behandelt. – Ein namenloser Dialektiker aus Elea und der Mathematiker Theaitetos wollen in Anwesenheit von Sokrates und dem Mathematiker Theodoros das Wesen (ti estin) des Sophisten ermitteln. Wegen der Schwierigkeit der Aufgabe wird zunächst eine fortlaufend differenzierende Untersuchungsmethode (dihairesis) am Beispiel des Angelfischers eingeübt, die bei fünf Bestimmungsversuchen zur Anwendung kommt. Dabei stoßen die Gesprächsteilnehmer auf die Notwendigkeit, das Verhältnis von Schein bzw. Nicht-Sein zu Sein und Wahrheit zu bestimmen. Denn nach einigen Fehlversuchen wird der Sophist als kompetent bestimmt, den täuschenden Anschein zu

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Platon: Sophistēs

erwecken, mit seinen Worten die Wirklichkeit abbilden zu können. Damit stellt sich die Frage nach der Möglichkeit des Falschen und damit verbunden nach dem Wesen von Schein und Bild. Beides erweist sich als Verbindung von Nicht-Sein und Sein. Ein Sein des NichtSeins widerspricht jedoch Parmenides’ These, dass ein solches Sein weder sagbar noch denkbar ist. In Auseinandersetzung mit Parmenides überwindet P. die Entgegensetzung von Sein (Einheit) und Nicht-Sein (Vielheit) in der von Parmenides als unmöglich erachteten Verbindung. In seiner »Gigantomachie« um den Seinsbegriff widersetzt sich P. einer Gleichsetzung von Materie mit dem Sein ebenso wie der Annahme abgetrennter, körperloser Ideen als wahres Sein. Wesentliches Beurteilungskriterium ist die Fähigkeit der Natur des Seienden, zu agieren und zu leiden. Deshalb ist dem Sein Bewegung (zueinander), Leben und Einsicht zuzuschreiben. Weil Sein, Bewegung und Ruhe jeweils mit sich identisch und untereinander verschieden sind, kommen zur Trias Sein, Bewegung, Ruhe noch Selbigkeit und Verschiedenheit hinzu; zusammen bilden sie die fünf miteinander verbindbaren größten Gattungen (megistē genē). Der Nach-

vollzug ihrer Verknüpfungen – eine Struktur, die auch den logos auszeichnet – obliegt nach P. der Dialektik. In diesem Zusammenhang erweist sich das Nicht-Sein als zur Verschiedenheit und insofern zu den obersten Gattungen gehörig. Auf dieser Grundlage löst dieser Dialog das Problem von Schein und Bild, aber auch von Trug und Irrtum. Falsche Aussagen sagen jedoch NichtSeiendes nicht im absoluten Sinn, sondern lediglich, insofern an Stelle des Seienden ein anderes Seiendes gesagt wird. Damit kann der Sophist kann als unwissender Hersteller von Bildern und Nachahmungen bestimmt werden. – Philosophiegeschichtlich sehen manche in dem Werk erste Ansätze für eine Prädikationstheorie. V. a. aber stellt P. hier zum ersten Mal die Frage nach dem Seienden, dem traditionellen Gegenstand der Metaphysik, die bei Aristoteles zu einem eigenständigen Fachgebiet der Philosophie geworden ist. M. Erler Ausgaben: Gr., Opera, Hg.: H.  Stephanus, Bd.  1, Genf 1578, 216–268. – Gr., Opera, Hg.: E. A. Duke u. a., Bd.  1, Oxfd. 1995. – Gr./dt., Hg. R. Wiehl, Hbg. 1967. – Gr./dt., in: Werke, Bd. 6, Drmst. 2 1990, 219–402. – Gr./dt., Ü.: H. Meinhardt, Stgt. 1990.



Platon: Symposion 473

Literatur: Kommentare von F. M. Cornford, Ldn. 1935; S. Rosen, Ldn. 1983; S.  Bernadette, Chicago (Ill.) 1984; L. M. de Rijk, Amsterdam 1986; G. Movia, Mai­ land 1991. – M. Narcy/P. Aubenque (Hg.), Études sur le Sophiste de P., Neapel 1991. – P.  Kolb, P.s Sophistes. Theorie des logos und Dialektik, Wzbg. 1997.

Symposion (gr.; lat.: Convivium; Das Gastmahl), entst. zwischen 385 und 375 v. Chr.; ED Florenz ca. 1482– 84 (lat.; Ü.: M. Ficino); Venedig 1513 (gr.; Hg.: E. Musuros).

In diesem Werk bietet P. nicht nur die Deutung des Eros, sondern damit auch seiner als ›Erotik‹ verstandenen Philosophie. – Geschildert wird in indirektem Bericht die Feier des Tragödiendichters Agathon anlässlich seines Sieges bei den Lenäen (416 v. Chr.). Auf Vorschlag von Phaidros und Eryximachos wollen sich die Anwesenden, darunter der Komödiendichter Aristophanes, reihum mit Reden auf den ihrer Meinung nach allzu sehr vernachlässigten Gott Eros unterhalten, wobei jede Rede einen besonderen Aspekt hervorhebt: Eros als ältester Gott, der das Beste im Menschen hervorbringt (Phaidros), der Kontrast von göttlichem und gemeinem Eros (Pausanias),

Eros als universales Prinzip der Natur (Eryximachos), Eros als Sehnsucht des Menschen nach seiner einst verlorenen anderen Hälfte und der Wiedergewinnung der Einheit (Aristophanes), Eros als jüngster, in der Seele entspringender Gott, aus dessen Schönheit alles Gute bei Menschen und Göttern entsteht (Agathon). Mit der für den ›unwissenden‹ Sokrates bemerkenswerten Ankündigung, dass er die Wahrheit über Eros sagen werde, unterzieht dieser zunächst Agathon einer Prüfung. Er stellt dessen Lobrede auf den Eros eine an Wahrheit ausgerichtete Rede entgegen, in der er über seine Einweihung durch die Seherin Diotima aus Mantinea berichtet. Dadurch ergibt sich eine Verbindung von reinigender Widerlegung und einer Ratlosigkeit (Aporetik), die auf die nachfolgende Belehrung vorbereitet. Für Diotima ist Eros kein Gott, sondern ein Daimon, an Aphrodites Geburtstag gezeugt von Poros (Findigkeit) und Penia (Mangel). Eros ist nicht selbst schön, sondern zeichnet sich durch die Liebe zum Schönen und Guten aus. Er ist vermittelnde Macht zwischen Mensch und Gott, zwischen Erscheinung und Ideal, zwischen Meinung und Wissen. Wie in einer Mysterienini­ tiation wird der Erkennende

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Platon: Theaitētos

über mehrere Stufen auf dem Weg über die Schönheit einzelner Körper zum Blick auf das gestalthaft Schöne, zur erzieherischen Schönheit, zum geistig Schönen und letztlich zur Idee des Schönen geführt, die in einer plötzlich eintretenden Schau erkannt wird und den Erkennenden glücklich macht. Mit diesem jenseits­ orientier­ ten  Erosverständnis kontrastiert das diesseitige Erosverständnis des dazukommenden Alkibiades, der berauscht eine Preisrede auf Sokrates hält. Wegen dessen hässlichem Äußeren und seiner inneren Schönheit vergleicht Alkibiades Sokrates mit dem Satyrn Marsyas und rückt ihn in die Nähe des Eros. Aus dem Verfolger schöner Jünglinge ward Sokrates zum selbst philosophisch Verfolgten und damit zum Symbol für Philosophie. Da Alkibiades zu Diotimas Einweihungsrede zu spät kam, bleibt ihm ein angemessenes Verständnis Sokrates’ als philosophischem Eros, der sich seinem Liebeswerben versagt, verschlossen. Der Dialog schließt mit einer Schlussbemerkung des Sokrates, die gegen die Gattungstradition die Tragödie und die Komödienkompetenz in der Hand eines Dichters wissen will. Man ist versucht, an P. selbst zu denken und unter diesem Aspekt

das Werk als eine Komödie mit dem → Phaidōn als eine Tragödie zu verbinden. – Mit seinem Werk hat P. den ›Eros‹-Begriff in der europäischen Literatur und bildenden Kunst entscheidend bestimmt. M. Erler Ausgaben: Gr., Opera, Hg.: H.  Stephanus, Bd.  3, Genf 1578, 173–223. – Gr., Opera, Hg.: J.  Burnet, Bd.  2, Oxfd. 1901. – Dt., in: Sämtliche Werke, Bd.  2, Reinbek 1994, 209–393. Literatur: G. Krüger, Einsicht und Leidenschaft. Das Leben des platonischen Denkens, Ffm. 1939. – K.  J. Dover, P.’s Symposium, Cambr. 1980. – S. Rosen, P.’s Symposium, New Haven/Ldn. 21987. – M. Dixsaut, P. Phédon, Paris 1991. – K.  Sier, Die Rede der Diotima, Stgt./Lpzg. 1997. – C. J. Rowe, Symposium. Ed. with an i­ntrod., transl. and comm., Warmins­ter 1998.

Theaitētos (gr.; lat.: Theaitet), entst. um 369 v. Chr.; ED Florenz ca.  1482–84 (lat.; Ü.: M. Ficino); Venedig 1513 (gr.; Hg.: E. Musuros).

Das Vorgespräch (142A1– 143C7) ist nach dem Tod Theaitetos’ (369 v. Chr.) verfasst, das Hauptgespräch (teilweise) vielleicht in früherer Zeit (möglicherweise Revision früherer Fassung). Der Dialog steht in dramatischem wie inhaltlichem Zusammenhang



Platon: Theaitētos 475

mit dem → Sophistēs und dem → Politikos. – Die Mathematiker Theodoros und Theaitetos sind die Gesprächspartner des Sokrates. Auf die Frage nach dem Wesen der Erkenntnis antwortet Theaitetos zunächst mit Einzelbeo­bachtungen. Doch veranlasst ihn die mathematische Methode sogleich zu einer Korrektur und dem Bemühen, einen einheitlichen, Wesen und Struktur wissenschaftlicher Erkenntnis umfassenden Begriff zu finden. Ein weiterer Definitionsversuch, der auf Protagoras’ Satz vom Menschen als Maß aller Dinge beruht und Wissen als Wahrnehmung  bestimmt, gibt Sokrates Gelegenheit, sich im Rahmen der Gegenüberstellung von Parmenides und Heraklit mit sensualistischen und phänomenalistischen Wahrneh­mungstheorien ausein­anderzusetzen. Indem P. die These des Protagoras mit einer heraklitisierenden Erkenntnistheorie (Flusslehre) verbindet, gibt er ihr eine von Protagoras selbst nicht intendierte Grundlage. Eingefügt ist ein Exkurs über den Unterschied zwischen der wahren Philosophie und der Rhetorik, über die Notwendigkeit des Schlechten (176A) und über die zwei in der Wirklichkeit aufgestellten modellhaften Urbilder der Tugend und der Schlechtigkeit.

Aus der Annahme, dass die Wahrnehmung (aisthesis) im Akt des Wahrnehmens durch Bewegungsrelationen zwischen Subjekt und Objekt entsteht, wird eine Wahrheitsindifferenz der Wahrnehmung gefolgert. Gleichwohl muss es Maßstäbe geben, die über wahr und falsch entscheiden. Dies führt zum drit­ten Definitionsversuch der Erkenntnis als richtige Meinung, der zur Frage nach der Möglichkeit falscher Vorstellung führt. Fünf Erklärungsversuche erweisen sich hierbei als nicht hinreichend. Das Gleichnis vom Wachsblock (Erkenntnisse als Eindrücke) erklärt zwar die Möglichkeit von falschen Vorstellungen, nicht aber rein begriffliche Irrtümer. Das Gleichnis vom Taubenschlag erklärt dagegen nicht die Kriterien für eine Verknüpfung im Bereich allgemeiner, begrifflicher Urteile. In einem letzten Definitionsversuch wird der Aspekt der Reflexion relevant: Erkenntnis wird bestimmt als »richtige Vorstellung in Verbindung mit Erklärung« (logos). Dies weist zwar in die richtige Richtung, wird aber insofern abgelehnt, als Erklärung nicht befriedigend bestimmt werden kann. Das Gespräch endet schließlich in einer Aporie als Folge einer unzureichenden Klärung des Logos-Begriffs. Im

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Platon: Timaios

Laufe der Untersuchung wird aber angedeutet, dass nach P.s Auffassung die Orientierung an einem objektiven Maß aller Dinge und am normativ gültigen Guten und Göttlichen (Exkurs) wahres Wissen konsti­ tuiert. M. Erler Ausgaben: Gr., Opera, Hg.: H.  Stephanus, Bd.  1, Genf 1578, 142–210. – Gr., Opera, Hg.: E. A. Duke u. a., Bd.  1, Oxfd. 1995. – Gr./dt., Ü.: E.  Martens, Stgt. 1981. – Gr./dt., Werke, Bd.  6, Drmst. 21990, 1–217. Literatur: Kommentare von L.  Campbell, Oxfd. 1883; F. M. Cornford, Ldn. 1935; J.  McDowell, Oxfd. 71991. – E.  Heitsch, Überlegungen P.s im Theaetet, Stgt. 1988. – M. Burnyeat, The Theaetetus of P., with a Translation of P.’s Theaetetus by M. J. Levett, Indianapolis 1990. – D. Sedley, The midwife of Platonism. Text and subtext in P.’s Theaetetus, Oxfd. 2004. – A. Becker, P.: Theätet, Ffm. 2007.

Timaios (gr.), entst. wohl zwischen 360 und 350 v. Chr.; ED Florenz ca. 1482– 84 (lat.; Ü.: M. Ficino); Venedig 1513 (gr.; Hg.: E. Musuros).

Der Dialog beinhaltet eine Kosmologie, verbunden mit einer Beschreibung des Ursprungs des Menschen und andeutungsweise der Gesellschaft. – Anknüpfend an ein Gespräch über den idealen Staat soll die

Existenz eines Idealstaates in der Vorzeit aufgewiesen und in kriegerischer Aktion vorgeführt werden. Vorgeschaltet wird Timaios’ Monolog über die Konstitution der Welt und des Menschen, dem nur der Status einer wahrscheinlichen Rede (Mythos) zukommt, da es um die Sinnenwelt geht. Als Abbild der Ideenwelt hat die Erscheinungswelt eine über diese hinausweisende Ursache und eine materiale Ursache, die für Verschiedenheit von den Ideen sorgt. Ein göttlicher De­miurg bindet unter stetem Blick auf die Ideen alles Regellose durch das Band der Analogie zur Einheit zusammen, damit alles möglichst gut sein soll, da er selbst gut ist. Wie dieses Gut-Sein des Demiurgen zu verstehen ist, wird jedoch im Dialog nicht ausgeführt; das Gut-Sein des Demiurgen soll man vielmehr von »einsichtigen Männern« annehmen. Denn die Prinzipien von allem sind nur solchen bekannt, die »dem Gott lieb« sind, da die für ein wirkliches Verständnis des Guten notwendige Erkenntnis mittels der Dialektik nicht allen mitteilbar ist. Die geschaffene Welt ist nach P. ein ewig weiterbestehendes Vernunftwesen; die Weltseele verleiht dem Kosmos Identität und Verschiedenheit, Sein und



Platon: Timaios 477

Werden. In sich selbst mathematisch strukturiert, sorgt diese für die vom Demiurgen verliehene mathematische Ordnung im All. Sie wird im astronomischen System sowohl in den auf geometrischen, arithmetischen und harmonischen Mittelwerten beruhenden Kreisbahnen der Gestirne als auch in der Erkenntnisfähigkeit des vernunftbegabten Menschen manifest. Die Seele dient der Erklärung der in der Sinnenwelt herrschenden Ordnung. Freilich ist der Demiurg bei seinem Versuch, die schönste aller Welten herzustellen, nicht allmächtig. Ihm ist als zweite Komponente Material oder Raum vorgegeben, der ihm mit unregelmäßigen Bewegungen Widerstand entgegensetzt. Dieser Raum beinhaltet Spuren der vier Elemente, er trägt zur Entstehung der Dinge bei (»Amme« des Werdens), gibt ihnen einen Ort und sorgt für die Differenz zu den Ideen. Die Weltseele wird vom Demiurgen dem Weltkörper eingefügt, der sich aus vier Elementen aufbaut, welche in verschiedenen Verhältnissen und Zuständen für die Vielfalt der körperlichen Welt verantwortlich sind. Hierzu gehört auch der Mensch, dessen Konstitution der letzte Teil der  kosmologischen Ausführungen gewidmet ist. Der

Mensch verfügt nach dem Modell der Welt ebenfalls über einen (zerstörbaren) Körper und eine vernünftige Seele. Die menschliche Seele mit ihrem unsterblichen Vernunftteil entspricht im Aufbau der Weltseele. Wie im Kosmos muss auch beim Menschen die Seele über den Körper herrschen, was den ethische Aspekt der kosmologischen Darstellung verdeutlicht; das Böse wird erklärt als mangelhafte Beschaffenheit des Körpers und Bildungslosigkeit. Entscheidend ist ein ausgewogenes Verhältnis von Körper und Seele, zu dem eine Betrachtung der Welt hilfreich ist. – Kein Werk P.s hat in der Antike und darüber hinaus bis in die neue physikalische Diskussion größere Wirkung gehabt. M. Erler Ausgaben: Gr., Opera, Hg.: H.  Stephanus, Bd.  3, Genf 1578, 17–105. – Gr., Opera, Hg.: J. Burnet, Bd. 4, Oxfd. 1902. – Gr./dt., in: Werke, Bd.  7, Drmst. 21990, 1–210. – Gr./dt., Stgt. 2003. Literatur: A. Taylor, A Commentary on P.’s Timaeus, Oxfd. 1928. – K.  Gloy, Studien zur platonischen Naturphilosophie im Timaios, Wzbg. 1986. – L. Brisson, Le même et l’autre dans la structure ontolo­ gique du Timée de P. Un commentaire systématique du Timée de P., St. Augustin 21994. – F. M. Cornford, P.’s Cosmology, Indianapolis 2002 (ND Ldn. 1937). – L. Schäfer, Das

478 Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch Paradigma am Himmel. P. über Natur und Staat, Fbg. 2005.

Helmuth Plessner *  4. 9. 1892 in Wiesbaden, † 12. 6. 1985 in Göttingen; Philosoph und Soziologe, Vertreter der Philosophischen Anthropologie.

Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie EA Bln. 1928.

P.s Werk wird in der Entwicklung der modernen Anthropologie zumeist als Zwischenstation zwischen Schelers Programmschrift →  Die Stellung des Menschen im Kosmos (1927/28) und Gehlens Hauptwerk →  Der Mensch (1940) betrachtet. Wie Gehlen ist P. der Auffassung, dass die Anthropologie den Gegensatz von Natur- und Geisteswissenschaft beiseite lassen und die »wohlbegründete Drückebergerei der Daseinsontologie vor den Problemen der Leiblichkeit« überwinden müsse, um einen einheitlichen Gesichtspunkt zu gewinnen, von dem aus die Stufung der organischen Welt im Ganzen und im Einzelnen verstehbar wird. Die zentrale Fragestellung seines Hauptwerkes lautet daher: Wie gestaltet die Natur den Men-

schen als Lebewesen so, dass er als frei handelndes Wesen etwas aus sich selber machen muss? – Von einem allgemeinen Begriff des Lebendigen ausgehend betrachtet P. das Organische als eine in sich gestufte Ordnung, die sich in die unterschiedlichen Daseinsordnungen der Pflanze, des Tieres und des Menschen differenziert. Je­ de Stufe ist gegen die andere selbständig, wobei die sich dar­ aus ergebende Stufenordnung nicht auf ein evolutionäres Prinzip zurückgeführt werden darf. Die Grundkategorie, von der aus P. das Wesen des Lebendigen zu begreifen sucht, ist die »Positionalität«. Gemeint ist damit, dass jedes Lebewesen im Gegensatz zum Anorganischen dadurch bestimmt ist, dass seine Grenze zur Umwelt nicht zufällig und daher auch nicht beliebig verschiebbar ist. ›Positionalität‹ bezeichnet dabei ganz allgemein den Strukturzusammenhang, in dem ein Lebewesen mit seinen Sphären, d. h. seinen Umfeldern, Umwelten oder Welten verbunden ist. Während das Tier »zentrisch« aus seiner Mitte heraus, jedoch nicht als Mitte lebt, ist der Mensch darauf angewiesen, zu sich selbst und seiner Mitwelt Distanz zu gewinnen, d. h. »exzentrisch« zu leben. Von dieser ›Exzentrizität‹ aus interpretiert



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P. die Eigentümlichkeiten der Stellung des Menschen in der Natur: Nur der Mensch kann zu sich ›Ich‹ sagen, d. h. er hat sich selbst, er weiß um sich und ist sich selbst bemerkbar, aber ebenso darauf angewiesen, sein Ich in sich selbst zu differenzieren. Indem P. den Menschen in seinem Gegensatz zu Pflanze und Tier versteht, verbietet er sich jeden Rückzug auf einen Biologismus. Die negative Meta­physik, die P. entwickelt, hat daher weder in Schelers noch in Gehlens Denken eine Paralle­le. Der Status der Weltoffen­heit ist eine spezifisch menschliche Form der Umweltbindung. Aus dieser Weltoffenheit des Menschen ergeben sich für P. ei­ni­ge anthropologische »Grundregeln«, die aus dem biologischen »Mängelcharakter« der menschlichen Daseinsverfassung folgen: Der Mensch, so P., ist nur, wenn er sich vollzieht; er lebt, indem er sein Leben führt; er sucht ins Gleichgewicht zu kommen, weil er sich nicht im Gleichgewicht befindet. Weil der Mensch keine natürliche Umwelt hat, muss er die ihm gemäße Welt erst aufbauen. Die ihm gemäße Welt aber ist die Kulturwelt. Daraus ergibt sich das »Gesetz der natürlichen Künstlichkeit«. Der künstlichen Welt bedarf der Mensch

nicht nur, um sich am Leben zu erhalten. Die Kulturwelt ist immer schon mehr als ein biologisches Ersatzmittel im Sinne der Lebensfristung, da die menschliche Welt geschicht­lich ist. Der Mensch schafft seine Welt, um sich in ihr heimisch zu fühlen, obwohl er darum weiß, dass diese Heimat nicht endgültig ist. Weil der Mensch nicht nur Geschöpf, sondern auch Schöpfer seiner Kul­ tur ist, vermag ihm keine Normenwelt zu genügen. Mehr noch: In der von ihm selbst geschaffenen Kultur kann sich der Mensch selbst zum Verhängnis werden. Aus der Tatsache, dass der Mensch zu der von ihm geschaffenen Kultur in eine reflexive Distanz tre­ten kann, ergibt sich als zweite anthropologische Grundregel das »Gesetz der vermittelten Unmittelbarkeit«: Zwar bezieht sich der Mensch direkt auf die Außenwelt und gewinnt an ihr Halt (Außenstabilisierung), aber er hebt diesen Halt immer dann auf, wenn er die von ihm selbst bewirkte Setzung der Außenwelt durchschaut oder sich nicht mehr an die Arbeit der Setzung zu erinnern vermag. Indem der Mensch fortwährend über seine Welt hinausgeht, setzt er sie zu sich selbst in Distanz. Daraus folgt als dritte Grundregel das »Gesetz des utopischen Stand-

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Plotin: Enneades

ortes«: Der Ort des Menschen ist das Nirgendwo. Gerade weil der Mensch ungebunden ist, kann er ohne Zukunftsbezug nicht leben. Es gibt daher nach P. ein unverlierbares Recht der Menschen auf Revolution, wenn die Formen der Gesellschaftlichkeit ihren eigenen Sinn selbst zunichte machen. – P.s These von der exzentrischen Positionalität des Menschen und die damit einhergehende Vorstellung, dass die Kultur als Kompensation für fehlende Instinktlenkung zum natürlichen Bestandteil des Menschen gehört, hat erheblich zur Entwicklung der soziologischen Theoriebildung über soziale  Rolle, Sozialisation, Identität und Persönlichkeitsbildung bei­getragen. G. Kamphausen A. Knirim Ausgabe: Gesammelte Schriften, Bd. 4, Hg.: G. Dux, 1981. Literatur: J. Fischer, P. und die politische Philosophie der zwanziger Jahre, in: Politisches Denken.  Jahrbuch 1992, Stgt. 1993, 53–78.  – B. Westermann/J. Friedrich (Hg.), Unter offenem Horizont.  Anthro­po­ logie nach H. P., Ffm. 1995. – J. Fischer, »Exzentrische Positio­nalität«. P.s Grundkategorie  der  Philoso­phi­ schen Anthropologie, in: T.  Kel­ ler/W.  Eßbach (Hg.), Leben und Geschichte. Anthropologische und ethnologische Diskurse der Zwischenkriegszeit, Mchn. 2006, 233–263.

Plotin *  204, † vor 25. 5. 270 Minturnae (Campanien); Begründer und wichtigster Vertreter des Neuplatonismus.

Enneades (gr.; Enneaden), entst.  253–269; ED Florenz 1492 (lat.); Basel 1580 (gr.).

P.s Philosophie versteht sich selbst als Metaphysik des Einen. Jedes Sein und jedes Denken setzt als sein Prinzip das Eine voraus: »Alles Seiende ist durch das Eine seiend«. Jede Vielheit setzt darum einen Einheitsgrund voraus, durch den sie Einheitscharakter und damit erst Sein, bestimmtes Wesen und Erkennbarkeit erhält. Die grundgebende Einheit bleibt dabei transzendent. Die transzendenten Einheitsgründe der erscheinenden Vielheit sind die platonischen Ideen. Ebenso setzt auch jede selber noch vielheitliche Einheit das absolute Eine voraus, das frei von jeder Vielheit ist. Da jede Idee als definierbare Wesenheit eine Einheit aus mehreren Bestimmungen ist, liegt das absolute Eine somit noch über dem Ideenkosmos als der Totalität ­ des Seienden. Es ist nichts als das Eine selbst; jede weitere Charakterisierung würde es in die Vielheit hineinziehen. So



Plotin: Enneades 481

kann man von ihm noch nicht einmal sagen, dass es ist oder dass es Eines ist. Es ist »nichts von allem«, weil »jenseits von allem«. Diese absolute Transzendenz des Einen drückt P. prägnant dadurch aus, dass er es mit Platon das »Jenseits des Seins« nennt, denn das Sein ist der Inbegriff aller Bestimmtheit. Das Eine ist aber auch »jenseits des Geistes« und »jenseits jeder Erkenntnis«; es ist »in Wahrheit unsagbar«. Auch die Bezeichnung ›das Eine‹ trifft das Absolute nicht wirklich, sondern soll uns zum Transzendieren jeder Vielheit und Bestimmtheit und damit jeder Denkbarkeit anleiten. Dieses Transzendieren vollzieht P. in einer konsequent negativen Dialektik, die dem Einen alle überhaupt denkbaren Bestimmungen abspricht. Im methodischen Negieren aller Denkbarkeit hebt sich das Denken selber auf in das Jenseits seiner selbst. Diese Selbsttranszendierung des Denkens – P. spricht von ekstasis – ist die Bedingung für die nicht-denkende Schau des Einen, die eigentlich auch keine Schau mehr ist, sondern das unterschiedslose Einswerden (henōsis) mit dem Absoluten. Weil das Eine in seiner absoluten Transzendenz über alles erhaben ist, was ihm abgesprochen wird, ist es die

absolute Überfülle, die auf unbegreifliche Weise Anderes und Geringeres aus sich hervorgehen lässt. Das entsprungene Andere aber wendet sich zeitlos auf die Überfülle des Einen zurück und erhält dadurch selber Einheit und Bestimmtheit; damit wird es zum Sein. Das Sein ist das zweite oder seiende Eine, das sich selbst zur Vielheit der Ideen entfaltet, diese Vielheit aber zugleich zur Einheit zusammenschließt, so dass es »Viel-Einheit« ist. Das Sein konstituiert sich in der Hinwendung auf das absolut transzendente Eine, das es aber nicht zu erreichen vermag; statt dessen erblickt es seine eigene Selbstentfaltung in die Viel-Einheit der Ideen und ist damit der sich selbst denkende Geist (nous). Jede Idee ist als Selbstentfaltung der Einheit des Seins zugleich selber das Ganze aller Ideen. Indem der Geist diese Alldurchdringung der Ideen denkt, denkt er sein eigenes Denken. Der Geist ist »Drei-Einheit«, nämlich Denkendes, Gedachtes und beide vereinigender Denkakt zugleich. In seiner Einheit sind alle Unterschiede aufgehoben und zugleich bewahrt, so dass er sich nur paradox beschreiben lässt: als einfach und nicht einfach, unterschieden und ununterschieden zugleich usw. Der

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Plotin: Enneades

Geist entlässt kraft seiner Fülle aus sich die Seele, welche die in der Einheit des Geistes eingefaltete Vielheit des Seienden in reale Verschiedenheit auseinanderlegt. Die Seele durchdenkt die Ideen nacheinander als verschiedene; hierdurch vereinzelt und vervielfältigt sie die Ideen zu Einzelbestimmungen (logoi). Im diskursiven Durchgang durch diese Einzelbestimmungen konstituiert sie die Zeit als die Form des Nacheinander. Zugleich unterscheidet die Seele sich selbst in Weltseele und Einzelseelen. Das Auseinandertreten der Einheit in die Verschiedenheit des Einzelnen ist die Seinsweise der Seele; sie ist das Prinzip der Individuation. Wenn die Seele sich in einem zeitlosen Akt der Spontaneität von der Einheit des Seins im Geist abwendet und in ihre eigene Einzelheit versenkt, denkt sie das Einzelne nicht nur nacheinander, sondern stellt es auch als voneinander und von ihr selbst getrennte Dinge vor. Durch diese Verdinglichung ihrer eigenen Denkinhalte entsteht die sinnlich erscheinende Welt. Die Materie ist das Nichtseiende, das von der Seele durch die Abwendung vom Sein hervorgebracht und durch die Projektion ihrer eigenen Inhalte zur Erscheinungswelt geformt wird. Die sinnlichen

Dinge sind vergänglich, weil die Materie als einheitslose Vielheit jede ihr aufgeprägte Gestalt wieder zerstört, während die Seele als bewusstes Zusammenhalten des Vielen unvergänglich und unsterblich ist. Ihr höchster Teil bleibt als reines Denken ewig im Geist, so dass P. sogar sagt: »Jeder von uns ist ein intelligibler Kosmos«. Der Mensch als vernünftige Einzelseele ist frei, sich entweder der sichtbaren Welt der Veränderung oder dem geistigen Sein der unveränderlichen Ideen zuzuwenden, da er zwischen beiden steht. – P.s Denken beeinflusste nachhaltig die gesamte metaphysische Tradition der späteren Antike, des Mittelalters und der Neuzeit. Wieder angeeignet wurde sie durch G.  W.  F. Hegel und F. W. J. Schelling, die die Grundlagen ihrer Philosophie P. verdanken. J. Halfwassen Ausgaben: Gr., Plotini Opera, Hg.: P.  Henry/H.  R. Schwyzer, Oxfd. 1964–82 (3 Bde.). – Gr./ dt., Plotins Schriften, Hg. und Ü.: R. Harder/R. Beutler/W. Theikler, Hbg. 1956–71 (12 Bde.). Literatur: W. Beierwaltes, Selbsterkenntnis und Erfahrung der Einheit, Ffm. 1991. – J.  Halfwassen, Der Aufstieg zum Einen, Stgt. 1992, Lpzg./Mchn. 22006. – J. Halfwassen, P. und der Neuplatonismus, Mchn. 2004.



Pogge: World Poverty and Human Rights 483

Thomas W. Pogge * 1953 in Hamburg; bedeutender zeitgenössischer Theoretiker globaler Gerechtigkeit.

World Poverty and Human Rights. Cosmopolitan Respon­ sibilities and Reforms

(engl.; Weltarmut und Menschenrechte. Kosmopolitische Verantwortung und Reformen), EA Cambr. 2002.

In World Poverty and Human Rights entwickelt P. einen normativen Ansatz zur Beurteilung des Weltarmutsproblems, indem er unsere kosmopolitische Verantwortung aufzeigt und verschiedene Vorschläge zu institutionellen Reformen unterbreitet. Ein weit g­ eteiltes Verständnis elementarer Menschenrechte, wie es in der  Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und anderen völkerrechtlichen Dokumenten formuliert ist, bildet den minimalen Standard der Gerechtigkeit, von dem P. in seiner Analyse ausgeht. In dem Werk, das auf Aufsätze seit 1990 zurückgeht, findet sich eine systematische Verdichtung der Gerechtigkeitstheorie P.s ebenso wie die Darstellungen der Konsequenzen, die sich daraus für die Praxis ergeben. Themen des Buches sind neben grundlegenden Fragen der Gerech-

tigkeit und der Menschenrechte auch eine kritische Analyse der bestehenden institutionellen  Weltordnung, die »unvereinbar ist mit tief verwurzelten Überzeugungen  über interpersonale Moral und internationale Gerechtigkeit«, sowie konkrete Vorschläge zu globalen institutionellen Reformen wie die Einführung einer »globalen Rohstoffdividende« und die Einrichtung eines Health Impact Fund zur Verbesserung des Zugangs zu essenziellen Medikamenten  für die Armen. – Den Kern der Analyse des Phänomens der Weltarmut bildet das Aufzeigen der menschenrechtsverletzenden Auswirkungen der gegenwärtigen institutionellen Weltordnung, wobei P. auch empirischen Fragen, wie der Frage danach, warum die massive Weltarmut trotz enormer wirtschaftlicher und technologischer Fortschrittebe­ steht, sowie moralpsychologischen  Fragen danach, warum das Weltarmutsproblem für Bürger wohlhabender westlicher Staaten so wenig beunruhigend ist, nachgeht. – P. zeigt dabei insbesondere, dass und wie wir in die Erzeugung und Aufrechterhaltung massiver Armut verstrickt sind. Genau deshalb kann die Weltarmuts­ problematik aus philosophischer Perspektive nicht ange-

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Popper: Logik der Forschung

messen allein in der Sprache positiver Verpflichtungen behandelt werden, also nur bezogen darauf, was zu tun wir vor dem Hintergrund des Problems verpflichtet sind. Stattdessen richtet P. den Fokus stärker auf unsere negativen Verpflichtungen und stellt heraus, welche Handlungen wir, vom Standpunkt der Gerechtigkeit aus betrachtet, unterlassen müssen, wenn, respektive weil wir an der Etablierung und Aufrechterhaltung menschenrechtsverletzender Institutionen beteiligt sind – ist eine Unterlassung in bestimmten Fällen nicht möglich, bestehen Verpflichtungen zur Kompensation des verursachten Schadens. P. betont v. a. die institutionellen Verpflichtungen (gegenüber interaktionellen Verpflichtungen einzelner Personen), die sich aus dieser Diagnose ergeben und mahnt weitreichende Reformen globaler institutioneller Strukturen an. – P. ist einer der Protagonisten der gegenwärtigen philosophischen Diskussion über Fragen globaler Gerechtigkeit. In dieser Diskussion steht P. zwischen kosmopolitischen  moralischen Ansätzen wie dem Peter Singers, der die Position vertritt, dass Individuen starke positive Pflichten zur Lösung der Weltarmutsproblematik haben, und partikularistischen

Positionen wie der von John Rawls, in dessen Konzeption Fragen globaler Gerechtigkeit im Wesentlichen die Beziehungen zwischen Staaten betreffen und sich in diesem Bereich weitgehend erschöpfen. Die Diskussion von P.s konkreten Vorschlägen zur Einführung einer »globalen Rohstoffdividende« und zur Einrichtung eines Health Impact Fund strahlt weit über den Bereich philosophischer Debatten ins Feld der internationalen Politik und der Arbeit internationaler Organisationen aus. S. Laukötter Ausgaben: Cambr.  22008. – Dt., Ü.: A. Wehofsits, Bln./NY 2011. Literatur: Symposium – World Poverty and Human Rights, in: Ethics and International Affairs 19/1, 2005, 1–83. – H.  Hahn, Globale Gerechtigkeit. Eine philosophische Einführung, Ffm. 2009. – A. M. Jaggar (Hg.), P. and His Critics, Cambr. 2010.

Karl Raimund Popper * 28. 7. 1902 in Wien; † 17. 9. 1994 in London; Begründer des sog. Kritischen Rationalismus.

Logik der Forschung. Zur Erkenntnistheorie der modernen Naturwissenschaft

(Untertitel nur in der EA), EA Wien 1935 (recte 1934); überarb. in engl. Sprache u. d. T. The Logic



Popper: Logik der Forschung 485

of Scientific Discovery, Ldn.  1959; später mehrfach mit Zusätzen und Anhängen versehen.

P.s Wissenschaftstheorie entwickelte sich v. a. in Auseinandersetzung mit Positionen aus dem Wiener Kreis, zu dessen Mitgliedern P. in regem Kontakt stand. Mit Erscheinen der Logik der Forschung wurde P., der zu diesem Zeitpunkt noch als einfacher Hauptschullehrer arbeitete, innerhalb der Wissenschaft schlagartig berühmt. – Ausgangspunkt ist eine fundamentale Kritik am Induktionsschluss, der die Grundlage empiristischer Positionen bildet. Durch einen Induktionsschluss soll aus endlich vielen besonderen Sätzen (empirischen Daten) auf einen allgemeinen Satz, eine Theorie, geschlossen werden. Dieser Schluss ist aber weder logisch zulässig noch anderweitig zu rechtfertigen. Der Empirismus, wie er etwa im Wiener Kreis vertreten wurde, ist daher als Rekonstruktion der Logik wissenschaftlichen Fortschritts untauglich. P.s Gegenmodell besteht in der Auffassung, dass Theorien nicht aus der Erfahrung gewonnen werden, sondern zunächst im Prinzip willkürlich gewählt und erst im zweiten Schritt an der Erfahrung geprüft werden. Dabei macht sich P. die logi-

sche Asymmetrie zunutze, dass zwar aus vielen besonderen Sätzen kein allgemeiner abgeleitet werden kann, sehr wohl aber besondere Sätze allgemeinen Theorien widersprechen können: Aus Theorien sind bei gegebenen Randbedingungen besondere Sätze ableitbar. Sind diese Sätze falsch, ist damit die Theorie widerlegt (die zugrunde liegende Schlussfigur wird in der Logik als modus tollens bezeichnet). – Bei der Aufstellung von Theorien spielen gewisse subjektive Vorgänge eine Rolle – etwa die Intuition oder Kreativität des Forschers. Für die Rekonstruktion der Logik wissenschaftlichen Fortschritts sind diese jedoch unerheblich, denn das Aufstellen der Theorie ist kein Erkenntnisvorgang, sondern lediglich »Raten« oder »Vermuten«. Die wie auch immer aufgestellte Theorie muss sich anschließend ­»bewähren«; hierin liegt der objektive Grund für ihre Rationalität. – Theo­ rien können im Ergebnis nicht verifiziert, aber dennoch falsifiziert  werden. Wissenschaftlicher Fortschritt besteht darin, dass ständig bestehende Theorien widerlegt und durch neue Theorien ersetzt werden. Ziel des Forschers ist deshalb paradoxerweise  nicht, Theo­rien zu bestätigen, sondern Theorien als falsch zu erweisen. Nicht Ve-

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Popper: The Open Society and Its Enemies

rifizierbarkeit (wie im Empirismus), sondern Falsifizierbarkeit ist somit das Abgrenzungskriterium zwischen  empirischen und nicht-empirischen (»metaphysischen«) Sätzen. Innerhalb der Gruppe der falsifizierbaren Sätze tritt die Falsifizierbarkeit in Graden auf: Je höher ihr Falsifizier­ barkeitsgrad, d. h. je mehr Vorgänge eine Theorie »verbietet«, desto gehaltvoller ist sie. – Das logische Prinzip der Falsifizierbarkeit alleine reicht für eine Rekonstruktion der Logik der Forschung jedoch nicht aus. Es ließe nämlich zu, dass Mess­ ergebnisse beliebig angezweifelt, Theorien durch willkürliche Hilfshypothesen an Mess­ ergebnisse angepasst oder weitere Versuche, eine bewährte Theorie zu falsifizieren, ganz eingestellt werden. P. formuliert deshalb mehrere »methodologische Regeln«, die sich aus der Zielsetzung wissenschaftlicher Forschung ergeben. Diese Regeln übernehmen die Funktion synthetischer a priori-Prinzi­pien, wie sie etwa Kant vertreten hatte, werden aber selbst nicht in einem strengen Sinn begründet, sondern lediglich per »Beschluss« festgesetzt. Dazu gehören die Regeln, die Suche nach Gesetzmäßigkeiten nie aufzugeben (dies übernimmt die Funk­ tion des Kausalitätsprinzips bei

Kant) und ­un­ter konkurrierenden Theorien stets die am leichtesten falsifizierbare auszuwählen (was mit dem klassischen Prinzip der Einfachheit zusammenfällt). – P. möchte mit seiner Theorie an einem starken Realismus und einer Korrespondenztheorie  der Wahrheit festhalten. Allerdings kann die Wahrheit einer Theorie nie bewiesen werden; Forschung zielt immer nur auf Wahrheitsnähe. Das Buch enthält außerdem ausführliche Überlegungen zur Wahrscheinlichkeitstheorie. – Die Wissenschaftstheorie der 2.  Hälfte des 20.  Jh.s – insbesondere T.  Kuhn, P.  Feyerabend und I.  Lakatos – kann weitgehend als Reaktion auf die Logik der Forschung verstanden werden. M. Hoesch Ausgaben: Gesammelte Werke, Bd. 3, Hg.: H. Keuth, Tbg. 112005. – Engl., Ldn. 2006. Literatur: H. Keuth, K. P., Logik der Forschung, Bln. 32007. – D.P. Rowbottom, P.’s Critical Rationalism: A Philosophical Investigation, NY 2011.  

The Open Society and Its Enemies Bd. 1: The Spell of Plato, Bd. 2: The High Tide of Prophecy. Hegel, Marx, and the Aftermath (engl.; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. 1: Der Zauber Platons, Bd. 2: Falsche



Popper: The Open Society and Its Enemies 487

Propheten. Hegel, Marx und die Folgen); EA Ldn. 1945.

Auf dem Rücken einer scharfen Kritik an den »historizistischen« Positionen Platons, Hegels und Marxens entfaltet P. die Grundlagen seiner eigenen Sozialphilosophie. Das Werk zehrt u. a. von Überlegungen zur Methodologie der Sozialwissenschaften, die P. in der zeitgleich entstandenen Schrift The Poverty of Historicism (Das Elend des Historizismus) ausführlicher entwickelt; seine normative Ausrichtung ist von der Entstehung der totalitären Regimes des frühen 20.  Jh.s stark beeinflusst. – Wie in den verstreuten Ausführungen zu P.s sozialphilosophischem ­Ideal der »offenen Gesellschaft« deutlich wird, gehört zu ihren wesentlichen Merkmalen ihre Zukunftsoffenheit: Soziale Regeln werden ständig kritisch hinterfragt, sich einstellende gesellschaftliche Probleme immer neu diagnostiziert und neuen Lösungsversuchen unterzogen. Die institutionelle Verwirklichung der offenen Gesellschaft ist die Demokratie, jedoch nicht aus normativen Überlegungen zur Legitimität von Herrschaft, sondern weil nur sie es ermöglicht, unliebsame Herrscher gewaltfrei abzusetzen, und damit (gestützt durch

Meinungs- und Redefreiheit) die Möglichkeit weiteren gesellschaftlichen Wandels garantiert. Eine große Rolle spielen in der offenen Gesellschaft die Sozialwissenschaften, die angemessene Lösungsvorschläge für soziale Probleme formulieren. Da deren Erkenntnisse aber fallibel sind, können die Lösungsvorschläge nur unter Vorbehalt und in kleinen Schritten umgesetzt werden – P. bezeichnet dies als »Sozial­technik der kleinen Schritte«. – Die Akteure der offenen ­Gesellschaft sind Individuen, die persönliche Entscheidungen treffen. In einer »geschlossenen Gesellschaft« tritt dagegen das Kollektiv in der Metapher des »Organismus« als Akteur auf, in dem die Prinzipien des Zusammenlebens als unveränderliche Dogmen vorgegeben sind – P. nennt die irrationale Autorität des Magiers, unhinterfragbare gesellschaftliche Tabus und statisch vorgegebene Rollenverteilungen der Individuen. – Die geschlossene Gesellschaft ist für P. die Gesellschaftsform der Vorantike. Mit Entstehung der Demokratie im antiken Griechenland beginnt der Übergang zur offenen Gesellschaft, der bis heute anhält, aber die Menschheit durch den Verlust letzter Wahrheiten immer wieder in tiefe Krisen

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Popper: The Open Society and Its Enemies

stürzt. Solche Krisen bilden den Nährboden der »Feinde« der offenen Gesellschaft, die P. insbesondere in Vertretern des »Historizismus« erblickt. Darunter versteht er Theorien, die in verschiedener Weise Gesetzmäßigkeiten im Verlauf der Geschichte unterstellen, deren Kenntnis es ermöglicht, den Verlauf künftiger Ereignisse vorherzusehen. Der Historizismus tendiert für P. seiner Natur nach zu totalitären Systemen, die die Individuen lediglich als Mittel des historischen Prozesses begreifen. – In Band  1 legt P. die historizistischen Elemente der Lehre Platons dar. Platon habe einen historischen Verfallsprozess diagnostiziert, der durch einen Rückgang zur stabilen Stammesgesellschaft aufgehalten werden soll. Nicht nur die totalitären Züge der Staatsphilosophie – eine hierarchische Ordnung mit Philosophenkönigen auf der einen, Arbeitern und Sklaven auf der anderen Seite, wobei jedem seine Rolle von Kindheit an vorgegeben ist –, sondern auch die Ideenlehre steht laut P. im Dienst dieser reaktionären Tendenz. Band  2 behandelt kurz das Geschichtsbild und die Staatsphilosophie Hegels, für den das Individuum dem Staat radikal untergeordnet werden müsse. Den größten Teil des

2.  Bandes bildet eine Kritik des Marx’schen Historizismus. Aufgrund der Vorstellung, dass Geschichte durch ökonomische Prinzipien determiniert sei, blende der Marxismus die Rolle der um Ideale ringenden Politik aus und spreche ihr die Möglichkeit einer bewussten Lösung sozialer Probleme ab; Politik sei »ohnmächtig«. P. gesteht Marx zwar zu, dass bestimmte Formen des Kapitalismus als ungerecht zu bewerten seien; die Utopie sei aber der falsche Weg, diese zu bekämpfen. – Das Werk endet mit einem Kapitel zur Frage nach dem Sinn der Weltgeschichte: Zwar wohne der Geschichte kein Sinn inne; man könne sie aber als Kampf für die Prinzipien der offenen Gesellschaft deuten. – P.s Sozialphilosophie fand als Verteidigung einer individualistisch verstandenen liberalen Demokratie weit über die innerakademische Diskussion hinaus Beachtung. Fachphilosophen kritisieren v.  a. die einseitige Darstellung der Lehren Platons, Hegels und Marxens, die diese unberechtigt nah mit den totalitären Re­gimes des 20. Jh.s in Verbindung bringt. M. Hoesch Ausgaben: Ldn. 2002 (mit Anhängen). – Dt., Gesammelte Werke, Bde. 5 und 6, Hg.: H. Kiesewetter,



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Ü.: P. Feyerabend, Tbg. 82003 (mit Anhängen). Literatur: E. Döring, K. R. P.: »Die offene Gesellschaft und ihre Feinde«. Ein einführender Komm., Paderborn 1996. – I.  Jarvie/S.  Pralong, P.’s Open Society after 50 years: the continuing relevance of K. P., Ldn. 1999.

Hilary Putnam * 31. 7. 1926 in Chicago; wichtiger Vertreter der analytischen Philosophie, zunächst mit realistischer, später mit zunehmend pragmatistischer Ausrichtung, bedeutender Denker der analytischen Sprachphilosophie; zahlreiche grundlegende und debattenprägende Beiträge zu verschiedenen Gebieten der Philosophie, insbesondere der Bedeutungstheorie und der Philosophie des Geistes.

The Meaning of ›Meaning‹ (engl.; Die Bedeutung von ›Bedeutung‹), ED Minneapolis 1975 (in: K. Gunderson [Hg.], Language, Mind, and Knowledge).

P.s Aufsatz beschäftigt sich mit dem titelgebenden Begriff der ›Bedeutung‹. Dessen philosophische Analyse steckt nach P. noch in den Anfängen. Den Ausgangspunkt seiner eigenen Bemühungen bilden zwei »unangefochtene« Annahmen, die zusammen mit der Unterscheidung zwischen der Extension eines Ausdrucks (als die Menge

derjenigen Dinge, auf die er zutrifft) und seiner Intension (als dessen »Begriff«) die bisherigen Überlegungen zum Bedeutungsbegriff bestimmt haben: a)  Zum Verstehen der Intension eines Ausdrucks muss sich die Person in einem bestimmten psychischen Zustand befinden, der nur von ihr selbst abhängt. b)  Die intensional aufgefasste Bedeutung eines Ausdrucks legt dessen Extension fest. – In Erwiderung darauf entwickelt P. das sog. Zwillingserde-Szenario. Darin gibt es im Universum einen weit entfernten Planeten Zwerde, welcher der Erde in fast allen Dingen gleicht. Jedoch findet sich dort statt Wasser eine in ihren oberflächlichen Eigenschaften gleich wirkende Flüssigkeit mit der Molekülverbindung XYZ. Gerade zu einer Zeit, in der niemand Wasser oder XYZ chemisch identifizieren konnte, könnte eine Person auf Erde und sein materiell identischer Doppelgänger auf Zwerde in Gedanken an den Stoff, den beide mit dem Ausdruck ›Wasser‹ bezeichnen, in demselben psychischen Zustand sein. Dennoch würden sie sich dabei auf ganz Verschiedenes beziehen, was für die traditionelle Analyse von Bedeutung in ein Dilemma mündet: Entweder kann die Bedeutung

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Putnam: The Meaning of ›Meaning‹

von ›Wasser‹ sich nicht »im Kopf« befinden – These a) ist falsch. Oder man möchte auf der Richtigkeit von a) beharren und sieht dasjenige, was die Bewohner auf der Erde und der Zwerde sich jeweils bei dem Ausdruck ›Wasser‹ denken, als dessen eigentlichen Sinngehalt an: Dasjenige, was mit ›Wasser‹ bezeichnet wird, hätte dann jeweils einen (versteckten) indexikalischen Bezug, wie er auch in Ausdrücken wie ›ich‹, ›hier‹ oder ›jetzt‹ vorkommt. Die Extension würde dann aber nicht mehr wie von b) behauptet ­allein über die – invariabel bleibende – Intension bestimmt, sondern durch die Umgebung des jeweils Sprechenden. P. identifiziert hier zwei Faktoren: einmal die wissenschaftlich bestimmbare Tiefenstruktur  derjenigen Dinge, auf die der Sprecher sich bezieht; bei Wasser wäre dies etwa dessen Molekülstruktur. Diese ist dem Sprecher nicht unbedingt bekannt, unter Umständen auch nicht seiner Sprachgemeinschaft. Jedoch muss in keinem Fall, und hier tritt der zweite, soziale Faktor auf den Plan, jeder Sprecher einer Sprachgemeinschaft die Richtigkeit des Ausdrucksgebrauchs an der Natur ihrer Gegenstände prüfen können, damit der Ausdruck erfolgreich verwendet werden kann. P. be-

zeichnet diesen Umstand als »sprachliche Arbeitsteilung«, die analog zur »realen« Arbeitsteilung funktioniert und eine effizientere Verwendung von Sprache gestattet. – Die von P. abgelehnte Vorstellung einer »intern« im Geist des Sprechers sich bildenden Bedeutung machen ihn zum Begründer des semantischen Externalismus. Als ein wichtiges Element dazu entwickelte er parallel zu Kripke seine ähnlich einflussreiche kausale Theorie der Referenz: H2O bestimmt die Extension unseres Ausdrucks ›Wasser‹, indem wir mit diesem Stoff in kausaler Verbindung stehen und uns darüber auf ihn beziehen. Beides ist gegen die bei der Erscheinung von Die Bedeutung von ›Bedeutung‹ populären deskriptiven Theorien der Referenz gerichtet, wie sie beispielsweise von John Searle (Intentionality, 1983) vertreten worden sind. S. Muders Ausgabe: Dt., Hg. und Ü.: W.  Spohn, Ffm. 32004. Literatur: G. Boolos (Hg.), Mean­ ing and Method: Essays in Honor of H.  P., Cambr. 1990. – A.  Pessin/S.  Goldberg (Hg.), The Twin Earth Chronicles: Twenty Years of Reflection on H. P.’s »The Meaning of ›Meaning‹«, Armonk 1996.



Putnam: Philosophical Papers 491

Philosophical Papers Mathematics, Matter and Method. Philosophical Papers I, EA Cambr. u. a.  1975, 21979 (erw. um den Text Philosophy of Logic); Mind, Language and Reality. Philosoph­ ical Papers II, Cambr. u. a.  1975; Realism and Reason. Philosophical Papers III, Cambr. u. a. 1983.

Unter dem Titel Mathematics, Matter and Method sind im ersten Band die zentralen Arbeiten zu Themen der Wissenschaftsphilosophie und Logik aus P.s erster philosophischer Schaffensphase ab 1957 zusammengestellt. – In seinen frühen Arbeiten zur Philosophie der Mathematik entwickelt P. eine stark realistische Posi­tion, der zufolge mathematische Ausdrü­ cke Bedeutung besitzen durch ihre Referenz auf »mathematische Gegenstände«. In­sofern ist Mathematik für P. eine »quasi-empirische« Disziplin. Dieser später von ihm so genannte »metaphysische Realismus« durchzieht auch seine Arbeiten zur Philosophie der Logik sowie zur Philosophie der physikalischen Wissenschaften, in denen P. den v. a. im Umkreis des Logischen Empirismus vertretenen Verifikationismus und Konventionalismus einer Kritik »von einem realistischen Standpunkt aus« unterzieht. – Mind, Language and Reality, der zweite Band

der gesammelten Schriften, umfasst einen Zeitraum von 1960 bis 1975 und ist v. a. der Philosophie der Sprache (Artikel 1–13) und der Philosophie des Geistes (14–22) gewidmet. – Auch hier ist die Darstellung von P.s Auseinandersetzung mit dem logischen Positivismus geprägt, den P. als einen sprachphilosophisch gewendeten Idealismus kritisiert, der letztlich die Bestimmung der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke abhängig mache von den sprechenden Subjekten und deren mentalen Zuständen. Durch die Analyse sowohl natürlicher als auch wissenschaftlicher Sprach­organisation will P. zeigen, dass Bedeutungen »nicht im Kopf« sind. Dies soll die (v. a. in → The Meaning of ›Meaning‹ entwickelte) Hypothese von der »sprachlichen Arbeitsteilung« belegen, der zufolge nicht einzelne Sprecher, sondern nur gesamte Sprachgemeinschaften über die vollständige Bedeutung der Ausdrücke verfügen. In diesem Zusammenhang entwickelt P. auch eine Variante der sog. »kausalen Theorie der Referenz«: Die heutige Verwendung von Eigennamen wie etwa ›Julius Cäsar‹ hat deshalb einen Bezug zu dem entsprechenden historischen Referenzgegenstand, weil sie in kausalen Zusammenhän-

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Putnam: Philosophical Papers

gen zu derjenigen erstmaligen Verwendung steht, mit der der Name durch einen Taufakt eingeführt wurde. – In den Arbeiten zur Philosophie des Geistes entwickelt P. eine funktionalistische Position,  der zufolge mentale Zustände (analog: Ereignisse) nicht mit beobachtbarem Verhalten oder Verhaltensdispositionen (Behaviorismus) oder Hirnzuständen (Materia­ lismus) gleichzusetzen sind, sondern einzig mit dem, was P. den »funktionalen Zustand« nennt: Unter Heranziehung der Computer-Analogie (sog. Turing-Maschinen) sind mentale Zustände nicht die Zustände einer »Hardware«, sondern die Zustände des Programms. Das Programm soll dabei unabhängig von der Frage nach der materialen Beschaffenheit der Hardware zu beschreiben sein. Mit dieser Analogisierung will der Funktionalismus ein praktikables Modell für die Problemstellungen der Philosophie des Geistes, etwa des klassischen Leib-Seele-Problems bereitstellen. Ob menschliche Agenten tatsächlich mit Computern nach Art der Turing-Maschine gleichgesetzt werden können, erklärt P. zu einer nur mit empirischen Mitteln und daher nicht durch die Philosophie lösbaren Aufgabe. – Obwohl P. in späteren Arbeiten die hier

von ihm entwickelten Positionen in der Bedeutungstheo­rie und der Philosophy of Mind selbst heftig attackiert und in Teilen als deren schärfster Kritiker hervortritt, sind seine Argumentationen in beiden Debattenkreisen weiter präsent und werden darüber hinaus auch in linguistischen und kognitionswissenschaftlichen Zusammenhängen diskutiert. Dies gilt insbesondere für die Theorie des Funktionalismus, die heute oft als ›die Standardtheorie‹ der Deutung mentaler Zustände und Ereignisse angesprochen wird. – Der dritte, 1983 unter dem Titel Realism and Reason erschienene Band bietet Texte aus der Zeit von P.s Wende vom »metaphysischen Realismus« zum »internen Realis­mus«. Darunter findet sich auch der Aufsatz Models and Reality, in dem unter Hinweis auf das sog. Skolem-Löwenheim-Para­ doxon ein ausführlicher Be­weis für die in → Reason, Truth and History eher intuitiv begründete These gegeben wird, dass die Interpretationssemantik auf­ grund der Möglichkeit alternativer Interpretationen zur Bedeutungsfestlegung ungeeignet ist. Über die Festlegungen der Ausdrucksverwendung einer Sprache hinaus noch eine Interpretation zu fordern, ist nach P. nonsense: »Either the



Putnam: Reason, Truth and History 493

use already fixes the ›interpretation‹, or nothing can«. Weitere Arbeiten setzen sich in systematischem oder historischem Zugriff mit Fragen im Umfeld der Realismus-Debatte auseinander, insbesondere mit Problemen der Pluralität von Sprachen bzw. Welten sowie mit dem Verständnis von ›Analytizität‹ und ›Apriori‹. G. Kamp Ausgaben: Cambr. 71995 (Bd. I); 10 1997 (Bd. II); 61996 (Bd. III). Literatur: W. Spohn, P.s philosophische Aufsätze, in: Philosophische Rundschau 25, 1978, 199–217.

Reason, Truth and History (engl.; Vernunft, Wahrheit und Geschichte), EA Cambr. u. a. 1981.

P.s frühe Philosophie konzipiert Referenz als objektive Beziehung zwischen sprachlichen und außersprachlichen Gegebenheiten. Ausdrücke erhalten Bedeutung, indem ihre Verwender sich mit (die Rede begleitenden) mentalen Akten auf die Gegenstände beziehen. Der Wahrheitsbegriff wird in Übereinstimmung mit einer breiten philosophischen Tradition gedeutet als Korrespondenz von Aussage und Sachverhalt – Aussagen sind also wahr oder falsch unabhängig von den den Sprachverwendern zur Verfügung stehenden Pro-

zeduren zur Ermittlung ihres Wahrheitswertes. Gegen diese – heute meist als rea­listische Semantik bezeichnete – Position richtet sich der v. a. durch seine Darstellung in Reason, Truth and History zum Gegenstand breiter Diskussion gewordene »interne Realismus«. – Das 1.  Kapitel führt das berühmte Gedankenexperiment der »Gehirne im Tank« ein: Die Annahme, »wir seien Gehirne in einem Tank«, durch eine Nährflüssigkeit physiologisch versorgt, durch einen »superwissenschaftlichen Computer« mit vorgetäuschten Sinnesdaten gefüttert, ist »selbstwiderlegend«. Solche Gehirne könnten nicht sagen oder denken, sie seien Gehirne in einem Tank, insofern sie lediglich in der Lage wären, mit den Ausdrücken ›Gehirn‹ und ›Tank‹ auf ihre »Vorstellungen« von solchen Gegenständen Bezug zu nehmen, nicht aber auf die Gegenstände selbst. Für die Möglichkeit einer solchen Bezugnahme ist P. zufolge der handelnde, nichtsprachliche Umgang mit den Gegenständen vorausgesetzt. Bedeutungskonzeptionen, die diese Voraussetzung nicht berücksichtigen und nach Art der  Interpretationssemantik die Bedeutungsbestimmung einzelner Begriffe abhängig vom Wahrheitswert der sie ent-

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Putnam: Reason, Truth and History

haltenden Aussagen machen, geraten in »ein Problem der Bezugnahme« (Kap.  2, Anhang): Es gibt mehrere voneinander verschiedene Interpretationen einer Sprache L, die immer dieselben Aussagen von L wahr machen. In Vorbereitung einer Alternativkonzeption werden »zwei philosophische Perspektiven« unterschieden (Kap.  3): Der durch die vorgebrachten Argumente als unhaltbar erwiesenen »externalistischen« Sicht wird die »internalistische« gegenübergestellt: Wahrheit wird als (ideale) »rationale Akzeptierbarkeit« rekonstruiert und so auf bestimmte (kollektive) Weisen der Welt- und Selbstdeutung relativiert. In wissenschaftlichen Zusammenhängen kann entsprechend nur innerhalb einer Theorie Wahrheit prädiziert werden. Für Fragen nach dem Zusammenhang von »Geist und Körper« (Kap.  4) gilt etwa, dass das Zusprechen von Bewusstsein abhängig ist von »Ähnlichkeitsstandards«, die das »Produkt unseres biologischen und kulturellen Erbes sind«. Für die nähere Bestimmung der Rede von ratio­ naler Akzeptierbarkeit werden zunächst »zwei Auffassungen von Rationalität« (Kap.  5) zurückgewiesen: Rationalität kann weder szientistisch (etwa durch ein ideales Computer-

Programm) noch konventio­ nalistisch (etwa durch bestimmte kulturelle Normen) definiert werden. Beide Auffassungen wer­ den dem nicht gerecht,  dass »Tatsachen und Werte« (Kap.  6) voneinander abhängig sind: Für die (wissenschaftliche) Entscheidung der Frage, ob etwas als Tatsache anzusehen ist oder nicht, sind wesentlich »Werte« vorausgesetzt. Einige solcher Werte (z.  B. Kohärenz, Einfachheit) will P. als »objektiv« erweisen und so jeden Kulturrelativismus und Historismus (Kap. 7: »Vernunft und Geschichte«) vermeiden. Die unter dem »Einfluß der Wissenschaften auf moderne Rationalitätsauffassungen« (Kap.  8) in der Philosophie verbreiteten Kriterien für die Verwendung von ›rational‹ sind zwar so bestimmt, dass sie die Möglichkeit einer rationalen Prüfung von Wertaussagen ausschließen, diese Kriterien sind aber gerade deshalb für P. nicht akzeptabel. »Werte, Tatsachen und Erkenntnis« (Kap. 9) sind voneinander abhängige Größen: »Ein Wesen ohne Werte würde auch keine Tatsachen kennen«. – Neben dem v. a. von M. A. E. Dummett entwickelten Anti-Realismus stellt P.s interner Realismus eine wichtige Gegen­position zu realistischen Auf­fassungen im »Streit der Be-



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deutungstheorien« dar. Beide richten die Kritik insbesonde­ re gegen wahrheitskonditio­ na­ le und korrespondistische Theo­ riemomente des Realismus und betonen die Alternative einer Gebrauchskonzep­ tion der  Bedeutung. Während jedoch  Dummetts Konzep­ tion insbesondere in allgemein sprachphilosophischen Debatten verhandelt wird, hat P.s eher dem Pragmatismus verbundener Ansatz breitere Aufnahme eher in wissenschaftstheoretische Debatten gefunden. G. Kamp Ausgabe: Dt., Ü.: J. Schulte, Ffm. 2005 (ND der Aufl. 1990). Literatur: E. Conee, H.  P., Reason, Truth and History (Review), in: Noûs 21, 1987, 80–95. – P. J. Clark, H.  P.: Reason, Truth and History, in: J. Shand (Hg.), Central works of Philosophy. Vol. 5: The Twentieth Century, Quine and After, Durham 2006, 187–206.

Representation and Reality (engl.; Repräsentation und Realität), EA Cambr. (Mass.) u. a. 1988.

In konsequenter Fortführung seiner Kritik am Realismus, die sich wesentlich auch auf die Tatsache des sozial eingebet­ teten Gebrauchs der Ausdrücke als der Bedeutungsträger stützt, distanziert sich P. mit diesem Werk von seiner funktiona-

listischen Konzeption in der Philosophie des Geistes. – Das 1.  Kapitel »Bedeutung  und Mentalismus« stellt den systematischen Zusammenhang zwischen  bestimmten ­Positionen der  Bedeutungs­theorie und der Philoso­ phie des Geistes heraus: Da (1.) einzelnen Ausdrücken nicht  unabhängig vom sprachlichen Gesamtzusammenhang eine bestimmte Bedeutung zugesprochen werden  kann (Holismus), da (2.) der  Bedeutungsbe­griff eine normative Komponente enthält, und da (3.) die unserer physischen und sozialen Umwelt angemessenen Ausdrucksbestände nicht durch die biologische Evolution bereit­ gestellt sein können, muss eine Konzeption, die das Phäno­men der Sprache im Rückgriff auf mentale Zustände bzw. Ereignisse zu erklären versucht, zurückgewiesen werden. – Das 2.  Kapitel stellt zur Stützung dieser These »Bedeutung, andere Personen und die Welt« in einen Zusammenhang. In früheren Arbeiten (insb. → The Meaning of ›Meaning‹, 1975) entwickelte Argumentationen und Theorienteile werden herangezogen, um die Funk­ tionslosigkeit der Unterstellung mentaler Größen für eine adäquate Bedeutungstheorie aufzuweisen. So sei das Phäno-

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Putnam: Representation of Reality

men der Bedeutung nur angemessen zu erfassen, wenn man für die Bedeutungskonstitution eine »sprachliche Arbeitsteilung«  unterstelle. Ferner zei­ge das Gedankenexperiment einer »Zwillingserde«, auf der es Sub­ s­tanzen gäbe, die dort in ­allen Erfahrungs- und Nutzungszusammenhängen Substanzen unserer Erde entsprechen, in ihrem chemischen Aufbau aber verschieden wären, dass eine Theorie, die Bedeutung als Relation zwischen einem Gegenstand und seiner mentalen Repräsentation expliziert, wesentlich unterbestimmt sei. Vielmehr sei für eine ange­­mes­ sene Bedeutungsbestim­mung auch die Sprecher und Gegenstand umgebende »Umwelt« einzubeziehen. – Letztlich – so führt P. seine Kritik in Kap.  3 (»Fodor und Block über ›en­­gen Inhalt‹«) fort – identifizier­ten mentalistische Konzeptionen le­diglich die Bedeutung eines Zeichens mit einem ande­­ ren (etwa »gehirnschriftlichen«) Zei­chen. Dies aber könne kein Beitrag zur Bedeutungser­ klä­ rung sein und erweise sich als explikativ inadäquat. Das­sel­be gilt für einen Versuch, die Beziehung zwischen ei­ nem Ge­ genstand oder Sachver­halt und einem Ausdruck oder einer Ausdrucksverbindung mithilfe semantischer Inter­pre­tations-

Regeln herstellen zu wollen, wie dies etwa durch die »Zitattilgungstheorie« und interpretationssemantische An­sätze unternommen werde (Kap.  4: »Gibt es so etwas wie Bezugnahme und Wahrheit?«). Die Kap. 5 (»Warum hat der Funktionalismus nicht funktio­ niert?«) und 6 (»Spielarten des Funktionalismus«) wenden die Kritik an auf die von P. selbst in früheren Arbeiten entwickelte funktionalistische Philosophie des Geistes: Gegen die simple Gleichsetzung von mentalen Zuständen und Programmen (von Turing-Maschinen) lassen sich Gegenbeispiele bringen; verfeinerte Modelle, die hinreichend komplex sind, um solche Gegenbeispiele auszuschließen, sind für alle physikalisch möglichen intelligenten Wesen nicht überprüfbar. Das Schlusskapitel entwickelt in einer elementaren Darstellung des internen Realismus »Umrisse eines Alternativbilds«. G. Kamp Ausgabe: Dt., Ü.: J. Schulte, Ffm. 2005 (ND der Aufl. 1991). Literatur: W. Demopoulos, Re­p­ resentation and Reality (Review), in: Philosophy of Science 57.2, 1990, 325–333. – R. Rorty, P. on Truth, in: Philosophy and Phenomenological Research 52.2, 1992, 415–418. – R.  Stalnaker, Representation and Reality (Review), in: The Philosophical Review 101.2, 1992, 359–362.



Quine: From a Logical Point of View 497

Willard Van Orman Quine unserer Sprachhandlungen er*  25. 6.  1908 in Akron (Ohio), †  25. 12. 2000 in Boston; Logiker und Philosoph in der Tradition der analytischen Philosophie, Vertreter eines modifizierten Empirismus.

From a Logical Point of View (engl.; Von einem logischen Standpunkt), EA Cambr. (Mass.) 1953; 2 1961 (verbessert).

Wie viele der Bücher Q.s ist auch dieses eine Aufsatzsammlung. Unter den neun Beiträgen finden sich neben einem bereits in den 30er Jahren entstandenen Aufsatz zu den Grundlagen der mathematischen Logik, der eine Alternative zu den gewöhnlichen Mengenlehren enthält, einige der bedeutendsten Arbeiten Q.s zur Ontologie und Sprachphilosophie. – In dem Aufsatz On what there is (1948) entwickelt Q. Argumente für eine äußerst sparsame Ontologie. Er schlägt vor, so wenig Entitäten wie möglich anzunehmen, und macht darauf aufmerksam, dass auch der Gebrauch von scheinbar referierenden Ausdrücken wie Namen und singulären Kennzeichnungen nicht zu ontologischen Annahmen nötigt. Fast alle Aufsätze des Bandes widmen sich den Problemen, die sich aus einer ontologischen Deutung

geben. Q. diskutiert z. B. das Verhältnis von Referenz und Modalität (in Reference and Modality) sowie das klassische Problem der Verdinglichung von Universalien (in Logic and the Reification of Universals). Seine Überlegungen laufen letztlich darauf hinaus, fast allen sprachlichen Ausdrücken eine referenzielle Funktion abzuerkennen. Lediglich gebundene Variablen versteht er als echte referierende Ausdrücke. Zu sein, so Q., heiße, der Wert einer gebundenen Variablen zu sein. Q. versucht, alle anderen Kontexte auf eine Form zu bringen, in der nur referierende Ausdrücke dieser Art vorkommen. Größtes Aufsehen erregte der Aufsatz Two Dogmas of ­Empiricism (1951). Er kann als die Gründungsurkunde ei­ ner immanenten Kritik des Logischen Empirismus gelten, die zu fundamentalen Neuentwicklungen innerhalb der analytischen Philosophie führte. Q. macht darauf aufmerksam, dass zwei Voraussetzungen des Logischen Empirismus nicht weiter bewiesene dogmatische Glaubenssetzungen sind: zum einen die Unterscheidung zwischen analytischen und synthe­ tischen Sätzen, zum anderen der für das philosophische Pro­gramm des Wiener Kreises

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Quine: Ontological Relativity and Other Essays

charakteristische Reduktionismus in Gestalt der Annahme, alle Sätze ließen sich auf Sätze zurückführen, die sich auf unsere unmittelbare Erfahrung beziehen. Die Argumente gegen die Unterscheidung von ›analytisch‹ und ›synthetisch‹ demonstrieren die Unmöglichkeit, zirkelfrei zu einem klaren Begriff von Analytizität zu gelangen. Q. widerlegt dabei alle mit dem Begriff der ›Synonymie‹ operierenden Versuche zu einer Rettung dieser philosophischen Grundunterscheidung. Der Reduktionismus wird auf der Grundlage holistischer Argumente kritisiert: Kein Satz lässt sich nach Q. isoliert von anderen Sätzen verifizieren; alle unsere Aussagen treten »als Kollektiv vor das Tribunal der sinnlichen Erfahrung«. C. Demmerling Ausgaben: Cambr.  1980. – Dt., Ffm. 1979. Literatur: H. Putnam, The Analytic and the Synthetic, in: ders., Mind, Language, and Reality. Philosophical Papers, Bd. 2, Cambr. 1975, 33–69. – H. Putnam, »Two Dogmas Revisited«, in: ders., Realism and Reason. Philosophical Papers, Bd.  3, Cambr. 1983, 87–97. – H.  Schnädelbach, Two Dogmas of Empiricism; Fifty Years After, in: Grazer Philosophische Studien 66, 2003, 7–12.

Ontological Relativity and Other Essays

(engl.; Ontologische Relativität und andere Schriften), EA NY 1969.

Die Beiträge dieses Bandes stehen in engem Zusammenhang mit den in →  Word and Object diskutierten Fragen.  Der Aufsatz Speaking of Objects (1958) verdeutlicht am Beispiel der sprachlichen Bezugnahme auf Gegenstände die wesentlichen Positionen, die ­ Q. auch in seinem Hauptwerk einnimmt. – Der Titelaufsatz Ontological Rela­tivity ging aus den 1969 von Q. gehaltenen John-Dewey-Lectures hervor. Im Anschluss an die naturalistische Sprachphilosophie Dew­ eys verdeutlicht Q. seine eigene Position. Er richtet sich dabei zum einen gegen den »semantischen Platonismus«,  den er mit der Position Freges identifiziert, und zum anderen gegen den »semantischen Mentalismus«, den man bei den Vertretern der von Putnam später als ›kalifornische Semantik‹ bezeichneten Schule finden kann. Den Hintergrund dieses Zweifrontenkrieges bildet Q.s radikale Intensionalitätsskepsis und seine Grundüberzeugung, dass über Bedeutungen nur auf der Grundlage empirischer Evidenzen geredet werden kann. Des­ truiert werden soll der »Mu-



Quine: Pursuit of Truth 499

seumsmythos von der Bedeutung«, nach dem Bedeutungen wie Exponate in einem Museum aufgefasst werden und die entsprechenden Wörter wie die diese Gegenstände benennenden Etiketten. Am Beispiel der hinweisenden Definition macht Q. deutlich, was er unter »ontologischer  Relativität« versteht: Worauf man sich mit seinen Wörtern bezieht, hängt stets von einem sprachlich vorgegebenen Gesamtrahmen ab, Bezugnahme ist daher für Q. immer nur relativ zu bestimmten Begriffsschemata  möglich. In den Beiträgen Epistemol­ ogy Naturalized und Natural Kinds plädiert Q. für die Verabschiedung der Idee einer »ersten Philosophie«. Er versteht die Erkenntnistheorie als Teil der Psychologie und damit der  empirischen Wissenschaften. In dem Aufsatz Existence and Quantification diskutiert Q. die Frage, inwieweit der Existenzbegriff der klassischen Quantorenlogik einen Beitrag zur Lösung ontologischer Fragen liefern kann. Die Arbeit über Propositional Objects geht den Problemen nach, die sich mit der Einführung des Begriffs der Proposition ergeben, der oftmals platonistische oder mentalistische Folgerun­ gen  nach sich zieht. – Q.s Überlegungen zum Problem

der ontologischen Relativität zogen eine weit verzweigte Diskussion über das Weltbild des wissenschaftlichen Realismus nach sich. C. Demmerling Ausgaben: NY 1977. – Dt., Ffm. 2003. Literatur: R. Geuss, Q. und die Unbestimmtheit der Ontologie, in: Neue Hefte für Philosophie 8, 1975, 34–50. – R.  Bittner, Zu Q.s These der ontologischen Relativität, in: Neue Hefte für Philosophie 8, 1975, 51–64. – O. Müller, Echte ontologische Alternativen, in: Grazer Philosophische Studien 67, 2004, 55–99.

Pursuit of Truth (engl.; Unterwegs zur Wahrheit), Cambr. (Mass.) 1990.

Dieses späte Werk Q.s stellt einen Überblick über Themen dar, die bereits zuvor im Zentrum seiner Schriften standen. Q. fasst hier seine Positio­nen zu miteinander in Verbin­dung stehenden Themenfeldern  zusammen und weist dabei auf Korrekturen einzelner Be­haup­ tungen seiner früheren Werke hin. – Die Ausgangsfrage, von der aus Q. seine Position entfaltet, lautet: Wie gelangen wir von den Rei­zungen unserer Sinnesorgane zu erfolgrei­ chen wissenschaftlichen Theorien über die Welt? Eine wichtige Rolle in der Antwort auf diese Frage spielen Beo­b­

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Quine: Pursuit of Truth

achtungssätze, Sätze wie ›Es regnet‹ oder ›Dies ist ein Hase‹, die in manchen Situationen wahr und in anderen falsch sind und über deren Wahrheitswert die Sprecher einer Sprache in Beobachtungssitua­ tionen unmittelbar Einigkeit erzielen können. Sie bilden den Testfall für wissenschaftliche Theorien: Wir leiten aus Theorien Voraussagen ab, die durch Abgleich mit Beobachtungssätzen überprüft werden können. Hier zeigt sich Q.s Holismus: Einzelne Sätze können (bis auf Ausnahmen) nicht an der Erfahrung überprüft wer­ den; nur eine »kritische semanti­sche Masse«, bestehend aus mehreren Sätzen, deren Konjunk­tion eine durch Beobachtung überprüfbare Aussage impli­ ziert, kann im Verbund getestet werden. – Q. untersucht außerdem unsere Festlegungen auf die Existenz bestimmter Gegenstände, die wir mit den von uns akzeptierten Aussagen eingehen. Diese ontologischen Verpflichtungen werden Q. zufolge sichtbar, wenn wir die Sätze unserer Sprache in die Sprache der Prädikatenlogik übersetzen: Wir legen uns auf die Existenz derjenigen Ge­ genstände fest, die in denjenigen Sätzen, die wir für wahr halten, zum Wertebereich der Variablen gehören müssen. – Im Zu-

sammenhang mit dem Thema Bedeutung bemüht Q. sein berühmtes Gedankenexperiment der radikalen Übersetzung: Ein linguistischer Feldforscher wird zu einem Stamm mit einer bisher unerforschten Sprache entsandt, um dort auf der Grundlage von Beobachtungen des Sprechverhaltens ein Übersetzungshandbuch zu erstellen, mithilfe dessen die Sätze der Sprache des Stammes in die Sprache des Forschers übersetzt werden können. Q. gelangt zu der These der Unbestimmtheit der Übersetzung: Es ist möglich, dass zwei Feldforscher zu verschiedenen Übersetzungshandbüchern gelangen, die gleich gut mit dem Sprachverhalten des Stammes übereinstimmen, jedoch nicht miteinander vereinbar sind. Dies führt Q. zu einem Bedeutungsskeptizismus: Es lässt sich nicht definieren, was die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks ist, weil es kein Kriterium dafür gibt, dass zwei Ausdrücke dieselbe Bedeutung haben. Q. lehnt daher die Postulierung von Propositio­ nen als Bedeutungen von Sätzen ab. – Zuschreibungen von propositionalen Einstellungen, beispielsweise von Wünschen oder Überzeugungen, spielen Q. zufolge durchaus eine wichtige Rolle: Wenn beispielsweise Martha Tom beibringen möch-



Quine: Word and Object 501

te, wie der Satz ›Es regnet‹ richtig verwendet wird, muss Martha in der Lage sein, die propositionale Zuschreibung ›Tom nimmt wahr, dass es regnet‹ vorzunehmen. Seinem Bedeutungsskeptizismus entsprechend möchte Q. jedoch die Existenz von Propositionen bestreiten, die häufig als Gehalt solcher Einstellungen postuliert werden. Ihm zufolge sind die Objekte solcher Einstellungen Sätze. Wenn Tom glaubt, dass es regnet, ist der Gehalt seiner Überzeugung der Satz ›Es regnet‹. – Schließlich bekennt sich Q. zu einer disquotationalen Wahrheitstheorie. Q. zufolge müssen wir nicht die Existenz von Tatsachen postulieren, die in einer Korrespondenzbezie­ hung zu bestimmten Sätzen stehen und diese dadurch wahr machen. Die wesentliche Funktion des Wahrheitsprädikats besteht in der Zitattilgungsfunktion, wie sie an folgendem Beispiel deutlich wird: ›Schnee ist weiß‹ ist wahr genau dann, wenn Schnee weiß ist. – Das Buch stellt einerseits einen guten Überblick über Q.s Gesamtwerk dar, eignet sich aufgrund seiner hohen Dichte jedoch nicht als Einstieg. A. Seide Ausgaben: Cambr. (Mass.) 1992 (überarb.). – Dt., Paderborn 1995.

Literatur: H.  G. Callaway, Review of W. V. Q., Pursuit of Truth, in: Dialectica 45 (4), 1991, 317– 322. – B.  Stroud, Review Essay: Pursuit of Truth, in: Philosophy and Phenomenological Research 52 (4), 1992, 981–987. – G. Keil, Q. zur Einführung, Hbg. 2002.

Word and Object (engl.; Wort und Gegenstand), EA Cambr. (Mass.) 1960.

In seinem bedeutendsten Werk untersucht Q., wie die Verbindung unserer Sprache mit der Welt zustande kommt. Damit greift er eines der Grundprobleme der Philosophie des logischen Empirismus auf und thematisiert alle diejenigen Schwierigkeiten, denen eine konsequent empiristische Position ausgesetzt ist. Aus einer Radikalisierung des Empirismus entwickelt Q. die Reflexion auf dessen Grenzen. – Ausgehend von der Situation, in der wir eine Sprache erlernen, weist Q. daraufhin, dass die Sprache v. a. eine soziale Kunstfertigkeit ist. Wollen wir etwas über eine Sprache herausfinden, bleibt uns daher nichts anderes übrig, als das Verhalten ihrer Sprecher zu beobachten. Die von Carnap zur Explikation von Bedeutungen vorgeschlagene Unterscheidung zwischen »Extensionen« und »Intensionen«

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Quine: Word and Object

von Termen, Prädikaten und Sätzen ersetzt Q. durch den Begriff der »Reizbedeutung«. Auf der Grundlage eines behavioristischen Selbstverständnisses wird unser Sprachverhalten als Reaktion auf Reizungen un­ seres Wahrnehmungsapparates verstanden. Q. illustriert seine Überlegungen mithilfe des Beispiels eines Feldlinguisten, der ein Lexikon für eine ihm vollständig unbekannte Eingeborenensprache erstellen möchte, und formuliert in diesem Zusammenhang seine berühmte These von der Unbestimmtheit der Übersetzung. Die Beobachtung des Sprachverhaltens, das einzige empirische Instrument, welches dem Linguisten zur Verfügung steht, erlaubt keine eindeutige Bestimmung der Bedeutung der Begriffe der Eingeborenensprache. Ob sich z. B. ein Begriff wie gavagai, der immer dann verwendet wird, wenn ein Kaninchen die Sinnesorgane des Eingeborenen reizt, auf Kaninchen, auf Teile von Kaninchen oder Zeitstadien von Kaninchen bezieht, kann allein auf der Grundlage empirischer Evidenzen nicht ausgemacht werden. Q.s strikte empirische Orientierung zieht die These von der Unbestimmtheit der Übersetzung nach sich; diese führt ihn zu der allgemeineren Behauptung, dass Be-

deutung generell unbestimmt sei; so gelangt er schließlich zu der Auffassung, dass alle unsere Theorien durch die Erfahrung unterbestimmt sind. Prinzipiell bleibt es für Q. immer möglich, dass wir zwei verschiedene Wörterbücher für eine Sprache erstellen können, die zwar miteinander unverträglich sind, aber dennoch beide einen angemessenen Rahmen zur Erklärung des Sprachverhaltens abgeben. So können auch zwei Theorien untereinander unverträglich sein und dennoch beide mit den Erfahrungsdaten übereinstimmen. Er diskutiert eine ganze Reihe von Verfahren, die uns helfen, die genannte Unbestimmtheit praktisch zu umgehen. Als Übersetzer entwickeln wir etwa analytische Hypothesen. Auch die Logik erlaubt uns mit ihrer kanonischen Notation Reglementierungen, die eine zuverlässige Basis für die Beurteilung unseres Wissens abzugeben vermögen. – Obwohl Q. selbst an einem naturalistischen Verständnis seiner Überlegungen festhält, lassen sich viele seiner Argumente als Plädoyer für einen hermeneutischen Ansatz zur Bedeutungsbeschreibung verstehen. C. Demmerling Ausgaben: Cambr. (Mass.) 1996. – Dt., Ü.: J. Schulte, Stgt. 2002.



Rawls: The Law of Peoples 503

Literatur: R. Kirk, Translation Determined, Oxfd. 1986. – J. R. Searle, Indeterminacy, Empiricism and The First Person, in: The Journal of Philosophy 84, 1987, 123–146. – A.  Koch, Das Verstehen des Fremden. Eine Simulations­ theorie im Anschluss an W. V. O. Q., Drmst.  2003. – G. Kemp, W. V. Q.: Word and Object, in: J.  Shand (Hg.), The Twentieth Century. Q. and After, Montreal 2006, 15–39.

John Rawls *  21. 2. 1921 in Baltimore, †  24. 11. 2002 in Lexington (Mass.); Vertreter des Liberalismus, entscheidende Impulse für das Wiederaufleben der politischen Philosophie im 20. Jh.

The Law of Peoples with »The Idea of Public Reason Revisited«

(engl.; Das Recht der Völker. Enthält: »Nochmals: Die Idee der öffentlichen Vernunft«), EA Cambr. (Mass.)/Ldn. 1999.

In seiner vorletzten zu Lebzeiten veröffentlichten Monographie, die auf eine 1993 gehaltene Oxford Amnesty Lecture zurückgeht, projiziert R. den Kerngedanken der →  Theorie der Gerechtigkeit, dass sich die »Grundstruktur« einer Gesellschaft dann als legitim begreifen lasse, wenn sie als Resultat einer Übereinkunft hypothetischer Individuen rekonstruiert

werden kann, die in Unkenntnis ihrer eigenen Position in der Gesellschaft entscheiden, auf die Ebene der internationalen Beziehungen zwischen »Völkern«, die R. zwar staatenähnlich modelliert, im Unterschied zu Staaten aber als nicht nur zweckrationale, sondern potenziell vernünftige Akteure versteht. R. nimmt dazu einen »zweiten Urzustand« an, in dem die Völker durch Repräsentanten vertreten sind, die sich auf acht grundlegende Prinzipien des Völkerrechts verständigen: auf das Gebot der wechselseitigen Achtung der Freiheit und Unabhängigkeit der Völker (1) und das der Vertragstreue (2), die Beschränkung der Bindungswirkung von Verträgen auf die daran beteiligten Parteien (3), das Gebot der Nichtintervention (4), die Beschränkung des ius ad bellum auf den Verteidigungsfall (5), das Gebot der Achtung der Menschenrechte (6) und der Beachtung des ius in bello (7) sowie die Pflicht zur Unterstützung von Völkern, die durch ungünstige Bedingungen an der Ausbildung einer funktionalen politischen Ordnung gehindert sind (8). An der Festlegung dieser Prinzipien lässt R. zwar nur die Repräsentanten »vernünftiger liberaler Völker« (reasonable liberal peoples) mitwirken, von

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Rawls: The Law of Peoples

den durch sie etablierten Prinzipien nimmt er jedoch an, dass sie auch von »achtbaren hierarchischen Völkern« (decent hierarchical peoples) akzeptiert werden. »Schurkenstaaten« (outlaw states) gegenüber, die Krieg beliebig als Mittel zur Durchsetzung eigener Interessen nutzen, seien liberale wie achtbare Völker demgegenüber zur Selbstverteidigung berechtigt, wobei das völkerrechtliche ius in bello beachtet werden müsse. »Belasteten Gesellschaften« (burdened societies), von denen zwar keine Aggression gegen Drittvölker ausgeht, denen aber aufgrund ungünstiger Umstände geeignete Traditionen und Ressourcen, das nötige Humankapital oder gesellschaftliches KnowHow fehlen, um wenigstens eine achtbare Ordnung zu entwickeln, müssten »wohlgeordnete Völker« (well-ordered peo­ples), wie es sowohl die liberalen als auch die achtbaren hierarchischen Völker sind, hingegen Unterstützung gewähren. Ihre Unterstützungspflicht bezieht sich aber nur auf das Ziel der Errichtung gerechter oder zumindest achtbarer gesellschaftlicher Institutionen; sie schließt keine Pflicht zur Unterstützung bei der Erreichung eines bestimmten Wohlfahrtsniveaus und keine Umverteilungspflicht ein. – R.’

Law of Peoples stellt keine Theo­ rie globaler Gerechtigkeit dar, sondern den Versuch, Leitli­ nien einer legitimen Außenpolitik liberaler Demokratien zu begründen und Kernelemente des heutigen Völkerrechts ungeachtet des Umstands, dass sie sich großenteils europäischem Rechtsdenken verdanken, als gerecht zu erweisen. Auch wenn die Behandlung wichtiger Materien wie der Migration oder humanitärer Interventionen in der Forschung als unzulänglich charakterisiert worden ist, hat das schmale Buch in der Ethik der internationalen Beziehungen die Diskussion darüber intensiviert und befruchtet, welche Ansprüche liberale Demokratien nichtliberalen Staaten gegenüber legitimerweise erheben dürfen und welche normativen Prinzipien aus welchen Gründen die Außenpolitik liberaler Staaten leiten sollten. R. Schmücker Ausgaben: Cambr. (Mass.) 2001. – Dt., Bln./NY 2001. Literatur: R. Martin/D. A. Reidy (Hg.), R.’s Law of Peoples. A realis­ tic utopia?, Malden (Mass.)/Oxfd. 2006. – A. Bock, R.’ »Recht der Völker«. Menschenrechtsminimalismus statt globaler Gerechtigkeit?, Mchn. 2008. – C.  Wellman, Reinterpret­ ing R.’s The Law of Peo­ples, in: Social Philosophy and Policy 29, 2012, 213–232.



Rawls: Political Liberalism 505

Political Liberalism (engl.; Politischer Liberalismus), EA NY 1993.

Das Werk, das weitgehend auf Vorlesungen zurückgeht, die bereits 1980 gehalten und anschließend mehrfach über­ arbeitet wurden, zeigt die Möglichkeit einer politischen Gerechtigkeitskonzeption in einer weltanschaulich pluralisti­schen Gesellschaft auf. Zahlrei­ che Thesen aus R.’ →  A Theory ­of Justice werden aufgegriffen, übernehmen aber eine stark veränderte Funktion. – Unter freien Institutionen entste­ hen in einer Gesellschaft verschie­ dene, sich einander aus­ schließende vernünftige Lehren ­ religiöser, philosophischer und moralischer Art (»Faktum des vernünftigen Pluralismus«). Sol­che Lehren sind in dem Sinne »umfassend« (comprehensive doc­trines), dass sie alle Lebensbereiche durchdringen und Aussagen darüber treffen, was im Leben von Wert ist. Auch R.’ Theory of Justice beinhaltet eine umfassende Lehre, sofern sie politische Gerechtigkeit aus einer Lehre des Rechten überhaupt ableitet. Aufgrund des Faktums des Pluralismus sind umfassende Lehren nicht als politische Konzeption geeignet. Eine politische Gerechtigkeitskonzeption muss deshalb

als »freistehende« (freestanding) Konzeption dargestellt werden, die auf den Bereich des Politischen begrenzt und mit al­ len vernünftigen umfassenden Lehren verträglich ist. Sie kann zwar mithilfe von umfassenden Konzeptionen begründet werden; ihre Darstellung als politische Konzeption macht davon jedoch keinen Gebrauch. Stattdessen wird sie anhand grundlegender Ideen dargestellt, die – vermittelt durch die öffentliche politische Kultur – allgemein geteilt werden. – R. konzipiert Bürger als freie und gleiche, die sowohl vernünftig sind, insofern sie bereit sind, Regeln zur fairen Kooperation vorzuschlagen und sich selbst an solche Regeln zu halten, als auch rational, insofern sie Eigeninteressen entwickeln und die geeigneten Mittel zur Befriedigung der Eigeninteressen wählen können. Bürger sind sich der »Bürden des Urteilens« (burdens of judgment) bewusst, d. h. sie sind sich bewusst, dass sie selbst und andere sich in ihren Überzeugungen selbst dann täuschen können, wenn sie sich ihrer Wahrheit ganz sicher zu sein meinen. Als Konsequenz der Bürden des Urteilens erweist sich das Faktum des Pluralismus als unüberwindbar. – Die politische Gerechtigkeitskonzeption muss sich an

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Rawls: A Theory of Justice

der »Idee eines übergreifenden Konsenses« (overlapping consensus) orientieren, d. h. sie muss so konstruiert werden, dass jede vernünftige umfassende Lehre ihr von ihrem eigenen Standpunkt aus zustimmen kann. Der übergreifende Konsens unterscheidet sich von einem bloßen modus vivendi, in dem sich divergierende Lehren notgedrungen und interessegeleitet dulden, darin, dass er von allen Lehren als moralisch geboten angesehen wird und deshalb auch dann Stabilität verspricht, wenn sich Interessens- und Machtkonstellatio­ nen verschieben. – Weil die Ausübung politischer Macht gemäß dem Reziprozitätskriterium nur dann angemessen sein kann, wenn zu erwarten ist, dass die Gründe, welche ihre Ausübung leiten, von allen Bürgern vernünftigerweise als Begründung anerkannt werden können, stehen demokratische Entscheidungsprozesse unter der Idee des »öffentlichen Vernunftgebrauchs«. Zumindest in grundlegenden Gerechtigkeitsfragen sollen demnach ausschließlich solche Gründe leitend sein, die unabhängig von umfassenden Lehren formuliert werden, also nur unter Rückgriff auf Begriffe, die zur öffentlichen politischen Kultur gehören und insofern Teil einer

politischen Gerechtigkeitskonzeption sind. Wesentliche Elemente aus A Theory of Justice wie die Idee des Urzustands, der Schleier des Nichtwissens und die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze werden von R. nur noch als Glied einer Familie von verschiedenen möglichen politischen Konzeptionen aufgefasst. – R.’ Political Liberal­ ism scheint A Theory of Justice an Bedeutung mindestens eingeholt zu haben und ist zum zentralen Bezugspunkt der Debatte um den Liberalismus geworden. Konstruktive Auseinandersetzungen im deutschsprachigen Raum gibt es u. a. in der Toleranzdebatte (R. Forst) und in der Diskussion um Religion und Demokratie (J. Habermas). M. Hoesch Ausgaben: NY 2005 (erw. um das Kap. »A reply to Habermas«). – Dt., Ffm. 2003. Literatur: W. Kersting: Gerechtigkeit und öffentliche Vernunft. Über J.  R.’ politischen Liberalismus, Pa­ derborn 2006. – S. Freeman (Hg.): The Cambridge Companion to R., Cambr. 72008.

A Theory of Justice (engl.; Eine Theorie der Gerechtigkeit), EA Cambr. (Mass.) 1971.

Aus der Einsicht heraus, dass die Antworten einer (personalen) Ethik immer weniger



Rawls: A Theory of Justice 507

den Problemen moderner Gesellschaften gerecht werden, behandelt R. in dieser Schrift hauptsächlich die Institu­ tio­ nen, näherhin die Grundordnung einer Gesellschaft und nur subsidiär die Gerechtigkeit von Personen und Gruppen. R. hält dabei Gerechtigkeit für die schlechthin erste Tugend sozialer Institutionen. Nach sei­nem intuitiven Grund­ge­danken  – Gerechtigkeit als Fairness – stellt er sich die Gesellschaft als ein Kooperationssystem vor, dessen Gewinne, aber auch Lasten so zu verteilen sind, dass jeder Einzelne, nicht aber wie im Utilitarismus die Gesellschaft als Ganzes, daraus per saldo einen möglichst großen Vorteil ziehen kann. Zur Verteilung kommen gesellschaftliche Grundgüter (social primary goods). Darunter werden Güter verstanden, die einerseits (im Unterschied zu natürlichen Grundgütern wie etwa Vitalität und Intelligenz) überhaupt gesellschaftsabhängig sind und die andererseits (im Unterschied zu sekundären Gütern) von jedermann angestrebt werden. Denn sie gelten als Vorbedingung, ohne die die Menschen ihre durchaus unterschiedlichen Lebenspläne (plans of life) nicht verwirklichen können. R. zufolge gibt es drei Gruppen gesellschaftlicher

Grundgüter: Rechte und Freiheiten, Chancen und Macht, Einkommen und Wohlstand. Dementsprechend stellt er folgende Gerechtigkeitsgrundsätze auf: 1.  Jedermann hat gleiches Recht auf das umfangreichste Gesamtsystem  gleicher Grundfreiheiten, das für alle möglich ist. 2.  Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten müssen a)  unter der Einschränkung des gerechten Spargrundsatzes den am wenigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil bringen und b)  mit Ä ­ mtern und Positionen verbunden sein, die allen gemäß fairer Chancengleichheit offen stehen. Der erste Grundsatz definiert zusammen mit dem zweiten Teil des zweiten Grundsatzes einen liberalen Rechts- und Verfassungsstaat, der im ersten Teil des zweiten Grundsatzes, dem Unterschiedsprinzip (difference principle), ein kräftiges so­ zialstaatliches Korrektiv erhält. Dabei besitzt der erste Grundsatz vor dem zweiten und dessen zweites Teilprinzip (2b) vor dem ersten (2a) absoluten Vorrang: Rechte und Freiheiten dürfen nach R. allenfalls wegen konkurrierender Rechte und Freiheiten, nicht aber um kollektiver ökonomischer Vorteile willen eingeschränkt werden. – Zur methodischen Sicherung

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Rawls: A Theory of Justice

zieht R. drei Elemente heran: Das 1., die ratio­nale Klugheitswahl (rational prudential choice) besagt, dass jeder, letztlich vom aufgeklärten Selbstinteresse be­ stimmt, einen möglichst  großen Anteil an den sozialen Grundgütern sucht. Als 2. greift R. die Tradition des Gesellschaftsvertrags auf, folgt dabei jedoch eher Rousseau und Kant als Hobbes. Mithilfe eines Kunstgriffs, dem Schleier der Unwissenheit (veil of ignorance), legt R. dar, dass man die Prinzipien einer gerechten Gesellschaft im vollen Besitz sozialwissenschaftlichen Wissens, aber ohne jede Kenntnis der eigenen Interessen und Fähigkeiten, also in ­einem fiktiven Urzustand wählen soll. Auf diese Weise entscheidet man sich notgedrungen unparteiisch. Schon in diesem Urzustand herrscht eine elementare Gerechtigkeit, so dass die beschlossenen Prinzipien, d. h. Gerechtigkeitsgrundsätze, nicht wirklich dem Selbstinteresse entspringen,  sondern  einem allgemeinen Selbstinteresse, dem das Wissen um den eigenen Platz in der Gesellschaft und die eigenen Fähigkeiten fehlt. In dem zirkulären  Charakter des Gedankens (nur wer ein Gerechtigkeitsinteresse schon mitbringt, wählt tatsächlich die Gerechtigkeitsgrund-

sätze) liegt jedoch nach R.’ 3. und entscheidendem  methodischen Element, dem Überlegungsgleichgewicht (reflective equilibrium), kein Defizit. Denn R. will lediglich un­sere wohl­überlegten Gerechtigkeits­ urteile in einen widerspruchsfreien Zusammenhang bringen und diesen aus allgemein begründbaren Prinzipien, den genannten Gerechtigkeitsgrund­ sätzen, gewinnen. – Das Werk geht außerdem auf eine Fül­le von institutionellen und po­ litischen Problemen ein: auf ei­ nen »Vier-Stufen-Gang« in der Anwendung der beiden Gerechtigkeitsgrundsätze, auf die Frage von »Toleranz gegenüber der Intoleranz«, auf die Gerechtigkeit zwischen den Generationen, auf die Rechtfertigung des bürgerlichen Ungehorsams, auf den Begriff des Guten und seine Verträglichkeit mit dem Gerechten usw. In → Political Lib­ eralism nimmt R., ausgehend von einer Kritik am eigenen Gedanken einer wohlgeordneten Gesellschaft, einige Korrekturen an seinem Hauptwerk vor. – R.’ weitreichende Wirkung beruht darauf, dass seine Theorie zwar weder in inhaltlicher noch methodischer Hinsicht etwas grundsätzlich Neues sucht, dafür aber weitgehend jene Gerechtigkeitsgrundsätze argumentativ ausweist, die un­



Ricœur: Soi-même comme un autre 509

seren liberalen Rechts- und Sozialstaat de facto bestimmen. O. Höffe Ausgaben: Cambr. (Mass.) 2005. – Dt., Ffm. 2008. Literatur: N. Daniels (Hg.), Read­ing R. Critical Studies on R.’ »A Theory of Justice«, Oxfd. 1975. – O. Höffe (Hg.), J. R., Eine Theorie der Gerechtigkeit, Bln. 22006 (Klassiker Auslegen). – J.  Mandle, R.’ A Theory of Justice. An Introduction, Cambr. 2009.

Paul Ricœur * 27. 2. 1913 Valence (Frankreich), † 20. 5. 2005 in Chatenay-Malabry (Frankreich); bedeutender Phänomenologe und Hermeneutiker.

Soi-même comme un autre (frz.; Das Selbst als ein Anderer), EA Paris 1990.

R. entwickelt eine Hermeneutik des Selbst, die zwischen ›Selbigkeit‹ (idem), ›Selbstheit‹ (ipse) und ›Andersheit‹ vermittelt und ihn von ›Philosophien des Cogito‹ in der Nachfolge Descartes’ abgrenzt, in denen die Möglichkeit einer ›Ich‹Setzung im Zentrum steht. Vier Fragen nach dem ›Wer‹ dienen ihm als Gliederung seiner Untersuchung: 1)  Wer spricht? 2) Wer handelt? 3) Wer erzählt sich? 4) Wer ist moralisch verantwortlich? – Die erste Frage behandelt R. in Auseinander-

setzung mit der analytischen Sprachphilosophie. Ausgangspunkt ist die semantische Frage nach identifizierender Referenz als Einzelding. Hier gilt es, eine bestimmte Person zu identifizieren und als dieselbe wiederzuerkennen. Neben der Selbigkeit der Person ist auch die Frage der Selbstheit angesprochen, da Personen nicht nur physische Dinge sind, sondern ihnen, im Anschluss an P. F. Strawson, auch mentale Prädikate zukommen. Der Um­ stand, dass ein Sprecher in einem Sprechakt reflexiv auf sich selbst Bezug nehmen kann, führt R. zur Pragmatik. Selbstbezüglichkeit ist für R. damit eine Mischung aus prag­matischer Reflexivität und se­mantischer, identifizierender Referenz. – Ausgehend vom Handlungscharakter des Sprechakts geht R. zur zweiten Frage über und behandelt sie im Rahmen der analytischen Handlungstheorie. Diese kritisiert er, da durch die unpersönliche Analyse der Handlung als Ereignis und des Motivs als Ursache die Frage nach dem Wer, dem Handelnden, verdeckt wird. Rückt man hingegen phänomenologisch den Begriff der Absicht ins Zentrum, so auch den Handelnden. Damit taucht die Frage nach der Zuschreibung einer Hand-

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Ricœur: Soi-même comme un autre

lung an einen Handelnden auf. Aristoteles folgend führt sie zur Auffassung des Handelnden als dem ›Ursprung‹ der Handlung, was R. als dessen Gewissheit eines »Tun-Könnens« erläutert. – Die bislang vernachlässigte zeitliche Dimension von Handelndem und Handlungen führt R. zur dritten Frage. Hier, am Schnittpunkt zwischen Analyse und Hermeneutik, formuliert R. aus der Dialektik von Selbigkeit und Selbstheit mit Blick auf personale Identität eine Theorie narrativer Identität, die im Erzählen und der Identifikation des Handelnden mit der Figur der Erzählung sowohl zwischen Selbigkeit und Selbstheit in ihrer zeitlichen Dimension vermitteln als auch den Übergang vom Beschreiben zum Vorschreiben leisten soll. Dies zeigt sich für R. etwa in der narrativen Erläuterung des Charakters und des Versprechens. – Indem Erzählungen neben Beschreibungen stets auch präskriptive Elemente enthalten, gelangt R. zur vierten Frage, die er im Rahmen einer Dialektik des Selbst und des Anderen entfaltet und die in eine umfangreiche »kleine Ethik« mündet. Die ethische Ausrichtung des Selbst ist eine auf das gute Leben (Dimension der Selbstschätzung) mit Anderen und

für sie (moralische Dimen­sion) in gerechten Institutionen (politische Dimension), wobei R. ausführlich möglichen Konflikten innerhalb wie zwischen den Dimensionen nachgeht. Die von R. zur Lösung der Konflikte anvisierte praktische Weisheit des Selbst soll dabei eine Versöhnung zwischen aristotelischer ethischer Urteilskraft, kantischer Moralität und Hegel’scher Sittlichkeit ermöglichen. – Abschließend sondiert R. ausführlich die ontologischen Implikationen seiner Hermeneutik des Selbst: die Bezeugung, als ein Selbes im Sinne der Selbstheit zu existieren, und die Dialektik zwischen Selbstheit und Andersheit, die sich in dreifacher Passivität zeigt: im Eigenleib, in der Andersheit der Anderen und im Gewissen. – Mit seiner methodisch wie inhaltlich äußert umfangreichen Untersuchung hat R. nicht nur zu einer besseren Verständigung zwischen konkurrierenden methodischen Herangehensweisen beigetragen, sondern v. a. mit seiner Theorie narrativer Identität auch die Diskussion um personale Identität stark beeinflusst. M. Kühler Ausgaben: Engl., Oneself as An­ other, Chicago 1992. – Dt., Mchn. 1996.



Rorty: Contingency, Irony, and Solidarity 511

Literatur: B. Liebsch, Hermeneutik des Selbst – im Zeichen des Anderen. Zur Philosophie P.  R.s, Fbg. 1999. – M.  Quante, Person, Bln. 2007.

Richard Rorty *  4. 10. 1931 in New York, †  8. 7. 2007 in Palo Alto (Calif.); bedeutender Vertreter des (Neo-) Pragmatismus.

Contingency, Irony, and Solidarity (engl.; Kontingenz, Ironie und Solidarität), EA Cambr. 1989.

R. entfaltet hier eine philosophische Theorie der Politik und der Ethik, die zum einen den Übergang der Philosophie in demokratische Politik, zum anderen den Übergang der Ethik in Literatur zum Gegenstand ihrer Erörterungen hat. – R. leitet sein Werk mit der These ein, dass in der Moderne die Wahrheit gemacht und nicht gefunden wird. Die Vorstellung gemeinschaftlicher Werte beruht auf einer »kontingenten Konsensbasis«. Auf dem erreichten zivilisatorischen  Niveau demokratischer Gesellschaften lassen sich nach R. gemeinschaftliche Orientierungen nur als instabile Konsensus ins Spiel bringen, die durch andere, evidenter erscheinende »Erzählungen« ablösbar sind.

Normen erlangen ihre Geltung nicht durch Begründungen, sondern – hierin bleibt R. seiner pragmatistischen Herkunft verpflichtet – durch faktische Überzeugung. Überzeugungen aber wechseln. Diese Kontingenz zu verstehen bedeutet, den Konsensus a)  als Ergebnis gesellschaftlicher Auseinandersetzungen, und b) als nur vorübergehend stabil zu begreifen. Der gesellschaft­li­che Diskurs entscheidet nach R. die »Wahrheit« der gesellschaftlichen und politischen Theoreme; allerdings nicht wie bei Habermas als idealer Diskurs, sondern eher wie bei Max Weber nach seinen Zweckmäßigkeiten. In solch einer Synthese des scheinbar Unver­einbaren bleibt allein die Position der »liberalen Ironikerin«: eine Hal­ tung zwar einzunehmen, aber um ihre Kontingenz zu wissen. R. entzaubert dadurch die Idealität von Normen. Er un­terscheidet scharf zwischen ei­ ner liberal radikalisierten Privatheit und einer öffentlichen Zurückhaltung, die als »So­ li­ darität«, allerdings auch kontingenter Art, ethische Quali­tät ge­winnt. Ethisch bleibt nur ein  Fundament: Grausamkeiten und Schmerzen zu vermeiden, weil im Schmerz die Spra­che und die Überzeugungen ver­ loren gehen und damit die einzi-

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Rorty: Philosophy and the Mirror of Nature

ge Möglichkeit,  sich vor sich selbst rechtfertigen zu können. Die Verletzbarkeit durch Demütigung ist R. zufolge allen gemeinsam und somit das einzige soziale Band, dessen Zerreißen allen als Gefahr einsichtig sein kann. Dies lehrt nach R. die Literatur eher als die Philosophie, v. a. die Gattung der Romane (R. exemplifiziert dies an M.  Proust, G.  Orwell, V.  Nabokov). Die Leistungsfähigkeit der Philosophie in der Ethik ist nach R.  durch die der Literatur längst überholt worden: Sie ist ge­eigneter, ein neues Vokabularium zu schaffen, in dem die modernen Menschen sich in ihren Verletzungen verstehen lernen. – R.s Werk – im Grunde ein großer Kommentar zu Rawls, Putnam, Walzer u. a. – wurde als skeptische Einlassung in die kommunitaristische Debatte aufgenommen; seine philosophische Gültigkeit reicht aber weit darüber hinaus. B. Priddat Ausgaben: Cambr.  1989. – Dt., Ffm. 1991. Literatur: C. J. Voparil, R.  R.: Politics and Vision, Lanham 2006. – M. Bacon, R. R.: Pragmatism and Political Liberalism, Lanham 2008. – M.  Buschmeier/E.  Hammer (Hg.), Pragmatismus und Hermeneutik: Beiträge zu R. R.s Kulturpolitik, Hbg. 2011.

Philosophy and the Mirror of Nature (engl.; Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie), EA Princeton 1979.

R. kritisiert in diesem Werk die neuzeitliche Erkenntnistheorie seit Descartes, die als »erste Philosophie« die Grenzen der übrigen Disziplinen absteckt. – Der »Spiegel der Natur« ist für R. das traditionelle Bild vom Bewusstsein als einem großen Spiegel, der genaue Erkenntnis einer außerhalb seiner liegenden Realität ermöglicht. R. be­ginnt seine radikale Kritik der Erkenntnistheorie mit der Kri­tik des cartesianischen Dua­ lis­ mus von Körper und Geist, dessen Dominanz er bis in die philosophische Moderne der »Philosophie des Mentalen« ver­folgt. R. hält die Philosophie eher für ein psychisches Bedürfnis nach Selbstvergewisserung angesichts der Kontingenz der Welt. Er hält diese philosophische Mentalität für ein speziell okzidental-historisches Ereignis, dem keine Notwendigkeit zukommt. Seine Kritik der Erkenntnistheorie – über Des­ cartes und Kant bis in die analytische Philosophie des 20. Jh.s – führt R. »von der Erkenntnistheorie zur Hermeneutik«, um schließlich eine »Philosophie ohne Spiegel« vorzuschlagen, in



Rousseau: Du contrat social 513

der es kein Erkennen gibt, sondern ein langes «Gespräch der Menschheit«. Weder der  Anspruch der modernen Philosophie, die Grundlagen v. a. des wissenschaftlichen Denkens zu formulieren, noch ihre Normen  objektiver Erkenntnisgewinnung lassen sich nach R. aufrechterhalten. Denn zwischen notwendigen und kontingenten Wahrheiten gibt es für ihn keinen prinzipiellen Unterschied, sondern höchstens einen Unterschied des Grades der Leichtigkeit, mit der man Einwände vorbringen kann. Da es keine durch die Struktur der äußeren Entitäten aufgenötigte Disziplinierung des philosophischen Gesprächs geben kann, kann der philosophische Diskurs keine Hoffnung auf die Entdeckung einer immer schon bestehenden Grundlage wecken, sondern lediglich eine »bloße Hoffnung auf Übereinstimmung«. Das Erkenntnisproblem erledigt sich für R. in der Kontingenz der Umstände, in denen Gesprächspartner zusammenfinden. Anstatt zwischen Natur und Geist eine Scheidelinie zu ziehen, lohnt es sich nach R. eher, zwischen passenden und unpassenden Diskursen zu unterscheiden. Anstelle von Erkenntnistheorie als Studium des Vertrauten schlägt R. vor, Hermeneutik als

Studium des Unvertrauten, Inkommensurablen zu betreiben. – R.s Werk hat in der amerikanischen Philosophie zu großen Debatten über den Status der Epistemologie geführt; durch das Werk wurde R. zu einem der bekanntesten modernen amerikanischen Philosophen. B. Priddat Ausgaben: Princeton 2008. – Dt., Ffm. 21987. Literatur: T. Schäfer u. a. (Hg.), Hinter den Spiegeln: Beiträge zur Philosophie R. R.s mit Erwiderungen von R. R., Ffm. 2001. – N. Gross, R. R.: The Making of an American Philosopher, Chicago 2008.

Jean-Jacques Rousseau * 28. 6. 1712 in Genf, † 2. 7. 1778 in Ermenonville bei Paris; bedeutender Philosoph der europäischen Aufklärung.

Du contrat social, ou Principes du droit politique

(frz.; Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts), EA Amsterdam 1762.

R.s sozialphilosophisches Haupt­werk bildet den Höhepunkt seiner philosophischen Pro­duktion. R. entwirft in dieser in vier Bücher unterteilten Schrift ein Gegenmodell zu jenen entfremdeten bürgerlichen Gesellschaften, die er als Kulturkritiker zeitlebens gegei-

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Rousseau: Du contrat social

ßelt hat. Das 1. Buch analysiert in Auseinandersetzung mit den vertragstheoretischen Entwürfen von Locke und Hobbes die Frage nach der Legitimität staatlicher Macht: »Wie findet man eine Gesellschaftsform, die mit der ganzen Kraft aller die Person und den Besitz jedes Gesellschaftsgliedes verteidigt und schützt und kraft derer jeder Einzelne, obwohl er sich mit allen vereint, gleichwohl nur sich selbst gehorcht und so frei bleibt wie vorher?« Damit ist die Legitimitätsfrage bereits vom Ansatz her an die Forderung nach Autonomie geknüpft. Die Lösung des Problems findet R. in einem Vertrag, mit dem sich die Mitglieder einer Gesellschaft gleichberechtigt und freiwillig zusammenschließen und ihre ursprüngliche natürliche Freiheit zugunsten einer bürgerlichen aufgeben. Mit dem Gesellschaftsvertrag wird also nicht wie bei Hobbes Freiheit gegen Sicherheit getauscht, sondern lediglich der partikulare Wille einem Gemeinwillen (volonté générale) untergeordnet. Im Unterschied zu den Theorien seiner Vorgänger behält das Volk bei R. seine nicht entäußerbare und unteilbare Souveränität. Nur der Souverän kann Gesetze erlassen und damit der volonté générale Ausdruck verleihen. Die Regie-

rung ist demgegenüber lediglich ein Exekutivorgan, das die Anwendung und Einhaltung der Gesetze zu garantieren hat. Der Gemeinwille aber muss sorgfältig vom Willen aller (volonté de tous) unterschieden werden. Die Summe aller Individualinteressen macht noch kein Gemein­interesse aus. Die volonté gé­nérale hingegen ist auf Wohl und Bewahrung des Ganzen ausgerichtet und kann durchaus in Widerspruch zu den Par­ tikularinteressen treten. Der Gesellschaftsvertrag verleiht des­halb dem Staat in Befolgung der volonté générale eine absolute Verfügungsgewalt über das Leben seiner Bürger. V. a. dieser letzte Punkt hat in der Folge zu heftigen Kontroversen um die Frage geführt, inwieweit R.s Begriff der Volkssouveränität totalitäre Züge trägt. Da die Menschen nicht immer erkennen, was ihrem Wohl dient, stellt die Konstitution der Republik ein besonders schwieriges Problem dar. Die Stiftung der gesellschaftlichen Institutionen wird daher einem Gesetzgeber anvertraut, der die gesellschaftliche Vernunft in sich konzentriert und dadurch übermenschliche Züge trägt. – Hatte das 2.  Buch über die volonté générale das Volk als Souverän erwiesen, so geht es im 3.  Buch darum, die einem



Rousseau: Émile ou de l’éducation 515

jeden Gemeinwesen angemessene Form der Regierung zu ermitteln. Als Grundregel gilt, dass der Umfang des Regierungsapparats umgekehrt proportional zur Größe des Staates sein muss: Je größer ein Staat ist, desto kleiner und effizienter muss seine Regierung sein. Da eine große Ausdehnung des Staates die direkt und niemals per Repräsentation auszuübende Volkssouveränität erschwert, plädiert R. für ein föderatives Kleinstaatenbündnis. Das letzte Buch handelt vom Ausdruck der Volkssouveränität durch Wahlen und liefert eine Art Strukturanalyse der Römischen Republik. Den Abschluss des Werks bildet ein Kapitel über die Zivilreligion, in dem R. eine Form der funktionalistischen Staatsreligion propagiert, deren Ziel die Sicherung der sozialen Einheit ist. R.s Werk hat wie kaum ein zweites auf die Ideen der Französischen Revolution eingewirkt und darüber hinaus die Staats- und Rechtsphilosophie des gesamten 19. Jh.s von Kant bis Marx entscheidend beeinflusst. A. Gipper Ausgaben: Œuvres complètes, Bd. 3, Paris 1964, 347–470. – Engl., The Social Contract and Other Later Political Writings, Hg.: V. Gourevitch, Cambr. 1997. – Dt., Hg. und Ü.: H. Brockard, Stgt. 2011.

Literatur: R.  Derathé, R. et la science politique de son temps, Paris 21970 (ND 1995). – C. Wraight, R. The Social Contract: A Readers’ Guide, Ldn. 2008. – K.  Herb/R.  Brandt (Hg.), R. Vom Gesellschaftsvertrag, Bln. 22012.

Émile ou de l’éducation (frz.; Emil oder über die Erziehung), EA Den Haag 1762.

R.s Schrift über die Menschwerdung durch Erziehung ist eine Mischung aus Traktat und Roman. Sie steht in engem entstehungsgeschichtlichen Zusammenhang mit dem → Contrat social, welcher die Reflexion über das freie Individuum in der Gesellschaft durch die Analyse einer Gesellschaft freier Individuen ergänzt. – Aus der These, dass der Mensch von Natur aus gut und nur von der Gesellschaft verdorben sei, werden hier die erziehungstheoretischen Konsequenzen gezogen. R. gelangt so zur Konzeption einer »negativen Erziehung«, deren Grundsatz darin besteht, den Zögling weitestgehend von allen schädlichen Einflüssen abzuschirmen, stattdessen seine natürlichen Instinkte und spontanen Regungen zu fördern und die Natur selbst an die Stelle der verderblichen traditionellen  Erziehungsmethoden zu setzen. Ziel ist es,

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Rousseau: Émile ou de l’éducation

den Zögling zum Menschen zu erziehen und seine Unabhängigkeit und Handlungsfähigkeit in den verschiedensten Lebenslagen zu stärken. – Dieses Erziehungsprogramm wird anhand einer Art pädagogischer Utopie durchgespielt. Zu diesem Zwecke entwirft R. in Gestalt des Emile einen imaginären Zögling aus reicher, adliger Familie, der mit durchschnittlicher Begabung ausgestattet ist und als Waise bis ins Erwachsenenalter von 25  Jahren von einem hingebungsvollen Erzieher betreut wird. Emile wächst in natürlicher Umgebung auf dem Land auf. Leitgedanke ist dabei (im Anschluss an Locke, den R. als wichtigsten Lehrmeister ansieht) eine Erziehung des Kör­ pers und der Sinne, welche weit­gehend auf explizite Belehrung verzichtet und an deren Stel­le das Lernen durch Handeln setzt. Der Erzieher kon­tro­lliert die Entwicklung Emiles nur indirekt durch eine Auswahl der Situationen, denen die­ ser ausgesetzt wird. Strafen er­scheinen daher stets als Fol­ge der Macht der Dinge. Diesem »Al­ter der Natur« (2– 12  Jahre) folgt das »Alter der Kraft« (12–15  Jahre), in dem Emiles intellek­tuelle und manuelle Fähigkeiten entwickelt werden und der Eintritt in die Gesellschaft erfolgt. Diese Pha-

se unterliegt ganz dem Primat der Nützlichkeit und der Praxis und schließt damit, dass Emile das Tischlerhandwerk erlernt. Bücher und reines Faktenwissen werden abgelehnt; Emiles einzige Lektüre bildet der Robinson Crusoe. – Das 4.  Buch (15–20  Jahre) ist der moralischen und religiö­sen Erziehung gewidmet. Die Eigenliebe wandelt sich zur Nächstenliebe, und aus der Beo­bachtung der Natur entsteht das religiö­ se Gefühl. Konkrete religiöse Vorstellungen werden dem Zögling erst ab dem 18. Lebensjahr vermittelt. In dieses Kapitel eingeschoben ist das Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars, in dem R. seine Vorstellung der natürlichen Religion als einer Stimme des Herzens entwickelt. R. rechnet hier scharf mit dem Wahrheitsanspruch geoffenbarter Religionen ab und geht dennoch auf Distanz zur Religionsfeindlichkeit der radikalen Aufklärung. – Die letzte Periode (20– 25 Jahre) bildet eine Art Erziehung zur Liebe, in der Emile mit Sophie ein weibliches Pendant erhält, deren Erziehung in historisch folgenreicher Weise auf eine bestimmte Konzeption natürlicher Weiblichkeit festgelegt wird. Bevor Emile jedoch heiraten darf, wird er auf eine Europareise geschickt,



Russell/Whitehead: Principia Mathematica 517

die maßgeblich seiner – an R.s staatsphilosophischen Ideen ori­en­tierten – politischen Bildung dient. – Bereits kurz nach Erscheinen wurde das Werk sowohl in Frankreich als auch in Genf verboten und öffentlich verbrannt. Dennoch hat es eine Revolution der pädagogischen Vorstellungen eingeleitet und ist nicht zuletzt im deutschen Sprachraum von Pestalozzi, Herbart und Fröbel fruchtbar rezipiert worden. Epochemachend war v. a. R.s Plädoyer für das Eigenrecht der Kindheit und eine Analyse ihrer besonderen Gesetzlichkeit. A. Gipper Ausgaben: Œuvres complètes, Bd.  4, Paris 1969, 239–868. – Engl., Emile or on Education, Hg. und Ü.: C.  Kelly/A.  Bloom, Hanover 2010. – Dt., Hg. und Ü.: L. Schmidts, Paderborn 131998. Literatur: R. Thiéry (Hg.), R., l’Émile et la Révolution, Paris 1992. – J. Bloch, Rousseauism and Education in Eighteenth-Century France, Oxfd. 1995. – H. v. Hentig, R. oder die Wohlgeordnete Freiheit, Mchn. 2004.

Bertrand Russell * 18. 5. 1872 in Chepstow (Wales), †  2. 2. 1970 in Penrhyndendraeth (Wales); Philosoph, Mathematiker und Logiker.

Principia Mathematica (engl.), 3 Bde., EA Cambr. 1910/ 12/13; 21925/27/27 (überarb.), ver­ fasst zus. mit Alfred North Whitehead.

Das monumentale Werk zählt zu den bedeutendsten Beiträgen zu den Grundlagen der Mathematik und zur mathematischen Logik. Das Ziel der Principia ist eine Modifikation und Erweiterung des durch Frege angestoßenen Programms des Logizismus, dem zufolge mathematische Begriffe und Theoreme vollständig auf logische reduzierbar sind. W. und R. streben eine Rekons­ truktion der Mathematik an, die sich nicht nur auf die von Frege fokussierte Arithmetik der natürlichen Zahlen, sondern auf sämtliche mathematische Teilgebiete, insbesondere auch auf die Mengentheorie, bezieht. – Die Principia sind in drei Bänden zusammengefasst, welche weite Bereiche der Mathematik behandeln, zu denen logische Typen, Mengen und Relationen in ihrer Anwendung auf Kardinalzahlen sowie arithmetische Operationen und die Theorie der Reihe gehören. Ein vierter Band über die Grundlagen der Geometrie befand sich in Planung, wurde aber nicht fertiggestellt. Der Aufbau des vorgestellten deduktiven Systems erfolgt in einer eigens ent-

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Russell/Whitehead: Principia Mathematica

wickelten, an Peanos Methodik angelehnten Notation und wird durch nummerierte Sätze wiedergegeben, durch welche die wichtigsten Axiome benannt und einige Beweise dafür aufzeigt werden, wie sich ausgewählte mathematische Theoreme aus diesen Axiomen ableiten lassen. – Eine Schlüsselrolle kommt der sog. »verzweigten Typentheorie« zu, die R. als Reaktion auf einige gegen die naive Mengenlehre vorgebrachten Paradoxien entwickelte. R. selbst hatte bereits 1901 eine solche Paradoxie aufgedeckt, indem er die Annahme einer Klasse aller Klassen, die sich nicht selbst enthalten, zu einem Widerspruch führte (R.’sche Antinomie). Die Grundidee der Typentheorie besteht in dem Aufbau eines hierarchischen Systems, das  sich durch eine Einteilung der Objekte der Mengentheorie in aufeinanderfolgende Ordnungen auszeichnet. ­ Innerhalb dieser Theorie sollen sog. »Zirkeltrugschlüsse« untersagt werden, die zahlreichen logischen und seman­ tischen ­ Paradoxien zugrunde liegen. Solche Trugschlüsse sind durch die Annahme nichtprädikativer  Defini­tionen gekennzeichnet, in denen auf eine Menge verwiesen wird, welche die zu definierende Entität enthält. Zur Vermeidung

dieser Fehlschlüsse stützt sich die Typentheorie auf das sog. »Zirkelfehlerprinzip«, dem zufolge das, was alle Elemente der Menge voraussetzt, nicht ein Element der Menge sein darf. – Um unliebsame Konse­quenzen der Typenhierarchie zu vermeiden, führen die Autoren das sog. »Reduzibilitätsaxiom« ein. Einige Schlüsse, die für den Aufbau des deduktiven Systems notwendig, aber in der Typentheorie unzulässig sind, sollen mithilfe dieses Axioms legi­ timiert werden. Gegen das Reduzibilitätsaxiom wurden zahlreiche Einwände vorgebracht, welche insbeson­dere dessen unzureichende  Begründung  be­­ anstanden. Zudem wurde W. und R. entgegengehalten, dass die Einführung dieses Axioms keine rein logische Grundlage ihres Systems gewährleiste, so dass höchstens eine Rückführung der Mathematik auf Mengenlehre und Logik erreicht werden könne. In der zweiten Auflage der Principia gestehen die Autoren selbst die rein pragmatische  Rechtfertigung des Axioms ein. – Das System der Principia konnte sich nicht gegen das etwa im gleichen Zeitraum entwickelte Zermelo-­ Fraenkel-System  durchsetzen, das noch heute als Standardaxio­ men  System der Mengenlehre gilt. Dennoch werden Varian-



Ryle: The Concept of Mind 519

ten der R.’schen Typentheorie noch  heute in einigen Teilbereichen der Mathematik und Informatik angewandt. Darüber hinaus lieferten die Principia bedeutende Impulse innerhalb des Grundlagenstreits in der Mathematik und gelten als wichtiger Anstoß für die Entwicklung der Gödel’schen Unvollständigkeitssätze. E.-M. Jung Ausgaben: Cambr.  1960. – Principia Mathematica to *56, Cambr. 1962 (gekürzte Ausg.). – Dt., Principia Mathematica. Vorwort und Einleitungen, Ü.: H.  Mokre, Ffm. 2008. Literatur: K. Gödel, R.’s Mathematical Logic, in: P.  Schilpp (Hg.), The Philosophy of B. R., NY 1951, 125–153. – F. R. Ramsey, The Foundations of Mathematics [1931], Ldn. 2000. – G.  Link (Hg.), One Hundred Years of R.’s Paradox, Bln./NY 2004. – S. Shapiro (Hg.), The Oxford Handbook of Philosophy of Mathematics and Logic, Oxfd. 2007.

Gilbert Ryle *  19. 8. 1900 in Brighton, † 6. 10. 1976 in Oxford; einer der wichtigsten Vertreter der Philosophie der normalen Sprache in Oxford.

The Concept of Mind (engl.; Der Begriff des Geistes), EA Ldn. 1949.

R. wendet sich in dieser Schrift gegen den cartesianischen  Leib-Seele-Dualismus, das »Dog­ma vom Gespenst in der Maschine«. Danach durchlebt jeder Mensch eine zweifache Geschichte: eine öffentliche, die aus seinem äußerlich beobachtbaren Verhalten, und eine private, die aus seinen inneren, nur ihm in der Introspektion unmittelbar zugänglichen seelischen Erlebnissen besteht. – Dieser Vorstellung liegt nach R. die ontologische These zugrunde, dass es zwei verschiedene Arten von Existenz oder Sein gibt. Was existiert oder geschieht, kann entweder das Sein physischer oder aber das Sein geistiger Existenz haben. Das Physische existiert dabei notwendigerweise in Raum und Zeit, das Geistige nur in der Zeit. R. will diesen cartesianischen »Mythos« widerlegen und eine positive Theorie des Mentalen entwickeln. Der Mythos beruht nach R. auf einer »Kategorienverwechslung«, ein Begriff, den R. anhand von Beispielen erläutert. Ein Ausländer kommt nach Oxford, und man zeigt ihm eine Reihe von Colleges, Bibliotheken, Laboratorien und Verwaltungsgebäuden; er aber fragt: »Aber wo ist denn die Universität?« Der Fehler seiner Frage liegt in der Annahme, »die Universität« be-

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Salmon: Scientific Explanation

zeichne ein weiteres Glied derselben Klasse, zu der die bereits genannten Einheiten gehören. Entsprechend werden im cartesianischen Mythos Mentales und Physisches demselben Typ zugeordnet: die Unterschiede sind hier Unterschiede innerhalb des gemeinsamen Rahmens der Kategorien ›Ding‹, ›Zustand‹, ›Vorgang‹, ›Ursache‹, ›Wirkung‹. Das führt zu einer »paramechanischen« Hypothese, die u. a. das Problem mit sich bringt, wie ein geistiger Vorgang, z. B. das Wollen, eine Bewegung im Raum hervorrufen kann. R.s eigener Ansatz arbeitet mit dem Begriff der Disposition. Die Behauptung, dass jemand etwas weiß oder etwas will, heißt nicht, dass er zu einem gegebenen Zeitpunkt etwas tut oder erleidet, sondern dass er imstande ist, gewisse Dinge zu tun oder dazu neigt, in bestimmten Situationen bestimmte Dinge zu tun oder zu empfinden. Von den Dispositionen unterscheidet R. Ereignisse (occurrences). Bestimmte Dispositionen sind logisch von Ereignissen abhängig; so könnte es z.  B. die Disposition des Zigarettenrauchens nicht geben, wenn es nicht den Prozess oder die Episode des Zigarettenrauchens gäbe. R. vertritt dabei einen logischen Behaviorismus: Unsere mentale

Sprache erhält ihre Bedeutung durch das beobachtbare Verhalten und nicht durch nur der Introspektion zugängliche private Erlebnisse. Er analysiert aus dieser Sicht die wichtigsten Begriffe der Philosophie des Geistes: Können, Wissen, Willen, Emotion, Selbsterkenntnis, Sinneswahrnehmung, Beobachtung, Vorstellung, Verstand. F. Ricken Ausgaben: Ldn. 2000. – Dt., Stgt. 1986. Literatur: K. Saporiti, G.  R. – Was ist Philosophie?, in: A.  Beckermann/D.  Perler (Hg.), Klassiker der Philosophie heute, Stgt. 2010, 728–748. – P.  Eh­ len/G.  Haeffner/F.  Ricken, Philosophie des 20.  Jh.s, Stgt. 2010, 292–296.

Wesley C. Salmon * 9. 8. 1925 Detroit, †  22. 4. 2001 Madison (Ohio); US-amerikani­ scher Philosoph und Wissenschaftstheoretiker.

Scientific Explanation and the Causal Structure of the World EA Princeton 1984.

Es handelt sich um eines der einflussreichsten Werke S.s,  in welchem dieser ein kau­sal-me­ chanistisches Modell der wissenschaftlichen Erklärung entwirft, das er dem über Dekaden



Salmon: Scientific Explanation 521

vorherrschenden Subsumtionsmodell (Covering-Law-­Model) gegenüberstellt. Die Herleitung dieses Erklärungsmodells schließt ausführliche Diskussionen über ein breites Themenfeld mit ein, beispielsweise über den wissenschaftlichen Realismus oder über probabilistische Theorien der Kausalität. – S.s Ausgangspunkt bildet die Rekonstruk­ tion seines bereits in den 1970er Jahren vorgestellten Modells der statistischen Relevanz, das durch die Kritik an Hempels deduktiv-nomologischen und induktiv-statistischen Erklärungsschemata, zwei Ausprägungen des Subsumtionsmodells, motiviert ist. S. zufolge können beide Schemata weder notwendige noch hinreichende Bedingungen für wissenschaftliche Erklärungen bereitstellen. Sein zentraler Einwand lautet, dass es logische Schlüsse gibt, die zwar die von Hempels Modellen vorgegebene Struktur erfüllen, aber explanatorisch irrelevant sind. Als Alternative zu Hempels Position schlägt S. vor, eine Erklärung als Auflistung statistisch relevanter Faktoren für ein zu erklärendes Phänomen aufzufassen. – Das Modell der statistischen Relevanz dient S. als Grundlage für einen neuen Ansatz, in dessen Rahmen wissenschaft-

liche Erklärungen nicht mehr allein über statistische Begriffe, sondern v. a. durch die Bezugnahme auf Kausalprozesse analysiert werden. Erklärungen beziehen sich demzufolge auf die kausale Entstehungsgeschichte des zu erklärenden Phänomens (ätiologischer Aspekt) sowie auf die aktualen Kausalmechanismen, die dem Phänomen zugrunde liegen (konstitutiver Aspekt). Statt einer Subsumierung unter universale Gesetze oder statistische Regularitäten wird von einer wissenschaftlichen Erklärung somit die Einordnung des Explanandums in eine erkennbare Struktur von Kausalbeziehungen gefordert. – S. betont zudem den ontologischen Charakter seines Erklärungsmodells: Der Unterschied zwischen de- oder präskriptiven Aussagen einerseits und Erklärungen andererseits könne nicht durch epistemische oder modale Faktoren begründet werden, sondern einzig durch die ontologische Tatsache, dass unsere Welt eine bestimmte kausale Struktur aufweist. – S. entwirft eine sog. Transfertheorie der Kausalität, die sich an der relativistischen Mechanik orientiert und die Frage nach der Erzeugung und Übertragung kausaler Wirkungen in den Mittelpunkt stellt. Zentrale Konzepte dieser Theo­

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Sartre: L’Être et le néant

rie sind diejenigen des kausalen Prozesses und der kausalen Interaktion. Für kausale Prozesse führt S. eine konditionale Definition an: Es sind kontinuierliche physische Prozesse, die in der Lage sind, bestimmte Markierungen, d. h. lokale Modi­fikationen, zu übertragen (Mark-Transmission-Principle). Ein Beispiel für einen solchen kausalen Prozess ist ein fahrendes Autos. Seine Fähigkeit, Markierungen zu übertragen, zeigt sich etwa bei einem Aufprall gegen eine Wand, bei der es Verformungen beibehält. Der Schatten des fahrenden Autos ist laut S. hingegen als Pseudo-Prozess zu verstehen, da ihm eine solche Übertragungsfähigkeit nicht zukommt. Unter kausalen Interaktionen versteht S. ein Zusammentreffen zweier Prozesse, welches eine Modifikation der betreffenden Prozesse nach sich zieht. Die durch die Interaktion hervorgerufenen Veränderungen korrelieren hierbei mit bestimmten Erhaltungssätzen. Kausale Prozesse und Interaktionen bilden das kausale Netz, das es laut S. im Rahmen einer Erklärung aufzudecken gilt. Er betont zudem, dass Erklärungen nicht nur auf deterministische, sondern in weiten Teilen auch auf probabilistische Prozesse bezogen sind. – S.s Modell erhielt

als bedeutende Alternative zu den Subsumtionsmodellen der Erklärung breite Aufmerksamkeit und lieferte zudem wichtige Impulse für Debatten über Kausalität. Einwände betreffen beispielsweise die Frage, ob das kausal-mechanistische Modell alle Explanationsformen oder nur eine bestimmte Klasse von Erklärungen zu erfassen vermag. E.-M. Jung Literatur: J. Woodward, The Causal/Mechanical Model of Explanation, in: P. Kitcher/W. S. (Hg.), Scientific Explanation. Minnesota Studies in the Philosophy of Science 13, 1989, 357–383. – C.  Hitchcock, Discussion: S. on Explanatory Relevance, in: Philosophy of Science 62, 1995, 304–320. – G.  Schurz, Scientific Explanation: A Critical Survey, in: Foundations of Science 3, 1995/96, 429–465.

Jean-Paul Sartre * 21. 6. 1905 in Paris, † 15. 4. 1980 in Paris; Schriftsteller und Philosoph, Hauptvertreter des atheistischen Existenzialismus.

L’Être et le néant. Essai d’ontologie phénoménologique

(frz.; Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie), EA Paris 1943.

In S.s phänomenologisches Hauptwerk tritt zum Einfluss



Sartre: L’Être et le néant 523

Husserls die Wirkung von Heideggers Sein und Zeit hinzu. – Grundlage der hier entwickelten phänomenologischen Ontologie bleibt das bereits in früheren Untersuchungen herausgearbeitete vorreflexive cogito. Der Grundbegriff des Phänomens impliziert nicht, dass das Sein sich in seinem Erscheinen erschöpft. Es gibt ein trans­ phänomenales Sein des Bewusstseins wie des Phänomens selbst, was sich aus einer Analyse der Intentionalität ergibt. Zwei Seinsweisen werden dabei unterschieden: das An-sich (en-soi) und das Für-sich (pour-soi). Das Ansich »ist, was es ist«, während das Für-sich (das Bewusstsein) »zu sein hat, was es ist«. Ferner stellt sich die Frage, wie die Undurchsichtigkeit des An-sich mit der Spontaneität des Fürsich zusammenhängen kann. Die Untersuchung gliedert sich in vier Teile. Im 1.  Teil (»Die Frage nach dem Nichts«) wählt S. als Leitfaden das Verhal­ten des Fragens, das sogleich vor das Phänomen des Nichts stellt. Der Mensch entpuppt sich als Ursprung des Nichts, das selbst wiederum in der Frei­heit wurzelt. Die dadurch entstehende »Angst« führt zur Unaufrichtigkeit (mauvaise foi). Diese enthüllt S. zufolge die Struktur des Bewusstseins: Es ist,

was es nicht ist, und es ist zugleich nicht, was es ist. – Diese Struktur wird im 2. Teil (»Das Sein für sich«) analysiert. Das »Für-sich« strebt nach einer absoluten Totalität, d. h. nach der unmöglichen Synthese mit dem »An-sich«. In diesem inneren Mangel gründet auch die eigentümliche Seinsweise des Wertes, der nach S. den Charakter hat, unbedingt und zugleich nicht zu sein. Erst die Beziehung zum Wert führt zur Entfaltung des Menschen im Hinblick auf seine Möglichkeiten, d. h. in Bezug auf die Welt als im »Zirkel der Selbstheit« erfahrene Totalität des Seins. Da die Entfaltung des vorreflexiven cogito in einer Selbstheit jedoch nur in der Zeitlichkeit erfolgen kann, führt S. (in Auseinandersetzung mit Bergson, Husserl und Heidegger) eine Analyse der Zeitlichkeit durch: Das Fürsich kann niemals die eigene Zukunft sein; »Freisein bedeutet, dazu verurteilt sein, frei zu sein«. – Der 3. Teil des Werkes ist dem Problem des Anderen (pour-autrui) gewidmet und enthält S.s bekannteste und beeindruckendste Analysen »konkreter« Phänomene. S. lehnt den Solipsismus zugunsten einer ursprünglicheren Intersubjektivität ab, betont jedoch den negativen und konfliktuellen Charakter der Beziehung zum

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Sartre: L’Être et le néant

Anderen. Der Andere offenbart sich nicht über die Erkenntnis, sondern in einem Geflecht tieferer Verhältnisse. So zeigt sich der Andere zunächst im Phänomen des Blicks, und zwar nicht als apriorische Struktur, sondern als konkretes und zugleich in meinem eigenen cogito gründendes Subjekt. Doch die volle Entfaltung der Ich-AndererBeziehung erfolgt  erst durch die Dimension des Körpers, die in diesem Werk (wie kurz danach bei Merleau-Ponty) große Aufmerksam­keit findet. S. analysiert eingehend die Weisen, in denen das F ­ ür-sich versucht, mit der Freiheit des Anderen fertig zu werden: Liebe, Sprache, Masochismus, Gleich­ gültigkeit, Begehren, Hass, Sadismus. Der Andere zeigt sich für S. schließlich als der versteinernde Blick der Medusa, der das Für-sich zum An-­sich macht. – Das Für-sich ist nicht nur selbst zugleich An-sich, sondern verändert auch die Materialität des An-sich. Diese Möglichkeit des Handelns bildet das Thema des 4. Teils (»Haben, Tun und Sein«), in dem S. seine Theorie der Freiheit entwickelt. Frei sind nicht nur die reflexiv vollzogenen Akte, vielmehr entspringt je­de Tat einer ursprünglichen Wahl, einem ursprünglichen Entwurf. Jeder Akt verweist auf wei­tere

Bedeutungen und tiefe­re Strukturen, die dennoch nicht – wie bei Freud – determi­ nistisch wirken: Sie stammen aus einem der Zukunft  offenen, ständig erneuerten Grundakt der Freiheit. Doch ist das Für-sich nicht sein eigener Grund; die Freiheit ist immer Freiheit in einer Situation. Letzter Sinn der ursprünglichen Wahl ist der Versuch, eine unmögliche Synthesis des Für-sich und des An-sich zu  erreichen, d. h. »Gott zu  sein«.  – Das freie menschliche  Tun wird durch die »existentielle  Psychoanalyse« verständlich, welche versucht, dem  freien und totalen Charakter des Handelns gerecht zu werden. Sie ist letztendlich eine »moralische Beschreibung« des  ethischen Sinnes des menschlichen Entwurfs. Die Ontologie selbst soll den Weg für eine Ethik bahnen, die S. auf der letzten Seite ankündigt. – S.s Werk wurde v. a. in der Nachkriegszeit zum Gegenstand lebhafter Diskus­ sionen sowohl von katholischer (G. Marcel, J. Mercier), als auch von marxistischer (H. Lefebvre, P. Naville, etc.) und phänomenologischer (Merleau-Ponty) Seite. C. La Rocca Ausgaben: Paris 1976. – Dt., Ü.: H. Schöneberg/T. König, Hg.: T. König, Reinbek 162010.



Sartre: L’existentialisme est un humanisme 525

Literatur: J. Catalano, A Commentary on S.’s Being and Nothingness, Chicago 21980. – B. N. Schumacher (Hg.), J.-P. S. Das Sein und das Nichts, Bln.  2003.– S.  Gardner, S.’s ›Being and Nothingness‹: A Reader’s Guide, Ldn./ NY 2009.

L’existentialisme est un humanisme (frz.; Ist der Existentialismus ein Humanismus?), EA Paris 1946.

S. hielt am 28. und 29. Oktober 1945 in Paris einen Vortrag, der in leicht veränderter Form im folgenden Jahr veröffentlicht wurde. Sein Ziel war es, auf verbreitete Missverständnisse und Vorbehalte gegenüber dem damals bereits Mode gewordenen Existenzialismus zu reagieren, der als Denken der Leere und des Nichts, der Verzweiflung und der Untätigkeit, oder als idealistischer Solipsismus angegriffen wurde. – S. unterscheidet zwei Schulen des Existenzialismus, den christlichen und den atheistischen Existenzialismus. Der zweite behauptet, dass im Menschen die Existenz der Essenz vorausgeht: Der Mensch ist nicht von einer »menschlichen Natur« vorbestimmt, sondern er ist dasjenige, was er aus sich selbst macht. Dieses Tun entspringt jedoch nicht einem bewussten Willen, sondern einem

ursprünglicheren Entwurf, für den der Mensch gleichwohl verantwortlich ist. Aufgrund dieser ursprünglichen Wahl ist der Mensch nicht nur für sich selbst, sondern auch für alle anderen Menschen verantwortlich. Darin hat auch die »Angst« ihre Wurzeln. Der Mensch weiß bei seiner Wahl, dass er gleichzeitig eine Art »Gesetzgeber« ist, insofern seine Entscheidung eine allgemeingültige Bedeutung hat. Die Angst führt somit nicht zur Untätigkeit, sondern zur vollen Verantwortung desjenigen, der eine Existenz Gottes verneint. Jedes vorbestimmte Apriori der Werte sowie jeder Determinismus wird also abgelehnt. Der Mensch ist »dazu verurteilt, frei zu sein«. S. lehnt die Idee einer allgemeinen Moral ab, die den Menschen von der Notwendigkeit befreit, in einem radikalen Sinn zu wählen, d. h. zu erfinden. Selbst die Verzweiflung  soll schließlich nicht zur Resignation, sondern dazu führen, dass der Mensch ohne Hoffnung, doch in voller Verantwortung handelt. So wird auch der Vorwurf des Pessimismus zurückgewiesen: Es gebe keine optimistischere Lehre  als den Existenzialismus, denn  für diesen hält der Mensch selbst sein eigenes Schicksal in Händen. – Auf

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Scanlon: What We Owe To Each Other

philosophischer Ebene verteidigt S. den Ausgangspunkt des cogito, der jedoch nicht solipsistisch gedeutet werden darf, denn im cogito wird der Andere mit gleicher Gewissheit entdeckt. S. betont besonders die Freiheit als Grundlage aller Werte: Jeder Akt entspringt aus der Freiheit und findet seinen letzten Sinn in der Suche nach der Freiheit, in welcher die Abhängigkeit der Freiheit jedes Einzelnen von derjenigen der anderen offenbar wird. Der Existenzialismus ist also nicht in dem Sinne ein Humanismus, dass der Mensch dabei als höchster Wert betrachtet wird. Diesem »Kult der Menschheit« setzt S. einen Humanismus entgegen, der auf der Auffassung basiert, dass es kein anderes als das menschliche Universum gibt, wobei der Mensch nicht in seinem Wesen, sondern in dem freien Entwurf über sich hinaus seine Verwirklichung sucht. – Die Schrift stellt eine Art populäres Manifest des S.’schen Existen­ zialismus dar, das u. a. auch eine philosophische Rezeption fand. Insbesondere Heidegger nahm in seinem 1946 verfassten Brief über den Humanismus dazu Stellung. C. La Rocca Ausgaben: Paris 1970. – Dt., in: Drei Essays, Ffm. u. a. 21980.

Literatur: P. Kampits, J.-P.  S., Mchn. 2004.

Thomas Scanlon *1940 in Indianapolis; bekannt für die Weiterentwicklung des Kontraktualismus in der Moraltheorie und in der politischen Philosophie.

What We Owe To Each Other EA Cambr. 1998.

S.s Abhandlung gliedert sich in zwei Teile: Die ersten drei Kapitel entwickeln eine Theorie normativer Gründe und ihrem Verhältnis zu Werten, Wünschen und Wohlbefinden. Die darauffolgenden fünf Kapitel beschäftigen sich mit der Bestimmung von ›moralisch richtig‹ und ›falsch‹, wobei S. eine hinreichende Bedingung des moralisch Falschen entwickelt und darüber vermittelt das moralisch Richtige bestimmt. S. begreift Urteile über richtig und falsch als Urteile darüber, was anderen gegenüber als begründet ausgewiesen werden kann. Solche Urteile sind laut S. Urteile darüber, was Prinzipien erlauben würden, denen keine Person vernünftigerweise widersprechen könnte. Diese Bestimmung von richtig und falsch über diejenigen Dinge, die Personen einander schulden, deckt offenkundig nur



Scanlon: What We Owe To Each Other 527

einen Teil der Moral ab. In einem weiteren Sinn ließen sich auch Handlungen einer Person als falsch beschreiben, obwohl sie kein Subjekt betreffen, gegenüber dem sie gerechtfertigt werden könnten. – S.s Position ist eine kontraktualistische Position, weil sie moralische Urteile über richtig und falsch auf die Übereinkunft von Personen gründet. Dies hält S. nicht nur für den angemessenen Ausgangspunkt der Rechtfertigung moralischen Handelns, sondern auch für eine plausible Beschreibung der Motivation moralischer Akteure. – S. erörtert die fundamentale Rolle, die der Verweis auf Gründe in der Moralphilosophie einnimmt. ›Grund‹ ist für ihn ein einfacher, d. h. nicht weiter zu erläuternder Begriff. Dass etwas ein Grund für eine Einstellung oder Handlung (d. h. für judgement-sensitive attitudes) ist, bedeutet S. zufolge, dass es eine Erwägung ist, die dafür spricht, von etwas überzeugt zu sein oder etwas zu tun. S. argumentiert gegen Positionen, die Urteile über Gründe auf Werte oder Wohlbefinden zurückführen. Er bezweifelt, dass der Verweis auf Wünsche oder Wohlbefinden erfasst, was es bedeutet, einen Grund zu haben, sondern sieht das Primat moralischen Urteilens im

Verfügen über Gründe. Dass etwas gewünscht, wertvoll oder gut ist, bedeutet für S., dass es weitere Eigenschaften hat, die dafür sprechen, es wertzuschätzen (S. spricht hier von buckpassing). Im Falle von richtig und falsch ist dies anders: Dass etwas falsch ist, spricht selbst dafür, es zu unterlassen. – Die Möglichkeit, Handlungen anderen gegenüber als gerechtfertigt auszuweisen, ist für S. das Kriterium von richtig und falsch. S.s Kontraktualismus unterscheidet sich in verschiedenen Hinsichten von anderen kontraktualistischen Moraltheorien: Zunächst fragt S. nicht, worauf sich Personen unter bestimmten Umständen einigen würden, sondern lediglich, welche Prinzipien sie berechtigterweise zurückweisen dürften. Außerdem ist S.s Kontraktualismus nicht als formale Moralkonzeption zu verstehen: S. verwendet in seiner Bestimmung der Begründbarkeit bewusst den Begriff ›vernünftig‹ (reasonable) und nicht ›rational‹ (rational). Vernünftigkeit ist aber selbst eine Idee, die moralisch gehaltvoll ist. S.s Kontraktualismus baut demnach nicht allein auf dem Eigeninteresse und der Ra­ tionalität hypothetischer Vertragspartner auf, sondern muss substanzielle Urteile darüber

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Scheler: Der Formalismus in der Ethik

fällen, was als vernünftig oder unvernünftig gilt. – S.s What we Owe to Each Other liefert eine detaillierte und innovative Theorie praktischer Rationalität und moralischer Rechtfertigung. Seine Weiterentwicklung des Kontraktualismus hat die neuere praktische Philosophie unmittelbar beeinflusst. S. Derpmann Ausgabe: Cambr. 2000. Literatur: T. Schramme, Rezen­ sion zu T. S.: What we Owe to Each Other, in: Zeitschrift für Philosophische Forschung 54, 2000, 475–479. – J.  Wallace, S.’s Contractualism, in: Ethics 112, 2002, 429–470. – D. Parfit, Justifiability to Each Person, in: Ratio 16, 2008, 368–390.

Max Scheler *  22. 8. 1874 in München, †  19. 5. 1928 in Frankfurt am Main; Hauptvertreter der phänomenologischen Philosophie, Soziologe.

Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Neuer Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalismus

EA Halle 1916; Teil 1 zuerst ersch  im Jahrbuch für Philosophie und Phänomenologische Forschung, Bd. 1, Hg.: E. Husserl, Halle 1913; Teil 2 zuerst ersch. ebd., Bd.  2, Halle 1916.

Das Ziel von S.s Untersuchung besteht in der Erarbeitung »einer streng wissenschaftlichen und positiven Grundlegung der philosophischen Ethik«, und zwar als materiale Wert­ ethik, die S. durch Abgrenzung gegen die formalistische Ethikkonzeption Kants zusätzlich zu profilieren versucht. S. stimmt mit Kant darin überein, jeden Versuch abzulehnen, die Ethik aus der Frage nach dem höchsten Gut oder nach dem Endzweck des menschlichen Strebens abzuleiten. Die richtige Alternative zu einer solchen Güter- bzw. Zweckethik sieht S. aber nicht in dem Versuch Kants, die Ethik formal aus der Struktur praktischer Ratio­ nalität heraus zu begründen, sondern in der Anerkennung eines ontologisch eigenständigen Bereichs von Wertqualitäten, die untereinander in einer festen Rangordnung stehen. Diese Wertqualitäten bilden den Kern von Schelers materialer Konzeption von Ethik. Er unterscheidet vier grundlegende Wertmodalitäten, nämlich – in nach ihrem jeweiligen Wert aufsteigender Ordnung – (i) die des Angenehmen und des Unangenehmen als Werten sinnlichen Fühlens, (ii) die des Edlen und Gemeinen als Werten vitalen Fühlens, (iii)  die geistigen Werte (zu denen



Scheler: Der Formalismus in der Ethik 529

etwa die ästhetischen gehören) und (iv)  die religiösen Werte des Heiligen und Unheiligen. Die moralischen Werte ›gut‹ und ›böse‹ bilden nach S. nicht selbst den Inhalt von Willensakten, sondern sie werden durch solche Willensakte realisiert, die sich auf nichtmoralische Werte entsprechend deren Rangordnung richten. Wer etwa die Realisierung eines geistigen Wertes, z. B. die mühsame Erarbeitung einer wissenschaftlichen Einsicht, der Realisierung eines Wertes des sinnlichen Fühlens, z. B. dem angenehmen Gefühl eines entspannten Abends, vorzieht und damit der objektiven Wert­ hierarchie gerecht wird, in der geistige Werte denen des sinnlichen Empfindens übergeordnet sind, der handelt gut. Wiederum im Gegensatz zu Kant vertritt S. einen strikten Vorrang des Evaluativen vor dem Deontischen: Jedes normative Sollen ist in Werten fundiert und zwar in der Weise, dass es nicht positiv auf das Sein eines Guten, sondern auf das Nichtsein eines Übels abzielt, und zwar eines Übels, zu dem bei dem Adressaten der SollensForderung eine Strebenstendenz bestehen muss, der mit dem entsprechenden Gebot bzw. Verbot entgegengetreten werden soll. Weit entfernt

davon, das Grundphänomen der Ethik darzustellen, erfüllt das moralische Sollen nach S. also lediglich die Funktion der Verhinderung eines Nichtseinsollenden und die der Vorbereitung der liebenden Einsicht in einen Wert und die in ihm enthaltenen Vorzugsregeln als dem basalen Phänomen moralisch guten Handelns. – Epis­ temisch zugänglich sind uns die Werte nach S. ähnlich wie Farbqualitäten in einer irreduzibel eigenständigen Form der Anschauung, die uns zugleich die hierarchischen Verhältnisse zwischen den Werten erschließt. Die Sätze der materia­ len Wertethik beanspruchen damit, a priori gültig zu sein in dem Sinne, dass sie »evident […] und durch Beobachtung und Induktion weder nachweisbar noch widerlegbar« sind. Diese Evidenz wiederum sieht S. begründet nicht in kognitiven Leistungen, sondern in einem »Apriorismus des Emotionalen«, dem zufolge sich der Bereich der Werte primär durch Akte des Liebens und Hassens erschließt. Allerdings sind nach S. nicht jeder Epoche und Kultur alle Werte und ihre Ordnung gleichermaßen zugänglich, es gibt vielmehr erhebliche »Variationen des Fühlens (also ›Erkennens‹) der Werte selbst, sowie der Struktur des

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Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos

Vorziehens von Werten und des Liebens und Hassens«, die S. mit dem Begriff des ›Ethos‹ fasst. – Schelers Formalismus-Buch ist von grundlegender Bedeutung für die Ausarbeitung der materialen Wertethik, die insbesondere bei Nicolai Hartmann und Dietrich von Hildebrand eine Kritik und Fortentwicklung erfahren hat. In der Gegenwart hat S.s Ethik insbesondere im Zusammenhang eines verstärkten Interesses an der Bedeutung emotionaler Einstellungen für Werttheorie und Ethik erneute Beachtung erfahren. C. Halbig Ausgabe: Gesammelte Werke, Hg.: M. Scheler, Bd.  2, Bern/Mchn. 1954 (NA 1966). Literatur: D. v. Hildebrand, M. S. als Ethiker, in: ders., Die Menschheit am Scheideweg, Regensburg 1955, 587–605. – E. Kelly, Material Ethics of Value: M. S. and Nicolai Hartmann, Dordrecht 2011.

Die Stellung des Menschen im Kosmos ED Drmst.  1927 u.  d.  T. Die Sonderstellung des Menschen (in: H.  Graf Keyserling [Hg.], Mensch und Erde [= Der Leuchter, Bd. 8]); EA Drmst. 1928.

Die aus einem Vortrag S.s im Jahr vor seinem Tod hervorgegangene Arbeit enthält die

Kerngedanken einer geplanten, aber nicht mehr publizierten umfassenden Monographie zur Anthropologie und lässt zugleich grundlegende Thesen von S.s Spätphilosophie, wie er sie nach seiner Abwendung vom Theismus ausgearbeitet hat, erkennen. – S. geht aus von der Frage, ob dem Menschen eine metaphysische Sonderstellung eignet, die sich von der Sonderstellung unterscheidet, die jeder Tierart schon als solcher in Abgrenzung zu allen anderen zukommt. Von den Tieren unterscheidet sich der Mensch zunächst durch die stark fortgeschrittene Rück­ bildung seiner Instinkte. Instinktives Verhalten zeichnet sich dadurch aus, dass es (i) an für das Leben derart bedeutsa­ me Situationstypen gebunden ist, (ii) nach einem »festen, ­unveränderlichen Rhythmus« abläuft und (iii) »sinnmäßig« ist, nämlich der Fortpflanzung und Ernährung der Artangehöri­ gen dient. Intelligentes Verhalten zeichnet sich demgegenüber dadurch aus, dass es auch i­n neuen, unvertrauten Situatio­ nen imstande ist, eine durch Triebe vorgegebene Aufgabe nicht durch wiederholtes Probieren, sondern durch Einsicht in die entsprechenden Zusammenhänge zu lösen. S. bindet nun aber die



Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos 531

Sonderstellung des Menschen nicht an seine Intelligenz – die sich nach S. vielmehr durchaus auch im Tierreich finden lässt –, sondern an ein dem Leben als Ganzem, als dessen Wesensformen S. sowohl Trieb als auch Intelligenz begreift, entgegengesetztes Prinzip, nämlich den Geist, der, insofern er als endliches Aktzentrum erscheint, von S. als Person angesprochen wird. Der Geist zeichnet sich durch seine Fähigkeit zu »vollendeter Sachlichkeit« aus – der Träger des Geistes verfügt nicht nur über eine Umwelt, sondern ist tatsächlich weltoffen, insofern sich ihm in seinen Akten die Welt (einschließlich der psychischen und physiologischen Verfassung des Menschen selbst) erschließt, wie sie ganz unabhängig von seinen eigenen Trieben und Interessen ist. Personale Akte ermöglichen Gegenständlichkeit, lassen sich aber selbst nicht vergegenständlichen,  sondern nur mitbzw. nachvollziehen. – S. profiliert seine eigene Anthropologie in doppelter Abgrenzung: einerseits zur »klassische[n] Theorie vom Menschen«, der zufolge der Geist nicht nur ein irreduzibel eigenes Wesen, sondern auch die Kraft hat, es zu realisieren; andererseits zur sog. negativen Theorie, die dem Geist jedes eigene Wesen

abspricht und seine Genese auf die Verneinung bzw. Sublimierung von Triebimpulsen zu reduzieren sucht. Nach S. eignet vielmehr allem Sein sowohl das Attribut des Geistes als auch das des Dranges. Ersterem fehlt jede eigene, schöpferische Macht, es kann also nicht im Sinne des Theismus als Ausgangspunkt betrachtet werden; vielmehr steht es als Ziel, nämlich als »Selbstverwirklichung der Gottheit« am Ende eines geschichtlichen Prozesses. Der Mensch bildet nun die entscheidende Instanz in diesem Prozess, insofern er imstande ist, dem Geist durch die Umlenkung von Triebenergien auf neue, vom Geist gesetzte Ziele zur Durchsetzung zu verhelfen. Dem religiösen Hang, die Exzentrizität des Menschen durch den Versuch einer erneuten Bergung im Gesamten der Wirklichkeit zu verdecken, setzt S. metaphysische Affirmation dieser Exzentrizität entgegen und fordert dazu auf, sie als Auftrag zum aktiven Mitvollzug des Prozesses der Gottwerdung zu verstehen und anzunehmen. – Die anthropologischen und metaphysischen Grundannahmen des späten S. weisen starke Berührungspunkte zur etwa zeitgleichen Prozessphilosophie Whiteheads (→ Process and Reality, 1929)

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Schelling: Philosophische Untersuchungen

auf, wurden aber zugleich von theistischer Seite schon früh (etwa durch Dietrich von Hildebrand) einer eingehenden Kritik unterzogen. In jüngster Zeit haben sie insbesondere im Zusammenhang mit Bemühungen um ein anti-szientistisches Menschenbild erneute Beachtung erfahren. C. Halbig Ausgabe: In: Späte Schriften (= Gesammelte Werke, Hg.: M.  S., Bd. 9), Bern/Mchn. 1976, 7–71. Literatur: P. Good, M.  S. Eine Einführung, Bonn 1998, Kap.  3, 81–104.

Friedrich Wilhelm Joseph Schelling *  27. 1. 1775 in Leonberg, †  20. 8. 1854 in Ragaz; wichtiger Vertreter des Deutschen Idea­ lismus.

Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände EA Landshut 1809.

Die Schrift ist veranlasst durch Einwände, die F. Schlegel gegen S.s Philosophie vorgebracht hatte. Er sieht in ihr einen Pantheismus, der Freiheit bei Gott und Menschen unmöglich mache, damit die Grundlagen der

Moral zerstöre und letztlich atheistisch sei. S.s Entgegnung ist eine wichtige Darstellung des idealistischen (d.  h. die Philosophie des Geistes betreffenden) Teiles seines Systems. Zunächst wird gezeigt, dass entgegen der Meinung Schlegels der Pantheismus keineswegs notwendig mit einem Determinismus verbunden ist. Wenn dieser Eindruck entsteht, so liege das an einer verfehlten Vorstellung von Identität. Diese sollte konkret so gedacht werden, dass eine »derivierte Absolutheit« selbständiger und damit freier Wesen in Gott möglich ist (Sämtliche Werke 7,347), eine »Wechseldurchdringung des Realismus und Idealismus«, an der S., wie er sagt, schon immer gelegen war. Die eigentliche Schwierigkeit, der die ganze Schrift gewidmet ist, ergibt sich aus der Existenz des Bösen. Ihrem realen Begriff nach ist Freiheit ein Vermögen des Guten und des Bösen. Als Vermögen zum Bösen muss sie eine von Gott unabhängige Wurzel haben. Wie kann das sein, wenn Gott doch der Grund von allem ist? Zur Beantwortung dieser Frage führt S. eine Differenz in Gott ein, die von »Natur in Gott« und »Gott selbst« (358); er nimmt außerdem einen zeitlosewigen Werdeprozess in Gott



Schelling: Philosophische Untersuchungen 533

an, in dem aus Dunkel Licht wird. Das Verhältnis, mit dem S. ursprünglich das Verhältnis zwischen Natur und Geist definiert hatte, wird nun, um die Möglichkeit des Bösen zu erklären, in Gott selbst hineingelegt. Dieser Prozess wiederholt sich in der Schöpfung; aus anfänglichem Dunkel wird Licht. Im Menschen endet die Naturgeschichte Gottes, in ihm wird die in Gott unzertrennliche Einheit von dunklem Grund und hellem Geist zertrennlich. Darin besteht die Möglichkeit des Guten und Bösen (364). Diese ist also nicht nur (wie etwa bei Kant) ein moralisches, sondern ein metaphysisches, die ganze Schöpfung betreffendes Phänomen. Das Böse hat Prämissen, die vom menschlichen Willen unabhängig sind. Dass wirklich böse Handlungen geschehen, entspringt aber auch für S. der menschlichen Freiheit. Der »allein richtige Begriff vom Bösen« ist, dass es auf einer positiven Umkehrung der Prinzipien beruht und also nicht als etwas lediglich Negatives verstanden werden kann. Weil es etwas Positives ist, muss es seinen Ursprung in Gott haben. Beide Prinzipien, deren Trennung im Menschen möglich ist, haben ihr Fundament in Gott. »Der Grund des Bösen muss also nicht nur

in etwas Positivem überhaupt, sondern eher in dem höchsten Positiven liegen, das die Natur enthält, wie es nach unserer Auffassung allerdings der Fall ist, da er in dem offenbar gewordenen Zentrum oder Urwillen des ersten Grundes liegt« (369). Dieser Dualismus soll allerdings nur die Möglichkeit, nicht die Wirklichkeit des Bösen erklären. Diese soll zunächst als universelles, notwendig in die Schöpfung und Offenbarung Gottes integriertes Geschehen verstanden werden; erst danach und aufgrund dieser Möglichkeit auch als etwas im einzelnen Menschen Vorhandenes. Das Böse ist zur Offenbarung Gottes notwendig gewesen (373). Die Vorstufe des Bösen in der Natur ist der Tod, die Auflösung, der jedes organische Wesen entgegengeht; in seiner unmittelbaren Erscheinung bricht es aber erst am Ziel der Natur (dem Menschen) hervor. Auf dieser Grundlage entwickelt S. eine Geschichtsphilosophie. Einem Zeitalter der Unschuld folgt eines der Sünde und der Schuld; um den »Rapport der Schöpfung mit Gott« auf der höchsten Stufe wiederherzustellen, erscheint Gott als Mensch. »Denn nur Persönliches kann Persönliches heilen, und Gott muß Mensch werden, damit

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Schelling: Philosophische Untersuchungen

der Mensch wieder zu Gott komme« (380). Erst nach Erkenntnis dieser ontologischen Universalität des Bösen kann erkannt werden, wie Gutes und Böses auch im Menschen möglich ist. Die Reaktion des Menschen auf diesen Grundzustand der Welt zeigt sich v. a. in der Angst, die ihn aus dem Zentrum treibt. Das Böse bleibt aber trotz dieser Notwendigkeit immer die eigene Wahl des Menschen (381). Als das formale Wesen der Freiheit behandelt S. dann die Struktur menschlicher Entscheidungen. Konzeptionen von Freiheit, bei denen es willkürlich und ­damit zufällig wird, was getan wird, werden abgelehnt. Stattdessen wird auf die kantische Konzeption eines intelligiblen, d. h. außerzeitlichen Wesens im Menschen zurückgegriffen (383). Eine freie Handlung erfolgt »unmittelbar aus dem Intelligiblen des Menschen« (384); die eigentliche Entscheidung geschieht außerhalb der Zeit. »Der Mensch, wenn er auch in der Zeit geboren wird, ist doch in den Anfang der Schöpfung (das Zentrum) erschaffen. Die Tat, wodurch sein Leben bestimmt ist, gehört selbst nicht der Zeit, sondern der Ewigkeit an« (385). Wie der Mensch hier handelt, so hat er von Ewigkeit an und schon am Anfang der

Schöpfung gehandelt. Diese Konzeption vom Ursprung des Bösen in der Schöpfung führt zuletzt zu einer Theodizee. Sie beruht auf der These, dass das Böse zwar durch den Grund Gottes ermöglicht, nicht aber von ihm frei gewollt ist: »Damit also das Böse nicht wäre, müsste Gott selbst nicht sein« (403). Auch für Gott ist etwas anderes nicht möglich. Zum Ende der Offenbarung Gottes aber wird das Böse wieder auf die ihm zukommende Poten­zialität reduziert: »Das Ende der Offenbarung ist daher die Ausstoßung des Bösen vom Guten, die Erklärung desselben als gänzlicher Unrealität« (405). Den Abschluss der Schrift bilden Spekulationen darüber, wie aus der vorauszusetzenden absoluten Indifferenz eine Dualität hervorbrechen kann (406 ff.), ein für eine monistische Philosophie seit dem Neuplatonismus zentrales Problem. – Im 20. Jh. hat sich v. a. Heidegger mit der Schrift beschäftigt. Ihre aktuelle Bedeutung liegt überwiegend nicht in den Überlegungen zum Freiheitsproblem. Die heute entscheidende Frage, wie sich Freiheit und Naturkausalität zueinander verhalten, wird von S. nicht einmal angesprochen. Interessanter ist der eigentümliche Vorschlag zum Theodizeeproblem, die



Schelling: Das System des transzendentalen Idealismus 535

Antwort auf die alte Frage nach dem Ursprung des Bösen in der Welt. Sie besteht darin, die Notwendigkeit einer Entwicklung auch für Gott selbst anzunehmen. Selbst in ihm gibt es eine innere Grenze, ohne die er nicht als Geist hervortreten könnte. Marquard urteilt: »Dabei hängt am Gelingen dieser S.-Form der Theodizee nicht wenig; denn sie ist die – vielleicht einzig aussichtsreiche – Möglichkeit, den dominierenden Trend der Theodizee in der Neuzeit zu vermeiden: die Theodizee durch den Atheismus einer extrem autonomistischen Position« (in: Höffe/ Pieper). P. Rohs Ausgaben: Sämtliche Werke, Bd. 7, Stgt. 1860. – Hg.: H.  Fuhrmans, Stgt. 1964. – Hg.: T.  Buchheim, Hbg. 2001. Literatur: O. Höffe/A.  Pieper (Hg.), S., Über das Wesen der menschlichen Freiheit, Bln. 1995 (Klassiker Auslegen). – C. Brouwer, S.s Freiheitsschrift, Tbg. 2011.

Das System des transzendentalen Idealismus EA Tbg. 1800.

Vor Entwicklung seiner Identitätsphilosophie 1801 hat S. für einige Zeit Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie (d. h. die Theorie von den theoretischen und praktischen

Leistungen von Subjekten) als nebeneinander stehende Zweige einer einheitlichen Philosophie behandelt. Zu Beginn der vorliegenden Schrift rechtfertigt er dies Vorgehen anhand des Begriffes von ›Wahrheit‹ als einer Übereinstimmung von Vorstellung und Gegenstand. Das Zusammentreffen beider könne entweder vom Objekt her verständlich gemacht werden, was die Naturphilosophie, oder vom Subjekt her, was die Transzendentalphilosophie ergibt, der diese Schrift gewidmet ist. Das System der Philosophie wird also erst durch zwei Grundwissenschaften vollendet (Sämtliche Werke 3,342). S. orientiert sich in diesem Werk weitgehend an der Wissenschaftslehre Fichtes. Wie in dieser soll von einem höchsten Prinzip ausgegangen werden, dem Selbstbewusstsein. Für die Transzendentalphilosophie gilt das Ich als Absolutes – ein Ich freilich, das sich vom empirischen Ich dadurch unterscheidet, dass es nichts Individuelles ist und auch nicht der Zeit angehört. »Das reine Selbstbewußtsein ist ein Akt, der außerhalb der Zeit liegt, und alle Zeit erst konstituiert« (375). In der Ausarbeitung des Systems geht es darum, von dieser Grundlage aus das Wissen um eine äußere Realität zu »dedu-

536 Schelling: Das System des transzendentalen Idealismus

zieren«, d. h. als notwendig im Selbstbewusstsein angelegt zu erweisen. Ähnlich wie Fichte bestimmt S. als Ausgangspunkt eine »ursprüngliche Duplizität im Ich« (374), die sich daraus ergibt, dass es Selbstbewusstsein und also Gegenstand für sich selbst ist. Da das Ich als solches Tätigkeit ist, wird es als eine Einheit von zwei Tätigkeiten gefasst, die als »ideelle« und »reelle« bezeichnet werden. Die Endlichkeit und Begrenztheit des Ich (und damit die Beziehung auf eine Realität, die für es unabhängig von ihm selbst ist) soll als ein Resultat der Spontaneität des Ich erwiesen werden. Die Passivität, die zu Sinnesempfindungen gehört, wird nicht bestritten, aber sie soll nicht durch ein absolut außer dem Ich befindliches noumenales (d. h. außer Raum und Zeit existierendes) Ding an sich erklärt werden, sondern aus der inneren Struktur von Spontaneität. Ein Ich könne als Ich nur unbegrenzt sein, insofern es begrenzt sei, aber auch als Ich nur begrenzt, insofern es unbegrenzt sei (382). Ein Ich ist nicht ein Etwas, das passiv Eindrücke erfährt, sondern die Passivität muss aus »Faktoren des Selbstbewußtseins« erklärbar sein. Die reelle Tätigkeit soll dabei den objektiven Part spielen, die dadurch, dass sie an-

geschaut wird, begrenzt  wird, die ideelle Tätigkeit den subjektiven Part; sie enthält den Grund für das Wissen von der anderen Tätigkeit und damit zugleich den Grund dafür, dass diese begrenzt wird. »Aus dieser wechselseitigen Voraussetzung beider Tätigkeiten zum Behuf des Selbstbewußtseins wird der ganze Mechanismus des Ich abzuleiten sein« (386). – Dieser »Mechanismus des Ich«, dessen Herleitung den  weiteren Inhalt der Schrift bildet, besteht in dem System seiner diversen theoretischen und praktischen Vermögen sowie den Regeln für ihre Kooperation. Inhaltlich entspricht es weitgehend dem, was schon Kant angenommen hatte, nur soll alles als mittelbar in der ursprüngli­chen Duplizität enthalten  nach­ge­ wiesen werden. Die Dar­ stel­ lung umfasst nicht nur die eigentliche Erkenntnistheorie, sondern  auch Moral- und Rechtslehre, Religion, Naturteleologie und als höchsten Punkt schließlich  die künstlerische Produktivität. – Eine Besonderheit von S.s Idealismus ist, dass in ihr der Gipfel geistiger Leistungen gesehen wird: »[…] so ist die Kunst die einzige und ewige Offenbarung, die es gibt, und das Wunder, das, wenn es auch nur Einmal existiert hätte, uns von der absoluten Realität



Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen 537

jenes Höchsten überzeugen müßte« (618). Ohne Sensibilität für die Kunst ist auch kein Verständnis von Philosophie möglich: »Der eigentliche Sinn, mit dem diese Art von Philosophie aufgefaßt werden muß, ist also der ästhetische, und eben darum die Philosophie der Kunst das wahre Organon der Philosophie« (351). Wegen dieser Hochschätzung von Kunst hat man S. auch als ›Philosophen der Romantik‹ bezeichnet. Charakteristisch für seine Philosophie ist aber auch das Pathos der Freiheit. Nur in einem Idealismus, in dem Passivität nur als ein untergeordnetes Moment von Spontaneität gilt, könne wirkliche Freiheit gedacht werden. »Die Freiheit ist das einzige Prinzip, auf welches alles aufgebaut ist, und wir erblicken in der objektiven Welt nichts außer uns Vorhandenes, sondern nur die innere Beschränktheit unserer eigenen freien Tätigkeit« (379). – Wegen ihrer spekulativen Prämissen spielt diese Transzendentalphilosophie in neueren erkenntnistheoretischen Diskussionen kaum eine Rolle. Von Interesse ist sie v. a. für die Philosophie der Kunst. P. Rohs Ausgaben: Sämtliche Werke, Bd. 3, Stgt. 1858. – Einl.: W.  Schulz/

W. Erhardt, Hg.: H. Brandt, Hbg. 2 2000. – Hist.-krit. Ausg., Bd.  9, Stgt. 2005. Literatur: I.  Görland, Die Entwicklung der Frühphilosophie S.s in der Auseinandersetzung mit Fichte, Ffm. 1973. – M. Frank, Eine Einführung in S.s Philosophie, Ffm. 1985. – C.  Danz u. a. (Hg.), Sys­ tem als Wirklichkeit. 200 Jahre S.s »System des transzendentalen Idealismus«, Wzbg. 2001.

Friedrich Schiller *  10. 11. 1759 in Marbach am Neckar, †  9. 5. 1805 in Weimar; neben Johann Wolfgang von Goethe der bedeutendste Dichter und Kunstphilosoph der Weimarer Klassik.

Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen EA Tbg. 1795.

Die 27 Briefe gingen aus den sog. Augustenburger Briefen an den dänischen Erbprinzen F. C. v. Augustenburg hervor. S. erweitert seine Theorie der Kunst um den staatsphilosophischen Gedanken eines Vernunftstaates, bei dessen Aufbau die Kunst eine zentrale Rol­le spielt. Die gesellschaftspoli­ tische Funktionsbestimmung der Kunst basiert auf dem Anspruch, durch Veranschaulichung des Ideals eine Verbes-

538 Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen

serung der realen Zustände zu erreichen. Der Künstler »strebe, aus dem Bunde des Möglichen mit dem Notwendigen das Ideal zu erzeugen«; er »präge es aus allen sinnlichen und geistigen Formen und werfe es schweigend in die unendliche Zeit«. – Waren die Gegensätze Vernunft – Sinnlichkeit respektive Freiheit – Notwendigkeit in S.s Studie Über Anmut und Würde (1793) noch analytisch zu separieren und gewissermaßen durch quantitative Umverteilung mitein­ ander zu versöhnen, haben sie sich nun zu dynamischen Prozessen verselbständigt und einer regelrechten Vereinbarkeit entzogen. S.s Fassung dieser Gegensätze als »Stoff-« und »Formtrieb« gründet auf der anthropologischen Grundannahme, der zufolge der Mensch wesentlich getrennt ist in Person, d. h. in Form, Bleibendes einerseits, und in Zustand, d. h. Veränderliches, Bestimmung andererseits. Diese Spaltung durchzieht ihn wie ein Riss, der als solcher unüberwindbar ist. Das Unmögliche approximativ zu ermöglichen, ist die utopische Aufgabe des »Spieltriebs«. Dieser wird somit nicht als Synthese des an sich Unvereinbaren verstanden,  sondern als vorübergehende Überwindung einer existenziellen Spaltung

im Modus der Kunst. Das Paradoxe daran ist systematisch notwendig: Der Spieltrieb ist die »Aufhebung der Zeit in der Zeit«. Da die Spaltung zwischen Natur und Geist nicht überwunden werden kann, weil beide Seiten menschlicher Identität nicht aufeinander reduzierbar sind, kann es Versöhnung des Unversöhnten nur im ›Als ob‹ des ästhetischen Spiels, das sich »von allem Anspruch auf Realität ausdrücklich losgesagt« hat, geben. »Die Schönheit müßte sich als eine notwendige Bedingung der Menschheit aufzeigen lassen«. Es ist jene identitätstheoretische Konzeption des Menschen als zusammengesetzt aus dem Bleibenden seiner Person, die die Form jeder Möglichkeit ist, und dem Veränderlichen seines Zustands, der den empfindenden Teil des Menschen ausmacht, die zu der Annahme der zwei Grundtriebe führt: der Stofftrieb, der auf inhaltliche Füllung der Zeit dringt, und der Formtrieb, der dem Vergänglichen das Bleibende abzuringen sucht. Die Aufhebung der Entgegensetzung der beiden Grundtriebe ereignet sich im Spieltrieb, in dem der Mensch »empfinden [kann], weil er sich bewußt ist«, und »sich bewußt sein [kann], weil er empfindet«. Er wird somit



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zugleich als Materie und als Geist die Veränderlichkeit seiner Zustände mit dem Bleibenden seiner personalen Identität vereinbaren. Der spielende Mensch ist für S. die Verwirklichung der »lebenden Gestalt«. »Der Mensch spielt nur, wo er in der vollen Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt«. Der Spieltrieb bezweckt die moralische Freiheit der Person bei gleichzeitigem Genuss der Fülle des Lebens; seine Aufgabe ist es, das lebendi­ ge Dasein mit der sittlichen Form in ein harmonisches Verhältnis zu bringen. Einer einseitigen Herrschaft des Verstandes, deren Folgen Aufklärung und Französische Revolution gezeigt hatten, entgegenzuwirken, ist nach S. die Aufgabe des Empfindungsvermögens, bei des­sen Ausprägung die schönen Künste Wesentliches leisten. Durch die Vergegenwärtigung der menschenmöglichen Synthese von Freiheit und Schönheit im Kunstwerk wird dem Einzelnen sein eigenes Potenzial anschaulich und erzieherisch vermittelt. – S.s klassisches Erziehungsprogramm wirkte fort im Bildungsideal W. von Humboldts und in Spieltheorien des 20. Jh.s. In ihrer Bedeutung für eine anthropologisch fundierte und politisch motivierte

Ästhetik sind die Ästhetischen Briefe bis heute kaum zu über­ schätzen. E. Schürmann Ausgaben: Sämtliche Werke, Bd.  5, Hg.: G.  Fricke/H.  G. Göpfert, Mchn. 1959. – Nationalausg., Bd.  20, Hg.: L. Blumenthal/B. v. Wiese, Weimar 1962. Literatur: H.-G. Pott, Die schöne Freiheit, Mchn. 1980. – J. Bolten, S.s Briefe über die ästhetische Erziehung, Ffm. 1984. – G.  Plumpe, Ästhetische Kommunikation der Moderne, Bd. 1, Opladen 1993.

Über das Erhabene ED Lpzg.  1801 (in: Kleinere pro­ saische Schriften, Bd. 3).

In dieser Schrift zieht S. die Summe seiner Studien Über die tragische Kunst (1792), Vom Erhabenen (1793) und Über das Pathetische (1801). Es geht um eine kunsttheoretische Begriffsbestimmung des Erhabenen im Unterschied zum Schönen und im Zusammenhang mit der Freiheit. – Als sinnliches Naturwesen muss der Mensch sterben, steht also unter den Bedingungen der Notwendigkeit, nicht der Freiheit. Als sittliches Wesen aber ist er immerhin freiheitsfähig; er kann den Tod »dem Begriff nach […] vernichten«, d. h. sich bewusst dazu verhalten. Solche Freiheit dem Zwang entgegenzusetzen,

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Schiller: Über das Erhabene

ist eine der wesentlichen Aufgaben der Kunst, die damit eine Wesensbestimmung des Menschen rettet: »Alle anderen Dinge müssen; der Mensch ist das Wesen, welches will«. Durch Kunst gibt es die Möglichkeit, im Modus des ›Als ob‹, d. h. unabhängig von unmittelbarer Betroffenheit, Erfahrungen von Tod, Leid und Gewalt in sublimierter Form zu machen und sich darin über den Zwang zu erheben. Diese Erhebung – die Erfahrung des Erhabenen – rettet die Würde des Menschen. Das Erhabene zeigt sich wesentlich in extremen Katastrophensituationen von zerstörerischem Ausmaß; im Spiel und im Schein der Kunst hingegen wird es als nicht-tödliche Todeserfahrung erlebbar: Ästhetische Vergegenwärtigungen des Erhabenen konfrontieren nicht nur mit Schrecklichem, sondern vermitteln auch Anschauungen möglicher Verhaltensweisen  dazu. »Wir erfahren durch das Gefühl des Erhabenen, daß […] wir moralisch selbständig« sind. Während die Schönheit für S. in der Harmonie von Sinnlichkeit und Sittlichkeit besteht, liegt die Erhabenheit in der übergroßen Ausprägung der »reinen Intelligenz«. Vermitteln in der Natur etwa der Sternenhimmel oder eine »unfaßbare Quanti-

tät« ein Gefühl des Erhabenen, so vermittelt in der Geschichte die Übermacht schicksalhafter Zusammenhänge über das Individuum diese Erfahrung. Die gesamte Weltgeschichte gilt S. daher als »erhabenes Objekt«. Sein Geschichtsverständnis ist jedoch durchaus kein Fortschrittsoptimismus: »Nähert man sich der Geschichte mit großen Erwartungen von Licht und Erkenntnis – wie sehr findet man sich da getäuscht!« Doch die Betrachtung der Geschichte als »Konflikt der Naturkräfte mit der Freiheit des Menschen« lässt das Erhabene daran hervortreten. Verzichtet man auf vollständige Erklärbarkeit und macht die »Unbegreiflichkeit [der Geschichte] selbst zum Standpunkt der Beurteilung«, erscheint sie als »pathetisches Gemälde der mit dem Schicksal ringenden Menschheit«. Dieses Erhabenheitspotenzial der Geschichte in der »tragischen Kunst nachahmend vor unser Auge« zu bringen, ist nach S. der einzige Weg, die Würde des Menschen zu sichern. – Innerhalb der Erhabenheitsästhetik, die insbesondere durch J. F. Lyotards Buch Der Widerstreit eine Revitalisierung erfuhr, markiert S.s Aufsatz eine bis heute viel rezipierte Position. E. Schürmann



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Ausgaben: Sämtliche Werke, Bd.  5, Hg.: G.  Fricke/H.  G. Göpfert, Mchn. 1959. – Natio­ nalausg., Bd.  21/2, Hg.: L.  Blu­ menthal/B. v. Wiese, Weimar 1963. Literatur: W. Düsing, S.s Idee des Erhabenen, Köln 1967. – K. L. Berghahn, Das Pathetischerhabene, in: ders., S., Ffm. 1986. – K.  Petrus, S. über das Erhabene, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 47, 1993, 23–40.

Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher * 21. 11. 1768 in Breslau, † 12. 2. 1834 in Berlin; Theologe und Philosoph, Begründer der modernen Hermeneutik.

Hermeneutik EA Bln.  1838 (postum u.  d.  T. Hermeneutik und Kritik mit besonderer Beziehung auf das Neue Testament, in: Sämmtliche Werke, Abt. I, Bd. 7, Hg.: F. Lücke).

Mit dieser Schrift erweitert S. die theologische oder juristische Spezialdisziplin der Hermeneutik zu einer allgemeinen Lehre vom Verstehen, wobei er an die Methodenlehre seiner Dialektik (1839) und den Wissensbegriff seiner Ethik (1836) anknüpft. Überliefert ist das Werk nur in Vorlesungsmanuskripten (1819, ergänzt 1826/27 und 1832/33) und -nachschriften. – Das Bedürf-

nis nach einer allgemeinen Verstehenslehre entsteht nach S. mit der Einsicht, dass die Überlieferung eines Sinngebildes von einer individuellen Aneignung abhängt. Verstanden werden immer Äußerungen einzelner Autoren oder Sprecher, die einen allgemeinen (teilbaren) Sinn in einer individuellen Form zur Erscheinung bringen. Die Auslegung muss sich daher notwendig zwischen einer ›grammatischen‹ und einer ›psychologischen‹ Interpreta­ tion bewegen. Erstere entdeckt in einer gegebenen Äußerung die Wirkung eines zugrunde liegenden Sprach›systems‹, das die einzelnen Bedeutungen regiert. Vor seinem Hintergrund erschließt Letztere die individuelle Intention des einzelnen Autors. Verstehen strebt nach Verständigung, verfügt aber nur über individuelle Kriterien dafür, ob sie erreicht ist. Damit ist für S. das Feld der Interpretation abgesteckt: Sie errät den Sinn einer Äußerung, die zur Umgestaltung von Sprachregelungen beigetragen hat (subjektiv oder objektiv ›divinatorisch‹), und ordnet sie in einen Zusammenhang ein, in den auch das eigene Verstehen gehört (subjektiv und objektiv ›geschichtlich‹). An die Hermeneutik schließt sich die Disziplin der Kritik an, welche die

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Schmitt: Der Begriff des Politischen

Identität und Zugehörigkeit textlicher Äußerungen beurteilt. Ihr Hauptgegenstand sind sprachliche Abweichungen, die in unwillkürliche Fehler und absichtsvolle Varianten unterschieden werden. – Durch W. Dilthey wurde S.s Hermeneutik zum Ausgangspunkt einer Philosophie, die sich mit Blick auf die Geschichtlichkeit des Verstehens als eine von Grund auf hermeneutische versteht. Eine kurze Renaissance erfuhr sie in der Konfrontation der Hermeneutik Heideggers und Gadamers mit analytischen und neostrukturalistischen Theorien der Interpretation, da sie die unableitbare Individualität alles Verstehens betont. S. Hübsch Ausgaben: Nach den Handschriften neu hg. und eingel. v. H. Kimmerle, Heidelberg 1959. – Hermeneutik und Kritik. Mit einem Anhang sprachphilosophischer Texte S.s, Hg.: M. Frank, Ffm. 92011. Literatur: H. Kimmerle, Die Hermeneutik S.s im Zusammenhang seines spekulativen Denkens, Heidelberg 1957. – M. Frank, Das individuelle Allgemeine, Ffm. 1977 (ND 2001). – R. Rieger, Interpretation und Wissen, Bln. 1988 (S.Archiv  6) – G. Scholtz, Ethik und Hermeneutik, Ffm. 1995.

Carl Schmitt *  11. 7. 1888 in Plettenberg, †  7. 4. 1985 in Plettenberg; einer der einflussreichsten und aufgrund  seiner Nähe zum Nationalsozialismus umstrittensten Juristen des 20. Jh.s.

Der Begriff des Politischen EV Tbg.  1927 (in: Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik 58); EA Mchn./Lpzg. 1932 (erw.); Hbg. 1933 (bearb.).

Der Begriff des Politischen ist S.s erfolgreichste Schrift, deren verschiedene Ausgaben nicht unerheblich differieren. Die Schrift enthält acht Thesen. 1. »Der Begriff des Staates setzt den Begriff des Politischen voraus«. 2. Das Kriterium des Politischen sei »die Unterscheidung von Freund und Feind«. 3. Der Feind sei öffentlicher Feind (hostis), nicht privater Gegner (inimicus). 4.  Politisch sei die Orientierung am »Ernstfall«. 5. Der Staat bestimme den äußeren und inneren Feind. Er unterscheide sich von anderen Assoziationen durch das ius vitae ac necis. 6. Einen Weltstaat könne es nicht geben. 7.  Alle echte politische Theorie setze den Menschen als ›böse‹ vor­ aus. 8. Der Liberalismus sei ein System der Entpolitisierung. Er lasse aus politischen Begriffen ökonomische oder ethische



Schmitt: Politische Theologie 543

werden: aus ›Kampf‹ ›Konkurrenz‹ und ›Diskussion‹, aus ›Staat‹ ›Gesellschaft‹ und ›Menschheit‹, aus ›Volk‹ ›Konsumenten‹ und ›Publikum‹, aus ›Herrschaft‹ ›Kontrolle‹ und ›Propaganda‹. – Die Schrift setzt die Kritik fort, die S. in Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus (1923) an der liberalen Demokratie und am Bürgertum als der »diskutierenden Klasse« geübt hatte. Sie ist ein antibürgerliches und in der Ablehnung des Weltstaates auch ein antiuniversalistisches, gegen Genf und Weimar gerichtetes nationales Manifest. Das Kriterium des Politischen entgrenzt die Politik, die bisher vom Staat monopolisiert worden war. Das Politische soll sich allenthalben finden, wo immer Menschen sich intensiv assoziieren oder dissoziieren. Der Staat wird einerseits totgesagt, andererseits wird ihm noch eine Lebenschance eingeräumt, so er noch zu souveräner Entscheidung und einer am Ernstfall orientierten Politik in der Lage sein sollte. – Kritik hat sich entzündet an S.s politischem Existenzialismus. Man warf diesem vor, ein okkasioneller, inhaltsleerer Dezisionismus zu sein (Löwith, v. Krockow). S. habe einen Primat der Feindschaft, der Außenpolitik und

des Krieges angesetzt, und das sei so, als ob man eine Ehe von der Scheidung her begreife (Stern­ berger). Diese Kritik wurde meist im Namen der aristotelischen Freundschaftslehre vorgebracht, neuerdings ist sie auch dekonstruktivistisch (Derrida) begründet worden. Ob im Begriff des Politischen politische Theologie im Spiel ist (Meier 1988), ist kontrovers. Ob S. sein ›Kriterium‹ des Politischen von de Barrientos, einem spanischen Tacitisten, oder von Hans Morgenthau übernahm, wird weiter zu diskutieren sein. H. Ottmann Ausgaben: Bln. 1963; 82009 (Text von 1932). Literatur: H. Meier, C.  S., Leo Strauss und »Der Begriff des Politischen«, Stgt. 21998. – R.  Mehring (Hg.), C. S., »Der Begriff des Politi­ schen«. Ein kooperativer Komm., Bln. 2003. – H.  Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Bd.  4/1: Das 20.  Jh., Stgt. 2010, 215–274.

Politische Theologie EA Mchn.  1922 (die ersten drei Kapitel zusätzlich veröffentlicht u. d. T. Soziologie des Souveränitäts­ begriffs und politische Theologie, in: Hauptprobleme der Soziologie.  Erinnerungsgabe für Max Weber, Mchn.  1923); Mchn.  21934 (bearb.).

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Schmitt: Politische Theologie

»Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet« – ausgehend von diesem berühmten ersten Satz will S. in den ersten beiden Kapiteln die Bedeutung des Begriffs der ›Souveränität‹ als »Grenzbegriff« der Rechtstheorie herausarbeiten, der in der liberalen, insbesondere der rechtspositivistischen (Kelsen) Rechtsstaatstheorie aufgrund der dort behaupteten ›Identität von Staat und Rechtsordnung‹ systematisch ausgeblendet werden müsse, denn der Ausnahmezustand soll dadurch charakterisiert sein, »daß der Staat bestehen bleibt, während das Recht zurücktritt.« Am Phänomen des Ausnahmezustands komme das rechtsstaatliche Programm ei­ ner durchgehenden rechtlichen Bindung der Staatsgewalt an eine notwendige Grenze, weil weder die Feststellung, ob der Ausnahmezustand vorliege, noch der genaue Inhalt der im Ausnahmezustand gegebenen Befugnisse rechtlich normiert werden könne. – Das dritte Ka­pitel soll zeigen, dass nicht nur für den Souveränitätsbegriff, sondern allgemein gilt: »Alle prägnanten Begriffe der mo­ dernen Staatstheorie sind sä­kularisierte theologische  Begriffe. Nicht nur ihrer historischen Entwicklung nach, […] sondern auch in ihrer

systematischen Struktur.« Politische Begriffe sind danach nur vor einem theologischen Hintergrund verständlich; es ist die zentrale These S.s, dass es zwischen dem »metaphysischen Bild« einer Epoche und der »Form ihrer politischen Or­ ganisation« eine Struktur­ identität gebe: Die Monarchie beruhe auf dem Gottesglauben, Demokratie und Rechtsstaat gehörten in ein Zeitalter, das »von Immanenzvorstellungen be­herrscht« werde. – Das vierte Kapitel unterscheidet von dem aus S.s Sicht eigentlich unpolitischen Pseudokonservatismus der deutschen Romantiker die tatsächlich »gegenrevolutionäre Staatsphilosophie« von De Maistre, Bonald und v. a. Donoso Cortés. Jede politische Theorie müsse den Menschen als »›von Natur gut‹ oder ›von Natur böse‹« voraussetzen. Die erste Annahme führe in Konsequenz zum atheistischen Anarchismus Bakunins, Letztere zu Donosos Rechtfertigung der Diktatur. Die Möglichkeit einer Vermittlung dieser Extreme, wie sie der Liberalismus versuche, werde von Donoso Cortés, dessen Position S. hier erkennbar mit Sympathie beschreibt, als Ausweichen vor der anstehenden »blutige[n] Entscheidungsschlacht« in die »Diskussion« lächerlich gemacht. – Die Re-



Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung 545

zeptionsgeschichte ist verzweigt und führt rasch ins Uferlose. In Reaktion auf Erik Petersons Behauptung der Unmöglichkeit einer Politischen Theologie auf christlicher Grundlage (Der Monotheismus als politisches Problem, 1935) und auch in Ausein­ andersetzung mit Blumenberg hat S. noch 1970 die allerdings eher esoterische Politische Theologie II. Die Legende von der Erledigung jeder politischen Theologie geschrieben. Der Ausdruck ›Politische Theologie‹ hat sich gegen den Kontext der Schrift S.s verselbständigt und ist später beispielsweise auch von Johann Baptist Metz in einem zu S. gegenläufigen Sinn benutzt worden. – S.s Konstruktion des Ausnahmezustands als eines rechtsbegründenden Zustands, in dem die mit dem Staat identifizierte Exekutive jedoch aus allen positivrechtlichen Bindungen freigesetzt ist, steht in Kontinuität mit einer der zentralen Intentionen S.s in diversen Schriften, nämlich der rechtstheoretischen Legitimation der Diktatur. Dies führt S. politisch in den 1930er Jahren zunächst zur Rechtfertigung der Präsidialdiktatur, dann zum offenen Engagement für den Faschismus. Zugleich hat S., indem er »erstmals den  Souveränitätsbegriff von der Gesetzgebungsfunktion auf

die Exekutivfunktion umpolt« (I.  Maus), auch die Rezeption des Begriffs der ›Volkssouveränität‹ und damit generell der Demokratietheorie des 18. Jh.s bis heute verstellt und belastet. T. Reiss Ausgabe: Bln. 1979. Literatur: J. Taubes (Hg.), Der Fürst dieser Welt. C.  S. und die Folgen, Mchn. u. a. 1983. – J. Manemann, C.  S. und die Politische Theologie. Politischer Anti-Mono­ theismus, Münster 2002. – I. Maus, Über Volkssouveränität. Elemente einer Demokratietheorie, Bln.  2011, Kap. II.4, 93–119.

Arthur Schopenhauer * 22. 2. 1788 Danzig, † 21. 9. 1860 Frankfurt am Main; Philosoph der Metaphysik des Willens.

Die Welt als Wille und ­Vorstellung (Bd. I: Vier Bücher, nebst einem Anhange, der die Kritik der Kantischen Philosophie enthält, Bd. II: Welcher die Ergänzungen zu den vier Büchern des ersten Bandes enthält), EA Lpzg. 1819 (Bd. I), 1844 (Bd. II, zus. mit überarb. Bd. I).

Der Philosophie Schopenhauers liegt ein einziger Gedanke zugrunde, den der Titel des Hauptwerks kurz und bündig formuliert. Er besagt, dass »diese Welt, in der wir leben und sind, ihrem ganzen Wesen

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Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung

nach, durch und durch Wille und zugleich durch und durch Vorstellung ist«. »Welt als Vorstellung« meint, dass die Welt des Menschen eine Welt des Bewusstseins ist. Mit »Welt als Wille« ist das gemeint, was die Welt darüber hinaus noch ist, insofern sie nicht Vorstellung eines Bewusstseins ist. Unabhängig von der Vorstellung ist die Welt an sich betrachtet Wille. Der Wille ist das Wesen der Welt. Die Welt ist Vorstellung (Erscheinungswelt) und zugleich Wille (Wesen oder Ding an sich). Diesem Gedanken ist durchgängig ein pessimistischer Grundzug eingeschrieben. Lediglich aus Gründen der Darstellbarkeit wird dieser unteilbare eine Gedanke, der ein organisches Ganzes ist, in vier Hauptgesichtspunkte (Buch  1–4) geteilt, so dass jedes Buch für sich einseitig ist, wenn es nicht von den übrigen ergänzt und relativiert wird, weshalb der Leser das Werk zweimal lesen soll, um dessen Gedanken­organismus verstehen zu können. Der eine Grundgedanke wird methodisch von wechselnden, sich gegenseitig kompensierenden Standpunkten analysiert und gedeutet, wozu für Schopenhauer die wesentlich erweiterten Gesichtspunkte des zweiten Bandes von 1844 unverzichtbar

dazugehören. Je nachdem von welchem Gesichtspunkt aus der eine Gedanke betrachtet wird, zeigt er sich als Erkenntnis­ leh­ re (Buch  1), Metaphysik der Natur (Buch  2), Metaphysik des Schönen (Buch  3) und Meta­ physik der Sitten (Buch  4). – Schopenhauer begreift se­ ine Erkenntnislehre als Trans­zendentalphilosophie (Buch  1), für die der unmittelbare Gegenstand der Philo­ sophie nicht die Dinge sind, sondern allein das Bewusstsein von den Dingen. Die »idea­ listische Grundansicht« besagt, dass keiner aus seinem Bewusstsein he­r­aus kann, um zu sehen, was die Dinge der Vorstellungs­welt unabhängig vom Bewusst­ sein sind. Diese Urbedingung der Erkenntnis gilt es, auch ­in der Metaphysik erkenntnis­kri­tisch zu berücksichtigen. Die Erkenntnislehre zeigt, dass die Welt als Vorstellung kons­ti­tuiert ist aufgrund aprioris­cher  Gesetzmäßigkeiten (Raum, Zeit, Kausalität). Eigentüm­lich für S.s Erkenntnislehre ist, dass er den Intellekt einer doppel­ten Betrachtungsweise unterwirft, wonach die apriorischen Erkenntnisformen einmal transzendentallogisch als Formen der Erkenntnis und einmal physiologisch als Gehirnfunktionen aufgefasst werden. Die Welt als Vorstellung



Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung 547

wird somit auch materialistisch als ein »Gehirnphänomen« begriffen. – In der Metaphysik der Natur (Buch  2) wird die Welt als Vorstellung einer Interpretation unterzogen. »Die ganze Natur ist eine große Hieroglyphe, die einer Deutung bedarf.« Den Schlüssel für die Entzifferung liefert die Erfahrung des eigenen Leibes, der nicht nur als Vorstellung, als Objekt unter Objekten, gegeben ist, sondern noch auf eine ganz andere Weise: als »Wille«. S. überträgt diese doppelte Leiberfahrung – Willensseite und Vorstellungsseite – auf die gesamte Natur. In seiner metaphysischen Interpretation unterlegt er der Welt als Vorstellung analog zur eigenen Leiberfahrung einen Willen, der der eigenen Willenserfahrung (lediglich) ähnlich ist. Der Terminus ›Wille‹ erhält durch diese Übertragung auf die Natur bzw. die gesamte Welt als Vorstellung eine neuartige, erweiterte Begriffsbestimmung. S. versteht den Willen als blinden Lebensdrang, aber z. B. auch als Urquelle aller Rea­ lität, als Materie, als Schmerz, als Schuld. Das metaphysi­ sche Wesen der Welt, das aus­ schließlich als innerweltliches, nicht als transzendentes Weltprinzip gedeutet wird, ist etwas Nicht-Göttliches, Nicht-Ratio­ nales, Nicht-Bewusstes. Der

neu ge­ wonnene Blickwinkel der Metaphysik revolutioniert die traditionelle Rangordnung von Intellekt und Wille. Ein zentrales Anliegen von S. ist, den »Grundirrthum aller Philosophen« zu überwinden, dass der Intellekt der ursprüngliche Ort des Willens sei. Der Wille als »Ding an sich« ist gleichsam die Substanz des Menschen, der Intellekt das Akzidenz. Der Wille als Wesensgrund des Menschen wie der Welt ist durch Vernunft nicht beherrschbar. Mit dem Menschen betritt ein unersättlich wollendes »Raubthier« die Arena der Welt, das sich durch sein spe­ zielles Werkzeug, die dem Willen dienende Vernunft, egozentrisch die Pflanzen- und Tierwelt untertan macht, indem es die Natur »für ein Fabrikat zu seinem Gebrauch« ansieht. Zudem ist der Mensch dem Menschen ein Wolf, und inmitten des Fortschritts droht der »Rückfall in die Barbarei«. »Alles Leben [ist] Leiden.« – Kurze Entlastung vom Leid gewährt die kontemplative Erfahrung der Kunst, die der Gegenstand der Metaphysik des Schönen (Buch 3) ist. Kunst ist die vertiefte ruhige Betrachtung und Darstellung der Platonischen Ideen, der idealen Musterbilder der Gattungen. In der beglückenden ästhetischen Schau des

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Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung

Schönen wird die Welt mit anderen Augen gesehen. Der Betrachtende »verliert sich« in den Gegenstand und wird für Augenblicke »reines, willenloses, schmerzloses, zeitloses Subjekt des Erkennens«. Kunst entlastet vom leidvollen Leben und weist auf die »Möglichkeit eines Daseyns, das nicht im Wollen besteht«. Unter allen Künsten nimmt die Musik den höchsten Rang ein. – Die Metaphysik der Sitten (Buch  4) behandelt die metaphysische Schuld der Individuation und die Perspektive der Erlösung. Die Macht des Egoismus und der Grausamkeit ist dadurch zu brechen, dass ich mich mit dem Anderen (auch mit dem Tier) identifiziere, mit ihm mitempfinde, sein Leiden als mein eigenes fühle. Im Mit-Leiden liegt mir das Wohl und Wehe des anderen unmittelbar am Herzen und wird zum Beweggrund meines Handelns, und dies nicht, weil ich mitleidig sein soll, sondern weil ich es (gegebenenfalls) bin. Im Mit-Leiden wird intuitiv die metaphysische Einheit des Willens in allen seinen Erscheinungen erblickt. Ein und dasselbe Wesen ist es, das sich in allem Lebenden darstellt und leidet. Dafür steht die indische Formel tat twam asi (›dieses Lebendige bist du‹). Aus dieser veränderten intuitiven Er-

kenntnis der Allgemeinheit des Leidens kann die völlige (den Selbstmord aber ausschließene) »Verneinung des Willens zum Leben« hervorgehen. Sie ist die »Erlösung« von der Welt, von der Sinnlosigkeit des Lebens. An die Stelle der Welt als Wille und Vorstellung tritt das »relative Nichts« oder, wie die Buddhisten es nennen, das ›Nirwana‹. – Die komplette Thematik des Werks wird in einer vierteiligen Vorlesung von 1820 noch umfassender reformuliert: Vorlesung über Die gesammte Philosophie d. i. Die Lehre vom Wesen der Welt und von dem menschlichen Geiste (EA Mchn. 1913). – Das Werk wirkte mit seiner pessimistischen Vernunftkritik weit über die Philosophie (Nietzsche, Bergson) hinaus und übte Einfluss aus u. a. auf Literatur und Kunst (Wagner, L.  Tolstoi, T.  Mann), Psychologie (Freud), Anthropologie (Gehlen) und kritische Sozialforschung (Horkheimer). V. Spierling Ausgaben: Sämtliche Werke, 7 Bde., Hg.: A. Hübscher, Bde. II und III, Wiesbaden 31972. – Philosophische Vorlesungen. Aus dem handschriftlichen Nachlaß, 4 Bde., Hg.: V.  Spierling, Mchn. 21987– 90. – Werke in fünf Bänden mit Beibuch, nach den Ausgaben letzter Hand, Hg.: L.  Lütkehaus, Bde.  I und II, Zürich 31994.



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Literatur: V. Spierling, A. S. Philosophie als Kunst und Erkenntnis, Ffm. 1994. – V.  Spierling, A.  S. zur Einführung, Hbg. 32010. – V.  Spierling, Kleines S.-Lexikon, Stgt. 2010.

John Rogers Searle *  31. 7. 1932 in Denver (Colo.); Philosoph der analytischen Tra­ dition mit einflussreichen Beiträgen zur Sprachphilosophie, Handlungstheorie, Philosophie des Geistes und Sozialontologie.

The Construction of Social Reality (engl.; Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit), EA NY 1995.

Mit diesem Werk führt S. sein philosophisches Programm fort, innerhalb dessen er zuvor schon Arbeiten zur Sprach­ philosophie (→  Speech Acts) und zur Philosophie des Geistes (→ Intentionality) vorgelegt hatte. In The Construction of Social Reality geht S. der Frage nach, wie es eine objektive Welt institutioneller Tatsachen in einer Welt geben kann, die einzig aus physischen Partikeln in Kraftfeldern besteht und in der bewusste biologische Wesen wie wir existieren. Als zentrale Beispiele für solche institutio­ nellen Tatsachen gelten hier u. a. Geld, Ehe, Regierungen,

Wahlen, Footballspiele, Cocktailparties und Gerichtshöfe. S.s Analyse der objektiven Existenz, Entstehung und Struktur dieser Bestandteile der sozialen Wirklichkeit ist als systematische Grundlegung einer Sozialontologie anzusehen. Das Werk ist als Darlegung einer analytischen, auf sprach- und geistphilosophische Argumente zurückgreifenden Konzep­ tion über die Fachdiskussionen der Sozialphilosophie und Philosophie der Sozialwissenschaften hinaus einflussreich. – Die zentrale, im Titel zum Ausdruck gebrachte These des Werks besagt, dass die soziale und institutionelle Wirklichkeit, die den Großteil unseres alltäglichen Lebens bestimmt, durch spezifische soziale Prozesse konstruiert wird. Institutionelle  Tatsachen seien, so S., in ontologischer Hinsicht beobachterrelativ bzw. subjektiv, insofern ihre Existenz von geteilten  intentionalen  Haltungen und kollektiver Akzeptanz abhängig sei; in epistemischer Hinsicht seien sie objektiv, insofern ihr Bestehen und ihre Bedeutung beobachterunabhängig etabliert sei. Grundlegend für die Struktur der sozialen Realität sind S. zufolge vier Bausteine: 1. die Zuschreibung von Funktionen an Gegenstände, 2.  kollektive In-

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Searle: The Construction of Social Reality

tentionalität, welche die Form individueller intentionaler Einstellungen in Bezug auf koordiniertes Handeln oder geteilte Praxis bezeichnet, 3.  konstitutive Regeln der Form ›X gilt als Y im Kontext K‹ und 4. der Hintergrund nicht- oder vorintentionaler Fähigkeiten, der intentionalem Verhalten, sozialer Kooperation und Teilnahme an sozialer Praxis zugrunde liegt. Das Kernstück von The Con­ struction of Social Reality liegt in S.s Antwort auf die Frage, wie mittels bzw. auf der Grundlage dieser Bausteine institutionelle Tatsachen kreiert werden. Jeder Prozess und jede Situation, die durch kollektive Intentionalität der Form »wir beabsichtigen (oder glauben) X« gekennzeichnet ist, ist S. zufolge eine soziale Tatsache. Insti­tutionelle Tatsachen, die eine Teilmenge der sozialen Tatsachen bilden, kommen nach S.s Konzeption in einem ersten Schritt dadurch zustande, dass einem Gegenstand oder Sachverhalt kollektiv ein Status zugeschrieben wird, den er nicht aufgrund etwa seiner physischen Eigenschaften hat. Diese Zuschreibung kann durch die Formel »X gilt als Y im Kontext K« repräsentiert werden; sie muss nicht jedem Beteiligten bewusst sein; sie kann zum Prinzip werden und damit einen normativen

Status begründen, wodurch die genannte Formel zur konstitutiven Regel wird; während solche Regeln den Status eines Gegenstandes bestimmen, sind es Konventionen, aus denen hervorgeht, welchen Gegenständen ein spezifischer Status zukommt, und schließlich ist eine festgelegte und etablierte sprachliche Bezeichnung mitkonstitutiv für institutionelle Tatsachen. Als Paradebeispiel gilt S. Geld und insbesondere die Tatsache, dass bestimmte Papierscheine an bestimmten Orten als Geld gelten, was durch die genannten sozialen Prozesse und normativen Strukturen zu erklären sei. S. führt aus, dass sich die Analyse dieses Beispiels mittels Ex­ p­ likationen der Iterierbarkeit, des komplexen Ineinandergreifens konstitutiver Regeln und der logischen Struktur von Konventionen verallgemeinern lassen. Der zweite Teil des Werks, die Kapitel sechs bis neun, sind der Erörterung der sozialen Dispositionen individueller Akteure sowie der erkenntnis- und wahrheitstheo­ retischen Implikationen des Theorieentwurfs gewidmet. D. Schweikard Ausgabe: Dt., Hbg. 1997. Literatur: D. R. Koepsell/L. S. Moss (Hg.), J.  S.’s Ideas about Social Reality – Extensions, Criticisms



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and Reconstructions, Oxfd. 2003. – M. Kober/J. G. Michel, J. S., Paderborn 2011.

Intentionality. An Essay in the Philosophy of Mind

(engl.; Intentionalität. Eine Abhandlung zur Philosophie des Geistes), EA Cambr. 1983.

Das Werk ist einer der wichtigsten Beiträge zur gegenwärti­gen Philosophie des Geistes und wird von S. als philosophi­sche Basis seiner Sprachphiloso­phie vorgestellt. Ausgehend von Freges Semantik präsentiert S. darin einen nicht-ontologischen Ansatz zu einer Intentiona­ li­ tätstheorie anhand der allgemeinen Fragestellungen ›Welches sind die logischen Merkmale intentionaler Zustände?‹ und ›Wie beziehen sich intentionale geistige Phänomene auf Sachverhalte?‹. In der Erör­ te­ rung dieser Fragen sowie von Wahrnehmung, Handlung, Ei­ gennamen setzt sich S. von verschiedenen Kausaltheorien ab, von ›nicht-deskriptivischen‹ Theorien (Putnam, Burge, Kaplan, Kripke, Donnellan) sowie vom Behaviorismus, von Wittgenstein u. a., die glau­ben, es gebe keine ›internalistische Theorie‹ von Referenz. Jeder intentionale Zustand besteht aus einem intentionalen Gehalt in einem gewissen psy-

chischen Modus. Ist diesem intentionalen Gehalt eine Proposition und eine Ausrichtung (z. B. Geist-auf-Welt) gegeben, dann legt der intentionale Gehalt die Erfüllungsbedingungen (oder Erfolgsbedingungen) vom Standpunkt des Subjektes aus fest: Wenn ich z. B. glaube, dass es regnet, dann sind die Erfüllungsbedingungen meiner Überzeugung: dass es der Fall sei, dass es regnet. Einige Arten der Intentionalität, z. B. Wahrnehmen, zeigen sich als kausal selbstbezüglich, weil der visuelle intentionale Gehalt in seinen ­eigenen Erfüllungsbedingungen vorkommt. Mit dem wichtigen Begriff der ›kausalen Selbst­ bezüglichkeit‹ ar­gumentiert S. gegen eine Kausaltheorie und gegen einen Phänomenalismus der Sprache, indes spricht er sich ansatzweise für Freges Analyse zur Referenzproblematik und den Husserl’schen Begriff von Intentionalität aus (z.  B. Wahrnehmung als eine intentionale und kausale Transak­ tion zwischen Geist und Welt). Die intentionale Ausrichtung ist eine Geist-aufWelt-Beziehung, die Richtung der Verursachung, wie sie vom intentionalen Gehalt festgelegt ist, eine Welt-auf-Geist-Beziehung;  beide Ausrichtungen sind voneinander unabhängig. Doch sie müssen zusammen-

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Searle: Speech Acts

passen, um ein visuelles Erlebnis zu bewirken. Es gehört zum Gehalt des visuellen Erlebnisses, dass es, um erfüllt zu sein, von einem intentionalen Gegenstand verursacht sein muss. Die Erfüllungsbedingun­gen des intentionalen ­Zustandes  werden entsprechend seiner Po­si­ tion im Rahmen eines Netzwerkes intentionaler Zustände (Repräsentationen)  und vor dem Hintergrund von Prak­tiken und vorintentionalen  Annahmen (nicht-repräsentatio­na­ler geis­ ti­ger Fähigkeiten) bestimmt. In seinem kurzen  »Epilog: Inten­ tionalität und das Hirn« verlässt S. die logische Ebene der Untersuchung: Überzeugungen und Wünsche sind echte kausale Merkmale des menschlichen Gehirns; geistige Zustände werden sowohl von dessen Aktivitäten verursacht als auch in dessen Struktur (und der des restlichen Zentralnervensystems) realisiert. S. bezeichnet deshalb seine Position als »biologischen Naturalismus«. – S.s Schrift ist weltweit sehr einflussreich, da sie einerseits kritische Diskussionen in der Philosophie des Geistes und in den Kognitionswissenschaften provozierte und andererseits der analytischen Tradition der Sprechakttheorie einen Weg hin zur Phänomenologie öffnete. C. Schües

Ausgaben: Cambr. 1995 (ND der Ausg. 1983). – Dt., Ü.: H. Gavagai (1987), Ffm. 2009. Literatur: R. McIntyre, S. on Intentionality, in: Inquiry 27, 1984, 468–483. – E. Holenstein, S.s Hintergrund, in: Dilthey-Jahrbuch 3, 1985, 235–259. – M. Kober/J. G. Michel, J.  S., Paderborn 2011. – D.  Franken/A.  Karakuş/J. G. Mi­ chel (Hg.), J. R. S. Thinking About the Real World, Ffm. 2011.

Speech Acts. An Essay in the Philosophy of Language

(engl.; Sprechakte. Ein sprachphilo­ sophischer Essay), EA Cambr. 1969.

Eingebunden in die Tradition der angelsächsischen Sprachphilosophie, steht S.s bekanntestes Werk vor dem Hintergrund von Austins Versuch, den ›performativen‹ Charakter von bestimmten sprachlichen Äußerungen (wie Grüßen oder Versprechen) auf alle sprach­ lichen Äußerungen auszudehnen. Auf eine Erläuterung der Theorie der Sprechakte im 1.  Teil des Werks folgen Anwendungsbeispiele. Nach S. bedeutet Sprache, Sprechakte auszuführen, also etwa Behauptungen zu äußern oder Fragen zu stellen. Nicht Wörter oder Symbole, sondern der Vollzug von Sprechakten ist die kleinste Einheit der sprachlichen Kommunikation. Sprechakte sind Sprachhandlungen, die jeweils



Searle: Speech Acts 553

in einen Kommunikationskontext eingebettet sind und deren Gelingen vom Einhalten bestimmter konstitutiver Regeln abhängt. Diesen Regeln liegen Konventionen und institutionelle Tatsachen zugrunde. Das Sprechen ist für S. somit eine regelgeleitete Form des zielgerichteten Verhaltens, und daher ist seine Sprachtheorie Teil einer Handlungstheorie. Wichtig für S.s Konzeption ist das »Prinzip der Ausdrückbarkeit«, d. h. dass man prinzipiell alles, was man meinen, auch sagen kann. S. erstellt verschiedene Regeltypen (Regeln des propositionalen Gehalts, Einleitungs-, Aufrichtigkeitsregeln), denen die verschiedenen »illokutionären Rollen« (z. B. Auffordern, Behaupten, Fragen) unterstehen. Im Mittelpunkt seiner Untersuchung steht die Analyse des »propositionalen Aktes«, d. h. des intendierten Gehaltes eines Aktes, der nicht selbständig, ohne den Vollzug eines illokutionären Aktes, vorkommen kann. Die Unterscheidung zwischen dem illokutionären Akt und dem propositionalen Gehalt ist deshalb wichtig, da zum einen nicht alle illokutionären Akte einen propositionalen Gehalt haben (z. B. Freudensrufe wie ›hurra‹) und da zum anderen, so S.s zentrale These, verschie-

dene illokutionäre Akte einen gemeinsamen Inhalt haben können. Der propositionale Akt setzt sich zusammen aus: 1.  dem selbständigen Akt der »Referenz«, durch den der Sprecher mithilfe eines hinweisenden Ausdrucks (Eigennamen, Nominalausdrücke, Pronomina) auf ein oder mehrere Einzeldinge hinweisen oder sie identifizieren kann, und 2. dem unselbständigen Akt der Prä­ dikation, der nur ein Moment des gesamten illokutionären Aktes ist und zur Beschreibung oder Charakterisierung des zu identifizierenden Gegenstandes dient. – Im 2. Teil des Werkes findet diese Theorie insbesondere im Hinblick auf drei Fehlschlüsse (naturalistischer Fehlschluss, Sprechakt-, Behauptungsfehlschluss) der modernen Sprachphilosophie ihre Anwendung. S. zufolge beruhen diese Fehlschlüsse auf der gleichen Schwäche, nämlich dem Fehlen einer Begründung sprachlicher Einzelanalysen  in einer kohärenten allgemeinen Sprachtheorie und letztendlich dem Glauben an das Schlagwort ›Bedeutung gleich Gebrauch‹. S. fordert demgegenüber, eine Äußerung nicht nur durch eine Untersuchung der Anwendungsbedingungen von Begriffen zu erklären, sondern auch durch einen Rekurs

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Sellars: Empiricism and the Philosophy of Mind

auf die jeweils relevante allgemeine Kommunikationssitua­ tion. – Die Publikation von Speech Acts löste eine heftige Diskussion aus, in der sich S. sowohl vom Strukturalismus de Saussures als auch von der Sprachtheorie Chomskys distanzierte. Später entwickelte S. aus der Sprechakttheorie seine Theorie der → Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit (1995). C. Schües Ausgaben: Cambr.  1995 (ND der Ausg.  1969). – Dt., Ü.: R. und R. Wiggershaus [1971], Ffm. 2003. Literatur: B. Eley, Sprache als Sprechakt. Die phänomenologische Theorie der Bedeutungsintention und -erfüllung und die sprachphilosophische Theorie der Sprechakte (J. R. S.), in: J. Simon (Hg.), Aspekte und Probleme der Sprache, Fbg./ Mchn. 1974, 137–183. – R. B. Nolte, Einführung in die Sprechakttheorie J. R. S.s. Darstellung und Prüfung am Beispiel der Ethik, Fbg. 1978. – B. Smith, J. S. From Speech Acts to Social Reality, in: ders.: J. S., Cambr. 2001, 1–34.

Wilfrid Sellars *12. 5. 1912 in Ann Arbor (Mich.), †  2. 7. 1989 in Pittsburgh; Vertreter der analytischen Philosophie mit einem nicht-reduktionistischen na­turalistischen Weltbild.

Empiricism and the ­Philosophy of Mind (engl.; Der Empirismus und die Philosophie des Geistes), ED Minnesota 1956 (in: H. Feigl/M. Scriven [Hg.], Minnesota Studies in the Philosophy of Science, Bd. I: The Foundations of Science and the Concepts of Psychology and Psychoanalysis).

Im März 1956 hält S. an der University of London drei Vorlesungen mit dem Titel The Myth of the Given: Three Lectures on Empiricism and the Philosophy of Mind. Diese Vor­ lesungen publiziert er im selben Jahr als Empiricism and the Philosophy of Mind. S.’ Hauptwerk umfasst 16 Kapitel zu Themen der Philosophie des Geistes, Erkenntnistheorie, Sprachphi­ losophie sowie am Rande Ontologie und Wissenschaftstheorie. Auf den ersten Blick bilden die einzelnen Kapitel keine kohärente thematische Einheit. Gleichwohl liegt dem Werk mit der Idee des Myth of the Given ein die einzelnen Abschnitte verbindendes Thema zugrunde. Der Ausdruck Myth of the Given steht seither überhaupt für die Philosophie S.’ und hat sich im Anschluss an S. als kritischer Diagnosebegriff für alle Spielarten von Theorien eingebürgert, die die Rechtfertigung von Wissen auf eine unhintergehbare sinnliche Belegbasis zurückführen. Ein



Sellars: Empiricism and the Philosophy of Mind 555

solches unbezweifelbares Begründungsfundament des in der Sinnlichkeit ›Gegebenen‹, das im Grunde alle Spielarten des klassischen Empirismus in Anspruch nehmen, hält S. für einen Mythos. S. entwickelt den Kern dieser These in »An Ambiguity in Sense-Datum Theories« (Kap.  1) und »Does Empirical Knowledge Have a Foundation?« (Kap.  8). Demnach geht der Sinnesdatentheoretiker davon aus, dass unser empirisches Wissen auf dem Fundament eines sinnlich Gegebenen ruht, das sich in der Wahrnehmung durch das Empfinden von Einzelnem oder Einzeldingen, z.  B. des Sinneseindrucks des Roten, dokumentiert. Diese Grundannahme des Sinnesdatentheoretikers ist nach S. nicht haltbar, denn Gegenstand unseres Wissens sind immer nur Tatsachen oder propositional verfasste Sachverhalte, also z. B. dass x F ist, nicht aber isoliertes Einzelnes bzw. Einzeldinge als solche. Empirisches Wissen kann daher nicht auf dem Empfinden von sinnlich Gegebenem gründen. Dies zeigt S. in »The Logic of ›Looks‹« (Kap.  3) darüber hinaus anhand einer exempla­ rischen Analyse der Verwendung von Erscheinungsausdrücken, indem er am Beispiel der Geschichte des Krawatten-

verkäufers John aufweist, dass in Sätzen wie »This tie looks green« der Ausdruck ›sieht so aus‹ bzw. ›erscheint‹ nicht auf ein sinnlich Gegebenes, die empfundene Erscheinung von etwas, verweist, sondern eine Aussage lediglich abschwächt. Im Hintergrund der Behauptung eines unbezweifelbaren sinnlich Gegebenen erblickt S. dabei eine weitere These, die der Sinnesdatentheoretiker vertreten muss, die er aber eigentlich nicht vertreten darf. Der »Myth of the Given« impliziere nämlich, dass das Empfinden von Sinnesdaten durch unser kognitives Vermögen keinerlei Lernen voraussetzt. Wer das sinnlich Gegebene für das Fundament des Wissens hält, geht nämlich davon aus, dass mit dem Faktum des Empfindens von Gegebenem ursprünglich das Wissen vorliegt, dass ein bestimmtes Datum z eine bestimmte Tatsache p belegt. Nach empiristischer Lehre muss die kognitive Fähigkeit zu solchem klassifikatorischen Wissen, etwa dass z die Tatsache p belegt, aber erworben werden, was mit der Annahme eines sinnlich Gegebenen unverträglich ist. Seiner kritischen Erörterung des klassischen Empirismus stellt S. eine eigene positive Konzeption entgegen. Sie wird von dem Gedanken

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Sellars: Science and Metaphysics

getragen, dass wir empirisches Wissen nicht durch Beschreibungen geistiger Episoden wie das Gewahrsein von Empfindungen rechtfertigen, sondern indem wir es in den »logical space of reasons, of justifying and being able to justify what one says« stellen. – S.’ Werk wird im Kontext des analytischen Neokantianismus bzw. Neohegelianismus in der Philosophie der Gegenwart produktiv rezipiert. R. Brandom (→  Making It Explicit, 1994) und J. McDowell (→ Mind and World, 1994) knüpfen in ihren Arbeiten v. a. an S.’ Diagnose des »Myth of the Given« an. S.’ Kritik am sinnlich Gegebenen ist allerdings in der aktuellen Debatte um den nicht-begrifflichen Inhalt der Wahrnehmung unter Druck geraten. D. Heidemann Ausgaben: Hg.: R. Brandom, Einl.: R.  Rorty, Cambr. (Mass)/ Ldn. 1997. – Dt., Ü., Hg. und Einl.: T. Blume, Paderborn 1999. Literatur: W. DeVries/T. Triplett, Knowledge, Mind, and the Given: Reading W.  S.’ Empiricism and the Philosophy of Mind, Including the Complete Text of S.’ Essay, Indianapolis 2000. – J. Seibt, W. S., Paderborn 2007.

Science and Metaphysics. Variations on Kantian Themes EA Ldn. 1968.

Das Werk enthält die John Locke Lectures aus dem Jahre 1965/66. Sie fassen S.’ verstreute philosophische Arbeiten in einen einheitlichen Gedankengang zusammen und heben darauf ab, die wissenschaftstheoretische Ausprägung des analytischen Empirismus mit den Problembeständen der klassischen Metaphysik zu verknüpfen. Die Dichotomie zwischen Wissenschaft und Metaphysik überwindet S. durch die Auffassung, dass der wissenschaftlichen Theoriebildung die Aufgabe ontologischer Wirklichkeitserkenntnis zukommt. –Ausgehend von einer Reformulierung kantischer Unterscheidungen unternimmt S. den Versuch, die Bereiche von Bewusstseinsphilosophie, Semantik und Ontologie unter dem Gesichtspunkt der Differenz von Sprache und Realität zu betrachten: Zunächst verteidigt er seine These, das Bewusstsein als theoretisches Konstrukt in Analogie zu einem bestimmten Sprachgebrauch interpretieren und so das Denken als internalisiertes Sprechen bestimmen zu können. Dies ermöglicht ihm, die Intersubjektivität des Bewusstseins mit der Anerkennung einer »Privatheit« des inneren Erlebens zu vereinbaren. Die sprachliche Einbettung des Be-



Sen: Development as Freedom 557

wusstseins findet ihre Entsprechung in S.’ Konzeption einer »nichtrelationalen Semantik«. In Anknüpfung an Carnap bestimmt S. die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks nicht im Rekurs auf den nichtsprachlichen Gegenstandsbezug, sondern durch seine Funktion innerhalb eines semantisch geschlossenen Sprachsystems. Daraus ergibt sich jedoch die Notwendigkeit, innerhalb der Sprache selbst zwischen den beiden Ebenen natürlicher Sprachobjekte und semantischer Sprachregeln zu unterscheiden. Dieser Ansatz wird durch eine modifizierte Abbildtheorie ergänzt: Während »molekulare« Sätze auf einen Wahrheitsbegriff bezogen werden, der durch »semantische Behauptbarkeit« gekennzeichnet ist, zielen »atomare« Sätze auf eine gegenständliche »Abbildung« der Realität. Der Isomorphismus zwischen der Ebene natürlicher Sprachobjekte und dem Bereich nichtsprachlicher Gegenständlichkeit bildet die Grundlage für S.’ These des »wissenschaftlichen Realismus«. Mit der kausal zugespitzten bildtheoretischen Verknüpfung von Sprache und Realität gewinnt S. den archimedischen Punkt, der es ihm erlaubt, die Peirce’sche Ausrichtung auf die ideale Wahrheit als ein

erreichbares Ziel der wissenschaftlichen Forschung zu begründen. S. zielt damit auf eine Konzeption, die sich mit dem Angriff auf den »Mythos vom Gegebenen« vom Positivismus des Wiener Kreises distanzieren kann, ohne jedoch auf die wissenschaftliche Annäherung an das wahre Bild der Welt verzichten zu müssen. – Die systematische Konzeption S.’ ist ohne direkten Einfluss geblieben. Sie hat stattdessen eine unterschwellige Wirksamkeit entfaltet, die sich auf die Bereiche von Bewusstseinsphilosophie und Wissenschaftstheorie erstreckt. M. Laube Literatur: W. A. de Vries, W.  S., Durham 2005. – J.  Seibt, W.  S., Paderborn 2007.

Amartya Sen * 3. 11. 1933 in Westbengalen (Indien); Ökonom und Philosoph, ausgezeichnet mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften, be­ kannt für seine Beiträge zur Wohlfahrts-, Entscheidungs-, und Gerechtigkeitstheorie.

Development as Freedom (engl.; Ökonomie für den Menschen), EA NY 1999.

S.s Development as Freedom enthält sechs für eine breite Öffentlichkeit bestimmte

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Sen: Development as Freedom

Vorlesungen. Er legt in diesen Untersuchungen dar, welche Schlussfolgerungen aus seiner Gerechtigkeitskonzeption für den Umgang mit Armut und Entwicklung zu ziehen sind. Die Vorlesungen, die ökonomische und philosophische Themen behandeln, sind dezidiert anwendungsorientiert. S. gibt Erklärungen für sozioökonomischen Erfolg und Misserfolg von Gesellschaften und begründet normative Kriterien der Beurteilung gesellschaftlicher Entwicklung. S.s These ist, dass menschliche Freiheit gleichzeitig Zweck und Mittel gesellschaftlicher Entwicklung ist. Einerseits kann sozioökonomischer Fortschritt nur daran bemessen werden, inwieweit er individuelle Handlungsspielräume vergrößert, andererseits ist die Beförderung solcher Handlungsspielräume selbst konstitutiv für Entwicklung. – S. argumentiert insbeson­ dere gegen die Bestimmung  sozioökonomischen Fortschritts über Wohlstand oder Einkommen. Er zeigt, dass viele Gesellschaften mit niedrigen Einkommen eine höhere Lebenserwartung aufweisen als manche Gesellschaften mit vergleichsweise hohen Einkommen. – Entwicklung hängt laut S. nicht von ökonomischem Wohlstand, sondern von

­persönlichen Freiheitsräumen und Partizipationsmöglichkeiten ab. S. thematisiert konkrete Ungerechtigkeiten, anhand derer er den Zusammenhang von Entwicklung und Freiheit sowie institutionelles Versagen in der Beförderung von Fortschritt verdeutlicht, und thematisiert das Vorkommen von Mangelernährung und Hunger sowie die Benachteiligung von Mädchen und Frauen, die sich in höheren Krankheitsund  Sterblichkeitsraten niederschlägt. S. beobachtet, dass diese Missstände durch gesellschaftliche Vernachlässigung entstehen und vorrangig in autoritären und intransparenten Gesellschaften vorzufinden sind. Der entwicklungspolitische Fokus auf ökonomische Größen ist daher S. zufolge ein gravierender Fehler. Er geht laut ihm mit dem Fehler einher, mehr auf Wachstum und Märkte als auf die Bereitstellung öffentlicher Güter und Freiheiten zu vertrauen. Wenn bestimmte formelle und substanzielle Rahmenbedingungen der Freiheit von Personen gegeben seien, könnten sie soziale Verantwortung wahrnehmen. S. plädiert dafür, gleichermaßen politische Freiheiten, ökonomische Vorteile, soziale Chancen, Transparenz und soziale Sicherheit zu för-



Sen: The Idea of Justice 559

dern. – Mit der These, dass bestimmte Formen von Freiheit sowohl Zweck als auch Mittel gesellschaftlicher Entwicklung sind, grenzt sich S. sowohl von wohlfahrtszentrierten als auch von liberalen Positionen ab, d. h. er macht weder Nutzen noch Grundgüter zur Informationsbasis von Gerechtigkeitsurteilen. Diese Positionen verkennen laut S. gerechtigkeitsrelevante Unterschiede zwischen Personen hinsichtlich der Bewertung ihrer eigenen Situa­ tion einerseits und hinsichtlich der Fähigkeit, verfügbares Einkommen in die Verwirklichung von Wohlergehen und Freiheit umzusetzen andererseits. Laut S. ist die angemessene Grundlage der Bestimmung von Armut und Ungerechtigkeit das Vorliegen eines Mangels an Verwirklichungschancen oder Fähigkeiten (capability deprivation), d. h. die unzureichende Befähigung von Personen, Zustände und Tätigkeiten zu verwirklichen, die begründeterweise als wertvoll erachtet werden. Was S. hier Verwirklichungschancen nennt, ist die substanzielle Freiheit, alternative Kombinationen wertvoller Zustände und Tätigkeiten zu verwirklichen. – Die philosophischen und ökonomischen Überlegungen, die S. in Devel­ opment as Freedom zusammen-

fasst, wurden von politischen Institutionen aufgenommen und sind in Instrumente der Bestimmung und Beförderung gesellschaftlichen Wohlstands, wie etwa den Human Development Index der Vereinten Nationen, eingegangen. Gleichzeitig sind gegenwärtige philosophische Debatten der Gerechtigkeitstheorie von S.s Ansatz der Verwirklichungschancen nachhaltig beeinflusst. S. Derpmann Ausgabe: Dt., Ü.: C. Goldmann, Mchn. 2011. Literatur: S. Deneulin/L. Shahani (Hg.), An Introduction to the Human Development and Capability Approach, Ldn. 2009.

The Idea of Justice (engl.; Die Idee der Gerechtigkeit), EA Cambr. 2009.

The Idea of Justice enthält die systematische Darlegung ­einer Gerechtigkeitskonzep­ tion, deren Bestandteile S. in einer Vielzahl vorausgehen­ der ­Veröffentlichungen entwi­ ckelt hat. Wichtige Elemente dieser Untersuchung sind seine Überlegungen zum Status der Gerechtigkeitstheorie und der Konzeption von Verwirk­ lichungschancen oder Fähigkeiten (capabilities) als Fundament gerechtigkeitsrelevanter Abwägungen. – S.s Abhand-

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Sen: The Idea of Justice

lung gliedert sich in vier Tei­ le: Der erste Teil behandelt die Theorieentscheidungen, mit de­ nen S. seinen Ansatz trotz vieler Übereinstimmungen von der Rawls’schen Gerechtigkeitstheorie abgrenzt. Der zweite Teil enthält Überlegungen zu den Begründungsanforderungen an Gerechtigkeitsdiskurse. Im dritten Teil bestimmt S. den ›Verwirklichungschancen­ ansatz‹ (capability approach) in Abgrenzung zu Ansätzen, die Ressourcen oder Wohlfahrt zur Grundlage gerechtigkeitsrelevanter Überlegungen machen. Im vierten Teil schließlich finden sich Überlegungen zur Demokratietheorie und zur Bedeutung öffentlicher Deliberation. – S. behauptet, die Idee der Gerechtigkeit zum Gegenstand zu machen und nicht eine Theorie der Gerechtigkeit im engeren Sinne zu entwickeln. Er argumentiert, dass eine philosophische Auseinandersetzung mit Gerechtigkeit möglich ist. Die Form, in der S. Gerechtigkeitstheorie betreibt, unterscheidet sich jedoch von vorherrschenden Ansätzen: Er richtet sich gegen Gerechtigkeitskonzeptionen, die er als transzendental-in­ stitutionalistisch kennzeichnet, insofern sie zum einen keine vergleichenden Urteile über Gerechtigkeit fällen, sondern

vielmehr das Ideal einer gerechten Gesellschaft formu­ lieren, und insofern sie dabei zum anderen primär die Beschaffenheit gerechter Institutio­nen und nicht die gesellschaftlichen Zustände, die von die­sen Institutionen hervorgebracht wer­den, zum Gegenstand philosophischer Überlegun­gen ma­ chen. – S.s Überlegungen sollen die Grundlagen für Maßnahmen der Minderung von Ungerechtigkeit darstellen, anstatt ein Ideal einer vollkommen gerechten Gesellschaft zu entwerfen. S. glaubt, dass ein solches Ideal weder notwendig noch hinreichend für die vergleichende Beurteilung von gesellschaftlichen Verhältnissen als gerecht oder ungerecht ist. Weiterhin soll sein Ansatz empfänglich für die Beobachtung gesellschaftlicher Veränderungen und variierender Anwendungskontexte sein, die womöglich Einfluss auf die Anforderungen an Gerechtigkeitserwägungen haben. S. unterscheidet deshalb zwei Gerechtigkeitsbegriffe aus der indischen Jurisprudenz: niti und nyaya. Während niti die formalen Anforderungen an gerechte Institutionen betont, konzentriert sich nyaya auf die faktischen Auswirkungen auf die von diesen Institutionen betroffenen oder abhängi­ gen



Sen: Rationality and Freedom 561

Personen. Letztlich argumentiert S. für eine Konzeption umfassender, d. h. nicht strikt konsequenzialistisch verstandener Ergebnisse (comprehensive outcomes). In der Beurteilung verwirklichter Zustände ist demnach von Bedeutung, wie diese Zustände hervorgebracht wurden. – Ein zentrales Element in S.s Darlegung ist der ›Verwirklichungschancen­ ansatz‹. Verwirklichungschancen sind laut S. die ›Beurteilungsgrundlage‹ (information­ al basis), die bestimmt, auf wel­ che Merkmale wir uns in der Beurteilung gesellschaftlicher Zustände richten sollten. ­Verwirklichungschancen werden über ›Funktionen‹ (functionings)  bestimmt, d. h. über Zustände und Tätigkeiten, die eine Person wertzuschätzen Grund hat. Die echte Option zur Verwirklichung wertvoller Fun­ktionen gibt für S. den gerechtigkeitsrelevanten Lebensumstand  einer Person wieder. Die­ ser besteht im Raum der ei­ ner Person offen stehenden Bün­del wertvoller Funktionen. S. formuliert damit eine einflussreiche Alternative zu re­ s­ sou­rcen- und wohlfahrtsorien­ tier­ten Gerechtigkeitskonzep­ tionen. S.s Idee der Gerechtigkeit entwickelt hinsichtlich des Status der Gerechtigkeitstheo­ rie so­wie hinsichtlich ihrer grund-

legenden normativen Prin­zi­pi­ en systematische Optio­nen, de­ ren Behandlung in der Gerechtigkeitstheorie unumgänglich ge­worden ist. S. Derpmann Ausgabe: Dt., Ü.: C.  Krüger, Mchn. 2010. Literatur: P. Pettit, Freedom in the Spirit of S., in: C.  W. Morris (Hg.), A.  S., NY 2010. – D. Crocker/I. Robeyns, Capability and Agency, in: C. W. Morris (Hg.), A. S., NY 2010.

Rationality and Freedom EA Ldn. 2002.

Rationality and Freedom umfasst 22 zum Teil zuvor publizierte Aufsätze, die sich mit dem Zusammenhang ökonomischer, gesellschaftswissenschaft­licher und philosophischer Vorstellungen von Freiheit und Rationalität befassen. S. vertritt die These, dass eine Wech­ selwirkung zwischen Frei­ heit und Rationalität besteht. Einerseits bedeutet Freiheit für ihn, dass einer Person Optio­ nen offenstehen, die sie vernünftigerweise wollen kann; andererseits bedeutet Rationalität für ihn, dass Wahlalternativen frei beurteilt werden können. – S. kritisiert ökonomische Konzeptionen der freien Wahl dafür, dass sie nicht in der Lage sind, zwischen Überlegungen zu unterscheiden, die auf Wohl-

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Sen: Rationality and Freedom

fahrt, Interessen, Ziele, Werte oder auf Gründe bezogen sind. Stattdessen beschreiben ökonomische Handlungsmodelle Entscheidungen, die auf unterschiedlichen Arten von Erwägungen beruhen, allein über Nutzenerwägungen. Personen, die in ihrem Überlegen nicht zwischen diesen Arten von Erwägungen zu unterscheiden wissen, müssen jedoch laut S. als vernünftige Narren (rational fools) gelten, da sie sich zwar nicht inkonsistent verhalten, aber kein Urteil über ihre eigenen Wünsche ausbilden. S. will Rationalität weder als bloße Kohärenz der Wahlentscheidungen noch als Maximierung des Eigeninteresses begreifen. Insbesondere die Theorie der rationalen Wahl (rational choice theory), der zufolge rationale Personen allein eigeninteressiert und nutzenmaximierend handeln, ist daher Gegenstand von S.s Kritik. Die Theorie der rationalen Wahl unterstellt in der Beschreibung der Rationalität menschlichen Handelns laut S. drei Selbstzentrierungen: Sie behauptet, dass die Wohlfahrt einer Person allein durch ihre eigenen Zustände bestimmt ist (self-centered welfare), dass eine Person allein die eigene Wohlfahrt zum Ziel hat (self-welfare goal) und dass die Entscheidungen einer Per-

son allein auf der Verfolgung ihrer eigenen Ziele beruhen (self-goal choice). S. verweist auf eine weitere wesentliche Selbstbezugnahme, in der Personen ihre eigenen Werte und Ziele einer kritischen Prüfung unterziehen. Überzeugende Modelle menschlichen Handelns dürften eine solche Reflexion nicht ausblenden. – S. glaubt, dass es für die ökonomische Theoriebildung einen Vorteil bedeuten würde, wenn sie ihr Verständnis von Rationalität nicht ausgehend vom Wohlfahrtsbegriff, sondern ausgehend vom Freiheitsbegriff bestimmen würde. Freiheit weist für S. zwei Aspekte auf: einen Gelegenheitsaspekt (opportunity aspect) und einen Prozess­ aspekt (process aspect). Freiheit wird einerseits als Möglichkeit, wertvolle Ziele zu verwirklichen, wertgeschätzt; andererseits ist Freiheit aber auch wertvoll, weil Personen damit in der Lage sind, bestimmte Ziele und deren Umsetzung selbst zu wählen. Damit fallen weder Freiheit noch Rationalität mit der Optimierung der eigenen Wohlfahrt zusammen. Diese Unterscheidung zwischen unterschiedlichen Bedeutungen der Freiheit und die parallele Unterscheidung von einfachen und umfassenden Ergebnissen (culmination und comprehensive



Seneca: Epistulae morales ad Lucilium 563

outcomes) sind zentral für S.s Gerechtigkeitstheorie. Ein Teil der Untersuchung widmet sich dementsprechend der Frage der Rationalität innerhalb sozialer Wahlentscheidungen. S. versucht hier, Gerechtigkeitserwägungen und soziale Rationalität miteinander zu vermitteln, indem er die Grundlagen der sozialen Wahl über Wohlfahrtserwägungen hinaus erweitert. – S.s Abhandlungen haben v. a. die Grundlagen ökonomischer Handlungserklärung einer kritischen Prüfung unterzogen, die nicht ohne Einfluss auf die ökonomische Modellbildung geblieben ist. Aber auch für das philosophische Verständnis von Rationalität und Freiheit sind seine Überlegungen wegweisend. S. Derpmann Literatur: S. Dhongde/P. Pattanaik, Preference, Choice, and Ration­ality: A. S.’s Critique of the Theory of Rational Choice in Economics, in: C.  W. Morris (Hg.), A.  S., NY 2010. – C. W. Morris, Ethics and Economics, in: ders. (Hg.), A. S., NY 2010.

Lucius Annaeus Seneca * um 4 v. Chr. in Corduba (heute Córdoba), † 65 bei Rom; Vertreter der späten Stoa, zeitweise unter Nero einflussreicher Staatsmann.

Epistulae morales ad Lucilium (lat.; Moralische Briefe an Lucilius), entst. 62–65; ED Neapel 1475.

Die 124 zur Publikation bestimmten Briefe, die S. ge­gen Ende seines Lebens zusam­ mengestellt hat, sind Abhandlungen hauptsächlich moralphilosophischen Inhalts und zugleich die Summe seines Denkens. – In den Briefen wechseln längere theoretische Erörterungen mit lose zusammengetragenen Betrachtungen über die verschiedensten, die konkrete Lebensführung betreffenden Themen ab. Leitfaden ist die Frage nach der Glückseligkeit, zu der einzig die Philosophie führen kann. Der Philosophie kommt dabei nach S. die Aufgabe zu, sowohl den Geist zu bilden als auch die praktische Lebensführung zu bestimmen. Glückseligkeit entspringt der sittlichen Vollkommenheit der Seele (virtus), die das Endziel des Lebens (summum bonum) darstellt und die auf der vernünftigen Einsicht beruht. So fällt der rechte Gebrauch der Vernunft für S. in eins mit der virtus (»Nichts nämlich ist sittliche Vollkommenheit der Seele als rech­ te  Vernunft«). Haupthindernis auf dem Weg zur Glückseligkeit ist dabei die Verstrickung

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Sextus Empiricus: Pyrrhoneiōn hypotypōseis

der Menschen in die nichtigen äußerlichen Dinge, denen aufgrund falscher Einsicht Wert beigemessen wird. Es liegt jedoch nach S. in der Natur des Menschen, Weisheit anzustreben, weil er hierin zu seinem wahren, göttlichen Wesen gelangt. S. legt zugleich Wert auf die Praxis, denn Tugend bedarf der Einübung: »Handeln lehrt die Philosophie, nicht reden.« Obwohl der Stoa verpflichtet, diskutiert S. verschiedene andere philosophische Ansichten, um seine eigene Position abzugrenzen. Neben ethischen Fragen werden so auch Themen der Ontologie, Erkenntnistheorie und Naturphilosophie behandelt. Der Aufruf zur Philosophie und deren Anwendung in der Praxis schließt so eine Fülle von Betrachtungen zu konkreten Lebensfragen ein: Unerschütterlichkeit gegenüber dem Schicksal, rechter Gebrauch der Zeit, Verhalten zum Tod, Umgang mit Sklaven, richtige Auswahl der Lektüre. Die Schärfe, mit der gesellschaftliche Verhältnisse (z.  B. die Grausamkeit der Zirkusspiele), alltägliche Gewohnheiten und Anschauungen angegriffen werden, gibt dem Werk seinen zeitkritischen Charakter. – In der späteren Antike war S. v. a. seines literarischen Stils wegen berühmt. Bei den Kirchenvä-

tern und im Mittelalter wurde er als Sittenlehrer, aber auch seines naturwissenschaftlichen Werkes wegen geschätzt. Die frühe Neuzeit sah in ihm einen der großen Humanisten. F.-P. Burkard Ausgaben: Lat./dt., Philosophische Schriften, Bd. 3/4, Drmst. 31989. – Engl., Selected Philosophical Letters, Oxfd. 2007. Literatur: H. Cancik, Untersuchungen zu S.s »Epistulae morales«, Hildesheim 1967. – G.  Maurach, S. Leben und Werk, Drmst. 42005.

Sextus Empiricus um 200 n. Chr.; griechischer Philosoph und Arzt, wichtigste Quelle zur pyrrhonischen Skepsis.

Pyrrhoneiōn hypotypōseis (gr.; lat.: Hypotyposes; Grundriß der pyrrhonischen Skepsis), EA Paris 1562 (lat.); Köln/Paris/Genf 1621 (gr.).

In seinem frühesten und grundlegenden Werk erläutert S. die Grundzüge der pyrrhonischen Skepsis und wendet sich gegen die dogmatische Erkenntnistheorie, Naturphilosophie und Ethik. – Buch  1 behandelt  Begriff, Methode und Ziel der pyrrhonischen Skep­ sis. Die verschiedenen Philoso­ phien lassen sich in dogmatische und skeptische unterteilen. Die Dogmatiker



Sextus Empiricus: Pyrrhoneiōn hypotypōseis 565

behaupten etwas, während der Skeptiker sich jeden Urteils enthält. Die positiven Dogmatiker, bei denen S. v. a. die Stoiker im Auge hat, vertreten metaphysische Thesen; die negativen Dogmatiker, die akademischen Skeptiker, behaupten, die Dinge seien unerkennbar. Die pyrrhonische Skepsis ist keine Lehre, sondern eine Methode: die Kunst, jedem Eindruck oder Gedanken einen Eindruck oder Gedanken von demselben Gewicht gegenüberzustellen, so dass die Zustimmung unmöglich wird. Ziel der Skepsis ist die innere Ruhe, die sich aus der Aufhebung aller Urteile, besonders der Werturteile, ergibt. Zu diesem Zweck entwickelt die Skepsis spezifische Argumentationsformen, die Tropen. S. erstellt vier Listen mit jeweils zehn, acht, fünf und zwei Tropen. Zu den Ainesidemos zugeschriebenen zehn Tropen zählen u. a. der aus der Verschiedenheit der Lebewesen, der Menschen, der Sinnesorgane, der Sitten und Gesetze. Drei der fünf Tropen finden sich im sog. Münchhausen-Trilemma: Wer etwas begründen will, gerät entweder in einen unendlichen Regress oder in einen Zirkel (›Diallele‹) oder muss eine unbegründete Voraussetzung machen. Ausgedrückt wird die Urteilsenthal-

tung (epochē) durch die ›skeptischen Formeln‹, z.  B. ›vielleicht‹, ›es ist möglich‹, ›es kann sein‹. – Buch  2 destruiert die dogmatische Erkenntnistheorie. Der Streit über das Wahrheitskriterium ist entweder entscheidbar oder unentscheidbar. Wenn er unentscheidbar ist, bleibt nur die Urteilsenthaltung. Die Behauptung, er sei entscheidbar, führt jedoch entweder in die Diallele oder in den unendlichen Regress, weil wir, um den Streit zu entscheiden, bereits ein Kriterium vor­ aussetzen  müssen. Ebenso ist unentscheidbar, ob es ein »aufzeigendes Zeichen«, d. h. ein Zeichen für eine nicht in der Erfahrung gegebene Wirklichkeit (wie z. B. die Bewegungen des Körpers Zeichen für die Existenz der Seele sind), und einen Beweis gibt. Die aristotelischen Syllogismen sind zirkulär: Die Konklusion (›Sokrates ist ein Lebewesen‹) soll mithilfe des Obersatzes (›Alle Menschen sind Lebewesen‹) erkannt werden, wo doch der Obersatz selbst auf die induktive Bestätigung durch die Konklusion angewiesen ist. – Gegenstand von Buch  3 sind die dogmatische Naturphilosophie und Ethik. Eines der Argumente gegen die Existenz Gottes beruft sich auf das Übel in der Welt: Entweder kann Gott es nicht verhindern

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Shoemaker: Self-Knowledge and Self-Identity

oder er will es nicht; beides ist mit dem Wesen Gottes un­ vereinbar. Es kann keine Ursache geben, weil die Ursache weder vor (noch nach) noch mit der Wirkung zusammen bestehen kann: nicht vor der Wirkung, weil die Ursache immer Ur­sache einer Wirkung ist; nicht mit der Wirkung zusammen, weil sie ja die Wirkung erst her­vorbringen soll. Gegen die Behauptung der dogmatischen Moralphilosophen, es gebe von Natur aus Gutes und Schlechtes, wird auf die einander widersprechenden Sitten der Völker verwiesen; gibt es aber nichts an sich Gutes und Schlechtes, dann kann es auch kein Wissen vom guten Leben geben. – Während des Mittelalters war das Werk des S. nahezu vergessen. Durch die lateinischen Übersetzungen (1562; 1569) wurde es wieder bekannt und v. a. von Montaigne rezipiert. Widerlegungen der pyrrhonischen Skepsis finden sich bei Descartes und Pascal. Der Begriff der Urteilsenthaltung (epochē) ist in die moderne Phänomenologie eingegangen. S. ist eine wichtige Quelle zur Geschichte einzelner philosophischer Schulen. F. Ricken Ausgaben: Gr., Opera, Bd. 1, Hg.: J.  Mau, Lpzg. 1914 (ND Bln/ NY 1958). – Dt., Ü. und Einl.:

M.  Hossenfelder, Ffm. 21985. – Engl., Hg.: J.  Annas/J.  Barnes, Cambr. 2000. Literatur: F. Ricken, Antike Skeptiker, Mchn. 1994. – K. M. Vogt, Skepsis und Lebenspraxis, Fbg. 1998. – M.  Gabriel, Antike und moderne Skepsis zur Einführung, Hbg. 2008.

Sydney Shoemaker * 29. 9. 1931 in Boise (Idaho); bedeutender zeitgenössischer Vertreter einer lockeanischen Auffassung personaler Identität.

Self-Knowledge and SelfIdentity EA Ithaca 1963.

Bei diesem Buch handelt es sich um eine sehr frühe Arbeit, basierend auf einer Promo­ tionsschrift, die S. 1958 an der Cornell University einreichte. Das Buch beschäftigt sich mit den besonderen Wahrheitsbedingungen von Aussagen, die Personen über sich selbst treffen. Wenn eine Person bestimmte Aussagen über sich selbst trifft, z.  B. »ich habe Schmerzen«, so scheinen diese mitunter auf eine Art und Weise ihre eigene Wahrheit zu implizieren, wie dies bei anderen Arten von Aussagen, z. B. im Falle von »Herr Müller hat Schmerzen« oder »die Tasse steht auf dem Tisch«, keines-



Shoemaker: Self-Knowledge and Self-Identity 567

wegs der Fall ist. S. kommt bei seiner Untersuchung zu dem Schluss, bestimmte Probleme der personalen Identität hin­ gen ursächlich mit der Natur dieses be­ sonderen erstpersön­ lichen Wis­sens über sich selbst zusammen. – Das zentrale Problem vieler fehlgeleiteter Antworten auf das Problem des Selbstwissens besteht laut S. in der Annahme, diejenigen Kriterien, die Individuen dazu bringen, bestimmte Aussagen über ihre eigene Psychologie zu treffen, müssten zugleich auch die Kriterien sein, die die Wahrheit dieser Aussagen bestimmen. Diese Annahme ist allgemeineren, klassischen Auffassungen über die Wahrheitsbedingungen von Tat­sa­ chenaussagen entlehnt, führt im Bezug auf das Selbstwissen seines Erachtens jedoch zu der problematischen Konsequenz, rein subjektive, lediglich in­ trospektiv zugäng­liche Wahrheitsbedingungen für solche Äußerungen annehmen zu müssen. Dies impliziert laut S. darüber hinaus die von ihm kritisierte Auffassung, jegli­cher Zusammenhang zwischen den von anderen beobachtba­ ren körperlichen Zuständen und den introspektiv zugängli­­ chen psychologischen Zuständen  der Personen sowie auch zwischen personaler und kör-

perlicher Identität sei lediglich zufälliger Natur. Körperliche und mentale Zustände stünden als Wahrheitsbedingungen damit auf dualistische Art und Weise in keinem prinzipiellen Zusammenhang mehr. Da­ rüber hinaus mache diese Auffassung es prinzipiell unmöglich, wahre Aussagen über die Psychologie anderer Perso­ nen zu treffen, denn schließ­lich habe man aus der Außenperspektive auf Personen nicht den gleichen Erkenntniszugang zu deren psychologischen Zuständen, die jedoch wiederum die Grundlage ihrer Selbstzuschreibungen bilden. Die fehlgeleiteten Auffassungen über das Selbstwissen sind somit laut S. ein zentraler Grundstein für die vieldiskutierte Position, der zufolge Subjekte keine körperlichen Wesen seien, sondern rein geistige Substanzen, deren Zusammenhang mit ihrem Körper nur recht lose zu verstehen sei – eine Position, die S. dezidiert ablehnt. Zugleich hätten die fehlgeleiteten Ansichten jedoch auch zu Positionen geführt, denen zufolge das Selbst gerade keine ei­ genständige Substanz sei und ein mentales Subjekt, das psychologische Erfahrungen macht, im Gegensatz zu den blo­ßen, prozesshaften Erfahrungen, überhaupt nicht existiere – eine Position,

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Simmel: Philosophie des Geldes

die S. ebenfalls als überzogen ablehnt. – Obwohl es sich bei dieser Arbeit hauptsächlich um eine Richtigstellung der laut S. fehlerhaften traditionellen Auffassungen handelt, deutet der Autor auch eine seines Erachtens korrekte Auffassung der Zusammenhänge an. So insistiert er, das primäre Kriterium personaler Identität müsse die körperliche Identität sein. Dennoch sei die personale Identität nicht komplett auf Körperliches reduzierbar, denn zumindest die erstpersönlichen Erinnerungen seien als notwendiges psychologisches Kriterium relevant. Diese Position baut S. im Lauf seiner folgenden Arbeiten weiter aus und avanciert damit zu einem der sichtbarsten zeitgenössischen Vertreter einer neo-lockeanischen Auffassung des Personenbegriffs. A. Dufner Literatur: J. Whiting, Personal Identity: The Non-Branching Form of What Matters, in: The Blackwell Guide to Metaphysics, Oxfd. 2002.

Georg Simmel * 1. 3. 1858 in Berlin, † 26. 9. 1918 in Straßburg; Erkenntnistheoretiker und Kulturphilosoph im Spannungsfeld von Neukantianismus und Lebensphilosophie, Mitbegründer der Soziologie.

Philosophie des Geldes entst. 1895–1900; EA Lpzg. 1900.

Das voluminöse Werk thematisiert das Geld als Schlüsselphänomen der Kultur. Den sechs Kapiteln vorangestellt ist eine programmatische Vorrede, in der S. das Aufgabengebiet der Philosophie »diesseits und jenseits« der empirischen Wissenschaften verortet und seine philosophische Methode skizziert: »an jeder Einzelheit des Lebens die Ganzheit seines Sinnes zu finden«. – Das Buch ist in einen »analytischen« und einen »synthetischen« Teil gegliedert. Der erste untersucht die psychologischen, sozialen und logischen Voraussetzungen des Geldes, der zweite dessen Wirkungen auf Individuum, Gesellschaft und Kultur. – Der erste Teil beginnt mit einer erkenntnistheoretischen Analyse des Wertbegriffs, den S. gegenüber der Wirklichkeit als eine eigenständige Art der Formung logisch abgrenzt, und rekonstruiert dann die Entwicklung von Subjekt und Objekt als einander wechselseitig bedingende Gegensätze. Den Wert führt S. auf die Distanzierung zwischen dem begehrenden Subjekt und dem begehrten Gegenstand zurück, welcher nur um den Preis eines Opfers zu erlangen ist. Der spezifisch wirtschaft-



Simmel: Philosophie des Geldes 569

liche Wert ist für S. nicht die Voraussetzung, sondern das Resultat des Tausches. Diese Überführung des Wertbegriffs »in den lebendigen Prozess der Relation« ist exemplarisch für einen »Relativismus«, den S. als positives (!) Erkenntnis- und Realprinzip an zahlreichen weiteren Beispielen aufweist. Die Beziehung zwischen dem Wert und dem Geld bestimmt S. als Symbolisierung, wobei er explizit auf die Analogie zur Sprache verweist. Die Verknüpfung von Sinn und Sinnlichkeit im Symbol wird bei ihm zur Wesensbestimmung des objektiven Geistes, womit er einen symboltheo­retischen Kulturbegriff einführt (Kap. 1). – Im weiteren Verlauf seiner Analyse rekonstruiert S. die historische Entwicklung des Geldes, der Geldtheorie sowie der Geldpolitik und die sukzessive, wenngleich nie vollständige Verdrängung des Substanzwertes des Geldes durch seinen Funk­tionswert (Kap. 2). – Ausgehend von der Bestimmung des Menschen als das werkzeugmachende Tier, charakterisiert S. das Geld als die »reinste Form« des Werkzeugs. Aus seiner universellen Verwendbarkeit erwächst dem Geld ein »Wertplus« gegenüber den Waren, was sich in der Überlegenheit des Geld- über den

Warenbesitzer im Geschäftsverkehr ausdrückt. Psychologisch wird das Geld aus einem bloßen Mittel zum Endzweck, was in Geiz und Geldgier, Zynismus und Blasiertheit als typischen Verhaltensmustern niederschlägt (Kap.  3). – Im zweiten Teil des Werkes zeigt S., wie das Geld die Ab­lösung persönlicher durch  sachliche Abhängigkeit und dadurch die personale Freiheit ermöglicht hat. Er beschreibt das Ausein­ andertreten von Haben und Sein, die Verselbständigung der ökonomischen Prozesse ge­ genüber den Personen und die Versachlichung der sozia­ len Beziehungen (Kap.  4). – Die Monetarisierung wird anhand von Erscheinungen aus verschiedensten Lebensgebieten näher betrachtet. Auf den Freiheitsbegriff rekurrierend, bestimmt S. die durch das Geld gewonnene Freiheit als eine rein negative (Freiheit von etwas), während die positive Freiheit (Freiheit zu etwas) prekär wird (Kap.  5). – Das letzte Kapitel enthält eine komplexe Beschreibung der modernen, durch das Geld bestimmten Kultur als ganzer. Zentrale Topoi hierbei sind Intellek­tualismus, Rechenhaftigkeit  und die Verselbständigung der »Kultur der Dinge« gegenüber der »Kultur der

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Singer: Practical Ethics

Per­ sonen«. Schließlich werden strukturelle Aspekte des modernen Lebens mittels der Be­griffe Distanzierung, Rhythmus und Tempo zusammengefasst und in Relation zum Geld gesetzt (Kap. 6). – Während S.s Name nach seinem Tod schnell vergessen wurde, speiste sich na­hezu die gesamte Kulturkri­ tik des 20.  Jh.s aus seinem Werk. In den 1960er Jahren be­gann seine Rezeption in der So­ziologie, bald darauf in den Kul­turwissenschaften, zuletzt auch in Theologie und Ökonomie. Die Vergegenwärtigung seines genuin philosophischen Problemverständnisses jedoch steht immer noch am Anfang. W. Gessner Ausgabe: GA, Bd. 6, Ffm. 1989. Literatur: J. Kintzelé/P.  Schneider (Hg.), G.  S.s ­ Philosophie des Geldes, Ffm. 1993. – W.  Geß­ ner/R.  Kramme (Hg.), Aspekte der Geldkultur. Neue Beiträge zu G.  S.s »Philosophie des Geldes«, Magdeburg 2002. – O. Rammstedt (Hg.), G.  S.s Philosophie des Geldes. Aufsätze und Materialien, Ffm. 2003.

Peter Albert David Singer *  6. 7. 1946 in Melbourne; Vertreter des Präferenzutilitarismus, wichtiger Vordenker für die Tierbefreiungsbewegung.

Practical Ethics (engl.; Praktische Ethik), EA Cambr. 1979; 21993 (überarb. und um zwei Kap. ergänzt); 32011 (erneut überarb., gekürzt und ergänzt).

In Praktische Ethik begründet S. seinen präferenzutilitaristischen Ansatz und zeigt auf, wie dieser zu seinen materialen Positionen in der angewandten Ethik führt. Dabei behandelt er Fragen des Werts von tierischem und menschlichem Leben, der Abtreibung und Euthanasie, der Verpflichtung gegenüber Armen und Flüchtlingen und gegenüber der Umwelt. Grundlegend ist S.s These, dass die Gleichheit, die Menschen gemeinhin zugeschrieben wird, nicht in irgendeiner faktischen gleichen Eigenschaft liegen kann. Vielmehr handelt es sich um ein grundlegendes normatives Prinzip, dem zufolge gleichwertige Interessen die gleiche Berücksichtigung finden müssen. – Aus dem Prinzip der gleichen Interessenabwägung folgt unmittelbar, dass die  Gattungszugehörigkeit genauso wenig einen moralischen Unterschied machen kann wie die Verschiedenheit der Ethnie oder des Geschlechts. Wer dies behauptet, macht sich analog zu Rassismus oder Sexismus eines Speziesismus schuldig. Das gleiche Leiden eines je-



Singer: Practical Ethics 571

den Lebewesens verdient gleiche Berücksichtigung. Entsprechend sollte auf die leidensvolle Verwendung von Tieren zur Nahrungsmittelproduk­ tion  und für Tierversuche verzich­ tet werden. Eine der wenigen Ausnahmen für das Tötungsverbot sind Fälle, wo der Verzehr von Tieren überlebensnotwendig ist. – Auch die Grenze zwischen personalem und nicht-personalem Leben zieht S. nicht entlang der Gattungsgrenze, sondern anhand der Frage, ob ein Wesen selbst­ bewusst und vernunftbegabt ist. Dies kann für Menschenaffen und möglicherweise auch für Wale und Delfine oder andere Tiere bejaht werden. Solche Lebewesen dürfen genauso wenig getötet werden wie Menschen mit einer dauerhaften geistigen Behinderung auf gleichem geistigen Niveau. – Hinsichtlich verschiedener Formen menschlichen Lebens vertritt S. analoge Positionen. Da Embryonen und Föten die Bedingungen für Personalität nicht erfüllen, kann ihnen nur ein In­ teresse an Leidvermeidung unterstellt werden, nicht aber ein Interesse an Fort­füh­rung ihrer Existenz. In Abtreibungsfragen überwiegen daher immer die hö­ herwertigen personalen Interessen einer Mutter. Allerdings muss eine möglichst leid-

freie Abtreibung gewährleistet werden. Bei der Sterbehil­ fe unterschei­det S. drei Formen: Die freiwillige Euthanasie auf Wunsch des zu Tötenden hält S. für zuläs­sig, die unfreiwilli­ge Euthanasie gegen seinen Wil­ len dagegen für Mord. Unter b­estimmten Bedingungen eines sehr leidvollen Lebens ohne Selbstbewusst­sein hält S. auch die nichtfreiwillige Euthanasie für zulässig, wenn Arzt und Eltern eines entsprechend schwer behinder­ten  Neu­ge­ borenen zustimmen.  – Das Werk hatte großen Einfluss auf wichtige Debatten der angewandten Ethik, wie etwa jene um den ethischen Status früher Phasen menschlichen Lebens, Sterbehilfe und den Wert nichtmenschlichen Lebens. Einige von S.s Argumenten prägen die Debatten bis heute. Im deutschsprachigen Raum hat das Werk zu Beginn der 1990er Jahre breite Empörung verursacht, die u. a. darauf basiert, dass man S.s Vergleiche von behindertem und nichtmenschlichem Leben als Abwertung behinderten Lebens und nicht, wie von S. intendiert, als Aufwertung tierischen Lebens verstand. S.s Positionen zur nichtfreiwilligen Euthanasie wurden auf eine Ebene mit nationalsozialistischen Praktiken gestellt, Vorträge von und

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Smith: The Wealth of Nations

Lehrveranstaltungen zu S. wurden gestört und verhindert. S. bezieht zu diesen Vorfällen im Anhang der deutschen Ausgabe Stellung. D. Düber Ausgaben: Cambr.  32011 (gegenüber der 2.  Aufl. überarb., erw. um ein Kap. zum Klimawandel, gekürzt um ein Kap. zu Flüchtlingsfragen). – Dt., Stgt. 21994 (basierend auf der 2. engl. Aufl. von 1993). Literatur: Schwerpunkt »P. S.«. Aufklärung und Kritik, Sonderheft  1, 1995 (mit Beiträgen von D.  Birnbacher, N.  Hoerster, R. Merkel, P. S. u. a.). – D. Jamieson (Hg.), S. and his critics, Oxfd. 1999. – J. A. Schaler (Hg.), P.  S. Under Fire. The Moral Iconoclast Faces his Critics, Chicago/La Salle 2009.

Adam Smith getauft 5.  6.  1723 in Kirkcaldy (Schottland), †  17. 7. 1790 in Edinburgh; Begründer der modernen Ökonomie.

An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations (engl; Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen), EA Ldn.  1776 (2 Bde.).

S.s Hauptwerk enthält eine Geschichte der Zivilisation, ­ de­ ren höchstentwickelter Zu-

stand – die commercial society – auf der natürlichen Freiheit (natural liberty) des Marktprozesses beruht. S.s berühmte Theorie der Arbeitsteilung demons­ triert  dabei nur noch ein se­kundäres Produktivitätskonzept; primär entwickelt sich die moderne Wirtschaftsgesellschaft über die beschäftigungs- und einkommens­ induzierenden  In­ves­ti­tionen, d. h. durch den Nichtkonsum (= Sparen) der Kapitaleigner. Zwar gleichen sich die Profit­raten im Wettbewerb tendenziell an, zugleich aber werden neue Investitions­ möglichkeiten, neue Märkte eröffnet, die den Investitions-, Profit- und Lohnakkumula­ tionsprozess in erweiterter Stu­ fenleiter fortsetzen. Voraussetzung dieses Wachstumsprozesses ist für S. die Abschaffung des merkantilistischen Interven­ tionsstaates, dessen Vorschriften die Ausschöpfung aller Investitionsmöglichkeiten behindern. Insofern erweist sich der merkantilistische regulierende Staat als Restriktion der möglichen Reichtumsentwicklung, die über die allmähliche Steigerung aller Einkommen die ­bisherigen Wohlfahrtsversprechen nunmehr historisch tatsächlich einlösen können. Ins Zentrum der Wertschöpfung tritt bei S. die industrielle,



Smith: The Theory of Moral Sentiments 573

»produktive Arbeit« (die nur durch Kapitalinvestition aktiviert werden kann). Wenn man das marktgemäße natürliche System der Freiheit (natural system of liberty) unbeeinflusst operieren lässt, wird es – wie durch eine unsichtbare Hand (invisible hand) gelenkt – den Reichtum des Staates (wealth of nations) erzeugen und vermehren, ohne dass die einzelnen Handelnden etwas anderes betreiben müssen, als ihre eigenen Interessen zu verfolgen. Da die Neigung zur Eigenliebe nach S. zum Wesen des Menschen gehört, ist das reichtumssteigernde natural system of liberty eine ökonomische Lösung desselben Problems, das S. 1759 noch mit dem moralischen  Mittel der Sympathie (sympathy) behandelte. Dadurch wird die Moral nicht ungültig, aber funktional begrenzt auf Interaktionen außerhalb des Marktes. – Der Erfolg der Schrift beruht zum Teil auf dieser kongenialen Lösung des alten abendländischen Konfliktes zwischen tugendbildender Moral und die Eigensucht fördernder Ökonomie, die die Eigensucht zum agens movens eines effektiven Wohlfahrtssystems transformiert. Insofern bleibt die Ökonomie bei S. weiterhin ein Teil der moral science. B. Priddat

Ausgaben: Hg:. R. H. Campbell u. a., Oxfd.  1976 (Glasgow Edi­ tion, Bd. 2). – Oxfd. 2008. – Dt., Untersuchung über Wesen und Ursachen des Reichtums der Völker, Tbg. 2005. Literatur: O. Hottinger, Eigeninteresse und individuelles Nutzenkalkül in der Theorie der Gesellschaft und Ökonomie von A.  S., Jeremy Bentham und John Stuart Mill, Marburg 1998. – M.  Aßländer, A.  S. zur Einführung, Hbg. 2007. – D. A. Reisman, A. S.’s Sociological Economics, Ldn. 2009.

The Theory of Moral Sentiments (engl.; Theorie der ethischen Gefühle), EA Ldn. 1759 (2 Bde.); 1790 (erw.).

In dieser Schrift erklärt S., wie es den Menschen möglich ist, in ihren Sympathiegefühlen übereinzustimmen. Dazu entwickelt er zuerst eine Konzep­ tion vom Wesen des Menschen, um daraufhin moralische Regeln als Mittel zu seiner Verwirklichung einzuführen. S. arbeitet dabei mit einem fiktiven, unparteiischen Beo­bachter (impartial spectator) des menschlichen Handelns. – Moral beruht nach S. auf einer Ähnlichkeit von Lust- und Leid­empfinden, die die Menschen erfahren, wenn sie beobachten, wie sie sich gegenseitig behandeln. In moralischer Hinsicht billigen

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Smith: The Theory of Moral Sentiments

wir das Verhalten eines Menschen nicht, weil es nützlich, sondern weil es anständig und recht ist. Durch die (fiktive) Beobachtung verhalten sich die Menschen anständig, was ihre zu ihrem Wesen gehörige Neigung zur Eigenliebe überwindet. Der impartial spectator tritt als eine Kollektivperson auf, deren Repräsentationsgehalt in einer gemeinschaftlich geteilten Meinung über das, was »anständig und fair« ist, besteht (gleichsam ein shared mental model). Er stellt in diesem Sinne keine Unbeteiligtheit dar, sondern eine Konvention oder einen gesunden Menschenverstand (common sense), den die Menschen akzeptieren, weil sie darin einen gemeinsamen Standpunkt haben, von dem aus die Handlungen der Mitbürger betrachtet werden können. Der impartial spectator lässt die Individuen überlegen, dass sie an der Stelle desjenigen stehen könnten, dem sie ihre Sympathie (sympathy) zuwenden. Daraus entsteht nach S. ein Motiv, aktuell so zu handeln, wie man an dessen Stelle behandelt werden wollte. Doch hängt die Geltung dieser Reflexionsfigur S. zufolge davon ab, ob man sich vorstellen will, jemals an die Stelle desjenigen zu kommen, der der Sympathie bedürftig ist. – S.’ Theory of Mor­

al Sentiment scheint im Gegensatz zum →  Wealth of Nations zu stehen, weil der Bäcker nicht nach Sympathie, sondern nach Umsatz handelt. Doch lassen sich Eigennutz und Sympathie als komplementäre Eigenschaften betrach­ten. Beide Hauptwerke S.’ zusammen ergeben erst das S.’sche Menschenbild: Nur als der im sozialen Kern reputationa­ler moral man kann der homo oeco­nomicus legitimiert werden. – S. erweist sich als Fortsetzer der schottischen Schule der theory of man (Ferguson, Hutchinson); sein Werk ist eine Theorie der Bedingungen gelingender Zi­vilisation. B. Priddat Ausgaben: Hg.: D. D. Raphael/ A. L.  MacFie (Glasgow Edition, Bd. 1), Oxfd. 1976. – NY 2010. – Dt., Hbg. 2010. Literatur: C. Fricke/H.-P. Schütt, A. S. als Moralphilosoph, Bln. 2005. – D. D. Raphael, The Impartial Spectator: A.  S.’s Moral Philosophy, Oxfd. 2009. – R. P. Hanley, A. S. and the Character of Virtue, Cambr. 2011.

Baruch de Spinoza (Benedictus de Spinoza, Bento d’Espinoza), *  24. 11. 1632 Ams­ terdam, †  21. 2. 1677 Den Haag; Hauptvertereter des neuzeitlichen Rationalismus und Begründer der modernen Bibelkritik.



Spinoza: Ethica ordine geometrico demonstrata 575

Ethica ordine geometrico demonstrata, et In quinque partes distincta, in quibus agitur I. De Deo II. De natura & origine mentis III. De origine, & et natura affectuum IV. De servitute humana, seu de affectuum viribus V. De potentia intellectus, seu de libertate humana

(lat.; Ethik, nach der geometrischen Methode dargestellt und in fünf Teile gegliedert. I. Über Gott II. Über die Natur und den Ursprung des Geistes III. Über die Natur und den Ursprung der Affekte IV. Über die menschliche Knechtschaft oder die Macht der Affekte V. Über die Macht des Verstandes oder die menschliche Freiheit), ED ohne Ortsangabe (Amsterdam) 1677 (in: Opera posthuma).

S. stellt die Frage: Wie kann der Mensch frei und glückselig werden? Der Text folgt der geometrischen Methode nach dem Vorbild Euklids. Während Euklid geometrische Figuren aus ihren Elementen konstruiert und daraus deren Eigenschaften ableitet, konstruiert S. den Begriff Gottes, um daraus die Welt als notwendige Folge abzuleiten. Die Methode bringt so die Kreativität Gottes zum Ausdruck. Der Mensch wird in dem Maße frei und glückselig, als er sein Leben als Teil dieser absoluten Kreativität zu verstehen und zu vollbringen vermag. – Um den Begriff Gottes

als absoluten Grund der Welt zu konstruieren, radikalisiert S. im 1.  Teil das Konzept der Substanz. Soll Substanzialität, also Selbständigkeit, im strengen Sinne gedacht werden, so kann es nur eine einzige und allumfassende Substanz geben, die immer in sich bleibt und durch sich selbst verstanden werden muss. Als absoluter Grund kann die Substanz nicht mehr – wie bei Aristoteles – als Realisierung einer vorgegebenen Wesensform verstanden werden, wie etwa Sokrates eine Realisierung von Mensch ist. Vielmehr ist die Substanz vorgängiger Träger allen Seins. Ausdehnung und Denken sind deren Attribute, d.  h. Ausdrucksformen des unendlichen Sachgehaltes der Substanz. In diesen Attributen bilden sich mit innerer Notwendigkeit Individuen als Modi oder abgegrenzte Sachgehalte. Körper und Geist drücken denselben Sachgehalt aus, dasselbe Individuum in verschiedenen Ausdrucksformen. Der Inhalt der Attribute ist also isomorph, so dass die Attribute nicht interagieren können (Parallelismus). Wie ist Freiheit in diesem deterministischen System zu denken? Da die Substanz sich durch die Attribute und ihre Modifikationen ausdrückt, ist nicht nur alles in Gott, Gott

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Spinoza: Ethica ordine geometrico demonstrata

ist auch in allem. Die Freiheit und Glückseligkeit muss also in der immanenten göttlichen Dynamik des Menschen gesucht werden. – Im Sinne dieser Immanenz wird im 2.  Teil der menschliche Verstand als Teil des Verstandes Gottes bestimmt. Wahrheitsfähigkeit liegt dabei in der Konstruktion: Mithilfe einer genetischen Definition, z. B. des Zirkelschlagens, können wir das Produkt, den Kreis, mit Gewissheit hervorbringen. Die Erkenntnis der Wahrheit ist an die Idee des hervorbringenden Grundes gebunden. Die Ideen der Affektionen durch äußere Dinge bilden wir dabei nicht in einer Wechselwirkung mit den Körpern, sondern gemäß dem Parallelismus allein im Attribut des Denkens. Als beschränkte Wesen haben wir zumeist unvollständige und inadäquate Ideen von den Dingen, da wir keine genetischen Definitionen von ihnen bilden können. Soweit wir jedoch unser Leben selbst gestalten, können wir es auch verstehen. – Im 3. Teil definiert S. das Wesen des Menschen als »conatus in suo esse perseverare, quantum in se est« (›Streben, in seinem Sein zu beharren, soweit er in sich ist‹). Dieses In-sich-Sein als Wirkkraft, den eigenen Sachgehalt zu entfalten, bildet die Basis eines

selbstgestalteten Lebens und Selbstbewusstseins. Dies findet jedoch stets in der Interaktion mit anderen Menschen statt. Einschränkungen der Selbstbestimmung erzeugen dabei den Affekt der Unlust, Förderungen den Affekt der Lust. Während die Affektion die Idee eines Gegenstandes hervorruft, meint der Affekt also die Zustandsänderungen des Modus. Subjektiv erscheinen diese als Gefühle und bezogen auf das Tätigkeitsvermögen als Nutzenkalkül: Gut ist, was nützt, schlecht, was schadet. Die Bewertung erfolgt dabei zunächst aus der Erinnerung an vergangene Erfahrungen. Dabei entstehen jedoch unwillkürlich Erwartungen (Theorie der Assoziation), die zu einem finalistischen Weltbild gerinnen: Wir meinen, die Welt habe den Zweck, unsere Erwartungen zu erfüllen. Doch so wenig Gott als vollkommenes Wesen Zwecke haben kann, so wenig erschöpft sich das menschliche Leben im Verfolgen von Zwecken. Glück­seligkeit und Freiheit bestehen in der Entfaltung der Eigengesetzlichkeit. – Wie wir das Vorhaben, ein freier Mensch zu werden, realisieren kön­ nen, bildet den Gegenstand des 4. Teiles. Dabei versteht S. Vernünftigkeit selbst als Produkt der zunehmenden



Spinoza: Tractatus theologico-politicus 577

sozialen Kooperation selbstbestimmter We­sen: Handlungen, die dem Individuum nützen, nützen auch den anderen Beteilig­ten gleicher Natur; Handlungen, die anderen schaden, brin­gen nur die eigene Schädigung zum Ausdruck. In der Erkenntnis zeigt sich die Kooperation als Gemeinbegriff (notio communis), der strukturelle Gemeinsamkeiten interagierender  We­sen, eben deren Affekte, benennt. Das Ziel der Freiheit taucht dabei nicht als normative Setzung, sondern als Optimierung des eigenen Lebens auf. – Da im Streben nach Freiheit die Zwecksetzung noch als eine äußere Vorgabe des Handelns liegt, folgt im 5. Teil ein weiterer Schritt. Folgen die Handlungen und Gedanken des Menschen spontan aus seiner inneren Logik, wird die äußere Wirklichkeit als Ausdruck des eigenen Wesens erfahrbar. Die Steigerung unserer Existenz wird dabei vom Gedanken an Gott als Verbindung von Innen- und Außenwelt begleitet. Daraus entsteht die vernünftige Liebe zu Gott (Amor Dei intellectualis). Da der Modus nichts anderes als ein Teilvollzug der Substanz ist, muss diese Liebe als die Liebe Gottes zu sich selbst als höchste Selbstaffirmation verstanden werden. Der Modus erkennt

seine Einheit mit der Substanz und ist damit frei und glückselig. – Nach der Wirkungsgeschichte in Aufklärung und Deutschem Idealismus interessiert sich die Philosophie der Gegenwart einerseits für den psycho-physischen Parallelismus, andererseits für die Möglichkeit einer nicht-normativen Ethik. T. Kisser Ausgaben: Lt./dt., in: Werke, Bd. 2, Hg.: K.  Blumenstock, Drmst. 1967. – Lt./dt., Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt, Ü.: W. Bartuschat, Hgb. 2010. Literatur: M. Gueroult, S. I: Dieu (Ethique I), Paris 1968. – H. Rombach, Substanz, System, Struktur, Bd.  2, Fbg./Mchn. 21981. – M.  Hampe/R.  Schnepf (Hg.): B. de S. Ethik, Bln. 2006 (Klassiker Auslegen).

Tractatus theologico-politicus Continens Dissertationes aliquot, Quibus ostenditur Libertatem Philosophandi non tantum salva Pietate, & Republicae Pace posse concedi: sed eandem nisi cum Pace Reipublicae, ­ipsaque Pietate tolli non posse

(lat.; Theologisch-politischer Traktat, enthaltend einige Abhandlungen, durch die gezeigt wird, daß die Freiheit zu philosophieren nicht nur unbeschadet der Frömmigkeit und des Friedens des Staates zugestanden werden kann: sondern daß dieselbe nur zugleich mit dem Frieden des

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Spinoza: Tractatus theologico-politicus

Staates und der Frömmigkeit selbst zu Fall gebracht werden kann), EA Hbg. (recte Amsterdam) 1670 (anonym).

Vermutlich aus einer – nicht erhaltenen – Apologie in Reak­ tion auf seine Verbannung aus der jüdisch-portugiesischen Gemeinde entstand der 1665 begonnene, im Frühjahr 1670 ohne Verfasserangabe publizierte Tractatus theologicopoliticus (TTP). S. setzt sich darin zum Ziel, die Freiheit zu philosophieren und darüber hinaus die Freiheit öffentlicher Meinungsäußerung ganz allgemein sowohl gegenüber dem Überlegenheits- und Kontrollanspruch der Theologie als auch unter Respektierung des Rechtssetzungsmonopols des Staates dadurch zu rechtfertigen, dass er die Gewährung einer derartigen Freiheit als die wahre Frömmigkeit befördernd und die Sicherheit des Staates stabilisierend nachweist. S. argumentiert daher jeweils unter Bezugnahme auf die grundlegenden Überzeugungen der Gegner, nämlich zum einen auf dem Boden des reformatorischen Schriftprinzips (1.  Teil, Kap.  1–15) und zum anderen auf dem Boden der Staatssouveränität (2.  Teil, Kap. 16–20). – In der Praefatio (Vorwort) deckt er den Zusammenhang zwischen religiösem

Aberglauben und politischer Instabilität bzw. personaler Herrschaft auf und stellt ihm die Entsprechung von stabilem Staatswesen und der Freiheit öffentlicher Meinungsäußerung gegenüber. Mit der Destruktion des theologisch-politischen Herrschaftskomplexes und dem Nachweis, dass die Demokratie die »natürlichste« Regierungsform ist, ist der TTP die wohl bedeutendste demokratietheoretisch konzipierte Freiheitsschrift der Frühen Neuzeit. – Das Beweisziel des 1.  Teils besteht in dem Nachweis, dass nach den Offenbarungszeugnissen selber Glaube und Philosophie/Wissenschaft ihren jeweils eige­ nen Bereich haben, so dass sie ­miteinander koexistieren können. In doppelter Frontstellung gegen den hermeneutischen Rationalismus – die je eigenen Ansichten über philosophische Wahrheit werden als Inhalt der Bibel ausgegeben, woraus eine Expertokratie des Heilswissens resultiert – und ge­gen den Vernunftskeptizismus zeigt S. mit der Ausarbei­ tung ei­ ner historisch-kritischen, kon­ textuell angelegten Methode einen dritten Weg zwischen Rationalismus und Vernunftskepsis auf, der gerade deshalb zu gewissen Erkenntnissen zu gelangen vermag, weil darin



Spinoza: Tractatus theologico-politicus 579

zwischen der Bedeutung/Aussage der Texte und der Wahrheit des in ihnen Ausgesagten streng unterschieden wird. – Den zweiten Teil, der die Frage nach dem Ausmaß der Meinungs- und Äußerungsfreiheit »im besten Staat« im Horizont der Frage nach den Bedingungen der Stabilität des Staates und der Sicherheit und Freiheit seiner Bürger zugleich erörtert, beginnt S. mit Ausführungen zu den Grundlagen des Staates und zum Verhältnis zwischen natürlichem, bürgerlichem und Souveränitätsrecht (Kap.  16). Das natürliche Recht eines jeden erstreckt sich so weit wie seine jeweilige Selbstbehauptungsmacht. »Das natürliche Recht eines jeden Menschen wird daher nicht durch die gesunde Vernunft, sondern durch die Begierde und Macht bestimmt« (Recht oder Macht, ius sive potentia). Aus der Instabilität und Dysfunktionalität des Naturzustandes für die Selbsterhaltung macht Spinoza verständlich, dass die Menschen immer schon in Gesellschaft leben und Re­gelsysteme zur Stabilisierung der Verhältnisse hervorbrin­ gen. Nur das verleiht ihnen in einer nicht auf ihre Begierden hin geordneten Welt ausreichen­de Macht, sich zu erhalten; aber eben damit unterliegen sie auch Anpas-

sungszwängen und einer Disziplinierung ih­rer Be­gierden und werden zu­gleich von der Gesamtgruppe abhängig. Es ist also die Nützlich­keit der Vergesellschaftung, was die Men­ schen motiviert, die Entscheidung über Handlungsfor­ men auf die Gesellschaft zu übertragen, wobei der Zwang der Verhältnisse, Ehrgeiz und Herrschsucht sowie eigenes Kalkül zusammenspielen. »Das Recht einer derartigen ­Ge­sellschaft« – d. h. einer solchen, in der die Logik der Steige­ rung der Selbsterhaltungsmacht durch Kooperation und Koordination ›rein‹ zum Ausdruck kommt und die insofern »die natürlichste Regierungsform« hervorbringt – »heißt Demokratie; sie ist demnach zu definieren als eine allgemeine Vereinigung von Menschen, die in ihrer Gesamtheit das höchste Recht zu allem hat, was sie vermag.« Das bürgerliche Recht ist nun die Gesamtheit der Regeln der Sicherung jener Freiheiten in Gestalt subjektiver Rechte des einzelnen, »die durch die Erlasse der höchsten Gewalt bestimmt und durch ihre Autorität allein geschützt wird«. Unrecht kann es also daher nur im bürgerlichen Zustand geben. Das Souveränitätsrecht (Kap.  17) besteht in der von allen eingeräumten Befugnis,

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Stirner: Der Einzige und sein Eigentum

Vorgaben für das Handeln der Bürger zu machen. Dieses Souveränitätsrecht ist aber von der Folgebereitschaft der Bürger abhängig. In einer Analyse der Stabilitäts- und Zerfallsbedingungen des althebräischen Staates (Kap.  18) bewährt S. seine Analyse, indem er zeigt, dass es die wechselseitige Verstärkung politischer und religiöser Institutionen war, was diese Stabilität verursachte, aber unter den Bedingungen des Austausches zwischen den Nationen nicht länger als Modell zu dienen vermag. Aus dem Ausgeführten ergibt sich (Kap.  19), dass die Direktionsgewalt über den äußeren Kultus bei den Inhabern der Souveränität liegen muss, weil jede Spaltung der Souveränität die Stärke der Einheitsbildung schwächen muss. Daraus, dass das Urteil über Sachverhalte und Handlungspräferenzen, so sehr es auch von den verschiedensten Autoritäten inhaltlich manipuliert werden kann, immer das je eigene und also unaufhebbar ist, folgert S. (Kap.  20), dass die staatliche Gewährung der öffentlichen Meinungsäußerungsfreiheit die Integration der Gesellschaft nicht schwächt, sondern diese umgekehrt gerade stärkt. »Der Zweck des Staates ist in Wahrheit die Freiheit«. M. Walther

Ausgaben: Opera, Bd. III, Hg.: C. Gebhardt, Heidelberg 1925, 6–267. – Lat./dt., Hg.: G. Gawlick/F. Niewoehner, Drmst. 1979. – Dt., Hbg. 1976. Literatur: B. Polka, Between Philosophy and Religion, 2 Bde., Lanham (Md.) 2007. – Y.  Y. Melamed/M. Rosenthal (Hg.), S.’s Theological-Political Treatise, Cambr. 2010. – Zum 1.  Teil: A.  Matheron, Le Christ et le salut des ignorants chez S., Paris 1971. – A. Samely, S.s Theorie der Religion, Wzbg. 1993. – H. DeDijn (Hg.), S.’s Philosophy of Religion (= Studia Spinozana 11, 1995), Wzbg. 1996.

Max Stirner (Pseudonym; eigentlich Johann Caspar Schmidt), * 25. 10. 1806 in Bayreuth, †  26. 6. 1856 in Berlin; Junghegelianer.

Der Einzige und sein Eigentum EA Lpzg. 1845 (recte 1844).

S. unternimmt in Der Einzige und sein Eigentum eine äußerst radikale Kritik an allem bisherigen theologischen und philosophischen Denken. Die Basis seines Angriffs auf jede Form allgemeiner Begriffsbildung und Theorie ist für S. das einzelne, konkrete und unverwechselbare Individuum, dessen Eigenschaften, Zwecke und Pflichten durch kein gedankliches Konstrukt adäquat



Stirner: Der Einzige und sein Eigentum 581

erfasst werden können. S. teilt zwar mit den Linkshegelianern den  grundsätzlich religionskritischen Impetus; allerdings zeigt er auf, dass die Ersetzung beispielsweise des Gottesbegriffs durch den Begriff der allgemeinen menschlichen  Gattung die Unterordnung und Fremdbestimmung des Individuums keineswegs beseitigt, sondern lediglich in das Innere des Subjekts verschoben hat. Insofern jede Annahme eines Wesens oder einer Natur des Menschen bereits einen evaluativen Rahmen für seine Aktivitäten impliziert, muss sie nach S. als Hindernis der Spontaneität des Individuums gelten – und darum kritisiert und beseitigt werden. S.s Der Einzige und sein Eigentum ist daher als Beitrag zur Debatte um die richtige Auffassung personaler Autonomie zu begreifen. – Formal gliedert sich das Werk in zwei Abteilungen (I.  »Der Mensch«, II.  »Ich«) und einen kurzen Prolog, in dem die Radikalität des S.’schen Ansatzes bereits in einer fundamentalen Kritik von Moralität deutlich wird: »Ich bin weder gut noch böse. Beides hat für Mich keinen Sinn.«, schreibt S. im Geburtsjahr Friedrich Nietzsches. In der ersten Abteilung skizziert S. eine kritische Genealogie der Moderne (insb.

der Reformation), in der er keine Emanzipationsgeschichte, sondern lediglich die Abwechslung verschiedener Herrschaftsformen des »Geistes« über das einzelne Individuum erkennt. Auf dieser Grundlage formuliert ­ S. eine scharfe Kritik v. a. an den  Grundbegriffen Feuerbachs und Bauers (»Unsere Atheisten sind fromme Leute«), wobei seine eigenen beispielsweise atomistischen und nominalistischen Prämissen weitestgehend nur implizit bleiben. Im zweiten Teil des Werks expliziert S. sein Verständnis der Relation von Individuum und Gesellschaft weniger auf der Grundlage der Kritik an seinen Zeitgenossen, sondern zunehmend in Form eines positiven Gegenentwurfs. Zentral ist hier für ihn der Begriff der »Eigenheit«, mit dem S. einen Wertprivatismus und Präsentismus zu verteidigen sucht, dessen Verhältnis aber zu verschiedenen Typen des Ego­ ismus im Rahmen des Buchs unterbestimmt bleibt. Obschon S. im Zuge seiner Ausführungen jede essenzialistische Auffassung des Menschen als auch jede geschichtsphilosophische Betrachtung von Ge­ sellschaft ablehnt, ist in seiner Arbeit ein Verständnis eines gesellschaftlichen Ideals (im­ plizit) operativ: Je deutlicher es

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Strawson: The Bounds of Sense

innerhalb einer Gesellschaft gelingt, die personale Autonomie der Subjekte radikal zu maximieren und somit einen »Verein von Egoisten« zu etablieren, desto verteidigenswerter wird sie. – S.s einziges Buch hat auf die Linkshegelianer – auch auf Marx, der sich im Rahmen der Arbeit an der →  Deutschen Ideologie (1845/46) ausführlich mit S. auseinandersetzt – starken Einfluss ausgeübt, ist aber anschließend wenig beachtet worden. Gegen Ende des 19. und im 20. Jh. ist S. häufig im Zusammenhang mit der Nietzsche-Rezeption, dem Interesse an existenzialistischer Philosophie und der Tradition des Anarchismus verstärkt gelesen worden. A. Mohseni Ausgaben: Hg.: A.  Meyer, Stgt. 2 1981. – Hg.: B. Kast, Fbg./Mchn. 2009 (ausführlich kommentierte Studienausg.). – Engl., The Ego and its Own, Hg. und Anm.: D.  Leopold, Cambr. 1995. Literatur: H.  G. Helms, Die Ideologie der anonymen Gesellschaft. M. S.s ›Einziger‹ und der Fortschritt des demokratischen Selbstbewußtseins vom Vormärz bis zur Bundesrepublik, Köln 1966. – W. Eßbach, Gegenzüge. Der Materialismus  des Selbst und seine Ausgrenzung aus dem Marxismus, Ffm. 1982. – S.  Newman (Hg.), M.  S., Ldn. 2011.

Peter Frederick Strawson *  23. 11.  1919 in London, †  13. 2. 2006 in Oxford; Vertreter einer ›Philosophie der normalen Sprache‹ und der sprachanalytischen Metaphysik.

The Bounds of Sense. An Essay on Kant’s Critique of Pure Reason

(engl.; Die Grenzen des Sinns. Ein Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft), EA Ldn. 1966.

Zusammen mit → Individuals. An Essay in Descriptive Metaphysics (1959) repräsentiert Bounds das erkenntnistheoretische Hauptwerk S.s, in dem eine innovative Rekonstruk­ tion von Inhalten der ›Elementarlehre‹ von Kants →  Kritik der reinen Vernunft (1781/87) vorgenommen wird. Entgegen dem Titel der (auch anderweitig problematischen) deutschen Übersetzung handelt es sich nicht um einen Kommentar zur Kritik der reinen Vernunft, sondern um den Versuch eines eigenständigen sprachkritisch gewendeten Zugangs zum transzendentalen Idealis­ mus, den S. ab 1959 wiederholt in Vorlesungen an der Universität Oxford entwickelt hat. Im  Mittelpunkt steht die ­sprachanalytische Aufbereitung der prominentesten Abschnitte  und Argumentationen aus



Strawson: The Bounds of Sense 583

der ›transzendentalen Ästhetik‹ sowie der ›transzendentalen  Lo­ gik‹, die unter folgenden beiden interpretativen Grundsatzentscheidungen stehen: 1.)  Kants Rede von den Bedingungen der Möglichkeit und Grenzen von Erkenntnis wird operationalisiert durch die bereits in Individuals entwickelte sinnkritische Methode der präsuppositionalen Analyse unseres Begriffssystems zum Aufweis der allgemeinsten Strukturmerkmale eines jeden möglichen Erfahrungssprachspiels. 2.)  Kants allgegen­ wärtige Unterscheidung zwischen ›Erscheinung‹ und ›Ding an sich‹ wird verstanden als eine ontische Unterscheidung zwischen der uns epistemisch zugänglichen Welt der Erscheinungen und der ihr zugrunde liegenden, aber uns absolut unzugänglichen eigentlichen Welt der Dinge an sich, die für uns übersinnlich ist und von deren Beschaffenheit wir keinerlei Wissen haben können. S. kennzeichnet dies als die erste Doktrin des transzendentalen Idealismus. S. gelingt damit an einer Vielzahl von Stellen die Rekonstruktion beeindruckender Argumente bzw. eine Korrektur kantischer Argumentationsvorlagen, die zu einem verbesserten Verständnis des kantischen Projektes in der Kri-

tik der reinen Vernunft führen. Exemplarisch erwähnt werden soll S.s elegante Auflösung des kantischen Problems aus dem »Schematismus«-Kapitel, wie es überhaupt sein kann, dass a priori reine Verstandesbegriffe wie die Kategorien eines empirischen Gebrauchs fähig sind. Nach S. ist die Auszeichnung a priori reiner Verstandesbegriffe keine Aufgabe, die unabhän­ gig vom Nachweis der Gewährleistung ihres empirischen Gebrauchs vollzogen werden könnte, sondern stets bei unserem faktisch verwendeten Begriffssystem ihren Ausgang nimmt. Diese sprachphilosophische Lösung ist gleichermaßen beeindruckend wie etwa S.s Analyse des Vollständigkeitsproblems der Kate­ gorientafel. Für Kant resultiert der transzendental notwendige Charakter von genau zwölf Kategorien aus einer entsprechenden Urteilstafel, die ihrerseits mit einer ganz bestimmten Logik ansetzt und damit nach S. Folge einer Konvention ist. Statt mit einer nicht alternativlosen Logik zu beginnen, plädiert S. unter Verwendung von Einsichten aus seiner deskriptiven Metaphysik für eine transzendentale Argumentation, ausgehend von der kategorialen Begriff-GegenstandUnterscheidung. – S.s Bounds

584

Strawson: Individuals

ist eines der ersten, wenn nicht gar das erste Werk in der Tradition des linguistic turn, das sich explizit die Rehabilitierung der transzendentalen Metaphysik der Natur zum Ziel setzt. Es zählt nach wie vor zu den einflussreichsten Arbei­ten in der jüngeren, vornehmlich angelsächsischen Rezeptionsgeschichte zu Kants Kritik der reinen Vernunft. – Das, ausgehend von Individuals, hier weiterentwickelte Verständnis transzendentaler Argumente bildet bis heute den problemgeschichtlichen Ausgangspunkt für die  Transzendentale-Argumente-Debatte, während die von S. in Bounds verfochtene ontische Zwei-Welten-Lehre entscheidenden Einfluss u. a. auf John McDowells Kantverständnis in → Mind and World (1994) genommen hat. M. Wille Ausgaben: Ldn. 2006. – Dt., Ffm. 1992 (Ü. revisionsbedürftig). Literatur: T. Grundmann, Analytische Transzendentalphilosophie. Eine Kritik, Paderborn u. a. 1994. – B. Stroud, Understanding Hum­an Knowledge. Philosophical Essays, NY 2000. – H. E. Allison, Transcendental Idealism. An Interpretation and Defense, New Haven/Ldn. 22004.

Individuals. An Essay in Descriptive Metaphysics

(engl.; Einzelding und logisches Subjekt. Ein Beitrag zur deskriptiven Metaphysik), EA Ldn. 1959.

S. geht es in diesem Werk um die Entfaltung der invarianten Grundstruktur unseres  lebensweltlichen Begriffssystems und von dessen impliziter  Ontologie. Als Grundtypen von  Begriffen unterscheidet er singuläre Termini (particular terms), mit denen Einzeldinge in eine Aussage eingeführt werden,  und generelle Termini (universal terms), mit denen Universalien in eine Aussage eingeführt werden. Seine Ontologie besteht aus verschiedene Typen von Einzeldingen und Universalien. Als Vertreter der Gruppe Oxforder Sprachanalytiker betont er die Priorität der sog. »Philosophie der normalen Sprache« gegenüber Philosophien idealer Sprache und unserer lebensweltlichen Ontologie gegenüber den Ontologien der Naturwissenschaften. Mit seinem Projekt, das er »deskriptive Metaphysik« nennt, knüpft er an die aristotelische Logik und Substanzontologie sowie an die kantische Transzendentalphilosophie an. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Struktur eines transzendentalen Argumentes. – Im 1. Teil



Strawson: Individuals 585

des Werkes untersucht S. einige Bedingungen der Möglichkeit der Identifikation von Einzeldingen (particulars), auf die wir mittels Eigennamen, bestimmter Kennzeichnungen, Demonstrativ- und Personalpronomina Bezug nehmen  können. Die Möglichkeit solcher Identifikation beruht nach S. letztlich auf einem System raum-zeitlicher Relationen, das es theoretisch erlaubt, jedes Einzelding eindeutig in Rela­ tion zu einem Bezugspunkt zu beschreiben, der durch Hinweis (demonstrative) identifizierbar ist. Eine Voraussetzung für den Besitz eines solchen Systems ist die Existenz einer hinreichend großen Menge raum-zeitlich andauernder und tastbarer dreidimensionaler Objekte, die in relativ festen räumlichen Beziehungen zueinander stehen. Eine weitere Voraussetzung ist unsere Fähigkeit, mindestens einige dieser Körper trotz unterbrochener Beobachtung als dieselben zu reidentifizieren. Solche materiellen Körper sind nach S. die grundlegenden Einzeldinge (basic particulars), von deren Identifikation die Identifikation der meisten Einzeldinge anderen Typs abhängig ist (z.  B. öffentlich beobachtbare Ereignisse oder unbeobachtbare theoretische Konstruktionen wie Elementarteilchen). Ana-

log dazu ist die Identifika­tion mentaler Ereignisse nach S. von der Identifikation von Personen abhängig. Gegen Des­cartes und in Auseinandersetzung mit Wittgenstein und Schlick plädiert S. für einen einfachen, nicht dualistisch analysierba­ ren Begriff der Person, der wir psychische Zustände und physische Eigenschaften gleichermaßen zuschreiben. – Im 2. Teil des Werkes versucht S., die »rationale Grundlage« der traditionellen Lehre zu verdeutlichen, dass Ausdrücke für Einzeldinge und Universalien nicht gleichermaßen Subjekt und Prädikat sein können. In Auseinandersetzung mit Ramsey, der jeglichen Unterschied zwischen Subjekt und Prädikat leugnet, sowie Frege, Q ­ uine und Geach untersucht S. Kriterien der Unterscheidung von Subjekt und Prädikat und entwickelt selber ein Krite­ rium, das auf unterschiedlichen Bedingungen der Einführung von Einzeldingen und Universalien in die Rede beruht: Die Bezugnahme auf ein Einzelding durch ein Subjekt (›Dieses Haus‹) präsupponiert die Existenz dieses Einzeldings und besitzt somit eine relative Vollständigkeit im Vergleich zu der Zuschreibung einer Universalie in der Prädikation (›ist rot‹), die nur die Kenntnis der Spra-

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Tarski: Pojęcie prawdy w językach nauk dedukcyjnych

che voraussetzt. Ausdrücken für Einzeldinge kommt daher niemals die Unvollständigkeit zu, die typisch für Prädikate ist. Sie sind für die Subjektstelle im Satz gleichsam prädestiniert. Wie S. im 1.  Teil der Schrift die Probleme eines Verzichtes auf grundlegende Einzeldinge in der Ontologie anhand des Gedankenexperimentes einer rein auditiven Welt darstellt, so zeigt er im 2. Teil gegen Russell und Quine die Probleme der sprachanalytischen Eliminierung solcher Ausdrücke, die auf Einzeldinge Bezug nehmen. – Alle Themen des Werkes – die Theorie transzendentaler Argumente, die Unterscheidung von Subjekt und Prädikat, seine Präsuppositionstheorie, seine Konzeption der Person und sein Verweis auf die fundamentale Rolle eines bestimmten Typs von Einzeldingen – sind für die gegenwärtige Ontologie und Sprachphilosophie von großer Bedeutung gewesen. B. Merker Ausgabe: Dt., Stgt. 1972. Literatur: L. E. Hahn (Hg.), The Philosophy of P. F. S., Chicago (Ill.) u. a.  1998. – S.-J. Conrad (Hg.), P. F. S., Ding und Begriff, Object and Concept, Ffm. u. a. 2010. – H.J. Glock (Hg.), S. and Kant, Oxfd. 2003.

Alfred Tarski *  14. 1. 1902 in Warschau, †  26. 10. 1983 in Berkeley (Calif.); bedeutender Logiker und Mathematiker des 20. Jh.s.

Pojęcie prawdy w językach nauk dedukcyjnych (poln.; Der Wahrheitsbegriff in den formalisierten Sprachen), EA Warschau 1933 (in: Prace Towarzystwa Naukowego Warszawskiego, Wydzia III/34); dt. 1935 (in: Studia Philosophica 1).

Ziel dieser logisch-semantischen Abhandlung ist es, eine inhaltlich adäquate und for­ mal widerspruchsfreie Definition des Wahrheitsbegriffs zu entwickeln. – T. strebt hierbei eine semantische Wahrheitsdefinition an, in der der Ausdruck ›wahr‹ auf Aussagen angewendet wird und die mit der klassischen, korrespondenztheoretischen Auffassung von Wahrheit als Übereinstimmung mit der Wirklichkeit verträglich ist. Ein Adäquatheitskriterium für eine solche Wahrheitsdefinition ist das folgende Satzschema: ›x ist wahr genau dann, wenn p‹ (wobei p für eine beliebige Aussage und x für den Namen dieser Aussage steht). Obwohl dieses Kriterium nach T. zunächst überaus plausibel erscheint, führt es, auf die Umgangssprache angewandt, zu Widersprü-



Tarski: Pojęcie prawdy w językach nauk dedukcyjnych 587

chen, wie die bekannte Antinomie des Lügners zeigt: Der Satz ›Dieser Satz ist nicht wahr‹ ist genau dann wahr, wenn er nicht wahr (d. h. falsch) ist. Die Ursache für ­diese Widersprüche sieht T. in der vor­ ausgesetzten semantischen Geschlossenheit der Sprache, d. h. der Annahme, dass die Sprache auch die Namen ihrer Aus­ drücke sowie semantische Terme wie ›wahr‹ enthält. Für T. ist das Projekt einer konsistenten Wahrheitsdefinition somit nur dann durchführbar, wenn die Sprache, für die der Wahrheitsbegriff entwickelt werden soll, in ihrer Struktur exakt bestimmbar und nicht semantisch geschlossen ist. Dies bedeutet, dass zwischen der Objektsprache – der Sprache, über die gesprochen wird, – und der Metasprache – der Sprache, in der wir über die Objektsprache reden, – konsequent unterschieden wird. Der Wahrheitsbegriff für die Objektsprache ist nicht innerhalb der Objektsprache, sondern erst in der Metasprache formulierbar. Die formale Sprache, die T. seiner Wahrheitsdefinition zugrunde legt, ist eine Sprache des Klassenkalküls. Der semantische Begriff der Erfüllung dient als Grundlage für die Definition des Begriffs ›wahre Aussage‹. Erfüllung wird zunächst als

Beziehung zwischen Gegenständen und sog. Aussagefunktionen, d. h. Formeln mit freien Variablen wie z. B. ›x ist Teilmenge von y‹, eingeführt. Eine Aussagefunktion wird T. zufolge von Gegenständen erfüllt, wenn nach der Ersetzung ihrer Variablen durch die Namen der Gegenstände ein bestehender Sachverhalt ausgedrückt wird. Hierauf aufbauend wird der Erfüllungsbegriff für Aussagen definiert, d. h. für Formeln, die nur durch Quantoren gebundene Variablen enthalten, wie etwa: ›Für alle x gilt: x=x‹ oder ›Es gibt x und y, so dass x Teil­ menge von y ist‹. Ein Allsatz der Form ›Für alle x gilt A‹ wird von einem Gegenstand erfüllt, wenn für alle Gegenstände gilt, dass sie A erfüllen; ein Exis­ tenzsatz ›Es gibt ein X, so dass A gilt‹ wird von einem Gegen­ stand erfüllt, wenn es irgendeinen Gegenstand gibt, der A erfüllt. T. kann nun definieren: Eine Aussage ist genau dann wahr, wenn sie von allen Gegenständen e­rfüllt wird. Diese Definition ist konsistent und ge­ nügt der obigen Adäquatheitsbedingung. Des Weiteren lassen sich mit ihrer Hilfe grundlegende Logikgesetze so­ wie das wichtige metatheore­ tische Ergebnis der Nichtübereinstimmung von Wahrheit und Beweisbarkeit gewinnen. –

588

Taylor: Sources of the Self

T.s semantische Untersuchungen waren von großer Bedeutung für die formale Semantik und Modelltheorie sowie für die analytische Sprach- und Erkenntnisphilosophie. E. Brendel Ausgaben: Dt., Logik-Texte, Hg.: K.  Berka/L.  Kreiser, Bln. 41986, 445–546. – Engl., in: A. T., Logic, Semantics, Metamathematics, Indianapolis 1983, 152–278. Literatur: V. Beeh, Die halbe Wahrheit. T.s Definition und T.s Theorem, Paderborn 2003. – A. B. Feferman/S.  Feferman, A.  T.: Life and Logic, Cambr. 2004. – V. Halbach, Axiomatic Theories of Truth, Oxfd. 2011.

Charles Taylor * 5. 11. 1931 in Montreal; Philosoph und Politikwissenschaftler, bedeutender Vertreter des Kommunitarismus und Naturalismuskritiker.

Sources of the Self. The Making of the Modern Identity

(engl.; Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität), EA Cambr. 1989.

T.s bisher bedeutendstes moralphilosophisches und geistesgeschichtliches Werk ist der ehrgeizige Versuch, die Entwicklung der modernen Identität so zu beschreiben, dass nicht

nur deren Bildungsgeschichte kulturhistorisch nachgezeichnet wird, sondern dabei auch die normativen Ansprüche begründet werden können, die sie an unser gegenwärtiges Selbstverständnis stellt. Diese Doppelabsicht einer normativen Genealogie verfolgt T.s Methode, konstitutive Zusammenhänge zwischen bestimmten Selbst-, Welt- und Moralvorstellungen, zwischen Identität und bestimmten Deutungen des Guten, nachzuzeichnen. – Unter moderner Identität versteht T. die Gesamtheit der gelebten oder formulierten Auffassungen, die für unser westliches Selbstverständnis als handelnde menschliche Wesen grundlegend sind: einen Sinn von Innerlichkeit, von Freiheit der individuellen Lebensführung und von Eingebettetsein in die Natur. Die Teile 2–4 des Werks artikulieren die europäische Bedeutungsgeschichte dieser drei Bereiche, besonders seit dem 17. Jh. Die asiatische Welt bleibt ausgespart. Der 1.  Teil des Werks enthält T.s metaethische Kritik an reduktionistisch -naturalistischen, formalistisch-prozeduralistischen und utilitaristischen Hauptströmungen der zeitgenössischen Moralphilosophie (die wichtige Bereiche der moralischen Erfahrung wie die Sinn-



Thomas von Aquin: De ente et essentia 589

frage, das Gute, Selbstachtung und Lebensart ausblendet) sowie T.s formales, im weitesten Sinne kognitives Konzept des Guten als eines Orientierungswissens um qualitative Differenzen, das aus »starken«, weil unser Selbstbewusstsein bestimmenden »Wertungen« und aus »Hypergütern«, Gütern zweiter Ordnung, besteht. Erst im Licht einer Deutung des Guten können wir nach T. unsere moralischen Reaktionen als Affirmation einer wertvol­len Ordnung (statt z. B. als blin­den Pflichtgehorsam) verstehen. In Teil 5 diagnostiziert T. Konflikte, die daraus hervorgehen, dass die moderne Identität paradoxerweise die Ablehnung starker Wertungen selber zu einem ihrer – uneingestandenen – Eigenwerte erhebt. M. Kettner Ausgabe: Ffm. 1994. Literatur: M. Lane, God or Orien­teering?, in: Ratio 5 (1), 1992, 46–56. – Philosophy and Phenom­ enological Research 54 (1), 1994 (Diskussionsnr. zu Sources of the Self). – M. Schütz, Der Begriff des Guten bei C. T., Mchn. 2005.

Thomas von Aquin OP (Thomas de Aquino, Thomas Aquinas), * 1224/25 auf der Burg Roccasecca bei Aquino (Latium), † 7. 3. 1274 in der Abtei Fossano-

va (Latium); bedeutender Vertreter der Hochscholastik, Dominikaner.

De ente et essentia (lat.; Über Seiendes und Wesen), entst. 1252–56; EA Padua 1475.

In dieser frühen Schrift entwickelt T. in einem »Proömium« und sechs Kapiteln die Begriffe ›Seiendes‹ und ›Wesen‹ in ihren logischen und ontologischen Beziehungen. Dabei geht es um die Vermeidung von Aporien, die sich einerseits aus dem  Universalienrealismus  ergeben, andererseits aus dem frühen Nominalismus. – Für T. – und für die traditionelle Metaphysik – sind Seiendes und Wesen Grundlagen wissenschaftlichen Denkens. Sie sind daher auf den verschiedenen Seinsebenen und in ihrer  definitorischen  Bedeutung, in Relation zu Gattung, Art und Differenz, zu untersuchen (Proömium). Dabei ist von dem aus Form und Materie kombi­nierten Einzelseienden auszugehen,  das dem menschlichen Intellekt am nächsten liegt. Von diesem aus sind – auf  dem Weg vom Zusam­ mengesetzten zum Einfachen – der Begriff des ›Wesens‹ sowie die Bedeutungen von Sein und  Wesen für Körper,  Seele, reine Vernunftwesen und Gott  zu erschließen. T. reiht

590

Thomas von Aquin: De ente et essentia

sich in die Tradition von Aristoteles, Neuplatonismus, Avi­ cenna und Averroes ein, intendiert freilich eine Metaphysik, deren oberstes Sein nicht bloß Begriff oder Idee, sondern die positive Vollkommenheit (des christlichen) Gottes ist. I. ›Seiendes‹ (ens) kann unterschiedlich verwendet werden, einmal in ontologischer und einmal in logischer Bedeutung. Seiner logischen Bedeutung nach kann ›Sein‹ auch als Prädikat solcher logischen Subjekte verwendet werden, die nicht in ontologischem Sinn existieren, also Nichtseiendes sind. Dies ist beispielsweise bei Negationen der Fall: So wird von der Blindheit ausgesagt, dass sie im Auge sei, obwohl sie ontologisch das Nichtsein der Sehfähigkeit ist. Der Ausdruck ›Wesen‹ (essentia) wird im Lateinischen von ens abgeleitet, aber nur in der ersten, ontologischen Bedeutung.  Das Wesen ist Ursache des bestimmten Seins (in der  aristotelischen  Terminologie  z. B. ›Sosein‹, ›Form‹, ›Natur‹) des Seienden in der ersten Bedeutung, und es steht für den Gehalt der Defini­tion (Washeit) des Seienden in der ersten Bedeutung. II.  Das Wesen der zusammengesetzten Substanzen meint  deren individuelle, aktuale Einheit aus Materie und Form. Ma-

terie ist dabei als quantitativ bestimmte (signata quantitate) das Individuationsprinzip, als Materie überhaupt Bestandteil der Definition. Aus diesem Befund  am Individuum ergeben sich analog Bestimmungen zu Art und Gattung, die jeweils in unbestimmter Weise die nähere, durch Differenz zu erzeugende Bestimmtheit des Untergeordneten enthalten.  Der logische Zusammenhang von Gattung, Art und Differenz ist analog, aber nicht identisch dem ontologischen von Materie, Form und Kompositum. So kann das Wesen sowohl als Bestimmung des Kompositums als auch als relativ selbständige Bestimmung der Art gedacht werden: homo und humanitas bezeichnen das Individuum in je anderer Weise. III. Das bestimmte Sein des Wesens ist Ausgangspunkt der Erkenntnis, diese als allgemeine Wesensbetrachtung der resultative Begriff, durch den das Bestimmte als erkannt gedacht wird. Das Allgemeine ist weder platonisch selbständige Idee, noch averroistisch in einem außermenschlichen Intellekt, sondern existiert nur in den Intellekten der Menschen; seine Allgemeinheit folgt seiner Fundierung in der Sache, deren Allgemeines es ist. IV.  T. geht davon aus, dass die (Vernunft-)



Thomas von Aquin: De ente et essentia 591

Seele relativ selbständig gegenüber dem Menschen ist. Sie ist sein Wesen, aber vergeht nicht mit ihm. Insofern gehört sie, mit den reinen Vernunftwesen (Engeln) und Gott zu den abgetrennten Substanzen. Diese sind nicht aus Form und Materie, sondern aus Form und Sein komponiert. Da Form und Sein nicht identisch sind, verweist das Sein auf eine Seinsursache, die in letzter Instanz Gott ist. Je ferner eine Substanz dessen reinem Sein steht, desto weniger Akt und mehr Potenz kommt ihr zu. V.  Konsequent steht Gott nicht innerhalb der Seinsordnung, aber er ist auch nicht bloß (abstrakt) allgemeines Sein, sondern (konkret) absolute Vollkommenheit. Bei den Engeln sind Sein und Wesen verschieden, aber das Wesen  ist nicht materiell gebunden; sie sind ihrem Sein nach endlich (geschaffen), aber nicht ihrem Wesen nach. Menschen sind hingegen wesentlich auf Materie hingeordnet, individualisiert. Ihre Definition gründet der Gattung nach in der Materie, der Artdifferenz nach in  der Form: animal rationale. Das unvernünftige Seiendeschließlich ist in jeder Hinsicht endlich, weil die in der Materie realisierte Form keinerlei Selbstständigkeit hat. VI.  Abschließend untersucht T. die

Akzidentien. Auch diese sind Aristoteles zufolge im Zusammenhang der Lehre vom Wesen zu untersuchen, obwohl sie keine selbständig bestimmten und existierenden Dinge sind, sondern stets an einem Wesen und von diesem abhängig sind. Allerdings kann von Akzidentien durchaus gesagt werden, was sie sind, blau ist etwa von rot unterscheidbar. Daher ist auch bei ihnen eine Defini­tion möglich, aber nur in Analogie zur Wesensdefinition. Es kommt ihnen nicht das volle Sein zu wie den Wesen, aber ein abgeleitetes Sein, dessen besondere Form sich entweder aus ihrer Relation zum Wesen ergibt oder aus der logischen Form ihrer Verwendung. Mit Verweis auf die Vollständigkeit der Untersuchung und den Sonderstatus Gottes schließt T. – Die Schrift, für das Studium der Mitbrüder verfasst, ist bald als wichtiges Werk der Metaphysik erkannt, seit dem 14.  Jh. vielfach kommentiert und bis heute immer wieder ediert und übersetzt worden. M. Städtler Ausgaben: Editio Leonina, Rom 1882 ff., Bd. 43, 369–381. – Lat./ dt., Über Seiendes und Wesenheit, Ü. und Hg.: H. Seidl, Hbg. 1988 (mit Einl. und Komm.). – Lat./dt., Ü. und Hg.: W. Kluxen, Fbg. 2007 (mit Einl.).

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Thomas von Aquin: Summa contra gentiles

Literatur: R. Heinzmann, T. v. A. Eine Einführung in sein Denken, Stgt. 1994.

Summa contra gentiles seu liber de veritate fidei catholicae contra errores infidelium

(lat.; Summe gegen die Heiden), entst.  1258–65, eine Spätdatierung (ca. 1270) konnte sich nicht durchsetzen; ED Straßburg, nicht nach 1474.

Das frühere der beiden systematischen Hauptwerke des T. v. A. (dessen authentischer Titel nicht gesichert ist) be­ handelt zentrale Lehrinhalte des Christentums in vier Büchern und 463 Kapiteln, die durchweg thesenförmig for­ mulierte Lehraussagen behandeln. T. bedient sich dabei nicht der dialogisch-dialektischen Quästionenstruktur, die aber doch gelegentlich durchscheint. In formaler wie inhaltlicher Hinsicht – trotz des gängigen Titels handelt es sich eher nicht um eine Gesamtdarstellung der hauptsächlichen Inhalte einer Disziplin für Unterrichtszwecke (›Summe‹) – besteht kein direkter Bezug zum universitären Lehrbetrieb; vielmehr wird stark problembezogen argumentiert. Aber auch die These, das Werk sei ein (auf Anforderung des Ordens erstellter) Argumentationsleitfaden für die Ausein­andersetzung

mit den Muslimen, wird inzwischen kaum mehr vertreten. – T. reflektiert jedoch in den einleitenden neun Kapiteln des ersten Buches Erkenntnisprogramm und Methode des Werks ausführlich auf der Grundlage der wechselseitigen Zuordnung von Vernunft (ratio) und Glauben (fides) bzw. Glaubenslehre. Demnach können Vernunft und Glaube, da beider Wahrheiten gleichermaßen auf Gott zurückgehen, einander nicht widersprechen; bereits der auf sich allein gestellten menschlichen Vernunft ist zudem eine fundamentale Gotteserkenntnis möglich, die aber, grundsätzlich begrenzt, Gott seinem Wesen nach nicht einzuholen vermag und überdies vielfältigen weiteren Hindernissen unterliegt. Die Vernunft bedarf deshalb der Ergänzung durch die Offenbarung. Diese Konstellation begründet und limitiert die Kompetenzen der Vernunft in ihrem Verhältnis zur Glaubenslehre: Den Ungläubigen gegenüber sind die Möglichkeiten der natürlichen Gotteserkenntnis auszuschöpfen; darüber hinaus sind durch den argumentativen Nachweis immanenter Fehler und Widersprüche Angriffe auf den Glauben abzuwehren. Gegenüber den Gläubigen hat die Vernunft zudem die Aufgabe,



Thomas von Aquin: Summa theologiae 593

den Glauben durch »wahrheitsähnliche« Argumente zusätzlich zu plausibilisieren. Wenn T. ausdrücklich die Wahrheit des Glaubens »gegen die Heiden« bzw. »gegen die Irrtümer der Ungläubigen« vertreten will, dann bedeutet dies die Darstellung und Verteidigung der Lehrinhalte des Christentums zunächst auf der Grundlage ausschließlich der Vernunft (und also namentlich der aristotelischen Philosophie) als der mit Nicht-Gläubigen allein gemeinsamen argumentativen Basis. Glaubensinhalte, die die Vernunft übersteigen, können und müssen separat (als mindestens nicht widervernünftig) dargestellt werden. – Der Aufteilung der Summa contra gentiles in vier Bücher liegt deshalb eine Zweiteilung zugrunde: Die Bücher I–III verhandeln diejenigen Inhalte des Glaubens, die bereits der Vernunft zugänglich sind, Buch  IV hingegen die auf Offenbarung beruhenden Glaubenswahrheiten im engeren Sinn. Beide Komplexe sind, abgesehen von den allen vier Büchern vorangestellten Einleitungskapiteln, ihrerseits parallel untergliedert; dargestellt werden im Detail: (a) die Gotteslehre im eigentlichen Sinne (Buch  I: Beweis der Existenz Gottes, seine Einheit, Unkörperlichkeit und Gutheit, seine

›inneren‹ Tätigkeiten Erkennen und Wollen; Buch  IV/2–26: Trinität), (b)  die Wirksamkeit Gottes nach außen (Buch  II: Schöpfung und Geschöpfe, insb. die geistigen Substanzen; Buch  IV/27–78: Inkarnation, Erlösung, Sakramente) sowie (c)  Gott als Ziel und Lenker der Welt (Buch III: innernatürlich; Buch  IV/79–97: Gott als übernatürliches Ziel des Menschen). – Die Summa contra gentiles hat Teil an der enormen Wirkungsgeschichte des T. v. A. nicht erst seit der Neuscholastik, stand aber – wohl wegen ihres weniger ausgeprägten Lehr- und Handbuchcharakters – stets im Schatten der → Summa theologiae. S. Seit Ausgaben: Editio ­Leonina, Bde.  13–15, Rom 1918–30.  – Lat./dt., Hg. und Ü.:  K.  Al­bert/ P.  Engelmann/K. Allgeier/M. H. Wörner, Drmst. 1974–96. – Engl., On the Truth of the Catholic Faith, Ü.: A. C. Pegis/J. F. Anderson/V. J. Bourke/C. J. O’Neil, Garden City 1955–57 (ND Notre Dame 1975). Literatur: R. Schönberger, T.  v.  A.s ›Summa contra gentiles‹, Drmst. 2001.

Summa theologiae (gelegentlich noch Summa theologica, lat.; Summe der Theologie), entst. ab 1265 (unvollendet); EA Basel 1485.

594

Thomas von Aquin: Summa theologiae

Das Hauptwerk des T. ist in drei Hauptteile gegliedert, die Secunda Pars noch einmal in zwei Unterteile. Die Summa umfasst insgesamt 512 »Quaestionen«, die ihrerseits in Artikel gegliedert sind. Deren Thema wird zunächst durch Einwände gegen die avisierte Lösung eröffnet, die sich aus der philosophischen (auch der arabischen) und theologischen Tradition sowie aus der Bibel ergeben. Auch werden, oft ohne Namensnennung, Positionen von zeitgenössischen Gegnern aufgenommen. Es folgt die Antwort, auf deren Grundlage die Einwände kommentiert werden. T. hat die Arbeit an der Tertia Pars nach Quaestio 90 krankheitsbedingt aufgegeben; Schüler haben die offenen Fragen auf der Grundlage anderer Werke ergänzt, dies sog. Supplementum hat noch einmal 99 Quaestionen. Das Werk ist eine systematisch geordnete Gesamtdarstellung des theologischen und philosophischen Denkens. – Das Verhältnis von Philosophie und Theologie ist im 13. Jh. durch die Wiederentdeckung des Ari­ stoteles bestimmt, an der T. maßgeblich beteiligt war. Damit tritt die nicht religiöse Rationalität als Autorität neben die christliche Rezeption des Neuplato­nismus. Die Summa bemüht sich in vielen Fragen

um Vermittlung, versteht sich aber pri­mär als Theologie. Ihr Gegenstand sind jene Prinzipien der Welt und ihrer Erkenntnis, die der Philosophie nicht zugäng­lich sind, aber aus der göttli­chen Offenbarung ermittelt wer­den können, wie Totalität, obers­tes Gut, Naturgesetz oder Seele. Theologie wird zum Medium philosophischer Spekulation. Sie bildet epistemologisch sowohl Grundlage als auch Ziel der Philosophie, weil der Mensch zum obersten Gut (Gott) streben soll, hierfür aber wissen muss, wonach er strebt. Das Ziel der Spekulation ist ein praktisches. Daraus ergibt sich die Systematik: Die Prima Pars behandelt zunächst Gottes absolutes Sein, Intellekt und Willen, die in der Trinitätslehre in einem Reflexionsmodell vermittelt werden. So werden reine Begriffe von Wollen, Erkennen und Sein erörtert. Es folgt die Erschaffung der Engel, der Welt und der Menschen; jene bilden ein Mittelglied zwischen Gott und Mensch: geschaffen, aber unstofflich, unvergänglich. Hier legt T. die Grundlage aller weiteren Bestimmungen, indem die gesamte Schöpfung als auf die Erkenntnis hingeordnet interpretiert wird, die ihrerseits über die Erkenntnis des Endlichen und die Selbsterkenntnis auf die Gotteserkenntnis



Thomas von Aquin: Summa theologiae 595

hingeordnet ist; diese wird in vollem Maß erst der erlösten Seele zuteil. Die Bestimmung der sinnlichen und geistigen Ausstattung des Menschen ist auf die Schau Gottes ausgerichtet, deren praktische Voraussetzungen, die ethischen, dianoetischen und theologischen Tugenden, in der Secunda Pars untersucht werden. Die Prima Secundae beginnt mit handlungstheoretischen Fragen über Ziele, Entscheidung, Wille und Intellekt. Thematisch ist die Möglichkeit der ethisch guten Handlung ebenso wie die der bösen (Sünde). Die Rechtsphilosophie verbindet in lange maßgebender Weise biblische und patristische Rechtsvorstellungen mit dem aristotelischen Gerechtigkeitsbegriff vor dem Hintergrund einheimischer  Rechtsgewohnheiten einerseits und der Rezeption des römischen Rechts andererseits. Das weltliche Recht wird in Bezug auf das Ziel des Heils ergänzt durch die von Christus eröffnete göttliche Gnade. Das innerliche Gesetz des Neuen Testaments löst das äußerliche des Alten Testaments ab. Die Secunda Secundae enthält die Tugendlehre, ausgehend von den Individualtugenden hin zu den Gemeinschaftstugenden, bis zur Ständeordnung und ihren Pflichten. Hierbei wird

das Verhältnis von Arbeit und Erkenntnis durch zwei Lebensweisen bestimmt: vita activa und vita contemplativa. Die Tertia Pars ist der Christologie gewidmet, zunächst der Bedeutung von Christi Menschwerdung, Leben und Opfer für die Erlösung der Menschen. In diesem Kontext werden Begriffe wie humanitas oder dignitas diskutiert. Es folgt die Sakramentenlehre, wobei der Text des T. nach Taufe, Firmung und Eucharistie in der Erörterung der Beichte abbricht. Das Supplementum führt dies fort und ergänzt Priesterweihe, letzte Ölung und Ehe. Die abschließenden Quaestionen behandeln die ›letzten Dinge‹, insbesondere Auferstehung, jüngstes Gericht, Erlösung und Verdammnis sowie die mit diesen verbundenen Erkenntnisweisen der abgeschiedenen Seelen. Die Sakramentenlehre bietet Überlegungen zur sozialen Disziplinierung. Die ›letzten Dinge‹ eröffnen rückblickend eine Perspektive auf die Menschheit als solche: Ihre Einheit als Gattung des animal rationale ist im weltlichen Zustand aufgrund der animalitas immer poten­ ziell; realisiert wird Menschheit als corpus mysticum Christi im Grunde erst nach dem Jüngsten Gericht. Davon hängt der Status aller philosophischen

596

Tugendhat: Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung

Erörterungen ab. Die Interpretation der Summa hängt daher von der Beurteilung der Grenze zwischen philosophischem Reflexionsbegriff, theologischer Dogmatik und religiöser Hypostase ab. – Die Lehre des T. steht zwischen Aristotelismus und Neuplatonismus, zwischen Intellektualismus und Voluntarismus, zwischen Realismus und (frühem) Nominalismus. Die Vermittlungsversuche sind zugleich Zuspitzungen der Gegensätze; der spätere Nomina­lis­ mus und Voluntarismus setzen auch als Kritik an Thomas an. V. a. die Aristoteles-Rezep­ tion wird zum Politikum  und setzt T. der ­franziskanischen, weltgeistlichen, aber auch  dominikanischen Kritik aus; den Lehrverurteilungen des 13. Jh.s verfallen 1277 auch Sätze des  T. Dennoch wird er 1323 heilig­ gesprochen, 1567 zum  Kirchenlehrer erklärt. Sein Denken bleibt nicht bloß theologisch und metaphysisch einflussreich, sondern wirkt, ausgehend von der spanischen Spätscholastik, auf das politische Denken der frühen Neuzeit. Die jüngere T.Rezeption in der katholischen Kirche kann teils als Ausläufer des res­taurativ inspirierten Neuthomismus des 19.  Jh.s gelten, teils auch aus der Bemühung um die Restauration von Tugendethik verstanden wer-

den. T. wurde aber gleichzeitig  ein zentraler Referenzautor der philosophischen Mediävistik und Begriffsgeschichte, die ihn zunehmend als wichtigen Schlüssel zum Übergang in die Neuzeit identifiziert. M. Städtler Ausgaben: Editio Leonina, Rom 1882 ff., Bde. 4–12. – Lat./dt., Die deutsche T.-Ausg. Dt.-lat. Ausg. der Summa Theologica, Hg.: AlbertusMagnus-Akademie, Salzburg u. a. 1933  ff. (noch unabgeschlossen). – Lat./engl., Summa Theologiae, Cambr. 2006. Literatur: G. Mensching, T. v. A., Ffm. u. a. 1995. – J.-P. Torrell, Magister T. Leben und Werk des T. v. A., Fbg. 1995. – W. Metz, Die Architektonik der Summa Theologiae des T. v. A. Zur Gesamtsicht des thomasischen Gedankens, Hbg. 1998. – A. Speer (Hg.), T. v. A.: Die Summa theologiae. Werkinterpretationen, Bln. u. a. 2005.

Ernst Tugendhat * 8. 3. 1930 in Brünn; bedeutender Vertreter der analytischen Philosophie v. a. im deutschsprachigen Raum.

Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung. Sprachanalytische Interpretationen EA Ffm. 1979.

Das Buch markiert in T.s Denken den Übergang von Fragen



Tugendhat: Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung 597

der theoretischen hin zu solchen der praktischen Philosophie. – Um Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung zu  erläutern, verteidigt T. methodisch einen sprachanalytischen Zugang. Einzig die Struktur unserer sprachlichen Bezüge eröffnet uns ein angemessenes Verständnis. Damit grenzt er sich besonders vom traditionellen Subjekt-Objekt-Modell ab, dem zufolge die Person (Subjekt) sich selbst als Objekt vorstellt. Stattdessen handelt es sich um propositionale Einstellungen, d. h. um theoretische und praktische Einstellungen zu etwas. – Das theoretische, epistemische  Selbstbewusstsein ist Wissen von einem selbst. Dem liegt jedoch kein substantiviertes Ich oder Selbst zugrunde, sondern dies stellt nur den grammatikalischen  Rückbezug auf die eigene Person dar. Wittgenstein folgend, geht es T. schlicht um den korrekten Gebrauch des Wortes ›ich‹. Mit ihm identifiziert sich der Sprecher entweder selbst, wenn es um mittelbares Wissen um eigene Zustände und Eigen­schaften geht, das aus der 3.-Person-Perspektive ebenso zu­gäng­lich ist, oder er weist auf seine Identifizierbarkeit  hin, wenn es um unmittelbares Wissen um eigene Zustände aus der 1.-Person-Perspektive geht. Das

unmittelbare Selbstbewusst­sein als entscheidende Problematik  lässt sich verständlich ma­ chen durch die Analyse sprachlicher Ausdrücke der Form ›Ich ϕ‹ (wobei ϕ einen unmittelbar empfundenen und gewuss­ ten Zustand bezeichnet), die zugleich expressiv und, indem sie intersubjektiven Krite­ri­en des korrekten Gebrauchs unterliegen, wahrheitsfähig sind. Dies hat schließlich zur Fol­ge, dass sich Selbstbewusstsein in einem Spannungsverhältnis  zwi­ schen Selbsttäuschung und Selbsterkenntnis bewegt und auf das praktische Sichzusichverhalten verweist. – Selbstbestimmung erläutert T. als spezielle Form des Sichzusichverhaltens. In Auseinandersetzung mit Heidegger arbeitet T. heraus, dass die propositionale Struktur des Sichzusichverhaltens im Verhalten zum eigenen Zu-Sein (dem eigenen Leben) besteht, das in allem Tun und Wollen enthalten ist. Dabei haben wir die Fähigkeit zu einem reflektierten Selbstverhältnis, indem wir eigene und fremde Wünsche und normative Ansprüche (nicht zuletzt unter Rückgriff auf Gründe) entweder annehmen und uns mit ihnen identifizieren oder sie ablehnen können. Letztlich stellt sich die von T. sog. praktische Grundfrage, ob und wie man

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van Fraassen: Laws and Symmetry

das eigene Leben (im Ganzen) führen will. Selbstbestimmung besteht dann darin, eine eigene begründete Antwort zu geben und in die Tat umzusetzen. Heidegger hat laut T. jedoch nicht nur die  Bedeutung der Vernunft und die Bezugnahme auf das Gute in der Selbstbestimmung verkannt, sondern auch die soziale Dimension unterschätzt. Letztere ergänzt T. in Auseinandersetzung mit Mead und dessen Theorie sozialer Rollen. Sichzusichverhalten findet demnach stets in einem sozialen Raum wechselseitiger normativer Erwartungen statt. Andere behandeln uns und wir  verstehen uns selbst als Inhaber bestimmter sozialer Rollen, die durch normative Erwartungen definiert sind. Selbstbestimmung bedeutet dann, die eigenen so­ zialen Rollen und ihre normative Definition selbst zu bestimmen, wobei dies aber auf so­ ziale Anerkennung angewie­sen bleibt. – Im abschließen­ den »Kehraus mit Hegel« kriti­siert T., dass Hegels am SubjektObjekt-Modell orientierte Auf­ fassung theoretisch unbefriedigend  bleibt und zudem die Begriffe Wahrheit und Freiheit pervertiert, da beides nur in der Affirmation der ­ sozialen Ordnung besteht. – T.s Buch gilt v. a. in der deutschsprachi-

gen Debatte weiterhin als Standardlektüre zum Thema. M. Kühler Ausgabe: Engl., Self-Consciousness and Self-Determination, Ü.: P. Stern, Cambr. 1986. Literatur: L. Siep, Kehraus mit Hegel? Zu E.  T.s Hegelkritik, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 35, 1981, 518–531. – H.  Steinfath, Orientierung am Guten. Praktisches Überlegen und die Konstitution von Personen, Ffm. 2001.

Bastian (›Bas‹) Cornelis van Fraassen * 5. 4. 1941 in Goes (Niederlande); Wissenschaftstheoretiker in der Tradition der analytischen Philosophie, Begründer des Konstruktiven Empirismus.

Laws and Symmetry EA Oxfd. 1989.

Die Schrift enthält zentrale wissenschaftstheoretische Überlegungen v. F.s, die inhaltlich zu großen Teilen darin bestehen, Einwände gegenüber dem von ihm entwickelten konstruktiven Empirismus auszuräumen und die bisher nur skizzenhaft entwickelten Gedanken hierzu zu präzisieren. – Den thematischen Kontext bildet die philosophische Diskussion um den Status von Naturgesetzen. In diesem Zusammenhang ver-



van Fraassen: Laws and Symmetry 599

folgt v. F. zwei Ziele: Erstens soll die gängige ontologische Auffassung über das Wesen von Naturgesetzen zurückgewiesen werden: Naturgesetze sind keine metaphysischen Entitäten und infolgedessen als Gegenstandsbereich von wissenschaftlicher Erkenntnis unbrauchbar. Zweitens soll eine konstrukti­ve Antwort auf die Frage gege­ben werden, wie im Anschluss an eine solche Dispensierung vom Gesetzesparadigma weiterhin wis­senschaftliche Forschung mög­lich ist. Dieser doppelten Programmatik folgend befasst sich v. F. zunächst mit den Existenzbedingungen von Naturgesetzen und den verschiedenen Argumenten, die vermeintlich ihre ontologische Realität ausweisen können. Seine grundlegende Kritik nimmt dabei ihren Ausgang von zwei Fragen. Die erste ist eine Identifika­ tionsfrage: Welcher Weltzustand (state of affairs) lässt sich angeben, sodass von einem x gesagt werden kann, dass es ein Naturgesetz ist? Die zweite ist eine Inferenzfrage: Ist es ein Gesetz, dass x logisch einschließt, dass x der Fall ist, und wenn ja, wie ist dieser Zusammenhang zu erklären? Nach v. F. kann kein Ansatz, der die Realität von Naturgesetzen behauptet, eine befriedigende Antwort auf beide Fragen geben, wobei er

diese These an einer Reihe von klassischen und gegenwärtigen Theorien abhandelt (u. a. von D. M. Armstrong, F.  Dreske, D.  Lewis, J. S. Mill und F. P. Ramsey). Aber angenommen, dass die Rede von Naturgesetzen tatsächlich sinnlos ist: Würde hieraus nicht folgen, dass wir keine verlässlichen Urteile über zukünftige Ereignisse treffen können, da ihr Auftreten ohne den Gesetzesbegriff lediglich zu einer reinen Zufälligkeit wird? Die Antwort v. F.s auf diese Rückfrage umfasst eine Reihe von Detailanalysen bezüglich des Erklärungs- und Rationalitätsbegriffs, die darauf abzielen, dieser häufig in Anschlag gebrachten Skepsis entgegenzutreten. Konzeptio­ nell geschieht dies dadurch, indem er eine alternative wissenschaftstheoretische Position vorschlägt, die ohne den metaphysischen ›Ballast‹ der Naturgesetzlichkeitskonzeption auszukommen verspricht. Im Kern besteht v.  F.s Vorschlag darin, den Symmetriebegriff, der mit einem Netz von weiteren Begriffen wie ›Invarianz‹, ›Kovarianz‹ und ›Transformation‹ verbunden ist, ins Zen­ trum der eigenen Theorienbildung zu rücken. Dieser methodische Schachzug verspreche eine weitgehende metaphysische Neutralität, ohne dabei

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van Fraassen: The Scientific Image

zugleich die Möglichkeit von Wissenschaft per se aufgeben zu müssen. – In v. F.s Schrift finden sich viele Berührungspunkte zu den Überlegungen aus seinem programmatischen Frühwerk The Scientific Image (1980), wenngleich seine dort verhandelte wissenschaftstheo­ retische Position im Kontext von Laws and Symmetry nun in vielerlei Hinsicht konkretisiert wurde. Einen Rückbezug der Gesetzesproblematik auf das philosophische Grundsatzprogramm lässt sich insbesondere in den jüngeren Publikationen ausmachen, z. B. in The Empirical Stance (2002) und Scientific Representation (2008). Dort unternimmt v. F. u. a. den Versuch, seine Thesen im Hinblick auf den Status von Naturgesetzen systematisch mit dem konstruktiven Empirismus zu verbinden. M. Rüther Ausgabe: Oxfd. 1990. Literatur: Beiträge zu einem Symposium zu Laws and Symmetry, abgedruckt in: Philosophy and Phenomenological Research 53/2, Jun.  1993. – A.  BergHildebrand/C.  Suhm (Hg.), B.  C.  v.  F.: The Fortunes of Em­ piricism. Münstersche Vorlesungen zur Philosophie Bd.  9, Ffm. 2006. – B.  Monton (Hg.), Images of Empiricism. Essays on Science and Stances, with a Reply from B. C. v. F., Oxfd. 2007.

The Scientific Image EA Oxfd. 1980.

In seinem bekanntesten Werk legt v. F. den Grundstein für sei­ ne Theorie des Konstruktiven Empirismus. Diese ver­ sucht die Praxis der Wissenschaften zu erklären, ihre Ziele und die epistemischen Einstellungen ihrer Vertreter. Er sieht sich als Vertreter der antirealistischen Tradition innerhalb der Wissenschafts­ theorie: Während wissenschaftliche Theorien ihrem empirisch überprüfbaren Gehalt nach für wahr gehalten werden müssen, werden ihre dahinter ­stehenden, nicht-beobachtbaren theoretischen Grundlagen auf­ grund anderer, pragmatischer Werte akzeptiert. – Zur Plausibilisierung seiner Theorie übt v. F. zunächst Kritik an Standard-Argumenten, die für den wissenschaftstheoretischen Realismus vorgebracht werden, soweit sie Kernthesen seiner eigenen Theorie verneinen. Er verteidigt die Unbeobachtbar/ Beobachtbar-Unterscheidung innerhalb der Wissenschaftstheorie, die er für anthropologisch begründbar ansieht. Da­ rauf aufbauend weist er jedwe­ de realistische Implikatio­ nen des Schlusses auf die beste Erklärung von sich, insofern er für Annahmen über die Exis-



van Fraassen: The Scientific Image 601

tenz unbeobachtbarer Entitäten ­ in Anspruch genommen wird. Allgemein gesprochen kann die Erklärungskraft einer Theorie kein Argument für den Realismus sein; der nicht zu ver­ neinende prognostische Erfolg wissenschaftlicher Theo­ rien muss folgerichtig auch nicht über ihre Wahrheit erläutert werden, sondern kann stattdessen durch deren Konkurrenz zueinander begründet werden, die darwinistische Selektionsprozesse in Gang setzt. – Nach der vorbereitenden Kritik am wissenschaftstheoretischen Rea­lismus entwickelt v. F. die für seine eigene Theo­ rie entscheidenden Elemente. Hierunter fallen v.  a. deren Kernbegriff der empirischen Adäquatheit und eine pragmatische Theorie der Erklärung. Der Begriff der empirischen Adäquatheit gestattet es ihm, zwischen für wahr gehaltenen Überzeugungen  und anderen, pragmatischen Werten zu unterscheiden, die ebenfalls in die Akzeptanz einer Theorie eingehen und deren Auswahl beeinflussen. V. F.s grobe Charakterisierung von ›empirisch adäquat‹ lautet: »a theory is empirically adequate exactly if what it says about the observable things and events in the world is true«. Zur genaueren Spezifikation verbindet er die-

sen Begriff mit einem semantischen Theoriemodell. Demnach besteht eine Theorie aus einer Menge von Strukturen, Modelle genannt, deren empirisch relevante Teilstruktur sich als »isomorphic to all the appearances« erweist: Sie gibt die Welt der Phänomene – alles was mit Bezug zu der Theo­ rie beobachtet werden könnte – korrekt wieder. Die Frage, nach welchen Eigenschaften dann die übrigen Bestandteile einer Theorie bewertet werden können, versucht v. F. im dritten Kapitel zu beantworten. Theorien sollen »mathematically elegant, simple, of great scope, complete in certain respects: also of wonderful use in unifying our account of hitherto disparate phenomena, and most of all, explanatory« sein. Die dabei hervorgehobene Erklärungskraft einer Theorie wird im folgenden Kapitel über v. F.s pragmatische Theorie der Erklärung vertieft: Theorien erklären dann gut, wenn sie imstande sind, unsere Informationsbedürfnisse zu befriedigen. Dabei können je nach Situation und Interesse andere Aspekte eines Phänomens als dessen »entscheidende« Ursachen betrachtet werden, die gegenüber anderen Faktoren, die ebenfalls zu seiner Hervorbringung beigetragen haben,

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van Inwagen: An Essay on Free Will

hervorgehoben werden. – V. F.s Theorie hat viele Kritiker auf den Plan gerufen; dennoch gebührt ihr der Verdienst, den  wissenschaftstheoretischen An­ tirealismus wieder gestärkt zu haben. Nachdem in den 1960er und 70er Jahren ein von Autoren wie Sellars, Putnam und Boyd vertretener Rea­ lismus gerade gegenüber dem logischen Positivismus zunehmend die Oberhand gewonnen hatte, wurde mit v. F.s Werk die Debatte nach Ziel und Praxis der (Natur-)Wissenschaften für den Antirealismus wieder offen gehalten. S. Muders Literatur: P. M. Churchland/C. A. Hoo­ker (Hg.), Images of ­ Science: Essays on Realism and Empiricism, Chicago 1985. – B. Monton (Hg.), Images of Empiricism: Essays on Science and Stances, Oxfd. 2007.

Peter van Inwagen *  21. 9. 1942, US-amerikanischer Vertreter der analytischen Philosophie, bedeutende Arbeiten zum Freiheitsproblem, zur Metaphysik und zur Religionsphilosophie.

An Essay on Free Will EA Oxfd. 1983.

Das Buch enthält die wirkmächtigste moderne Verteidigung des Inkompatibilismus,

d. h. der These, dass menschliche Freiheit und (physikalischer) Determinismus unvereinbar miteinander sind. V. I. führt das sog. Konsequenzar­ gument ins Feld: Falls der Determinismus wahr ist, sind unse­re Handlungen das Resultat von Naturgesetzen und Ereignissen in der fernen Vergangenheit. Aber es liegt weder bei uns, ­was vor unserer Geburt geschah, noch liegt es bei uns, wel­che Naturgesetze herrschen. Also liegen auch die Konsequen­ zen dieser Dinge (einschließlichunserer jetzigen Handlun­ gen) nicht in unserer Macht. Determinismus und Freiheit ­ sind unverträglich miteinander. – Diese Grundidee wird von v. I. in drei Argumentvarian­ten entfaltet und gegen zahlrei­che Einwände abgesichert. Eine zentrale Rolle in der Verteidigung des Arguments und in der nachfolgenden Diskussion des Buchs spielt die sog. »Regel β«: Falls gilt: 1) Wenn a der Fall ist, dann ist auch b der Fall, und niemand konnte oder kann an diesem Zusammenhang etwas ändern; und 2)  a ist der Fall, und niemand konnte oder kann daran etwas ändern; dann gilt notwendigerweise auch 3) b ist der Fall, und niemand konnte oder kann daran etwas ändern. – V. I. diskutiert ferner drei Hauptargumente für den



van Inwagen: An Essay on Free Will 603

Kompatibilismus: a)  paradigmatische Fälle: Wir erlernen die Verwendung des Wortes ›frei‹ anhand bestimmter Beispiele, die dadurch gekennzeichnet sind, dass Geisteszustand, Wissen, körperliche Verfassung des jeweils betroffenen Akteurs andere Alternativen zugelassen hätten. Irrelevant für unsere so erworbene Kompetenz, das Freiheitsprädikat zuzuschreiben, ist jedoch Wissen darüber, ob die Welt deterministisch beschaffen ist oder nicht. Die Physik kann niemals zeigen, dass unsere Verwendung des Wortes ›frei‹ leer ist, sie könnte jedoch zeigen, dass der Determinismus wahr ist. – V. I. hält dem entgegen, dass das Argument voraussetze, dass allein unter normalen Umständen beo­ bachtbare Eigenschaften darüber entscheiden, ob eine Handlung frei oder unfrei ist, doch das sei falsch. Falls Marsianer einer menschlichen Person X ein Hirnimplantat einsetzten, das X’ Verhalten kausal steuert, wäre X selbst dann nicht frei, wenn ihre Taten von paradigmatischen Fällen freier Handlungen ununterscheidbar wären; b)  konditionale Analyse: Dass eine Person hätte anders handeln können, ist zwar eine notwendige Bedingung für Freiheit, heißt aber (grob gesagt) nur so viel wie: Hätte

sie etwas anderes gewollt, hätte sie auch anders gehandelt. Gemäß einer solchen Analyse ergeben sich für die Vereinbarkeit von Freiheit und Determinismus keinerlei Schwierigkeiten. – V. I. zeigt zunächst anhand bisheriger Vorschläge in der Literatur, dass es äußerst schwierig ist, eine konditionale Analyse anzugeben, die sowohl dem Beweisziel dient als auch immun gegen offenkundige Gegenbeispiele ist. Selbst wenn eine halbwegs befriedigende Version gefunden sei, werde ein Vergleich ihrer Plausibilität mit der Überzeugungskraft des Konsequenzarguments sehr wahrscheinlich negativ ausfallen; c)  das Mind-Argument: Die Idee einer nicht determinierten (freien) Handlung ist inkohärent. – Gegen diesen in verschiedenen Varianten erhobenen Vorwurf wendet v. I. u. a. ein, dass gängige Handlungstheorien verträglich mit nichtdeterminierten Akten seien. Wenn jemand z. B. von einem Diebstahl Abstand nimmt, weil er ein Versprechen an seine Mutter einhalten will – und aus keinem anderen Grund –, folge daraus nicht, dass besagtes Motiv die Unterlassung notwendig machte. – Im verbleibenden Teil des Buchs argumentiert v. I. für zweierlei: 1) Ohne Freiheit kann es keine moralische

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Vico: Principj di una scienza nuova

Verantwortung geben. Die sog. Frankfurt-Beispiele sind ungeeignet, das Gegenteil zu zeigen. 2) Es gibt weder gute physikalische noch philosophische Argumente für den Determinismus, wir sind daher berechtigt, unserer tief verwurzelten Überzeugung, moralisch verantwortlich (und damit frei) zu sein, zu trauen. – Der mit exemplarischer Klarheit verfasste Essay on Free Will hat entscheidend dazu beigetragen, den lange Zeit als obskure Minderheitenposition geltenden Inkompatibilismus philosophisch wieder salonfähig zu machen. C. Weidemann Literatur: P. v. I., Free Will Remains a Mystery, in: Philosophical Perspectives 14, 2000, 1–19. – G. Keil, Willensfreiheit, Bln. 2007.

Giambattista Vico *  23. 6. 1668 Neapel, †  23. 1. 1744 Neapel; italienischer Vertreter der Geschichtsphilosophie der frühen Aufklärung.

Principj di una scienza nuova intorno alla natura delle nazioni, per la cuale si ritruovano i principj di altro sistema del diritto naturale delle genti

(it.; Grundzüge einer neuen Wissenschaft über die Natur der Völker, mit deren Hilfe die Prinzipien eines neuen Systems des Naturrechts der

Völker wiederhergestellt werden), EA Neapel 1725; 2. Fassung 1730 u. d. T. Cinque libri de’ principj di una scienza nuova; 3. Fassung 1744 u. d. T. Principj di scienza nuova.

Die im Titel genannte »Neue Wissenschaft« bezeichnet bei V. die dadurch erneuerte Geschichtswissenschaft, dass  man die verschiedenen und beziehungslosen Begenbenheiten der Völkergeschichte auf wissenschaftliche, mit eigener Gesetzmäßigkeit versehene Grundsätze zurückführt. Die Welt der Völker (mondo delle nationi) wird von der Geschichte in ihrer ewigen Idee (idea eterna) erfasst. V. schlägt eine Parallelisierung von psychischer und historischer Entwicklung vor. Die das menschliche Individuum während seines Heranwachsens bestimmenden  Etappen haben auch für ganze Völker Gültigkeit. So wie der Mensch vom reinen Empfinden (puro sentire) über die Einbildungskraft (fantasia) bis hin zur völlig entfalteten menschlichen Vernunft (ragione umana tutta spiegata) hinaufsteigt, so durchschreiten auch die Völker drei Zeitalter. Zunächst etabliert sich ein vom Fühlen dominiertes Zeitalter der Götter (età degli dei), während dem die Menschen »fühlen, ohne aufmerksam zu werden« (sentono senza avvertire), dessen Rechtsordnung



Vico: Principj di una scienza nuova 605

sich auf die Religion gründet und dessen Regierungsform die Monarchie ist. Anschließend kommt das unter der Herrschaft der Einbildungskraft stehende Zeitalter der Helden (età degli eroi), in dem die Menschen »mit betrübtem und bewegtem Gemüt aufmerksam werden« (avvertono con animo perturbato e commosso). Dieses Zeitalter wird von einer auf Machtverhältnisse gegründeten Rechtsordnung sowie einer oligarchischenRegierungsform bestimmt. Schließlich kommt das von der Vernunft dominierte Zeitalter der Menschen (età degli uomini), in dem die Menschen »endlich mit einem reinen Verstand nachdenken« (finalmente riflettono con mente pura). Nun erst wird die Rechtsordnung vernünftig und die Regierung »menschlich« (umano). – Im 1. Buch werden die chronologischen und logischen Fundamente des Werkes gelegt. Der 1.  Abschnitt enthält eine Diskussion über Datierungssysteme der Weltgeschichte. Der 2. Abschnitt umfasst eine Reihe von allgemeinen Axiomen. Der 3. Abschnitt erörtert die anthropologischen Konstanten, die Religion, Ehe und Bestattungen begründen. Der 4. Abschnitt berücksichtigt die Methode der historischen Forschung, die als eine »zivile,

von der Vernunft unterstützte Theologie der göttlichen Vorsehung« (teologia civile ragionata della provvedenza divina) definiert wird. – Das 2. Buch befasst sich mit der »poetischen Weisheit« (sapienza poetica). Es enthält eine Rekonstruktion der archaischen Welt, die sich auch über das 3. Buch mit der Interpretation der homerischen Welt erstreckt. Im 4. Buch untersucht V. die Merkmale der in den drei Zeitaltern herrschenden Kulturen hinsichtlich Natur, Sitten, Naturrecht, Regierung, Sprachen, Charakteren, Rechtsformen, Autoritäten,  Begründungsmöglichkeiten, Urteilsformen und Sekten. – Das 5.  Buch beinhaltet V.s berühmte Zyklentheorie, wobei die Frage nach der Intervention Gottes in menschliche Angelegenheiten angesprochen wird. Die Philosophie darf nach V. nicht außer Acht lassen, dass der Mensch ein verfallenes und schwaches Wesen ist, das mit seinem Hang zum Verderben nicht allein gelassen werden darf, sondern erlöst werden muss. Der Mensch verfügt in der Tat über einen »freien, aber schwachen Willen, um aus den Leidenschaften Tugenden zu machen« (libero arbitrio, però debole, di fare delle passioni virtú). Dennoch schließt diese fortschreitende Bewegung kei-

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Voltaire: Candide ou l’optimisme

neswegs einen Rückschritt aus. Nach dem Zeitalter der Vernunft setzt sich für V. in einer Art Rückschritt wieder die Barbarei durch. Es gibt eine »Wiederkehr der menschlichen Dinge in der Auferstehung der Völker« (ricorso delle cose umane nel risurgere che fanno le na­zioni). Selbst die historischen Rückschritte (z. B. das Mittelalter) gelten als Bestätigungen der göttlichen Vorsehung in Form ihrer Ratschläge und »unsagbaren Beschlüsse seiner Gnade« (ineffabili decreti della sua grazia). – Die Rezeption setzte mit Michelets französischer Übersetzung (1827) in vol­ ler Breite ein. V.s geschichtsphi­ losophisches Hauptwerk markiert den Beginn des Historismus im Sinne Troeltschs. R. Pozzo Ausgaben: Hg.: A.  Duro/T.  Gregory, Rom 1981 (ND der Ausg. von 1725 mit Konkordanzen und Häufigkeitsindices). – Engl., The First New Science, Hg. und Ü.: L.  Pompa, Cambr. 2002. – Dt., Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker, Hg. und Ü.: V. Hösle/C. Jermann, 2 Teilbde., Hbg. 1992. Literatur: N. Badaloni, Introduzione a Vico, Milano 1961. – L. Pompa, V. A Study of the »New Science«, Cambr. 1975. – J.  Trabant, Neue Wissenschaft von alten Zeichen: V.s Sematologie, Ffm. 1994.

Voltaire (eigentlich François-Marie Arou­et), * 22. 1. 1694 in Paris, † 30. 5. 1778 in Paris; Schriftsteller und Philosoph der Aufklärung.

Candide ou l’optimisme (frz.; Candide oder der Optimismus), EA ohne Ortsangabe (Genf, Paris, Amsterdam u. a.) 1759 (anonym).

Mit den Mitteln der Satire versuchte V. in seinem berühmtesten philosophischen Roman das System des metaphysischen Optimismus ad absurdum zu führen, dem zufolge Gott bei der Schöpfung die beste al­ ler möglichen Welten gewählt habe. Ziel waren zunächst die Metaphysik und Theodizee von Leibniz (→ Essais de Théo­ dicée, 1710), Wolff und den Wolffianern (z. B. Gottsched), aber mehr noch die zahlreichen Popularisierungen des Op­ timismus bei Shaftesbury, Bolingbroke, Pope (An Essay on Man, 1734: »whatever is, is right«) und anderen. Ganz allgemein richtete sich V. gegen alle metaphysischen und theologischen Systeme (Optimismus, Fatalismus etc.), die sich gegen Erfahrung und Kritik immunisieren, um schließlich zu formelhaften Vorurteilen (tout est bien: ›alles ist gut‹) zu erstarren. Das Erdbeben von



Voltaire: Candide ou l’optimisme 607

Lissabon am Allerheiligentag 1755, dem V. bereits sein mitfühlendes Gedicht Poème sur le désastre de Lisbonne (1756) gewidmet hatte, hatte den weit verbreiteten Optimismus erschüttert und das alte Problem der Theodizee, d. h. der Rechtfertigung Gottes angesichts der gravierenden Übel in der Welt, drastisch vor Augen geführt. Während Rousseau in seiner Lettre sur la providence (1756) noch einmal ein trostvolles Bild der Vorsehung verteidigt hatte, ging V. im Gegenzug dazu über, den Optimismus als metaphysisches Vorurteil zu entlarven, das einer Konfrontation mit der historischen Wirklichkeit nicht standhält. – Die Lehre von der besten Welt ist Candide, dem ebenso offenherzigen wie arglosen Helden der Erzählung, im Schlosse des westfälischen Barons Thunderten-tronckh von Magister Pangloss, dem Hofmeister der Kinder des Barons, eingetrichtert worden. Als sich Cunégonde, die Tochter des Barons, und Candide näher kommen, wird dieser mit derben Fußtritten aus dem Paradies der Kindheit vertrieben. Danach folgt die Handlung den Mustern des Liebes- und Trennungsromans sowie des Bildungsromans. Auf ihren Irrfahrten durch die halbe Welt geraten die

drei Protagonisten von e­inem furchtbaren Unglück in das andere. Teils am eigenen Leibe, teils durch die Erzählun­gen ihrer wechselnden Weggefährten  lernen sie das ganze Verzeichnis physischer und moralischer Übel kennen: Stürme, Erdbe­ben, Überschwemmungen,  Pest und Syphilis, Mord, Brandschatzung, Folter, Hinrichtungen, Vergewaltigung, Skla­verei, politische Unterdrückung, Inquisition und reli­ giöse Intoleranz. Während der Optimist Pangloss und sein Gegenbild, der Skeptiker und Manichäer Martin, bis zum Ende an ihren metaphysischen Vorurteilen festhalten, reifen in Candide nach und nach Zweifel daran, dass wir in der besten aller möglichen Welten leben. Sein Bildungsgang führt ihn von einem unkritisch nachgeplapperten Optimismus zu einer bescheidenen praktischen Weisheit, die er am Ende in die Worte fassen kann: il faut cultiver notre jardin – in Kants erläuternder Übersetzung: »Laßt uns unser Glück besorgen, in den Garten gehen, und arbeiten« (Kant, Träume eines Geistersehers, 1766, letzter Satz). – Die unmittelbar nach dem Erscheinen einsetzenden Verbote und Beschlagnahmungen konnten nicht verhindern, dass V.s Candide zu einem der

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Voltaire: Traité sur la tolérance

erfolgreichsten Bücher des 18. Jh.s wurde. Als der Roman am 24. Mai 1762 schließlich auf dem römischen Index landete, war er bereits ein europäischer Bestseller. Während er von den Zeitgenossen durchaus ambivalent beurteilt worden ist, gilt er heute unbestritten als Klassiker der Weltliteratur. O. R. Scholz Ausgaben: In: Romans et contes, Hg.: F.  Deloffre/J. van den Heuvel, Paris 1975. – Engl., The Complete Works, Bd.  48, Hg.: R.  Pomeau, 1980. – Dt., Ü.: J. v. Stackelberg, Ffm. 2007. Literatur: I. O. Wade, V. and Candide, Princeton 1959. – A. Magnan, V. Candide ou l’optimisme, Paris 1987. – J. v. Stackelberg, »Wir müssen unseren Garten bebauen«. Candide als Experimentalroman und andere V.-Studien, Bln. 2010.

Traité sur la tolérance à l’occasion de la mort de Jean Calas (frz.; Abhandlung über die Toleranz anlässlich des Todes von Jean Calas), EA ohne Ortsangabe (Genf ) 1763 (anonym).

Die Hinrichtung des Hugenotten (Calvinisten) Jean Calas in Toulouse nimmt V. zum Anlass, den religiösen Fanatismus öffentlich anzuprangern und für allgemeine Glaubensfreiheit und Toleranz zu plädieren. Nachdem Calas’ Sohn MarcAntoine sich im Hause der

Eltern erhängt hatte, kam das Gerücht auf, der Vater habe seinen Sohn ermordet, um dessen kurz bevorstehende Bekehrung zum Katholizismus zu verhindern. Während die religiösen Eiferer den Sohn zum Märtyrer erhoben, brandmarkten sie den Vater zum Mörder aus Hass gegen die katholische Religion. Nach Folter und einem regelwidrigen Gerichtsverfahren wurde Jean Calas zum Tod auf dem Rad verurteilt und im März 1762 hingerichtet. – Vor dem Hintergrund einer sorgfältigen Schilderung der Ereignisse, die zur Hinrichtung Jean Calas’ führten, stellt V. die Frage, ob die Religion Barmherzigkeit und Milde oder Grausamkeit zur Pflicht mache. Zu ihrer Beantwortung greift er teils auf moralische und rechtliche Argumente, teils auf kritische Untersuchungen zur Geschichte der Toleranz zurück. Insgesamt fällt auf, dass V. im Traité moderater argumentiert als bei anderen Gelegenheiten. Um rechtgläubige katholische Leser nicht von vornherein abzuschrecken, tritt er in dem anonym veröffentlichten Traktat als frommer Christ auf, der im Namen der Menschlichkeit auch bei denen für Gewissensfreiheit und Toleranz wirbt, die solche Ideen für monströs halten. Intoleranz sei ein Missver-



Voltaire: Traité sur la tolérance 609

ständnis und Missbrauch der Religion (»zum Hassen und Verfolgen haben wir Religion genug, aber nicht zum Lieben und Helfen«). – Während V. in seinen religionskritischen Schriften nahelegte, Offenbarungsreligionen führten zwingend zur Intoleranz, vertritt er jetzt die Ansicht, Glaubensfreiheit sei mit den Geboten des christlichen Gottes vereinbar. Religiöse Intoleranz könne sich weder auf vorchristliche Kulturen noch auf die Heilige Schrift berufen. In Griechenland und Rom wie auch im Judentum hätten die Ideen der Toleranz und eines alle Menschen umfassenden Naturrechts überwogen, das sich in der Goldenen Regel ausdrücke: Was du nicht willst, das man dir antue, das tue auch du niemandem an. Sogar der Gott des Alten Testaments sei gegenüber Andersgläubigen duldsamer gewesen, als gemeinhin angenommen werde. Noch viel weniger könne aus dem Neuen Testament eine Rechtfertigung der Intoleranz gezogen werden. Und, was schließlich die römischen Christenverfolgungen angehe, so seien sie übertrieben dargestellt worden und, was noch wichtiger ist, politisch motiviert gewesen. Gravierende Formen des Fanatismus und der Intoleranz seien erst im

frühchristlichen Märtyrerglauben, in den Ketzerverfolgungen und in den innerchristlichen Dogmenstreitigkeiten und Glaubenskriegen entstanden. In einem abschließenden Gebet wendet sich V. an den »Gott aller Wesen und aller Zeiten« mit der Bitte, dass die Menschen sich wegen ihrer Unterschiede nicht hassen und verfolgen, sondern im Geiste der Brüderlichkeit wechselseitig helfen. – V.s Schrift und zahlreiche flankierende Aktivitäten führten 1765 zur Rehabilitierung der Familie Calas und später auch zu Reformen des französischen Strafrechts. Durch sein Eingreifen in dieser und anderen Affären wurde V. zum Prototyp des modernen politischen Intellektuellen. O. R. Scholz Ausgaben: Oeuvres complètes, Bd.  25, Hg.: R.  Pomeau, Paris 1989, 408–490. – Dt., Die Affäre Calas, Hg. und Nachwort: I.  Gilcher-Holthey, Bln. 2010. Literatur: E.  Hertz, V. und die französische Strafrechtspflege im 18.  Jh. Ein Beitrag zur Geschichte des Aufklärungszeitalters, Stgt. 1887 (ND Aalen 1972). – D. Bien, The Calas Affair, Princeton 1960. – G.  Gargett, V. and Protestantism, Oxford 1980.

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Walzer: Just and Unjust Wars

Michael Walzer * 3. 3. 1935 in New York; bedeutender Moral- und Gerechtigkeitstheoretiker der Gegenwart, prominenter Vertreter des Kommunitarismus.

Just and Unjust Wars. A Moral Argument with ­Historical Illustrations

(engl.; Gibt es den gerechten Krieg?), EA NY 1977.

Das vor dem Hintergrund des Vietnamkrieges verfasste Werk ist der moderne Klas­siker zur philosophischen Theorie des gerechten Krieges als einer ethischen Reflexion über Reichweite und Grenzen des legitimen Einsatzes militärischer Gewalt. Zugleich ist Just and Unjust Wars aber auch ein Buch über die Funktionswei­ se moralischer Argumentation so­ wie eine Verteidigung der Möglichkeit moralischen Argumentierens überhaupt. Ausgehend von der Prämisse, dass moralische Begründungen von Kontexten abhängig sind, argumentiert W. kasuistisch vor dem Hintergrund historischer und aktueller Fallbeispiele für die These, dass eine moralische Beurteilung des Einsatzes militärischer Gewalt grundsätzlich möglich ist. Damit weist er auf der einen Seite einen Realismus, der den Krieg gemäß des Dik-

tums »war is hell« als moralfreien Raum betrachtet, zurück. Auf der anderen Seite erfährt aber auch ein radikaler Pazifismus, der eine Rechtfertigung aktiver Gewaltanwendung für grundsätzlich unmöglich hält, eine Absage – einerseits unter Verweis auf das Prinzip der legitimen Selbstverteidigung, andererseits, weil Pazifismus bzw. Gewaltfreiheit (non violence) als Strategie in gewaltsamen Konflikten selbst voraussetzen muss, dass sich die Akteure auf beiden Seiten an einen minimalen Rahmen moralischer Regeln halten. Zwischen diesen Polen steht die philosophische Theorie des gerechten Krieges mit der Behauptung, dass sich der Einsatz militärischer Gewalt ethisch rechtfertigen, aber auch begrenzen lässt. Mit der Entfaltung seiner Konzeption steht W. in der Tradition der klassischen Theorie des bellum iustum, die er in diesem Werk mit Blick auf ›moderne‹ Probleme des Krieges wie beispielsweise den Umgang mit Zivilisten, die Legitimität des Guerilla-Kriegs, den Terrorismus und das Problem des Nuklearkrieges diskutiert und weiterentwickelt. Die Regeln legitimer Kriegsführung lassen sich dabei grundsätzlich in zwei Bereiche einteilen, den des ius ad bellum, das die Kriterien für den



Walzer: Spheres of Justice 611

Beginn des Einsatzes militärischer Gewalt festlegt, und den des ius in bello, das die Regeln der ›gerechten‹ Kriegsführung bestimmt. Im letzteren Bereich bemüht sich W. besonders um eine Verteidigung des Prinzips der Non-KombattantenImmunität, das die besondere Schutzwürdigkeit von Zivilisten in militärischen Konflikten betont. Damit ein Krieg als gerecht, d. h. gerechtfertigt, gelten kann, müssen die Kriterien beider Bereiche erfüllt sein. Selbst ein Krieg, der aus legitimen Gründen begonnen wurde, wird dann zu einem ungerechten Krieg, wenn er nicht gemäß den Regeln des ius in bello mit legitimen Mitteln weitergeführt wird oder werden kann. Einen beträchtlichen Raum nimmt in der Diskus­ sion der Fallbeispiele darüber hinaus die Auseinandersetzung mit den Dilemmata des Krieges, aber auch die Diskussion der Verantwortung von Soldaten, Politikern und Bürgern ein. – Für die gegenwärtige Diskussion über die Rechtfertigung des Einsatzes militärischer Gewalt ist Walzers Buch ein zentrales Referenzwerk, das die Gehalte der klassischen Theorie des gerechten Krieges vor dem Hintergrund moderner Probleme aufbereitet und systematisiert und zugleich der

Entwicklung einer kritischen Semantik verpflichtet ist, die eine moralische Bewertung von Kriegen und damit auch eine Kritik willkürlicher Gewaltanwendung überhaupt erst ermöglicht. Durch die Diskussion aktueller Fragestellungen und Probleme, wie etwa der humanitären Intervention und des Terrorismus – auch in den umfassenden Vorworten zu den Neuauflagen und in weiteren Arbeiten W.s zur Theorie des gerechten Krieges –, erfuhr dieser Klassiker zudem bis zuletzt eine beständige sanfte Aktualisierung, die ihn ›auf der Höhe der Zeit‹ bleiben lässt. S. Laukötter Ausgaben: NY 42006. – Dt., Stgt. 1982. Literatur: S. Krause/K. Malo­ witz, M. W. zur Einführung, Hbg. 1998. – Ethics and International Affairs 11, 1997 (Special Section: Twenty Years of M. W.s Just and Unjust Wars), 1–104.

Spheres of Justice. A Defence of Pluralism and Equality

(engl.; Sphären der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit), EA Oxfd. 1983.

Das Werk entstand als Diskussionsbeitrag zum Thema »Kapitalismus und Sozialismus«, über das W. zusammen mit Nozick 1970/71 eine Lehrver-

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Walzer: Spheres of Justice

anstaltung in Harvard abhielt. Explizite Absicht W.s ist die Beschreibung einer freiheitlichegalitären Gesellschaft, in der die Verfügungsmacht über ein bestimmtes soziales Gut nicht automatisch zu einer privi­ legierten Herrschaftsposition führt. – Das Gelingen einer solchen Beschreibung setzt nach W. eine zu erarbeitende Theo­ rie »komplexer Gleichheit« voraus, die »trennend« bzw. differenzierend vorgeht, indem sie in Rechnung stellt, dass in jeder Gesellschaft verschiedene soziale Güter mit verschiedenen Bedeutungsgehalten  hergestellt und verteilt werden und dass diese gesellschaftliche Verteilung von Gütern verschiedene autonome, »eigensinnige« Handlungs-  und Interaktionssphären entstehen lässt, die sich nicht aufeinander zurückführen lassen. Nur eine »komplexe Gleichheit«, die dieser Pluralität von Gütern und Sphären gerecht wird, kann nach W. auch praktisch die verschiedenen Formen der Tyrannei verhindern. Hinsichtlich des sozialen Herstellungs-, Deutungsund Verteilungsprozesses stellt W. folgende sechs Thesen auf: 1.  Die zu verteilenden Güter sind immer soziale Güter. 2.  Die kulturelle Identität von Individuen kommt im Zuge des Prozesses der Produktion,

Deutung und Verteilung von Gütern zustande. 3.  Es gibt keine transepochal gültigen Basisgüter. 4.  Die soziale Bedeutung der Güter bestimmt ihre Zirkulationsform. 5.  Soziale Bedeutungen (und somit Verteilungsrechtfertigungen) sind historischer Natur. 6.  Da die Bedeutungen unterschiedlich sind, haben die einzelnen Verteilungen unabhängig voneinander zu geschehen. Folgende Güter bzw. Distributionssphären werden mit vielen historischen Beispielen und systematischen Seitenblicken behandelt: Mitgliedschaft und Zugehörigkeit, Sicherheit und Wohlfahrt, Geld und Waren, Ämter, harte Arbeit, Freizeit, Erziehung und Bildung, Verwandtschaft und Liebe, göttliche Gnade, Anerkennung  und politische Macht. W.  insistiert auf der Autonomie der einzelnen Sphären, die zu ­ ei­ ner radikaldemokratischen Poli­tik der »Trennung« führen sollte, durch die sowohl eine Sphä­ ren überschreitende Verwertung er­worbener Güter als auch das Phänomen der Überfremdung des Eigensinns und der Eigendynamik der jeweiligen Sphäre ausgeschlossen werden können. – Das Werk stellt eine Auseinandersetzung mit der Gerechtigkeitstheorie J.  Rawls’ dar. W. setzt sich anders als



Weber: Wirtschaft und Gesellschaft 613

Rawls für eine entsprechend dem jeweiligen Gut und der jeweiligen Verteilungs­sphäre zu gestaltende Pluralisierung der Gerechtigkeitsprinzipien ein. Die Geschichtswissenschaft und die Anthropologie (statt Ökonomie und Psychologie wie bei Rawls) sind die Disziplinen, auf die W. des Öfteren zurückgreift. Seine Argumentation ähnelt sehr derjenigen von W. M. Galston (Justice and the Human Good, 1980) und N.  Rescher (Distribu­tive Justice, 1966). Allerdings teilt W. weder den Aristotelismus des Ersteren noch den Utilitarismus des Letzteren. W.s argumentative Sensibilität für die Einzelfälle einer komplexen Gleichheit erweist sich heute als unentbehrlich für die Behandlung der brisanten Einzelfragen einer globalen Gerechtigkeit. T. Gil Ausgaben: Oxfd.  1985. – Dt., Ffm. 1992. Literatur: S. Krause, K. Malowitz, M. W. zur Einführung, Hbg. 1998. – M.  Haus, Die politische Philosophie M. W.s. Kritik, Gemeinschaft, Gerechtigkeit, Wiesbaden 2000. – A. Krebs, M. W., Sphären der Gerechtigkeit, in: M.  Brocker (Hg.), Geschichte des politischen Denkens, Ffm. 2007, 697–721.

Max Weber * 21. 4. 1864 Erfurt, †  14. 6. 1920 München; Mitbegründer und einer der wichtigsten Vertreter der modernen Soziologie.

Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie EA Tbg. 1922 (postum).

Das voluminöse, postum herausgegebene Werk vereinigt unter einem von W. nicht autorisierten Titel mehrere umfangreiche Fragmente aus  unterschiedlichen Arbeitsphasen. Im Rahmen der W.-Gesamtausgabe sind sowohl der durchgängige Textzusammenhang als auch der ›Hauptwerk‹-Cha­rakter der veröffentlichten Manuskripte bestritten worden. Als autorisierter Titel einer neuen Textpräsentation gilt: Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. – Im Zentrum des Werks stehen die Beziehungen der Wirtschaft zu den großen häuslichen, ethnischen, religiösen und  politischen  Formen menschlicher Gemeinschaft Ziel der Untersuchungen ist zum einen die »idealtypische« Charakte­ri­sierung derartiger universel­ ler Gemeinschaftsformen  (Begriffs­ bildung), zum anderen die komparative Bestimmung von historischen Entwicklungen,

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Weber: Wirtschaft und Gesellschaft

die die vielschichtige Kulturlandschaft des »okzidentalen Rationalismus« hervorgebracht haben (Begriffsanwendung). Kennzeichnend für W.s Vorgehensweise ist die handlungstheoretisch motivierte Ablehnung jeglicher »Hypostasierung« von Makrosubjekten, die sogar zur Verwerfung des Gesellschaftsbegriffs führt, sowie die Ersetzung älterer teleologischer Fortschrittsmodelle durch die Annahme einer diskontinuierlichen und mehrgleisigen ­Dynamik des Aufstiegs westlicher Formen von Wirtschaft, Recht und Wissenschaft. Anders als in seinem Frühwerk geht W. über die Rationalitätsanalyse mentaler und psychologischer Tatbestände hinaus und rückt institutionelle, sozialstrukturelle und geopolitische Hindernisse und Triebkräfte der okzidentalen Sonderentwicklung ins Blickfeld, z. B. die wegweisende Rolle der Kirche für die Entwicklung rationaler Herrschaftstechniken. Neben die vergleichende Religionssoziologie, die den Kern von W.s Gesamtwerk bildet, tritt eine eigenständige Rechts- sowie eine differenzierte Herrschafts- und Staatssoziologie. W. gelangt zu einem Bild des Okzidents, in dem profan organisierte Handlungsbereiche auf eigentümliche Weise

von idealen und transzendenten  Antriebsenergien durchdrungen und gestützt werden. Die genealogische Besonderheit  der okzidentalen Kultur sieht W. darin, dass im Unterschied zu den Reichsbildungen des Orients die politischen Versuche einer übergreifenden kontinentalen Integration aller sozialen Untereinheiten gescheitert sind. Dadurch wurde die Herausbildung hochin­ te­ grierter orientierungsfähiger Handlungseinheiten (Individuen, Sekten, Unternehmen, Nationalstaaten) ermöglicht, die sich der Kontrolle und Außensteuerung durch die jeweils höhere Ebene wenigstens partiell entziehen können. Auf Dauer gestellt  wurde die derartig dynamisierte okzidenta­le Zivilisation durch eine sukzessive Rationalisierung der Tausch-, Kooperations- und Konfliktbeziehungen zwischen den pluralisierten »Mächten«. Auffällig an diesen ordnungsstiftenden Rationalisierungsvorgängen zwischen Individuen, Marktteilnehmern, Staaten etc. ist nach W. ihre zweidimensionale Anlage, durch welche sowohl die konsequente Regelorientierung (in Recht und Verwaltung) als auch die Orientierung an situativen, »außeralltäglichen« Besonder­ heiten und Gelegenheiten (auf



Weber: Wissenschaft als Beruf 615

Märkten, in Kunst und Politik) systematisch gesteigert wurden. – Neben dem epochalen Einfluss des Werks auf die Sozial- und Geschichtswissenschaften sind die jüngeren Versuche hervorzuheben, W.s Analysen für einen differenzierten Vergleich von Kulturen und Vernunftformen fruchtbar zu machen, der die suggestive Kompaktheit des Einheitstitels ›Okzidentaler Rationalismus‹ auflöst. Die ›verstehende Soziologie‹ überwindet demnach nicht nur die tradierten Dichotomien von Vernunft und Verstand, Rationalismus und Irrationalismus, sondern führt zuletzt auch zu einer Relativierung summarischer, zeitloser Entgegensetzungen von Okzident und Orient. V. Heins Ausgabe: Hg. J. Winckelmann, Tbg. 51976 (rev.; 3 Bde.). Literatur: J. Winckelmann, M.  W.s hinterlassenes Hauptwerk, Tbg. 1986. – W. Schluchter, »Wirtschaft und Gesellschaft« – Das Ende eines Mythos, in: J.  Weiss (Hg.), M. W. heute, Ffm. 1989. – S. Kalberg, M. W. lesen, Bielefeld 2006.

Wissenschaft als Beruf EA Mchn./Lpzg. 1919.

In dem Text, der als Vortrag vor studentischem Publikum gehalten wurde, behandelt  W. die Frage, welche Haltung

gegenüber der Wissenschaft »unserer historischen Situation« angemessen ist. Dabei kritisiert W. sowohl eine naive Wissenschaftsgläubigkeit als auch die »intellektualistische Romantik des Irrationalen«. – Nach einer Schilderung der äußeren Bedingungen der modernen  Wissenschaftsorga­ nisation, insbesondere des Verhältnisses der universitären Bürokratisierung zum »Hazard« akademischer Laufbahnen, analysiert W. den »inneren Beruf« zur Wissenschaft. Die Eigenart dieses Berufs liegt für ihn darin, dass einerseits die fachliche Spezialisierung unvermeidlich geworden ist, andererseits die wissenschaftliche Produktivität, wie W. im Anschluss an Platons Phaidros formuliert, nach wie vor auf eine eigentümliche »Mania«, auf »Einfall« und »Eingebung« angewiesen bleibt. Von der subjektiven Bedeutung der Wissenschaft für diejenigen, die sie betreiben, unterscheidet W. die Frage nach dem Wert der Wissenschaft für die moderne Menschheit insgesamt. Diesbezüglich hebt er zwei methodische Charakteristika der neuzeitlich-westlichen Wissenschaft hervor: zum einen die von Platon entdeckte Funktion des »Begriffs«, der gültiges Wissen von bloßen Sinneseindrücken

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Whitehead: Process and Reality

trennt und festhält (»logischer Schraubstock«),  zum anderen die aus der Renaissance stammende Idee des rationalen »Experiments«. Begriff und Experiment definieren nach W. die »Sache«, der die Wissenschaft dient. W.s Hauptargument gegen eine gleichsam monotheistische Privilegie­rung der Wissenschaft gegenüber anderen möglichen Stellungnahmen zur Welt lautet, dass die wissenschaftliche Forschung  keineswegs voraussetzungslos ist, da sie auf kulturellen, letztlich religiösen Überzeugungen ruht, die ihr logisch vorhergehen. Die Naturwissenschaften z. B. setzen W. zufolge stillschweigend voraus, dass es überhaupt sinnvoll ist, »das Leben technisch beherrschen« zu wollen. Diese Voraussetzung lässt sich jedoch innerwissenschaftlich nicht begründen. In der Kraft, dies – und damit die funktionale Unausweichlichkeit von Religion – anzuerkennen, sieht W. die Zentraltugend des  modernen Gelehrten (»intellektuelle Rechtschaffenheit«).  Eigenart und Schicksal der Moderne ergeben sich nach W. nicht aus dem langsamen Zurückdrängen der monotheis­tischen Religion durch eine monopolistische Wissenschaft, sondern aus der Rückkehr eines entgötterten »Polytheismus«

in Gestalt unverträglicher Lebensordnungen, von denen die Wissenschaft nur eine unter mehreren ist. – W.s Text gilt bis heute über die Grenzen von Philosophie und Soziologie hinweg als ein Schlüsseltext zur Selbstverortung von Forschern und Lehrern im Wissenschaftsbetrieb. V. Heins Ausgabe: GA, Abt. I, Bd. 17, Tbg. 1992, 71–111. Literatur: H.  F. Spinner, Das »wissenschaftliche Ethos« als Sonderethik des Wissens, Tbg. 1985. – V.  Krech/G.  Wagner, Wissenschaft als Dämon im Pantheon der Moderne, in: G. Wagner/H. Zipprian (Hg.), M.  W.s Wissenschaftslehre, Ffm. 1994, 755–779.

Alfred North Whitehead *  15. 2. 1861 in Ramsgate (Kent), †  30. 12. 1947 in Cambridge (Mass.); bedeutender Mathematiker, Wissenschaftsphilosoph und Metaphysiker.

Principia Mathematica → Bertrand Russell Process and Reality. An Essay in Cosmology

(engl.; Prozeß und Realität. Entwurf einer Kosmologie), EA NY/ Cambr. 1929.

W.s metaphysisches Haupt­ werk, das Elemente aus dem



Whitehead: Process and Reality 617

englischen Idealismus und dem Neo-Realismus, der vorkantischen Moderne, dem amerikanischen Pragmatismus, der Lebensphilosophie und der zeitgenössischen Wissenschaftstheorie verbindet, entstand aus ursprünglich zehn Gifford-Vorlesungen, die er 1927/28 in Edinburgh hielt und anschließend auf 25 Kapitel erweiterte. – W.s spekulative Philosophie hat eine »empirische Basis« in gegebenen Interpretationen des Alltagslebens und der Wissenschaften, aus denen durch »imaginative Verallgemeinerung« ein System allgemeiner Ideen entworfen wird. Diese Ideen müssen auf alle Erfahrung anwendbar sein; ihr Zweck besteht aber insbesondere darin, als Leitideen neue Regionen der Realität zu erschließen und die Komplexität realer Verhältnisse soweit erfassbar zu machen, dass unzulässige Vereinfachungen und Verallgemeinerungen gängiger Modelle und Leitideen kritisiert werden können. Das Kategoriensystem umfasst vier Gruppen von Kategorien: die allen anderen zugrunde liegende Kategorie Kreativi­ tät, der zufolge alles Wirkliche ein Prozess der Verbindung von Vielheiten ist; ferner ­ die Erklärungskategorien, nach  denen wirkliche Elementarer-

eignisse objektiv beschreibbar sind; sodann die Kategorien der Verpflichtung, welche die subjektive Binnenperspektive regeln, und schließlich die ihnen gemeinsamen Existenzkategorien. – Im 2. Teil erläutert W. diese Kategorien, indem er sie zur Kritik der modernen Philosophie von Descartes bis Kant einsetzt. W. ersetzt das »subjektivistische Prinzip der Moderne« durch ein »reformiertes subjektivistisches Prinzip«, das für alle Elementarereignisse, auch nichtmenschliche, gilt. Im Gegensatz zu den klassischen Substanzen sind W.s Elementarereignisse (actual  entities) von Natur aus sozial; sie »wachsen« als individuelle Einheiten aus anderen Elementarereignissen  »zusammen« (concrescence) und realisieren dabei einen neuen Wert. In diesen Prozess gehen auch Bestimmungen ein, deren Natur kontextunabhängig ist (ewige Gegenstände/eternal objects). Ähnlich wie Leibniz in seiner Monadologie interpretiert Whitehead Gegenstände der Alltagserfahrung wie einen Apfel oder einen Menschen als komplex strukturierte, eigene Bestimmungen reproduzierende Gesellschaften (societies), die von einer Umwelt weiterer Gesellschaften abhängen, bis hin zur allgemeinsten Gesell-

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Whitehead: Process and Reality

schaft des extensiven Konti­ nuums. – Im 3. Teil entwickelt W. eine Theorie der Prehensionen, welche die Funktion einer Erkenntnistheorie mit einer Theo­ rie der Kausalität verbindet. »Prehension« ist W.s Grundbegriff für alle Weisen, in denen ein Elementarereignis andere Elementarereignisse subjektiv »erfasst« bzw. objektiviert und interpretiert. Von außen betrachtet, erscheint dieses Objektiviertwerden als kausales Fortwirken der erfassten Ereignisse im Erfassenden. An die Stelle des klassischen Leib-Seele-Dualismus tritt der Kontrast zwischen einem physischen Pol und einem mentalen Pol, die in unterschiedlich komplexer Form an allen Prehensionen von »einfachen physischen Empfindungen« bis zu »Urteilen« beteiligt sind. Bewusstsein gründet auf einem »Af­fi r­ mations-Negations-Kontrast« zwischen faktischen und kontrafaktischen Bestimmungen. – Im 4.  Teil leitet W. geome­ trische Relationen aus den allgemeinsten physischen Verhältnissen »extensiver Verbindung« von Regionen ab; hier wird von der Subjektivität der Elementarereignisse abstrahiert. – Im 5. und letzten Teil entwirft er seine Theorie der Doppelnatur Gottes, der für W. sowohl einen Sonderfall als auch eine

Bedingung der Kategorien darstellt: Gott ist einerseits als unbewusste zeitlose Schau der reinen Möglichkeiten (primordial nature), andererseits als bewusste Prehension des Weltprozesses (consequent nature) zu denken und verändert sich mit der wirklichen Welt. Auf dieser metaphysischen Grundlage kann die Entstehung von Neuem auf eine Prehension von unrealisierten Möglichkeiten in Gott zurückgeführt werden, der den zeitlosen Bereich reiner Potenzialität aufgrund seiner konkreten Natur stets auf die subjektiven Ziele der Elementarereignisse bezieht. – W.s Metaphysik, die trotz sprachlicher und konzeptio­ neller Dunkelheiten von vielen als gleichrangig mit der Metaphysik Leibniz’ und Hegels eingeschätzt wird, stößt aufgrund ihrer anti-mechanistischen, eher an biologischen Paradigmen ausgerichteten Begrifflichkeit, ihrer revolutionären Theologie und der Kritik des modernen Subjektivismus seit den späten 1950er Jahren auf zunehmendes Interesse und wird derzeit insbesondere im Kontext eines neuen Panpsychismus auch in der analytischen Philosophie neu rezipiert. M. S. Lotter Ausgaben: NY 1987 (korrig. Ausg.). – Dt., Ü.: H.-G. Holl,



Wilhelm von Ockham: Summa logicae 619

Ffm. 1984 (überarb. Fassg. der Ü. von 1979). Literatur: I. Leclerc, W.’s Meta­ physics, Ldn. 1958. – W. A. Chris­ tian, An Interpretation of W.’s Metaphysics, New Haven 1959. – M.  Hampe/H.  Maassen (Hg.), Materialien zu W.s »Prozeß und Realität«, 2 Bde., Ffm. 1991. – M. Hampe, A. N. W., Mchn. 1998. – C.  Kann, Fußnoten zu Platon. Philosophiegeschichte bei A. N. W., Hbg. 2001 (F. Meiner, Paradeigmata 23).

Wilhelm von Ockham (Guilelmus de Ockham/Occam, William of Ockham), * um 1285 in Ockham (Surrey), †  9. 4. (?) 1349 in München; Philosoph und Theologe der Spätscholastik, Vertreter des Nominalismus.

Summa logicae (lat.; Summe der Logik), ­ent­st. 1323; ED Paris 1488.

Das Werk ist ein groß angelegtes Handbuch der Logik, das den Anspruch erhebt, sowohl die Voraussetzungen des Wissens als auch die Weise seines Erwerbs darzustellen. Es ist in drei Teile gegliedert und greift die Problemstellungen des aristotelischen → Organon sowie der Isagoge des Porphyrios auf, es werden aber auch Lehrstücke geboten, die (wie die Suppositionslehre) nicht zu den Bestandteilen der aris-

totelischen Logik gehören. Näherhin handelt die Summa logicae vom Terminus, von der Aussage und vom Schluss, d. h. dem demonstrativen Syllogismus, der Konsequenz und dem Trugschluss. – Drei verschiedene Arten von Termini, das gesprochene Wort, das geschriebene Wort sowie der gedankliche Begriff, haben im Satz eine Bedeutung. Im Fall der ersten beiden beruht die Bedeutungszuweisung auf Konvention, im Fall des Begriffs der Gedankensprache besteht die Bedeutung ›von Natur aus‹. In der Widerlegung des erkenntnistheoretischen Realismus und der Zurückweisung jeder Abbildtheorie zeigt W. v. O. auf, dass alles (extramental) Existierende individuell ist. Allgemeines dagegen besteht nur im Geist, d. h. ein (allgemeiner) Begriff ist für W. v. O. grundsätzlich ein ens in anima (›innermentales Ding‹); er ist mit dem Akt des Intellekts identisch und fungiert als Zeichen, mit dessen Hilfe das erkennende Subjekt sich auf die extramentale Wirklichkeit bezieht. Die aristotelische Kategorienlehre modifizierend, arbeitet W. v. O. dabei heraus, dass lediglich solche Termini, die unter die Kategorien ›Substanz‹ und  ›Qua­ lität‹ fallen, das eigentlich  Seiende, das stets einzeln und

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Wilhelm von Ockham: Summa logicae

selbständig ist, bezeichnen. In diesem Sinne beziehen sich nur zwei Kategorien auf die extramentale Wirklichkeit, während die übrigen Kategorien als Weisen menschlichen Ordnens von Welt zu betrachten sind. In ­Ergänzung zur Lehre vom Begriff entwickelt W. v. O. seine Suppositionslehre: Begriffe und sprachliche Ausdrücke kön­nen ihre Zeichenfunktion nur ­ im Satzzusammenhang erfüllen. Die­se Aufgabe, für etwas anderes zu stehen, zu supponieren, kommt innerhalb einer Aussage sowohl dem Subjekt als auch dem Prädikat zu. W. v. O. unterscheidet drei Formen der Supposition: Im Fall der suppositio personalis nimmt der Terminus die Stelle des Gegenstandes ein, den er bezeichnet; im Fall der suppositio simplex steht er für sich selbst, und im Fall der suppositio materialis steht er für ein Wort- oder Schriftzeichen. Auf der Grundlage seiner Universalienlehre und seiner Theorie von der Supposition der Termini entwickelt W. v. O. hier einen Wahrheitsbegriff, der sich von der traditionellen Deutung der Wahrheit als einer Übereinstimmung (adaequatio) deutlich abhebt: ›Wahr‹ und ›falsch‹ sind W. v. O. zufolge konnotative Begriffe, die sich auf Sätze beziehen. Ein Satz ist dann wahr, wenn Subjekt und

Prädikat auf denselben Gegenstand referieren, d. h. wenn sie für dasselbe supponieren. – Als wirkungsgeschichtlich besonders bedeutsam erwies sich die in der Summa logicae abschießend formulierte Auffassung des W. v. O., Universalien (allgemeine Begriffe) seien lediglich innermental bestehende Instrumente des Intellekts zum Umgang mit der stets indivi­ duellen äußeren Wirklichkeit. M. Dreyer/S. Seit Ausgaben: Hg.: P.  Boe­h­ ner/G.  Gál/S.  Brown, St. Bonaventure 1974 (Opera philosophica 1). – Lat./dt., in: W. v. O., Texte zur Theorie der Erkenntnis und der Wissenschaft, Hg., Ü. und Komm.: R.  Imbach, Stgt. 1984 (Auszüge). – Lat./dt., Hg. und Ü.: P.  Kunze, Hbg. 21999 (Auszüge aus Teil I). – Engl., O.’s Theory of Terms. Part I of the Summa Logicae, Ü. und Einl.: M.  J. Loux, Notre Dame 1974 (ND South Bend 1998). – O.’s Theory of Propositions. Part II of the Summa Logicae, Ü.: A. J. Freddoso und H.  Schuurman, Einl.: A. J. Freddoso, Notre Dame 1980 (ND South Bend 1998). Literatur: P. Schulthess, Sein, Signifikation und Erkenntnis bei W. v. O., Bln. 1992. – P.  King, W. of O.: Summa logicae, in: J. Shand, Central Works of Philosophy I, Chesham 2005, 242–269.



Williams: Ethics and the Limits of Philosophy 621

Bernard Williams *  21. 9. 1929 in Westcliff-on-Sea (Essex), †  10. 6. 2003 in Rom; Ver­ treter der analytischen Philosophie, einflussreiche Beiträge zur Handlungstheorie und Ethik sowie zur Politischen Philosophie, zu deren Geschichte und Methoden.

Ethics and the Limits of ­Philosophy (engl.; Ethik und die Grenzen der Philosophie), EA Cambr. (Mass.) 1985.

Nur in völliger Unkenntnis seiner grundsätzlichen philosophischen Haltung und seiner bis dato publizierten Arbeiten zur philosophischen Ethik kann man zu der Erwartungshaltung kommen, W. verfolge mit seinem Hauptwerk das Ziel, eine einheitliche Theorie vorzulegen, welche die moralische Praxis zugleich begreiflich macht und universelle Prinzipien formuliert. Denn wie in früheren Studien – insbesondere in seiner Kritik des Utilitarismus in Utilitarianism: For and Against (1973) und den in →  Moral Luck enthaltenen Aufsätzen – stellt W. auch hier die Theoriefähigkeit philosophischer Ethik ebenso infrage wie die aus der Philosophiegeschichte bekannten Versuche, sozial geteilter moralischer Erfahrung mittels der Begründung universeller

und unparteiischer Systeme gerecht zu werden. Gegenstand ethischer Theorie ist W. zufolge die Beantwortung der so­ kratischen Frage »Wie soll man (bzw. der Mensch) leben?«, welche auf Gründe dafür zielt, sein Leben auf eine bestimmte, somit gerechtfertigte Art zu führen. Unter einer ethischen Theorie versteht W. eine theoretische Darlegung dessen, was ethisches Denken und ethische Praxis ausmacht, wobei eine solche Darlegung entweder einen allgemeinen Test für die Korrektheit grundlegender  ethischer Überzeugungen und Prinzipien oder den Standpunkt impliziere, dass es einen solchen Test nicht geben kann. Ein Großteil von W.’ Ausführungen in diesem Werk ist Argumenten gewidmet, nach denen es den meist diskutierten ethischen Theorien nicht gelungen ist, solche Tests zu etablieren. Eine grundlegende Unterscheidung zwischen Arten ethischer Theorie besteht W. zufolge darin, ob sie außerhalb oder innerhalb ethischer Praxis ansetzen. Die außerhalb ansetzenden Konzeptionen – W. führt beispielhaft Aristoteles (Kap. 3) und Kant (Kap. 4) an – seien darauf ausgerichtet, einen letzten Grund dafür zu liefern, sein Leben nach ethischen Grundsätzen (welcher

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Williams: Ethics and the Limits of Philosophy

Art auch immer) zu gestalten. Die derart ›fundamentistischen‹ Projekte, die W. diskutiert und die nach W.’ Darstellung auf die Identifikation eines »Archimedischen Punktes« in der Ethik zielen, scheitern an zu gleichförmigen Vorstellungen vom gelingenden Leben (Aristoteles) oder einer zu abstrakten Theorie rationalen Handelns (Kant). Die innerhalb ethischer Praxis ansetzenden Konzeptionen gehen nicht von der Frage nach dem Warum ethischer Lebensführung aus, sondern unterstellen, dass Menschen grundsätzlich ethische Reflexionen anstellen und für maßgeblich halten, womit der Fokus bei der Frage nach dem Wie ethischer Lebensgestaltung liegt. Dazu legt W. in den Kap.  5 ff. kritische Analysen zu Varianten und einzelnen Argumenten des Kontraktualismus, Utilitarismus, Intuitio­ nismus und Präskriptivis­ mus sowie zu Ansätzen vor, die aus Seinsaussagen Sollensaussagen abzuleiten versuchen. W.’ konstruktiver Ansatz zu diesem weiten Themenspektrum beruht auf der Bestimmung von ihm so genannter »dichter« Begriffe; gegenüber allgemeinen ethischen Begriffen wie ›Sollen‹ oder ›gut‹ sind solche dichten Begriffe wie ›Verrat‹, ›Versprechen‹, ›Brutalität‹ und ›Mut‹

dadurch gekennzeichnet, dass sie eine Einheit von Tatsache und Wert zum Ausdruck zu bringen scheinen. Doch gelte für diese Begriffe zum einen, dass sie allenfalls für eine Art ethischen Wissens grundlegend sein können, die relativ zum jeweiligen sozialen Kontext ist; und zum anderen habe die Reflexion über diese Begriffe in modernen Gesellschaften die Orientierungsfunktion  gemindert, die ihnen in traditionalen Gesellschaften noch zukam. W. vertritt überdies die Auffassung, dass für ethische Überzeugungen v. a. Zutrauen (confidence) gefragt ist, das in sozialen Verhältnissen durch Institutionen, Erziehung und öffentlichen Diskurs zustande kommt. Diese Quellen ethischer Praxis schließen rationale Reflexion und Argumentation zwar nicht aus, doch beinhalten sie grundlegende soziale und psychologische Elemente des praktischen Zusammenlebens, welche der Erfassung durch philosophische Theoriebildung Grenzen setzen. Insbesondere sei es, darin liegt W.’ übergreifender kritischer Punkt gegen die zeitgenössische Moralphilosophie, mit diesem empirischen Befund nicht vereinbar, das Geschäft der Ethik als Definition und Rechtfertigung universeller ethischer Prinzi-



Williams: Moral Luck 623

pien, zusammengefasst  als die Institution »Moralität«, zu begreifen. D. Schweikard Ausgabe: Dt., Hbg. 1999. Literatur: J. E. J. Altham/R. Harrison (Hg.), World, Mind and Ethics: Essays on the Ethical Philosophy of B. W., Cambr. 1995. – D. Callcut (Hg.), Reading B.  W., Oxon 2009.

Moral Luck (engl.; Moralischer Zufall. Philosophische Aufsätze 1973–1980), EA Cambr. 1981.

Dieser Band ist, nach →  Problems of the Self, W.’ zweite Aufsatzsammlung, in der seine Konzentration auf Fragen der philosophischen Ethik Kontur gewinnt. Die 13 in diesem Band enthaltenen Kapitel lesen sich als dichte Abhandlungen, die entweder prominenten Problemen der (Moral-)Philosophie und Handlungstheorie – etwa der Überzeugungskraft des Utilitarismus, der Struktur moralischen Dissenses, der Unterscheidung zwischen internen und externen Handlungsgründen und Spielarten des Relativismus – oder aber bis dato wenig beachteten Fragestellungen gewidmet sind, beispielsweise der Rolle des Zufalls in der Bewertung von Handlungen und Charakteren, bezüglich derer

W. neue Diskussionslinien lanciert und eine Metareflexion über Methode und Grenzen der Ethik anstößt. Infrage steht für W. nicht allein die Qualität viel diskutierter ethischer Theo­rien oder einzelner Argumente, sondern auch die Frage, ob Ethik als theoretische Disziplin betrieben werden kann. Wenn die hier versammelten Texte auch nicht eine durchgeführte Argumentation zu dieser Frage liefern, so geben sie – wie die noch heute fortdauernden Debatten darüber zeigen – der mit Theorieanspruch auftretenden Ethik eine Reihe kniffliger Aufgaben mit auf den Weg. Dabei ragt der Beitrag heraus, dessen Überschrift von W. als Titel des Bandes übernommen wurde und dessen Themenstellung W. zufolge sich in anderen Beiträgen widerspiegelt. Das systematische Problem, das mit dem Titel Moralischer Zufall benannt ist, liegt darin, dass nicht alle Faktoren, die für die moralische Bewertung einer Handlung (oder auch des Charakters einer Person) relevant sind, der Kontrolle des jeweiligen Akteurs unterliegen; denn zufällige Ereignisse oder Begebenheiten können in der zu bewertenden Situation eine zen­ trale, konstitutive Rolle spielen. Dies stellt auf vollständige Zurechnung beruhende Ansätze

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Williams: Moral Luck

der Handlungsbewertung vor Probleme, unterminiert aber nicht, dass Akteure mit Blick auf die zufälligen Bestandteile von Ereignissen für sie als Personen relevante Einstellungen haben und etwa ihre Verwicklung in einen von ihnen nicht verschuldeten Unfall bereuen. Für W. steht bei der Erörterung moralischen Zufalls jedoch im Vordergrund, dass die seinerzeit überwiegend vertretenen ethischen Grundkonzeptionen, Kantianismus und Utilitarismus, die mit den vielfältigen Erscheinungsformen des Zufalls verbundenen Fragen nicht behandeln können. Es resultiert eine skeptische Haltung hinsichtlich der Zufallsfreiheit moralischer Praxis und damit hinsichtlich der Konzeptionen, die darauf festgelegt sind, Moralität als zufallsfreie Ordnung darzustellen. Verbunden mit diesem kritischen Motiv ist W.’ wiederholtes Insistieren, dass eine Moralphilosophie, deren Anliegen es ist, Moral als unpersönliches und unpartei­ isches System zu rechtfertigen, weder mit vertrauten Praktiken moralischen Urteilens noch mit der sozial geteilten moralischen Erfahrung vereinbar ist. Dieser Punkt findet sich insbesondere in W.’ Ausführungen zur Akteurrelativität (Kap. 1) und Internalität (Kap.  8) moralischer

Motivation, aber  ebenso in seiner Auseinandersetzung mit utilitaristischer Ethik (Kap. 3). Zu diesem Themenfeld zählen auch die Ansätze, die W. in den Kapiteln  9 (»Ought and moral obligation«) und 10 ­(»Practical necessity«) unternimmt, die da­ rauf ­ angelegt sind zu zeigen, dass das praktische Sollen, welches das Ergebnis praktischer Überlegungen repräsentiert, relativ zu den Motiven des ­jeweiligen Akteurs ist und ihm nur aufgrund dieser Relativität überhaupt Gründe liefert. Diese Relativität verneinen  universalistische bzw. auf Universalisierung zielende ethi­ sche Konzeptionen. – Die beiden abschließenden Beiträge des Bandes (Kap. 12 und 13) sind Wittgensteins Solipsismus und dessen späterer Überwindung sowie Ayers Verifikationis­ mus gewidmet. W. geht hier zum einen dem Argument gegen begrifflichen Relativismus nach, der in Wittgensteins Wendung zum ›Wir‹ bestehen bleibe, und zum anderen der Inkompatibilität der Position, Vorstellungen oder Sätze seien zu verifizieren (oder nach Maßgabe ihrer Verifizierbarkeit zu beurteilen), mit dem neutralen wissenschaftlichen Weltbild, an dem Verifikationisten ebenfalls festhalten. D. Schweikard



Williams: Morality 625

Ausgabe: Dt., Ffm. 1984. Literatur: D. Statman (Hg.), Moral Luck, Albany 1993.

Morality. An Introduction to Ethics (engl.; Der Begriff der Moral. Eine Einführung in die Ethik), EA Cambr. 1972.

W.’ erste Monographie ist, ihrem Untertitel (An Introduction to Ethics) zum Trotz, keine Einführung in die Ethik. Das inklusive Vorwort nur knapp einhundert Druckseiten umfassende Werk ist keine historische Erläuterung von Positionen und auch keine Hinführung für den interessierten Laien, sondern ein Durchgang durch Grundthemen der Moralphi­ losophie, in dem v. a. grundlegende Fragestellungen erörtert und zugehörige Antwortoptio­ nen problematisiert werden. Ein eigenständiger systematischer Zugriff auf die Themen dieses Werks nimmt erst in W.’ späteren Schriften die Gestalt einer quer zum philosophischen Mainstream liegenden Konzeption an, deren Wirkung sich in einer Vielzahl handlungsund autonomietheoretischer, moral- und politisch-philosophischer Debatten bis heute fortsetzt. In Morality verfolgt W. zum einen nicht die Ausarbeitung einer Theorie, son-

dern primär die Überwindung theoretischer Abstraktheit und inhaltlicher Relevanzarmut, die er zeitgenössischen Autoren der (sprach-)analytischen Tradition attestiert und die er gerade mit Blick auf den Gegenstandsbereich der Moralphilosophie für unduldbar hält. Zum anderen beschränkt sich W. hier auf den Weg einer problemorientierten Darstellung und unternimmt es nicht, historische oder zeitgenössische Theorieentwürfe aufzuarbeiten. W. beginnt mit einem Porträt des Amoralisten, in dessen Überlegungen und Handlungsmotiven moralische Erwägungen keine Rolle spielen, der selbst keine Einstellungen hat oder einfordert, die das moralische Leben grundsätzlich kennzeichnen. Von Interesse ist an diesem Porträt für W. nicht, was man dieser moralitätsimmunen Figur sagen oder wie man sie überzeugen könnte, sondern der Kontrast, den es zur Konstitution moralischer Praxis zu erhellen erlaubt. Eine anders gelagerte Provokation geht, so W., vom Subjektivisten aus, der moralische Erwägungen zwar für relevant, aber nicht für vom einen zum anderen moralischen Akteur übertragbar hält. In W.’ Darstellung versteht der Subjektivist moralische Urteile v. a. als Ausdruck subjektiver Einstellungen, für

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Williams: Problems of the Self

die sich die Frage nach Richtigkeit und Falschheit nicht stelle. Dies konfligiert jedoch W. zufolge zumindest mit den vertrauten Befunden, dass Individuen ihre Einstellungen ändern und dass es durchaus ernst zu nehmenden Streit zwischen moralischen Haltungen gibt. Subjektivisten im Besonderen, wie Relativisten im Allgemeinen, verneinen, dass solche Streitigkeiten unter Rekurs auf subjektunabhängige moralische Tatsachen oder eine eindeutige Bedeutung von Begriffen entschieden werden können. W. diskutiert diese subjektivis­ tische Haltung mit Blick auf die Praktizität moralischer Urteile, also das Merkmal, dass sie auf Handlungsentscheidungen und -prinzipien zielen und Ausdruck bestimmter Sorge oder Gefühle sein können. Der Erfolg des Subjektivisten mag demnach nicht darin liegen, Moralität für obsolet zu erklären, doch verdeutlicht er, dass die Praxis moralischen Urteilens und Argumentierens auf anderem Weg als über die Analogie zu wissenschaftlichem Denken zu analysieren ist. Einen solchen Weg zeichnet W. anhand der Analyse des Wortes ›gut‹ nach, innerhalb derer er nicht nur die Merkmale von ›gut‹ als attributivem Adjektiv untersucht, sondern auch

zeigt, dass die Logik präskriptiver und evaluativer Sprache auf spezifischen Voraussetzungen beruht, die anhand einer bloßen Adaption der Tatsache-Wert-Unterscheidung nicht  erfasst werden können. Hier und in den nachfolgend angestellten Reflexionen über Güte, über die Frage, ob es für die Moral einen Unterschied bedeutete, wenn Gott existierte, sowie über die Bestimmung von Wohlergehen (bzw. Glück) als Kernthema der Moral zeigt sich W. nicht als Vertreter einer systematischen Position, sondern er formuliert v. a. eine kritische Einschätzung zur Frage, ob das Projekt einer philosophischen Ethik überhaupt gerechtfertigt werden kann. Den Abschluss dieses Durchgangs bildet eine Kurzfassung der Kritik an utilitaristischen Konzeptionen, die W. 1973 in dem Band Utilitar­ ianism: For and Against vorgelegt hat. D. Schweikard Ausgabe: Dt., Stgt. 1985. Literatur: M. Jenkins, B.  W., Durham 2006.

Problems of the Self (engl.; Probleme des Selbst), EA Cambr. 1973.

Dieser Band enthält einige frühe, zwischen 1956 und ­ 1972 erschienene Aufsätze, die



Williams: Problems of the Self 627

W. gegenüber den früheren Zeitschriftenpublikationen mit klei­neren Verbesserungen und in Einzelfällen mit Zusätzen versehen hat. – Im ersten Aufsatz Personenidentität und Individuation verteidigt W. seine einschlägige Position, der zufolge die Identität des Körpers immer eine notwendige Bedingung der personalen Identität darstellt. Damit gemeint sind nicht etwa bestimmte Gehirnteile, die für die psychologischen Prozesse einer Person relevant sind, oder die biologische Lebensstiftungsfunktion bestimmter Körperteile, sondern der leibliche Körper in seinem sehr viel weiteren Sinne. – In den folgenden vier Aufsätzen verteidigt er seinen Ansatz gegen Kritik und geht der Frage nach, welche Rolle denn nun noch den psychologischen Prozessen der Personen, insbesondere den Erinnerungen und den Erwartungen, zukommt. Der Beitrag Das Selbst und die Zukunft stellt dabei einen der wohl bekanntesten Aufsätze W.’ dar. Er thematisiert das in der Literatur einschlägige Gedankenexperiment eines Körpertauschs von Personen – eine Möglichkeit, die seine eigene Position fundamental infrage stellen würde. Nach einer Analyse der versteckten Annahmen solcher Gedankenexperimen-

te kommt W. jedoch zu dem Schluss, seine Position könne durch solche Gedankenexperimente nicht destruiert werden. Der letzte Aufsatz dieses Buchteils befasst sich mit der Langeweile der Unsterblichkeit. In diesem Beitrag vertritt W. die Auffassung, erst der Tod könne dem persönlichen Leben einen Sinn geben. Obgleich der Tod als Übel betrachtet werden müsse, wäre ein Leben ohne Tod aufgrund der Natur der sinnstiftenden Wünsche des Menschen unerträglich. – Ein weiterer Teil der Sammlung befasst sich mit logischen Schlussfolgerungsbeziehungen und der geläufigen Forderung nach Widerspruchsfreiheit sowohl bei Tatsachenaussagen als auch bei moralischen Imperativen. Zunächst wird dabei die Frage besprochen, ob man sich willentlich dazu bringen könne, etwas zu glauben – im drastischsten Fall eine Behauptung, von der man weiß, dass sie falsch ist –, oder ob das Glauben einem vielmehr unwillentlich widerfahre. Hierbei tendiert W. zur ersteren Auffassung. Des Weiteren argumentiert er, es gebe zwar logische Schlussfolgerungsbeziehungen zwischen moralischen Imperativen, Imperativ-Schlüsse  existierten jedoch nicht. Auch die Annahme, moralische Forde-

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Williams: Truth and Truthfulness

rungen müssten untereinander widerspruchsfrei sein, lehnt er ab. So impliziere die Entscheidung, in einem moralischen Konfliktfall der einen statt der anderen Forderung zu genügen, keineswegs, die letztere moralische Forderung sei ungültig. Das Verlangen nach der Widerspruchsfreiheit moralischer Forderungen sei darüber hinaus eher mit einem metaethischen Realismus zu vereinbaren als mit dem von ihm favorisierten Anti-Realismus. – Im letzten Teil der Sammlung deutet W. einige Zusammenhänge zwischen Auffassungen des Selbst und der Moralphilosophie an. So untersucht er in Sittlichkeit und Gefühl, welche Rolle die Emotionen bei der Beurteilung der Moralität einer Person spielen sollten und positioniert sich dabei entgegengesetzt zu rationalistischen Auffassungen. In Der Gleichheitsgedanke stellt er Überlegungen dazu an, inwiefern der Personenbegriff zum Verständnis des Postulats von der Gleichheit der Personen und den damit verbundenen unterschiedlichen Ausprägungen des Gleichheitsprinzips beitragen könnte. In Altruismus und Egoismus schließlich untersucht er die Rolle des Verständnisses vom eigenen Selbst auf die Abgrenzung zwischen Altruismus und Egoismus und

positioniert sich dabei erneut gegen den Rationalismus, indem er das Mitgefühl gegenüber anderen als Grundlage der Moralität charakterisiert. – Die Sammlung Probleme des Selbst stellt mit ihren Fragestellungen einige der wichtigsten Positionen von W. vor und ist inhaltlich charakteristisch für sein Lebenswerk. A. Dufner Ausgabe: Dt., Stgt. 1978. Literatur: H. Köhl, Praktische Notwendigkeit und moralisches Verpflichtetsein. Mit B.  W. gegen die kantische Moral, in: Philosophisches Jahrbuch 110, 2003, 1–23. – U. Heuer/G. Lang, Luck, Value, and Commitment. Themes from the Ethics of B. W., Oxfd. 2012.

Truth and Truthfulness. An Essay in Genealogy

(engl.; Wahrheit und Wahrhaftigkeit), EA Princeton 2002.

Das Buch ist einer Analyse der Tugend der Wahrhaftigkeit gewidmet, die W. der Wahrheit verpflichtet sieht. Damit argumentiert er gegen all jene »Verneiner« der Wahrheit, für die Wahrhaftigkeit in eine Skepsis gegenüber der Wahrheit mündet, da man, wenn man wahrhaftig sei, zugeben müsse, dass alle angeblichen »Wahrheiten« nur einseitige Konstruktionen auf der Basis der eigenen Perspektive seien. Methodisch



Williams: Truth and Truthfulness 629

verfolgt W. dabei primär eine an Nietzsche angelehnte »imaginierte Genealogie«, in der, unter Voraussetzung plausibler Vorbedingungen, die Formulierung einer fiktiven Geschichte über die Entstehung und Funktion der Wahrhaftigkeit ihren systematischen Zusammenhang mit der Wahrheit einsichtig machen soll. – Für seine fiktive Geschichte greift W. auf die Idee eines Naturzustands zurück, der sich durch eine kleine kooperative und vertrauensvolle Sprachgemeinschaft auszeichnet, in der die Mitglieder Meinungen, Informationen und Wissen teilen und aus pragmatischen Gründen ein Interesse an korrekten Informationen haben. Hierfür erweisen sich zwei Grundtugenden der Wahrheit als entscheidend: Genauigkeit und Aufrichtigkeit. Damit aber treten zugleich die Probleme der Lüge und der Irreführung auf, wenn dies für Einzelne vorteilhafter ist, sowie die Frage, ob Wahrheit und Wahrhaftigkeit dann nur instrumentellen Wert haben. Dass sie auch ­intrinsischen Wert haben, zeigt sich für W. in der essenziellen Verbindung, die Wahrheit zu Meinungen und Behauptungen hat. Beide zielen auf Wahrheit und lassen sich nur hierüber verständlich machen

und beurteilen. Zwar kommt der Wahrheit damit ein intrinsischer Wert zu. Die Probleme der Lüge und der Irreführung aber sind noch nicht gelöst. Der Tugend der Aufrichtigkeit steht die Frage gegenüber, ob ich in einer bestimmten Situa­ tion tatsächlich die (ganze) Wahrheit sagen sollte. Gegenüber der Tugend der Genauigkeit stellt sich die Frage, ob ich mir die Mühe machen sollte, die Wahrheit herauszufinden, um dann eine bestimmte (wahre) Meinung zu haben. Um diese Fragen zugunsten der Wahrhaftigkeit beantworten zu können, muss auch sie als intrinsisch wertvoll verständlich gemacht werden. Ein Grund, Zuverlässigkeit und Vertrauenswürdigkeit und damit Genauigkeit und Aufrichtigkeit als intrinsische Werte anzusehen, ergibt sich für W., wenn die Tugenden im Rahmen einer reicheren Praxis des kooperativen und vertrauensvollen Miteinander situiert werden. Ihr intrinsischer Wert ergibt sich hier als Teil eines respektvollen Umgangs miteinander. – W. führt diese Zusammenhänge und den Bezug zur Wahrheit anschließend im Sinne einer historischen Genealogie weiter aus mit Blick auf (narrative) Geschichtsschreibung, den Zusammenhang zwischen Auf-

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Wittgenstein: Logisch-philosophische Abhandlung

richtigkeit, Identität und Authentizität sowie die Rolle der Wahrhaftigkeit im politischen Liberalismus. In letzterem Fall zeigt sich allerdings sowohl eine Spannung zwischen der Forderung nach Wahrhaftigkeit und anderen liberalen Werten, etwa der Redefreiheit, wenn diese zugunsten einer effektiveren Wahrhaftigkeit ein­zuschränken wäre, als auch ein positives Zusammenspiel, wenn Wahrhaftigkeit der Kritik an Ungerechtigkeiten dient. – W.’ Buch hat sowohl mit seiner Kritik an der (vornehmlich postmodernen) Position der »Verneiner« der Wahrheit als auch mit der Fokussierung auf den essenziellen Beitrag der Wahrheit zum Verständnis der Wahrhaftigkeit, im Gegensatz zur üblichen Konzentration auf das Verständnis und die etwai­ ge Rechtfertigung von Lügen, die entsprechenden Debatten beeinflusst. M. Kühler Ausgabe: Dt., Ffm. 2003. Literatur: S. Dietz, Der Wert der Lüge: über das Verhältnis von Sprache und Moral, Paderborn 2002. – M.  Migotti, Pragmatism, Genealogy, and Truth, in: Dialogue: Canadian Philosophical Review 48, 2009, 185–203. – S. Schmetkamp, Was ist falsch an der Lüge? Lüge als Verletzung von Achtung und Vertrauen, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 58, 2010, 127–143.

Ludwig Wittgenstein * 26. 4. 1889 in Wien, † 29. 4. 1951 in Cambridge; Philosoph mit revolutionären Beiträgen zur Logik, Philosophie der Sprache, der Mathematik und der Psychologie.

Logisch-philosophische ­Abhandlung EV 1921 (in: Annalen der Naturphilosophie 3/4, Hg.: W. Ostwald, Bd. 14, 185–262); EA Ldn. 1922 (engl./dt.) u. d. T. Tractatus logicophilosophicus/Logisch-philosophische Abhandlung.

In seinem ersten Buch wollte W. durch die Aufdeckung des Wesens des Satzes bestimmen, was sich sinnvoll sagen lässt. Laut Vorwort zeigt das Werk, dass die philosophischen Pro­ bleme »auf dem Mißverständnis der Logik unserer Sprache« beruhen. Diesen Irrtum glaubte der junge W. ausgeräumt und so »die Probleme im Wesentlichen gelöst zu haben«. – Das Werk ist in sieben Hauptthesen gegliedert, denen (abgesehen von der letzten) erläuternde Bemerkungen untergeordnet sind. Die Thesen 1 und 2 führen aus, dass die Welt die Gesamtheit der Tatsachen ist, die wir in »Bildern« zu begreifen suchen. Tatsachen sind Konfigurationen von Gegenständen. Laut W. muss es einfache Gegenstände geben, damit



Wittgenstein: Logisch-philosophische Abhandlung 631

es eine »feste Form der Welt« mit eindeutigen Strukturen geben kann; ohne sie wäre es unmöglich, »ein Bild der Welt (wahr oder falsch) zu entwerfen«. Während nicht jedes Bild hinsichtlich der räumlichen Struktur mit dem Abgebildeten übereinstimmt, müssen Bild und Abgebildetes stets die »logische Form« gemein haben. – Das logische Bild der Tatsachen ist laut These  3 der Gedanke, der sich im Satz sinnlich wahrnehmbar ausdrücken kann. Das Zeichen, mit dem wir den Gedanken ausdrücken (»Satzzeichen«), ist als Bild selbst eine strukturierte Tatsache. Es kann als »Projektion« möglicher Sachlagen dienen; das Projizieren geschieht durch das Denken (Meinen) des Satzsinnes. Damit der Sinn von Sätzen bestimmt sein kann, muss es eine vollständige Analyse des Satzes geben. Namen gelten als nicht weiter analysierbare Urzeichen. Nur im Zusammenhang des Satzes hat ein Name Bedeutung; einen Sinn haben nur Sätze. W. stellt sich die Aufgabe, eine Zeichensprache zu entwickeln, die der logischen Syntax gehorcht. Die Umgangssprache tut dies nicht; und auch die künstlichen Sprachen Freges und Russells enthalten noch Unvollkommenheiten, die Quellen von

Verwirrungen sind. – Gemäß These 4 sind Gedanken stets in sinnvollen Sätzen ausgedrückt. Da die Sprache den Gedanken verkleidet, ist es schwer, die logische Form eines Satzes von seiner umgangssprachlichen Oberfläche abzulesen. Philosophische Fragen beruhen typischerweise auf irrigen Auffassungen der Sprachlogik. Statt sich in Missverständnissen zu verlieren, sollte sich die Philosophie auf Sprachkritik beschränken. Die Gesamtheit der sinnvollen Sätze ist durch die Naturwissenschaft ausgeschöpft. Die Philosophie ist auf einer anderen Ebene anzusiedeln: Sie bildet nicht die Wirklichkeit ab, sie ist überhaupt keine Lehre, sondern eine Tätigkeit, deren Zweck die logische Klärung der Gedanken ist. In den Unterthesen zu These 4 wird das Wesen des Satzes näher bestimmt. Ein Satz ist ein strukturgleiches Modell einer Sachlage. Dem Bildcharakter der Sätze ist es zu verdanken, dass wir »neue« Sätze verstehen, ohne dass uns deren Sinn erklärt werden müsste. Den Sinn eines Satzes zu verstehen, heißt: wissen, was der Fall ist, wenn er wahr ist. Zwischen Sagen und Zeigen ist streng zu unterscheiden. In dem Versuch, etwas zu sagen, was sich allenfalls zeigt, sieht W. einen Grundfehler der

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Wittgenstein: Logisch-philosophische Abhandlung

Philosophie: »Was gezeigt werden kann, kann nicht gesagt werden«. Grundlegend für W.s Lehre vom Satz ist seine Idee, dass die »logischen Konstanten« (Konjunktion etc.) nicht vertreten, sondern Operationszeichen sind. – Die These 5 beschäftigt sich mit dem Verhältnis der zusammengesetzten zu den einfachsten Sätzen. W. vertritt eine Extensionalitätsthese: »Der Satz ist eine Wahrheitsfunktion der Elementarsätze.« Die Wahrheitsfunktionen lassen sich in Reihen ordnen mit der Tautologie und der Kontradiktion als Grenzfällen. W. skizziert eine Theorie der Folgerung und schlägt bei der definitorischen Zurückführung der logischen Konstanten (in Anknüpfung an H. M. ­Sheffer) neue Wege ein. Mit diesen Einzelanalysen arbeitet er auf die Angabe der allgemeinen Form der Wahrheitsfunktion hin (These 6): Jeder Satz lässt sich als ein Resultat der sukzessiven Anwendung der Opera­tion der gemeinsamen Negation auf Elementarsätze darstellen. – Nach der Bestimmung der allgemeinen Satzform geht W. dazu über, den Status maßgeblicher Arten von Sätzen zu kennzeichnen: Die Sätze der Logik bilden als Tautologien nichts ab; gleichwohl zeigen sie formale Eigenschaften der

Sprache und der Welt. Mathematische Sätze sind Gleichungen, welche die Ersetzbarkeit zweier Ausdrücke füreinander ausdrücken. Insofern versuchen sie, etwas zu sagen, was sich zeigt, und sind deshalb streng genommen Scheinsätze. Außerhalb der Logik gibt es keine »Notwendigkeit«; dies wirft ein Licht auf den Status der Naturgesetze: Sie bestimmen a priori Formen der einheitlichen Weltbeschreibung. In der Welt gibt es nur Tatsachen, von denen wir uns Bilder machen können. Sätze können »nichts Höheres [jenseits der abbildbaren Tatsachen] ausdrücken« und sind insoweit alle gleichwertig. Über die Welt als ganze, über Werte und den Sinn des Lebens, über den Tod, der kein Ereignis in der Welt ist, und über Gott, der sich nicht in der Welt offenbart, lässt sich buchstäblich nichts sagen. Um derlei letzte Dinge gibt es aber auch kein Rätsel, da sich hier nicht einmal sinnvolle Fragen stellen lassen. Gleichwohl gibt es Unaussprechliches: »Dies zeigt sich, es ist das Mystische.« (6. 522) These 7 versucht, den Sinn des Buches in einen Satz zu fassen: »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen«. – W.s Frühwerk beeinflusste B. Russell, F. P. Ramsey sowie den Wiener



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Kreis, der es jedoch einseitig als Metaphysikkritik las. Nach W. ist der Sinn des Buches dagegen ein ethischer. Später fand er darin »schwere Irrtümer« und entwickelte eine andere philosophische Methode, die ihn zu revolutionären Auffassungen in der Philosophie der Sprache, der Psychologie und der Mathematik führte. O. R. Scholz Ausgaben: Werke, Bd. 1, Ffm. 1960. – Hg.: B. McGuinness/J. Schulte, Ffm. 1989 (krit.). Literatur: G. E. M. Anscombe, An Introduction to W.’s Tractatus, Philadelphia 1959, 21971. – E.  Stenius, W.’s Tractatus, Oxfd. 1960. – M. Black, A Companion to W.’s Tractatus, Ithaca (NY) 1964. – J. M. Copi/R. W. Beard (Hg.), Essays on W.’s Tractatus, Ldn. 1966. – J. Schulte (Hg.), Texte zum Tractatus, Ffm. 1989.

Philosophische ­ Unter­suchungen entst. etwa 1935–45 (Teil I) bzw.  1947–49 (Teil II); EA Oxfd.  1953 (engl.) u.  d.  T. Phi­ losophical Investigations, Hg.: G. E. M. Anscombe/R.  Rhees, Ü.: G. E. M. Anscombe; Oxfd.  21958 (engl./dt.).

Das von W. zur Veröffentlichung vorbereitete, aber erst postum erschienene Werk ist die Summe seiner Spätphilosophie. Ausgehend von einer

­ritik an falschen Bildern K vom »Wesen der menschlichen Spra­ che« behandeln die Bemerkungen 1 bis 693 zunächst Begriffe wie: Sprache, Bedeutung, Verstehen, Meinen und Regel. Da Missverständnisse über das Funktionieren der Sprache mit irrigen Vorstellungen von seelischen Phänomenen verknüpft sind, rücken ­danach psychologische Begriffe in den Mittelpunkt: Denken, Vorstellung, Erwartung, Wollen und Meinen. Den aus 14 Texten sehr unterschiedlichen Umfangs bestehenden sog. »Teil  II« zusammen mit den §§  1–693 zu veröffentlichen, war eine Entscheidung der Herausgeber. Diese Aufzeichnungen bieten Bruchstücke einer Morphologie der psychologischen Begriffe, insbesondere der Erlebnisbegriffe. – Sprachliche Ausdrücke haben Bedeutung dank ihrer Einbettung in Sprachspiele und Lebensformen. Der Sprachspielbegriff, der gegenüber demjenigen in The Blue Book (1933/34) erweitert ist, umfasst alle gere­ gelten Formen menschlichen Handelns, bei denen sprachliches und nicht-sprachliches Verhalten miteinander verwoben sind. Kritisiert werden Bedeutungstheorien, die davon ausgehen, die Bedeutung von Zeichen sei unabhängig von

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Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen

der übereinstimmenden Praxis ihres Gebrauchs festlegbar. Bereits für einfache Sprachformen lässt sich die Angewiesenheit auf soziale Einbettung zeigen. Eine unbefangene Beschreibung des tatsächlichen Sprachgebrauchs ergibt, dass Wörter eine Fülle von Funktionen besitzen, die sich nicht auf eine Grundfunktion reduzieren lassen. Irreführend ist insbesondere die Vorstellung, es sei die einheitliche Leistung von Wörtern, etwas zu benennen. Vielmehr ist das Benennen eine spezielle und voraussetzungsreiche  Sprachverwendung. So wenig wie Wörter haben Sätze eine einheitliche Funktion. Sinnvolle Sätze kommen nicht dadurch zustande, dass Sprecher Benennungen verketten, sondern ­ dadurch, dass grammatisch korrekte Wortgefüge auf sozial ­ akzeptierte Weisen in  Sprachspielen verwendet werden. Hinweisende Defini­ tionen können für sich allein vielfältig gedeutet werden. Wo sie eine bestimmte Auffassung festlegen, dort tun sie es dank der Tatsache, dass grundlegende sprachliche Praktiken schon im Spiel sind. Und auch für das Zeigen selbst gilt: Unabhängig von Merkmalen der Umgebung, zu denen soziale Umstände gehören, kann es einen Gegenstandsbezug nicht festle-

gen. Dieses negative Resultat trifft auch Formen »geistigen« Zeigens (wie »die Aufmerksamkeit auf etwas richten«). Versuche, eindeutig festlegendes Zeigen durch das Postulieren einfacher Gegenstände und einer eindeutigen Struktur der Wirklichkeit vorweg zu garantieren, werden als metaphysische Kollateralschäden einer das tatsächliche Funktionieren  der Sprache verfehlenden Theo­rie diagnostiziert. Dass W. die von ihm angegriffenen Vorstellungen nur mit wenigen Verweisen auf Platon, Augustinus, Frege und Russell sowie sein eigenes Frühwerk belegt, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass seine Kritik alle ­traditionellen Sprachtheorien trifft. – Wie wir Allgemeinbegriffe (›Spiel‹, ›Zahl‹, ›Satz‹ etc.) und Eigennamen (›Nothung‹, ›Moses‹, etc.) verwenden, ist nicht im vorhinein, etwa durch ­platonistische Gegebenheiten oder geistige Akte, geregelt. Beispielsweise brauchen die Dinge, auf die ein Begriffswort angewandt wird, darüber hinaus nicht etwas gemeinsam zu haben, wodurch dieser Wortgebrauch gerechtfertigt würde. So besitzen die Dinge, auf die man ›Spiel‹ anwendet, gar keine gemeinsame Natur; stattdessen sind sie untereinander  durch Familienähnlichkei-



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ten  verknüpft. Derlei Beob­ achtungen befreien von dem Zwang,  nach dem Wesen des Satzes  (der Sprache) zu suchen,  dem  W. im Tractatus (→  ­Lo­gisch-philosophische Abhandlung) selbst noch unterlag. Dem unbefangenen Betrachter bietet sich eine weitverzweigte, in vielen Richtungen offene Familie von Sprachspielen dar. – Begriffswörter werden nicht nach Kriterien verwendet, was ihre Brauchbarkeit nicht beeinträchtigt. Unsere Kenntnis der Bedeutung von Wörtern liegt in der Beherrschung der sozialen Praxis ihres Gebrauchs – und nicht darin, dass der einzelne Sprecher über explizite Regeln verfügte. Das bedeutet nicht, dass der Sprachgebrauch ungeregelt wäre. Nur muss man sich davor hüten, falschen Bildern vom Regelfolgen aufzusitzen. Dazu wird man leicht durch verfehlte Vorstellungen von den Aufgaben der Logik und damit verbundenen »Idealen« (Reinheit, Exaktheit, etc.) verführt, die sich bei näherer Prüfung als Vorurteile entpuppen. W. kritisiert mehrere in die Irre führende Bilder von Regelbefolgung. Ein Regel­ skeptizismus, dem zufolge jedes Verhalten als Regelbefolgung gedeutet werden könnte (wodurch ein objektiver Unterschied zwischen regelfolgen-

dem und -verletzendem Verhalten geleugnet würde), wird ebenso zurückgewiesen wie eine platonistische Auffassung, nach der es unabhängig vom menschlichen Handeln Regeln gäbe, die an sich und für alle Zukunft festlegten, was Befolgung und Verstoß sei. W. setzt eine andere Auffassung dagegen: Einer Regel folgen ist eine Gepflogenheit, eine soziale Institution. Dazu, dass jemand einer Regel folgt, bedarf es mehrerer Personen. Das von der Regel vorgeschriebene Verhalten muss regelmäßig gezeigtes Verhalten sein; und es muss uns selbstverständlich sein, so zu handeln. Zum Begriff des Regelfolgens gehört weiterhin die Lernbarkeit. Eine Regel liegt schließlich nur dann vor, wenn es Sinn hat, im Lichte der Regel davon zu sprechen, dass sich jemand richtig bzw. falsch verhält; richtiges Befolgen einer Regel ist dabei eines, das in der jeweiligen Gruppe als richtig gilt. Um regelfolgend sein zu können, muss ein Verhalten öffentlicher Überprüfung und öffentlichen Kontrollinstanzen zugänglich sein. – Gegen W.s These, die Bedeutung von Zeichen sei nicht unabhängig von der geregelten Praxis der Zeichenverwendung festgelegt, scheint zunächst die Denkbarkeit einer privaten

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Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen

Sprache zu sprechen. W. legt sich ein solches Gegenbeispiel vor, um es dann auf mehreren Ebenen zu kritisieren: Könnte es nicht eine Sprache geben, für die nur maßgeblich wäre, wie ihr einziger Benutzer die Zeichen meint und versteht? Hat beispielsweise nicht jeder seine eigene Empfindungssprache? Wer so etwas glaubt, könnte sich das folgende Bild von der Empfindungssprache machen: »Die eigenen Empfindungen sind private Gegenstände. Über ihr Auftreten kann man berichten. Dazu muss es Bezeichnungsausdrücke geben. Derlei Bezeichnungen für Privates müssen ihrerseits privat sein. In der Sprache, in welcher der Benutzer von seinen Empfindungen spricht, muss es demnach private Bezeichnungen für Empfindungen geben.« W.s »Privatsprachenargumentation« verfolgt mehrere Beweisziele: Zum einen versucht sie ganz allgemein zu zeigen, dass eine Sprache aus Zeichen, die prinzipiell nur einer verstehen kann, ein Unding wäre. Zeichen einer solchen Sprache könnten keine Bedeutung haben, da für sie keine festgelegt werden könnte. Es gäbe kein Kriterium der Richtigkeit für die Verwendung solcher Zeichen; dann kann aber von richtig und

falsch, von Regeln und Sprache gar keine Rede sein. In einem zweiten Argumentationsstrang wendet sich W. dem konkreten Beispiel, der Empfindungssprache, zu. Zum einen scheint es keine Interpretation von ›privat‹ zu geben, nach der Empfindungen private Dinge sein könnten: Sie sind weder privat im Sinne eines privilegierten Zugangs, noch gibt es ein Kriterium der Identität, aufgrund dessen niemand die Empfindung eines anderen haben könnte. Zum anderen berichtet man nicht über die eigenen Empfindungen, sondern man drückt sie aus. Und schließlich wären Bezeichnungen von privaten Gegenständen gar keine Bezeichnungen. Konstruktiv versucht W. zu verdeutlichen, inwiefern Empfindungen öffentlich und nicht privat sind und welche Rolle Empfindungsäußerungen tatsächlich in der Sprache spielen. So sind Empfindungsäußerungen in der ersten Person keine Berichte über im Inneren identifizierte private Vorgänge, sondern sprachliches Ausdrucksverhalten, welches das ursprüngliche Verhalten (z. B. Schreien) ersetzen kann. – Nach der Privatsprachenargumentation geht W. zu Untersuchungen anderer psychologischer Begriffe über. Besonders



Wright: The Varieties of Goodness 637

ausführlich kritisiert und diagnostiziert er irreführende Bilder vom Denken und vom Vorstellen. Bei seinem Durchgang durch die »Grammatik« dieser und anderer psychologischer Verben (›erwarten‹, ›wollen‹ u.  a.) gelangt er zu Er­ gebnissen, deren Sprengkraft gegenüber traditionellen Theo­ rien des Geistes beträchtlich ist. Nicht nur der Inhalt seelischer Phänomene ist umgebungsabhängig; auch die Fragen, welcher Typ von seelischem Sachverhalt, ja sogar: ob überhaupt etwas Seelisches vorliegt, sind – da sprachspielund lebensformabhängig – aus begrifflichen Gründen nur umgebungsrelativ beantwortbar. Typ und Inhalt seelischer Zustände einer Person sind nicht unabhängig von ihrem verbalen und nonverbalen Ausdrucksverhalten, ihrem übrigen Verhalten, v. a. aber nicht davon, wie ihre soziale Umgebung auf sie reagiert. Wie die  sprachliche Bedeutung ist demnach auch das Seelische ohne soziale Einbettung nicht denkbar. – Das Werk war modellbildend für die Philosophie der normalen Sprache. Aber auch außerhalb dieser Arbeitsrichtung haben viele Lehrstücke die Diskussion in der Sprachphilosophie und in der Linguistik stark beeinflusst. In-

nerhalb der philosophischen Psychologie haben die Philosophischen Untersuchungen angesichts der Debatte um den Anti-Individualismus (H.  Putnam, T.  Burge) in den letzten Jahren weiter an Aktualität gewonnen. O. R. Scholz Ausgaben: Werke, Bd.  1, Ffm. 1960. – Krit.-genetische Edition, Hg.: J. Schulte, Ffm. 2001. Literatur: P. M. S. Hacker, An Analytical Commentary on the »Philosophical Investigations«, 4 Bde., Oxfd. 1980–96 (Bde. 1 und 2 zus. mit G. P. Baker). – E. v. Savigny, W.s »Philosophische Untersuchungen«. Ein Komm. für Leser, 2 Bde., Ffm. 1988/89, 21994–96. – E. v. Savigny, Der Mensch als Mitmensch: W.s »Philosophische Untersuchungen«, Mchn. 1996.

Georg Henrik von Wright * 14. 6. 1916 Helsinki, † 16. 6. 2003 in Helsinki; finnischer Philosoph mit grundlegenden Arbeiten u. a. im Bereich der Normenlogik und Wissenschaftstheorie, Lehrstuhlnachfolger und Editor von Ludwig Wittgenstein.

The Varieties of Goodness EA Ldn. 1963.

Das Werk ist hervorgegangen aus dem letzten Teil der 1959 und 1960 gehaltenen Gifford Lectures an der Universität St. Andrews (Schottland). Das

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Wright: The Varieties of Goodness

Gesamtprojekt wurde von W. in einen ersten Teil mit dem Titel »Norms« und einen zweiten Teil mit dem Titel »Values« untergliedert. Der im Werk ­ präsentierte zweite Teil stellt eine Analyse des Begriffes ›gut‹ dar, der im Hinblick auf seine  verschiedenen Bedeutungen und Verwendungsweisen beleuchtet wird. Seinem philosophischen Selbstverständnis nach möchte W. sich dabei sowohl von deontologischen Positionen als auch von solchen, die einen Wert-Objektivismus vertreten, abgrenzen. Seine eigene Position charakterisiert er  als »teleologisch«. – Die Methodik der Begriffsanalyse ­ soll nicht im Sinne empirischen Suchens und Vorfindens verstanden werden. Vielmehr engagiert sich ein Philosoph im Formen von Begriffen, wobei er deren Bedeutung lokal eigenständig festlegen kann, die Begriffe ihre Bedeutung aber im Wesentlichen aus den Relationen zu anderen Begriffen erhalten. W. versteht sein Werk nicht als einen originären Beitrag zur Ethik, auch wenn er darin den Keim einer Ethik enthalten sieht, die sich entfalten ließe. Dies hat im Wesentlichen zwei Gründe: Zum einen weist er die These zurück, die er mit der kantischen Tradition verknüpft,

nach der es eine b­egriffliche Unabhängigkeit der Moral gebe und Begriffe wie ›gut‹ und ›Pflicht‹ in der Moral eine von anderen Verwendungsweisen unabhängige Bedeutung haben. Stattdessen hat ›gut‹ in der Moral einen Sinn, der aus Verwendungsweisen in anderen Kontexten abgeleitet werden kann. Zum anderen bestreitet W. die  strikte Trennung von Sein und Sollen, die er mit der humeanischen Tradition verknüpft. Die in der Regel der Metaethik zugeordnete Analyse moralischer Begriffe und Urteile etwa sucht nach Fundamenten und Standards, die ihrerseits der Beurteilung von Gutem und Schlechtem dienen und damit Orientierung für moralische Akteure bieten. Der derivative Charakter der moralischen Verwendung von ›gut‹ erhellt, dass W.s Begriffsanalyse kein ethisches Projekt ist, während die Verknüpfung von begrifflichen mit normativen Fragen unterstreicht, warum darin gleichwohl der Keim einer Ethik enthalten ist. – Diesem Ausgangspunkt entsprechend werden im Fortgang des Buches Spielarten der ›Gutheit‹ in unterschiedlichen Kontexten erläutert. So analysiert W. ›instrumentelle Gutheit‹ als Gutheit, die bestimmte Mittel bewertet und durch technische



Xenokrates: Fragmente und Zeugnisse 639

Gutheit meist mit einer bestimmten Fähigkeit verknüpft ist. Eine Entität ist in diesem Sinne meist ein Gut einer bestimmten Art, z. B. ist ein bestimmter Gegenstand gut als Messer. Die ›nützliche Gutheit‹ (utilitarian goodness) dagegen ist durch die Eigenschaft charakterisiert, einem Zweck dienlich zu sein, während die ›wohltuende‹ (beneficial) Gutheit eine Subkategorie der nützlichen ist und über diese hinaus die Wohlfahrt betreffen und diese fördern muss. – Bemerkenswert ist neben der Analyse weiterer Varianten von Gutheit W.s Kritik der mo­dernen Philosophie aufgrund ih­ rer Vernachlässigung der Tugend als bedeutender Fähigkeit zur Wahl der rechten Handlung, wobei er rechte Handlungen an die sich in ihr mani­festierenden guten Absichten und die Nicht-Vorhersehbarkeit von Schaden knüpft. Schließlich diskutiert W. das Verhältnis vom Guten zum Müssen und den Charakter von Pflichten und schließt mit einem Kapitel über Gerech­tigkeit als Grundstein der Moral und moralischen Pflichten als wesentlich gemeinschaftsbasiert. – W.s Werk stellt einen der wichtigsten gegenwartsphilosophischen Beiträge zur Analyse des zentralen Wertbegriffs ›gut‹ dar und

wird zu diesem Zweck bis heute herangezogen. D. Düber Ausgabe: Bristol 1996 (ND der Ausg. von 1963). Literatur: L. Hertzberg, G. H. v. W. on Goodness and Justice, in: Acta Philosophica Fennica 77, 2005, 89–103. – D. Wiggins, What is the Order Among the Varieties of Goodness? A Question Posed by v. W.; and a Conjecture Made by Aristotle, in: Philosophy 84 (2), 2009, 175–200.

Xenokrates * 396 v. Chr. in Chalkedon, † 314 v. Chr.; Schüler Platons, später (339/338) selbst Leiter der von Platon gegründeten Akademie.

Fragmente und Zeugnisse Von den über 70 Schriften, die in X.’ Bibliographie bei Diogenes Laertios angeführt sind, ist kein einziges wörtliches Zitat erhalten. Rekonstruktionsversuche der Philosophie X.’, zumal im Kontext einer ihrerseits nur über sekundäre Quellen erschließbaren ›ungeschriebenen Lehre‹ Platons, bleiben deshalb grundsätzlich hypothetisch. – Offensichtlich als erster hat X. die noch von Kant verteidigte Einteilung der Philosophie in Logik, Ethik und Physik formuliert (vgl. Sextus Empiricus, Adversus mathematicos VII, 16). Mit dieser Trias

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Xenokrates: Fragmente und Zeugnisse

harmoniert nicht ohne Weiteres eine zweite Notiz, nach der X. zwischen theoretischem und praktischem Wissen (phronesis) unterschieden und die Philosophie als theoretisches Wissen charakterisiert habe. Philosophie bezeichnet in diesem epistemischen Sinne die Erkenntnis »der ersten Ursachen und des durch Denken erfassbaren Seins« (Clemens von Alexan­ drien, Stromateis II, 5). Als erste Ursachen oder Prinzi­pien dienen X. das Eine (hen) und die unbegrenzte Zweiheit (aoriston dyas), während das Seiende in drei Klassen unterteilt wird (vgl. Aristoteles, Metaphysica  1028 b 24 ff.): 1.  den Bereich der Ideen-Zahlen und der mathematischen Gegenstände, 2.  den Bereich des Himmels und 3. den sublunaren Bereich. Durch Denken erfassbar sind streng genommen nur die als Zahlen konzipierten I­ deen und die mathematischen Gegenstände, während der sublunare Bereich der Wahrnehmung korrespondiert. Eine Mittelstellung nimmt die der Meinung (doxa) zugeordnete Himmelssphäre ein (vgl. Sextus Empiricus, Adversus mathe­maticos VII, 14). Trotz dieser hierarchischen Klassifizierung, die für die Entwicklung des Neuplatonismus richtungsweisend war, hat X., nach einem im Detail nicht

mehr zu klären­ den Generierungsverfahren, versucht, die verschiedenen Seinsbereiche als Teile eines einheitlich strukturierten Kosmos darzustellen (vgl. Theophrast, Metaphysica  6  b  7 ff.). Dabei scheint er die jeweiligen Merkmale der genannten Bereiche als Spezifikationen der unbegrenzten Zweiheit abgeleitet und, analog zu Aristoteles, den Primat der in sich bestimmten Art vor der allgemeinen Gattung betont zu haben. D. Kaegi Ausgaben: Gr., X. Darstellung der Lehre und Sammlung der Fragmente, Hg.: R.  Heinze, Lpzg. 1862 (ND Hildesheim 1965). – Gr./it., Hg.: M.  Isnardi Parente, Senocrate – Ermodoro: Frammenti, Neapel 1982. Literatur: J. Dillon, The Heirs of Plato. A Study of the Old Academy, Oxfd. 2003. – H. J. Krämer, X., in: H. Flashar (Hg.), Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike, Bd. 3: Ältere Akademie – Aristoteles – Peripatos, Basel 22004, 32–55. – D.  Thiel, Die Philosophie des X. im Kontext der Alten Akademie, Mchn. 2006.

Xenophanes von Kolophon * zwischen 580 und 570 v. Chr. in Kolophon (Lydien), † zwischen 485 und 478 v. Chr. in Elea (?); Vorsokratiker.



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Fragmente und Zeugnisse Der unsicheren Überlieferung nach ist die Lebenszeit des X. zwischen etwa 570 und 475 v.  Chr. anzusetzen. Er selbst sagt, seine Sorge habe ihn 67 Jahre »durch das Hellenische Land« getrieben, von der Geburt an gerechnet kämen nochmals 25 Jahre hinzu (A  1). Er verlässt Kolophon und wirkt als Wanderdichter an verschiedenen Höfen auf Sizilien, war wahrscheinlich auch in Elea (dass er Lehrer des Parmenides gewesen sei, ist Vermutung). – X. hat wohl als Erster zwischen dem begrenzten Wissen der Menschen und dem unbegrenzten Wissen des einen Gottes unterschieden und da­ bei dreierlei zur Sprache gebracht: eine Kritik der überlieferten Gottesvorstellungen, eine Kritik an der Unsicherheit menschlichen Wissens, weil es bei allem Meinung (Schein, dokos) gibt (B 34), und die Kunde vom einzigen, unvergleichlichen Gott. Die Kritik am Wissen über die Götter wird zur Kritik am Wissen überhaupt. X. wendet sich gegen die Gottesvorstellungen von Homer und Hesiod. Sie hätten erstens den Göttern alles zugeordnet, was bei den Menschen als schimpflich gilt (Diebstahl, Ehebruch, Betrug); zweitens

stellten sie die Götter wie sterbliche Menschen vor. Doch das würde dann auch für andere Lebewesen gelten: Wenn die Tiere malen könnten, würden die Rinder rinderähnliche, die Pferde pferdeähnliche und die Löwen löwenähnliche Götter darstellen (B 15); Analoges gelte für die Verschiedenheiten der Volksstämme: Bei den Äthio­ piern seien die Götter stumpfnasig und schwarz, bei den Thrakern blauäugig und rothaarig. Gleichzeitig mit dieser Kritik hebt X. den menschlichen Anteil an der Findung der Wahrheit hervor. Im Gegensatz zum mythischen Denken werden neue Errungenschaften nicht mehr als Göttergeschenk verstanden, sondern als Ergebnis  fortschreitenden menschlichen Forschens  (B  18). Den überkommenen Göttervorstel­ lungen stellt X. streng monotheistisch den einen Gott gegenüber, der von allen mensch­ lichen Meinungen gereinigt ist und sich sowohl an Gestalt als auch an Geist völlig von den Menschen unterscheidet (B  23). Anders als die Menschen ist Gott ganz Auge, ganz Geist, ganz Ohr (B  24). Der Begriff des Geistes (nous) erscheint hier zum ersten Mal in der Philosophiegeschichte. Ein zweiter Geistbegriff (phrēn) enthält ein voluntatives Mo-

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Zenon von Elea: Fragmente und Zeugnisse

ment: Gott erschüttert alles mit seinem nous. Ohne das Wort »Ursprung« (archē) wie die Mileter zu gebrauchen, erhält bei X. die Erde diese Funktion: »Aus Erde ist alles und zur Erde wird alles am Ende.« (B 27) – In den von X. selbst überlieferten Fragmenten ist über das All nichts gesagt, wohl aber in der indirekten Überlieferung, wo dessen unbewegte Einheit hervorgehoben wird: Nichts wird, nichts verdirbt, nichts ist bewegt; das All ist außerhalb jeder Bewegung (A  33). Es wird als durchgehend homogen angesehen, kugelförmig, leidenslos, ohne Veränderung und vernünftig (A 35). – Aufgrund seiner Erkenntnislehre gilt X. manchen als »Vertreter des Fortschritts« und Protagonist der »offenen Gesellschaft« (Popper); wirkmächtig geworden ist außerdem seine Kritik am Anthropomorphismus der Gottesvorstellungen zugunsten eines strengen Monotheismus. H. Vetter Ausgaben: Gr./dt., in: DK, Bd. 1, 113–139. – Gr./dt., in: G.  S. Kirk/J. E. Raven/M. Schofield, Die vorsokratischen Philosophen, Stgt./ Weimar 1994, 178–197. – Gr./ dt., Die Vorsokratiker, Bd.  1, Hg.: L.  Gemelli Marciano, Bln. 2007. – Gr./engl., X. of Colophon: Fragments, Hg.: J. H. Lesher, Toronto 1992.

Literatur: A.  Finkelberg, Studies in X., in: Harvard Studies in Classical Philology 93, 1990, 104–167. – C. Schäfer, X. von Kolophon. Ein Vorsokratiker zwischen Mythos und Philosophie, Stgt./Lpzg. 1996.

Zenon von Elea 5. Jh. v. Chr.; Vorsokratiker.

Fragmente und Zeugnisse Z., Höhepunkt des Schaffens (akmē) um die 78. Olympiade (468–465 v. Chr.), war bekannt als gewandter Dialektiker, nach Platon (Parmenides 128 b) Anhänger des Parmenides. – Unter den Argumenten und Paradoxa, mit denen Z. seine dialektische Virtuosität bewies, sind diejenigen, die sich gegen Vielheit und Bewegung wenden, die berühmtesten. Gegen die Vielheit stellte Z. 40 Argumente auf. Überliefert wurden folgende: 1.  Wenn die Dinge aus einer Vielheit bestehen, ist es notwendig, dass ihre Bestandteile genau so viele seien, wie sie es eben sind, nicht mehr und nicht weniger. Und wenn sie eben so viele sind, wie sie es sind, sind sie begrenzt. Allerdings, wenn die Dinge aus einer Vielheit bestehen, so ist diese jedoch gleichzeitig unbegrenzt, denn zwischen den einzelnen Teilen sind andere, und zwischen diesen wiederum



Zenon von Elea: Fragmente und Zeugnisse 643

andere, und so bis ins Unendliche. 2. Wenn Vielheit besteht, so ist sie aus Einheiten zusammengesetzt, die entweder eine gewisse Größe haben oder gar keine. Im ersten Fall, da jede Größe unendlich teilbar ist, so besteht auch jede Einheit aus einer unendlichen Anzahl von Teilen, und somit ist die daraus zusammengesetzte Vielheit unendlich groß. Wenn hingegen Einheiten keine Größe haben, so ändern sie das, zu dem sie hinzugefügt werden, auch nicht, und so wird die daraus entstehende Vielheit unendlich klein, bis sie nichts ist. Also ist die Vielheit, sofern sie existiert, gleichzeitig unendlich groß und unendlich klein, was unmöglich ist. 3. Die Argumentation, mit der Z. den Raum infrage stellte, richtet sich ebenfalls gegen die Vielheit, da der Raum eine Voraussetzung für ihr Bestehen ist. Wenn der Raum existiert, muss er sich selbst auch im Raum befinden, denn das, was nirgendwo existiert, ist inexistent. Also muss der Raum, in dem sich der Raum befindet, auch selbst in einem Raum befinden, und so weiter bis ins Unendliche. Da dies unmöglich ist, folgt daraus, dass der Raum nicht existiert. – Gegen die Bewegung brachte Z. vier berühmte Argumente vor (vgl. Aristoteles, Physik  VI, 9,

239 b). 1. Mit dem ersten, dem »Argument der Dichotomie«, erklärt er, dass das Bewegte, um eine bestimmte Strecke zurückzulegen, zuerst die Hälfte derselben überwinden muss und davor die Hälfte der Hälfte und so weiter, d. h. unendliche Hälften: Es ist jedoch unmöglich, unendlich viele Punkte nacheinander in einer endlichen Zeit zurückzulegen. 2. Mit »Achilles«, dem zweiten Argument, behauptet Z., dass eine Schildkröte im Wettkampf mit Achilles, dem schnellsten der Achäer, von diesem nie eingeholt werden kann. Zuerst müsste Achilles nämlich den Punkt erreichen, von dem die Schildkröte startete. Hat er ihn allerdings erreicht, ist die Schildkröte aber schon weitergelaufen; folglich hat sie immer einen gewissen Vorsprung. 3.  Mit dem Argument »Pfeil« will Z. beweisen, dass ein fliegender Pfeil sich eigentlich nicht bewegt, sofern Zeit und Raum aus unteilbaren Einheiten bestehen. Nimmt der Pfeil in jedem Moment eine ihm gleiche Raumeinheit ein und steht er in derselben still, so kann die vom Pfeil hinterlegte Gesamtstrecke als eine Reihe von Ruhezuständen betrachtet werden. Die Behauptung, dass sich eine Bewegung aus einer Summe von Ruhezuständen

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Zenon von Elea: Fragmente und Zeugnisse

ergebe, ist jedoch ein Widerspruch. 4.  Die Bedeutung des vierten Arguments, »das Stadion«, ist vermutlich folgende (vgl. Simplikios, In Aristotelis physicorum 1016, 9–1019, 14): Man gehe von drei Reihen, A, B, und C, aus. Angenommen, dass sich B in der Mindestzeiteinheit eine Position nach links, während C sich in der gleichen Zeit eine Posi­ tion nach rechts bewegt, dann folgt, dass sich C im Vergleich zu B um zwei Positionen bewegt hat. Es muss eine kleinere Zeiteinheit gegeben haben, in der C nur eine Position rechts von B war, nämlich die Hälfte der Zeiteinheit. Folglich ist die Hälfte der Zeiteinheit gleich der Zeiteinheit. – Die Paradoxa des Z. haben auf die Probleme aufmerksam gemacht, die sich aus der Anfechtung der ›diskreten‹ Konzeption des Raumes ergeben, wie sie für die frühesten Pythagoreer typisch war. Die griechischen Denker der auf Z. folgenden Epoche haben zwei gegensätzliche Lösungen vorgeschlagen, um sie

zu überwinden: einerseits, die Theorie der ›unteilbaren Linien‹, die insbesondere vom Akademiker Xenokrates vertreten wurde (vgl. den pseudoaristotelischen Traktat De lineis insecabilibus), andererseits die aristotelische Doktrin des Kontinuums, das als (in Potenz) unendlich teilbar verstanden wird. Doch die von Z. aufgeworfenen Probleme bleiben tatsächlich noch offen: Durch Kant und Hegel sind sie bis in unsere Zeit gelangt und weiterhin Gegenstand der Analyse und Diskussion. A. Jori Ausgaben: Gr., Hg.: H. D. P. Lee, Z. of E., Cambr. 1936; Amsterdam 21967. – Gr./dt., DK, Bd. 1, 29  ff. – Gr./dt., G.  S. Kirk/J.  E. Raven/M. Schofield, Die vorsokratischen Philosophen, Stgt./Weimar 1994, 290–308, 499 ff. Literatur: E. Fink, Zur ontologischen Frühgeschichte von Raum, Zeit, Bewegung, Den Haag 1957, 104–142. – W. C. Salmon (Hg.), Z.’s Paradoxes, Indianapolis/NY 1970. – M. Caveing, Z. d’Élée. Pro­ légomènes aux doctrines du continu, Paris 1982.

Anhang

Mitarbeiterverzeichnis PD Dr. Marcel van Ackeren, Köln/Münster Prof. Dr. Christoph Asmuth, Berlin Dr. Lutz Baumann, Mainz Prof. Dr. Wilhelm Baumgartner, Würzburg Dr. Maxi Berger, M.A., Oldenburg Prof. Dr. Edmund Braun, Köln Prof. Dr. Elke Brendel, Bonn PD Dr. Olaf Briese, Berlin Prof. Dr. Hauke Brunkhorst, Flensburg Prof. Dr. Marco Brusotti, Lecce/Berlin Prof. Dr. Franz-Peter Burkard, Würzburg Prof. Dr. Christian Danz, Wien Prof. Dr. Christoph Demmerling, Marburg Dr. Marco Deodati, Rom/Köln Simon Derpmann, M.A./Dipl.-Volksw., Münster Dr. Ulrich Dierse, Bochum Prof. Dr. Mechthild Dreyer, Mainz Dominik Düber, M.A., Münster Dr. Annette Dufner, Münster Dr. Daniel Eggers, Köln Dr. Kristina Engelhard, Köln Prof. Dr. Michael Erler, Würzburg Prof. Dr. Christoph Fehige, Saarbrücken Prof. Dr. Günter Figal, Freiburg i.Br. Dr. Andreas Gelhard, Darmstadt PD Dr. Willfried Geßner, Berlin Prof. Dr. Thomas Gil, Berlin Prof. Dr. Andreas Gipper, Mainz Dr. Hans-Dieter Gondek, Bremen Prof. Dr. Bernd Gräfrath, Essen Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Jean Grondin, Montréal Prof. Dr. Thomas Gutmann, Münster Prof. Dr. Christoph Halbig, Gießen Prof. Dr. Jens Halfwassen, Heidelberg Prof. Dr. Dietmar Heidemann, Luxemburg Dr. habil. Volker Heins, Essen Dr. Tim Henning, Gießen Dr. Norbert Herold, Münster Dr. Torsten Hitz, Münster Matthias Hoesch, M.A., Münster

648 Mitarbeiterverzeichnis Prof. em. Dr. Dr. h.c. mult. Otfried Höffe, Tübingen Prof. Dr. Brigitte Hoppe, München Dr. Stefan Hübsch, Mannheim Prof. Dr. Dr. Klaas Huizing, Würzburg Prof. Dr. Dr. h.c. Hans Joas, Freiburg i.Br./Chicago Prof. Dr. Dr. h.c. Alberto Jori, Tübingen Dr. Eva-Maria Jung, Münster Dr. Dominic Kaegi, Luzern Dr. Georg Kamp, Bad Neuenahr-Ahrweiler Prof. Dr. Georg Kamphausen, Bayreuth Prof. Dr. Peter Kampits, Wien Prof. Dr. Antje Kapust, Bochum Prof. Dr. Matthias Kettner, Witten Dr. Karl-Friedrich Kiesow, Hannover Dr. Thomas Kisser, München Prof. Dr. Hartmut Kliemt, Frankfurt am Main Alexander Knirim, B.A., Bayreuth Dr. Helmut Kohlenberger, Salzburg PD Dr. Michael Kühler, Münster PD Dr. Rolf Kühn, Freiburg i.Br. Prof. Dr. Claudio La Rocca, Genua Prof. Dr. Martin Laube, Göttingen Sebastian Laukötter, Münster Dr. Alessandro Lazzari, Luzern Associate Prof. Dr. Martin Lenz, Groningen Prof. Dr. Hans-Ulrich Lessing, Bochum Prof. Dr. Maria Lieber, Dresden Prof. Dr. Fulvio Longato, Triest PD Dr. Maria-Sibylla Lotter, Zürich/Stuttgart Prof. Dr. Rudolf Lüthe, Koblenz Prof. Dr. Dr. h.c. Cornelius Mayer OSA, Würzburg Prof. Dr. Barbara Merker, Frankfurt am Main Prof. Dr. Jean-Christophe Merle, Saarbrücken Prof. Dr. Walter Mesch, Münster Dr. Sibille Mischer, Münster Dr. Jörg-Peter Mittmann, Detmold Amir Mohseni, M.A., Münster Nadine Mooren, M.A., Münster Dr. Claudia Moser, Lörrach Sebastian Muders, M.A., Zürich/Münster Prof. Dr. Martin Mulsow, Erfurt Prof. Dr. Herfried Münkler, Berlin Prof. Dr. Stephan Nachtsheim, Aachen

Mitarbeiterverzeichnis 649 Prof. Dr. Henning Ottmann, München Athena Panteos, M.A., Essen Prof. Dr. Ingo Pies, Halle-Wittenberg Prof. Dr. Hans Poser, Berlin Prof. Dr. Riccardo Pozzo, Rom Prof. Dr. Birger P. Priddat, Witten Dr. Bernd Prien, Vechta Prof. Dr. Helmut Pulte, Bochum Prof. Dr. Albert Raffelt, Freiburg i.Br. Tim Reiß, M.A., Münster Prof. Dr. Dr. Friedo Ricken SJ, München Prof. Dr. Peter Rohs, Münster Tim Rojek, M.A., Essen Dr. Margit Ruffing, Mainz Markus Rüther, M.A., Münster PD Dr. Thorsten Sander, Essen PD Dr. Hans-Christoph Schmidt am Busch, Vechta/Frankfurt am Main Prof. Dr. Reinold Schmücker, Münster Prof. Dr. Notker Schneider, Köln Prof. Dr. Oliver R. Scholz, Münster Prof. Dr. Bettina Schöne-Seifert, Münster Prof. Dr. Christina Schües, Lübeck/Lüneburg Prof. Dr. Eva Schürmann, Magdeburg Dr. David P. Schweikard, Münster Dr. Ansgar Seide, Münster Dr. Dr. Stefan Seit, Mainz Prof. Dr. Günter Seubold, Alfter/Bonn Prof. Dr. Ludwig Siep, Münster Dr. Volker Spierling, Tübingen PD Dr. Michael Städtler, Münster/Hannover Dr. Hartmut Traub, Mühlheim an der Ruhr Dr. Francesco Valerio, Barletta Dr. Peter Andras Varga, Köln/Budapest Dr. Francesco Verde, Rom Prof. Dr. Helmuth Vetter, Wien Prof. Dr. Arnis Vilks, Leipzig Prof. Dr. Peter Walter, Freiburg i.Br. Prof. em. Dr. Manfred Walther, Hannover Dr. Christian Weidemann, Bochum Prof. Dr. Wolfgang Welsch, Berlin Prof. Dr. Ulla Wessels, Saarbrücken Prof. Dr. Franz Josef Wetz, Schwäbisch Gmünd PD Dr. Matthias Wille, Essen/Münster

Hilfsmittel für die akademische Recherche in der Philosophie Nachschlagewerke Stanford Encyclopedia of Philosophy, Hg.: E. N. Zalta, http://plato.stanford.edu [frei zugängliche online-Enzyklopädie] Historisches Wörterbuch der Philosophie, Hg.: J. Ritter/K. Gründer/G. Ga­ briel, 13 Bde., Basel 1971 ff. Routledge Encyclopedia of Philosophy, Hg.: E. Craig, 10 Bde., Ldn./NY 1998 [in der Regel über die Hochschulbibliothek auch online zugäng­ lich] Cambridge Dictionary of Philosophy, Hg.: R.  Audi, Cambr. 21999 [einbändiges Wörterbuch philosophischer Begriffe; in der Regel über die Hochschulbibliothek auch online zugänglich] Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Hg.: O. Brunner/R. Koselleck/W. Conze, 8 Bde., Stgt. 1972 ff. Enzyklopädie Philosophie, Hg.: H. J. Sandkühler, 3 Bde., Hbg. 22010 Philosophisches Wörterbuch, Hg.: M. Gessmann, Stgt. 232009 Metzler Philosophie Lexikon. Begriffe und Definitionen, Hg.: P. Prechtl/F.-P. Burkard, Stgt. 21999 Metzler Philosophen Lexikon, Hg.: B. Lutz, NA Stgt. 2003 [Leben und Werk von 360 bedeutenden Philosophen] Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Hg.: J. Mittelstraß, 4 Bde., Stgt. 22010 Großes Werklexikon der Philosophie, Hg.: F. Volpi, 2 Bde., Stgt. 1999 [umfasst Artikel zu 1800 Werken und 800 Philosophen] Philosophie der Gegenwart in Einzeldarstellungen, Hg.: J.  NidaRümelin/E. Özmen, Stgt. 32007 [Darstellungen zu 113 Philosophen der Gegenwart] Klassiker der Philosophie, Hg.: O. Höffe, Mchn. 2008, 2 Bde. [Leben, Werk und Wirkung bedeutender Philosophen]

Einführungen in die Methodik der Philosophie H. Tetens, Philosophisches Argumentieren. Eine Einführung, Mchn. 22006 [anspruchsvolle Darstellung komplexer Argumentationstypen] J. F. Rosenberg, Philosophieren. Ein Handbuch für Anfänger, Ffm. 62009 [Einführung in die Argumentanalyse]

Literaturhinweise 651 J. Feinberg, Doing Philosophy: A Guide to the Writing of Philosophy Papers, Belmont 42008 W. Kamlah/P. Lorenzen, Logische Propädeutik. Vorschule des vernünftigen Redens, Stgt. 31996 [einführender Aufbau einer systematischen Terminologie und motivierende Hinführung zur formalen Logik] A. Martinich, Philosophical Writing. An Introduction, Malden (Mass.) 3 2006

Reihen mit einführender Literatur Reihe Denker, Verlag C. H. Beck [je eine einführende Monographie zu über 60 bedeutenden Philosophen] Rowohlts Monographien [Biographie-Reihe] Klassiker Auslegen, Akademie Verlag [kooperative Kommentare zu vielen Werken] Einführung Philosophie, WBG [einführende Monographien zu vielen Subdisziplinen der Philosophie] The Cambridge Companions to Philosophy, Religion and Culture, Cambridge University Press [ein Sammelband zu jedem bedeutenden Philosophen] Routledge Philosophy Companions, Routledge [zu vielen philosophischen Subdisziplinen ein Sammelband] Blackwell Companions to Philosophy, Blackwell [Sammelbände zu vielen philosophischen Subdisziplinen und Philosophen]

Weitere Hilfsmittel Datenbank zur Literaturrecherche: The Philosopher’s Index, http:// philindex.org [in der Regel über die Hochschulbibliothek zugänglich] Suchmaschine zur Literaturrecherche: google scholar, http://scholar.google.de [auf die akademische Literaturrecherche zugeschnittene google-Version] Übersicht über aktuelle Veranstaltungen: Homepage der Deutschen Gesellschaft für Philosophie, www.dgphil.de

Autoren- und Werkregister Adorno, Theodor W. Ästhetische Theorie 3 Minima Moralia 6 Negative Dialektik 8 Adorno, Theodor W./Max Horkheimer Dialektik der Aufklärung 5 Anscombe, Elizabeth Intention 10 Anselm von Canterbury Proslogion 11 Arendt, Hannah The Human Condition 13 Aristoteles Ēthika Eudēmeia 15 Ēthika Nikomacheia 16 Peri tōn katēgoriōn /Von den Kategorien 19 Ta meta ta physica /Metaphysik 21 Organon 23 Peri poiētikēs /Über die Dichtkunst 24 Politika 26 Peri psychēs /Über die Seele 29 Technē rhētorikē /Redekunst 30 Armstrong, David Malet Universals and Scientific Realism 32 A World of States of Affairs 34 Audi, Robert The Good in the Right 36 Augustinus, Aurelius De civitate dei /Der Gottesstaat 38 Confessiones /Bekenntnisse 40 Austin, John Langshaw How to Do Things With Words 42 Philosophical Papers 44

Ayer, Alfred Jules Language, Truth and Logic 45 Bacon, Francis Instauratio magna 47 Beauchamp, Tom L./ James F. Childress Principles of Biomedical Ethics 49 Benjamin, Walter Geschichtsphilosophische Thesen/ Über den Begriff der Geschichte 51 Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit 53 Bennett, Jonathan Francis Linguistic Behavior 55 Bentham, Jeremy An Introduction to the Principles of Morals and Legislation 57 Bergson, Henri Essai sur les données immédiates de la conscience 59 Berkeley, George A Treatise Concerning the Principles of Human Knowl­ edge 61 Bloch, Ernst Erbschaft dieser Zeit 63 Das Prinzip Hoffnung 64 Blumenberg, Hans Die Legitimität der Neuzeit 66 Bodin, Jean Les six livres de la république 67 Boethius De consolatione philosophiae/ Vom Trost der Philosophie 69 Bolzano, Bernard Wissenschaftslehre 71



Autoren- und Werkregister

Bradley, Francis Herbert Appearance and Reality 73 Brandom, Robert Boyce Making It Explicit 74 Brentano, Franz Psychologie vom empirischen Standpunkte 76 Broad, Charlie Dunbar Five Types of Ethical Theory 78 Mind and Its Place in Nature 80 Bruno, Giordano De la causa, principio e uno 82 Campanella, Tommaso Civitas solis Idea republicae philosophiae /Der Sonnenstaat 83 Camus, Albert L’homme révolté 85 Le mythe de Sisyphe 88 Carnap, Rudolf Der logische Aufbau der Welt 89 Meaning and Necessity 91 Scheinprobleme in der Philosophie 93 Cartwright, Nancy How the Laws of Physics Lie 94 Cassirer, Ernst Philosophie der symbolischen Formen 96 Castañeda, Hector-Neri The Phenomeno-Logic of the I 99 Sprache und Erfahrung 101 Thinking and Doing 103 Childress, James Franklin Principles of Biomedical Ethics 49 Chomsky, Avram Noam Cartesian Linguistics 105 Cicero, Marcus Tullius De finibus bonorum et malorum 107 De officiis 109 De re publica 110

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Comte, Auguste Cours de philosophie positive 112 Nikolaus Cusanus De docta ignorantia 427 Darwin, Charles Robert On the Origin of Species 115 Davidson, Donald Essays on Actions and Events 117 Inquiries into Truth and Interpretation 119 Demokrit von Abdera Fragmente und Zeugnisse 120 Dennett, Daniel Clement Consciousness Explained 123 The Intentional Stance 125 Derrida, Jacques De la grammatologie 126 Descartes, René Discours de la méthode 127 Meditationes de prima philosophia 129 Les passions de l’âme 131 Principia philosophiae 133 Dewey, John Art as Experience 135 Experience and Nature 136 Logic. The Theory of Inquiry 138 Diderot, Denis Encyclopédie 139 Dilthey, Wilhelm Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissen­ schaften 141 Diogenes Laertios Philosophōn biōn kai dogmatōn synagogē 144 Dummet, Michael Truth and Other Enigmas 146 Duns Scotus, Johannes Tractatus de primo principio 148

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Autoren- und Werkregister

Dworkin, Gerald The Theory and Practice of ­Autonomy 149 Dworkin, Ronald Law’s Empire 151 A Matter of Principle 153 Sovereign Virtue 155 Taking Rights Seriously 157 Engels, Friedrich Die deutsche Ideologie 383 Manifest der Kommunistischen Partei 387 Epikur Kyriai doxai /Hauptlehrsätze 159 Peri physeōs /Über die Natur 161 Erasmus von Rotterdam, Desiderius De libero arbitrio 163 Feinberg, Joel The Moral Limits of the Criminal Law 165 Feuerbach, Ludwig Andreas Grundsätze der Philosophie der Zukunft 167 Das Wesen des Christentums 169 Feyerabend, Paul Karl Against Method 171 Fichte, Johann Gottlieb Die Bestimmung des Menschen 172 Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre 174 Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre 177 Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters 179 Das System der Sittenlehre nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre 181

Versuch einer Kritik aller Offenbarung 183 Die Wissenschaftslehre 185 Foucault, Michel Folie et déraison/Wahnsinn und Gesellschaft 188 Histoire de la sexualité /Sexualität und Wahrheit 189 Les mots et les choses /Die Ordnung der Dinge 191 Surveiller et punir /Überwachen und Strafen 193 Frankfurt, Harry G. The Importance of What We Care About 195 Necessity, Volition, and Love 197 The Reasons of Love 198 Frege, Gottlob Über Begriff und Gegenstand 200 Der Gedanke /Logische Untersuchungen 202 Über Sinn und Bedeutung 203 Gadamer, Hans-Georg Wahrheit und Methode 205 Galilei, Galileo Dialogo 207 Gehlen, Arnold Der Mensch, seine Natur und seine Stellung in der Welt 210 Goodman, Nelson Fact, Fiction, Forecast 211 Languages of Art 213 Grice, Herbert Paul Studies in the Way of Words 215 Grotius, Hugo De Jure Belli ac Pacis 217 Habermas, Jürgen Diskursethik 219 Erkenntnis und Interesse 221 Faktizität und Geltung 222



Autoren- und Werkregister

Strukturwandel der Öffentlichkeit 224 Theorie des kommunikativen Handelns 226 Die Zukunft der menschlichen Natur 228 Hare, Richard Mervyn The Language of Morals 230 Moral Thinking 231 Hart, Herbert Lionel Adolphus The Concept of Law 233 Hartmann, Nicolai Der Aufbau der realen Welt 235 Ethik 237 Hayek, Friedrich August von Law, Legislation, and Liberty 239 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse 241 Grundlinien der Philosophie des Rechts 245 Phänomenologie des Geistes 247 Vorlesungen über die Ästhetik 251 Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte 253 Vorlesungen über die Philosophie der Religion 256 Wissenschaft der Logik 258 Heidegger, Martin Sein und Zeit 262 Hempel, Carl Gustav Aspects of Scientific Explanation 264 Heraklit Peri Physeōs/Über die Natur 266 Herder, Johann Gottfried Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit 268 Hobbes, Thomas De Cive 273 De Corpore 269

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De Homine 271 Leviathan 275 Horkheimer, Max Dialektik der Aufklärung 5 Eclipse of Reason /Zur Kritik der instrumentellen Vernunft 277 Kritische Theorie 279 Hume, David Dialogues Concerning Natural Religion 281 An Enquiry Concerning Human Understanding 283 An Enquiry Concerning the Principles of Morals 285 A Treatise of Human Nature 288 Husserl, Edmund Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie 290 Logische Untersuchungen 292 Méditations Cartésiennes 294 James, William Pragmatism 296 The Varieties of Religious Experience 298 The Will to Believe 300 Jaspers, Karl Philosophie 302 Jonas, Hans Das Prinzip Verantwortung 304 Kant, Immanuel Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? 306 Zum ewigen Frieden 308 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten 310 Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht 312

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Autoren- und Werkregister

Kritik der praktischen Vernunft 313 Kritik der reinen Vernunft 315 Kritik der Urteilskraft 318 Die Metaphysik der Sitten 321 Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft 324 Kelsen, Hans Reine Rechtslehre 326 Kierkegaard, Søren Aabye Begrebet Angest /Der Begriff Angst 328 Sygdommen til Døden /Die Krankheit zum Tode 330 Kripke, Saul A. Naming and Necessity 331 Kuhn, Thomas Samuel The Structure of Scientific Revolutions 333 Leibniz, Gottfried Wilhelm Discours de métaphysique 335 Essais de Théodicée 338 Monadologie 340 Nouveaux Essais sur l’Entendement humain 342 Lessing, Gotthold Ephraim Die Erziehung des Menschen­ geschlechts 344 Levinas, Emmanuel Totalité et infini 346 Lewis, David K. Convention 349 Counterfactuals 350 Papers in Metaphysics and Epistemology 352 Philosophical Papers 354 On the Plurality of Worlds 356 Locke, John Epistola de tolerantia 358 An Essay Concerning Human Understanding 360 Two Treatises of Government 362

Luhmann, Niklas Soziale Systeme 364 Lukrez De rerum natura 366 Lyotard, Jean-François La condition postmoderne 368 Machiavelli, Niccolò Il Principe /Der Fürst 370 MacIntyre, Alasdair After Virtue 372 Whose Justice? Which Ration­ ality? 374 Mackie, John Leslie Ethics 375 The Miracle of Theism 377 Malebranche, Nicolas De la recherche de la vérité 379 Marcus Aurelius Ta eis heauton /Wege zu sich selbst 381 Marx, Karl Das Kapital 385 Ökonomisch-philosophische Manuskripte 389 Thesen über Feuerbach 391 Marx, Karl/Friedrich Engels Die deutsche Ideologie 383 Manifest der Kommunistischen Partei 387 McDowell, John Mind and World 393 Mead, George Herbert Mind, Self, and Society 394 Merlau-Ponty, Maurice Phénoménologie de la perception 396 Mill, John Stuart On Liberty 398 Utilitarianism 400 Montaigne, Michel Eyquem de Essais 401



Autoren- und Werkregister

Montesquieu De L’Esprit des Loix /Vom Geist der Gesetze 403 Moore, George Edward Principia Ethica 405 Morus, Thomas De optimo reip.[ublicae] statu, deque nova insula Utopia 406 Nagel, Ernest The Structure of Science 408 Nagel, Thomas Equality and Partiality 410 Mortal Questions 412 The View From Nowhere 414 Newton, Isaac Philosophiae naturalis principia mathematica 416 Nietsche, Friedrich Also sprach Zarathustra 418 Die fröhliche Wissenschaft 420 Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik 422 Zur Genealogie der Moral 424 Jenseits von Gut und Böse 425 Nikolaus von Kues De docta ignorantia 427 Nozick, Robert Anarchy, State and Utopia 430 Philosophical Explanations 431 Nussbaum, Martha C. The Fragility of Goodness 433 Frontiers of Justice 435 Parfit, Derek Reasons and Persons 437 Parmenides Peri Physeōs /Über die Natur 439 Pascal, Blaise Pensées 441 Peirce, Charles Sanders How to Make our Ideas Clear 443

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Perry, John Reference and Reflexivity 446 Platon Apologia Sōkratus 448 Euthydēmos 449 Euthyphrōn 450 Gorgias 452 Kritōn 453 Menōn 455 Nomoi/Gesetze 456 Parmenidēs 458 Phaidōn 460 Phaidros 462 Philēbos 463 Politeia /Der Staat 465 Politikos /Der Staatsmann 468 Prōtagoras 469 Sophistēs 471 Symposion 473 Theaitētos 474 Timaios 476 Plessner, Helmuth Die Stufen des Organischen und der Mensch 478 Plotin Enneades 480 Pogge, Thomas W. World Poverty and Human Rights 483 Popper, Karl Raimund Logik der Forschung 484 The Open Society and Its Enemies 486 Putnam, Hilary The Meaning of ›Meaning‹ 489 Philosophical Papers 491 Reason, Truth and History 493 Representation and Reality 495 Quine, Willard Van Orman From a Logical Point of View 497 Ontological Relativity 498

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Autoren- und Werkregister

Pursuit of Truth 499 Word and Object 501 Rawls, John The Law of Peoples 503 Political Liberalism 505 A Theory of Justice 506 Ricœur, Paul Soi-même comme un autre/Das Selbst als ein Anderer 509 Rorty, Richard Contingency, Irony, and Soli­ darity 511 Philosophy and the Mirror of Nature 512 Rousseau, Jean-Jacques Du contrat social /Vom Gesellschaftsvertrag 513 Émile ou de l’éducation 515 Russell, Bertrand /Alfred North Whitehead Principia Mathematica 517 Ryle, Gilbert The Concept of Mind 519 Salmon, Wesley C. Scientific Explanation and the Causal Structure of the World 520 Sartre, Jean-Paul L’Être et le néant /Das Sein und das Nichts 522 L’existentialisme est un ­humanisme 525 Scanlon, Thomas What We Owe To Each Other 526 Scheler, Max Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik 528 Die Stellung des Menschen im Kosmos 530

Schelling, Friedrich Wilhelm Philosophische Untersuchungen über das Wesen der mensch­ lichen Freiheit 532 Das System des transzendentalen Idealismus 535 Schiller, Friedrich Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen 537 Über das Erhabene 539 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst Hermeneutik 541 Schmitt, Carl Der Begriff des Politischen 542 Politische Theologie 543 Schopenhauer, Arthur Die Welt als Wille und Vor­ stellung 545 Searle, John Rogers The Construction of Social Reality 549 Intentionality 551 Speech Acts 552 Sellars, Wilfrid Empiricism and the Philosophy of Mind 554 Science and Metaphysics 556 Sen, Amartya Development as Freedom 557 The Idea of Justice 559 Rationality and Freedom 561 Seneca, Lucius Annaeus Epistulae morales ad Lucilium 563 Sextus Empiricus Pyrrhoneiōn hypotypōseis/ Grundriß der pyrrhonischen Skepsis 564 Shoemaker, Sydney Self-Knowledge and Self-Identity 566



Autoren- und Werkregister

Simmel, Georg Philosophie des Geldes 568 Singer, Peter Albert David Practical Ethics 570 Smith, Adam An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations 572 The Theory of Moral Sentiments 573 Spinoza, Baruch de Ethica ordine geometrico ­demonstrata 574 Tractatus theologico-politicus 578 Stirner, Max Der Einzige und sein Eigentum 580 Strawson, Peter Frederick The Bounds of Sense 582 Individuals 584 Tarski, Alfred Pojęcie prawdy w językach nauk dedukcyjnych /Der Wahrheitsbegriff in den formalisierten Sprachen 586 Taylor, Charles Sources of the Self 588 Thomas von Aquin De ente et essentia 589 Summa contra gentiles 592 Summa theologiae 593 Tugendhat, Ernst Selbstbewußtsein und Selbst­ bestimmung 596 van Fraassen, Bastian Cornelis Laws and Symmetry 598 The Scientific Image 600 van Inwagen, Peter An Essay on Free Will 602

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Vico, Giambattista Principj di una scienza nuova/ Grundzüge einer neuen ­Wissenschaft 604 Voltaire Candide ou l’optimisme 606 Traité sur la tolérance 608 Walzer, Michael Just and Unjust Wars 610 Spheres of Justice 611 Weber, Max Wirtschaft und Gesellschaft 613 Wissenschaft als Beruf 615 Whitehead, Alfred North Principia Mathematica 517­ Process and Reality 616 Wilhelm von Ockham Summa logicae 619 Williams, Bernard Ethics and the Limits of Phi­ losophy 621 Moral Luck 623 Morality 625 Problems of the Self 626 Truth and Truthfulness 628 Wittgenstein, Ludwig Logisch-philosophische Abhandlung/Tractatus logico-philosophicus 630 Philosophische Untersuchungen 633 Wright, Georg Henrik von The Varieties of Goodness 637 Xenokrates Fragmente und Zeugnisse 639 Xenophanes von Kolophon Fragmente und Zeugnisse 640 Zenon von Elea Fragmente und Zeugnisse 642

Titelregister Abhandlung über das erste Prinzip (Duns Scotus) 148 Eine Abhandlung über Gleichheit und Parteilichkeit (Nagel) 410 Abhandlung über die Methode (Descartes) 128 Abhandlung über die positive Philosophie (Comte) 112 Eine Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis (Berkeley) 61 Abhandlung über die Toleranz (Voltaire) 608 Absicht (Anscombe) 10 Ad se ipsum (Marcus Aurelius) 381 After Virtue (MacIntyre) 372 Against Method (Feyerabend) 171 Also sprach Zarathustra (Nietzsche) 418 Anarchy, State and Utopia (Nozick) 430 De anima (Aristoteles) 29 Anrede (Anselm von Canterbury) 11 Apologia Sōkratus (Platon) 448 Appearance and Reality (Bradley) 73 Art as Experience (Dewey) 135 De arte poetica (Aristoteles) 24 De arte rhetorica (Aristoteles) 30 Aspects of Scientific Explanation (Hempel) 264 Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (Schiller) 537 Ästhetische Theorie (Adorno) 3 Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (Dilthey) 141

Der Aufbau der realen Welt (Hartmann) 235 Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (Kant) 306 Bedeutung und Notwendigkeit (Carnap) 91 Die Bedeutung von ›Bedeutung‹ (Putnam) 489 Der Begriff Angst (Kierkegaard) 328 Der Begriff des Geistes (Ryle) 519 Über den Begriff der Geschichte (Benjamin) 51 Der Begriff der Moral (Williams) 625 Der Begriff des Politischen (Schmitt) 542 Der Begriff des Rechts (Hart) 233 Über Begriff und Gegenstand (Frege) 200 Bekenntnisse (Augustinus) 40 Über die belehrte Unwissenheit (Nikolaus Cusanus) 427 Von der besten Staatsverfassung und von der neuen Insel Utopia (Morus) 407 Die Bestimmung des Menschen (Fichte) 172 Der Blick von Nirgendwo (Nagel) 414 The Bounds of Sense (Strawson) 582 Ein Brief über Toleranz (Locke) 358 Vom Bürger (Hobbes) 273 Bürgerrechte ernstgenommen (Dworkin) 157



Titelregister 661

Candide oder der Optimismus (Voltaire) 606 Cartesian Linguistics (Chomsky) 105 Cartesianische Meditationen (Husserl) 294 Categoriae (Aristoteles) 19 De la causa, principio e uno (Bruno) 82 De Cive (Hobbes) 273 Civitas solis Idea republicae philosophiae (Campanella) 82 De civitate dei (Augustinus) 38 The Concept of Law (Hart) 233 The Concept of Mind (Ryle) 519 La condition postmoderne (Lyotard) 368 Confessiones (Augustinus) 40 Consciousness Explained (Dennett) 123 De consolatione philosophiae (Boethius) 69 The Construction of Social Reality (Searle) 549 Contingency, Irony, and Solidarity (Rorty) 511 Du contrat social (Rousseau) 513 Convention (Lewis) 349 Convivium (Platon) 473 De Corpore (Hobbes) 269 Counterfactuals (Lewis) 350 Cours de philosophie positive (Comte) 112 Die deutsche Ideologie (Marx/Engels) 383 Development as Freedom (Sen) 557 Dialektik der Aufklärung (Adorno/ Horkheimer) 5 Dialog (Galilei) 207 Dialoge über natürliche Religion (Hume) 281

Dialogo (Galilei) 207 Dialogues Concerning Natural Religion (Hume) 281 Über die Dichtkunst (Aristoteles) 24 Discours de métaphysique (Leibniz) 335 Discours de la méthode (Descartes) 128 Diskursethik (Habermas) 219 De docta ignorantia (Nikolaus von Kues) 427 Drei Bücher vom Recht des Krieges und des Friedens (Grotius) 217 Eclipse of Reason (Horkheimer) 277 Einführung in die Prinzipien der Moral und der Gesetzgebung (Bentham) 57 Einzelding und logisches Subjekt (Strawson) 584 Der Einzige und sein Eigentum (Stirner) 580 Ta eis heauton (Marcus Aurelius) 381 Émile ou de l’éducation (Rousseau) 515 Empiricism and the Philosophy of Mind (Sellars) 554 Encyclopédie (Diderot) 139 Enneaden (Plotin) 480 An Enquiry Concerning Human Understanding (Hume) 283 An Enquiry Concerning the Principles of Morals (Hume) 285 De ente et essentia (Thomas von Aquin) 589 Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl (Darwin) 115 Enzyklopädie (Diderot) 139

662 Titelregister Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (Hegel) 241 Epistola de tolerantia (Locke) 358 Epistulae morales ad Lucilium (Seneca) 563 Equality and Partiality (Nagel) 410 Erbschaft dieser Zeit (Bloch) 63 Erfahrung und Natur (Dewey) 136 Von der Erforschung der Wahrheit (Malebranche) 379 Über das Erhabene (Schiller) 539 Erkenntnis und Interesse (Habermas) 221 Erscheinung und Wirklichkeit (Bradley) 73 Die Erziehung des Menschen­ geschlechts (Lessing) 345 De L’Esprit des Loix (Montesquieu) 403 Essai sur les données immédiates de la conscience (Bergson) 59 Essais (Montaigne) 401 Essais de Théodicée (Leibniz) 338 An Essay Concerning Human ­Understanding (Locke) 360 An Essay on Free Will (van Inwagen) 602 Essays on Actions and Events (Davidson) 117 Ethica ordine geometrico demonstrata (Spinoza) 575 Ethics and the Limits of Philosophy (Williams) 621 Ethics (Mackie) 375 Ethik (Hartmann) 237 Ethik (Mackie) 375 Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt (Spinoza) 575 Ethik und die Grenzen der Philosophie (Williams) 621 Ēthika Eudēmeia (Aristoteles) 15

Ēthika Nikomacheia (Aristoteles) 16 L’Être et le néant (Sartre) 522 Eudemische Ethik (Aristoteles) 15 Euthydēmos (Platon) 449 Euthyphrōn (Platon) 450 Zum ewigen Frieden (Kant) 308 L’existentialisme est un humanisme (Sartre) 525 Experience and Nature (Dewey) 136 Expressive Vernunft (Brandom) 74 Fact, Fiction, Forecast (Goodman) 211 Faktizität und Geltung (Habermas) 222 De finibus bonorum et malorum (Cicero) 107 Five Types of Ethical Theory (Broad) 78 Folie et déraison (Foucault) 188 Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik (Scheler) 528 The Fragility of Goodness (Nussbaum) 433 Fragmente und Zeugnisse (Demokrit) 121 Fragmente und Zeugnisse (Xenokrates) 639 Fragmente und Zeugnisse (Xenophanes) 641 Fragmente und Zeugnisse (Zenon) 642 Über den freien Willen (Erasmus von Rotterdam) 163 Über die Freiheit (Mill) 398 Die fröhliche Wissenschaft (Nietzsche) 420 Frontiers of Justice (Nussbaum) 435 Der Fürst (Machiavelli) 370



Titelregister 663

Das Gastmahl (Platon) 473 Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (Nietzsche) 422 Der Gedanke (Frege) 202 Gedanken über die Religion und einige andere Themen (Pascal) 441 Vom Geist der Gesetze (Montes­ quieu) 403 Geist, Identität und Gesellschaft (Mead) 395 Geist und Welt (McDowell) 393 Vom Gemeinwesen (Cicero) 110 Zur Genealogie der Moral (Nietzsche) 424 Gesammelte philosophische Aufsätze (Austin) 44 Geschichtsphilosophische Thesen (Benjamin) 51 Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts (Rousseau) 513 Gesetze (Platon) 456 Gibt es den gerechten Krieg? (Walzer) 610 The Good in the Right (Audi) 36 Gorgias (Platon) 452 De la grammatologie (Derrida) 126 Große Erneuerung der Wissenschaften (Bacon) 47 Der Gottesstaat (Augustinus) 38 Die Grenzen der Gerechtigkeit (Nussbaum) 435 Die Grenzen des Sinns (Strawson) 582 Gründe der Liebe (Frankfurt) 198 Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (Fichte) 174 Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre (Fichte) 177 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (Kant) 310

Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse (Hegel) 245 Grundriß der pyrrhonischen Skepsis (Sextus Empiricus) 564 Grundsätze der Philosophie der Zukunft (Feuerbach) 167 Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters (Fichte) 179 Grundzüge einer neuen Wissenschaft über die Natur der Völker (Vico) 604 Handlung und Ereignis (Davidson) 117 Hauptlehrsätze (Epikur) 159 Hermeneutik (Schleiermacher) 541 Histoire de la sexualité (Foucault) 189 Über das höchste Gut und das größte Übel (Cicero) 107 De Homine (Hobbes) 271 L’homme révolté (Camus) 85 How the Laws of Physics Lie (Cartwright) 94 How to Do Things With Words (Austin) 42 How to Make Our Ideas Clear (Peirce) 443 The Human Condition (Arendt) 13 Hypotyposes (Sextus Empiricus) 564 The Idea of Justice (Sen) 559 Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (Kant) 312 Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (Herder) 268 The Importance of What We Care About (Frankfurt) 195

664 Titelregister Individuals (Strawson) 584 Inquiries into Truth and Inter­ pretation (Davidson) 119 An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations (Smith) 572 Instauratio magna (Bacon) 47 Intention (Anscombe) 10 The Intentional Stance (Dennett) 125 Intentionality (Searle) 551 An Introduction to the Principles of Morals and Legislation (Bentham) 57 Ist der Existentialismus ein Humanismus? (Sartre) 525 Jenseits von Gut und Böse (Nietzsche) 425 De Jure Belli ac Pacis (Grotius) 217 Just and Unjust Wars (Walzer) 610 Das Kapital (Marx) 385 Von den Kategorien (Aristoteles) 19 Peri tōn katēgoriōn (Aristoteles) 19 Über die Klarheit unserer Gedanken (Peirce) 443 Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit (Searle) 549 Kontingenz, Ironie und Solidarität (Rorty) 511 Konventionen (Lewis) 349 Vom Körper (Hobbes) 269 Die Krankheit zum Tode (Kierke­ gaard) 330 Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (Husserl) 290 Zur Kritik der instrumentellen Vernunft (Kant) 277 Kritik der praktischen Vernunft (Kant) 313

Kritik der reinen Vernunft (Kant) 315 Kritik der Urteilskraft (Kant) 318 Kritische Theorie (Horkheimer) 279 Kritōn (Platon) 453 Kunst als Erfahrung (Dewey) 135 Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (Benjamin) 53 Kyriai doxai (Epikur) 159 The Language of Morals (Hare) 230 Language, Truth and Logic (Ayer) 45 Languages of Art (Goodman) 213 Law, Legislation, and Liberty (Hayek) 239 The Law of Peoples (Rawls) 503 Law’s Empire (Dworkin) 151 Laws and Symmetry (van Fraassen) 598 Über Leben und Lehren berühmter Philosophen (Diogenes Laertios) 144 Die Legitimität der Neuzeit (Blumenberg) 66 Die Leidenschaften der Seele (Des­ cartes) 131 A Letter Concerning Toleration (Locke) 358 Letzte Fragen (Nagel) 412 Leviathan (Hobbes) 275 De libero arbitrio (Erasmus von Rotterdam) 163 On Liberty (Mill) 398 Linguistic Behavior (Bennett) 55 The Logic of Scientific Discovery (Popper) 485 Logic. The Theory of Inquiry (Dewey) 138 From a Logical Point of View (Quine) 497



Titelregister 665

Logik der Forschung (Popper) 484 Logik. Die Theorie der Forschung (Dewey) 138 Der logische Aufbau der Welt (Carnap) 89 Logische Untersuchungen (Frege) 202 Logische Untersuchungen (Husserl) 292 Von einem logischen Standpunkt (Quine) 497 Logisch-philosophische Abhandlung (Wittgenstein) 630 Making It Explicit (Brandom) 74 Manifest der Kommunistischen Partei (Marx/Engels) 387 Die mathematischen Prinzipien der Physik (Newton) 416 A Matter of Principle (Dworkin) 153 The Meaning of ›Meaning‹ (Putnam) 489 Meaning and Necessity (Carnap) 91 Meditationes de prima philosophia (Descartes) 129 Méditations Cartésiennes (Husserl) 294 Menōn (Platon) 455 Der Mensch in der Revolte (Camus) 85 Der Mensch, seine Natur und seine Stellung in der Welt (Gehlen) 210 Vom Menschen (Hobbes) 271 Metaphysik (Aristoteles) 21 Die Metaphysik der Sitten (Kant) 321 Metaphysische Abhandlung (Leibniz) 335 Mind and Its Place in Nature (Broad) 80

Mind and World (McDowell) 393 Mind, Self, and Society (Mead) 395 Minima Moralia (Adorno) 6 The Miracle of Theism (Mackie) 377 Monadologie (Leibniz) 340 The Moral Limits of the Criminal Law (Feinberg) 165 Moral Luck (Williams) 623 Moral Thinking (Hare) 231 Moralische Briefe an Lucilius (Seneca) 563 Moralischer Zufall (Williams) 623 Moralisches Denken (Hare) 231 Morality. An Introduction to Ethics 625 Mortal Questions (Nagel) 412 Les mots et les choses (Foucault) 191 Le mythe de Sisyphe (Camus) 88 Naming and Necessity (Kripke) 331 Über die Natur (Epikur) 161 Über die Natur (Heraklit) 266 Über die Natur (Parmenides) 439 Necessity, Volition, and Love (Frankfurt) 197 Negative Dialektik (Adorno) 8 Neue Untersuchungen über den menschlichen Verstand (Leibniz) 342 Neues Organon (Bacon) 47 Nikomachische Ethik (Aristoteles) 16 Nomoi (Platon) 456 Nouveaux Essais sur l’Entendement humain (Leibniz) 342 Die offene Gesellschaft und ihre Feinde (Popper) 486 De officiis (Cicero) 109

666 Titelregister Ökonomie für den Menschen (Sen) 557 Ökonomisch-philosophische Manuskripte (Marx) 389 Ontological Relativity (Quine) 498 The Open Society and Its Enemies (Popper) 486 De optimo reip.[ublicae] statu, deque nova insula Utopia (Morus) 407 Die Ordnung der Dinge (Foucault) 191 Organon (Aristoteles) 23 On the Origin of Species (Darwin) 115 L’Œuvre d’art a l’epoque de sa réproduction mécanisée (Benjamin) 53 Papers in Metaphysics and Epis­ temology (Lewis) 352 Parmenidēs (Platon) 458 Les passions de l’âme (Descartes) 131 Pensées (Pascal) 441 Vom pflichtgemäßen Handeln (Cicero) 109 Phaidōn (Platon) 460 Phaidros (Platon) 462 Phänomenologie des Geistes (Hegel) 248 The Phenomeno-Logic of the I (Castañeda) 97 Phénoménologie de la perception (Merleau-Ponty) 396 Philēbos (Platon) 463 Philosophiae naturalis principia mathematica (Newton) 416 Philosophical Explanations (Nozick) 431 Philosophical Investigations (Wittgenstein) 633 Philosophical Papers (Austin) 44 Philosophical Papers (Lewis) 354

Philosophical Papers (Putnam) 491 Philosophie (Jaspers) 303 Philosophie des Geldes (Simmel) 568 Philosophie des menschlichen Bewußtseins (Dennett) 123 Philosophie der symbolischen Formen (Cassirer) 96 Philosophische Untersuchungen (Wittgenstein) 633 Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit (Schelling) 532 Philosophōn biōn kai dogmatōn synagogē (Diogenes Laertios) 144 Philosophy and the Mirror of Nature (Rorty) 512 Peri physeōs (Epikur) 161 Peri Physeōs (Heraklit) 266 Peri Physeōs (Parmenides) 439 On the Plurality of Worlds (Lewis) 356 Peri poiētikēs (Aristoteles) 24 Pojęcie prawdy w językach nauk dedukcyjnych (Tarski) 586 Politeia (Platon) 465 Political Liberalism (Rawls) 505 Politika (Aristoteles) 26 Politikos (Platon) 468 Politische Theologie (Schmitt) 543 Das postmoderne Wissen (Lyotard) 368 Practical Ethics (Singer) 570 Pragmatismus (James) 296 Il Principe (Machiavelli) 370 Principia Ethica (Moore) 405 Principia Mathematica (Russell/ Whitehead) 517 Principia philosophiae (Descartes) 133 Principj di una scienza nuova intorno alla natura delle nazioni (Vico) 604



Titelregister 667

Principles of Biomedical Ethics (Beauchamp/Childress) 49 Das Prinzip Hoffnung (Bloch) 64 Das Prinzip Verantwortung (Jonas) 304 Die Prinzipien der Philosophie (Descartes) 133 Problems of the Self (Williams) 626 Process and Reality (Whitehead) 616 Proslogion (Anselm von Canterbury) 11 Prōtagoras (Platon) 469 Peri psychēs (Aristoteles) 29 Psychologie vom empirischen Standpunkte (Brentano) 76 Pursuit of Truth (Quine) 499 Pyrrhoneiōn hypotypōseis (Sextus Empiricus) 564 Quellen des Selbst (Taylor) 588 Rationality and Freedom (Sen) 561 De re publica (Cicero) 110 Reason, Truth and History (Putnam) 493 Reasons and Persons (Parfit) 437 The Reasons of Love (Frankfurt) 198 De la recherche de la vérité (Male­ branche) 379 Recht, Gesetzgebung und Freiheit (Hayek) 239 Das Recht der Völker (Rawls) 503 Redekunst (Aristoteles) 30 Reference and Reflexivity (Perry) 446 Reine Rechtslehre (Kelsen) 326 Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (Kant) 324 Representation and Reality (Putnam) 495 De rerum natura (Lukrez) 366

Sammlung der Lebensbeschreibungen und Lehrmeinungen der Philosophen (Diogenes Laertius) 144 Scheinprobleme in der Philosophie (Carnap) 93 Science and Metaphysics (Sellars) 556 Scientific Explanation and the Causal Structure of the World (Salmon) 520 The Scientific Image (van Fraassen) 600 Sechs Bücher über den Staat (Bodin) 67 Über die Seele (Aristoteles) 29 Über Seiendes und Wesen (Thomas von Aquin) 589 Das Sein und das Nichts (Sartre) 522 Sein und Zeit (Heidegger) 262 Das Selbst als ein Anderer (Ricœur) 509 Selbstbetrachtungen (Marcus Aurelius) 381 Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung (Tugendhat) 596 Self-Knowledge and Self-Identity (Shoemaker) 566 Sexualität und Wahrheit (Foucault) 189 Über Sinn und Bedeutung (Frege) 203 Les six livres de la république (Bodin) 67 Soi-même comme un autre (Ricœur) 509 Der Sonnenstaat (Campanella) 83 Sophistēs (Platon) 471 Sources of the Self (Taylor) 588 Sovereign Virtue (Dworkin) 155

668 Titelregister Soziale Systeme (Luhmann) 364 Speech Acts (Searle) 552 Spheres of Justice (Walzer) 611 Der Spiegel der Natur (Rorty) 512 Die Sprache der Moral (Hare) 230 Sprache und Erfahrung (Castañeda) 101 Sprache, Wahrheit und Logik (Ayer) 45 Sprachverhalten (Bennett) 55 Sprechakte (Searle) 552 Der Staat (Platon) 465 Der Staatsmann (Platon) 468 Die Stellung des Menschen im Kosmos (Scheler) 530 The Structure of Science (Nagel) 408 The Structure of Scientific Revolutions (Kuhn) 333 Strukturwandel der Öffentlichkeit (Habermas) 224 Studies in the Way of Words (Grice) 215 Die Stufen des Organischen und der Mensch (Plessner) 478 Summa contra gentiles (Thomas von Aquin) 592 Summa logicae (Wilhelm von Ockham) 619 Summa theologiae (Thomas von Aquin) 593 Surveiller et punir (Foucault) 193 Sygdommen til Døden (Kierke­ gaard) 330 Symposion (Platon) 473 Das System der Sittenlehre nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre (Fichte) 181 Das System des transzendentalen Idealismus (Schelling) 535 Taking Rights Seriously (Dworkin) 157

Tatsache, Fiktion, Voraussage (Goodman) 211 Technē rhētorikē (Aristoteles) 30 Theaitētos (Platon) 474 Die Theodizee (Leibniz) 338 Theologisch-politischer Traktat (Spinoza) 577 Theorie der ethischen Gefühle (Smith) 573 Eine Theorie der Gerechtigkeit (Rawls) 506 Theorie des kommunikativen Handelns (Habermas) 226 Zur Theorie der Sprechakte (Austin) 42 The Theory and Practice of Autonomy (Dworkin) 149 A Theory of Justice (Rawls) 506 The Theory of Moral Sentiments (Smith) 573 Thesen über Feuerbach (Marx) 391 Thinking and Doing (Castañeda) 103 Timaios (Platon) 476 Totalité et infini (Levinas) 346 Tractatus logico-philosophicus (Wittgenstein) 630 Tractatus de primo principio (Duns Scotus) 148 Tractatus theologico-politicus (Spinoza) 577 Traité sur la tolérance (Voltaire) 608 A Treatise Concerning the Principles of Human Knowledge (Berkeley) 61 A Treatise of Human Nature (Hume) 288 Vom Trost der Philosophie (Boethius) 69 Truth and Other Enigmas (Dummett) 146 Truth and Truthfulness (Williams) 628



Titelregister 669

Two Treatises of Government (Locke) 362 Überwachen und Strafen (Foucault) 193 Universals and Scientific Realism (Armstrong) 32 Eine Untersuchung über den mensch­lichen Verstand (Hume) 283 Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral (Hume) 285 Unterwegs zur Wahrheit (Quine) 499 Über die Ursache, das Prinzip und das Eine (Bruno) 82 Utilitarianism (Mill) 400 Utopia (Morus) 407 The Varieties of Goodness (Wright) 637 The Varieties of Religious Experience (James) 298 Der Verlust der Tugend (MacIntyre) 372 Vernunft, Wahrheit und Geschichte (Putnam) 493 Versuch einer Kritik aller Offen­ barung (Fichte) 183 Versuch über den menschlichen Verstand (Locke) 360 Die Verteidigung des Sokrates (Platon) 448 Die Vielfalt religiöser Erfahrung (James) 298 The View From Nowhere (Nagel) 414 Vita activa oder Vom tätigen Leben (Arendt) 13 De vitis dogmatis et apophthegmatis clarorum philosophorum libri X (Diogenes Laertios) 144 Vorlesungen über die Ästhetik (Hegel) 251

Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (Hegel) 253 Vorlesungen über die Philosophie der Religion (Hegel) 256 Wahnsinn und Gesellschaft (Foucault) 188 Wahrheit und Interpretation (Davidson) 119 Wahrheit und Methode (Gadamer) 205 Wahrheit und Wahrhaftigkeit (Williams) 628 Der Wahrheitsbegriff in den formalisierten Sprachen (Tarski) 586 Was ist Gleichheit? (Dworkin) 155 Wege zu sich selbst (Marcus Aurelius) 381 Die Welt als Wille und Vorstellung (Schopenhauer) 545 Weltarmut und Menschenrechte (Pogge) 483 Werkzeug (Aristoteles) 23 Das Wesen des Christentums (Feuerbach) 169 What We Owe To Each Other (Scanlon) 526 Whose Justice? Which Rationality? (MacIntyre) 374 Wider den Methodenzwang (Feyerabend) 171 The Will to Believe (James) 300 Wirtschaft und Gesellschaft (Weber) 613 Wissenschaft als Beruf (Weber) 615 Wissenschaft der Logik (Hegel) 258 Wissenschaftslehre (Bolzano) 71 Die Wissenschaftslehre (Fichte) 185 Der Wohlstand der Nationen (Smith) 572 Word and Object (Quine) 501 World Poverty and Human Rights (Pogge) 483

670 Titelregister A World of States of Affairs (Armstrong) 34 Wort und Gegenstand (Quine) 501 Das Wunder des Theismus (Mackie) 377

Zeit und Freiheit (Bergson) 59 Die Zukunft der menschlichen Natur (Habermas) 228 Zwei Abhandlungen über die Regierung (Locke) 362

Zeittafel Antike nach 515 v. Chr. Parmenides: Peri Physeōs 6./5. Jh. v. Chr. Xenophanes von Kolophon: Fragmente und Zeugnisse 5. Jh. v. Chr. Zenon von Elea: Fragmente und Zeugnisse um 480 v. Chr. Heraklit: Peri Physeōs 5./4. Jh. v. Chr. Demokrit von Abdera: Fragmente und Zeugnisse 4. Jh. v. Chr. Platon: Apologia Sōkratus, Euthydēmos, Euthyphrōn, Gorgias, Kritōn, Prōtagoras, Menōn, Politeia, Phaidōn, Symposion, Phaidros, Theaitētos, Politikos, Timaios, Philēbos, Sophistēs, Parmenidēs, Nomoi Aristoteles: Ēthika Eudēmeia, Ēthika Nikomacheia, Peri tōn katēgoriōn, Ta meta ta physica, Organon, Peri poiētikēs, Politika, Peri psychēs, Technē rhētorikē Xenokrates: Fragmente und Zeugnisse 4./3. Jh. v. Chr. Epikur: Kyriai doxai, Peri physeōs 1. H. 3. Jh. v. Chr. Diogenes Laertios: Philosophōn biōn kai dogmatōn synagogē 1. Jh. v. Chr. Lukrez: De rerum natura 54–51 v. Chr. Cicero: De re publica 44 v. Chr. Cicero: De officiis 45 v. Chr. Cicero: De finibus bonorum et malorum 62–65 Seneca: Epistulae morales ad Lucilium zw. 100 u. 250 Sextus Empiricus: Pyrrhoneiōn hypotypōseis 172 Marcus Aurelius: Ta eis heauton 253–269 Plotin: Enneades 397–401 Augustinus: Confessionum libri tredecim 413–426 Augustinus: De civitate dei 523 Boethius: De consolatione philosophiae

Mittelalter 1077/78 1252–56 1258–65 ab 1265 um 1305 1323 1440

Anselm von Canterbury: Proslogion Thomas von Aquin: De ente et essentia Thomas von Aquin: Summa contra gentiles Thomas von Aquin: Summa theologiae Duns Scotus: Tractatus de primo principio Wilhelm von Ockham: Summa logicae Nikolaus von Kues: De docta ignorantia

672 Zeittafel

Neuzeit bis 1800 1513 Niccolò Machiavelli: Il Principe 1516 Morus: De optimo reip.[ublicae] statu, deque nova insula Utopia 1524 Erasmus von Rotterdam: De libero arbitrio 1576 Bodin: Les six livres de la république 1580 Montaigne: Essais 1584 Bruno: De la causa, principio e uno 1602/23 Campanella: Civitas solis Idea republicae philosophiae 1625 Grotius: De Jure Belli ac Pacis 1627 Bacon: Instauratio magna 1632 Galilei: Dialogo 1637 Descartes: Discours de la méthode 1641 Descartes: Meditationes de prima philosophia 1642 Hobbes: De Cive 1644 Descartes: Principia philosophiae 1649 Descartes: Les passions de l’âme 1651 Hobbes: Leviathan 1655 Hobbes: De Corpore 1658 Hobbes: De Homine 1670 Spinoza: Tractatus theologico-politicus Pascal: Pensées 1674–78 Malebranche: De la recherche de la vérité 1677 Spinoza: Ethica ordine geometrico demonstrata 1679–82 Locke: Two Treatises of Government 1686 Leibniz: Discours de métaphysique 1687 Newton: Philosophiae naturalis principia mathematica 1689 Locke: An Essay Concerning Human Understanding Locke: Epistola de tolerantia 1703–05 Leibniz: Nouveaux Essais sur l’Entendement humain 1710 Berkeley: A Treatise Concerning the Principles of Human Knowledge Leibniz: Essais de Théodicée 1714 Leibniz: Monadologie 1725 Vico: Principj di una scienza nuova 1739/40 Hume: A Treatise of Human Nature 1748 Montesquieu: De L’Esprit des Loix Hume: An Enquiry Concerning Human Understanding 1751 Hume: An Enquiry Concerning the Principles of Morals 1751–61/79 Hume: Dialogues Concerning Natural Religion 1751–80 Diderot: Encyclopédie 1759 Voltaire: Candide ou l’optimisme Smith: The Theory of Moral Sentiments



Zeittafel 673

1762 Rousseau: Du contrat social, Émile ou de l’éducation 1763 Voltaire: Traité sur la tolérance 1776 Smith: An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations 1780 Lessing: Die Erziehung des Menschengeschlechts 1781/87 Kant: Kritik der reinen Vernunft 1784 Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht 1784–91 Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit 1785 Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten 1788 Kant: Kritik der praktischen Vernunft 1789 Bentham: An Introduction to the Principles of Morals and Legislation 1790 Kant: Kritik der Urteilskraft 1792 Fichte: Versuch einer Kritik aller Offenbarung 1793 Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft 1794 Fichte: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre 1795 Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen Kant: Zum ewigen Frieden 1796 Fichte: Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre 1797 Kant: Die Metaphysik der Sitten 1798 Fichte: Das System der Sittenlehre nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre

19. Jahrhundert 1800 Schelling: Das System des transzendentalen Idealismus Fichte: Die Bestimmung des Menschen 1801 Schiller: Über das Erhabene 1806 Fichte: Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters 1807 Hegel: Phänomenologie des Geistes 1809 Schelling: Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit 1812–16 Hegel: Wissenschaft der Logik 1817 Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse 1817/18 Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik 1819–44 Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung 1821 Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, Vorlesungen über die Philosophie der Religion

674 Zeittafel 1822/23 Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte 1830–42 Comte: Cours de philosophie positive 1834/35 Fichte: Die Wissenschaftslehre 1837 Bolzano: Wissenschaftslehre 1838 Schleiermacher: Hermeneutik 1841 Feuerbach: Das Wesen des Christentums 1843 Feuerbach: Grundsätze der Philosophie der Zukunft 1844 Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte Stirner: Der Einzige und sein Eigentum Kierkegaard: Begrebet Angest 1845 Marx: Thesen über Feuerbach 1845/46 Marx/Engels: Die deutsche Ideologie 1848 Marx/Engels: Manifest der Kommunistischen Partei 1849 Kierkegaard: Sygdommen til Døden 1859 Darwin: On the Origin of Species Mill: On Liberty 1861 Mill: Utilitarianism 1867–94 Marx: Das Kapital 1872 Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik 1874 Brentano: Psychologie vom empirischen Standpunkte 1878 Peirce: How to Make our Ideas Clear 1882 Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft 1883–85 Nietzsche: Also sprach Zarathustra 1886 Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse 1887 Nietzsche: Zur Genealogie der Moral 1889 Bergson: Essai sur les données immédiates de la conscience 1892 Frege: Der Gedanke, Über Begriff und Gegenstand, Über Sinn und Bedeutung 1893 Bradley: Appearance and Reality 1897 James: The Will to Believe

20. Jahrhundert und Gegenwart 1900 Simmel: Philosophie des Geldes 1900–01 Husserl: Logische Untersuchungen 1902 James: The Varieties of Religious Experience 1903 Moore: Principia Ethica 1907 James: Pragmatism 1910 Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften 1910–13 Russell/Whitehead: Principia Mathematica 1916 Scheler: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik



Zeittafel 675

1919 Weber: Wissenschaft als Beruf 1921 Wittgenstein: Logisch-philosophische Abhandlung 1922 Weber: Wirtschaft und Gesellschaft Schmitt: Politische Theologie 1923–29 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen 1925 Broad: Mind and Its Place in Nature Dewey: Experience and Nature 1926 Hartmann: Ethik 1927 Heidegger: Sein und Zeit Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos Schmitt: Der Begriff des Politischen 1928 Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch Carnap: Der logische Aufbau der Welt, Scheinprobleme in der Philosophie 1929 Whitehead: Process and Reality 1930 Broad: Five Types of Ethical Theory 1931 Husserl: Méditations Cartésiennes Jaspers: Philosophie 1933 Tarski: Pojęcie prawdy w językach nauk dedukcyjnych 1934 Mead: Mind, Self, and Society Dewey: Art as Experience Popper: Logik der Forschung 1934/60 Kelsen: Reine Rechtslehre 1935 Bloch: Erbschaft dieser Zeit ca. 1935–45 Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen 1936 Ayer: Language, Truth and Logic Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit 1937 Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie 1938 Dewey: Logic. The Theory of Inquiry 1940 Gehlen: Der Mensch, seine Natur und seine Stellung in der Welt Hartmann: Der Aufbau der realen Welt 1942 Camus: Le mythe de Sisyphe Benjamin: Geschichtsphilosophische Thesen 1943 Sartre: L’Être et le néant 1945 Popper: The Open Society and Its Enemies Merlau-Ponty: Phénoménologie de la perception 1946 Sartre: L’existentialisme est un humanisme 1947 Horkheimer: Eclipse of Reason Adorno/Horkheimer: Dialektik der Aufklärung Carnap: Meaning and Necessity

676 Zeittafel 1949 Ryle: The Concept of Mind 1951 Camus: L’homme révolté Adorno: Minima Moralia 1952 Hare: The Language of Morals 1953 Quine: From a Logical Point of View 1954–59 Bloch: Das Prinzip Hoffnung 1955 Goodman: Fact, Fiction, Forecast 1956 Sellars: Empiricism and the Philosophy of Mind 1957 Anscombe: Intention 1958 Arendt: The Human Condition 1959 Strawson: Individuals 1960 Gadamer: Wahrheit und Methode Quine: Word and Object 1961 Levinas: Totalité et infini Nagel: The Structure of Science Hart: The Concept of Law Foucault: Folie et déraison Austin: Philosophical Papers 1962 Austin: How to Do Things With Words Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit Kuhn: The Structure of Scientific Revolutions 1963 Wright: The Varieties of Goodness Shoemaker: Self-Knowledge and Self-Identity 1965 Hempel: Aspects of Scientific Explanation 1966 Chomsky: Cartesian Linguistics Foucault: Les mots et les choses Strawson: The Bounds of Sense Adorno: Negative Dialektik Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit 1967 Derrida: De la grammatologie 1968 Habermas: Erkenntnis und Interesse Horkheimer: Kritische Theorie Goodman: Languages of Art Sellars: Science and Metaphysics 1969 Lewis: Convention Searle: Speech Acts Quine: Ontological Relativity 1970 Adorno: Ästhetische Theorie 1971 Rawls: A Theory of Justice 1972 Williams: Morality. An Introduction to Ethics 1973 Williams: Problems of the Self Lewis: Counterfactuals 1973–79 Hayek: Law, Legislation, and Liberty



Zeittafel 677

1974 Nozick: Anarchy, State and Utopia 1975 Castañeda: Thinking and Doing Putnam: The Meaning of ›Meaning‹ Foucault: Surveiller et punir Feyerabend: Against Method 1975–83 Putnam: Philosophical Papers 1976 Bennett: Linguistic Behavior 1976/84 Foucault: Histoire de le sexualité 1977 Mackie: Ethics Walzer: Just and Unjust Wars Dworkin: Taking Rights Seriously 1978 Armstrong: Universals and Scientific Realism Dummett: Truth and Other Enigmas 1979 Tugendhat: Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung Jonas: Das Prinzip Verantwortung Lyotard: La condition postmoderne Nagel: Mortal Questions Beauchamp/Childress: Principles of Biomedical Ethics Singer: Practical Ethics 1980 van Fraassen: The Scientific Image Davidson: Essays on Actions and Events Kripke: Naming and Necessity 1981 Williams: Moral Luck Putnam: Reason, Truth and History Habermas: Theorie des kommunkativen Handelns Hare: Moral Thinking Nozick: Philosophical Explanations MacIntyre: After Virtue 1982 Castañeda: Sprache und Erfahrung Mackie: The Miracle of Theism 1983 Searle: Intentionality Habermas: Diskursethik Walzer: Spheres of Justice Cartwright: How the Laws of Physics Lie van Inwagen: An Essay on Free Will 1983/86 Lewis: Philosophical Papers 1984 Parfit: Reasons and Persons Davidson: Inquiries into Truth and Interpretation Luhmann: Soziale Systeme Salmon: Scientific Explanation and the Causal Structure of the World 1985 Williams: Ethics and the Limits of Philosophy Dworkin: A Matter of Principle

678 Zeittafel 1986 Lewis: On the Plurality of Worlds Nussbaum: The Fragility of Goodness Dworkin: Law’s Empire Nagel: The View From Nowhere 1987 Dennett: The Intentional Stance 1988 MacIntyre: Whose Justice? Which Rationality? Dworkin: The Theory and Practice of Autonomy Frankfurt: The Importance of What We Care About Putnam: Representation and Reality Feinberg: The Moral Limits of the Criminal Law 1989 van Fraassen: Laws and Symmetry Taylor: Sources of the Self Grice: Studies in the Way of Words Rorty: Contingency, Irony, and Solidarity, Philosophy and the Mirror of Nature 1990 Ricœur: Soi-même comme un autre Quine: Pursuit of Truth 1991 Dennett: Consciousness Explained Nagel: Equality and Partiality 1992 Habermas: Faktizität und Geltung 1993 Rawls: Political Liberalism 1994 McDowell: Mind and World Brandom: Making It Explicit 1995 Searle: The Construction of Social Reality 1997 Armstrong: A World of States of Affairs 1998 Scanlon: What We Owe To Each Other 1999 Sen: Development as Freedom Lewis: Papers in Metaphysics and Epistemology Frankfurt: Necessity, Volition, and Love Castañeda: The Phenomeno-Logic of the I Rawls: The Law of Peoples 2000 Dworkin: Sovereign Virtue 2001 Perry: Reference and Reflexivity Habermas: Die Zukunft der menschlichen Natur 2002 Sen: Rationality and Freedom Williams: Truth and Truthfulness Pogge: World Poverty and Human Rights 2004 Frankfurt: The Reasons of Love Audi: The Good in the Right 2006 Nussbaum: Frontiers of Justice 2009 Sen: The Idea of Justice