Inspirierte Erinnerung: Fundamentaltheologische Traditionshermeneutik im Gespräch mit Konzeptionen des kommunikativen und kulturellen Gedächtnisses 9783643148575, 3643148577

Die Studie entwickelt ausgehend von den Erkenntnissen des Gedächtnisdiskurses (insbesondere M. Halbwachs und J. Assmann)

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German Pages 558 [564] Year 2021

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Inspirierte Erinnerung: Fundamentaltheologische Traditionshermeneutik im Gespräch mit Konzeptionen des kommunikativen und kulturellen Gedächtnisses
 9783643148575, 3643148577

Table of contents :
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Inhaltsverzeichnis
Teil I
Teil II
Teil III
Teil IV
Teil V
Teil VI

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Alexander Jaklitsch

Inspirierte Erinnerung

Studien zur Traditionstheorie Studies in tradition theory begründet von Prof. Dr. Siegfried Wiedenbofer (t)

herausgegeben von

Prof. Dr. J aroslav Vokoun (Südböhmische Universität Böhmisch-Budweis)

Band 14

LIT

Alexander Jaklitsch

Inspirierte Erinnerung Fundamentaltheologische Traditionshermeneutik im Gespräch mit Konzeptionen des kommunikativen und kulturellen Gedächtnisses

LIT

Umschlagbild: Installation "FünfTore" in Bochum, Ludger Hinse 2010

Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruckpapier entsprechend ANSI Z3948 DIN ISO 9706

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.deabrufbar. ISBN 978-3-643-14857-5 (br.) ISBN 978-3-643-34857-9 (PDF) Zugl.: Bochum, Univ., Diss., 2020

©

LIT VERLAG Dr. W. Hüpf

Berlin 2021

Verlagskontakt: Fresnostr.2 D-48159 Münster Tel. +49 (0) 2 51-62 03 20 E-Mail: [email protected] https://www.lit-verlag.de Auslieferung: Deutschland: LIT Verlag, Fresnostr. 2, D-48159 Münster Tel. t49 (0) 2 51-620 32 22, E-Mail: [email protected]

Um die Einheit des Glaubens und um die Gemeinschaft des Heiligen Geistes bittend, wollen wir uns selbst und einander und unser ganzes Leben Christus, unserem Gott, überliefern.

- Aus der Ektenie vor der Kommunion der griechischen Chrysostomusliturgie'

Vorwort Die Ektenien der byzantinischen Liturgie, denen der erste Satz in diesem Buch reserviert ist, zielen darauf, dem zum Gottesdienst versammelten Gottesvolk immer wieder und gewissermaßen gebetsmühlenartig die kommunikative und interagierende Dynamik der (kirchlichen) Tradition vor Augen und Ohren zu führen. Den Gläubigen soll mehr und mehr zu Herzen gehen und sie sollen das Verständnis dafür vertiefen, dass die Selbstüberlieferung Christi nicht folgenlos bleibt, sondern im eigenen Erinnern und in der Hingabe jedes Einzelnen an die anderen und an Jesus Christus selbst eine Antwort und damit einen fortschreitenden Erinnerungsdialog hervorbringt, der immer konkreter Erinnerungsgruppen in den konkreten Herausforderungen und Anfragen des jeweiligen »Jetzt« bedarf. Damit führen diese inständigen Bitten (Ektenien) schon auf das hin, womit sich das Folgende beschäftigt, nämlich mit einem Verständnis des theologischen Traditionsbegriffs als inspirierte Erinnerung. Die vorliegende Studie ist im Wintersemester 2020/21 von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum als fundamentaltheologische Dissertation angenommen worden. Der hier vorliegende Text ist für die Publikation an einigen Stellen noch einmal leicht überarbeitet worden. Betreut und begutachtet worden ist die Dissertation von Prof. Dr. Markus Knapp. Ihm sei an dieser Stelle herzlich gedankt für die geduldige Betreuung und Begleitung der Arbeit im Prozess ihrer Entstehung. Das Zweitgutachten hat Prof. Dr. Christian Frevel erstellt. Auch ihm Die griechische Chrysostomusliturgie, in: Schermann, Theodor [Hrsg.]: Griechische Liturgien. übersetzt von Remigius Starf (= Bibliothek der Kirchenväter, 1. Reihe, Band 5), München 1912, S. 150

v

gilt ein ganz herzlicher Dank für die Mühe des Gutachtens aber auch die spannende und weiterführende Diskussion über die Traditionsverdichtung im Buch Numeri im Rahmen des Rigorosums. Schließlich gilt Herrn Prof. Dr. Jaroslav Vokoun Dank für die Aufnahme der Studie in die Reihe der Studien zur Traditionstheorie und Herrn Dr. Michael Rainer vom LIT-Verlag für die angenehme Zusammenarbeit. Dafür, dass diese Arbeit mittlerweile in einer lesbaren Form vorliegt, gilt den Korrektor*innen ein ganz herzlicher Dank, die sich durch ein Gewebe aus Bandwurmsätzen gekämpft und viel Verworrenes entwirren konnten: meinen Cousinen Barbara und Elisabeth Kock, dem Kollegen Dr. Marcel Mehlem und meinem Vater Thomas Jaklitsch. Dass diese Arbeit entstehen konnte, verdankt sich im Wesentlichen meiner Familie, besonders meiner lieben Frau Stefanie Jaklitsch. Die Arbeit hat die bisherigen acht Jahre unserer Ehe begleitet. Dass sie uns nicht noch länger begleitet liegt daran, dass meine Frau mir bei meinen über mehrere Jahre verstreuten Arbeitseinheiten in meiner »Klausur« nicht nur immer den Rücken freigehalten, sondern vor allem auch den Rücken gestärkt und immer daran geglaubt hat, dass am Ende etwas halbwegs Sinnvolles herauskommen würde. Danke für alles! Für unsere gemeinsamen Erinnerungen und unsere gemeinsamen Traditionen, für alles, was wir gemeinsam tun und besonders für unsere gemeinsame Zukunft! Gewidmet ist dieses Buch dann auch der lebendigen und dynamischen familiären Traditions- und ErinnerungsgemeinschaJt, die mich umgibt: meinem Vater, meiner Frau und meinen Kindern.

Bochum am Fest der Verklärung des Herrn 2021, Alexander Jaklitsch

vi

In haltsverzeichn is 1

I 2

Prolog

Einführung und Verortung

15

21

Erinnerung und Tradition in der gebrochenen Moderne 23 2.1 Die Rede vom »Traditionsabbruch« und die Spuren des Traditionalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 23 2.1.1 Ursprungsbedingungen der Enttraditionalisierung .. 24 2.1.2 Wandel in religiöser Teilhabe und Glaubensvalidation 30 2.1.3 Traditionen und Posttraditionen 32 2.2 Eine Tradition von Traditionsbrüchen? . . . .. . 34 2.3 Postmoderne »Traditionalisten« . . . . . . . . . . 36 37 2.3.1 Der Traditionalismus des 19. Jahrhunderts 2.3.2 Das Traditionsverständnis der Piusbruderschaft 42 2.3.3 »Vereindeutigung« oder Ambiguitätstoleranz? 48 2.4 Erinnerung und Tradition in der (Post-)Moderne . . 55 2.4.1 Ge brochenheitserfahrung als Grundzug der (Post-)Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 55 2.4.2 Zwischen Neuerungsdruck und Gegenwartsschrumpfung 57 2.4.3 über Erinnerungskonjunktur . . . . . . . . . . . . . 61 2.5 Kulturwissenschaftliche Erinnerungstheorie - Chancen und Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 2.6 Diskussionsstand der theologischen Traditionstheorie . . . . 66 2.6.1 Loslösung vom traditionshermeneutischen Formalismus 66 2.6.2 Traditionsverständnis des 11. Vaticanums als Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 2.7 Tradition als Erinnerung . . . . . . . . . . . . . 101 2.7.1 Traditionsdynamik als gott-menschliche Dialogwirklichkeit . . . . . . . . . . . . 101 2.7.2 Verweyens Differenzierung von traditio/rrcxpa8oms . 102

vii

Inhaltsverzeichnis

2.7.3

11 3

4

viii

These: Traditionsdynamik als inspirierte, kontinuitäts(re )konstruktive Erinnerung angesichts der Gebrochenheit von Welt und Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . 104

Kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung Philosophische Konzepte des individuellen Gedächtnisses 3.1 Mneme und Anamnesis - Platon . . . . . . . . 3.1.1 Mneme als eingeprägte Erinnerung. . . . . . . . 3.1.2 Anamnesis als Erinnerung des Ewigen . . . . . . 3.2 Erinnerung als theologische-dialogische Selbsterkenntnis - Augustinus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Augustins epistemologischer Zugang. . . . . . . . 3.2.2 In den weiten Palästen des Gedächtnisses . . . . . 3.2.3 Zeitstruktur der Erinnerung - Erinnerungsstruktur der Zeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kulturwissenschaftliche Konzepte des kollektiven Gedächtnisses 4.1 Die Idee des kollektiven Gedächtnisses - Maurice Halbwachs . . 4.1.1 Cadre - Zur Bedeutung des Bezugsrahmens bei Halbwachs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Halbwachs' kollektivistischer Ansatz - Traum und Erinnerung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Erinnerungsbild und versprachlichte Erinnerung . . . . 4.1.4 Lokalisierung von Erinnerungen . . . . . . . . . . . . . 4.1.5 Erinnerung in ihrer Verwiesenheit auf konkrete Erinnerungsgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.6 Gesellschaftsveränderung und Erinnerungs(re)konstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.7 Der Doppelcharakter sozialer überzeugungen 4.2 Das kulturelle Gedächtnis - Jan Assmann . . . . . . . 4.2.1 Erinnerungskultur als kollektives Gedächtnis 4.2.2 Vergangenheits(re)konstruktion angesichts von Kontinuitätsbrüchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

111 113 113 114 115 120 121 122 128

129 129 131 134 137 138 138 142 148 150 151 152

Inhaltsverzeichnis

4.2.3

4.3

4.4

4.5

Kollektives Gedächtnis - soziale Vergangenheits(re)konstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.4 Die bei den Grundformen des kollektiven Gedächtnisses 4.2.5 Zusammenhang und Polarität von kommunikativem und kulturellem Gedächtnis . . . . . . . . . . 4.2.6 »Kalte« und »heiße« Gedächtnisoptionen . . . . . . . . 4.2.7 Schriftlichkeit und Kanon . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.8 Die Assmann'sche Erinnerungstheorie - eine kritische Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommunikatives Gedächtnis im Dialog mit biologischen Erkenntnissen - Harald Welzer 4.3.1 Soziales Gedächtnis. . . . . . . 4.3.2 Autobiographisches Gedächtnis 4.3.3 Kommunikatives Gedächtnis 4.3.4 Kommunikatives und kulturelles Gedächtnis. Gedächtnis, Identität und Geschichte(n) - Paul Ricceur 4.4.1 Die narrative Struktur des reflexiven Gedächtnisses. 4.4.2 Die narrative Struktur der Identität. . . . . . . . . . Formierung sozialer Gedächtnisse - Gerd Sebald / Jan Weyand. 4.5.1 Variierende und selektive Formierung . . . . 4.5.2 Authentizität von Erinnerungen. . . . . . . . 4.5.3 Formierung durch kommunikative Gattungen

III Bibeltheologische Annäherungen 5

Erinnerungstheologie im Alten Testament 5.1 Der deuteronomisch-deuteronomistische Erinnerungsimperativ 5.1.1 Die Kultreform Joschijas und die »Katastrophe des Vergessens« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2 Der Exodus als Erinnerungsfigur . . . . . . . . . . . . . 5.1.3 Babylonisches Exil und Perserzeit als Katalysatoren deuteronomistischen Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.4 Das Deuteronomium als Gründungstext religiöser Erinnerungskultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.5 Das SchdmaJisrael (Dln 6) als Paradigma deuteronomistischer Mnemotechnik . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

154 163 169 169 173 179 182 183 184 187 187 189 189 190 198 199 201 202

205 207 208 209 210 211 213

214

ix

Inhaltsverzeichnis

5.1.6

5.2

5.3 5.4

6

x

Bundestheologie und die Spuren altorientalischer Vasallenverträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1. 7 Die prophetische Öffnung des Deuteronomium (Dln 30,6) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Sintfluterzählung als kommunikatives Erinnerungsgeschehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Die Sintfluterzählung der Priestergrundschrift (Gen *6,9-9,29) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Die nicht-priester schriftliche Sintfluterzählung Die inhaltliche Mitte der Bundestheologie . . . . . . . . Schöpferische Erinnerung in den Psalmen . . . . . . . 5.4.1 Gottes schöpferische Erinnerung verleiht dem Menschen seine Würde (Ps 8) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.2 Die Heilsdramatik des Vergessens Gottes (Ps 13). . . . . 5.4.3 Narrative Erinnerung als Geschichts- und Gegenwartshermeneutik (Ps 78) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Erinnerungstheologie im Neuen Testament 6.1 Soziohistorische Rahmenbedingungen neutestamentlicher Erinnerungstheologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1 "Ich aber sage euch ... « - die Antithesen der Bergpredigt 6.1.2 Die konfessorische Dynamik neutestamentlicher Schriften. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Erinnerungstheologie im lukanischen Doppelwerk . . . . 6.2.1 Die »Erinnerungsformel« und ihre Verwendung 6.2.2 Die erinnernde Anknüpfung Gottes an seine Heilsgeschichte mit Israel im Magnifikat (Lk 1,46-55) 6.2.3 Die Verleugnung durch Petrus (Lk 22,61f. par) . . . . 6.2.4 Vorausweisende Auferstehungserinnerung am leeren Grab (Lk 24,5-8) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.5 Kornelius, Petrus und die verändernde Erinnerung (Apg 10,1-11,18) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Erinnerung im Johannesevangelium . . . . . . . . . . . . . 6.3.1 Erinnerung als mystagogische Glaubenshermeneutik (Joh 2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.2 Der Einzug Jesu in Jerusalem als repräsentatives Erinnerungsgeschehen (Joh 12,12-19) . . . . . . .

216 223 226 229 237 238 240 240 242 247 256 256 257 259 262 262 263 267 268 272 279 279 286

Inhaltsverzeichnis

6.3.3

6.4

Der Paraklet als Träger und Garant der Erinnerung 287 (Joh 14-16). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paradosis als innere Mitte der Erinnerungsdynamik . . . . 292 6.4.1 Das Bedeutungsspektrum von 1Icxpcx8l8cufll / 1Icxpa8oms im Neuen Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 6.4.2 Die Kette von Tradenten als Wahrung der Treue zum Ursprung (Lk 1,1-4) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 6.4.3 Das Abendmahl als Kulminationspunkt von Erinnerung und Tradition (lKor 11,17-34) . . . . . . . . . . . . . 294 6.4.4 Die lukanische Abendmahlserzählung (Lk 22,14-23) . 304

Systematischer Ertrag der biblischen Erinnerungstheologie

308

IV Theologische Modelle von Tradition und Erinnerung

315

8

319 319

7

9

Fundierende Traditionstheologie - Walter Kasper 8.1 Theologische und philosophische Grundlagen .. 8.1.1 Geschichte als Begegnungsraum von Freiheit(en) - Friedrich Wilhelm Joseph Schelling . . . . . . 8.1.2 Selbstoffenbarung und lebendige überlieferung - Johann Sebastian von Drey . . . . . . . . . . 8.1.3 Kirche als geistgewirkte, dynamisch-organische Traditionsgemeinschaft - Johann Adam Mähler 8.1.4 Weitere Einflüsse auf das Denken Kaspers .. . 8.2 Das 11. Vaticanum als Ausgangs- und Bezugspunkt .. . 8.2.1 Die (offene) Frage nach der Suffizienz der Bibel 8.2.2 Pastorale GrundeinsteIlung und geistliche Schrifthermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Das Spannungsverhältnis von Evangelium und Dogma 8.4 Bedeutung der Traditionskriterien bei Kasper 8.5 Tradition als Schrifthermeneutik . . . . . . . . . . . . 8.6 Pneumatologische und ekklesiologische Aspekte .. . 8.7 Kritische Würdigung der Traditionstheologie Kaspers

321 332 338 344 347 348 349 351 360 367 373 376

Der erinnerungstheologische Entwurf von Johann Baptist Metz 379 9.1 Der Paradigmenwechsel der Politische Theologie. . . . . . . . . 380

xi

Inhaltsverzeichnis

9.2 9.3

Subjektwerdung und Solidarität . . . . . . . . . . . . . . . Memoria passionis als Grundgestalt christlichen Glaubens. 9.3.1 Erinnerungsdynamik zwischen Anamnesis und christlicher memoria . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3.2 Memoria und immanente Eschatologie? . . . . . . 9.3.3 Die memoria als dogmatische und performative Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3.4 Menschheitsgeschichte als Leidensgeschichte 9.3.5 Memoria Jesu Christi als memoria passionis 9.3.6 Die Narrativität der Erinnerung . . . . . . . . Solidarität als Kategorie des Beistands . . . . . . . . . Theologie nach Auschwitz und anamnetische Vernunft Kritische Würdigung der Erinnerungstheologie Metz' .

396 398 403 406 409 410 416

Systematisch-theologische Konkretionen und Perspektiven

421

9.4 9.5 9.6

V

385 391 393 395

10 Tradition als Erinnerung 10.1 Tradition als kollektive Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1.1 Perspektiven eines Traditionsverständnisses als kollektive Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . 10.1.2 Eine trinitätstheologische Annäherung an kollektive Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Ebenen, Träger und Strukturen der Erinnerung. 10.2.1 Individuelles Gedächtnis 10.2.2 Kollektives Gedächtnis . . . . . . 10.2.3 Kulturelles Gedächtnis . . . . . . 10.3 Inspirierte und inspirierende Erinnerung 10.3.1 Bibellektüre als inspiriertes Geschehen. 10.3.2 Inspiration und narrative Identität der Kirche

423 423

11 Perspektiven 11.1 Erinnerung und Sakramentalität - Louis-Marie Chauvet 11.1.1 Sakramente als Gedächtnis Jesu Christi im Heiligen Geist . . . . . . . . . . . . . . . . 11.1.2 Eucharistie als Geste und Lernort der Oblatio

481 483

xii

424 431 437 437 445 457 467 469 471

483 486

Inhaltsverzeichnis

11.2 Theologie des kommunikativen Gedächtnisses - Alex Stock 11.2.1 Kommunikatives Gedächtnis als locus theologicus 11.2.2 Poiesis als inspirierte Emergenz . . 11.3 Kanonlogik als perspektivische Narration . . . . . 11.4 Inspirierte Bibellektüre . . . . . . . . . . . . . . . 11.5 Sensus fidei als Grundlage inspirierten Erinnerns

488 489 491 492 495 500

12 Tradition als inspirierte Erinnerung

507

13 Epilog

514

VI Verzeichnisse

517

14 Literatur 14.1 Literaturverzeichnis 14.2 Q1lellenverzeichnis . . . . . . . . . . 14.3 Verzeichnis lehramtlicher Dokumente

519 519 554 555

xiii

Nicht vergeblich hat die Flamme im Herd so vieler menschlicher Generationen gebrannt und gefunkelt; aber wir, die wir nicht stillstehen, die wir für ein neues Ideal kämpfen, wir sind die wahren Erben der Herde unserer Vorfahren: Wir haben daraus ihre Flamme geholt, ihr habt nur die Asche bewahrt.

- Jean Jaures'

1 Prolog Das Eröffnungswort von Jean Jaures - meist aphoristisch in der Form »Tradition heißt nicht Asche bewahren, sondern die Flamme am Leben erhalten« zitiert - zählt wohl zu den meistzitierten geflügelten Wörtern der zeitgenössischen (nicht ausschließlich) theologischen Auseinandersetzung mit dem Komplex von Fortschritt und Tradition, überlieferung und Gedächtnis. Gerade in einer Zeit, in der vermeintlich so viele Traditionsbrüche zu konstatieren sind und in der vielleicht zum ersten Mal die Folgen einer post-traditionalen Gesellschaft für Kirche und Theologie deutlich spürbar werden, haben sich Traditionen von einer lebensprägenden Selbstverständlichkeit zu einer Frage gewandelt, gar zu einer existenziellen Anfrage: »Wie hältst Du's mit der Tradition?« Schon das Zitat selbst und seine Nachgeschichte weisen auf die Grundmerkmale einer Frage nach Tradition und Erinnerung in post-traditionaler Zeit hin. Deswegen gibt es wohl kein anderes Zitat, das geeigneter wäre, am Anfang dieser Arbeit zu stehen. Das Zitat selbst eröffnet den Blick auf den komplexen Zusammenhang, für den die Begriffe Tradition(en), überlieferung oder Erinnerung stehen. Der Satz gewinnt als geflügeltes Wort eine orientierende ja bisweilen sogar lebensprägende Bedeutung, die ein »Energieträger« ist, mit dem »wir uns in der Welt orientieren und sie verschönern«, weshalb Krieghofer sie gar zum »Fundament unserer Tradition« rechnen kann, »obwohl wir seit der Erfindung der Schrift , Louis U~vy (Hrsg.): Jean Jaures. Aus seinen Reden und Schriften, übers. v. Grete Helfgott (= Große Gestalten des Sozialismus, Bd. 2), Wien 1949:47f.

15

Prolog

alte Weisheiten nicht mehr ausschließlich in unserem Gedächtnis bewahren« (Krieghofer 2017). In einem solchen Zitat artikuliert sich der Geltungsanspruch eines normativen Ursprungs, einer ursprünglichen Autorität, die der inhaltlichen Prägungskraft des Zitats auch noch eine gewissermaßen äußere Autorität verleihen. Wundersam ist an solchen Zitaten aber auch die »Evolution, die eine Metapher im Laufe von ein paar Generationen nimmt« (Krieghofer 2017). Unser Zitat hat gerade in den letzten Jahren geradezu Konjunktur, wird gerne und oft verwendet, wobei interessanterweise viele verschiedene Urheber für dieses Zitat in Anspruch genommen werden. Zu diesen vermeintlichen Urhebern zählen neben Gustav Mahler auch Thomas Morus, Benjamin FrankIin, Konfuzius, Ricarda Huch und auch Papst Johannes XXIII., bei ihm ist das Zitat interessanterweise »nur auf Deutsch« belegt, »in italienischen Zeitungen und Büchern« dagegen nicht aufzufinden (Krieghofer 2017). Tatsächlich stammt das Zitat aus einer Rede des französischen sozialistischen Politikers Jean Jaures aus dem Jahr 1910 und aus dem Zusammenhang einer Auseinandersetzung, die um die Jahrhundertwende 1900 nicht nur, aber gerade auch in Frankreich sowohl im politischen als auch im theologischen Diskurs als Richtungsstreit zwischen Traditionalismus und Modernismus die Debatten geprägt hat und teilweise bis heute - wenn auch natürlich mit leicht modifizierter Fragestellung - prägt. Für Jaures besteht »die richtige Art, die Vergangenheit zu betrachten« darin, »das Werk der lebendigen Kräfte, die in der Vergangenheit gewirkt haben, in die Zukunft weiterzuführen« Gaures 1949:47) gegen eine pietätvolle Verehrung der Vergangenheit, die zu einem Erstarren, einer Unbeweglichkeit führt. Zwei Bilder sind für das Traditionsverständnis von Jaures in seiner Rede prägend: Neben dem Bildpaar Glut - Asche im eingangs zitierten geflügelten Wort ist es das gewissermaßen organische Verständnis von Fluss und ~uelle. So betont Jaures: »wir tragen die Vergangenheit treu in uns, so wie der Fluß die Q1lelle treu in sich trägt, indem er zum Meere strömt« Gaures 1949:47). Die eigentliche Bedeutung des Zitats liegt in dieser ihm innewohnenden Traditionshermeneutik. Der gesellschaftliche Fortschritt, den der Sozialist Jaures in seiner Rede beschwört, besitzt einen grundlegenden Rückgriff auf Tradition und Geschichte, jedoch in Form einer Neuaneignung der Tradition (Q1lelle) ausgehend von den konkreten Bedürfnissen des Jetzt und gleichzeitig im Blick auf die Zukunft, gedacht als Ziel (Meer) eines sich weiterentwickelnden Lebensprozesses (Fluss). Solchermaßen zeigt sich ein dynamisches und gewissermaßen dialogisch-kommunikatives Verständnis von Tradition. Ursprünglich hätte dieses Zitat nicht den Anfangspunkt dieser Arbeit bilden

16

Prolog

sollen. überhaupt schien es mir nicht in besonders origineller Weise etwas über das auf den folgenden Seiten dargelegte Verständnis von Tradition als inspirierte Erinnerung auszusagen. Ich habe es dann aber an einem konkreten Erinnerungsort (wieder-)entdeckt, wie es wohl mit Tradition und Erinnerung so oft geschieht. Beginnen möchte ich diese Arbeit deshalb mit einer kurzen Besinnung über diesen sehr konkreten Erinnerungstopos, der etwas mit der Entstehung dieser Arbeit und im wahrsten Sinne Ihrer Verortung zu tun hat, liegt dieser Ort doch mitten in dem Bereich, in dem ich seit einigen Jahren als Pastoralreferent tätig bin. Die Rede ist von der Kunstinstallation »Fünf Tore« von Ludger Hinse. »Fünf Tore« von Ludger Hinse Die Installation Fünf Tore aus dem Zyklus »Licht des Stahls« des Recklinghäuser Künstlers LUDGER HINSE (*1948) - ganz in der Nähe einer großen Bochumer Ausfallstraße gelegen - setzt sich aus fünf Bögen zusammen, die aus sogenannten Toussaint-Heintzmann-Profilen bestehen und jeweils oben einen Bogen aus leuchtend gelbem Plexiglas tragen. Angeregt worden ist die Installation von einem traditionsreichen Bochumer Bergbauzulieferer. Die Profile, die in erster Linie für den Grubenausbau dienten und heute unter anderem noch im Tunnelbau eingesetzt werden, sind gewissermaßen gegen ihren gewöhnlichen Verwendungszweck und ihren ursprünglichen Ort oberirdisch installiert, bilden in dieser ihrer alt-hergebrachten Form ganz neue offene Bögen - Tore über der Erde - in einem völlig veränderten Kontext. Entstanden als Beitrag zum Kulturhauptstadtjahr Ruhr2010 ist die Installation eines der Symbole des kulturellen Wandels einer ganzen Region geworden. Wandel aber - so legen es die »FünfTore« nahe - ereignet sich gerade konstitutiv unter Einbezug der Tradition, des geschichtlichen Geworden- und Geprägt-Seins einer Region, anders gesagt: ihrer Erinnerung und deren Artefakte. Die fast schon verblichene Erinnerung wird zum Material, aus dem Gegenwart und Zukunft aufgebaut werden und nur dadurch bleibt sie vor dem Vergessen bewahrt. Diese Erinnerung ist aber nicht museal oder im Sinne eines einfach figürlichen Denkmals, sie eröffnet Räume, in denen man sich bewegen kann. Sie wird zur beständigen Frage, zur Anfrage an die Gegenwart. Sie ist eine »Metapher für >restaurative< Rekonstruktion, weil sie eine poetische Umgebung der Versöhnung mit der Geschichte erzeugt« (Tielve Garda 2015:246; übers. AJ). Die Auseinandersetzung Ludger Hinses mit Stahl und Licht, mit Bergbau und Tradition, ist nun auf leuchtenden Plexiglasbögen überschrieben mit dem ein-

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Prolog

gangs erwähnten Zitat von ]ean ]aures. Der Text ist verteilt auf alle fünf Bögen, einerseits gebrochen, einladend, durch die einzelnen Bögen hindurchzugehen, den Erlebnisraum zu betreten und gleichzeitig einladend, das in einzelne (Bruch)Stücke aufgeteilte Zitat wieder zusammenzufügen, aktiv und nicht rein passivrezipierend. Für Hinse selbst bedeutet das Hindurchgehen durch die Tore, »aus der Vergangenheit in die Moderne [zu] gehen und die alten Traditionen [zu] akzeptieren und weiter[zu]entwickeln, ohne sich ihrer zu schämen« (Hin se 2010). Schon daran wird deutlich, wie sehr die Skulptur durch die zitierte Rede von ]aures geprägt ist, wie sie ihr gewissermaßen eine wahrnehmbare Gestalt, einen begehbaren Erinnerungsort eröffnet, »eine Umgebung, der es darum geht, zu interpretieren und zu problematisieren mit dem Ziel, den Betrachter zum Komplizen zu machen und ihn am Projekt teilnehmen zu lassen« (Tielve Garda 2015:246; übers. AJ). Interessanterweise - und das ist ein weiterer Aspekt - ist diese Wandlungsfähigkeit schon im Material der Profile selbst angelegt. Sie sind beweglich und nicht starr, sie können auf Druckveränderungen reagieren, ohne ihre Schutzfunktion einzubüßen. In den Artefakten der Erinnerung, die Ludger Hinse für seine Installation ausgewählt hat, deutet sich damit die Perspektivenvielfalt an, die die Auseinandersetzung mit Tradition und Erinnerung in der Moderne und Postmoderne prägt: Wandel und Erinnerung, Plastizität und Schutz, Bewahren und Erneuern, die kreative Kombination von Erinnerungs-Artefakten, die Herausforderung sie neu aktiv zu kombinieren und dabei neu zu verstehen, ist hier erfahr bar und zugänglich. Gleichzeitig ist aber auch das Spannungsfeld von Wandlung und Schutzfunktion von Traditionen schon vorgezeichnet. Die spannungsreiche Installation von Ludger Hinse soll deshalb Anfangspunkt der Auseinandersetzung mit Tradition und Erinnerung sein, verbunden mit der Einladung, diesen besonderen Erinnerungsort zu besuchen, der ein intuitives Verstehen dessen ermöglicht, was Umgang mit Tradition bedeutet oder zumindest bedeuten kann. Diese Erfahrung steht dann in deutlicher Spannung zu jener in Kirche und Theologie heute immer noch wiederholten Rede vom »Traditionsabbruch«, der immer geradezu als existenzbedrohendes Damoklesschwert über der heutigen Kirche und Theologie zu schweben scheint. Es wird zu zeigen sein, dass die Rede von einem Traditionsabbruch eine Vereinfachung bedeutet, hinter der im Grunde ein reduktionistisches Traditionsverständnis steckt, dessen Grundanliegen und sprachlich-kommunikative Fokussierung - die auch für einen zeitgemäßen Traditionsbegriff nicht einfach außer Acht gelassen werden können - aus einer ganz spezifisch modernen Auseinandersetzung stammen.

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Prolog

Es wird hier zu zeigen sein, dass sich in der heutigen Situation sehr wohl eine ganze Reihe Brüche ausmachen lassen, die allerdings nicht als Abbruch einer materialistisch oder formalistisch verstanden vorher jahrhundertelang ungebrochenen Tradition zu verstehen sind, sondern zentral zum (post)modernen Wirklichkeitsverständnis gehören, zu Kirche und Theologie, die sich in der nachkonstantinischen Ara des Christentums neu verorten müssen (vgl. Knapp 2006:244247 und Knapp 2015:233). Ein zentraler Bruch ist dabei die gebrochene (retrospektive) Zeiterfahrung, die sich insbesondere in einem Auseinanderbrechen von erinnernder (traditionaler) und geschichtswissenschaftlicher Vergangenheitsperspektive Ausdruck verschafft. Dieser Bruch zwischen Tradition (Erinnerung) und Geschichtswissenschaft muss jedoch in ein neues, wenn auch spannungsreiches, dialogisches Miteinander integriert werden. Nicht zuletzt im Umfeld der Diskussionen um die Herausforderungen der Moderne an Kirche und Theologie zeigt sich, dass der Begriff der Tradition nach wie vor ein Streitbegriff ist, und so ist Karsten Dittmann zuzustimmen, wenn er im Hinblick auf die Diskussionsteilnehmer bemerkt: "Das Problem ist allerdings«, dass alle Diskussionparteien »den Traditionsbegriff zwar oft verwenden, an keiner Stelle aber angemessen explizieren« (Dittmann 2004:12). Diesem latenten Problem wird nur durch eine gründliche Relecture biblischer Erinnerungstheologie, traditions- und erinnerungstheologischer Entwürfe und schließlich des lehramtlichen Verständnisses der Traditionsdynamik, wie sie das 11. Vaticanum in der Offenbarungskonstitution Dei Verbum entwickelt, zu begegnen sein. Der Zielpunkt ist dabei, dass Tradition als inspirierte Erinnerung verstanden werden soll. In einem ersten Schritt wird es darum gehen, die Paradigmen einer heutigen Auseinandersetzung mit der Tradition vor dem Hintergrund des aktuellen theologischen Diskussionsstandes zu beleuchten und dabei auch darauf hinzuweisen, wie der Diskurs um das kollektive Gedächtnis hier zu einer Klärung und Differenzierung beitragen kann. Exemplarisch lässt sich das reduktionistische Verständnis von Tradition an der Diskussion um die Hermeneutik des Zweiten Vatikanischen Konzils ablesen (vgl. unten 2.6.2.7, S. 97ff.), die in der Regel in den Dual von Kontinuität oder Bruch eingeordnet wird. Dabei erscheint die Rede von der Tradition stark durch ein spezifisches (traditionalistisches) Grundverständnis geprägt, das selbst aus einer Auseinandersetzung um die Bedeutung und Wertigkeit der Tradition im Umfeld der Französischen Revolution stammt und das auch schon im Eingangszitat von Jaures Hintergrundfolie der Auseinandersetzung war. Zu Anfang sollen jedoch exemplarisch die Problemkonstellationen in (religions)soziologischer

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Prolog

Perspektive umrissen werden, um anschließend zunächst sowohl die Frage nach den traditionalistischen Wurzeln des heutigen Traditionsverständnisses als auch jene nach der spezifischen Bruch-Erfahrung Moderne bzw. der Postmoderne zu erörtern. Das alles dient der Ver ortung und Vorbereitung dessen, was dann in dieser Arbeit folgt. Nach der Verortung in der innerkirchlichen Auseinandersetzung um das Traditionsverständnis folgt die Einordnung in die beiden relevanten Forschungsdiskurse, einerseits in den fundamentaltheologischen Traditionsdiskurs (wie er vorwiegend in der römisch-katholischen Theologie geführt wird) und andererseits den kulturwissenschaftlichen Erinnerungsdiskurs. Grundsätzlich geht diese Arbeit davon aus, dass zentrale Erkenntnisse des Erinnerungsdiskurses in den Traditionsdiskurs eingespeist werden können. Zentral geht es dabei um die Konzeption des kollektiven Gedächtnisses (Maurice Halbwachs) und seiner Ausdifferenzierung und damit der Verhältnisbestimmung zwischen einem kommunikativen und einem kulturellen Gedächtnis (Jan Assmann). Dem theologischen Diskurs weitet dies die Perspektive und ermöglicht in Adäquatheit zum geschichtlichen, kommunikativen und partizipativen Offenbarungsverständnis des Zweiten Vatikanischen Konzils einen geschichtlichen und kommunikativen Traditionsbegrijf im Zueinander des Zeugnisses der Heiligen Schrift und der verschiedenen christlich-kirchlichen Traditionen.

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Teil I

Einführung und Verortung

In dem einen Sinne ist Erinnerung ein ungeschickter Ausdruck: und zwar in dem, daß man eine Vorstellung reproducire, die man zu einer anderen Zeit schon gehabt hat. Aber Erinnerung hat auch einen anderen Sinn, den die Etymologie giebt, - den: Sich innerlich machen, Insichgehen; dieß ist der tiefe Gedankensinn des Worts.

- Georg F. W. Hege)'

2 Erinnerung und Tradition in der gebrochenen Moderne FRANZ-XAvER KAUFMANN widmet sich in seinem Buch "Kirchenkrise - Wie überlebt das Christentum?« unter soziologischen Vorzeichen der Fragestellung, ob es »in der Modernisierung Faktoren [gibt], die einer Fortsetzung christlicher Traditionen in spezifischer Weise entgegenstehen« (Kaufmann 2011:9). Schon durch die Themenwahl wird also deutlich, dass der Begriff der Tradition für Kaufmann in diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle spielt. Programmatisch beginnt Kaufmann so auch sein erstes Kapitel unter der überschrift» Traditionsabbrüche« eine Analyse der Moderne, die er einerseits geprägt sieht durch die steigende Bedeutung der empirischen Wissenschaften und deren »zunehmendes Gewicht hinsichtlich der öffentlichen Daseinsdeutung« sowie den Trend der »Säkularisierung«, bei der ein »eklatanter Abbruch religiöser Traditionen in beiden Konfessionen zu beobachten [ist], der auch die Existenz der Kirchen in ihrer bisherigen Verfassung bedroht« (Kaufmann 2011:13).

2.1 Die Rede vom »Traditionsabbruch« und die Spuren des Traditionalismus Seine These vom »Traditionsabbruch« belegt er zunächst durch den Verweis auf statistische Trends. Darunter zählt er wesentlich die »wachsende Konfessions'Georg F. W. Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie 1,1 (1816-1830)

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2 Erinnerung und Tradition in der gebrochenen Moderne

losigkeit«, die »auf einen ganz spezifischen Zusammenhang mit modernisierenden Lebensbedingungen« (Kaufmann 2011 :16) und damit ein viel tiefgründigeres Problem verweisen. Daneben prägt vor allem die »weitgehende Irrelevanz der Kirchen« (Kaufmann 2011:17) die moderne Situation. Von diesen soziologischen Trends aus entwickelt Kaufmann seine Frage nach denjenigen Faktoren, die »der Fortsetzung christlicher Traditionen in spezifischer Weise entgegenstehen« (Kaufmann 2011:17).

2.1.1 Ursprungs bedingungen der Enttraditional isierung Nach einer ausführlichen Betrachtung der Faktoren, die die Ausbreitung des Christentums in der Antike begünstigt haben, fragt Kaufmann zunächst nach dem Zusammenhang zwischen der Aufklärung und dem Relevanz- und Traditionsverlust des Christentums. Die grundlegenden Typen der sozialwissenschaftlichen Deutung der Aufklärung 1 stimmen für Kaufmann darin überein, dass sie »das Ende der vernunftgemäßen Macht christlichen Glaubens und christlicher Weltdeutungen konstatieren«, jedoch lässt sich eine »fortdauernde Wirksamkeit der christlichen Konfessionen in Europa erkennen« und es muss so fest1

Kaufmann unterscheidet zwei grundsätzliche Typen der sozialwissenschaftlichen Deutung der Aufklärung. Für den einen Deutungstyp verweist er auf Auguste Comte, der die Entwicklung des menschlichen Geistes in drei zeitlich aufeinanderfolgende Stadien - ein theologisches, ein metaphysisches und ein positives Stadium - unterteilt. hn positiven Stadium tritt an die Stelle der Religion der :»GlaubeD an die menschliche Vernunft und ihre Fähigkeit, die Gesetze der Welt zu erkennen und sie für rational gestaltendes Handeln nutzbar zu machen« (Kaufmann 2011:73), sodass das Christentum scheinbar nur ,>in einer übergangsphase der Enttramtionalisierung und des übergangs zur Moderne [als] hilfreich« (Kaufmann 2011:18) erscheint. Max Weber - bei dem Kaufmann den zweiten soziologischen Deutungstyp der Aufklärung verortet - bezeichnet die Vorgeschichte der Aufklärung als ,>Entzauberung der Welt«, betont dabei jedoch die ,>Bedeutung des Monotheismus für die Entstehung des modernen Rationalismus« (Kaufmann 2011:73). Während dieses Prozesses der Rationalisierung ergibt sich ein ,>fortschreitendes AuseinanderdrITten zwischen Wissenschaft und Religion«, wodurch die Religion ,>zunehmend aus dem Bereich des Rationalen ins Irrationale verdrängt« und damit ,>zur irrationale[n] oder antirationale[n] überpersönliche[n] Macht schlechthin« wird (Kaufmann 2011:73).

Den Unterschied der beiden Positionen verortet Kaufmann darin, dass für Comte die Aufklärung ,>das Ende eines millenären Emanzipationsprozesses und den Begirm eines neuen, stabilen Zeitalters darstellt« (Kaufmann 2011:74), während für Weber die Entzauberung der Welt ,>nicht in das Reich der Freiheit, sondern in das ,eherne Gehäuse der Hörigkeitgleichzeitig seine weltgestaltende Potenz« verliert (Kaufmann 2011:75).

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2.1 Die Rede vom »Traditionsabbruch« und die Spuren des Traditionalismus

gehalten werden, >,dass sich in Reaktion auf die Aufklärung das Christentum in seinen verschiedenen Bekenntnissen auch in Europa erneut vitalisierte und nachhaltigen Einfluss auf die nunmehr vom Grundsatz der Nationalstaatlichkeit geprägte Geschichte genommen hat« (Kaufmann 2011:74f.). Die heutigen soziologischen Negativ-Trends hängen also nicht in erster Linie mit der Aufklärung zusammen und sind damit auch nicht unabwendbar. Andere Faktoren sind entscheidend. Zu diesen Faktoren zählt Kaufmann zunächst ganz wesentlich die »Säkularisierung«', die für ihn »in der Perspektive funktions orientierter Gesellschaftsdifferenzierung«3 (Kaufmann 2011:84) in der (Post-)Moderne interpretiert werden muss. Säkularisierung beinhaltet damit grundsätzlich zwei Aspekte: zunächst die 1.) »institutionelle[] Spezialisierung der Kirchen«, die Kaufmann auch als »Verkirchlichung des Christentums«4 bezeichnet und 2.) die »Privatisierung der Diese einfach als »Enteignung der christlichen Tradition durch die Aufklärung und damit [als] eine ,Kategorie historischen Umechts«< zu bezeichnen - so weist Kaufmann unter Verweis auf Hans Blumenberg hin - wird der »eigenständigen Legitimität der Neuzeit« nicht gerecht (Kaufmarm 2011:77). 3 hn Zuge der Modernisierung wird die ;.>Annahme einer auf unveräußerlichen Individualrechten und der grundsätzlichen Gleichheit aller Bürger gegründeten politischen Ordnung« (Kaufmann 2011:82) prägend, in der die Rechte primär als Freiheitsrechte verstanden werden. Daraus folgt der wesentliche Zug moderner Gesellschaften, nämlich ihre :»Strukturierung in der Form ausdifferenzierter, funktionsorientierter Teilsysteme wie Wirtschaft, Politik, Wissenschaft oder Religion« (Kaufmann 2011:82). In der Zusammenwirkung zwischen französischer Revolution und der beginnenden Industrialisierung entstehenden :»funktionsorientierte Differenzierungen« parallel zur Auflösung der :»ständisch geschichteten Gesellschaftsordnung« (Kaufmann 2011:83). Diese Entwicklung bildet - so schreibt Kaufmann unter Verweis auf Niklas Luhmann - den :»Kernprozess jener Transformation der Gesellschaftsstrukturen [... ], die wir heute als :>Modernisierung< bezeichnen« und wird getragen von der :»Bildung organisierter kollektiver Akteure« (Kaufmann 2011 :83f.) Insofern herrscht in der (Post-)Moderne eine :»wechselseitigeD Indifferenz der gesellschaftlichen Teilsysteme [... ], die sich als strukturelle Rücksichtslosigkeit auswirken kann« (Kaufmann 2011:84). Das ist der Kontext für die Deutung des Begriffs der Säkularisierung. Nur in dieser :»differnzierungstheoretischen Betrachtungsweise« kann Säkularisierung als :»Verdrängung der kirchlichen Autorität aus den Bereichen weltlicher Herrschaft« verstanden werden (Kaufmann 2011:85). Dies meint aber gerade nicht eine bewusste, generell ablehnende Haltung der (Post-)Moderne gegenüber der Religion. 4 Diese Verkirchlichung des Christentums steht im Zusammenhang damit, dass das Christentumkeine :»die gesamten Lebensverhältnisse umfassende symbolische Sinnwelt« mehr vorgibt, sondern :»seinen spezifischen Ort in den :>Kirchenproblemorientierte Ehevorbereitung und beratende Angebote der Ehebegleitung und Scheidungsprophylaxe« versteht (Kaufmann 2011:121).

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2.1 Die Rede vom »Traditionsabbruch« und die Spuren des Traditionalismus

hung eines globalen Bewusstseins, das die ganze Welt als Zusammenhang begreift«, beschreibt (Kaufmann 2011:123). Die Frage der Globalisierung ist auch für die Frage nach der Bedeutung von Tradition und Traditionen entscheidend und zwar näherhin als Frage, inwieweit sie im Dialog mit den anderen Weltreligionen »zur Schaffung eines normativen Weltbewusstseins beitragen« (Kaufmann 2011:123) können. Hinsichtlich der Präsenz auf der Individualebene geht Kaufmann auf einen Zusammenhang ein, der speziell für die Frage nach einer Theorie und Theologie der Tradition heute bedeutsam ist. Zunächst weist er daraufhin, dass die trinitätstheologischen Vorstellungen zwar »biblischen Ursprungs« sind und den »expliziten Gehalt des christlichen Glaubensbekenntnisses bestimmt« haben, sie jedoch nicht stets »das kollektive Gedächtnis der Christen geprägt« haben (Kaufmann 2011:124). Vielmehr hat man sich entweder an verschiedenen biblischen Aspekten des Lebens jesu (Kaufmann nennt hier beispielhaft: Geburt, Kreuzigung, Auferstehung oder auch die Wunder jesu) oder an »nicht-biblischen Ereignissen wie dem Leben der Heiligen orientiert« (Kaufmann 2011:124). Dabei hält er fest: »Das Christentum lagerte sich in uns heute manchmal wunderlich anmutenden Verbindungen mit anderen Kulturelementen in die Lebensformen der Menschen ein« (Kaufmann 2011:124). Hiermit berührt er die zentrale Frage, dass die Tradition von Inhalten in eine Zeit immer auch ein wechselseitiges Geschehen ist, das Interpretamente der eigenen (biblischen) Tradition in die Tradition selbst aufnimmt. Darin liegt schon ein erster Hinweis darauf, dass Tradition nicht als vollkommen passives Geschehen verstanden werden kann. Kaufmann verweist auf die Problematik, dass es vor allem die »lebensweltlichen Stützen [sind], welche heute der Tradierung des christlichen Glaubens abhanden gekommen sind« (Kaufmann 2011:124). Das Christentum müsse deshalb seine zentralen Inhalte (er denkt hier in erster Linie an die Trinitätstheologie) neu zur Sprache bringen. Auch hält er fest, dass heute weniger die den »Tages-, jahres- und Lebenslauf strukturierenden kirchlichen Ereignisse«, sondern vielmehr »ein Akt persönlicher Bekehrung« für das Christ-Bleiben heute vonnöten ist (Kaufmann 2011:125). Dabei greift er auf den Gedanken der Mystagogie bei Karl Rahner zurück und betont die Bedeutung religiöser Erfahrungen!'. Wesent12

Auffallend ist dabei der Hang zu einer verharmlosenden Darstellung des Fundamentalismus, den er einzig als radikalen Verzicht auf die ,>vielfältige [n] Optionen« beschreibt, durch die sich »Entscheidungssituationen [ ...] auf ausschließlich religiöse Kriterien« hin vereinfachen lassen (Kaufmann 2011:126). So parallelisiert Kaufmann den Fundamentalismus mit der ,>Wahl eines asketischen Lebens in Einsamkeit« in der Antike und insofern könne auch freiwillige :»Aske-

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2 Erinnerung und Tradition in der gebrochenen Moderne

lieh bleibt für Kaufmann, >,dass religiöse Erneuerung nur dort zu erwarten« ist, »wo christliches Engagement sich in Probleme lösender Weise plausibel machen lässt«, was er durchaus als im Einklang mit der (Post-)Moderne versteht (Kaufmann 2011:126). Aufseiten der Kirche bedürfe es dafür aber »größerer Imagination und Beweglichkeit« (Kaufmann 2011:126). Für religiöse Renaissancen sieht Kaufmann dabei eine Chance »in der Form christlich inspirierter religiös-sozialer Bewegungen«, die es in der Geschichte des Christentums durchaus gegeben hat, die sich »aller Voraussicht nach eher am Rande als im organisierten Kernbereich der Kirchen ereignen« würden und sich an »Themen entzünden, die von den etablierten Gesellschaftsgruppen verdrängt werden« (Kaufmann 2011:127).

2.1.2 Wandel in religiöser Teilhabe und Glaubensvalidation Während religionssoziologisch betrachtet »[d]ie >Figur des regelmäßig Praktizierenden< [... ] in vielerlei Hinsicht - ungeachtet der weithin festgestellten Dissoziierung zwischen der Glaubensvorstellung und der Zugehörigkeit [zu einer Glaubensgemeinschaft] - die maßgebliche Figur der religiösen Teilhabe« (Hervieu-Leger 2004:62) bleibt, wird diese Form der Teilhabe jedoch unaufhaltsam - so führt DANIELE HERVIEu-LEGER aus - durch andere Teilhabeformen ergänzt. Hervieu-Leger nennt sie Pilger und Konvertiten. Der Pilger ist dabei die »typische Figur der Religion in Bewegung« und zwar einerseits insofern er »metaphorisch auf den verschwimmenden Charakter der individuellen spirituellen Entwicklungsverläufe [verweist], die sich unter gewissen Bedingungen als religiöse Identifikationswege gestalten«, und andererseits, weil er »einer Form der religiösen Gemeinschaftbildung« entspricht, die »im Zeichen von Mobilität und Bindung auf Zeit entsteht« (Hervieu-Leger 2004:65). Ein solcher Pilger ist ganz von dem Impetus geleitet, dass er »die Bedeutung seiner eigenen Existenz im Rahmen der verschiedenen Situationen, die e[r] durchlebt, in Abhängigkeit von seinen eigenen Ressourcen und Bedingungen selbst erzeugen muss« (HervieuLeger 2004:65). Beispielhaft dafür sind Hervieu-Leger zufolge etwa die Besucher se [ ... ] gerade in der Situation einer überfluss gesellschaft durchaus religiöse Zeichen setzen« (Kaufmann 2011:126). Dabei übersieht er jedoch, dass der Fundamentalismus nicht nur einen Verzicht auf andere Optionen beinhaltet, sondern in der Regel mit einer Leugnung der anderen Optionen und damit eine Verweigerung der Rechenschaft vor einer von allen Diskursteilnehmem prinzipiell teilbaren Vernunft einhergeht.

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2.1 Die Rede vom »Traditionsabbruch« und die Spuren des Traditionalismus

und Gäste der Gemeinschaft von Taize, während die katholischen Weltjugendtage geradezu eine Institutionalisierung dieser Pilger-Spiritualität versuchen. Der Konvertit ist in Ergänzung dieser Pilger-Spiritualität gewissermaßen das Paradigma des »Prozesses der Bildung religiöser Identitäten in diesem Bewegungskontext« (Hervieu-Leger 2004:81). So geht es bei Konversionen sowohl um den Wechsel der Religion (von einer Religion, in die man hineingeboren wurde zu einer anderen), die Entscheidung für eine Religion (wenn man konfessionslos geboren worden ist) oder aber die bewusste Wiederentdeckung der eigenen Religion (vgl. Hervieu-Leger 2004:82-85). Eine solche Figur des Konvertiten setze sich dabei nicht nur in kleineren religiösen Gemeinschaften, sondern auch in den großen religiösen Institutionen zunehmend als »die beispielhafte Figur des Gläubigen durch[]«, weil sich in der Bekehrung die »moderne Aufwertung der individuellen Unabhängigkeit« mit der »Idee einer intensiven religiösen Verpflichtung, die die Echtheit der persönlichen Entscheidung des Individuums bestätigt«, verbinden lässt (Hervieu-Leger 2004:101). Letztlich kommt dabei der Authentizität einer Person und ihrer religiösen Erfahrung eine zentrale Bedeutung zu. Es ist also die individuelle Aneignung der Vorgaben oder Möglichkeiten der jeweiligen religiösen Tradition, die das Wesen postmoderner Religiosität ausmacht. Das ist - in einer klassischen Formulierung von Kar! Rahner - der Mystiker, »einer, der etwas >erfahren< hat«, der Religiöse nicht bloß der Zukunft, sondern des Heute (Rahner 1966:22). Diese Erfahrung ist gerade mit der autobiographischen Relevanz verbunden, die zur Herausforderung theologisch-kirchlicher Sprachfähigkeit wird. Hervieu-Leger unterscheidet im Blick auf die neue Vergemeinschaftung des Glaubens - über die Unterscheidung von Kirche und Sekte bei Ernst Troeltsch hinaus, die sie aufnimmt (vgl. Hervieu-Leger 2004:133-139) - verschiedene Formen der Glaubensvalidation. Es ist dabei nicht - wie man in einer Zuspitzung der Individualisierungstendenzen der Moderne vermuten könnte - die Glaubensautovalidation, in der der Einzelne »niemandem außer sich selbst die Fähigkeit zugesteht, die Wahrheit seines Glaubens zu beurteilen« (Hervieu-Leger 2004:125), also letztlich die Vermeidung religiöser Vergemeinschaftung und die Vereinzelung, die die religiösen Identitätsbildungsprozesse der Postmoderne prägt, wohl aber neue Formen der Vergemeinschaftung. Denn es ist die wechselseitige Glaubensvalidation, die sich »auf das persönliche Bekenntnis, den Austausch individueller Erfahrungen und unter Umständen auf die Suche nach Wegen zu ihrer kollektiven Vertiefung gründet« (Hervieu-Leger 2004:126). Damit wird der An-

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2 Erinnerung und Tradition in der gebrochenen Moderne

dere zur Validationsinstanz und es geht im Kern um die Authentizität des Glaubenden bzw. die gemeinschaftliche Glaubensvalidation. In dieser Form der Glaubensvalidation wird die Kohärenz innerhalb einer Gruppe zum entscheidenden Kriterium, das die traditionelle institutionelle Glaubensvalidation ergänzt (vgl. Hervieu-Leger 2004:123-136). Damit wird das klassische Verständnis der Glaubenssequenz (vgl. HervieuLeger 2004:10-14), also die Vorstellung einer historischen Kontinuität oder eines roten Fadens der Glaubensüberlieferung, insoweit ergänzt, als die Gläubigen sich selbst und aus freier Entscheidung in die »Kette des Glaubensgedächtnisses« (Hervieu-Leger 2004:11) einschreiben und nicht mehr auf eine ihnen gegenüber äußere, institutionelle Kontinuität verwiesen sind. In den religiösen Teilhabeformen der Pilger und Konvertiten liegt es also begründet, dass religiöse Gemeinschaften (und Erinnerungsgruppen innerhalb dieser Gemeinschaften) nicht mehr hauptsächlich auf institutionellem Weg, sondern im kommunikativen Miteinander von individuellen und kollektiven Gedächtnissen ihre Identität rekonstruieren und rekonfigurieren. 2.1.3 Traditionen und Posttraditionen

Die These von der neuen Relevanz von Traditionen lässt sich hier noch einmal deutlicher erhärten. Posttraditionale Gemeinschaften - so führt Yvonne Niekrenz aus - sind geradezu »auf die (Wieder-) Erfindung von Traditionen angewiesen, um eine Gruppenkohäsion zu beleben oder aufrechtzuerhalten« (Niekrenz 2013 :231). Entscheidend ist dabei jedoch, dass sie eine Transformation zu von ihr so genannten Posttraditionen erfahren, sie werden »fragmentiert oder dekontextualisiert, rationalisiert oder kommerzialisiert« (Niekrenz 2013:231). Dabei findet sich in der Regel ein pluriformes Nebeneinander von Traditionen und Posttraditionen. Heutigen spirituellen Vergemeinschaftungsformen geht es zentral um »Affektivität und Leidenschaft«, die »zur Erfindung eigener Rituale und Traditionen bei[tragen]«, es geht um eine »Sehnsucht nach Kontinuität, Beständigkeit und Orientierung in einer Zeit, die immer unsicherer und flüchtiger wird« (Niekrenz 2013:232). Traditionen undPosttraditionen sind »performativer Ausdruck des Versuchs, Vergangenheit und Zukunft im Heute zu verbinden« und »symbolisieren eine Haltung des >sowohl-als-auchPosttraditionen< und diesen beiden Mustern von Sozialität« (Niekrenz 2013:238). Wichtig ist dabei, dass die Traditionserosion kein unumkehrbarer Prozess ist, Traditionen vielmehr »durchaus wieder eingebettet werden und eine Aufladung mit Werten und Moral erfahren« (Niekrenz 2013:239) können. Eine Schwierigkeit liegt dabei auf der Ebene der Kommunikation: »echte« Traditionen »mit ihrer implementierten Moral und ihrer Autorität [werden] fast ausschließlich in der direkten Begegnung« weitergegeben, weshalb sie für eine

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2 Erinnerung und Tradition in der gebrochenen Moderne

posttraditionale Gemeinschaft >>nur eine geringe Innovations- und Anziehungskraft aus [üben] und [... ] fast keine Rolle« spielen (Niekrenz 2013:240). Sie können jedoch adaptiert und in »Posttraditionen« konvertiert werden und so ihr Potential entfalten. Dabei werden sie zunächst unabhängig von ihrem ursprünglichen Kontext aufgrund ihres (etwa ästhetischen) Eigenwerts neu entdeckt und neu kontextualisiert. Die soziologischen Positionen von Kaufmann und Niekrenz verbindet bei aller Unterschiedlichkeit die zentral traditions materialistische Grundposition. Traditionen erscheinen als einzelne Verhaltensweisen oder Inhalte, die zunehmend weniger in einem Gesamtkontext des Tradierens stehen, sondern in ihrer Eigenart eine spezifische Funktion erfüllen: Sie werden nach den Präferenzen Einzelner nach ihrem ästhetischen, emotionalen oder kulturellen Wert bemessen und dienen auf dem umfassenden Markt unterschiedlichen Bedürfnisbefriedigungen. Alte Traditionen werden so als Posttraditionen neu arrangiert, verlieren jedoch ihren genuinen kommunikativen Gesamtzusammenhang. Es wird sich also für eine moderne Traditionshermeneutik die Frage stellen, wie die EinzeIerinnerungen oder Traditionsmaterialien in posttraditionaler Zeit in einen Kommunikationszusammenhang gestellt werden können, der einerseits anknüpfungsfähig für zeitgenössische Diskurse ist und bleibt, andererseits jedoch genauso theologisch an die Wesensvollzüge der Kirche und das umfassend kommunikativ gedachte Verständnis von Offenbarung anknüpft.

2.2 Eine Tradition von Traditionsbrüchen? Die soziologischen Analysen weisen auf viele entscheidende Diskussionspunkte bereits hin, übersehen aber letztlich bei aller Bemühung um sprachliche Genauigkeit, dass es entscheidend ist, den Begriff der Tradition selbst genauer zu bestimmen - weder Kaufmann noch Niekrenz führen hier belastbare Differenzierungen ein. Auch in ihren Analysen zeigen sich noch Spuren der traditionalistischen Reduktion, die keinerlei Differenzierung zwischen dem Traditionsprozess insgesamt, einzelnen Traditionen (als kommunikative Vollzüge) und Traditionsmaterialien oder Artefakten ermöglicht. Zwar weiß die Analyse von Kaufmann, dass das, was heute unter dem Stichwort des Traditionsabbruchs verhandelt wird, gerade nicht ein Ende der Tradition meint. Deutlich zeigt sich bei ihm jedoch ein materialistisches Verständnis von Traditionen und Tradition, das letztlich ein Erbe des Traditionalismus des 19. Jahrhunderts ist, dessen Anliegen

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2.2 Eine Tradition von Traditionsbrüchen?

gerade in der Auseinandersetzung um die Hermeneutik des 11. Vatikanischen Konzils noch einmal sehr deutlich zutage getreten sind. Bis heute stehen sich Kontinuitäts- und Bruchhermeneutik in der kirchlichen Wirklichkeit geradezu unversöhnlich gegenüber, nicht (nur) ein geschichtlicher, sondern ein konkreter Bruch in der Gemeinschaft der Kirche macht sich vernehmbar, der zeigt, wie sehr die Identität der Kirche (und ihre Einheit) infrage steht. Hier ist es hilfreich, noch einmal die KlarsteIlung von Jürgen Werbick zu bedenken, dass die postmoderne Multioptionsgesellschaft sich eben zwar der »beschleunigten Enttraditionalisierung« verdankt und diese fördert, dass sie jedoch im Kern gerade nicht »den endgültigen Verlust von Traditionen, sondern ihren> Wiedergewinn als Option«< bezeichnet, was eine »Entobligationierung« bedeutet (Werbick 2005:187f.). Das Wissen um diese Bruchhaftigkeit ist es, das heute nicht nur die Neu- und Wiederaneignung der Einzeltraditionen erfordert. Vielmehr bedarf der Traditionsbegriff selbst der Neuaneignung und Neuverortung. Die Pluralisierung der Traditionen ist mithin die entscheidende Herausforderung. Eigentlich stellt sich mit der Infragestellung der Tradition auch erstmals die Frage nach Wert und Bedeutung der Traditionen, da sie nun gerade nicht mehr selbstverständlich sind und zwar weder für den Einzelnen, noch für die (kirchliche) Gemeinschaft. Hilfreich ist bei Kaufmann der implizite Hinweis darauf, dass es hier und im Folgenden darum geht, das Verhältnis des Begriffs Tradition zum kulturellen Gedächtnis zu bestimmen. Während Kaufmann damit das kulturelle Gedächtnis der Gesellschaft meint, gilt es aber stärker, das gruppenspezifische Moment der Erinnerung zu betonen und entlang dem von Maurice Halbwachs und später Jan Assmann entwickelten Grundverständnis kulturellen Gedächtnisses in seiner Differenzierung und in seinem zueinander zu anderen Gedächtnissen das spezifisch christlich-kirchliche Gedächtnis (als kommunikatives, kulturelles und kanonisches Gedächtnis) zu bestimmen. Weiterführend ist in diesem Zusammenhang die These von Siegfried Wie denhofer, dass »Traditionsbrüche gerade zu den Grundvoraussetzungen der Kontinuität und Identität religiöser und christlicher Glaubensüberlieferung gehören« (Wiedenhofer 1994a:59). Dabei ist insbesondere die Frage danach zu stellen, worin genau die Brüche bestehen, um die es hier im Kern geht. Dabei soll die These entwickelt werden, dass für die Moderne der zentrale Bruch, grundlegend im Umfeld der französischen Revolution zu suchen ist, weil darin die Gebrochenheit des (post)modernen Wirklichkeitsverständnisses ihren Ausgang nimmt. Weil sich das traditionalistische Verständnis des Traditionsbegriffs so unmit-

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2 Erinnerung und Tradition in der gebrochenen Moderne

telbar bis heute als prägend erweist, sollen der Hintergrund und die Notwendigkeit des Dialogs zwischen einem traditionalistisch geführten Traditionsdiskurs und einem historisch fokussierten Geschichtsdiskurs zunächst dargestellt werden, die in einer zeitgemäßen Traditionshermeneutik nicht unbeachtet bleiben dürfen.

2,3 Postmoderne »Traditionalisten« In der kirchlichen Auseinandersetzung um eine adäquate Konzilshermeneutik haben insbesondere die Dialogbestrebungen der katholischen Kirche mit den Anhängern Marcel Lefebvres eine große Rolle gespielt. Sie sind geradezu symptomatisch für das theologische Ringen um eine adäquate Traditionshermeneutik. Die Priesterbruderschaft st. Pius X. sieht sich selbst als Hüterin der Tradition, woher auch die Selbstbezeichnung als Traditionalisten rührt (vgl. Dahlke 2012:39). Die Aneignung des Traditionsbegriffs folgt in der theologischen Auseinandersetzung der Piusbruderschaft einerseits den wesentlichen Grundeinsichten traditionalistischer Traditionsvorstellungen (vgl. Menke 2009), lässt sich in ihrem Kern als postmoderner Eklektizismus von Klassikern der Vätertheologie und klassischer Traditionstheologien der römisch-katholischen Lehrtradition erweisen, deren zentrales Auswahlkriterium die Ablehnung der Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils ist. Hierin zeigt sich die Traditionsvorstellung der Piusbrüder als eine - wenn auch sehr einseitige - Weiterentwicklung des französischen Traditionalismus des 19. Jahrhunderts in eine integralistische Oppositionsperspektive, deren einendes Moment gerade nicht die Rückbesinnung auf bestimmte Traditionsformen (etwa die vorkonziliare Liturgie), sondern der Widerspruch zu einigen theologischen Grunderkenntnissen und Reformen des 11. Vaticanums ist. Der vermeintliche neue Traditionalismus von Lefebvre selbst ist also in verschiedenen Bezügen ein typisch postmoderner Umgang mit kirchlicher Tradition, ganz ähnlich jenen, die er selbst so vehement ablehnt und bekämpft. Christian Dahlke erhellt in seiner Untersuchung (vgl. Dahlke 2012:39-83) die Grundprinzipien dieser Auswahl, die wesentlich als Oppositions- und Restaurationsbemühungen gegen das erneuerte Traditionsverständnis der Offenbarungskonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils verstanden werden müssen. Zunächst sollen jedoch der Kontext und die Grundzüge des Traditionalismus rekonstruiert werden, deren Spuren sich auch in zeitgenössischen Traditionstheorien zumindest als Hintergrundfolie der Auseinandersetzung (so etwa auch

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2.3 Postmoderne »Traditionalisten«

bei Walter Kasper, vgl. unten, S. 319-378) zeigen. Dieser muss jedoch vom eklektizistischen (und letztlich historistischen) Integralismus der Piusbruderschaft scharf unterschieden werden.

2.3.1 Der Traditionalismus des 19. Jah rhunderts

Der Traditionalismus des 19. Jahrhunderts wurzelt wesentlich in den Auseinandersetzungen im Gefolge der französischen Revolution, aus der sich Tradition (n.b. nicht Traditionalismus) und Geschichtswissenschaft als die beiden paradigmatischen Formen des Vergangenheitsbezugs im Denken des 19. Jahrhunderts (das auch für das Denken das 20. Jahrhunderts prägend geblieben ist) herausgebildet und mithin voneinander emanzipiert haben. Ihre strukturelle Ahnlichkeit als Ordnung und Kontinuität stiftende Verfahren »gegen den elementaren diskontinuierlichen Charakter zeitlicher Erfahrung« besteht darin, dass beides »Weisen [sind], die Erfahrungen des individuellen Gedächtnisses in Richtung auf Kollektivität und Kontinuität hin zu überformen« (Motzkin 1993:305). Inhaltlich ist der Weg ihrer Kontinuitätsstiftung jedoch sehr unterschiedlich. »Traditionen sind auf eine Autorität gegründet, die in der Vergangenheit liegt, aber es ist noch nicht die Vergangenheit als solche, die normativ wird« (Motzkin 1993:305; Hervorh. AJ), vielmehr sind Traditionen eher zukunfts- als vergangenheitsorientiert, ihre Autorität »verdankt sich [... ] ihrer Brauchbarkeit als Entscheidungshilfe in der Gegenwart und als Kontrollinstrument gegenüber einer ungewissen Zukunft«, für die sie »zukunfts orientierte Normen bereit[]stellen« sollen (Motzkin 1993:305). Geschichtswissenschaft (in der Form wie sie sich seit dem 18. Jahrhundert entwickelt) besitzt gerade programmatisch keine Zukunftsojfenheit, sondern fokussiert sich auf eine »Q1lalität der Abgeschlossenheit« (Motzkin 1993:305), die darauf zielt, einen Zusammenhang von Ereignissen ohne Rekurs auf besondere Autorität oder N ormativität zu rekonstruieren. Sie unterbricht bewusst die »Verbindung zwischen Reflexion und Wertsetzung« und fokussiert sich ausschließlich auf die Reflexion (Motzkin 1993:306). Ihr Autoritätsanspruch besteht darin, dass sie das Verstehen der Vergangenheit in ihrem Eigenrecht und in ihrer Abgeschlossenheit und damit einen überblick über die Geschichte ermöglicht. Der zentrale Unterschied zwischen beiden liegt also in der Zeiterfahrung 13 : 13

Motzkin illustriert das im Bild der Reisenden in einem Bus: j>Der Historiker sitzt ganz am Ende und blickt rückwärts aus dem Heckfenster hinaus. Was er sieht, ist ein trotz Fahrtbewegung

37

2 Erinnerung und Tradition in der gebrochenen Moderne

so stellen die »antizipierende Zeiterfahrung des Traditionalisten und die retrospektive Zeiterfahrung des Historikers [... ] zwei mögliche Strukturierungen des Gedächtnisses dar« (Motzkin 1993:306). In anderem Zusammenhang ließe sich beides durch die zwei grundlegenden Vergangenheitsperspektiven illustrieren, die in der deutschen Sprache durch das Präteritum und das Perfekt ausgedrückt werden. Während das Präteritum (gewissermaßen in historischer Perspektive) eine in der Vergangenheit abgeschlossene Handlung beschreibt, wird das Perfekt für die Beschreibung von Vergangenem verwendet, das eine konkrete und vernehmbare Auswirkung auf die Gegenwart besitzt. Im Deutschen können sinnvolle Erzählstrukturen so nur im Zusammenspiel der beiden Zeitformen ausgedrückt werden, weder die eine noch die andere Perspektive genügen für eine hinreichend komplexe Narration. In diesem Auseinanderfallen deutet sich der zentrale Bruch in der Zeiterfahrung an, der die (post-)moderne Wirklichkeitserfahrung prägt. Motzkin sieht zwei entscheidende Etappen der Entwicklung des katholischen Traditionsverständnisses bis ins 19. Jahrhundert: zunächst die Reformation und schließlich die französische Revolution. So habe das Konzil von Trient das »Dogma der Tradition gegen den protestantischen Primat der Schrift stark gemacht« (Motzkin 1993:306). Zwar unterliegt Motzkin hierin einer Fehldeutung der Beschlüsse und des Anliegens des Trienter Konzils!4, die Rezeptionsgeschichte des Konzils gibt er jedoch treffend wieder. So wurde» bis weit in das 20. Jahrhundert hinein [... ] auf die ursprüngliche Fassung des Dekrets mit der Formulierung >partim ... partim< Bezug genommen und in Umkehrung des konziliaren Traditionsbegriffs Schrift und Tradition als die beiden Q1lellen der einen Offenbarung bezeichnet« (Dahlke 2012:58). Es ist diese Vorgeschichte der Verbindung der Tradition mit lehramtlicher Auslegungsautorität, die so gewissermaßen zur kritischen Instanz in Bezug auf die biblischen Schriften wird und verhindert, »daß alle schriftliche überlieferung, einschließlich des alten Testaments, einer unaufhaltsamen Verdunklung anheimfallen« (Motzkin 1993:306) muss. Die Hintergrundfolie der Entwicklung eines traditionalistischen Traditionsverständnisses bilden aber die Philosophie der Aufklärung!5 und die Franzöimmer wieder vervollständigtes Bild dessen, was gewesen ist, und wovon er sich beständig entfernt. [ ... ] Der Traditionalist sitzt vorne und blickt geradeaus. Er sieht, wie die Welt sich ständig zerteilt. Seine Sicherheit gründet in dem Bewußtsein, daß er kontinuierlich in Fahrt ist« (Motzkin 1993:306). 14 Vgl. etwa Kasper 1970:160ff. Kasper 1990:164ff. und ferner Dahlke 2012:53-58. 15 Festzuhalten ist hierbei, dass ein solches Traditionsverständnis, das sich in Kontrast zu au-

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2.3 Postmoderne »Traditionalisten«

sische Revolution, die »zu einer neuen Selbstdefinition des Katholizismus unter den Bedingungen einer umfassenden Säkularisierung« (Motzkin 1993:207) zwangen. In Gegenbewegung!6 zu den Säkularisierungs- und Pluralisierungsdynamiken entwickelte der Katholizismus so auf der »Basis der segmentärkonfessionellen Abgrenzung [... ] religiöse Semantiken, die weiterhin den Anspruch einer religiösen Leitsemantik transportierten«, »auf vormoderne Formen zurück[griffen], [... ] sich daher antimodern« verstanden und so eine »gegengesellschaftliche Abgrenzung« praktizierten, die jedoch spezifische Phänomene der Moderne sind und »auf Prozessen funktionaler Differenzierung beruhten« (Breuer 2012:437). In diesem Kontext entwickelt sich das typisch moderne traditionalistische Traditionsverständnis, dem ein umfassendes antirationalistisches 17 Ordnungsdenken zugrunde liegt, das sich u.a. der politisch motivierten »Grundstruktur einer Einheit von Staat und Religion« (Dittmann 2004:24) verdankt. Es knüpft gerade nicht an den theologischen Diskurs um das Zueinander von Schrift und Tradition an, sondern konstruiert einen »neuen Begriff der Tradition, der nicht text- sondern institutionenorientiert« (Motzkin 1993:308) ist. Louis de Bonald entwickelte dafür den Begriff Uroffenbarung, »die er statt an heilige tonomer Rationalität versteht, nicht eben eine direkte Folge der Aufklärung selbst, sondern der Auseinandersetzungen im Umfeld der französischen Revolution ist. Das zeigt Karsten Dittmann am Beispiel von hnmanuel Kant, dessen Traditionsverständnis :»von der konservativen Aneignung des Traditionsbegriffs noch unberührt« ist und weder j>im Gegensatz zu Rationalität noch zu Moderne als einer stetig fortschreitenden Entwicklung« steht (Dittmann 2004:55). Viehnehr gründet das Projekt der Aufklärung auf einem Prozess der Weitergabe, cl.h. darauf, j>dass es von Generation zu Generation weitergegeben und in diesem Prozess der Weitergabe modifiziert, und das heißt bei Kant: vervollkomnmet und perfektioniert wird« (Dittmann 2004:55). Tradition als Prozess, bei dem j>die jeweils tradierten IIllialte kritisierbar sind«, wird zur j>Grundbedingung einer moralischen Kultur, weil ohne Tradition jede Generation wieder neu anfangen müsste, Kenntnisse und Fähigkeiten auszubilden« (Dittmann 2004:55). 16 Einerseits konnte und wollte der Katholizismus j>als eine notwendig auch politische Macht seine Rolle in der Welt nicht einfach aufgeben«, andererseits j>hatte er die Kontinuität legitimer priesterlicher Hierarchie zu gewährleisten und aufrechtzuerhalten« (Motzkin 1993:307). 17 Die Frontstellung drückt wesentlich in antithetischen Aussagen aus: In der 1.) Gegenüberstellung von autonomer menschlicher Vernunft und göttlicher Offenbarung betont ein konservatives (naturalistisch geprägtes) Traditionsverständnis, j>dass der Mensch nicht auf seine eigene Rationalität gründen kann, sondern einer Grundlage bedarf, die seinem Zugriff entzogen ist« (Dittmann 2004:30). In der 2.) Gegenüberstellung des abstrakten Universalismus (Autonomie des Einzelnen) und des konkreten Partikularismus (Autorität der Gesellschaft) betont es, dass der Mensch j>nicht bedingungslos frei [ist] zu tun, was er möchte«, sondern vielmehr j>in konkrete Bezüge eingebunden, derer er sich nicht durch einen eigenen Willensentschluss entledigen kann und darf« (Dittmann 2004:31). Zur dritten Gegenüberstellung vgl. unten, Fn. 22.

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2 Erinnerung und Tradition in der gebrochenen Moderne

Texte an die Sprache selber band«, womit die Sprache selbst »offenbarungsmächtig« wird (Motzkin 1993:308). In dieser sprachlichen Verwurzelung ist die Traditionsbindung so absolut vorgegeben, »dass sie einen absoluten Neuanfang des Denkens unmöglich macht« (Dittmann 2004:25). Die Begründung für die Unbezweifelbarkeit sowohl der Sprache - eine radikale Kritik der durch Tradition geprägten Sprache wäre nur durch die Erfindung einer neuen Sprache möglich - als auch der gesellschaftlichen Ordnung liegt in einem in göttlicher Offenbarung begründeten Wahrheitsverständnis. Leitend für das traditionalistische Gesellschaftsmodell ist also das Verständnis eines organischen Wachstums!8, für dessen Ausgestaltung das gesellschaftlich Tradierte Orientierungsmaßstäbe liefert. Veränderung kann insofern nicht im Modus der Revolution!9, sondern nur im Modus der Reform20 erfolgen (vgl. Dittmann 2004:23-30). Sprache und religiöse Erfahrung werden also bei Bonald durch die »generationenübergreifende Kontinuität« (Motzkin 1993:308) so eng miteinander verbunden, dass der Begriff der Tradition »von der überlieferungsund Deutungsgeschichte der Texte und damit von den sich wandelnden historischen Intentionen ab [gelöst]« (Motzkin 1993:308) wird. An die Stelle der Bedeutung der individuellen Autonomie der Denker der Aufklärung, die für Bonald und die Traditionalisten die Auslöser für die französische Revolution und der damit verbundenen Identitätserschütterungen sind, tritt die »Kontinuität kollektiver Erfahrung« (Motzkin 1993:308), die wiederum durch den Gedanken der Als prägend erweist sich hier die politische Theorie von Edmund Burke, der die Gesellschaft als Organismus versteht, der durch Tradition und Brauchtum zusammengehalten wird. Auch bei ihm entwickelt die Tradition ihre Bedeutung im Zusammenhang eines umfassenden Ordnungsdenkens, insofern j>die Natur als Schäpfung Gottes [...] das Vorbild für die Ordnung« bildet, j>die sich geschichtlich im Staatswesen verwirklicht«, und zwar im Paradigma der Erbschaft vor dem begriffsgeschichtlichen Hintergrund von :»traditio als Vorgang der rechtswirksamen Vererbung einer Sache« (Dittmann 2004:26). Erläutert wird die Vorstellung der Erbschaft durch Naturanalogien, die problematisch sind, weil sie tendenziell einem naturalistischen Fehlschluss unterliegen. Das Paradigma der Erbschaft wird wesentlich einerseits durch das j>Bild der geschlechtlichen Vererbung« (Dittmann 2004:26) und andererseits durch das j>Bild des Baumes« (Dittmann 2004:27) und dessen Wachstum erläutert. 19 Mit Dittmann bildlich gesprochen im j>Abkappen von Wurzeln und Stamm und das Aufpfropfen einer nicht aus diesem Stamm gewachsenen Alternative« (Dittmann 2004:28). Man beachte hier die interessante Parallele zum paulinischen Olbaumgleichnis (vgl. Röm 11, insbes Vv. 1718

24). 20

Hieraus ergibt sich eine interessante Perspektive auf die j>Hermeneutik der Reform«, die Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. für das 11. Vatikanische Konzil vorschlägt (vgl. unten 2.6.2.7, S. 97ff.).

40

2.3 Postmoderne »Traditionalisten« Uroffenbarung legitimiert wird.'! Gleichzeitig wird auch die Bedeutung der Vernunft durch die Uroffenbarung überboten und schließlich ersetzt die Bedeutung der Gesellschaft jene der Natur (allerdings in naturalistischen Bildern). Tradition wird in diesem traditionalistischen Verständnis also ausschließlich von einer als organisch und ungebrochenen verstandenen Kontinuität" her verstanden, die wiederum auf eine Uroffenbarung zurückgeht. Dabei handelt es sich um ein ursprüngliches Wissen 23 , das eine normativ zu verwirklichende Gesellschaftsordnung begründet. Diese Uroffenbarung wird in Form der Gesamtheit von dann nicht mehr näher zu identifizierenden oder kritisch zu unterscheidenden Einzeltraditionen (Inhalten) - oder Traditionsmaterialien (Dittmann 2004:31) - weitergegeben. Aus der Fokussierung auf solche Inhalte bzw. Einzeltraditionen resultiert ein reduktionistisches, gewissermaßen materialistisches Verständnis von Tradition auf bei den Seiten24 . In dieser Vermischung von Tradition als kommunikativem Prozess (darauf deutet ja die zentrale Bedeutung der Sprache hin) und den einzelnen Traditionen in ihrer mehr oder weniger sprachlich-kommunikativen Struktur und ihrer Subsumierung unter den Begriff Bonald entwirft damit einen :»Traditionsbegriff, der das Gesamt kollektiver Erfahrung umschließt, [... ] die individuellen Bewußtseine überwölbt und über die einzelnen Köpfe hinweg Kontinuität stiftet« (Motzkin 1993:308). Während sich protestantische Theologen ,>auf die Geschichtswissenschaft als Ergänzung zur religiösen Subjektivität stützen« konnten, war das für die »katholischen Traditionalisten, die keine retrospektive Haltung gegenüber ihrer eigenen Geschichte dulden konnten« (Motzkin 1993:309) nicht möglich. Die Neuinterpretationder Tradition von der Uroffenbarung her :->stützte den Gedanken der päpstlichen Infallibilität, welcher jetzt durch die Uroffenbarung legitimiert wurde« (Motzkin 1993:309). 22 Das Kontinuitätsverständnis ist wesentlich durch die Auseinandersetzung mit dem Rationalismus (vgl. Fn. 17) und dabei speziell durch die Gegenüberstellung von Revolution und Reform gekennzeichnet. 23 Dabei bleibt festzuhalten, dass dieses zu bewahrende ursprüngliche Wissen nicht explizit religiös begründet sein muss, sondern seine Dignität dadurch besitzt, j>dass es von alters her kommt, und dies kann ein religiöses Wissen sein, aber auch eine politische Institution, die erst in einem weiteren Sirme religiöse Aspekte erhält, nämlich durch ihre Einordnung in eine Schöpfungsordnung« (Dittmann 2004:30). 24 Wie sehr prägend dieses Traditionsverständnis auch bei den Gegnern des Traditionalismus war und ist, zeigt Dittmann unter Verweis auf Ernst Bloch, der dem konservativen Verständnis - nämlich, dass j>Tradition als rückwärtsgewandte Utopie missverstanden wird« (Dittmann 2004:33) - zwar eine j>echte Tradition« (Bloch 1970:26) entgegenstellt, j>die sich dem Unabgegoltenern, dem Noch-nicht-Gewordenen, Missratenen und Unausgereiften zuwendet und dieses weiterführt« (Dittmann 2004:32). Diese echte Tradition ist für Bloch eine j>inoffizielle Tradition, die sich neben der offiziellen nicht zu etablieren vermochte« (Dittmann 2004:33). Insofern liegt auch bei Bloch ein traditionalistisches Traditionsverständnis vor, das sich nur auf andere Traditionsmaterialien stützt. 21

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2 Erinnerung und Tradition in der gebrochenen Moderne

der Tradition ohne die Möglichkeit einer kriteriologischen Differenzierung liegt die Grundproblematik des Traditionalismus. Der traditionalistische Traditionsbegriff entsteht also aus dieser spezifischen Auseinandersetzung heraus und bleibt auch immer auf diese Auseinandersetzung verwiesen (vgl. Dittmann 2004:31), die auf beiden Seiten durch ein reduktionistisches Verständnis von Tradition als Traditionsmaterial geprägt ist. Der Traditionalismus ist eine Folge des Historismus und eine Gegenbewegung dazu. Auch die Abgrenzung zwischen Gedächtnis und Geschichte hat hier ihren Ursprung. Dieser zentrale Bruch, der auch im Denken von Maurice Halbwachs noch sehr präsent ist (vgl. unten, S. 139f.), wird einseitig zugunsten der verabsolutierten Tradition (Erinnerung) aufgehoben und nicht im Rahmen seines dialektischen Verwiesen-Seins auf Geschichte verstanden. Erst im späteren 20. Jahrhundert im Zuge der »Etablierung der oral history im Rahmen der Geschichtswissenschaft«, die als »Nobilitierung des Gedächtnisses als historische Q1lelle« (Motzkin 1993:312) verstanden werden kann, äußern sich Ansätze zur Versöhnung der Dialektik.

2.3.2 Das Traditionsverständnis der Piusbruderschaft

Am Beispiel der Piusbruderschaft zeigt sich jedoch gerade die gegensätzliche Dynamik, die in der weiteren Zuspitzung des traditionalistischen Verständnisses besteht, das dann seinerseits in einen fundamentalistischen Glaubens-Historismus führt. Ein Blick auf den Traditionsbegriff der Piusbruderschaft - ein solcher ist interessanterweise nicht systematisch zugänglich, sondern nur aus einer Vielzahl von Einzeläußerungen zu rekonstruieren - zeigt sehr deutlich, dass trotz der Differenzierung zwischen Wertkonservativen und Integralisten doch beide Strömungen »einen regressiven Ausweg aus dem Pluralismus« suchen und ihn ironischerweise selbst als »Teil des selektiven Vergangenheitsbezugs der (Post-)Moderne« (Fresacher 1996:61) gerade dadurch verstärken. Das lässt sich im Einzelnen deutlich zeigen. 2.3.2.1 Kirchliches Amt als alleiniger Träger der Tradition

Im Einklang mit den Zeugnissen der frühchristlich-katholischen Lehrtradition stellt Marcel Lefebvre Offenbarung und Tradition ausdrücklich »eng in einen apostolischen Zusammenhang« (Dahlke 2012:43): Die Offenbarung ist »mit dem Tod des letzten Apostels abgeschlossen«, der Kirche obliegt in nach-apo-

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2.3 Postmoderne »Traditionalisten«

stolischer Zeit, >,die von den Aposteln verkündete Glaubenswahrheit unverändert durch alle Zeiten hindurch zu bewahren und zu verkündigen« (Dahlke 2012:43f.). Allerdings ist das Konzept von Lefebvre insofern reduktionistisch als er das pneumatologische Element der (innovativen) Tradition (wie sie etwa im Traditionsverständnis des Irenäus von Lyon prägend ist) gewissermaßen in einer historistischen Verengung auf das apostolische Wirken der Kirche ausschließt und Tradition insofern lediglich als konservierende und tradierende Aufgabe (vgl. Dahlke 2012:44) verstehen kann und ausschließlich »die Apostel [und damit natürlich auch ihre Nachfolger die Bischöfe] zu einer normativen Größe erklärt« (Dahlke 2012:52). 2.3.2.2 Unmöglichkeit der Differenzierung zwischen Tradition und Traditionen

Auch unterscheidet das Traditionsverständnis der Piusbruderschaft nicht zwischen der Tradition und den (einzelnen) Traditionen, also zwischen dem kommunikativen Vollzug der Weitergabe [traditio] und den einzelnen Inhalten oder Bezeugungsformen dieses Prozesses [traditiones] (vgl. Werlen 2015 und auch Kleinjohann 2017:403) und teilt damit das Kernproblem des Traditionalismus des 19. Jahrhunderts. Von Tertullian übernimmt die Piusbruderschaft den Begriff der Tradition als »Sammelbegriff für alles, was an christlichen Glaubensinhalten, aber auch an christlicher Liturgie und Brauchtum in irgendeiner Weise überliefert wurde« (Dahlke 2012:46). Das ist bei Tertullian jedoch eingeordnet in ein System von Mutterkirchen (die Patriarchate), die auf apostolische Gründung zurückgehen und denen deshalb eine besondere Autorität für die Aufnahme von Bräuchen und Liturgieformen in den Traditionsschatz der Kirche zukommt. Auch hier rezipiert Lefebvre reduktionistisch, subsumiert »alles, was überliefert wurde, unter den Begriff der Tradition« und unterscheidet nicht »zwischen Glaubensinhalt und Glaubensäußerung in Form von Liturgie und Brauchtum« (Dahlke 2012:46). Damit schließt er neben dem dynamisch-pneumatologischen auch das dialogisch-ekklesiologische Motiv des katholischen Traditionsverständnisses aus. Schließlich findet sich in der Theologie der Piusbruderschaft durchaus eine Rezeption der Traditionskriterien des Vinzenz von Lerins (insbes. der antiquitas, der universitas und des consensus omnium), gewissermaßen als Ausschlusskriterien für Neuerungen, jedoch nicht in ihrem ursprünglichen Zusammenhang der Frage nach der korrekten Auslegung der Heiligen Schrift, die als Kanon

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2 Erinnerung und Tradition in der gebrochenen Moderne

vor dem Hintergrund der Auslegungstradition der Kirche interpretiert werden muss. Darüber hinaus wird auch der Gedanke eines organischen Fortschritts der Kirche und damit die situationsadäquate Auslegung und Ausfaltung des kirchlichen Glaubens- und Traditionsschatzes nicht rezipiert, obwohl dieser für den prospektiven Aspekt des Traditionalismus des 19. Jahrhunderts prägend war (vgl. oben, S. 40f.). 2.3.2.3 Verengung in der Rezeption des Trienter Konzils

Bei den Einlassungen von Marcel Lefebvre und anderen Theologen der Piusbruderschaft (u.a. Matthias Gaudron) handelt es sich demnach »um kein kohärentes Modell [... ], sondern um eine bloße Sammlung von Ideen, die je nach Bedarf zur Argumentation herangezogen werden« (Dahlke 2012:53). Auch die ausdrückliche Referenz von Lefebvre und Gaudron auf das Trienter Konzil bleibt dem grundlegenden Eklektizismus treu: Sie ist keine inhaltliche Rezeption des Traditionsbegriffs des Konzils oder der theologischen Verhältnisbestimmung zwischen Schrift und Tradition, sondern beschränkt sich auf die »Untermauerung der These von der Fixierung des Dogmas nach dem Tod des letzten Apostels«, die »vom Konzil festgesetzten niederen und höheren Weihen« sowie den »dort promulgierten Ritus der Messfeier« (Dahlke 2012:58). Damit ist der Rückbezug auf die Lehrtradition alles andere als traditionalistisch, sondern vielmehr sehr deutlich eklektizistisch und rekonstruktivistisch25 und mündet so schließlich in einen performativen Selbstwiderspruch. Besonders im Bereich von Liturgie 26 und Sakramentenlehre »entwirft Lefebvre eine eigene Traditionslinie, an deren Beginn das Trienter Konzil steht« (Dahlke 2012:60). Das Trienter Konzil rückt damit in der Perspektive der Piusbrüder gewissermaßen als einziger greifbarer Fix- und Relationspunkt in eine Oppositionsstellung zum Zweiten Vatikanischen Konzil und wird so selbst »zu einem weiteren Ursprung von Tradition« In erinnerungstheoretischer Hinsicht ist es dabei interessant, dass für Lefebvre und die Theologen der Piusbruderschaft das Trienter Konzil in j>einen chronologisch direkten Zusammenhangmit den Lehren der Apostel« (Dahlke 2012:59) gerückt wird, wobei es zur rekonstruktiven Verschmelzung (vgl. unten, 4.2.4, S. 164) zwischen einer historischen Urspnmgs- (Trienter Konzil) und einer mythischen Urzeit kommt. 26 Während in der Wahrnehmung das Engagement Lefebvres und der Piusbruderschaft zuallererst im ,>Einsatz für die ältere Gestalt der römischen Liturgie« gesehen wurde und dies auch gerade in traditionellen Kreisen eine gewisse Unterstützung erfahren hat, war zunehmend in der :>:>Auseinandersetzung die Liturgie nicht mehr der eigentliche Streitpunkt, sondern nur das Medium, durch welches der tiefer liegende Dissens zum Ausdruck kam« (Haunerland 2009:223). 25

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2.3 Postmoderne »Traditionalisten«

(Dahlke 2012:60). Auch das I. Vaticanum wird durch die Piusbruderschaft rezipiert, allerdings ausschließlich als Fortschreibung der »Ablösung des Traditionsprinzips durch das Autoritätsprinzip« (Dahlke 2012:61). Gerade angesichts der Verurteilung des Traditionalismus (wie des Rationalismus, des Fideismus und des Modernismus) durch den Syllabus von Papst Pius IX. am Vorabend des Konzils »ist [... ] anzunehmen, dass Lefebvre zwischen dem verurteilten Traditionalismus und dem der Pius-Bruderschaft unterschied« und das eigene Verständnis als >>unbedingte Hörigkeit gegenüber der Tradition« (Dahlke 2012:64) verstand. In diesen Zusammenhang passt auch die vom Traditionalismus des 19. Jahrhunderts übernommene Vorordnung der Tradition vor die Vernunft. Demnach gebe »erst die von Christus ge offenbarte und in der Tradition der Kirche tradierte Wahrheit dem Menschen eine Vernunft« (Dahlke 2012:65), ohne die der Mensch nicht in der Lage ist, die Wahrheit zu erkennen. Insgesamt liegt in dieser Tendenz, den Glauben »nur auffeste Formeln ohne die Möglichkeit einer zeitgemäßen Interpretation« zu stützen, die Gefahr einer Erstarrunff7 und Ritualisierung des Glaubens als etwas» überliefertes und für den Menschen Unverständliches« (Dahlke 2012:81f.), und damit seine Entfremdung von einem freien und personalen Akt. Im Kern ist dieses Traditionsverständnis gerade also nicht traditionalistisch im Sinn des Traditionalismus des 19. Jahrhunderts, sondern historistisch. Es gründet darin, dass ein Gesellschafts- und »Geschichtsbild des 19. Jahrhunderts [... ] praktisch unverändert weiter überliefert« (Damberg 2015:96) wird: »Faktisch wurde und wird dabei diese zu verteidigende Wahrheit und Lebensordnung mehr oder weniger mit dem >Syllabus< Pius IX. von 1854 identifiziert« (Damberg 2015:96). Obwohl sich also das Traditionsverständnis der Piusbruderschaft selbst in einem positiven (und neuen) Sinn als traditionalistisch versteht, lässt sich das Verständnis von seiner Eigenart als Gegenentwurf28 zur gesellschaftlichen gebrochenen Pluralität verstehen.

Diese Erstarrung ist gerade ,>die Folge des fehlenden pneumatischen Moments« (Dahlke 2012:82f.) innerhalb des Traditionsbegriffs der Bruderschaft. 28 Dabei kommt es interessanterweise auch zu weiteren Allianzen mit »politischen und kulturellen, mit sexistischen und wissenschaftsfeindlichen« Restaurationstendenzen, die schließlich eine :>>nicht zu unterschätzende gesellschaftliche Kraft« (Fresacher 1996:61) bilden. 27

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2 Erinnerung und Tradition in der gebrochenen Moderne 2.3.2.4 Traditionsbruch als Bruch mit der Gesellschaft

Diese Erstarrung geht mit einer "Abgrenzung gegenüber der Welt und deren Problemen« (Dahlke 2012:82) einher. die letztlich konsequent zu einer vollständigen gesellschaftlichen Irrelevanz der Kirche führen würde. Das läuft inter essanterweise dem Grundanliegen des Traditionalismus - dem Versuch der Garantie einer verlässlichen Gesellschaftsstruktur durch den organischen Rückbezug auf die überlieferte. ererbte Gesellschaftsstruktur - diametral entgegen. Das nimmt Lefebvre jedoch in Kauf. weil schon die Rede von einer Reform oder noch mehr einer organischen Entwicklung ihm als modernistisch erscheinen musste. Dieser Modernismus ist die wesentliche Hintergrundfolie der Auseinandersetzung. Dadurch. dass im 11. Vaticanum 29 »Vorstellungen lehramtlich verbindlich formuliert [wurden]. die im 19. Jahrhundert verurteilt und von Pius X. als modernistisch gebrandmarkt worden waren«. wird »die Kirche im Modernismusvorwurf mit ihrer eigenen Vergangenheit konfrontiert« (Neuner 2009:268) und muss sich dieser Herausforderung stellen. Damit weist das »Symptom« Piusbruderschaft daraufhin. dass sich im Gefolge der Erneuerungs- und Reformbestrebungen der Konzilszeit die Frage des Selbstverständnisses und der Identität der Kirche und damit zutiefst ihrer Erinnerung und Tradition stellt. Das gilt gerade angesichts dessen. dass »die Richtungsentscheidung des Konzils innerhalb der katholischen Kirche nicht mehr rückgängig gemacht werden kann« (Neuner 2009:270). Dabei geht es nicht primär um die Möglichkeit. den Gottesdienst in seiner sogenannten »tridentinischen« Form zu feiern, sondern um »fundamentale[] Glaubensdifferenzen. die sich vor allem am Kirchenverständnis des 11. Vatikanischen Konzils. an der konziliaren Lehre über die Religionsfreiheit und den Okumenismus. an der nachkonziliaren Liturgiereform sowie an dem im Wesentlichen auf das 19. und die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts reduzierten Traditionsverständnis entzündeten« (Bischof 2009:243). Das Symptom Piusbruderschaft deutet also darauf hin. dass das Traditionsverständnis 29

Für diesen kirchlichen Paradigmenwechsel, der mit dem Namen des 11. Vatikanischen Konzils verbunden ist, ist wohl ,>ein ganzes ,Tableau< von Faktoren« ursächlich: so die »Erfahrung der Totalitarismen in der ersten Jahrhunderthälfte, die die Relevanz von Freiheitsrechten deutlich machten; die Verbreitung eines Menschenrechtsethos nach 1945; der politische Katholizismus, der in verschiedenen europäischen Ländern über Jahrzehnte hinweg positive Erfahrungen mit demokratischen Ordnungen sammeln konnte; die Dynamik des Konzils selbst, welche die Spannbreite der vertretenen Positionen vor einer Weltäffentlichkeit sichtbar machte; schließlich die Pluralisierung theologischer Positionen schon im Vorfeld des Konzils« (Breuer 2012:86).

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2.3 Postmoderne »Traditionalisten«

selbst neu geklärt und bestimmt werden muss. 2.3.2.5 Der »Modernismus« als Gegenbewegung

Eine der für diese Auseinandersetzung zentralen Figuren ist der französische Theologe ALFRED LOISY. Meist ist die einzige Erinnerungsfigur, die in der Auseinandersetzung mit Loisy eine Rolle spielt, sein berühmtes Diktum »Jesus hat das Reich verkündet, und gekommen ist die Kirche«. Dieses wird meistens, »im direkten Gegensatz zu Loisys Argumentation, so interpretiert, dass die Botschaft Jesu und die Kirche als Widersprüche erschienen« (Neuner 2009:261). Eigentlich stellt der Satz jedoch die grundlegende Entwicklungsdynamik der Kirche dar, der es darum geht zu zeigen, »wie die Kirche als Institution in vielen kleinen Schritten aus der Botschaft Jesu vom Reich Gottes hervorgegangen ist und hervorgehen musste, selbst wenn der historische Jesus keine Kirche gegründet hat« (Neuner 2009:260, vgl. dazu auch Lüdemann 2007:49ff.). Es handelt sich also - so wird man in dem skizzierten Zusammenhang sagen müssen - um den Versuch einer (Re)Integration geschichtswissenschaftlicher Erkenntnisse in grundlegende Fragestellungen christlich-kirchlicher Traditionsbildung, also eine Synthesebestrebung zwischen Tradition (Erinnerung) und Geschichte, allerdings mit deutlicher Präferenz für die Perspektive der Historiker. Loisy geht so selbstverständlich von geschichtswissenschaftlichen Standards aus, dass für ihn »Einwände, die vom Standpunkt einer gewissen Theologie aus sehr ins Gewicht zu fallen scheinen, [... ] für den Historiker fast keine Bedeutung« (Loisy 1904:112) haben. Für Loisy ist es klar, dass Jesus nicht im juristischjuridischen Sinn eine Kirche gegründet hat, dass sich aber sehr wohl »im Evangelium Jesu schon ein Ansatz sozialer Gliederung vorfand und daß auch das Reich Gesellschaftsform annehmen sollte« (Loisy 1904:112) und konnte. In diesem Zusammenhang folgt dann das bekannte Wort vom Reich Gottes und der Kirche. Das Kommen der Kirche versteht Loisy nicht - wie ihm oft unterstellt wird30 - im Sinne einer enttäuschenden Desillusionierung, sondern von der Notwendigkeit der grundlegenden Dynamik der Geschichte - Loisy selbst nennt es das Gesetz des Lebens, das »eine Bewegung und ein beständiges Streben nach Anpassung an ewig wechselnde und neue Bedingungen« (Loisy 1904:112f.) bedeutet. 30

Eine solche Zuordnung findet sich sogar beiJoseph Ratzinger: :dn diesem Wort [Loisys] mag man Ironie sehen, aber doch auch Trauer: Anstelle der großen Erwartung von Gottes eigenem Reich, von der neuen, durch Gott selbst verwandelten Welt, ist etwas ganz Anderes - und wie Armseliges! - gekommen: die Kirche« (Ratzinger 2006:78).

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2 Erinnerung und Tradition in der gebrochenen Moderne

Dieser Dynamik konnte sich das Christentum - so Loisy - nicht entziehen. Nun könnte man geneigt sein, dieser Verortung in der Auseinandersetzung zwischen dem (altem) Modernismus und dem (neuern) Traditionalismus keine große Relevanz für die theologische Reflexion auf einen zeitgemäßen Traditionsbegriff zuzusprechen und darüber hinaus etwa sagen, sich mit der kleinen aber lautstarken fundamentalistischen Minderheit auseinander zu setzen, sei wenig lohnenswert. Dem möchte ich zunächst zweierlei entgegen halten: 1) der Zeitabstand zur Auseinandersetzung zwischen Modernismus und Traditionalismus passt in erinnerungstheoretischer Perspektive (vgl. unten, S. 164) genau zu jener übergangsphase zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis, die Jan Assmann mit Jan Vansina als floating gap bezeichnet. Das ist gerade der relevante Zeitraum für die Ausbildung des kulturellen Gedächtnisses. Deutlich werden aber 2) in der Auseinandersetzung die Konfliktlinien des Traditionsdiskurses überhaupt. So ist deutlich geworden, dass sowohl infrage steht, wer eigentlich Träger der Tradition ist, wie sich Einzeltraditionen zum Traditionsgeschehen verhalten, ob und wie ein pneumatologisches Moment im Uberliejerungsprozess auszumachen ist und schließlich wie das Verhältnis zwischen der Welt der Tradition und der Gebrochenheit der Welt zu bestimmen ist und ganz grundsätzlich, wie sich die bei den Grundoptionen Kontinuität und Bruch zueinander verhalten und welche Kontinuität und welchen Bruch sie genau beschreiben. Ein weiteres Vorzeichen gehört zu den Gründen, warum ein Rekurs auf den katholischen Integralismus hier nicht fehlen darf. Wie schon erwähnt, ist dieser ja selbst nicht ein überbleibsel der Vormoderne, sondern eine bewusst eklektizistische Gegenwarts- und Identitätskonzeption der Moderne, geradezu der Gegenentwurf zum postmodern-pluralistischen Selbst- und Weltverständnis. Damit gehört der katholische Integralismus in jene Tendenz der Vereindeutigung der Welt, die der Islamwissenschaftler Thomas Bauer in seinem gleichnamigen und vieldiskutierten Essay anhand verschiedener gesellschaftlicher Entwicklungen als Grundzug westlicher Gesellschaften herausarbeitet. Seinen Fokus legt Bauer dabei neben Politik, Kunst und Musik auch auf die Religion, was es für den Zusammenhang dieser Arbeit besonders interessant macht. 2.3.3 »Vereindeutigung« oder Ambiguitätstoleranz?

Thomas Bauer stellt zunächst heraus, dass sowohl kulturell als auch im Blick auf Natur und Ökologie ein Rückgang an Vielfalt zu konstatieren ist, hinter dem er eine »moderne Disposition zur Vernichtung von Vielfalt« (Bauer, T. 2018:11)

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2.3 Postmoderne »Traditionalisten«

vermutet, die im Gegensatz zur eigentlichen Uneindeutigkeit der Welt steht. Ambiguität ist für ihn der Oberbegriff dafür, dass einem Zeichen oder Umstand »mehrere Interpretationen zugeordnet werden können«, entweder im Sinne von Uneindeutigkeit oder aber im Sinne von (legitimer und begrenzter) Bedeutungspluralität (Bauer, T. 2018:13). Entscheidend ist dabei, dass in einer per se uneindeutigen Welt 3 ! »Ambiguität nie vollständig vermieden werden kann«, denn »[s]obald man Ambiguität an einem Ende zurückdrängt, entsteht sie an einem anderen Ende und in oft unerwarteter Form wieder neu«, was schlussendlich bedeutet, dass es »[v]ernünftig ist [... ] zu versuchen, Ambiguität auf ein lebbares Maß zu reduzieren, ohne dabei zu versuchen, sie gänzlich zu eliminieren« (Bauer, T. 2018:14f.). Die Tendenz zur Vereindeutigung, sowohl in der vernünftigen Form der Ambiguitätszähmung wie in der Form »ohnehin aussichtsloser Ambiguitätsvernichtung« (Bauer, T. 2018:15), ist dabei für Bauer zwar anthropologisch grundgelegt, lässt sich jedoch mentalitätsgeschichtlich untersuchen und differenzieren, insofern sich »Gesellschaften hinsichtlich ihrer größeren oder geringeren Ambiguitätstoleranz miteinander vergleichen« (Bauer, T. 2018:17) lassen. Die wesentliche Entwicklungsdynamik ist dabei für Bauer der Zusammenhang zwischen »Ambivalenzfurcht und Kapitalismus«, beide stehen zueinander in einem reziproken Verhältnis 32 . Deshalb betrachtet er das Vereindeutigungsstreben oder die Ambiguitätsintoleranz auch aus dieser spezifisch westlichen Perspektive. Weil »unsere Zeit eine Zeit geringer Ambiguitätstoleranz ist«, erwiesen sich» [i]n vielen Lebensbereichen - nicht nur in der Religion - [... ] Angebote als attraktiv, die Erlösung von der unhintergehbaren Ambiguität der Welt versprechen«, sie gelten »ihren Anhängern und Jüngern als besonders zeitgemäß und fortschrittlich und haben vielfach die Diskurshoheit in ihrem jeweiligen Feld erobert«, während »Vielfalt, Komplexität und Pluralität häufig nicht mehr als Bereicherung empfunden« würden (Bauer, T. 2018:30).

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Das ist, wie im Folgenden noch herauszustellen ist, die postmoderne Grunderfahrung der Wirk-

32

lichkeit (vgl. unten, S. 55ff.). ,>Nicht nur ist die Vermeidung von Zweideutigkeit und Zägerlichkeit hilfreich für eine Karriere im Kapitalismus, sie ist geradezu eine Voraussetzung für den Erfolg des Kapitalismus überhaupt« (Bauer, T. 2018:20).

49

2 Erinnerung und Tradition in der gebrochenen Moderne 2.3.3.1 Kirche als Ort der Ambiguitätstoleranz

Ein »guter Indikator für die Ambiguitätstoleranz westeuropäischer Gesellschaften« ist für Bauer hingegen »der jeweilige Zustand der katholischen Kirche. denn die katholische Kirche ist überraschend ambiguitätstolerant« (Bauer. T. 2018:21). Bauer zeichnet für die Kirche ausgehend von der katholischen Persienmission des 17./18. Jahrhunderts bis in die Nachgeschichte des 11. Vatikanischen Konzils eine Entwicklung hin zu immer weniger Ambiguitätstoleranz nach. Auch das Konzil selbst habe »zwar in manchen Bereichen ein Gefühl des Aufbruchs [vermitteltl. etwa im Verhältnis zu den Juden und zur Religionsfreiheit. bot aber nicht überall eine Öffnung zu mehr Ambiguitätstoleranz« (Bauer. T. 2018:23). Vielmehr sind für Bauer auch die liturgischen Reformbemühungen im Gefolge des Konzils im Sinne der Vereindeutigung und des Zentralismus zu deuten (Bauer. T. 2018:23f.). Diese Linie folge bis hin zum Pontifikat Benedikts XVI. und habe im liturgischen Bereich zum Schwinden von Kunst und Musik und letztlich auch Sinnlichkeit geführt. Obwohl er die oben skizzierte Kontroverse mit den selbsternannten Traditionalisten nicht erwähnt. lässt sich insoweit mit der von Bauer analysierten zunehmenden Ambiguitätsintoleranz beschreiben. dass die Strategie der Vereindeutigung gerade beide kirchlichen Perspektiven prägt. In seiner zugespitzten Katholizismuskritik übersieht Bauer jedoch. dass gerade im Rahmen dieser Entwicklung von höchster kirchenamtlicher Instanz auch eine Rückkehr der Ambiguität in die kirchliche Wirklichkeit realisiert worden ist. Indem Papst Benedikt XVI. die Liturgie von 1962 im Rahmen des Motu proprio Summorum Pontificum (unter bestimmten Bedingungen und Voraussetzungen) als außerordentliche Form des lateinischen Ritus der römisch-katholischen Kirche bestätigt hat. hat er eine faktische Pluralität innerhalb des römischen Ritus geschaffen. die sich im Vokabular von Bauer eigentlich nur als Form von Ambiguitätstoleranz beschreiben lässt. Benedikt XVI. hat dabei eindeutig betont. dass es sich hierbei um »zwei Ausdrucksformen der >Lex orandi< der Kirche« handelt. die nicht »zu einer Spaltung der >Lex credendi< der Kirche führen«. weil sie »zwei Anwendungsformen des einen Römischen Ritus« sind (SP. Art. 1). Papst Franziskus hat in diesem Sinne (etwa im Rahmen des außerordentlichen Heiligen Jahres der Barmherzigkeit 2016) dieses ambiguitätstolerante und plurale Verständnis vertieft und auch über den Bereich der Liturgie hinaus geöffnet. Ob indes diese Impulse in der Verhärtung der innerkirchlichen Auseinandersetzung tatsächlich zu einer Kultur der Ambiguitäts- und Alteritätstoleranz füh-

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2.3 Postmoderne »Traditionalisten«

ren, ist in der derzeitigen Dynamik nicht abzusehen. Hier gilt es nun jedoch im Blick auf die Gedanken von Thomas Bauer noch einmal gezielter im Blick auf den religiösen Bereich das Zueinander von Ambiguitätstoleranz und Vereindeutigungsstreben im religiösen Bereich (durchaus auch mit den politischen Verstrickungen, die dabei eine Rolle spielen) zu verfolgen. Das Herzstück seines Essays widmet sich diesem Thema und der Bedeutung der Religion(en) als Einübungsort von Ambiguität. 2.3.3.2 Fundamentalismus oder Einübung in Ambiguitätstoleranz Bauer beginnt seine Betrachtungen zur Religion mit einem Blick auf den Fundamentalismus. Zentral ist für ihn, dass »eine zutiefst ausgeprägte Ambiguitätsintoleranz jedem Fundamentalismus zugrunde liegt« (Bauer, T. 2018:27).33 33

Damit schlägt Thomas Bauer bewusst eine sehr weite Definition des Fundamentalismus vor, die ungeachtet der Differenzierungen, die sich mitunter in der Literatur zwischen Fundamentalismus und Traditionalismus finden, die dahinter stehende Logik analysiert und so selbstverständlich auch für den skizzierten katholischen Integralismus gilt. Thomas Meyer etwa unterscheidet den Fundamentalismus grundsätzlich von Traditionalismus und Modernismus. Fundamentalisten sagten ,>den beiden konkurrierenden Strömungen - Modernismus und Traditionalismus - in jeder der Kulturen den Kampf an und verfechten kompromisslos das Ziel, durch ihre eigene Vorherrschaft mit der übernahme von politischer Herrschaft undkultureller Macht die wahre Identität der überlieferten Kultur aus der modernen Verunreinigung neu auferstehen zu lassen und damit die Gesellschaft von den quälenden Problemen der Modernisierung ein für allemal zu heilen« (Meyer 2011:147). In diesem Verständnis eignet dem Fundamentalismus also zutiefst eine politische Dimension. Allerdings erfasst Bauer mit seinem FundamentalismusBegriff die motivationale Ebeneund nicht die Ebene der gesellschaftlichenAuseinandersetzung. Die von ihm skizzierte Logik der Vereindeutigung ist dabei gewissermaßen die allseitige Grundlage, die auch die von Meyer unterschiedenen Strömungen prägt. Auch Meyer skizziert nämlich eine ,>kulturelle Bruchlinie«, die nicht zwischen den Kulturen selbst verläuft, sondern ,>zwischen jenen, die nach der politischen Vormacht für ihr eigenes Verständnis der kulturellen überlieferung streben, und jenen, die den politisch-rechtlichen Rahmen für die wechselseitige Anerkennung der unterschiedlichen Kulturen und Zivilisationsstile anerkennen« (Meyer 2011:147), mithin in den Worten von Thomas Bauer zwischen Eindeutigkeitsverfechtem und Ambiguitätstoleranten. Und hier deckt sich sein Verständnis auch mit dem, was Meyer als ,>empirische[n] Hauptbefund der vergleichenden kulturübergreifenden Forschungen« zum Phänomen des Fundamentalismus begreift, nämlich, dass er sich ,>in seiner Theorie und in seiner Praxis als eine spezifische Form der selektiven kulturellen Gegenmodemisierung« erweist, der sich ,>grundsätzlich gegen das Prinzip der Offenheit und der Anerkennung von unterschiedlichen Verständnisweisen innerhalb und außerhalb der eigenen Kultur« richtet, die ,>den Kern der Moderne ausmachen und in den universellen Grundrechten ihren Ausdruck finden« (Meyer 2011 :28; Hervorh. AJ). Er will ,>als Produkt der Moderne [... ] Ungewissheit und Offenheit überwinden, indem er eine der Deutungsalternativen im Rückgriff auf geheiligte Traditionen

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2 Erinnerung und Tradition in der gebrochenen Moderne

Gesellschaftlich erfolgreich - im Sinne einer gesellschaftlichen Bewegung - ist Fundamentalismus wesentlich dann, wenn er von »politische[n] Motivationen und günstiger n] politischer n] Begleitumstände[ n]« (Bauer, T. 2018:25) getragen wird. Als Wesensmerkmale des Fundamentalismus bestimmt Bauer Wahrheitsobsession, Reinheitsstreben und Geschichtsverneinung, die zugleich die »Wesenszüge bzw. Grundbegriffe von Ambiguitätsintoleranz« (Bauer, T. 2018:29) sind. Nicht der (religiöse) Fundamentalismus selbst ist also das Problem, sondern das fundamentalistische Grundversprechen, das weit über die konkreten Fundamentalismen hinausgeht und »Angebote als attraktiv [erscheinen lässt], die Erlösung von der unhintergehbaren Ambiguität der Welt versprechen« (Bauer, T. 2018:30). Religion ist in ihrem Wesen für Bauer aber schon deshalb ambiguitätstolerant, weil sie ihre Mitglieder ganz grundsätzlich dazu verpflichtet, Transzendenz anzuerkennen (vgl. Bauer, T. 2018:34) und sie darüber hinaus »zuerst und vor allem Kommunikation ist«, was in Offenbarungsreligionen noch einmal verstär kt gilt, weil sie davon ausgehen, »dass das Göttliche, das eigentlich ganz Andere, sich den Menschen mitteilt, also mit ihnen kommuniziert« (Bauer, T. 2018:35). Eine zunehmend ambiguitätsintolerante Religion verliert deshalb ihre Mitte, den »durch Zweifel domestizierten Glauben an etwas Transzendentes im Bewusstsein, dass Glauben kein sicheres Wissen vermittelt« (Bauer, T. 2018:37). Die Folge abnehmender Ambiguitätstoleranz in der Religion ist dann entweder der schon erwähnte religiöse Fundamentalismus oder religiöse Gleichgültigkeit. Beide Formen hängen insofern eng zusammen, als sie Folgen von Materialisierung und Formalisierung »in durchbürokratisierten, hochtechnisierten und vor allem kapitalistischen Gesellschaften« (Bauer, T. 2018:39) sind. Die gleichen Tendenzen weist Bauer dann auch (exemplarisch und für die übertragung auf andere kulturelle und gesellschaftliche Bereiche offen) für Kunst und Musik nach.

oder künstlich immunisierte Gewissheiten absolut setzt« (Meyer 2011:29). Man könne sogar »entsprechende fundamentalistische Wesenszüge auch in gesellschaftlichen Bereichen erkennen [ ... ], in denen es bislang nicht üblich war, von Fundamentalismus zu sprechen« (Bauer, T. 2018:27).

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2.3 Postmoderne »Traditionalisten« 2.3.3.3 Authentizitätswahn und Kästchenbildung

Eine Zentralrolle spielt in diesem Zusammenhang für Bauer die Frage nach Identität und besonders nach Authentizität. Beides verortet er in den kulturellen Tendenzen >,hin zu einem immer stärkeren Realismus« (Bauer. T. 2018:63; Hervorh. AJ) und einer »kapitalistischen Fortschrittsideologie«. in der »ein Zurück nicht möglich erscheint« (Bauer. T. 2018:65; Hervorh. AJ). Innerhalb dieser beiden Grunddynamiken ist ein Mensch nur dann authentisch. wenn er »sein Inneres. seine vermeintlich unverfälschte Natur. ungefiltert nach außen stülpt«. weshalb derart konzipierte Authentizität für Bauer »das Gegenteil von Kultur« (Bauer. T. 2018:67) ist. Dabei blende der Authentizitätsdiskurs gerade das Verständnis aus. dass Menschen gesellschaftlich in verschiedenen Rollenidentitäten agieren. und ist insofern reduktionistisch. als er hinter den verschiedenen Rollen ausschließlich das eine universale »Selbst als Konsument« (Bauer. T. 2018:67) zulässt und die konsumierende Bedürfnisbefriedigung zum Prinzip erhebt. In identitätstheoretischer Betrachtung bedeutet Authentizität für Bauer die »Identität eines Individuums mit sich selbst« (Bauer. T. 2018:71). Auch die Frage nach der Identität trage in sich allerdings auch eine Tendenz zu Ambiguitätsintoleranz. zumindest dann. wenn sie vom Leitbegriff der Authentizität her entworfen wird. Problematisch wird das gerade dann. wenn der Begriff der Identität auf Kollektive ausgeweitet wird. Die Folge ist dabei das. was Bauer als Kästchenbildung bezeichnet. Gemeint ist damit (im politischen Bereich) die Idee. »dass sich Menschen sinnvollerweise in Rassen einteilen lassen und dass sich Rassen bzw. Kulturen nur dann entfalten können. wenn sie untereinander bleiben« (Bauer. T. 2018:77). Solche Kästchenbildung ist insbesondere deshalb problematisch. weil sie »nicht integrativ. sondern abschottend. trennend. segregierend« (Bauer. T. 2018:79) wirkt und nicht zu gegenseitiger Akzeptanz. sondern zu einer als »Toleranz« bezeichneten gegenseitigen Duldung ohne wirkliche Kommunikation oder Auseinandersetzung miteinander führt. Hier soll durch die Einteilung in Kästchen eine größtmögliche Eindeutigkeit erzeugt werden. Das spielt für die folgenden überlegungen der vorliegenden Arbeit insoweit eine Rolle als eine der Grundlagen (insbesondere der Assmann'schen Konzeption) des kollektiven Gedächtnisses jene ist. dass (kulturelle) Erinnerung in einem dezidiert identitäts(re)konstruierenden Zusammenhang gedacht wird. Es wird deshalb im Verlauf der Arbeit besonders wichtig sein. eine Sensibilität für die von Bauer als fundamentalistische Grundtendenz der Vereindeutigung beschriebenen Mechanismen insbesondere der westlichen Moderne zu behalten und so-

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2 Erinnerung und Tradition in der gebrochenen Moderne

wohl Erinnerungstheorie als auch Identitätskonstruktion unter ambiguitätstoleranten und deshalb wesentlich kommunikativen Vorzeichen zu betrachten. Daher ist die kritische Auseinandersetzung sowohl mit dem katholischen Integralismus (den sog. »Traditionalisten«, vgl. oben, S. 37ff.) als auch mit den schon skizzierten Dynamiken der Traditionsmaterialisierung und der Traditionsformalisierung notwendig. Auch die Grundtendenz der Eindeutigkeit, die sich gerade im kirchlichen Bereich an der Frage nach der Tradition entzündet, muss problematisiert werden und zwar nicht aufgrund einer grundsätzlich pluralistischen Haltung, sondern weil das kirchliche Selbstverständnis, wie es in den normativen Schriften des 11. Vatikanischen Konzils zum Ausdruck kommt, gerade nicht kästchenbildend und segregierend entworfen wird. Sowohl die dogmatische Offenbarungskonstitution Dei Verbum [DV] wie die dogmatische (Lumen Gentium [LGJ) und die pastorale (Gaudium et Spes [GSJ) Kirchenkonstitution verstehen kirchliche Identitäts(re)konstruktion gerade grundsätzlich vom Verständnis der Offenbarung als kommunikativ und Partizipation und Gemeinschaft eröffnend her. In den Paradigmenwechseln der theologischen Auseinandersetzung mit der Tradition (vgl. unten, S. 66-82) deutet sich eine überwindung der Vereindeutigungslogik schon an. Im Rahmen dieser Dynamik, die keine Depotenzierung der Tradition als ganzer oder auch einzelner Bräuche, Riten und Traditionen meint, sondern sich vielmehr gegen ihre Formalisierung und Materialisierung wendet und ihr Ganzes in einem ambiguitätstoleranten kommunikativen und partizipativen Gesamtzusammenhang wieder zur Geltung bringen will, will die vorliegende Arbeit mit dem Entwurf einer erinnerungstheoretisch fokussierten Traditionshermeneutik einen Beitrag leisten.

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2.4 Erinnerung und Tradition in der (Post-)Moderne

2.4 Erinnerung und Tradition in der (Post-)Moderne Wenn hier und im Folgenden die Rede von der Postmoderne ist, ist damit gerade jene Bewegung gemeint, die die Rückkehr des Vergangenheits bezugs in das Denken der Moderne in einem nicht-metaphysischen und antiessentialistischen Zugriff vor dem Hintergrund der Pluralisierung der gesellschaftlichen Lebenswirklichkeiten und Lebenshaltungen bezeichnet.

2.4.1 Gebrochenheitserfahrung als Grundzug der (Post-)Moderne Der postmoderne Wirklichkeitszugriff34 , der auch das kirchliche Leben und Denken im Rahmen der gleichen Dynamik der Säkularisierung erreicht hat, die auch für die Entstehung des Traditionalismus prägend war, ist gewissermaßen als zweiter Schritt in einer kritischen Aneignung dieser Säkularisierungsdynamik35 zu verstehen.

Bruch zwischen säkularer und religiöser Erfahrungswelt Es ist also jenes Auseinanderbrechen zwischen religiöser und säkularer Erfahrungswelt, die eine ganz radikale Nicht-Selbstverständlichkeit des Religiösen bedingen und einen Rechtfertigungsdruck und die Notwendigkeit der Neujustierung des Verhältnisses zwischen Kirche und sogenannter »Welt«. Mithin lässt sich der übergangs- und Wandelprozess, der bis heute anhält und dessen übergreifende Dynamik in der Wahrnehmung gewissermaßen nur aus der Froschperspektive zugänglich ist und so sein bedrohliches und identitätserschütterndes Postmoderne ist keine Epochenbezeichnung, sondern - mit Umberto Eco - ein spezifischen Wirklichkeitszugriff, j>eine Geisteshaltung oder, genauer gesagt, eine Vorgehensweise«, die sich auf die Vergangenheit - die Moderne - bezieht, die ,>auf neue Weise ins Auge gefaßt werden muß: mit Ironie, ohne Unschuld« (Eco 1984:77f.). Der Begriff ist bedeutungs gleich mit jenem der :»Spätmoderne«, die eine Haltung bezeichnet, die »in gebrochener Kontinuität zu einer Moderne [steht], die sich mach Auschwitz< ihrer eigenen Ambivalenzen bewusst wurde« und sich :->aus dem Impuls der Aufklärung heraus nun in selbstreflexiver Radikalisierung überschreitet« (Bauer, C. 2014:31; Hervorh. AJ). 35 Mehr und mehr wurde dieser Wirklichkeitszugang im 20. Jahrhundert nicht mehr :->in den :-antikatholischen< Diskursen der Umwelt verortet, sondern viehnehr als progressive, durch unterschiedliche gesellschaftliche Faktoren bedingte Phänomene innerhalb der katholischen Bevölkerung gesehen« (Breuer 2012:439). So werden mehr und mehr :->innerhalb der Religion Formen entwickelt [... ], die (potentiell) mit struktureller Säkularisierung :-auskommendie jeweils von einem Diskursakteur entworfen und in Form einer ausdifferenzierten Verkopplung von semantischen Elementen der Attributierung sowie von diskursiven Elementen der Kontextualisierung konkretisiert wird. Dies führt zur Entwicklung eines kohärenten Identitätsentwurfes« (Musiolz012:52). 44 Die ,>Konjunktur des Gedächtnisses« geht mit einer ,>tiefgreifende [n] Veränderung der traditionellen Beziehung zur Vergangenheit« einher (Nora 2002:1). 45 Zwar ist das Phänomen des Gedächtnisses ,>für jede Kultur konstitutiv [ ... ] und [schafft] erst die Voraussetzung für eine Kontinuität kultureller Tradierung« (Paaß 2009:13; vgl. dazu insbes. Er1l2005:23), gerade angesichts der modernen Infragestellung wird Erinnerung heute in neuer Form und Notwendigkeit artikuliert, sodass Erinnerungskultur ein typisch modemesPhänomen (vgl. Wolfrum 2010:14) ist. 42

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2 Erinnerung und Tradition in der gebrochenen Moderne

ponente eines spezifischen historischen Phänomens zu betrachten [... ], das gemeinhin als memory boom bezeichnet wird« (Sieb eck 2013:85). So ist die Erinnerung "die ,Pathosformel< der Gegenwart«46 geworden (Wolfrum 2010:14). Für Pierre Nora ist es, »als wäre eine Flutwelle der Erinnerung über die Welt hereingebrochen und hätte überall eine enge Verbindung zwischen der - realen oder imaginären - Treue zur Vergangenheit und dem Zugehörigkeitsgefühl, dem Kollektivbewusstsein und dem individuellen Selbstgefühl, dem Gedächtnis und der Identität geschaffen« (Nora 2002:1). Anhand der französischen Geschichte seit dem Beginn der 1970er Jahre zeigt Nora, dass es sich bei dieser Gedächtniskonjunktur um eine »Wiederverwurzelung des Imaginären in einer fernen Vergangenheit« (Nora 2002:2) handelt. Die »Bewegung, die dem Gedächtnis einen neuen Platz einräumt«, Nora bezeichnet sie als Epoche des Gedenkens, steht »am Schnittpunkt zweier großer historischer Phänomene, die der Epoche ihr Gepräge geben« (Nora 2002:3). Es geht dabei um ein zeitliches und ein gesellschaftliches Phänomen. Entscheidend für die Organisation des Gedächtnisses ist zunächst die Beschleunigung der Geschichte47 , die Nora in ganz ähnlicher Weise konstruiert wie Lübbe. Es ist der Verlust von selbstverständlicher, organischer Erinnerung (oder Tradition) - die »Explosion der historischen und zeitlichen Kontinuität« (Nora 2002:6) - die zur enormen Bedeutung des Gedächtnisses führt 48 Die Gegenwart wird eigenständig und ist nicht mehr »nur« selbstverständliches Bindeglied zwischen Vergangenheit und Zukunft. Der Effekt dieser Erinnerungskonjunktur ist eine »neue[] Ökonomie des Gedächtnisses«, »ein rapide sich intensivierender Gebrauch von der Vergangenheit [... ], sei es politisch, touristisch oder kommerziell« (Nora 2002:9). Neben der politischen und gesellschaftlichen Relevanz der Erinnerung prägt sie auch als Das hängt besonders, daran, dass die Schoah/der Holocaust ,>zahlreiche Reflexionen über den Begriff der Erinnerung, des Traumas und der Geschichte insgesamt inspiriert« (Winter zocn :5) hat. 47 Es ist eine Beschleunigung, in der j>das Kontinuierlichste und Dauerhafteste nicht mehr in der Dauerhaftigkeit und der Kontinuität besteht, sondern in der Veränderung« (Nora 2002:4), was eine Akkumulation bewirkt, die ,>mit dem Verlustgefühl zusammenhängt und verantwortlich ist für die Aufblähung der Gedächtnisfunktion, für die Hypertrophie der Institutionen und Hilfsmittel der Erinnerung: Museen, Archive, Bibliotheken, Sammlungen, Digitalisierung der Bestände, Datenbanken, Chronologien usw.« (Nora 2002:5), und andererseits eine Verselbstständigung der Gegenwart j>zwischen einer unvorhersehbaren Zukunft und einer wieder dunkel und undurchsichtig gewordenen Vergangenheit« (Nora 2002:6). 48 An anderer Stelle schreibt Nora programmatisch: j>Hausten wir noch in unserem Gedächtnis, brauchten wir ihm keine Orte zu widmen« (Nora 1998:12). 46

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2.4 Erinnerung und Tradition in der (Post-)Moderne

Paradigma nicht nur die Geschichtswissenschaft, sodass >,in der westlichen Welt [... ] Historiker und Historikerinnen [... ] mit Hilfe verschiedenster Definitionen Erinnerung als zentrales strukturierendes Konzept ihrer Arbeit ausgemacht« haben (Winter 2001:5), sondern auch auf den Bereich der Kulturwissenschaften insgesamt. Die große »Resonanz und Virulenz des Begriffs >Erinnerung< außerhalb der Akademie« hängt einerseits mit »seinem Potential als Metapher« zusammen, ist aber andererseits auch Symptom der »weitreichende[n] Verunsicherung [... ], wie angemessene Entwürfe von Vergangenheit aussehen könnten« (Winter 2001:16). Bei aller Konjunktur des Erinnerungsbegriffs und seiner eigenen Verwurzelung in den Neuausrichtungen der Postmoderne, ist es deshalb nach wie vor ein dringendes Desiderat, die Rede von der Erinnerung methodisch und erkenntnistheoretisch zu klären und zu vereinheitlichen, weil mitunter der »erkenntnistheoretische Gewinn dieses >Leitbegriffs< [... ] angesichts der [... ] Dauerverwirrung zwischen >Gedächtnis< als Praxis- und >Gedächtnis< als Analysekategorie stark bezweifelt werden« kann (Siebeck 2013:86). Vor diesem Hintergrund ist die »(Re-)Artikulation gedächtniskultureller Phänomene mit einem theoretisch reflektierten Begriff des Sozialen, Historischen und Politischen« notwendig, weil der »Begriff >Gedächtnis< [... ] zwar eine jeweilige symbolische Repräsentation erfasst und mit Blick auf immanente narrative Strukturen befragt« werden kann, jedoch »ihr Ort in einem jeweiligen historisch-sozialen Zusammenhang« nur schwer bestimmt werden kann (Siebeck 2013:86). Es geht hier einerseits um die Notwendigkeit begrifflicher Tiefenschärfe, wenn sich in diesem Paradigma bewegt wird, andererseits aber auch um die Verhältnisbestimmung zwischen Erinnerungstheorie und Geschichtswissenschaft. Beides spielt insbesondere im Zusammenhang dieser Arbeit eine zentrale Rolle. Einerseits wird sich die folgende fundamentaltheologische Besinnung im Wesentlichen auf zwei der profiliertesten Vertreter der Theorie des kommunikativen und kulturellen Gedächtnisses (Maurice Halbwachs und Jan Assmann) berufen, andererseits von der Aneignung des Erinnerungsparadigmas her möglichst genau beschreiben, wie die einzelnen Ebenen (materiale, formale, kommunikations- und narrationstheoretische Aspekte) in ihrem Zueinander verstanden werden und welche Rolle dabei der Geschichtswissenschaft49 zukommt. 49

Damit soll dem von Jay Winter artikulierten Desiderat entsprochen werden, »die verschiedenen Ebenen eigener Verunsicherung, allgemeiner Interessenlage und des vorherrschenden Enthusiasmus für Erinnerung durch stringente und empirisch gesicherte Aussagen über die Frage, was Erinnerung jeweils tatsächlich ist und was sie in der Vergangenheit war, zu verbin-

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2 Erinnerung und Tradition in der gebrochenen Moderne

2.5 Kulturwissenschaftliche Erinnerungstheorie Chancen und Grenzen Die folgenden Ausführungen stützen sich in erinnerungstheoretischer Hinsicht hauptsächlich auf die Rezeption der Theorie des kommunikativen und kulturellen Gedächtnisses von Jan Assmann, das "im deutschsprachigen Raum meistdiskutierte Konzept der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung« (Erll 2005:27). Das Konzept überzeugt »nicht nur durch seine sorgfältig ausdifferenzierte theoretische und begriffliche Fundierung [... ], sondern gerade auch durch die Möglichkeit, ganz unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen an diese Theorie anschließen und so miteinander in einem interdisziplinären Forschungsdiskurs vernetzen zu können« (Paaß 2009:21f.). Das ist gerade das Interesse einer fundamentaltheologischen Auseinandersetzung, die sich im Grundansatz als eine »Theologie im Außendienst« (Stock 2012:32) versteht und die Erkenntnisse des Erinnerungsdiskurses für den durch Formalisierung und die Auseinandersetzung mit dem Traditionalismus des 19. Jahrhunderts geprägten Traditionsdiskurs der (katholischen) Theologie fruchtbar zu machen versucht. Das Erinnerungsparadigma soll so zum Gesprächspartner einer fundamentaltheologischen Traditionshermeneutik 50 werden, die einen Ausweg aus den scheinbaren Aporien des theologischen Traditionsbegriff ermöglicht. Die spezifische Schwierigkeit bei der Auseinandersetzung mit der Erinnerungskultur ist es, dass es sich eben um einen Sammelbegriff »für die Gesamtheit des nicht spezifisch wissenschaftlichen Gebrauchs der Geschichte in der Öffentlichkeit - mit verschiedensten Mitteln und für verschiedene Zwecke« (Hockerts 2002:41) handelt. Während die analytische Tiefenschärfe, die die zentrale Unterscheidung Assmanns von kommunikativem und kulturellem (und kanonischem) Gedächtnis ermöglicht (vgl. Wolfrum 2010:18), außer Frage steht, ist doch gerade das Zueinander von individueller und kollektiver Erinnerung ein zentraler Kritikpunkt, oft »weit eher eine Q1lelle von Verwechslungen oder mangelnden Unterscheidungen als Ursprung tieferer Erkenntnis« (Kablitz 2006:230). Diese Kritik hängt wesentlich mit der Rezeption von Maurice Halbwachs zusammen. Einigen Kritikern scheint es in diesem Zusammenhang, das individuelle Gedächtnis werde als» bloße Funktion dieser kollektiven Erinnerungsformen in-

50

den« (VVinter 2001:16). Der Ansatz vonJan Assmann erscheint in diesem Zusammenhang als j>eigener systematischer

Beitrag zur philosophischen Hermeneutik« (Müller, K. 2006:87).

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2.5 Kulturwissenschaftliche Erinnerungstheorie - Chancen und Grenzen

terpretiert« (Dejung 2008:98). Es wird also im Anschluss an das Nachzeichnen der Positionen von Maurice Halbwachs und Jan Assmann unausweichlich sein, das Verhältnis zwischen kollektiver und individueller Erinnerung möglichst genau zu bestimmen. Darüber hinaus sollte mit ChristofDejung über das »Potenzial eine[r] Erweiterung der Erinnerungsgeschichte um die Methode der Oral History« (Dejung 2008:99) nicht nur in sozialhistorischer, sondern zumal auch in theologischer Perspektive nachgedacht werden (vgl. Dejung 2008). Einige Theorien der Erinnerungskultur haben die Tendenz, die Perspektive der Erinnerung gegen geschichtswissenschaftliche Betrachtung in Stellung zu bringen.'! Es wird im Folgenden ein konstruktives Zueinander von (poetisch-narrativer) kollektiver Erinnerung und (kritischer) Geschichtswissenschaft zu entwickeln sein, zu dem insbesondere die Verhältnis bestimmung von Paul Ricceur verhelfen wird. Ein weiterer zentraler Kritikpunkt an der Assmann'schen Konzeption ist, dass sein Konzept des kulturellen Gedächtnisses gewissermaßen eine imperativische Dynamik entwickelt. 52 Eine zu unreflektierte Rezeption der Untersuchungen von Assmann könnte hier zu einem doktrinären Verständnis des Zueinanders der kulturellen zur kommunikativen (lebendigen) Erinnerung der jeweiligen Gruppe führen. Es wird sich als sinnvoll erweisen, den Gedanken der verschiedenen Erinnerungsgruppen, die miteinander in einem gesellschaftlich-kirchlichen Erinnerungsdialog stehen, gegen diese Vereinheitlichungstendenz bei Assmann zur Sprache zu bringen und gerade das dialogische Moment des Zueinanders zu betonen.

Wie auch Halbwachs (vgl. unten, 4.1.5, S. 139) unterscheidet etwa Pierre Nora deutlich zwischen Gedächtnis und Geschichte. Er schreibt programmatisch: j>Gedächtnis, Geschichte: Keineswegs sind dies Synonyme, sondern, wie uns heute bewußt wird, in jeder Hinsicht Gegensätze. Das Gedächtnis ist das Leben: stets wird es von lebendigen Gruppen getragen und ist deshalb ständig in Entwicklung, der Dialektik des Erinnern und Vergessens offen, es weiß nicht um die Abfolge seiner Deformationen [... ], ist für alle möglichen Verwendungen und Manipulationen anfällig, zu langen Schlummerzeiten und plötzlichem Wiederaufleben fähig« (Nora 1998:12). »Das Gedächtnis ist stets ein aktuelles Phänomen, eine in ewiger Gegenwart gelebte Bindung, die Geschichte hingegen eine Repräsentation der Vergangenheit« (Nora 1998:13; Hervorh. AJ). 52 Nicht zuletzt Erkenntnisse der Oral History legen es dagegen nämlich nahe, dass gerade den ,>Spannungen und IIlkongruenzen zwischen individuellen Erinnerungen und hegemonialen Erinnerungsdiskursen« (Dejung 2008:98) eine zentrale Bedeutung zukommt, die nicht vorschnell durch einen mit guten Gründen aus der jüngsten deutschen (und nur aus der deutschen) Geschichte hergeleiteten Imperativ des nie wieder eingeebnet werden sollten. 51

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2 Erinnerung und Tradition in der gebrochenen Moderne

2.6 Diskussionsstand der theologischen Traditionstheorie Nun könnte man zunächst methodisch angesichts der vielfältigen skizzierten Unschärfen geneigt sein, sich die Frage zu stellen, die Christoph Markschies in der Einleitung zum vom Werk von Pierre Nora angeregten Band Erinnerungsorte des Christentums aufwirft: »Wollen jetzt auch noch die Theologen auf den eigentlich schon längst abgefahrenen Zug der Erinnerungskultur aufspringen?« (Markschies/Wolf 2010:11). Dass die vorliegende Arbeit die Frage eindeutig und ausdrücklich mit Ja beantwortet, hängt in erster Linie damit zusammen, dass ein im Blick auf die skizzierten Kritikpunkte präzisierte theologischen Aneignung einer Theorie vom kommunikativen, kulturellen und kanonischen Gedächtnis eine Bereicherung für den theologischen Traditionsdiskurs ist. Trotz und angesichts der Eröffnung einer kommunikativen Traditionshermeneutik durch die Offenbarungskonstitution des 11. Vaticanums neigt dieser Diskurs in den konkreten Auseinandersetzungen nämlich zu Formalisierung und Reduktion. Insbesondere weil » ... das Christentum als Offenbarungsreligion [... ] nicht anders denn als Erinnerungsreligion zu denken« (Markschies/Wolf 2010:11) und im Grunde selbst »nichts anderes als eine große Topographie von Erinnerungsorten« (Markschies/Wolf 2010: 11) ist, kann eine erinnerungstheoretisch fokussierte Neuformulierung der Traditionshermeneutik diesen Diskurs bereichern.

2.6.1 Loslösung vom traditionshermeneutischen Formalismus

In den aktuellen Auseinandersetzungen um die Identität der Kirche zeigen sich deutlich die Spuren der Auseinandersetzung mit dem Traditionsmaterialismus der integralistischen Gruppierungen. Gleichzeitig ist es in der theologischen Auseinandersetzung und insbesondere im Rahmen lehramtlicher Aussagen entlang der Grundtendenz der Vereindeutigung zu einem Traditionsformalismus gekommen, der erst in den letzten Jahren zunehmend überwunden wird. Diese überwindungstendenzen prägen die jüngere Diskussion um die Frage der Tradition bzw. konkreter der Lehr- und Dogmenentwicklung. Das zeigt sich etwa auch an dem jüngst erschienenen Buch von Michael Seewald53 , der unter dem 53

Interessant ist dabei allerdings, dass Seewald die kontroversen Diskussionspunkte nur äußerst vorsichtig benennt und das zudem auch nur indirekt mit einem Zitat von Magnus Striet: Die Theologie müsse ,>zugeben, dass ,alle Theologien - und das Lehramt bietet auch nichts anderes

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2.6 Diskussionsstand der theologischen Traditionstheorie

programmatischen Titel Dogma im Wandel eine Theorie der Dogmenentwicklung vorlegt, die >>veränderung [... ] als Veränderung in Relation zum Gleichbleibenden zu deuten« versucht und dabei die »instabile Gleichzeitigkeit von Kontinuität und Diskontinuität zu bedenken hat« (Seewald 2018:18f.). Schon in seiner Einleitung weist Seewald auf die formalistische Verengung 54 der Auseinandersetzung um die Tradition hin und bemängelt, dass heute der »Streit über die Notwendigkeit oder die Illegitimität von Veränderungen« virulent ist, dieser aber nur äußerst selten mit einer »Einzelfragen übersteigenden Reflexion auf das Phänomen dogmatischer Entwicklung [... ] verbunden [wird], obwohl dieses Grundproblem stets mitschwingt« (Seewald 2018:19). Traditionsformalistisch ist das insofern, als die formale (Un)Möglichkeit der Veränderung der Tradition (als Oberbegriff) dabei weitgehend unabhängig von Inhalten, Kontexten oder Dialogsituationen gestellt wird. Symptomatisch dafür sind die Zweifel (»Dubia«) vierer Kardinäle (vgl. Seewald 2018:20, ferner Knop 2017:259f.) in Reaktion auf die päpstliche Exhorte Amoris laetitia von 2016. Seewald fühlt sich der überwindung dieser Engführung verpflichtet und versteht seine überlegungen so, dass sie die aktuellen kirchlichen» Reformdiskurse in einen dogmengeschichtlichen und theologischen Kontext ein [betten], der zeigt, dass der Spielraum für Veränderungen größer ist als manche meinen« (Seewald als Theologie! - mit ihren Gottesvorstellungen und Normativitäten nichts anderes darstellen als anthropogene Ausdeutungen des notwendig zu denkenden Absoluten«< (Striet 2014:104f. bei Seewald 2018:292). Wenn nach einer grundlegenden fundamentaltheologischen Traditionshermeneutik gefragt wird, so ist ein dringendes Desiderat auch eine positive Verhältnisbestimmung von akademischer Theologie zum Lehramt im Gesamt des Traditionsprozesses der Kirche. Zu denken wäre bei einer solchen Bestimmung etwa an die vonJürgen Werbick unter Berufung aufThomas von Aquin vorgelegte Unterscheidung zwischen dem magisterium cathedrae pastoralis und dem magisterium cathedrae magistralis (vgl. Werbick 2005:847f. und ferner zur Debatte Leven 2016). Auch die Frage einer pneumatologischen Neuorientierung bleibt bei Seewald unterrepräsentiert. Zwar referiert er kundig sowohl Vinzenz von U~rins als auch insbesondere die pneumatologische Ekklesiologie von Johann Adam Mähler (vgl. Seewald 2018:187-196), in seiner eigenen Systematisierung vertraut er jedoch stärker auf die Wissenschaftlichkeit der Theologie (vgl. Seewald 2018:291ff.). Er kann denmach dem Movens des Geistes als Instanz kreativer Fortentwicklung nur ,> [i]m Modus des hoffenden Glaubens, nicht des Wissens« zugestehen, dass die Kirche davon ausgeht, ,>dass sie als gättliche Stiftung, der das Evangelium anvertraut ist, in allen Irrgängen der Geschichte nicht derart irregeht, dass sie das Evangelium vollständig verliert« (Seewald 2018:293). Demgegenüber wird es der vorliegenden Arbeit stärker darum gehen, die kirchliche Traditionsdynamik im Spannungsfeld von pneumatologischer Kreativität und christologischer Kriteriologie zu entwerfen. 54 Diese Terminologie verwendet Seewald selbst nicht, sie verdankt sich der Differenzierung zum Traditionsmaterialismus, die die vorliegende Arbeit vorschlägt.

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2018:20). Hierbei geht es Seewald darum, Hermeneutiken der Diskontinuität und des Bruchs ss , wie sie ]oseph Ratzinger/Benedikt XVI. in seiner Weihnachtsansprache an die Römische Kurie 2005 skizziert hat (vgl. unten, 2.6.2.7, S. 97ff.) eine Reformhermeneutik entgegenzusetzen, bei der der "Garant einer durch den Wandel der Zeiten hindurchreichenden Kontinuität [... ] nicht - wie bei Lefebvre die Glaubenslehre, sondern die Gemeinschaft der Kirche« (Seewald 2018:287) ist. Mit Karl-Heinz Menke steht für ihn das Dogma dabei im Dienst »der vertikalen Inkarnation des göttlichen Logos in die horizontale Inkarnation der ChristoPraxis« (Menke 2017:108; vgl. auch Seewald 2018:289). Es ist als »propositionaler Ausdruck des Geglaubten und damit auch als Rechenschaft über den Glauben, die Ablehnung oder Zustimmung hervorruft, [... ] unerlässlich« (Seewald 2018:288). Während also - und das ist nicht nur für Seewald symptomatisch, bei ihm jedoch sogar reflektiert programmatisch - die Diskussion um ein grundlegend neues Verständnis von Tradition und damit auch Dogmenentwicklung weitgehend anhand letzterer diskutiert und dort die Problematiken und Aporien aufgezeigt werden (die Diskussion damit jedoch auch traditionsformalistisch verhaftet und begrenzt bleibt), deutet sich in der jüngeren Diskussion ein umfassender Paradigmenwechsel an. Diesem Paradigmenwechsel sieht sich die vorliegende Arbeit nicht nur verpflichtet, sondern sie hofft auch, mit einer erinnerungstheoretisch begründeten fundamentaltheologischen Traditionshermeneutik dazu einen systematisierenden Beitrag zu leisten. Im Folgenden soll nun dieser (zumindest sechsfache) Paradigmenwechsel dargestellt werden, der die Grundlage für das Kommende bildet. 2.6.1.1 Vom doktrinalen zum ekklesialen Paradigma

Seewald entwickelt ausgehend von großen dogmenhermeneutischen Entwürfen der Kirchengeschichte eine Typologie von elf Idealtypen, die sich in unterschiedlicher Konstellation in den Realtypen der Dogmengeschichte wiederfinden. Die grundlegende Gemeinsamkeit ist, dass »alle theologischen Entwick55

Für Seewald sind die Hermeneutiken der Diskontinuität dabei jedoch nicht durch die kirchenpolitische Perspektive vorgeprägt. Sie werden sowohl von denjenigen Theologen vertreten, »denen die Neuerungen des Konzils nicht weit genug gegangen sind«, als auch :>:>auf der anderen Seite des kirchenpolitischen Spektrums, bei Erzbischof Marcel Lefebvre«, bei dem j>die Henneneutik des Bruchs in ihrer Reinform vorzuliegen« (Seewald 2018:286) scheint.

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2.6 Diskussionsstand der theologischen Traditionstheorie

lungstheorien per definitionem davon aus[gehen], dass eine gewisse Art der Entwicklung legitim ist« (Seewald 2018:276), wohingegen die einzelnen Typen die Voraussetzungen und Möglichkeiten der Entwicklung teilweise vollständig gegensätzlich bestimmen. So hat etwa der depositionale Typos56, der vor allem in neuscholastischen Entwicklungstheorien zutage tritt ein völlig anderes Entwicklungsverständnis als der aktuale Typos57 (vgl. Seewald 2018:278). Beide bilden jedoch die Pole eines Spannungsfeldes, in dem sich dogmatische Entwicklungstheorien bewegen. Bei der Frage nach dem genauen Bezugspunkt der Entwicklung zeigt sich besonders das traditionsformalistische Erbe: Es "herrscht seit dem 19. Jahrhundert eine Fokussierung auf das lehrhafte Moment vor«, was Seewald als doktrinalen Typos bezeichnet, demzufolge sich »die Glaubenslehre entweder in dem Sinne, dass neue Lehren hinzugekommen oder dass bestehende Sätze in anderer Weise [... ] aufgefasst worden seien« (Seewald 2018:277) entwickelt hat. Eine Fokussierung auf die satzhaften Objektivierungsformen von Traditionen in propositionaler Form (so ist für Seewald ein Dogma bestimmt) muss nicht per se starr oder undynamisch sein, anhand der jeweiligen Rezeptionsform und der dabei verwendeten Formulierungen kann grundsätzlich durchaus ein Wandel und eine Weiterentwicklung gedacht werden. Dafür greift doktrinale Dogmenhermeneutik auf die Differenzierung zwischen einer (historisch bedingten und wandelbaren) Form und einem (überhistorisch gültigen) Inhalt zurück. Solche Unterscheidungen sind grundsätzlich legitim und »dokumentieren wichtige hermeneutische Einsichten«, sie werden »dem Umfang und der Radikalität der tatsächlichen Veränderungen jedoch nicht gerecht« (Tapp 2015:155, vgl. dazu auch Essen 2015:176). Inhalte dogmatischer Sätze sind nicht beliebig neu informierbar im Sinne eines Kern-Schale-Models (vgl. dazu auch Essen 2015:188). Sie liegen nur und ausschließlich in Kombination mit einer Form vor und können nicht von ihr abstrahiert werden (vgl. Tapp 2015: 155). Einzelne dogmatische Aussagen sind immer auf ein gemeinsames oder geteiltes (narratives) BedeuDer depositionale Typos zeichnet sich dadurch aus, dass der davon ausgeht, j>dass die Kirche ein stabiles depositum fide~ ein ihr einmalig anvertrautes Offenbarungs gut durch die Zeiten trägt, ohne sich zu jeder Zeit voll bewusst zu sein, was in ihrem Depositorium, ihrem göttlichen Vorratsraum, den die Offenbarung reich befüllt hat, alles enthalten ist« (Seewald 2018:278). 57 Der aktuale Typos postuliert, »dass Offenbarung sich stets neu im Raum der Kirche ereigne, weshalb die Dogmenentwicklung sich nicht durch einen Rückgriff auf ein abgeschlossenes, positiv anhand von Q!Iellen (etwa der Schrift oder Zeugnissen der Tradition) greifbares Depositum normieren lasse« (Seewald 2018:278). 56

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tungsgefüge angewiesen. Ein ähnliches Problem stellt sich bei Explikationen, die das zweite wichtige Entwicklungsprinzip in doktrinalen Dogmenhermeneutiken sind. Eine neu hinzutretende Lehre - die, so die Grundthese der Explikation, vorher (angeblich) schon implizit mitgeglaubt bzw. mitgedacht worden ist - kann in der Regel >>nur schwache Konvenienzgründe vorbringen [... ], während es nahezu unmöglich scheint, sie historisch redlich bis auf die apostolische Lehre zurückzuverfolgen« (Tapp 2015:157). Dass ein solches Unterfangen insbesondere im Blick auf einzelne dogmatische Sätze und die Frage nach Bruch bzw. Kontinuität zu anderen Sätzen letztlich in Aporien endet, liegt insoweit auf der Hand. Der Zusammenhang zwischen Bruch und Kontinuität in der Dogmenhermeneutik lässt sich deshalb sinnvoll nicht auf einzelne Sätze anwenden, sondern stellt sich in veränderter Form für die Gesamtheit der Sätze und Bedeutungen im Rahmen der kirchlichen Tradition als ganzer. Im Sinne dieser Perspektiverweiterung wird eine doktrinale Verengung der »Frage nach Kontinuität und Diskontinuität auf einen Teilaspekt ihrer selbst« (Seewald 2018:289) zunehmend überwunden58 , sodass hinsichtlich der Frage von Bruch und Kontinuität neben dem doktrinalen auch zunehmend das ekklesiale Moment wieder in den Blick kommt. 2.6.1.2 Vom satzhaften zum textlich-kontextuellen Paradigma

Das bedeutet aber keineswegs, dass die tatsächliche Lehrverkündigung den skizzierten doktrinalen Formalismus in Bezug auf einzelne neue Aussagen auch so handhabt. Zwar sind kirchlich gerade im Rahmen der Pontifikate von Johannes Paul 11. und Benedikt XVI. Vereindeutigungs- und damit auch Formalisierungstendenzen etwa im Bereich der Ethik (vgl. Striet 2018:102) oder auch der Liturgie (vgl. Böntert 2015:214ff.) unverkennbar, in denen die »zentrale Verrechtlichung und Steuerung durch die römische Kurie [... ] über das für das einheitliche Auftreten der Kirche nach außen wie für den Zusammenhalt der Kirche erforderliche Ausmaß hinausgegangen« (Böntert 2015:214) ist 59 Trotzdem ist Seewald verweist hier insbesondere auf die Dynamik und Argumentation der päpstlichen Exhortation Amoris laetitia (vgl. Seewald 2018:288ff.). 59 Angesichts der Kontroverse um die Richtlinien zur übersetzung liturgischer Texte, wie sie die Instruktion der Gottesdienstkongregation Liturgicam authenticam aus dem Jahr 2001 entwirft, fasst Alex Stock in der Einleitung zu seiner eigenen übersetzung der Oratianen der Sonntagsmessen sehr pointiert die unterschiedlichen Ansätze in ihrer jeweiligen Argumentation zusammen. Das Motiv des doktrinalen Formalismus präzisiert er dann wie folgt: Was den ,>Philologen, den Liebhaber der Sprache, am meisten missfällt, dass nicht die Liebe zur Religion, zu 58

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2.6 Diskussionsstand der theologischen Traditionstheorie

die eingangs schon erwähnte Position der Dubia-Kardinäle 60 eine Zuspitzung, die gerade einen solchen fortgesetzten Formalismus 61 einfordert. Papst Benedikt XVI. hat insbesondere durch seinen Verweis auf die Notwendigkeit einer Hermeneutik der Reform eine grundsätzliche Möglichkeit (eben eine Hermeneutik) eröffnet, dem aporetischen Zueinander zweier Aussagen aus verschiedenen Kontexten, die sich auf einer vermeintlich objektiven Ebene widersprechen, zu entkommen. Mit Julia Knop lässt sich diese Reform-Hermeneutik über die konkrete Rezeption des Zweiten Vaticanums auch auf die Dogmengeschichte und Lehrentwicklung übertragen. Entscheidend werden dabei die textlichen Signale62 , die kirchliche Verlautbarungen setzen. Ein Signal der Kontinuität ist die »selektive Zitation älterer, meist hochrangiger, Außerungen« (Knop 2017:259), Signale einer Leseanweisung im Sinne einer Reform sind etwa das Auslassen älterer Referenz. So gibt es verschiedene Möglichkeiten, eine Lehrentwicklung zu explizieren, in Formulierungen, Applikation bzw. Adaption, Explikation, lehrmäßigen Deklarationen und dogmatische Definitionen können etwa Dogmen in einen neuen Zusammenhang gestellt werden (vgl. Knop 2017:259). Schon die rein sprachlichen Möglichkeiten in lehramtlichen Verlautbarungen weisen also einen größeren Spielraum auf. Knop zeigt das anhand verschiedener Neupositionierungen des Zweiten Vaticanums. Im Blick auf die Liturgie etwa werde »deutlich, dass Paul VI. die Messe nach der heute sogenanntenforma ordinaria gegenüber dem Missale von 1962 als Entwicklung, d.h. als fortgeschrittenes Stadium der liturgischen und ekklesiologischen überlieferung der Kirche betrachtete« (Knop 2017:262). Und die erneuerte Haltung des Zweiten Vaticanums in Bezug auf Okumenismus und Religionsfreiheit sei ihrem Reichtum, ihrer Schönheit, sondern doktrinale Herrschsucht die Atmosphäre bestimmt« (Stock 2011:14). 60 Die Dubia sind eine Kritik nach der Devise j>Verbindlich ist nur, was immer schon galt«, Das aber ist eine Strategie, die j>der Konstruktion ungebrochener Kontinuität [dient]« (Knop 2017:259f.), demgegenüber die j>irritierende Neuerung [ ... ] zur lediglich pastoralen, doktrinell irrelevanten Weisung oder falliblen Privatmeinung marginalisiert« (Knop 2017:260) wird. 61 Julia Knop bemerkt im Hinblick auf die Dubia der fünf Kardinäle: j,hn Zweifel der Autoren

stehen also nicht Sinn oder Unsinn einzelner ehepastoraler Positionen als solcher, sondern die Lehrkonformität des amtierenden Papstes und die Legitimität seiner Exhorte. Beides messen sie daran, ob in Amoris laetita substanzielle Neuerungen oder lediglich neue Formulierungen zutage treten. Während die Kardinäle ihre dubia ausführlich erläutern, genüge als päpstliche Antwort ein einfaches Ja oder Nein ohne ,theologische Argumentation«< (Knop 2017:256). 62 "Ein Text kann Signale der Kontinuität setzen oder etwas als Reform präsentieren. Je nach Konstruktion gibt ein Text dem Rezipienten seine Leseanweisung an die Hand: So und nicht anders soll er verstanden werden« (Knop 2017:259).

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»nicht als marginale Anpassung des überkommenen an neue Kontexte, sondern als substanzieller Fortschritt bzw. Korrektur erklärt [worden], der seither verbindliche kirchliche Lehre ist« (Knop 2017:263). Ganz grundlegend ist es die Erkenntnis der Geschichtlichkeit und Kontextualität nicht nur der Dogmen (oder gar ihrer sprachlichen Form), sondern der Kirche selbst (vgl. Knop 2017:264), die diese einzelnen Entscheidungen verbindet und damit auch den Kern der Hermeneutik der Reform ausmacht (vgl. dazu noch einmal genauer, unten, S. 73-77). Das bedeutet aber dann auch, dass sich die Reflexion über die Rahmenbedingungen der Dogmenentwicklung vollkommen verschiebt. An diesem Punkt greift Knop auf Gedanken von Karl Rahner zurück. Sinn, Möglichkeiten und Grenzen von Dogmenentwicklung können in einem geschichtlichen und damit letztlich auch kontextuellen Verständnis »nicht aus allgemeinen theologischen Erwägungen allein« abgeleitet werden, sondern müssen »abgelesen werden an den realen Fakten einer solchen Dogmenentwicklung« (Rahner 1967a:52). Erst dieses wirklich umfassende Bewusstsein der Geschichtlichkeit und Kontextualität kann dann das Kern-Schale-Modelllehramtlicher Aussagen wirklich überwinden und damit »die ganze doktrinelle und liturgische Tradition der Kirche auf ihr >christologisches Fundament«< - hier zitiert Knop das Schreiben Die Interpretation der Dogmen der Internationalen Theologenkommission (vgl. IThK 1990:257) - »beziehen, das ebenfalls nicht anders denn als geschichtliches Ereignis verständlich wird« (Knop 2017:264). Eine so gedachte Hermeneutik der Reform speist sich zunächst aus dem christologischen Zentrum des Glaubens. Von daher werden dann die Fragen nach Kontinuität und Bruch neu - und wirklich dezidiert theologisch - gestellt (zum genaueren christologisch-kriteriologischen Bezugspunkt der Traditionshermeneutik vgl. unten, S. 79). Nach der Duhem-Q1line-These sind überzeugungen holistisch, »d.h. sie bestimmen sich in ihrer Bedeutung derart gegenseitig, dass es keinen Sinn hat, eine einzelne überzeugung mit der Realität zu konfrontieren und auf diesem Wege nach ihrer Wahrheit zu fragen« (Tapp 2015:160). In einer geweiteten nachdoktrinalistischen Perspektive geht es also darum, angesichts der Bedeutungsrelativität einzelner dogmatischer Sätze eine theologische Grundhermeneutik der Tradition zu entwerfen angesichts der Vielfalt an Einflussfaktoren und deren Wechselwirkungen. Es ist insofern ein Desiderat, »einen überblick über das Gesamtmuster der verwendeten Termini und der vertretenen überzeugungen zu erlangen, um zu sehen, wie weit sich dieses Gesamtmuster mit den überlieferten Mustern und Vorstellungen zur Deckung bringen lässt« (Tapp 2015:161;

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Hervorh. AJ). Eine solche fundamentaltheologische Traditionshermeneutik ist dann natürlich immer auf die Expertise einer informierten Dogmenhermeneutik zurückverwiesen, die die Entwicklungsprinzipien nachzeichnen kann. In dem skizzierten Sinn geht es der vorliegenden Arbeit aber darum, Grundlagen und Paradigmen eines solchen biblisch fundierten Gesamtmusters darzustellen. Dafür wird im Folgenden die von Assmann in Bezug auf das kanonische Gedächtnis getroffene Unterscheidung zwischen dem geheiligten Bestand und dem heiligenden Prinzip (vgl. unten, S. 178ff.) ein zentraler Argumentationsschritt sein.

2.6.1.3 Vom metaphysisch-teleologischen zum geschichtlichen Paradigma Die Öffnung vom doktrinalen zum ekklesialen Paradigma führt dann auch sowohl auf einer formalen wie auf einer inhaltlichen Ebene zu etwas, das hier geschichtliches Paradigma genannt werden soll. Dieses Paradigma beinhaltet sowohl eine historische (die Geschichte) als auch eine narrative (die Geschichten) Komponente. Gemeint ist damit, dass über die traditionsmaterialistische Betrachtung hinaus, die alle Inhalte der Tradition unterschiedslos als (unveränderliche) Materialien gedacht hat, zunehmend zwischen Traditionsmaterialien (Assmann nennt sie Artefakte) und ihrer narrativen Verknüpfung, die grundsätzlich kommunikativ und auf Kommunikation angelegt sind, differenziert wird. Damit einher geht ein umfassendes geschichtliches Grundverständnis von Traditionsmaterial und Traditionsprozess. Georg Essen ist deshalb zuzustimmen, wenn er aus der »historisch aufweisbarer nJ Variabilität von Glaubensaussagen« darauf schließt, dass man es »stets mit historisch-kontingenten und deshalb pluriformen Artikulationsweisen des Glaubens zu tun« hat (Essen 2015:176), was nicht nur für die Vergangenheit, sondern auch für die Gegenwart gilt. Ja es ist geradezu das Gegenwartsinteresse (vgl. Essen 2015:178) und nicht das Interesse an der Vergangenheit, das sich hinter Traditionen verbirgt. Einzig in einem instruktionstheoretisch verengten Offenbarungsverständnis (vgl. unten, S. 77ff.) werden die Inhalte und Materialien der Tradition in substantialistischer und metaphysisch-teleologischer Weise verengt. In diesem Zusammenhang gilt es, das Offenbarungsmodell des 11. Vaticanums stark zu machen. Wenn Offenbarung - in einem kommunikationstheoretischpartizipativen Modell - als Selbstmitteilung Gottes verstanden wird, »verän-

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dert [sich] bereits darum de[r] kognitiver] Zugang zur Offenbarung, weil das von Gott her eröffnete Geschenk der >Teilhabegewährung< einen hermeneutischen Vollzug impliziert, der ein existentielles Sich-Verstehen aufseiten des Menschen in Anspruch nimmt« (Essen 2015:180). Das aber bedeutet schon eine Geschichtlichkeit im doppelten oben skizzierten Sinn, weil »es ein menschliches Existenzverständnis nur als ein geschichtlich vollzogenes gibt« und stärker noch, weil »für Gottes Selbstoffenbarung die Form ihres geschichtlichen Gegebenseins konstitutiv ist«, weil Selbstmitteilung konkret bedeutet, dass Gott »in der Geschichte ]esu zum Heil der Menschen gehandelt und sich selbst, seine Wirklichkeit und sein Wesen, mitgeteilt hat« (Essen 2015:180f.). Ein kommunikationstheoretisches Offenbarungsmodell ist deshalb immer schon geschichtlich und entwickelt ein geschichtliches Kriterium für die Wahrheit des Glaubens: sie »ist an die Wirklichkeit der Geschichte ]esu, um deren Bedeutung es ja geht, gebunden« (Essen 2015:181). Auch die mit der Traditionsdynamik verknüpfte Wahrheit muss damit geschichtlich verstanden werden, sie ist eine geschichtlich gegebene Wahrheit, sie »kann [... ] nach diesem Geschehen nicht überführt [... ] werden in ein Wissen, das[] uns von sich aus verfügbar oder kraft eigener Vernunfterkenntnis zu verbürgen wäre« (Essen 2015:182). Aus der geschichtlichen Gegebenheit der Wahrheit des Glaubens - der Selbstüberlieferung Gottes in ]esus Christus - schließt Georg Essen, »dass sich die Weitergabe des Glaubens wesentlich als Erinnerung vollzieht« und zwar als eine Erinnerung, die daran interessiert ist, »diesen, mit Lessing gesprochen, >garstig breiten Graben< zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu überbrücken« (Essen 2015:182; Hervorh. AJ), was für ihn wesentlich im Medium der Erzählung passiert. So lässt sich eine »anamnetisch-narrative Struktur des individuellen Glaubensaktes« und »der Glaubensüberlieferung überhaupt« (Essen 2015:182) erweisen, die von der Gemeinschaft der Gläubigen getragen ist. Essen identifiziert dieses Erinnerungsgeschehen mit dem Begriff des Geschichtsbewusstseins und greift dabei auf die Definition von ]örn Rüsen zurück, nach dem dieses »ein bestimmter Modus der Sinnbildung über Zeiterfahrung durch Erzählen« (Rüsen 2013:53) ist. Dieses Geschichtsbewusstsein hat für Essen seinen Ort in erster Linie in der Gegenwart63 . Damit wird auch der Begriff der Kontinuität anders, nämlich grundlegend narrativ und damit auch rekonstruktiv bestimmt, sie 63

Es ist »nur insofern ein Bewusstsein von der Vergangenheit, als es an einem Vennittlungszusammenhang von Vergangenheitsdeutung und Gegenwartsverständnis interessiert ist« (Essen 2015:183), dagegen handelt es sich bei dem, ,>was Geschichte ist, um eine retrospektive Konstruktion« (Essen 2015:184).

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»kommt durch eine Erzählung zustande, die die Erinnerung der Vergangenheit und die Erfahrung der Gegenwart umgreift« (Essen 2015:184). Wiewohl sich die vorliegenden Arbeit den Grundgedanken von Georg Essen in diesem Punkt nur anschließen kann, so will es doch scheinen, dass der Begriff des kollektiven (genauer des kommunikativen, kulturellen und kanonischen) Gedächtnisses in der Traditionslinie von Maurice Halbwachs und Jan Assmann

für die Auseinandersetzung besser geeignet ist als jener des Geschichtsbewusstseins. Er hebt genauso auf die (Re-)konstruktivität von Gedächtnis und Geschichte(n) und die konstitutive Gegenwartsbedeutung ab, insbesondere für die Identitäts(re)konstruktion (vgl. Essen 2015:185). Gerade das kommunikative Moment der einzelnen Gedächtnisse und der Kollektivgedächtnisse bzw. der Gedächtnisgemeinschaften untereinander - in einem gesellschaftlichen Dialog der Erinnerungen - ist aber für das von Essen zurecht (Essen 2015:180f.) als kommunikatives und auf Partizipation angelegte Offenbarungsverständnis von Dei Verbum (vgl. DV 6) deutlich stärker anknüpfungsfähig. Zurecht weist Georg Essen auf die beständige Tendenz eines erinnerungstheoretisch fokussierten und sich dem Dialog mit einer historischen Kritik entziehenden Traditionsverständnisses hin, das »unter Einschluss seines lebenspraktischen Interesses« insbesondere »an der Stabilisierung von Identität« interessiert ist (Essen 2015:185), den »Gang der überlieferung metaphysisch-teleologisch deuten zu wollen« (Essen 2015:188). Der narrative Grundzug einer zeitgenössisch-adäquaten Traditionshermeneutik, der Kontinuität nicht durch formal oder formalistisch gesicherte Herkünftigkeit, sondern ausschließlich als »organisierende, [... ] konstruierende Erzählung« (Essen 2015:188) verstehen kann, muss deshalb deutlich herausgestellt werden, auch in seiner Konsequenz, dass eine Teleologie des Traditionsprozesses eben ausschließlich in einer nach-metaphysischen, kommunikativen Weise (re)konstruiert werden kann. Ein einfacher Kontinuitätsbezug ist in der gebrochenen Moderne nicht mehr möglich, vielmehr ist Kontinuität auch theologisch redlich ausschließlich unter Berücksichtigung der Gebrochenheit(en) und in einem dialogisch-kommunikativen Miteinander verschiedener Akteure zugänglich. In diesem Rahmen benötigt »jeder Traditionsbildungsprozess Selektionskriterien, anhand derer im Vollzug traditionalen Erzählens die überlieferung deutend organisiert wird« (Essen 2015:190; Hervorh. AJ). Dafür kommt der wissenschaftlichen Kirchen- und Dogmengeschichte eine besondere kriteriologische Rolle sowohl in Bezug auf die Traditionsgemeinschaft der Kirche generell als auch in Bezug auf die kritische Funktion des kirchlichen Lehramts zu. Die Kirchen-

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und Dogmengeschichte leistet »einen wissenschaftlichen Beitrag zu einem produktiven Umgang mit Mehrdeutigkeitspotentialen innerhalb der Kirche« (Essen 2015:193). Ergänzt wird das traditionale Erzählen dabei durch ein kritisches Erzählen, das die »Dekonstruktion vorgegebener, traditional vermittelter Wissensbestände und Zeitverlaufsvorstellungen« leistet, und durch genetisches Erzählen, das »die Erinnerung an zeitliche Veränderungen in der Vergangenheit« reaktiviert, »um der Zeit als Veränderung eine positive Q1lalität abzuringen« (Essen 2015:193). Diese Neuformatierung der verschiedenen Träger der kirchlichen Tradition lässt sich - so ist die Grundthese der vorliegenden Arbeit - am besten auf der Grundlage einer Theorie kommunikativer Gedächtnisse leisten, die auf verschiedenen Ebenen Erinnerungsgemeinschaften und Funktionäre des kollektiven Gedächtnisses der Kirche unterscheiden und sie zueinander in eine dialogische und kommunikative Beziehung setzen kann. Für Georg Essen führt die Moderne und Postmoderne damit gewissermaßen gleichzeitig mit der Ausdifferenzierung und Pluralisierung auch inner kirchlich zu einem legitimen Plural an Glaubensverständnissen und Deutungsmustern, einem Plural an »Selbstdeutungsvollzüge[ n 1des Christkatholischen« mit »pluriformen Artikulationen von Glaubensverständnissen, die gewiss auf die allen gemeinsame kontinuitätsverbürgende Grunderfahrung hin durchsichtig gemacht werden können, von der >memoria passionis et resurrectionis Jesu Christi< praktisches Zeugnis zu geben (Johann Baptist Metz)« (Essen 2015:192). Das Anerkennen einer derart legitimen Pluriformität bedeutet dann für den kirchlichen Binnenraum das Erfordernis einer großen Ambiguitätstoleranz. Es scheint jedoch in diesem Punkt, dass Georg Essen - übrigens mit ausdrücklichem Verweis auf den Gedankengang von Thomas Bauer 64 (vgl. oben, S. 48-54) - die Stichworte der Innovations- und Ambiguitätstoleranz, so angebracht sie in diesem Zusammenhang sind, doch entgegen dem vorher deutlich geschichtlichen und kommunikativen Angang eher formal versteht. Die vorliegende Arbeit schlägt dagegen auch für diesen Punkt ein konsequent kommunikatives und dialogisches Verständnis ausgehend vom Paradigma des kommunikativen Gedächtnisses vor. Gerade Ambiguitätstoleranz funktioniert eben nicht formal, sondern nur durch konkrete Einübung (vgl. Bauer, T. 2018:104) im Rahmen kommunikativer Vollzüge. Im Folgenden wird deshalb zu zeigen sein, wie ent64

Bauer, T. 2011, worauf Essen verweist, bildet die wesentliche Grundlage für den Essay Bauer, T. 2018.

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scheidend es ist, den kirchlichen Traditionsraum als Raum des Dialogs von Erinnerungen zu verstehen, in dem dann auch zunächst vermeintlich außerhalb des »Kernbereichs« angesiedelte Erinnerungen bzw. Erinnerungserzählungen als Dialogpartner akzeptiert werden und es so in kommunikativen Vollzügen zu einem gegenseitigen Erinnern kommt. Das impliziert insbesondere eine Öffnung im Blick auf eine Zentralbedeutung des ökumenischen Dialogs als Dialog miteinander verbundener und zugleich (bleibend) verschiedener Erinnerungen und einer Gegenseitigkeit des einander Erinnerns. Der Begriff einer christkatholischen Ambiguitätstoleranz sollte also - und das wird die vorliegende Arbeit zumindest in einem Ausblick versuchen - auf eine ökumenische Perspektive hin überschritten werden, wodurch eine größere Fülle von Erinnerungen miteinander in Dialog tritt. 2.6.1.4 Vom instruktionstheoretischen zum kommunikativen Paradigma

Hinter der doktrinalen Verengung erweist sich eben letztlich ein instruktionstheoretisches Offenbarungsverständnis noch weiter wirkmächtig, das an der Abgeschlossenheit der Offenbarung festhält (vgl. Tapp 2015:153) und bei dem »eine zeitunabhängige Wahrheitsauffassung« (Essen 2015: 179f.) leitend ist, »die unterstellt, dass sich die überlieferung als Explikations- und zwar näher hin als Konklusionsgeschehen vollzieht: als systemimmanente Schlussfolgerung von Sätzen aus ein für allemal ge offenbarten Prämissen« (Essen 2015: 180). Wenn auch in einigen Konzeptionen die Geschichtlichkeit der überlieferung nicht per se negiert wird, so wird der überlieferungsprozess doch gegenüber der» theoretisch einsehbare[n] Substanz [... ] lediglich als Akzidenz verstanden« (Essen 2015:180). Gerade die unhintergehbare Geschichtlichkeit von Offenbarung und überlieferung und ihr grundlegend dialogisch-kommunikatives Moment muss jedoch betont werden: »Wenn die Offenbarungsgeschichte auch in Leben und Verkündigung Jesu ihren unüberbietbaren Höhepunkt erreicht hat, zielt sie doch auf die Antwort im Glauben« (Tapp 2015:154). Diese Glaubensantwort ist nämlich dann immer notwendig geschichtlich, wenn sie sich im Rahmen eines kommunikativen Ojfenbarungsverständnisses bewegt wie es das 11. Vaticanum skizziert hat. Wenn Offenbarung auf die Antwort des Menschen zielt und »kein einseitiger Sprechakt, sondern ein kommunikatives Wechselverhältnis [ist], das die Antwort einschließt und erst in ihr zu seiner Vollgestalt kommt«, gilt damit für Christian Tapp ausdrücklich auch, dass »Dogmenentwicklung [... ] eine Ent-

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wicklung der Offenbarung selbst« (Tapp 2015:154) ist. Dieses kommunikative Moment und das umfassende Bewusstsein der Geschichtlichkeit sind aus fundamentaltheologischer Sicht entscheidend, um eine theologische Traditionshermeneutik zu entwerfen, die sich wesentlich aus dem Offenbarungs- und Traditionsverständnis des Zweiten Vatikanischen Konzils speist (vgl. unten, S. 82-97). 2.6.1.5 Vom autoritativen zum pneumatologischen Paradigma

Eine weitere Verschiebung kündigt sich an, die in erster Linie die Frage nach dem Subjekt der Tradition betrifft. Neben dem Spannungsverhältnis zwischen dem doktrinalen und aktualen Typ os skizziert Seewald auch ein Spannungsverhältnis zwischen einem autoritativen und einem kognitiven Typos, die einander umgekehrt proportional verbunden sind. Während der kognitive Typos "die Frage der Lehrentwicklung den allgemeinen Regeln des Erkennens und des Diskurses anheimstellt«, hält der autoritative Typos fest, dass »nur das Lehramt in der Lage sei, über Fragen der Lehrentwicklung zu befinden« (Seewald 2018:279). Obwohl Seewald damit zwei Extrempositionen charakterisiert und ausdrücklich festhält, dass katholische Theorien der Dogmenentwicklung »nicht ohne beide Momente auskommen« (Seewald 2018:279), wird darin der Trend der De-Institutionalisierung greifbar. Ein dogmenhermeneutisches Grundverständnis, das einzig das kirchliche Lehramt als affirmatives Subjekt der Tradition zulässt, verliert zusehends auch an theologischer Legitimierung. Wenn »etwas allgemein durch die Vernunft begabung des Menschen einsehbar ist, bedarf es keiner Autorität, die das zu glauben vorlegen müsste, was ohnehin alle einsehen«; der Autorität kommt eher eine kriterielle Funktion zu, »wo nicht bloß allgemein Evidentes sanktioniert, sondern Strittiges entschieden werden muss« (Seewald 2018:279). Während diese Verschiebung grundsätzlich von der zuvor skizzierten Offnungstendenz hin zu einer umfassend-ekklesialen Perspektive getragen ist, hat sie jedoch gerade im Rahmen der Communio-Ekklesiologie des Zweiten Vatikanischen Konzils auch die Frage nach dem Subjekt der Tradition verschoben. Reichte vorher die von Gott her legitimierte Autorität des kirchlichen Amtes aus, so weitet sich das Verständnis zusehends in eine - zumindest in der Theologie des 19. Jahrhunderts unterrepräsentierte - pneumatologische Perspektive. Ein kommunikatives Verständnis von Offenbarung und Glaube ist nur pneumatologisch denkbar. Die Dynamisierung des Glaubens- und Ojfenbarungsverständnisses, die die Offenbarungskonstitution des Zweiten Vaticanums prägt,

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betrifft auch den Traditionsbegriff selbst. Wird Tradition in einem kommunikativen Verständnis von Glaube und Kirche ver ortet, so ist Glaube »untrennbar mit dynamischen Prozessen verknüpft, in denen Gott den Gläubigen auch bei epistemischen Vorhaben wie einem vertieften Offenbarungsverständnis hilft«, was nicht nur für den einzelnen Glaubenden gilt, sondern genauso für die kirchliche Gemeinschaft und »auch in Bezug auf die überlieferung selbst« (Tapp 2015: 158). Das bedeutet, dass die pneumatologische Komponente eine weitere zentrale Herausforderung für eine adäquate fundamentaltheologische Traditionshermeneutik ist und zwar insofern - wie]osephRatzinger ausführt - das »Präsens des Pneuma [... ] konstitutiv zur christl[ichen] T[radition] [gehört], die sich gerade so von der bloß menschl[ichen] T[radition] u[nd] der aus ihr resultierenden Verknechtung an vergangene Geschichte unterscheidet« (Ratzinger 1965:295f. bei Tapp 2015:159). 2.6.1.6 Vom institutionell-inkarnatorischen zum christologischen Paradigma

Ein vierter Aspekt des Traditionsformalismus und des institutionell-autoritativen Paradigmas betrifft den Stellenwert von ]esus Christus selbst für die Tradition. Während die biblische Betrachtung (vgl. unten) dazu führen wird, dass ]esus selbst gewissermaßen die Tradition und Traditionskritik in Person ist, wäre ein solcher Gedanke in einem instruktionstheoretisch und traditionsformalistisch präfigurierten System nicht denkmöglich. Vielmehr wäre dort ]esus Christus ausschließlich formal (und inhaltlich) traditions begründend, die Kirche aber aufgrund einer gewissermaßen objektiven Stiftung eine Form institutioneller Fortsetzung der Inkarnation in sakramentaler Struktur 65 . Eine Loslösung von der traditionsformalistischen Fixierung führt also dazu, nicht nur die pneumatologischen, sondern auch die christologischen Implikationen für die Traditionshermeneutik neu zu bestimmen. Wenn Tradition nicht zuerst aus Sätzen, Formeln oder festgeschriebenen und nicht-veränderbaren Ritualen besteht, sondern wieder stärker vom praktischen Nachvollzug der traditio Christi und das bedeutet eben seiner kenotischen Selbsthingabe an die Welt verstanden wird, kommt gerade dem Zueinander von Brüchen und Kontinuitäten eine neue Relevanz zu. Gerade im Transparent-Bleiben auf das Beispiel 65

Schon das Zitat von Karl-HeulZ Menke (vgl. oben, S. 68) zeigt die Spuren dieser Vorstellung. Außerdem ist das ekklesiologische Grundverständnis von John Hemy Newrnan von der Idee einer institutionell fortgesetzten Inkarnation (vgl. auch Seewald 2018:201) geprägt.

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Christi hin verwirklicht sich dann kirchliche Tradition. Auch die jüngere fundamentaltheologische Auseinandersetzung erkennt das Innovationspotential von Traditionsbrüchen an (vgl. Knapp 2015), die ein neues kreatives Potential der innovativen Interpretation und adaptiven Inkulturation freilegen. Es gilt deshalb ganz explizit, dass Jesus Christus selbst die Grundlage der Innovation (insofern man Innovation als einen Neuansatz verstehen kann) ist. Es ist der Selbstanspruch der christlichen Botschaft »von etwas grundlegend Innovativem zu künden«, was Markus Knapp unter Verweis auf die Ausführungen des Paulus im fünften Kapitel des zweiten Korintherbriefs folgendermaßen ausführt: »Das Zum-Glauben-Kommen beinhaltet [... ] ein Neuwerden des ganzen Menschen«, durch die Verbindung mit Christus in der Taufe »erhält sein Leben eine ganz neue Grundlage sowie eine völlig andere Perspektive« (Knapp 2015:225). Hiermit liefert Knapp ein theologisches Legitimitätskriterium für Innovationen auch und gerade für den Fall, dass diese aus einem umfassend kontinuitätstheoretischen Verständnis heraus als Brüche bezeichnet werden müssen. Deutlich ist jedoch, dass Innovation (theologisch gesprochen und rezipiert) »christologisch angeschärft« (Knapp 2015:226) verwendet werden muss. Auf der Grundlage dieser christologischen Voraussetzungen lässt sich der Traditionsprozess dann nicht ausschließlich als bewahrender, sondern zugleich als innovativer Prozess verstehen, der »die biblisch bezeugte Christusbotschaft unter neuen, veränderten Voraussetzungen so zur Sprache [... ] bring[t], dass sie Gehör finden und verstanden werden kann« (Knapp 2015:226f.). Darin liegt auch ein traditionskritisches Potenzial, insofern der Traditionsprozess stets mit der ihn begründenden ambivalenten kenotischen Dynamik des Christusereignisses konfrontiert ist und damit selbst immer Uberlieferung und Auslieferung zugleich66 ist. Dieses christologisch-traditionskritische Moment'7 Knapp verweist hier auf das Bedeutungsspektrum des griechischen napaoU:iwl-U im Neuen Testament, das ,>sowohl einen ekklesiologischen Bedeutungsgehalt im Sinne eines kirchlichen Tradierungsprozesses als auch einen christologischen Bedeutungsgehalt im Sinne einer Auslieferung des Sohnes durch den Vater sowie einer Selbsthingabe Christi für alle Menschen« (Knapp 2015:230) beinhaltet. Zur Differenzierung von Verweyen vgl. unten, S. 102. 67 Ein Beispiel sieht Knapp in der Aufforderung von Papst Franziskus, in der Kirche eine konsequente Option für die Armen zu verwirklichen, was ,>für viele Teilkirehen [erfordert], mit einer langen Tradition zu brechen, die man als die konstantinische Ära des Christentums bezeichnen kann« (Knapp 2015:233). Hierliegt das traditionskritische Kriterium in der biblischen Tradition, die ernst genommen wird. Damit handelt es sich um eine :»Iückwärtsgewandte Innovation«, die j>mit der konstantinischen Traditionslinie bricht« und damit j>die Verbindung mit dem biblischen Ursprung neu in den Blick« rückt (Knapp 2015:233). 66

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gilt es gerade im biblischen Durchgang noch einmal zu profilieren, ist doch sein Fehlen im Traditionsverständnis der Offenbarungskonstitution des Zweiten Vaticanums mit Joseph Ratzinger als "bedauerliche Lücke« zu bezeichnen (vgl. Ratzinger 1967:525f. dazu auch unten, S. 86f.).

So lässt sich für Innovation (bzw. Diskontinuität) ein christologisches Kriterium erweisen. Dieses Kriterium gilt allerdings auch für die Frage nach der Kontinuität. Sie bemisst sich - so Knapp - daran, »dass sie in vielgestaltiger Weise, aber durchgängig auf den theologisch entscheidenden Gehalt des Christusgeschehens hin orientiert [ist]: die Selbstoffenbarung Gottes, durch die Gott sich selbst auf die Menschen hin entäußert, um ihnen in neuer Weise wieder die Gemeinschaft mit sich zu eröffnen« (Knapp 2015:231). In anderen Worten stellt »[d]ie graduelle, vom christologischen Zentrum des Glaubens her entwickelte Hermeneutik des Konzils« das »Faschamysterium als Kern und Kriterium aller liturgischen Handlungen der Kirche« (Knop 2017:265) dar, was auch bedeutet, dass in der Feier der Eucharistie die »(Selbst-) Auslieferung Jesu [... ] in der christlichen Gemeinde weitertradiert [wird], indem sie sakramental vergegenwärtigtwird, um lebensprägend für die Gemeinde zu werden« (Knapp 2015:231). Es wird damit die urchristlich-biblische Grunddynamik des Traditionsprozesses wiederentdeckt, die die überlieferung des Glaubens mit der kenotischen Existenz in der sakramental vergegenwärtigenden Erinnerung verbindet.

Anhand eines solchen christologischen Arguments für Kontinuität der überlieferung wird der Faradigmenwechsel ganz offensichtlich: Hatte die Internationale Theologische Kommission 1990 im Dokument Die Interpretation der Dogmen noch eindeutig festgestellt, »[ d]ie Identität des Gehalts, d.h. die Apostolizität des Bekenntnisses, garantiere der terminus einer jeden Glaubensaussage, nämlich Gott«, während »[f]ür die Kontinuität der Lehraussage und die Katholizität des Glaubens [... ] sein (diachrones) Subjekt, nämlich die Kirche« (Knop 2017:258) bürge, Kontinuität also letztlich ausschließlich formal (wenn nicht traditionsformalistisch) mit der Kirche verbunden wurde, wird nun zunehmend ein nicht nur dezidiert traditionskritisches, sondern auch kontinuitätskritisches Moment im dynamischen Ursprung des überlieferungsprozesses - Jesus Christus selbst - erwiesen, das die Frage nach der Kontinuität der Tradition völlig neu stellt.

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2.6.1.7 Ein sechsfacher traditionshermeneutischer Parad igmenwechsel Diesem sechsfachen Paradigmenwechsel. bei dem natürlich die einzelnen Paradigmen nicht voneinander unabhängig sind und hier nur aus Gründen der Systematisierung gewissermaßen seziert werden und deren innerer Zusammenhang wohl zwischen den Zeilen schon aufscheint. widmet sich die vorliegende Arbeit insbesondere und setzt deshalb bei einer erinnerungstheoretischen Betrachtungsweise ein. die verschiedene Subjekte und Erinnerungsgemeinschaften in den Blick nehmen und insofern eine Differenzierung einführen kann: Neben dem einzelnen Gläubigen sind das auch lokale und regionale Erinnerungsgemeinschaften (Familien. Gemeinden. Pfarreien. Ortskirchen und Bistümer). die jeweils von einem Zueinander von Gläubigen. Lehramt und Theologie geprägt sind und so stets schon in einem Erinnerungsdialog bzw. einer Auseinandersetzung um Erinnerung und Tradition stehen. Es geht dem Folgenden also nicht um einen weiteren Typologisierungsversuch im Bereich der Dogmenentwicklung (vgl. Seewald 2018:280; weitere Verweise dort). sondern um eine grundlegende Hermeneutik der Tradition auf den offenbarungs- und traditionstheologischen Grundlagen der Offenbarungskonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils.

2.6.2 Traditionsverständnis des 11. Vaticanums als Ausgangspunkt Die Offenbarungskonstitution Dei Verbum sucht ganz grundsätzlich "die Treue zur kirchlichen überlieferung mit dem Ja zur kritischen Wissenschaft [in Balance zu bringen] und eröffnet damit neu dem Glauben den Weg ins Heute« (Ratzinger 1967:503). Sie lässt sich verstehen als eine Ermutigung »für Kirche und Theologie [... ]. die Vielfalt der theologischen Argumentationsinstanzen des christlichen Glaubens neu miteinander ins Spiel zu bringen« (Hoping 2005:807). Deshalb setzt die Konstitution auch mit dem programmatischen Titel »Dei Verbum« ein und versteht »Gottes Offenbarung als ein dynamisches Heilsgeschehen« und davon ausgehend den Glauben als »Antwort des Menschen auf Gottes Offenbarung« (Hoping 2005:807). Gewissermaßen als Orientierung für einen ersten Durchgang durch das Offenbarungs- und Traditionsverständnis von Dei Verbum dient hier der Kommentar vonJoseph Ratzinger aus 1967. den man heute mit Recht als klassisch bezeichnen kann.

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2.6.2.1 Hineingenommen in die Dynamik des Wortes Gottes Ansatzpunkt der Konstitution ist das Wort Gottes als dessen Hörer und Verkünder sich die Konzilsväter ganz grundlegend verstehen. Als solche Hörer wollen sie in Auseinandersetzung mit dem Trienter und dem Ersten Vatikanischen Konzil >,die echte Lehre [genuinam doctrinam] über die göttliche Offenbarung [divina revelatio] und deren Weitergabe [eius transmissione] vor[]legen« (DV 1). Schon diese beim Wort Gottes ansetzende Argumentation zeigt einen deutlichen Neuansatz des Textes. Auch ist auffällig, dass die Konzilsväter an diesem Anfang nicht den für die überlieferung geprägten Begriff der traditio sondern die bedeutungsoffenere transmissio68 verwenden. Textlich ist damit das Signal gegeben, dass es im Folgenden auch darum gehen wird, die Dynamik der Offenbarung und ihrer Weitergabe in Bezug auf die lehramtlichen Referenzdokumente (Tridentinum und Vaticanum I) grundlegend zu reformulieren. Das zeigt sich schon allein am Unterschied der Strukturierung. Während das Erste Vaticanum seinen Ausgangspunkt bei der »natürlichen Gotteserkenntnis« nimmt, diese unmittelbar mit der »>übernatürliche[n]< Offenbarung« verbindet, um sich dann unmittelbar »der Frage ihrer übermittlung in Schrift und überlieferung zuzuwenden«, bildet in Dei Verbum die natürliche Gotteserkenntnis erst den Schluss der überlegungen, während »zuerst Gottes Offenbarungshandeln in einer umfassenden heilsgeschichtlichen Schau beschrieben« (Ratzinger 1967:505) wird (vgl. DV 2-6). Die Mitte dieses ersten Kapitels bildet DV 4, das Jesus Christus als das fleischgewordene Wort Gottes ins Zentrum der überlegungen rückt. Diese heilsge68

Zwar wird transmittere auch in lehramtlichen Texten (soweit jedenfalls eine Befragung des Denzinger darüber ein repräsentatives Bild vermitteln kann) verwendet, jedoch nicht eindeutig im offenbarungs- bzw. traditionstheologischen Zusammenhang. Papst ZOSllnUS etwa verwendet den Begriff in der Epistula tractoria (418), um die Weitergabe der Ursünde zu beschreiben (vgl. DH 231), ansonsten beschreibt der Begriff auch eine einfache Weitergabe etwa von Dingen, Personen, Schreiben oder Briefen (vgl. DH 370.2519). Bei Papst Leo XIII. wird er in der Enzyklika Rerurn navarum im Sinne der Weitergabe einer Erbschaft verwendet (vgl. DH 3266), so auch in der Enzyklika Casti connubii von Pius XI. (vgl. DH 3722). In einer Antwort der Bibelkommission unter Pius X. auf die Frage der Historizität der Schäpfungserzählungen des Buches Genesis wird es dann erstmals im Sinne einer (tradierenden) Weitergabe verwendet (vgl. DH 3513). Im Antimodermsteneid schließlich (vgl. DH 3541) steht transmittere dann ausdrücklich im Zusammenhang der kontinuierlichen und unverfälschten Weitergabe der Glaubenslehre [fidei doctrinam] (vgl. DH 3541). Schließlich verwendet auch die dogmatischen Kirchenkonstitution Lumen Gentium des Zweiten Vaticanums transmittere, um die Weitergabe des Apostolischen Amts zu beschreiben (vgl. LG 20).

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schichtliche Einordnung macht deutlich, »wie wenig Intellektualismus und Doktrinalismus das Wesen von Offenbarung zu erfassen vermögen«, weil Offenbarung nicht ein definierendes Reden ist, sondern es vielmehr in einer grundlegend kommunikativen Perspektive »um den Existenzvollzug des Menschen, um das Zueinander des menschlichen Ich mit dem göttlichen Du [geht], so daß das Ziel dieses Gespräches letztlich nicht Information, sondern Einheit und Verwandlung ist« (Ratzinger 1967:510). 2.6.2.2 Kommunikationstheoretische Grundlegung

Den konkreten Neuansatz für die Frage nach der überlieferung markiert DV 8 mit zwei Akzentverschiebungen gegenüber dem Dekret De libris sacris et de traditionibus recipiendis des Trienter Konzils (vgl. DH 1501): Die Tätigkeit Jesu in Bezug auf das Evangelium ist nicht mehr ein Promulgieren, sondern ein Erfüllen [adimplevit] also nicht ausschließlich juristisch oder ethisch zu verstehen, wohinter der Entwurf eines »geschichtlich-sakramentale[n] statt eines juridischgesetzlichen Verständnisses der christlichen Wirklichkeit« (Ratzinger 1967:516) steht. Bestärkt wird dies durch die zweite Akzentverschiebung, die die Apostelpredigt nicht als Weitergabe von Weisungen oder Gesetzen versteht, sondern als kommunikatives Geschehen. An die Stelle eines rechtlichen Verständnisses tritt hier »die Idee der Gnade und das dialogische Prinzip«, die die »Verkündigung als Kommunikation im schenkenden Handeln Gottes« neu verorten (Ratzinger 1967:516). Demnach ist, wenn am Anfang die »Kommunikation in der geschenkten Fülle Gottes« steht, »[f]ür die Frage der überlieferung [... ] ein wesentlich neuer Ansatzpunkt geschaffen« (Ratzinger 1967:516). Die gegenüber dem Text von Trient neue Trias der ursprünglich apostolischen Tradition von Predigt [praedicatio oralis], Beispiel [exempla] und Einrichtungen [institutiones], die sie wiederum entweder - und hier liegt die traditionsbegründende Bedeutung des Gesamtzusammenhangs von Lehre und Leben Jesu - aus Mund, Umgang und Werken Jesu [ore, conversatione et operibus Christi] angenommen oder aber unter Beistand des Heiligen Geistes gelernt haben [a Spiritu Sancto suggerente didicerant] (DV 7). Der Traditionsursprung wird dementsprechend nicht (mehr) als eine übergabe (rechtlicher) Sätze und Normen verstanden, vielmehr tritt »an die Stelle eines verengt doktrinellen Offenbarungsbegriffs, wie er sich in der Trienter Wort-Theologie ausgedrückt hatte, eine umfassende Sicht auf den Wirklichkeitscharakter der Offenbarung« (Ratzinger 1967:517). Diese umfassende Perspekti-

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ve gründet "im Ganzen der lebendigen Erfahrung seiner [Jesu] Person« und umfasst so »mit dem Gesagten das Ungesagte [... ], das die Apostel wiederum nicht völlig ins Wort zu bringen vermögen, sondern das sich in der gesamten von ihnen gesetzten Wirklichkeit christlicher Existenz niederschlägt« (Ratzinger 1967:517). Der Beistand des Heiligen Geistes wiederum ist suggestio und damit »erinnerndes Verstehen des Ungesagten im einst Gesagten« (Ratzinger 1967:517; Hervorh. AJ), dessen »Weitergabe [... ] nie bloß ein Prozeß der Tradierung von Worten ist« (Ratzinger 1967:516f.). An DV 7 wird damit deutlich, wie sehr sich die oben skizzierten Paradigmen (vgl. oben, S. 66-82) - besonders das christologische, das pneumatologische und das kommunikative - im Text von Dei Verbum zeigen. Im gleichen Satz werden dann auch die »Apostel[] und apostolischen Männer[]« angeschlossen, »die unter der Inspiration desselben Heiligen Geistes die Botschaft vom Heil niederschrieben« (DV 7). Die Verfasser 69 der neutestamentlichen Schriften werden an dieses christologisch eröffnete und pneumatologisch-erinnernd begleitete Kommunikationsgeschehen hier direkt angeschlossen, was schon die enge Verbindung beider andeutet. Interessant ist auch der Doppelcharakter, den der übergang zu DV 8 markiert: Das Ende von DV 7 formuliert einen eschatologischen Vorbehalt, insofern Heilige überlieferung und Heilige Schrift »ein Spiegel [sind], in dem die Kirche während ihrer Pilgerschaft auf Erden Gott, von dem sie alles empfängt, anschaut, bis sie hingeführt wird, ihn von Angesicht zu Angesicht zu sehen, wie er ist« (DV 7). DV 8 setzt mit dem Totalitätscharakter der Uberliejerung ein, mit dem »die vielschichtig-eine Gegenwart des die Zeiten durchschreitenden Christusmysteriums« (Ratzinger 1967:519) beschrieben wird. Entsprechend der anfänglichen Differenzierung soll für das umfassende Verständnis (also der überlieferung i.w.S.) im Folgenden der Begriff der Traditionsdynamik"° verwendet werden, um diesen Prozess, der Schrift und Tradition umfasst, von der Tradition (i.e.S.) zu unterscheiden. Die kommunikationstheoretische Grundlegung von DV 7 wird dabei aufgegriffen und auf drei Vollzugsweisen der Uberliejerung hin übertragen: »die Kirche [setzt] in ihrer Lehre, ihrem Leben und ihrem Kult fort und übermittelt allen Geschlechtern alles, was sie selber ist, alles, was sie glaubt« (DV Von Aposteln und apostolischen Männern ist offensichtlich die Rede, um die (historische) Verfasserfrage offenhalten zu können (vgl. Ratzinger 1967:517). 70 Die Traditionsdynamik lässt sich gleichsam in den Worten von Joseph Ratzinger »das Ganze der Gegenwart des Christlichen in dieser Welt« (Ratzinger 1967:519) bezeichnen, was deutliche Spuren des Verständnisses von Johann Adam Mähler trägt. 69

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2 Erinnerung und Tradition in der gebrochenen Moderne 8). Lehre [doctrina], Leben [vita] und Kult [cultus] sind diese drei grundlegenden Weisen, in denen sich Tradition vollzieht, die dementsprechend »mit dem Sein und mit dem Glauben der Kirche identifiziert und so definiert« (Ratzinger 1967:518) wird. Dieses umfassende Verständnis einer lebendigen und kommunikativen Tradition, die mit dem Sein der Kirche identisch ist, ist jedoch an sich nicht unproblematisch. Der enge Bezug von Schrift und Tradition aufeinander kann dahin tendieren7 !, dass »die ausdrückliche Nennung der Möglichkeit entstellender Tradition und die Herausstellung der Schrift als eines auch traditionskritischen Elements im Inneren der Kirche praktisch fehlen«, womit auch der »eigentliche Ansatzpunkt der Frage nach der ecclesia semper reformanda[] übergangen worden ist« (Ratzinger 1967:525), für ein Konzil, das sich selbst als ReJormkonzil verstand, eine »bedauerliche Lücke« (Ratzinger 1967:526). Aus heutiger Perspektive müsste man - letztlich auch schon aus der oben skizzierten heilsgeschichtlichen Grundlegung (vgl. DV 2-6) - einer Vorstellung der Heiligen Schrift als traditionskritisches Moment seinerseits eine biblizistisehe Prägung attestieren, insofern ja auch die Bibel selbst in ihrem traditionellen (oder erinnernden) Gewordensein nicht außerhalb des umfassenden Traditionsprozesses steht und man insofern vielmehr in einem theologischen Sinn von einer Kriteriologie des Wortes Gottes (oder ebenJesu Christi) sprechen sollte. Auch diese Rede vom Wort Gottes darf jedoch nicht in Abstraktion geschehen, sondern ist nur im Modus eines narrativ-erinnernden Zugriffs zugänglich. Das verdeutlicht einerseits wie anknüpfungsfähig das bereits skizzierte christologische Paradigma (vgl. oben, S. 79ff.) an die Offenbarungskonstitution ist, andererseits aber auch, dass theologisch weitergedacht werden und das christologische Paradigma in seiner narrativen Dynamik verstanden werden muss. 2.6.2.3 Pneumatologische Dynamik

Schon DV 7 hatte die überlieferung als die »vom Heiligen Geist vermittelte fortschreitende Einsicht in die einmal gegebene Offenbarung« (Ratzinger 1967:514) 71

Ratzinger verweist hier auf die einschlägige Argumentation von Kardinal Meyer, nach der :»[nJicht alles, was in der Kirche existiert, [... ] deshalb auch schon legitime Tradition sein [muss]« und dass :>:>rn statu viatorum Tradition sich nicht nur im Sinne des Fortschritts je tieferer Glaubenseinsicht auswirkt; sondern daß sie auch unter der Möglichkeit des deficere stehe und tatsächlich diese Möglichkeit immer wieder realisiere«, weshalb deutlich der traditionskritische Maßstab der Heiligen Schrift stark zu machen sei (Ratzinger 1967:519).

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beschrieben. Im Anschluss an die umfassende Definition der Tradition konkretisiert die Offenbarungskonstitution, dass die überlieferung »sich in der Kirche unter dem Beistand des Heiligen Geistes [sub assistentia Spiritus Sancti] weiter[entwickelt] [proficit]« (DV 8). Dieses Fortschreiten des Verständnisses [crescit perceptio] ist »ein Wachstum im Verstehen der ursprunggebenden Wirklichkeit«(Ratzinger 1967:521; Hervorh. AJ). Das Fortschreiten im Verständnis ist »im gesamten Lebensvollzug der Kirche verankert« (Ratzinger 1967:520), einerseits bei den Gläubigen 1) in Studium und Kontemplation [ex contemplatione et studio credentium] sowie 2) in Einsicht aufgrund von geistlicher Erfahrung [ex intima spiritualium rerum quam experiuntur intelligentia] und andererseits 3) durch die lehramtliehe Verkündigung 72 (vgl. DV 8). Hier wird deutlich, wie stark die Offenbarungskonstitution das oben beschriebene ekklesiale Paradigma (vgl. oben, S. 68f.) verwirklicht hat, in dem die »gesamte geistliche Erfahrung der Kirche, ihr glaubendes, betendes, liebendes Umgehen mit dem Herrn und seinem Wort« zum Fortschreiten des Verstehens führt (Ratzinger 1967:520). In diesem grundlegend gemeinsamen Verstehensvorgang - im »konkreten Vollzug der überlieferung« - »bildet der Dienst des Lehramtes eine Komponente (und zwar, von seinem Sinn her, eine kritische, nicht eine produktive); aber er ist nicht das Ganze« (Ratzinger 1967:520). Hierin liegen schon wichtige Ansätze für die bereits häufiger als Desiderat für eine fundamentaltheologische Traditionshermeneutik benannte Frage nach dem Zueinander der verschiedenen Träger der Traditionsdynamik. Wenn nämlich dementsprechend »Gott, der einst gesprochen hat, ohne Unterlaß im Gespräch mit der Braut seines geliebten Sohnes [ist], und der Heilige Geist, durch den die lebendige Stimme des Evangeliums in der Kirche und durch sie in der Welt widerhallt, [... ] die Gläubigen in alle Wahrheit ein [führt ] und [... ] das Wort Christi in überfülle unter ihnen wohnen« lässt (vgl. DV 8), also Tradition ein grundsätzliches kommunikatives Miteinander von Gott und Kirche ist, lässt sich ein doktrinalistisch (oder traditionsformalistisch) verengtes Verständnis nicht länger aufrechterhalten. Vielmehr stellen sich von diesem kommunikativen Paradigma her neue Fragen, die nicht nur den fortgesetzten Dialog Gottes mit seiner Kirche betreffen, sondern auch das Zueinander, die verschiedenen »Zuständigkeiten« und den konkreten Dialog der funktional unterschiedenen inner72

Wörtlich heißt es: ,>Bei denen, die durch Nachfolge als Bischöfe die sichere Gnadengabe der Wahrheit [ex praeconio eorum qui cum episcopatus successione charisma veritatis certum acceperunt] empfangen haben« (DV 8; DH 4210).

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2 Erinnerung und Tradition in der gebrochenen Moderne kirchlichen Akteure und die Frage nach dem Dialog mit der Mit- und Umwelt. In diesem Zusammenhang wird auch die pneumatologische Komponente des Traditionsbegriffs entfaltet. Es ist das Pneuma, >,durch das der am Kreuz >fortgegangene< Herr >wiedergekommen ist< und durch das er seine Kirche >erinnert< an das Gewesene, so daß sie erinnernd in dessen Inneres geführt wird und es als Gegenwart sich anzueignen und zu erfahren vermag« (Ratzinger 1967:522). Die pneumatologische Perspektive, die Ratzinger - unter Zitation von Franz Mußners Auseinandersetzungen mit dem Parakleten im Johannesevangelium - im Vokabular der Erinnerung entwirft, ist für die vorliegende Arbeit ein wichtiger Anknüpfungspunkt. Zumal Text und Kommentar sich hier immer noch am grundlegenden Zentrum der Argumentation der Offenbarungskonstitution befinden und das Traditionsgeschehen ganz grundlegend anamnetisch verstehen. In DV 21 findet sich dann noch einmal eine sehr praktische Konkretisierung der Traditionsdynamik: Wenn die Kirche »die göttlichen Schriften wie auch den Herrenleib selbst immer verehrt [hat]« (DV 21), so kommt das insbesondere innerhalb der Eucharistiefeier zum Ausdruck. Wenn die Konzilsväter schreiben, dass die Kirche, »vor allem in der heiligen Liturgie, nicht aufhört, vom Tisch sowohl des Wortes Gottes als auch des Leibes Christi das Brot des Lebens zu nehmen und den Gläubigen zu reichen« (DV 21), so wird in dieser Feier nicht nur der innere liturgische Zusammenhang von Wortgottesdienst und Kommunionfeier deutlich - was schon »schon durch die Liturgiekonstitution deutlich gemacht worden war« (Ratzinger 1967:572). Vielmehr ist die Eucharistiefeier selbst der Ort der Konkretisierung der kirchlichen Traditionsdynamik im gleichwertigen Zueinander von Schrift und Sakrament, worin die Zentralbedeutung eines eucharistischen Erinnerungsparadigmas verdeutlicht wird. 2.6.2.4 Schrift, Überlieferung, Amt (und Theologie?)

Der Schluss des zweiten Kapitels der Offenbarungskonstitution liefert schließlich eine Verhältnis be stimmung von Heiliger überlieferung und Heiliger Schrift. Sie sind »eng miteinander verbunden und haben aneinander Anteil« (vgl. DV 9). Dafür verwendet Dei Verbum das Bild von Q1lelle und Fluss 73 Sowohl Tradi73

Diesem Bild fühlt sich etwa auch Walter Kasper verpflichtet. Die Lehre der Kirche sei nicht mit einer Lagune, sondern mit einem ,>aus der Qyelle des Evangeliums entspringenden Strom, in den die Glaubenserfahrung des Volkes Gottes aller Jahrhunderte eingegangen ist« zu vergleichen, weshalb sie j>lebendige Tradition, die heute, wie schon öfters in der Geschichte, an einem kritischen Punkt angelangt ist und im Blick auf die ,Zeichen der Zeit< (GS 4) nach einer Wei-

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tion wie Schrift entspringen so der Offenbarung, dem lebendigen Wort Gottes, sie bilden zusammen "die eine der Kirche anvertraute heilige Hinterlassenschaft des Wortes Gottes [verbi Dei sacrum depositum]« (vgl. DV 10). Grundsätzlich sind dabei Festhalten am Glauben, seine Verwirklichung und sein Bekenntnis gemeinsame und gemeinschaftliche Aufgaben und Herausforderungen, durch die »ein einzigartiger Einklang zwischen Vorstehern und Gläubigen [antistitum et fidelium conspiratio] zustande kommt« (vgl. DV 10). Unbeschadet dessen ist »die auf das Lehramt beschränkte Funktion der authentischen Auslegung ein spezifischer Dienst [... ], der nicht das Ganze der Gegenwartsweise des Wortes umgreift« (Ratzinger 1967:527). Ganz zum Schluss des zweiten Kapitels betont die Offenbarungskonstitution, »daß die Heilige überlieferung, die Heilige Schrift und das Lehramt der Kirche gemäß dem überaus weisen Ratschluß Gottes so miteinander verknüpft und einander zugesellt sind, daß das eine nicht ohne die anderen besteht« (vgl. DV 10), was schließlich auch »in den pneumatologischen Zusammenhang eingeordnet und damit einem bloß kirchlichen Funktionalismus entzogen« wird (Ratzinger 1967:528). Darüber hinaus wird durch eine Stichwortandeutung auch eine soteriologische Sinnspitze des im zweiten Kapitel von Dei Verbum skizzierten umfassenden Dialog- und Kommunikationsgeschehens eröffnet, wenn das Zusammenspiel von Schrift, Tradition und Amt auf das Seelenheil [animarum salus] bezogen wird. Damit geht der Dialog- und Kommunikationsraum der Tradition über die Bedeutung einer »der eigentlichen sakramentalen Heilsrealität vorausgehende[n] Bedingung« hinaus und erscheint selbst als »Dialog des Heils« (Ratzinger 1967:528). Nach diesem grundsätzlichen Zusammenhang zwischen Offenbarung, Schrift und Tradition sowie dem Lehramt widmet sich Dei Verbum danach ausführlich einer Theologie der Bibel (vgl. DV 11-20). Zunächst stellen die Konzilsväter grundsätzlich fest, dass die Kirche »aufgrund apostolischen Glaubens die Bücher sowohl des Alten wie des Neuen Testamentes in ihrer Ganzheit mit allen ihren Teilen für heilig und kanonisch« hält und begründet das damit, dass sie »auf Eingebung des Heiligen Geistes geschrieben [... ], Gott zum Urheber haben und als solche der Kirche selbst übergeben worden sind« (DV 11). Obwohl also die Offenbarungskonstitution zuvor Leben und Lehre Jesu in einem terführung und Vertiefung verlangt« (Kasper 2014:31). überhaupt scheint das Bild von Qyelle und Fluss das Leitbild der Modeme fi1r den Zusammenhang von Tradition und Entwicklung zu sein (vgl. oben, S. 16).

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umfassenden Sinn als den zentralen traditions begründenden Kommunikationszusammenhang dargestellt hat, geht der heilige und kanonische Charakter der Heiligen Schrift darüber (schon allein historisch) hinaus. Dei Verbum benennt dabei in der grundsätzlichen Urheberschaft Gottes, die dann mit der historischen Autorenschaft der Verfasser bzw. Hagiographen (DV 12) über den Begriff der Inspiration ins Verhältnis gesetzt wird, ein umfassendes Verständnis der Heiligen Schrift, insofern der »als ganzer und in allen ihren Teilen inspirierten Schrift zur Heilsojfenbarung« (Grillmeyer 1967:546; Hervorh. AJ) ein besonderer Stellenwert im Rahmen der in den ersten Kapiteln der Konstitution entwickelten Offenbarungs- und Traditionsdynamik der Kirche zukommt. überhaupt geben die Ausführungen zur biblischen Hermeneutik ein insgesamt sowohl offenes und theologisch anknüpfungsfähiges, zugleich aber umfassendes Zueinander, weil in DV 12 genauso ein historisch-kritischer Zugang (vgl. DH 4218) wie ein geistlich-inspirierter Zugang (vgl. DH 4219) zur Heiligen Schrift legitimiert und in ihrem Zueinander dargestellt werden. Die Grundlage bildet dabei das Verständnis der Inspiration, insofern »die Heilige Schrift in demselben Geist, in dem sie geschrieben wurde, auch zu lesen und auszulegen ist« (DV 12). In diesem Zuge wird dann auch den Exegeten im Rahmen des umfassenden Zueinanders - der Traditionsdynamik - eine besondere Aufgabe zugeschrieben, die darin besteht, »nach diesen Regeln [d.h. im Gesamtzusammenhang der Traditionsdynamik] auf ein tieferes Verstehen und Erklären des Sinnes der Heiligen Schrift hinzuarbeiten, damit so gleichsam aufgrund wissenschaftlicher Vorarbeit das Urteil der Kirche reife« (DV 12). Die Besonderheit der Schrift gegenüber der überlieferung ist es dann, dass sie »die Stimme des Ursprungs ertönen läßt« (Ratzinger 1967:572). Diese Besonderheit steht aber wiederum »im Kontext der dialogischen Idee, und diese wiederum ist aufgelichtet auf den den Menschen gründenden Ur dialog des Gottesgeistes mit dem Menschen hin« (Ratzinger 1967:572). Die Kirche als Ganze in ihrem Verständnis der Heiligen Schrift weiß sich also der Entwicklungsdynamik - der perfectio - verpflichtet. Der Exegese kommt eine kriteriologische Rolle zu, die auf wissenschaftlicher Basis solche Entscheidungskriterien und Argumente liefert, die einer grundsätzlich legitimen historischen Kritik entsprechen und standhalten. Diese Kriteriologie ist einerseits produktiv in Bezug auf die kirchliche Erinnerungsgemeinschaft als Ganze und stellt andererseits ihre Kriterien und Argumente dem Lehramt als Entscheidungshilfe zur Erfüllung seiner kritischen Rolle (vgl. oben, S. 87) zur Verfügung. Dieses Modell eines kommunikativen Zueinanders von kirchlicher Erinne-

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2.6 Diskussionsstand der theologischen Traditionstheorie

rungsgemeinschaft, funktional davon unterschiedenem Lehramt und akademischer Theologie erscheint dabei auch als ein wichtiges Grundmodell. Es gilt jedoch, dass Dei Verbum dieses Modell ausschließlich im Blick auf die Auslegung der Schrift entwirft und im Blick auf die Tradition die oben schon beschriebene Leerstelle lässt. Vor dem Hintergrund des von den Konzilsvätern so ausdrücklich beschriebenen inneren und organischen Zusammenhangs von Schrift und Tradition in der Traditionsdynamik (als der bei den gemeinsamen Q1lelle der Offenbarung) lässt sich eine solche übertragung versuchen. Insofern kann man von der Tradition in pneumatologischer Perspektive als einer inspirierten Erinnerung sprechen, was im weiteren Verlauf dieser Arbeit noch einmal eigens zu plausibilisieren ist. Wenn nun die Grundzüge des umfassenden Verständnisses der kirchlichen Traditionsdynamik und auch die Anknüpfungspunkte einer erinnerungstheoretisch fokussierten Traditionshermeneutik dargestellt worden sind, so empfehlen sich an dieser Stelle zwei kurze Seitenblicke auf die beiden Kirchenkonstitutionen des Zweiten Vaticanums, die dogmatische Konstitution Lumen Gentium und die pastorale Konstitution Gaudium et spes, um im Zusammenhang mit dem skizzierten sechsfachen Paradigmenwechsel zumindest das vorher so bezeichnete ekklesiale Paradigma (vgl. oben, S. 68f.) auf der Grundlage des 11. Vaticanums noch in zwei Richtungen etwas weiter zu profilieren. 2.6.2.5 Ein erster Seitenblick: die dogmatische Kirchenkonstitution

Lumen gentium Wie sich in Dei Verbum die Gemeinschaft der Kirche in der Traditionsdynamik als Hörerin des Wortes Gottes versteht, so ist auch das Grundverständnis der dogmatischen Kirchenkonstitution im Titel Lumen Gentium programmatisch vorgezeichnet. Die Kirche versteht ihren Auftrag von Christus her, der "das Licht der Völker ist« (LG 1; DH 4101), darin, durch die Verkündigung des Evangeliums »alle Menschen durch seine Herrlichkeit, die auf dem Antlitz der Kirche widerscheint, zu erleuchten« (LG 1; DH 4101). Damit greifen die Konzilsväter auf die Vorstellung des mysterium lunae zurück (vgl. etwa Ambr. hex. N, 8, 32). Als (nicht selbst leuchtender) Mond ist die Kirche gewissermaßen zur Erfüllung ihres Auftrags stets auf das Licht Christi angewiesen, um Menschen erleuchten zu können. Wenn auch ein solches Bild zunächst eine einfache mehr oder weniger passive Mitllerrolle der Kirche ausdrücken könnte, so liegt es doch nahe, die Vorstel-

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2 Erinnerung und Tradition in der gebrochenen Moderne

lung des mysterium lunae vor dem Hintergrund des skizzierten Dialograums der Traditionsdynamik kommunikativ und auch partizipativ zu verstehen. Das programmatische Leitbild des mysterium lunae geht deshalb auch unmittelbar in das Verständnis der Kirche als Grundsakrament"4 (das sich vom Ur-Sakrament Jesus Christus her versteht) über, was für die Kirchenkonstitution bedeutet, dass Kirche »Zeichen [signum] und Werkzeug [instrumentum] für die innigste Vereinigung mit Gott und für die Einheit des ganzen Menschengeschlechts ist« (LG 1). Im Zusammenhang mit der traditionsdynamischen Grundlegung der Kirche in Dei Verbum folgt also gewissermaßen aus dem gemeinsamen und dialogischen Hören auf das Wort Gottes eine sakramentale Antwortdynamik der Kirche als Ganzer. Diese Antwortdynamik umfasst gerade durch die gesellschaftlichen Umstände eine genauso dialogische, kommunikative und gemeinschaftsbildende Sendung sowohl in vertikaler (Gemeinschaft mit Gott) wie in horizontaler Dimension (Gemeinschaft des ganzen Menschengeschlechts). Die gesellschaftlichen Umstände skizziert Lumen Gentium in aller Kürze damit, dass heute »alle Menschen [... ] durch vielfältige soziale, technische und kulturelle Bande enger miteinander verbunden sind« (LG 1), was in der pastoralen Kirchenkonstitution Gaudium et Spes noch einmal vertieft reflektiert wird (vgl. unten, S. 95-97). Auch diese Sendung wird nicht als wort- oder satzhafte (oder gar rein juristischjuridische) Weitergabe von Lehren als Verkündigung des Evangeliums verstanden, vielmehr geht es um ein umfassend kommunikatives und partizipatives Geschehen, das gewissermaßen die ganze Welt in die gott-menschliche Kommunikation hineinnimmt. Dieses universelle Sendungsverständnis überträgt die Kirchenkonstitution im Rahmen der überlegungen zum Apostolat der Laien auch auf die einzelnen Glieder des Volkes Gottes [lai ci] (vgl. LG 33). Zu diesem Apostolat der Laien, das »Teilhabe an der heilbringenden Sendung der Kirche selbst [participatio ipsius salvificae missionis Ecclesiae]« ist, »werden alle vom Herrn selbst durch Taufe und Firmung bestimmt« (LG 33). Dabei sollen sie »durch ihre Kompetenz in den weltlichen Fertigkeiten und durch ihre Wirksamkeit, die durch die Gnade Christi innerlich erhöht ist, [... ] zum allgemeinen Fortschritt in menschlicher und christlicher Freiheit beitragen« (LG 36). Die Sendungsdynamik der Kirche lebt also nicht aus einer äußeren und inneren Uniformität, sondern bezieht die Einzelnen gerade in ihren je eigenen kontextuellen, lebensgeschichtlichen und 74

Gemeint ist damit, dass die Kirche sich (funktional) als :»zeichenhafte Realisierung des uns durch das Ursakrament Christus geschenkten Heiles« (von Stosch 2006:259) versteht.

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2.6 Diskussionsstand der theologischen Traditionstheorie

intellektuellen Fähigkeiten ein, ja kann gerade nur in dieser Pluriformität ihren universellen horizontal und vertikal gemeinschafts bildenden und damit freiheitsstiftenden Auftrag erfüllen. Wenn der Gesamtheit der Gläubigen vermittelt durch den Glaubenssinn [sensus fidei fidelium] dann eine Infallibilität zukommt, »wenn sie >von den Bischöfen bis zu den letzten gläubigen Laien< ihre allgemeine übereinstimmung in Sachen des Glaubens und der Sitten äußert« (LG 12), so bedeutet das, dass das Volk Gottes» unter der Leitung des heiligen Lehramtes, in dessen treuer Gefolgschaft es nicht mehr das Wort von Menschen, sondern wahrhaft das Wort Gottes empfängt [... ], dem einmal den Heiligen übergebenen Glauben [... ] unwiderruflich an[hängt]« und dadurch »mit rechtem Urteil immer tiefer in ihn ein[dringt] und [... ] ihn im Leben voller an[wendet]« (LG 12; Hervorh. AJ). Wo die pneumatologisch gewirkte umfassende Gemeinschaft der Kirche in Glaube und Sitten übereinstimmt (und damit unfehlbar ist), ereignet sich Fortschritt in Glaube und Traditionsdynamik. Auch diese (ideelle) übereinstimmung bedeutet aber im umfassenden Rahmen der Traditionsdynamik keine Uniformität in Glaube und Zeugnis. Lumen Gentium schließt unmittelbar an: »Derselbe Heilige Geist«, der die übereinstimmung bewirkt, »verteilt unter den Gläubigen jeglichen Standes auch besondere Gnaden, durch die er sie geeignet und bereit macht, verschiedene für die Erneuerung und den weiteren Aufbau der Kirche nützliche Werke [opera] und Dienste [officia] zu übernehmen« (LG 12). Es ist eine pneumatologisch begründete Pluriformität christlicher Sendung, die sich in der Zeugenschaft des Einzelnen verwirklicht. Die »jeweilige Formgebung der christlichen Botschaft geschieht vermittelt durch die soziale und kulturelle Prägung der Gläubigen, durch ihre Persönlichkeit und nicht zuletzt durch die jeweiligen intellektuellen Vorprägungen« (Kosack 2018:400). Im Zusammenhang der individuellen Zeugenschaft (vgl. LG 33 und LG 38) verwendet die dogmatische Kirchenkonstitution die charakteristischen Begriffe von Zeichen [signum] und Werkzeug [instrumentum], die in LG 1 den kirchlichen Selbstvollzug als Ursakrament beschreiben (vgl. dazu oben, S. 92 und ferner Kosack 2018:396). Wichtig ist daran, dass der einzelne Gläubige nicht »bloß Rezipient des Glaubensinhalts, sondern selbst Subjekt seiner Formgebung« (Kosack 2018:399) ist 75 Dabei handelt es sich um die Ubernahme in den individuel75

Dominique-Marcel Kasack verdeutlicht das anhand der beiden Begriffe des traditionellen Zueinanders der beiden Grunddimensionen von Glaubensinhalt [fides quae] und Glaubensakt

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2 Erinnerung und Tradition in der gebrochenen Moderne len Erfahrungs-, Erinnerungs- und Erzählzusammenhang, eine dann notwendige Transformation, wenn der einzelne wirklich als Zeuge im Rahmen der umfassenden Traditionsdynamik der Kirche Anteil an der Verkündigung erhält, der dann schließlich auch "für gesamtkirchliche Entwicklungen der Lehre große Bedeutung« (Kosack 2018:399) besitzt.

Jedenfalls geht es aufseiten der Gläubigen nicht ausschließlich um eine Annahme von Lehren, bei dem der Glaubenssinn gewissermaßen nur einer rezeptive und retrospektive Funktion hätte, er ist vielmehr »auch auf die Gegenwart und Zukunft ausgerichtet« (Kosack 2018:399). Im Dokument Sensus fidei und Sensus fidelium im Leben der Kirche76 stellt die Internationale Theologische Kommission diese »prospektive Dimension« des Glaubenssinns heraus, der die Gläubigen befähigt, »eine Entwicklung oder Erklärung christlicher Praxis zu antizipieren«, sodass er aufgrund der »wechselseitigen Verbindung zwischen der Praxis des Glaubens und dem Verstehen seines Inhalts [... ] zum Hervortreten und zur Erhellung von Aspekten des katholischen Glaubens bei [trägt ], die bereits implizit vorhanden waren« (IThK 2014:51). Dabei gilt dann auch ganz explizit, dass eine solche vertiefende Entwicklung77 im Glaubenssinn des Einzelnen [sensus fidei fidelis] innerhalb des traditionsdynamischen Geschehens stets eine Konsequenz für den Glaubenssinn der gesamten Kirche [sensus fidei fidelium] besitzt: »solche Entwicklungen [sind] nie rein privater, sondern immer ekklesialer Natur«, weil die Gläubigen »in der Gemeinschaft der Kirche immer [fides qua]. Da es sich bei letzterem um eine kommunikative Wirklichkeit handelt, kann er ,>nur personal und im Präsens geschehen [... ], denn er impliziert die vertrauensvolle Hinwendung des Selbst, die Hingabe der eigenen Lebenssituation im Hier und Jetzt an Gott« (Kasack 2018:398). Beide Dimensionen dürfen dabei aber nicht als ,>statisches Gegenüber verstanden werden«, bei dem der Glaubensinhalt als eine ,>feste und abgeschlossene (:.perfekteFolie für die Auseinandersetzung mit dem Erirmerungsbegriff bei ].B. Metz« (Waldmüller 2005:12), und schließlich Cochrane 2007 ebenfalls in Bezug auf Metz (bes. Cochrane 2007:125-130). Hier ist beispielsweise Fuchs/Janowski 2007 zu nennen, aber auch Markschies/Wolf 2010 und Strotmann/Oberle/Bertrand- Ffaff 2010.

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2.7 Tradition als Erinnerung

auf Autoren wie Paul Connerton, James Fentress, Paul Ricceur, Barry Schwartz, und Chris Wickharn, die sie ermutigt haben, »to apply to Christian tradition their conclusions ab out the nature and role of collective (or social) memory« (BraithwaiteIO'Collins 2015:33). Dabei verweisen die beiden Jesuiten Gerald O'Collins und David Braithwaite auf 12 Anknüpfungspunkte für das Verständnis von Tradition als kulturelles Gedächtnis (vgl. BraithwaitelO'Collins 2015:3342). Auf sie wird im Rahmen des systematischen Teils dieser Arbeit Bezug genommen. Angesichts der skizzierten Gebrochenheitserfahrung geht es darum, dass Tradition verstanden wird als »Leitidee, unter deren Führung die Bruchstellen, über die hinweg Sinn >getragen< werden soll (tradere in der Ursprungsbedeutungvon transdare), ins grelle Licht rücken« (Harth 1997:742). Gerade die Brüche sind »die Orte, an denen die Fragen aufgestellt sind, die der Interpret zu beantworten sucht« (Harth 1997:742). Die Tradition verstanden als Erinnerung »spielt in diesem Prozeß das Amt des Vermittlers«, wodurch ein »neuartiges theatrum memoriae [entsteht], nämlich als ein Repertoire von Geschichten [... ], über dessen Auswahl sich eine soziale Gruppe verständigen kann, um dem narrativen Kern ihrer politischen und kulturellen Identität das zuzurechnen, was sie für gut hält« (Harth 1997:742f.). Das ist die erinnerungstheoretisch-narrative Spur, die für das Folgende prägend sein wird. Der kulturwissenschaftliche Teil beginnt mit einem Durchgang durch einige Klassiker der Erinnerungstheorie (platon und Augustinus), die auch in den heute einschlägigen erinnerungstheoretischen Konzeptionen ständige Zeugen sind. Davon ausgehend wird detailliert die Theorie des kollektiven, kommunikativen und kulturellen Gedächtnisses in der Traditionsspur von Maurice Halbwachs und Jan Assmann dargestellt und durch Konzeptionen von Paul Ricceur, Harald Welzer sowie schließlich einige überlegungen zur Frage der übertragbarkeit gerade der Theorie Jan Assmanns für eine moderne, funktional differenzierte Gesellschaft und eine theologische Rezeptionsfähigkeit weiter profiliert. 2.7.3.2 Biblischer Zugang: Überlieferung und kreative Erinnerung

Im biblischen Teil wird eine intensive Auseinandersetzung mit dem Wortfeld Erinnern [fllflv~(),KCU I ':JI] - Vergessen [e1IlAcxv8avof!C" I n:JlII] und dem Wortfeld Uberliejern [rrcxpcx8l8cufll I rrcxpa80ms] - Annehmen [rrcxpcxAcxfl~avcu] erfolgen. Dabei wird nur eine Auswahl von Texten untersucht werden. Ein gerade für die pneumatologische Grundlegung entscheidender Aspekt

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2 Erinnerung und Tradition in der gebrochenen Moderne

wird das Verständnis einer inspirierten kreativen Erinnerung 88 sein. Ein solches Verständnis von Tradition als inspirierte kreative Erinnerung knüpft biblisch in erster Linie an johanneische Theologie an (vgl. insbesondere Zum stein 2004:4781). Sie misst "der konstitutiven Vergangenheit des irdischenJesus unersetzbare Bedeutung« zu, wobei »die Erinnerung als Bindeglied zwischen dem Vergangenen und dem Gegenwärtigen [fungiert], in dem das Schicksal des Mensch gewordenen und gekreuzigten Jesus mit der Gegenwart des Glaubens [... ] in Beziehung gesetzt wird« (Cebulj 2010:260). So lässt sich mit Zum stein die Leistungsfähigkeit von Erinnerung - das bedeutet literarisch gewendet für das Johannesevangelium auch eine Folge von Relecturen - zusammenfassen: »Erinnern breitet die Vergangenheit aus, lässt sie wachsen und vertieft ihre Bedeutung« (Zum stein 2004a:60). Auf einer formalen Ebene werden dabei auch Gedanken von Gerd Theißen eine Rolle spielen, die eine biblische Perspektive auf die Unterscheidung oder Verhältnis bestimmung von Tradition und Erinnerung zur Geltung bringen. Für Theißen löst die moderne Entwicklung des Traditionsbegriffs 89 scheinbar drei Konflikte aus: zunächst einen Konflikt zwischen Tradition und Gegenwart, dann einen Konflikt zwischen konkurrierenden Traditionen und schließlich einen Konflikt der Interpretationen (vgl. Theißen 2014:177f.). In diesen modernen Konflikten ist Tradition nicht mehr im traditionalistischen Sinn Vereinfachung und Festlegung der Lebensbahnen, sie wird vielmehr »zum ,kulturellen Gedächtniskreativen Erinnerung«, die Jean Zumstem als Grundcharakteristikum der Theologie des Johannesevangeliums und als :ddarste[s] neutestamentliche [s] Beispiel eines von der Ananmese geprägten Glaubens« (Zumstein 2004a:62) versteht. 89 Tradition ist für Gerd Theißen :»jene Nachwirkung des Vergangenen, welche die Gegenwart für ihr Leben braucht«, sie hat die Funktion, j>durch sozial anerkannte Muster des Verhaltens und Erlebens von Entscheidungen zu entlasten«, cl.h. davon :debbare Formen des Lebens immer wieder neu durch Versuch und Irrtum entwickeln zu müssen« (Theißen 2014:177). Diese Tradition ist für ihn immer etwas, das schon vorgefunden wird. Heute gibt es einen :>:>Zwang zur Entscheidung« (Theißen 2014:177) - Theißen nimmt hier die Formulierung von Peter L. Berger auf und spricht von einem Zwang zur Häresie in einer nachtraditionalen Zeit. Religion - so hält Theißen fest - hat heute :»ihren Charakter als einheitsstiftende Tradition verloren« (Theißen 2014:177). 88

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2.7 Tradition als Erinnerung

Hervorh. AJ)90 Für Theißen sind - und das ist das wirklich spannende an seiner Analyse die drei Konflikte bzw. die mit ihnen einhergehenden Entscheidungstypen nicht erst ein Resultat neuzeitlich-moderner Entwicklung, sondern haben sich schon "im biblischen Geschichtsbereich entwickelt«, wo »das Verhältnis zur Tradition durch den Willen bestimmt [wurde 1- durch Umkehr, Abfall, Konversion und Bekenntnis« (Theißen 2014:178). Dieser Brückenschlag kann dann noch einmal Argumentationen entkräften, die den Bezug zum modernen erinnerungstheoretischen Paradigma als eine der Tradition der Kirche und dem biblischen Zeugnis fremde, rein konstruktivistische und damit letztlich relativistische Zugangsweise zum Traditionsbestand der Kirche ablehnen.

2.7.3.3 Systematischer Zugang: Traditionsdynamik als Erinnerung Im systematischen Teil schließlich sollen die Erkenntnisse gebündelt werden. Dabei wird es zunächst darum gehen, unter Berücksichtigung des eingangs skizzierten sechsfachenParadigmenwechsels einen traditionstheologischen (Walter Kasper) und einen erinnerungstheologischen Entwurf (Johann Baptist Metz) darzustellen und auf ihre Anknüpfungsfähigkeit für eine erinnerungstheoretisch argumentierende Traditionstheologie zu untersuchen. Im Kontext einer erinnerungstheologischen Traditionshermeneutik wird insbesondere der Gedanke der Kommunikativität des kollektiven Gedächtnisses zu profilieren sein. Das geschieht einerseits in Anknüpfung an die Theorie von Maurice Halbwachs 91 Andererseits wird die differenzierte narrativ fundierte Perspektive (im Sinne einer christologisch eröffneten und pneumatologisch unterfassten umfassenden Kommunikationswirklichkeit), die insbesondere auf den Gedanken von Paul Ricceur fußt, in Auseinandersetzung mit Arbeiten von Veronika Hoffmann weiterverfolgt. Dabei steht in Bezug auf das kommunikative Zeugnis der Einzelnen So fasst Theißen pointiert den Unterschied zwischen Tradition und kulturellem Gedächtnis zusammen: ;.>Tradition reduziert Entscheidungsmäglichkeiten, kulturelles Gedächtnis vergrößert sie; denn es enthält mehr Lebensformen, als wir je verwirklichenkännen« (Theißen 2014:178). 91 Für die postmoderne Situation spielen dabei auch die schon dargestellten die Gedanken von Hervieu- Leger 2004 eine Rolle, die für diesen Zusammenhang gerade die Bedeutung der Bruchhaftigkeit heraushebt: :»[i]n Gesellschaften, die durch Entwicklung und Bestätigung des Subjekts gekennzeichnet sind, ist es paradoxerweise dieser ,Bruchnachgelassen und zugedeckt [... ], um mich in dir zu beseligen und meine Seele durch den Glauben und dein Sakrament umzuwandeln, - wer also diese Bekenntnisse liest und hört, dessen Herz wird nicht so leicht in den Schlaf der Verzweiflung sinken und etwa sagen: ,Ich kann nichtIch habe einmal von einem gelehrten Manne gehärt, die Bewegungen der Sonne, des Mondes und der Sterne seien die Zeiten; aber ich habe ihm nicht zugestimmt« (Aug. eOIU.

XI,23). 23

Augustinus: :>,lch bin es, der sich seiner erinnert, ich bin der Geist« (Aug. eOIu. X,16).

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4 Kulturwissenschaftliche Konzepte des

kollektiven Gedächtnisses Nachdem nun mit Platon und Augustinus die bei den Aspekte der Erinnerung und des Gedächtnisses in ihren urtypischen Metaphern und damit die prägenden Grundlagen eines philosophischen Verständnisses individueller Erinnerung wie auch eine erste Theologie der (individuellen) Erinnerung dargestellt worden sind, soll nun anhand der Konzepte von Maurice Halbwachs und Jan Assmann die Theorie des kollektiven Gedächtnisses nachgezeichnet werden.

4.1 Die Idee des kollektiven Gedächtn isses - Maurice Halbwachs Das erste Konzept eines kollektiven Gedächtnisses stammt von dem französischen Philosophen und Soziologen MAURICE HALBWACHS. In Abgrenzung von individuellen Erinnerungstheorien stellt er heraus, dass Erinnerung immer zuerst eine gemeinsame Erinnerung einer Gruppe von Menschen ist. So geht es Halbwachs in seiner Studie Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen [Les cadres sociaux de la memoire 1(1925) zentral darum, die sozialen Bezugsrahmen [cadres1der Erinnerung zu verdeutlichen. Halbwachs beginnt seine überlegungen zur sozialen Bedingtheit des Gedächtnisses mit einem für ihn paradigmatischen Grenzfall des Erinnerns (vgl. Halbwachs 1925:19f.), einem Bericht aus dem 18. Jahrhundert. Dieser erzählt die Geschichte eines etwa zehnjährigen Mädchens, das in einem Wald aufgefunden worden war und selbst nur lückenhaft seine eigene Lebensgeschichte erinnern kann. Das Mädchen sei wahrscheinlich bei den Eskimos geboren worden, von dort als Sklavin auf die Antillen und schließlich nach Frankreich gekommen. Zwar reagiert sie emotional auf Bilder aus ihrer Heimat, kann ihre Erinnerung jedoch nicht versprachlichen. Dieser Grenzfall verdeutlicht, so Halbwachs, "daß ganz sicher die meisten unserer Erinnerungen uns dann kommen, wenn unsere Eltern, unsere Freunde oder andere Menschen sie uns ins Gedächtnis rufen« (Halbwachs 1925:20). Für ihn ist diese soziale und kommunikative Grundstruktur der Erinnerung der entscheidende Einspruch gegen zeitgenössische »psycholo-

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4 Kulturwissenschaftliche Konzepte des kollektiven Gedächtnisses

gische[] Abhandlungen, in denen vom Gedächtnis die Rede ist« und in denen »der Mensch [... ] als ein isoliertes Wesen betrachtet wird« (Halbwachs 1925:20). Damit richtet er sich ganz explizit gegen die Erinnerungstheorien seiner Zeit, insbesondere jene seines akademischen Lehrers Henri Bergson und auch von Sigmund Freud, die Erinnerung zunächst als ebensolchen individuellen und innerpsychischen Vorgang verstehen. Aus dieser Grundüberzeugung heraus formuliert Halbwachs gewissermaßen seine erinnerungstheoretische Grundthese: Es gibt »ein kollektives Gedächtnis [memoire collective] und einen gesellschaftlichen Rahmen [cadre social] [... ] und unser individuelles Denken [ist] in dem Maße fähig sich zu erinnern, wie es sich innerhalb dieses Bezugsrahmens hält und an diesem Gedächtnis partizipiert« (Halbwachs 1925:21). Vom Ansatz her ist also zunächst hervorzuheben, dass Halbwachs konsequent versucht, Erinnerung als etwas zu verstehen, das sich innerhalb von kommunikativen Vollzügen ereignet, in ihnen entsteht und bewahrt wird. Von diesem kommunikativen Ansatz ausgehend, wehrt er sich vehement gegen die These von der »Subsistenz der Erinnerungen im Unbewußten« (Halbwachs 1925:22) - eine klare Absetzung von einem von der freudschen Theorie geprägten Verständnis der Erinnerung. Nur im Traum, der für seine grundsätzlichen überlegungen eine zentrale Rolle spielt, erscheint das Vergangene als solches. Ansonsten ist das Vergangene selbst nicht erhalten, sondern wird» rekonstruiert, wobei man von der Gegenwart ausgeht« (Halbwachs 1925:22; Hervorh. AJ). Damit sind die bei den zentralen Thesen von Halbwachs schon benannt: Zunächst ist es die These, dass kollektive Erinnerung als kommunikativer Vollzug gedacht wird, der auf die individuellen Erinnerungen zurückgreift, sie miteinander ins Gespräch bringt und (neu) kombiniert und sich nur und ausschließlich in einem gesellschaftlich vorgeprägten Bezugsrahmen ereignen kann. Jan Assmann nennt dies die »kollektivistische[] Bewusstseinstheorie« (Assmann 2005a:70) von Maurice Halbwachs. Dieses Erinnern meint kein rein passives Annehmen des Gestern, sondern - und das ist die zweite zentrale These - ein kreatives Verhalten im Heute, eine Konstruktion innerhalb eines Bezugsrahmens24 - eine »präsentistische[] oder rekonstruktive[] Gedächtnistheorie« (Assmann 2005a:70). 24

Oliver Dimbath geht von der Beobachtung aus, dass im neue ren erinnerungstheoretischen Diskurs - insbesondere etwa beiJanAssmann und Harald Welzer - in der Regel die Vereinbarkeit der Rahmenbegriffe von Halbwachs und Goffmarm einfach postuliert werde, jedoch redlicherweise dem "Versuch der Vereinheitlichung des sozialwissenschaftlichen Rahmenbegriffs qua Setzung oder seiner Installation als Grundkonzept einer Theorie sozialer oder kultureller Gedächtnisse [ ... ] ein Abgleich der beiden Konzepte vorausgehen« (Dimbath 2013:27) sollte. Bei

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4.1 Die Idee des kollektiven Gedächtnisses - Maurice Halbwachs 4.1.1 Cadre - Zur Bedeutung des Bezugsrahmens bei Halbwachs

Die geringe Verbreitung des Rahmenbegriffs in der deutschsprachigen Soziologie hängt für Oliver Dimbath mit einem übersetzungsproblem zusammen: In der deutschen übersetzung wird das für das französische Original zentrale Wort »cadre« (Rahmen) mit Bedingungen übersetzt. 25 Zur Deutung dessen, was Halbwachs mit »cadre« meint, ist es bedeutsam, dass er das Rahmenkonzept mitunter »als Suffixoid in Verbindung mit >Bezug«< (Dimbath 2013:28) verwendet. Cadre meint also bei Halbwachs nicht einfach einen abgrenzenden Rahmen, sondern einen Bezugsrahmen26 . über die begrenzende Komponente hinaus, die darauf verweist, dass »die Orientierungsleistung für das Erinnern systematisch eingeschränkt ist«, beinhaltet das Wort auch einen Bezug auf etwas, es muss also »wenn nicht mehrere Rahmen, so doch zumindest ein Außer halb und ein Innerhalb des Referierens geben« (Dimbath 2013:28). Für Halbwachs meint Erinnern gerade die >>Verarbeitungs- oder Sinnsetzungsleistung, die in der Vermittlung von aktuellen Eindrücken und bestehendem Wissen aus kultureller Prägung entsteht« (Dimbath 2013:28). Dabei steht das Individuum immer in einer mehrfachen kulturellen Prägung, die sich wiederum im Sinne von Bezugsrahmen darstellen lässt. Die erste Form eines solchen Bezugsrahmens besteht in den konkreten Sozialbezügen, in die hinein ein Individuum gestellt ist. 27 Der Einzelne gehört nicht nur einer einzigen sozialen Gruppe an, sondern steht im »Schnittpunkt seiner sozialen Kreise«, weshalb ihm »mannigfache soziale oder aus der Erfahrung des Sozialen gewachsene Bezugsrahmen zur Verfügung« (Dimbath 2013:29) stehen.

der Frage des Verständnisses dessen, was der soziale Rahmen des ErinnenlS bedeutet, handelt es sich gerade im Blick auf Halbwachs, ]. Assmann und Welzer um eine der argumentativen Scharnierstellen. 25 Dem übersetzer schien wohl - so Dimbath - der Begriff :>,Rahmen« so unspezifisch, dass er ilm im Sinne der :»Durkheimschen Idee des soziologischen Tatbestands (fait social)« (Dimbath 2013:28) zu übertragen versuchte. 26 Halbwachs entfaltet damit ,>keinen theoretisch ausgearbeiteten Begriff«, sondern orientiert sich vielmehr an der :»alltagssprachlichen Bedeutung des Wortes ,Rahmen«( , womit er j>un~

terschiedliche Bedeutungsdimensionen impliziert, die allerdings - jede für sich - im Hinblick auf das soziologische Denken seiner Zeit anschlussfähig sind« (Dimbath 2013:27). 27 Halbwachs skizziert diese Sozialbezüge exemplarisch anhand von Familie, Religion und sozialem Status (vgl. unten. S. 138f.).

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4 Kulturwissenschaftliche Konzepte des kollektiven Gedächtnisses

Der zweite Bezugsrahmen liegt auf einer höheren Abstraktionsstufe und besteht in je spezifischen kulturellen Artikulationsweisen, insbesondere der Sprache sowie von Raum und Zeit. Erinnerungen bedürfen also einerseits der Versprachlichung, sie müssen erzählt und weitergegeben werden, um erinnert werden zu können. Im Rahmen dieser narrativen Grundstruktur des Erinnerns spielen für Halbwachs zentral die Lokalisierung und die Chronologisierung eine Rolle. Die drei von ihm exemplarisch analysierten sozialen Gruppen (vgl. unten, S. 138f.) besitzen je einen spezifischen Zugriff auf den Raum, der sich etwa "in Regelungen über Grundbesitz, in aktiven oder passiven Zonen, in heiligen oder profanen Orten« (Dimbath 2013:30) ausdrückt. Genauso besitzt jede soziale Gruppe eine eigene Zeitstruktur. Die beiden hier skizzierten Dimensionen des Bezugsrahmens bei Halbwachs sind dabei stets aufeinander bezogen. Kollektive Erinnerung nach Halbwachs bedarf stets der Versprachlichung in einer konkreten Gruppe, die wiederum mit je spezifischen Erinnerungszeiten und Erinnerungsorten 28 einhergeht. Zeit und Ort sind hier die Medien der narrativen Erinnerung. Mit dem hier Skizzierten lässt sich zeigen, dass die Rahmenkonzeption bei Halbwachs nicht auf einen »statischen Strukturbegriff« (Dimbath 2013:31) hinausläuft, sondern dass es sich vielmehr um dynamische und interdependente Bezugssysteme handelt, die jeweils - zumindest im gesellschaftlichen Dialog der sozialen Gruppen und gerade in der überschneidung verschiedener Bezugsrahmen im jeweiligen Individuum - miteinander in Wechselwirkungen stehen. Sie lassen sich - mit Dimbath - als das »Insgesamt der Vorstellungen« verstehen, »die das erinnerungsfähige Bewusstsein in einem Augenblick wahrnehmen oder sich durch Denken erschließen kann« (Dimbath 2013:31)29 Es geht dabei »nicht um externalisiertes Wissen, das die Wahrnehmung des Einzelnen determinieren würde, sondern eher um die bekannte innere Dialektik unmittelbaren Erlebens und sozialisierungsvermittelter Erfahrung« (Dimbath 2013:33)30. Die Begriffe sind gebildet in Anlehnung an Pierre Noras Begriff der Erinnerungsorte (vgl. z.B. Nora 2005). 29 Halbwachs setzt sich etwa nicht mit den Gründen dafür auseinander, warum in bestimmten Situationen je ein spezifischer Rahmen in den Vordergrund rückt, um den jeweiligen Eindruck erinnernd einzuordnen. Dimbath vermutet für Halbwachs die Annahme einer durch Sozialisation erworbenen und durch soziale Strömungen beeinflussten :»implizite[n] [ ... ] RangordnungD« (Dimbath 2013:31) der Bezugsrahmen im Individuum. 30 Erving Goffmann geht es in der Rahmenkonzeption dagegen in erster Linie ,>um die Organisation der Alltagserfahrung und um die Konsequenzen, die sich daraus ergeben« (Dimbath 2013:32). Ausgangspunkt dabei sind sogenannte primäre Rahmen, mit denen Goffmann intuiti28

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4.1 Die Idee des kollektiven Gedächtnisses - Maurice Halbwachs

Der Begriff des Rahmens [cadre] wird sowohl bei Henri Bergson als auch bei Emile Durkheim verwendet, bei Bergson im Zusammenhang mit der Möglichkeit des Erinnerns. Jede »Tatsache« ist für Bergson nicht die wahrgenommene Erscheinung selbst, sondern ihre Anpassung an die individuellen und sozialen Bedürfnisse, »an die Interessen der Praxis und die Erfordernisse des sozialen Lebens« (Bergson 1896:179). Deshalb werden die Elemente der Anschauung zunächst zerlegt und dann in einem neuen Rahmen angeordnet. Dabei tritt an die Stelle der organischen Einheit der Anschauung »die künstliche Einheit des leeren Rahmens, der so leblos ist wie die Glieder, die er zusammenhält« (Bergson 1896:179). Das bei Halbwachs so zentrale »Motiv der konstruktiven Kontextualisierung der Erinnerung« (Dimbath 2013:36) ist also schon bei Bergson angelegt. Die Interpretation und Erinnerung von Erfahrungen geschieht in einem aus praktischen und sozialen Interessen konstruierten Rahmen. Halbwachs knüpft an dieses Verständnis von Bergson an, setzt sich jedoch insoweit dezidiert davon ab als es für ihn bei diesem Rahmenkonzept von Bergson zwar eine Berührung aber keinen wirklichen Zusammenhang zwischen Rahmen und Inhalt gibt, sie unterscheiden sich »wie der Rahmen eines Bildes und die Leinwand darinnen« (Halbwachs 1925:144). Für Halbwachs muss es jedoch eine Identität zwischen Rahmen und Inhalten geben. So sind für ihn »Ereignisse [... ] Erinnerungen, aber der Rahmen ist gleichfalls aus Erinnerungen gebildet« (Halbwachs 1925:144). Zwar kann auch nach Bergson »Erinnerung nicht als rein zerebraler Zustand und das Gedächtnis nicht als Ausfluss an einmal wahrgenommener Materie verstanden werden« (Dimbath 2013:36), er kennt jedoch neben der habituellen Erinnerung [souvenirs-habitudes bzw. souvenirsmouvements] mit den Bilderinnerungen [souvenirs-images] einmalige Erinnerungen, »von denen jede ein Datum besitzt, d. h. an einem bestimmten Augenblick unserer Vergangenheit lokalisiert werden kann« (Halbwachs 1925:48). Eine solche Art von Erinnerung ist für Halbwachs allerdings nicht denkbar, weil ve Deutungsmuster bezeichnet, die :>>nicht auf eine vorhergehende Deutung verweisen« (Dimbath 2013:32). Gruppen verfügen nicht über solche primäre Rahmen, sondern bilden aus ihnen soziale Anpassungen - Goffmann nennt sie Modulationen - bei denen j>die Interaktionsstruktur gleich bleibt, während die Zielsetzung verändert wird« (Dimbath 2013:32). Sie lassen sich vennittels einer Rahmenanalyse auf ursprüngliche Primärrahmen zurückführen. So ist etwa der Wettkampf die sozialverträgliche Adaption der ursprünglichen Interaktion des Kampfes. Mit dem Begriff des Rahmens meint Goffmann also :»Orientierungs- oder Deutungsmuster in Bezug auf die Regelhaftigkeit der (sozialen) Umwelt in wechselnden thematischen Zusammenhängen« (Dimbath 2013:33; Hervorh. AJ). Auch diesen Rahmen liegt jedoch ein konstruktivistisches Moment zugrunde.

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4 Kulturwissenschaftliche Konzepte des kollektiven Gedächtnisses

sie sich genauso verhalten müsste wie Traumerinnerungen, zumindest dann, wenn sie nicht in einen Bezugs- oder Erzählrahmen eingebettet werden können (vgl. Halbwachs 1925:69f.). Es wird auf dieses Thema zurückzukommen sein, weil die Rahmenkonzeption auch bei späteren Konzepten, die auf Halbwachs rekurrieren, eine zentrale Rolle spielt (vgl. etwa bei Jan Assmann, unten, 4.2 S. 150 - 181), und die adäquate Bestimmung eben jenes Verhältnisses zwischen individuellem und kollektivem Gedächtnis der Zentralpunkt für die Plausibilität einer theologischen Auseinandersetzung mit der Konzeption des kollektiven Gedächtnisses ist.

4.1.2 Halbwachs' kollektivistischer Ansatz - Traum und Erinnerung

Am Beginn seines Hauptwerkes setzt sich Halbwachs sehr differenziert mit den psychologischen Erkenntnissen auseinander, von denen er sich am Anfang schon programmatisch distanziert hatte. Innere Beobachtung meint für Psychologen "den Gegensatz zur Wahrnehmung materieller Objekte« (Halbwachs 1925:362). Diese Unterscheidung ist für ihn aber nur dann tragfähig, wenn man ein isoliertes Individuum betrachtet. Sobald man eine soziale Gruppe betrachtet, ist die äußere Wahrnehmung eines Mitgliedes dieser Gruppe schon von den Konventionen der Gruppe beeinflusst - etwa von der »Wort- und Begriffserinnerung der Gruppe« (Halbwachs 1925:363). Nur durch diese Begriffserinnerung wird die Kommunikation der Gruppe gesichert. Für Halbwachs ist damit ein Schluss völlig klar: »Es gibt also keine Wahrnehmung ohne Erinnerung. Aber umgekehrt gibt es dann auch keine Erinnerung, die eine reine genannt werden könnte, d.h. die nur im individuellen Gedächtnis bewahrt werden könnte« (Halbwachs 1925:363). Ein rein innerpsychisches Verständnis der Erinnerung ist für Halbwachs deshalb unsinnig, weil sich der Mensch dann bei jeder Erinnerung von allen gesellschaftlich verdankten Vorstellungen befreien müsste, um »allein seinen vergangenen Zuständen« gegenüberzustehen, was für Halbwachs gleichbedeutend damit wäre, »mit diesen [zu] verschmelzen, d.h. er hätte die Illusion, sie [die vergangenen Zustände] wieder zu verlebendigen« (Halbwachs 1925:363). Diese Form der rein individuellen Erinnerung gibt es für Halbwachs außerhalb einer rein theoretischen Betrachtung konkret lediglich im Traum wie er am Anfang seines Hauptwerks ausführlich und in Auseinandersetzung mit den un-

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4.1 Die Idee des kollektiven Gedächtnisses - Maurice Halbwachs

terschiedlichen Ansätzen der psychoanalytischen Traumforschung (besonders Maury, Freud und Foucault) herausstellt (vgl. Halbwachs 1925:25-44). Der zentrale Unterschied zwischen dem Traumdenken und dem Denken im Wachen besteht für Halbwachs darin, dass beide »sich nicht in den gleichen Bezugsrahmen entwickeln« (Halbwachs 1925:44). überhaupt besteht die Erinnerung eines Individuums, das - theoretisch - außerhalb einer Gesellschaft gedacht wird, ausschließlich aus Bildern, die wiederum ausschließlich aus sich selbst heraus erklärt oder versprachlicht werden könnten. Die Reflexionen nehmen also zwar ausdrücklich Bezug auf die psychoanalytischen Erkenntnisse gerade der Traumforschung Sigmund Freuds, können aber in systematischer Hinsicht in Bezug auf Individualität und Kollektiv geradezu als Gegenentwurf verstanden werden 3 ! Gerade das Moment der Sprache zeigt für Halbwachs jedoch, dass ein rein individuelles Verständnis von Erinnerung im Sinne solcher inneren Bilder nicht möglich ist. Traumbilder - so zeigen die psychologischen Forschungen 32 - sind höchst instabil. Um überhaupt erinnert werden zu können, müssen Traumbilder direkt nach dem Aufwachen notiert werden, was jedoch die Gefahr birgt, »dem Traum nur eine Rekonstruktion zu unterschieben (sie!), die in vieler Hinsicht zweifellos eine Verzerrung ist« (Halbwachs 1925:47). Wörter und Sprache setzen aber »eine assoziierte Menschengruppe« (Halbwachs 1925:365) voraus. Auch die Erinnerungsbilder innerhalb des Individuums haben für Halbwachs schon eine doppelte Struktur: Sie bestehen einerseits aus Bezeichnungen von Wörtern und Personen, aus Wörtern und Wortbedeutungen, die gesellschaftlich vermittelt und präfiguriert sind, und andererseits aus einem »einzigartigen Aspekt, unter dem sie uns erscheinen, weil wir wir selbst sind« (Halbwachs 1925:366). Während also dem einzelnen im Traum einzelne Bilder und Gegenstände aufscheinen und von ihren Begriffen her als diese Gegenstände identifiziert werden können, ist es dabei doch unmöglich Zusammenhänge herzustellen. Es »fehlen uns [im Traum] diese Stützpunkte, ohne die uns auch die So ist der Analyse von Jan Assmann zuzustimmen, wenn er schreibt: ,>Während für die Psychoanalyse das Bewusstsein der Sitz der Individualität und das Unbewusste der Ort des Kollektiven ist, sieht Halbwachs das genau umgekehrt: das Bewusstsein ist sozial determiniert, im Unbewussten, cl.h. im Traum, löst sich die soziale Determination auf und der Mensch ist mit sich allein« (Assmann 2005a:71). Diese Absetzung von der klassisch-freudianischen Psychoanalyse macht Halbwachs damit für Assmann geradezu zu einem Vordenker des systemischen Menschenbildes, weshalb man ilm als »systemischen« Gedächtnistheoretiker bezeichnenkänne. 32 Auch hier setzt sich Halbwachs angesichts der Frage nach dem Verhältnis von Traum und Sprache noch einmal sehr intensiv mit Freud auseinander, vgl. insbes. Halbwachs 1925:73-89 31

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4 Kulturwissenschaftliche Konzepte des kollektiven Gedächtnisses

vielen Erinnerungen an Geschehnisse des Wachzustands entgleiten würden« (Halbwachs 1925:49). Die Stützpunkte bestehen aber eben gerade in der Unterstützung der Gesellschaft, hauptsächlich durch die Sprache. Sprache aber wirkt auch ansatzweise noch im Traum auf die Menschen, sie hören »auch im Schlaf keineswegs auf[], innerlich zu sprechen« (Halbwachs 1925:95), aber eben weit weniger stark als im Wachzustand. Das führt Halbwachs darauf zurück, dass der Mensch »in der sozialen Disziplin darauf dressiert ist, das was er sieht und spürt zu verstehen« (Halbwachs 1925:96).

Zwischen Sprache, Erinnerung und Vergangenheit gibt es also gewissermaßen einen reziproken Prozess. In dieser Reziprozität ist nicht nur das Individuum Teil einer Gesellschaft, umgekehrt kann man sogar sagen, dass das Individuum »die Gesellschaft auch als Innenwelt in sich [trägt], in Gestalt von Sprache, Bewusstsein und eben auch Gedächtnis« (Assmann 2005a:70). Gerade die Umkehrung des kollektivistischen Verständnis als kollektive Repräsentation im Individuum erweist sich als deutlich von Emile Durkheim geprägt (vgl. Marcel!Mucchielli 2003:192-196, ferner: Assmann 2005a:70), zeigt aber letztlich auch Spuren des augustinischen Verständnisses.

Während die Traumkategorien höchst individuell sind, bedarf das soziale Leben, das für die Deutung und Kombination der Erinnerungsbilder notwendig ist, für Halbwachs eines oder mehrerer Konventionssysteme. Diese Konventionssysteme basieren auf einem Realitätsgefühl, das durch Zeit, Raum und die physikalische und gesellschaftliche Ordnung geprägt ist. Dieses Realitätsgefühl ist der »Ausgangspunkt aller Gedächtnisakte«, und Erinnerungen sind umso stärker, »je größer die Zahl jener [Bezugs-]Rahmen ist, in deren Schnittpunkt sie [die Erinnerung] auftaucht« (Halbwachs 1925:368). Umgekehrt bedeutet Vergessen den (teilweisen) Verlust der Rahmen, entweder weil sie aus der Aufmerksamkeit des einzelnen fallen oder dadurch, dass »diese Rahmen von einem Zeitabschnitt zum anderen wechseln« (Halbwachs 1925:368). Die Veränderung des sozialen Rahmens und die damit einhergehende Modifikation der gesellschaftlichen Konventionen erzeugt eine je unterschiedliche Vergangenheit. Vergangenheit wird also nach Halbwachs nicht in individuellen Gedächtnissen passiv konserviert, sondern durch die Sprache und das darin ausgedrückte System gesellschaftlicher Konventionen aktiv rekonstruiert.

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4.1 Die Idee des kollektiven Gedächtnisses - Maurice Halbwachs

4.1.3 Erinnerungsbild und versprachlichte Erinnerung

Der kommunikative Zugriff des Einzelnen auf seine Erinnerungsbilder ist in erster Linie durch die erinnerte Konvention der Sprache vorgeprägt. Nur durch diese Konvention. durch den gesellschaftlichen Rahmen der Sprache, können Erinnerungen zum Ausdruck gebracht werden. Nun stellt sich für Halbwachs die Frage nach dem Zusammenhang der individuellen Erinnerungsbilder und der kollektiven Erinnerungsform. Diese Frage ist gleichzeitig jene nach dem Zusammenhang zwischen individuellem und kollektivem Gedächtnis. Ihr kommt für die Reflexion im theologischen Zusammenhang später eine zentrale Bedeutung zu. Halbwachs knüpft zunächst an die Unterscheidung von Bild und Sprache bei Henri Bergson an, jedoch nicht ohne sie nochmals zu problematisieren 33 . Ihm geht es nicht in erster Linie um die Unterscheidung, sondern um den inneren Zusammenhang von individuellem Erinnerungsbild und kollektivversprachlichter Erinnerung. Er verdeutlicht das in Bezug auf die Ideenlehre bei Platon und ihre - so Halbwachs - >>Vertiefung« bei Spinoza. Die platonischen Ideen seien gerade keine Abstraktionen oder Begriffe, keine »abstrakt aufgefaßte[n] Eigenschaften, sondern >Subjekteseltsame Eigentümlichkeit an der Familie daß unsere Eltern uns wie auf Grund unpersönlicher Regeln vorgegeben sind, und daß wir sie doch in viel vertrauterer Weise kennen als die übrigen Menschen und sie den anderen vorziehen, als ob wir sie ausgesucht hätten« (Halbwachs 1925:375).

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4.1 Die Idee des kollektiven Gedächtnisses - Maurice Halbwachs

Riten sich nicht ausschließlich rational erklären lassen, sondern "ihren Daseinsgrund in der Vergangenheit und keinesfalls in der Gegenwart suchen« (Halbwachs 1925:375). So ist Religion für Halbwachs ein »übriggebliebenes Relikt«, ein »ins Gedächtnisrufen von Ereignissen oder heiligen Personen, die seit langem be endet bzw. gestorben sind« (Halbwachs 1925:376). Das geschieht einerseits durch eine Lokalisierung des Erinnerten und andererseits durch symbolische Reproduktion von Gesten, Worten und Gedanken. In diesen konkreten religiösen Vollzügen, die Abstraktion und Konkretion - Halbwachs spricht von Dogmatik und Mystik - verbinden, besteht die Eigenart des Religiösen. Dogmatik und Mystik erschließen und ergänzen sich gegenseitig. Religiöse Denkinhalte sind »konkrete Bilder mit der imperativen Kraft und Allgemeinheit von Ideen, oder wenn man will, Ideen, die einzigartige Personen und Ereignisse darstellen« (Halbwachs 1925:377). Dabei geht es - so zeigt Halbwachs am Beispiel der religiösen Topographie des Heiligen Landes in seinem Werk Stätten der Verkündigung im Heiligen Land (1941) und spitzt damit sein Verständnis der Rekonstruktivität des kollektiven Gedächtnisses zu - weniger darum, dass die Orte im historischen Sinn korrekt sein müssen, um eine überzeitliche Kontinuität zu verbürgen. Vielmehr ist es die Verortung der Gruppenerinnerung selbst, die jeweils von einer konkreten Gegenwart und in Bezug auf eine konkrete Gruppenidentität eine je neue Lokalisierung vornimmt und so das »Bild früherer Tatsachen den religiösen überzeugungen und spirituellen Bedürfnissen der Gegenwart anpaßt« (Halbwachs 1941:21). Im Blick auf die unterschiedlichen christlichen Topographien in IsraelIPalästina in byzantinischer Zeit und zur Kreuzfahrerzeit schließt Halbwachs, dass sich die »Aufmerksamkeit [... ] nicht auf die Ursprünge [richtet], die ersten Begebenheiten, die vielleicht am Beginn all dieser Entwicklungen gelegen haben mochten«, sondern dass es vielmehr »die Gestalt dieser Gruppen [ist], deren Abdruck man am wechselnden Erscheinungsbild der Heiligen Stätten im Laufe der Jahrhunderte wiederfindet« (Halbwachs 1941:211). 4.1.5.3 Soziale Milieus

Soziale Milieus versteht Halbwachs als »Menschen, die sich voneinander durch die Art der Schätzung unterscheiden, die sie sich gegenseitig und die die anderen ihnen beweisen« (Halbwachs 1925:377). Diese Milieus bilden sich gewissermaßen durch Anerkennungsverhältnisse heraus, das bedeutet durch die je konkrete gegenwärtige Gesellschaftsstruktur (das ist der formale oder begriff-

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4 Kulturwissenschaftliche Konzepte des kollektiven Gedächtnisses

liehe Aspekt). Gleichzeitig sind sie (so führt er am Beispiel der Adeligen des ancien regime aus) Ergebnis einer langen und in ihrem Wesen kontingenten (!) Entwicklung. Adelstitel etwa wirkten gewissermaßen wie eine »geistige und unveräußerliche Erbschaft« fort, deren Bedeutung auf der »Anzahl und Q1talität der glorreichen und ehrenhaften Erinnerungen« (Halbwachs 1925:378) beruht. Auch hier besteht also zwischen dem formalen Aspekt der Gesellschaftsstruktur und den Erinnerungen bzw. historischen Fakten ein Zusammenhang. Mit der französischen Revolution und der grundsätzlichen Anderung der Gesellschaftsstruktur wurden die Adelstitel in ihrer gesellschaftlichen Form obsolet. Vor allem aufgrund der Bedeutung der Erinnerung war es unmöglich, diese traditionellen Titel in einer veränderten Gesellschaft einfach anderen Trägern zu verleihen. Vielmehr mussten neue Titel und neue Positionen geschaffen werden, aus denen heraus sich neue Milieus bildeten, innerhalb derer sich neue spezifische Q1talitätskriterien für die Positionen ergaben. Und auch hier spielt für Halbwachs die Erinnerung eine zentrale Rolle wie er am Beispiel eines Richters ausführt 37 Auch hier ist es also nicht die ideelle Konzeption der Gesellschaft an sich, die ihre Struktur prägt, sondern ihr nur durch die Erinnerung vermittelter Zugang zu konkreten Bildern.

4.1.6 Gesellschaftsveränderung und Eri n nerungs(re )konstruktion

An dieser Stelle thematisiert Halbwachs die konstitutive Bedeutung eines gesellschaftlichen Bruchs für die Re-Konstruktion der Gesellschaft als ganzer und einzelner gesellschaftlicher Gruppen oder Milieus wie für die Re-Konstruktion der gesellschaftlichen und gruppenspezifischen Erinnerung. Die Umformung der Gruppe oder der Gesellschaft zwingt gewissermaßen zu einer neuen Erinnerungskonstruktion, die zugleich eine Identitätskonstruktion ist 38 Erinnerung ent37,> [D]ie

Vorstellung von einem Richter [ist] immer von der Erinnerung an bestimmte hohe Richter, die wir gekannt haben, begleitet, oder doch zumindest von der Erinnerung an das Urteil der Gesellschaft über bestimmte Richter, die wir nicht gekannt haben« (Halbwachs 1925:380). 38 An dieser Stelle verweist Jan Assmann auf eine nietzscheanische Traditionsspur, die Halbwachs wohl selbst nicht bewusst ist. Ein solcher Vergangenheitsbezug, der vorwiegend durch das gegenwärtige Interesse der Identitätskonstruktion motiviert ist - Assmann nennt das Präsentismus - findet sich in Nietzsches zweiter Betrachtung Vom Nutzen und Nachteil der Historie fi1r das Leben im Rahmen seiner Reflexion über die Geschichtsbetrachtung, bei der er zwischen einem monumentalistischen, einem antiquarischen und einem kritischen Zugang unterscheidet

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4.1 Die Idee des kollektiven Gedächtnisses - Maurice Halbwachs steht also gewissermaßen an gesellschaftlichen oder gruppenspezifischen Um-

brüchen oder formt sich hier zumindest um. Hierin deutet sich an, dass zwischen individueller Erinnerung und ihrem gesellschaftlichen Rahmen neben ihrem untrennbaren Zusammenhang für Halbwachs doch eine Asymmetrie aufscheint: Die gesellschaftliche Umformung wirkt sich direkt und notwendig auf die Erinnerung und damit die neue Vergangenheitsrekonstruktion aus. Ob nicht gerade in einer veränderten Erinnerung ein enormes gesellschaftliches Veränderungspotenzialliegt, schließt Halbwachs zwar nicht explizit aus, thematisiert es jedoch auch nicht. Diese zumindest geahnte Asymmetrie ist es, die in der Auseinandersetzung mit seiner Theorie des kollektiven Gedächtnisses mit der Frage nach der Bedeutung des Bezugsrahmens [cadre]'9 der wohl stärkste Kritikpunkt an Maurice Halbwachs ist. 40 4.1.6.1 Wandel und Erinnerung im Subjekt Zusammenfassend hält Halbwachs das Zueinander von individuellem und kollektivem Gedächtnis folgendermaßen fest: "Der einzelne ruft seine Erinnerun(vgl. Assmann 2005a:72). Zwar gehen alle drei Zugänge völlig unterschiedlich vor, sie fragen jedoch gemeinsam nach dem j>Dienste, welche die Historie dem Leben zu leisten vermag« und finden ihn nicht ausschließlich in einem Erkenntnisgewinn über die Vergangenheit selbst, sondern darin, dass j>die Kenntniss der Vergangenheit zu allen Zeiten nur im Dienste der Zukunft und Gegenwart begehrt ist, nicht zur Schwächung der Gegenwart, nicht zur Entwurzelung einer lebenskräftigen Zukunft« (Nietzsehe 1874:4). Es kann also für Nietzsehe bei einer adäquaten Erinnerungskultur nicht um eine ,>Beschäftigung mit der Vergangenheit um der Vergangenheit willen« (Assmann 2005a:72) gehen. Das ist für ilm ein dem Lebendigen entgegenstehender historistischer Vergangenheitszugriff. Nietzsche formuliert dies in sehr drastischer Sprache: :>:>Das Uebermaass von Historie hat die plastische Kraft des Lebens angegriffen, es versteht nicht mehr, sich der Vergangenheit wie einer kräftigen Nahrung zu bedienen« (Nietzsche 1874:4). Das Bild der Vergangenheitsbemächtigung als Nahrung meint gerade die bewusste, autonome und eventuell kreativ umformende Aneignung der Vergangenheit im Dienst des Lebens und der Gegenwart (vgl. Stambaugh 1959:50 und Kleffmann 2003:184 sowie Wolfrum 2010:17f.).

Dieser Kontrast findet seine Entsprechung im deutlichen Kontrast, den Halbwachs zwischen Erinnerung und Geschichte macht (vgl., S. 139). 39 Vgl. dazu die Ausführungen zum Verständnis des Rahmens bei Halbwachs, oben, S. 131. 40 Diese Kritik hält sich in der Auseinandersetzung mit Theorien des kollektiven Gedächtnisses hartnäckig und liegt wohl wesentlich darin begründet, dass Halbwachs mit seiner Rahmenmetapher [cadre] :»keinen theoretisch ausgearbeiteten Begriff entfaltet«, wodurch :>>unterschiedliche Bedeutungsdimensionen impliziert« (Dimbath 2013:27) werden. Die konkrete Kritik von Cornelia Siebeck (vgl. etwa Siebeck 2013:80-83) bezieht sich zwar auf Jan Assmann und nicht auf Halbwachs, sie bildet jedoch den cantus firmus in der Auseinandersetzung gut ab.

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4 Kulturwissenschaftliche Konzepte des kollektiven Gedächtnisses

gen mit Hilfe der Bezugsrahmen des sozialen Gedächtnisses herauf. Mit anderen Worten, die verschiedenen Gruppen, in die die Gesellschaft zerfällt, sind in jedem Augenblick in der Lage, ihre Vergangenheit zu rekonstruieren« (Halbwachs 1925:381). Gleichzeitig mit dieser Rekonstruktion wird die Vergangenheit jedoch auch verformt, also angepasst. Diese Anpassung führt er darauf zurück, dass soziale Gruppen und die Gesellschaft als Ganze permanent um möglichst umfassende Integration bemüht ist. Deshalb schließt die Gesellschaft »aus ihrem Gedächtnis alles aus[], was die einzelnen voneinander trennen, die Gruppen voneinander entfernen könnte und darum manipuliert sie ihre Erinnerung in jeder Epoche, um sie mit den veränderlichen Bedingungen ihres Gleichgewichts in übereinstimmung zu bringen« (Halbwachs 1925:382; Hervorh. AJ). Vorgezeichnet sieht Halbwachs diese Harmonisierungstendenz schon in autobiographischen Selbstvollzügen des Einzelnen, der bemüht ist, in der sprachlicherzählenden Anordnung größtmögliche Kohärenz seiner Einzelerinnerungen zu erzeugen. Jedes Individuum trifft also »unter den Erinnerungen eine Auswahl«, lässt »einige von ihnen fallen« und disponiert »die anderen nach einer unseren augenblicklichen Vorstellungen entsprechenden Ordnung« (Halbwachs 1925:382). Dies bedeutet jedoch, dass im Hinblick auf den gesellschaftlichen Bezugsrahmen eine Differenzierung notwendig ist: Dieser Rahmen besteht sowohl aus einem Rahmen von Begriffen, die sich ausschließlich der Vergangenheit verdanken, als auch einem Vernunftrahmen, der von den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen ausgeht. Insofern steht die Vergangenheit immer »im Griff der erinnernden Gegenwart« (Assmann 2005b: 17). Dieser Griff des Vernunftrahmens kann jedoch gegenüber dem Begriffsrahmen, der von gesellschaftlichen Traditionen und Erinnerungen geprägt ist und seinen Einfluss aus der zeitlichen Ausdehnung der Erinnerungen bezieht, nur dann eine verändernde Dynamik entfalten, wenn er sich auf gesamtgesellschaftlich geteilte überzeugungen bezieht. Die Dynamik des gesellschaftlichen Wandels, auch des Erinnerungswandels, ist insofern für Halbwachs von zwei zentralen Bedürfnissen bestimmt: Einerseits dem »[gesamt]gesellschaftlichen Bedürfnis nach Einheit« und andererseits dem gruppenspezifischen »sozialen Bedürfnis nach Kontinuität«. Damit bezeichnet er gewissermaßen die synchrone (Einheit) und diachrone (Kontinuität) Dimension der soziologischen Dynamik einer möglichst umfassenden gesellschaftlichen Kohärenz 41 Das Verhältnis beider zueinander verdeutlicht er an41

Die gruppenspezifische Vergangenheitsrekonstruktion erfolgt also :»lucht in den Bahnen historischer Reflexion, sondern folgt eigenen, in der Lebenswelt der Gruppe entwickelten Vorstel-

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4.1 Die Idee des kollektiven Gedächtnisses - Maurice Halbwachs

hand der Wandlungsdynamiken innerhalb der drei bereits vorher erwähnten paradigmatischen gesellschaftlichen Gruppen. Zentral ist für Halbwachs die Erkenntnis, dass gesellschaftlicher Wandeln nicht dort entsteht, wo gesellschaftliche Gruppen gewissermaßen rationale Forderungen gegen ihre eigene Erinnerung in Stellung bringen, sondern dort, wo sie sich mit der >>vergangenheit von anderen [für sie relevanten] Gruppen [... ], mit denen sie sich zu identifizieren« (Halbwachs 1925:383) suchen, auseinandersetzen. Gesellschaftlicher Wandel entsteht also in erster Linie dort, wo es innergesellschaftlichen Dialog über die eigene Identität, und das heißt für Halbwachs in erster Linie über die eigene Erinnerung, gibt.

4.1.6.2 Wandel in der Familie

Gesellschaften, die durch die starke Stellung der Familie bestimmt sind, unterliegen oft der Tendenz, dass sie sich gegen Einflüsse von außen, die nicht mit ihrem Geist und ihrer Denkweise übereinstimmen, weitgehend abschließen. Die familiäre Kontinuität wird jedoch insbesondere dann unterbrochen, wenn ein Mitglied einer anderen Familie in sie hineinkommt - also in erster Linie im Falle von Heirat. In dieser Neukonfiguration der Familie liegt ein Bruch und damit die Möglichkeit der Öffnung dafür, wie die neue Familie aus den Bedürfnissen ihrer konkreten Gegenwart heraus die Erinnerungen ihrer beiden Stammfamilien in eine neue Familienerinnerung umschreibt, sodass sie der Familie >,ihre eigene Vergangenheit in neuem Lichte dar[stellt]« (Halbwachs 1925:384). Insofern besitzt die Familie an diesen Bruchstellen eine hohe Durchlässigkeit insbesondere für ihr Umgebungsmilieu. Hieran wird für Halbwachs beispielhaft auch deutlich, dass gesellschaftliche Veränderung nicht aufgrund von abstrakten Vernunfterkenntnissen Einzelner vonstatten gehen kann, mögen diese noch so wohlbegründet und richtig sein. Vielmehr bedarf es einer Kohärenz zwischen diesen Vernunfterkenntnissen und bestimmten konkretisierenden Traditionssträngen, die sich dann - wenn auch langsam - durchsetzen können. Paradigmatisch hält Halbwachs fest: »Man kann Prinzipien nur durch Prinzipien ersetzen, Traditionen nur durch Traditionen« (Halbwachs 1925:385).

lungen von sozialer Kohärenz« (Harth 1991:34).

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4 Kulturwissenschaftliche Konzepte des kollektiven Gedächtnisses 4.1.6.3 Wandel in der Religion

Besonders im Blick auf eine theologische Auseinandersetzung sind die Erkenntnisse von Halbwachs in Bezug auf den Wandel innerhalb von Religionsgemeinschaften interessant. weil sie in gewisser Weise in Spannung mit dem theologischen Selbstverständnis der organischen Weiterentwicklung der Tradition als fortgesetzte Ausfaltung des Ursprungs treten. Religionen berufen sich - so skizziert Halbwachs das theologische Selbstverständnis - »auf die Offenbarungen und die übernatürlichen Tatsachen. die ihr Erscheinen kennzeichnen. als ihr wahres Prinzip« (Halbwachs 1925:835). In diesem Fall wäre die Rolle religiöser Amtsträger in erster Linie eine hermeneutische. nämlich »all das besser verständlich zu machen. was durch Christus und die ersten Christen [... ] gesagt und getan worden ist« (Halbwachs 1925:385f.). Vom kirchlichen Selbstverständnis wäre dies dann die notwendige Entwicklung eines fortwährend sich vertiefenden Verständnisses. Darin ist zumindest schon einmal die Notwendigkeit des Wandels erklärt. weil die Gläubigen in der Religion ja gerade zu allen Zeiten etwas suchen. »was ihr Verhalten unter Umständen leiten kann. die nicht zu allen Zeiten die gleichen sind« (Halbwachs 1925:386). Man müsste dann annehmen. dass trotz des Wandels keine Umformung - Halbwachs sagt Denaturierung - der zugrundeliegenden Erinnerung stattgefunden hat. In Bezug auf die bei den Dimensionen des gesellschaftlichen Wandels hieße das. dass in der ursprünglichen Erinnerung alle Antworten auf Fragen späterer Zeiten schon enthalten sind. was erinnerungstheoretisch gewendet bedeuten würde. dass in der ursprünglich angelegten Erinnerung. die sich linear weiterentwickelt und ausdifferenziert. schon eine bestimmte lineare gesellschaftliche Entwicklung vorgezeichnet wäre. Gesellschaftlicher Rahmen und Glaubenserinnerung stünden also nicht gewissermaßen in einem dialogischen Zueinander und schon gar nicht in einem Dialog mit anderen gesellschaftlichen Gruppen. Dieses klassische Traditionsmodell. das Halbwachs nachzeichnet. funktioniert als Denkmodell also ausschließlich in einer (fiktiven) Gesellschaft. in der es nur eine christlich präfigurierte Erinnerungsgemeinschaft gibt. Das aber ist schon allein aufgrund der innerchristlichen Pluralität nicht zu denken. Der konkrete Blick auf die historische Entwicklung der christlichen Lehre zeigt für Halbwachs dann auch ein gänzlich anderes Bild. Die Lehrentwicklung kann nicht als reine Ausformung des anfänglich Angelegten verstanden werden. vielmehr haben sich »[n]eue Ideen und Gesichtspunkte [... ] in einer Folge von Zusätzen daran angelagert« und anstatt ausschließlich »die alten Prinzipien

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4.1 Die Idee des kollektiven Gedächtnisses - Maurice Halbwachs

zu entwickeln, hat man sie vielmehr in vielen Punkten eingeschränkt« (Halbwachs 1925:386). Als erstes Beispiel führt Halbwachs hier die Pluralität der unterschiedlichen Gemeinden der Urkirche an, die sich teilweise unabhängig und teilweise in Spannung zueinander entwickelt haben. In der Pluralität der zur Verfügung stehenden Traditionen musste die Kirche in konkreten Situationen auswählen und hat dies getan, indem sie »diejenigen Ideen am besten aufgenommen hat, die einer ausgebreiteteren christlichen Gemeinschaft als gemeinsame Tradition zu dienen in der Lage waren« (Halbwachs 1925:387). Es geht also in diesem Streben sowohl um größtmögliche Einheit als auch um größtmögliche Kontinuität und darum, beide in ein Gleichgewicht zu bringen. 42 Dabei hat die Kirche »ihre älteren Traditionen in ein Gefüge neuerer überzeugungen gestellt«, die aber - und das ist für Halbwachs zentral - »ihrerseits von solchen Gruppen herrührten, mit denen sie sich zu einer weiteren religiösen Gemeinschaft zu verschmelzen hoffen konnte« (Halbwachs 1925:387). Die Reformation ist dabei sozusagen die Gegenprobe: Ihre Lehre »von der freien Prüfung [hat] die individuelle überlegung über die Tradition gestellt« (Halbwachs 1925:387) und so für die katholische Kirche nicht Traditionen und Erinnerungen zur Verfügung gestellt, die sich für eine rekonstruktive Neukonfiguration angeboten hätten. Daraus ließe sich mit Halbwachs auch erklären, warum eine ökumenische Bewegung sich erst dann herausbilden kann, wenn einerseits die konfessionellen Milieus nicht mehr hermetisch voneinander abgegrenzt sind und andererseits beide Konfessionen über Traditionen und Erinnerungen verfügen, die miteinander in Dialog treten können - was gerade Ende des 19. Jahrhunderts und dann verstärkt im 20. Jahrhundert der Fall war. 4.1.6.4 Wandel in sozialen Milieus

Der Wandel der gesellschaftlichen Struktur bzw. der sozialen Milieus gründet darin, dass »neue Bedürfnisse entstanden [sind], die die Gesellschaft nicht mehr befriedigen kann« (Halbwachs 1925:387). Gesellschaftliche Institutionen bedürfen starker Kollektivüberzeugungen, besonders in Bezug auf gesellschaftlichen 42

Interessanterweise entspricht dieses Spannungsverhältnis, das sich eben nicht allein auf die geschichtliche Kontinuität beschränkt, den lerinischen Traditionskriterien des :»quod ubique, quod semper, quod ab omnibus creditum est« (Vinzenz von U~rins , Commonitorium 2,5; vgl. dazu auch die weiterführenden Ausführungen bei Negel 2013:339-341). Entsprechend der überzeugung von Halbwachs sind es jedoch gewissermaßen die lerinischen Kriterien der universalitas und des consensus omnium, die für die erinnerungsrekonstruktive Auswahl der Traditionen entscheidend sind.

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4 Kulturwissenschaftliche Konzepte des kollektiven Gedächtnisses

Wandel. Wenn sich Kollektivüberzeugungen entwickeln, die der Gesellschaftsstruktur entgegenstehen, können sie sich nur durchsetzten, wenn sie selbst die »Form von Traditionen« (Halbwachs 1925:388) angenommen haben43 . Das Bürgertum wandelte seine eigenen Traditionen und zeigte sich in der Folge der Französischen Revolution als anpassungsfähiger und integrativer. Der »Sinn für kollektive Kräfte, das Verständnis für gesellschaftliche Produktions- und Tauschweisen und die Fähigkeit jene ins Werk zu setzten und sie zu gebrauchen« konnte so in der neuen Rekonstruktion der bürgerlichen Erinnerung und Identität zum Grundstock einer neuen sehr viel komplexeren Gesellschaftsorganisation werden, weil sie vorher schon von einer »Gruppe fortschrittlicher Menschen« (Halbwachs 1925:388) geteilt wurden. Auch hier stellt sich die Herstellung eines neuen Gleichgewichts zwischen der Wahrung der Kontinuität und dem Bemühen um Einheit (möglichst umfassender gesellschaftlicher Kohärenz) als jene Strategie heraus, die nachhaltigen Wandel ermöglicht.

4.1.7 Der Doppelcharakter sozialer Überzeugungen Aus den paradigmatischen Beispielen erhebt Halbwachs also einen Doppelcharakter sozialer Uberzeugungen: Sie sind einerseits »kollektive Traditionen oder Erinnerungen«, die aus der Vergangenheit stammen bzw. sich auf sie beziehen und andererseits »Ideen oder Konventionen« (Halbwachs 1925:389), die sich aus der Kenntnis des Gegenwärtigen speisen. Traditionen und gegenwärtige Ideen können deshalb übereinstimmen, weil »die aktuellen Ideen in Wirklichkeit auch Traditionen sind und weil die einen wie die anderen sich gleichzeitig und mit gleichem Recht auf ein älteres oder jüngeres Leben der Gesellschaft berufen« (Halbwachs 1925:390)". Aufgrund dieses Doppelcharakters sozialer überzeugungen, die immer aus einem Gleichgewicht von Reflexion (Idee) und Tradition (Erinnerung) bestehen, die sich gegenseitig beeinflussen und verändern, können in einer Gesellschaft nur solche überzeugungen miteinander in Halbwachs führt hier als Beispiel in Bezug auf die Abschaffung der Adelsprivilegien im Rahmen der Französischen Revolution an, dass sich ,>in weiten Teilen der Gesellschaft die überzeugung festsetzte, daß es eine vermenstlichere Art der Tätigkeit gebe als die Ausübung kriegerischer Tugenden, und wertvollere und rühmlichere Eigenschaften als diejenigen, die den Adelstitel einbringen« (Halbwachs 1925:388). Gewissermaßen als Ersatz hätten schon Ideen aus den Kreisen der Handwerker und Kaufleute bereitgestanden, die selbst in Form von Traditionen und Erinnerungen dieser Gruppen vorlagen. 44 Das gilt insbesondere deshalb, weil Gruppen und Einzelne selbst »in der zeitlichen Dauer [existieren] und [... ] ihre Spur im Gedächtnis der Menschen zuriick[lassen]« (Halbwachs 1925:389). 43

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4.1 Die Idee des kollektiven Gedächtnisses - Maurice Halbwachs

Dialog oder Konkurrenz treten, die beide Aspekte besitzen. 45 Zum Schluss des Buches bemerkt Halbwachs: "Daraus geht hervor, daß das gesellschaftliche Denken wesentlich ein Gedächtnis ist, und daß dessen ganzer Inhalt nur aus kollektiven Erinnerungen besteht, daß aber nur diejenigen von ihnen und nur das an ihnen bleibt, was die Gesellschaft in jeder Epoche mit ihren gegenwärtigen Bezugsrahmen rekonstruieren kann« (Halbwachs 1925:390). Das gilt aber nur in einem übertragenen Sinn. Eigentlich besteht die Gesellschaft aus einer Vielzahl von Erinnerungsgruppen, die untereinander in verschiedensten Dialogen stehen, insbesondere durch diejenigen Gruppenmitglieder, die unterschiedlichen Bezugsrahmen zugehören und in ihrer individuellen Erinnerung für einen Dialog der Erinnerungen sorgen. Aber auch die Erinnerungsgruppen selbst treten miteinander in Dialog, der nicht nur dem Wandel und der Weiterentwicklung dienen muss. Bei aller Kritik 46 , die im Kern darauf hinausläuft, dass Halbwachs in seinem Ansatz eine» unzulässige Kollektivierung individualpsychologischer Phänomene« (Er1l2005:14) vornehme, kann die grundlegende Bedeutung des Konzeptes von Halbwachs für heutige Konzeptionen des kollektiven Gedächtnisses kaum überschätzt werden. Trotzdem ist die deutliche Klärung des Zueinanders von individuellem und kollektivem Gedächtnis auch und gerade angesichts der Interferenzen zwischen beiden Ebenen im Rahmen einer theologischen Aneignung noch einmal deutlich zu machen und dabei auch das individuelle Gedächtnis in seiner prinzipiellen Eigenständigkeit herauszustellen.

Halbwachs betont: ,>Wie das römische Pantheon alle Kulte unter seinem Dach beherbergte, wenn es nur Kulte waren, so läßt die Gesellschaft alle Traditionen zu (selbst die neuesten), wenn es nur Traditionen sind« (Halbwachs 1925:390). Das gilt sogar für wissenschaftliche oder theoretische überzeugungen, insofern sie eine gesellschaftliche Relevanz beanspruchen. 46 Solche Kritik an dem Ansatz von Halbwachs kam insbesondere aus der Durkheim-Schule. Sie ist und bleibt die zentrale Kritik an Theorien des kollektiven Gedächtnisses in der Traditionslinie von Halbwachs (vgl. dazu auch unten, S. 155). Die Anfragen, die diese Kritik an das Konzept von Halbwachs stellen, haben in erster Linie mit seinem Verständnis der sozialen Rahmen [cadres sociaux] zu tun (vgl. Dimbath 2013, ferner oben, S. 131f.). 45

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4 Kulturwissenschaftliche Konzepte des kollektiven Gedächtnisses

4.2 Das kulturelle Gedächtnis - Jan Assmann Die Namen von JAN ASSMANN und seiner Frau ALEIDA ASSMANN stehen im deutschsprachigen und auch im europäischen Raum für das bis heute in den Kulturwissenschaften bekannteste und einflussreichste Modell des kollektiven Gedächtnisses. Insbesondere die trennscharfe Differenzierung im Bereich dessen, was Jan Assmann das kulturelle Gedächtnis nennt, haben dazu beigetragen, dass die Auseinandersetzung mit der Gedächtniskultur zu einer grundlegenden kulturwissenschaftlichen Hermeneutik geworden ist. Neben zahlreichen Artikeln und Beiträgen und der Herausgabe von Sammelbänden, die einen reichen Fundus an multiperspektivischen Zugängen zu Erinnerung und Gedächtnis bieten, hat Jan Assmann seine Theorie vor allem in zwei Schriften systematisch ausgefaltet, in Das kulturelle Gedächtnis (1992) und Moses der Agypter (1998), die für die folgende Nachzeichnung der Gedanken Assmanns die wesentliche und strukturierende Grundlage bilden. Seine Einsichten verdankt Jan Assmann einerseits der Wiederentdeckung der Schriften von Maurice Halbwachs, was insbesondere einen soziologischen Zugang von kollektiver Erinnerung als Gruppenerinnerung bedeutet und andererseits einer Auseinandersetzung mit anderen Zugängen und Konzeptionen des kollektiven Gedächtnisses (etwa Aby Warburg), die eher ein universalistisch-anthropologisches Verständnis eines Tiefenstroms der Erinnerung enthalten, der sich gerade gruppenübergreifend in ästhetischen oder kultischen Erfahrungen aktualisiert 47 Beide Paradigmen stehen in einer gewissen Spannung. Während Assmann sich gerade in seinen ersten Auseinandersetzungen (vgl. Assmann 1988: 12-16) sehr um den Ausgleich beider Perspektiven bemüht, tendiert Das kulturelle Gedächtnis (1992) trotz vielfältiger entgegengesetzter Formulierungen sehr zu einer funktionalistischen und juristisch-juridischen Zuspitzung des Gruppenerinnerungsparadigmas auf der Linie von Halbwachs. In Moses der Agypter (1998) schlägt das Pendel, metaphorisch gesprochen, in die entgegengesetzte Richtung aus. Assmann sieht in der Erinnerungsfigur des Mose oder der »Mo ses-Debatte« eine - so wörtlich - »hermetische Tradition« (Assmann 1998:39), die man mit einer Bezeichnung von Klaus Müller einen »monistischen Tiefenstrom« (Müller, K. 2006:174) abendländischer Theologie nennen kann. In der Erinnerungsfigur des Mose werde dabei die Auseinandersetzung um die monotheistische Konzeption des ägyptischen Pharaos Echnaton erinnernd verge47

Hier wird unschwer der Einfluss der platonischen Idee der Ananmesis deutlich (vgl. oben, 3.1.2, S. 115f.).

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4.2 Das kulturelle Gedächtnis - Jan Assmann

genwärtigt. Obwohl Assmann ausdrücklich von einem historischen Ursprung dieser Gedächtnisspur ausgeht 48 , zeigt sich in Moses der Agypter die Tendenz zu einem solchen universalistisch-anthropologischen Verständnis49

4.2.1 Erinnerungskultur als kollektives Gedächtnis Zu Beginn seiner Reflexionen über Das kulturelle Gedächtnis (1992) hält Assmann fest, dass Erinnerung nicht im Sinne der antiken Gedächtniskunst (ars memoriae)50 zu verstehen ist, sondern dass es sich um ein universales Phänomen handelt, das immer gruppenbezogen und sozial zu verstehen ist. Assmann übernimmt dafür den von Paul N ora stammenden Begriff der Gedächtnisgemeinschaften und verbindet damit, dass es bei dieser Form der Erinnerung zentral um die Identität und das Selbstverständnis einer Gruppe geht. Paradigmatisches Beispiel für das, was Erinnerungskultur bezeichnet, ist für Assmann dementsprechend auch nicht das antike Griechenland (das wäre das Beispiel für die Gedächtniskunst), sondern Israel, das sich »als Volk unter dem Imperativ >Bewahre und Gedenke!< konstituiert und kontinuiert« (Assmann 1992:30). Dieser Imperativ der Erinnerung hängt dabei für Assmann in erster Linie mit dem heilstheologischen Indikativ der Auserwähltheit Israels zusammen, was für ihn »nichts anderes [bedeutet] als einen Komplex von Verpflichtungen höchster Verbindlichkeit, die auf keinen Fall in Vergessenheit geraten dürfen« Assmann selbst beschreibt seine These folgendermaßen: j>Meine These ist, daß die All-EinheitsLehre der hermetischen Schriften, das Hen kai pan, auf die Theologie der Ramessidenzeit zurückgeht, die als eine Antwort auf Echnatons Unterscheidung zu verstehen ist. [... ] Ich [...] [halte] diese Lehre nicht für ursprünglich, sondern (in ihren wesentlichen Zügen) für eine Errungenschaft des 13. Jahrhunderts v. Chr. [... ] und [... ] nicht für eine Geheimlehre des Einen, sondern für die Lehre vom Geheinmis des Einen« (Assmann 1998:261). Eine kurze Zusammenfassung des Gedankengangs bietet Assmann 2004; vgl. dazu ferner auch Assmann 1994:405411; insbes. 405. 49 Diese universalistische Grundtendenz zeigt sich schon im Vorwort programmatisch, wenn Assmann ausführt: "Der Ausdruck ,kulturelles Gedächtnis< ist lediglich eine übersetzung des griechischen Namens ,.MnemosyneAusbildung einer individuellen Kapazität« (Assmann 1992:30) - ein möglichst hohes Maß an Wissen aufzunehmen und etwa für rhetorische Argumentation bereitzuhalten in der Lage ist. Darum geht es der Erinnerungskultur gerade nicht. 48

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4 Kulturwissenschaftliche Konzepte des kollektiven Gedächtnisses

(Assmann 1992:31; Hervorh. AJ). Das kollektive Gedächtnis wird hier also in erster Linie mit Regeln bzw. Normen in Verbindung gebracht, die beachtet werden sollen. Assmann denkt dabei wesentlich an die ToraS1 Gleichzeitig zeigt sich hier schon, dass der von Assmann beschriebenen Form der Erinnerungskultur immer ein sakrales Moment innewohnt.

4.2.2 Vergangenheits(re)konstruktion angesichts von Ko nti n uitätsbrüchen

Zentraler Bezugspunkt der Erinnerungskultur ist die Dimension der Zeit 52 ; sie gehört zentral »zum Planen und Hoffen, d. h. zur Ausbildung sozialer Sinnund Zeithorizonte« (Assmann 1992:31). An diesem Punkt kommt Assmann zu seiner ersten zentralen These: »Die Vergangenheit [... ] entsteht überhaupt erst dadurch, daß man sich auf sie bezieht« (Assmann 1992:31). Zwar entsteht das Gestern gewissermaßen ganz automatisch durch die vergehende Zeit, es wird jedoch erst durch den aktiven Rückbezug zur Vergangenheit. Das Erinnerungskonzept von Jan Assmann ist also zunächst ganz grundlegend (re-)konstruktivistisch (vgl. Siebeck 2013:81), die Vergangenheit eine konstruierte und nicht eine objektiv vorgegebenen Größe. Voraussetzung dafür, dass Vergangenheit derart bewusst gemacht wird, ist, dass »sie nicht völlig verschwunden sein« darf, es also Zeugnisse geben muss, die »eine charakteristische Differenz zum >Heute< aufweisen« (Assmann 1992:32). Die Entstehung - oder besser: Rekonstruktion - der Vergangenheit ereignet sich jedoch nicht automatisch und ständig, sondern bedarf konkreter Auslöser. Möglicher Auslöser ist »jeder tiefere Kontinuitäts- und Traditionsbruch«, der dann zur Entstehung von Vergangenheit führen kann, »wenn nach einem solchen Bruch ein Neuanfang versucht wird« (Assmann 1992:32). Erinnerung bedarf also sowohl eines charakteristischen Unterschieds als auch eines deutlichen Bruchs. Die ursprünglichste Erfahrung eines solchen Bruchs ist der Tod. Ob die Tara jedoch primär als Komplex von Nonnen zu verstehen ist oder die Erinnerung in erster Linie eine kommunikative Erinnerung des Heilshandelns Jhwhs ist, dessen Bundesurkunde die Tara ist, und damit - das soll hier vertreten werden - primär ein grundsätzlich narrativ-offenes und nicht ein juristisch-juridisch verengtes und dann schließlich gesellschaftlich funktionalisiertes Verständnis vorliegt, soll im biblischen Zugang dieser Arbeit noch genau untersucht werden. 52 Hier finden sich Spuren des augustinischen Verständnisses der Erinnerung (vgl. 3.2, S. 12Off., 51

insbes. S. 128).

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4.2 Das kulturelle Gedächtnis - Jan Assmann

Erst »mit seiner radikalen Unfortsetzbarkeit gewinnt das Leben die Form der Vergangenheit, auf der eine Erinnerungskultur aufbauen kann« (Assmann 1992:33). Deswegen ist das Totengedenken auch die ursprünglichste Form des kulturellen Gedächtnisses: »In der erinnernden Rückbindung an die Toten vergewissert sich eine Gemeinschaft ihrer Identität« (Assmann 1992:63). Dieses kulturelle Totengedächtnis ist geradezu die Frage nach den »Grundlagen menschlicher Existenz, die nun einmal auf individueller wie auf kollektiver Ebene von unserer Beziehung zum Tod und zu den Toten zutiefst mitbestimmt ist« (Assmann 2005b:18).53

In diesem Zusammenhang setzt sich Assmann auch sehr dezidiert mit dem Traditionsbegriff auseinander. Gerade der Ursprung des sozial rekonstruierten Erinnerns im Totengedenken zeigt für ihn, dass diese Erinnerungskonstruktion mit dem herkömmlichen Begriff der Tradition nicht adäquat beschrieben werden kann. Tradition, so schreibt Assmann, »verschleiert den Bruch, der zum Entstehen von Vergangenheit führt und rückt dafür den Aspekt der Kontinuität, das Fortschreiben und Fortsetzen, in den Vordergrund« (Assmann 1992:34). Es sind gerade die Aspekte des Rückgriffs über den Bruch hinweg und des Vergessens und Verdrängens, die durch den Begriff der Tradition verschleiert werden. In der Tat zeigen ja auch die ersten überlegungen (vgl. oben), dass es genau der Dual Bruch - Kontinuität ist, der in der gegenwärtigen katholischen Theologie gewissermaßen zu einer Aporie des Traditionsbegriffs führt. Umgekehrt heißt das, und das wollen die folgenden Ausführungen zeigen, dass genau diese bei den Begriffe im Sinne der Adäquatheit eines spezifisch theologischen Traditionsbegriffs im Sinne von Erinnerung sinnvoll in eine Dialektik gesetzt werden können, dass also die Tradition als Erinnerung verstanden eine Perspektiverweiterung bedeutet. Anders gesagt: Der theologische Traditionsbegriff meint von Anfang nicht eine einfache Fortschreibung bestimmter Inhalte oder Lehren, sondern die stetige Neuaneignung der prägenden Großerzählungen anhand sehr konkreter Brüche. Das ist der erste Punkt, an dem die Betrachtung der Tradition als (kollektive) Erinnerung einen Lösungsansatz für den traditionalistisch festgefahrenen Traditionsdiskurs der katholischen Theologie bieten kann. Tra53

Assmann unterscheidet zwischen der ursprünglichen retrospektiven Dimension der Erinnerung, in der ;.>eine Gruppe mit ihren Toten lebt, die Toten in der fortschreitenden Gegenwart gegenwärtig hält und auf diese Weise ein Bild ihrer Einheit und Ganzheit aufbaut«, und einer prospektiven Dimension der Erinnerung, in der es j>um den Aspekt der Leistung und fama, der Wege und Formen [geht], sich unvergeßlich zu machen und Ruhm zu erwerben« (Assmann 1992:61; Hervorh. i. Original).

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4 Kulturwissenschaftliche Konzepte des kollektiven Gedächtnisses

dition als Erinnerung zu verstehen, bietet von daher die Möglichkeit, über die >,Kulturtechnik der Weitergabe und Aufnahme als solche« hinaus auf die »Triebkräfte, Interessen und Bedürfnisse, die diese unausgesetzte Arbeit des Weiterreichens und Aufnehmens motivieren« (Assmann 1994:404), zu verweisen. 54

4.2.3 Kollektives Gedächtnis - soziale Ve rgan ge n he its( re) ko n stru kti 0 n An diesem Punkt greift Assmann auf die Zentralthese der sozialen Bedingtheit des Gedächtnisses von Maurice Halbwachs zurück (vgl. 4.1, insbes. S. 139). Auch Halbwachs verstehe die Rede vom kollektiven Gedächtnis nicht als metaphorisch. Kollektive haben zwar kein Gedächtnis, sie setzten jedoch den sozialen Rahmen der individuellen Gedächtnisse ihrer Glieder. Zwar hält Assmann - wie er selbst betont in Abweichung von Halbwachs, der dazu übergehe, das Kollektiv als Subjekt von Gedächtnis und Erinnerung zu verstehenSS - fest, dass das »Subjekt von Gedächtnis und Erinnerung [... ] immer der einzelne Mensch« bleibt, fügt jedoch hinzu, dass der Einzelne dies immer »in Abhängigkeit von den >RahmenDer Begriff der Tradition changiert zwischen diesen beiden Extremen der Erinnerung und der Schrift. Er grenzt sich gegenüber der Erinnerung ab als das soziale, normative, wenn auch nicht unbedingt vollständig sprachlich ausformulierte Wissen, und gegenüber der Schrift als das in weiten Bereichen implizite, außersprachliche, über mimetisches Vor- und Nachmachen weitergegebene und nichtschriftliche Wissen« (Assmann 1995b:45). Beide Aspekte gehören sowohl im Verständnis des kulturellen Gedächtnisses als auch in jenem der Tradition gerade in ihrer Spannung zusammen. 55 Die vorherigen Ausführungen zu Halbwachs, insbesondere zum Verständnis des Bezugsrahmens sollten jedoch verdeutlicht haben, dass eine solche Analyse an der Konzeption von Halbwachs vorbeigeht (vgl. oben, S. 129ff.). 54

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4.2 Das kulturelle Gedächtnis - Jan Assmann

1994:413). Trotz seiner salvatorischen Beteuerung, sich von Halbwachs abzusetzen, erscheint es gerade, dass die an Halbwachs geäußerte Kritik in Bezug auf diesen Bezugsrahmen die Konzeption von Assmann in mindestens ebenso star kern Maße trifft. Der folgende Versuch der Verhältnisbestimmung des individuellen Gedächtnisses als >,Agglomerat [... ], das sich aus seiner Teilhabe an einer Mannigfaltigkeit von Gruppengedächtnissen ergibt« und in Bezug auf das Gruppengedächtnis als Distribution erscheint, als »Wissen [... ], das sie [die Gruppe] in ihrem Innern, d. h. unter ihren Mitgliedern verteilt« (Assmann 1992:37), zeigt deutlich diese Tendenz. Assmann sieht dabei eine dynamische Wechselwirkung zwischen dem formal-organisierenden Zugriff des Gruppengedächtnisses auf die Erinnerung der Einzelnen und deren sich gegenseitig ergänzenden und unterstützenden inhaltlichen Zugriff auf das kollektive Gedächtnis. Dieser inhaltliche Zugriff wiederum ist aufGruppenkommunikation angewiesen, weshalb die Sozialität des Gedächtnisses unhintergehbar bleibt. Das individuelle Gedächtnis ist für Assmann wie für Halbwachs immer schon ein soziales und vor allem kommunikatives Phänomen: »Aus dieser Art von Kommunikation baut sich im Einzelnen ein Gedächtnis auf, das [... ] (a) sozial vermittelt, (b) gruppenbezogen ist« (Assmann 1988:10). 4.2.3.1 Erinnerungsgemeinschaften - Subjekte oder Objekte der sozialen Vergangen heits( re)konstru ktion? Zwar betont Jan Assmann die Wechselwirkung zwischen beiden Formen des Gedächtnisses, trotzdem besteht eine Gefahr seiner Konstruktion des Bezugsrahmens in der Tendenz, »wie selbstverständlich von präexistenten >GruppenGemeinschaften< oder >Gesellschaften«< auszugehen, die »irgendwelchen kollektiven Mnemo- und Psychodynamiken ausgeliefert« sind und damit einem »völlig unreflektiert alltagsweltlichen Verständnis von >kollektiver Identität«< (Siebeck 2013:79) Vorschub leisten - ein Vorwurf, den Cornelia Siebeck ausdrücklich an die Assmann'sche Theorie des kollektiven Gedächtnisses richtet. Diese ist zwar in Ansätzen schon bei der Auseinandersetzung mit dem Paradigma des Bezugsrahmens bei Halbwachs (vgl. oben, S. 131f.) diskutiert worden, kann jedoch auch hier nicht einfach übergangen werden. Es ist zwar - so Siebeck weiter - bei Assmann oft »von >Wir-Gruppen< als Trägerinnen kollektiver Gedächtnisse und Identitäten die Rede, aber kaum einmal wird [... ] rekonstruiert, um wen es sich dabei eigentlich konkret handelt«, was zur »Behauptung

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4 Kulturwissenschaftliche Konzepte des kollektiven Gedächtnisses

empirisch nicht rekonstruierbarer Kollektivsubjekte« (Siebeck 2013:80) führt. Hier bestehe ein Widerspruch zum konstruktivistischen Ansatz von Assmann, in dem mit »narrativen Mitteln [... ] Kontingenz reduziert und ein überindividueller Erfahrungs- und Erwartungshorizont behauptet [wird], um >kollektive Identität< zu (re-)produzieren« (Siebeck 2013:81). Für Siebeck wäre eine solche narrativ-erinnernde identitätsprägende Gruppen(re )konstruktion gar nicht nötig, wenn - wie behauptet - diese Gedächtnisgemeinschaften (empirisch) schon bestehen würden. Es bestehe also hier ein logischer Zirkel in der Form, dass aus der Behauptung der Existenz solcher Gedächtnisgemeinschaften auf ihre Existenz geschlossen wird und diese dann schließlich »im Singular gedacht und zum Kollektivsubjekt essenzialisierl werden« (Siebeck 2013:81). Bei der (empirischen) Frage nach der soziologischen Zusammensetzung der Erinnerungsgemeinschaften muss also geklärt werden, ob nicht tatsächlich wie Siebeck in ihrer Kritik pointiert, die »Annahme präexistierender >Erinnerungsgemeinschaften«< (Siebeck 2013:81) gemacht wird, die dann in das skizzierte zirkuläre Verständnis führt. Dieser Kritik zu begegnen ist nicht einfach trivial. Die Wechselwirkung zwischen der Entstehung (oder Selbstvergewisserung) der Wir-Gruppe (der Erinnerungsgemeinschaft) durch eine geteilte bzw. zu teilende identitätsstiftende Grunderzählung (der Erinnerung) und der (Re-)Konstruktion dieser Grunderzählung durch die Wir-Gruppe anhand von Lokalisierungen und durch Chronologisierung, die sich im Prozess der Sozialisierung vollzieht, bedarf einer differenzierten Auseinandersetzung, die hier insbesondere anhand des Entwurfs von Harald Welzer (vgl. unten, S. 182) geschehen soll. Dabei soll der Zusammenhang zwischen individueller und kollektiver Erinnerung in einen kommunikativen Zusammenhang gestellt werden, was dann noch einmal vor dem Hintergrund der Rahmenbedingungen der (post)modernen Gesellschaft mit Gerd Sebald und Jan Weyand (vgl. unten, S. 198) modifiziert und schließlich um einen narrativen (vgl. die Ausführungen zu Paul Ricceur, unten, S. 189-197) Zugang ergänzt werden muss, um das Zustandekommen von Erzählund Erinnerungsgemeinschaften zu plausibilisieren. 4.2.3.2 Das Zueinander von personaler und kollektiver Identität

Zum Schluss des theoretischen Teils in Das kulturelle Gedächtnis setzt sich Assmann mit dem Zueinander von personaler und kollektiver Identität auseinander und kommt damit auch noch einmal auf das Zueinander von individuellem und kollektivem Gedächtnis zu sprechen (vgl. 4.2.3, oben S. 154ff.). Identität ist

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4.2 Das kulturelle Gedächtnis - Jan Assmann

für ihn in erster Linie das "Reflexivwerden[] eines unbewußten Selbstbildes« (Assmann 1992:130). Das Zueinander von personaler und kollektiver Identität ist für Assmann zunächst durch eine scheinbare Paradoxie geprägt: Einerseits hat die Wir-Identität Vorrang vor der Ich-Identität, insofern das Ich in der Sozialisation »kraft seiner Teilnahme an den Interaktions- und Kommunikationsmustern der Gruppe, zu der er gehärt, und kraft seiner Teilhabe an dem Selbstbild der Gruppe« (Assmann 1992:130) wächst - so Assmann - oder eben entsteht 56 . Andererseits existiert die Wir-Identität nicht außer halb der Individuen. Für Assmann liegt damit eine Dialektik von Dependenz und Konstitution vor, die er in Bezug auf die soziokulturelle Identitätskonstruktion noch einmal genauer differenziert: Er unterscheidet dazu im Blick auf die Ich-Identität noch einmal zwischen einer individuellen Identität, die die »Unverwechselbarkeit und Unersetzbarkeit« des Einzelnen bezeichnet (Prozess der Individuation), und einer personalen Identität, einer Rollenidentität, die »durch Eingliederung in spezifische Konstellationen des Sozialgefüges« (Assmann 1992: 131f.) entsteht (Prozess der Sozialisation). Beide Aspekte der Identität und beide Entwicklungsprozesse sind für Assmann kulturell determiniert. Der Unterschied liegt für ihn lediglich darin, dass »kollektive Identität nicht, wie personale, auf die natürliche Evidenz eines leiblichen Substrats« (Assmann 1992:132), also eines leiblichen Körpers bezogen ist, sondern einen Sozialkörper besitzt. Während die (vorreflexive ) Zugehörigkeit zur Gesellschaft bzw. einer gesellschaftlichen Gruppe »als eine Selbstverständlichkeit unterhalb der Schwelle eines bewußten und handlungsleitenden Selbstbildes« liegt, entsteht eine kollektive Identität - eine Wir-Identität - als »reflexiv gewordene Teilhabe an bzw. das Bekenntnis zu einer Kultur« erst in der bewussten Auseinandersetzung des Einzelnen mit dieser Gruppe (Assmann 1992:134). Auch die selbstreflexive Bewusstwerdung der eigenen Identität - hier greift Assmann auf die Gedanken von George Herbert Mead zurück - hat wesentlich eine kollektive Komponente und besteht in der »Ausbildung und Stabilisierung personaler Identität durch Identifikation sowohl mit ,signifikanten Anderen< als auch mit dem Bild, das diese von einem selbst zurückwerfen« (Assmann 1992:135).

56

Vgl. dazu auch 4.4, unten, S. 189 - 197

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4 Kulturwissenschaftliche Konzepte des kollektiven Gedächtnisses Exkurs: Ein anerkennungstheoretisches Verständnis der Identitätsentwicklung

Der von Assmann angedeutete Gedanke der Identitätsentwicklung soll zum besseren Verständnis und als Grundlage der folgenden Argumentation der vorliegenden Arbeit in einem anerkennungstheoretischen Kontext verortet werden, der sich an dem amerikanischen Sozialpsychologen George Herbert Mead und dem deutschen Philosophen Axel Honneth orientiert. Zunächst sollen die Grundlinien der Identitätsentwicklung aus der sozialpsychologischen Perspektive nach Mead skizziert werden. Personale Identität ist für Mead nicht schon durch das gewissermaßen physiologische, körperliche Vorhandensein des Menschen (seine Individualität) gegeben. Vielmehr ist die Identitätsentwicklung ein lebenslanger »gesellschaftliche [r] Erfahrungs- und Tätigkeitsprozess[]« (Mead 1968:177). Ausgangspunkt der Entwicklung und Weiterentwicklung von Identität ist es, dass der Mensch sich selbst zum Objekt werden kann. Dies ist nur durch den Kontakt und die Auseinandersetzung mit anderen Individuen, insbesondere in gesellschaftlichen Lebenswelten, möglich (vgl. Mead 1968:177). Dafür muss der Mensch die Perspektive und die Haltung anderer Individuen in einer gesellschaftlichen Gruppe gegenüber sich selbst einnehmen können. Diese Fähigkeit wird insbesondere durch reziproke, gesellschaftliche Kommunikation möglich.

Für Mead ist diese Kommunikations- bzw. Dialogfähigkeit die grundlegende Voraussetzung der Identitätsentwicklung. So kann er die konstitutive Bedeutung gesellschaftlicher Erfahrung für die Identitätsentwicklung festhalten: »Identität [... ] ist im Grunde eine gesellschaftliche Struktur und erwächst aus der gesellschaftlichen Erfahrung« (Mead 1968:177). Identität kann sich dabei nicht in einem einzigen gesellschaftlichen Bereich entwickeln, vielmehr bedarf sie der Pluralität verschiedener Interaktions- und Dialogbereiche, weil in jedem dieser Bereiche jeweils nur ein bestimmter Teil der Identität zur Sprache gebracht und damit auch reziprok erfahren werden kann. Deshalb besitzt jeder Mensch gewissermaßen eine Pluralität an Identitäten bzw. Rol-

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4.2 Das kulturelle Gedächtnis - Jan Assmann len. Der gesellschaftliche Prozess der Formung bzw. Entdeckung der eigenen Identität ist damit prinzipiell unabschließbar. Diese im gesellschaftliche Prozess geformte Mich-Identität (Mead nennt es »Me«) kann dann im Fortschreiten des Prozesses von einer Ich-Identität (»1«) unterschieden werden, die auf die gesellschaftlichen Rollenzuschreibungen reagiert und »die Antwort des Einzelnen auf die Haltung der anderen ihm gegenüber, wenn er eine Haltung ihnen gegenüber einnimmt« (Mead 1968:221) ist. Diese Reaktionsinstanz der Ich-Identität ist also stets herausgefordert, sich zu den Erfahrungen des Anderen zu verhalten. Das ist gerade die zweite Stufe des gesellschaftlichen Erfahrungsprozesses.

An diese Unterscheidung zwischen Mich- und Ich-Identität knüpft Axel Honneth an und spitzt den Erfahrungsprozess der Identitätsentwicklung (unter Aufnahme einer hegelianischen Terminologie) anerkennungstheoretisch als Kampf um Anerkennung zu. Hinausgehend über Mead, der Anerkennung ausschließlich in einem juristisch-juridischen Sinn versteht, unterscheidet Honneth drei grundlegende Formen der gegenseitigen Anerkennung von Individuen in bestimmten gesellschaftlichen Kontexten: Recht - die gegenseitige Zubilligung von Rechten, die einen Menschen anerkennt, »ohne ihn in seinen Leistungen oder seinem Charakter wertschätzen zu müssen« (Honneth 1992:181), Solidarität - die soziale Wertschätzung aufgrund von Eigenschaften oder Leistungen, die »zur praktischen Umsetzung der abstrakt definierten Ziele der Gesellschaft« (Honneth 1992:204) beitragen - und die bei den Formen zugrunde liegende Liebe. Letztere bezeichnet Primärbeziehungen, die aus »Gefühlsbindungen zwischen wenigen Personen bestehen« und die man unter Aufnahme einer Formulierung von Hegel als »Selbstsein in einem Fremden« (Honneth 1992:153) verstehen kann. Anerkennungstheoretisch lässt sich zwischen einer personal-emotionalen (Liebe), einer gruppenspezifisch-wertschätzenden (Solidarität) und einer gruppenspezifisch-egalitären (Recht) Form der Anerkennung unterscheiden. Bei den Formen der Anerkennung handelt es sich jeweils um ein wechselseitiges Geschehen. Dabei ergibt sich interessanterweise ein besonderes Vorzeichen: Anerkennung voll-

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4 Kulturwissenschaftliche Konzepte des kollektiven Gedächtnisses

zieht sich aufgrund von Ahnlichkeit und nicht von Fremdheit. 57 Auch für Assmann ist Pluralität dabei erst der Ermöglichungsgrund von Identität: Es ist die »Eigentümlichkeit kultureller Formationen, daß sie einerseits [... ] nur im Plural, andererseits aber normalerweise bzw. von Haus aus in weitgehender Vergessenheit dieser Tatsache existieren« (Assmann 1992:136). Kultur konstituiert sich dabei für Assmann immer als Kontrast zu Natur bzw. zum Chaos.'8 Anders als für Mead ist es also für Assmann zwar zunächst auch die Situation einer faktischen Pluralität, diese wird bei ihm in der Argumentation jedoch dann sehr schnell generell mit dem Grundkontrast von Natur und Kultur in eins gesetzt. Insofern findet sich bei Assmann grundsätzlich ein holistisches Verständnis von Kultur mit einer inneren Pluralität und so ist es für ihn in erster Linie die »Anpassung an die Institutionen der Kultur« durch die sich der Mensch »von der unmittelbaren Gebundenheit an den Zwang zur Trieberfüllung« distanziert und dadurch einen »>Besinnungsraum< [gewinnt], in dem ein Handeln aus freier Entscheidung und damit Identität erst möglich wird« (Assmann 1992: 13 7). So entsteht durch die Kultur in der Pluralität ihrer Institutionen ein »Sinnhorizont gemeinsamen HandeIns und Erlebens« (Assmann 1992:138) der Einzelnen, der in einem weiteren Bewusstseinsschritt die Entwicklung eines WirBewusstseins ermöglicht. Unter Rückgriff auf Aristoteles sieht er den Menschen einerseits durch den Sozialtrieb geprägt, den der Mensch mit den Tieren gemeinsam hat, der jedoch durch die Sprache in besonderer Weise qualifiziert wird. Sprache »ermöglicht jene Formen der Kommunikation, auf denen menschliche Gruppen basieren« (Assmann 1992:139). Sprache - bzw. ein gemeinsames Symbolsystem 59 - vermittelt die »Teilhabe an einem gemeinsamen Wissen und einem gemeinsamen Gedächtnis« (Assmann 1992:139). So lässt sich Kultur dann Das heißt, dass prinzipiell ein für die jeweilige gesellschaftliche Gruppe Fremder graduell als passend - ausgehend von den Haltungen und Nonnen dieser Gruppe - anerkannt wird und nicht aufgrund seiner Fremdheit. So stellt sich die Frage, wie ein Anderer auch aufgrund und angesichts seiner Andersartigkeit anerkannt werden kann bzw. wie Gruppen, die über verschiedene Identitätsvorstellungen verfügen, sich gegenseitig anerkennen. 58 Kultur wird als j>überwindung und Umkehrung eines Naturzustands gesehen, worin der Mensch des Menschen Wolf ist, worin das Recht des Stärkeren (d. h. Rechtlosigkeit) herrscht, jeder hemmungslos seinen eigenen Trieben und dem Eindruck des Augenblicks ausgesetzt ist« (Assmann 1992:137). 59 Auch dies knüpft sehr deutlich an das Verständnis der sprachlichen Dimension des Bezugsrahmens bei Maurice Halbwachs an (vgl. 4.1.1, S. 131).

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4.2 Das kulturelle Gedächtnis - Jan Assmann

für Assmann im Bild eines »Immun- oder Identitätssystem[s] der Gruppe« verstehen, das »soziale Identität durch Interaktion auf[]baut und reproduziert« (Assmann 1992:140). Das Sprechen ist dabei - neben Wirtschaft und Verwandtschaft - der zentrale Modus der (Re-)Konstruktion sozialer Wirklichkeit. In diesem Zusammenhang ist der Sinn fundierender Erzählungen (vgl. dazu unten, 4.2.6.2, S. 171ff.) die »Einübung von Solidarität«, in dem sie hauptsächlich in Werten und Normen eine »Axiomatik des kommunikativen Handeins« (Assmann 1992:142) liefern. Hierin zeigt sich deutlich die juristisch-juridische und funktionalistische Verengung 60 , in der Assmann die Großerzähl ungen der religiösen und kulturellen Tradition betrachtet und die auch sein erinnerungstheoretisches Verständnis generell prägt. Assmann deutet jedoch auch die weitere Perspektive an, wenn er schreibt: »Mythen haben es mit Identität zu tun, sie geben Antwort auf die Frage, wer >wir< sind, woher >wir< kommen und wo im Kosmos >wir< stehen.« (Assmann 1992:142). 4.2.3.3 Kulturelle Auslöser für die Identitätsreflexion - Integration und Distinktion

Assmann unterscheidet schließlich drei Ebenen der gesellschaftlichen Identitätsentwicklung, die in einer charakteristischen Inkongruenz stehen: ethnische, kulturelle und politische Formationen (vgl. Assmann 1992:144ff.). Die Situation der Inkongruenz ist es, die »eine Bewußtwerdung des verbindenden und verbindlichen kulturellen Sinns herbeiführt« (Assmann 1992:144). Wo die Selbstverständlichkeit der Identität verloren geht, kommt es zu erinnernden Neukonfigurationen des Selbstverständnisses von gesellschaftlichen Gruppen oder aber der Gesellschaft als ganzer. Das kann sowohl in gesellschaftlicher Integration 6 ! als auch in Distinktion (etwa in gesellschaftlicher Stratijizierung) geschehen. Integration und Distinktion sind für Assmann geradezu Aspekte desselben Phänomens: »Indem die Kultur nach innen Identität erzeugt, stiftet sie nach außen Fremdheit« (Assmann 1992: 151f.) und umgekehrt. Durch die Aufnahme des Terminus der limitischen Struktur (von Wilhelm E. Dagegen gilt es, die kommunikative Dimension des kollektiven Gedächtnisses, die das Verständnis von Maurice Halbwachs prägt, anhand der Gedanken von Paul Ricceur zu einem kommunikativen und narrativen Ent"WUrf auszufalten und zu profilieren (vgl. 4.4, S. 189-197). 61 So führt die Integration ethnischer Gruppen zum ,>Aufbau einer ethnopolitischen ,GroßIdentität< oberhalb der naturwüchsigen Formationen menschlicher Vergesellschaftung [ ...] notwendigerweise zu einem Reflexivwerden kultureller Formationen« (Assmann 1992:148). 60

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4 Kulturwissenschaftliche Konzepte des kollektiven Gedächtnisses

Mühlmann) illustriert er Steigerung und Ausdrucksform der Distinktion: Dabei ist es der >,Mensch[] selbst, der zum Träger von >Grenzzeichen< wird« und zwar durch »die >Kultur< als Sachbesitz, überlieferungen, Mythen usw.« (Assmann 1992:153). Eine solche limitische Distinktion richtet sich »typischerweise [... ] nicht gegen eine als kulturlos und untermenschlich betrachtete Außenwelt [... ], sondern im Gegenteil gegen eine als überlegen empfundene Kultur« (Assmann 1992:154). Sie ist also ein Ausdruck von (wenigstens empfundener) Inferiorität 62 . Eine zweite Form der Distinktion ist für den Zusammenhang dieser Arbeit noch entscheidender, weil sie für Assmann den übergang von Kultur zu Religion markiert: Es ist die limitische Aufrüstung bzw. elitäre Distinktion, die er im Elitismus, im Ethnizismus und im Nationalismus verortet. Gemeinsam ist diesen Distinktionsformen, dass ihnen ein religiöses Moment innewohnt, das in dem »Ausschließlichkeitsanspruch [besteht], mit dem dieses Wir-Bewußtsein durchgesetzt wird« (Assmann 1992: 157). Es ist also geradezu der religiöse Exklusivismus, in dem die Frage nach der Identität nicht die »Sache äußerer Kennzeichnung«, bleibt, sondern im Sinne eines Erinnerungs-Imperativs »Sache des Bewußtseins und der Gesinnung« (Assmann 1992: 158) wird. Paradigmatisches Beispiel dafür ist bei Assmann das Volk Israel und die joschijanische Kultreform, deren bleibendes Zeugnis das Buch Deuteronomium ist, das Assmann als »Manifest und [... ] Verfassungsurkunde einer ethnischen Widerstandsbewegung« (Assmann 1992: 159) versteht (vgl. Assmann 1991:348f.). Was sich dort Ausdruck verschafft, ist für Assmann der Ur-Akt der Religion63 (vgl. dazu im Folgenden 4.2.4.3, S. 166ff.): »Rück-Bindung, Erinnerung, bewahrendes Gedenken« (Assmann 1991:349).

Das gilt auch und besonders für das, was Assmann als Folklore bezeichnet. Damit meint er »nicht kulturelle Formationen im allgemeinen [... ], sondern im strengen Sinne solche Formationen, die sich an der Peripherie im Kontakt mit - und im Kontrast zu - dominierenden kulturellen Systemen erhalten haben« (Assmann 1992:155). Diese Perspektive ist gerade auch für die Einordnung traditionalistischer und fundamentalistischer Strömungen in Kirche und Theologie interessant. Es ist nämlich für Assmann gerade der :»Modernisierungsschub der Aufklärung«, der ,>überall zu ähnlichen Alt-Neu-Dualismen geführt« (Assmann 1992:156) hat. 63 Auch hier zeigt sich erneut das kulturell funktionalisierte Verständnis von Religion bei Assmann, dem ein erinnerungstheoretischer Entwurf aus theologischer Perspektive entgegentretenmuss. 62

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4.2 Das kulturelle Gedächtnis - Jan Assmann 4.2.3.4 Erinnerungsfiguren

Unter dem Begriff der Erinnerungsfiguren fasst Jan Assmann eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Erinnerungstheorie von Maurice Halbwachs zusammen (vgl. Assmann 1992:37-48). Zentraler Bedeutungsgehalt des Begriffs Erinnerungsfigur ist dabei für ihn, dass die Erinnerung anders als das Denken, das sich insbesondere der Abstraktion verpflichtet weiß, gerade - wie es für Halbwachs zentral ist (vgl. oben, S. 137 - 138) - der Konkretisierung in Raum und Zeit bedarf und es so zu einer »unauflöslichen Verschmelzung von Begriff und Bild« (Assmann 1992:38) kommt. Solche Erinnerungsfiguren - »kulturell geformte, gesellschaftlich verbindliche >Erinnerungsbilder«< - beziehen sich »nicht nur auf ikonische, sondern z. B. auch auf narrative Formung« (Assmann 1992:38) und können so sehr unterschiedlicher Art sein, sind jedoch in der Regel durch einen narrativen Fokus gekennzeichnet64 . Sein Halbwachs-Referat fasst Assmann mit einer kritischen Anmerkung zusammen, die sich zugleich umgekehrt für das Folgende als zentrale Intention seines eigenen Entwurfs und als genuine Stärke seiner Konzeption herausstellt. Es fehle die »begrifflichen Schärfe, die seine Anstöße erst wirklich übertragbar macht« (Assmann 1992:45). Was Assmann von dem Halbwachs'schen Gedächtnisbegriff übernimmt, ist die »Konzeption der Vergangenheit, die man >sozialkonstruktivistisch< nennen kann« (Assmann 1992:47).

4.2.4 Die beiden Grundformen des kollektiven Gedächtnisses In der begrifflichen Schärfe, die er bei Halbwachs so vermisst, führt Jan Assmann nun seine Grundunterscheidung zwischen dem kommunikativen Gedächt64

So versteht Assmann die narrative Vergegenwärtigung des Exodus :>>nicht als historisches Ereignis, sondern als Erinnerungsfigur« (Assmann 1992:201), die gleichzeitig auch eine personalisierte narrative Vergegenwärtigung in der Person des Mose annimmt. ;.>Moses ist eine Figur der Erinnerung, aber nicht der Geschichte; Echnaton dagegen ist eine Figur der Geschichte, aber nicht der Erinnerung«, hält Assmann programmatisch zu Beginn seines Werkes Moses der Agypter fest und fügt hinzu: ,>Weil aber in der Sphäre kultureller Unterscheidungen und Konstruktionen alles auf die Erinnerung ankommt, sind wir berechtigt, nicht von Echnatons, sondern von Moses' Unterscheidung zu sprechen« (Assmann 1998:18). Hier zeigt sich, wie umfassend und gleichzeitig je unterschiedlich konkretisiert bzw. sich konkretisierend Assmann den Begriff der Erinnerungsfigur fasst: unter einem Chiffre (Exodus), einer Verzeitlichung (die symbolischen 40 Jahre), einer Verortung (Wüste) oder einer Personalisierung (Moses). Zentral ist die Polarität zwischen der Abstraktion des Denkens und der Konkretion der vergegenwärtigenden Erinnerung.

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4 Kulturwissenschaftliche Konzepte des kollektiven Gedächtnisses nis und dem kulturellen Gedächtnis ein, die für ihn die beiden grundlegenden Formen der kollektiven Erinnerung bilden. Ausgangspunkt ist für ihn der Begriff des floating gap (der fließenden Lücke), ein »eigentümliches wie lypisches Phänomen schriftloser Geschichtserinnerung« (Assmann 1992:48), das er von dem Ethnologen Jan Vansina übernimmt. Die floating gap ist nach Vansina jene sich mit der Zeit ständig verschiebende Lücke des historischen Bewusstseins, die zwischen der Jüngeren Vergangenheit - die etwa 80-100 Jahre umfasst, also einen Zeitraum von maximal drei bis vier Generationen - und einer (evtl. mythisch verstandenen) Ursprungszeit besteht. Eine solche Lücke ist historisch nachweisbar. Im kollektiven Gedächtnis der jeweiligen Gruppe »stoßen die beiden Ebenen der Vergangenheit [... ] nahtlos aufeinander« (Assmann 1992:49), ja sie werden geradezu in eine konstruierte Kontinuität 65 zusammengeschoben. Gerade angesichts dieses rekonstruktiven Verschmelzens beider Zeiten, lassen sich zwei Aspekte des Gedächtnisses unterscheiden, die je eine eigene Struktur der Erinnerung besitzen: das kommunikative Gedächtnis, das sich auf die jüngere Vergangenheit bezieht, und das kulturelle Gedächtnis, das »Fixpunkte in der Vergangenheit« (Assmann 1992:52) besitzt, auf die es sich bezieht. 4.2.4.1 Kommunikatives Gedächtnis

Das kommunikative Gedächtnis ist für Assmann ein »allein durch persönlich verbürgte und kommunizierte Erfahrung gebildete[n] Erinnerungsraum« (Assmann 1992:50), der auf die mündliche Weitergabe der vorangegangenen drei bis vier Generationen (ca. 80-100 Jahre) begrenzt ist. Die Geschichten, die die Erinnerungen versprachlichen, zeichnen sich durch starke Lebendigkeit und Flexibilität aus. Es geht dabei um die »biographische[] Erinnerung, die sich auf eigene Erfahrungen und deren Rahmenbedingungen - das >recent past< - bezieht« (Assmann 1992:52). Dieses kommunikative Gedächtnis ist der Anknüpfungspunkt, den Assmann von Halbwachs übernimmt. Sein eigentliches Interesse gilt jedoch dem kulturellen Gedächtnis, bei dem es um die Frage geht, »welchen >konnektiven< Beitrag die systematisch strukturierte und tradierte, gegenwartsrelevante und sinnstiftende Erinnerung von Vergangenheit bei der Ausbildung 65

Die Grundform einer solchen Kontinuitätsrekonstruktion ist für Assmann die Genealogie. Sie »ist eine Form, den Sprung zwischen Gegenwart und Ursprungszeit zu überbrücken und eine gegenwärtige Ordnung, einen gegenwärtigen Anspruch, zu legitimieren, indem er naht- und bruchlos an Ursprüngliches angeschlossen wird« (Assmann 1992:50)

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4.2 Das kulturelle Gedächtnis - Jan Assmann

von [... ] Identitäten leistet« (Maissen 2001:272). 4.2.4.2 Kulturelles Gedächtnis Das kulturelle Gedächtnis ist zunächst »Sammelbegriff für alles Wissen, das im spezifischen Interaktionsrahmen einer Gesellschaft Handeln und Erleben steuert und von Generation zu Generation zur wiederholten Einübung und Einweisung ansteht« (Assmann 1988:9). Gegenüber dem kommunikativ und personal verfassten kommunikativen Gedächtnis, ist das kulturelle Gedächtnis eine institutionalisierte Form der Erinnerung, die professionelle Träger besitzt. »Vergangenheit gerinnt hier« - so hält Assmann fest - »zu symbolischen Figuren, an die sich die Erinnerung heftet«66 (Assmann 1992:52). Es ist geprägt durch einen Mythos, der erzählt wird, um die Gegenwart von einem Ursprung her zu erhellen und zu legitimieren, und wird über verschiedene Medien tradiert (mündlich, schriftlich, durch Gesetze und Erzählungen). In der Vergegenwärtigung fundierender Erinnerungsfiguren, vergewissert sich die jeweilige Gruppe ihrer Identität. Die »Teilhabe am kulturellen Gedächtnis« ist stets »differenziert« (Assmann 1992:53). Es ist nicht so alltäglich wie das kommunikative Gedächtnis, vielmehr korrespondiert die »Außeralltäglichkeit des Sinns, der im kulturellen Gedächtnis bewahrt wird« mit einer »gewisse[n] Alltagsenthobenheit und Alltagsentpflichtung seiner spezialisierten Träger« (Assmann 1992:54). Die erinnernde Identitätsvergewisserung der Gruppe vollzieht sich - auch hier greift Assmann auf die Motive von Halbwachs zurück (vgl. oben 4.1.3, S. 137-138) durch Chronologisierung und Lokalisierung und greift so in ihrer symbolischen Repräsentation auf die Dimensionen von Zeit und Raum zurück.'7 Es ist eine Form der ,>fundierenden Erinnerung«, die ,>mit festen Objektivationen sprachlicher und nichtsprachlicher Art [arbeitet]: in Gestalt von Ritualen, Tänzen, Mythen, Mustern, Kleidung, Schmuck, Tätowierung, Wegen, Malen, Landschaften usw., Zeichensystemen aller Art, die man aufgrund ihrer nmemotechnischen (Erirmerung und Identität stützenden) Funktion dem Gesamtbegriff ,Memoria< zuordnen darf« (Assmann 1992:52). 67 Assmann tut dies interessanterweise an der für seine Konzeption des kulturellen Gedächtnisses entscheidenden Stelle entgegen seiner eigenen Beteuerung, auf Halbwachs aufzubauen, j>mehr, um uns von ihm abzugrenzen, als um ilm für unsere Zwecke in Anspruch zu nehmen« (Assmann 2005a:69). So will Assmann mit seiner Theorie des kulturellen Gedächtnisses keinesfalls j>seinen [Halb wachs'] Begriff des kollektiven Gedächtnisses in Richtung auf das kulturelle Gedächtnis [aus]weiten oder [um]definieren«, sondern j>dem Halbwachs' schen Gedächtnisbegriff einen völlig anderen zur Seite [... ] stellen, den er systematisch ausgeblendet hatte« (Assmann 2005a:69). Diese Einlassungen Assmanns sind jedoch vor dem Hintergrund dessen, dass er hier genau die beiden von Halbwachs skizzierten Arten der Vergegenwärtigung des Ge66

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4 Kulturwissenschaftliche Konzepte des kollektiven Gedächtnisses 4.2.4.3 Chronologisierung in Ritus und Fest

Für das durch Spezialisten getragene kulturelle Gedächtnis besitzen grundlegend Riten und Feste eine zentrale Bedeutung. Besonders in Gesellschaften ohne schriftliche Speicherung des Gedächtnisses. wo die identitätssichernde und -(re )konstruierende Erinnerung ausschließlich im menschlichen Gedächtnis verortet ist. aber auch in Gesellschaften und Gruppen. die normative und kanonisierte Dokumente ihrer Erinnerung kennen. bedürfen die »einheitsstiftenden und handlungsorientierenden [... ] Impulse« der Erinnerung in dreifacher Weise - und zwar zur Speicherung. zur Abrufung und zur Mitteilung - einer konkret erfahrbaren Vergegenwärtigung als »poetische Form. rituelle Inszenierung und kollektive Partizipation« (Assmann 1992:56). Für Assmann hat die poetische Formung in erster Linie einen »mnemotechnischen Zweck«, nämlich jenen, »identitätssicherndes Wissen in haltbare Form zu bringen« (Assmann 1992:56)68 Die Mitteilung bzw. Aktualisierung der Erinnerung geschieht »in der Form einer multimedialen Inszenierung« (Assmann 1992:56). deren primärer Sinn die Möglichkeit der Partizipation am Gedächtnis durch jene ist. die nicht zu den Spezialisten des Gedächtnisses gehören. Feste und Riten sind die Anlässe des Zusammenkommens. bei denen das Gedächtnis und damit auch gerade das Selbstverständnis aktualisiert wird. in schriftlosen Kulturen für Assmann die einzige Möglichkeit einer solchen Aktualisierung. Feste und Riten sind damit die primäre Organisationsform des kulturellen Gedächtnisses: »Rituelle Wiederholung sichert die Kohärenz der Gruppe in Raum und Zeit« (Assmann 1992:57). Daraus resultiert die gesellschaftlich zentrale Unterscheidung zwischen Alltags- und Festzeit: »In dächtnisses (vgl. oben, S. 131f. und S. 138f.) aufnimmt, wenig überzeugend. Viehnehr liefert gerade die Trennschärfe und Differenzierung von kommunikativem und kollektivem Gedächtnis in der Theorie Assmanns die Vertiefung der Halbwachs'schen Theorie, die jedoch wiederum einer Ausweitung bedarf, die auf dem Wege eines narrativen Verständnisses des kommunikativen Gedächtnisses rekonstruiert werden muss (vgl. unten 4.4, S. 189-197 und 4.3, S. 182ff.). Gerade in seinen früheren Auseinandersetzungen mit dem kulturellen Gedächtnis, in denen er sich noch nicht so stark von Halbwachs abzusetzen versucht, ist dieser Zusammenhang und auch die narrative Grundstruktur der Erinnerung noch deutlicher greifbar (vgl. etwa Assmann 1988:4ff.). Dort verengt sie Assmann nicht so deutlich auf eine funktionale, quasi-juristische Zuspitzung der Erinnerung. 68 Für Assmann ist dieser Zweck so unmittelbar einleuchtend, dass er ilm nicht weiter ausführt. Eine poetische oder narrative Formulierung der Erinnerung einzig auf ihren nmemotechnischen Zweck zu beschränken, erscheint doch deutlich reduktionistisch. Es gilt vielmehr mit Paul Ricceur die gegenseitige Verwobenheit von Narration und Gedächtnis zu betonen (vgl. etwa Ricceur 2002:7f. und unten, S. 189 - 197).

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4.2 Das kulturelle Gedächtnis - Jan Assmann

der Festzeit oder >Traumzeit< der großen Zusammenkünfte weitet sich der Horizont ins Kosmische, in die Zeit [... ] der Ursprünge und großen Umschwünge, die die Welt in der Urzeit hervorgebracht haben« (Assmann 1994:415). Im »fluß der Alltagskommunikation« bilden Feste also Zeitinseln, »Inseln vollkommen anderer Zeitlichkeit bzw. Zeitenthobenheit«, die sich im kulturellen Gedächtnis zu einem »Erinnerungsraum >retrospektiver Besonnenheit«< ausweiten (Assmann 1988: 12). Den Begriff der retrospektiven Besonnenheit übernimmt Assmann von Aby Warburg, der damit die Erfahrung beschreibt, dass in kulturellen Formen eine kollektive Erfahrung kristallisiert ist, »deren Sinngehalt sich in der Berührung blitzartigwieder erschließen kann, über Jahrtausende hinweg« (Assmann 1988:12). Mit diesem Verweis aufWarburg und dessen Projekt eines soziale Gruppen und auchNationen übergreifenden kollektiven Bildgedächtnisses 69 , das sich im Zentralmedium des »potentiell lange Zeiten überdau69

Das Projekt Warburgs beschreibt Assmann als ;.>Erforschung der vertikalen Linien von überlieferung und Rezeption, der ,Wanderstraßen< des kulturellen Gedächtnisses« (Assmann 1998:31). Stärker noch als in seinen grundsätzlichen Reflexionen zum kulturellen Gedächtnis spielen die Gedanken Warburgs in Moses der Agypter eine Schlüsselrolle für das, was Assmann im programmatischen Untertitel des Werkes die ,>Entzifferung einer Gedächtnisspur«, nämlich jener des ägyptischen Mose versteht. Dabei ist es interessant, dass Assmann die Spannung einfach übergeht, in der beide Konzepte stehen: Während Halbwachs (vgl. oben, S. 138ff., insbes. S. 141f.) sehr deutlich herausstellt, dass Erinnerung immer und ausschließlich Erinnerung einer konkreten Gruppe ist, ist es für Warburg eine im ästhetischen Erleben zugängliche geradezu universal-anthropologische Erinnerung. Es ist - so schreibt Warburg in der Einleitung zu seinem Bilderatlas Mnemosyne, in dem er beabsichtigt, das einem Untergrundstrom ähnliche Weiterleben der (griechischen) Antike in der europäischen Kultur zu veranschaulichen - ein umfassendes Phänomen, dessen :»Prägewerk« so wörtlich :»[i]n der Region der orgiastischen Massenergriffenheit [... ] zu suchen« ist, das :»dem Gedächtnis die Ausdrucksformen des maximalen inneren Ergriffenseins [... ] in solcher Intensität einhämmert, daß diese Engramme leidenschaftlicher Erfahrung als gedächtnisbewahrtes Erbgut überleben und vorbildlich den Umriß bestimmen, den die Künstlerhand schafft, sobald Höchstwerte der Gebärdensprache durch Künstlerhand im Tageslicht der Gestaltung hervortreten wollen« (Warburg 2000:5). Es gibt also für Warburg gewissermaßen präexistent und unzugänglich gedachte Ur- Erfahrungen, die sich in das kollektive Gedächtnis einschreiben und im ästhetischen Erlebnis wieder zugänglich werden. Diese besitzen für den Erinnernden insbesondere eine befreiende Funktion, befreien ilm mittels :»kultureller Objektivationen [... ] vom phobischen Druck der Wirklichkeit, von Dämonenfurcht, und von der überwältigung durch die Sinne« (Assmann 1995c:61). Diese Erfahrungen überträgt Assmann auch auf den Bereich des Festes bzw. des Ritus. Das Konzept von Warburg scheint gewissermaßen schon in eine Richtung zu weisen, die man als traditionalistische Aneignung von Tradition bzw. Erinnerung bezeichnen kann und bei der es äußerst fraglich wird, wie :»in diesem Modell die radikale künstlerische hmovation« (Huizing 2011:341) oder eben - das gilt gerade für die von Assmann übernommene übertragung - In-

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4 Kulturwissenschaftliche Konzepte des kollektiven Gedächtnisses

ernde[n] und weite Räume durchquerende[n] Kunstwerk[s]« (Erll 2005:20) in der ästhetischen Erfahrung erschließen kann, entdeckt Assmann damit einen "Nexus [... ] zwischen Gedächtnis und kultureller Formensprache« (Assmann 1988:13), der den Zusammenhang zwischen Gedächtnis und sozialer Gruppe ergänzt, den er von Halbwachs übernimm!"o Durch die temporale Vergegenwärtigung der Erinnerung und die Unterscheidung zwischen Alltags- und Festzeit(en) verleiht das kulturelle Gedächtnis dem menschlichen Leben eine »Zweidimensionalität oder Zweizeitigkeit« und fügt ihm eine »Dimension der Negationen und Potentialitäten« hinzu, die »die Verkürzungen, die dem Dasein durch den Alltag widerfahren«, heilt (Assmann 1992:57). Diese Erinnerungszeiten schaffen damit in erster Linie überhaupt eine Chronologie und damit eine (zeitliche) Ordnung. 4.2.4.4 Lokalisierung an heiligen Stätten

Genauso ursprünglich wie der chronologisierende Zugriff des kulturellen Gedächtnisses sind die Lokalisierung von Erinnerungen, die »Zeichensetzungen im natürlichen Raum« (Assmann 1992:60). Das paradigmatische Beispiel ist für Assmann neben den toternie landscapes der Aborigines und den Feststraßen in den Städten des Alten Orients das Heilige Land als Erinnerungslandschafl. In Anknüpfung an Halbwachs hält er fest, dass »nicht nur jede Epoche, sondern vor allem jede Gruppe, d. h. jede Glaubensrichtung ihre je spezifischen Erinnerungen auf ihre je eigene Weise lokalisiert und monumentalisiert« (Assmann 1992:60). Prinzipiell - so bemerkt er in Bezug auf die Ausführungen von Halbwachs zur Erinnerungstopologie (vgl. oben, 4.1.5.2, S. 141) - unterliegt diese Verräumlichung von Erinnerungen nicht einer historischen Kriteriologie, sie kann aber »auch dann funktionieren [... ], wenn sich authentische Erinnerungsspuren erhalten hätten« (Assmann 2005a:76). Unabhängig von einer historischen Rekonstruktion - ob »die topographischen Anhaltspunkte authentisch oder erfunden sind« - erfüllen die Orte die Funktion lokaler Vergegenwärtigung der Erinnerung »nur in Bezug auf eine je gegenwärtige Gruppe, die ihn braucht als Symbol der von ihr erinnerten und rekonstruierten Vergangenheit« (Assmann 2005a:76).

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novation überhaupt denkbar bleiben kann. In diesem Zusammenhang stellt Assmann in Bezug auf sein Projekt noch einmal klar, dass es ihm darum geht, j>Gedächtnis (bzw. appräsentierte Vergangenheit), Kultur und Gruppe (bzw. Gesellschaft) aufeinander zu beziehen« (Assmann 1988:13).

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4.2 Das kulturelle Gedächtnis - Jan Assmann 4.2.5 Zusammenhang und Polarität von kommunikativem und kulturellem Gedächtnis

Beide Aspekte der Erinnerung7! stehen - das zeigen schon die Andeutungen ihrer jeweiligen Eigenart - in einer Polarität, die je nach der jeweiligen Gesellschaft bzw. der jeweiligen Gruppe unterschiedlich ist. Während manche Kulturen geradezu eine Bikulturalität kennen, in der »die kulturelle Erinnerung scharf gegen das kommunikative Gedächtnis abgehoben ist« (Assmann 1992:55), bestehen in anderen Gesellschaften lediglich graduelle Unterschiede. Assmann verwendet für die Polarität die Metapher des Flüssigen und des Festen: »Das kulturelle Gedächtnis haftet am Festen. Es ist nicht so sehr ein Strom, der von außen das Einzelwesen durchdringt, als vielmehr eine Dingwelt, die der Mensch aus sich heraus setzt« (Assmann 1992:59). Diese Unterscheidung ist jedoch nicht einfach mit der Unterscheidung von Schriftlichkeit und Mündlichkeit identisch.

4.2.6 »Kalte« und »heiße« Gedächtnisoptionen

Mit der Unterscheidung zwischen heißer und kalter Erinnerung knüpft Assmann an Erkenntnisse des französischen Ethnologen Claude Levi-Strauss an. Während sich kalte Gesellschaften durch ihre Institutionen gegen jegliche Veränderung ihrer Struktur wehren, haben heiße Gesellschaften »ihre Geschichte [... ] verinnerlicht, um sie zum Motor ihrer Entwicklung zu machen« (Assmann 1992:68). Für Assmann besteht der Unterschied beider Gesellschaftsformen nicht darin, dass die einen eine Erinnerung haben, während die anderen geschichtsvergessen sind, sie unterscheiden sich vielmehr im Modus des Rückbezugs auf die Vergangenheit - also in der Erinnerung. über Levi-Strauss hinaus schlägt Assmann deshalb vor, sie »im Sinne kultureller Optionen bzw. gedächtnispolitischer Strategien zu verstehen« (Assmann 1992:69; Hervorh. AJ). Kalte Optionen der Erinnerung stehen insofern im Dienst einer Kontinuität und Regelmäßigkeit, sie sind als ~uietive des Geschichtsbewusstseins zu verstehen, während heiße Optionen die Inzentive sind, die das Einmalige und Verändernde betonen. Während es in akephalen Gesellschaften in der Regel ausschließlich eine Erinnerung innerhalb des kommunikativen Gedächtnisses gibt, entwickeln stratifi71

Für Assmann ist das gleichbedeutend mit der Unterscheidung von Erinnerung und Tradition bei Maurice Halbwachs (vgl. Assmann 1992:64).

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4 Kulturwissenschaftliche Konzepte des kollektiven Gedächtnisses

zierte Gesellschaften mit ausgeprägten (monarchischen) Herrschaftsstrukturen, gerade was die Herrscher selbst angeht, ein umfassendes kulturelles Gedächtnis, das sich teilweise über etliche Generationen hinzieht und in Form von Königslisten schriftlich konserviert wird (vgl. Assmann 1992:70-73). Diese Herrschaftserinnerung hat sowohl eine retrospektive (die sich in eben jenen Königslisten Ausdruck verschafft) als auch eine prospektive Dimension, die in eine monumentale Verewigung und eine archivarische Dokumentation mündet. Herrschaft übt also einen Vergangenheit und Zukunft umfassenden Zugriff auf die Erinnerung aus. 4.2.6.1 Macht und Widerstand

Viel bedeutender ist für Assmann jedoch die »Allianz von Herrschaft und Vergessen« (Assmann 1992:72). Während in staatlich organisierten Kulturen eine Tendenz zu kultureller Hitze zu konstatieren ist, die hauptsächlich von den nach Veränderung strebenden Beherrschten ausgeht, tendieren die Machthabenden in einer solchen Gesellschaft wesentlich zu einer kalten Gedächtnisoption, d.h. zu einer Kultur des Vergessens. Insofern ist »Unterdrückung [... ] ein Inzentiv für (lineares) Geschichtsdenken, für die Ausbildung von Sinngebungsrahmen, in denen Bruch, Umschwung und Veränderung als bedeutungsvoll erscheinen« (Assmann 1992:72), was für Assmann insbesondere am extremsten Beispiel der Apokalyptik - deutlich wird. Erinnerung wird hier also in Form einer Sinnund Kontinuitätskonstruktion zu einer Form des Widerstands. Anders formuliert steht eine bestimmte auf Linearität und Kontinuität fokussierte Form der Gruppenerinnerung in einem Zusammenhang mit ihrem gesellschaftlichen Status - oder besser: dem gesellschaftlichen Selbstverständnis und der Selbstwahrnehmung einer Erinnerungsgemeinschaft. Diese These ist insbesondere deshalb so interessant, weil sich daraus auch in gewisser Weise eine Aussage über den erinnerungsgeschichtlichen Hintergrund der theologischen Auseinandersetzung um die Tradition ableiten lässt: Eine deutliche Betonung einer (auch noch als Bruchlosigkeit übersteigerten) Kontinuität und Linearität kann dann als Hinweis darauf gelesen werden, dass eine bestimmte Gruppe aus dem (so kann man in Anlehnung an Halbwachs formulieren) gesellschaftlichen Dialog der Traditionen tatsächlich ausgegrenzt ist oder sich jedenfalls als ihm entzogen oder gar entgegengesetzt wahrnimmt. 72 . 72

Das würde mit dem sich in der Moderne seit der Französischen Revolution rapide zuspitzenden Machtverlust der Kirche korrespondieren.

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4.2 Das kulturelle Gedächtnis - Jan Assmann

Umgekehrt dienen Dokumentationen wie die antiken Königslisten (etwa der Agypter) nicht der Sinngebung der Geschichte, sie sind vielmehr »ein Instrument der Orientierung und Kontrolle«. Solche Formen der historischen Erinnerung sind geradezu Entmystifizierungen der Geschichte, die in eine ordnende Veräußerlichung der Geschichte münden, während »Erinnerung, im Sinne verinnerlichter Vergangenheit« sich gerade nicht auf Geschichte, sondern »auf die mythische [... ] Zeit« (Assmann 1992:75) bezieht. Diese mythische Urzeit, der für die geschichtliche Sinngebung zentrale Bedeutung zukommt, ist für Assmann die »Vergangenheit, die zur fundierenden Geschichte verfestigt und verinnerlicht wird«, unabhängig davon, »ob sie fiktiv oder faktisch ist« (Assmann 1992:76). Klassisches Beispiel dafür ist die Exodus-Geschichte, die zur fundierenden Ur-Erzählung des Volkes Israel wird. Sie unterscheidet sich radikal von den zyklisch wiederkehrenden Ereignissen der Götterwelt, die anderen Völkern als fundierende Geschichten dienen, weil Israel an die Stelle dieser kosmologischen Mythen »einen geschichtlichen Mythos ein[setzt]« und »dadurch sein geschichtliches Werden« (Assmann 1992:78) verinnerlicht. 4.2.6.2 Mythomotorik - Fundierende und kontrapräsentische Erinnerung

Zentral geht es also um die Unterscheidung zwischen einer absoluten und einer historischen Vergangenheit, auf die sich der Mythos einer Gesellschaft oder gesellschaftlichen Gruppe bezieht. Eine »kalten« Gesellschaft kennt eine absolute Vergangenheit, die stets in der gleichen Ewigkeitsdistanz zur Gegenwart bleibt und deren »Vergegenwärtigung [... ] im Modus der zyklischen Wiederholung« geschieht (Assmann 1992:78). In einer »heißen« Gesellschaft tritt an die Stelle dieser zyklischen Wiederholung die Verinnerlichung des geschichtlichen Werdens der Gesellschaft, »an die Stelle einer Semiotisierung des Kosmos« tritt die »Semiotisierung der Geschichte« (Assmann 1992:78). Ein solcher historischer Mythos ist also ein narrativer Vergangenheitsbezug, der einerseits der gesellschaftlichen Fundierung dient, andererseits aber auch eine kontrapräsentische Erinnerung"3 im Bezug auf die Gegenwart ermöglicht und 73

Diesen Begriff übernimmt Assmann von Gerd Theißen. Für Theißen steht diese kontrapräsentisehe Erinnerung im Kontext des :»Konflikt[s] zwischen Tradition und Gegenwart« in Israel, bei dem die Tradition :»Iucht nur faktisch in Spannung zur Gegenwart [gerät], sondern [ ... ] kontrafaktisch gegen die Gegenwart ausgespielt« wird (Theißen 1988:174; vgl. die Argumentation auch im Nachdruck des Artikels in Theißen 2014:181-185).

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4 Kulturwissenschaftliche Konzepte des kollektiven Gedächtnisses

damit ein Veränderungspotential angesichts wahrgenommener Defizienz in Bezug auf die historische Fundierungserzählung beinhaltet. Die je gegenwärtige Bedeutung eines solchen gesellschaftlichen Mythos in Bezug auf das Selbstverständnis (fundierende Dimension) und den Impetus zur Veränderung (kontrapräsentische Dimension) bezeichnet Assmann als Mythomotorik (vgl. Assmann 1992:80). So wird auch aus einem zyklischen Selbst- und Geschichtsverständnis einer Gesellschaft mit einem Mythos absoluter Vergangenheit eine lineare Vorstellung, eine »Gerade, die auf ein fernes Ziel hinführt« (Assmann 1992:80). Das »Umschlagen von fundierender in kontrapräsentische Mythomotorik« findet überall dort statt, wo »die Erinnerung an eine Vergangenheit [mobilisiert wird], die im krassen Gegensatz zur Gegenwart steht und zum Inbegriff des wahren, wieder herbeizuführenden Zustands wird« (Assmann 1992:81-83). Assmann verweist hier als Beispiel auf die nationalen Erweckungsbewegungen des 19. Jahrhunderts und damit auf einen Umstand, der auch und gerade für die kirchlich-theologische Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Alter von Traditionen von zentraler Bedeutung ist, und führt dafür den Begriff der erfundenen Traditionen ein. Wörtlich schreibt er: »Was man Folklore nennt und für uralte überlieferung hält, entstand weitgehend im 18. und 19. Jahrhundert im Zuge solcher nationalistischer Widerstandsbewegungen oder wurde doch in dieser Zeit kodifiziert und gewann seine festen Formen« (Assmann 1992:81). 4.2.6.3 Religion - Herstellung und Vermittlung von Ungleichzeitigkeit

Interessanterweise kommt Assmann gerade bei diesem Punkt der kontrapräsentischen Erinnerung auf die Funktion von Religion zu sprechen, die für ihn im Wesentlichen darin besteht, Ungleichzeitigkeiten herzustellen. Es ist - so führt er am Beispiel des Judentums aus - im Gegensatz zu der allgemeinen Annahme, dass Religion gerade (vielleicht sogar ausschließlich) eine fundierende Funktion zukomme, zumindest fraglich, »ob nicht die Verbindung mit der kontrafaktischen oder >kontrapräsentischen< Erinnerung sehr viel treffender ist« (Assmann 1992:84). Die Herstellung und Vermittlung von Ungleichzeitigkeit - nach Assmann Wesen und Grundvollzug der Religion - gehört zu den» universalen Funktionen des kulturellen Gedächtnisses« und dient der Ermöglichung eines Lebens in »Zweidimensionalität oder Zweizeitigkeit« (Assmann 1992:84): Einerseits in der Gleichzeitigkeit des Alltags, der alltäglichen Koordination und Kommunikation, und dann andererseits, vermittelt durch die in Festen und Riten zugängliche qualifizierte Festzeit, in ihren fundierenden und zugleich kontraprä-

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4.2 Das kulturelle Gedächtnis - Jan Assmann sentischen Sinn- und Erinnerungsressourcen. So kann die Ungleichzeitigkeit "in bestimmten Konstellationen den Charakter des Anderen annehmen« (Assmann 1992:84) und religiöse Erinnerung so zu einem Akt des Widerstands werden, in dem die »kontrapräsentische Funktion des kulturellen Gedächtnisses« die »Befreiung durch Erinnerung« (Assmann 1992:85)74 bedeutet.

Es ist gerade die Tendenz zur »Eindimensionalität«75, die auch eine »Eigenschaft der modernen Welt«, allgemeiner jedoch eine »Eigenschaft des Alltags« ist, die diesen religiös-festlichen und rituellen Zugriff zu einem Erinnerungshorizontwerden lässt und ihn damit in den Hintergrund rücken lässt. Religiöse Riten und Feste, allgemeiner jedoch das kulturelle Gedächtnis selbst, ist es, durch das sich der Mensch »Luft [verschafft] in einer Welt, die ihm in der ,Realität des täglichen Lebens< zu eng wird« (Assmann 1992:85).

4.2.7 Schriftlichkeit und Kanon Der Ubergang von ritueller zu textlicher Kohärenz, also der Wandel, dass der »Ort des Wissens [... ] nicht mehr der Ritus [ist], dem es dient und der es in Form heiliger Rezitationen gewissermaßen zur Aufführung bringt, sondern die Auslegung der fundierenden Texte« (Assmann 1992:87), bedeutet für Jan Assmann eine kulturgeschichtlich lypische Verlagerung des kulturellen Gedächtnisses. In diesem Sinne versteht etwa auch Harvey Cox den Menschen als einen j>homo festivus und homo phantasia« (Cox 1970:20) und differenziert drei Kriterien dieser Festlichkeit: Feste bieten zunächst eine ,>kurze Erholung von der Konvention« (Cox 1970:35), sind also das, was Assmann als Zeitinseln bezeichnet, schließen dann - das ist der Bezug zur grundsätzlichen Fundierungserzählung - »immer das ,Jasagen zum Leben< emD« (Cox 1970:35) und es geht ilmen - hier scheint die kontrapräsentische Erinnerung auf - um eine Gegenüberstellung, weil sie »Kontraste entfalten« und sich so »in einer bemerkenswerten Weise vom ,alltäglichen Leben< unterscheiden« (Cox 1970:36). Festen wohnt auch stets eine spielerische Komponente inne, sodass es eine deutliche Strukturähnlichkeit beider gibt: ,>Die Regeln des Festes gleichen den Regeln eines Spiels, und oft lässt sich nicht klar unterscheiden, welche Riten zum Fest oder zum Spiel gerechnet werden müssen« (Macho 2007:148). 75 Wie Assmann (vgl. Assmann 1992:85) im Begriff der Eindimensionalität sieht auch Cox diese erinnerndenSinnressourcen durch die Tendenz bedroht, ,>des MenschenSelbstbewusstsein als geschichtliches Wesen einfach dadurch zu beseitigen, daß man die Vergangenheit ausradiert« (Cox 1970:47). Der Ausweg daraus ist für Cox eine Wiederentdeckung der Festlichkeit und damit eine ,>festliche Weise, sich die Vergangenheit zu eigen zu machen« und so ,>seine Vergangenheit mit Freude zu ergreifen und für die Geschichte mitsamt ihren Begrenzungen dankbar zu sein« (Cox 1970:48). 74

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4 Kulturwissenschaftliche Konzepte des kollektiven Gedächtnisses

4.2.7.1 Ein schriftlicher Traditionsstrom - erste Stufe der Versch riftlichu ng Textliche Kohärenz bedeutet die Verlagerung von der Repetition hin zum Primat der Interpretation. Assmann überträgt hier - wie schon Halbwachs - überlegungen zur personalen Identität. die über das Gedächtnis und das heißt in erster Linie durch den Prozess der Narration von Erinnerungen um größtmögliche Kohärenz in der sprachlich-erzählenden Anordnung seiner Einzelerinnerungen bemüht ist (vgl. 4.1.6.1. oben. S. 143ff.)76 Wie sich das Individuum narrativ seiner Identität selbst vergewissert. »so vermag auch eine Gruppe ihre Gruppenidentität nur durch Gedächtnis zu reproduzieren« (Assmann 1992:89). Die neuronale Basis wird hier jedoch durch die Kultur ersetzt. Kulturgeschichtlich hat sich die Schrift in erster Linie im Bereich der Alltagskommunikation entwickelt. Auf einer ersten Stufe entwickelt sich im Bereich der rituellen Kohärenz. die nach wie vor durch repetitive Sinnvergegenwärtigung geprägt ist. ein - so formuliert Assmann in Anknüpfung an Leo Oppenheim »Traditionsstrom« von rituellen Gebrauchstexten. »ein Vorrat von Texten normativen und formativen Anspruchs. die nicht als Vertextung mündlicher überlieferung. sondern aus dem Geist der Schrift heraus entstehen« (Assmann 1992:92). Im Rahmen der rituellen Verwendung der Texte und in ihrer Bewährung in diesem Kontext bildet sich langsam eine Hierarchie dieser Texte heraus. Zugleich entsteht damit eine neue Zeitstruktur des kulturellen Gedächtnisses. die die festliche-religiöse Unterscheidung von Gegenwart und Urzeit ergänzt: jene von »Vergangenheit und Gegenwart. Altertum und Neuzeit« (Assmann 1992:93). Damit entsteht mit den klassischen Schriften einer Kultur auch eine Zeit der Klassik.

4.2.7.2 Kanonisierung - zweite Stufe der Verschriftlichung Kanonisierung ist für Assmann »eine besondere Form von Verschriftlichung« (Assmann 1995b:46) - gewissermaßen eine »Steigerungsform der Schriftlich76

Interessanterweise übernimmt Assmann sowohl den Begriff der Kohärenz als auch den Gedankengang explizit von Halbwachs (vgl. Halbwachs 1925:381ff.), macht das aber weder durch eine Fußnote noch durch einen sonstigen Verweis kenntlich. Das zeigt erneut, dass Assmann entgegen seiner Beteuerungen über das Aufgreifen der grundlegenden These der sozialen Bedingtheit des Gedächtnisses von Maurice Halbwachs (vgl. die entgegengesetzten Einlassungen bei Assmann 1992:36ff. dazu auch: 4.2.3, oben, S. 154) weit stärker und bis in detaillierte Konzeptionen des kulturellen Gedächtnisses hinein vom Halbwachs' schen Denken geprägt ist.

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4.2 Das kulturelle Gedächtnis - Jan Assmann

keit« (Assmann 1995c:73), die die Verbindlichkeit der Texte steigert, sowohl in Bezug auf ihre Gestalt (den Wortlaut) als auch in Bezug auf ihre Autorität. Autorität ist für Assmann das reziproke Normativitätskriterium, dass »alles, was der Text sagt, schlechthin normative Geltung besitzt und [... ] alles, was normative Geltung beansprucht, sich als Sinn dieses Textes muß ausweisen können« (Assmann 1995b:46). Das bedeutet, dass »der Text weder fortgeschrieben noch um weitere Texte ergänzt werden kann, sondern daß fortan aller weiterer Sinn aus dem Text selbst gewonnen werden muß« (Assmann 1995b:46), was Assmann als »kanonisierende Stillstellung des Traditionsstroms« (Assmann 1992:93) bezeichnet. Zusätzlich zu diesem primären Schriftkanon entsteht »eine reiche Auslegungsliteratur, die alsbald ihrerseits kanonisiert wird«, sodass es innerhalb eines kulturellen Gedächtnisses mehrere Stufen des Kanons bzw. mehrere Kanones gibt bzw. geben kann, die jeweils eine hierarchische Ordnung bilden, die sich nicht mehr primär nach ihrer rituell-kultischen Bewährung richtet, sondern nach der historischen Nähe zum Ursprung, dem Alter (Assmann 1992:100). Der übergang zu einer Kanonisierung bzw. die faktische Festlegung eines neuen Kanons »verweist [... ] auf einen Traditionsbruch77 , zumindest eine Krise«, weil der »Anstoß zur Verschriftlichung [zur Kanonisierung 78 ] [ ... ] von außen [kommt] [... ] und wo er kommt, verändert er die Tradition« (Assmann 1995b:46). Der Einschnitt, den die Kanonisierung bedeutet, geht mit einer bedeutenden sozialen Veränderung 79 einher, er ist ein »Frozeß sozialer Differenzierungwichtigste Schritt in der Kanonbildung«, der »die beiden entscheidenden Grenzen zwischen dem Kanonischen und dem Apokryphen und zwischen dem Primären und dem Sekundären« zieht (Assmann 1992:94).

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4.2 Das kulturelle Gedächtnis - Jan Assmann tung81 , dass er anhand der klassischen Bedeutungsnuancen des Begriffs die verschiedenen Arten von Kanones erläutert, die wohl auf den »tektonische[n] Kanon« (der Richtscheit der Baumeister) zurückgehen, der »allen metaphorischen Verwendungen des Wortes als konkreter Gegenstand zugrunde liegt« (Assmann 1992:112). Diese aus dem Bereich des Bauwesens stammende Metapher »postuliert zugleich mit der Konstruktivität der Welt [... ] die Letztinstanzlichkeit und Hochverbindlichkeit der Prinzipien, denen solche Konstruktion sich unterwerfen muß, wenn das >Haus< Bestand haben soll« (Assmann 1992:127). Darin unterscheidet sich ein Kanon einerseits sowohl vom Traditionalismus 8 ' als »alternativloser Verpflichtung auf die Vergangenheit« als auch vom Antitraditionalismus als Verständnis »beliebiger Abänderbarkeit von Normen, Regeln und Werten im Zeichen der autonomen Vernunft« (Assmann 1992:127). Ein Kanon im Sinne eines Maßstabs findet sich insbesondere in der kunstwissenschaftlichen Betrachtung und zeichnet sich durch eine besondere Struktur aus, die in der Beziehung zwischen Formstrenge und Anschließbarkeit83 grundgelegt ist. Ein solcher Kanon liefert »Maßstäbe zuverlässiger Erkenntnis, Kriterien für die Unterscheidung zwischen wahr und falsch, Erkenntnis und Illusion« (Assmann 1992:108f.). Sein Ziel ist eine größtmögliche Genauigkeit in der Ubereinstimmung (Assmann bezeichnet das mit dem Begriff der Akribeia). Der übergang in die Bedeutung als Modell ist gewissermaßen fließend, es geht jedoch stärker als beim Maßstab um die Vorstellung der Normativität. Das umfasst die Vorstellung »maßgebender Werke maßgebender Autoren«, die »die zeitlos gültigen Normen in reinster Form« verkörpern (Assmann 1992:110). Kanon als Regel ist demgegenüber ein weiterer Abstraktionsschritl mit einer juristischen Sinnspitze: Es ist hier das Gesetz (das kanonische Recht), das zur »maßgebende[n] verbindliche[n] Grundlage bürgerlichen Zusammenlebens und Gemeinschaftshandelns« (Assmann 1992:110) wird. In der Bedeutung von Liste geht es eher um eine Konkretion, die bis heute das Grundverständnis dessen prägt, was unter Kanon verstanden wird. Gemeint ist eine Liste etwa von Königsnamen, normativen Astronomen oder Chronographen. »[D]urch die kirchDer Kanon ist für Assmann so zentral, dass Michael Welker vorschlägt, neben dem kollektiven, kommunikativen und dem kulturellen Gedächtnis auch von einem kanonischen Gedächtnis (vgl. Welker 2007:327-331) zu sprechen. 82 Assmann spricht hier zwar eigentlich von der Tradition, seine Beschreibung deutet aber auf das, was man letztlich als Traditionalismus verstehen muss (vgl. oben 2.3, S. 36-48). 83 Dabei geht es um die j>besondere Anschließbarkeit oder Nachahmbarkeit dessen, was nach neuen und zugleich nachvollziehbaren Regeln konstruiert ist« (Assmann 1992:108). 81

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4 Kulturwissenschaftliche Konzepte des kollektiven Gedächtnisses

liehe Anwendung auf die Liste der heiligen Bücher« wurde dieses Verständnis »zu einem Zentrum des modernen Bedeutungsspektrums von Kanon« (Assmann 1992:113). Ein Kanon ist keine »anthropologische Universalie, sondern ein[] Sonderfall« (Assmann 1992:115). Es geht ihm um die »unselbstverständliche Norm einer spezifischen Vollkommenheit« (Assmann 1992:116). Kanon meint im Gegensatz zum Begriff Code keine selbstverständliche Regelhaftigkeit menschlichen Zusammenlebens, sondern bezeichnet als »unaufgebbar erachtete und damit gewissermaßen geheiligte Prinzipien« (Assmann 1992:116). Von dieser Bedeutungsgeschichte her unterscheidet Assmann zwei grundsätzliche Modi des Kanonbegriffs, die sich zum modernen Verständnis verschmolzen haben.

4.2.7.5 Heiligendes Prinzip und geheiligter Bestand

Kanon im Sinne von Maßstab und Norm lassen sich für Assmann unter den Begriff des heiligenden Prinzips zusammenfassen. Gemeint ist damit der »Kanon im Sinne einer alles bindenden Einheitsformel« (Assmann 1992:116). Diese bindende Einheitsformel unterliegt gerade in der Moderne einer besonderen Paradoxie. Sie kann einerseits (in Verbindung mit einer Machtinstanz) selbständiges Andersdenken und autonome Diskurse gesellschaftlich bzw. in der Erinnerungsgruppe marginalisieren, andererseits aber kann sich Denken mit Bezug auf einen solchen Kanon einer Machtinstanz subversiv entziehen. Ein Kanon als heiligendes Prinzip muss nicht zum »Prinzip kultureller Heteronomie« werden, das »die einzelnen Bereiche kultureller Praxis der übergeordneten Disziplin einer Dogmatik oder Ideologie unterwirft«, sie kann auch zum »Prinzip kultureller Autonomie« werden, das »die Ausdifferenzierung spezifischer Diskurse aus dem Gesamtzusammenhang der Kultur befördert« (Assmann 1992:117). Es ist also nicht in erster Linie der Kanon (also der geheiligte Bestand der normativen Schriften) selbst, der Toleranz oder Diskriminierung abweichenden Denkens bedeutet, sondern die Form des erinnernden Rückbezugs (also letztlich das, was Assmann mit »heißer« oder »kalter« Erinnerung bezeichnet, vgl. 4.2.6.1, oben, S. 170f.). Das ist das, was unter dem Kanon als heiligendem Prinzip verstanden wird. Assmann unterscheidet hier zwischen dem gewissermaßen heterophilen »Kanon der Wahrheit«, den er für die Antike und die neuzeitliche Aufklärung in Anspruch nimmt, und dem heterophoben »Kanon der Autorität«, den insbeson-

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4.2 Das kulturelle Gedächtnis - Jan Assmann

dere die mittelalterliche Kirche 84 und die neuzeitliche Totalitarismen verträten (Assmann 1992:122). Kanon als geheiligter Bestand meint dahingegen den »Begriff eines autoritativen und unantastbaren Traditionsgutes [... ], das entweder aus heiligen, d. h. religiösen, oder aus klassischen, d. h. poetischen, philosophischen und wissenschaftlichen Texten bestehen kann« (Assmann 1992:119). Der Begriff Kanon bezeichnet also das Zueinander beider Perspektiven, die ein dynamisches Verhältnis bilden: Der geheiligte Bestand ist ohne den durch das heil igende Prinzip getragenen Zugriff und damit die Aktualisierung und übertragung in das konkrete kommunikative Gedächtnis der Gegenwart hinein nicht denkbar. Jeder »Rezeptionsakt« ist also zugleich »ein Bekenntnis zu einer spezifischen Wertordnung« (Assmann 1992:120).

4.2.8 Die Assmann'sche Erinnerungstheorie - eine kritische Würdigung Das Konzept von Jan Assmann hat sich zu einem grundlegenden kulturwissenschaftlichen Paradigma entwickelt. Dazu trägt besonders die differenzierungsreiche Ausfaltung dessen bei, was Jan Assmann als kulturelles Gedächtnis bezeichnet und anhand seiner Untersuchungen zu antiken Hochkulturen zu einem Analyseinstrument enormer Tiefenschärfe entwickelt hat. In der Diskussion um sein Konzept ergeben sich drei grundlegende Kritikpunkte, die im Folgenden durch ergänzende Entwürfe und Gedanken noch weiter geklärt und spezifiziert werden müssen, um ein den philosophischen und soziologischen Diskursen adäquates Erinnerungsmodell für das theologische Verständnis von Tradition als kreativer inspirierter Erinnerung zu entwickeln. 84

Was die mittelalterliche Kirche angeht, wäre hier zwar mehr Differenzierung wünschenswert, es kann jedoch an dieser Stelle nicht das gesamte Verhältnis zwischen kirchlicher Autorität (oder gar Monotheismus) und (In)Toleranz erhellt werden, das ist andernorts ausführlich geschehen (so etwa bei Angenendt 2007). Darüber hinaus lohnt sich auch ein Blick auf das Verständnis des pathischen Monotheismus, den Johann Baptist Metz der These vom intoleranz- und gewaltaffinen Monotheismus entgegensetzt (vgl. etwa Metz 1999:112 sowie unten, 9.5, S. 410415). Während die Analyse in Bezug auf die neuzeitlichen Totalitarismen (auch religiöser Art) ausdrücklich zu teilen ist, soll hier nur darauf hingewiesen werden, dass es eher die Moderne ist, in der sich der Autoritätskanon der Kirche (und auch anderer Religionen) zu Intoleranz und fundamentalistischer Heterophobie entwickelt hat (vgl. dazu etwa den Gedankengang von Thomas Bauer, oben 2.3.3, S. 48-54). Hier scheinen - gemäß der Grundperspektive, die Assmann selbst beschreibt (vgl. Assmann 1992:81) - eher die Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts seine Sicht des Mittelalters zu bestimmen.

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4 Kulturwissenschaftliche Konzepte des kollektiven Gedächtnisses

Jan Assmann hat für sein Konzept der kollektiven Erinnerung insbesondere dem kulturellen Gedächtnis sein Hauptaugenmerk gewidmet als der institutionalisierten Form der Erinnerung und sie in einem Zueinander zum kommunikativen Gedächtnis entwickelt, bei dem er an Maurice Halbwachs anschließt. Dabei büßen seine Ausführungen gegenüber Halbwachs etwas von der kommunikativen und dialogischen Verortung der Erinnerns in Erinnerungsgemeinschaften und des Dialogs dieser Erinnerungsgemeinschaften untereinander ein. Das kulturelle Gedächtnis scheint bei Assmann manchmal einer spezifischen funktionalistischen Verengung in Bezug auf die Gruppenidentität zu unterliegen, die sich regelmäßig in einer juristisch-juridischen Zuspitzung äußert. Es erscheint hier als sinnvoll, den Diskurs um die narrative Identität, wie sie insbesondere von Paul Ric02ur (vgl. 4.4, S. 189 - 197) vertreten und in seinen Werken auch auf den Bereich der Erinnerungen und Erinnerungskultur übertragen wird, zur Anknüpfung für ein narratives und kommunikatives Verständnis der Erinnerung aufzunehmen und es für die Situation in der Postmoderne (vgl. dazu auch den Exkurs, S. 194f.) anschlussfähig zu machen. Im Kern geht es Assmann um eine kulturelle Erinnerung und ihm stehen dabei - was bei dem Gegenstand seiner Untersuchungen nicht verwundert - die antiken Hochkulturen und ihre gesellschaftliche Differenzierung im Blick. Ihre Schlussfolgerungen zum kulturellen Gedächtnis haben Aleida und Jan Assmann jedoch auch vielfach auf die Situation der gegenwärtigen Bundesrepublik Deutschland angewendet. Dabei zeigt sich jedoch, dass das Instrumentarium, das Assmann entwickelt hat, trotz der hohen Plausibilität für antike Hochkulturen nicht ohne Weiteres auf die heutige Situation gerade angesichts der immer stärkeren gesellschaftlichen Differenzierung übertragen werden kann. Hier muss vielmehr der Grundgedanke von Halbwachs wieder aufgenommen werden, dass sich Erinnerung gerade in kommunikativen Gruppen vollzieht, während für andere strukturelle Ebenen der Gesellschaft auch Gedächtnisse angenommen werden können, die sich jedoch in ihren Wirkmechanismen unterscheiden. Einen Ansatz für eine solche Differenzierung bieten Gerd Sebald und Jan Weyand (vgl. 4.5, S. 198ff.). Im Zusammenhang mit der übertragung ihrer Erkenntnisse auf die aktuelle Situation wäre bei Jan und Aleida Assmann noch die problematische Tendenz zu berücksichtigen, dass es teilweise zu einem Umschlag von Deskription zu Präskription mit dem Anspruch der Normativität kommt, insofern aus den kulturwissenschaftlich erhobenen Erkenntnissen erinnerungspolitische Schlüsse gezogen werden. Ein Beispiel dafür ist die »von Assmann ins Auge gefasste Zivilreligion, die eine Vielzahl von traumatisierenden Gewalterfah-

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4.2 Das kulturelle Gedächtnis - Jan Assmann

rungen in der Menschheitsgeschichte in eine Form des geteilten Gedächtnisses bringt, das moralische und politische Steuerungskraft gewinnen könnte« (Welker 2007:330). Diese Folgerungen sind aus der funktionalistischen Fokussierung der Assmann'schen Erinnerungstheorie zu erklären, deren überwindung durch ein narratives und kommunikatives Verständnis von Erinnerungen (vgl. oben, sowie unten, 4.4, S. 189 - 197) insofern für eine Theorie der Erinnerung ein dringendes Desiderat ist. Der wohl dringendste Kritikpunkt an dem Assmann'schen Konzept ist jedoch die »Behauptung empirisch nicht rekonstruierbarer Kollektivsubjekte« (Sieb eck 2013 :80). In der Tat bleibt diese Behauptung in ihrer Tendenz zu einer zirkulären Argumentation85 erklärungs bedürftig. Hinter der Kritik steht in erster Linie die Frage nach dem Zueinander von individuellem und kollektivem Gedächtnis und ihrer konkreten (oder eben »empirischen«) Rekonstruktion. Diese Fragen stehen bei Assmann vor dem Hintergrund seines kulturwissenschaftlichen Zugangs nicht im Fokus seiner Theorie. Ein Blick auf die Gedanken des Soziologen und Sozialpsychologen Harald Welzer, der in seiner umfassende Studie Das kommunikative Gedächtnis (2002) an diesem Punkt weiterdenkt und die Theorie der Erinnerungskultur in der Linie von Maurice Halbwachs und in Ergänzung durch die Erkenntnisse und Differenzierungen der Assmann'schen Konzeption insbesondere »für die aktuellen Ergebnisse der neuro biologischen Forschungen und der Sozialisationsforschung« (Sebald/Weyand 2011:176) anschlussfähig macht, schließt sich deshalb nun direkt an.

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Für Siebeck liegt das darin begründet, dass Assmann zwar konstruktivistisch argumentiert,

m-

sofern mit :>>narrativenMitteln [ ... ] Kontingenz reduziert und ein überindividueller Erfahrungsund Erwartungshorizont behauptet [wird], um ,kollektive Identität< zu (re-)produzieren«, eine solche soziale Konstruktionsleistung aber gar nicht nötig wäre ,>wenn die Adressaten derartiger Gedächtnis- und Identitätsnarrationen als Kollektive in der gemeinten Form bereits existieren würden« (Siebeck 2013:81). Es finde sich darin eine zirkuläre Argumentation, indem die j>Annahme präexistierender :>Erinnerungsgemeinschaften< [gemacht werde], die sich über kulturelle Objektivationen ein jeweiliges Selbstbild schaffen, das dann aus diesen Objektivationen mithilfe eines ,heuristische[n] Modell[s] von Kultur als Text< [ ... ] wieder ,abgelesen< werden kann« (Sieb eck 2013:81f.).

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4 Kulturwissenschaftliche Konzepte des kollektiven Gedächtnisses

4.3 Kommunikatives Gedächtnis im Dialog mit biologischen Erkenntnissen - Harald Welzer Ganz zu Beginn seiner Studie bezieht sich HARALD WELZER ausdrücklich auf Assmann, dessen grundsätzliche Definition »auf die kommunikative Praxis von Gruppen und Gesellschaften bezogen« ist und deswegen die Frage ausklammere, »wie das kommunikative Gedächtnis auf der Ebene des Individuums beschaffen ist« (Welzer 2002:15). Von dieser grundsätzlichen Ausgangsfrage her geht es ihm darum, »wie die Vermitllungsebenen zwischen der sozialen und der autobiographischen Seite des kommunikativen Gedächtnisses zu beschreiben sind« (Welzer 2007:49). Dazu differenziert Welzer zwischen dem sozialen, dem autobiographischen und dem kommunikativen Gedächtnis. Trotz der folgenden sehr detaillierten Reflexion auf die Wirkmechanismen des kommunikativen Gedächtnisses beginnt Welzer seine Ausführungen mit einer ganz grundsätzlichen epistemologischen Einschränkung, die er mit dem Begriff des kollektiven Unbewussten beschreibt: Der Kern des kommunikativen Gedächtnisses, »der in seiner Praxis selbst besteht« ist »wissenschaftlich immer nur unzureichend und unvollständig [zu] erfassen« (Welzer 2002:16). Es sind vielmehr ästhetische Zugänge, die dem Phänomen näher kommen. Notwendig ist deshalb ein solcher wissenschaftliche Einzeldisziplinen überschreitender Grundzugang, der einerseits auch den Grundgedanken des Erinnerungsparadigmas bei Assmann wiedergibt und gleichzeitig die Grundherausforderung der Interdisziplinarität markiert, die damit verbunden ist 86 . Grundsätzlich ist das kommunikative Gedächtnis für Welzer ein »Kurzzeitgedächtnis der Gesellschaft«, das »in interaktiver Praxis im Spannungsfeld der Vergegenwärtigung von Vergangenem durch Individuen und Gruppen« (Welzer 2007:48) besteht. Es ist die »eigensinnige Verständigung der Gruppenmitglieder darüber, was sie für ihre eigene Vergangenheit im Wechselspiel mit der identitätskonkreten Großerzählung der Wir-Gruppe halten und welche Bedeutung sie dieser beilegen« (Welzer 2007:48). Daran zeigt sich deutlich, dass Welzer die Grundmotive der Theorie des kollektiven Gedächtnisses aus den Theorien von Halbwachs und Assmann (Verortung in Erinnerungsgruppen, die in 86

Dieses Desiderat formuliert Welzer ausgehend von seiner sehr differenzierten Auseinandersetzung mit neurowissenschaftlicher Gedächtnisforschung: Es ,>fehlt den neurowissenschaftliehen Zugängen eine interaktions- und kommunikationstheoretische Perspektive, obwohl auf sehr allgemeiner Ebene konzediert wird, dass menschliche Gehirne nur als Teil von Netzwerken verstehbar sind« (Welzer 2007:61).

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4.3 ... im Dialog mit biologischen Erkenntnissen - Harald wetzer

kommunikativ-dialogischen Vollzügen kollektive Erinnerungen (re)konstruieren) aufnimmt und sie vor dem Hintergrund evolutionsbiologischer und entwicklungspsychologischer Erkenntnisse zu plausibilisieren versucht.

4.3.1 Soziales Gedächtnis Das soziale Gedächtnis "bezieht sich auf alles. was absichtslos, nicht-intentional, Vergangenheit und Vergangenheitsdeutungen transportiert und vermittelt«, insbesondere Aufzeichnungen, (bewegte) Bilder, Räume und direkte Interaktionen (Welzer 2007:50). Diese erlauben in ihrer jeweiligen (narrativen) Struktur 87 individuelle Anknüpfungspunkte und können in ihrer grundlegenden Erzählstruktur in eigene Erinnerungserzählungen aufgenommen werden, wobei für Welzer das »Phänomen des Imports vorgestanzter Erlebnisse in die eigene Lebensgeschichte« grundsätzlich ein zirkulärer Vorgang ist (Welzer 2007:50). Es gilt anhand dieses im sozialen Gedächtnis angelegten Materials in der »Praxis des konversationalen Erinnerns« zu lernen, »durch jedes gelesene Buch und jeden gesehenen Film [... ], daß eine richtige Geschichte einen Anfang, einen Mittelteil und einen Schluß hat«, dass es also ein Grundmuster (lebensgeschichtlicher) Narration 88 gibt, das eingeübt werden muss. Das soziales Gedächtnis ähnelt also dem Bezugsrahmen bei Halbwachs. Es besitzt kulturelle Rahmen, die »im individuellen Bewusstsein als Strukturierungsmatrizen für die Verarbeitung von Informationen wirksam« (Welzer 2007:50) sind. Diese zunächst rein soziologisch anmutende Betrachtung hat für Welzer in der evolutionsbiologischen Theorie eine Entsprechung. In einer aus der neurowissenschaftlichen Gedächtnisforschung übernommenen Formulierung lässt sich das soziale Gedächtnis so als exogrammatisches GeSo bemerkt Welzer etwa in Bezug auf Filme: j>Denn zweifellos beziehen ja auch die filmischen Vorlagen ihre Erzählstruktur und ihre Ausstattungsmerkmale aus Narrationen, die ihnen VOIausliegen: Die Bewährungsgeschichte des einfachen Soldaten im Krieg, die narrative Struktur der Abenteuergeschichte, die Dramaturgie der Tragödie sind ihrerseits Vorlagen, die von den filmischen Medien adaptiert werden, und das gesamte Verhältnis von Erzählvorlagen, Erlebnissen, Weitergaben von Erlebnisberichten und Bebilderungen mit vorhandenem visuellen Material ist unentwirrbar komplex« (Welzer 2002:173). 88 Zu diesen Grundrnustern zählt Welzer im Gefolge von Hayden: :»die Komödie, die Tragödie, die Satire und die Romanze« und bemerkt dazu, dass :»die Ausprägungen solcher narrativen Grundrnuster kulturspezifisch unterschiedlich aus [fallen], weil der :>Sinnneuralen Aktivierungsmuster[n], die zu einer Vorstellung oder einer Erinnerung gehören«, :»Gedächtnisinhalte jeglicher Art, die zur Bewältigung gegenwärtiger Anforderungen und zur Entwicklung von Handlungsoptionen für die Zukunft genutzt werden« (Welzer 2007:53). 90 Ein autonoetisches Gedächtnis, das »sich seiner selbst bewusst und daher reflexiv ist, [...] entbindet vom unmittelbaren Handlungsdruck und schafft genaugenommen erst jenen Raum zwischen Reiz und Reaktion, den wir als Handeln bezeichnen« (Welzer 2007:54). 91 Diese Bezeichnung übernimmt Welzer von Katherine Nelson, die (in Abweichung von der neurowissenschaftlichen Bezeichnungstradition) drei Gedächtnisformen unterscheidet: ,>Sie differenziert zwischen generic event memory (,so ist es immermemory talk< [... ], die das Thematisieren vergangener Ereignisse, Erlebnisse und Handlungen im Rahmen familialer Interaktion einübt« (Welzer 2002:16). Dieser memory talk, der schon im Kleinkindalter im Rahmen des kindlichen Spracherwerbs (vgl. Welzer 2002:96) angelegt wird, findet dann »als gemeinsame Verfertigung erlebter Vergangenheiten (>conversational rememberingAuch wenn man aus heutiger Sicht sagen muß, daß Halbwachs seinen überlegungen gewiß eine idealisierte Vorstellung von Familie zugrunde legt, die Familienkonflikte und -brüche deutlich unterbewertet und auch die Dynamiken innerhalb der familialen Kommunikation unbeachtet läßt, karm seine Konzeption des Familiengedächtnisses als idealtypische Analyse der Gedächtnisbildung in intimen Erinnerungsgemeinschaften durchaus noch Geltung beanspruchen« (Welzer 2002:158).

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4 Kulturwissenschaftliche Konzepte des kollektiven Gedächtnisses

ren Mitgliedern seiner Welt« (Welzer 2007:56) versteht. Konkret geschieht das dadurch, dass das Kind an sozialen Handlungsabläufen teilnimmt, deren vollständiger Sinn sich ihm verschließt bzw. der einen Informations- und Sinnüberschuss bietet (vgl. Welzer 2002:84). Damit einzelne Erinnerungen des Kindes (episodische Erinnerung) in autobiographisches Erinnern übergehen können, bedarf es der Einbettung in eine »Interaktionsstruktur, in der die erwachsenen Bezugspersonen auf vielfältige, aber genaue Weise die kindlichen Berichte darüber, >was geschehen istStille Post« dann nacherzählen: :»Bartlett zeichnete die Variationen akribisch auf und notierte im Fall der wiederholten Reproduktion schon bei der zweiten Wiedergabe nach etwa 20 Stunden signifikante Abweichungen von der Originalgeschichte: Erstens wurde die Geschichte kürzer, zweitens wurde ihr narrativer Stil ,modernerIn Ge-

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4 Kulturwissenschaftliche Konzepte des kollektiven Gedächtnisses schichten verwickelt zu seinErfahrungen< verschiedene Entität« ist, sie hat vielmehr einen Anteil an jener dynamischen Identität, die durch die erzählte Geschichte konstruiert wird und die Ricceur als narrative Identität bezeichnet. Deshalb besteht ein untrennbarer Zusammenhang zwischen der Erzählung und der Figur. Die Erzählung »konstruiert die Identität der Figur, die man ihre narrative Identität nennen darf, indem sie die Identität der erzählten Geschichte konstruiert«, es ist also »die Identität der Geschichte, die die Identität der Figur bewirkt« (Ricceur 1996,182). Anders gesagt ist also Identität von der von ihr erzählten Geschichte abhängig, sie ist »abhängig von ihrer Artikulation«, die in dem Reflexionsprozess der Erzählung der Lebensgeschichte erfolgt, weil eine Geschichte »die einzig angemessene Artikulationsform [ist], in der objektive Zeit und subjektives Zeitempfinden dialektisch zusammenkommen« (Harker 2000,181f.). Damit gehören narrative Identität und narrative Einheit und Ganzheit untrennbar zusammen. Es gilt jedoch, dass diese Ganzheit (ausschließlich) »auf formaler Ebene angesiedelt [ist], sie braucht keine lineare Entwicklung oder inhaltliche Konstanz von Charakterzügen und Lebenszwecken einzuschließen - sondern nur dies, daß wir das Ganze einschließlich seiner Brüche und Lücken als die eine Geschichte auffassen, die wir sind« (Angehrn 1999,67). Es gibt also für diese Lebensgeschichte keine gewissermaßen äußeren Kohärenz- und Legitimierungskriterien. Die Einheit und

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4.4 Gedächtnis, Identität und Geschichte(n) - Faul RicCEur

Einheitlichkeit der Erzählung ist deshalb nicht permanent, sondern wird immer wieder "durch all die wahren oder fiktiven Geschichten, die ein Subjekt über sich selbst erzählt«, refiguriert (Ricceur 1991:396). Die zentrale Leistungsfähigkeit einer solchen narrativen Identität ist für Ricceur die Möglichkeit auch in der Postmoderne mit einer Vielheit an Identitätszuschreibungen bzw. Rollenidentitäten in den verschiedenen gesellschaftlichen Systemen von einem mit sich selbst identischen Subjekt sprechen zu können, die sonst in einem Dilemma enden würde. »In der Tat mündet das Problem der personalen Identität ohne die Hilfe der Narration unausweichlich in eine unlösbare Antinomie: denn entweder postuliert man ein bei aller Vielfältigkeit seiner Zustände selbstidentisches Subjekt oder man vertritt wie Hume und Nietzsehe die Ansicht, dieses identische Subjekt sei bloß eine substantialische Illusion, deren Be-

seitigung bloß eine reine Vielfalt von Kognitionen, Emotionen und Volitionen übrig läßt. Das Dilemma verschwindet, wenn man die im Sinne eines Selben (idem) verstandene Identität durch die im Sinne eines Selbst (ipse) verstandene Identität ersetzt; der Unterschied zwischen idem und ipse ist kein anderer als der zv.rischen einer substantialen oder formalen und der narrativen Identität. Die Ipseität entgeht dem Dilemma des Selben und des Anderen insofern, als ihre Identität auf einer Temporalstruktur beruht, die dem Modell einer dynamischen Identität entspricht, v.rie sie der poetischen Komposition eines narrativen Textes entspringt. Vom Selbst läßt sich denmach sagen, daß es durch die reflexive Anwendung der narrativen Konfigurationen refiguriert wird. Im Unterschied zur abstrakten Identität des Selben kann die für die Ipseität konstitutive narrative Identität auch die Veränderungen und Bewegtheit im Zusammenhang eines Lebens einbegreifen. Das Subjekt konstituiert sich in diesem Fall, wie Proust es sich wünschte, als Leser und Schreiber zugleich seines eigenen Lebens. Wie die literarische Analyse der Autobiographie bestätigt, v.rird die Geschichte eines Lebens unaufhörlich refiguriert durch all die wahren oder fiktiven Geschichten, die ein Subjekt über sich selbst erzählt. Diese Refiguration macht das Leben zu einem Gewebe erzählter Geschichten. [... ] Die Ipseität ist somit diejenige eines Selbst, das seine Bildung den Werken der Kultur verdankt, die es auf sich selbst appliziert hat.« (Ricceur 1991 :395f.)

Es ist also diese grundlegende Unterscheidung in Bezug auf das Selbst zwischen Idem- und Ipse-Identiät, die Ricceur mit dem anerkennungstheoretischen Ver-

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4 Kulturwissenschaftliche Konzepte des kollektiven Gedächtnisses

ständnis der Identitätsentwicklung verbindet (vgl. oben, 4.2.3.2, S. 158ff.). über Mead hinaus verdankt sich die Ipse-Identität bei Ricceur eben nicht nur einem sozialisatorischen bzw. sozialen Prozess, sondern einem »hermeneutischen Prozeß reflektierender Meditation und Selbsterkenntnis, aus dem ein Selbst hervorgeht« (Streib 1994:183), was gerade die "Einschreibung der Zeitdimension in die Identität der Person« (Hoffmann 2008:78) bedeutet. Es ist dieses Moment der Zeitlichkeit oder Geschichtlichkeit, das ein solches Verständnis gegenüber einem transzendentalphilosophischen Verständnis als präreflexive Identität deutlich unterscheidet. AhnIich wie bei der Argumentation von Welzer beruft sich auch Ricceur auf naturwissenschaftliche Er kenntnisse und sieht die Psychoanalyse als »besonders lehrreiches Laboratorium für eine spezifisch philosophische Untersuchung zum Begriff der narrativen Identität«, weil sie deutlich macht, dass sich »eine Lebensgeschichte durch eine Reihe von Rektifikationen konstituiert, die an früheren Erzählungen vorgenommen werden« (Ricceur 1991:397; vgl. dazu auch Streib 1994:184). Der Zusammenhang zwischen Permanenz und Veränderlichkeit der menschlichen Identität, die ihren Ausdruck in der (fortwährenden) Revision der (erzählten) Lebensgeschichte finden, lassen sich so nicht anders als narrativ vermittelt verstehen. Für Ricceur gibt es deshalb ein charakteristisches Zusammenspiel zwischen Kontinuität und Diskontinuität, die er dem aristotelischen Verständnis der Tragödie entlehnt, wo nicht einfach Diskordanz in Konkordanz überführt werde, sondern beide in ein Spannungsverhältnis gestellt werden, das er als diskordante Konkordanz 95 bezeichnet (vgl. Ricceur 1996:174). Diese Konkordanz (oder Kontinuität) ist dabei dann also immer eine sekundäre Kontinuität, die immer erst in der erzählenden Erinnerung möglich ist, und die die Diskordanzen (oder Brüche) in eine neue Kontinuität überführt (vgl. dazu auch Hoffmann 2008:78f.). Idem- und Ipse-Identität stehen also nicht einfach unverbunden nebeneinander, vielmehr bilden sie für Ricceur einen dynamischen Zusammenhang. Dazu 95

Ricceur führt dazu aus: »Unter Konkordanz verstehe ich jenes Ordnungsprinzip, das dasjenige beherrscht, was Aristoteles ,Zusammensetzung der Handlungen< nennt. Unter Diskordanz verstehe ich diejenigen Wendungen des Schicksals, die die Fabel zu einer geregelten Transformation - von einer Ausgangssituation bis hin zu einer Endsituation - machen. Den Begriff der Konfiguration wende ich auf die Kompositionskunst an, die zwischen Konkordanz und Diskordanz vermittelt. Um den Geltungsbereich dieses Begriffs narrativer Konfiguration über das von Aristoteles bevorzugte Beispiel - die griechische Tragödie und, in geringem Maße, das Epos - hinaus auszudehnen, schlage ich vor, die für jede narrative Komposition charakteristische diskordante Konkordanz durch den Begriff der Synthese des Heterogenen zu definieren« (Ricceur 1996: 174).

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4.4 Gedächtnis, Identität und Geschichte(n) - Faul RicCEur

unterscheidet er zunächst zwei Arten, wie sich das Selbst Kontinuität zuschreiben kann. Eine dieser Möglichkeiten liegt im menschlichen Charakter selbst begründet. Ein Charakterzug ist für Ricceur eine »angeeignete, erworbene und zur festen Veranlagung gewordene Gewohnheit«, die als »Unterscheidungsmerkmal« dient, »an dem man eine Person wiedererkennt, durch das man sie als dieselbe reidentifiziert« (Ricceur 1996:151). Der Charakter eines Menschen besteht dann »in der Gesamtheit dieser unterscheidenden Merkmale« (Ricceur 1996:151). Das andere Moment der Identität sieht er in der Kontinuität des Einlösens eines Versprechens. Ein Versprechen zu halten - so schreibt er - scheint eine »Verneinung des Wandels« (Ricceur 1996:154) zu beinhalten. Es ist gerade dieses »Wort-Halten«, das für Ricceur die »emblematische Gestalt einer Identität [ist], die in polaren Gegensatz zur Identität des Charakters tritt« (Ricceur 1996:153). Den Unterschied zwischen der Beständigkeit des Charakters (im Sinne einer einfachen Kontinuität) und der Treue zum gehaltenen Wort (der Selbst-Ständigkeit wie Ricceur es nennt) erläutert er daran, dass das Wort-Halten seinen Ort gerade innerhalb von Beziehungswirklichkeiten besitzt, in der »Beständigkeit in der Freundschaft« (Ricceur 1996:153). Damit kennt Ricceur also eine reflexive (Charakter) und eine dialogisch-kommunikative (Wort-Halten) Möglichkeit, Kontinuität zu rekonstruieren. Es ist nun gerade die in bei den Dimensionen angelegte Narrativität mit der er »beide Arten von zeitlicher Kontinuität sowie beide Arten der Identität miteinander in dynamische Beziehung setzen« (Streib 1994:185) kann. Durch das narrative Verständnis der Identität lässt sich also ein »äußerst originelle[r] Begriff der dynamischen Identität entwickel[ n], der gerade jene Kategorien miteinander versöhnt, die Locke für gegensätzlich hielt: Identität und Verschiedenheit« (Ricceur 1996:176). Narrative Identität hat also wesentlich eine Vermittlungsfunktion zwischen Idem- und Ipse-Identität, sie nimmt »eine vermittelnde Stellung zwischen der deskriptiven und präskriptiven Bestimmung des Selbst ein, auf die sie, ohne sie zu ersetzen oder zu umfassen, in gewisser Weise ausgreift« (Angehrn 1999:56). Bei dieser fortwährenden Vermittlungsaufgabe ist insbesondere die »Literatur [... ] ein weiträumiges Laboratorium für Gedankenexperimente, in denen die Variationsmöglichkeiten narrativer Identität auf den Prüfstand der Erzählung gestellt werden« (Ricceur 1996:182). Dadurch kommt es in Auseinandersetzung mit der Literatur und anderen Formen der Kultur bzw. des kulturellen Gedächtnisses zu einer immer wieder neuen Verhältnisbestimmung zwischen bei den Dimensionen der Identität.

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4 Kulturwissenschaftliche Konzepte des kollektiven Gedächtnisses Exkurs: Postmoderne Ironie als kreativer Umgang mit Traditionsvorgaben

Einen spezifisch postmodernen Zugang zur Identitätskonstruktion, der in dieser Weise aufliterarische und kulturelle Vorgaben zurückgreift, zeigt die Strömung der sogenannten postmodernen Ironie. Für UMBERTO Eco ist das entscheidende Charakteristikum der Postmoderne, die er weniger als eigenständige Epoche, sondern vielmehr - unter Verwendung des deutschen Begriffs - als »Kunstwollen « (Eco 1984: 77) und somit als sich zur Epoche der Moderne reflexiv und kritisch verhaltende Strömung versteht, geradezu der Umgang mit Traditionen in einer spezifischen nachmetaphysischen Weise. Prägend ist ein ironischer Umgang mit vorgegebenen Traditionen, unter denen es gerade nicht eine einzige normative Tradition gibt. Vielmehr ist der Ausgangspunkt die Pluralität der als prinzipiell gleichberechtigt verstandenen geschichtlich-kulturellen Vorgaben, die spielerisch und kreativ miteinander ins Gespräch gebracht werden. Postmoderne ist für Eco eine »Zeit der verlorenen Unschuld« (Eco 1984:79), in der der Mensch sich reflektiert und kritisch zu literarisch vorgegebenen Traditionen verhält. Dabei fällt bei Eco zwar eine deutliche Beschränkung auf Schriftlichkeit auf, die sich gut in die Relativität aller Wahrheits ansprüche und die prinzipielle Sinnpluralität einpasst, andererseits rekurriert er jedoch auf personale Wirklichkeiten, die dieser Sinnpluralität voraus liegen und die durch die ironische Annäherung in einer nicht-naiven Weise kommuniziert werden sollen. Die ironische Kommunikation bezieht sich also im Kern nicht auf die eigentlichen Inhalte dessen, was kommuniziert wird (also auf kommunikative oder personale Wahrheiten), sondern auf die Form der Kommunikation. Das Verhältnis zur Erinnerung ist also nicht ablehnend, sondern umfassend relativ. Der amerikanische Philosoph RICHARD RORTY entwickelt noch differenzierter ein Verständnis des Ironikers geradezu als Paradigma des postmodernen Menschen, das sich in Form einer Grundhaltung wesentlich in Bezug auf Sprache vollzieht. Dabei kommt der Sprache bei Rorty damit eine entscheidende Bedeutung zu. Zentral ist

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4.4 Gedächtnis, Identität und Geschichte(n) - Faul RicCEur bei Rorty der Begriff des abschließenden Vokabulars, das die Gesamtheit aller Ausdrucksmöglichkeiten bezeichnet. Sprache ist dabei eine kontingente Wirklichkeit; dezidiert richtet sich Rorly gegen ein korrespondenztheoretisches Verständnis von Sprache, bei dem sich Wahrheit in einzelnen Sätzen realisiert, durch die Gegebenheiten der Wirklichkeit mehr oder weniger treffend beschrieben werden. Ein solches Verständnis von Sprache weist er als metaphysisch zurück. Sein Verständnis des Verhältnisses von Sprache und Wahrheit fasst Rorly so zusammen: "Daß die Wahrheit nicht dort draußen ist, heißt einfach, daß es keine Wahrheit gibt, wo es keine Sätze gibt, daß Sätze Elemente menschlicher Sprachen sind und daß menschliche Sprachen von Menschen geschaffen sind« (Rorty 2007:24). Insofern es sich bei Sprache also um etwas Kontingentes handelt, kennt Rorly auch keine Weiterentwicklung eines abschließenden Vokabulars im Sinne einer steigenden Adäquatheit einzelner Sätze. Die Weiterentwicklung der Sprache vollzieht sich weder intentional noch teleologisch, sondern zufällig dadurch dass neue »metaphorische Ausdrücke« (Rorly 2007:44) - das sind für Rorty solche Begriffe, die innerhalb eines abschließenden Vokabulars insofern einen unersetzlichen Wert besitzen als die »Unmöglichkeit [besteht], einen vertrauten Satz anzuge ben, der für die Absicht, die man verfolgt, geeignet wäre« (Rorty 2007:45) - gewissermaßen evolutiv zur Verfügung stehen, die für die Wirklichkeitsbeschreibung bestimmte funktionale Vorteile besitzen. Wahrheit kann insoweit für Rorly nicht durch einzelne (wahre) Sätze garantiert werden, aus denen wiederum wahre Sätze logisch deduziert werden können. Diese Schlussfolgerung wird durch den Ironiker vielmehr bezweifelt. Die ständige Kritik der eigenen Möglichkeiten der Wirklichkeitsbeschreibung vollzieht der Ironiker wesentlich in der Auseinandersetzung mit Literatur. Für Literatur gibt Rorty dabei nur sehr allgemeine Kriterien an. Dieser Begriff umfasst für ihn »alle Bücher, die mit gewisser Wahrscheinlichkeit als Kandidaten für ein abschließendes Vokabular infrage kommen« (Rorly 2007:140). Einzelne Autoren erscheinen für ihn dann als »Abbreviaturen eines bestimmten abschließenden Vokabulars« (Rorty 2007:137) mit ihren je eigenen

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4 Kulturwissenschaftliche Konzepte des kollektiven Gedächtnisses

Metaphern. In der Beschäftigung stellt sich dem Ironiker dabei die Frage, »ob wir diese Bilder übernehmen und uns selbst nach dem Bild dieser Menschen ganz oder teilweise umschaffen sollen« (Rorty 2007:137). Die Weiterentwicklung der Ausdrucksmöglichkeiten, die die Auseinandersetzung mit tradierter Literatur ermöglicht, insofern sie Metaphern für die Wirklichkeitsbeschreibung zur Verfügung stellt, mündet für Rorty also in eine Veränderung des Selbstverständnisses. Traditionsliteratur, die den Anspruch erfüllt, selbst ein umfassendes abschließendes Vokabular darzustellen, also, so kann man wohl annehmen, narrativ akzentuiert ist, ermöglicht also in erster Linie eine Veränderung der Selbstbeschreibung. Die Geschichte der Menschheit ist insofern für Rorty eine »Geschichte einander ablösender Metaphern« (Rorty 2007:48). Diese Art der »Selbstvergegenwärtigung« ist also - das gilt für Ricceur wie für Denker der Postmoderne wie Rorty oder Eco - »nicht auf die eigene Person und das eigene Leben als Thema beschränkt; nichts hindert, daß das Subjekt gerade im Sichabarbeiten am Anderen, in der interpretierenden Aneignung der Welt sich frei gestaltet und ein neues Verständnis seiner selbst gewinnt« (Angehrn 1999:49). Die Auseinandersetzung mit Literatur gewordener Erinnerung führt ihn zu der Erkenntnis eines Ineinander-Verwickeltseins von Erzählungen, Lebensgeschichten und damit schließlich auch Erinnerungen. Das Ergebnis ist für Ricceur eben, dass »literarische Erzählungen und Lebensgeschichten, nicht nur einander nicht ausschließen, sondern sich - trotz oder wegen ihres Kontrastes - ergänzen« (Ricceur 1996:200). In diesem Verwickelt sein spielt auch die Zeitperspektive eine zentrale Rolle. Ricceur hält es für ein Missverständnis, dass Lebensgeschichten und literarische Geschichten gerade deshalb nicht miteinander verbunden werden könnten, weil Erzählungen ausschließlich retrospektiv seien. Für ihn gilt vielmehr, dass literarische Erzählungen nur »in den Augen des Erzählers« retrospektiv sind und so eine »Q1lasi-Vergangenheit der Erzählstimme« besitzen, in der sich gleichzeitig »Entwürfe, Erwartungen, Antizipationen« finden lassen, mit deren Hilfe »die Protagonisten der Erzählung sich auf ihre sterbliche Zukunft hin ausrichten«, weshalb sich darin auch eine zutiefst prospektive Dimension (Ricceur 1996:200) ausmachen lässt. Gerade für narrativ vermittelte Erinnerungen gilt es, diese prospektive Dimension ebenfalls herauszustellen. Die narrative Grundstruktur prägt auch die Erinnerungen, sie sind nur im Modus der Narration zugänglich.

196

4.4 Gedächtnis, Identität und Geschichte(n) - Paul RicCEur

Für Ricceur ist eine »aus der Dialektik von Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart herausgerissene Vergangenheit unweigerlich eine Abstraktion« (Ricceur 1991:251), die nur narrativen Konkretionen zugänglich ist. Für Ricceur ist die »Wahrheit« von Erinnerungen zunächst in ihrer narrativen Struktur begründet 96 , die dann erst in zweiter Hinsicht in den Dialog mit dem »kritischen Apparat« der historischen Wissenschaft (Ricceur 2002:14) eintreten kann und muss. Damit ist Erinnerung zwar Erzählung, unterscheidet sich aber deutlich von reiner Fiktion. Der »Wunsch des Gedächtnisses nach Treue« wird durch das »Streben der Geschichte nach Wahrheit« (Ricceur 2002:14) ergänzt, deren dokumentarische Wahrheit mit der auf »Wahrscheinlichkeit gründenden Bewertung die Annahme von Wahrheitsgraden - je nach Dichte der Indizien, je nach deren Kohärenz und Reichweite und je nachdem, wie diese Indizien der überprüfung mittels Vergleich und Diskussion standhalten« (Ricceur 2002:10) ermöglicht. Es sind also diese von der historischen Wissenschaft entwickelten Wahrheitsgrade, die zu einem zweiten Kriterium für die Wahrheit der Erinnerung werden. Das jedoch kann nur im dialogischen Zueinander von (je gruppenspezifischer) Erinnerungskultur und Geschichtswissenschaft erreicht werden. Die Wahrheit der Narration und die Plausibilisierung im Gespräch mit der Geschichtswissenschaft geben also Aufschluss über den Wahrheitswert von Erinnerungen. Neben der empirischen Rückbindung des Konzeptes der kollektiven Erinnerung (HaraId Welzer) zeigt sich hier bei Ricceur also die Notwendigkeit einer dialogischen Rückbindung an die Geschichtswissenschaft, was den grundlegenden Konstruktivismus kollektiver Erinnerung nicht an sich entwertet, sondern in seiner narrativen Grundstruktur geradezu noch einmal mit der Identität von Mensch und Welt verknüpft, dem andererseits jedoch eine kritische Instanz zu Seite stellt, die bis zu einem bestimmten Grad im Rahmen ihrer Methodik die Prüfung der Wahrheitsansprüche ermöglicht, die mit den Erinnerungen und ihren gegenwärtig-narrativen Versprachlichungen verbunden sind.

96

Die Wahrheit der Erinnerung besteht für ilm deshalb nicht in der ,>verdoppelten Selbstpräsenz des intentionalen Bewußtseins, sondern in der Narrativität, die letztere erst konstituiere« (Spiertz 2002:242) wie er in Bezug auf Husserl bemerkt, für den im Akt der Wiedererinnerung selbst durch den Akt der Setzung eine andere Wahrheit der Repräsentation erzeugt wird als

durch Fiktion.

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4 Kulturwissenschaftliche Konzepte des kollektiven Gedächtnisses

4.5 Formierung sozialer Gedächtnisse - Gerd Sebald / Jan Weyand Für Sebald und Weyand ist ein soziales Gedächtnis "im weitesten Sinne [... ] das soziale Vermögen, Vergangenes gegenwärtig verfügbar zu halten bzw. zu machen« (Sebald/Weyand 2011:174). Es unterliegt grundsätzlich der Formierung, was den Umstand bezeichnet, dass Erinnerungen nicht ausschließlich von der Vergangenheit, sondern »auch von den sozialen Bedingungen [abhängen], in denen dieses Bild in der fortlaufenden Gegenwart erinnert wird« (Sebald/Weyand 2011:174). Im gegenwärtigen Diskurs werde insbesondere das Problem der gesellschaftlichen Dynamik diskutiert, in erster Linie die »Wechselbeziehung von Tradition und Traditionsbruch«, wodurch das »Erinnerte nicht als etwas Unveränderbares, sondern als aus der Perspektive der fortlaufenden Gegenwart [M]odifizierbar[ es]« (Sebald/Weyand 2011:175) verstanden werde. Dazu müsse jedoch auch die Frage nach der »Formierung von sozialen Gedächtnissen unter modernen Bedingungen« (Sebald/Weyand 2011:175) gestellt werden, die in den Konzepten auf der Linie Halbwachs - Assmann - Welzer »der Differenzierung von Handlungsbereichen in der Moderne sowie der Ausdifferenzierung von Kommunikationsmedien und von kommunikativen Gattungen« (Sebald/Weyand 2011:175) nicht gerecht werde. Das zentrale Problem der Erinnerungstheorie besteht »in der Annahme, die sozialen Rahmen des Gedächtnisses in der Moderne seien Folge der Interaktion in Kollektiven« (Sebald/Weyand 2011:177). Für Sebald und Weyand lässt sich jedoch »die am Konzept der mechanischen Solidarität 97 entwickelte Theorie des sozialen Gedächtnisses [... ] nicht einfach auf eine multipel differenzierte Gesellschaft übertragen« (Sebald/Weyand 2011:178). Insbesondere mache eine solche interaktionszentrierte Gedächtnistheorie es schwierig, gesellschaftliche Gedächtnisse in staatlichen Institutionen oder Organisationen zu erklären, die nicht über eine solche Kommunikationsstruktur verfügen wie gesellschaftliche Primärgruppen (etwa die Familie). Deshalb, so die Folgerung von Sebald und 97

Der Begriff der mechanischen Solidarität stammt von Emile Durkheim und bezeichnet eine j>durch kollektive Praxen gewährleisteteD Ahnlichkeit des Erlebens, insbesondere des normativen Erlebens und Handeins« (SebaldlWeyand 2011:177). Diese mechanische Solidarität sei aber - so Durkheim - in der Moderne durch eine organische Solidarität, cl.h. j>die durch Medien (vor allem durch Geld) vermittelte Abhängigkeit von Personen in sozialen Funktionen« (SebaldlWeyand 2011:177), ersetzt worden.

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4.5 Formierung sozialer Gedächtnisse - Gerd Sebald / Jan Weyand

Weyand, muss die Annahme aufgegeben werden, dass die »Sozialität sozialer Gedächtnisse [... ] auch in den hoch differenzierten Gesellschaften der Moderne vollständig aus der Interaktionspraxis von Gruppen zu erklären« (Sebald/Weyand 2011: 178) ist. Soll eine soziologische Theorie weiterhin von sozialen Gedächtnissen sprechen können - so schreiben sie in Abgrenzung zu den system theoretischen überlegungen von Niklas Luhmann, der es angesichts der Differenzierung der gesellschaftlichen Systeme nicht mehr für möglich hält, in der Moderne von einem sozialen Gedächtnis zu sprechen, sondern nur noch von Spezialgedächtnissen der Funktionssysteme (vgl. Sebald/Weyand 2011:179) - muss sie davon ausgehen, dass »in einer funktional differenzierten und kulturell pluralen Gesellschaft an die Stelle einer Großerzählung eine Vielzahl von sozialen Gedächtnissen auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen und in unterschiedlichen gesellschaftlichen Funktionsbereichen tritt« (Sebald/Weyand 2011:179). Der Grund dafür, dass eine solche soziologische Theorie gut daran tut, an der Rede von kollektiven oder sozialen Gedächtnissen festzuhalten, besteht für sie in der Beobachtung, dass »soziale Einheiten ihre Stabilität [verlieren], wenn sie nicht mehr in der Lage sind, eine verbindliche Erzählung zu produzieren, die von der überwiegenden Mehrzahl ihrer Angehörigen auch geteilt wird« (Sebald/Weyand 2011:179). Es bedarf also weiterhin solcher gemeinsamer Großerzählungen und -erinnerungen in gesellschaftlichen Gruppen, die sich jedoch nicht ausschließlich »an die Interaktionspraxis in sozialen Gruppen binden lassen« (Sebald/Weyand 2011:179).

4.5.1 Variierende und selektive Formierung

Vor dem Hintergrund dieser Annahmen - besonders der Sinnhaftigkeit sozialen Geschehens und der präsentistischen Operationsweise von Gedächtnissen (vgl. Sebald/Weyand 2011:180) - entwickeln Sebald und Weyand ihre Theorie der Formierung des Gedächtnisses - d.h. der »sozialen Bedingungen, durch welche die Vergangenheit in der Gegenwart sinnhaft strukturiert wird« (Sebald/Weyand 2011:180) - und differenzieren sie hinsichtlich der Funktion. 4.5.1.1 Variation

Formierung kann Variation sein, die den »Raum möglicher sinnhafter Verknüpfungen von Vergangenheit und Gegenwart« vergrößert »die Struktur sinnhafter

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4 Kulturwissenschaftliche Konzepte des kollektiven Gedächtnisses

Verknüpfungsmöglichkeiten von vergangenen Ereignissen verändert« (Sebald/Weyand 2011:180). Diesen variierend formierenden Zugriff auf das Gedächtnis sehen sie im Wesentlichen in den Trends der funktionalen Differenzierung und der Enttraditionalisierung begründet; sie vollzieht sich auf einer thematischen, einer sozialräumlichen und einer sozialen Ebene (vgl. Sebald/Weyand 2011:181). 4.5.1.2 Selektion

Darüber hinaus kann sich Formierung auch in Form von Selektion vollziehen. Eine Grundlage dessen ist insbesondere, dass sich die "Einheit von politischer und religiöser Traditionsbildung [... ] mit der Moderne« (Sebald/Weyand 2011:182) aufgelöst hat und insofern ein den Vergangenheitszugriff integrierendes und vereinheitlichendes Moment in Form der religiösen Großerzählung(en) nicht mehr vorliegt. Eine zentrale Form der Selektivität liegt in der Differenzierung der Generationen begründet, die einen deutlichen Gegensatz zu vormodernen Gesellschaften bedeutet. Das selbstverständliche Zueinander der Generationen in groß-familiären Strukturen, das »eine Bedingung der Möglichkeit der Ausbildung von generationenübergreifenden Kollektivgedächtnissen auf der Basis mechanischer Solidarität« (Sebald/Weyand 2011:182) war, hat sich in der Moderne grundlegend geändert. Das Zueinander der Generationen ist durch eine größere Dynamik geprägt, und eine wirkliche, gleichberechtigte Dialogizität der Generationen (zumindest außerhalb des Sozialisationsprozesses von Kindern) hat sich entwickelt. Intergenerationelle Kommunikation hat sich damit grundlegend geändert und intragenerationelle Kommunikation in den Peergruppenlogiken der gesellschaftlichen Milieus deutlich zugenommen. Für Selektivität ist der Begriff der Relevanz zentral, den Sebald und Weyand aus der pragmatischen Lebenswelttheorie übernehmen. Er bezeichnet »dynamische Selektionsmuster, die sich im alltäglichen Handeln, Denken und Sprechen [... ] an neue Situationen sowohl anpassen wie gleichzeitig Handeln, Denken und Sprechen in diesen Situationen strukturieren« (Sebald/Weyand 2011: 186). Solche Relevanz entsteht ganz grundlegend in der Auseinandersetzung mit der sozialen Umwelt und ist sozial präfiguriert. Relevanzen können sehr unterschiedlich sein, es gibt jedoch einen Zusammenhang zwischen Erfahrungen und dem Relevanzsystem, sodass »auf gleichen oder ähnlichen Erfahrungszusammenhängen in signifikantem Maße typische Ahnlichkeiten in den Relevanzsystemen aufbauen« (Sebald/Weyand 2011:186). Relevanz in kommunikativen Erfahrungs- und Erinnerungsgemeinschaften ist

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4.5 Formierung sozialer Gedächtnisse - Gerd Sebald / Jan Weyand

also (wie in den Theorien von Assmann, Welzer und Ricceur) zunächst ganz wesentlich durch eine dialogische und kommunikative Struktur geprägt. Es gibt jedoch auch funktionale Relevanz, die nicht aus der Kommunikations- und Interaktionspraxis von Gruppen hervorgeht, sondern auf »einer höher stufigen, autologisch funktionierenden Ebene von Organisationen, Nationalstaaten oder Funktionssystemen [... ] als selektiv formierender Faktor funktional eingeführt werden« (Sebald/Weyand 2011:186) kann. Es lässt sich also zwischen einem kommunikativ-interaktionellen Relevanzsystem unterscheiden, das gesellschaftliche Primärgruppen bzw. kommunikative Gruppen entwickeln und funktional gesetzten Relevanzkriterien, die auf der Ebene von Organisationen und Staaten aufgrund von Strukturen von Macht und Einfluss eingesetzt werden können. Das ermöglicht es, »nicht vorab auf Interaktion als einzige Basis von sozialen Gedächtnissen setzen zu müssen, ohne interaktionsbasierte Gedächtnisse generell aus der theoretischen Betrachtung auszuschließen« (Sebald/Weyand 2011: 185). Diese Differenzierung ist in Bezug auf eine theologische Aneignung einer soziologisch-kulturwissenschaftlichen Theorie der kollektiven Erinnerung hoch relevant, weil auch die Kirche ja nicht eine ausschließlich egalitäre, sondern eine strukturierte und gegliederte Gemeinschaft ist. 4.5.1.3 Die Bedeutung des medialen Weltzugangs

Der mediale Weltzugang des Menschen hat sich deutlich geändert. Zwar bleibt der sprachliche Zugang grundlegend, es hat sich jedoch eine Vielfalt von Medien entwickelt, die diesen Weltzugang beeinflussen. Soziale Gedächtnisse sind »von der (technischen) Struktur des Mediums abhängig und erfahren durch diese eine (vor-)selektierende Bearbeitung« (Sebald/Weyand 2011:183) und so existieren die Gedächtnisse wie die Medien selbst in einem reichen Pluralismus. Die prinzipielle Textoffenheit der Medien ermöglicht »differente Formen der Aneignung der (massen-)medial formierten Inhalte in den jeweils eigenen Erfahrungszusammenhang und damit die Formierung von spezifischen sozialen Gedächtnissen im Sinne einer quantitativen und qualitativen Variation« (Sebald/Weyand 2011:183).

4.5.2 Authentizität von Erinnerungen

Weil Erinnerungen nur in den skizzierten Arten der Formierung zugänglich sind, stellt sich in besonderer Weise die Frage nach ihrer Authentizität. Mit

201

4 Kulturwissenschaftliche Konzepte des kollektiven Gedächtnisses

Habermas unterscheiden Sebald und Weyand mit Verständlichkeit, Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit vier Klassen von Geltungsansprüchen (vgl. Sebald/Weyand 2011:184). Wenn Verständlichkeit und (inhaltliche) Richtigkeit für die jeweilige Erinnerungsnarration in Anspruch genommen werden können, so bleiben insbesondere die »Geltungsansprüche der Wahrheit des propositionalen Gehaltes und der Wahrhaftigkeit des Rekonstruierenden relevant« (Sebald/Weyand 2011:184). Die Wahrhaftigkeit kann nicht auf der narrativen Ebene eingelöst werden, sondern »nur aus den vergangenen oder weiteren Erfahrungen mit rekonstruierten Erinnerungen« (Sebald/Weyand 2011:184). Insofern bleibt ein nicht ohne Weiteres auszuräumender Zweifel bestehen, der nur »durch die Herstellung und Zuschreibung von Authentizität ruhig gestellt« (Sebald/Weyand 2011:184; Hervorh. AJ) werden kann. Deshalb werden in die Erinnerung Elemente eingebaut, die gleichsam im Sinne einer Zeugenschaft diesen Zweifel ausräumen sollen. 4.5.3 Formierung durch kommunikative Gattungen

Zwei kommunikative Gattungen spielen für Sebald und Weyand bei der Formierung von Erinnerungen eine besondere Rolle: einerseits Narrationen - »mehr oder weniger kohärente Darstellungen eines vergangenen Erfahrungszusammenhanges« - und Diskurse - Bündelungen »argumentative[r] Aussagen unterschiedlicher Akteure und Institutionen in thematischer Hinsicht gemäß eigenlogischen Regeln« (Sebald/Weyand 2011:185). Die Narration ist gerade in den kommunikativen Gruppen die zentrale sprachliche Form der Formierung. Sie unterliegt den Kriterien einer Erzählung (Gattung, Kohärenzerwartung, Kontextualisierung, vgl. Sebald/Weyand 2011: 185). Hier verweisen Sebald und Weyand ausdrücklich auf die Gedanken von Paul Ricceur (vgl. dazu auch 4.4, S. 189ff.). Diese Kriterien werden »zu spezifischen Formierungsbedingungen der Rekonstruktion und die Erzählung selbst wird damit zu einem spezifischen Modus der Erinnerung« (Sebald/Weyand 2011: 185). Diskurse sind die zweite Art der kommunikativen Organisation und Strukturierung von Erinnerungen. Sie sind einerseits in wissenssoziologischer Betrachtung kommunikative Rahmen, »in denen semantische Differenzierungen reproduziert, variiert und stabilisiert werden« und andererseits in strukturalistischer Betrachtung der soziale Prozess selbst, »in dem sich strukturierende Regeln und Regelhaftigkeiten für Außerungsgehalte bilden und reproduzieren« (Sebald/Weyand 2011:185).

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4.5 Formierung sozialer Gedächtnisse - Gerd Sebald / Jan Weyand

Beide Formen der kommunikativen Formierung ergänzen sich gegenseitig. Nie ist in Erinnerungsgruppen nur narrative oder nur diskursive Interaktion zu finden. Dieses Zueinander ergänzt das Verständnis der narrativen Grundstruktur von Identität und Erzählung, weil sie den Raum für ein kritisches Korrektiv - wie Ricceur mit der kriteriologischen Funktion der Geschichtswissenschaft angedeutet hat - im Rahmen der jeweiligen Erinnerungsgemeinschaft eröffnet, was wiederum den Authentizitätsanspruch der narrativ vergegenwärtigten Erinnerungen gewährleistet.

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Teil 111

Bi beltheologische Annäherungen

Gott ist der Eine. Wir kennen ihn nur aus der Heiligen Schrift, und nicht aus anderer ~uelle. Alles, was also die heiligen Schriften verkündigen, das wollen wir wissen; alles, was sie lehren, wollen wir erkennen. [. .. ] Nicht nach eigenem Willen, nicht nach unserem eigenen Sinn und ohne dem Gewalt anzutun, was von Gott gegeben ist, sondern wie er es uns durch die heiligen Schriften lehren will, so wollen wir es verstehen.

- Hippolyt von Rom'

5 Erinnerungstheologie im Alten Testament Im Folgenden soll nun ein, wenn auch notwendigerweise kursorischer, Blick auf die Schriften des Neuen und Alten Testaments folgen. Vor dem Hintergrund der skizzierten grundlegenden Konzeptionen des kommunikativen und kulturellen Gedächtnisses (insbesondere im Sinne von Halbwachs, Assmann und Ricceur) soll insbesondere das Wortfeld Erinnern [fllflv~crKcu / ':JI]- Vergessen [e1IlAcxv8avOflCXl / n:JlII] und damit die Frage danach, inwieweit sich in den biblischen Schriften Spuren einer expliziten Erinnerungstheologie finden lassen, den Fokus der Betrachtung bilden. Für das Neue Testament wird darüber hinaus die Auseinandersetzung mit dem Wortfeld Uberliejern [rrcxpcx8l8cufll / rrcxpa80ms] - Annehmen [rrcxpcxAcxfl~avcu] der weiteren Konturierung des Gedankengangs dienen, woraufhin schließlich nach dem Zusammenhang und der Verbindung beider Wortfelder gefragt werden soll. Diese methodische Selbstbeschränkung bringt es mit sich, dass nicht alle Stellen, die im indirekten oder übertragenen Sinn erinnerungskulturell bzw. erinnerungstheologisch gelesen werden können, im Folgenden zur Sprache kommen. In Anknüpfung an das Vorherige sollen jedoch die Gedanken, die Jan Assmann im Blick auf die Erinnerungslogik des Deuteronomiums bzw. des deuteronomisch-deuteronomistischen Denkens entwickelt, 'Hippolyt von Rom: Tractatus Contra Noet~ Cap. 9, PG 10, 815.

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5 Erinnerungstheologie im Alten Testament

den Ausgangspunkt der überlegungen bilden, um anschließend nach der Erinnerungstheologie des Deuteronomiums und dann schließlich anderer großer Traditionsströme des Alten Testaments zu fragen. Diese erinnerungstheologischen überlegungen bilden dann die Grundlage für die Betrachtungen im Blick auf das Neue Testament. Folgt man der Darstellung von Jan Assmann, so kennt das Alte Testament eine »Gründungslegende« 1 der» kollektive [n] oder kulturelle [n] Mnemotechnik« im Zusammenhang mit einer identitätsbedrohenden Krise im Zusammenhang des babylonischen Exils, dessen Ausgangslage sich im »Vergessen von Identität« (Assmann 1991:337) äußert. Deshalb ist es für Assmann die »aus der Exilserfahrung hervorgegangene Religion des Zweiten Tempels und dann natürlich des Judentums«, in der sich »Religion im Zustand ihrer Ausdifferenziertheit und kernhaften Verfestigung« zeigt (Assmann 1992:196). Diesen Entwicklungszusammenhang versteht er dabei geradezu als Erfindung der Religion, die in dieser Vorstellung die Halacha, also die »orthopraktische Heiligung des Lebens [... ], wie sie in den 613 Verboten und Geboten der Tora niedergelegt ist, mit einem besonderen Einzigartigkeitsbewußtsein« (Assmann 1992:197) verbindet. Dieses Erwählungsbewusstsein ist dabei für Assmann ganz wesentlich bundestheologisch fokussiert.

5.1 Der deuteronom isch-deuteronom istische

Erinnerungsimperativ In diesem Zusammenhang entstehe dann auch die besondere Geschichts- und Erinnerungsreflexion, die mit dem Buch Deuteronomium bzw. dem deuteronomistisch inspirierten exilischen Geschichtswerk verbunden ist und die die Narration des Bündnisvertrags Gottes mit Israel und die darauffolgende »Geschichte der Untreue, des Abfalls, des Rückfalls ins >Heidentum«< (Assmann 1991:337) liefert, um eine Atiologie der Katastrophe des Exils zu schaffen, in deren Perspek1

Das entspricht der :»Urszene« der Gedächtniskunst, die sich in der Anekdote des Dichters Simonides findet, der - so überliefert es Cicero - als einziger überlebender des Zusammenbruchs einer Festhalle allein dadurch, dass er sich die Sitzordnung eingeprägt hatte, in der Lage gewesen sei, alle Leichen zu identifizieren, was den Griindungsmythos der nmemotechnischen :»Verräumlichung der Erinnerung« bedeutet, die j>alle Daten in einem imaginären Raum anzuordnen und mit diesem Raumbild zusammen abzurufen« weiß (Assmann 1991:337). Ich zitiere hier und im Folgenden Assmann 1991; was jedoch wortgleich in Assmann 1992:215-228 aufgenommenist.

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5.1 Der deuteronomisch-deuteronomistische Erinnerungsimperativ

tive die »Drangsale und Schicksalsschläge der Vergangenheit und Gegenwart [... ] als göttliches Strafgericht offenbar« werden (Assmann 1991:338).

5.1.1 Die Kultreform Joschijas und die »Katastrophe des Vergessens«

Paradigmatisch wird dies für Assmann in der Erzählung von der Auffindung der Tora-Rolle [~l;n:] '1I12] (in 2Kön 22,3-20) unter König Joschija, den das zweite Buch der Könige im Gegensatz zu seinen Vorgängern und Nachfolgern dadurch charakterisiert, dass er »tat, was dem Herrn gefiel« (2Kön 2,2) und damit als legitimer Davidide ausgewiesen wird. Als Joschija sich das Buch vorlesen lässt auch das schon ein Akt kultureller Erinnerung, die das Verhalten in der Gegenwart prägen soll - ist er bestürzt. Daraufweist in erster Linie die im Deutschen nur unzureichend als »er zerriss seine Kleider« zu übersetzende Wendung lI'1p'l "ll:).-nl:l (V. 11) hin. Zwar ist es aus dem Zusammenhang hier wahrscheinlich, dass das Primärnomen »Kleid« '1:;) gemeint ist, jedoch bedeutet die Wurzel ursprünglich Untreue (im eherechtlichen Sinn) oder »Treulosigkeit« (Klopfenstein Art. 'l:1, THAT), was sich besonders gut in den Kontext einpasst. Die Bußgeste des Zerreißens der Kleider wird hier in den Zusammenhang der Scham aufgrund der Bundes-Untreue des Volkes gestellt, das der König vertritt. Es ist die kulturell vermittelte Erinnerung (das Verlesen des Bundesdokuments), das zum Auslöser für eine Verhaltensänderung des Volkes wird. Die Tora-Rolle ist in der Deutung von Assmann in einer »Situation der Katastrophe und des totalen Vergessens [... ] das einzige Zeugnis der vergessenen und unkennbar gewordenen Identität« (Assmann 1991:338). Hinter dieser narrativen Verarbeitung von Katastrophe, verlorener und wiedergefundener Erinnerung steht für Assmann dann aber nicht ein einzelnes Geschehen, sondern ein ganzer Ereigniszusammenhang, dessen Stufen er mit dem Untergang des Nordreichs (722 v. Chr.), dem erstarkenden assyrischen Druck unter ]oschija (612 v. Chr.), der Zerstörung des ]erusalemer Tempels und der Deportation (587 v. Chr.), schließlich der Durchsetzung des deuteronomistischen Religionsverständnisses (in der Perserzeit) und dem Widerstand gegen den Hellenismus und schließlich die römische Belagerung zu fassen versucht (vgl. Assmann 1992:200)2 2

Hier zeigt sich allerdings bei Assmann eine in seinem Konzept häufig auftretende Vereinfachung, weil dieser durchaus komplexe historische Zusammenhang unter eine einzige (einfache) Erinnerungslogik subsumiert wird.

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5 Erinnerungstheologie im Alten Testament

Der ganze Ereigniszusammenhang bedinge dabei die Entstehung des deuteronomistisch inspirierten Geschichtswerks, das sich wiederum als »Kodifikation einer Erinnerungsarbeit« (Assmann 1991:338) verstehen lässt. Es ist für Assmann also durch die Katastrophenerfahrungen des Volkes Israel und die geradezu unwiederbringliche Vergangenheit der Autonomie und Souveränität des Volkes bedingt, dass eine neue Identitätskonstruktion in Form von kontrapräsentischer Erinnerung (vgl. zu dem Begriff Theißen 1988 und ferner Theißen 2014: 178-185 sowie den Verweis bei Assmann 1991:349) die Komposition bzw. Endredaktion des deuteronomistischen Geschichtswerks prägt, was schon dadurch zum Ausdruck kommt, dass »Motive des Vergessens und Erinnerns hier eine geradezu leitmotivische Rolle spielen« (Assmann 1991:338). Wiewohl dieser Beobachtung ausdrücklich zuzustimmen ist, muss doch hinzugefügt werden, dass die (kulturwissenschaftliche) Perspektive Assmanns zu einer reduktionistischen und einseitigen Betrachtung der Erinnerungstheologie des Alten Testaments führt. Assmann liest die Theologie eben nicht theologisch in der narrativen Verwendung des gegenseitigen Erinnerns zwischen Gott und seinem Volk, sondern verkürzt sie zu einem einseitigen (kulturellen) Erinnerungsimperativ. 5.1.2 Der Exodus als Erinnerungsfigur

Es ist die Erinnerungsfigur des Exodus, die eine Zentralbedeutung erhält und zwar deshalb, weil alle Identitätselemente des späteren Israel »in diesem Identitätsstiftungsakt präfiguriert« sind (Assmann 1992:201). Assmann denkt dabei insbesondere an die Situation der Diaspora und Minderheit, der Unterdrückung und des Widerstands gegen eine privilegierte Kultur, »vor allem aber die Figuren der >Befreiung< und der >Extraterritorialität«< (Assmann 1992:201). Als solche Erinnerungsfigur bietet sich die Exodus-Erzählung an, obwohl und gerade weil sie nicht in dem von Assmann skizzierten Ereigniszusammenhang ver ortet ist und die Historizität des Exodus äußerst umstritten ist. Nicht die Historizität, sondern die »Bedeutung dieser Geschichte in der israelitischen Rückerinnerung« (Assmann 1992:202) wird entscheidend. Als Trägerin dieser Dynamik kommt für Assmann die Jahwe-allein-Partei in Betracht, als deren zentrale Schrift er das Deuteronomium versteht (vgl. Assmann 1992:204) und die sich wesentlich für Monolatrie Jhwhs und Monotheismus einsetzt. Die Ursprünge dieser Bewegung lassen sich laut Assmann schon im 9. Jahrhundert unter KönigJoschafat und in der Auseinandersetzung mit den Baals-Priestern erkennen. Die Jahwe-allein-Partei sei »anfänglich [eine 1kleine

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5.1 Der deuteronomisch-deuteronomistische Erinnerungsimperativ

Gruppe von Dissidenten« gewesen, die jedoch im Rahmen des oben schon skizzierten umfassenden Ereigniszusammenhangs zur »Trägerin der monotheistischen Religion« wurde (Assmann 1992:202). Im Zuge der sich verstärkenden staatlichen und religiösen Heteronomie (zunächst durch die Assyrer und später die BabyIonier), die als »Konfrontation mit einer als überlegen oder sonstwie bedrohlich empfundenen Kultur« erschien, wurde von dieser Dissidenten-Gruppe »ein Zaun gezogen [... ] um die überlieferung und damit um die Identität«, wodurch es zu einer folgenreichen »Dissoziation von Religion, Kultur und politischer Herrschaft« gekommen ist (Assmann 1992:205). Mit dieser kontrapräsentisch fokussierten Gegenerinnerung, die ihren Niederschlag und Nachhall im deuteronomistischen Denken findet, wird nun zur Identitätswahrung von den einzelnen Mitgliedern dieser zunächst kleinen Erinnerungsgemeinschaft eine strikte Einhaltung der Gesetzesvorschriften und die Form eines »unaufhörlichen Lernens und Bewußthaltens« eingefordert (Assmann 1992:206). Bei einer derart strikten Form der Gesetzesobservanz handelt es sich im Kern um eine »professionelle Kunst, die sonst nur Spezialisten obliegt, die sich um nichts anderes zu kümmern haben, nämlich um ein Repertoire hochkomplexer priesterlicher Tabus und Reinheitsvorschriften« (Assmann 1992:206). Das Eigentümliche dieser ]ahwe-allein-Bewegung liegt mithin darin, dass sie gewissermaßen eine Demokratisierung des kulturellen Erinnerns zu etablieren sucht und insofern die gewöhnlichen Strukturen kultureller Erinnerung umkehrt, die in der Antike in den Händen staatlicher und religiöser Experten lag (vgl. dazu 4.2.4.2, S. 165-165).

5.1.3 Babyion isches Exi I und Perserzeit als Katalysatoren deuteronomistischen Denkens

Vieles spreche - so Assmann - dafür, dass dieser Impuls der kulturellen Abschottung und der Gegenerinnerung erst in einem nicht mehr intakten staatlichen Gefüge erfolgversprechend sein konnte und sich daher gerade im Kontext des babylonischen Exils, »in nun wirklich fremdem kulturellem Kontext, abgetrennt vom heimatlichen Königtum und Opferkult und damit von jeder religiösen Deutungskonkurrenz«, die Anschauungen der »]ahwe-allein-Bewegung« durchsetzen konnten, weil sie im deuteronomistischen Deutungsmuster die Ereignisse als vollumfängliche Bestätigung ihrer Unheilsprophezeiungen darstellen konnten (Assmann 1992:207). Die »Mauer um überlieferung und Identität«,

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5 Erinnerungstheologie im Alten Testament

anfänglich das Merkmal einer gewissermaßen fundamentalistischen Dissidentengruppe, wurde in diesem Kontext zum »Schutzwall, so daß diese als einzige der zahllosen von den Assyrern und BabyIoniern deportierten Volksgruppen ihre Identität über 50 Jahre bewahren und nach dem Machtwechsel 537 nach Palästina zurückkehren konnte« (Assmann 1992:207). Nach der Rückkehr der Exilanten verhalfen gerade die günstigen Verhältnisse der Perserzeit 3 dazu, dass die Kanonbildung des Pentateuch geradezu »im Auftrag der Perser« (Assmann 1992:208) vorangetrieben werden konnte. In diesem Zusammenhang vollzieht sich auch ein zentraler Wandel der Erinnerungsträger: Im »entpolitisierten Raum der Provinz Jehud« tritt an die Stelle des Propheten, der gerade »im Auftrage Jahwes zu König und Volk« geredet hatte und damit in die je konkrete Gegenwart hinein in eminent politischer Weise und innerhalb eines umfassenden mündlich memorierten und tradierten Traditionsstroms den Willen Gottes vermittelte, das Amt des Schriftgelehrten, »der die überlieferung kodifiziert, kanonisiert und auslegt« (Assmann 1992:208). In der gegenüber der Vor-Exilszeit völlig veränderten sozialen und kulturellen Situation wird also die zunehmend kodifizierte Erinnerung durch einen erneuerten erinnerungshermeneutischen Zugang und neue »Experten« übernommen. Was bleibt ist so Assmann - der kontrapräsentische Fokus der Erinnerung und insbesondere ihr imperativischer Charakter, der der Identitätswahrung in veränderten Zeit bedingungen dient. Die Schriftgelehrten (Pharisäer) setzten dabei andere erinnerungskulturelle Akzente als die Priester 4 . Neben diesen neuen professionellen Trägern des kulturellen Gedächtnisses bleibt nämlich die Universalisierung der Erinnerungsverpflichtung ein zentrales Charakteristikum des deuteronomistischen Denkens, So bestand etwa die zentrale Strategie der Herrschaftskonsolidierung der Perser darin, dass sie sich :»zum besonderen Anwalt und Hüter der lokalen Tradition machte[n]« (Assmann 1992:207). Zu der trotz und angesichts der Unsicherheiten der Deutung des 4. vorchristlichen Jahrhunderts breit geteilten Einschätzung der Perserzeit als »Geburtsstunde« des Judentums vgl. auch Frevel 2012:823, der damit eine Formulierung von Donner 2008:431 aufnimmt. 4 hn sehr großzügigen Blick auf die weitere Geschichte und die finale »Durchsetzung« des rabbinischen - also auf die Schriftgelehrten zurückgehenden - Judentums im Anschluss an die Zerstörung des zweiten Jerusalemer Tempels (70 n. Chr.) lässt Assmann die Perspektive der Priester und der priesterschriftlichen Tradition hier vorschnell außer Acht. Es gilt nämlich zu beachten, dass gerade diese priesterschriftliche Perspektive genauso erirmerungskulturelle Elemente übernimmt, sie aber weniger imperativisch fokussiert. Die deuteronomistische Schule lässt sich adäquat eben nur als eine Schule unter anderen verstehen, wiewohl sie gerade in die Pentateuchredaktion eine starke theologische Perspektive eingebracht hat (vgl. Römer, Art. :»Deuteronomismus«, WiBiLex).

3

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5.1 Der deuteronomisch-deuteronomistische Erinnerungsimperativ

greifbar etwa in der zentralen Rolle, die die Weitergabe im (groß)familiären Kontext spielt, die mit der Spanne von drei Generationen (vgl. etwa Dtn 4,9.25 und 6,2) angegeben wird (vgl. Gärtner 2012:276f.), oder auch in der hervorgehobenen Verwendung des Wortfeldes >>lernen/lehren« [i7.1~] (Gärtner 2012:277), die gerade diesen imperativischen und universalen Charakter noch einmal deutlich unterstreicht.

5.1.4 Das Deuteronomium als Gründungstext religiöser Eri nnerungskultur

Indem sich im perserzeitlichen Israel unter wesentlich deuteronomistischem Einfluss die >,Religion zu einer wirklichen Alternative kollektiver Identitätsfundierung verfestigt und ausdifferenziert«, war damit eine neue Grundlage für das israelisch-jüdische Selbstverständnis als Volk, »das seine Abgrenzung nach außen und seinen Zusammen schluß nach innen vollkommen unabhängig von politischen und territorialen Bindungen definierte, nämlich allein durch die Bindung an >das Gesetz und die Propheten«< (Assmann 1992:209) gelegt. Insofern findet sich für Assmann im Buch Deuteronomium der »Gründungstext einer [neuartigen] Form kollektiver Mnemotechnik«, die »mit einer neuen Form von Religion zugleich auch eine neue Form kultureller Erinnerung und Identität fundierte« (Assmann 1992:212). Charakteristisch ist hier für Assmann, dass die Leser und Adressaten des Buches als Augenzeugen bezeichnet werden, die »die Wunder und Zeichen des Auszugs mit eigenen Augen gesehen, am eigenen Leibe erlebt, in der eigenen Lebensgeschichte erfahren« haben und von dieser Erfahrung her - als Zeugen - die besondere Verantwortung der Bewahrung und Weitergabe dieses Zeugnisses besitzen (Assmann 1991:339). Hierin zeigt sich in erinnerungstheoretischer Perspektive gerade diese erinnerungskulturelle Transformation mit der universalisierten Verpflichtung der Trägerinnen und Träger des Gedächtnisses. Dass sich das Deuteronomium gerade dieser Transformation verpflichtet sieht, zeigt sich für Assmann insbesondere darin, dass ihre Kristallisation im Text des Schema Jisrael (Dtn. 6) sich formal als Kompendium von Mnemotechniken lesen lässt.

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5 Erinnerungstheologie im Alten Testament

5.1.5 Das Sch;}ma Jisrael (Dtn 6) als Paradigma deuteronomistischer Mnemotechnik In der bereits skizzierten gesellschaftlichen Veränderungssituation bedarf es auch einer Transformation der kulturellen Erinnerung. Dafür bietet der Text des Schema Jisrael »acht verschiedene Verfahren kulturell geformter Erinnerung.« (Assmann 1991:339). Die Formen dieser kulturellen Transformation der Erinnerung sind für Assmann: Bewusstmachung, Beherzigung (vgl. Dtn 6,6 und 11,8), Erziehung in intergenerationeller Kommunikation (vgl. Dln 6,7 und 11,20), Sichtbarmachung/Körpermarkierung (vgl. Dln 6,8 und 11,18), limitische Symbolik (vgl. Dln 6,9 und 11,21), Veröffentlichung (vgl. Dln 27,2-8), Schaffung von Festen kollektiver Erinnerung, wobei er besonders an die drei Wallfahrtsfeste denkt (vgl. Dln 16,3, Dln 16,12 und 31,9-13), mündliche Uberlieferung (vgl. Dln 31,20-22) sowie die Kanonisierung des Vertragstextes »als Grundlage >buchstäblicher< Einhaltung« (Assmann 1991:341; vgl. zum gesamten Assmann 1991:339-342). Entscheidende Bedeutung erhält dabei insbesondere die letzte Form als »Eingriff in die Tradition, der die in ständigem Fluß befindliche Fülle der überlieferungen einer strengen Auswahl unterwirft, das Ausgewählte kernhaft verfestigt und sakralisiert, [... ] und den Traditionsstrom ein für allemal stillstellt«, bei dem aus dem Vertrag der Kanon wird (Assmann 1991:341). Diese Kodifikation der Erinnerung ist deshalb wichtig, weil ein umfassendes Vergessen eingesetzt hat, das »bedingt [wird] durch Rahmenwechsel, durch die völlige Veränderung der Lebensbedingungen und sozialen Verhältnisse« (Assmann 1991:345). Anhand einschlägiger theologisch-exegetischer ForschungenS zum Deuteronomium und zum deuteronomistisch inspirierten Geschichtswerk' kann diese hauptsächlich formale Bestimmung Jan Assmanns noch etwas genauer auch theologisch-inhaltlich profiliert werden. In der Tat beschäftigt die Frage, inwieweit das Exodus-Paradigma das prägende Motiv des deuteronomistischen Denken ist bzw. ob und wie es als Motiv insbesondere in der Exilserfahrung prägend für die Endredaktion des deuteronomistisch inspirierten exilischen Geschichtswerks geworden ist (vgl. Lohfink 5 Assmann

selbst grenzt seinen Zugang zum Deuteronomium und zum Deuteronomismus von theologischen oder religions geschichtlichen Fragestellungen ganz programmatisch ab und will diesen »GrundtextD der jüdischen und der christlichen Religion unter einem rein kulturtheoretischen Gesichtspunkt lesen« (Assmann 1992:212) und seine Ausführungen auch so verstanden wissen. 6 Eine übersicht über die einschlägigen Positionen liefert vgl. Braulik 2006:195-200.

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5.1 Der deuteronomisch-deuteronomistische Erinnerungsimperativ

1991:101), die alttestamentliche Exegese. Die Positionen dazu sind vielfältig. Am Anfang steht dabei in der Regel die Beobachtung, "daß die Geschichte Israels in den uns zur Verfügung stehenden biblischen Schriften oft vom Exodus, [und] nicht von den Patriarchen her entworfen wird« (Lohfink 1991:101). Es lassen sich jedoch eine ganze Reihe ganz unterschiedlicher von deuteronomistischem Denken geprägter Perspektiven ausmachen, die als eigene deuteronomistisch geprägte Werke als Vorlagen für die umfassende Geschichtsdarstellung dienten. So kann man »im historischen Vorfeld der uns erhaltenen biblischen Literatur« sowohl mit verschiedenen »mündlich oder auch schon literarisch verbreiteten Landverheißungstraditionen rechnen« (Lohfink 1991:100; Hervorh. AJ), die zunächst unabhängig vom deuteronomistischen Gesetzeswerk, der in 2Kön 22 genannten, narrativ der RegierungszeitJoschija zugeschriebenen und dort so bezeichneten Tora-Rolle [~l;n:] '1I12], waren. Dieses joschijanische Deuteronomium war »wohl noch reines Gesetz ohne narrative Einbettung« , das »als Jahwewort, nicht als Moserede« auftrat, und hatte »ein Exodus-Israel vor Augen«, während »[v]on einer Gesetzgebung am Horeb [... ] noch keine Rede« war (Lohfink 1991:102). Erst im sogenannten deuteronomistischen Deuteronomium wurde schließlich »ein Israel entworfen, dessen Geschichte schon mit diesen Vorfahren begann«, womit sich hauptsächlich die identitätsgarantierende Funktion des Exodus-Narrativ verschiebt und aus dem »Exodus-Israel« ein »Patriarchen-Israel« macht, während theologisch gesprochen die eigentliche Verschiebung darin besteht, dass Israels Identität nunmehr ganz vom Horeb her und damit durch die Gabe des Gesetzes bestimmt wird. Das wird im Deuteronomium dadurch zum Ausdruck gebracht, dass (im idealtypischen Verständnis, dass das ganze Deuteronomium am Todestag des Mose spielt) die »diesem Zeitpunkt vorausliegende Geschehenskette zwischen Horeb und Moab von Mose selbst innerhalb der Erzählung nachholend erzählt werden muß« (Lohfink 1991:104). Stärker noch als der Erinnerungsimperativ des Schema Jisrael, der ja seinerseits auch eingebettet ist in die rekapitulierende Narration des Zuges vom Horeb ins Ostjordanland und von daher tatsächlich als mnemotechnische Ver gewisserung der Horeb-Gesetzgebung erscheint (Dln 5-28), prägt die Horeb-Erfahrung den Zugang zum Deuteronomium. Auch hier steht also nicht an erster Stelle der Imperativ des Erinnerns, dieser folgt vielmehr auf den deuteronornisehen Dekalog (Dln 5), der im Text deutlich zunächst als Horeb-Bund [J']i1:). n',:).] qualifiziert wird. Es ist dieser Bund, den das Deuteronomium nicht als historische Erinnerung an etwas Abgeschlossenes versteht, sondern der in der Wieder-

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5 Erinnerungstheologie im Alten Testament holung an der Schwelle zum gelobten Land aktualisiert wird. Es ist ein Bund, der »mit uns« (V. 2) - dann stärker noch durch das »nicht mit den Vätern, sondern heute mit uns« (V. 3) - geschlossen wird. In dieser Perspektive durchdringen sich also hier die Zeitperspektiven und das Geschehen am Horeb wird an einer entscheidenden Schwelle in der Geschichte Israels noch einmal erneuert. Es ist der große Versammlungstag [~~p~ C1'] am Horeb, der den deuteronomischen Dekalog rahmt (vgl. die Wendung C;)7:]i?-~f in V. 22) und »von dem her das Israel des Deuteronomiums existiert« (Lohfink 1991:104). Und so lässt sich »die jetzige mosaische Fiktion des dtn Gesetzes kaum erklären, wenn dieses nicht in engem Konnex zum Gottesgesetz des Sinai gesehen wird« (Schmid 2004:200). Das Deuteronomium überliefert in der narrativen Gesamtperspektive des Buches »Gesetzesmaterial«, das Mose »zuvor, seit Ex 20, am Gottesberg seinerseits von Gott erhalten, aber bislang nicht weiterüberliefert hat« (Schmid 2004:199). Der wiederholte Dekalog (in Dln 5) nimmt dabei im Blick auf die Bücher GenNum eine wichtige Funktion ein. Soweit das Deuteronomium als ganzes in seinem Selbstverständnis als »mosaische Auslegung des göttlichen Sinaigesetzes« gelesen werden will, wird ihre übereinstimmung bzw. »Gleichsinnigkeit durch die beiden Dekaloge gesichert« (Schmid 2004:201). Deswegen entfaltet »[d]er jetzige narrative Ablauf [... ] nichts anderes als die tatsächlichen Entstehungsbedingungen« des Deuteronomium, das »als Reformulierung des Bundesbuchs unter der Leitidee der Kultzentralisation konzipiert worden ist« (Schmid 2004:201).

5.1.6 Bundestheologie und die Spuren altorientalischer Vasallenverträge

Interessant ist dabei die häufig vertretene These, dass die Struktur des angenommenen (joschijanischen) Ur-Deuteronomiums (als reine Gesetzessammlung) ohne den narrativen Mose-Rahmen (Dln 5-28) nach dem Vorbild eines hethitischen Vasallenvertrags gestaltet worden sei. Das ließe sich vor allem an der Makro-Struktur des Deuteronomiums erkennen. Verschiedene Forschungen7 7

Dabei wurden im Laufe der Forschungsgeschichte unterschiedliche Positionen vertreten. Insbesondere im Rahmen der Entdeckung der hethitischen Staats- und Vasallenverträge wurden übereinstimmungen und Parallelen gerade mit den rekonstruierten, dem heutigen Deuteronomium und dem deuteronomistischen Geschichtswerk zugrunde liegenden Texten untersucht. Zwar lassen sich motivische Zusammenhänge zeigen und damit insbesondere, dass diese Form der Vasallenverträge im vorderen Orient schon seit hethitischer Zeit im alten Israel bekannt war. Damit lässt sich auch die Position Assmanns infrage stellen, wonach die erinnerungsim-

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5.1 Der deuteronomisch-deuteronomistische Erinnerungsimperativ

haben sich damit beschäftigt und kommen dabei - je nachdem von welcher Vorlage sie genau ausgehen (vgl. etwa Levinson 2012, ChristianseniDevicchi 2013 und ferner Rüterswörden, Art. »Bund (AT)«, WiBiLex) - zu unterschiedlichen Ergebnissen. Für den Zusammenhang dieser Arbeit ist die genaue Ursprünglichkeit weniger entscheidend. Vielmehr ist in erinnerungstheoretischer Perspektive interessant, wie sich an der kreativen Redaktion solcher Vertragsvorlagen durch die deuteronomistisch geprägten Bearbeiter der Umgang mit Traditionsvorgaben zeigt, die entsprechend der eigenen theologischer Intention transformiert werden. Dabei sind aus unserer fundamentaltheologischen Perspektive weniger die einzelnen formalen übereinstimmungen interessant, sondern die theologischen Akzentverschiebungen, die mit dieser Synthese von rechtlichem und religiösenstaatspolitischem Denken verbunden sind und die Implikationen, die dies hat. Eine interessante Spur ist dabei die Herkunft des in der deuteronomistischen und später auch in der priesterschriftlichen Theologie so prominent verwendeten Begriff des Bundes [n'-q]. Das Wort Bdrlt [n'"!f1wird innerhalb der deuteronomistischen Literatur, »soweit es sich auf etwas bezieht, das zwischen Jahwe und Israel spielt«, entweder 1) als »Jahwes gnädige Zusage an die Väter«8 oder 2) »auf die Horeboffenbarung bezogen« und dann konkret als Verweis auf den Dekalog9 oder schließlich 3) als »>Eid< verwendet, durch den Israel sich zum Halten des gesamten deuteronomischen Gesetzes verpflichtet (28,69a; 29, perativische Fokussierung des Deuteronomium bzw. der deuterononllstischen Theologie eine jüdische Neuerfindung als Antwort einzig auf die Krise des babylonischen Exils gewesen sei. In jedem Fall zeigt sich, j>dass bestimmte Traditionen über weite Strecken in Raum und Zeit wandernkönnen, wobei sie häufig umfassenden Transfonnationsprozessen unterzogen und bisweilen in gänzlich andere Kontexte überführt werden« (Christiansen/Devicchi 2013:80). Es werde dabei etwa das durch den Subordinationsvertrag hergestellte Verhältnis zwischen den Herrschern zweier Staaten ,>auf das Verhältnis zwischen dem israelitischen Gott und seinem Volk« (ChristianseniDevicchi 2013:80) übertragen. Die textwissenschaftlichen Forschungen machen es in jedem Fall wahrscheinlich, dass j>die biblische Bundestheologie auf die gemeinaltorientalische Praxis rekurriert, zwischen- und innerstaatliche Beziehungen rechtspolitisch durch das Aufstellen bestimmter Verpflichtungsklauseln zu regeln und deren Befolgung durch einen Eid zu sichern« (ChristianseniDevicchi 2013:80). 8 Als gnädige Zusage an die Väter steht es in Dtn 4,31; 7,9.12; 8,18 (vgl. Gräbe 1997a:211). 9 hn Zusammenhang mit Dekalog und Horeb-Offenbarung steht n"!~ entweder positiv (in Dtn 4,13; 5,2.3; 9,9.11.15; 10,8; 28,69b; 31,9.25.26) oder im Sinne der Verletzung des Bundes (in Dtn 4,23; 17,2; 29,24; 31,16.20). Dieser Bundesbruch kann - und das ist für unseren erinnerungstheoretischen Zusammenhang interessant - entweder durch Ubertreten ['J17] (vgl. Dtn 17,2), Verlassen [JT17] (in Dtn 29,24) oder Brechen [,,~] (vgl. Dtn 31,16.20) und schließlich auch durch Vergessen [n,w] (Vgl. Dln 4, 23) geschehen (vgl. Gräbe 1997a,211).

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5 Erinnerungstheologie im Alten Testament

8.11.13.20)« (Gräbe 1997a:21lf.). Die Kundgabe der Rult ist dabei - was zu unseren Betrachtungen zur Einleitung des Dekalogs passt - insbesondere mit zwei Orten verknüpft: »(1) mit dem Horeb und (2) mit dem Land Moab« (Kutsch Art. n":l, THAT). Sowohl der Gebrauch als gnädige Zusage an die Väter als auch die Referenz auf den Dekalog scheinen »nicht mit Sicherheit original deuteronomischldeuteronomistisch zu sein«, während der Gebrauch im rituell-zeremoniellen Kontext im Sinne eines Eides »in direkter Analogie zu der profanen, zwischenmenschlichen Verwendung des Wortes n',:). [steht,] die aus anderen Literaturbereichen« und auch »aus dem deuteronomistischen Geschichtswerk selbst bekannt ist« (Gräbe 1997a:212). Bei der Verwendung in Bezug auf den Dekalog handelt es sich also wohl »um einen abgeleiteten Sondergebrauch des Wortes« (Gräbe 1997a:212). Es fällt also in theologischer Perspektive auf, dass im Deuteronomium eine durchgehende Theologisierung stattfindet, insofern »das Verhältnis zu Jahwe in allen diesen Kontexten eine entscheidende Rolle spielt« (Gräbe 1997a:214). Es ist also das Gottesverhältnis, das die theologische Mitte der deuteronomischen Bundestheologie bildet (vgl. Gräbe 1997a:215). Aus etymologischer Sicht kann man n',:). im Sinne von Bindung gerade vor dem juristischen Hintergrund der »Vertragsterminologie des Alten Orients« verstehen (vgl. Rüterswörden, Art. »Bund (AT)«, WiBiLex). Der Ausdruck, der »schon vor israelitisch im kanaanäischen Bereich geläufig war« und von dem eine Pluralform nicht belegt ist, besitzt jedoch eine Ausschließlichkeit, eine Gegenseitigkeit und eine Verbindlichkeit (vgl. Rüterswörden, Art. »Bund (AT)«, WiBiLex), die den Rahmen dieser juristisch-juridischen Engführung überschreiten. Bont [n',:).] darf nicht so verstanden werden, dass damit eine radikale Einseitigkeit der Beziehung gemeint wäre, die Menschen einseitig an einen Erinnerungsimperativ bindet. Gerade die als ursprünglich erachtete Bedeutung »Eid« weist auf ein Geschehen hin, das die jeweiligen Vertragspartner nicht nur in ein durch einen Vertragstext gesichertes Verhältnis setzt. Vielmehr meint das Wort eher eine (gegenseitige) »>BestimmungVerpflichtungZusage< von der Erfüllung bestimmter Bedingungen« und der »Bewahrung seiner berlt »Verpflichtung« (Ex 19, 5; vgl. Ps 132,

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5.1 Der deuteronomisch-deuteronomistische Erinnerungsimperativ

12) abhängig machen«, der Mensch aber >,kann nicht durch die Erfüllung dieser Bedingungen Gott zur Einhaltung seiner Zusage verpflichten« (Kutsch Art. n":1, THAT). Insofern kann man Bund im Sinne einer »Zugehörigkeitsformel« verstehen: »sie dient dazu, bindende Personenverhältnisse durch förmliche Erklärung rechtskräftig zu machen, wie die Adoption [... ], die Eheschließung [... ], und ein dauerndes Dienstverhältnis [... ]« (Levin 2004:255). Das bedeutet aber eben keine ausschließlich juristische Komponente, sondern ein ganzheitliches Involviert-Sein der Vertragspartner. Es ist also vom lexikalischen Befund her nicht so, dass eine möglichst exakte Einhaltung der Erinnerungsverpflichtungen das Verhalten Gottes beeinflussen könnte, vielmehr liegt in dieser asymmetrischen Grundkonstitution des Bundes auch ein theologisches Argument gegen die einfache Umkehrung des Tun-Ergehen-Zusammenhangs. Diese Vorstellung von konnektiver Gerechtigkeit (vgl. dazu unter 5.4.2, S. 243) und der Bdrlt zeigen dann natürlich, dass sich die Denkform eines hethitischen oder wahrscheinlich eher neuassyrischen Vasallenvertrags insbesondere deshalb anbietet, weil in ihr schon ein solches Gefälle angelegt ist. Mit der übernahme dieser keilschriftrechtlich präfigurierten Vorstellung der Bdrlt wird in der Zeit gesellschaftlicher Heteronomie die »Gottesbeziehung nach dem Muster des Vasallenvertrags« verstanden, was »kein neues Gottesverhältnis begründen [soll], sondern die überlieferte ]ahwe-Religion unter einschneidend geänderten Voraussetzungen lebendig erhalten und wiedergewinnen« (Levin 2004:255) will. Gleichzeitig bot dieses Denkmuster nach dem Ende der Davididen nicht nur die Möglichkeit »das Gottesverhältnis unter veränderten Bedingungen weiterzuführen«, sondern gleichzeitig auch einen »Schlüssel zur Deutung der im Untergang geendeten Geschichte, die sich nunmehr als Folge des gebrochenen Bundes verstand« (Levin 2004:257f). Das deuteronomistisch inspirierte exilische Geschichtswerk und der Pentateuch wurden schließlich im Kontext der Erfahrung des Exils »in diesem Sinne überarbeitet, ebenso die Bücher der Propheten« (Levin 2004:257f.). Erst in der Folge dieser Redaktion wird das alttestamentliche Gesetz zum Maßstab des Bundes, »bis am Ende >Bund< (n',:).) und >Gesetz< (~l;n) so gut wie deckungsgleich wurden« (Levin 2004:258). Während sich zu den hethitischen Vasallenverträgen nur sehr vage Parallelen aufzeigen lassen, haben etwa Hans Ulrich Steymans und Eckart Otto in »neuassyrische Verträge, vor allem d[er] Vereidigung unter Asarhaddon, das Modell für eine Version des Deuteronomiums« erkannt, »die aus Teilen des jetzigen Textes von Dtn 13 und Dtn 28 bestand« (Rüterswörden, Art. »Bund (AT)«, Wi-

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BiLex). Otto will dabei eine »wörtliche Rezeption des assyrischen Loyalitätseides« erkennen und mithin einen »subversiven Charakter, denn sie entzieht mit der übertragung der Loyalitätsforderung auf Jahwe dem assyrischen Großkönig die Legitimation seiner Herrschaft« (Rüterswörden, Art. »Bund (AT)«, WiBiLex), womit das Moment der Monolatrie Jhwhs bzw. des Monotheismus (die Forderung des ersten Gebots des Dekalogs) als eines der zentralen Grundanliegen deuteronomistischer Theologie dann schon in neuassyrischer Zeit (also vorexilisch) in diesem Texten greifbar wäre. Ob es sich - wie Otto behauptet - hier um eine wörtliche übernahme handelt oder eher eine kreative Verarbeitung der Vorlage geschieht, ist für unseren Gedankengang weniger ausschlaggebend. Entscheidend ist auch hier die theologische Verwendung. Der »Treueeid, der von den neuassyrischen Monarchen ihren Vasallen und Bürgern auferlegt wurde«, wird dabei zur »Vorlage für Gesetze, die sich gegen die Untreue gegenüber JHWH, dem eigentlichen >Herrscher< Judas«, richten (Levinson 2012:40). In diesem Neubearbeitungsprozess wird der Text also von einem »Instrument des neuassyrischen Imperialismus, verwandelt durch die judäischen Autoren des Deuteronomiums«, zum »Versuch der Befreiung von der imperialistischen Herrschaft« (Levinson 2012:40f.). Es handelt sich also bei dieser kreativen (oder gar ironischen) Neubearbeitung und Re-Kontextualisierung sowohl um einen Akt der Akkulturation (an die herrschende assyrische Rechtskultur) als auch gleichzeitig um einen subversiven Akt der Identitätsrekonstruktion bzw. Identitätsbehauptung. Obwohl diese Argumentation grundsätzlich gut mit den erinnerungstheoretischen überlegungen von Assmann vereinbar ist, so zeigen sich darin doch auch Zweifel an der Ausschließlichkeit der Bedeutung der Katastrophe des Exils für die Erinnerungsrekonstruktion. Vielmehr entwickeln sich anscheinend von einer deuteronomistisch inspirierten Gruppe - oder in der Terminologie Assmanns einer »Jahwe-allein-Partei« - in verschiedenen Stufen und in deutlicher Auseinandersetzung und nicht ausschließlicher (fundamentalistischer) Absetzungvon den umliegenden und also dominant und heteronom erlebten Kulturen neue und kreative Formen der Jhwh-Erinnerung. Wobei sich die erste Stufe dieser Texte schon in vorexilischer (neuassyrischer Zeit) zeigt. Dahinter steht wohl auch nicht ausschließlich die eine Motivation der Durchsetzung des Monotheismus. Auch hier gilt es zu differenzieren. In neuassyrischer Zeit und im Rahmen der joschijanischen Kultreform steht eher die Kultzentralisation im Vordergrund, die »Beschränkungen aller Opfergottesdienste für Gott auflerusalem und die Entfernung fremder Elemente aus dem Kultus«, was »einen wichtigen

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5.1 Der deuteronomisch-deuteronomistische Erinnerungsimperativ

Versuch zur Erhaltung der kulturellen, politischen und religiösen Autonomie« darstellt (Levinson 2012:39). Dieser Idee des Kultzentralismus diente wohl das ursprüngliche Deuteronomium und damit der Idee, "die judäische Kultur und religiöse Integrität zu bewahren« (Levinson 2012:39). Durch die »Vorschaltung des Dekalogs Dtn 5,5 avancierte dann auch in den erzählenden Büchern das Erste Gebot zum Beurteilungskriterium« und schließlich »wurde das Dtn Bestandteil der Tora und es galt, diese insgesamt zu halten« (Schmid 2004:204f.). Das Wachstum des Deuteronomium steht also mit der Veränderung dieser Perspektive im Zusammenhang (vgl. dazu auch Levin 2004:247-253). Die Rede von einem (einzigen) vorexilischen deuteronomischen Geschichtswerk ist deshalb irreführend, sie ist vielmehr »nur im Plural richtig« (Schmid 2004:209f.). Eher als mit einer konkreten Kanonisierung eines (deuteronomistischen) Pentateuch durch eine im Zuge des Exils zur Bedeutung gekommenen ]ahwe-alleinPartei, muss sowohl für die vorexilische und insbesondere für die exilische und nachexilische Zeit vielmehr mit einer Pluralität unterschiedlicher theologischer Gruppierungen - oder in der Terminologie ]an Assmanns »Erinnerungsgemeinschaften« - gerechnet werden. Die unterschiedlichen Interessen dieser Erinnerungsgruppen sind dann in die Schaffung eines von deuteronomischem Denken geprägten Geschichtswerks und schließlich des durch eine Pluralität theologischer Positionen geprägten Pentateuch eingegangen. So lässt sich sowohl am Pentateuch als auch an den Prophetischen Schriften zeigen, »daß dies nicht reine Binnendiskurse in den Schulen waren, sondern durchaus die priesterlichen und prophetischen Kreise sich kontrovers miteinander auseinandersetzten, eine Auseinandersetzung, die schon vorexilische Wurzeln hatte« (Otto 2009:561)10. Es lässt sich festhalten, dass die Ausschließlichkeit der »Katastrophe des Vergessens«, die Assmann als Ursprung der spezifisch deuteronomisch-deuteronomistisch geprägten jüdischen Erinnerungskultur ausmacht, insgesamt nicht überzeugen kann. Der Prozess der Traditionsbildung und Kanonisierung, der als Ausdruck verschiedener kommunikativer Gedächtnisse zu werten ist, ist 10

Hier und auch im Blick auf die Theorie vonJanAssmann gilt es insbesondere den Forschungskontext zu beachten. Für die Verhältnisbestimmung zwischen Prophetie (Schriftgelehrte) und Priestertum weist Eckart Otta auf die Rolle der ,>konfessionell aufgeladene Diskussion« hin, die ,>im ausgehenden 19. und frühen 20. jh. eine bis heute nachwirkende antijüdische und antikatholische Wendung in der protestantischen Alttestamentlichen Wissenschaft« hinterlassen hat (Otta 2009:567). Ebenso muss für Jan Assmann immer wieder der Kontext der Deutschen Erinnerungskultur und seines sehr stark imperativischen Verständnisses der kulturellen Erinnerung in Anschlag gebracht werden.

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5 Erinnerungstheologie im Alten Testament

wohl deutlich komplexer als Assmann es andeutet. Er ist nicht als ganzer ein Krisenphänomen gewesen - und so auch die »Kodifikation« nicht ausschließlich eine »Erinnerungsarbeit [... ], die vom Prinzip der Schuld geleitet ist« (Assmann 1991:338), vielmehr sind für die »Schließung der einzelnen Kanonteile ganz unterschiedliche Umstände in Anschlag zu bringen« (Grund 2007:53). Assmann ist diese Komplexität zwar grundsätzlich auch präsent l1 , in seiner Systematisierung tendiert er aber im Sinne einer imperativischen Erinnerungskultur stets gegen die Pluralität der Gedächtnisse, was mit Sicherheit in erster Linie mit den geistesgeschichtlichen Kontexten seines eigenen Theorie-Entwurfs!' zusammenhängt. Das verleiht seinem Verständnis des kulturellen Gedächtnisses als Gedächtnis einer konkreten Kultur zunehmend den Charakter einer »Theorie der kulturellen Arterhaltung« Qureit 2010:69; Hervorh. im Original). Dies wiederum überträgt er dann zurück auf die Systematisierung, hier konkret auf die deuteronomistischen Strömungen und die alttestamentliche Kanonentwicklung. Es gilt also hier in jedem Fall zu differenzieren. Während tatsächlich »die Kanonstabilisierung und die Kanonschließung des Pentateuch unter der Achämenidenherrschaft eher in einer Konsolidierungssituation« geschieht (worauf auch Assmann hinweist), so sind es für den Kanonteil der Propheten gerade nicht äußere, sondern innereAbgrenzungsbedürfnisse, so etwa »gegenüber einer anwachsenden, aber nicht unproblematischen Offenbarungsliteratur in spätpersischer und hellenistischer Zeit« (Grund 2007:53). Assmann unterliegt hier also einer Vereinfachungslogik, die die imperativische Erinnerungstheologie des Deuteronomium gewissermaßen zum Kern der jüdischen Bibel macht. Die darin liegende Intuition Assmanns, dass es sich bei dem Terminus der »Erinnerung« um einen theologischen Schlüsselbegriff sowohl für das Alte wie auch das Neue Testament 13 handelt, lässt sich jedoch auch über deuteronomischdeuteronomistisch geprägte Texte hinaus deutlich zeigen, wenn auch nicht in der imperativischen Form, die Assmann für so charakteristisch hält, sondern in Das gilt etwa wenn er schreibt, dass das kulturelle Gedächtnis »komplex, pluralistisch, labyrinthisch [ist], es [ ... ] eine Menge von in Zeit und Raum verschiedenen Bindungsgedächtnissen und Wir- Identitäten [umgreift] und [ ... ] aus diesen Spannungen und Widersprüchen seine Dynamik [bezieht]« (Assmann 2000:43). 12 Hier ist besonders der Zusammenhang mit der sogenannten j>deutschen Erinnerungskultur« im Nachkriegsdeutschland, insbesondere kurz nach der Deutschen Einheit in den 1990erjallTen in Anschlag zu bringen (vgl. dazu Jureit 2010:63-71). 13 Hierauf geht Assmann aus methodischen Gründen der Beschränkung auf die Erinnerungskultur Israels selbstverständlich nicht ein. 11

222

5.1 Der deuteronomisch-deuteronomistische Erinnerungsimperativ

Form eines weit ausgreifenden Erinnerungsdialogs zwischen Gott und Mensch. Spuren davon zeigen sich auch schon am Ende des Buches Deuteronomium seI bst.

5.1.7 Die prophetische Öffnung des Deuteronomium (Dtn 30,6) In seiner kanonischen Endgestalt ist das Deuteronomium auch insoweit ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis des gesamten Pentateuchs als »Mose in dieser nachexilischen Fortschreibung nicht nur als Lehrer und Ausleger des Gesetzes, sondern vor allem als Prophet, der Urtypus aller biblischen Prophetie sei, gezeichnet wird« (Otto 2014:141). Der Pentateuch erhält damit für die nachexilischen Adressaten eine Perspektive, die »in ihre Zeit der Erfahrung der Not und Rettung aus dem Exil spricht« (Otto 2014:141)14 Diese Perspektive scheint im Rahmen der Kanonwerdung auch ein »Kompromiss zwischen deuteronomistischer und priesterschriftlicher Prägung des Pentateuch« (Schmid 2014:269)15 zu sein. Damit hängt es auch zusammen, dass Mose am Ende des Deuteronomiums der Tendenz einer juristisch-juridischen Verengung des Bundes- und Erinnerungsverständnisses des Buches eine zukunftsoffene Hojfnungsperspektive entgegensetzt. Es ist dies die »prophetische[] Heilsankündigung in Dln 30,6, dass JHWH die Herzen beschneiden werde, so dass die Adressaten JHWH mit ganzem Herzen und ganzer Kraft lieben können« (Otto 2014:144). Im Bild der Beschneidung des Herzens (» Jhwh, dein Gott, wird dein Herz beschneiden« ["F).:t7-nl:l 1':::t~1:l ~p~ ~Tt1]; Dln 30,6) liegt eine interessante Ergänzung zum durchgängigen Erinnerungs-Imperativ der »Beherzigung« der Gebote - wörtlich sind es (im SchdmaJisrael, vgl. Dln 6,6) die »Worte, die ich [Gott] Von der (erneuerten) Bundes-Erfahrung vom Horeb her verpflichtet der deuterononllsche Mose die Leser des Geschichtswerks (im Rahmen des SchdmaJisrael, Dtn 6,4-9) zur memorierender Verinnerlichung: j>Die Leser des Geschichtswerks werden nämlich in 6,6-9 verpflichtet, ,diese Worte< [Mosetora in Dtn 5-28] auswendigzulernen und vom Aufstehen bis zum Schlafengehen, zu Hause und in der Offentlichkeit meditierend vor sich hin zu murmeln. In jedem Sabbatjahr soll nach 31,10-13 der gleiche Text am Herbstfest vor der vollen Versammlung Israels festlich proklamiert werden. Stärker kann man Israel wohl kaum zu einem Horeb- Israel machen« (Lohfink 1991:105). 15 Während im Deuteronomium »Mose zur Zentralgestalt der überlieferungsbildung« wird und die j>ganze Normativität der Tradition auf sich« zieht, wird mit Priesterschrift j>die Zentralstellung der mosaischen Kultgesetzgebung für immer festgeschrieben« und damit einer potenziellen prophetischen Aktualisierung entzogen (Schmid 2014:269). 14

223

5 Erinnerungstheologie im Alten Testament

dir heute befehle, sie seien auf deinem Herzen« ["P!/? ':;Ii~ ,t;!t\ ~?~:;r c":tl:] i':;rl "P:t7-~1I ci':]]. Wie die Beschneidung [~17.l] als Bundeszeichen des Abrahambundes (vgl. Gen 17) dient, so ist es in dieser Konstruktion des Deuteronomium Gott selbst, der das menschliche Herz durch den Beschneidungsakt zum Einhalten der Erinnerung befähigt. Das deuteronornisehe Leitmotiv des »Beherzigens« (vgl. Dln 6,6-9; 11,18-20; 30,11-14) wird hier also noch einmal theologisch überholt. Das gegenseitige Zu-Herzen-Nehmen bedeutet eine gegenseitige Verinnerlichung 16 des (Erinnerungs-)Geschehens, weil sich hinter dem Wort »Herz« [:1~] »vor allem das >Zentrum< der menschlichen Person, das ihre Gefühle und Wünsche, Gedanken und Handlungen von >innen< heraus steuert und bestimmt« (Krüger 2009b:l08), verbirgt. Gerade angesichts der vielen (einseitigen) Imperativformen des Erinnerns 17 liegt hier ein theologisches Korrektiv (vgl. dazu auch die Frage nach dem Kern des Bundesverständnisses, 5.3, S. 238f.). Die gegenseitige Verinnerlichung des Bundes und seiner Gebote ist dabei zwar auch imperativisch formuliert. Allerdings spricht der Text nicht von der Verpflichtung zu einer (gewissermaßen kasuistischen) Befolgung der Gebote und Gesetze, sondern eben vom Zu-Herzen-Nehmen (vgl. Dtn 30,1) der Worte und dem» Umkehren« [:11111] (V. 2), was die» >Wiederherstellung eines ursprünglichen Status< und zwar >im Sinne der Rückkehr in das ursprüngliche JahweverIn der hebräischen Bibel wird vom ,>Herzen« gesprochen, um j>verschiedene Teile oder Aspekte des Menschen zu unterscheiden - wie etwa seine Innen- und seine Außenseite, sein Zentrum und seine Peripherie, seine Vernunft und seine Affekte« (Krüger 2009a:94). Das Wort »Herz« [JJ?] kann :»aufgrund seiner Bedeutungsbreite in verschiedenen Texten zur Bezeichnung ganz unterschiedlicher Unterscheidungen im Menschen gebraucht werden« (Krüger 2009a:94). Deshalb liegt die anthropologische Bedeutung des Herzens im Alten Testament darin, j>dass das ,Herz< (oder das hmere der Brust) zu einem Bild für den ,inneren Menschen( werden konnte, das es den alten Israeliten möglich machte, sich in einer höchst differenzierten, komplexen und spannungsvollen Weise als Menschen zu verstehen« (Krüger 2009a:106). Herz ,>fungiert als Bezeichnung für sämtliche Schichten der Person - die vegetative, die emotionale, die kognitive und die voluntative Schicht« und bringt so im Alten Testament anthropologisch grundlegend ,>die Mehrschichtigkeit der Personstruktur« 0anowski 2015b:23) zur Sprache. Im Sirme der Vorstellung einer relationalen Ganzheitlichkeit ist es das ,>Zentrum der Birmenmotivation und hmensteuerung«, weshalb im Alten Testament der Mensch ,>nicht kopfgesteuert, sondern ,herzgeleitet(Gefühle, Gedanken und Absichten in seinem Inneren (Herz) ansetzen, sich aber in der Regel auf die Außenwelt und deren mannigfache Herausforderungen richten« 0anowski 2015b:39f.). Insofern ist hier von einer sich nach außen auswirkenden Innerlichkeit zu sprechen, die in der Personenmitte des Herzens verortet ist. 17 Sowohl ,>erinnere dich!« [':lT], vgl. Dtn 7,18; 8,2; 8,18; 9,7; 9,27; 15,15; 16,3; 16,12; 24,9; 24,18; 24,22; 25,17; 32,7, als auch ,>vergiss nicht!« [n:lW ~?], Dtn 4,9; 4,23; 6,12; 8,11; 8,14; 8,19; 9,7; 16

25,19; 26,13; 31,21; 32,18

224

5.1 Der deuteronomisch-deuteronomistische Erinnerungsimperativ

hältnis«< meint, insofern zugleich »eine >solche Rückkehr nur den Ausgangspunkt für einen völlig neuen Anfang< bildet« (Soggin Art. :l1IIl, THAT). Es geht dabei also aufseiten des Menschen um eine grundsätzliche und innere Öffnung für die Erneuerung oder Wiederherstellung der Jhwh-Beziehung, dem die Befolgung des Erinnerungsgehorsams dient. Diese grundsätzliche Öffnung wird dann durch die Zuwendung Gottes (Vv. 3-5), die ihren Ausdruck im Bundesakt der Herzensbeschneidung (V. 6) findet, überholt. Das wiederum befähigt den Menschen dann dazu, Gott »mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele lieben [zu] können« (V. 7), was wiederum der Lebensförderung und Steigerung des Menschen ['r.1J ])17;17] dient. Interessanterweise wird hier am Schluss des Deuteronomium durch die wörtliche Aufnahme von »Herz« [:l~] und »Seele« [1IIl1!1] aus der Verinnerlichungs-Aufzählung aus Dln 6,5 - wobei lediglich der Hinweis auf die »Kraft« [ikT;l] fehlt - ein mehr als deutlicher Bogen zum SchdmaJisrael (Dln 6,4-9) geschlagen. In der Zusammenschau beider Texte (Dln 6,4-9 und Dln 30,1-10) lässt sich also feststellen, dass der Akzent des Deuteronomiums über eine eventuelle keilschriftrechtliche Herkunft altorientalischer Vasallenverträge hinaus das erinnerungskulturelle Geschehen in einem sehr differenzierten (gnaden)theologischen Zueinander versteht. Es ist keine einseitige Erfüllungslast des Gesetzes oder Bundes, die gewissermaßen eine gegenseitige Erfüllungspflicht verbürgt. Vielmehr wird im Rahmen altorientalischen Rechtsdenkens ein wirklich personales, gegenseitiges Geschehen zwischen Gott und Mensch ausgedrückt, dessen innerer Kern eine gegenseitige Zuwendung ist. Diese gegenseitige Zuwendung wird in Kategorien des Erinnerns ausgedrückt. Und zwar sowohl (im Deuteronomium deutlich stärker) als Erinnerung des Menschen als auch als Erinnerung Gottes. Auch in der Priesterschrift erhält diese Komponente der Erinnerung Gottes eine zentrale Bedeutung, sodass man durchaus davon sprechen kann, dass eine »zentrale Eigenschaft des biblischen Gottes« neben seinem »Reden (vs. Schweigen)« auch »sein Gedenken, Sich Erinnern (vs. Vergessen)« Qanowski 2015a:51) ist. Diesen Spuren soll jetzt zunächst in einem Blick auf die (priester schriftliche ) Sintfluterzählung nachgegangen werden.

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5 Erinnerungstheologie im Alten Testament

5.2 Die Sintfluterzählung als kommunikatives Erinnerungsgeschehen In den Worten von BERND JANOWSKI lässt sich in der priesterlichen Urgeschichte von der »schöpferischen Erinnerung Gottes« Qanowski 2007a:64) sprechen, die eingebettet ist in eine ganze Reihe anderer Gefühlsregungen!8, sodass diese göttliche Erinnerung nicht ausschließlich als noetischer, sondern vielmehr als ganzheitlicher Akt, ja als Kommunikations- und Beziehungsakt verstanden werden muss. Die Sintfluterzählung (Gen 6,1-9,29) gehört ohne Zweifel zu den klassischen Topoi der redaktionsgeschichtlichen Forschung des Alten Testaments (vgl. etwa Schmid 2014:259). In ihm lassen sich wie in wenigen anderen Texten innerhalb einer einzigen zusammenhängenden Erzählung textliche Dopplungen in Verbindung mit Spannungen wahrnehmen, die auf eine Kompliation unterschiedlicher Q1lellen mit deutlich unterschiedlichen theologischen Argumentationsweisen hinweisen (vgl. dazu etwa Zenger 2006a:80) und damit auch die Modellbildung zur Entstehung des Pentateuch maßgeblich beeinflusst haben.

Exkurs: Die Wurzel ':11 (»erinnern«) Wird die hebräische Wurzel ':11 (»erinnern«)!9 mit dem Subjekt Jhwh (bzw. Gott) verwendet und bezieht sie sich auf ein personales Objekt, so bezeichnet es nicht einen» bloß gedächtnismäßigen Bezug, sondern ein tathaftes Eingehen der Gottheit auf den Menschen, der sich in Not befindet« (Schottroff 1967:201, ferner auch Schottroff Art. ':11, THAT und Janowski 2007a:65). Die Wurzel ':11 selbst »läßt sich wohl kaum als primär kultischer [... ], rechtlicher Janowski nennt darunter die Reue, den Schmerz und die Rücknahme des Vemichtungsbeschlusses, die ein ,>dichtes Netz von Termini und Motiven [bilden], die aussagerelevante Bedeutung für das biblische Gottesbild haben« Oanowski 2007a:64). Ebenso spreche gerade die priesterschriftliche Urgeschichte sowohl vom Herz [J7.J des Menschen, das biblisch die innerste Wesensmitte des Menschen bezeichnet (Fabry Art. J?, ThWAT IV:424f.), den ,>Sitz von Verstand, Erkenntnis und Wille« (Sand Art. KapöLa, EWNT) und so der ,>Ort der Emotionen und der Gedanken/Entscheidungen« Oanowski 2007a:64; Hervorh. im Original) als auch vom Herz Gottes (so in Gen 6,6). Vgl. dazu insgesamt auch 5.1.7, S. 223. 19 Grundlegend zu den Bedeutungen der Wurzel ':lT im Alten Testament ist und bleibt die Untersuchung von Willy Schottroff (vgl. Schottroff 1967). 18

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5.2 Die Sintflut erzählung als kommunikatives Erinnerungsgeschehen

[... ] oder durch antik-magisches Denken geprägter [... ] Begriff verstehen« (Schottroff Art. ':11, THAT), sondern findet ihre Anknüpfung beim anthropologischen Grundverständnis des »Erinnerns« bzw. des »Denkens an«. Es handelt sich in erster Linie um eine Beziehungs aussage. Die Spuren eines kommunikativen Erinnerungsverständnisses lassen sich im Alten Testament an vielen Stellen finden, besonders eindrücklich etwa in der »ehemals selbstständige[n] Josephsgeschichte« (Albertz 2009:19), dort jedoch nicht in einem gott-menschlichen, sondern (primär) im zwischenmenschlichen Zusammenhang. Josef kommt wegen der falschen Beschuldigung durch die Frau des Potifar ins Gefängnis, erwirbt jedoch dort das Vertrauen des Gefängnisbeamten [,:]o:rn':;) ,1/1] (vgl. Gen 39,1-23). Deshalb kommt er - so die narrative Konstruktion - mit dem Obermundschenk und dem Hofbäcker des Pharao in Kontakt, die ihm von ihren Träumen erzählen (vgl. Gen 40,1-23). Josef deutet den Traum des Obermundschenks und bittet ihn: »Erinnere dich auch an mich ['ltI"PP:II~], wenn es dir gut geht« (Gen 40,14). Die Formulierung macht - insbesondere in der Verbindung mit der Bitte Josefs, ihn aus dem Gefängnis zu befreien - deutlich, dass es bei der Erinnerung um mehr geht als um ein Behalten von Gedächtnisinhalten. Vielmehr geht es um eine erinnernde Beziehung, die eine Handlungsverpflichtung mit sich bringt. Der Mundschenk aber »erinnerte sich nicht« [';lp6] anJosefund - so bestärkt der Vers mit Aufnahme des Verbs »vergessen« [n:l~]- »vergaß ihn« [1~lJf(ll'1]. Erst als der Pharao dem Mundschenk später (Gen 41,1-8) ebenfalls von einem Traum erzählt, fällt ihm Josef wieder ein, im biblischen Text heißt es: »meine Schuld kommt mir wieder in Erinnerung« [C;':] ":;J!7;I 'lt\ '~1,'Itrnl:l]. Auffällig ist dabei, dass ':11 hier als Hif'il-Partizip verwendet wird, was gewöhnlich in der juristischen Verwendung »als terminus technicus für die Anzeige bei Gericht« (Schottroff Art. ':11, THAT) steht. Wenn auch Schottroff diese juristische Bedeutung genau für diese Stelle ausschließt, weil es ja offensichtlich nicht im wörtlichen Sinn um eine Gerichtsanzeige geht, drängt sich dieser Zusammenhang geradezu auf. Es wird als von außen kommende Erinnerung verstanden, die an eine (innere) Schuld erinnert. Das speist sich si-

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5 Erinnerungstheologie im Alten Testament

cher von der grundlegenden anthropologischen Erfahrung der Erinnerung, die - als käme sie von außen - durch bestimmte Auslöser wieder hochkommt, ohne dass das bewusst angestrebt wird. An der konkreten Stelle zeigt sich auch eine zarte theologische Verbindung: Weil Gott es ist, der Josef die Gabe zu Traumdeutung verliehen hat (vgl. Gen 40,8b), scheint dieser auch in der Erinnerung des Mundschenks zu wirken. Die kurze Betrachtung der Josefsnovelle zeigt also die anthropologische Grundbedeutung der Wurzel ':JI genauso wie die Offenheit ihrer übertragung auf theologisierende Rede. Neben 1) der personalen Bedeutung kann sich ':JI mit göttlichem Subjekt auch 2) in inhaltlicher Weise insbesondere auf den (Sinai)Bund bzw. die göttliche Verheißung beziehen oder aber Gott erinnert (sich) 3) an menschliches moralisch qualifiziertes Verhalten oder schließlich 4) die menschliche Vergänglichkeit bzw. die Schwäche Israels (vgl. Janowski 2007a:65). Damit deutet sich in der Verwendung der Wurzel ':JI ein dynamisches Grundverständnis an, das das göttliche Erinnern in einer »MittelsteIlung zwischen >denken an< im Sinne eines Zur-Kenntnis-Nehmens [... ] einerseits und dem daraus folgenden Tätig-Werden andererseits« verortet Qanowski 2007a:65). Damit verbindet es das (noetische) Erinnern des Bundes, das moralische In-Erinnerung-Halten der Gebote und ihren konkreten Bezug auf das Handeln von Menschen mit einem dialogisch-kommunikativen Erinnern zwischen Gott und Mensch. Wie es also hier auf göttlicher Seite nicht ausschließlich um ein gewissermaßen protokollierendes Memorieren der evtl. moralisch qualifizierbaren Handlungen von Menschen geht, so geht es aufseiten der Menschen nicht um ein mnemotechnisches Verinnerlichen der Gebote. Beides steht in einem kommunikativen gott-menschlichen Zusammenhang, ist eine besondere Form kommunikativer Erinneruni ü .

20

Bernd Janowski zeigt diesen Zusammenhang exemplarisch an den unterschiedlichen Perspektiven, die die priesterschriftliche und die nicht-priesterschriftliche Version der SintflutErzählung am Beginn des Buches Genesis nehmen.

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5.2 Die Sintflut erzählung als kommunikatives Erinnerungsgeschehen

5.2.1 Die Si ntfl uterzäh lung der Priestergrundsch rift (Gen *6,9-9,29) Eine Version der Sintfluterzählung (Gen *6.9-9,29) lässt sich aufgrund der Verwendung charakteristischer Wortver bindungen und kontextueller Ver knüpfung mit anderen Bezugstexten, "ihrer unverwechselbaren Sprache und ihrem theologisch ordnenden, konstruierenden Denken« (Zenger 2006b:156f.) der priesterlichen Grundschriji21 zuordnen (vgl. Janowski 2007a:74). Insbesondere auch für die priesterliche Fluterzählung gilt, dass sie »in sich so stringent komponiert [ist], dass sie als kunstvolle eigene Erzählung lesbar ist« (Zenger 2006b:161). Sie bildet im Zueinander zur priesterlichen Schäpfungserzählung (Gen 1,1,-2,3) einen Kontrapunkt". Es ist der Schäpfergott, der seine Schäpfung »vor dem Versinken ins totale Chaos bewahrt« und ihr im »Bogen als Bundeszeichen für Gott und alles Lebendige« seinen Lebensbund schenkt (Zenger 2006b:169). Besondere Bedeutung für das Verständnis der Erinnerung oder des Gedenkens Gottes kommt der Sintfluterzählung (genauer: Gen 8,la) zu, weil es auch in der Erzählabfolge der Tora und somit natürlich auch in der ganzen Bibel der »erste Beleg [ist], der von einem ,Gedenken< Gottes berichtet« Qanowski 2007a:74). Das ist auch deshalb interessant, weil es sich hierbei um eine im Vergleich zum deuteronomistischen Verständnis des Erinnerns Gottes (vgl. unter 5.1. 7, S. 223) zwar genauso dynamische aber zugleich voraussetzungslose Erinnerung und Zuwendung Gottes handelt. Durch die anfängliche Wendung »Toledot Noahs« [rri n'l7in] (Gen 6,9), den genealogischen Rahmen, wird die Sintfluterzählung an das Vorherige angebunden und damit narrativ in die (spannungsvolle ) Kontinuität zur priesterschriftlichen Schäpfungserzählung (Gen 1,1-2,3) gestellt (vgl. Janowski 2007a:75). Beide 21

Die priesterliche Grundschrift (PS) besitzt - wenn man mit Zenger 2006b:164 und Janowski 2007a:72 ihr Ende in Ex 40 oder Lev 9 ansetzt - ein dreiteiliges Grundschema: Auf die Urgeschichte (bestehend aus Schäpfungs- und Sintflut geschichte, Gen *1-9), in der Elohim als Gottesname verwendet wird, folgt die Erzeltemgeschichte (Gen *11- Ex 1) mit dem Gottesnamen El Schaddai und schließlich die Volksgeschichte (aus Exodus- und Sinaigeschichte, Ex *1-40/Lev 9) mit dem Gottesnamen Jhwh (vgl. Janowski 2007a:72). In dieser Konzeption bilden :>,Schöpfung und Tempel [... ] den Rahmen um die so gegliederte Heilsgeschichte«, die ihren Ausdruck in den :»Bundessetzungen mit Noah (Gen 9,8-17) und Abraham (Gen 17,7f.)« findet Oanowski 2oo7a:72). Schöpfungs- und Fluterzählung gehören hier also der fundierenden Urgeschichte an und haben damit den Charakter identitätsfundierender Narration (vgl. dazu auch Oberforcher

22

Während Gen 1 :»die Welt [zeichnet], wie sie von Gott her konzipiert ist«, beschreibt :»Gen 6-9 [... ], wie die Welt faktisch ist, nämlich vom Chaos bedroht« (Zenger 2oo6b:169).

2003:145).

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5 Erinnerungstheologie im Alten Testament

Erzählungen bilden eine elementare Polarität: Die Fluterzählung ist sozusagen die Bewährungsprobe der Schöpfung und der guten Schöpfungsordnung, an der »jene modellhafte Schöpfungsidealität auf der ganzen Linie zu zerbrechen droht«, weil »mit ungeheurer Vehemenz die Gewalttätigkeit/DOn als dominanter Lebensstil von Mensch und Tier [... ] in die Schöpfungswelt« einbricht (Oberforcher 2003:145). Man kann dies als »Totalumschlag von der idealen Schöpfung in eine durch Gewalt pervertierte Welt« verstehen (Oberforcher 2003:145; vgl. dazu auch Janowski 2007a:79). Das wird auch deutlich, wenn es aus der Perspektive Gottes über den Zustand der Erde heißt: »siehe: sie war verdorben [~l::rl ~QIJ(IIl]« (Gen 6,12), was man als »absolute[n] Gegenpol [... ] zu jenem Gesamturteil des Schöpfers am Ende seines Werkes«, dem »siehe, sehr gut [:J;t!I-~l::rl ikT;l]« in Gen 1,31 verstehen kann, weil es »die exakte Gegenformulierung darstellt« (Oberforcher 2003:145). Für die Priestergrundschrift bedeutet dieses anfängliche (gattungstypisch kurze) Konstatieren der Verdorbenheit - weil es sich bei der Erzählung von der Ur sünde (Gen 3,1-24) nicht um einen priesterschriftlichen Text handelt - auch eine »alternative Konzeption von Ursünde [... ] als Gewalttat und Zerstörung jeglicher Lebensmöglichkeit« (Oberforcher 2003:145). Daraufverweist im Text die zweifache Verwendung des Verbs nnlll, zunächst in der passiv-reflexiven Bedeutung des Nif'al (»[die Erde] wurde verdorben«) und dann in der zweiten Vershälfte im kausativen Hif'il, das die Täter dieser Verdorbenheit herausstellt: es ist »alles Fleisch ['~:t-~f]«' Damit fällt auf, dass es hier nicht darum geht, die Schuld für die Verdorbenheit ausschließlich und einseitig auf das menschliche Verhalten zurückzuführen, wodurch »die Frage menschlicher Schuld grundsätzlich relativiert [wird], da in diesem Passus der Grund für die Flut in einem übermenschlichen Verhängnis identifiziert wird« (Schmid 2014:259). Das ist noch vielmehr der Fall, wenn die nicht-priesterschriftliche Eröffnung mitgehört und -gelesen wird. Die Handlungsoption Gottes wird wiederum mit dem gleichen Verb beschrieben, die auch in V. 12 doppelt verwendet worden ist. Gott will die Erde und alles Fleisch darauf »verderben [nnlll]«, weil die Welt mit Gewalt/Unrecht [DrtlJ] »gefüllt« [~~o] ist. Die durchgängige Verwendung des Verbs nnlll für das geplante und dann später durchgeführte Vernichtungshandeln Gottes kann man als Hinweis darauf lesen, dass Gott hier in die gleiche Vernichtungs logik einsteigt, die eigentlich von seinen Geschöpfen ausgeht. Das stellt noch einmal deutlich heraus, dass die Fluterzählung bewusst als Kontrasterzählung 23 gestaltet ist. 23

Wie die Schäpfung programmatisch j>als Anfang« [n"t{i~j~] (Gen 1,1) dient, so sieht Gott hier

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5.2 Die Sintflut erzählung als kommunikatives Erinnerungsgeschehen

Nachdem nun diese verhängnisvolle Dynamik des (gegenseitigen) Verderbens (weiter) ihren Lauf nimmt, und das Wasser schließlich 150 Tagen lang steigt, »setzt mit 8,la die durch das >Gedenken< Gottes herbeigeführte Wende« Qanowski 2007a:79) ein. Interessanterweise ist in der Bauanleitung der Arche (Gen 6,14-18) und besonders in der Bundesankündigung in Gen 6,18a die grundsätzliche Möglichkeit für den göttlichen Sinneswandel 24 schon angelegt. Gottes Ankündigung, dass er mit Noah seinen Bund »aufrichten« [c1pl wird, bildet die Grundlage seines Erinnerns [':JIl in Gen 8,1 und 9,15f. (vgl. Janowski 2007a:79). In der Erzählung lassen sich also drei Stufen erkennen, die in erinnerungstheoretischer Betrachtung den Zusammenhang der Ereignisse bestimmen. Das Auf richten des Bundes (Gen 6,18a) realisiert sich in Gottes völlig freiem (nicht etwa durch eine Konversation mit N oah oder äußere Einflüsse bedingten) Erinnern, in dem er sich sowohl inhaltlich (an seinen Schöpfungsbund), als auch personal (an den gerechten Noah und die Tiere in der Arche) erinnert. Diese Erinnerung bedeutet das wirkmächtige In-Krajt-Setzen dieses Bundes (vgl. Gen 8,la), der dann wiederum im Zeichen des himmlischen Bogens bleibend (oder zumindest wiederholt) aktualisiert (vgl. Gen 9,17) wird, was die (ewige) Beständigkeit dieses Bundes (vgl. Janowski 2007a:80)25 verbürgt. Dass das Zurückdrängen des Chaoswassers viel mehr ist als ein supranaturaler Eingriff Gottes, zeigt das verwendete Wort für den »Wind« [rr1'l (Gen 8,lb). Es handelt sich dabei um das gleiche Wort, das für den göttlichen Geist verwendet wird, der am Anfang der Schöpfung über dem Chaoswasser (Gen 1,2) schwebt. Es ist also eine Neuschöpfung oder besser: die Wiederherstellung der ursprünglich guten Schöpfung. Weil dieses göttliche Neuschöpfungshandeln als Konsequenz aus seinem Erinnern geschildert wird, wird man umgekehrt das Erinnern im Sinne eines performativen Erinnerungsaktes verstehen können, oder eben in den Worten von Bernd Janowski als »schöpferische Erinnerung« Gottes, die zum »Paradigma für sein zukünftiges Handeln an der Menschheit und an Israel« Qanowski 2007a:81) wird. das j>Ende« [fP] der Welt. Und wie er im Rahmen des Schäpfungshandelns die Chaoswasser in ihre (gute) Ordnung gebracht hat (vgl. Gen 1,7), so öffnen sich nun wieder die :»Qyellen der großen Urflut« [i1;l'1 ciilI;1 nj~.vi';'l-??] und die j>Schleusen des Himmels« [tl;i';)D.WjJ nj~~] (Gen 7,11).

Dieser Sinneswandel hat deutliche Parallelen zur Komposition der Klagepsahnen (vgl. dazu die überlegungen zu Ps 13, 5.4.2, S. 242ff.) und man kann im göttlichen Erinnern in der Fluterzählung einen peripetischen Charakter (vgl. Janowski 2007a:76ff.) entdecken. 25 BerndJanowski stellt dabei in seinem Beitrag heraus, dass das gerade durch die ,>Handlungssequenz 6,18a (,aufrichtenAspekt im Sinn einer Entsprechung des Menschen zu Gott« , beide Aspekte j>Repräsentanz und [...] Entsprechung, bringen das exklusive Verhältnis des Geschöpfs zu seinem Schöpfer (Gottesbezug) zum Ausdruck, das dann durch den doppelten Herrschaftsauftrag (Weltbezug) expliziert und konkretisiert wird« Oanowski 26

2004:196).

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5.2 Die Sintflut erzählung als kommunikatives Erinnerungsgeschehen

Im Anschluss an diese novellierte Schöpfungsordnung, wählt Gott ein kosmisches Erinnerungszeichen für seinen Bund. Indem er den Bogen [nI!lj;'l zum Zeichen dieses Bundes macht, eröffnet er damit auch eine besondere, nämlich universale Erinnerungsjorm 28 Auch hierbei lässt sich ein charakteristisches Ineinander der göttlichen und der menschlichen Erinnerung feststellen. Jedes Mal, wenn Gott also diesen Bogen in die Wolken setzt, so sagt er: »erinnere ich ['l'1"P!1l den Bund, der besteht zwischen mir und euch und allen Lebewesen« (Gen 9,15). Das kann sowohl transitiv wie auch intransitiv verstanden werden. Einerseits erinnert Gott sich (intransitiv/reflexiv) des Erinnerungs- und Veränderungsgeschehens, das die Flutgeschichte bedeutet, andererseits ermöglicht er damit auch (transitiv) die Erinnerung seiner Bundespartner, nämlich - in kosmischer Breite - aller Lebewesen. Daran wird noch einmal deutlich, wie sehr es sich bei der performativen Erinnerung Gottes in der Fluterzählung um ein dynamisches und neu-schöpferisches Handeln Gottes und gewissermaßen auch einen Lernprozess Gottes 29 handelt. Während also in der deuteronomisch-deuteronomistischen Theologie das Erinnern immer eher einen kontrapräsentischen Charakter zeigt, sodass diese imperativische oder instruktive Erinnerung im Dienste einer Wiederherstellung des Gottesverhältnisses (vonseiten des Menschen) und einer Umkehr und Sinnesänderung der Menschen steht, lässt sich im priesterschriftlichen Verständnis (zumindest der Fluterzählung) eher von einer Umkehr des sich unbedingt dem Heil seiner Schöpfung verpflichtenden Gottes sprechen. Das geht auch mit einem anderen Verhältnis zur Geschichte und zur Gegenwart einher. Während die deuteronomistische Tendenz darin besteht, Gegenwart stärker als corruptio zu verstehen, die eigentlich stets veränderungs bedürftig ist, hat die performative und engagierte Erinnerung Gottes eine stabile Gegenwart30 zur Folge. Der j>Bogen inden Wolken, der keine Völkergrenzenkennt« steht als Zeichen für die ,>Zusage, die Erde nicht mehr zu vernichten« und im konkreten auch für den ,>segensreichen Wechsel von Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht, der die menschliche Ernährung möglich macht« (Ziemer 2012:43). 29 Die Flut(erzählung) hat :>>nicht den Menschen, sondern den Schäpfergott verändert [...], weil dieser seine ,Reue,ist ein Zeichen am Menschen«, der Schabat (Israel/Jakob) ein »Zeichen, das die Israeliten dank der >vom Himmel< regnenden Speise (Ex 16,4) entdecken« (Ziemer 2012:44; Hervorh. AJ). Das Zeichen des Bundes mit Aaron wiederum ist sein Stab, ein kultisches Zeichen, der sich (vgl. Ex 7,813) »in einen j'ltI [verwandelt], der die Cl'ltI der ägyptischen Zauberer verschlang« (Ziemer 2012:44; Hervorh. AJ). Hier findet sich die Entsprechung zu den Objekten des göttlichen Schöpfungsverbums ~':J: So sind Himmel (der Schabat im Bund mit JakobIIsrael) und Erde (im Bogen des Bundes mit Noah) die beiden ersten Objekte von ~':J in Gen 1,1. Der schwer erklärliche »große Cl'ltI« (»Seeungeheuer«; Eü übersetzt es mit »alle Arten von großen Seetieren«) folgt dann in Gen 1,21 35 (Stab des Aaron) und schließlich bildet 34

Während Gott Aaron dabei Herrschaft über den Stamm Levi (Num 18,2.6) schenkt, ist Landbesitz deshalb ausdrücklich ausgeschlossen, weil :»]hwh selbst sein ,Anteil< sein will (NUll 18,20)«, was den j>Bogen zum Schäpfungssegen Dspannt, denn der zentrale Inhalt des Aaronbundes ist nach Num 18 eine einzigartige Garantie der Nahrungsgrundlage« (Ziemer 2012:42) durch die einschlägigen Opferbestimmungen (NUll 18,9-19). Allerdings fällt in diesem Zusammenhang das Fehlen der Mehrungsverheißung auf. Ziemer argumentiert hier ganz vom (priesterlichen) Opferkult her und einer Theologie, in der erst durch den :»regelmäßigen Opferkult, der mit Aaron institutionalisiert wird, [... ] die Ernährung des Menschen durch Jhwh ihre bundestheologische Entsprechung in der kultischen Darbringung der Gaben an Jhwh« (Ziemer 2012:43) erhält.

35

Dieser Zusammenhang ließe sich über den vorher schon referierten Verweis auf Ex 7,8-13 und die Verwandlung des Stabs des Aaron in einen tlnO (anders als Moses Stab, der sich in eine einfache Schlange verwandelt) plausibel machen (so Ziemer 2012:44). Für die priesterschriftliche Perspektive ist Aaron ,>als Levit, Bruder und ,Mund< des Mose der einzige Kandidat [...], mit dem die Institution des Priestertums am Sinai verankert werden konnte« (Ziemer 2012:45). Es scheint jedoch - besonders aufgrund der schon vorher erwähnten dreiteiligen Grundstruktur der Priestergrundschrift - auch möglich, dass es sich bei dem tlnO aus Gen 1,21 und der Verknüpfungsätiologie mit dem Bundeszeichen (Stab) des Aaron um eine priesterliche Redaktions-

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5 Erinnerungstheologie im Alten Testament

der Mensch (Gen 1,26) selbst als Zeichen des Abrahambundes den Schluss- und Höhepunkt dieser Aufzählung (vgl. Ziemer 2012:44). Interessanterweise finden sich jetzt innerhalb dieser vier Bundeszeichen zwei verschiedene Grundvorstellungen eines Bundes. Abraham und Israel, die wahrscheinlich schon "in den Vorlagen der Pentateuchkomposition zu Bundespartnern wurden«, werden in das priesterschriftliche Bundsystem »vollständig integriert, indem sie explizit ein dem Bund zugeordnetes Zeichen erhalten, das mit dem Schöpfungssegen verbunden ist« (Ziemer 2012:45). Ihr Bund ist jedoch von einer Vorleistung abhängig, sie müssen »etwas für ihren Bund tun« (Ziemer 2012:45). Bei N oah und Aaron fehlen solche Formulierungen. Hier wird der Bund jeweils »allein durch das göttliche Wort konstituiert« (Ziemer 2012:45), was sich durch die Parallele zum (priesterschriftlichen) Schöpfungshandeln (Gen 1,1-2,3), das sich genauso allein durch das göttliche Wort vollzieht, gut erklären lässt. In jedem Fall ist das priesterschriftliche Bundesverständnis sehr stark schöpfungstheologisch fokussiert. Es verweist durch Stichwortverbindungen immer wieder auf den priesterlichen Schöpfungsbericht (Gen 1,1-2,3) und versteht sich darüber hinaus als übertragung des Schöpfungssegens auf bestimmte Gruppen. Dabei fällt auf, dass die Gruppe derjenigen, mit denen Gott seinen Bund schließt, immer »enger« wird: Zunächst ist es der universal und kosmisch präsentierte Noahbund, der ausdrücklich auch die Tiere einschließt. Der Abrahambund ist dann schon auf ein konkretes Volk (bzw. eine Gruppe von semitischen Völkern) bezogen. Noch konkreter der Bund mit JakobIIsrael, der sich auf das Gottesvolk (Israel/Juda) bezieht. Wenn man schließlich den Aaronbund noch hinzurechnet, ergibt sich eine weitere Fokussierung auf den (Jerusalemer) Tempelkult. 36 schicht im Rahmen der Pentateuchkomposition handelt, der über die Erinnerungsfigur des Aaron das theologische Interesse einer Kontinuitätsrekonstruktion des Priestertums - also auch derjenigen, die den Autorenkreis der Priestergrundschrift bilden - in die Ur- und Erzelterngeschichte einzutragen verfolgen und zwar gegen eine zu starke Betonung der (deuteronomistisch gefassten) Mose-Autorität. Insofern würde sich auch hier wieder der Interessensausgleich bzw. das Ringen um die Endgestalt des Pentateuch Ausdruck verleihen. 36 Auffällig ist es dabei, dass die beiden schäpfungstheologisch im göttlichen Wort begründeten

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5.2 Die Sintflut erzählung als kommunikatives Erinnerungsgeschehen

5.2.2 Die nicht-priesterschriftliche Sintfluterzählung Neben der priesterschriftlichen Fluterzählung findet sich im kanonischen Text aber auch noch eine andere Traditionslinie. die dieser wahrscheinlich als Vorlage gedient hat Qanowski 2007a:86; anders Schmid 2014:257, für den es fraglich ist, ob es »je eine literarisch selbständige, nicht-priester schriftliche Urgeschichte, sei es nun mit oder ohne Fluterzählung, gegeben hat«) und eine andere Grunddynamik der Fluterzählung erzählt. Die Unterschiede liegen etwa darin, dass in der nicht-priesterlichen Fassung zunächst (Gen 6,6) vom »bekümmerten Herz« Gottes die Rede ist, während die »Bosheit, der die folgende Reaktion Jhwhs entspricht, [... ] ihren Ort [ebenfalls] im menschlichen Herzen (J~)« Qanowski 2015a:53) hat. Hier geht es also stärker als in der priester schriftlichen Fassung um eine moralische Verantwortung des Menschen für die Verder bthei t der Schöpfung. Die »Ursache für die Flut [... ] liegt [... ] nach Gen 6,5-8 in der >Bosheit< des menschlichen Herzens« Qanowski 2007a:82). Im Verlaufe der Flutgeschichte nimmt auch in dieser Version »JHWH seinen Vernichtungsbeschluß durch einen Akt der Barmherzigkeit zurück« Qanowski 2007a:82). Die Motive für den Sinneswandel begründet die nicht-priesterliche Darstellung in der Rede »von der >ReueSchmerz< und vom aufmerksamen >Wohlwollen< JHWHs gegenüber Noah (Gen 6, 8)« Qanowski 2007a:86). Die beiden Fassungen bereichern und ergänzen sich jedoch37 und zeichnen in ihrem kanonischen Zusammenhang gelesen »ein dichtes Netz von Bezügen, die in der doppelten Opposition von menschlicher Bosheit/Gewalt und göttlicher/rn Gnade/Gedenken [Erinnerung] kulminieren« Qanowski 2007a:86). Die gemeinsame theologische Intention bei der Fluterzählungen ist also, dass sich »der Schöpfergottweder durch die menschliche Bosheit noch durch die menschliche Gewalt zu einer totalen Destruktion verleiten läßt und seine Schöpfung preisgibt« Qanowski 2007a:87f.). Deshalb ist in dieser Perspektive nicht die Katastrophe (des Vergessens) - wie man in den Worten Assmanns als überzeichnetes deuteronomistisches Selbstverständnis sagen könnte - Endpunkt und Scheitern der Heilsgeschichte, sondern »Gottes rettende Erinnerung an das, was er Noah und in ihm der Menschheit zugesagt« Qanowski 2007a:87f.) hat. Bundespartner (Noah und Aaron) in dieser Konstruktion die beiden anderen gewissermaßen :»mnrahmen«. 37 Das gilt unabhängig davon, ob es sich bei den nicht-priesterschriftlichen Texten nun um Vorlagen oder überarbeitungen der in jedem Fall literarisch zusammenhängenden und im Sinne priesterschriftlicher Theologie gestalteten priesterschriftlichen Fluterzählung handelt.

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5 Erinnerungstheologie im Alten Testament

5.3 Die inhaltliche Mitte der Bundestheologie Die überlegungen zum Zusammenhang von Erinnerung und Bundestheologie in deuteronomisch-deuteronomistischer und priesterschriftlicher Perspektive führen zu der Frage, in welchem Zusammenhang diese bei den doch deutlich unterschiedlichen Bundesverständnisse stehen. Deshalb dient die Reflexion im nächsten Schritt dazu, mit MANFRED OEMING den Versuch der Bestimmung einer theologischen Mitte der alttestamentlichen Bundestheologie zu versuchen. Während klassischerweise »zum Verständnis der Bundestheologie, sowohl was ihren sachlichen Kern als auch was ihre innere Logik angeht, die Kategorien des Rechts herangezogen« werden (Oeming 2007:151), so lässt sich doch im Blick auf die kanonische Gestalt des Pentateuch ein anderes theologisches Grundverständnis des Bundes erweisen und zwar als »Liebesverhältnis zwischen Gott und Israel, das sich in einer Ehe in der Wüstenzeit konkretisiert« (Oeming 2007:153). Gemeint ist damit also ein zutiefst personales Liebesverhältnis 38 , das dann erst in einem zweiten Schritt in rechtlicher Form seinen Ausdruck findet. Oeming stellt heraus, dass nicht nur bei Hosea (wo offensichtlich die Terminologie der Ehe und des Ehebruchs verwendet wird), bei Ezechiel und Deuterojesaja, sondern auch »im Umkreis der deuteronomischen Theologie [... ] die Vorstellung einer Ehe zentral« ist, weshalb die Bundesformel »sehr viel zu tun mit einer Liebeserklärung und dem Versprechen der Treue und inniger Verbundenheit« (Oeming 2007:156) hat. Beides greife auf eine vorausgehende Tradition zurück, die zunächst im Buch ]eremia ihren Ausdruck findet. Dort wird das »Bild vom liebenden Gott« gezeichnet, »der seine ehebrecherische Frau >nur< verstoßen und ihr einen Scheidebrief gegeben hat, der sich aber doch nicht wirklich von ihr gelöst hat, sondern letztlich wieder zu ihr zurück möchte, zurück in die Zeit des Anfangs« (Oeming 2007:156). In dieser Vorstellung zeigen sich damit auch deutlich Motive einer personal verstandenen und performativ fokussierten Erinnerung. Es ist die glückliche Anfangszeit der Bundesbeziehung, die nicht nur die Menschen wiederherstellen wollen und sollen (so unterstreicht es ja die deuteronomisch-deuteronomistische Tradition), sondern in der sich auch die Liebesdynamik Gottes realisiert. Eine solche liebevolle Erinnerung strebt da38

Diese »Konzeption von erwählender Liebe und anfänglichem Glück, von unverzeihlichem Betrug und schmerzlicher Scheidung, von unbegreiflicher Verzeihung und endlicher Neuvennählung [hat] auf ewig hat etwas Romantisches, oder vorsichtiger gesagt: Unerklärliches, Irrationales« (Oeming 2007:155).

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5.3 Die inhaltliche Mitte der Bundestheologie

nach, die gelingende Gott-Mensch-Beziehung wieder herzustellen. Es ist damit das Bild, das sich auch in der schöpferischen Erinnerung der priesterschriftlichen Fluterzählung und der Dynamik der Beschneidung der Herzen Ausdruck verleiht. Die liebevolle Erinnerung Gottes ist hier also im Kontext seines unbedingten Heilswillens zu verstehen. In der Bundestheologie geht es damit nicht (ausschließlich) um eine objektive juristische gegenseitig vollstreck- oder einklagbare vertragliche Regelung, sondern »um personale Relationen, um irrationale Zuwendung und Liebe, die Israels überleben angesichts seiner Schuld überhaupt erst ermöglicht« (Oeming 2007:158)39 Wenn damit - so Oeming - die »emotionale« Beziehungsdynamik die »sachliche Mitte der Bundestheologie« (Oeming 2007:159) ist, bedeutet das auch einen Verständniswandel des gegenseitigen kommunikativen Erinnerungsgeschehens zwischen Gott und Mensch, das letztlich immer dort in der Gefahr steht »durch Vergesetzlichung verdunkelt zu werden«, wo »nicht mehr Gottes Liebe am Anfang steht und daraus die liebende Entsprechung Israels folgt, sondern umgekehrt gilt: Erst >auf Israels Observanz folgt Gottes Observanz des Väterschwurs und seine Liebe zu Israel«< (Oeming 2007:159). Für ein adäquates Verständnis der alttestamentlichen Bundestheologie und damit ein genauso adäquates Verständnis der kommunikativen, schöpferischen und liebevollen Erinnerung Gottes, die Ausgangspunkt und nicht Folge menschlichen und kulturellen Erinnerns ist, bedeutet das dann auch, dass in dieser kommunikativen Erinnerung der (Gott und Menschen umfassenden) Erinnerungsgemeinschaft des Glaubens die primäre Perspektive auf der personalen Ebene zu suchen ist. Darin ist auch ein traditionskritisches Moment für Situationen und Strukturen angelegt, wo Erinnerung und Tradition (aus rein menschlicher Perspektive) in der Einhaltung und Internalisierung göttlicher Weisungen und Gebote besteht und nicht mehr mit dem freien und gnadenhaft-heilswirksamen Handeln Gottes rechnet, das sein Erinnern bezeichnet. Diese personale Spur der göttlichen Erinnerung soll nun auch in den Texten des Psalters weiter verfolgt werden.

39

Das gilt auch unabhängig von der Datierung von Hos 1-3 (vgl. Oeming 2007:158)

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5 Erinnerungstheologie im Alten Testament

5.4 Schöpferische Erinnerung in den Psalmen Wenn in den Psalmen vom Erinnern mit Gott/]hwh als Subjekt die Rede ist, so werden verschiedene Nuancierungen deutlich, die im Wesentlichen auf die bei den Grundbeobachtungen im Bereich des Pentateuch zurückgehen. Hier sollen besonders drei Psalmen betrachtet werden, an denen das in paradigmatischer Weise deutlich wird. Der Schöpfungspsalm Ps 8 nimmt die Perspektive der schöpferischen Erinnerung auf, der Klagepsalm Ps 13 führt den Gedanken der kommunikativen Erinnerung fort und in Psalm 78 - der arithmetischen wie inhaltlichen Mitte des Psalters - wird das Erinnerungsverständnis mit einer Theologie der Geschichte verknüpft.

5.4.1 Gottes schöpferische Erinnerung verleiht dem Menschen seine Würde (Ps 8) Im tempeltheologisch verdichteten und im Verlauf der Redaktionsgeschichte mehrfach überarbeiteten (vgl. Spieckermann 1989:228-230) achten Psalm, in dem man »ein poetisches Kompendium klassischer psalm theologischer Anthropologie erkennen« (Spieckermann 1989:237) kann 40 , wird das dynamische Erinnerungsverständnis im Zusammenhang mit der wohlwollenden Zuwendung Gottes zum Menschen noch einmal sehr deutlich. Ps 8,5 stellt die (rhetorische) Frage nach der Begründung und der Ursache der besonderen Würde des Menschen. Hierbei wird - durch den synthetischen Parallelismus - das Erinnern Gottes [':JI] mit seiner fürsorglichen Zuwendung ['pEl] im Sinne »eines wohlwollenden Interesses am Geschick des Menschen« Qanow40

Die optimistische, staunende Anthropologie und Theologie des Psalms geht in seiner schöpfungstheologischen Verwurzelung deutlich über die priesterschriftliche Schäpfungserzählung (in Gen 1,1 - 2,3) hinaus. Die Sprache des Psahns verwendet nicht die dort klassischen Termini der Gottesebenbildlichkeit (tl~~ und nml in Gen 1,26), sondern spricht davon, dass Gott dem Menschen j>wenig von Gott fehlen ließ« [tl"H?~~ t:lll'l? 1i1jt;lIJI;11] (Ps 8,6). Diese Formel in Ps 8,5f. ist auch innerhalb des alttestamentlichen Kanons mehrfach zitiert. Die Hoheitsaussage der Gottesnähe des Menschen erhält aber etwa in Hiob 7,17f. eine j>schroffe Ablehnung, und zwar in negativer Rückbindung an Ps 8,5f.« und auch der j>Dichter des stark anthologischen Psalms 144 staunt in theologisch eher verhaltener Anlehnung an Ps 8,5 über das Wunder der Zuwendung Jahwes zum hinfälligen Menschen« (Spieckennann 1989:237). Es handelt sich bei der Fonnulierung in Ps 8 also um einen Spitzentext psahntheologischer Anthropologie, der j>keine ängstlichen Ausklammerungen« kennt und in dem j>der Anthropomorphismus bis in die Redaktion hinein unanstößig« geblieben ist (Spieckennann 1989:236).

240

5.4 Schöpferische Erinnerung in den Psalmen

ski 2007a:67; vgl. dazu auch: Schottroff Art. ipEl, THAT)41 verbunden. Dieser Zuwendung Jhwhs zum Menschen eignet eine grundsätzliche Universalität, sie gilt allen Menschen gerade und besonders angesichts ihrer Kontingenz(erfahrung), ihrer »Kleinheit und Hinfälligkeit« Qanowski 2007a:67; vgl. dazu Bremer 2014:610). Es ist der staunenswert große und unbegreifliche Schöpfer, der ihnen angesichts ihrer Kontingenz nahe kommt und ihnen aufgrund dieser Gottesnähe, die genauso universal ist wie ihre Kontingenz, eine königliche Würde verleiht (vgl. Frevel 2004). Auch hier geht es also, wenn davon die Rede ist, dass Gott (sich) erinnert, nicht um einen rein mnemonischen oder eben noetischen Akt, vielmehr gewinnt der Mensch durch die »Aufmerksamkeit Gottes [... ] seine Würde, die ihren Grund in seiner Hineinnahme in die schöpferische Erinnerung und Zuwendung Gottes, in seinem fürsorglichen >Gedenken< und >In-AugenscheinNehmen< hat« Qanowski 2007a:68; Hervorh. AJ). In dieser Dynamik liegt auch die kontextuelle Bedeutung des achten Psalms für den Psalter insgesamt. Er bildet innerhalb der - nach dem »Tor des Psalters« (Ps 1-2)42 - ersten Teilsammlung des ersten Psalmenbuchs (Ps 1-41) deren Mitte und liefert so »nicht einen abstrakten und kontextlosen Entwurf des biblischen Dabei gilt es allerdings zu beachten, dass die Grundbedeutung der Wurzel 'P~ in der Forschung umstritten ist und die verschiedenen vorgeschlagenen Bedeutungsvarianten sich zwischen einem wohlwollenden oder interessierten Kümmern bis hin zu einem eingehenden Kontrollieren erstrecken und damit eine j>beachtliche Bedeutungsbreite« erkennen lassen (Schottroff Art. 'P~, THAT). Am wahrscheinlichsten steht jedoch hinter der theologischen Verwendung des Verbums 'P~ j>die anschauliche Bed[eutung] ,aufsuchen, besuchen, um nach jem.!etwas zu sehen«( (Schottroff Art. 'P~, THAT). Neben dieser alltäglichen Bedeutung ist die Wurzel 'P~ bereits in der :»altorientalischen Umwelt des AT« verbreitet, und zwar genauer :»immesopotamischen Schrifttum« und dort auch in :»religiöser Verwendung« (Schottroff Art. 'P~, THAT). Dabei spielt sowohl der :»Gedanke der [einseitigen] Fürsorge der Gottheit für die Menschen und ihren Lebensraum« wie auch jener der (kommunikativen) Beziehung zwischen Gott und Mensch, zwischen der :»Fürsorge der Gottheit für die Menschen, der Erhörung von Gebeten und der Gewährung von Heil« eine Rolle (Schottroff Art. 'P~, THAT). Gerade im Zusammenhang mit ':lT verweist das Wort auf die :»heilvolle Intention die der mit pqd bezeichneten Zuwendung Jahwes [... ] zukommt« (Schottroff Art. 'P~, THAT). 42 Diese Bezeichnung geht schon auf Hieronymus zurück, der sie ausdrücklich auf Ps 1 bezieht. Es gilt dabei aber zu verdeutlichen, dass das Proömium des Psalters, also Ps 1 :» [z]usammen mit Ps 2 [... ], wie die neuere Forschung hervorgehoben hat, das Tor oder Eingangsportal zum Psalter« Oanowski 2007b:28) ist. Es ist insbesondere die :»überschriftslosigkeit der ersten beiden Psalmen«, die dieses Verständnis :»einer nachträglichen Voranstellung durch spätere Stufen der Redaktion im Zuge einer thematischen Rahmengebung des Psalters« (Wagner, D. 2013:67) nahelegt. 41

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5 Erinnerungstheologie im Alten Testament

Menschenbildes (vgl. die Grundfrage Ps 8,5), sondern eine konkrete Hoffnungsbotschaft, die gerade den in den Klage- und Bittgebeten Ps 3-7 (einzelne Beter als Leidende) und Ps 9-14 (>Arme< als soziale Gruppe) gemeinten Leidenden gilt« Qanowski 2010:293; Anm. 56). Damit ist ein »theologischer Kontrapunkt gesetzt, der den buchinternen Weg von der Klage zum Lob von Anfang an vorbereitet« Qanowski 2010:293; Anm. 56). 5.4.2 Die Heilsdramatik des Vergessens Gottes (Ps 13)

Bei Psalm 13 handelt es sich um die Klage eines Einzelnen, an dem die Grunddynamik eines Klagepsalms besonders deutlich wird, die in der Wandlung des Betenden durch die Klage besteht. Zum Ausdruck kommt das besonders durch die »Trichterstruktur« des Psalms, die »eine Fokussierung auf die Schluss-Strophe hin mit sich führt« (Weber 2005:122f.). Dabei zeichnet sich Ps 13 besonders durch seine »Kürze und Konzentration« aus, seine Sprache »ist von äußerster Dichte« (Westermann 1984:56). Zusätzlich zur gattungstypischen Dreistrophigkeit des Klagepsalms (vgl. Weber 2005:122) in Klage (Vv. 2f.), Bitte (Vv. 4f.) und Vertrauensbekenntnis (V. 6) lässt sich (ebenfalls gattungstypisch) eine Dreigliederung der Perspektiven (Beter - Gott - »Andere«; vgl. Westermann 1984:56) feststellen. Es sind die drei Sozialdimensionen der Klage (Ich-Klage - Gott-Klage - Feind-Klage; vgl. Weber 2005:124), in die das Erinnerungs- bzw. hier Vergessensgeschehen Gottes eingebettet ist. Auffällig ist es dabei, dass der Adressat der Klage ausschließlich Gott ist. Die Erinnerung Gottes, auf die sich aus der flehenden Klage, Gott möge das Vergessen-Sein des Beters beenden, zurückschließen lässt, ist nicht nur ein Geschehen des individuellen (abstrahierten) Verhältnisses von Gott und (einzelnem) Menschen, sondern es ist in einen umfassenden sozial-gesellschaftlichen Kontext eingebunden. Das wird insbesondere durch das wiederholte und temporal (und anders als etwa in Ps 22.2 nicht kausal oder konsekutiv [~T;I?]) fokussierte »bis wann« [~l~ ;>1]43 (viermal in Vv. 2f.) herausgestellt. In der Klage (Vv. 2f.) artikuliert sich dabei sowohl der »Vorwurf an Gott« als auch »die Hoffnung auf die Wende der Not« Qanowski 2007a:69). Im Rückschluss hat in diesem Zusammenhang das Vergessenwerden durch Gott einen (sozial) ausschließenden Charakter. Das ist besonders im erinnerungstheoretischen Zusammenhang des 43

Ob es sich hierbei um eine auf babylonische Parallelen zurückgehende Formulierung handelt, ist in unserem Zusammenhang weniger relevant; in jedem Fall ist das wesentliche Problem des Klagenden im zeitlichen Verzug der Hilfe (Gottes) zu suchen (vgl. Weber 2005:124).

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5.4 Schöpferische Erinnerung in den Psalmen kommunikativen Gedächtnisses interessant, weil das (gegenseitige) Gedenken und Erinnern, "das soziale Gedächtnis lebensnotwendige Bindungen« (Grund 2007:50) stiftet. Es entsteht aus sozialem, kommunikativem Erinnern also gewissermaßen ein für soziales Leben entscheidendes Bindungsgejlecht H In Ps 13,2 wird das Vergessen durch seine temporale Ausdehnung gesteigert. Nicht nur das schon erwähnte temporale Fragewort, sondern auch das Nif'alPartizip n~l (dauernd) zeigen dies sehr deutlich. Der Parallelismus wiederum verbindet das Vergessen durch Gott damit, dass er sein Gesicht verhüllt (»verbirgt«) [,nc], was im Alten Testament im übertragenen Sinn 45 als »Ausdruck der Ungnade« verwendet und ausschließlich in Bezug auf Gott ausgesagt wird (Wehmeier Art. ,nc, THAT). Im Zusammenhang mit der grundlegenden altorientalischen Vorstellung der konnektiven Gerechtigkeit46 ist die Zuwendung Gottes zum Einzelnen also weder als innerpsychisches (spirituelles) Geschehen des Einzelnen (Klagenden) noch als ausschließlich individuelle Erfahrung der Abwesenheit Gottes zu verstehen. Die Zuwendung steht vielmehr in einem sozialen Zusammenhang, auf den die Zu- bzw. Abwendung Gottes konkrete Auswirkungen hat. Wenn Gott sich verbirgt, wird so die »Leib- und Sozialsphäre des Beters in Mitleidenschaft« Qanowski 2007a:72) gezogen. In der folgenden Eröffnung der Bitte wird die Ansprache Gottes noch einmal im Sinne einer Beziehungsaussage verändert, wenn der Klagende Jhwh zusätzlich als »mein Gott« [':;i~tI] anspricht. Wenn vorher also die Intensität der Notlage der Gottverlassenheit (und ihrer individuellen und sozialen Folgen) in temporaler Hinsicht besonders herausgehoben worden ist, so stellt der Beter dem nun sein persönliches Gottesverhältnis entgegen, das Gott zum heilshaften Handeln bewegen soll. In formaler Hinsicht finden die drei Imperative aus V. 4 (~Q'~:;r Zu denken ist hier an Bindungen in mehrfachem Sinne: ;.>Bindungen im Sinne grundlegender sozialer Netzwerke, Bindungen im Sinne der ,konnektiven Gerechtigkeitgutes< Schöpfungswerk« ist (Saeb0 Art. ,;~, THAT). Auf die betende Initiative (Klage) des Beters erhofft dieser sich (in der Erinnerung Gottes) die Wiederherstellung der Gottesbeziehung in Zuwendung und Antwort und dadurch die Wiederherstellung des ursprünglichen Heilszustands. Wenn man also - gewissermaßen via negativa - aus der Verwendung von n:J1II hier Rückschlüsse auf das Verständnis des Erinnerns Gottes (mit Gott als Subjekt) ziehen möchte, die sich gerade in der Wiederherstellung konnektiver Gerechtigkeit dadurch äußert, dass Gott sich des Leidenden erinnert, so lässt sich dieses Erinnern Gottes als konnektive und zugleich performative Erinnerung des ursprünglichen Heils-Zustands verstehen. Gott erinnert diesen Heilszustand also nicht als etwas Vergangenes, sondern aktualisiert ihn aus der Erneuerung der Beziehung zwischen Gott und Mensch und in der Zurückdrängung des Chaos (im weisheitlichen Blick auf die priesterliche Schöpfungserzählung in Gen 1,1-2,4 verstanden als Finsternis) und der Wiederaufrichtung der gottgewollten und gottgewirkten Ordnung (der Erleuchtung, vgl. oben die Verwendung von ~~~~ :-rl~~::r)·

Dieser Umschwung - diese Wiederherstellung - verleiht sich dann auch im abschließenden Vertrauensbekenntnis des Psalms noch einmal Ausdruck. Während die Perspektive der Feinde (aus den vorherigen l~-Aussagen) nun völlig zurücktritt, wandelt sich die soziale Dimension in ein »Moment der Verkündigung vor der Gemeinde« (Weber 2005:126). Das zeigt die Aufnahme des JubeIns [~'ll in V. 6a, das zugleich in seiner Perspektive völlig verändert wird. Es sind nicht mehr die Feinde, die über das Scheitern des Beters jubeln (vgl. V. 5a), vielmehr jubelt der Beter (in der Gemeinde) angesichts des göttlichen HeilshandeIns. Die drei Grundperspektiven des Klagepsalms sind hier - darin besteht die grundlegende Kontinuität im Blick auf den sogenannten Stimmungsumschwung am übergang von V. 5 zu V. 6 (vgl. Weber 2005: 126f.) - in ganz neuer und verwandelter Weise fortgeführt. In der (von Gott her) wiederhergestellten Gottesbeziehung (Gott) jubelt der Beter (ich) im Raum der Gemeinde (Andere), sodass sich hier eine »Reintegration in die Glaubens- und Gottesdienstgemein-

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5.4 Schöpferische Erinnerung in den Psalmen

de« (Weber 2005:129) vollzieht. Den Umschwung und Neuansatz deutet - ebenfalls gattungstypisch für die Klagepsalmen des Einzelnen (vgl. Weber 2005:127) - das Waw adversativum 'lt\l an. Erinnerungstheoretisch gewendet liegt hier auch beim Beter eine bestimmte Form der Erinnerung vor. Er gewinnt - das zeigen neben dem Waw adversativum auch die verwendeten aktivischen Verbformen, die dem fremd bestimmten Wanken [!!I17.l] das selbstbestimmte und gottgewirkte Vertrauen [n!!l:J] entgegensetzen - seine Selbstsicherheit und Standhaftigkei t zurück. Dieser Wiedergewinn der Autonomie aufseiten des Beters wird dabei von der Güte und Treue Gottes [i91J] getragen. Bei i91J handelt es sich um ein Vorzugswort des Psalters (vgl. Stoebe Art. i91J, THAT), dessen Bedeutung sich nur schwer ins Deutsche übersetzen lässt. Im profanen Gebrauch meint i91J »etwas, das in konkreten Situationen greifbar geschieht, das indessen über den Einzelerweis hinausgeht und den Täter selbst im Blick behält«, was »die Voraussetzung dafür ist, daß eine Gemeinschaft zustande kommt« (Stoebe Art. i91J, THAT). Der i91J verweist also schon auf die sozialen Komponente, die Offenheit und den Einsatz für ein gelingendes Zusammenleben, gerade das, was in der Ausgangs situation der Klage in Ps 13 sowohl in gott-menschlicher als auch in zwischenmenschlicher Perspektive gestört war. In den Psalmen kommt das Wort häufig in der Kombination mit m~1:l oder auch ~117.l1:l vor und zeigt damit, dass das Verständnis von i91J als Aussage über das Verhalten Gottes sich von der grundsätzlichen »Offenheit und Bereitschaft Gottes für den Menschen, die sich in Taterweisen äußert« mehr und mehr hin zu einer Eigenschaft oder Hypostase Gottes verschiebt. Das bedeutet »eine Einengung des ursprünglich Gemeinten« (Stoebe Art. i91J, THAT). Deshalb ist auch die deutsche übersetzung mit »Güte« oder »Huld« irreführend, weil es sich bei der i91J um »heilvolle Gottes-Präsenz und damit gerade das Gegenteil der eingangs beklagten Gottes-Absenz« (Weber 2005:128) handelt. Hier steht also kein statisches Gottesattribut, sondern ein aktives Handeln und Eintreten Gottes im Fokus. In dieses dynamische (Erinnerungs-)Geschehen, das auf eine (geschichtliche) Erinnerung zurückverweist, sind sowohl Gott als auch Mensch als Akteure und Subjekte einbezogen. Das deutet die parallele Präpositionalkonstruktion 1Q1l1111'~ an, die auf das Heil oder das Heilshandeln Gottes verweist. Es erscheinen in den beiden Begriffen zwei verschiedene, aber aufeinander bezogene Perspektiven: Einerseits die motivationale Komponente aufseiten Gottes, die seine Tendenz zum heilvollen Einsatz für den Menschen wohlgemerkt nicht ein abstraktes Gottesattribut, sondern ein Wesenszug oder

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5 Erinnerungstheologie im Alten Testament

eine Neigung Gottes - bezeichnet, die sich in konkreten (Heils-)Taten aktualisiert und manifestiert (dynamische Erinnerung Gottes) und andererseits die geschichtlichen Manifestationen, an denen der Klagende sich gerade dieser Grundtendenz Gottes versichern kann (dynamische Erinnerung des Menschen). Die Erinnerung des Beters besteht hier insofern, als sich »annehmen [lässt], dass der mit Gott Sprechende auf frühere >Gnadenerfahrungen< zurückgreift und diese in einer Vertrauensäußerung aktualisiert bzw. neu realisiert« (Weber 2005:129). Dabei geben die konkret verwendeten Formulierungen keinen eindeutigen Hinweis auf konkrete geschichtliche Manifestationen. Psalm 13 ist von der Form her also zwar ein »Individualgebet«, erhält jedoch »exemplarischen bzw. paradigmatischen Charakter« und ist so ein »Gebetsformular, das von seinen einzelnen Nachbetern je neu biographisch zu füllen ist« (Weber 2005:131f.). In ihm artikuliert sich ein sehr grundlegendes Verständnis des Zusammenhangs von einzelnem Menschen, sozialer Gemeinschaft und Gott. Feststellen lässt sich dabei gewissermaßen eine Erinnerungskommunikation zwischen Gott und Mensch. Zwischen der erinnernden Rückversicherung Gottes in der Gott sich des Menschen erinnert - und der rückversichernden Erinnerung des Menschen besteht ein innerer und kommunikativer Zusammenhang. In der Wechselseitigkeit der (gegenseitigen) Erinnerung liegt die Möglichkeit der überwindung des (menschlichen) Unheilszustands und der Restitution einer göttlichen guten Ordnung. Insofern lässt sich anhand von Ps 13 sehr grundsätzlich zeigen, wie das alttestamentlich bezeugte, weisheitlieh fundierte Erinnerungsverständnis von einer Erinnerungskommunikation zwischen Gott und Mensch ausgeht, die nicht rein noetischen, sondern handlungsleitenden Charakter besitzt. Hierbei ist noch einmal deutlich herauszustellen, dass der Mensch sich in der hier nachgezeichneten Vorstellung der gott-menschlichen Erinnerungskommunikation nicht durch das Memorieren von Geboten oder Weisungen den Heilszustand verdienen oder gewinnen kann. Es ist vielmehr die gnadenhafte und freie Erinnerung Gottes an den Menschen, seine wesenhafte Zuwendung, die diese erinnernde Rückversicherung aufseiten des Menschen erst ermöglicht. Es gibt also im theologischen Verständnis der Psalmen keinen Heilsautomatismus durch möglichst akkurates Erinnern, sondern der Akzent liegt auf der Wechselseitigkeit des Erinnerns. Die kompositorische Anlage des Psalms macht also en miniature die Grunddynamik des Psalters deutlich, dass »die Klage auf das Gotteslob zuläuft und an den >appelliert ... , der das Leid wenden kann«< Qanowski 2010:291). Im Rah-

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5.4 Schöpferische Erinnerung in den Psalmen

men dieser Dynamik von der (individuellen) Klage zum (kollektiven) Lob 47 ist das dritte Psalmenbuch (Ps 73-89) »so etwas wie eine >Schnittstelle< und Ps 78 möglicherweise die >Mitte< des Psalters«48 Oanowski 2010:288; Anm. 33). Deshalb und insbesondere wegen der zentralen Verwendung der Terminologie der Erinnerung muss Ps 78 als einer der Grundtexte des alttestamentlichen Erinnerungsverständnisses hier noch betrachtet werden. 5.4.3 Narrative Erinnerung als Geschichts- und Gegenwartshermeneutik (Ps 78)

Der Beginn des Psalms (Ps 78,1-11) hebt sich von anderen Texten insofern ab, als er »Sinn und Zweck der nachfolgenden Geschichtsreflexion transparent macht« (Knittel 2019:151). Das wird besonders dadurch deutlich, dass der Psalm reichlich unvermittelt mit einem Aufruf zum Hören in der ersten Person Singular einsetzt. Möglich wäre hier die Anknüpfung an weisheitliche Tradition. Es würde sich dann um Worte eines Lehrmeisters handeln, die jedoch typischerweise an einen einzelnen (prototypischen) Schüler gerichtet wären. Hier wird aber direkt »mein Volk« ['T;llIl angesprochen. Es kommt also ganz programmatisch Jhwh selbst zu Wort, »spricht Israel im Höraufruf als '~1I >mein Volk< (V. 1) an und deutet Geschichte« (Weber 2007:314), weshalb die ganze Komposition des Psalms ihn als Dialog zwischen Gott und Mensch zeichnet. Damit prägt den Psalm eine Synthese oder »Symbiose von Weisheit und Prophetie«, die auch das Gesamt des Psalters prägt (Weber 2007:314). In V. 2 wird dieses Gotteswort als »Parabel/Rätsel« [~III7.1l charakterisiert, was ihn mit den Psalmen 1 und 49 verbindet. Der damit verbundene Spannungsbogen lässt sich dann wie folgt skizzieren: Während in Ps 1 der (einzelne) exemplarische Gerechte in die Weisheit der Tora eingewiesen wird, werden »die Völker in Ps 49 mit einer Parabel (ein schöpfungstheologisches Thema) gelehrt« (Weber 2007:315). In Ps 78 schließlich (in der Verbindung von Tora und Parabel) wird »das Gottesvolk (mit einer heils- wie gerichtsgeschichtlichen Lektion) angesprochen« (Weber 2007:315). Ps 78 bietet so eine umfassende und grundlegen47 Diese Parameter lassen sich Mllllläherungsweise an den Gattungsbegriffen i1?~n Lehrbuch für Israel, das - auf Mehrfachverwendung angelegt - die Glaubensgemeinde durch veränderte Zeiten leiten will« (Weber 2007:316) und daher auch eine innere Mitte bildet.

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5 Erinnerungstheologie im Alten Testament de Geschichts- und Gegenwartshermeneutik an, insofern sich in der Geschichte des Volkes Israel gleichnishaft und gewissermaßen verborgen eine Deutungsfolie für die Gegenwart zeigt, deren ursprünglicher Sinn »reaktualisierend auf hintergründige Neudeutung(en) hin geöffnet wird« (Weber 2007:316). Das fordert von den Hörern und Lesern eine »interpretative Leistung ein[], um das Geheimnis zu lüften« (Weber 2007:316; so auch Knittel 2019:162).

Der wahrscheinlich spätnachexilische Text 49 von Ps 78 lässt sich gattungsgeschichtlich weder den Klagebitten [~~Eln] noch den Preisungen [~~~n] zuordnen, »wohl aber wird im Psalm auf das Erinnern von Gottes m~~n insistiert«, weshalb der Psalm einen übergangs- und Verweischarakter besitzt auf die Psalmenbücher N und V (ps 90-145), in denen die »kollektive Geschichtsvergegenwärtigung generell und Gottes Handeln darin im Speziellen zur Entfaltung kommt« (Weber 2007:312; Hervorh. AJ). Wenn man den Psalm damit ganz grundsätzlich als Geschichts-Weisung versteht, so bedeutet das eine »Doppelausrichtung von Tora/Weisheit einerseits und lobende[r] Vergegenwärtigung von JHWHs Heilstaten in der Geschichte seines Volkes andererseits« (Weber 2007:312). Das Proömium des Psalms (V. 1-11) enthält schon »alle zentralen Motive und Wortfelder«50, die dann »in den Scharnierversen (V. 17.22.32.40-42.56), die den Psalm durchziehen und die verschiedenen Unterabschnitte miteinander verbinden, wieder aufgegriffen werden« (Knittel 2019:152). Die Erinnerungsdynamik der Tara Jhwhs im Sinne einer umfassenden Geschichtshermeneutik bildet also den roten Faden dieses Psalms. Das wird auch über Stichwortverbindungen mit dem Wort Tora [~'1n] selbst deutlich. Die Verbindung spannt den Bogen vom großen Proömium des Psalters (vgl. Ps 1,2) und zieht sich auch durch Ps 78 (Vv. 1.5.10), was insofern erstaunt, als »dieser theologische Schlüsselbegriff im Psalter recht spärlich Verwendung findet« (Weber 2007:313). über die Vater-Sohn-überlieferungskette (Ps 78,3-12) stellt der Psalm »die Memorierung der Tora bzw. die Erinnerung an sie [... ] sowie das daraus fliessende Tun (>wandeln>nicht bewahren« ['DttJ ~?], j>vergessen« [n:lttJ] , :»treu/beständig sein« ni'J~] und ,>widerspenstig sein« [i1'D] (vgl. Knittel 2019:152)

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5.4 Schöpferische Erinnerung in den Psalmen

Zunächst fällt es auf, dass der gerade skizzierte göttliche Sprecherrahmen in V. 3 wieder verlassen wird und stattdessen eine Wir-Gruppe die Sprecherrolle übernimmt. Dabei sicherlich an eine Erinnerungsgruppe innerhalb des Volkes gedacht, vom Folgenden her scheint es eine Gruppe zu sein, die sich von der Vätergeneration absetzt. Diese Wir-Gruppe rekapituliert zunächst das, »was wir hörten und erfuhren« [c~111 1ll!7;I~]. Dabei wird ausdrücklich auf die Vätergeneration verwiesen wird, die es uns »erzählt haben« [1l?-1'l,lQ]. Dann bekräftigt die Wir-Gruppe in jussivischen Formen, es der nachfolgenden Generation nicht »verbergen« ['IJ~ k~], sondern gerade »Erzählende« [C',l,lQ/?; Partizip Pi'el] sein zu wollen. Dieser Satz zeigt also die Bereitschaft der Sprechergruppe, in das narrativ gefasste Traditionsgeschehen einzutreten. Auch der Inhalt dieser Traditionsnarration wird in V. 4 beschrieben: Es sind die »Preisungen Jhwhs« [~1~~ ri~::rI;1], seine »Stärke« [f1fp'] und sein »wunderbares Handeln« [1'lJ1k7l,ll; Partizip Nif'al]. Dabei ist es bezeichnend, dass für das Nicht-Verbergen eine Verbalform verwendet wird, während das Erzählen in einer Partizipialkonstruktion im Intensivstamm Pi'el ausgedrückt wird, was das erinnernde Erzählen, das hier dargestellt wird, gewissermaßen zu einer Haltung des erinnernden Erzählens steigert. Es ist also etwas, das nicht nur ihre (Gruppen)Identität, sondern ihr Sein prägt und formt. Der Narrationsinhalt ist hier nicht primär gesetzlich gefasst, sondern hat eine narrative Grundstruktur (vgl. auch Greenstein 1990:202). Wenn auch die Tora in der Dialogeröffnung (in V. 1) den Ausgangspunkt gebildet hat, so ist die stilisierte Kollektivantwort (V. 3-4ff.) nicht aufGesetzesobservanz, sondern auf narrative, kommunikative Erinnerung angelegt. Das ist - im Blick auf die Gesamtkomposition des Psalters - auch als Verweis im Psalmtext zu lesen, dass im erzählenden und lobpreisenden Erinnern, in dem »Gottes Macht- und Heilswirken in der Gründungsgeschichte Israels« (Weber 2007:311) rekapituliert wird, sich genau diese Wandlungsdynamik 51 auch in der Gesamtkonzeption des Psalters Ausdruck verschafft. Statt also im Folgenden ausschließlich die Atiologie einer Katastrophe zu liefern und eine »Sündengeschichte des Volkes« zu zeichnen, die »zur >Bittklage< einladen könnte«, setzt Ps 78 an den Anfang »Gottes preiswürdige Heilsgeschichte« und entfaltet sie (Weber 2007:311). Es ist dann auch der »Aspekt des Gottvertrauens«, der diesen Anfang und den ersten Reflexionsgang (V. 12-39) prägt, während die »Geschichtsvergessenheit besonders im zweiten Reflexionsgang [V. 40-72] verarbeitet« (Knittel 2019:152) wird. 51

Diese Wandlungsdynamik konnte man ja schon bei den Klagepsahnen des Einzelnen (vgl. 5.4.2, S. 242-247) beobachten.

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5 Erinnerungstheologie im Alten Testament

Die Charakterisierung "ihrer Väter« [CQiJt\]52 gibt Aufschlüsse darüber, wie der Psalmist das gelingende Erinnerungs- und Traditionsgeschehen versteht. Es wird zunächst als »trotziges und widerspenstiges Geschlecht« [~lb1 ,']io ,i,] bezeichnet, jeweils mit durativen Partizipialkonstruktionen. Wie also die Narrationsoffenheit und -bereitschaft und Traditionsfreude den Wesenszustand der »traditionswilligen« Generation ausmachen, so ist die Vätergeneration wesenhaft in sich selbst verschlossen und verstockt. Besonders das Verbum ~'7.1 »widerspenstig, trotzig sein« weist in diese Richtung. Es ist »Ausdruck für eine seelische Grundhaltung« »grundsätzliche[r], trotzige[r] Opposition«, die ein »wissentliches und willentliches Verhalten impliziert« und verweist »durchweg auf Widerspenstigkeit gegen Gott« (Knierim Art. ~'7.1, THAT)53. Die Vätergeneration prägt also die Haltung einer (bösartigen) Fundamentalopposition (gegen Jhwh), was man im kommunikativ-narrativen Kontext des Psalms wohl auch als selbstgewählte Beziehungsunwilligkeit und -unfähigkeit (in Bezug auflhwh) bezeichnen kann. Bei dieser Haltung handelt es sich um ein willentliches Tun und nicht etwa einen Lapsus oder eine Unachtsamkeit. Dazu kommt noch, dass das »Herz« der Vätergeneration »unbeständig« [-t1~ p::r] ist und »ihr Geist nicht auf Gott vertraut« [in1' ~~ nl:l ~lTtl:lrtl~]. Mit Geist [rr1,]54 und Herz [J~]55 wird noch einmal deutlicher eingegrenzt, dass es hier nicht um eine (äußere) Tora-Observanz geht, sondern um eine innere Angelegenheit, die »Herz und Seele« betrifft. Es ist also die innere Einstellung in ihrer Wesensmitte, die diese Opposition ausmacht. Das unterstreicht auch die Verwendung des Verbs 17.1~, das von seiner Grundbedeutung »fest, zuverlässig, Es geht hier »kaum um eine biologische Vätergeneration, sondern [um] die überzeitliche Traditions- und Schuldgemeinschaft« (Knittel 2019:163). Die Vater-Sühn-Linie, die den Psalm durchzieht (vgl. Ps 78,3-6.8-12.57) zeigt dabei :>>nicht nur die Wichtigkeit der überlieferungskontinuität, sondern markiert zugleich die je neue Verantwortlichkeit jeder Generation (", Ps 78,4.6.8) im Umgang mit JHWHs Wundertaten und seinen Geboten« (Weber 2007:316). 53 i1,i'J bezeichnete wohl zunächst eine Reaktion in einem eng umgrenzten Zusammenhang (,>Widerspenstigkeit des Sohnes gegen die Eltern [... ], Widerspenstigkeit als Wahrsagerei [... ], als Ungehorsam gegen ein bestimmtes Jahwewort«) und wurde in der :»Prophetie des 8. und 7. Jahrhunderts [...] auf das Gesamtverhältnis des Volkes zu Jahwe ausgeweitet« (Knierim Art. i11i'J, THAT). Dadurch wurde es zum :»zentralen Begriff für Sünde, durch den das Verhältnis Israels zu Jahwe in einer ganz bestimmten Weise, nämlich als grundsätzliche, bösartige Opposition gegen alles, was von Jahwe offenbar ist, charakterisiert wird« und steht damit der :»Verstockungsterminologie nahe« (Knierim Art. i11i'J, THAT). 54Vgl. hier auch wieder die Parallele zum göttlichen Schöpfergeist aus Gen 1,2. Dazu auch 5.2.1, 52

S.231.

55 Vgl. dazu, oben, 5.1.7, S. 223-225.

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5.4 Schöpferische Erinnerung in den Psalmen

sicher sein« bedeutet oder auch »so - wie«, womit »die >conformitas intellectus et rei«< ausgedrückt wird (Wildberger Art. 17.1~, THAT). Das weist noch einmal sehr deutlich auf das Fehlen des Beziehungsaspekts in der Beschreibung der Vätergeneration hin. Sie vertrauen nicht existenziell auf Gott, machen ihren Geist - bildlich gesprochen - nicht an ihm fest. Es zeigt sich hier also kein gewöhnlicher Traditionszusammenhang der Weitergabe von einer an die andere Generation, sondern ein dezidiert theologisches Traditions- und Erinnerungsverständnis, das sich (in personaler und freier, willentlicher Weise) neu an den göttlichen Traditionsursprung - nämlich Jhwh selbst - bindet. Insofern ist es ein personales und kommunikatives Geschehen, das der Psalm im Blick hat. So hat auch der Impetus selbst zum Weitererzähler der (Glaubens)Erinnerung zu werden, der hinter der Negativzeichnung der Vätergeneration steht, etwas mit einer glaubenden Selbstübereignung an Gott zu tun, die der entscheidende Gestus ist, hinter dem die materialen (oder materialisierbaren) »Inhalte« zurückstehen. Der erste Reflexionsgang des Psalms (V. 12-39) liefert nun gewissermaßen eine schöpfungstheologische Relecture des Exodusgeschehens 56 . Besonders dieser schöpfungstheologische Ansatzpunkt ist interessant, womit sich der Psalm in das Erinnerungsverständnis der priesterschriftlichen Tradition einordnet 57 Im theologischen Herzstück des Psalms (V. 33-39) folgt auf die wiederholte Schilderung der Untreue und Verstocktheit Israels das »Grundparadigma für die Geschichte Gottes mit Israel«58 (Knittel 2019:155). Es ist die Aufnahme der Gnadenformel in V. 38 und ihre erinnerungstheologische Fortführung 59 in V. 39, Das geschieht insbesondere über Stichwortverknüpfungen und der »Verwendung von signifikantem Vokabular innerhalb der Nacherzählungen« (KnittelZ019:154). Dazu zählen in Bezug auf den Exodus das Wort ,>spalten« [17pJ] in V. 13.15 und in schäpfungstheologischer Perspektive die :»Urfluten« [ni/Jf"Tilt;1] in V. 15, während die :»Rückbindung der Manna- und Wachtelgabe an Gottes kosmische Herrschaft (V. 23f.26f)« (KnittelZ019:154) gewissermaßen die beiden Traditionsstränge bewusst miteinander verwebt. 57 In dieser schäpfungstheologisch begründeten Komposition kann der Beter :->auf der geschichtstheologischen Ebene der Reflexion die Begrenzung des göttlichen Zorns durch seine Barmherzigkeit erfahren, die sich in der ständigen Versorgung seiner Geschöpfe trotz deren Verfehlung zeigt« (Knittel 2019:155). 58 Dieses Grundparadigma lässt sich mit Knittel wie folgt zusammenfassen: Auch :->wenn Israel immer wieder von Gott abgefallen ist und abfällt, immer nur nach ihm ruft, wenn es in Not geraten ist und selbst dann nur Lippenbekenntnisse vorbringt, so straft er zwar, vernichtet aber nicht vollständig, weil er barmherzig ist« (Knittel 2019:155). 59 Von einer schöpfungstheologischen Rückbindung bzw. Begründung (vgl. Knittel 2019:155) lässt sich hier nur vermittelt sprechen. Viehnehr liegt eine erinnerungs theoretische Rückbin56

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5 Erinnerungstheologie im Alten Testament

die in diesem Zusammenhang besonders interessant ist. Auch hier handelt es sich wieder um ein wechselseitiges Erinnerungsgeschehen. Das - im Handeln letztlich folgenlose - Erinnern [':JI] des Volkes in V. 35. deutet wohl die Gebrochenheit menschlichen Erinnerns an. Gemeint ist hier ein gewissermaßen äußerlich bleibendes Erinnern, das sich weder mit ganzer personaler Ergriffenheit (vgl. die Aufnahme des Wortes »Herz« [J~] in V. 37), noch in Bezug auf den eigentlich entscheidenden Erinnerungsinhalt (die Borlt, ebenfalls in V. 37), sondern nur in Lippenbekenntnissen (V. 36) vollzieht. Es zeigt sich also hier eine Gebrochenheit des Erinnerns, die hauptsächlich darin besteht, dass diese Erinnerung nicht wirklich innerlich ist oder verinnerlicht wird. Wenn auch hier das Herz [J~] wieder für diese Verinnerlichungskomponente steht, so zeigt sich, wie sehr ein personales und existenzielles Verständnis der Erinnerung von einer gewohnheitsmäßigen Ritualisierung abgegrenzt wird. Schon auf diese gebrochene Erinnerung aber gibt es eine fast paradox überschwängliche Reaktion Gottes. Er »deckt barmherzig ihre Vergehen zu« [c1n, lill '~);I~] und »verdirbt sie nicht« [nn(ll'-t(~l]. Es ist also wieder die uns schon aus der Fluterzählung bekannte heilswirksame Gesinnungsänderung Gottes, die hier mit der Stichwortverbindung über das Verb nnlll (vgl. oben, 5.2.1, S. 230) geschieht und in der zusätzlich von Gottes Barmherzigkeit gesprochen wird. Das Wort C1n, eröffnet noch einmal einen ganz anderen Horizont: Es zeigt Spuren des »Selbstoffenbarungs- bzw. Gnadenwort[es] JHWHs (Ex 34,6[-7], vgl. auch Ex 33,19)« (Weber 2007:320), womit die Gabe der Gebote am Sinai eingespielt wird. So kann man davon sprechen, dass zu der Schöpfungsperspektive hier ganz explizit die Exodusperspektive tritt, durch die »auf nachexilischem Psalterhorizont Exil und Wiederherstellung im Blick auf Bundesbruch und erneuerung am Sinai (Ex 32-34) gedeutet werden« (Weber 2007:320). Mit dieser barmherzigen Bundeserneuerung hängt dann auch die Wiederaufnahme des Erinnerns Gottes zusammen. Gott erinnert [':JI] sich daran, dass sie »Fleisch« ['(II:t] sind und ein »Geist« [n1'], der wandelt [l~~] und nicht wiederkehrt [J1111]. Die Erinnerung Gottes ist hier ganz anders fokussiert als im euphorischen Anfang der Psalms: Hier ist es die Vergänglichkeit und Kontingenz des Menschen, die Gott in Erinnerung ruft. Er erinnert sich nicht seines Bundes, wenn auch diese Erinnerung an die menschliche Vergänglichkeit seinen Zorn schon besänfdung, die durch das verwendete Verbum ':lT deutlich herausgestellt wird. Diese wiederum ist natürlich - das zeigte der Blick auf die deuteronomistische und insbesondere die priesterschriftliehe Tradition und den Pentateuch in seiner kanonischen Gestalt - ihrerseits schöpfungstheologisch zurückgebunden.

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5.4 Schöpferische Erinnerung in den Psalmen

tigt (V. 38) und als barmherziges Handeln gedeutet werden kann. Die Lektüre dieses Verses am übergang vom ersten zum zweiten Reflexionsgang ist jedoch kein derart wunderbarer Umschlag, dass die Beziehung wiederhergestellt wäre. Es lassen sich (weiterhin) Störungen festmachen und so beginnt der zweite Reflexionsgang des Psalms (V. 40-72) dann auch mit einem "Abschnitt über die Geschichtsvergessenheit, welche die unterschiedlichen Vätergenerationen Israels verbindet (V. 43-55)«, wobei »zahlreiche[] Anspielungen an das Meerlied Ex 15,1-21 auffallen« (Knittel 2019:156). Hier werden also noch einmal deutlicher Elemente des Exodus-Erzählkreises eingespielt. Die Spirale des nunmehr gegenseitigen Vergessens dreht sich weiter, bis Gott schließlich (V. 59) Israel verwirft, was die »Folgen des Vergessens« (Knittel 2019:157) beschreibt und die Zuspitzung des Konflikts zwischen Gott und seinem Volk befördert, der nun gewissermaßen seinen Höchststand erreicht hat. Interessant ist dabei in V. 61, dass er neben der Preisgabe seines Tempels (in Schilo; V. 60) - angespielt wird wohl unter historischem Vorzeichen auf den Untergang des Nordreichs Israel - auch seine »Stärke« [i!~] in die Gefangenschaft gegeben und seine »Pracht« [inl~~I:1] in die Hand der Feinde gelegt [1m] hat. Das erscheint geradezu als »Selbstpreisgabe Gottes« (Knittel 2019:157). Die Erfahrung der radikal gesteigerten Heteronomie 60 bewirkt dann wohl auch den radikalen Umschlag des Psalms und wendet den Zorn Gottes nicht gegen sein eigenes Volk, sondern gegen dessen Gegner. Mit dem Erwachen [fP'] wird dieses Umschlagen (in V. 65) beschrieben, was dann auch den finalen »Teilabschnitt [einleitet], welcher Gottes erneute Heilszuwendung thematisiert (V. 65-72)« (Knittel 2019:157.159). Die Folge dieses Erwachens - und gemeint ist eben auch hier ein existenzieller, innerer Umschlag - ist dann zwar die Verwerfung des Nordreiches Israel (vgl. V. 67), jedoch die Erwählung ]udas 61 Schließlich mündet der Psalm in ein Liebesbekenntnis zu ]erusalem: Es ist der Zion, den Gott »liebt« [J~~] (V. 68). Von daher ist es die Wiederherstellung der Beziehung von Gott her. Er baut den Tempel und erwählt David. Zum Schluss des Psalms heißt es sogar - wobei nicht ganz klar ist, ob es sich auf Gott oder auf seinen Sachwalter David bezieht: Er sorgte für sie »mit ganzem Herzen« [iJ:t7 ch f ] und »mit einsichtigen/klugen Händen« [nil1JlI:" Sprachlich weist darauf etwa die Partizipialkonstruktion des :»Bezwungenseins vom Wein« [r:~ P;'~~l hin (vgl. V. 65). 6 1 Hier könnte zu erwägen sein, :>,ob die Verwerfung des Nordreichs nicht unter der hermeneutischen Brille der Gnadenfonnel und positiv gewendet ,als Begrenzung des göttlichen Zorneshandelns< verstanden werden kann« (Knittel 2019:159).

60

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5 Erinnerungstheologie im Alten Testament

"!,l:;J] (V. 72). Im Zusammenhang des Psalms handelt es sich eher um eine Aussage über Gott als den eigentlichen Hirten seines Volkes, worauf der syndetische Anschluss im Stil der vorhergehenden Narrativ-Formen (V. 65-71) verweist. Die Dynamik Gottes kulminiert also hier am Schlusspunkt des Psalms in seiner Fürsorge. Die dafür verwendete Wurzel ~11' zeichnet das Bild von Gott als einem Hirten. Es kann davon ausgegangen werden, dass dieser Titel »sehr alt ist, ja bis in die Zeit der Väterreligion« (Soggin Art. ~11', THAT) zurückreicht. Im alten Orient ist die Vorstellung, dass der König, »der von der betreffenden Gottheit eingesetzte Hirt ist [, ... ] seit den ältesten Zeiten häufig belegt« (Soggin Art. ~11', THAT). Hier wird also ein Vokabular aus der altorientalischen Königsideologie übernommen und auf das Verhältnis Gottes zu dem von ihm eingesetzten König David bezogen. Auch dieses Bild wird dabei von der besonderen Bedeutung gerahmt, die auch hier der Verwendung des ganzen Herzens zukommt. Das ist gegenüber den vorherigen Verwendungen eine Steigerung und meint so die umfassende Verinnerlichung der Zuwendung Gottes zu seinem Volk, die dann nicht nur Maßstab und Richtlinie für den eingesetzten König ist, sondern umgekehrt auch eine umfassende Herzensbekehrung fordert, die schon der Anfang des Psalms deutlich herausgestellt hat. Es ist zutreffend, dass das »pädagogische[] Anliegen« (Knittel 2019:162) des Psalms darin besteht, dass die »Erinnerungskultur, die das Verhalten Gottes im Laufe der Geschichte mit seinem Volk präsent halten und davor bewahren soll, die gleichen Fehler zu begehen wie die Vätergeneration« (Knittel 2019:162)62. Das Begründungsschema liegt hier aber - wie in der Flutgeschichte - nicht in der Katastrophe des Vergessens, die durch menschliche Erinnerungsimperative wieder gut gemacht werden soll, sondern sie verdankt sich dem gnadenhaften, engagierten Handeln Jhwhs. Insofern endet der Psalm auch nicht mit der Katastrophe, sondern der Herstellung eines Bundes, der sowohl von ganzem Herzen als auch mit ganzer Klugheit gepflegt werden kann. Wenn zum Schluss die Perspektive des »geliebten Tempels« in den Blick rückt, so zeigt sich hier gegenüber deuteronomisch-deuteronomistischem Denken eine Verschiebung: Das Erzählgeschehen der Tradition wird hier »integrated into the context ofthis cultic thanksgiving« (Gärtner 2012:276f.). Diese kul62

Der entscheidende Unterschied zu einem deuteronomisch-deuteronomistischen Verständnis der Erinnerung als Imperativ, die sich dann durch die >>notion of ,learning/teaching< ('i'J?)« ausdrücken würde, zeigt sich hier jedoch durch die ,>nation of ,telling with praise< (,~c Pi' el)«, weshalb es sich hier um einen völlig anderen intendierten Rezeptionsprozess und damit auch eine andere Art der Erinnerungskultur handelt (Gärtner 2012:277).

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5.4 Schöpferische Erinnerung in den Psalmen

tisch-rituelle Danksagung (»aus ganzem Herzen«), die uns schon aus Ps 13 bekannt ist, dient dann auch der Einordnung des »deuteronomic-deuteronomistic ideal ofthe culture ofmemory spanning three generations (see Deut 4:9.25,6:2)« (Gärtner 2012:276f.). Er verweist gewissermaßen intratextuell mit dem ganzen Psalter, dessen Mitte und Angelpunkt Ps 78 ist, auf das dankbar antwortende Schluss-Hallel des Psalters (Ps 146-150).

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6 Erinnerungstheologie im Neuen Testament Nachdem nun Grundzüge der komplexen Erinnerungstheologie des Alten Testaments dargestellt worden sind, steht ein Blick auf die Schriften des Neuen Testaments an. Dafür soll zunächst der geschichtliche Kontext in seinem Facettenreichtum vergegenwärtigt werden. Die religionstolerante Perserzeit, in die wichtige Etappen der Pentateuchredaktion fielen, mündet im Rahmen der darauffolgenden hellenistischen und dann später römischen Zeit in einen religiösen und weltanschaulichen Pluralismus, in ein "Nebeneinander vieler Kulturen, Religionen und überzeugungen, das durch die Integration vieler Völker in die hellenistisch-römische Ökumene entstand« (Theißen 2014:185). Zu diesem pluralistischen kulturellen Gedächtnis, das »verschiedene Traditionen, die untereinander in Spannung stehen« (Theißen 2014:185), im Sinne von Realisierungsoptionen enthält, konnten sich Träger und Erinnerungsgruppen wesentlich in zwei unterschiedlichen Weisen verhalten und damit die zunehmende Komplexität dieser Erinnerungssituation bewältigen: Entweder synkretistisch 63 oder aber, das ist die zweite und für unseren Kontext entscheidende Möglichkeit, durch eine Konversionsentscheidung. Eine solche Konversionsentscheidung kommt erst dann zustande, »wenn verschiedene Traditionen exklusive Ansprüche erheben, so dass die Entscheidung für die eine Lebensorientierung eine Entscheidung gegen alle anderen ist« (Theißen 2014:185f.).

6.1 Soziohistorisehe Rahmenbedingungen neutestamentl ieher Erin nerungstheologie Die Tendenz zu einer solchen Konversionsentscheidung lässt sich (neben einigen Philosophenschulen, später dem werdenden Christentum und anderen 63

Das geschah etwa dadurch, dass man j>alles miteinander verband«, also j>verschiedene Götter nebeneinander [verehrte], [ ...] sich in mehrere Mysteriemeligionen einweihen [ließ] und [ ... ], wenn man einen Hauch monotheistischer Philosophie mitbekommen hatte, in allen Göttern die eine Gottheit an[betete]« (Theißen 2014:185)

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6.1 Rahmenbedingungen neutestamentlicher Erinnerungstheologie

»kleinen Subkulturen der antiken Welt«, Theißen 2014:186) insbesondere für das Judentum im Umfeld der Zeitenwende ausmachen, was mit dem exklusivistischen Selbstverständnis Israels zusammenhängt, das sich inhaltlich aus der alttestamentlichen Bundestheologie 64 und ihrer Ver ortung in der bewussten Willensentscheidung der Erinnerungsgruppe und jedes Einzelnen speist. Insbesondere die bundestheologische Erwählungsgewissheit und die Entwicklung zur Monolatrie und zum Monotheismus, die - zumindest normativ bzw. erinnerndretrospektiv - mit einer strikten Ablehnung eines polytheistischen Synkretismus einhergingen, führten für das Judentum besonders ab der Makkabäerzeit und letztlich bis zur Zerstörung des zweiten Jerusalemer Tempels 70 n. Chr. zu Konflikten mit den jeweiligen Besatzungsmächten. 6.1.1 »Ich aber sage euch ... « - die Antithesen der Bergpredigt Auch für das frühe Christentum lässt sich diese Konversionstendenz (besonders in Abgrenzung zum Judentum) zeigen, die sich urtypisch mit »Aussagen über den Bruch mit dem irdischen Vater illustrieren« lässt, der genuiner »Repräsentant der Tradition [ist], in die man hineingeboren wird« (Theißen 2014:186).65 Gerade ein solcher Bruch mit der Vätergeneration zeigt sich im Neuen Testament an verschiedenen Stellen, so etwa in Lk 14,26 und Mt 8,21f., aber auch paradigmatisch in der matthäi sehen Bergpredigt (Mt 5,1-7,29) durch die wiederholte Wendung »Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt worden ist ... « [HKOUcrCXTE ön EppE8~ TOlS apxcxlOlS] (in Mt 5,21.27.31.33.38.43), die jeweils durch die größere Autorität Jesu überholt wird: »Ich aber sage euch ... « [EY'" 8E 'AEycu 0~lV] (Mt 5,22.28.32.34.39.44). Auch dies wird aber »im Namen einer größeren >väterlichen Autorität< gefordert: Im Namen Gottes, der als Vater angesprochen wird« (Theißen 2014:186), was sich in der Komposition der Bergpredigt insbesondere durch das sich an die Antithesen anschließende Vater unser (Mt 6,9-13) zeigt. Dieser Neuansatz ist freilich nicht so zu verstehen, als handle es sich dabei um einen radikalen Bruch mit der jüdischen Kultur im Sinne einer völligen Lossagung. Im Gegenteil behandelt die Bergpredigt »gängige jüdische Themen, die zum größten Teil in der rabbinischen Tradition (ab dem 2. Jh. d. Z.) mit ähnlichen Ergebnissen diskutiert werden« (Böekler 2007:27). Sie unterscheidet sich jedoch im Blick auf den normativen Selbstanspruch Jesu dadurch, 64Vgl. dazu die Ausführungen oben, 5.1.6, S. 217-219 und 5.2.1, S. 234-236. 65

Diese Spuren haben auch die Formulierungen von der Absetzung von der Vätergeneration in Ps 78 (vgl. oben, 5.4.3, bes. S. 249-251) gezeigt.

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6 Erinnerungstheologie im Neuen Testament

dass sie >>nur die Position eines einzigen Lehrers [wiedergibt], keine Vielfalt der Interpretationsmöglichkeiten, keine Dialoge über die Themen« und damit »eine Liste typisch jüdischer Themen in einer ganz neuen, nichtjüdischen Form« (Böekler 2007:27) liefert. Das deutet sich besonders darin an, dass Jesus seinen Selbstanspruch in der Bergpredigt dadurch präzisiert, dass er nicht gekommen sei, »das Gesetz und die Propheten aufzuheben« [KcxTcxAurrCXl], sondern zu »erfüllen« [1IA~pi0rrCXl] (Mt 5,17). Gesetz und die Propheten meint die Gesamtheit der zur Zeit Jesu (bzw. der Zeit der Entstehung des Evangeliums) schon kodifiziert vorliegenden »Schrift«, die natürlich - so werden wir insbesondere im Blick auf die Erinnerungsformel sehen - bleibender Bezugspunkt nicht nur des Neuen Testaments, sondern des Christentums überhaupt bleibt. Das frühe Christentum, in dessen Kontext die Schriften des Neuen Testaments entstehen, ist deshalb einer charakteristischen Spannung ausgesetzt: Die »Beziehung zu Jesus in Nachfolge und Glaube« bedeutet »den Bruch mit der Tradition«, was besonders »im Rahmen eines eschatologischen Bewusstseins gedeutet wird« (Theißen 2014: 187). Dieses eschatologische Bewusstsein wiederum bewahrt vor dem völligen Bruch, weil es ein »Erfüllungsbewusstsein« ist, das den konstitutiven Bezug auf das »Gesetz« und die »Propheten« und damit eben auf das heute sogenannte Alte Testament bewahrt (Theißen 2014:187). Anders formuliert wird dies gerade an der »christologische[ n] Dimension in der Bergpredigt« (Mayordomo 2009:17) deutlich, die ein Grundzug der Charakterisierung Jesu im Matthäusevangelium ist. Die schroffe Selbst-Abgrenzung Jesu (in Mt 5,20) wird besonders durch die (literarische) Reaktion der Menge auf die Bergpredigt (Mt 7,28f.) unterstrichen: Sie »waren erstaunt« [cSE1IA~rrrrovTO], weil ihn eine »Vollmacht ausmachte« [csourrlcxv EXUlV] - so ist die Partizipialkonstruktion von EXUl deutlich mit durativem Aspekt zu lesen, also nicht »er hatte Vollmacht«, sondern »er war von Vollmacht (erfüllt)« - und diese Vollmacht ihn von den Schriftgelehrten unterscheidet. In dieser Lehrvollmacht wahrt der matthäisehe Jesus den konstitutiven Schriftbezug und gibt der Schrift gleichzeitig eine grundsätzliche Neu-Deutung, die dann (hermeneutisch gewendet) ein völlig neues Verstehen der Schrift eröffnet, die vom Christusereignis her gelesen werden kann und gelesen wird. Das ist nicht erst hier in der Reaktion auf die Bergpredigt greifbar, sondern schon gemeint, wenn Jesus davon spricht, er sei gekommen, Gesetz und Propheten zu »erfüllen« [1IA~pi0rrCXl], sie gewissermaßen in seiner Vollmacht [csourrlcx] auf ihren (ursprünglichen) Sinn zurückzuführen (vgl. Mt 5,17 und 7,29). Die »matthäisehe [... ] Jesusfigur« ist schon deshalb ein »Modell zum Nachah-

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6.1 Rahmenbedingungen neutestamentlicher Erinnerungstheologie

men«, weil er selbst zum >,Modell für den in der Bergpredigt geforderten Charakter« (stilisiert) wird, womit gleichzeitig die »Nachfolge in Gemeinschaft [... ] zum eigentlichen Ort der Charakterbildung« (Mayordomo 2009:17; Hervorh. AJ) wird. In dieser Logik liegt eine neue, hermeneutische Form der Erinnerung begründet, als deren Zeugnis man das Neue Testament und insbesondere die Evangelien lesen kann (vgl. Theißen 2014:187).

6.1.2 Die konfessorische Dynamik neutestamentlicher Schriften Für den Entstehungshintergrund des Johannesevangeliums lässt sich das in besonderer Weise deutlich machen, weil hier ein einschneidendes Erlebnis der Gemeinde zum entscheidenden Katalysator der Entstehung des Evangeliums wird. Man kann dabei zeigen (besonders für Joh 9,22;12,42 und 16,1-4), dass »der definitive Ausschluss der johanneischen Christen aus dem Synagogenverband« dieses identitätskonstitutive Grundereignis ist (Theobald, M. 2007:121). Der dahinter stehende Grund war wohl das Bekenntnis der johanneischen Gemeinde »zu Jesus de[m] präexistenten Gottes- und Menschensohn«, was aus der synagogalen Perspektive deshalb als Blasphemie erscheinen musste, weil die Gemeinde »mit ihrem Bekenntnis zur Göttlichkeit Jesu [... ] das biblische Grunddogma von der Einheit Gottes außer Kraft gesetzt und sich damit aus der monotheistischen Religion der jüdischen Synagoge selbst verabschiedet hätte[]« (Theobald, M. 2007:121f.). Für die Entstehung und Komposition des vierten Evangeliums hat dieses geschichtliche Ereignis einen Rejlexionsprozess über die (juden)christliche Identität des Gemeinde in Gang gesetzt, der seine Spuren im Evangelium hinterlassen hat. Die Trennung von der Synagoge versucht der Johannesevangelist »mittels seiner >dramatischen Erzählung< christologisch und theologisch zu begründen« (Theobald, M. 2007:123). Man wird deshalb - etwa gegen den wohl profiliertesten Vertreter Wengst 2004:121f. und mit Theobald, M. 2007:124 - nicht von einem rein innerjüdischen Konjlikt sprechen können, sondern muss die »Pragmatik des Evangelisten« ernst nehmen, dem es dezidiert um die »ekklesiologische Eigenständigkeit seines Gemeindeverbandes im Gegenüber zu >den Judenvertiefung des kulturellen Gedächtnisses« verstehen kann. Das ist insbesondere deshalb möglich, weil jetzt die Erinnerung (auch die Schriften des Alten Testaments) nicht mehr einfach überkommene Tradition sind, sondern das Verhältnis zu ihnen "durch Wille und Entscheidung bestimmt ist« (Theißen 2014:189). Diese Grundtendenz der Optionalisierung - und das ist gerade für die Relevanz des biblischen Zeugnisses für heute entscheidend - unterscheidet sich zwar im Sinne des Ausmaßes, der Unübersichtlichkeit und der medialen Zugänglichkeit von der Situation der Antike um die Zeitenwende, aber nicht grundsätzlich von der Situation in der Postmoderne. Sowohl die Multioptionalität als auch die Notwendigkeit zur Wahl und der damit verbundene Zwang zur Häresie (Peter Berger) sind schon in den biblischen Schriften, besonders deutlich im Neuen Testament zu finden. Von da an prägen sie die Kulturgeschichte von Kirche (und Judentum) bis heute, wenn auch selbstverständlich in historisch unterschiedlichen Ausprägungen (vgl. Theißen 2014:188-194). Das Verständnis christlicher Tradition als Kanon überkommener Traditionen scheint dagegen deutlich die Spuren einer sehr modernen (und postmodernen) Auseinandersetzung zu tragen, die erst im 19. und dann verstärkt im 20. und am übergang zum 21. Jahrhundert virulent geworden ist (vgl. dazu oben, 2.2, S. 35-48). In diesem biblischen Zugang ist es deshalb relevant, dass das Neue Testament im Zuge dieser fortschreitenden Pluralisierung und der sie begleitenden Konversions- und Konfessionsdynamik 67 auch zu einer grundlegenden begrifflichen Differenzierung in Bezug auf Tradition und Erinnerung führt, die diesen schlaglichtartigen Durchgang durch die neutestamentlichen Schriften prägt. So wird im Neuen Testament zwischen den Termini der 1) Tradition (der Vätergenerationen) [1Icxpa80ms], dem 2) Uber- bzw. Ausliefern [1Icxpcx8l8cufll] und schließlich dem 3) Erinnern [fllflv~(),KCU bzw. flv~floVEUCU (trans.)] bzw. der Erinnerung [fllfl~ms] unterschieden, um die einzelnen Aspekte vom Christusereignis her in einen neuen Zusammenhang zu bringen. Diese Unterscheidung geht über das dynamische (theologische) Erinnerungsverständnis des Alten Testament noch einmal insoweit hinaus, als die Schrift(en) (»Gesetz« und »Propheten«) in dem 67

Gemeint ist das, was Theißen als den j>durch Wahl und Wille bestimmten Bruch mit einer Tradition und der bewusste Anschluss an eine andere Tradition« (Theißen 2014:189) bezeichnet.

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6.1 Rahmenbedingungen neutestamentlicher Erinnerungstheologie

skizzierten Zusammenhang in eine mittelbare Distanz gerückt sind, die ihnen gleichzeitig eine konstitutive Bedeutung für die Rückverankerung des Christusgeschehens liefern. Im Folgenden wird also zunächst besonders dem theologischen Bedeutungsgehalt von fllflv~(),KCU nachzugehen sein, um diesen schließlich im Zusammenhang bzw. Verhältnis mit dem Wortfeld rrcxpcx8l8cufll (rrcxpa8omsl darzustellen, wobei eine zentrale Bedeutung hier der Abendmahlstradition zukommt, in der beide Wortfelder unlösbar miteinander verwoben sind.

261

6 Erinnerungstheologie im Neuen Testament

6.2 Erinnerungstheologie im lukanischen Doppelwerk

Für das Verständnis der Erinnerung im Neuen Testament ist die Verwendung der sogenanntenErinnerungsformel- »sie erinnerten sich« [Eflv~cr8~()T{vl oder oft imperativisch »erinnert euch« [flv~ floVEUETE 1 - zentral. In ihr liegt wahrscheinlich die Grundform des neutestamentlichen Erinnerungsvokabulars. Gerade die imperativische Verwendung, die durchaus intertextuell auch Anklänge an den deuteronomisch-deuteronomistischen Erinnerungsimperativ (vgl. oben, 5.1.5, S. 214-217) haben könnte, ist wahrscheinlich besonders deshalb ursprünglich, weil sie den »zur mündlichen Rede passender n 1Vorspann für die anschließend zitierte(n) überlieferunge(n)« bildet (Theobald, M. 2007:111). Damit ist dafür spricht auch, dass die Form nach dem zweiten]ahrhundert nicht mehr verwendet wird - »für diejenige Phase des frühen Christentums charakteristisch gewesen«, in der »trotz längst in Gang befindlicher Verschriftlichung der ]esusüberlieferung deren Weitergabe immer auch noch mündlich erfolgte« (Theobald, M. 2007:111).

6.2.1 Die »Erinnerungsformel« und ihre Verwendung

Es handelt sich bei der Erinnerungsformel also ursprünglich wahrscheinlich um mündliche Tradition im Sinne von Katechese oder Paränese. Der Formel geht es aber nicht um eine historische Genauigkeit im modernen Sinn. Sie hat - gemäß der Dynamik, die wir uns schon anhand der matthäi sehen Bergpredigt und der Situation der johanneischen Gemeinde verdeutlicht haben - eine kerygmatische Sinnspitze, insofern »nicht einfach an Worte Jesu, sondern an solche des Herrn erinnert wird« (Theobald, M. 2007:111; Hervorh. im Original). Die Verwendung dieser Erinnerungsformel lässt sich in einem übergreifenden Zusammenhang am besten im lukanischen Doppelwerk zeigen, weshalb diese Texte nun zunächst im Vordergrund stehen, bevor dann die grundsätzlich auch auf diese Erinnerungsformel zurückgehende Erinnerungstheologie des ]ohannesevangeliums entfaltet werden soll.

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6.2 Erinnerungstheologie im lukanischen Doppelwerk

6.2.2 Die erinnernde Anknüpfung Gottes an seine Heilsgeschichte mit Israel im Magnifikat (Lk 1,46-55) Schon unmittelbar zu Beginn des Lukasevangeliums zeigt sich sein grundlegendes erinnerungstheologisches Interesse. Der Blick auf das Vorwort (Lk 1.1-4), das diesen Erinnerungs- und Traditionsanspruch ganz zu Anfang in aller Deutlichkeit artikuliert, entfällt hier in der Betrachtung jedoch zunächst, weil dort das Verb 1Icxpcx8l8cufll verwendet und es deshalb im traditionstheologischen Abschnitt dieses exegetischen Teils untersucht wird. Sachlich handelt es sich hier aber natürlich auch um ein Vokabular der Erinnerung. Eine Form aus dem Wortfeld fllflv~crKcu / flv~floVEUCU findet sich dann zum ersten Mal am Ende des Magnifikat (Lk 1,46-55). In diesem Text aus dem lukanischen Sondergut, der deshalb auch besonders die spezifische Redaktionsabsicht des Lukasevangelisten zeigt, findet sich eine dezidiert theologische Verwendung der Erinnerungsterminologie. Das Magnifikat, das als »kreative Neugestaltung« (Hieke 2007:7) des Danklieds der Hanna aus 1Sam 2,1-11 (auch und gerade angesichts kleinerer Unterschiede in der Grundkonstellation) gestaltet ist, steht - insbesondere im kompositorischen Kontext, in dem Lukas seinen (fiktiven) Adressaten Theophilus von der »Zuverlässigkeit« [acrcpaAElcx] seiner Lehre überzeugen will - in einer Reihe »deutliche[r] Rückgriffe[] auf die Geschichte Gottes mit seinem Volk, dem Volk Israel« (Hieke 2007:2). Es verfolgt die Grundintention »Brücken zwischen den bei den Geschichten« zu schaffen, »letztlich auch, um zu zeigen, dass es eine Geschichte ist« (Hieke 2007:2; Hervorh. im Original). Schon allein die Form des Magnifikat, ein längeres Gebet einer Hauptperson, das in den Erzählverlauf eingebunden ist, zeigt deutlich alttestamentliche Spuren und ist insgesamt eine »Komposition aus an Psalmen erinnernden Formulierungen, die zentrale Themen des >Alten Testaments< aufgreifen«'8 (Hieke 2007:4). Im weiteren Verlauf des Lukasevangeliums werden die »Perlen dieser Geschichte, die Verheißungen Gottes, die zentralen Anliegen dieser Botschaft, zugespitzt auf die >Option Gottes für die Armen«< zu »Verankerungspunkte[ n] für die neue Geschichte«, die Lukas erzählt (Hieke 2007:4). In diesem großen retrospektiven Zusammenhang ist auch ganz programmatisch vom Erinnern Gottes die Rede. So heißt es zum Finale des Hymnus zunächst: »Er [Gott] kümmert [avTEAa~ETO] sich um Israel, sein Kind, um das Erbarmen zu erinnern [flv~cr8~vCXl]« (V. 54). Interessant ist hier, dass am An68

Eine Zusammenstellung und Analyse dieser Motive bietet Hieke 2007:7-23.

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6 Erinnerungstheologie im Neuen Testament

fang dieser Erinnerungsformulierung - wie wir schon in der Erinnerungsdynamik des Alten Testament gesehen haben - das Erinnern Gottes in den Rahmen der besonderen, personalen Beziehung Gottes zu Israel eingeordnet wird. Darauf weist das aVTlAafl~avoflCXl in Verbindung mit der Bezeichnung Israels als »Kind« ["alS], das im lukanischen Doppelwerk »Sammelbegriff für die im Haus dem Herrn unterstehenden Glieder des Hausstandes« (Bühner Art. "alS, EWNT) ist, also eine familiare Beziehung ausdrückt. Die eigentliche Erinnerungsformulierung flv~cr8~vCXl CAEOUS spielt dann wohl auf Ps 98,3a [LXX: 97,3a] an, wo es wörtlich heißt: »Er [Gott] wurde an sein Erbarmen gegenüber Jakob erinnert« [cflv~cr8~ TOD CAEOUS aiJTOD T0 ']aK(0~], wobei man jedoch feststellt, dass die »syntaktische Verbindung [... ] lose« (Leivestad Art. fllflvncrKOflCXl, EWNT) ist. Es könnte auch - besonders in Verbindung mit V. 55 - auf Mi 7,20 verweisen (so Hieke 2007:22). In beiden Fällen würde eine ähnliche alttestamentliche Perspektive eingespielt: Wenn Ps 98 dann nach dem bekräftigenden Parallelismus membrorum in V. 3b - in 3c mit »alle Enden der Erde sahen das Heil unsres Gottes« anschließt, so würde diese Eröffnung wunderbar in die Kompositionsdynamik des lukanischen Doppelwerks passen, das sich ja gerade im Sinne einer Ausbreitung der Botschaft und des Heils von den Rändern der Welt in ihre Mitte (so eher die hellenistisch-römische Perspektive) oder eben (aus jüdischer Sicht) von der Mitte an die Ränder verstehen lässt. Ganz ähnlich wäre ein Anschluss an Mi 7,20 mit dem für das Ende des Michabuches prägenden »hoffnungsvollen Ausblick, dass Gott sich wieder als treu gegenüber seinen Verheißungen erweisen [... ] und die einst Abraham und den Erzvätern gemachten Zusagen wieder in Geltung versetzen wird« (Hieke 2007:22). Und so bezieht sich V. 55 auch sehr direkt auf das Sprechen zu den Vätern, was die Perspektive über die jüdisch-israelitische Verheißung hinaus auf ihren Ursprung (im Gottesbund mit Abraham) und damit gleichzeitig - indem Abrahams Nachkommenschaft in eine dauerhafte Perspektive (vgl. EiS TGV ali0va) prophetisch verlängert wird - auf eine universale Bedeutung ausgeweitet wird. Der Kontext der Ankündigung der Geburt Jesu, in dem das Magnifikat ja ganz ausdrücklich steht, ist also so zu verstehen, dass »die Menschwerdung Jesu in Maria als eine Weise der Verwirklichung dieser Verheißungen erscheint« und die »bevorstehende Geburt des Retters Jesus zum sicheren Zeichen des göttlichen Erbarmens mit seinem Knecht Israel« wird (Hieke 2007:25). Es ist darin auch das prophetische Grundschema zu sehen, in dem das ganze Evangelium und letztlich das ganze lukanische Doppelwerk gelesen werden will: Indem das

264

6.2 Erinnerungstheologie im lukanischen Doppelwerk

erste Kapitel des Evangeliums der eigentlichen Lebensgeschichte Jesu eine solche universal angelegte Rezeption alttestamentlicher Verheißungen und Zusagen Gottes an sein Volk voranstellt, macht es auch eine Leseanweisung für den Gesamttext. Das ganze Jesusgeschehen will innerhalb eines Verstehensrahmens von Verheißung und Erfüllung gelesen werden. Im großen Bogen dieser lukanischen Verheißungsrezeption und -hermeneutik in Lk 1 bildet dann interessanterweise das Benediktus (Lk 68-79) die (erste) Erfüllung dieser Verheißung(en). Es wird von Zacharias nicht auf die Ankündigung von Gottes heilswirkenden Handeln in Johannes dem Täufer und Jesus hin gesprochen, sondern nach der Geburt Johannes des Täufers. In diesem Kontext wird dann auch der Bundesgedanke ganz explizit aufgenommen. Rückbezüglich auf Lk 1,54 führt in diesem Kontext V. 72 bestärkend aus, die Verheißung der Propheten (so der Kontext mit V. 70) sei, dass Gott Barmherzigkeit zu tun beginne [1[Ol~crCXl EAEOSl (V. 72a) - so die ingressive Aspektbedeutung der Aoristform 1[Ol~(),(Xl - und das eben schon mit unseren Vätern. Das ist einerseits natürlich ein traditionsrückbezüglicher Terminus, es erhält andererseits aber - gerade im Kontext der soeben wunderbar verwirklichten Vaterschaft des Zacharias - eine immense Gegenwartsbedeutung: Mit der Geburt des Vorläufers Johannes, und dann noch verstärkt mit der Geburt Jesu, setzt Gottes Tun der Barmherzigkeit wahrnehmbar und verwandelnd ein. über den syndetischen Anschluss wird dies in V. 72b mit dem Erinnerungshandeln parallelisiert: Dass Gott Barmherzigkeit tut - wie in den Zeiten der Erzeltern - bedeutet ein (nicht nur grammatisch) ingressives und deshalb dynamisches Erinnern seines heiligen Bundes [flv~cr8~vCXl 8lCX8~K~S aylcxs cxiJT00]. An dieser Stelle bietet sich noch ein kurzer Seitenblick auf das Nunc dimittis (Lk 2,29) an. Während die bei den anderen großen Hymnen (Magnifikat und Benediktus) vor der Geburt und damit im Bereich der Erneuerung der Verheißung verortet sind, findet sich als Abschluss der Kindheitsgeschichte ein weiterer Hymnus. Dieser bildet den übergang von der verheißungsrezipierenden Grundlegung in Lk 1-2 zur lukanischen Theologie des Weges 69 , die wiederum im weiteren Verlauf der Erzählungen des Lukas "den roten Faden seines Dop69

Dieser Verkündigungsweg Jesu, auf dem er :>mach den Verlorenen sucht (Lk 19,10)«, endet schließlich :»inJerusalem [ ... ], dem Ort seines Todes und seiner Auferstehung« und geht nachösterlich als Weg des Evangeliums j>seinen Weg von Jerusalem und Judäa aus über Samarien bis an die Grenzen der Erde, immer noch auf der Suche nach den Verlorenen, die Gott längst für die Rettung bestimmt hat (Apg 1,8) und nun - Schritt für Schritt - von den Nachfolgern Jesu finden lässt« (Söding 2019a:58).

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6 Erinnerungstheologie im Neuen Testament

pelwerks spinntich nicht«

[OUK dilL] und schließlich in V. 60 ,>ich weiß nicht, wovon du sprichst« [OUK üloa Ö AEyaS], sodass j>bei jeder Verleugnung eine andere Aussage in direkter Rede im Mittelpunkt steht« (Klein 1976:167).

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6 Erinnerungstheologie im Neuen Testament

resultativen Bedeutung so verstehen kann, dass ihn diese gewissermaßen durch einen äußeren Anlass, aber in die innere Grundüberzeugung des Petrus hineinwirkende Erinnerung - 01IOfllflv~crK(0 meint ja wörtlich etwa soviel wie »hinaberinnern« - trifft und betrifft. Es ist diese Dynamik der Erinnerung, die durch die passive Diathese des Verbs an dieser Stelle besonders eindringlich dargestellt wird. So erscheint diese Erinnerung an das nur wenig vorher von Jesus direkt und ausschließlich an Petrus gesprochene Wort in einer personalen Dynamik"l, die getragen ist von der Beziehung zwischen Petrus und Jesus. Der Intensität des Getroffen-Werdens durch die Erinnerung entspricht dann auch die Reaktion des Petrus: Er verlässt den Hof des hohepriesterlichen Hauses und »fängt an, bitterlich zu weinen« [CKACXUCYEV 1IlKpi0S]. Es ist interessant, dass hier der (österlich imprägnierte) Hoheitstitel »Kyrios« verwendet wird, während im Kontext des von Jesus gesprochenen Wortes zwar ein übergang von »Sirnon« (doppelt herausgehoben in V. 31) zu »Petrus« (V. 34) auffällt, das Wort Jesu aber mit dem einfachen Artikel 6 eingeleitet wird. Vielleicht mag man hierin (angelehnt an Klein 1976:159) eine österliche Prolepse erblicken. Bei dieser ersten Form der Verwendung der Erinnerungsformel geht es also um ein konkret von Jesus (dem Herrn) gesprochenes Wort, das ein Jünger erinnert bzw. an das er erinnert wird und das dann eine innerliche Erschütterung bewirkt. Es ist die ursprüngliche personal-dynamische Intention des Petrus, mit Jesus in Gefängnis und Tod zu gehen, die nach ihrem Scheitern durch die Verleugnung schon vor dem eigentlichen Anfang des Passionsweges Jesu in einer dynamischen und existenziellen Erinnerung zurückkehrt und zwar in einem Anstoß von außen, den man auch - etwa wenn man die grammatische Form als passivum divinum deutet - im Sinne einer göttlichen Initiative (vgl. Theobald, M. 2007:114) verstehen kann.

6.2.4 Vorausweisende Auferstehungserinnerung am leeren Grab

(Lk 24,5-8) Eine nächste Reflexionsstufe erhält die Erinnerungsformel dann in einem explizit österlichen Kontext, genauer: bei der Erzählung vom leeren Grab. Die Perikope bildet den programmatischen Anfang des lukanischen Auferstehungskapitels (Lk 24), das von großer Dynamik geprägt ist (vgl. Wolter 2008:768). Als die 71

Diese Dynamik zeigt deutliche Parallelen mit der Erinnerung des Mundschenks in der Josefsnovelle Gen 40/41 (vgl. dazu oben, S. 227).

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6.2 Erinnerungstheologie im lukanischen Doppelwerk

Frauen zum Grab 72 kommen, um den Leichnam Jesu mit den vorbereiteten Salben (vgl. Lk 23,56) nach Abschluss des Schabat - am »ersten Tag der Woche« (V. 1) - zu salben, sehen sie, dass der Stein, der das Grab verschlossen hatte, entfernt worden ist. Den Leichnam Jesu finden sie nicht 01. 2f.), sind sie verzweifelt und ratlos [imopEUl]. Damit wird von Lukas zunächst angedeutet, dass in dieser vorfindlichen Faktizität des leeren Grabes noch keine hinreichende Bedingung für den Auferstehungsglauben gegeben ist. Wie schon bei den Auferstehungsankündigungen im Lukasevangelium (vgl. Lk 9,22.44;17,25;18,32f) stellt sich auch hier bei den Jüngern bzw. den Frauen keine Erkenntnis ein. Das Geschehen des leeren Grabes an sich bleibt auch für die Frauen, die ja offensichtlich schon zum engeren Kreis der Jüngerinnen und Jünger gehörten73 und damit in einer den Jüngern vergleichbaren Beziehung zu Jesus standen, unerklärlich und verstörend. Erst die zwei Männer 74 , die dann auftreten, schaffen (hermeneutische) Abhilfe. Die Frauen erschrecken und schauen zu Boden [KAlvUl]. Die unmittelbar anschließende harsche Frage der beiden Männer (»Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten?«) muss man zunächst als weitere Relativierung der Bedeutung des leeren Grabes für den Osterglauben verstehen. Das leere Grab ist also weder hinreichende Bedingung für den Osterglauben, noch der Ort - das ist ge raInteressant ist, dass dieser Leitbegriff des Auferstehungskapitels, zu dem immer wieder zurückgegangen wird (vgl. Lk 24,2.9.12.22.24), gegenüber dem ;.>Felsengrab« (aus Lk 23,53) diese genauere Bestimmung weglässt. Es ist dann stets nur noch einfach das ,>Grab«, wofür zudem der Begriff IlVTllla gebraucht wird. Das ist zwar gegenüber dem IlVllllfLOV, das die anderen Evangelisten verwenden, weitgehend bedeutungsgleich, man könnte es jedoch von seiner ursprünglichen Bedeutung im klassischen Griechisch, »Gedächtnis(mal)« (Völkel Art. IlVllllfLOV, EWNT), schon als Hinweis auf eine erinnerungs theologische Komposition von Lk 24 lesen. In jedem Fall ist darin die erinnerungskorrigierende :»Tendenz sichtbar, Jesu ;.ungerechtes Geschick durch die ehrenhafte Bestattung gleichsam in einem ersten Akt< zu korrigieren«, was über das :»rTanicht nur das (vordergründige) Wiedererkennen, sondern das Sehen bzw. Erfahren des Auferstandenen« (Hackenberg Art. rmYLVWGKW, EWNT) bezeichnet und damit den Akt eines personalen (Wieder)Erkennens oder auch einer personalen Erinnerung bezeichnet, die gleichzeitig ihre Augen j>durch und durch« öffnet UhavoLYw] so wie Jesus ihnen j>durch und durch« die Schriften geöffnet hat [oLavoLyw]. 78 Vgl. dazu Jeremias 1980:319 und zur Emmausgeschichte in ihrer hermeneutischen Dynamik ferner auch Jaklitsch 2012:154-158. 77

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6 Erinnerungstheologie im Neuen Testament

was schlussendlich >>Verstehen frei[ setzt]« (Theobald, M. 2007: 114). Dort bestätigt Jesus nämlich selbst, dass das, »was im Gesetz des Mose, bei den Propheten und in den Psalmen über mich gesagt ist« (V. 44), erfüllt werden muss [1IA~p6(0]. Die Rede von der Fülle und vom Erfüllen gehört zum lukanischen Vorzugsvokabular und wird dort (anders als etwa bei Markus, der die Wendung »die Zeit ist erfüllt« [m1IA~p(0'[(Xl 6 KCXlp6S] bevorzugt) stets programmatisch als Erfüllung der als prophetisch vorzeichnenden Schrift79 verstanden, wobei es festzuhalten gilt, dass das »Verstehen dieser Erfüllung [... ] nur nach österlich möglich« ist (vgl. Hübner Art. 1IA~p6(0, EWNT). 6.2.5 Kornelius, Petrus und die verändernde Erinnerung (Apg

10,1-11,18)

Schließlich taucht die Erinnerungsformel noch einmal in einem weiteren Scharnierkontext des lukanischen Doppelwerks auf, nämlich als Begründungsmotiv im Rahmen der Verteidigungsrede des Petrus (in Apg 11,1-18) im Kontext der Begegnung mit und schließlich der Taufe des Gottesfürchtigen Kornelius (Apg 10,1-11,18). Zusammen mit der Perikope der Taufe des äthiopischen Kämmerers durch Philippus (Apg 8,26-40), die noch einmal eigene Akzente setzt und bei der es nicht klar ist, ob es sich bei dem Kämmerer um einen Juden, Proselyten oder Gottesfürchtigen handelt (vgl. dazu Lindemann 2004), ist nach lukanischer Darstellung »das mit den Namen Petrus und Cornelius verbundene Ereignis« der »eigentliche[] Beginn der >Heidenrnission< [... ], worauf dann eine entsprechende Mission auch in Antiochia möglich wurde« (Lindemann 2004:109). Zwischen diese Erzählung von der Begegnung zwischen Petrus und Kornelius, die narrativ die für Fetrus entscheidende (Gottes)Erfahrung für die Begründung der Heidenmission liefert, und die summarische Notiz über die Verkündigung in Antiochia (Apg 11,19-21) tritt dann auch die Verteidigungs- oder Erklärungsrede des Petrus (in Apg 11,1-18) - ein Text, der in auffälliger Parallele zur Pfingstpredigt (Apg 2,14-36) gestaltet ist (vgl. Theobald, M. 2007:115). Kornelius wird (Apg 10,1) als römischer Offizier (Centurio / EKcxTOvTapx~s), ein im römischen Verständnis populärer Soldatengrad, vorgestellt. Er dürfte »im Verwaltungsbereich tätig gewesen sein, woraus sich der Kontakt mit der jüd. Umgebung erklärt« (Untergaßmair Art. EKaTOVTapx~s, EWNT). Er ist also Heide, wird jedoch als »fromm und gottesfürchtig« [Ei)(),E~~S Kai cpo~01)flEVOS TGV 79

In V. 44 ist dieser Bezugspunkt schon ein dreiteiliger Kanon.

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6.2 Erinnerungstheologie im lukanischen Doppelwerk

8EOV] charakterisiert und zwar im Rahmen seiner Hausgemeinschaft (V. 2a). Seine Frömmigkeit wird in V. 2b noch einmal genauer bestimmt: Er macht dem Volk gegenüber viele Wohltaten/Almosen [EAE~flocruv~]. Dies wird im Neuen Testament als lautere Wohltätigkeit (vgl. Staudinger Art. EAE~flocruv~, EWNT) verstanden und galt gleichzeitig dem >,AT und jüd. Theologie als verdienstlich«, wo es »Sündenvergebung bewirken« sollte und »als Bedingung des Heils angesehen [... ] und dem Opfer gleichgestellt« (Staudinger Art. EAE~flocruv~, EWNT) wurde. Während diese Haltung also eine deutliche Zuwendung vorwiegend zum Judentum charakterisiert, dient das ständige und inständige Beten [ÖEOWH] im paulinisch-lukanischen Vorzugsvokabular zur Bezeichnung eines» bestimmten Frömmigkeitsstils, der die Haltung der Christen beschreibt« (Schoenborn Art. ÖEOWH I öE~ms, EWNT). Kornelius ist also jemand, der zentrale Inhalte jüdisch-christlicher Religiosität und Frömmigkeit schon verinnerlicht hat, wobei eben die Kombination aus Almosengeben und Gebet als die dem im lukanisehen Doppelwerk beschriebenen WegJesu entsprechende christliche Grundhaltung oder -tugend verstanden wird. Von diesen Voraussetzungen her fährt der Text nun ganz dezidiert in erinnerungstheologischem Vokabular fort, wenn in der Engelsvision (Apg 10,3-7) konstatiert wird, dass dieses Prägemal christlicher Religiosität (Almosen und Gebet) als Wesensbestimmung und Handlung des Kornelius »in die Erinnerung Gottes aufgestiegen ist« [avE~~crav EiS flv~fl6cruvov Eflrrpocr8Ev TOU 8mu] (V. 4). Das Handeln des Kornelius ist also in Gottes Erinnerung hineingekommen, was wenn man die Erinnerung Gottes vor dem alttestamentlichen Hintergrund als ein kommunikatives Geschehen zwischen Gott und den Menschen, insbesondere zwischen Gott und seinem Volk versteht - bedeutet, dass diese ursprünglich exklusive gegenseitige Erinnerungsgemeinschaft hier ihre Öffnung auf den (paradigmatisch) gerechten, frommen und wohltätigen Kornelius erfährt. Dieser reagiert zu Beginn der Begegnung in V. 4a mit dem gleichen Verbum des theophanen Erschreckens [EWpO~OS ylvoflCXl] wie die Frauen am Grab (Lk 24,5) und die Jünger bei der Begegnung mit dem Auferstandenen (Lk 24,37), was den Text nicht nur in einen theophanen, sondern in einen österlichen Zusammenhang stellt. Die durch den Engel gewirkte Erinnerung Gottes mündet für Kornelius dann in den Auftrag, Petrus aufzusuchen. Petrus hat parallel (so berichtet Apg 10,9-17) ebenfalls eine Vision, »in deren Verlauf unreine Speisen unter Berufung auf den Willen Gottes für >rein< erklärt werden« (Lindemann 2004:110). Als Petrus durch diese Vision äußerst verunsichert ist - darauf verweist das durch das Präfix Öl- in seiner Intensität gestei-

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6 Erinnerungstheologie im Neuen Testament

gerte imopEUl -, stehen ein paar Männer, die Kornelius zu Petrus geschickt hat, schon vor der Tür, woraufhin Petrus sie auf einen Wink des Geistes [rrvEDfHX; V. 19] - Petrus mit seinen Reinheitsvorstellungen muss gewissermaßen "durch diesen Geist erst überwunden werden« (Theobald, M. 2007:116) - und dessen Erklärung, er »habe sie geschickt« (V. 20), empfängt. Während also bei der Vision des Kornelius schon der österliche Rückbezug deutlich wird, deutet sich jetzt bei Petrus zusätzlich eine pneumatologische Fügung der Geschichte an. Petrus macht sich schließlich auf den Weg zu Kornelius und kehrt in sein Haus ein. Gegenseitig berichten sich beide von ihren Visionserfahrungen, die für Petrus zu der Erkenntnis geführt haben, »dass man keinen Menschen unheilig oder unrein nennen darf« (V. 28). Kornelius wiederum gibt seine Erfahrung und das Wort des Engels (aus V. 4) wieder, wobei eine kleine Verschiebung auffällt. Jetzt ist nicht mehr nominal von der Erinnerung [flv~fl6cruvov] Gottes die Rede, es wird vielmehr verbal formuliert, dass Gebet und Almosen »vor Gott in Erinnerung gebracht wurden« [Eflv~()'8~c"xv Evc01IlOV TOD 8mD]. Die Aoristform verstärkt den ingressiven Aspekt des Geschehens, während die Passivform etwas Anderes andeuten könnte: Wenn es als passivum divinum verstanden wird, wäre hier passend zur Formulierung in V. 4 das göttliche Handeln ausgedrückt. Es kann aber auch sein, dass sich in der Passivformulierung - entsprechend dem eröffneten kommunikativen Zusammenhang des Gesprächs, der eindeutig als vorher undenkbar (V. 28) dargestellt wird - eine neue, Gott und Menschen (und das heißt hier auch: Juden und Heiden) umfassende kommunikative Erinnerung Ausdruck verschafft. Im Austausch und Dialog verschiedener Erinnerungsgruppen, für die Petrus und Kornelius paradigmatisch stehen, entstünde dann in der verschränkten Kommunikation coram deo (die beiden Einzelvisionen, die hier im Gespräch zusammenkommen) und von Gott her eine neue sich performativ ereignende und deshalb in der Folge strukturell einzuholende identitätsprägende und zugleich identitätswandelnde Erinnerung. Jedenfalls wird dieses Geschehen schon als Reflexions- und Verständnisprozess des Petrus gezeichnet, was zum skizzierten hermeneutischen Erinnerungsverständnis des lukanischen Doppelwerks passt. Der Erkenntnisprozess mündet in eine »Predigt« des Petrus (V. 34-43), die diesen Erfahrungszusammenhang in eine narrative Struktur bringt und dabei die Heilsgeschichte einer geistgewirkten Relecture unterzieht. An deren Schlusspunkt steht zunächst ein Bekenntniswort, das der lukanische Petrus in der prophetischen Tradition verankert. Es folgt die Notiz, dass, während Petrus noch redete, »der Geist [rrvEDflcx] auf alle kam, die das Wort [A6yov] hörten« (V. 44).

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6.2 Erinnerungstheologie im lukanischen Doppelwerk

Dieses Geschehen besitzt deutliche Anklänge an das Pfingstereignis (Apg 2,4), auch darin, dass die Geistbeseelten dann >,in Zungen reden« und »Golt preisen« (V. 46), weshalb man das Geschehen zurecht auch als »>Pfingsten< der Heiden« (Theobald, M. 2007: 115) bezeichnen kann. Die Reaktion der Judenchristen80 , die Petrus begleiten, verstärkt dabei den paradigmatischen Charakter dieses Geschehens, es bleibt nicht auf die Hausgemeinschaft des Kornelius beschränkt, sondern es geht um »die Heiden« oder »die Völker« [TIx E8v~] (V. 5). Nachdem dieser Geistempfang aufgrund seiner Auswirkungen (V. 46) auch für die anwesenden Judenchristen ein pneumatisches und geradezu ekstatisches Ereignis (das E:;l(lT~fll in V. 45 meint einen »psychische[n] Zustand von Außer-sieh-sein oder Bestürzung vor Staunen oder Furcht«; Lambrecht Art. E:;l(lT~fll, EWNT) ist, ordnet Petrus dann auch die Taufe der Geistbegabten an (V. 48). Das geschieht in der gleichen Logik8 ! wie bei der Taufe des äthiopischen Kämmerers durch Philippus, wenn auch nun, wie beschrieben, das Ereignis schon einen generalisierten Charakter hat. Zeigen sich also in diesem Pfingsten der Heiden wieder deutliche Spuren einer österlich-hermeneutischen und pneumatisch unterfassten Erinnerung des Lukas, so wird diese in der folgenden Verteidigungsrede des Petrus noch einmal aufgenommen und zugespitzt. Die judäischen Brüder und Apostel (die Judenchristen) stellen Petrus auf dieses Ereignis hin zur Rede. Zentral formulieren sie den Vorwurf, das Haus von Heiden betreten und mit ihnen gegessen zu haben [rruvm8lcu] - was lukanisch auch für die Mahlgemeinschaft(en) Jesu mit Sündern verwendet wird und also weniger das konkrete Essen als den Gemeinschaftsaspekt hervorhebt (vgl. Balz Art. rruvm8lcu, EWNT). Für die Beschreibung dieser Konfrontation verwendet die Apostelgeschichte das diesem GemeinDie Apostelgeschichte verwendet hier und im Folgenden den Begriff j>die aus der Beschneidung« [Ol fK ::rn::plT()I.lTlS]. 81 Weiterführend ist hier vielleicht auch die Parallele der Abfolge der Taufe des äthiopischen Kämmerers und der Taufe des Kornelius (im Anschluss an das Pfingstereignis) mit der Struktur des lukanischen Auferstehungskapitels (Lk 24) und dort besonders der Abfolge von Emmausgeschichte (Lk 24,13-35) und der Erscheinung des Auferstandenen (Lk 24,36-53) in Jerusalem (im Anschluss an das Osterereignis). Bei Philippus taucht (Apg 8,39) das Motiv des Erkennens und Verschwindens einer (himmlischen) Gestalt auf, das man als strukturprägendes Merkmal der Emmausgeschichte verstehen kann (vgl. StengerlSchnider 1990:88). So würde die PhilippusPerikope gewissermaßen zur Erkenntnis-Vorstufe im Rahmen eines fortschreitenden Erkenntnisprozesses, der sich dann in der Taufe des Kornelius erfüllt und gleichzeitig generalisiert, wie man die Weggeschichte nach Emmaus auch als Vorstufe der erfüllten und generalisierten Ostererscheinung in Jerusalem verstehen kann. 80

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6 Erinnerungstheologie im Neuen Testament

schaftsgedanken konträre Verb 8LCXKplvUl (V. 2) in der Bedeutung »unterscheiden«/»zweifeln«. Die stilisierte anfängliche Intention der Judenchristen ist also die Abgrenzung vom Handeln des Petrus, grundsätzlich aber auch (in Form von kultisch-ethnischer Gruppendistinktion) von den Heiden überhaupt. Interessant ist es in diesem Zusammenhang, dass Petrus beim sogenannten Apostelkonzil (Apg 15,6-21), das sich in lukanischer Darstellung endgültig mit der Frage der Notwendigkeit der Beschneidung für die christliche Identität auseinander setzt und sich gegen die Notwendigkeit einer Beschneidung entscheidet, genau dieses Wort wieder in den Mund gelegt wird und zwar um auszudrücken, dass Gott gerade keinen Unterschied macht [oiJ8cv 8lEKplVEV] »zwischen den Juden und den Angehörigen der Völker, da er auch diesen den heiligen Geist schenkte« (Dautzenberg Art. 8LCXKplvUl, EWNT). Gleichzeitig verwendet auch Petrus selbst in seiner folgenden Rekapitulation der Ereignisse (V. 4-15) das Wort, wenn er ausführt, der Geist habe ihn beauftragt, »ohne Bedenken [fl~8cv 8lCXKplvcxvnx] mit ihnen [zu] gehen« (V. 12). Es geht also in dieser Auseinandersetzung um die grundsätzliche Alternative zwischen dialogischer Offenheit und kultureller Distinktion. Am Ende der Schilderung der Ereignisse stellt Petrus eine pneumatologische Verbindungslinie her, wenn er sagt, der Heilige Geist sei auf sie herabgekommen »wie am Anfang auf uns« [6)crmp Kcxi E'P' ~fl&S Ev apxiil (V. 15), was die Reflexion seiner Erfahrung wiedergibt. Diese Erfahrung wird dann in V. 16 erinnerungstheologisch unterfasst und über das eigentliche ekstatische und pneumatische Geschehen hinaus weitergeführt. Den Anfang bildet die Erinnerungsformel: »Ich kam aber zur Erinnerung« - so spricht der lukanische Petrus und zum wiederholten Mal steht hier eine ingressive Aorist-Form von fllflvDcrKoflCXl - »an das Herrenwort«, was der idealtypischen Verwendung der Formel entspricht (vgl. oben 6.2, S. 262). Neu ist an dieser Stelle dagegen die besondere intra- und intertextuelle Verknüpfung, die das Zitat schafft. Hatte Petrus vorher (in V. 15) mit der übereinstimmung der »beiden« Pfingstereignisse und der damit verbundenen ekstatisch-pneumatischen Erfahrungskomponente argumentiert, so wird dies nun narrativ an seine Erfahrung bzw. die apostolische Erfahrung mit dem vor- und nachästerlichen Jesus zurückgebunden. Ursprünglich handelt es sich bei dem in V. 16 zitierten »Herrenwort« um ein Wort Johannes des Täufers über Jesus vor dessen Taufe. Das zentrale Motiv, an das angeknüpft wird und das dann auch die Verhältnis bestimmung zwischen Taufe und Geistempfang in der Apostelgeschichte prägt, ist, dass »er [Jesus] euch mit dem heiligen Geist und mit Feuer taufen« (Lk 3,16) wird. Dieses Wort nimmt der »Auferweckte [... ], leicht umgeformt, bei sei-

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6.2 Erinnerungstheologie im lukanischen Doppelwerk

ner letzten Zusammenkunft mit den Jüngern vor seiner Himmelfahrt auf (Apg 1,4f)« (Theobald, M. 2007:114). Die Aufnahme des Johannes-Zitats durch den Auferstandenen steht dabei einerseits in einem Erfüllungszusammenhang, insofern er das über ihn gesprochene Wort aufnimmt, andererseits transformiert es jedoch gleichzeitig, weshalb es auch einen Verheißungscharakter besitzt. Das Zitat von Johannes dem Täufer ist also nicht ausschließlich auf die Deutung des Pfingstereignisses der Jünger (in Apg 2) bezogen. Am Beginn seiner letzten Zusammenkunft mit den Jüngern - beim gemeinsamen Mahl (!), was in Bezug auf das oben schon angedeutete cruvm8lcu interessant ist - steht das Zitat als prophetisch-verheißendes Wort Jesu, dessen Erfüllung bzw. dessen Erfüllungsstufen der erinnernden Interpretation durch die Jünger bedürfen und nicht selbstevident8 ' sind. Weil diese Ereignisse nur erinnernd als Erfüllung(en) der jesuanisehen Verheißungen (und zwar sowohl im Sinne eines subjektiven "die Verheißungen von Jesus« als auch eines objektiven Genitivs »die Verheißungen über Jesus«) verstanden werden können, ist die Erinnerung angesichts der Neu- und Weiterentwicklungen immer wieder gefragt, die Kontinuitätskonstruktion oder den Kontinuitätserweis zu erbringen. Die Worte Jesu, verstanden als erfüllte Verheißung mit bleibendem Verheißungsüberschuss 83 , müssen dabei neu gedeutet werden. Erst so und nicht durch einen extrinsezistischen Automatismus wird »die Zukunft anvisiert und die Kontinuität mit der Zeit der Kirche [ge]stiftet« (Theobald, M. 2007: 115). Obwohl am Ende des lukanischen Doppelwerks - dort durch den zweiten großen Protagonisten der Apostelgeschichte, den Apostel Paulus 84 - noch eiDafür spricht etwa auch, dass die zentralen Ereignisse in der Apostelgeschichte nicht eo ipso wirken, sondern ilmen stets eine Predigt oder Rede hinzugefügt wird, die das Geschehen im Rahmen des Verheißungshorizonts sowohl der alttestamentlichen Schriften wie auch der Lebensgeschichte Jesu deutet und verortet. 83 Vgl. zum Terminus :»Verheißungsüberschuss« etwa Dohmen 2019:204. 84 In der Abschiedsrede des Paulus in Milet (Apg 20,17-38) verwendet auch der lukanische Paulus die Erinnerungsformel. Dort wird sie allerdings nicht als Einleitung eines konkreten (wörtlichen) Zitats - das berühmte :>:>Geben ist seliger als nehmen« [llaAAOV OLan das Handeln der Jünger appellierendes Wort [... ], sondern ein Trostwort [an], dass es dem Knecht nicht anders ergehe als seinem Herrn« (Theobald, M. 2007:116). Die Wiederaufnahme der Erinnerungsfonnel in 16,4 bildet den Rahmen um die Verheißung von Verfolgung und Synagogenausschluss und generalisiert die Erinnerungsformel insofern es schließlich ,>die leidvollen Geschehnisse selbst sind, welche die tröstliche Erinnerung an Jesu Wort in ihnen wachrufen werden« (Theobald, M. 2007:116). Auch hier steht also für den Johannesevangelisten die Identifikation der (intendierten) Leser mit den (erzählten) Jüngern im Fokus. Es ist wohl die Situation des Johanneischen Schisma (vgl. oben, 6.1.2, S. 259-260), die als Sitz im Leben ausgemacht werden kann. Dabei erhält die Erinnerung

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6.3 Erinnerung im Johannesevangelium

ums als Voraus blick auf das österliche Geschehen geschildert wird, ist gleichzeitig durch eine (nachösterliche) Heilserinnerung der Jünger umfangen, die wiederum - darauf weisen die unterschiedlichen Erinnerungsobjekte in diesem Zusammenhang hin - unterschiedliche Perspektiven miteinander verbindet. Es ließe sich dafür auch der Gadamersche Begriff der Horizontverschmelzung 88 verwenden (vgl. dazu etwa Rahner, ]. 2000:82-88), womit dieses dynamische Verständnis des Zueinanders von Text und Lesern in der Sprache einer philosophischen Hermeneutik ausgedrückt wäre. Interessant ist dabei, dass der Johannesevangelist andere Akzente setzt als die synoptische Tradition, die ebenfalls die jesuanische Tempelaktion erzählt. Der zentrale Unterschied liegt nicht im Ereignis selbst, sondern in seiner durch ein Schriftzitat vermittelten Deutung. Mit der "für ihn typischen Parenthese, die er mit yeypcxflflEvov ECY'rLv einleitet« (Kowalski 2006:198), wechselt der Johannesevangelist aus der Erzähl- auf die Reflexionsebene und kontextualisiert das Geschehen im »nachästerlichen, geistgeschenkten Verstehen[J der Sendung Jesu, das mit Hilfe der Schrift geschieht« (Kowalski 2006:198). Das Bibelwort selbst stammt aus Psalm 69,10 (LXX). Dieser Psalm wird im Neuen Testament wesentlich im Zusammenhang mit der Passion Jesu zitiert 89 und gibt damit schon an dieser Stelle einen Ausblick auf die Konsequenz des Handeins Jesu und seiner Hingabe, was dem Erzähler als hermeneutische Grundlage nicht nur dieser Perikope, sondern des HandeIns Jesu insgesamt dient. Das wird insbesondere dadurch über die Glaubensmystagogie hinaus auch noch die Funktion einer konkreten Vergegenwärtigung des Trostwortes Jesu in die Gemeindesituation hinein, die im Sinne einer übertragung der ganzheitlich-erinnernden Jesus- Beziehung der Jünger - bzw. besser der Mitglieder der johanneischen Gemeinde - über das erzählte (oder geschichtliche) Jesus-Ereignis in den durch vielfache Anfechtungen geprägten Gemeindealltag hineinspricht, um j>den Glauben an den zu stärken, der alles schon vorausgewusst hat« (Theobald, M. 2007:117). 88 Wenn Gadamer Sprache als ,>Sein, das verstanden werden kann« (Gadamer 1965:450) versteht, so ist für ilm umgekehrt auch das Sein sprachlich strukturiert zu verstehen. In diesem Zusammenhang steht dann der Begriff der :»Horizontverschmelzung« zwischen Text und menschlichem Sein, der dazu dient :»die Begriffe der historischen Vergangenheit so wiederzugewinnen, daß sie zugleich unser eigenes Begreifen mit enthalten« (Gadamer 1965:365). Das ist für Gadamer die :»eigentliche Leistung der Sprache« (Gadamer 1965:359), die :»das universale Medium [ist], in dem sich Verstehen selber vollzieht«, das sich schließlich in der :»Vollzugsfonn des Gespräches« (Gadamer 1965:366) ereignet. Das versteht er als hermeneutisches Gespräch, als :»echte Erfahrung, d.h. Begegnung mit etwas, das sich als Wahrheit geltend macht« (Gadamer 1965:463). In diesem Zusammenhang kommt es zu einem Erfasst-Werden des Lesers durch den Text (vgl. dazu ausführlicher Jaklitsch 2012:252-256). 89 So in Röm 15,3;!v1k 15,36; Mt 27,34;Joh 15,25; 19,29 (vgl. Kowalski 2006:198).

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6 Erinnerungstheologie im Neuen Testament

deutlich, dass das Zitat einen Tempuswechsel erfährt: Wo LXX mit einer konstatierenden Aoristform das Verzehrtwerden durch den Eifer für den Tempel in den vorangehend geschilderten Spott- und Leiderfahrungen des Beters einbettet und es als Reflexion bzw. Konsequenz dessen darstellt, dreht das Johannesevangelium diese Logik gewissermaßen um, verwendet eine Futurform und macht den Satz damit zur Programmatik oder eben zur »Prophetie auf die bevorstehende PassionJesu« (Kowalski 2006:198), auf das »Verzehrt- und Verschlungenwerden Jesu vom Tod«, das »erst nach Ostern verstanden werden kann« (Theobald, M. 2007:118). Schon hier am programmatischen Anfang ist es die johanneische Auferstehungstheologie, von der her sowohl das Evangelium als Ganzes als auch insbesondere die Verwendung der Erinnerungsterminologie verstanden werden muss. Die Synoptiker deuten die Tempelaktion dagegen unter Bezug aufles 56,7 (und evtl. auch Jer 7,11), wo der Kontrast zwischen dem Tempel als »Haus des Gebets« [olKOS T~S rrpoCYEux~sJ einerseits und einer »Räuberhöhle« [ITrr~A(XlOV AnITTC0VJ andererseits vorgezeichnet ist, das sie zudem als direktes Jesuswort überliefern. Johannes meidet den »für den liturgischen Tempelkult geläufige [nJ Begriff« (Kowalski 2006:199) »Haus des Gebets« [olKOS ~S rrpoCYEux~sJ und verwendet stattdessen die Formulierung »Haus meines Vaters« [olKOS TODrrcxTpos fIou]. Er »spiritualisiert und christologisiert den atl. Kult und gibt der joh Gemeinde Orientierung bei ihrer Suche nach Identität innerhalb des schmerzvoll erlebten Abtrennungsprozesses vom Judentum«, was sich insbesondere seiner christologischen Reflexion verdankt und »ihren tieferen Grund in einer veränderten Gottesbeziehung« hat (Kowalski 2006:199). Die konsequente österliche Christologie des Johannesevangeliums wird zur Deutungsfolie nicht nur des Erzählgeschehens, sondern auch des Schicksals der Gemeinde. Beide Ebenen sind zutiefst miteinander verschränkt und finden ihre Konsequenz in einer christologisch fokussierten (erinnernden) Schrifthermeneutik (vgl. dazu auch Kowalski 2006:200). Diese hermeneutische Verschiebung hat auch für die erzählerische Funktion der Jünger die entscheidende Konsequenz, dass sie zu »Prototypen theologischer Reflexion und zu Vorbildern des mystagogischen Prozesses, den Joh bei seinen Adressaten anstrebt«, werden (Kowalski 2006:200). In diesem mystagogischen Prozess ist es insbesondere die Erinnerung an die Schrift, genauer eigentlich - worauf die konstatierende und passive Perfektform yeypcxfIfIcvov CITTlv hinweist - das über die johanneische Spaltung hinausgehende gemeinsame Fundament des schriftgewordenen Wortes (Gottes). Dies ist der erste Schritt

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6.3 Erinnerung im Johannesevangelium

der johanneischen Erinnerungshermeneutik, der die Jünger auf ein Schriftwort zurückverweist, das im Handeln Jesu und zugleich im Voraus blick auf das österliche Geschehen in dieser Spannung eine neue und entscheidende Bedeutung entfaltet. Gerade der folgende Abschnitt der Perikope zeigt jedoch auch, dass allein dieser erinnernde Rückbezug, dessen Träger die Jünger sind, nicht die vollständige hermeneutische Perspektive abbildet. Vielmehr geht es gewissermaßen um eine grundsätzliche Fraglichkeit dieser Erinnerung oder aber um einen Streit der Interpretationen und Erinnerungen. In diesem Zusammenhang treten »die Juden« [oi 'JOUÖCÜOl] (zu diesem Begriff und dem Hintergrund im johanneischen Schisma vgl. oben, 6.1.2, S. 259-260) genauso paradigmatisch als Gegengruppe in Erscheinung. Anders als die Prototypen des mystagogisch-erinnernden Verstehensprozesses stellen sie die Legitimität des HandeIns Jesu infrage und ihn zur Rede (V. 18). Sie fordern ein Zeichen [CY~flElov], gewissermaßen einen göttlichen Legitimationsakt seines HandeIns. In seinem Rätselwort (V. 19) fordert Jesus sie auf, diesen Tempel [TOV vcxov TOUTOV] aufzulösen [AUCU], er werde ihn in drei Tagen wieder aufrichten [eyElpcu]. Beide Begriffe zeigen in der Verwendung einen österlichen Hintergrund: Während man durch AUCU die »Freiwilligkeit des Todes Jesu« (Kowalski 2006:203) ausgedrückt sehen kann, verweist das eyElpcu in Verbindung mit der Zeitangabe der drei Tage auf die österliche Perspektive 90 . eyElpcu ist als »Synonym für avlCY~fll [... ] auffallend oft [... ] Bez[eichnung] für die Auferstehung/Auferweckung Christi« (Kremer Art. eyElpcu, EWNT) und damit in der Verbform (als Substantiv wird fast ausschließlich avlCY~fll bzw. aviwmCYlS verwendet) einer der beiden neutestamentlichen Termini für die Auferstehung Jesu. Diese österliche Perspektive ist den Opponenten aber verschlossen und findet ihren Ausdruck im johanneischen Missverständnis (vgl. Kowalski 2006:203). Deutlich wird das in den unterschiedlichen Begriffen, die Johannes für den Tempel verwendet. Mit dem hier verwendeten vcx6S (TOU CYc0flcxTOS cxiJTou) bezeichnet der johanneische Jesus (so in V. 21) seinen Leib, was im Zusammenhang mit den österlich geprägten Begriffen steht. Im Gegensatz dazu bezeichnet iEp6v »den heiligen Bereich des Tempels als Ganzes« (Borse Art. vcx6S, EWNT) und ist damit (bei Johannes) die distanziert-kultkritische Bezeichnung für das 90

Darauf weisen etwa die Ankündigungen von Leiden und Auferstehung in.Mk 8,31 par; 9,31 par; 10,34 par oder auch das sogenannte ,>Zeichen des Jona« in Mt 12,39f. hin (vgl. dazu auch Kowalski 2006:203).

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6 Erinnerungstheologie im Neuen Testament

Tempelgebäude, während das "Haus des Vaters« [olKOS TOD1ICap6sl (V. 16) das Tempelgebäude in seiner positiven Bedeutung im Rahmen der genuinen jesuanischen Gottesbeziehung bezeichnet. Die Gegenwart Gottes bzw. die Begegnung mit ihm ereignet sich für Johannes gerade nicht im kultisch vor strukturierten, aber doch letztlich durch menschliche Geschäftigkeit pervertierten Raum des Tempels, sondern - eröffnet durch seine besondere Gottesbeziehung - in der und durch die Begegnung mit Jesus Christus. Diese (hermeneutische) Perspektive bleibt den Opponenten in dieser Erzählung verschlossen, weil ihnen gewissermaßen der im christlichen Zentralereignis der Auferstehung Jesu begründete hermeneutische Schlüssel fehlt. Es ist dieses Tempel-Missverständnis, das hier nicht nur den Ausgangspunkt für die christologisch fokussierte Aufnahme von tempel- und kulttheologischen Motiven91 bildet, sondern durch die erneute Verwendung der Erinnerungsformel (in V. 22) die zweite österlich vorgezeichnete Stufe der Erinnerungshermeneutik des Johannesevangeliums deutlich macht. Das Tempel-Missverständnis können nur »die Jünger Jesu auflösen, die nach Ostern vom Parakleten die Gabe der Erinnerung empfangen haben« (Kowalski 2006:203). Erneut lässt sich hier also eine Verschränkung der Ebenen zwischen den erzählten Jüngern und den intendierten Lesern (den Jüngern der johanneischen Gemeinde) feststellen. Darü ber hinaus ist auch die Konsequenz der doppelten Erinnerung interessant. Die Jünger »kamen zum Glauben« [E1IlcrTEUcrCXV j9' (V. 22), wobei zwei verschiedene und zugleich aufeinander bezogene Objekte dieses Glaubens genannt werden: die Schrift [ypcxcp~l und das Wort (Singular!) Jesu [A6yoS ÖV dmv 6 ']~crODS]. Die zentrale hermeneutische Funktion der österlich ermöglichten Erinnerung der Jünger lässt sich nicht anders als eine (neue) Mystagogie des Glaubens93 verstehen, die wiederum das »Alte« - die nicht infrage gestellte Grundlage der Schrift(en) Israels - mit dem »Neuen« und damit der Erfahrung des Wirkens, HandeIns und Sprechens Jesu verbindet. Insofern kommt der Erinnerung eine Zentralbedeutung für den Glauben der Jünger bzw. den Glaubensprozess Jesus tritt etwa »nicht nur an die Stelle des Tempels, sondern auch an die Stelle der zu opfernden Paschalämmer« (Kowalski 2006:205) und gerade von daher wird der Tod Jesu am Kreuz gedeutet. Das unterstreicht noch einmal, welche zentrale proleptische Funktion die Perikope von der Tempelreinigung im Duktus des Johannesevangenliums einnimmt. 92 So muss in diesem Zusammenhang die ingressive Aoristform von mcrn:uw übersetzt werden. 93 Diese mystagogische Erinnerung ist geradezu »5trukturmoment des Glaubens«, der j>das, was bislang unverstanden war - Schrift und Wort des irdischen Jesus - nun in der österlichen Erinnerung zu verstehen lernt« (Theobald, M. 2007:118). 91

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6.3 Erinnerung im Johannesevangelium

der intendierten Leser zu. Sie bringt die beiden komplementären Glaubensobjekte (vgl. Theobald, M. 2007 :118) in einem äster lieh ge rahm ten Vexier bild zusammen. Gewissermaßen ex negativo wird dieser mystagogische Erinnerungsprozess in der summarischen Notiz über die Vielen verdeutlicht, die aufgrund der Zeichen [CY~flElcx] Jesu zum Glauben »an seinen Namen« [EiS TO övoflcx cxiJT00] kommen, denen er sich aber nicht anvertraut (hier steht auch eine Verbform von mCYTEueu), weil er sie kennt [YlVC0CYKElV] und erkennt [EylveuCYKEv], was im Inneren des Menschen ist (V. 23-25). Hier wird deutlich, dass der erinnerndmystagogische Prozess der Jünger in den (vollständigen) Glauben an Jesu Wort und die Schrift führt, der seinen Ausdruck in der Gegenseitigkeit des Sich-Anvertrauens findet, was durch das wechselseitig verwendete mCYTEueu ausgedrückt wird und in der Erkenntnis Jesu begründet ist. Das hier zweifach programmatisch verwendete YlVC0CYKeu gehärt »zum joh Vokabular des Glaubens« und ist »Schlüsselwort für den mystagogischen Prozess, den Joh mit seiner Schrift intendiert«, insofern es »das Verhältnis zwischen Jesus und den Menschen« bemisst: »Je näher Menschen Jesus kennen, je intensiver ist die Beziehung mit ihm« (Kowalski 2006:206). Es geht also bei dieser Erinnerung nicht nur um eine hermeneutisch-intellektuelle Aneignung von Wort(en) Jesu oder Worten der Schrift in ihrem Zusammenhang, sondern vielmehr um ein ganzheitliches Geschehen des Vertraut-Werdens mit Jesus, der selbst (so der Prolog in Joh 1) das Wort ist. Es handelt sich also um eine kommunikative Beziehungswirklichkeit, eine »Verinnerlichung« bzw. ein »verstehende[s] Vertraut-Werden mit den Worten Jesu [... ] mit Hilfe der Schrift« (Kowalski 2006:205). Wie im Lukasevangelium 94 allerdings mit anderen Akzentsetzungen lässt sich also bei Johannes eine theologisch-technische Verwendung der ErinnerungsJormel herausstellen95 , die schon hier am Anfang des vierten Evangeliums ganz wesentlich vom österlichen ErJahrungszusammenhang gedacht und entworfen wird. Auch bei Lukas geschieht die Verwendung der Erinnerungsfonnel in einer geprägten und theologisch wohlkomponierten Einbindung in den Rahmen der Weg- und Entwicklungstheologie seines Doppelwerks und damit in die Ausbreitungsdynamik der Botschaft Jesu bzw. der Botschaft von Jesus (vgl. oben, 6.2.2, S. 263-278), in dem die österliche Wirklichkeit - verstanden im Zusammenhang von Auferstehungs- (Lukasevangelium) und Pfingstereignis (Apostelgeschichte) - den entscheidenden Scharnierpunkt bildet. 95 Michael Theobald arbeitet als zentralen Unterschied die österliche Fokussierung der Erinnerung heraus, die :»lucht auf verschiedene heils geschichtlich bedeutsame Ereignisse bezogen ist (wie die Verkündigung der Engel im leeren Grab oder das >Pfingsten< der Heiden im Haus des Cornelius)«, sondern ausschließlich auf das Osterereignis (Theobald, M. 2007:118). 94

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6 Erinnerungstheologie im Neuen Testament 6.3.2 Der Einzug Jesu in Jerusalem als repräsentatives Erinnerungsgeschehen (Joh 12,12-19)

Die Verwendung der Erinnerungsformel in ihrem personalen und glaubensmystagogischen Sinn. die die konkrete Erfahrung mit Jesus zu Worten der Schrift in Beziehung setzt und so das Verständnis Jesu und die Gemeinschaft mit ihm ermöglicht. rahmt in der Gesamtkomposition desJohannesevangeliums den ersten Hauptteil des öffentlichen Wirkens Jesu (Joh 1,19-12,50) als »literarisch gezielte inclusio« (Theobald, M. 2007:118f.). Das unterstreicht noch einmal die hohe Relevanz der Erinnerungstheologie im Johannesevangelium (vgl. Theobald, M. 2007: 119). Beim EinzugJesu inJerusalem (12,12-19) - also am Auftakt des zentralen Geschehens von Leiden, Tod und Auferstehung Jesu - wird dies wieder aufgenommen. Der Einzug Jesu als repräsentatives Geschehen - die »Klimax der Jerusalem-Reisen Jesu in der ersten Buchhälfte« - wird »zum Gegenstand ausdrücklicher nachösterlicher Erinnerung« (Theobald, M. 2007:119), was sowohl die Palmwedel der Menge und die Hosanna-Rufe wie auch die Zeichenhandlung, dass Jesus sich auf ein Eselfüllen setzt, umfasst. Die in Kapitel 2 nur strukturell als hermeneutische Mystagogie zu erschließende Funktion der Erinnerung wird hier an einem konkreten Beispiel gewissermaßen durchbuchstabiert: Die Aufnahme von Sach 9,9 (das Eselfüllen, auf das sich Jesus setzt) deutet an, wie die jüdischen Schriften im johanneischen Verständnis ihren hermeneutischen Schlüssel inJesus selbst finden. Für das johanneische Verständnis heißt das, dass Sach 9,9 »sich von Anfang an - das heißt: nach der ursprünglich von Gott gesetzten Intention der Schrift - auf niemand anderen als Jesus« (Theobald, M. 2007:119) bezog, wobei der Text »erst nach Ostern [... ] diesen christologischen Sinn frei [gibt] « und die mystagogische Erinnerung deshalb als »kreatives Lesen eines Textes auf einen Sinn« hin, den er »vor Ostern preiszugeben nicht imstande war«, verstanden werden muss (Theobald, M. 2007:120). Das gilt analog auch für die Palmzweige (vgl. Theobald, M. 2007: 120f.). Je näher also im Erzählduktus des Evangeliums das Zentralereignis von Leiden, Tod und Auferstehung Jesu rückt, desto deutlicher wird (im Sinne eines fortschreitenden personal-mystagogischen Erkenntnisprozesses der Jünger bzw. der Leser), dass das ganze Johannesevangelium von dort her gelesen und in mystagogischer Erinnerung mit Worten der Schrift intertextuell in Beziehung gebracht und so erschlossen werden will, was die Leser unmittelbar in diesen Erzählduktus hineinzieht. Hierbei deutet der Johannesevangelist einen »Zusammenhang von >Verherrlichung< [Jesu] und >Erinnerung< [der Jünger]« (Theo-

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6.3 Erinnerung im Johannesevangelium

bald, M. 2007:121) an. Erst in der österlichen Perspektive der Auferstehung Jesu erhalten sein Handeln und seine Worte ihre Deutung aus dieser genuinen Gottesbeziehung Jesu, in die die Jünger und die Leser in erinnernder Vergegenwärtigung einbezogen werden. Das deutet die Verwendung von 801;ix,liebenden Selbsthingabe Jesu für die Welt« als »rettendschöpferische Macht und Liebe des Vaters selbst« meint, eine Beziehungswirklichkeit als »wechselseitige Verherrlichung des Vaters durch den Sohn [... ] und des Sohnes durch den Vater« (Heger mann Art. 801;ixMetatext< zur >Erinnerungsformel«< bezeichnen kann, »die auch genetisch an seinem Ursprung gestanden haben dürfte« (Theobald, M. 2007:125). Ganz im Sinne des mystagogischen (hermeneutischen) Prozesses, den die Jünger (und Leser) im Miterleben des öffentlichen Wirkens Jesu (Joh 1,19 - 12,50) gemacht haben, hat sich nicht nur ihr Verständnis Jesu vertieft, auch die »Substanz der >Erinnerungsformel< ist« hier »am Ende der irdischen Offenbarungstätigkeit Jesu entschränkt« (Theobald, M. 2007:125), insofern sich die Erinnerung jetzt nicht mehr auf einzelne, konkrete Worte Jesu (oder der Schrift) bezieht, die punktuell miteinander in Beziehung gesetzt werden (und so den hermeneutischen Prozess befördern). Vielmehr geht es darum, dass der von Jesus verheißene Paraklet [1ICXpixKA~TOS], den Jesus mit dem Heiligen Geist [TO 1IVEDflCX TO äYlOV] identifiziert, »alles leh-

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6 Erinnerungstheologie im Neuen Testament

ren« [8l8aSElrravTCX] und »an alles erinnern« wird, »was ich [Jesus] euch gesagt habe« [KCXlDrroflv~crEl DfliXS rravTCX iX drrov Dfllv] (Joh 14,26). Anders als in den vorherigen Verwendungen, in denen die Erinnerung als aktives (oder eben reflexives) Geschehen der Jünger dargestellt wurde, ist Erinnerung hier ein transitives Geschehen, dessen Träger der verheißene Paraklet ist. Das doppelte rravTCX bindet das Lehren [8l8acrKCu] und das Erinnern [DrrofllflvDcrKCu] in einen engen Zusammenhang, während beides gleichzeitig universalisiert wird. Interessant ist dabei auch, dass der transitive Charakter und damit auch eine unumkehrbare Gerichtetheit der Erinnerung ausgedrückt wird, wenn das an den anderen Stellen im Johannesevangelium einfach durch fllflvDcrKUl bezeichnete Erinnern durch die Vorsilbe Drr6 ergänzt wird und damit sowohl einen absteigenden Charakter (im Sinne eines Herabkommens des Pneumas) und zugleich einen Verinnerlichungsschub dieses Erinnerns bedeutet. Johannes versteht die durch den Parakleten garantierte Lehre einzig als Erinnerung an die schon im Leben vollständig vorhandene, aber eben von den Jüngern (und zumal den Opponenten) nicht vollständig verstandene Fülle der Christuswirklichkeit. Der Zusammenhang zwischen Lehre und Erinnerung besteht darin, dass beide als einseitiges und transitives pneumatologisches Geschehen verstanden werden. In anderen Worten ist damit die geistgewirkte Erinnerung Teil eines (hermeneutischen) Gesprächs des Geistes Gottes mit den Jüngern Jesu, das die innige Begegnung mit Jesus, die schon inJoh 1,19-12,50 das personale und dialogische Wesen der Erinnerung ausgemacht hat, angesichts radikaler Diskontinuität (des irdischen Todes Jesu) in Kontinuität (oder zumindest Rekonstruktion von Kontinuität) fortführt. Es ist die transitive Erinnerung des Parakleten, der in den Jüngern (und damit auch in den Lesern) die eigene (reflexive) Erinnerung ermöglicht und unterfängt und ihre Erinnerung dabei gewissermaßen davor bewahrt, vom Christusereignis abzuweichen, ohne ihnen dabei ihr kreatives Wesen zu nehmen. Diese Erinnerung kann und darf dann aber für Johannes nicht ausschließlich als »Leistung menschlichen Erinnerungsvermögens« (Theobald, M. 2007:125f.) verstanden werden. Die (transitive) Erinnerung des Parakleten und die Erinnerung der Jünger stehen weder in einem Konkurrenzverhältnis noch in einer einseitigen Subordination, so als wäre alle Erinnerung der Jünger jetzt vom Parakleten diktiert. Vielmehr bilden sie - wie schon mit der Erinnerung Jesu - einen Dialog der Erinnerung. Während das Erinnern der Jünger (in Joh 2,17.22 und 12,6) die »Außenseite einer tieferen Wirklichkeit« bezeichnet, ist es Gottes Geist, »der, im Namen Jesu vom Vater an Ostern gesandt [... ], das SichErinnern der Jünger allererst ermöglicht« (Theobald, M. 2007:126). Es ist eben

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6.3 Erinnerung im Johannesevangelium

keine punktuelle Erinnerung, die der Paraklet wirkt, sondern er ist als Beistand, der "bei euch bleibt« ["cxp ufllv flEVEl] und »in euch sein wird« [ev ufllv EeY'[CXl] (Joh 14,17), der umfassende und universale Ermäglichungsgrund und Impulsgeber der Erinnerung(en) der Jünger, die wiederum weiterhin in dem hermeneutischen Zusammenhang des immer tieferen Verstehens ]esu stehen (vgl. Theobald, M. 2007:126)96 Dieses johanneische Kontinuitätsmodell einer bewahrenden und zugleich kreativ-übertragenden ganzheitlich verstandenen Erinnerung ]esu und seiner Botschaft verfällt dabei nicht einem Historismus der Worte ]esu, sondern besitzt die Offenheit, seine Worte in neuen Kontexten neu zur Sprache zu bringen. Die Kontinuität muss gerade nicht durch eine formale übereinstimmung oder Gleichförmigkeit vonseiten der Gemeinde gewährleistet werden, sondern verdankt sich der pneumatischen Kontinuitätskonstruktion, auch und gerade in die Diskontinuitäten, Spannungen und Verwerfungen der Situation der johanneischen Gemeinde hinein. Die johanneische überzeugung, »dass das einst Gesagte nur in der Aktualisierung des Neu-gesagt-Werdens in seiner Ursprünglichkeit erhalten werden kann«, bewahrt also vor einem »antiquierenden Umgang mit den Worten ]esu« (Theobald, M. 2007:127). Wenn die »,Lehrer< des johanneischen Kreises ]esu Worte neu und anders als gewohnt zu sagen wagten, dann aus dem Grund, weil sie von ihrer bleibenden Relevanz, die hier und heute greift, zutiefst überzeugt waren« und deshalb die »Treue zu den Worten]esu« mit der Notwendigkeit verbanden, sie »zu ,übersetzen< und transparent werden zu lassen auf die Fragen und Nöte der eigenen Gemeinde hin« (Theobald, M. 2007:127). Hierin liegt der Anknüpfungspunkt einer biblisch fokussierten Pneumatologie, die sich im Kontext und der Denkform einer Erinnerungs- und Traditionshermeneutik entwickeln lässt und von der Erfahrung des Geistes nicht in mirakulöser oder »charismatisch-schwärmerisch ins Unverbindliche abgleiten[den]« Weise spricht, sondern diese »präzise mit der Leistung der Vergegenwärtigung ]esu - seines Werkes und seines Wortes - zusammendenkt« (Theobald, M. 2007:127f.). Dabei ist die Erinnerungsfunktion des Geistes gerade nicht individualistisch zu verstehen. Sie verweist vielmehr auf und ereignet sich in Gemeinschaft97, ist »Gabe des heiligen Geistes«, die die johanneischen Gemeinde Man kann diesen Parakleten deshalb als :>Hdie Gestalt gewordene österliche Erinnerung an den Menschen Jesus< , die ,Kraft der Erinnerung«< verstehen, die j>gegen alles menschliche Vergessen Jesus bei den Seinen nicht nur vergegenwärtigt, sondern im Vollzug der Vergegenwärtigung auch ihrem Verstehen nahe bringt« (Theobald, M. 2007:126). 97 Der Paraklet setzt in diesem Sinne ,> Jesu Werk fort, indem er die Gemeinde lehrt und an Je96

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6 Erinnerungstheologie im Neuen Testament

(oder weiter gefasst: die Kirche) >>nach Ostern [... ] der bleibenden >Erinnerung< an Jesus« (Theobald, M. 2007:128) versichert. Damit wird deutlich, dass die Kontinuität des Erinnerns weder durch einzelne Jünger (auch nicht durch die literarische Figur des Lieblingsjüngers), noch durch kirchlich-institutionelle (gemeindliche) Strukturen, sondern durch den freien, kreativen und auf gemeindlich-kirchliche Mystagogie zielenden Erinnerungsimpuls des Geistes Gottes getragen wird. Unter den Vorzeichenjohanneischer Theologie erscheint diese Erinnerung des Geistes Gottes geradezu als Fortsetzung des großen Erinnerungsdialoges, dessen Spuren schon im Alten Testament nachzuzeichnen waren und im Neuen Testament, insbesondere in der lukanischen und johanneischen Tradition vor dem Hintergrund der ihnen jeweils zugrunde liegenden Fragestellungen 98 noch deutlicher zutage treten. Es ist also nicht die (angebliche) Faktizität der Vergangenheit, von der her sich ihre Bedeutung und die Bedeutung Jesu erschließt. Vielmehr ist sie »Gegenstand einer erhellenden Retrospektive, die sich im österlichen Wendepunkt kristallisiert« (Zum stein 2004a:56). Die Schlussfolgerung in der johanneischen Theologie und einer davon inspirierten pneumatologisch-erinnerungstheoretischen Traditionshermeneutik besteht nicht darin, »unverrückbare und vollendete Tatsachen im Gedächtnis zu halten« - gemeint ist also kein Memorierungs- oder Erinnerungsimperativ, sondern die Einordnung dieser historischen Artefakte (wie Assmann formulieren würde) und Worte in eine »Perspektive [... ], die ihre wahre Bedeutung zu entdecken erlaubt« (Zum stein 2004a:56). Es ist also ein dialogischer und inspirierter hermeneutischer (oder mystagogischer) kreativer Prozess99 , in den Gemeinde und Kirche hineingenommen sind. Es geht dabei nicht um einen inneren Reflesu Worte erinnert«, was vom Johannes-Evangelisten j>entsprechend der Abschiedssituation mit der Verheißung des Friedens durch den scheidenden Jesus Christus weiter [geführt] « wird (Schnelle 1989:69). Damit ist dann gerade auch die Neukonstitution eines friedvollen und umfassend gelingenden Miteinanders in der Gemeinde/Kirche bezeichnet und ermöglicht. 98 In den neutestamentlichenSchriften ist die Frage nach dem Konstituierungsgrund der Kontinuität der Kirche (bzw. der Gemeinden) über die radikale Diskontinuität des Oster- und insbesondere Karfreitagsereignisses und dann davon abgeleitet über die verschiedenen Inkongruenzen, Diskontinuitäten und Verwerfungen im missionarischen Prozess der Ausbreitung der Botschaft Jesu bzw. der Botschaft von Jesus hinweg die zentrale Herausforderung. 99 Das Erinnern lässt sich auch deshalb als eminent kreativen Erkenntnisvorgang verstehen, weil dadurch die "Grundspannung des gesamten vierten Evangeliums« gekennzeichnet wird, in der ,>der Evangelist [...] sich selbst und sein Tun in diesen retrospektiven Erkenntnisvorgang mit ein[schließt]« (Rahner, ]. 2000:77).

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6.3 Erinnerung im Johannesevangelium

xionsprozess oder gar -imperativ gegenüber den Einzelnen, sondern um eine kommunikative Erinnerung, die ihren Ort in der gott-menschlichen wie in der zwischenmenschlichen Kommunikation hat. Es scheint besonders aufgrund der skizzierten Personalität, Ganzheitlichkeit und Kommunikativität der Erinnerung deshalb m. E. nicht konsistent, das Faktum der Schriftwerdung als "definitive Grenze« zu behaupten. Das mündet in die Engführung, die durch den Parakleten eröffnete Erinnerung nehme »dann aber in letzter Konsequenz die Gestalt von Auslegung [an], die sich im Lesen des Buches hic et nunc bei den Lesern einstellen will« (Theobald, M. 2007:129). Natürlich kommt dem Text (des Evangeliums) und der Schrift Israels damit die Funktion zu, »gelesen und gehört zu werden, um so die Erinnerung an Jesus in der Lesegemeinschaft der Kirche wach und lebendig zu halten« (Theobald, M. 2007:129). Diese Erinnerung erhält eine kanonische Unveränderlichkeit. Der Text kann aber dann trotz und angesichts von »Interpretationskonflikte[n]« zu einem Ausgangspunkt von diesen österlich und christlich inspirierten Narrationen und Zeugnissen werden, um so »in sehr unterschiedlichen biographischen und kirchlichen Kontexten seine Sinnfülle zu erschließen« (Theobald, M. 2007:129). Der Text und die ErzählungvonJesus ist damit gerade auf das Obertragen und Weitererzählen, insbesondere aber auf das verinnerlichende Erinnern, angelegt und wird dadurch in seiner kommunikativen Grundausrichtung ergänzt und bereichert. Der grundlegende Text erhält biographische und lebenspraktische Verortungen, ohne dass deshalb er selbst geändert werden müsste. Nachdem die Erinnerungstheologie des Neuen Testaments insbesondere in ihrer lukanischen und johanneischen Form schlaglichtartig dargestellt worden ist, soll nun ein kurzer Blick auf das in der traditionstheologischen Auseinandersetzung viel prominenter aufgenommene Wortfeld 1Icxpcx8l8(0~1l / 1Icxpa80ms geworfen werden, um schließlich nach dem Zusammenhang zwischen Mneme und Paradosis zu fragen.

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6 Erinnerungstheologie im Neuen Testament

6.4 Paradosis als innere Mitte der Erinnerungsdynamik Es ist insbesondere der Verdienst von Hansjürgen Verweyen, dass er seinem Grundriss der Fundamentaltheologie eine »vertiefte Reflexion auf das neutestamentliche Verständnis von traditio« (1IcxpaBoCHS) (Verweyen 1991:68) vorangestellt und diese exegetischen Erkenntnisse auch für eine systematisch-theologische Annäherung fruchtbar gemacht hat. Die grundlegenden Einsichten bleiben auch für diese erinnerungstheologische Auseinandersetzung prägend und müssen hier nicht neu entwickelt werden (vgl. dazu auch schon unter 2.7.2, oben, S. 102-104). Im Folgenden sollen lediglich einige Grundlinien nachgezeichnet werden. Ein ausführlicher Blick auf die überlieferung des Herrenmahls bei Paulus und die Abendmahlsüberlieferung des Lukasevangeliums verdeutlicht dann einige Aspekte, die über die Systematisierung von Verweyen noch hinausgehen.

6.4.1 Das Bedeutungsspektrum von :n:apaöiöwfll / :n:apcröocHS im Neuen Testament Wenn 1IcxpcxBlBcufll / 1ICXpaBOCHS im Neuen Testament verwendet wird, so geschieht das fast an allen Belegstellen in dezidiert theologischer Redeweise. Auch bei der ganz grundlegenden Bedeutung des übergebens - so etwa in Mt 25,14 in jesuanischer Gleichnisrede, wo ein Mann auf Reisen geht und seinen Jüngern sein Vermögen anvertraut [1IcxpcxBlBcufll] - zeigen sich Spuren dieser Theologisierung ausgehend von der Zentralbedeutung der übergabe / Auslieferung Jesu. Es geht dabei um einen komplexen und dynamischen Vorgang, der sowohl die Auslieferung Jesu 100 als auch die Uberlieferung der Glaubensbotschaft in einen grundlegenden und unaufhebbaren Zusammenhang stellt. Auffällig ist dabei, dass die Dynamik des geschilderten Aus- und Uberlieferungsgeschehens auch sprachlich dadurch deutlich markiert wird: Im Neuen Testament werden fast ausschließlich aktivische (und passivische) Verbformen von 1IcxpcxBlBcufll verwendet, um die vom Christusereignis ausgehende dynamische Uberlieferung zu kennzeichnen, die» überlieferung der Alten« wird dagegen fast durchweg durch substantivische Formen ausgedrückt. Diese Aktivität und Dynamik des (neuen) überlieferungsgeschehens passt damit natürlich insbesondere zu der 100

Das Johannesevangelium verwendet etwa durchgehend Partizipialformen von napaoU:iw!-lL als Attribut für den Verräter Judas.

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6.4 Paradosis als innere Mitte der Erinnerungsdynamik

neuen Situation der jungen christlichen Gemeinden und wird in theologischer Weise zutiefst mit dem Zentralgeschehen der (Selbst-)Auslieferung Jesu (so etwa in besonderer theologischer Dichte in Röm 1,24.26.28) in dessen österlichen Grundzusammenhang verwoben. In den katholischen Briefen (so etwa in lud 3-4) findet sich dann erstmals auch eine positive Verwendung des Substantivs rrcxpaBoCHS im Sinne des überlieferten Glaubens. 6.4.2 Die Kette von Tradenten als Wahrung der Treue zum Ursprung (Lk 1,1-4)

Bei der Betrachtung der Erinnerungstheologie des Lukas (vgl. oben, 6.2.2, S. 263278) war zunächst der unmittelbare Beginn des Evangeliums noch einmal ausgespart worden. Dort lässt sich schon die Verschränkung von Aus- und überlieferungsmomenten beobachten und damit die theologische Grunddynamik der überlieferung im Neuen Testament nachzeichnen. Der Evangelist reiht sein Vorhaben (die Konzeption seines Evangeliums) zunächst in die Dynamik vieler anderer Berichte über die Ereignisse, die sich erfüllt [rrA~pocpoPECU] haben (Lk 1,1), ein. Dabei handelt es sich (vgl. dazu auch oben, unter 6.2.4, S. 272) sehr deutlich um eine Prolepse auf das Auferstehungskapitel 101 (Lk 24). Diesem proleptischen Blick folgt (auch das hatten wir gerade in den Hymnen am Beginn des Lukasevangeliums bereits als Charakteristikum des Lukas ausgemacht, vgl. oben 6.2.2, S. 263-266) ein analeptischer Rückverweis, der diese Vielen, von denen der Evangelist spricht, in einen gemeinsamen überlieferungsrahmen stellt ("wie sie uns überliefert [rrcxpcxBlBcuf1l] haben«), was wiederum dadurch konkretisiert wird, dass sie »von Anfang an [arr' apx~s] Augenzeugen [cxiJTOrrTCXl] und Diener des Wortes [0rr~pETCXl T00 AOYOU]« (V. 2) waren. Mit dieser proleptischanaleptischen Doppelperspektive der Vollendung und zugleich der Ver gewisserung werden die »christologischen Heilsereignisse« der »Auferstehung und Erhöhung]esu« - die »Erfüllung der Heilstaten« - in der lukanischen Perspektive mit der »Erfüllung dessen, was über sie geschrieben steht« (vgl. dazu auch den Bogen zu Lk 24,44) verbunden (Hübner Art. rrA~pocpoPECU, EWNT). Das lässt 101

Die Verwendung von :JTAllp0von Gott wieder erneuerteD Bund mit Israel, der alle Völker einschließt« (Schottroff, 1. 2013:11,23-26), ein Motiv, das sich gerade in den erinnerungstheologischen Texten des Alten Testaments ja bereits gezeigt hatte. Paulus meint eine eschatologische Bundesemeuerung, die sich im Geschehenszusammenhang von Leiden, Kreuz und Auferstehung Jesu Ausdruck verschafft. 110 Dieser Gedanke ließe sich gerade im Blick auf das Gemeindeverständnis, das Paulus im zwölften Kapitel des Römerbriefs entwickelt (vgl. Röm 12,1-8), noch genauer ausführen. Paulus fordert dort jeden Einzelnen auf, sich darzubringen - wofür an dieser Stelle gerade auffälligerweise nicht das christologisch (oder auch ekklesiologisch) fokussierte napaöLoWj.lL, sondern napLGTrJIlL verwendet wird - als j>lebendiges und heiliges Opfer«, was der j>angemessene/vernünftige Gottesdienst« [AOYLK~V AaTpdav] ist (vgl. Röm 12,1). Diese Hingabe ist aber109

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6 Erinnerungstheologie im Neuen Testament

(alten) Bund und damit auch zu Israel (und seinem Gottesgedenken) verdeutlicht. Liest man das elfte Kapitel des Briefs (mit Lang 1994:156ff. Wolff 2011:III.3a; Reinmuth 2011:47f. Schottroff, L. 2013:10,1-13) zusammen mit dem zehnten Kapitel, so konturiert sich die komplexe Abendmahls- und damit verbunden auch überlieferungs- und Erinnerungstheologie des Paulus weiter. Dort werden (vgl. 1Kor 10,1-13) "Taufe und Abendmahl in Beziehung zu den Ereignissen des Auszugs der Israeliten aus Agypten und der Wanderung durch die Wüste« (Lang 1994:157) gesetzt. Einerseits geht es dabei wohl darum, die korinthische Gemeinde vor der Vorstellung eines Heilsautomatismus zu warnen, andererseits geschieht hier jedoch in erinnerungstheologischer Perspektive eine Weitung auf die Erfahrungen und die Geschichte des Volkes Israel mit Gott hin. 111 Gerade angesichts der das Verständnis vom überliefern radikal neu begründenden Erfahrung mit Jesus Christus (seinem Leben, Leiden, Sterben und Auferstehen) wird diese selbstverständlich vor dem Hintergrund der Geschichte auch in der verwendeten Tenninologie - nicht mit der Hingabe Jesu identisch, sondern vielmehr eine davon abgeleitete Form, gewissermaßen eine verwandelnde Oblatio, die wiederum zurückgebunden ist in die Gemeinschaft des Leibes Christi mit ihrer Vielfalt an Charismen. An dieser Stelle würde ein genauer Blick auf Röm 12,1-8 (vgl. dazu etwa klassisch Schlier 1977:B.lV.l) jedoch zu weit führen. Dabei könnte sich zeigen, dass die j>enge Vernetzung zwischen Taufe und Eucharistie mit der Rede vom Leib Christi« bei Paulus (Weidemann2014:322), einen Zusammenhang zwischen Herrenmahl, Taufe und der gemeindlichen Tugend der Parastasis erzeugt. Taufe und Herrenmahl könnte man dabei in erinnerungstheologischem Vokabular als Erinnerungszeichen verstehen. Während die Taufe (gern. Röm 6) den existenziellen Einbezug des Einzelnen in die Paradosis-Dynamik Jesu (Sterben und Auferstehen mit Christus) bedeutet, was die entsprechende Grundhaltung der Parastasis (oder Oblatio) evoziert, die eine existenzielle Aneignung und Weitergabe bedeutet, die im Dienste der Gemeinde als Leib Christi steht, konstituiert sich im Herrenmahl (in seiner ananmetischen Grundstruktur) diese Gemeinde als Leib Christi und lässt sich im Erirmerungsgeschehen verwandeln. Dass eine solche Annäherung grundsätzlich legitim ist, darauf verweist Söding 1997:277. Zentral ist in diesem Fall für Paulus sein Begriff des Leibes [crWjia]. So geschieht die Verbindung zwischen Taufe und Eucharistie nicht über einen abstrakt-theologischen Sakramentenbegriff oder institutionell, sondern ausschließlich :>:>durch die metaphorische Rede vom crc0lla, der einzigen dezidiert christologischen Kennzeichnung der Ekklesia« (Weidemann 2014:321). Von daher ließe sich ein organisches, christologisch und zugleich pneumatologisch fokussiertes Kirchenverständnis herausarbeiten. Das aber würde hier zu weit führen. 111 So deutet Paulus das :»Eintauchen in Wolke und Meer [ ...] als Taufe I sich eintauchen in Mose hinein« (Schottroff, 1. 2013:10,1-13). Die weiteren Deutungstypen listet Wolff 2011:III.3a auf. Der Rückgriff auf das Buch Exodus und die typologische Aufnahme von Schilfmeer- und Manna-überlieferung ist :»durch die Argumentation mit Taufe und Herrenmahl bedingt«, die Motive dienen am ehesten als :»Bestätigungen der Heilszuwendung Gottes« (Wolff2011:III.3a).

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6.4 Paradosis als innere Mitte der Erinnerungsdynamik

Gottes mit Israel - jener gegenseitigen Erinnerungsdynamik, die wir im alttestamentlichen Teil nachgezeichnet haben - gedeutet und auf diesen zurück bezogen. Mit aller Vorsicht wird man sagen können, dass die »alte« Tradition, der »alte« Bund und damit auch die »alte« Erinnerungsdyuamik zwischen Gott und den Menschen für Paulus im Christusereignis und von diesem her eine radikale Neubestimmung erhält, die diese »alte« Geschichte nicht negiert, sondern neu deutet und zugleich universalisiert. In die Erinnerungsdynamik zwischen Gott und Menschen wird der Geschehenszusammenhang, der mit der Chiffre des 1Icxpcx8l8Ulfll bezeichnet wird - die Lebensgeschichte Jesu im narrativen Gesamtzusammenhang seines Lebens, Leidens, Todes und seiner Auferstehung - zum inhaltlichen Zentrum von überlieferung und Erinnerung wie auch zum formalen Kriterium, an dem sich die Adäquatheit von Erinnerung und überlieferung bemisst, und die dann auch zum Maßstab für die sozialen und ethischen Regeln der Gemeinde und ihre liturgischen Vorschriften werden. Anders formuliert ist die Erinnerung an Jesus als den Sich-überliefernden Inhalt und Anspruch der überlieferung der Gemeinde, ihrer Identität und Struktur. Im zehnten Kapitel des ersten Korintherbriefs werden dann anschließend (lKor 10,14-33) die »Starken, die an heidnischen Opfermahlzeiten im Tempel teilnahmen«, auf die »Unvereinbarkeit von Herrenmahl und heidnischem Kultmahl« mit der Begründung hingewiesen, dass in beiden Fällen »eine Kommunikation mit dem jeweiligen Tischherrn zustande kommt« (Lang 1994:157). Wieder geht es also darum, dass das Herrenmahl keine Materialisierung Jesu bedeutet und deshalb nicht unabhängig von der Einstellung und dem Verhalten der Teilnehmer ist. Es ist der »Gastgeber«, der sich in dieser Gemeinschaft [KOlVUlVlcx] zur Geltung bringt, was in der erinnernden Symbolhandlung des Trinkens aus dem Kelch (vgl. 1Kor 10,16) gegenwärtig und wirksam wird. Interessanterweise zitiert Paulus hier eine Abendmahlsüberlieferung, die nicht die gerade skizzierte Parallelisierung von Leib und Kelch, sondern jene von Leib und Blut vertritt, was »dem markinischen Abendmahlsbericht näher als dem von Paulus und Lukas repräsentierten Traditionstypus« steht, jedoch keinen Widerspruch zu 1Kor 11,23-25 bedeutet (Lang 1994:157). Im darauffolgenden Vers (V. 17) deutet Paulus diesen Gemeinschafts- bzw. Teilhabegedanken - so das Bedeutungsspektrum von KOlVUlVlcx, das als Bezeichnung »für verschiedene Gemeinschaftsverhältnisse [dient], die durch (gemeinsames) Anteilhaben entstehen und sich als (wechselseitiges) Anteilgeben und Anteilnehmen darstellen« (vgl. Hainz Art. KOlVUlVlcx, EWNT) - »im Sinn des für ihn charakteristischen Leib-Christi-Gedankens« (Lang 1994:157). Auch hierbei steht also die beson-

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6 Erinnerungstheologie im Neuen Testament

dere gegenseitige erinnernde und überliefernde Gemeinschaft (in gegenseitiger Anteilgabe und Anteilnahme) im Vordergrund, ein Erinnerungs- und überlieferungsgeschehen in einer durch das (Selbst-)Uberliefern Jesu konstituierten und deshalb auf adäquate Teilnahme!!' der Einzelnen bedachten Gemeinschaft. Insofern sind die »parallelen Bezugnahmen auf das Blut und den Körper Christi [... ] als narrative Abbreviaturen zu verstehen, mit denen sein Foltertod und damit der erzählerische Kontext der Passionsgeschichte aufgerufen werden« (Reinmuth 2011:47; Hervorh. AJ). Das Koinonia-Geschehen des Herrenmahls »gründet [deshalb] auf dieser Geschichte und bezieht sich bleibend auf sie«, weshalb »die im Herrenmahl sich realisierende Gemeinschaft jeder anderen Begründung entbehrt« (Reinmuth 2011:47f.).113 Diese narrative Verankerung des Herrenmahls im Schicksal des Gekreuzigten und Auferstandenen ist seine Besonderheit und sein entscheidendes Distinktionsmerkmal114 Dass es Paulus also im zehnten und elften Kapitel - in der Theologie des Herrenmahls, des überlieferns und des Erinnerns - tatsächlich um den Kulminationspunkt von Paradosis und Mneme geht, zeigt auch noch einmal der Blick auf den Beginn des elften Kapitels (in 1Kor 11,1f.). Dort lobt Paulus die Korinther (V. 2) mit der Begründung: »Ihr erinnert euch in allem an mich [ön Das »unwürdige« [&:vaSL~] Essen vom Brot (lKor 11,27) meint :»Iucht moralische Unwürdigkeit, sondern ein unangemessenes Verhalten, das gegen den stiftungsgemäßen Charakter des Mahles verstößt«, weil es die ,>Mißachtung der Heilswirkung des stellvertretenden Sterbens Jesu« bedeutet (Lang 1994:154f.). 113 Es ist deshalb auch die grundsätzliche Unbegründbarkeit der Gemeinschaft der korinthischen Gemeinde (und jeder Gemeinschaft) aus sich selbst, die Paulus hier reflektiert und die :>,mit ihrer Begründung in der Todes- und Lebensgeschichte Jesu Christi auf eine bleibende ,Leerstelle< [verweist], die nicht durch die Transzendierung von Eigenschaftszuschreibungen aufzufüllen und zu ersetzen ist« (Reinmuth 2011:49). Es ist gerade die Dynamik der Selbsthingabe Jesubzw. der Selbsthingabe Gottes in Jesus Christus - die man als solche Leerstelle der Eigenmächtigkeit bezeichnen kann (vgl. Reinmuth 2011:49). Insofern feiert also das Herrenmahl nicht die gelingenden Gemeinschaft der Gemeinde, sondern verdankt sich ganz dem göttlichen Handeln inJesus Christus und ist gleichzeitig - so lässt sich das CexpL 015 fA8n in v. 26 deuten - ,>eschatologische[r] Ausblick«, weil die ,>Erinnerung an den Tod Christi zusammen mit dem Hinweis auf den eschatologischen Vorbehalt, damit die Bindung des Abendmahls an die Kirche und ihre Zeit« auch ,>Kriterien gegen den sakramentalen Enthusiasmus [sind], der sich auf eine Erhöhungschristologie stützt« (Conzelmann 1981 :246). 114 Auch in diesem Sinne ist das ,>Unterscheiden des Leibes« [oLaKpLvwv TO Gc0lla] nicht auf die Mahlelemente bezogen, sondern explizit theologisch auf das ,>Identifizieren der alles überwindenden Lebensmacht Gottes« (Reinmuth 2011 :49), nicht nur ,>am gefolterten, dem Tod ausgelieferten Körper Christi« (Reinmuth 2011:49), sondern vielmehr auch im (narrativ vermittelten) Gesamtzusammenhang von Leben, Leiden, Sterben und Auferstehen Jesu. 112

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6.4 Paradosis als innere Mitte der Erinnerungsdynamik

rravTCX ~ou ~E~v~cr8E] und haltet an den überlieferungen fest ['ras rrcxpCX86rrElS KCX'rEXETE], wie ich sie euch übergeben habe [KCX80JS rrcxpE8cuKCX 0~lV]« (lKor 11,2). Hier lässt sich das Zueinander von Erinnerung und überlieferung dann in der schon skizzierten Weise zusammenfassen. Erinnerung ist als Beziehungsaussage auf den Tradenten (Paulus) bezogen. Inhaltlich zeigen sich die überlieferungen [rrcxpCX86rrElS] (Plural!) in verschiedenen Konkretionen. Die Verwendung im Plural deutet an, dass die vom Kerngeschehen der Paradosis Jesu durchformte überlieferung von Paulus nicht ausschließlich als statisches Gesamt verstanden wird. Die Rolle des Paulus ist dabei diejenige des Weitergebenden (auch hier steht wieder eine konstatierende Aoristform von rrcxpcx8l8cu~l), die wiederum als »Hinweis auf das Ganze seiner Amtsführung, also auch auf seine Lehre« im Sinne einer auch den überliefernden verwandelnden (und für diese hingebende Verwandlung offene) Haltung verstanden werden kann (Conzelmann 1981:222; vgl. dazu auch Schottroff, L. 2013:10,23-11,1). Conzelmann spricht - das ist allerdings missverständlich, weil es zu sehr im Sinn eines aktivischen Tuns verstanden zu werden droht - von Imitatio. Geeigneter erscheint m. E. der Begriff der Oblatio unter Verweis aufRöm 12,1-8 (vgl. dazu oben, Fn. 110, S. 299), genauer einer verwandelnden Oblatio, in der der Einzelne sich aus dem Wissen um die Bedeutung des Christusereignisses (auch und gerade für ihn selbst) als »lebendiges und heiliges Opfer« (Röm 12,1) darbringt. Dieses lebendige Opfer besteht »nicht nur in Gebet, Lobgesang und Mahnreden, sondern zugleich und darüber hinaus auch in der Hingabe von Leib und Leben an den Dienst der Gerechtigkeit« (Stuhlmacher 1998:169). Diese Oblatio ist in die Gemeinschaft des Leibes Christi eingebunden ist, befähigt aber mit den je eigenen Charismen (so der Kontext Röm 10,3-8) zu einem je individuellen Zeugnis im Rahmen der (pluriformen) Gemeinschaft (vgl. dazu auch Theobald, M. 2015). Das Motiv der Oblatio meint hier also jene Dynamik, durch die der Grundinhalt und die Grundform der überlieferung - die Selbstüberlieferung und Hingabe Jesu für die dadurch durch ihn konstituierte Gemeinschaft - ihren Träger (in erster Linie aber nicht ausschließlich Paulus) und dessen Amtsführung und Predigt im Akt des Uberlieferns selbst durchformt. Das Zentrum der überlieferung (die Paradosis Jesu) hat also nicht nur Folgen für die auf ihn Bezug nehmende Gemeinschaft (als Gemeinschaft), sondern auch für jeden einzelnen Träger. Insofern fordert Paulus die Korinther dann in 11,1 zu einer »imitatio Pauli« auf, die »durch dessen imitatio Christi« grundgelegt ist (Conzelmann 1981:220). Es ist also das Zeugnis des Einzelnen, das ermutigt, sich in diese Dynamik der Hingabe - nicht im Sinne einer Wiederholung

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6 Erinnerungstheologie im Neuen Testament

oder Nachahmung Jesu, sondern einer eigenen verwandelnden Oblatio ausgehend und unterfasst von den eigenen Charismen im Kontext der Gemeinde als Leib Christi - hineinnehmen zu lassen. Entscheidend ist dabei das »Paradox dieser Vorbildlichkeit [Pauli]Unterschiede und Akzentverschiebungen« der Abendmahlsüberlieferungen untereinander nicht zufällig sind, sondern viehnehr ,>Ausdruck gezielter Interpretationen der neutestamentlichenAutoren«, die sich ,>vor dem Hintergrund ihrer Intention« ergeben (Vorholt 2017:225). Deshalb wird hier - wie auch schon bei Paulus - insbesondere auf diese Akzent- und Intentionsverschiebungen eingegangen. In diesem Zusammenhang erübrigt sich dann hier auch ein redaktionsgeschichtlicher Zugang. 115

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6.4 Faradosis als innere Mitte der Erinnerungsdynamik

wird. ll7 Auffallend ist, dass Lukas seine Mahlerzählung ausdrücklich an die jüdische Tradition des Pessach-Mahls anbindet und dabei auch die Struktur der zwei Becher aus dem jüdischen Sedermahl 118 übernimmt (vgl. Lk 22,17). Charakteristisch ist dabei, dass der lukanische Jesus diesem traditionellen Geschehen eine neue (christozentrische) Deutung beilegt. Dabei werden anders als bei Paulus, dem es ja in der Konfliktsituation der korinthischen Gemeinde gerade auch um die traditions- und erinnerungstheologische Ver ortung des Herrenmahls in einem sehr grundlegenden Sinn und damit um dessen Bedeutung für die Identität und Ethik der Gemeinde geht, nicht direkt tradierungstheologische Formen verwendet. In Bezug auf das Brot spricht Jesus davon, dass es sein Leib [cn';lfla] ist, der "für euch gegeben wird« [Ta U1IEp UflC0V 8l86flEvov], und verwendet dafür eine Form von 8l8cufll (und eben nicht vom Terminus 1Icxpcx8l8cufll). Umso deutlicher wird jedoch herausgehoben, dass diese von Jesus eingesetzte Handlung eine Erinnerungshandlung ist, wenn auch hier in V. 20 der »Wiederholungsbefehl« (»Tut dies zu meinem Gedächtnis [avaflv~ms]!«) verwendet wird. Die lukanische Version enthält einen zweifachen »eschatologischen Ausblick auf das Mahl im Reich Gottes« und verwendet den Wiederholungsbefehl auffallenderweise nur beim Brot (Lang 1994:151). Das Abendmahl ist hier viel stärker als bei Paulus auf die (in der Logik der Narration) kommenden Ereignisse von Passion, Tod und Auferstehung Jesu bezogen. Es besitzt aber darüber hinaus den wiederholten eschatologischen Bezug (in V. 16 und 18). Im auffälligen Erinnerungsimperativ (Wiederholungsbefehl) begründet der lukanische Jesus also ein Erinnerungsgeschehen, das als solches dann auch mit dem Begriff der Anamnesis bezeichnet wird, jedoch mit dieser eschatologischen Perspektive einen doppelten Ausblick bedeutet: Konkret bezieht es sich auf Kreuz und Auferstehung Jesu, aber auch auf die »Erfüllung im Reich Gottes [1IA~pcu8!l Ev T!l ~cxmAEl,! TOU 8mu]« (V. 16). Man kann diesem Text also einen grundlegend proleptischen Charakter bescheinigen, ganz ähnlich wie es sich bei der Tempelreinigungsszene des Johannesevangeliums hat zeigen lassen. Im Zusammenhang mit der stark analeptischen Struktur des Auferstehungskapitels (vgl. oben, 6.2.4, S. 268f.) lässt sich damit für denPassions- und Auferstehungszusammenhang im Lukasevangelium (nach Abschluss des großen Reiseberichts Lk 9,51-19,28 und Aufenthalt und Lehre Jesu in Jerusalem Lk 20/21) eine 117

Welcher der beiden Traditionstypen der ältere bzw. ursprüngliche ist, ist umstritten (vgl. Lang

118

1994:151), für unseren Zusammenhang aber weniger erheblich. Soweit man das in aller Vorsicht und durch Rückschlüsse aus der rabbinischen PessachHaggada schließen kann (vgl. Fn. 115).

305

6 Erinnerungstheologie im Neuen Testament

kompakte Struktur und ein deutliches intratextuelles Netz von Verweisen feststellen, die die Ereignisse vor und nach dem Passions- und Auferstehungsereignis aufeinander beziehen. über diese konkreten intratextuellen Bezüge hinaus sind durch die Verortung des Abendmahls als Paschamahl auch schon im Blick auf das Alte Testament und die mit dem Pascha verbundene Exodustradition vielfältige Verweiszusammenhänge eröffnet, die jedoch erst im analeptischen Teil des Auferstehungskapitels durch eine neue, österliche Erinnerungshermeneutik (vgl. oben, 6.2.4, S. 268-272) verstehbar werden. Insgesamt zeigt sich, dass das in Bezug auf das paulinische Verständnis nachgezeichnete komplexe Verständnis der Aus- und überlieferung (vgl. oben, 6.4.3, S. 294-304) im Lukasevangelium noch einmal eine weitere und vertiefte Reflexion erfährt. Im narrativen Zusammenhang der lukanischen Passionserzählung bildet die (historische) Auslieferung durch Judas gewissermaßen den Erzählrahmen. Der Beschluss des Hohen Rates (V. If.) und der Verrat durch Judas (V. 36) sind vorausgeschickt. Den Ausklang der Mahlszene bildet der Hinweis Jesu, dass die "Hand des Auslieferers« [XElp TOD 1ICXPCX8l86vTOsl mit ihm am Tisch sei (V. 21). Beides deutet an, dass sich über die (narrative) Person des Judas die Frage nach dem Verhältnis von Aus- und Uberliejern noch einmal in anderer Dringlichkeit stellt. War für Paulus, der Judas gar nicht erwähnt, noch deutlich, dass das entscheidende (und dann auch traditionskonstitutive) Moment die Selbstüberlieferung oder Selbsthingabe Jesu war, so stellt sich bei Lukas im Blick auf Judas auch die Frage der konkreten Verantwortung (und Schuld) für die Auslieferung Jesu. Die lukanische Deutung ist dabei sehr eindeutig, wenn es in 22,3 programmatisch heißt, dass »der Satan in Judas einging« (Eü: »Besitz von Judas ergriff«; ELcrEpxoflCXl) und er von da an (V. 6) die Gelegenheit suchte, ihn auszuliefern [TOD 1ICXPCX80DVCXl cxiJTov]. Diese Auseinandersetzung verdankt sich also auch der weitergehenden theologischen Reflexion, einem ambivalenten Judas-Bild und evtl. auch einer Auseinandersetzung mit gnostischen Strömungen, die Judas zum Miterlöser stilisieren wollten 119 Lukas hält also einerseits an der eindeutigen Bewertung der Motivationslage des Judas fest, andererseits aber auch an der Heilswirksamkeit dieses Auslieferungsgeschehens. Zwar ist der »Weg des Menschensohns« vorbestimmt (V. 22), das entbindet jedoch nicht von der Verantwortlichkeit (und Verwerflichkeit) des Verrats, was 119

Das lässt sich für die Alte Kirche etwa in den Auseinandersetzungen um die Fragmente des sogenannten ,>Judasevangeliums« zeigen, das der Codex Tchacos überliefert (vgl. dazu Pratscher 2010:passim; bes. 9f.).

306

6.4 Paradosis als innere Mitte der Erinnerungsdynamik

der Weheruf120 über den »Menschen, der ihn aus-/überliefert« [T0 aV8pc01I':' EKElv,:, Öl' 00 1ICXPCXÖlÖOTCXl] (V. 22) deutlich macht. Lukas stellt damit klar, dass Auslieferung (Verrat) und überlieferung eben nicht einfach identisch sind. Im weiteren narrativen Zusammenhang stellt er dem Typus des vom Satan ergriffenen Verräters (Judas) den Typus des reuigen Verleugners (Fetrus) gegenüber (vgl. dazu ausführlich oben, 6.2.3, S. 267-268). Es ist in diesem Zusammenhang für Lukas gerade die Erinnerung Jesu, verstanden sowohl im Sinne des objektiven wie des subjektiven Genitiv als jenes personal-kommunikative Geschehen, das den entscheidenden Unterschied markiert. Judas wie Petrus gehören beide zum Kreis der Zwölf (wie Lukas in Bezug auf Judas noch einmal ausdrücklich hervorhebt; vgl. Lk 22,3) und werden durch ihr Handeln zu Verrätern (oder Verleugnern). Gerade die Jesus-Erinnerung, die bei Petrus in der Begegnung mit Jesus ein vollkommenes innerliches Affiziert-Werden hervorbringt, unterscheidet beide jedoch fundamental. l2l Mit diesen kurzen Analysen zur lukanischen Abendmahlsüberlieferung soll dann der Blick auf das biblische Zeugnis abschließen, nicht ohne nun jedoch eine Systematisierung in Erinnerung des bisher Nachgezeichneten zu liefern, die die biblischen Kriterien für den systematisch-theologischen Teil dieser Arbeit noch einmal zusammenfasst.

Mit oual eingeleiteten Sätzen geht es um ,>die Androhung des Ausschlusses aus dem eschatologischen Heil und um das Verfallensein an das Gericht« (Balz Art. ouaL, EWNT) 12 1 Bei der Begegnung zwischen Judas und Jesus ist es der veräußerliche und sprichwörtliche ,>Judaskuss« , der aber nicht mit einem wirklichen innerlichen und erinnernden Begegnungsprozess des Judas einhergeht. 120

307

7 Systematischer Ertrag der biblischen Eri nnerungstheologie Im Blick auf den schlaglichtartigen Durchgang durch die Erinnerungstheologie des Alten Testaments lässt sich insgesamt Folgendes festhalten: Erinnerung ist ein theologischer Schlüsselbegriff des Alten Testaments. Er bezeichnet ein personales, ganzheitliches und dialogisches Geschehen zwischen Gott und Mensch, das sich auch auf kodifizierte oder schriftliche Traditionen beziehen kann. Während die deuteronomisch-deuteronomistische Tradition stärker das Memorieren!22 und kulturelle Verinnerlichen!23 von Satzungen, Weisungen und Ordnungen vonseiten des Menschen in den Vordergrund stellt, setzt die priesterschriftliche Tradition bei der performativen und dynamischen Erinnerung Gottes ein, die dann vom Menschen im Bundesgedenken und im rituellen kultischen Vollzug eingeholt werden muss. Beide Perspektiven sind im Zuge der pentateuchischen Endredaktion miteinander verwoben worden, sodass eine komplexeErinnerungsund Traditionstheologie entstanden ist, die sich nicht anders denn als dynamisches personales Beziehungsgeschehen zugleich im zwischenmenschlichen und im gott-menschlichen Dialog verstehen lässt. Hierbei meint diese performative und dynamische Erinnerung ein gegenseitiges Sich-Verpflichtet-Wissen und hat so eine lebens- und glaubensprägende Sinnspitze. Das Deuteronomium lässt sich also nicht nur (wie Assmann das konzipiert) in formaler Hinsicht als Dokument der Erinnerung verstehen. Vielmehr ist es auch von einer inneren Erinnerungstheologie durchzogen, die zunächst auf die gegenseitige Beherzigung eines gemeinsam vereinbarten Vertragsbestandes (so zeigt die Aufnahme altorientalischer Vasallenvertragsformulierungen) abzielt. Neben dem Erinnern von Bundesinhalten, was wohlgemerkt sowohl für Gott als auch Die im Deuteronomium oft enthaltenen Erinnerungsimperative weisen auch daraufhin, dass das Ziel des Deuteronomium eigentlich nicht in einem literarischen Werk besteht. Vielmehr scheint sein nmemotechnischer Sitz im Leben im Rahmen der mündlichen Verinnerlichung zu liegen. 123 Klar ist dabei für das Deuteronomium, dass es sich um eine ,>Herzensangelegenheit« handelt und diese Bedeutung des Herzens eine Gegenseitigkeit von Gott und Mensch bedeutet. Beide Parteien dieses Bundesvertrages sind in ihrem innersten Wesen affiziert und hineingenommen in ein wechselseitiges Beziehungsgeschehen.

122

308

7 Systematischer Ertrag der biblischen Erinnerungstheologie

für den Menschen gilt, geht es dabei wesentlich darum, eine existenzielle und ganzheitliche Erinnerung einzuüben und zu praktizieren. Damit lässt sich im Deuteronomium ein komplexer Zusammenhang dessen feststellen, was für gewöhnlich unter den Chiffren von Tradition und Erinnerung verstanden wird, oder aber unter mündlicher bzw. schriftlicher Tradition. Das kodifizierte Gesetzeswerk ist auf die Verinnerlichung und die Erinnerungspraxis angelegt, in der wiederum das diesem Gesetzeswerk vorgängige und ursprünglich für diesen Bund konstitutive (und schließlich kontextuell in keilschriftrechtlicher Sprache verbürgte) Beziehungs- und Kommunikationsgeschehen zwischen Gott und Mensch seinen Ausdruck und seine Bestätigung findet. In priesterschriftlicher Perspektive erscheint das Erinnern Gottes als Ausdruck seines entschiedenen Heilshandelns angesichts der Verderbtheit und Bosheit der Welt. Dieses Erinnerungshandeln, das sich einerseits auf den ursprünglichen Schöpfungsakt zurück bezieht und das andererseits selbst als schöpferische Erinnerung eine neue geordnete Wirklichkeit performativ ausdrückt, wird dabei zur Grundlage für die menschliche Memorierung des Gottesbundes. Im kosmischen Zeichen des Bogens in den Wolken verschafft Gott diesem von ihm in Freiheit und Autonomie ge stifteten Bund, der keine Vorleistungen konstitutiver Art von Seiten des Menschen kennt, ein Erinnerungszeichen, das dem gegenseitigen Erinnern und Wachhalten dieses Bundes dient. Auch der Psalter zeigt dieses ganzheitlich kommunikative Verständnis des Erinnerns Gottes. Man wird sagen können, dass es sich um einen großen Dialog mit seinem Volk handelt, der sich in Form von Erinnerung vollzieht und ereignet. An ein solches dynamisches und kommunikatives Erinnerungsverständnis konnte das Neue Testament anknüpfen, wiewohl oder gerade weil sich in neutestamentlicher Zeit der Kanonisierungsprozess der Schriften Israels insbesondere durch die deuteronomistische und priesterschriftliche Gruppe schon verfestigt hatte!24. Der erste Korintherbrief des Paulus liefert die Synthese zwischen Paradosis 124

Damit soll freilich nicht die heutige Endredaktion des hebräischen Tanach für diesen Zeitraum behauptet werden. Deutlich wird jedoch im Neuen Testament, dass es einen Bezug auf j>die SchrITt« gibt, was die grundsätzliche Normativität eines wie auch immer genau zusammengesetzten Schriftkanons bezeichnet. Darüber hinaus lässt wohl auch der Bezug auf ein mündliches Traditionskorpus feststellen, sodass diese als schriftliche Tradition der Väter erscheinen musste und für das Handeln und Denken Jesu einen wichtigen Bezugspunkt liefert. Darauf deutet insbesondere die Bezugnahme auf die ,>überlieferung der Alten« [napcd:ioms TC0v::rrpfaßuTfpwV] (so in Mt 15,2 und!v1k 7,3) hin (vgl. Basser 2012).

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Bibeltheologische Annäherungen

(dem Wortfeld und Bedeutungszusammenhang von 1Icxpcx8l8cufll) und Mneme. Anhand der Theologie des Herrenmahls schreibt Paulus dabei die ParadosisDynamik Jesu (also seine Hingabe, die ihren narrativen Niederschlag im Ereigniszusammenhang von Leben, Leiden, Tod und Auferstehung Jesu findet) als Inhalt und Form einer spezifisch christlichen Erinnerung und Tradition fest. Der Begriff, der sowohl auf jüdische wie hellenistische Verwendung des Wortes 1Icxpcx8l8cufll im Sinne von kultureller Erinnerung bzw. Tradition zurückgreifen kann, macht damit die Lebens- und Hingabedynamik Jesu - die ParadosisDynamik - zum neuen zentralen Ankerpunkt des christlichen Erinnerungs- und Traditionsverständnisses. Diese Paradosis Jesu bzw. ihre narrative, rituelle und biographische Vergegenwärtigung (so der »Wiederholungsbefehl«), die das Herrenmahll die Eucharistie zum Kulminationspunkt zwischen der im Alten Testament herausgearbeiteten Erinnerungsdynamik zwischen Gott und den Menschen macht, wird sowohl im gemeindlichen Kontext (also im Raum kollektiver Erinnerung des »Leibes Christi«) als auch für den Einzelnen (im Sinne einer Oblatio wie Röm 12,1-8 entwickelt) zum entscheidenden Orientierungspunkt. Anders formuliert knüpft Paulus also selbstverständlich an die skizzierte dynamische Erinnerungstheologie des Alten Testaments an, in der Gott und Mensch in einer wechselseitigen (ganzheitlichen) Erinnerung (dem Bund) stehen, schreibt ihr jedoch (als »neuen« Bund) die Paradosis-Dynamik Jesu als innere Mitte wie als inneres und äußeres Kriterium ein. Im christlichen Verständnis ist deshalb die Erinnerungsdynamik und -theologie unabhängig von der Paradosis-Dynamik Jesu nicht zu denken. Das lukanische Doppelwerk versteht und konzipiert Erinnerung und Erinnerungstheologie zunächst ebenfalls in der deutlichen und ausdrücklichen Anknüpfung an die alttestamentliche Tradition. Die Erinnerung Gottes ist hier genauso dynamisch, personal und performativ gedacht wie im Alten Testament. Sie wird im Handeln und Reden auf dem Lebensweg Jesu präsent und wirksam und ist im Zuge der Verleugnungsgeschichte eine konfrontierende und aufrüttelnde Erinnerung im Sinn einer personalen Begegnung. Beim österlichen Geschehen am leeren Grab spitzt sich die Scharnierfunktion des Ereigniszusammenhangs von Kreuz und Auferstehung Jesu zwischen Verheißung und Erfüllung zu. Erinnerung wird dort zu einer österlichen Hermeneutik, die dazu verhilft, das Geschehen und die Erfahrungen zu verstehen und zu deuten. Auch in der Apostelgeschichte dient die Erinnerung dazu, die Öffnung der frühchristlichen Kirche auf die Heiden hin hermeneutisch zu unterfangen. Zum Verheißungs- und Erfüllungscharakter der Worte des Auferstandenen gehört die Kontinuitätskon-

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7 Systematischer Ertrag der biblischen Erinnerungstheologie

struktion, die in der Erinnerung geleistet werden muss. Dabei ist die Erinnerung nicht - oder zumindest nicht ausschließlich - menschliche Leistung, sondern ein von außen kommendes Erinnert-Werden, das jeweils im personal begegnenden oder kommunikativen Zusammenhang mit Gott (oder aber göttlichen Vermittlern wie den Engeln) steht. Es hat dabei den Charakter eines pneumatologisch gewirkten und geleiteten Prozesses. Lukas übernimmt in der Abendmahlsüberlieferung die paulinische Deutungslinie der Kulmination von Paradosis und Mneme im Zusammenhang des Herren- bzw. Abendmahls und webt die Zusammenhänge narrativ in seine Passionserzählung ein. Insbesondere liefert Lukas die Problematisierung der Paradosis im Sinne einer Differenzierung zwischen den Motiven des Auslieferns bzw. Verratens und Verleugnens (anhand der Prototypen Petrus und Judas) und dem Kerngehalt der (freien) Paradosis-Dynamik ]esu. In der johanneischen Erinnerungstheologie wird Erinnerung schließlich wesentlich von ihrem mystagogischen Charakter her verstanden.!25 Konkret lässt sich das im Evangeliumstext anhand der Verschränkung der Zeiten (bzw. einer Horizontverschmelzung) beobachten, indem narrativ der Vorausblick auf das österliche Geschehen geschildert, aber schon durch eine (nachösterliche) Heilserinnerung der Jünger umfangen wird und so unterschiedliche Perspektiven miteinander verbunden werden. Die SchlüsselsteIlen (etwa die Tempelaktion Jesu) lassen sich vorausweisend stets als Ausblick auf die Konsequenz der Hingabe Jesu lesen und sind als christologisch fokussierte (erinnernde) Schrifthermeneutik sowie zugleich als (neue) Mystagogie des Glaubens zu verstehen. Der innere Zusammenhang zwischen den Aspekten der Schrifthermeneutik und der Glau bensmystagogie, der das johanneische Erinnerungsverständnis kennzeichnet, liegt in einem personalen Prozess eines gegenseitig Sich-Anvertrauens zwischen Jesus und seinen Jüngern (bzw. den Lesern des Evangeliums) im Rahmen einer Verinnerlichungsdynamik innerhalb einer kommunikativen Beziehungswirklichkeit, die jedoch stets vom österlichen Erfahrungszusammenhang her gedacht und entworfen wird. Im Kontext der Abschiedsreden Jesu wird der Paraklet zum Träger und Garanten der Erinnerung. Erinnerung wird hier nicht (oder zumindest nicht ausschließlich) als menschliche Gedächtnisleistung verstanden, sondern als transitives Geschehen, dessen Träger der verheißene Paraklet ist. Es ist eine unum1251homas Söding verwendet hier in Anknüpfung an die Terminologie von Jean Zumstem auch ausdrücklich den Begriff der inspirierten Erinnerung (vgl. Säding 2013:27 und Söding 2018:63)

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Bibeltheologische Annäherungen

kehr bare Gerichtetheit der Erinnerung, die sie prägt. Die durch den Parakleten gewirkte Erinnerung lässt sich jedoch von den anderen Formen der Erinnerung nicht trennen. Sie hat die gleiche mystagogische Struktur und zielt (im Sinne eines Verinnerlichungsschubs) darauf, die schon im Leben und in der (österlichen) Erfahrung mit Jesus vollständig vorhandene, aber eben von den Jüngern nicht vollständig verstandene Fülle der Christuswirklichkeit erinnernd immer wieder neu (performativ) wirksam und wirklich werden zu lassen. Dieses Vergegenwärtigungsgeschehen wird als transitives pneumatologisch unterfasstes und ermöglichtes Geschehen verstanden, das die innige Begegnung mit Jesus angesichts radikaler Diskontinuität (des irdischen Todes Jesu) in Kontinuität (oder zumindest Rekonstruktion von Kontinuität) als kollektiven Erinnerungsdialog fortführt. Das Wirken des Parakleten ist also nicht als individualistisch zu verstehen, es ereignet sich vielmehr konstitutiv in Gemeinschaft. Erinnerung als dialogischer und inspirierter hermeneutischer (oder mystagogischer) kreativer Prozess geschieht also für johanneische Theologie nie individualistisch (in der Inspiration Einzelner), sondern im Kommunikations- und Dialograum von Gemeinde und Kirche. Deshalb ist diese Erinnerung auch nicht innerer Reflexionsprozess oder gar -imperativ der Einzelnen, sondern kommunikative Erinnerung, die ihren Ort in der gott-menschlichen wie in der zwischenmenschlichen Kommunikation hat. Schon literarisch vorliegend im Johannesevangelium (darauf deuten die Mittel der Verschränkung der Zeiten bzw. der Horizontverschmelzung hin) ist die Erzählung vonJesus auf das übertragen und Weitererzählen genauso angelegt wie auf das verinnerlichende Erinnern der Einzelnen. Die kommunikative Grundausrichtung des Erinnerns erhält in den Einzelnen und in der Gemeinschaft der Kirche biographische und lebenspraktische Verortungen, die wirksam werden, ohne dass deshalb der grundlegende Text selbst geändert werden müsste. Im übergang zum systematischen Teil dieser Arbeit sind also folgende Momente für ein Verständnis von Tradition und Traditionsdynamik im Sinne eines (kollektiven) Erinnerungsgeschehens besonders relevant. Erinnerung als theologisch qualifiziertes Geschehen ereignet sich als gott-menschliches sowie zwischenmenschliches Kommunikationsgeschehen innerhalb einer Beziehungswirklichkeit.]edem Erinnerungs inhalt vor gängig ist dieser dynamische gott-menschliche Erinnerungs- und Kommunikationsraum, der theologisch zum Ausgangspunkt wird. Inhaltlich und formal konturiert wird die Erinnerung im christlichen Verständnis durch die Paradosis-Dynamik Jesu, die das Christusereignis

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7 Systematischer Ertrag der biblischen Erinnerungstheologie

zum entscheidenden und formgebenden Inhalt der Erinnerung und gleichzeitig zum entscheidenden Kriterium für die Legitimität aller christlichen überlieferungen und Erinnerungen macht. Konkret findet sie ihren Niederschlag in der erinnerungstheologisch gerahmten Abendmahlsliturgie. Auch sie zeigt sich wesentlich als kommunikatives und kollektives Geschehen, ihre Struktur wird vom Bezug auf die Paradosis-Dynamik Jesu geprägt. Erinnerung als kollektives Geschehen ist dann (nachösterlich) wesentlich pneumatologisch ermöglicht und unterfasst sowie österlich präfiguriert. Insgesamt lässt sich eine narrative Verwurzelung der Erinnerung feststellen. Die Paradosis-Dynamik Jesu selbst ist wesentlich Narration und angelegt auf das biographische und lebensweltliche Weitererzählen. In diesem Sinne lässt sich dann im Blick auf das Traditionsgeschehen grundsätzlich von inspirierter Erinnerung sprechen. Was den Kulminationspunkt von Mneme (Erinnerung) und Paradosis (überlieferung) in der Abendmahlstradition (und besonders ihrer liturgisch-vergegenwärtigenden Wiederholung) angeht, so lässt sich für traditions- und erinnerungstheologische Zusammenhänge zumindest sagen, dass Mneme und Paradosis sich zwar sprachlich und theologisch differenzieren lassen, ihr innerer dynamischer Zusammenhang aber eine Trennung bei der nicht erlaubt. Es ist also - so zeigt der Blick auf das Zeugnis der Bibel - weder möglich, von (christlicher) Erinnerung zu sprechen ohne die zentrale Paradosis-Dynamik (in Struktur, Inhalt und narrativer Form), noch lässt sich die Paradosis-Dynamik außerhalb des erinnerungstheologischen Zusammenhangs (der gott-menschlichen Erinnerungsdynamik) entfalten. Da von dieser Erinnerungsdynamik (sowohl im Alten wie im Neuen Testament) stets in einem kollektiven oder sozialen Rahmen die Rede ist, lässt sich vom biblischen Zeugnis her die Rede von der Tradition bzw. der Traditionsdynamik im erinnerungstheologischen (bzw. erinnerungskulturellen) Rahmen legitimieren. Während hierbei die Erinnerung eher der Ebene der Traditionsdynamik l26 zuzuordnen ist, sind die (von der ParadosisDynamik durchformten) Uberlieferungen (paulinisch: Paradoseis) dem zuzuordnen, was - nach Assmann - mit dem Begriff des kanonischen Gedächtnisses (also klassisch Schrift/Tradition/überlieferung) bezeichnet wird. Dabei kommt dann der Paradosis-Dynamik selbst (in ihrer narrativen Form und ihrem narrativen Gehalt) im Rahmen eines erinnerungstheologischen Konzepts die Bedeutung des hermeneutischen Schlüssels des Kanons bzw. kanonartiger Sammlun126

Zur Differenzierung zwischen Tradition und Traditionsdynamik vgl. oben, 2.6.2.1, insbes. S. 83ff.

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Bibeltheologische Annäherungen

gen (Assmann: heiligendes Prinzip) zu. Das aber lenkt den Blick schon auf den systematischen Hauptteil dieser Arbeit. Dieser bibeltheologische Zugang ist notwendig kursorisch vorgegangen und hat sich dabei wesentlich semantisch am Wortfeld erinnern - vergessen orientiert, um davon ausgehend beispielhaft an einigen Erzählungen und Erzählzusammenhängen Spuren einer biblischen Erinnerungstheologie herauszuarbeiten. Wenigstens als Desiderat der weiteren Profilierung der These von einer biblischen Erinnerungstheologie soll hier noch benannt werden, dass in den exegetischen Diskussion der letzten Jahre die Zusammenhänge von Produktion, Fortschreibung, Rezeption und Interpretation biblischer Traditionen (bzw. Schrift) neu und deutlich differenzierter als kommunikative und kreative Prozesse im inneren Zusammenhang von Traditionsbildung und Auslegung der Tradition - der relecture (bzw. re';criture) - in den Fokus gerückt sind. Von daher lässt sich das, was unter dem Stichwort der innerbiblischen Schriftauslegung diskutiert wird, mit dem im Folgenden zu entwickelnden (fundamentaltheologischen) Konzept kommunikativer Erinnerung verbinden. Die Prozesse der Kanonbildung, der Auslegung (auch der Selbstauslegung der Schrift) und damit des Wachstums biblischer Schriften als gewissermaßen lebendige Traditionsliteratur stehen dabei im Vordergrund. Sie lassen sich im Kontext miteinander kommunizierender Erinnerungsgemeinschaften deuten. Beispielhaft ist hier auf neuere Erkenntnisse im Blick auf den Entstehungszusammenhang des Numeribuches und damit des Pentateuch insgesamt zu verweisen, die Christian Frevel unter Aufnahme eines von Thomas Wagner geprägten Begriffs als Traditionsverdichtung bezeichnet (vgl. Frevel 2020). Traditionsverdichtung beschreibt den Entstehungsprozess biblischer Schriften als "Ineinanderfließen von Produktion und Rezeption einerseits und Tradition und Innovation andererseits«, wodurch Traditionen »dynamisiert und zugleich durch ein immer dichter werdendes Netz stabilisiert« werden (Frevel 2020:280). Die biblischen Schriften skizzieren also nicht nur auf der semantischen Ebene eine Erinnerungstheologie, die ihre Dynamik sowohl im gott-menschlichen als auch im zwischenmenschlichen Bereich entfaltet. Vielmehr lässt sich Entsprechendes auf der Ebene der Bildung, Fortschreibung und Interpretation von Traditionen ebenfalls beobachten. Dies allerdings noch einmal ausführlich darzustellen, würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen.

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Teil IV

Theologische Modelle von Tradition und Erinnerung

Die Meister schöpferisch zu ehren bedeutet, es mehr mit ihrer Haltung als mit ihren Ergebnissen aufzunehmen, bedeutet, einem künstlerischen Verständnis von Tradition zu folgen, und das heißt: Neues schaffen, anstatt Altes zu beleben.

- Josef Albers'

Es mag beim Lesen vielleicht überraschen, dass diese Arbeit den Bogen von der Nachzeichnung der biblischen Erinnerungstheologie zum systematisch-theologischen Teil ohne den ausführlichen Verweis auf einflussreiche historische traditionstheologische Entwürfe schlägt. Das liegt vor allem an zweierlei: Obwohl es sich zweifellos bei der Erinnerung, um die es dieser Arbeit ja schwerpunktmäßig geht, um eine theologische Basiskategorie (vgl. etwa Petzel/Reck 2003 und vgl. Liess 2007) handelt, haben die Traditionsreflexionen der Kirchenväter und auch der hochmitlelalterlichen Theologie diese unter der Chiffre der Paradosis bzw. der Traditio verhandelt. Deshalb finden sich nur sehr vereinzelt ausdrückliche Bezüge auf eine erinnerungstheologische Terminologie. Exemplarisch ist in Bezug auf die zeit- und erinnerungstheologischen Reflexionen des Augustinus (vgl. oben 3.2, S. 120-129), die auch für die heutige kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung von hoher Relevanz sind, gezeigt worden, mit welch hoher existenzieller und zugleich theologischer Relevanz bei ihm Erinnerung und Gottesbegegnung zusammen gedacht werden. Dabei ließ sich zwar eine kommunikative Einordnung des Erinnerns in einen kollektiven bzw. sozialen Kontext feststellen, nicht jedoch ein direkter Rekurs auf kommunikative bzw. kulturelle Erinnerung, wie er erst durch die Reflexionen der letzten zweihundert Jahre und insbesondere über die Schriften von Maurice Halbwachs und Jan Assmann in den kulturwissenschaftlichen Diskurs Eingang gefunden hat. Darüber hinaus mangelt es nicht an substanziellen theologischen Auseinandersetzungen und Deutungen der Entwicklung des Traditionsbegriffs, die in der Regel auf die Stationen Basilius, Vinzenz von Lerins, Thomas von Aquin, das Trienter Konzil, Melchior Cano, Johann Adam Mähler und John Henry Newman rekurrieren 1 1

losef Albers Interachon of color Grundlegung emer DIdaktik des Sehens, Koln 1997, S 5 Hier sei nur beispielhaft auf Kasper 1990:163-177, Gerl- Falkovitz 2011, Negel 2013 und jüngst Seewald 2018:107-268 verwiesen.

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In der nun folgenden Auseinandersetzung mit der Traditionstheologie von Walter Kasper sollen nichtsdestotrotz insbesondere dessen philosophische Wurzeln in der Spätphilosophie Sc hellings sowie die Konzepte der katholischen Tübinger Schule (von Johann Sebastian von Drey und seinem Schüler Johann Adam Möhler) noch einmal einem genauen Blick unterzogen werden. Sie sind für die Theologie des 20. Jahrhunderts und zumal bei Walter Kasper zentraler Bezugspunkt des Denkens. Darüber hinaus verzichtet diese Arbeit größtenteils auf eine weitere Nachzeichnung und versucht im Anschluss an und in Auseinandersetzung mit zwei hinlänglich kontrastiven und theologisch einflussreichen Entwürfen der Traditions- (Walter Kasper) bzw. der Erinnerungstheologie (Johann Baptist Metz) ihre Fragestellungen, insbesondere auch im Blick auf ihre Desiderate, mögliche Anknüpfungspunkte und offenen Fragen zu verfolgen. Anschließend soll der Mehrwert eines erinnerungstheologischen Verständnisses der Traditionsdynamik unter Aufnahme von Konzeptionen und Differenzierungen des kommunikativen (Maurice Halbwachs) und kulturellen Gedächtnisses (Jan Assmann) und den im kulturwissenschaftlichen Teil dieser Arbeit bereits dargestellten Ergänzungen und Weiterführungen aufgezeigt werden.

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8 Fundierende Traditionstheologie Walter Kasper Die Auseinandersetzung mit der Theologie der Tradition hat WALTER KASPER nach eigenen Aussagen seit seiner Dissertation Die Lehre von der Tradition in der Römischen Schule (1962) »nicht mehr losgelassen und ist zu einem Grundakkord meines ganzen theologischen Nachdenkens und vieler späteren Veröffentlichungen«' (Kasper 2011:13) geworden. Aufgrund des umfangreichen Gesamtwerks von Kasper zeichnet diese Arbeit sein Denken insbesondere anhand von zwei Beiträgen (Kasper 1970 und Kasper 1990) nach, aus denen sich die Grundmotive seines Denkens über den Begriff und die Theologie der Tradition gut darstellen lassen. Für die Ver ortung seines Denkens und weitere Aspekte (insbesondere zur Idee der Dogmenentfaltung und zur Bedeutung des sensus fidelium) greife ich insbesondere auf die Untersuchung von Frank Kleinjohann (2017) zurück, die auch die Hintergründe und Entwicklung seines Denkens über Tradition im Zusammenhang mit den prägenden philosophischen und theologischen Einflüssen umfänglich darstellt 3

8.1 Theologische und philosophische Grundlagen Es darf in seiner Bedeutung für die Verortung seines Denkens auf keinen Fall unterschätzt werden, dass Kaspers Dissertation sozusagen am Vorabend des 11. Vaticanums erscheint. Die Konzilsdynamik ist vor allem seinen früh-nachkonziliaren Schriften deutlich anzumerken (vgl. unten, 8.2, S. 347-351). Deshalb lässt sich grundsätzlich die konstitutive Bedeutung des Konzils für das Denken Kaspers dahingehend zusammenfassen, dass er »die durch das Zweite Vatikanum für das Offenbarungsverständnis eingenommene personaldialogische oder auch kommunikationstheoretische Sichtweise mit aller Konsequenz auf das TraditiSo schreibt Kasper im Vorwort, das er dem ersten Band seiner gesammelten Schriften, der seine Dissertation enthält, vorangestellt hat. 3 Umso auffälliger ist es, dass Kleinjohann 2017 auf die beiden erwähnten Artikel Kasper 1970 und Kasper 1990 gar nicht eingeht und ihm deshalb ill. E. wichtige Aspekte seiner Traditionstheologie entgehen. 2

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8 Fundierende Traditionstheologie - Walter Kasper

onsverständnis« überträgt (Kleinjohann 2017:19). Insofern kann man Kasper für diese durch das Konzil an die zeitgenössische Theologie gestellte Aufgabe nicht nur als »Kronzeuge [nl«, sondern gleichzeitig als »Anwalt der Geschichtlichkei t von Offenbarung und Glauben« (Kleinjohann 2017:19) bezeichnen. Kaspers Denken speist sich - das zeigt der Blick auf die Autoren, mit denen er sich in seinen Q1lalifikationsschriften beschäftigt wie die Prägung durch seinen Lehrer Geiselmann 4 - aus der Auseinandersetzung mit dem Denken des Deutschen Idealismus und den vom Idealismus wie von der Romantik geprägten neuen (nicht reaktionären oder traditionalistischen) theologischen überlegungen zu einem adäquaten Freiheits-, Offenbarungs-, Kirchen- und Traditionsverständnis, die auch entscheidenden Einfluss sowohl auf das erste wie auf das zweite Vatikanische Konzil hatten. Die meisten Gedanken aus der katholischen Tübinger Schule bilden heute für die Auseinandersetzung mit dem Traditionsbegriff - insbesondere aber für Walter Kasper - eine Hintergrundfolie, die mitunter auch als nicht weiter reflektierte theologische Grundüberzeugungen (in Zustimmung oder Ablehnung) den zeitgenössischen Traditionsdiskurs prägen. Deshalb sollen hier in einem fokussierten Blick sowohl die Gedanken Johann Sebastian von Dreys wie auch die seines Schüler Johann Adam Möhler dargestellt werden, weil sie in ihrer Grundanlage das Denken Kaspers besonders geprägt habens Die katholische über seinen akademischen Lehrer losef Rupert Geiselmann wird er zu einem profunden Kenner der katholischen Tübinger Schule (insbesondere Johann Sebastian von Dreys und Johann Adam Möhlers) wie auch der Römischen Schule (Giovanni Perrone, Carlo Passaglia, Clemens Schrader und Johann Baptist Franzelin). Daneben prägt auch das Denken lohn Henry Newmans :»[tJeilweise [... ] eher verborgen [... ], teilweise [... ] aber auch bis in die Nomenklatur hinein explizit« (Kleinjohann 2017:116) Kaspers Theologie. Schließlich zeigen sich insbesondere anhand der Habilitationsschrift, die sich mit der Geschichtsphilosophie Friedrich Wilhelm Joseph Schellings auseinandersetzt, die Einflüsse eines durch den Deutschen Idealismus geprägten Freiheits- und Subjektverständnisses. 5 Für Frank Kleinjohann ist es insbesondere die :>:>Verbindung des von der Katholischen Tübinger Schule des 19. und 20. Jahrhunderts entwickelten Verständnisses von lebendiger Uberlieferung mit dem [... ] personaldialogischen Ansatz« in Bezug auf den Offenbarungsbegriff (Kleinjohann 2017:19; Hervorh. AJ), was das Zentrum des Denkens Kaspers ausmacht. Es wären hier m.E. insbesondere die kritische Verhältnisbestimmung zwischen Schrift und Tradition und die Neubewertung der pneumatologischen Komponente des Traditionsbegriffs zu ergänzen sowie die transzendental-theologische Grundlegung in der Geschichtsphilosophie vonSchelling, was aber keineswegs die Bedeutung der Impulse der Tübinger Schule schmälert, sondern sie vielmehr bei Kasper ergänzt und weiter konturiert. In jedem Fall ist es korrekt, dass Tradition von Kasper - ganz auf der Linie der Offenbarungskonstitution des 11. Vaticanums - grundsätzlich als :»stetes im Heiligen Geist geführtes Gespräch des erhöhten Herrn mit seiner Kirche verstan-

4

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8.1 Theologische und philosophische Grundlagen

Tübinger Schule gibt dem Denken Kaspers einen »hermeneutischen Horizont« (Kleinjohann 2017:25), mit dem er sich jedoch auch immer wieder kontrovers und kritisch auseinandersetzt. Verortet in den grundlegenden Transformationsprozessen des 19. Jahrhunderts (Französische Revolution, Säkularisation, Industrialisierung etc.) und besonders im Gefolge der Aufklärung ist das Grundanliegen von Drey und Möhler eine Neuverortung des Glaubens- und des Traditionsverständnisses angesichts der sich durchsetzenden Erkenntnis von der Nicht-Selbstverständlichkeit von Glaube und Tradition. Erst im Rahmen einer fraglich gewordenen überlieferung und ihrer Normativität wird die Tradition selbst neu zur Frage. War die Gesellschaft vorher selbstverständlich von den christlichen Traditionszusammenhängen geprägt, so stellt sich die Frage nach Wesen und Verbindlichkeit der Tradition nun in neuer Dringlichkeit. Hier fällt die erste für Kasper zentrale Differenzierung, dass nämlich Bräuche und gesellschaftliche Konventionen »grundsätzlich nicht gemeint [sind], wenn man theologisch von Tradition spricht« (Kasper 1970:167). Die Neuverortung der Theologie der Tradition setzt in der katholischen Tübinger Schule beim Konzept der Selbstüberlieferung Christi in seiner Kirche an, die der »Vater[] der katholischen Tübinger Schule« (Hünermann 1973:51), Johann Sebastian von Drey, entwickelt. Dieser Ansatz bedeutet eine »nach den gegenreformatorisehen Verengungen und Verkürzungen längst überfällige Weitung des gedanklichen Horizontes« (Kleinjohann 2017:48). Dreys Theorie der Selbstüberlieferung Gottes, die Johann Adam Möhler in der Vorstellung der Kirche als einer lebendigen, dynamischen und organischen Traditionsgemeinschaft in ekklesiologischer Perspektive vertieft hat, sind sehr grundsätzlich von der Geschichtsphilosophie Schellings geprägt, was sich bis in einzelne Formulierungen hinein zeigen lässt (vgl. Hünermann 1973:50). Deshalb steht die Auseinandersetzung mit Sc helling am Anfang der Q1lellen des Denkens von Walter Kasper.

8.1.1 Geschichte als Begegnungsraum von Freiheit(en) - Friedrich Wilhelm Joseph Schelling Für die Philosophie FRIEDRICH WILHELM JOSEPH SCHELLINGS, in dessen Spätphilosophie Walter Kasper die »Vollendung und [den] Umbruch des deutschen den wird«, die konkret und direkt mit der Praxis und der Verkündigung der Kirche verknüpft ist (Kleinjoharm 2017:19).

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8 Fundierende Traditionstheologie - Walter Kasper

Idealismus« (Kasper 1965a:12) erblickt, besitzt die Frage nach der Geschichtsphilosophie zentrale Bedeutung. In seinem »elliptischen Denken« sind "die Freiheit und das Absolute die aufeinander bezogenen Brennpunkte« (Schmied-Kowarzik 2010:265). Beide »scheinen sich gegenseitig auszuschließen und doch bedingen sie einander« (Schmied-Kowarzik 2010:265). Hinter dem Ansatz von Schelling steht - angesichts der besonderen geschichtlichen Situation am übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert - »das Interesse an einer begründeten Theorie der objektiven Notwendigkeit des historischen Fortschritts« (Durner 1981:369). Und so wird verständlich, warum die Frage nach der Philosophie der Geschichte »immer mehr in den Mittelpunkt Schellingschen Denkens« (Durner 1981:367) rückt. Besonders ab seiner Freiheitsschrift (Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit von 1809) setzt sich Schelling intensiv damit auseinander, die »wechselseitige Bezogenheit von Absolutem und Freiheit, von Gott und Mensch neu zu denken« (Schmied-Kowarzik 2010:267) und überträgt diese allgemeine Geschichtsphilosophie schließlich in seinen Vorlesungen über die »Philosophie der Offenbarung« (1842/43) auf die christliche Religion, ohne dezidiert theologisch zu argumentieren (vgl. Schmied-Kowarzik 2010:279). Seine Freiheitsschrift beginnt programmatisch mit einer Typologie freiheitsphilosphischer Entwürfe.' Dabei wird deutlich, wie sehr Schelling die menschliche Freiheit nicht isoliert oder subjektivistisch denkt, sondern im Zusammenhang und gewissermaßen schon im Dialog »mit dem Weltganzen« (Schelling 1809:337). Damit setzt er sich von Fichte ab, für den - in den Worten Schellings - der »Ausdruck eines jeden Ich die absolute Substanz sey« (Schelling 1809:337). Für Schelling liegt die zentrale Aufgabe der Philosophie darin, den »Zusammenhang des Begriffs der Freiheit mit dem Ganzen der Weltansicht« darzulegen, »ohne deren Auslösung der Begriff der Freiheit selber wankend, die Philosophie aber völlig ohne Werth seyn würde« (Sc helling 1809:338).

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Diese Entwürfe setzen entweder beim Begriff der Freiheit an oder aber sie betreffen den ,>Zusammenhang dieses Begriffs mit dem Ganzen einerwissenschaftlichen Weltansicht« (Schelling 1809:336). Weil jedoch für Schelling das eine ohne das andere nicht möglich ise, worin man schon die Neuakzentuierung des Denkens insbesondere gegenüber Hegel wahrnehmen kann, muss die Freiheit als j>einer der herrschenden Mittelpunkte des Systems« von beiden Seiten, cl.h. sowohl von seinem Begriff als auch im Zusammenhang mit dem Ganzen und Absoluten entworfen werden (Schelling 1809:336).

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8.1 Theologische und philosophische Grundlagen

8.1.1.1 Schöpfung und menschliche Freiheit Entscheidend ist daher für Schelling die »Bestimmung des Prinzips [... ], mit welchem der Mensch überhaupt erkennt« (Schelling 1809:337). Aus der pythagoreischen (bzw. platonischen) Lehre, »daß Gleiches von Gleichem erkannt werde«, lässt sich ableiten, »daß der Philosoph eine solche (göttliche) Erkenntnis behaupte, weil er allein, [... ] mit dem Gott in sich den Gott außer sich begreife« (Schelling 1809:337; Hervorh. AJ). Diese ursprünglich platonische These also, dass es einen inneren Zusammenhang zwischen der Erkenntnis des Guten (bzw. Gottes) und dem Wesen der menschlichen Erkenntnis gibt, überträgt Schelling im Folgenden auf seine überlegungen zur Philosophie der menschlichen Freiheit, die er deshalb programmatisch im Kontext der göttlichen Schöpfung verortet'"

8.1.1.2 Die Personalität von Schöpfung und Offenbarung Seinen Ausgangspunkt bilden dabei überlegungen zur Theodizee. Es ist gerade die Ambivalenz der Schöpfung, die anhand der Frage nach der Theodizee deutlich wird 9 und darauf verweist, dass die Schöpfung »keine Begebenheit, sondern eine That« (Schelling 1809:396) ist. Sie ist nicht die Schlussfolgerung aus allgemeinen (unpersönlichen) Gesetzmäßigkeiten, vielmehr ist »Gott, d. h. die Person Gottes, [... ] das allgemeine Gesetz, und alles, was geschieht, geschieht vermöge der Persönlichkeit Gottes« (Schelling 1809:396). Auch Gott kann also für Schelling nicht abstrakt, sondern muss personal gedacht werden. Man kann nach Schelling von der menschlichen Freiheit nicht anders sprechen als f>unter der Voraussetzung ihrer Ennäglichung im Weltzusammenhang« (Schmied-Kowarzik 2010:278). Während Schelling schon in seinen frühen Schritten die Geschichte als den :»Prozeß der zu sich selbst kommenden menschlichen Vernunft, an dessen Ende sie sich als freie und selbstbestimmende begreift« (Durner 1981 :367), versteht, entwirft er dies in seiner Spätphilosophie von der Ennäglichung der Freiheit gewissermaßen in einem Begegnungsraum mit der (absoluten) Freiheit (Gott), der Schäpfung. 9 Anhand des Bösen in der Welt bzw. der Kombination zwischen Gutem und Bösem, in der das :drrationale und Zufällige, das in der Formation der Wesen, besonders der organischen, mit dem Nothwendigen sich verbunden zeigt« deutet sich für Schelling im Blick auf die Schöpfung an, dass diese nicht aus »geometrische[r] Nothwendigkeit« entstanden ist, j>sondern daß Freiheit, Geist und Eigenwille mit im Spiel waren« (Schelling 1809:376). Generell ist überall, j>wo Lust und Begierde« ist, j>schon an sich eine Art der Freiheit« auszumachen, ja mehr noch: die j>Begierde, die den Grund jedes besondern Naturlebens ausmacht«, der Wille, ist nicht etwas, das gewissermaßen nachträglich zum Geschöpf hinzukommt, sondern Ausdruck der Freiheit, j>das Schaffende selber« (Schelling 1809:376).

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8 Fundierende Traditionstheologie - Walter Kasper

Das bedeutet schließlich auch, dass zur Verhältnisbestimmung der menschlichen Freiheit zu Gott (das war ja der Ausgangspunkt Schellings gewesen) die »allgemeine Erkenntniß der Freiheit in der Schäpfung« nicht ausreicht, sondern sich darüber hinaus die Frage stellt, ob auch die Schäpfung selbst und die »That der Selbstoffenbarung in dem Sinne frei gewesen [ist], daß alle Folgen derselben in Gott vorgesehen worden« sind (Schelling 1809:396). Auch Schäpfung und Offenbarung müssen deshalb für Schelling als Handlungen (Taten) einer absoluten und personalen Freiheit gedacht werden, als »freie Entscheidung Gottes« (Schelling 1809:397). Die Entscheidung Gottes zur Offenbarung!O ist es, die »erst eigentlich den Begriff derselben als einer bewußten und sittlich-freien That« vollendet (Schelling 1809:397). In diesem Zusammenhang spielt die für Schelling prägende Unterscheidung zwischen der Vernunft, die »alles Seiende in Natur und Geschichte aus ihrer zeitlosen Verbindung mit Gott betrachtet«, und dem Verstand, der »das empirisch Vereinzelte in die abstrakte Unendlichkeit von Kausalbeziehungen in Zeit und Raum auf[läst]«, eine Rolle (Schmied-Kowarzik 2010:278). Sie wird in der Freiheitsschrift durch eine weitere grundlegende Differenzierung ergänzt, wenn Schelling sowohl in Bezug auf den Menschen als auch in Bezug auf Gott den Grund von der Existenz unterscheidetl! Im personal gedachten Gott liegt ein» unabhängiger Grund von Reali tät«, mi t dem zwei »ewige Anfänge der Selbstoffenbarung« verbunden sind (Schelling 1809:395). Weil also Schelling Schäpfung in ihrer Ambivalenz nicht anders als ein willentliches Werk eines personalen Gottes denken kann, hat Gott die gleiche Dualität des Willens, die auch freie Geschäpfe auszeichnet. Das sind zunächst der Wille des Grundes, »die Sehnsucht des Einen, sich selbst zu gebären«, und der Wille der Liebe, durch den »das Wort in die Natur ausgesprochen wird, und durch den Gott sich erst persänlich macht« (Schelling 1809:395). Diese beiden inneren Momente an Gott sind beide Vollzüge der Freiheit, die gleichwohl nicht auf sich selbst, sondern auf ein Miteinander ausgerichtet sind. Dabei Es müsse deshalb j>eine dem Willen zur Offenbarung entgegenwirkende Tendenz in Gott« gegeben haben, der gegenüber j>Liebe und Güte oder das Communicativum sui« überwogen hätten, damit eine Offenbarung sein konnte (Schelling 1809:397). 11 Hierin zeigt sich, dass Schelling ein Grundaxiom des Idealismus durchbricht, nämlich jenes j>der absoluten Identität von Denken und Sein, von Wirklichkeit und Vernunft« (Schmied- Kowarzik 2010:282). Darin liegt einer der Diskussionspunkte, ob manSchelling überhaupt (noch) dem Deutschen Idealismus zurechnen kann (Schmied-Kowarzik 2010:278). Für unsere Zusammenhänge ist diese Verhältnisbestirnmung weniger relevant. In jedem Fall zeigt sich diese Abkehr Schellings in der Abwendung von der negativen Philosophie hin zur positiven Philosophie.

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8.1 Theologische und philosophische Grundlagen

gilt jedoch eine Abstufung: Der Wille des Grundes "kann [... ] nicht frei seyn in dem Sinne, in welchem es der Wille der Liebe« ist, der allein für Schelling »[ S]chlechthin freier und bewußter Wille« ist (Schelling 1809:395). Schelling unterscheidet grundsätzlich zwischen der Existenz und dem Grund (der Existenz). Von daher ist der Wille des Grundes im Kern der Ausdruck des Eigenwillens. Der Wille der Liebe widersteht und überwindet letztlich diesen Eigenwillen. Das geschieht in der dynamischen Spannung bei der Willen innerhalb eines geschichtlichen Prozesses, der durch dieses spannungsvolle Zueinander (seit der Schöpfung) eröffnet wird und schließlich auf die Einheit im Geist der Liebe zielt. 8.1.1.3 Die Geschichtlichkeit der Schöpfung Die Schöpfung eines derart personalen und frei gedachten Gottes, ist aber dann notwendig eine geschichtliche Schöpfung, weil »Gott ein Leben ist, nicht bloß ein Seyn« (Schelling 1809:403). Die entscheidende Dynamik des Lebens ist dadurch charakterisiert, dass es »ein Schicksal [hat], und [... ] dem Leiden und Werden unterthan [ist]« (Schelling 1809:403). Diesem Schicksal hat sich Gott »freiwillig unterworfen, schon da er zuerst, um persönlich zu werden, die lichte und die finstre Welt schied« (Schelling 1809:403). Gott eröffnet der Geschichte einen Sinn!', der ohne den »Begriff eines menschlich leidenden Gottes, der allen Mysterien und geistigen Religionen der Vorzeit gemein ist«, unmöglich wäre (Schelling 1809:403). Mit der Schöpfung ist also nicht nur eine Geschichte in Gang gesetzt, die im Sinne des Deismus völlig von Gott verschieden und unabhängig von ihm ist, sondern eine zielgerichtete Geschichte in wechselseitiger Bezogenheit zu Gott 13 Die Schäpfung der Welt in der Unterscheidung von Licht und Finsternis bleibt also auch für Gott nicht folgenlos, vielmehr gilt: j>Das Seyn wird sich nur im Werden empfindlich« (Schelling 1809:403). Weil Sein und Werden für Schelling deutlich zu unterscheiden sind, gibt es einerseits kein Sein, das wird und umgekehrt auch kein Werden (eben auch nicht das schöpferische Werden), das seiend ist. Indem also Gott eine geschichtliche Schäpfung schafft, ist (oder wird) er selbst geschichtlich. 13 Im Raum der Geschichte, nur in diesem und nicht außerhalb von ihm, können Gott und Menschen als voneinander zunächst grundsätzlich getrennte, freie und doch aufeinander bezogene Subjekte miteinander in einen Prozess der gegenseitigen Perfectio eintreten. So gilt, dass gleichzeitig mit der Schäpfung und damit der Unterscheidung und Verhältnisbestimmung zwischen Schäpfer und Geschäpfen schon die Perspektive einer gelingenden Zukunft und damit ein (geschichtlicher) Einheitspunkt zwischen Gott und Menschen angelegt ist. Für Schelling zeigt sich das im Zeugnis der Schrift, die j>Perioden der Offenbarung [unterscheidet], und [... ] als eine ferne Zukunft die Zeit [setzt], da Gott Alles in Allem, d. h. wo er ganz verwirklicht seyn wird«

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8 Fundierende Traditionstheologie - Walter Kasper

Letztlich ist der Schöpfung damit eine Zweistufigkeit zueigen: Die erste Stufe bildet das Licht (das ideale Prinzip) bzw. das schaffende Wort, das "das im Grunde verborgene Leben aus dem Nichtseyn erlöst, es aus der Potenz zum Actus erhebt« (Schelling 1809:404). Die zweite Stufe ist der Geist, der »die finstre und die Lichtwelt vereiniget und beide Principien sich zur Verwirklichung und Persönlichkeit unterordnet« (Sc helling 1809:404). Zugleich mit dieser Vervollkommnung 14 der vorher in Gott angelegten Geschöpfe findet dabei auch die »vollkommene Aktualisirung Gottes« statt (Schelling 1809:404). Für Schelling ist die Dualität zwischen Grund und Existenz aber nicht ein überzeitlich-ewiger Dualismus, vielmehr muss es »vor allem Grund und vor allem Existirenden, also überhaupt vor aller Dualität, ein Wesen seyn«, das er als» Urgrund oder vielmehr Ungrund« (Schelling 1809:406; Hervorh. AJ) bezeichnet. Dieser letzte Urgrund kann deshalb nicht als Identität gedacht, sondern muss als die »absolute Indifferenz bei der bezeichnet werden« (Schelling 1809:406)15 Der letzte Ur- oder Ungrund ist also nicht nur dem Grund und der Existenz vor gängig, sondern ist letztendlich ihr Wesen l6 , aus dem es stammt und dem es gleichsam im geschichtlichen Prozess (im Sinne der skizzierten gegenseitigen Perfectio von Schöpfer und Geschöpf) wieder zustrebt. 17 Es ist die Liebe, die die neue Art der Vereinigung bezeichnet. Diese Liebe ist (Schelling 1809:404). So fasst Schelling die Logik der Schäpfung dann folgendermaßen zusammen: j>Gott gibt die Ideen, die in ihm ohne selbständiges Leben waren, dahin in die Selbstheit und das Nichtseyende, damit, indem sie aus diesem ins Leben gerufen werden, sie als unabhängig existirende wieder in ihm seyen« (Schelling 1809:404). 15 Diese Indifferenz ist nicht ein ,>Produkt der Gegensätze, noch sind sie implicite in ihr enthalten«, es gibt also keinen der Welt bzw. der Schäpfung (und dem Schäpfer) vorgängigen oder vorgegebenen Dualismus, viehnehr ist die Indifferenz ein :»eignes von allem Gegensatz geschiedenes Wesen, an dem alle Gegensätze sich brechen«, weshalb es das Nichtsein von Gegensätzen oder das ,>Prädicat [... ] der Prädicatlosigkeit« ist, ohne deshalb ,>ein Nichts oder ein Unding« zu sein (Schelling 1809:406). 16 Im Akt der Schöpfung geht der Ur- oder Ungrund ,>in zwei gleich ewige Anfänge auseinanderD, nicht daß er beide zugleich, sondern daß er in jedem gleicherweise, also in jedem das Ganze, oder ein eignes Wesen ist« (Schelling 1809:408). 17 Dieses Zustreben ist aber nicht eine einfache Wiedervereinigung von Grund und Existenz, sodass damit der Zustand des Ur- oder Ungrunds wieder erreicht würde. Die Einheit von Grund und Existenz ist vielmehr nur in einer neuen durch die Geschichte und die Freiheit gewonnenen Form möglich: Die Teilung des Ur- oder Ungrunds in ,>zwei gleich ewigen Anfänge [geschieht] nur damit die zwei, die in ihm, als Ungrund, nicht zugleich oder Eines sein konnten, durch Liebe eins werden«, womit dann ,>Leben und Lieben [... ] und persönliche Existenz« möglich wird (Schelling 1809:408). 14

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8.1 Theologische und philosophische Grundlagen

gerade nicht mit dem der Geschichte der Schöpfung vorgängigen Status der Indifferenz identisch. Auch meint sie nicht eine Verbindung von Gegensätzlichem, gewissermaßen wider Willen oder aus äußerer Notwendigkeit. Liebe ist vielmehr willentlich und frei 18 Solche Liebe ist ein gegenseitiger freier Vollzug von zwei Freiheiten, die sich miteinander im Raum der Geschichte bewegen 19 Nur durch die »entschiedene Mitwirkung [des Menschen] kann der sittliche Sinnhorizont der Welt erfüllt werden«, während der Mensch sich auch, »in dem er sich selbst ins Zentrum setzt, wider Gott als absoluten Existenz- und Sinnzusammenhang entscheiden« kann (Schmied-Kowarzik 2010:279). Der Sinnhorizont wiederum ist nicht ein mystischer oder idealistischer, sondern er ist nur in der und durch die Geschichte zu erreichen. 8.1.1.4 Ein trinitarisches Verständnis der Offenbarung über diese philosophische Konzeption der Freiheit hinaus, die immer schon auf die Geschichte (und die Schöpfung) verwiesen bleibt, setzt sich Schelling gerade in seinen Vorlesungen zur Philosophie der Offenbarung (1841/42) auch noch einmal deutlich thematischer mit Motiven christlicher Religiosität auseinander, wiederum jedoch, ohne eine im strengen Sinn konfessorische Theologie zu verfolgen (vgl. Schmied-Kowarzik 2010:279). Wie sich anhand der Vorstellung von (Schöpjungs-)Wort und Geist der Liebe in den vorhergehenden Betrachtungen schon andeutet, wird für Schelling zunehmend ein trinitarisches Offenbarungsverständnis leitend. Die »innere« Dynamik vom Ausdruck seines Willens im Es ist für Schelling geradezu das »Geheinmis der Liebe, daß sie solche verbindet, deren jedes für sich sein könnte und doch nicht ist, und nicht sein kann ohne das andere« (Schelling 1809:408). Diese Vereinigung im Geist der Liebe ist eben deshalb nicht einfach die Aufhebung von Gut und Böse, also das äußere Zusammenbringen von Gegensätzen. In dieser Entwicklungsdynamik der Freiheit und der Liebe, versucht Schelling dann schließlich auch eine Verhältnisbestimmung zum Bösen, das ja in der Frage der Theodizee den Ausgangspunkt seiner überlegungen gebildet hatte. Die skizzierte Dualität zwischen Grund und Existenz darf nicht einfach als diejenigen von Gut und Böse missverstanden werden. In der anfänglichen Indifferenz gibt es für Schelling kein Böses. Das Böse ist j>kein Wesen, sondern ein Unwesen, das nur im Gegensatz eine Realität ist, nicht an sich«, weshalb es eben nicht vor der Schöpfung ist, sondern erst in der freien Tat der Schöpfung entsteht. Das Böse erscheint erst als Gegensatz zur absoluten Identität bzw. zum Geist der Liebe. Deshalb ist es in der absoluten Identität nicht inbegriffen, j>sondern ewig von ihr ausgeschlossen und ausgestoßen« (Schelling 1809:409). 19 In diesem Raum ist der Mensch auch gegenüber der Freiheit Gottes in seinem sittlichen HandeIn frei und wird nicht von der göttlichen Freiheit übennächtigt. Zwar sind und bleiben beide Freiheiten aufeinander verwiesen und bedürfen einander für den geschichtlichen Weg der gegenseitigen Perfectio, auch dieser geschieht aber nur und immer in der Freiheit der Liebe. 18

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8 Fundierende Traditionstheologie - Walter Kasper

Wort und das gemeinsamen Hervorbringen des Geistes der Liebe, in dem dann auch innerhalb der Trinität die Vereinigung in freier Liebe möglich wird (vgl. dazu auch Kleinjohann 2017:203), wird ihm dann letztlich zur Grundlage bzw. Präfiguration für das Zueinander von göttlicher und menschlicher Freiheit. In diesem Zusammenhang kommt schließlich auch der biblisch geprägten Vorstellung vom Sohn eine besondere Bedeutung zu, der wir uns zum Abschluss dieses kurzen Durchgangs durch die Gedanken der Spätphilosophie Schellings noch zuwenden. Entscheidend für den Sohn ist es, dass er »unabhängig von dem Vater in eigner Herrlichkeit existiren« hätte können (Schelling 1842:37), dass ihm also eine grundsätzliche und absolute Freiheit gegenüber dem Vater eignet. Er wäre dann zwar, so Schelling, »nicht der wahre Gott« gewesen, hätte aber durchaus »Herr des Seyns« und damit »zwar nicht dem Wesen nach, aber doch actu Gott seyn« können (Schelling 1842:37). Die Freiheit des Christus realisiert sich nicht in der völligen Autonomie, sondern im Verschmähen der (eigenen) Herrlichkeit 20 , in der Hingabe an den Vater im Streben nach der Gemeinschaft im Geist der Liebe. Das ist es, was nach Schelling dann als »Grundidee des Christenthums« (Schelling 1842:37) gelten kann. Entscheidend ist dabei zunächst, die »Unabhängigkeit, die selbständige Existenz zu begreifen« (Schelling 1842:37), die Christus ausmacht und in der erst sich die Potenz der zweiten göttlichen Person verwirklicht. So realisiert sich eben erst im Akt der Schöpfung selbst die Göttlichkeit des Sohnes. Erst am Ende der Schöpfung »ist der Sohn, was der Vater ist«, und doch ist dies kein »von dem Vater unabhängiges, kein ihm eignes Seyn, kein Seyn, das er außer dem Vater und für sich besäße« (Schelling 1842:37). Das Für-sich-sein-Wollen oder Sich-be sitzen-Wollen ist aber dann jene »Schuld des Menschen« (gewissermaßen die Erbsünde), die das »in der Schöpfung überwundene Princip [... ] wieder erregt und damit eine neue Spannung« (Schelling 1842:37) schafft.'1 Diese SpanDas Besondere am Sohn - und darin wird er für Schelling zum Christus - ist, dass er diese »Herrlichkeit [ ... ], die er unabhängig von dem Vater haben konnte, verschmähte« (Schelling 1842:37). 21 Das ist der menschliche Sündenfall, in dem er j>der Versuchung [erliegt], seinen Freiheitsraum auszudehnen, indem er ihn geradezu überdehnt« (Kleinjohann 2017:204). Die Versuchung der überdehnung der Freiheit, des Wie-Gott-sem-Wollens ermöglicht dann auch eine menschliche Schuldgeschichte, die eine Begleiterscheinung der Freiheitsgeschichte der Menschen ist. Nur und ausschließlich in dieser Freiheitsgeschichte kann der Erweis des "Dasein[s] Gottes, eines Existenz und Sinn umfassenden Absoluten« (Schmied-Kowarzik 2010:283) gelingen, der nicht nur ein intellektueller Akt ist. Vielmehr kann die Menschheitsgeschichte grundsätzlich schei20

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8.1 Theologische und philosophische Grundlagen

nung aber, als eine »gegen den göttlichen Willen und bloß durch den Menschen gesetzte« (Schelling 1842:37), ist gewissermaßen durch die Zeugung des Sohnes ermöglicht und gehört gleichzeitig zu den Bedingungen der Möglichkeit (absoluter) menschlicher Freiheit. Auch ist die Zeugung des Sohnes der Beginn der Geschichte. Die Erlösung und Versöhnung dieser Freiheits- und Schuldgeschichte ist dann für Schelling insbesondere in der schon beschriebenen Eigenart des Christus begründet oder zumindest vorgezeichnet. In seiner Hingabe (oder Kenosis, vgl. BaumgartnerlKorten 1996:182 und Kleinjohann 2017:20Sf.), der Entäußerung bzw. dem Verzicht auf seine (ihm eigentlich anders als den Menschen zustehende) Freiheit, liegt die christologische Sinnspitze des Konzepts von Schelling, die wohl - neben der eschatologischen Offenheit auf Geschichte hin - besonders zur Rezeption durch Walter Kasper beigetragen hat. Das Motiv der Hingabe als Akt göttlicher Freiheit" ist dafür zentral. 8.1.1.5 Einheit und Geschichte der Kirche

In der Kirchengeschichte wiederum erblickt Schelling eine Typologie der Entwicklung, die mit einem jeweils fortschreitenden Begriff der Einheit einhergeht. In der petrinischen Entwicklungsstufe der Kirche - so nennt er die erste Phase - sei es nur zu einer »äußern Einheit« gekommen, während die paulinische Entwicklungsstufe der Kirche, die er mit der nach-reformatorischen Kirche identifiziert, die Kirche »nicht von der Einheit, sondern nur von ihrer blinden Einheit wieder befreit« habe, wodurch sich schon die dritte Periode der Kirchengeschichte ankündigt (Schelling 1842:324). Letztlich ist diese paulinische Periode nur »Vermittlung und übergang« zur johanneischen Entwicklungsstufe, in der schließlich »die Einheit, aber als mit Freiheit bestehende, mit überzeugung gewollte, und darum erst als ewige, bleibende hergestellt ist« (Schelling 1842:324). Hierin wird noch einmal stärker deutlich, wie konkret und konsequent geschichtlich die Argumentation von Schelling entwickelt wird. Das wiederum geht mit einer gewissen Zukunftsorientierung seines Denkens tern und tut dies dort, :»wo der Mensch sich zum Herren der Welt aufzuschwingen« versucht und damit das ,>Band mit der Kreatürlichkeit« zerreißt (Schmied-Kowarzik 2010:283). Hierin zeigt sich die umfassende, ganzheitliche und geschichtliche Verantwortlichkeit des Menschen in seiner Freiheitsgeschichte. 22 Die für Kasper entscheidende Erkenntnis formuliert dieser so: Gott ist ,>so fre~ dass er in der Erniedrigung seine Herrlichkeit offenbart« (Kasper 1965a:530).

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8 Fundierende Traditionstheologie - Walter Kasper

einher. Zwar ist die Entwicklungsgeschichte kontingent und durch den Dialog der Freiheiten bestimmt. Sie hat aber in sich, in dem anvisierten Zielpunkt oder auch in der Perspektive der johanneischen Entwicklungsstufe bestimmte Möglichkeiten einer schon im Ausgangspunkt der Schöpfung und noch einmal fokussierter im Christusereignis angelegten Einheit. Die Entwicklungsgeschichte ist also immer teleologisch und von (eschatologischer) Erwartung her bestimmt. Entscheidend bleibt dabei aber für Schelling, dass diese Entwicklung, obwohl sie eindeutig zielgerichtet ist, sich »ohne allen äußern Zwang« weiterentwickelt und realisiert (Schelling 1842:324). Die große Leistung des Konzeptes von Schelling ist wohl darin zu sehen, dass er wirklich geschichtlich (vgl. dazu auch Schmied-Kowarzik 2010:280) das Verhältnis zwischen Gott und Mensch als zweier Freiheiten denkt. 23 Schellings Philosophie ist aber auch keine christliche Philosophie im engeren Sinn, vielmehr müsste man sie nach Schelling als eine »philosophische Religion« verstehen, »insofern sie die Frage nach dem Verhältnis von Mensch und Gott nicht von außen beschreibend, sondern als erfahrene Bewusstwerdungsgeschichte, in die wir immer noch einbezogen sind, aufzuhellen versucht« (Schmied-Kowarzik 2010:279).

8.1.1.6 Die Bedeutung der jesuanischen Lehre In Schellings Philosophie der Offenbarung wird auch die Bedeutung der jesuanisehen Lehre fokussiert. Sie ist eine »Theologie der Befreiung«24, und die Nachfolge Jesu wird zu einem »noch keineswegs abgeschlossenen Weg der Freiheit für die Menschheit«, der gleichwohl aufgrund seiner geschichtlichen Form nur »mühsam [... ] in der Geschichte der Christenheit voran[geht]« und erst auf eine Erfüllung in der Einheit der Liebe (in der johanneischen Kirche) sich ausstreckt. Darin liegt auch ein wichtiger Vorbehalt, insofern die »Frage nach der Sinnbestimmung unseres geschichtlichen Seins« - sei es kollektiv oder individuell 23

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Er spricht vom »frei handelnden Gott, aus dem die Erschaffung der Welt erfolgt, der sich dem Menschen offenbart, der selbst am Bösen in der Welt leidet« und begreift den Menschen »in seiner wirklichen Freiheit zum Guten und zum Bösen«, wodurch er ilm ,>in seiner geschichtlichen Verantwortung für den ihm mit anvertrauten Weltzusammenhang erfasst« (Schmied-Kowar-

zik 2010:279). Das gilt für Schmied-Kowarzik neben der bereits skizzierten Hingabe-, Kenosis- oder Paradosis-Dynamik Jesu insbesondere deshalb, weil Jesus »aus seiner jüdischen Glaubenstradition heraus [...] den Gottesdienst ganz in die tätige Nächstenliebe und somit in die sittliche Sinnbestimmung menschlichen Lebens hereinholt« habe (Schmied-Kowarzik 2010:281).

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8.1 Theologische und philosophische Grundlagen

»niemals abschließend beantwortbar« ist (Schmied-Kowarzik 2010:282). Einen derart geschichtlichen Sinn einer geschichtlichen Existenz kann man deshalb auch nicht quasi-metaphysisch besitzen. Die Frage nach dem Sinn ist vielmehr eine bleibende Frage, die nicht punktuell und abschließend beantwortbar ist. Andererseits ist mit der Geschichtlichkeit auch eine Hoffnung gegeben, »dass der existierenden Welt ein Sinnhorizont innewohnt«, der wiederum die Bedingung der Möglichkeit dafür ist, »dass unsere eigene Existenz darin ihren Sinn zu finden und zu bewähren vermag« (Schmied-Kowarzik 2010:282). Das aber vollzieht sich in einem »grundsätzlich unabschließbare[n] Dialog, den der Mensch mit seinem Grund im Absoluten führt«, ohne dieses Grundes habhaft zu werden (Schmied-Kowarzik 2010:282). Trotzdem oder gerade angesichts dessen findet der Mensch in diesem Dialog »zur Sinnbestimmung seiner Freiheit« (SchmiedKowarzik 2010:282). Damit hängt auch Schellings grundsätzlich geschichtliches Verständnis der Vernunft zusammen. Sie ist »immer im übergang zur Geschichte begriffen, denn ohne Geschichte bliebe sie leer und gehaltlos« (Durner 1981:367). Das Motiv der »Geschichte als interpersonale[r] Begegnung zwischen Gott und Mensch in absoluter Freiheit« (Kleinjohann 2017:209) spielt in der Traditionstheologie Walter Kaspers dann eine zentrale Rolle. »Geschichtlichkeit des Menschen« und »Geschichtsmächtigkeit Gottes« bilden deshalb für Kasper das »Verhältnis einer gegenseitigen Entsprechung, wobei sich diese Dialektik immer mehr auf eine Analogik und Dialogik hinbewegt« (Kasper 1965a:595). Er versteht den Grundgedanken Schellings als Zueinander von menschlicher und göttlicher Freiheit in einem großen Dialog. Dieser Gedanke hat in seiner wohl zentralen und in großer Konsistenz oft in seinem Werk anzutreffenden Grundbestimmung der Tradition deutlich seine Spuren hinterlassen: »Gott ist durch seinen Geist ohne Unterlass im Gespräch mit der Kirche, der Braut seines Sohnes, um sie immer wieder neu in die ganze Wahrheit einzuführen (Joh 16,13) und das Evangelium, das immer dasselbe ist, in seiner ewigen Neuheit zu erschließen« (Kasper 2015b:442).25

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So auch schon in seiner Dissertation, wo für ilm die Tradition die j>dialektische Einheit von gegenwärtiger Lehre der Kirche und der objektiven Norm des Anfangs in der Fülle« bedeutet als

»vergegenwärtigende Ananmese des apostolischen Kerygmas (konkret: der Schrift) im Ereignis der Verkündigung, in der sich die Selbsterschließung Christi im Heiligen Geist vollzieht« (Kasper 1962:628; vgl. dazu auch Kleinjohann 2017:193).

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8 Fundierende Traditionstheologie - Walter Kasper 8.1.2 Selbstoffenbarung und lebendige Überlieferung - Johann Sebastian von Drey

In Abgrenzung vom rein menschlichen (gesellschaftlichen bzw. kirchlich-institutionellen), konventionalistischen Grundverständnis der Tradition und ihrer ausschließlich regulativen Bedeutung dreht ]OHANN SEBASTIAN VON DREY die Logik der Tradition um und versteht die Tradition der Kirche als umfassenden Lebensvollzug der Kirche, dessen eigentlicher Urheber Gott ist. Hierin liegt ein grundlegender Paradigmenwechsel begründet und damit die Wiedergewinnung eines spezifisch theologischen Traditionsbegriffs in Abgrenzung von konservativen und restauratorischen Vorstellungen, die göttliche und menschliche Tradition einfach unter einen allgemeinen Traditionsbegriff zu subsumieren versuchten (vgl. dazu oben, 2.3.1, S. 37-42).26 Mit seiner Schrift Apologetik als wissenschaftliche Nachweisung der Göttlichkeit des Christentums in seiner Erscheinung (1838) legt Drey die »erste systematische Darstellung der Apologetik als selbständiger Disziplin« vor und entwickelt damit »den modernen Typ der Fundamentaltheologie« (Hünermann 1973:52). In der grundsätzlichen Anlage seines Werks ist Drey damit deutlich vom Deutschen Idealismus, insbesondere von Hegel und Schelling, geprägt (vgl. Hünermann 1973:52-55). Wegen der zentralen Bedeutung für Kasper soll nun in Kürze die offenbarungs- und überlieferungstheologische Position von Drey nachgezeichnet werden.'7 Den Ansatzpunkt Dreys bilden seine überlegungen zum Offenbarungsbegriff, den er zunächst in einem sehr umfassenden Sinn einer natürlichen Offenbarung im Akt der Schöpfung selbst verortet.'8 Aus der ursprünglichen Gottesunmittelbarkeit des Menschen in der Schöpfung resultiert eine grundsätzliche, natürliche Offenheit für Gott und Offenbarung. Von da aus können dann auch die »Thatsaehen des religiösen Bewußtseyns, und der Ursprung der Religion selbst« (Drey 1838:111) verstanden werden. So lässt sich bei Drey also der Ausgangspunkt für einen theo- bzw. christozentrisch gedachten Traditionsbegriff ausmachen, der sich auch kirchenkritisch gegen einen »fortlebenden Deismus, bei dem die Kirche als Institution an die Stelle des Christusereignisses tritt«, richtet (Kleinjohann 20INS). 27Vgl. zum Gesamten auch Kleinjohann 2017:29-49, der dessen Position aus der Drey-Rezeption bei Geiselmann nachzeichnet. 28 In der Geschäpflichkeit des Menschen ist es begründet, dass »der Mensch in seinem Selbstbewußtsem Gott [findet], weil sein Selbst vor diesem Bewußtsein mit Gott Eins gewesen« und er j>Gottes Bild empfangen [hat] und als Geist sich selbst, also Gott in seinem Bilde schauen kann« (Drey 1838:111). 26

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8.1 Theologische und philosophische Grundlagen

8.1.2.1 Selbstoffenbarung als Höhepunkt der Offenbarung Aus dieser natürlichen bzw. schöpfungstheologischen Begründung der Offenheit und Erkenntnisfähigkeit des Menschen für Offenbarung29 heraus versteht Drey diese dann als einen geschichtlichen Prozess, als einen Entwicklungsprozess der Offenbarung, der Geschichte erst ermöglicht und in dem der Mensch die verschiedengestaltigen Offenbarungen Gottes in der Welt - Drey nennt sie auch Erscheinungen - zu deuten fähig ist. Das ist die entscheidende offenbarungstheologische Neuheit seiner Konzeption und bedeutet zugleich die strikte Abgrenzung gegenüber traditionalistischen Konzeptionen (vgl. Hünermann 1973:56). Diese Offenbarungsgeschichte ist für Drey keine determinierte Geschichte, vielmehr ist sie auch von einer Entscheidung des Menschen geprägt, die für ihn urtypisch durch das auserwählte Volk Israel und die anderen Völker verdeutlicht wird. 30 Die »Geschichte der religiösen Entwickelung der Menschheit unter der fortdauernden Leitung der Offenbarung« führt dann in besonderem Maß »zu ihrem entferntem Zwecke« (Drey 1843:50f.), womit Drey das Christusereignis bezeichnet, was zwar den Höhepunkt, nicht aber den Abschluss dieser Entwicklungsgeschichte sowohl der Offenbarung wie der Menschheit bedeutet. Die Geschichtskonzeption von Drey lässt sich also eindeutig als linear und darüber hinaus auch als teleologisch verstehen. Man kann darin insgesamt auch ein Verständnis der Offenbarung im Sinne einer Erziehung der Menschheit auf Die grundsätzliche Offenheit des Menschen für Gott ist auch eine grundsätzliche anthropologische Erkenntnisfähigkeit des Menschen für Offenbarung und hängt zentral mit der Vernunft zusammen (vgl. Hünennann 1973:56). Drey versteht Offenbarung nicht als :>:>äußere Offenbarung«, sondern als ,>jene verborgene Vertrautheit der Vernunft mit Gott [...], die es allererst gestattet, in den mannigfachen Offenbarungen Gott als Gott zu erkennen« (HÜllennann 1973:56), oder in den Worten Dreys: eine j>Form der Erkenntnis«, in der er ein j>:inneres Bild von Gott« besitzt, ,>durch dessen Ahnlichkeit mit diesem er gewiß wird, daß sich Gott ihm geoffenbart habe« (Drey 1838:108; vgl. dazu auch Hünennann 1973:56). 30 Zwar bleibt die skizzierte natürliche Offenheit des Menschen auf die göttliche Offenbarung bei allen Menschen wirksam, jedoch kann Drey j>zwei entgegengesetzte Wege« (Drey 1843:50) ausmachen, auf denen sich die Menschheit mit und ohne Offenbarung entwickelt. Die einen entwickeln sich j>aus sich selbst, ohne andere Beihülfe Gottes, als die in der ursprünglichen Offenbarung und in den Traditionen der Urväter lag«, weshalb dieser Zweig der Menschheitsgeschichte als j>Geschichte ihrer Entwickelung außerhalb der Offenbarung« zu bezeichnen ist (Drey 1843:50). Das j>auserwählte Volk« hingegen kann sich j>nicht nur einer besonderen oft wunderbaren providentiellen Führung erfreuen«, vielmehr wiederholen sich j>die Offenbarungen Gottes, ähnlich denen in den Tagen der Vorzeit, [... ] in Thaten, Belehrungen, Verheißungen und Vorschriften«, die j>in gleicher Weise die religiöse wie die nationale Entwickelung dieses Volkes« befördern (Drey 1843:50). 29

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8 Fundierende Traditionstheologie - Walter Kasper

der Linie der Vorstellung Lessings erblicken 3 ! Weil die Offenbarung parallel zur Entwicklung der Menschheit verläuft und diese unterfasst, gibt sich die natürliche Ur-Offenbarung (die Geschöpflichkeit und die damit verbundene Offenheit und Erkenntnisfähigkeit für Offenbarung) in der geschichtlichen Offenbarung - dem Fortdauern der ursprünglichen Schöpfungstätigkeit Gottes (vgl. Drey 1838:220) - geschichtlich zu vernehmen und zu erkennen. 32 Das Fortschreiten der Offenbarung lässt sich auch anhand des Wandels der Erscheinungsformen deutlich machen. Diese richten sich jeweils nach den »Bedürfnissen und der Fassungskraft der Menschen« (Drey 1843:200)33. Ohne dass die anderen Formen der Offenbarung negiert werden, bildet für Drey die Erscheinung Jesu Christi die Grundlehre des Christentums, sie ist »Offenbarung Gottes in Person und persönlicher Erscheinung« (Drey 1838:124; Hervorh. i. Original).34

Der entscheidende Unterschied ist jedoch, dass die Offenbarung nicht wie bei Lessing ein gewissennaßen indirekter aber letztlich nicht notwendiger Zusatz ist, der die Menschheit schneller und einfacher an die pädagogischen Ziele gelangen lässt und der insofern nur relativ notwendig ist. Vielmehr j>ermöglicht [die Erziehung] überhaupt erst die Gottesidee« (Hünermann 1973:57), weshalb einer solchen geschichtlichen Offenbarung für diese Gottesidee eine Notwendigkeit eignet. 32 Diese stringent geschichtlich gedachte Offenbarung, die j>die Entwickelung der Menschheit bestimmend und leitend begleitet« tritt in ein "bestimmtes Verhältnis zu unsern zeitlichen Bedürfnissen« und gestaltet ,>ihre zeitlichen Zwecke« danach, ,>daß auch die Wunder Gottes als die eine Form der Offenbarungsthätigkeit sich jenen zeitlichen Bedürfnissen und Zwecken anschließen« (Drey 1838:218). Das gilt nach Drey analog für zwei unterschiedliche Arten von Offenbarungen, die er unterscheidet, nämlich sowohl die ,>Wundererscheinungen durch ihre sinnliche Form« als auch für die ,>Inspiration«, die ,>an Idealem und Geistigem unmittelbar giebt [...], damit die Offenbarungsthätigkeit in ihren beiden Wirkungsarten harmonisch den Einen Zweck auf doppeltem Weg erreiche« (Drey 1838:218). 33 In der Urzeit geschieht Offenbarung 1.) ausschließlich ,>vermittelst der Natur und ihrer Erscheinungen« (Offenbarung in Form von Wundern), später werden 2.) ,>Menschen zu Organen seiner Offenbarungen« (Offenbarung in Form von Inspiration), die von Gott mit ,>den nöthigen Gaben und Vollmachten ihrer Sendung« ausgerüstet werden (Drey 1843:200f.). Weil diese Menschen aber ,>selbst durch ihre göttliche Berufung nicht gegen Verirrungen sicher gestellt waren« und deshalb ,>unfähig, die volle göttliche Wahrheit in sich aufzunehmen«, gipfelt für Drey die göttliche Offenbarung 3.) in der Erscheinung Jesu Christi (Drey 1843:201). 34 Diesen Kristallisationspunkt des christlichen Offenbarungsverständnisses versteht er als ,>persönliche Offenbarung Gottes, und Christus in seiner Erscheinung und seiner Geschichte ist diese Offenbarung« (Drey 1838:125). über die (abstrakte) Entwicklungs- und Offenbarungsgeschichte Gottes mit seinem Volk Israel hinausgehend ist also die Menschwerdung Christi als historisches Ereignis des Fokuspunkt des göttlichen Offenbarungsgeschehens. 31

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8.1 Theologische und philosophische Grundlagen 8.1.2.2 Tradition als lebendige Überlieferung

Obwohl aus dem Vorherigen schon deutlich geworden ist, dass Drey kein instruktionstheoretisches Verständnis der Offenbarung vorschwebt, soll doch der Inhalt oder besser das Wesen dieser Offenbarung noch einmal deutlicher akzentuiert werden. Es ist der Gedanke der lebendigen Selbstüberlieferung Gottes (in Jesus Christus), der das Neue des überlieferungsverständnisses ausmacht. Allgemein kann für Drey eine »ursprüngliche Thatsache« entweder erlöschen, oder »sie erzeugt ein bleibendes Produkt, in welchem sie sich fortsetzt und fortbesteht« (Drey 1838:381), in jedem Fall hinterlässt sie eine Spur. Mit dem Erlöschen der Tatsache entsteht eine »gemeine unlebendige überlieferung, durch Schrift und Sage«, wenn sie jedoch etwas Bleibendes produziert, dann »wird sie selbst ihre eigene lebendige Uberlieferung« (Drey 1838:381; Hervorh. i. Original). Das gilt auch für Erscheinungen bzw. Offenbarungen, wenn sie etwa »einem einzelnen Menschen zu seiner Erweckung, Belehrung oder Tröstung« (Drey 1838:381f.) aber keinem weiteren Zweck dienen, also keine Funktion für die Weiterentwicklung der Offenbarung bzw. der Geschichte besitzen. Sie können dann zwar in Schrift oder Sage weiterexistieren, haben aber keinen Ort in einer lebendigen (und das heißt auch auf Gemeinschaft ausgerichteten) überlieferung. Anders ist es mit der lebendigen Offenbarung: »eine Offenbarung dagegen in jenem mehr umfassenden Sinne [... ], welche die Bestimmung hat, Erlösung der Menschheit einzuleiten, ein Gottesreich in einer religiösen Lebensgemeinschaft zu gründen und darum für alle Zeiten zu gelten und zu allen Völkern zu gelangen, eine solche Offenbarung muß schon in ihrem Entstehen die Vorkehrungen zu allem dem treffen, sie muß ursprünglich schon ein Produkt erzeugen, in welchem die Keime zu einer unendlichen Entwicklung liegen, und welche Keime die ganze Wirkung der Offenbarung in sich einschließen« (Drey 1838:382). Der Begriff der lebendigen überlieferung ist bei Drey also durch mehrere Charakteristika geprägt: Sie besitzt 1) eine Universalität (umfassender Sinn), 2) eine soteriologische Dynamik (Erlösung der Menschheit), bezieht sich 3) auf die ideelle Größe des Reiches Gottes und 4) konkret auf eine menschliche Gemeinschaft als Träger (eine religiöse Lebensgemeinschaft; die Kirche). Insbesondere im Bild der Keime bringt Drey damit das Charakteristikum seines Entwicklungsbegriffs

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zum Ausdruck. Die lebendige überlieferung besitzt einen definitiven geschichtlichen Startpunkt, der sie selbst und die sie tragende - oder besser: von ihr getragene - religiöse Lebensgemeinschaft mit dem ausrüstet, was sie zur weiteren Entwicklung braucht. Am historischen Christusereignis vollzieht sich also ein entscheidender Wandel (vgl. Hünermann 1973:62): Es entsteht ein dynamischer Organismus35 , der die überlieferung trägt, und zwar nicht als menschliches, sondern als göttliches Geschöpf Es ist die "lebendige Selbstüberlieferung der Offenbarung«, die gegenüber den »gewöhnlichen überlieferungsmittel[n]« eine völlig neue Form der überlieferung bedeutet, jedoch die Formen dieser überlieferungsmittel deshalb nicht ausschließt. 36 Das dynamische und organische Verständnis der lebendigen überlieferung führt damit eine neue Ebene in die Reflexion ein. Der Prozess der lebendigen überlieferung »lässt sich gar nicht mehr mit der Schrift vergleichen, weil er ihr vorausgeht und die Schrift in ihn eingebettet ist« (Kleinjohann 2017:48). Wenn man die Bemerkung Dreys, dass sich Offenbarung und überlieferung »vom Anfang ihren Inhalt in Rede und Schrift« ausdrücken, als Verweis auf Schrift und Tradition (mündliche überlieferung; »Rede«) versteht, werden diese beiden als Zeugnisweisen der Offenbarung und überlieferung ihrer Gesamtdynamik als Aspekte unterstellt, von denen weder die eine noch die andere den Prozess als Ganzen zu erfassen vermag. Damit ist zwar - wie Kleinjohann zurecht bemerkt - ein wesentlicher Schritt aus der festgefahrenen kontroverstheologischen Situation getan. In der Betonung des organischen und umfassenden Lebensprinzips der überlieferung liegt aber dennoch auch die grundlegende Gefahr, dass in diesem dynamischen Prozess alles und jedes als Moment an dieser überlieferungsdynamik behauptet wird und dazu benutzt werden kann, »alle Die :»Gotteskraft, welche ursprünglich in dem Vehikel der äußern Erscheinungen wirkte, muß zu wirken fortfahren, und anstatt jener Erscheinungen [... ] sich einen Organismus erschaffen, welcher ihr dauernder Träger wird« (Drey 1838:382). 36 Sie schließt die gewöhnlichen überlieferungsmittel deshalb nicht aus, »da es in der Natur einer zur weiten Verbreitung bestimmten Offenbarung liegt, daß sie vom Anfang ihren Inhalt in Rede und Schrift ausspricht, welche beide für die folgenden Zeiten ebenfalls zu einer überlieferung werden, welche freilich nur aus jener lebendigen recht und vollständig begriffen werden karm, so wie sie auch nur durch diese ihre historische Gewißheit und Glaubwürdigkeit erlangt« (Drey 1838:382). Mit der Konstruktion der lebendigen Selbstüberlieferung der Offenbarung, die ihren Niederschlag in einem organischen Verständnis der Kirche findet, führt Drey damit eine ganz neue Denkfonn für Tradition ein, die j>das Forum der kontroverstheologischen Gegenüberstellung von Schrift und Tradition« (Kleinjohann 2017:48) verlässt. 35

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8.1 Theologische und philosophische Grundlagen

konkreten Traditionen in der Kirche zu kanonisieren und zu theologisieren« ohne die Möglichkeit einer kritischen Differenzierung (Kasper 1970:168)37 Darin wurde - so merkt Kasper kritisch an - die Tradition »gleichbedeutend mit der ganzen christlichen Wirklichkeit, wie sie sich in Predigt, Frömmigkeit und Leben der Kirche manifestiert«, und zum »Inbegriff des lebendig bezeugten und gelebten Evangeliums« (Kasper 1970:167f.). Kasper sieht in dieser romantischen Ausweitung des Traditionsbegriffs eine tiefe Ambivalenz: Zwar wird die Tradition hier nicht mehr als »isolierte, fast esoterische Nebenwirklichkeit« betrachtet und stattdessen »von der Mitte des Kirche- und Christseins her verstanden«; diese Ausweitung dient aber nicht der »logischen Klarheit und der theologischen Brauchbarkeit eines Begriffs«, weshalb der Traditionsbegrifffür Kasper wesentlich kritischer Differenzierungen bedarf, um auf konkrete Fragen anwendbar zu bleiben (Kasper 1970:168). Insbesondere droht ein solcher Traditionsbegriff, der Schrift und mündliche Einzeltraditionen nur als Momente einer umfassenden Dynamik versteht, »die Schrift in sich aufzusaugen« (Kasper 1970:168). Außerdem könne ein solcher Traditionsbegriff sowohl zu einem »starr konservativen, alles Bestehende sanktionierenden Denken führen, wie in einen schrankenlosen Dynamismus umschlagen« (Kasper 1970:168)38 Deshalb ist es besonders bedeutsam, den Begriff der lebendigen über lieferung bei Drey mit seinem historischen Offenbarungsverständnis eng zusammenzudenken, was dann letztlich zu einem streng historischen Uberlieferungsverständnis führt. Deshalb ist es für Kasper in seiner eigenen systematischen Entfaltung des Traditionsbegriffs so wichtig, Momente (historischer) Kritik zu integrieren. Für Drey wie für Kasper ist die Geschichte gerade der Ort, in dem sich das Zueinander zwischen göttlicher und menschlicher Freiheit erDas zeigt sich auch an der Rezeption des Axioms von Vinzenz von U~rins durch die dynamische Traditionstheologie des 19. Jahrhunderts. Man versuchte dabei, das Axiom dergestalt dynamisch zu deuten, dass von dem ubique, semper und ab omnibus :>>nicht alle gleichzeitig feststellbar sem« müssten, es j>genüge also auch, daß eine Wahrheit in der gegenwärtigen Kirche gesicherter Glaubensbesitz« sei, womit dann auch gesichert sei, dass »sie schon immer zum Glaubensbestand der Kirche gehört habe und damit verbindliche Glaubenswahrheit sei« (Kasper 1970:169). Das aber birgt die Gefahr, ,>daß zeitbedingte, allgemein angenommene und deshalb in ihrer Relativität nicht durchschaute Voraussetzungen theologisch kanonisiert werden« (Kasper 1970:169). 38 Stärker als für den überlieferungsbegriff von Drey gilt diese Kritik natürlich für den restaurativen Traditionsbegriff (des Traditionalismus), weil er ,>jegliche historische Rückbindung unnötig erscheinen läßt, denn die jeweils gegenwärtige Kirche bürgt ja für sich selbst« (Kasper 37

1970:168).

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8 Fundierende Traditionstheologie - Walter Kasper

eignet. Die Geschichte ist dabei seit der Schöpfung nicht nur die notwendige Bedingung für die Gottesidee selbst, sondern in aller Konkretheit dieser Geschichte auch der Dialograum der Freiheit. Darin liegt für Kasper, bei aller Betonung einer umfassenden, zur gegenseitigen Vervollkommnung führenden Kontinuität, die Möglichkeit der Integration historischer Kritik wie auch die Wiederentdeckung der Schrift (auch in ihrem traditionskritischen Potential) und die Notwendigkeit beides zusammen zu denken. In diesem Sinne kann Kasper dann an Drey anknüpfen, jedoch (insbesondere natürlich durch die weiteren Entwicklungen hin zum 11. Vaticanum) in ökumenischer Sensibilität für das protestantische Schriftprinzip über Drey hinausgehen. Kasper verbindet so ein dynamisches Traditionsverständnis mit einem statischen, auf die Wahrung der ursprünglichen apostolischen Tradition ausgerichteten Traditionsbegriff und kann beides schließlich im Blick auf eine neue Verhältnisbestimmung zwischen Schrift und Tradition zusammen denken (vgl. Kasper 1970:170). Wenn Kasper also - in seiner eigenen Terminologie - einen statischen und einen dynamischen Begriff der Tradition unterscheidet und beide zugleich wieder aufeinander bezieht, so geschieht dies insbesondere auf der Grundlage eines personal-dialogischen Dogmenverständnisses und des kommunikationstheoretischen Offenbarungsverständnisses des 11. Vaticanums. Darin lässt sich eine Verhältnis be stimmung ausmachen, die charakteristisch für das ist, was ]an Assmann als fundierende Erinnerung bezeichnet, nämlich gerade das identitätskonstitutive Zueinander von Ursprungszeugnis und kollektiver Erinnerung (vgl. dazu oben, 4.2.6.2, S. 171ff.). Darin liegt mithin der erste Anhaltspunkt dafür, dass man die Traditionstheologie von Walter Kasper als fundierende Traditionstheologie bezeichnen kann.

8.1.3 Ki rche als geistgewi rkte, dynamisch-organ ische Traditionsgemeinschaft - Johann Adam Möhler ]OHANN ADAM MÖHLER vertieft das von Drey ausgearbeitete Konzept der dynamischen überlieferung in pneumatologischer Fokussierung. So verteidigt er schon im Vorwort seiner Habilitationsschrift Die Einheit in der Kirche (1825) diese pneumatologische Grundentscheidung39 und beginnt programmatisch da39

Mähler schreibt: »Sie [die Abhandlung] beginnt mit dem Heiligen Geiste; es mag befremdend erscheinen, warum ich nicht vielmehr mit Christus, dem Mittelpunkt unseres Glaubens, angefangen habe. Ich könnte allerdings zuerst erzählen, daß Christus, der Sohn Gottes vom Vater

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8.1 Theologische und philosophische Grundlagen

mit, dass die »Mittheilung des heiligen Geistes« die »Bedingung der Aufnahme des Christenthums in uns« ist (Mähler 1825:2).40 Der ekklesiogene Charakter des Geistes 4 !, der eine organische Gemeinschaft der Gläubigen hervorbringt, ist für Mähler das entscheidend Neue der Kirche. Die Geistbegabung der Kirche 43 bedeutet aber für Mähler eine grundsätzliche Passivität44 der Kirche und ihrer Gläubigen in Bezug auf den Heiligen Geist. Es ist die Haltung der Empfänglichkeit, die das pfingstliche Geschehen in seiner Geistesunmittelbarkeit ausmacht (vgl. Mähler 1825:9). 8.1.3.1 Das Pfingstereignis und die pneumatologische Passivität der Kirche Das Pfingstereignis besitzt also sowohl die entscheidende ekklesiogene wie auch die traditionskreative Eigenart. Die Geisterfahrung an Pfingsten ist damit der Beginn der Kirche, die sich ganz dem Wirken des Heiligen Geistes (demgegenüber sie grundsätzlich passiv ist) verdankt. Mähler deutet dann auch schon sein grundsätzlich dynamisches Verständnis dieser vom Heiligen Geist ermäglichten gesandt, daß er uns Erlöser und Lehrer geworden sey, und den heiligen Geist versprochen und sein Versprechen erfüllt habe. Ich wollte aber, was billig als bekannt vorauszusetzen war, nicht aufnehmen, sondern sogleich mit dem schlechthin zur Sache gehörigen, anfangen. [...] Damit wollte ich beginnen, was bei unserem Christwerden der Zeit nach das Erste ist« (Möhler 1825:VID·

Die Geistmitteilung vereint j>alle Gläubigen zu einer geistigen Gemeinschaft, durch welche er sich den noch nicht Gläubigen mittheilt« und dies geschieht j>durch die Liebe, die in der Kirche durch Aufnahme des in ihr waltenden Lebens in uns erzeugt wird« und durch das letztlich ,>Christus mitgegeben« ist (Mähler 1825:2). Ausschließlich in dieser ,>Gemeinschaft der Gläubigen werden wir Christi bewußt« (Mähler 1825:2). 42 41 Aus einer grundlegenden Geistesmystik der neutestamentlichen Zeit, versteht er die Kirche als eingeistgewirktes ,>große[s] Gesammtleben«, eine ,>geistige Gemeinschaft« oder eine ,>Einheit aller« (Mähler 1825:2f.). 43 Der Heilige Geist, der sich vorher ,>gleichsam zuckend nur und abgebrochen da und dort auf einzelne herabließ«, weshalb ,>alles in Einzelheiten und Besonderheiten zerfiel«, bleibt nach der ,>wlmdervollen Herabkunft auf die Apostel und die gesammte christliche Gemeinde, die eigentlich damit erst wahrhaft und lebendig beginnt« dauerhaft in der Kirche, weshalb diese für Mähler zum ,>unversiegliche[n] sich stets erneuernde[n] und verjüngende[n] Schatz des neuen Lebensprinzipes« wird (Mähler 1825:7). 44 Die Apostel etwa werden nur als Empfangende zu Weitergebenden dieser Geistbegabung und des Lebensprinzips. überall dort ,>wo Empfänglichkeit für dasselbe [dieses neue Lebensprinzip] vorhanden ist« soll der Geist sich ,>von ihnen aus [...] mittheilen [... ] so daß keiner mehr unmittelbar, wie sie dasselbe erhalten mäge, sondern an dem neuen in ilmen gewordenen Leben sich ein gleiches in den Uebrigen erzeuge« (Mähler 1825:9). 40

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über lieferungs- und Lebensgemeinschaft an, wenn er eine spezifische funktionale Bedeutung der Apostel (bzw. auch grundsätzlich der Vorangegangenen) für die Gemeinschaft der Kirche in ihrer organischen zeitlichen wie räumlichen Entwicklungsdynamik45 ausführt. Von diesem dynamischen und organischen Verständnis der Kirche her ist die Tradition die "in der Kirche sich fortpflanzende, fortvererbende geistige Lebenskraft [... ], die innere geheimnisvolle, allem Blick sich entziehende Seite desselben« (Mähler 1825:10). Der organischen Gemeinschaft der Kirche eignet damit für Mähler eine gewissermaßen ästhetische (Selbst-)Evidenz 46 , die die einzelnen Gläubigen immer tiefer in die Erkenntnis wie auch in die Praxis des Christlichen einführt. Das bedeutet für Mähler dann zunächst einen inneren Zusammenhang zwischen der Glaubenserkenntnis und der Liebe in der Kirche, beide bestehen proportional zueinander. Es lässt sich sowohl eine besondere Normativität der dynamischen Gemeinschaft der Kirche für den christlichen Glauben 47 , als auch ein direkter Zusammenhang zwischen der Lebendigkeit der Kirche und der christlichen überzeugung der Einzelnen feststellen. 8.1.3.2 Tradition als ekklesiologischer Schlüssel begriff Es zeigt sich hier, wie sehr »Tradition [... ] zum absoluten Schlüsselbegriff für ein rechtes Verständnis der Offenbarung und des Glaubens« sowie zum »Drehund Angelpunkt des ganzen kirchlichen Lebens« wird (Kleinjohann 2017:80f.). Für Mähler ist deshalb weder Glaube noch Schrift und schon gar nicht Kirche außer halb dieses lebendigen und organischen Zusammenhangs der kirchlichen Mähler führt aus: Wie ,>zu ihrer Zeit räumlich von einander Entfernte nur durch die von den Gesandten des Herrn ausgehende unmittelbare Lebensmittheilung denselben Geist erhielten; so sollen die der Zeit nach von ihnen Entfernten vermittelst der Glieder, die seiner durch sie teilhaftig wurden, ihn erhalten [... ].« (Möhler 1825:9) 46 Es ist das ,>in der Kirche verbreitete heilige Leben«, das j>der Einzelne durch unmittelbaren Eindruck in sich aufnehmen, durch unmittelbare Anschauung die Erfahrung der Kirche zur eigenen umgestalten, einen heiligen Sinn und Wandel in sich erzeugen, und aus dem geheiligten Gemüthe die christliche Erkenntniß entwickeln« solle (Möhler 1825:12). So ist für ihn schließlich das Christentum "kein bloßer Begriff, sondern eine den ganzen Menschen ergreifende, in seinem Leben eingewurzelte, und nur in diesem Leben zu verstehende Sache« (Möhler 1825:14), mehr noch ist die Kirche ,>ein unmittelbar und immer durch den göttlichen Geist bewegtes, sich durch liebende Wechselwirkung der Gläubigen erhaltendes und fortpflanzendes Leben« (Möhler 1825:22). 47 Er schreibt: ,>Wie wir historisch von Christus ohne die Kirche nichts erfahren, so erfahren wir ilm auch in uns nur aus und in der Kirche« (Möhler 1825:22). 45

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8.1 Theologische und philosophische Grundlagen

Tradition zu denken 48 Die Kirche als organische Kreatur, die vom Heiligen Geist gebildet und begleitend erhalten wird, steht so nicht nur in einer geschichtlichen Dynamik der Weitergabe, sondern darüber hinaus in einer Dynamik der Verinnerlichung. Das sich ausbreitende Wachstum (der Kirche) in der Zeit ist begleitet und unterfangen vom Wachstum in der Erkenntnis und Liebe. Es ist dies der Prozess der Vertiefung und Verinnerlichung des der Kirche vom Geist anvertrauten Glaubensgeheimnisses, der apostolischen Tradition. Dieser Fortschritt der Kirche im Glauben kann nicht anders verstanden werden als ein fortschreitender Erkenntnisprozess49 Die apostolische Lehre, die auch in der apostolischen Zeit >>nicht von jedem ihrer Zuhörer vollkommen gefaßt« worden sei, ist deshalb etwas >,in jedem einzelnen sich erst allmählig zum vollkommenen Bewußtseyn ausbildendes«, das also zwischenzeitlich »noch aufmanchfache Weise mangelhaft erscheinen [kann1und unklar in vielen Beziehungen« (Möhler 1825:31). Hatte von Drey ein größeres Augenmerk auf den Zusammenhang von Offenbarungs- und Traditionstheologie gelegt, so gilt das Augenmerk Möhlers stärker der Pneumatologie und der Ekklesiologie. Was die Entwicklung der Lehre angeht, so übernimmt Möhler grundsätzlich das Axiom des Vinzenz von Lerins 50 : Es ist die dynamische Gemeinschaft der Man kann insofern sogar sagen, dass man nach einem solchen Verständnis nur und ausschließlich j>durch den Eintritt in den geschichtlich sich fortpflanzenden GesamtSllm der Kirche [... ] zum richtigen Verständnis der Heiligen Schrift als Wort Gottes« (Müller, G. 1. 1988:203) kommt. 49 Glaubenserkenntnis ist nur im Rahmen der lebendigen überlieferungsgemeinschaft der Kirche möglich, die Kirche ist gewissermaßen die notwendige hermeneutische Bedingung des Zugang zu Christus. Christus kann - so schreibt Mähler - nur »in der Gesammtheit seiner Gläubigen, nur wenn der Einzelne sich als Glied des Ganzen, der neuen Schäpfung, auffaßt, verstanden werden« (Mähler 1825:112). Umgekehrt gilt damit auch, dass ein Zugang zu Jesus nur durch die Kirche mäglich ist: j>Getrennt von der Gesammtheit der Gläubigen, die durch Christus und in Christus zu einem Ganzen vereinigt sind, ist unser Standpunkt zu klein für die Gräße Christi« (Mähler 1825:112). Für Mähler gilt nämlich, dass die Kirche, wenn gleich sie vom Heiligen Geist geschaffen, erhalten ist und ihre Lebenskraft (die Tradition) von ihm erhält, und dieser Geist immer bei ihr bleibt, das gleichzeitig bedeutet, dass die j>apostolische Lehre nie eine vergangene, sondern mit ihm allezeit gegenwärtig« ist (Mähler 1825:31). 50 Mähler versteht Tradition so, dass in ihr die j>Gläubigen aller Zeiten [... ] uns also in der Tradition gegenwärtig« werden als j>integrierende Glieder eines Ganzen«, die auch dahingehend wirken, dass j>wir durchaus nichts als apostolische Lehre annehmen, was nicht alle Gläubigen bis zu den Aposteln hinauf als solche aufgefasst haben« (Mähler 1825:44). Umgekehrt verhelfen sie auch, j>alles das als den richtigen Ausdruck des christlichen Glaubens [zu] betrachten und [zu] glauben, was bis zu den Aposteln hin als apostolische Lehre durch die Tradition sich 48

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Kirche in überzeitlicher Verbundenheit, der gewissermaßen dann eine Unfehlbarkeit im Glauben zukommt, wenn und insofern sie in einer Glaubensüberzeugung oder -lehre übereinstimmt. Johann Adam Mähler gehärt damit (neben Giovanni Perrone undJohn Henry Newman) zu den profiliertesten Vordenkern der Lehre vom sensus fidei fidelium, wie sie das 11. Vaticanum in LG 12 formuliert. In diesem ekklesiologischen Bezugspunkt auf den sensus fidei liegt ein weiterer Grund für die Rezeption Mählers und der katholischen Tübinger Schule durch Walter Kasper.

8,1,3,3 Die Geschichtlichkeit der Offenbarung Eine weitere Reflexionsstufe Mählers lässt sich darin ausmachen, dass er gegenüber Drey'l deutlich stärker das transzendentale und das geschichtliche Moment der Offenbarung miteinander zu verbinden versucht. Das tut er, indem er im Vergleich zu Drey den Grund der gegenseitigen Verwiesenheit noch konsequenter im geschichtlichen Glauben verortet und ihn letztlich von diesem Verständnis der Geschichtlichkeit her entwickelt. 52 Erst durch diese historische Vermittlung und die darauffolgende Reflexion (Mähler: »Selbstbeschauung«) wird das mäglich, was Mähler Gnosis nennt, nämlich eine existenzielle Verinnerlichung des Glaubens, die er zugleich als etwas (notwendig) historisch Vermitteltes und »etwas mit uns vereinigtes, in uns eingewurzeltes, lebendes, und Leben verbreitendes« versteht (Mähler 1825:143). Es liegt damit im Konzept Mählers eine doppelte, gewissermaßen oszillierende Bewegungsdynamik53 vor: Nur im »Nach- und Mitvollzug der gottmenschliauffindet« (Möhler 1825:44) Zwar schreibt Drey in seinem System der lebendigen Selbstüberlieferung der Entwicklung der Offenbarung, oder besser: der Entwicklung der Geschichte unter der Begleitung der Offenbarung, eine historische Dynamik zu, letztlich kann man sein Konzept aber (insbesondere aufgrund des transzendentalen Ausgangspunkts bei der Offenbarungsoffenheit des Menschen) letztlich noch als transzendentales Offenbarungs- und Traditionsverständnis im historischen Gewand beschreiben. 52 Es ist der j>historisch gegebene, der äußere Glauben«, der j>durch die Kraft des heiligen Geistes ein eigenes Leben im Menschen [wird], das eine unmittelbare Gewißheit in sich selbst trägt« und ,>von sich selbst Zeugniß giebt« (Möhler 1825:143). Möhler vergleicht das mit den ,>aus dem Beisammenseyn des Geistes und Körpers hervorgehenden Empfindungen«, die ,>Unmittelbar durch den innern Sinn zum Bewußtseyn gelangen« (Möhler 1825:143). 53 Es bedeutet einerseits, dass dort ,>wo der Glaubende Christus als Mittelpunkt seines Daseins angenommen hat«, sich ihm auch ,>die Geschichte wesentlich [als] logisch« erschließt und sich ihm umgekehrt ,>Idee und IIllialt des Christusglaubens nur durch deren geschichtliche 51

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8.1 Theologische und philosophische Grundlagen

ehen Geschichte« bahnt sich dem Einzelnen in der pneumatologisch unterfassten Gemeinschaft der Kirche der Weg zu Christus und der Begegnung mit ihm. Nur aus dieser (ebenfalls pneumatologisch ermäglichten) Begegnung mit ihm erscheinen die Einzelereignisse der Geschichte in der Gesamtlogik der Offenbarungs- und Traditionsdynamik (vgl. auch Müller, G. L. 1988:206). Einen außeroder übergeschichtlichen Zugang zum Glauben (das heißt auch: außer halb der inspirierten oder geistbegabten Glaubensgemeinschaft) gibt es für Mähler nicht. Das bedingt schließlich auch, dass die Kirche als Ganze eine »Identität des Bewußtseins« besitzt, die gleichzeitig zu einer »Entwickelung und Ausbildung fähig« ist (Mähler 1825:47).54 Die Identität der Kirche ist also nicht als statisch zu denken, sondern sie verdankt sich der gleichen Dynamik wie organische Entwicklung und Weitergabe. Zentrale Bedingung für die Identität des kirchlichen Bewusstseins ist, dass die »innere Lebenseinheit« gewahrt bleibt (Mähler 1825:48).55 Wenn also von einer Entwicklung des Glaubens (oder der Glaubenslehre) gesprochen wird, so ist damit nach Mähler eigentlich eine Entfaltung des schon von Anfang an in der Tradition Angelegten gemeint und nicht eine Weiterentwicklung über das hinaus, was der Kirche in ihrer geistgewirkten Gründung anvertraut ist. Fortschritt ist damit ein inneres Moment an der Tradition und kommt nicht (oder zumindest nicht ausschließlich) von außen. Anhand der Verbindung von der Entwicklungsmäglichkeit und der gleichzeitigen Treue zum apostolischen Glauben bzw. zum apostolischen Zeugnis lässt sich die »enorme[] Integrationsleistung der Mähler'schen Traditionstheologie« beobachten, die »die idealistischen Fragen nach Freiheit und Geschichte« und die »romantischen Ideen des lebendig-organischen Ganzen« mit der »tridentinischen Sichtweise von Tradition vermittelt« (Kleinjohann 2017:83). Die Traditionstheologie Mählers hat wohl auch deshalb auf Kasper einen so großen Einfluss entwickelt. In aller Kürze sollen nun mehr summarisch einige weitere Einflüsse auf das Denken Kaspers in Erinnerung gerufen werden. Vermittlung« eröffnet (Müller, G. 1. 1988:206). Das hängt für Mähler wesentlich damit zusammen, dass das Bewusstsein der Kirche ,>ern den Menschen gegebene[s] neues, göttliches Leben« ist und kein :dodter Begriff« (Möhler 1825:47). 55 Es geht also nicht um satzhafte übereinstimmungen mit den Lehren oder der Praxis der apos54

tolischen Kirche, vielmehr bewirkt die Wahrung der inneren Lebenseinheit auch, dass sich j>dasselbe Bewußtseyn entwickelt« und »dasselbe Leben« sich immer mehr entfaltet und dabei bestimmter und klarer wird, wobei es sich um die :»eigentliche[n] Lebensentwickelungen der Kirche« handelt, und j>die Tradition enthält diese successiven Entfaltungen der höheren Lebenskeime bei der Bewahrung der innern Lebenseinheit selbst« (Möhler 1825:48).

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8 Fundierende Traditionstheologie - Walter Kasper

8.1.4 Weitere Einflüsse auf das Denken Kaspers DIE RÖMISCHE SCHULE (Giovanni Perrone, Carlo Passaglia, Clemens Schrader und Johann Baptist Franzelin) prägt Kasper unter anderem durch die Wiederentdeckung der Unterscheidung zwischen der traditio - dem »Gesamtereignis lebendiger überlieferung« - und den traditiones - den vielen verschiedenen »parallel zur Schrift existierender n] Glaubenszeugnisse[ n ]« (Kleinjohann 2017:403), an die Giovanni Perrone erinnert hat. Auf dieser zentralen Differenzierung56 besteht Walter Kasper immer wieder und ruft sie in Erinnerung (vgl. etwa Kasper 1970:167 und Kasper 1990:165). Auch die Differenzierung zwischen aktiver und passiver Tradition, für die insbesondere Carlo Passaglia und Clemens Schrader stehen, und die Frage nach der materiellen und formellen Suffizienz der Schrift (Johann Baptist Franzelin) haben bei Kasper Spuren hinterlassen. Insgesamt wird man sagen können, dass neben den Einflüssen von Johann Adam Möhler und seines organischen Verständnisses von überlieferung und Kirche, der wiederum auch auf die Römische Schule einen nicht zu unterschätzenden Einfluss gehabt hat (Kasper 2011: 14; vgl. auch Kleinjohann 2017:192), gerade diese Differenzierungen die Traditionstheologie von Kasper prägen. Es ist gerade diese Differenziertheit, die seinen theologischen Blick dafür schärft, die Idee der (verbindlichen) apostolischen Tradition des Anfangs nicht gegen ein Verständnis der Kirche als organische und dynamische Uberlieferungsgemeinschajt auszuspielen, sondern beide miteinander ins Gespräch zu bringen. Diese grundsätzliche Differenziertheit des Ansatzes von Kasper drückt sich etwa auch darin aus, wenn er in Bezug auf das I. Vaticanum S7 darauf verweist, dass dieses einerseits »ganz im Geist der Restauration autoritative Momente gestärkt« (Kleinjohann 2017:192), andererseits gleichzeitig diese Tendenz auch »korrigiert, geklärt, gereinigt und überwunden« (Kasper 1962:628) hat. s8 Diese Differenzierung, die für die Theologie der Kirchenväter und die hochmittelalterliche Theologie selbstverständlich war, war jedoch gerade vor dem Hintergrund des umfassenden Traditionsbegriffs der theologischen Romantik nicht mehr selbstverständlich. Bis heute - so zeigt sich etwa bei Weden 2015 - wird diese Differenzierung allerdings auch theologisch nicht stringent verfolgt, teilweise wird - sowohl von integralistischer wie von liberaler Seite - das eine unter das andere subsumiert, um entweder die Einzelüberlieferung als einzig verbindliche Zeugnisse des Traditionsprozesses zu behaupten oder anhand eines umfassenden dynamischen Traditionsprozesses die Einzeltraditionen zu vergessen. 57 Hierin sieht er starke Einflüsse sowohl der Römischen Schule wie auch Johann Adam Möhlers (Kasper 2011:14). 58 Das gilt etwa im Blick auf die Ineinssetzung von Kirche und Tradition, der gegenüber das Konzil eine j>theologische DDifferenzierung von Funktion und Bedeutung der einzelnen Instanzen 56

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8.1 Theologische und philosophische Grundlagen

Auch Kaspers akademischer Lehrer JOSEF RUPERT GEISELMANN hat ihn beeinflusst. Besonders durch die maßgeblich mit ihm verbundene Uberwindung der Zwei-Qyellen-Theorie der Tradition, nach der - obwohl im Tridentinum anders festgeschrieben - das einfache "in libris scriptis et sine scripto traditionibus« des Konzilstextes (vgl. DH 3006) in der Rezeptionsgeschichte des Konzils im Sinne eines auf eine gegenseitige Insuffizienz hin gedeuteten partim ... partim verstanden wurde (vgl. etwa Geiselmann 1964:32ff.)59 Geiselmann hat nachgewiesen, dass diese bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts vertretene Position, nach der Schrift und Tradition als die bei den ~uellen der Offenbarung (vgl. oben, 2.3.1, S. 38) und nicht als Bezeugungsinstanzen einer beiden voraus liegenden personal-dialogischen Offenbarung verstanden worden waren, der Aussageabsicht und den Beschlüssen des Tridentinums geradezu widersprachen. 60 Damit gelang Geiselmann eine besonders im Umfeld des beginnenden 11. Vaticanums folgenreiche Neufassung des Verständnisses des Trienter Konzils und ein entscheidender Impuls sowohl für das 11. Vaticanum wie dann auch für das Denken von Kasper.'! Geiselmanns zentrale Leistung liegt dabei darin, dass er das Verständnis von Drey und Mähler» [b ]ehutsam reformuliert« und so ein »zeitgemäße[s] Traditionsverständnis am Vorabend des 11. Vaticanums mit seiner personal-dialogischen Wende im Offenbarungsverständnis« (Kleinjohann 2017:101) in den Diskurs eingebracht hat. Schließlich sticht neben den oben bereits erwähnten prägenden Einflüssen John Henry Newmans die Auseinandersetzung mit dem evangelischen Theologen OSCAR CULLMANN heraus. Es ist dessen »biblisch fundierte[s] und chrisSchrift, Tradition und Kirche« (Kleinjohann 2017:192f.) stark gemacht hat. Diese Fehldeutung ging wohl hauptsächlich auf eine :»redaktionelle Klammer in Denzingers Enchiridion symbolorum zu D 1787« (Voderholzer 2013:87) zurück. 60 Geiselmann hat herausgearbeitet, dass das Trienter Konzil gegenüber der ursprünglichen (kanonistisch geprägten) Vorlage, die das partim ... partim im Sinne zweier voneinander unabhängiger Qyellen enthalten hatte, angesichts der auf dem Konzil prominent vertretenen Position, dass j>die ganze Wahrheit des Evangeliums [... ] in der Hl. Schrift enthalten« (Geiselmann 1964:32) ist, diese Frage durch die ausdrückliche Verwendung des »et« gerade nicht entschieden habe. 61 Es lassen sich von Geiselmann aus j>Grundlinien ziehen hin zu einem personal-sakramental verfassten Traditionsverständnis« (Kleinjohann 2017:98). Gleichzeitig steht er und stellt sich auch ausdrücklich (das betont er etwa auch in der Kontroverse mit Joseph Ratzinger, auf dessen Kritik er in Geiselmann 1964:passim; ausdr.:34 reagiert) in die Kontinuität der katholischen Tübinger Schule, weshalb er über diese Differenzierung hinaus insbesondere als Kaspers Lehrer diesen in die Gedanken der Selbstüberlieferung Gottes in der Geschichte (Drey) und der Kirche als lebendige Traditionsgemeinschaft (Möhler) eingeführt hat. 59

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8 Fundierende Traditionstheologie - Walter Kasper

tozentrisch ausgerichtete[s] Verständnis von Heilsgeschichte«, das Kasper das »geschichtlich-biblische Fundament« (Kleinjohann 2017:136) für sein Denken liefert. Darin findet sich die Vermittlung des durch Schelling geprägten und theologisch durch die Hauptvertreter der Tübinger Schule als Verständnis der Selbstüberlieferung Gottes und der Kirche als pneumatologisch unterfasste lebendige und organische Traditionsgemeinschaft angereicherten Konzeptes Kaspers mit einem spezifisch biblisch argumentierenden Zugang. 62 In der Auseinandersetzung mit Cullmann entwickelt sich bei Kasper eine hohe Sensibilität für die konstitutive Bedeutung eines adäquaten Zueinanders von Schrift und Tradition (in großer ökumenischer Offenheit und Sensi bili tät). Nachdem nun die zentralen philosophischen und theologischen Grundlagen des Traditionsverständnisses von Kasper dargestellt worden sind, soll nun anhand der oben bereits angekündigten Texte (Kasper 1970 und Kasper 1990) in Verbindung mit mehr oder weniger ausführlichen Seitenblicken in sein Werk noch detaillierter das eigenständige Konzept Kaspers beleuchtet werden und schließlich auf die Desiderate und Anknüpfungsmöglichkeiten für einen erinnerungstheologisch fokussierten Traditionsbegriff befragt werden.

62

Das ,>Konzept der Heilsgeschichte Gottes« versteht ihn als einen »Gott der Geschichte«: Es ist der »lebendige Gott Israels, der von Anfang an mit seinem Volk kommuniziert und interagiert«, j>einen göttlichen Plan mit seiner Schäpfung verfolgt« und darüber hinaus auch j>Raum für Kontingenz und Sünde lässt« (Kleinjohann 2017:136f.). Insofern passt sich das Verständnis Cullmanns sehr genau in den philosophischen Horizont Schellings ein und ergänzt diesen durch eine biblische Perspektive. Das verbindet Culhnann dann auch mit einer j>dynamisch-situativen Ethik« (Kleinjohann 2017:138) und schließlich mit einer sehr deutlichen »Unterscheidung zwischen dem Christusereignis, der biblisch-apostolischen Tradition und der kirchlich-nachapostolischen Tradition« (Kleinjohann 2017:140), die jedoch - einer Engführung des protestantischen Schriftprinzips entsprechend - diese letzte Phase ausschließlich als Zeit des Verfalls und der Deformation denken kann, gegen die die Ursprünglichkeit des biblisch-apostolischen Zeugnisses (die Schrift) stark gemacht werden müsse. Interessanterweise lässt sich an Cullmann etwa zeigen, dass ähnliche Denkformen (wie die Theologen der katholischen Tübinger Schule ist auch er deutlich von der Spätphilosophie Schellings geprägt, vgl. Trawny 2002:161ff. und zum Zusammenhang der Spätphilosophie Schellings mit Konzeptionen der Heilsgeschichte insgesamt auch (Trawny 2002:191-200)) in diesem Fall zu völlig unterschiedlichen Resultaten führen. So überträgt Cullmann ein »sakramentale[s] Verständnis [... ] mit letzter Konsequenz auf die Heilige Schrift«, sodass damit begründet durch die :»Geistbegabung jedes getauften Gläubigen« zwischen Bibel und dem Getauften :»ein unmittelbarer Dialog« entsteht, es aber darüber hinaus :»keinerleinormative Instanz des Glaubens mehr gibt« (Kleinjohann 2017:143). hmerhalb dieses Spannungsfeldes zwischen Traditionalismus und Biblizismus wird das Verständnis von Kasper eine sehr wohlreflektierte Mittelposition einnehmen.

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8.2 Das II. Vaticanum als Ausgangs- und Bezugspunkt

8.2 Das 11. Vaticanum als Ausgangs- und Bezugspunkt Für Walter Kasper ist das 11. Vaticanum die entscheidende »Kehre«, die für die Kirche »die Abkehr [... ] von den Verkrampfungen einer auf bloße Defensive und negative Verurteilungen eingestellten Mentalität« bedeutet (Kasper 1970: 159). Stattdessen kehre sich die Kirche zum »Dialog mit den Andersdenkenden und Andersgläubigen« hin (Kasper 1970:159). Entscheidend ist in diesem Kontext für Kasper, dass das Konzil angesichts dieser Hinkehr zu kirchlicher Dialogizität sich am Problem der Verhältnisbestimmung von Schrift und Tradition abarbeitet. Dies geschieht so, dass diese »neue Offenheit nicht der Indifferenz entspringt« oder eine »falsche Weltförmigkeit der Kirche zum Ziel haber]«~, sondern in Form einer »schöpferische[n] Rückkehr zu den Ursprüngen, zum apostolischen Zeugnis, wie es uns in Schrift und Tradition überliefert ist« (Kasper 1970:159; Hervorh. AJ).63 Für Kasper stellt sich in dem erneuerten dynamischen Traditionsverständnis des Konzils insbesondere die Frage nach einer adäquaten Verhältnisbestimmung zwischen Evangelium, Bibel, Dogma und Tradition. Die Verhältnisbestimmung dieser Begriffe (vgl. dazu unten, 8.3, S. 351-359) ist die durch das Konzil an die Theologie gestellte Aufgabe der Neuformulierung der Bedeutung der Schrift im überlieferungszusammenhang der Kirche. 64 Die auf Geiselmann zurückgehende überwindung der nachtridentinischen Zuordnung von Schrift und Tradition ist für ihn deshalb Gewähr dafür, dass man »auch inner katholisch die Meinung Diese Frage ist für Kasper eben keine binnentheologische Frage, sondern sie steht in enger Verbindung zur Praxis und Verkündigung der Kirche und ist damit eng mit dem pastoralen Anliegen des Konzils verknüpft. Hinter dieser pastoralen Grunddynamik des Konzils sind dann im Zuge der Beratungen die vorher theologisch so virulenten Fragen (etwa der inhaltlichen Vollständigkeit der Schrift im Verhältnis zur Tradition) zu einer :»untergeordnete[n] Teilfrage innerhalb des Gesamtkomplexes der Verhältnisbestimmung von Evangelium und Kirche« (Kasper 1970:160) geworden. 64 Für Kasper ist es - wie aus den vorangehenden überlegungen zu den Qyellen seines Denken im Kontext der Tübinger Schule hervorgegangen ist - die konkrete Geschichtlichkeit der Tradition, ja noch mehr die geschichtliche Relevanz des Evangeliums, die in seinen Augen das Entscheidende des Ansatzes des 11. Vaticanums ausmacht, was wiederum auf seine Akzentsetzung zurückschließen lässt. Neben dieser j>Frage, wie das Evangelium durch die Kirche in der Welt von heute wieder Präsenz gewinnen kann« benennt Kasper als zweiten entscheidenden Kontext die j>besonders im Raum der protestantischen Theologie mit großer Intensität geführte Debatte um das hermeneutische Problem« (Kasper 1970:160; Hervorh. AJ). Beide Aspekte greifen für Kasper ineinander: Er denkt - geprägt von der Geschichtsphilosophie des späten Schelling - die (geschichtliche) Gegenwartsrelevanz nicht losgelöst von der Frage nach der Bibel, sondern im Kontext der Tradition als Hermeneutik der Bibel. 63

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8 Fundierende Traditionstheologie - Walter Kasper

vertreten könne, daß die Schrift alle Wahrheiten des Glaubens enthalte« (Kasper 1970:160). Deshalb ist der Zugang zur Tradition für Kasper schon in diesem Punkt ein hermeneutischer. Für ihn ist auch und gerade im Blick auf die Herausforderung der protestantischen (hermeneutisch argumentierenden) Theologie klar, dass es in dieser neuen Verkündigungssituation, der pastoralen Herausforderung der heutigen Welt, darum geht, wie das Evangelium neu zur Sprache gebracht werden kann. Der Begriff des Evangeliums ist - zusammen mit jenem des Dogmas - ein Zentral begriff der Theologie Kaspers, der zutiefst mit dieser Dynamik seines Traditionsverständnisses zusammenhängt. Das deutet sich etwa an, wenn Kasper ausführt, dass es darum gehe, »das ein für alle Mal und durch alle Jahrhunderte hindurch überlieferte Evangelium als eine gute Botschaft für heute und morgen so zu tradieren, dass es nie alt aussieht, sondern sich stets als junges, lebendiges und Leben spendendes Wort erweist« (Kasper 2011:13). Von daher muss das Verhältnis von Evangelium und Dogma bei Kasper noch einmal detailliert nachgezeichnet werden (vgl. unten, 8.3, S. 351-359).

8.2.1 Die (offene) Frage nach der Suffizienz der Bibel Zentral für das Traditionsverständnis Kaspers 65 ist, dass er versucht - und das auch als Vorgehensweise des 11. Vaticanums diagnostiziert - die »Herausstellung der Suffizienz der Schrift« mit der Betonung der »bleibende[n] Gegenwart von >Wort und Werk< Christi in der Kirche durch den Heiligen Geist« in ein dialektisches Zueinander zu bringen (Kasper 1970:163). Unter dem Chiffre der Suffizienz der Schrift geht es für Kasper im Kern um die »bleibende Bedeutung und überordnung des apostolischen Anfangs der Kirche« und damit auch um die »geschichtliche[] Einmaligkeit der heilsgeschichtlichen Offenbarung« (Kasper 1970:163). Dieses statische Verständnis ist insbesondere von der klassischen Traditionstheologie und auch der evangelischen Theologie vertreten worden, während das dynamische Verständnis der bleibenden geistgewirkten Gegenwart Jesu in seiner Kirche für die neue re Traditionstheologie seit der Romantik charakte65

Er stellt sich insbesondere die Frage nach der ;.;.letzten Norm in und über der Kirche«, was sowohl die Frage bedeutet, wie die :->einmal ergangene Offenbarung ein für allemal bleibende Norm der kirchlichen Verkündigung werden kann« und dann welche ,>Kriterien, die für das Heutigwerden des Evangeliums gelten« (Kasper 1970:163; Hervorh. AJ). Insbesondere in der Frage der Traditionskriterien zeigt sich wahrscheinlich schon hier der Einfluss vonJohn Hemy N ewrnan auf Kasper.

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8.2 Das II. Vaticanum als Ausgangs- und Bezugspunkt

ristisch ist (vgl. zur Differenzierung zwischen einem statischen und einem dynamischen Traditionsverständnis Kasper 1970:170 und ferner oben unter 8.1.2.2, S. 338). Beide Positionen sind für Kasper grundsätzlich berechtigt und notwendig. Die Frage nach dem Wie der Vereinbarkeit von beiden ist so dann eine der prägenden Fragen und Bezugspunkte der Traditionstheologie Kaspers. Obwohl er auch deutlich kritisch66 mit dem überlieferungskapitel der Offenbarungskonstitution Dei Verbum umgeht (vgl. Kasper 1970:163f.), ist es für ihn doch im Kern kein Mangel, dass das Kapitel »ein typisches Produkt des Kompromisses« (Kasper 1970:164) ist. Bezeichnend sei vielmehr, dass das Konzil weder die »Frage nach der inhaltlichen Suffizienz«, noch jene nach der» besonderen Stellung der Schrift entschieden oder für entscheidungsreifgehalten« (Kasper 1970:165; Hervorh. AJ) habe. Die Problemkonstellation sei mit diesen Fragen »ungenügend gestellt« gewesen, weshalb die zentrale Leistung des Konzils für Kasper in diesem Punkt darin liegt, in der Rezeption eines grundsätzlich dynamischen und dialogischen Verständnisses von Offenbarung und Tradition das Problem der Suffizienz in einen größeren Kontext zu stellen, nämlich in den Zusammenhang der »Frage nach dem lebendigen und tätigen Glaubenszeugnis der Kirche« (Kasper 1970:165). Dadurch sei dann schließlich auch das SuffizienzProblem selbst »neu und besser gestellt« (Kasper 1970:165). Hier sieht er es nun insbesondere als Aufgabe der Theologie an, beide Positionen zu dieser Frage in dem neuen, umfassenden Kontext zu eruieren.

8.2.2 Pastorale GrundeinsteIlung und geistliche Sch rifthermeneutik

Auch in der Neupositionierung des 11. Vaticanums zur Frage der Bibelhermeneutik - Kasper spricht vom »hermeneutische[n] Problem« - stellt er einen entscheidenden Wandel fest. Biblische Hermeneutik werde von der Offenbarungskonstitution des 11. Vaticanums grundsätzlich weder im Sinne von satzhaften Schlussfolgerungen (auf dem »Weg einer logischen Explikation«), noch im direkten Zusammenhang des organischen Grundverständnisses von Tradition (auf dem »Weg eines organischen Wachstums- und Reifungsprozesses«), sondern als »geistliche[] Erfahrung und Erkenntnis [verstanden], die die Kirche in 66

Insbesondere bedauert es Kasper hier aus ökumenischer Perspektiven angesichts der Aussage ,>daß die Tradition das Ganze des Glaubensgutes umfasse«, dass »eine entsprechende Aussage [ ... ] von der Schrift aber nirgends gemacht [wird]« (Kasper 1970:164f.).

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8 Fundierende Traditionstheologie - Walter Kasper

der Praxis ihrer Verkündigung macht« (Kasper 1970:165). Dieser Neuaufbruch im Sinne einer geistlichen Schrifthermeneutik wird für Kasper dann gerade im Blick auf den Zusammenhang von Schrift und Tradition weiterzuverfolgen sein. Die zentrale Herausforderung, die das Konzil nach Kasper an die nachkonziliare Theologie weitergibt, liegt in der pastoralen GrundeinsteIlung des Konzils begründet 67 Es geht darum, dass das 11. Vaticanum wesentlich ein übergeschichtliches Verständnis überwunden hat und darin sehr deutlich macht, dass der »Glaubenssinn der Kirche einer bestimmten Zeit« sich gerade dort am deutlichsten (Kasper schreibt: am »reinsten«) ausdrückt, »wo der Glaube in der Konfrontation mit der Welt und mit der Zeit steht und sich von deren Fragen beunruhigen läßt« (Kasper 1970:165f.). Gerade in dieser »Begegnung der Kirche mit der Welt« erweise sich »die bleibende Gegenwart Gottes bei seiner Kirche durch seinen Geist« (Kasper 1970:166). Für Kasper geht also die oft von integralistischer Seite vorgetragene Argumentation, das Konzil habe wesentlich eine pastorale und damit gerade keine dogmatische Relevanz, an der dogmatischpastoralen Grundanlage des Konzils vorbei, die gerade das eine nicht ohne das andere denkt. Es ist die »gegenseitige Durchdringung von Schrift, Tradition, Kirche und Lehramt«, die das Konzil »nachdrücklich herausgestellt« hat (Kasper 2011:15)68 Unter diesen Vorzeichen der pastoralen GrundeinsteIlung wandelt sich die Frage nach der Schrifthermeneutik: Sie ist nicht mehr» bloß intellektuelles Problem geistiger Vermittlung«, es geht vielmehr um eine »Hermeneutik der christlichen Sendung« (Kasper 1970:166). Dieser Begriff, den Kasper aus der eschatologisch angelegten Theologie der Hoffnung von Jürgen Moltmann (vgl. Moltmann 1964:250ff.) übernimmt, ist dabei aber selbst nicht voraussetzungslos 69 Die zentrale Herausforderung und der theologische Paradigmenwechsel schließlich lie67

Kasper versteht die Notwendigkeit einer stringent geschichtlich gefassten und sich darüber hinaus auch mit den konkreten Fragen der jeweiligen Zeit auseinandersetzenden Theologie nicht nur als ein Anliegen, das gewissermaßen in einem theologischen Zeitgeist oder Trend liegt. Vielmehr ist es ein grundsätzlicher und nachdrücklicher Auftrag des Konzils an die Theologie, der es um ein pastorales Anliegen ,>mit dogmatischer Relevanz« geht (vgl. Kasper

1970:166). Die Begründung für seine Ansicht sieht Kasper in dem vom 11. Vaticanum rezipierten :»von Mähler und Newrnan inspirierten ganzheitlichen TraditionsverständnisD« (Kasper 2011:15). 69 Vorbedingungen sind etwa die grundlegende Reflexion auf das »theologische Wesen und die theologische Relevanz der Geschichte und der Geschichtlichkeit« sowie auf das :>:>Wesen des biblischen Kairos« und schließlich auch auf die :»Logik der existentiellen Erkenntnis und die Fragen der Existentialethik« (Kasper 1970:166). 68

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8.3 Das Spannungsverhältnis von Evangelium und Dogma

gen aber darin, dass es für Kasper »einer entfalteten Pneumatologie [bedarf], die in der abendländischen Theologie nur sehr kümmerlich ausgebildet ist« (Kasper 1970:166). In einer solchermaßen konsequent pneumatologisch argumentierenden Theologie der Tradition liegt für Kasper (und auch für diese Arbeit) der zentrale Paradigmenwechsel der Traditionstheologie (vgl. unten, 8.6, S. 373-375).

8.3 Das Spannungsverhältnis von Evangelium und Dogma Mit dem Begriff »Evangelium« bezeichnet Kasper weder die Bücher der Evangelien, die zwar »bleibend maßgebendes Urzeugnis des Evangeliums, aber nicht dieses selbst« sind, noch das aus einer wissenschaftlichen Hypothese heraus rekonstruierte »Evangelium des irdischen, des sogenannten historischen ]esus« als Gegensatz zu einem später von der Kirche verkündeten Evangelium und auch »keine abstrakte Lehre, keine Spekulation, erst recht keine Ideologie oder Utopie« (Kasper 2015a:21). Vielmehr beinhaltet der Begriff für Kasper eine »konkrete, geschichtliche Geschehens-Wirklichkeit, in deren Verkündigung sich die Botschaft vom Heil ereignet«, weshalb er dann auch davon sprechen kann, dass dieses Evangelium »Akt und Inhalt in einem« ist (Kasper 2015a:21). Begründet ist diese Wirklichkeit des Evangeliums für Kasper schon in der Schäpfung als der »in der Erhaltung der Welt fortdauernde [n] Aktivität Gottes« (Kasper 2015a: 11)70 Kasper formuliert ein Verständnis des Evangeliums als Sinnund Verstehenshorizont der Schöpfung, der sich gleichwohl von der Schäpfung durch die alttestamentliche Verheißung bis zu ihrem Hähepunkt im Christusereignis 7! geschichtlich entwickelt und in der Verkündigung der Kirche eben als dieser Sinnhorizont bezeugt wird. Auffällig ist die große Dynamik des Evangeliumsbegriffs, der sich nicht auf eine Zusammenstellung von Worten und Lehren ]esu reduzieren lässt, sondern gerade als ein die Schäpfung von Anfang an begleitendes, sich im Laufe der Schäpfung entfaltendes Prinzip (im Sinne eines hisSchon die Schäpfung geschieht j>im Blick auf das Evangelium von Jesus Christus« (Kasper 2015a:l1), es zeigt sich biblisch in der Botschaft vom Reich Gottes und deutet sich für Kasper schon in den Verheißungen des Alten Testaments an. 7 1 In Jesus Christus, der die schon anbrechende (aber noch nicht erfüllte) Gotlesherrschaft verkündet hat, besonders :>:>rn Kreuz und Auferstehung« , ist das Evangelium j>endgültig angebrochen« und bricht sich j>in der Bezeugung durch die Kirche bis an die Grenzen der Erde und bis zum Ende der Zeit durch Bedrängnis und Verfolgung hindurch Bahn« (Kasper 2015a:ll). 70

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8 Fundierende Traditionstheologie - Walter Kasper

torischen Geschehens) erweist, das in einem bestimmten geschichtlichen Punkt (in Jesus Christus) in unmittelbarer Konkretion erscheint und gleichwohl nie eine reine Vergangenheit bezeichnet, sondern auf eine eschatologische Zukunft hin offen ist, in der es sich erfüllt. 72 In Bezug auf den Begriff der Tradition ist dabei interessant, dass die primäre Rolle der Kirche hier dementsprechend nicht die der Bewahrung ist. Letztlich geschieht diese Bewahrung ja im Rahmen der geschichtlichen Dynamik, weshalb der Kirche eine unmittelbare Zeugenschaft zukommt, mit der auch verbunden ist, dass die Kirche nicht etwas überzeitlich Unveränderliches möglichst unverändert bewahrt und die geschichtlichen Gegebenheiten an diesen Traditionskern anpasst, sondern sich in einen Dialog mit diesem (geschichtlichen) Evangelium und dem konkreten geschichtlichen Kontext begeben muss. Evangelium in diesem Sinne kann für Kasper dann kein Objekt (auch und gerade kein Traditionsobjekt) sein, vielmehr ist es "durch den Dienst der Kirche im Heiligen Geist selbst Subjekt der Botschaft des Heils« und damit als »Selbstverkündigung und Selbstvergegenwärtigung des erhöhten Herrn in der Kirche und durch die Kirche in der Welt und ihrer Geschichte« gegenwärtig (Kasper 2015a:21f.). Terminologisch lassen sich hier sehr deutlich die oben skizzierten Einflüsse ausmachen, insbesondere jene des Geschichtsdenkens von Schelling und der Rede von der Selbstüberlieferung bei Drey. Sie sind aber bei Kasper eben eindeutig in eine biblisch fundierte heilsgeschichtliche Konzeption eingegangen. Dabei scheint es, dass das Evangelium zunehmend zum geradezu transzendentalen Prinzip der Geschichte avanciert. Es steht in Eigenständigkeit sowohl gegenüber der Schrift, die ihm gegenüber lediglich eine (wenn auch normative) Bezeugungsfunktion besitzt als auch gegenüber der Kirche, der eine ganz parallel gedachte und formulierte Funktion der Zeugenschaft zukommt. Es gibt also eine prinzipielle Eigenständigkeit (oder Freiheit) des Evangeliums von der Kirche, gleichzeitig ist aber die Kirche der hervorgehobene Dialogpartner, in dem sich das Evangelium - oder der Christus totus 73 - vergegenwärtigt. Kasper schreibt entsprechend, dass das Evangelium erst j>am Ende der Zeit, wenn alles in Jesus Christus wieder hergestellt und zusammengefasst sein wird [ ... ] im neuen Himmel und der neuen Erde vollendete Wirklichkeit sein« wird (Kasper 2015a:22). 73 Das Prinzip des Evangeliums ist für Kasper dann letztlich ,> Jesus Christus in Person«, verstanden als ,>Christus totus, das heißt Jesus Christus nach Haupt und Gliedern, als Jesus Christus, der im Heiligen Geist in der Kirche verkündet und geglaubt wird und liturgisch gegenwärtig ist, dem wir in den notleidenden Brüder und Schwestern begegnen« (Kasper 2015a:22). Damit ist zwar ursprünglich eine relative Eigenständigkeit des Evangeliums gegenüber der Kirche angedacht, letztlich aber wird dieses Prinzip mit dem umfassenden Lebensprinzip der kirchlichen 72

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8.3 Das Spannungsverhältnis von Evangelium und Dogma

Die Parallelisierung von Bibel und Kirche in ihrer Zeugenschaft für das Evangelium wird bei Kasper dann schließlich auch über das Christusereignis hinaus ganz bis an den Anfang bzw. bis zurück zur Schäpfung hin verlängert. Durch die Aufnahme der Ideen von der lebendigen und organischen Traditions- und Zeugengemeinschaft der Kirche bei Mähler erhält der Evangeliumsbegriff bei Kasper damit die Tendenz eines überzeitlichen, immer schon implizit vorhandenen und genauso implizit geglaubten Prinzips. Das geht mit der ganz auf der Linie der schon bei den Kirchenvätern (prominent bei Augustinus) vertretenen Vorstellung einer Ecclesia ab Abel (vgl. etwa Beumer 1952:163f.), also einer Kirche der Gerechten von Anfang an, einher. Dieses immer schon vorhandene Prinzip (das Evangelium im Sinne Kaspers) wird dann im Prozess der Geschichte im Zusammenhang mit der Zeugengemeinschaft immer deutlicher und schließlich in der Christuswirklichkeit - dem Christus totus - unüberbietbar konkret. Damit betont Kasper gegenüber einer kritischen Funktion etwa der Bibel (die er durchaus auch kennt), und der Diskontinuität also deutlich stärker den Aspekt einer fundierenden Erinnerung (vgl. zu diesem von Assmann stammenden Begriff, oben, 4.2.6.2, S. 171ff.) und damit auch einer Identität der Kirche, die prinzipiell dem Glauben und der Glaubensneuaneignung durch die einzelnen Gläubigen vorgängig ist. In der grundsätzlich richtigen Differenzierung, dass es (auch in kriteriologischer Hinsicht) nicht um die Schrift als Textkorpus, sondern die in den Texten zum Ausdruck kommende Selbstoffenbarung Gottes - sein Wort - geht, scheint Kasper an dieser Stelle die Normativität der Schrift tendenziell einem überzeitlichen Evangeliumsprinzip unterzuordnen und sich damit letztlich der gleichen Kritik auszusetzen, die er selbst (legitimerweise ) in Bezug auf ein romantisches (insbesondere tradi tionalistisches) dynamisches Traditionsverständnis geäußert hat (vgl. Kasper 1970:168; dazu auch oben, 8.1.2.2, S. 337f.). Macht also ein derart verstandener Begriff des Evangeliums wirklich mit einem geschichtlichen Verständnis von Evangelium, Kirche und Tradition ernst7 Wie ließe sich darin etwa ein eigenständiger Heilsweg für andere Religionen (außerhalb des Verständnisses einer impliziten Anteilhabe an dieser Evangeliumswirklichkeit) rechtfertigen, der ja nach dem Konsens der nachkonziliaren Theologie (gerade durch den in NA 4 vorliegenden Paradigmenwechsel) zumindest für Israel - begründet in der unaufgekündigten Treue Jhwhs zu seinem Bund und seinem Volk - konstatiert werden muss (vgl. etwa Negel 2013:346)7 Kasper führt dazu die gegenseitiTradition (in der Differenzierung des 11. Vaticanums nach Leben, Lehre und Kult) identifiziert.

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8 Fundierende Traditionstheologie - Walter Kasper

ge Verwiesenheit von Evangelium und Zeugengemeinschaft an. Trotzdem stellt sich ja die Frage, wie sich dieses Evangelium zum gerade nicht einfach eindeutigen biblischen Kanon verhält. Hier gilt es ja (zumindest) zwei Grundperspektiven - nämlich die jüdische und die christliche - zu unterscheiden und in Bezug auf letztere noch verschiedene perspektivische Zugänge zu diesem Kanon. Für die vorliegende Arbeit wird es hinsichtlich der angestrebten Traditionshermeneutik entscheidend sein, gerade die innere Dijferenziertheit der Traditions- bzw. Zeugengemeinschaft herauszuheben in ihrem kommunikativen Miteinander. Deshalb stellt sich schließlich auch in ökumenischer Perspektive die Frage, wie überzeugend letztlich ein solch tendenziell übergeschichtliches Evangeliumsverständnis ist. Letztere Schwierigkeit ist Kasper sehr wohl bewusst, weshalb er erklärend die Spannung skizziert, dass die Botschaft »immer und überall dieselbe und doch im Heiligen Geist stets überraschend neu« und das Evangelium so »als die alte Botschaft auch ewige Neuheit« ist, die letztlich »nur durch sich selbst überzeugen« kann (Kasper 2015a:22). Darin findet sich ein Aspekt, der wesentlich in der protestantischen Theologie zurückgehend auf Calvin diskutiert wird unter den Stichworten »der Klarheit, der perspicuitas und Selbstevidenz der Schrift«, die aufgrund dieser Tatsache etwa auf die Annahme von »gedanklich über die Schrift hinausgehenden Erklärungen und Erweiterungen« verzichten kann (Scheffczyk 1964:195). Es wird sich im Folgenden zeigen, dass eigentlich in einer recht verstandenen Klarheit und Selbstevidenz der Schrift als Selbstevidenz des in der Schrift bezeugten lebendigen Wortes Gottes eine innere Verknüpfung zu der katholischerseits betonten N ormativität der apostolischen Tradition als des ebenso selbstevidenten Wortes Gottes zu finden ist, das in der Schrift verbindlich und definitiv bezeugt ist. Die beiden unterschiedlichen konfessionellen Perspektiven nähern sich dem gleichen Phänomen an, einerseits vom Bezeugten (der apostolischen Tradition; katholisch), andererseits vom Bezeugenden (der Schrift; evangelisch) her. Richtig zu verstehen ist der Begriff des Evangeliums bei Kasper aber letztlich nur in seinem Zueinander zum Begriff des Dogmas. Die Spannung und besondere Herausforderung eines angemessenen Dogmenbegriffs, der der Geschichtlichkeit und Dynamik des Evangeliums und der Tradition Rechnung trägt und nicht einfach in einen ahistorischen Dogmatismus zurückfällt, hat Kasper noch im Laufe des Konzils und angesichts seiner Aufbruchsdynamik und der Neufassung des Offenbarungs- und Traditionsverständnisses beschäftigt (vgl. Seewald 2018:262f.). Deshalb erscheint ihm schon das Wort Dogma als Hypothek für eine adäquate theologische Bestimmung dessen, was damit gemeint ist. Es liege

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8.3 Das Spannungsverhältnis von Evangelium und Dogma

in diesem Begriff eine Erschwernis sowohl für das »Gespräch zwischen evangelischen und katholischen Christen« wie für die »Begegnung zwischen Kirche und Welt« (Kasper 1965b:43). Dogmen müssen für Kasper deshalb grundsätzlich im universalen Horizont des Evangeliums gedeutet werden. Schon im Rückgriff auf Thomas von Aquin zeige sich, dass dieser das Gesetz des Evangeliums nicht als »geschriebenes Gesetz«, sondern als »Selbstgabe des Heiligen Geistes, die im Glauben geschenkt und in der Liebe wirksam wird«, versteht (Kasper 2015a:22f.). Diese Deutung entspricht grundsätzlich dem, was Thomas in S. Th. 1-11 q. 106 ausführt, wobei zu beachten ist, dass die Ausgangsfrage bei Thomas nicht auf die Verhältnisbestimmung von Evangelium und Dogma, sondern auf jene von »neuern« und »altem« Gesetz zielt. Auch geschieht hier die Thomas-Aneignung durch Kasper in wesentlich von Schelling und Drey geprägter theologischer Sprache 74 Die doppelte Fragerichtung - von der geschichtlichen Situation ausgehend auf das Verständnis des Evangeliums hin und von dort zurück praxisleitend auf die je aktuelle Verkündigung der Kirche 75 - ist für das Denken Kaspers zentral. Bibli741homas spricht etwa nicht von der Selbstgabe des Heiligen Geistes. Für ihn ist es die j>Gnade des heiligen Geistes [gratia spiritus sancti]«, in dem das Zentrum [potissimum] und die Kraft [virtus] des ,>neutestamentlichen Gesetzes« [lex novi testamenti] besteht (Tham. S. Th. 1-11 q. 106 a. 1 corp.). hn Sinne dieser Gnade des Heiligen Geistes ist für Thomas das Gesetz des Neuen Bundes zuallererst [principaliter] eine lex indita, also eine Form göttlichen Rechts, das nicht identisch ist mit dem Naturrecht (der lex naturalis). Zwar ist für Thomas auch das Naturrecht (die lex naturalis) eine lex indita - also nicht nur ein positives, sondern göttliches Recht - aber anders als das universell gegebene Naturrecht ist es gewissermaßen ein zum Natürlichen Hinzugefügtes [quasi naturae superadditum] und verdankt sich ganz dem Geschenk der Gnade [gratiae donum] (vgl. Thom. S. Th. 1-11 q. 106 a. ad 2). Erst in einem zweiten Sinn, nämlich im Dienste des Unterrichts der Gläubigen »in Wort und Schrift [verbis et scriptis]« hat es dann auch rechtliche [dispositiva] und gewissermaßen sachliche [pertinentia] Bedeutung, die der Vorbereitung auf die Gnade dienen bzw. deren richtigen Gebrauch unterstützen. Rechtliche und sachliche Anteile sind also für Thomas funktional und - so kann man in modernem Vokabular hinzufügen - der gnadenhaft vermittelten Verinnerlichung des neutestamentlichen »Gesetzes« in den Gläubigen gegenüber sekundär. In diesem Sirme ist es also prinzipiell [principaliter] eine lex indita, die aber sekundär [secundario] als lex scripta in geschriebener Form (im biblischen und apostolischen Zeugnis) auch schon eben die Mäglichkeitsbedingungen ihres Verständnisses und ihrer Weitergabe (bzw. Unterrichtung) enthält (vgl.Thom. S.Th. 1-11 q. 106 a. 1 corp.). 75 In der Thomas- Rezeption auf dem theologischen Horizont der Tübinger Schule sieht Kasper die Bedeutung der Dogmen darin, dass sie ,>zu diesemneuen Gesetz des Evangeliums hinführen und [... ] zu seiner praktischen Verwirklichung anleiten« (Kasper 2015a:23). Insofern sind Dogmen bleibend und konstitutiv auf das Evangelium bezogen, indem sie einerseits der Hinfi1hrung zu diesem und andererseits gleichzeitig seiner ,>praktischen Verwirklichung« dienen (Kasper

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8 Fundierende Traditionstheologie - Walter Kasper

sche Anbindung und Praxisbezug sind Kennzeichnen seines Dogmen- und Traditionsverständnisses. Eine Dogmatik, die dieses doppelte Band76 auflöst, könne »hochgelehrt daherkommen«, werde aber »über interessante akademische Debatten hinaus in Kirche und Welt normalerweise wenig bewegen« (Kasper 2015a:23). Das führt schon auf das grundsätzlich pneumatalogische Verständnis hin, das für Kasper in Bezug auf Dogmen und Tradition insgesamt kennzeichnend ist und auf das später (vgl. unten, 8.6, S. 373-375) noch ausführlich zurückzukommen ist. Diese Konzeption des Zueinanders von Evangelium und Dogma zeigt sich auch im Verständnis der Tradition. Sie kann nicht als »Sammlung von Glaubenssätzen« verstanden werden, sondern muss vielmehr gedacht werden als das »Evangelium Christi, das in der Kirche Fleisch und Blut angenommen hat« (Kasper 1962:298). Ausgehend von diesem organischen Traditionsverständnis besitzen die Dogmen aber doch eine zentrale funktionelle Bedeutung: Sie »interpretieren die Tradition in verbindlicher Weise«, dürfen aber dabei nicht als »erratischer Block verstanden werden«, sondern müssen »ihrerseits diachron und synchron im Licht der ganzen Tradition interpretiert werden« (Kasper 2015a:24). Sie sind zwar» unverzichtbare und nicht zu übergehende endgültige Wegmarken auf dem Weg der Kirche durch die Geschichte«, weisen aber gerade als solche »auf den weiteren Weg der Kirche« hin (Kasper 2015a:24). Weil sie ganz in dieser zutiefst geschichtlichen Dynamik verortet sind, sind sie nicht starr, sondern haben selbst eine Geschichte, über die Kasper sich unter dem Begriff der Dogmenentfaltung Gedanken macht. Das Dogma ist deshalb für Kasper nur als dynamischer Funktionsbegrijf adäquat zu verstehen, und zwar insofern er das »Ergebnis bisheriger Erfahrung der Kirche im Umgang mit dem Evangelium« und die »Antizipation künftiger Erfahrung, für die sich die Kirche offen halten muß«, miteinander verbindet (Kasper 1965b: 108f.). Diese Offenheit versteht er vom Christusereignis her nicht als »leere Offenheit, sondern entschiedene Zukunft« (Kasper 1965b:108f.)77 In 2015a:23). Sie sie also sowohl- ausgehend von der jeweils konkreten geschichtlichen Situation ihrer Entstehung - hermeneutisch auf das (tiefere) Verstehen des Evangeliums ausgerichtet, das gleichzeitig in der konkret geschichtlichen Praxis wirksam werden will und soll. 76 Kasper verdeutlicht das an der mittelalterlichen Verhältnisbestimmung von Buchstabe und Geist, sowohl eines Dogmas wie des Evangeliums (vgl. Kasper 2015a:23). 77 Nicht zuletzt deshalb, weil die kirchlichen Glaubensaussagen »unter dem Vorbehalt des je größeren Geheinmisses der Zukunft Gottes« (Kasper 1965b:109) stehen, ist es eben ihre konstitutive Geschichtlichkeit, die Dogmen j>Endgültigkeit und Vorläufigkeit« (Kasper 1965b:128) zugleich verleihen (Seewald 2018:265)).

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8.3 Das Spannungsverhältnis von Evangelium und Dogma

dieser Bestimmung und der Gleichzeitigkeit von Endgültigkeit und Vorläufigkeit, die gewissermaßen - um mit Schelling zu sprechen - auf die Versöhnung (oder Einheit) beider Aspekte im Eschaton Gottes hinstrebt und so Teil einer vom Christusereignis aus gerichteten Geschichte ist, liegt ihre Funktion ganz zentral in der Homologie. Für Kasper bedeutet das, dass sie in erster Linie der »ekklesialen Liebe« (Kasper 1965b:146) verpflichtet sind, die wiederum »die Kirche als Gemeinschaft in Christus zusammenhält« (Seewald 2018:267; vgl. dazu auch Kleinjohann 2017:278). Diese Vorstellung von der ekklesialen Liebe (als Zielpunkt) wiederum wurzelt in der Gotteslehre und Christologie Kaspers. Gott hat sich für ihn in der Heilsgeschichte, insbesondere am Kreuz Jesu erwiesen als »von Ewigkeit sich selbst mitteilende Liebe« (Kasper 1982:243). Nur ein derart verstandener Gott (hier hört man wieder sehr deutlich das Verständnis der Schöpfung von Schelling) kann »sich selbst als solche [Liebe] eschatologisch endgültig offenbaren« (Kasper 1982:243). Das geschieht ganz besonders in der Lebensdynamik Jesu, prototypisch am Kreuz 78 , an dem sich Gott als »der in Freiheit Liebende und als der in der Liebe Freie erweist« (Kasper 1982:243). Das Wesen der Identität Gottes ist dabei immer schon die Liebe in Beziehung, die »Selbstunterscheidung zwischen Liebendem und Geliebtem, die beide in der Liebe eins sind« (Kasper 1982:243). Insofern sind Dogmen in ihrer lehramtlichen Funktion einem (geschichtlich sich immer wieder neu stellenden) Einheitsdienst verpflichtet. Um dieser Funktion des Dogmas entsprechen zu können, bedürfen die Kirche und die Dogmatik für Kasper einer kritischen Instanz, der Theologie. Sie setzt sich mit den Anfragen des jeweiligen geschichtlichen Kontextes auseinander und bringt so die Anfragen der Welt von Heute ins Wort, damit die Kirche um der »wahren Funktion des Dogmas willen [... ] und [... ], wenn sie diese Mängel einsieht, ihr aktuelles Bekenntnis neu formulieren« (Kasper 1965b:147) kann. 78

Am Kreuz wird in Bezug auf Jesus deutlich, dass er der »Ausgelieferte [ist], der sich zugleich selbst ausliefert«, womit er ,>in Person Akt und Ilmalt der Tradition« wird und sich j>Gott selbst endgültig in die Hände der Menschen ausgeliefert und sich so in nicht mehr überbietbarer Weise als Gott der Menschen offenbart« hat (Kasper 1987:91f.). Aus dieser die Geschichte begründenden und damit zugleich mit dem den Sinnhorizont dieser Schäpfung verbürgenden Liebe - oder eben der zugleich trinitarischen und geschichtlichen Dynamik der Liebe - ist damit auch der eschatologische Zielpunkt der Einheit in Liebe gegeben. Dieser Zielpunkt ist dann auch - hier zeigt sich wie Kasper die Philosophie Schellings mit dem Denken Johann Adam Möhlers zusammenbringt - in ekklesiologischer Perspektive der Ziel- und Einheitspunkt der Kirche.

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8 Fundierende Traditionstheologie - Walter Kasper

Diese Neuformulierung des Bekenntnisses bezieht sich nicht auf die einzelne Aussage. Es geht weder um eine "Revision im sachlichen Anliegen« noch um ein »negatives Urteil über die Formel, die in ihrer Situation durchaus notwendig gewesen sein mag« (Kasper 1965b:147). Vielmehr bedeutet sie eine systematische Darlegung des Bekenntnisses oder eine Neuanordnung und Reformulierung der dogmatischen Sätze in ihrem Zusammenhang. Damit lässt sich hier bei Kasper die Abkehr von einem ausschließlich satzhaften Verständnis des Dogmas bzw. der Dogmen hin zu einem geschichtlich-dynamischen Verständnis feststellen, das gleichwohl an der Bedeutung einer systematischen Formulierung des Glaubens (im Gestern wie im Heute) festhält 79 An diesem Punkt ist es relevant, dass das Dogma solcherart nur und ausschließlich in seinem Zueinander zum Evangelium und zwar in einer sowohl diesem wie auch der Kirche gegenüber funktionalen Zuordnung sinnvoll ist. 8o Insofern kann es für Kasper nicht die Zielrichtung der Dogmatik (und damit der Tradition insgesamt) sein, die Konservierung einer ungebrochenen Kontinuität von Sätzen zu leisten, weil nicht »dort [... ] der Glaube am reinsten gegeben [ist], wo man in einer so genannten ungebrochenen Gläubigkeit, in Wirklichkeit aber in einer bloßen Gettomentalität die heutigen Probleme noch gar nicht zur Kenntnis genommen hat und einfach hinter verschlossenen Türen ,weiterglaubtpneumatische Ereignisse in der Kirche« sind und zu einer anderen :»auch tötendes Gesetz werden [können], wenn sie als starre Grenze aufgefaßt werden« (Kasper 1965b:147; vgl. auch Seewald 2018:268). 80 So gilt es, dass das ,>Evangelium [ ... ] nie [ ... ] ganz im kirchlichen Bekenntnis auf[geht] «, weshalb man der Systematisierung von Michael Seewald folgend das Dogma als Wort der Kirche, oder besser: als Antwort der Kirche auf das Wort Gottes (das Evangelium) verstehen muss, das in diesem Dialog mit dem Wort Gottes seiner Verkündigung inder konkreten (durch geschichtliche Dynamiken geprägten) Welt steht (vgl. Seewald 2018:264). 79

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8.3 Das Spannungsverhältnis von Evangelium und Dogma

liums ermöglicht'"! Das wiederum meint dann aber letztlich keine Fortentwicklung, sondern eine geschichtliche und geschichtskonkrete Verinnerlichung des Evangeliums bei den Gläubigen angesichts jeweils heutiger (und auch geschichtlicher und zukünftiger) Verstehensvoraussetzungen. Dabei müssen schließlich nicht einzelne dogmatische Sätze geändert werden. Vielmehr ist es das Bekenntnis der Kirche als Sinnganzes, das diese Dogmen und dogmatischen Sätze im jeweiligen Kontext neu versteht, neu interpretiert und neu auslegt.

81

Es ist deshalb für Tradition und Dogmatik nicht einfach eine (illegitime) Anpassung an die ,>Welt«, wenn sie sich mit den Problemen, Anfragen und Verstehensvoraussetzungen des Heute beschäftigt. Viehnehr ist es ihre in der geschichtlichen Dynamik des Glaubens und des Evangeliums selbst begründete ureigenste Aufgabe, Dogmen und Evangelium von den heutigen Verstehensvoraussetzungen und Problemen her und auf dieses Heute hin zu befragen und auszulegen.

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8 Fundierende Traditionstheologie - Walter Kasper

8.4 Bedeutung der Traditionskriterien bei Kasper An verschiedenen Stellen im Werk von Walter Kasper findet sich eine Kurzfassung seines Verständnisses von Tradition, das er bei kleineren Akzentverschiebungen, jedoch in großer Kontinuität folgendermaßen ausdrückt: »Gott ist durch seinen Geist ohne Unterlass im Gespräch mit der Kirche, der Braut seines Sohnes, um sie immer wieder neu in die ganze Wahrheit einzuführen (Joh 16,13) und das Evangelium, das immer dasselbe ist, in seiner ewigen Neuheit zu erschließen« (Kasper 2015b:442; vgl. etwa auch Kasper 1987:92). Daran wird sowohl das pneumatologische Moment deutlich, wie sich auch die Dialogizität des Ansatzes und sein grundsätzlich dynamisches und geschichtliches Traditionsverständnis zeigt. Im Sinne der logischen Klarheit und der theologischen Brauchbarkeit, die Kasper gegen einen zu ausschließlich dynamisch entworfenen Traditionsbegriff stark macht (vgl. dazu oben, 8.1.2.2, S. 337f.), entwickelt er aus den skizzierten philosophischen und theologischen Ansatzpunkten und den Aufträgen des Konzils insbesondere unter dem Einbezug des personal-dialogischen Offenbarungsverständnisses des 11. Vaticanums sein eigenes Verständnis der Tradition. In diesem Verständnis verbindet er die Aspekte eines statischen, auf die Wahrung der ursprünglichen apostolischen Tradition ausgerichteten Traditionsbegriffs mit jenen eines dynamischen Traditionsbegriffs. Das klassische Kriterium des Vinzenz von Lerins allein reiche als Kriterium für eine solchen Unterscheidung nicht mehr aus'"' Insbesondere lässt sich für Kasper nach dem Konzil ein Traditionsbegriffnicht mehr in seinem herkömmlichen konservativen Sinn begründen, weil ein solcher Begriff grundsätzlich auf das Denken der Restauration zurückgeht. Gleich welcher geschichtsphilosophischer Argumentation er folgt (vgl. Kasper 1970:169f.), liegt einem solchen Traditionsbegriff ein »Verfallsschema und ein >säkularisiertes< eschatologisches Denken« zugrunde, das auf die Wiederherstellung der heilen Urzeit 83 zielt (Kasper 1970:170). Wegen der umfassenden Geschichtlichkeit, die von Kasper in Verbindung mit der Gegenwartsrelevanz von Glaube und 82

Das gilt insbesondere deshalb, weil es ,> [i]n seiner statischen Deutung [... ] der späteren Dogmenentwicklung nicht gerecht« wird und j>in seiner dynamischen Deutung [... ] die jeweilige Faktizität in der Kirche zum letzten Kriterium« macht (Kasper 1970:169; vgl. dazu auch oben, Anm. 37, S. 337).

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Hier erblickt Kasper verschiedene solcher Urzeiten, zu denen zurück gestrebt wird: j>als Frühkatholizismus der lukanischen Schriften und der Pastoralbriefe, als konstantinische Wende, Hellenisierung des Christentums, Scholastik, nachthomanisches Mittelalter, Reformation oder als Einsatz des neuzeitlichen Denkens bei Descartes« (Kasper 1970:170).

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8.4 Bedeutung der Traditionskriterien bei Kasper

Tradition als Grundaufgabe des Konzils bestimmt worden ist, ist eine solche Verfallslogik undenkbar. Auch darf sich Traditionstheologie (wie es die konservative Traditionstheologie laut Kasper in der Regel tut) nicht einfach und unreflektiert eines »vortheologischen Geschichtsbegriff[ s]« - was Kasper im Sinne eines gewissermaßen linearen Historismus versteht - bedienen, und damit die Frage der »Schrift- und Traditionsgemäßheit einer Lehre« einfach und »von vornherein unreflektiert im Sinn einer geistesgeschichtlich nachweisbaren Kontinuität« (Kasper 1970:170f.) verstehen."4 Weil der Ansatz also bei einer philosophischtheologischen Geschichtshermeneutik zu suchen ist, muss auch der Traditionsbegriff dezidiert theologisch bestimmt werden und kann nicht einfach als Sonderfall aus einem »allgemein-menschlichen Traditionsdenken« (Kasper 1970:171) übernommen werden. Das bedeutet für ihn nicht, dass nicht etwa bei einem kulturwissenschaftlichen Traditionsverständnis angesetzt werden kann, sondern nur dass eine dezidierte Theologie der Tradition dieses (Vor-)Verständnis »von der >Sache< der Theologie her sprengen und schöpferisch umformen« (Kasper 1970:171) muss. So versteht Kasper im Blick aufbibelwissenschaftliche Erkenntnisse, in denen auf die Bedeutung der mündlichen Tradition und der jüdischen Halacha für das Traditionsverständnis verwiesen wird 85 , das zentrale Proprium eines biblisch geprägten Traditionsverständnisses neben der Traditionstreue zu den Verheißungen Israels gerade im Neuansatz des Traditionsbegriffs bei Jesus selbst und dessen Traditionsunmittelbarkeit 86 Neben dieser konstitutiven Verknüpfung mit Die Argumentation mit einem einfachen Kontinuitätsbegriff ist deshalb nicht möglich, weil Tradition als grundlegend dynamisches Geschehen sich nicht im Sinne von Folgerung und Deduktion fortentwickelt. Das wäre ein mechanistisches Verständnis der Lehr- oder Dogmenentwicklung, was für Kasper aufgrund der skizzierten spannungsvollen Dynamik zwischen Evangelium und Kirche (vgl. oben, 8.3, 351-359) unmöglich ist. Vielmehr kommt es auf ein theologisch adäquates Geschichtsverständnis an, das für Kasper nur ein grundsätzlich transzendentaltheologisches Verständnis auf Grundlage der Spätphilosophie Schellings sein kann. In jedem Fall kann die Frage nach der Geschichtlichkeit nicht durch ein :»irgendwie positivistisch erscheinendes Anknüpfen an eine bestimmte geschichtliche Tradition gelöst werden« (Kasper 1970:171).1heologisch gilt es viehnehr, die geschichtliche Dynamik von Evangelium, Kirche und Tradition zu entfalten. 85 Er greift hier sowohl auf die Ergebnisse der form- und redaktionsgeschichtlichen Forschung zurück, die auf die Bedeutung der :»vorliterarischen überlieferung im Alten wie im Neuen Testament« (Kasper 1970:171) und schließlich jene der jüdischen Halacha rekurrieren. Beides sind für Kasper zwar wichtige Vorstufen eines spezifisch christlich-theologisches Traditionsverständnis, bilden aber noch nicht den Kern dessen ab (vgl. Kasper 1970:172). 86 Mit dem Begriff der Traditionsunmittelbarkeit soll hier das Selbstverständnis Jesu und zumin84

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8 Fundierende Traditionstheologie - Walter Kasper

dem historischen Jesus wie mit dem kerygmatischen Christus ist die Tradition im Neuen Testament für Kasper dann zutiefst eschatologisch geprägt. Sie meint keine Bewahrung des Alten um des Alten, sondern um des Neuen willen, das er als jenes »einmalige eschatologische Ereignis« versteht, als die "Tat Gottes in Christus«, auf die die Kirche bleibend verwiesen ist (Kasper 1970:173)87 Diese theologische Skizze des Ereigniszusammenhangs der Tradition führt Kasper zu der Schlussfolgerung, dass man eine so verstandene Tradition »nicht in einer gesetzlichen Tradition nach den Gesetzen geistesgeschichtlicher Kontinuität überliefern« (Kasper 1970:170; Hervorh. AJ) kann. Es geht - so formuliert Kasper in einem unscheinbaren Satz, den man jedoch nicht anders denn als Spitzensatz des mit dem Werk von Kasper verbundenen Paradigmenwechsels in der Traditionstheologie bezeichnen kann - »nicht um Kontinuität, sondern um Identität« (Kasper 1970:174; Hervorh. AJ). In diesem Diktum liegt die überwindung der konservativen Aneignung des Traditionsbegriffs. Die Aufgabe der Traditionstheologie ist also nicht der Nachweis einer womöglich noch als ungebrochen verstandenen (historisierenden) Kontinuität, sondern jener Aufweis der bleibenden dynamischen Identität der Kirche angesichts der Geschichte in ihrer Diskontinuität und Bruchhaftigkeit, ihrer Anfragen, Probleme und Zweifel. Deshalb kommt im Rahmen der eigenen Konzeption dieser Arbeit der Identität der Kirche verstanden als inspirierte, narrativ-erinnernde Identität der Kirche im Zusammenspiel kommunikativer Gedächtnisse mit einem Lehramt, das dem kulturellen Gedächtnis verpflichtet ist (vgl. dazu unten, 10.3.2, S. 471-478), eine Scharnierbedeutung für das Verständnis des Traditionsprozesses als inspirierdest der frühen Kirche verstanden werden, dass sich in der Paradosis- Dynamik Jesu ein Neuansatz des göttlichen Heilshandelns ereignet hat (vgl. dazu oben, 6.4.3, S. 294-304). Kasper führt in diesem Zusammenhang die Unmittelbarkeit des Kyrios bei Paulus und die Funktion und Aufgabe des Parakleten beiJohannes an (vgl. Kasper 1970:173): Jesus j>durchbricht [...] ein religionsgeschichtliches Unnotiv, das die Normativität des Uralten herausstellt« und tritt selbst an die Stelle der Tradition, er ,>entnimmt den Menschen der Knechtschaft des Buchstabens und des Gesetzes der Tradition und konfrontiert ihn durch sein aus unmittelbarer Gewißheit gesprochenes Wort wieder unmittelbar dem unverstellten Willen des Vaters« (Kasper 1970:172). 87 Wenn also das Verständnis der Tradition einerseits bei der Umdeutung durch den geschichtlichen Jesus ansetzt und andererseits gleichzeitig in diskontinuierlicher Kontinuität selbstverständlich auf die alttestamentliche Tradition und die jüdische Halacha verwiesen bleibt, so ist es immer schon auf die eschatologische Heilsperspektive ausgerichtet. Und diese Perspektive so versteht es Kasper in den GedankenlinienSchellings - erlaubt gerade keinlinear-deduktives Geschichtsverständnis, sondern ist auf ein dergestalt dynamisches Geschichtsverständnis verwiesen, das sich als geschichtlicher Dialog zwischen göttlicher und menschlicher Freiheit mit dem Ziel der Einheit in Geist und Liebe (vgl. dazu oben, 8.3, S. 357) ereignet.

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8.4 Bedeutung der Traditionskriterien bei Kasper

te Erinnerung zu. Kasper bietet damit hier den entscheidenden Anknüpfungspunkt, dass legitimerweise also vom Identitäts- und nicht vom Kontinuitätsbegriff ausgegangen werden kann. Die nachösterliche Glaubens-, Verkündigungs- und Traditionsgemeinschaft ist in den Worten Kaspers in einen "durch die geschichtlichen Heilsereignisse eröffneten und seit Ostern bleibend gegenwärtigen neuen Aon« gestellt, der es unmöglich macht, »an diesen [geschichtlichen Heilstaten] vorbei zum erhöhten Herrn Zugang [zu] erhalten« (Kasper 1970:174). Insofern ist dann auch die Frage nach der Kontinuität erst dann von Interesse, wenn sie als von der Frage der Identität abgeleitet verstanden wird."8 Neben dieser eschatologischen Zentralperspektive89 kennt jedoch schon das Neue Testament eine ganze Pluralität von Traditionsbegrijfen, die im Laufe der Geschichte der Kirche in unterschiedlicher Gestalt zur Entfaltung kommen, sich jedoch gegenseitig nicht ausschließen (Kasper 1970:174f.), was für Kasper der geschichtlichen Dynamik des Evangeliums entspricht. In diesem Paradigmenwandel der Kirchengeschichte ist für Kasper dann auch der »Kairos des paulinisch-johanneischen Verständnisses« (Kasper 1970:175) gekommen, was auch zentral mit einer christozentrischen Traditionskritik zusammenhängt, die eine »gewisse Reduktion der vielen überlieferungen auf ihre eine christologische Zentralaussage hin [... ] [als] unvermeidlich« erscheinen lässt, damit der Glaube »verständlich und überschaubar« werden kann (Kasper 1970:175). Das erste und zentrale Kriterium der Tradition ist also ihre christologische Zentralaussage. Die grundsätzlich einer solchen Kriteriologie inhärente Gefahr, dass hier gewissermaßen eine »Tradition vom Reißbrett« gedacht und damit aus dem lebendigen Traditionszusammenhang gelöst wird, stellt sich angesichts der dynamischen Gesamtkonzeption von Kasper nur untergeordnet. Insgesamt ist - auch und gerade für den weiteren Argumentationsverlauf dieser Arbeit - der Verweis auf eine solche christologisch gefasste innere Mitte der Einzeltraditionen als Prinzip einer kritischen Traditionshermeneutik unumKirchliche Verkündigung und Tradition dürfen damit nicht einer Geschichtslosigkeit verfallen, sondern müssen j>den Zusammenhang mit der geschichtlichen Tradition wahren« (Kasper 1970:174), dies aber eben im Sinne eines geschichtlich und geschichtsmächtigen Ereignisses, von dem her der Geschichte eine Sinnrichtung zuerkannt werden kann und nicht im Sinne eines von diesem Horizont unabhängigen - also im Wortsinn unsinnigen - Historismus. 89 Deshalb ist es eben die eschatologische Hoffnungsperspektive, von der her ein biblisch und theologisch adäquater Traditionsbegriff »das allgemeinmenschliche Traditionsverständnis aufgreift, es aber im Licht der Eschatologie radikal neu gestaltet« (Kasper 1970:174). 88

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8 Fundierende Traditionstheologie - Walter Kasper

gänglich. Gleichzeitig muss in diesem Zusammenhang schon hier daraufhingewiesen werden, dass eine solche Reduktion auf die christologische Zentralaussage nicht zuerst im Sinne einer satzhaften Bekenntnisforme! geschehen kann 90 , sondern im Blick auf eine narrative Erinnerungslogik im Sinne des auf den Kanon (und auch die kanonartigen Sammlungen) bezogenen heiligenden Prinzips (Jan Assmann). Dieses heiligende Prinzip fasst die Einzeltraditionen in eine (je geschichtlich konkrete) Erinnerungsnarration (vgl. dazu unten, 10.2.3.3, S. 466467) zusammen und ist so gewissermaßen das hermeneutische Prinzip der Kanonauslegung. Kasper weist dabei schon in eine ähnliche Richtung, wenn er - wahrscheinlich auch in Anknüpfung an die Gedanken von John Henry Newman - im Hinblick auf die Notwendigkeit »objektiver Kriterien der Tradition« (Kasper 1970:175) auf den altkirchlichen Begriff der regula fidei zurückgreift. Sie wurde nicht - wie später in der Neuzeit - als »von außen an den Glauben herangetragenes Kriterium seiner Wahrheit« verstanden, sondern als »Regel, die die Wahrheit und der Glaube selbst ist« (Kasper 1970:175). Für Kasper zeigen sich darin Parallelen zum biblischen Wahrheitsverständnis, nachdem wahr ist, »was sich geschichtlich als das herausstellt und bewährt, was es zu sein vorgibt« (Kasper 1970:175). Eine solche Art der Wahrheit 91 ist also keine statische, übergeschichtliche Wahrheit, sondern auch dieser Wahrheitsbegriff selbst ist in die geschichtliche Dynamik von Evangelium und Tradition hineingenommen. Die Notwendigkeit der geschichtlichen Bewährung stellt sich für die Tradition bzw. für die Verkündigung - und das ist für Kasper das erste Wahrheitskriterium (ad intra) - darin, dass diese sich »in der Kirche bewähren muß und in ihr Glauben finden muß«, weil» [d]er Kirche als ganzer (!) [ ... ] Irrtumslosigkeit verheißen« ist (Kasper 1970:175; Hervorh. i. Original). In Bezug auf die Wahrheit einer Tradition gilt also die Unfehlbarkeit der ganzen Kirche, die das Konzil in der Lehre vom sensus fidei fidelium als Voraussetzung der Unfehlbarkeit des Solche Dogmen - durchaus im Sinne Kaspers verstanden - sind gegenüber dem was die lebendige Tradition ausmacht sekundär. Trotzdem entwickelt das je geschichtlich unterschiedliche Netzwerk der erinnerten Traditionen auch eine eigene dogmatisch relevante Logik, die sich als solche insbesondere in Anknüpfung an die Gedanken der poetischen Theologie von Alex Stock (vgl. unten, 11.2, S. 488-492) darstellen lässt. 91 Dieses :>,dynamischeD Wahrheitsverständnis im Sinne von Wahrheit, die [ ... ] vollzogen und umgesetzt wird« und sich deshalb j>im Leben und im Glauben des Volkes Gottes unter den konkreten geschichtlichen Bedingungen als tragfähig« bewähren muss (Kleinjohann 2017:417), speist sich wahrscheinlich aus der Aufnahme von Gedanken Gadamers, die Kasper mit dem biblischen Wahrheitsverständnis verbindet.

90

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8.4 Bedeutung der Traditionskriterien bei Kasper

Papstes (vgl. Pastor aeternus Kap. 4; DH 3074) formuliert hat (vgl. LG 12). Auch für das Traditionsverständnis Kaspers kommt dem sensus fidei fidelium, und zwar über die positive Bedeutung der »allgemeinen übereinstimmung« [universalem suum consensum] (LG 12) hinaus, eine kritische Funktion zu, die durch die Kirche gerade deshalb ernst genommen werden sollte, weil die »öffentliche Meinung in der Kirche [... ] faktisch bei weitem nicht immer mit der offiziellen Meinung überein[stimmt]« (Kasper 1970:176). Das legt für Kasper den Schluss nahe, dass eine solche Bewährung innerhalb der Kirche auch »die Möglichkeit einer hinreichenden innerkirchlichen Freiheit zur Meinungsbildung und Meinungsäußerung voraus[setzt]« (Kasper 1970:176). Die Lehre des Konzils vom sensus fidei ernst zu nehmen, bedeutet deshalb die Notwendigkeit kirchlicher Veränderung, weil diese gerade nicht einfach »aus offiziellen Dokumenten und liturgischen Zeugnissen« (Kasper 1970:176) abgelesen werden kann, sondern gerade umgekehrt kirchliche Dokumente und Verkündigung zunächst und primär auf die Dynamik des Evangeliums und den Kontext der Zeit verwiesen sind und dogmatische Sätze erst von dorther formuliert werden können (vgl. oben 8.3, S. 351-359).

Innerhalb eines solchen dynamischen Verständnisses gilt ein gegenseitiges Verwiesen-Sein von kirchlichem Amt und Gemeinschaft der Glaubenden schon allein deshalb, weil der objektive Glaube weder von seiner subjektiven Rezeption noch vom »lebendigen Verständnis, das er in der Kirche findet« gelöst werden kann (Kasper 1970:176). In der geschichtlichen Umbruch situation sei gerade eine neue Sprachfähigkeit der Kirche 92 gefordert 93 Das zweite Wahrheitskriterium (ad extra) für Kasper ist es schließlich, dass eine zeitgemäße Verkündigung »im Angesicht der Welt von heute nachvollziehbar und innerlich verstehbar wird« (Kasper 1970:177)94 Erst in der verständliKasper deutet schon in diesem Artikel von 1970 (!) an, dass zwar die trinitarischen und christologischen Wahrheiten der alten Kirche nicht geleugnet würden, man aber nicht behaupten können, ,>daß diese Glaubenssätze gegenwärtig ein wirklich angeeigneter und gelebter Glaubensbesitz der Kirche sind« (Kasper 1970:176). 93 Wenn Kasper deshalb fordert, dass es j>einer neuen Sprache, eines neuen Konsenses in der Kirche, eines neuen mutigen Versuches, den alten Glauben auf neuen Glauben hin zu verkündigen« (Kasper 1970:177) bedarf, so gilt diese Schlussfolgerung heute, 50 Jahre nach Veröffentlichung seines Artikels umso dringlicher. Diese Arbeit wird das Anliegen der neuen Sprachfähigkeit nicht in einem Makroentwurf für die Gesamtkirche zu lösen versuchen, sondern (mikrologisch) innerhalb konkreter (kommunikativer) Erinnerungsgemeinschaften, die wiederum auch untereinander in einem Dialog stehen 94 Das bedeutet ausdrücklich nicht, dass "das moderne Selbstbewußtsein und Weltverständ92

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chen Formulierung des Glaubens innerhalb der Diskurs- oder Dialogkontexte der »Welt« kann der im Evangelium seit der Schäpfung angelegte Sinnhorizont von den Menschen wieder als ihr je eigener und zugleich als universeller Sinnhorizont wahr- und ernstgenommen werden 95 Ein solcherart erneuerter Traditionsbegriff prägt also nicht nur eine andere inner kirchliche Kultur, in der der Glaubenssinn der Gläubigen wahr- und ernstgenommen wird, er erfordert auch eine neue Verhältnisbestimmung zur Welt. Sowohl der Wandel ad intra wie jener ad extra entspringt aber nicht dem Anpassungsbedürfnis an den Zeitgeist, sondern dem tieferen Verständnis der Dynamik von Evangelium und Tradition 96 Diese beiden Kriterien haben dann auch ganz konkrete Folgen für die kirchliche Praxis 97 nis zum Kriterium des Glaubens gemacht« und der Glaube damit dem Zeitgeschmack angepasst wird, worin ihm dann j>der Argermscharakter des Glaubens genommen« werde (Kasper 1970:177). Gerade damit der Glaube zur Auseinandersetzung und damit zum wirklich Dialog reizen kann, muss er jedoch so formuliert (oder erzählt) werden, »daß er von der Welt überhaupt wieder als Anspruch, der zum Widerspruch reizt, empfunden wird« (Kasper 1970:177). Nur auf diesem Weg kann der Glaube dann j>die Welt aus dem Glauben [... ] verändern« und eine Hoffnungsperspektive oder einen Sinnhorizont anbieten, der den Menschen nicht auf den j>Kanon menschlicher Selbstverständlichkeiten« beschränkt und der ,>anonyme[n] Diktatur des Faktischen« unterworfen sein lässt (Kasper 1970:177). 95 Die Sehnsucht nach Sinn, die viele Menschen prägt, kann die Kirche nur dann mit dem ihr geschichtlich gegebenen Sinnhorizont zusammenbringen, wenn sie den Mut hat ,>mit denen gemeinsame Sache zu machen, die nach vorwärts drängen, die erst suchen nach der Gerechtigkeit (Mt 5,6)« und sich so zum ,>Anwalt der oft unausgesprochenen Sehnsucht des Menschen nach dem Neuen und Besseren, in der sich oft genug eine Hoffnung auf die neue, heile Welt verbirgt« (Kasper 1970:177) machen. 96 Wird Tradition in den Spuren des 11. Vaticanums so verstanden, dann muss sie, die sich ,>wesentlich in der Verkündigung vollzieht«, zugleich als ,>wesentlich progressiv-eschatologisch aufgefaßt werden« (Kasper 1970:178). 97 Kasper denkt hier etwa daran, dass ein Prediger zur adäquaten Verkündigung auf den Dialog mit seiner Gemeinde verpflichtet ist, ,>wenn er in eine konkrete Situation hineinsprechen will« (Kasper 1970:178) und die Bekenntnisfonneln des Glaubens ,>heute beständiger Aneignung« bedürfen (Kasper 1970:178) und gegen jeden schlichten Glaubenspositivismus, bei dem es sich für Kasper um ein reaktives und modernes Phänomen handelt, ,>wesentlich dialektischer angelegt« sein muss, weil er ,>im Faktum das Mysterium« begreift und ,>der Glaubenssatz [...] nur Brücke und Krücke [ist], um das Glaubensgeheinmis glaubend und liebend zu erreichen« (Kasper 1970:178). Dazu gehört dann auch ganz konkret die ,>Sichtung unseres Wortschatzes an Bekenntnis-, Gebets-, Predigtfonnulierungen auf deren gegenwärtige Verständlichkeit« (Kasper 1970:178) hin, weil viele Fonnulierungen sich als ,>Worthülsen [erwiesen], denen kaum mehr eine geistliche Erfahrung und eine menschliche Verständlichkeit innewohnt« (Kasper 1970:179). Dabei müsse auch überdacht werden, ob die Begrifflichkeit der Religionen heute noch geeignet ist, die christliche Botschaft zu verkündigen (vgl. Kasper 1970:179).

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8.5 Tradition als Schrifthermeneutik

8.5 Tradition als Schrifthermeneutik Angesichts des bereits skizzierten Ansatzes der am dynamischen Spannungspol des Traditionsverständnisses ansetzt und diesen als ein wesenhaft geschichtliches (und damit auch kontextuelles) Geschehen zeichnet, gilt es für Kasper aber ganz wesentlich, den anderen Spannungspol, nämlich jenen des normativen apostolischen Anfangs, nicht zu vernachlässigen, weshalb für ihn die Frage nach der Stellung der Schrift in der Kirche bearbeitet und damit das Verhältnis von Schrift und Tradition bestimmt werden muss. Seinen Ansatzpunkt findet Kasper dabei in der Vätertheologie, für die die selbstverständliche Voraussetzung galt, "daß alle Theologie Schrifttheologie zu sein hat«, weshalb Kasper jedoch in deutlicher Unterscheidung von der protestantischen Sola-ScripturaLehre, der es wesentlich um die Klarheit, Selbstevidenz und schließlich auch Selbstauslegung der Schrift geht - von einem mittelalterlichen Schriftprinzip spricht, das »die Schrift innerhalb des Glaubens der Kirche« auslegt und sie so »innerhalb der analogia fidei« interpretiert hat (Kasper 1970:179)98 Die moderne (d.h. insbesondere vorkonziliare) Abwertung der Schrift in der katholischen Kirche lässt sich für Kasper nur als verhängnisvolle Reaktion auf die Anfrage der Reformation verstehen. 99 Den entscheidenden Wendepunkt in dieser Entwicklung stellt dann das 11. Vaticanum dar. Es habe einen »zweifachen Vorrang der Schrift« herausgestellt und zwar insofern sie 1) inspiriert ist und so »auf eine Weise Wort Gottes, wie es die Tradition und die Verkündigung der Kirche nie sein kann« (Kasper 1970:180), und 2) insofern der Schrift »das Wort Gottes ein für allemal anvertraut« ist und sie es unveränderlich und unmittelbar enthält (Kasper 1970:180).100 Das wurzelt letztlich in der Erkenntnis der Vätertheologie, dass die ,>vom Geist gewirkte Erinnerung« - hier, aber auch nur hier verbindet Kasper den Begriff der Tradition mit jenem der Erinnerung, was sich hier der Aufnahme der johanneischen Erinnerungstheologie (Kasper verweist konkret aufJoh 14,26 undJoh 16,13 f.) zeigt - die :»einfür allemal ergangene Offenbarung immer wieder neu lebendig gegenwärtig macht«, was dort gerade eine schrifthenneneutische Komponente besitzt, weil dies »für die Väter faktisch in der christologischen Auslegung der Heiligen Schrift« besteht (Kasper 1990:164f.). 99 Vor diesem Hintergrund sei die katholische Theologie und Kirche j>mehr darauf bedacht [gewesen], sich negativ gegen das protestantische Sola-Scriptura- Prinzip abzugrenzen, als die positive Bedeutung der Schrift herauszustellen« (Kasper 1970:180), was seinen Ausdruck sowohl in den Dokumenten des Tridentinums wie des I. Vaticanums gefunden hat. 100 So interpretiert Kasper DV 8 und DV 21. Aus der Spannung doktrinärer und pastoraler Aussagen in DV (vgl. dazu oben 8.2.1 und 8.2.2, S. 348-351) liest Kasper (wie schon bei der Tradition) auch die Neubestimmung der Lehre von der Schrift als eine Zentralaufgabe der Theologie. 98

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8 Fundierende Traditionstheologie - Walter Kasper

Das 11. Vaticanum begründet (in DV 24) die Besonderheit der Schrift mit ihrer Heilsbedeutung. Eine solche »Aussage über eine gleichsam sakramentale Heilsbedeutung der Schrift wiegt mehr als alle lehrhaften Aussagen« (Kasper 1970:181). Entscheidend im Blick auf die Kirchengeschichte ist es dabei, dass »jede epochemachende innerkirchliche Reform mit einer Neubesinnung auf die Schrift ihren Ursprung genommen« (Kasper 1970:181) habe. lOl So konstatiert es Kasper ganz besonders auch für die nachkonziliare Situation. Von vornherein ist dabei klar, dass von einer »Zusammengehörigkeit von Schrift und Tradition« auszugehen ist, insofern beide »eine Q1lelle und ein Ziel« haben und sich lediglich in der »Art und Weise [unterscheiden], wie sie das eine Wort Gottes bezeugen« (Kasper 1970: 182). Dieses gegenseitige Aufeinander-Verwiesensein ist dabei gerade nicht etwas Sekundäres, sondern gilt von Anfang an (vgl. Kasper 1970:182). Es gibt genauso wenig eine Tradition ohne Schrift wie es die Schrift ohne Tradition gibt 102 Diese Verhältnisbestimmung hat für Kasper - über die ökumenische Bedeutung hinaus - unmittelbare Relevanz für die Dogmatik. Wenn die Schrift den normativen apostolischen Anfang der Kirche verbürgt, bleibt die kirchliche Verkündigung dauerhaft auf diesen verwiesen. Ein Dogma als »Teilaspekt des Ganzen« (vgl. dazu auch oben, 351, S. 351-359) kann »nur vom Ganzen her richtig eingeordnet werden und seine rechten Proportionen erhalten«, weshalb das Dogma »von der Schrift her ergänzt, vertieft und weitergeführt werden« muss (Kasper 1970:183). Darin wird für Kasper deutlich, dass es einer neuen (dogmatischen) Schrifthermeneutik bedarf, der es nicht nur um die Schriftbegründung von Dogmen geht, die danach gewissermaßen für sich Bedeutsamkeit und Normativität ohne weiWenn diese Arbeit im Folgenden von inspirierter Erinnerung spricht, so deutet sich damit schon an, dass hier ein konstitutiver Bezug dieser Erinnerung auf die Schrift gedacht werden muss und zwar insofern als inspirierte Erinnerung nicht anders denn als Schrifthermeneutik verstanden werden kann. 101 Kasper verweist in ökumenischer Perspektive und mit ökumenischer Relevanz auf die Lutherstudien von Gerhard Ebeling, der die These belegt, dass »die Frage nach Luthers Theologie zur Frage nach der Methode seiner Schriftauslegung werden muß, wenn man der Entstehung und dem inneren Zusammenhang seiner theologischen Aussagen gerecht werden will« (Ebeling 1971:1; vgl. dazu auch Kasper 1990:185). 102 So karm für Kasper auch "kein Dogma aus der Tradition allein begründet werden«, weshalb die Schrift ,>gegenüber der Tradition ein kritisches Moment darstellt und diese vor Wildwuchs bewahren soll« (Kasper 1970:182). Eine solche ausdrücklich kritische Verhältnisbestimmung zwischen Schrift und Tradition vermisst Kasper dann auch in den Aussagen des Konzils (vgl. Kasper 1970:182).

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8.5 Tradition als Schrifthermeneutik

teren Rückgriff auf die Schrift hätten. Umgekehrt muss ein Dogma fähig sein, "die Schrift aufzuschließen und zum Reden zu bringen« und diese so »unter einem neuen übergreifenden Horizont zu lesen, der seine Legitimität darin erweisen muß, daß er fähig ist, eine innere Einheit der Schrift herauszustellen, ohne deren Einzelaussagen vergewaltigen zu müssen« (Kasper 1970:183). Es geht Kasper also auch um eine wirkliche Gegenseitigkeit von Dogmatik und Exegese, die das Ende einer überholten Konklusionstheologie markiert und in einem zutiefst hermeneutischen Sinn Schrift und Tradition aufeinander bezieht. Auch die (kirchliche) Schrifthermeneutik ist damit für Kasper ganz wesentlich in die (schon mehrfach skizzierte) Grunddynamik der Geschichte einbezogen. Ja, er geht in diesem Zusammenhang so weit, dass er von einem »Wächteramt der Exegeten in der Kirche« spricht, »das darüber wachen muß, daß sich Glaube und Verkündigung der Kirche nicht von ihrem Ursprung entfernen« (Kasper 1970:184). Bei aller geschichtlicher Dynamik und der Verwiesenheit auf die je heutige Kontextualität von Glaube, Tradition und Verkündigung muss also dieser normative Anfang der Kirche als unmittelbarstes Zeugnis des Wortes Gottes immer wieder in einen geschichtlichen Dialog eingespeist werden. Selbstverständlich ist es für Kasper, dass eine solche geistliche Auslegung von Schrift und Tradition heute nicht mehr »präkritisch, sondern nur noch - hindurchgegangen durch das Feuer der historischen Kritik - in einer postkritischen Weise möglich« ist (Kasper 1990:185)103 Zum Zwecke dieser Schrifthermeneutik müssen sich historisch-kritische und systematisch-dogmatische Schrifthermeneutik in einen konkreten Dialog begeben, weil sich »erst im geschichtlichen Umgang und in der christlichen Erfahrung mit der Schrift heraus[stellt]«, was ihr theologischer Sinn ist (Kasper 1970:184). Bei diesem Dialog handelt es sich um einen »nie abgeschlossenen dynamischen Prozeß des Verstehens, um ein dauerndes Gespräch zwischen Exeget und Dogmatiker, in dem sich beide wechselseitig ihre Gesichtspunkte anbieten« (Kasper 1970:184). Die Ausführungen Kaspers gipfeln dann darin, dass er es als inhärente Lehre des II. Vaticanums versteht, dass die »im theologischen Sinn verstandene Tradition [... ] die in Lehre, Leben und Liturgie der Kirche geschichtlich wie geistlich ausgelegte Schrift« (Kasper 1990:183) ist. Diese grundlegende hermeneutische Einsicht hat dann auch für die kirchliche Praxis und Verkündigung ihre 103

Eine solche postkritische geistliche Schriftauslegung in ihrer gleichermaßen hohen Gegenwartsund Traditionsrelevanz ist eine »bisher noch kaum in Angriff genommene Aufgabe« (Kasper 1990:185), die das Konzil der nachkonziliaren Theologie aufgegeben hat.

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Relevanz. Die Schrift muss wie schon die Tradition »von vornherein unter der Fragestellung der Glaubensprobleme seiner Hörer« ausgelegt werden (Kasper 1970:185). Die historisch-kritische Exegese hilft dabei, die »jeweilige Stoßrichtung einer Schriftperikope auf die >Sache< hin« zu eruieren und so das »in der Schrift bezeugte Mysterium des Glaubens so aufleuchte[n zu lassen], daß es Licht auf die gegenwärtigen Fragen fallen läßt und im Licht dieser gegenwärtigen Fragen auch neu zur Sprache gebracht werden kann« (Kasper 1970:185)104 Auch wenn - wie Kasper deutlich artikuliert!OS - dies explizit in DV so nicht formuliert wird, ist seine Schlussfolgerung (nicht nur im Rahmen des Denkens Kaspers) stringent und nachvollziehbar. Grundzug nachkonziliarer Traditionstheologie ist es also nicht nur, Tradition konstitutiv im Zueinander zur Schrift zu verorten, sondern dieses Zueinander darüber hinaus als ein hermeneutisches Verhältnis zu deuten. Daraus ergeben sich insbesondere im Blick auf den ökumenischen Dialog Möglichkeiten, das protestantische Schriftprinzip mit dem katholischen Traditionsdenken zu verbinden. Die Grundentscheidung, dass Tradition wesenhaft Schrifthermeneutik ist, ist auch für diese Arbeit zentral. Dabei soll hier versucht werden, ausgehend vom Begriff des kommunikativen Gedächtnisses Tradition als Schrifthermeneutik im Sinne einer inspirierten Erinnerung zu entwerfen. Das eröffnet dann die Möglichkeit, Erinnerung und Gedächtnis im Zusammenhang mit Konzeptionen der narrativen Identität (der Kirche) zu denken und es mit rezeptionsästhetischen Konzepten der Bibelhermeneutik ins Gespräch zu bringen. Hierbei wird auch die Verlagerung des Fokus der Traditionstheologie von der Frage der Kontinuität zu jener der Identität, wie sie Kasper vorgeschlagen hat, zentral sein. Im Blick auf die pneumatologische Perspektive auf die Tradition bei Kasper (über die im nächsten Abschnitt noch zu verhandeln sein wird, vgl. unten, 8.6, S. 373375) liegt hier ein wesentlicher Ansatzpunkt, weil für ihn in hermeneutischer Perspektive gilt, dass »wie die vom Heiligen Geist geleitete Tradition die vom Geist inspirierte Schrift erkannt und anerkannt hat, [... ] die Schrift auch in der 104

Auch hier lässt sich also wieder diese für Kasper charakteristische Grundbewegung darstellen,

die ihren Ausgangspunkt bei den konkreten heutigen Fragen nimmt, von dorther (heilsgeschichtlieh und historisch-kritisch) den Grund des Glaubens (sei es Tradition oder wie hier: Schrift) in den Blick nimmt und von dort her das je Heutige in einem neuen theologischen 105

bzw. eschatologischen Sinnhorizont zu beleuchten (vgl. dazu auch oben, 8.4, S. 360-366). In seinen Vorbemerkungen zu dem Satz macht er klar, dass j>dies vom Vaticanum 11 ausdrücklich so nicht gesagt wird, [ ... ] seine Lehre doch in d[ies]er einfachen These zusammengefasst werden« kann (Kasper 1990:183).

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8.5 Tradition als Schrifthermeneutik

weiteren Geschichte nur in dem Geist ausgelegt und verstanden werden [kann], in und aus dem sie selbst entstanden ist« (Kasper 1990: 188). Wenn Kasper hier also wörtlich die Formulierung von DV 12 aufnimmt, gleichzeitig aber die vom Geist inspirierte Schrift und die vom Heiligen Geist geleitete Tradition aufs Engste aneinander bindet, dann besteht für den weiteren Gedankengang hier der Anknüpfungspunkt, von der Traditionsdynamik als inspirierter Erinnerung zu sprechen, ohne dabei die notwendige und bleibende Differenzierung zwischen Schrift und Tradition zu verwischen 106 Die besondere ökumenische Perspektive dieser hermeneutischen Frage liegt so zeigt Kasper unter Verweis auf Gerhard Ebeling 107 - darin, dass "die Diskussion des mit dem Traditionsproblem letztlich identischen Problems der geistlichen Auslegung der Schrift mitten ins Zentrum des ökumenischen Gesprächs führ[t ]« (Kasper 1990:185). Auch diese ökumenische Sensibilität wird für den in dieser Arbeit zu entwickelnden Traditionsbegriff entscheidend sein und unter der Chiffre des gegenseitigen Einander-Erinnerns unterschiedlicher Erinnerungsgemeinschaften verhandelt werden. Auch hier lässt sich bei Kasper ein wichtiger Anknüpfungspunkt finden, der die geistliche Schriftauslegung schließlich auch als »Auslegung der Welt« (Kasper 1990:189) verstehen kann. Desiderat ist es hier für Kasper, eine »typologische Kriteriologie mit der gegenwärtigen Hermeneutik und Methodendiskussion zu vermitteln« (Kasper 1990:190). Wenn jede Aussage (der Tradition) sowohl »in ihrem literarischen wie geschichtlichen Kontext betrachtet« werden muss, dann bedeute das auch, dass sie voll nur »im Ganzen aller Wirklichkeit verstanden werden [kann]«, was umgekehrt wiederum bedeutet, dass »in jeder Einzelerkenntnis implizit ein Vorgriff auf das Ganze« gegeben ist (Kasper 1990:190). Das führt Kasper letztlich zu dem Gedanken, dass sich auch in einer Hermeneutik der Bibel und der Tradition immer schon auch eine Hermeneutik des Ganzen Ausdruck verschafft. Insofern spricht er vom typologischen Charakter von Schrift und Tradition, die über sich hinaus auf das Ganze weist. Es ist also das, was in seinem von der Spätphilosophie Schellings Darin begründet sich auch die Legitimation, dass wie der j>Geist bei der Entstehung und Sammlung der Schrift menschliche Verfasser und menschliche Hilfsmittel in Dienst genommen hat«, parallel auch »die geistliche Auslegung alle verfügbaren menschlichen Auslegungsmethoden, heute also auch die Methoden der historischen Kritik und der geschichtlichen Hermeneutik, in Dienst nehmen« kann und muss (Kasper 1990:188), sie darf sich jedoch nicht zur platten Alternative der historisch-kritischen Exegese stilisieren, sondern ist aus den Notwendigkeiten der geschichtlichen Dynamik der Tradition in ihrem heutigen Kontext notwendig postreflexiv. l07Vgl. dazu oben Anm. 101, S. 368.

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8 Fundierende Traditionstheologie - Walter Kasper

geprägten Verständnis mit dem eschatologischen Zukunftspunkt gemeint ist. So reizvoll ein solches Verständnis ist, das in der Bibel- und Traditionshermeneutik den Ansatzpunkt für den umfassenden Sinnhorizont verortet, wird dieser Gedanke in der weiteren Argumentation dieser Arbeit dennoch reformuliert werden müssen: Eine solche hermeneutische Öffnung auf das Sinnganze hin kann - wenn es außer halb eines transzendentalphilosophischen bzw. -theologischen Konzeptes gedacht werden soll - sich ausschließlich passiv (vermittelt durch die göttliche Inspiration des Erinnerns) ereignen, und zwar im Rahmen kommunikativen Erinnerns, was immer auch schon als gegenseitiges Erinnern gedacht werden kann und muss. In dieser Kommunikation gegenseitigen Erinnerns kann dann schließlich situativ ein solcher umfassend geahnter Sinnhorizont (von Gott her) aufscheinen.

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8.6 Pneumatologische und ekklesiologische Aspekte

8.6 Pneumatologische und ekklesiologische Aspekte Charakteristisch ist es schließlich für das Konzept von Walter Kasper, dass er ein »pneumatologisches Verständnis« der Tradition vorschlägt, das im Kern »die vielen Traditionen im Ganzen als Ausdrucksformen und Bezeugungsinstanzen der einen Tradition, der Selbstüberlieferung und Selbstmitteilung des erhöhten Herrn im Heiligen Geist« versteht (Kasper 2015a:23). Es geht darum, die Vielfalt der Traditionen (im Sinne von traditiones)!08 in ihrem »inneren Zusammenhang« darzustellen, innerhalb dessen sie »ihre je spezifische Bedeutung« haben und sich gegenseitig interpretieren (Kasper 2015a:23). Obwohl in diesem System dem kirchlichen Lehramt die »maßgebliche Funktion der Unterscheidung und Entscheidung zu[kommt ]«, gilt doch unbeschadet dessen (schon wegen der ausgeführten Notwendigkeit der Rezeption und Interpretation von dogmatischen Aussagen), dass die Tradition grundsätzlich »kein geschlossenes, sondern ein offenes System« (Kasper 2015a:23f; Hervorh. A].) ist. In einem solchen (pneumatologisch ermöglichten) Verständnis der Tradition als offenes System lässt sich das Zueinander der verschiedenen Bezeugungsinstanzen!09 in Form bestimmter Kohärenzlogiken 110 darstellen. Diese Kohärenzlogiken werden für den weiteren Gedankengang dieser Arbeit entscheidend sein. Hier bietet sich unter Aufnahme der Verhältnisbestimmung zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis bei Jan Assmann eine narrative Grundlogik an, die insofern mit dem Paradigma der Tradition als Schrifthermeneutik zusammengeht. Die Tradition als umfassend-dynamisches Geschehen findet für Kasper ihren Ausdruck :>:>rn einer Vielfalt von Traditionen: im Zeugnis der Liturgie der Kirchenväter, der Heiligen, der Theologen, des Glaubenssllms aller Getauften, der Volksfrämmigkeit, in den Zeugnissen kirchlicher Kunst, Dichtung und Musik und selbstverständlich in den Zeugnissen des kirchlichen Lehramts und der dogmatischen überlieferung« (Kasper 2015a:23). 109 In ökumenischer Perspektive wird hier auch die Aufnahme der Rede von den Bezeugungsinstanzen des Wortes Gottes durch in der Studie Communio Sanetarum der Bilateralen Arbeitsgruppe der Deutschen Bischofskonferenz und der Kirchenleitung der Vereinigten EvangelischLutherischen Kirche Deutschlands (vgl. insbes. es 7) sowie ihrer kirchlichen Rezeption (vgl. DBK 2003:passim; bes. 10-12.21f.) zu beachten sein. 110 Hier geht es auch darum, dass die :»verschiedenen Zeugnisse der Tradition [... ] Fundorte für die Erkenntnis der Tradition (loci theologici)«, jedoch :>>nicht die Tradition selbst« sind, sondern ihre :»zeichenhafte Vergegenwärtigung« (Kasper 1990:187). Das dahinterliegende Interesse an einer :»ausgearbeiteten theologischen Theorie der Dogmengeschichte« (Kasper 1990:187) kann und will diese Arbeit nicht einlösen, sondern vielmehr unter Aufnahme des Erinnerungsparadigmas zunächst eine größere Tiefenschärfe im Hinblick auf das kommunikative Wesen der Tradition (als Schrifthermeneutik) in den verschiedenen Erinnerungsgruppen der Kirche ermöglichen. 108

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8 Fundierende Traditionstheologie - Walter Kasper

In einem solchen pneumatologischen Verständnis ist dann für Kasper verbürgt, dass sich 1.) "Tradition nicht nur in der Horizontalen abspielt« und deswegen kein »Glauben und Leben aus zweiter Hand« ist, weil das »einmal ergangene Wort Gottes im Heiligen Geist ,vertikal< immer wieder neu Gegenwart wird« (Kasper 1990:180). Insofern muss ein pneumatologisches Traditionsverständnis für Kasper dann auch zutiefst in einem sakramentalen Sinne verstanden werden. 111 Wenn also die Kirche lebendige und dynamische Traditionsgemeinschaft im Sinne Kaspers ist, dann gilt das (besonders nach katholischem Verständnis) in sakramentaler Weise: die »traditio wird uns ja bei der Taufe übergeben, und sie kommt in der Eucharistie doxologisch zum Ausdruck« (Kasper 1990:166). Auf diese doppelte Verwiesenheit von Paradosis (und Mneme) auf Eucharistie und auch Taufe insbesondere in der paulinischen Theologie (vgl. oben, 6.4, insbes. S. 294-304) hatte ja bereits der biblische Teil dieser Arbeit verwiesen. Dieser Zusammenhang prägt das sakramentale Verständnis der Tradition. Sie gilt für Kasper aber besonders ausdrücklich vor dem Hintergrund des sakramentalen Kirchenverständnisses von LG 1, das die Kirche im Sinne eines »Zeichens und Werkzeugs des Heils bzw. des Evangeliums versteht« (Kasper 1990:179). Die Kirche als Zeichen und Werkzeug ist »nicht um ihrer selbst willen da« sondern vielmehr dadurch »definiert, daß sie über sich hinausweist« (Kasper 1990:179). In dieser grundsätzlich funktionalen Zuordnung der Tradition zum Evangelium (vgl. auch Kasper 1987:93) besteht also das Wesen eines sakramentalen Traditionsverständnisses. Dabei werden die einzelnen Traditionen, auch die einzelnen Sakramente und hier insbesondere die sacramenta maiora der Taufe und Eucharistie, der Traditionsdynamik gegenüber in einen Zusammenhang gestellt: einzelne Traditionen und Sakramente erhalten ihre Bedeutung nicht aus sich selbst heraus, sondern aus ihrem Zusammenhang zur umfassenden sakramentalen Wirklichkeit der Kirche. Ein pneumatologisches Verständnis der Tradition liefert dann 2.) auch »zumindest implizit Motive der Traditionskritik«, mit denen die »vielen Traditionen in der Kirche an der einen traditio, der Selbstüberlieferung Gottes durch ]esus Christus im Heiligen Geist« gemessen werden können (Kasper 1990:180).112 Grundgelegt sieht Kasper das im sakramentalen Kirchenverständnis der Väter, die die ,>Zusammengehörigkeit der einen traditio mit den traditiones« mit der ,>Zusammengehörigkeit von Wort und Sakrament« verbinden (Kasper 1990:166). 112 Auch hier bleibt aber das schon erwähnte eschatologische Moment entscheidend, das den einzelnen Traditionen j>einen überschuß und Mehrwert [verleiht], den sie nie voll einholen und zu dem die Kirche erst eschatologisch unterwegs ist«, 111

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8.6 Pneumatologische und ekklesiologische Aspekte

Schließlich hängt 3.) ein pneumatologisches Verständnis auch mit dem schon mehrfach skizzierten grundsätzlich geschichtlichen Verständnis der Tradition zusammen und damit auch mit der Bedeutung des sensus fidei fidelium (vgl. dazu oben, bes. 8.2.1 und 8.4, S. 348-366).

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8 Fundierende Traditionstheologie - Walter Kasper

8.7 Kritische Würdigung der Traditionstheologie Kaspers Nachdem wesentliche Aspekte des Traditionsverständnisses Kaspers dargestellt und bei den entsprechenden Gedanken schon Anknüpfungspunkte für den weiteren Gedankengang angedeutet worden sind, gilt es hier noch einmal einen kritischen Gesamtblick auf die Konzeption von Kasper zu werfen. In der konstruktiven Kombination der Gedanken aus der Spätphilosophie Schellings mit jenen der katholischen Tübinger Schule (und auch John Henry Newmans) ausgehend von dem erneuerten Offenbarungs- und Traditionsverständnis des 11. Vaticanums hat Walter Kasper ein beeindruckendes Gesamtverständnis der Tradition als eines zutiefst und wesenhaft geschichtlichen und dynamischen Geschehens entworfen, das gleichermaßen christologisch fokussiert wie pneumatologisch orientiert ist. Ihm gelingt es damit, sowohl die Aspekte eines statischen (auf den normativen Ursprung des apostolischen Zeugnisses rekurrierenden) wie eines dynamischen (die organische Lebendigkeit im jeweiligen Heute fokussierenden) Traditionsverständnis in eine spannungsreiche und kritische Synthese zu bringen. Beeindruckend ist dabei auch die ökumenische Offenheit der Fragestellung. Wenn Tradition für Kasper als geistliche (und geistgewirkte) Schrifthermeneutik verstanden wird, die immer schon auch auf eine geistliche Hermeneutik der Welt offen ist, dann liegen darin wichtige Ansatzpunkte für ein ökumenisch sensibles Verständnis kirchlicher Tradition, das kontroverstheologische Zuspitzungen überwunden hat und die Perspektive des Anderen (beispielhaft greifbar am Zueinander von Schrift- und Traditionsprinzip) konstruktiv und dialogisch aufzunehmen im Stande ist. Auch die besondere Herausstellung der Bedeutung und Würde des sensus fidei fidelium ist ein höchst anknüpfungsfähiger Punkt, weil Kasper diesen Glaubenssinn gerade nicht nur in einem positiven Sinn (der umfassenden übereinstimmung aller), sondern auch in seiner kritischen Funktion im Gegenüber zum Lehramt denken kann. Dabei geht es Kasper gerade nicht um eine innerkirchliche Konkurrenz, sondern um ein gelingendes und wirklich dialogisches Miteinander zunächst binnenkirchlich, dann aber auch entscheidend mit anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften und im Zueinander zur »Welt«. Diese innerkirchliche Dialogizität, die den sensus fidei fidelium bestimmt, macht ihn im Folgenden zu einem wichtigen Anknüpfungspunkt.

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8.7 Kritische Würdigung der Traditionstheologie Kaspers

Dennoch wird es nötig sein, über die Gedanken von Kasper hinaus zu gehen. Es stellen sich im Blick auf die Traditionsdynamik einige Fragen, die sich mit seinem Ansatz nur schlecht klären lassen. Es geht dabei insbesondere um die Trägerinnen und Träger der Tradition. Obwohl Kasper über den Begriff des sensus fidei fidelium eine Differenzierung in die Kirche einbringt und damit ein (dialogisches) Zueinander zwischen Lehramt und Gläubigen darstellen kann, erscheint die Kirche über weite Passagen des Werkes Kaspers als Kollektivsubjekt, was der Realität von überlieferungs- und Erinnerungsprozessen eben als kommunikative Wirklichkeit, in dem Einzelne und eine Vielzahl von Erinnerungsgruppen eine Rolle spielen, nicht gerecht wird. Es ist diese grundsätzliche Betonung einer Identität der Kirche ab Abel, die zwar sehr wohl Kriterien und eine wirkliche Auseinandersetzung mit ihren jeweiligen Kontexten ermöglicht, jedoch auch den einzelnen Trägerinnen und Trägern zunächst einen gemeinschaftlichen Glauben vorgibt, dem sie grundsätzlich zustimmen müssen. Damit zeigt sich bei Kasper eine eindeutige Präferenz zugunsten einer Grundperspektive fundierender Erinnerung. Es finden sich gleichzeitig bei ihm aber auch vielfältige Anknüpfungsmöglichkeiten für eine stärkere Differenzierung nach Erinnerungsgruppen und Erinnerungssubjekten, die sich m.E. in einem theologisch angeeigneten Verständnis des Zueinanders von kulturellem Gedächtnis und (einer Vielzahl) kommunikativer Gedächtnisse (Erinnerungsgemeinschaften) noch deutlich differenzierter darstellen lässt. Das gilt insbesondere deshalb, weil die vielen einzelnen Erinnerungssubjekte (Menschen) auch noch in anderen Erinnerungsgemeinschaften (außerhalb also des Binnenraums der Kirche) erinnernd und erzählend eingebunden sind. Ihnen kommt dabei als einzelne eine konstitutive Bedeutung für das gemeinsame Erinnern der Erinnerungsgruppen zu. Darüber hinaus birgt das Traditionsverständnis Kaspers die Gefahr, dass Kirche nicht als konkrete geschichtliche Gemeinschaft, sondern als präreflexive (transzendentale) Möglichkeitsbedingung der Traditionsdynamik erscheint. Das würde letztlich auch die konstitutive Bedeutung von Brüchen und Diskontinuitäten für den Erinnerungsvollzug der Kirche relativieren. Auf diese Gefahr hat insbesondere Bernhard Fresacher hingewiesen. In seinen Affinitäten zur Communio-Ekklesiologie, in der Glaube »vorrangig als >Mitgehen< in der Gemeinschaft der Kirche definiert« wird und Tradition so als »Strom [erscheint], in dem sich die Kirche aus der Vergangenheit in die Zukunft bewegt« (Fresacher 1996:303), hat das Traditionsverständnis Kaspers die Tendenz, »die Traditionen zu bloßen Entfaltungen der einen transzendentalen Tradition zu machen, die

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immer schon überall im Mysterium oder implizit, unreflexiv dieselbe Voraussetzung der Vielfalt ist« (Fresacher 1996:304). Besonders deutlich gilt diese Kritik im Zusammenhang mit dem schon erwähnten Verständnis der Kirche als transzendentalem Kollektivsubjekt, was letztlich der >>Vergewisserung einer zeitlosen, nicht mehr hinterfragbaren Identität« (Fresacher 1996:304) dient. Wie Fresacher geht auch diese Arbeit davon aus, dass das Einbringen der Rede von der (kollektiven) Erinnerung bzw. vom kollektiven Gedächtnis (Fresacher 1996:452; anders: Waldmüller 2005:23) in den theologischen Traditionsdiskurs gerade um der Differenziertheit dieses Diskurses willen notwendig ist. Das gilt insbesondere dann, wenn von einer Gebrochenheit der Tradition wie der Wirklichkeitserfahrung als Ganzer und damit von einem dezidiert postmodernen Standpunkt ll3 aus argumentiert wird. Genau diese Gebrochenheit des (post)modernen Wirklichkeitsverständnisses (vgl. oben, 2.4.1, S. 55-57, und 2.2, S. 34-36) ist der Ausgangspunkt dieser Arbeit. Die Kritik Fresachers an Kasper ist dabei vielleicht überpointiert, denn es findet sich ja bei Kasper als zentraler Anknüpfungspunkt die Verschiebung der Frage nach der Kontinuität als Zentralfrage der Traditionsdynamik hin zur jener nach der Identität (vgl. oben, 8.4, S. 362f.). Diese Identität der Kirche kann dann aber im Zusammenhang dieser Arbeit nicht transzendentaltheologisch und präreflexiv gefasst werden, sondern muss geschichtlich und kommunikativ gedacht werden. Interessanterweise ist die hier vorgetragene Kritik, die Kirche als Traditionsgemeinschaft werde bei Kasper (von den transzendentalphilosophischen Voraussetzungen her) in unzulässiger Weise als Kollektivsubjekt verstanden, ziemlich deckungsgleich mit der Kritik, die am Konzept des kulturellen Gedächtnisses bei Jan Assmann geäußert worden ist (vgl. dazu Siebeck 2013:80 und oben, 4.2.3.1, S. 155f.). Es wird also in der Aneignung der kulturwissenschaftlichen Erkenntnisse der Theorie der Erinnerung auch darum gehen müssen, deutlich zu machen, dass man sich mit der Verwendung des Paradigmas der Erinnerung nicht einfach einen logischen Zirkel einhandelt, der von präexistenten kollektiven Erinnerungssubjekten ausgeht. Vielmehr muss dabei dann sowohl der Prozess der Sozialisation wie auch die Kontexte von individueller und kollektiver Erinnerung in einem kommunikativen Zusammenhang verstanden werden.

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Eine Perspektive, aus der heraus Kasper nur ungern argumentiert, ist postmodern für ilm in Bezug auf das Traditionsverständnis doch eher ein :»Verlegenheitswort« (Kasper 1990:182).

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9 Der erinnerungstheologische Entwurf

von Johann Baptist Metz ]OHANN BAPTIST METZ als Begründer der neuen Politischen Theologie sieht es als Anliegen seines Ansatzes an, "die alte und immer gleiche Aufgabe jeder Theologie wahrzunehmen, nämlich von Gott zu reden und sein Wort zu bezeugen - unter den Bedingungen und Herausforderungen der jeweiligen geschichtlichen Situation« (Metz 1969:79). Schon darin kommen die Grundzüge und die Originalität seines Ansatzes recht deutlich zum Ausdruck. Grundsätzlich bestimmt er den Begriff der neuen »Politischen Theologie« dann auch gerade im Unterschied zur klassischen politischen Theologie (etwa bei ear! Schmitt l14 ), womit für ihn verbunden ist, dass eine derartige Konzeption von Theologie im »Gegensatz zu jeder Form einer direkt politisierenden Theologie« steht und damit insbesondere das »Mißverständnis einer Neopolitisierung des Glaubens oder gar einer Neoklerikalisierung der Politik« zurückweist (Metz 1969:68). Gegenüber Walter Kasper etwa - aber auch gegenüber Metz' akademischem Lehrer Kar! Rahner - lassen sich bei ihm sehr grundsätzliche Neujustierungen des theologischen Denkens beobachten, die insbesondere damit zu tun haben, dass er die geschichtliche Dynamik des Evangeliums nicht im Rahmen eines sich organisch entwickelnden Verständnisses von Tradition, sondern konsequent geschichtlich konzipiert. Damit betont er insbesondere die kontrapräsentischen Akzente des Erinnerungs- und Traditionsbegriffs. Bei Metz ist schon der Prozess der Subjektwerdung l15 ein geschichtlich vermittelter. Auch darüber hinaus zeigen Wo Schmitt ,>in der kapitalistischen Rationalisierung der Gesellschaft die Ursache für eine verhängnisvolle Neutralisierung des Politischen« (Habennas 2019:44) sieht, will dieser ja gerade reaktionär gegensteuern. Genau das liegt aber nicht im Interesse von Metz. Es lohnt hier ein Blick auf die aktuelle Auseinandersetzung bei Habennas 2019:43ff. dem es in der Schlussfolgerung dann auch um die Möglichkeit der Rede vom Politischen in einer dezentrierten Gesellschaft geht. Metz selbst sieht als Vorgängerin der neuen Politischen Theologie eher die j>die Tradition eines sogenannten theologisch< und :-politisch< wenigstens potentiell totalitär und jede politische Theologie am Ende reine Staatsideologie« (Metz 1969:70) wird. Aufgrund der Differenzierung kann :»diese Theologie gerade das kritische Bewußtsein von jenen gesellschaftlichen Implikationen und Aufgaben des Christentums sein, die ihm aufgrund seiner biblischen Tradition in der durch die Aufklärung bestimmten geschichtlichen Situation erwachsen« sind (Metz 1969:70). Gerade die gesellschaftliche Ausdifferenzierung, die in soziologischer Hinsicht die zentrale Entwicklung der Moderne ist, ermöglicht also der Kirche und der Theologie in dieser konkreten Situation eine Neuaneignung der biblischen Botschaft für die konkrete geschichtliche Situation. Das liegt wesentlich daran, dass durch die Aufklärung »die politische Ordnung als Freiheitsordnung manifest und wirksam« (Metz 1969:70; Hervorh. AJ) wird.

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9.1 Der Paradigmenwechsel der Politische Theologie

also Veränderlichkeit und Wandelbarkeit und lässt sich nicht auf eine als unwandelbare Gegebenheit gedachte Tradition zurück beziehen117 Aus dieser freiheitlichen Grundperspektive, in die das politisches Bewusstsein einer freiheitlichpolitischen Ordnung "in die gesellschaftliche Freiheitsgeschichte selbst« (Metz 1969:70) hineinragt, kann dann auch vom theologischen Bewusstsein als politischem gesprochen werden. Das wiederum geschieht, weil Kirche und Theologie selbst zu freien Akteuren innerhalb der freiheitlich-politischen Grundordnung werden. Politische Theologie ist dann jene Theologie, die dazu dient, sich »auf jene Freiheitsgeschichte der menschlichen Gesellschaft zu beziehen« (Metz 1969:71).118 Der Begriff der Gottesherrschaft, der für Metz den Kern der biblischen Botschaft119 ausmacht, meint keine Perpetuierung gesellschaftlicher Herrschaftsvorstellungen. In der biblischen Botschaft vom Reich Gottes liegt vielmehr das kritische Potential!20, das nach Metz in dieser neuen Freiheitssituation in der menschlichen Geschichte nicht nur einen je individuellen (privaten) Lebenssinn enthält. Vielmehr ist die Reich-Gottes-Botschaft zutiefst politisch und trägt gar Das bedeutet für Metz jedoch nicht, dass unmittelbar nach der Aufklärung alle politischen und gesellschaftlichen Strukturen schon ausschließlich von diesem freien Wirklichkeitsbezug her entworfen und gestaltet sind, wohl aber, dass j>kritisches politisches Bewußtsein in einer solchen Freiheitsordnung nie von den gesellschaftlichen Fundamenten dieser Ordnung völlig isoliert« (Metz 1969:70) ist und werden kann. 118 Es geht in dieser Verhältnisbestimmung also nicht darum, die grundsätzliche Unterscheidung der Aufklärung wieder rückgängig zu machen, sondern Kirche und Theologie auf diese neue geschichtliche Situation neu zu beziehen. Anhand der gesellschaftlichen Emanzipationsentwicklung zwischen Politik und Religion stellt sich in der Grundfrage einer neuen Verhältnisbestimmung beider Größen die »Problematik der Kontingenz und Wandelbarkeit der freiheitlichen politischen Ordnungen und Verfassungen selbst« (Metz 1969:71). Weil diese Frage aber für Metz gerade den Kern der christlichen Religion angeht darf die Theologie :->nicht in einer abstraktenSäkularisierungsthese verharren, sie muß vielmehr die Veränderungen der auf der Freiheit des Menschen beruhenden Ausgangsordnungen ins Auge fassen« (Metz 1969:71) und das :->Verhältnis der Theologie selbst zu diesem Wandel des Politischen« (Metz 1969:71) neu bestimmen. Die Alternative, entweder in Form von (alter) Politischer Theologie an der Re- Integration des politischen in das Religiöse zu arbeiten oder aber das Religiöse ausschließlich auf das Private (ohne politische Relevanz) zu beschränken, sind für Metz falsche Alternativen. 119 Wenn das Neue Testament von der :->Göttlichkeit Gottes« spreche, so bedeute das :->immer auch von seiner angekündigten :-kommenden< Herrschaft [zu] sprechen« (Metz 1969:72). 120 hn Gegenteil ist die Reich-Gottes-Botschaft Jesu :->um der Transzendenz und Freiheit dieser göttlichen Herrschaft willen [... ] der Beginn der Säkularisierung und Relativierung jeder bestehenden politischen Herrschaftsfonn« wie der :->Ursprung der Kritik an all jenen politischen Herrschaftsformen, die sich selbst als :-absolutdie zentralen Verheißungen seiner [Jesu] Botschaft [... ] nicht radikal privatisiert werden [können] «, weil sie selbst von politischer Sprengkraft sind, setzen sie ,>den Christen vielmehr immer neu in eine kritische Freiheit gegenüber seiner gesellschaftlichen Mitwelt« (Metz !969:75).

Der Freiheitsbegriff von Metz unterscheidet sich deutlich vom Freiheitsverständnis Walter Kaspers, obwohl beide mit dem eschatologischen Vorbehalt argumentieren. Bei Kasper entfaltet sich das Zueinander der schon in der Schäpfung angelegten und dauerhaft aufeinander bezogenen Freiheiten von Gott und Mensch im geschichtlichen Prozess auf einen eschatologischen Telos hin immer weiter. Dies geschieht in einem je gräßeren Miteinander im Geist der Liebe. BeiMetz dagegen geht es zentral darum, dass die Freiheiten von Gott und Mensch gerade in der Aufrechterhaltung der eschatologischen Spannung erhalten bleiben. Das geschieht letztlich durch die radikale Freiheit Gottes, die sich immer wieder kontrapräsentisch im Zur-SpracheBringen der Reich-Gottes- Botschaft als Ennäglichungsgrund dieser Freiheit aktualisiert. Zwar ist also hier auch die menschliche Freiheit eine geschaffene, die sich der Geschäpflichkeit des Menschen verdankt. Die Freiheit Gottes aber ist als Ermäglichungsgrund der menschlichen Freiheit ihr deutlich vorgeordnet. 123 Umgekehrt gilt dann: wo die Spannung zwischen der verdankten Freiheit und der ihr stets vorausgehenden Realisierung der Gottesherrschaft eingeebnet wird, verfällt sie j>dem Zwang [... ], ein innerweltliches Subjekt für die Gesamtgeschichte der Freiheit einzusetzen [... ], das potentiell zu absoluter politischer Herrschaft drängt und den Unterschied zwischen Staat und Gesellschaft [... ] wieder einebnet« (Metz 1969:73). Der Freiheitsbegriff von Metz erweist sich dabei als spezifisch theologisch (eschatologisch). Er ist in der offenen Spannung auch immer der Begriff einer bedrohten Freiheit, weshalb Metz es als zentrale Aufgabe der Theologie (und der Kirche) versteht,fi1rdie Gesellschaft an die Aufrechterhaltung dieser Spannung zu erinnern. Darin liegt letztlich das humanisierende Potenzial der christlichen Botschaft und Theologie. 122

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9.1 Der Paradigmenwechsel der Politische Theologie

Weil die Freiheitsgeschichte dialektisch zu verstehen ist, »gerade um die politischen Ordnungen als Freiheitsordnungen zu begreifen und zu wahren«, kann und darf die »diesen emanzipierten politischen Ordnungen zugrunde liegende Freiheitsgeschichte selbst theologisch begriffen werden« (Metz 1969:74). Die Aufgabe der Theologie stellt sich als theologische Hermeneutik im zeitgenössischen gesellschaftlichen Kontext (also gewissermaßen ad extra) dar, der es darum geht, im aktuellen (freiheitlichen) Kontext die so skizzierte politische Frage »immer neu - um des Wandels und des Fortschritts der politischen Verfassungen selbst willen - auf die gesellschaftliche Freiheitsgeschichte« zu beziehen, sodass »die politische Dimension in einer neuen Weise erweitert und differenziert wird« (Metz 1969:74). Diese theologische Hermeneutik ist also eigentlich zutiefst eine politische Hermeneutik (oder eine Hermeneutik der politischen Verhältnisse). Aus der politischen Dynamik der Reich-Gottes-Botschaft (und einer so verstandenen theologischen Hermeneutik) heraus ist die politische Theologie dann (innerhalb von Theologie und Kirche, ad intra) in zweifacher Weise eine kritische Instanz. Zunächst ist sie ein »kritisches Korrektiv gegenüber einer gewissen Pr ivatisierungstendenz in der neueren Theologie, ihrer Vernunft und ihren Kategorien« (Metz 1969:74)124 Kritisch ist politische Theologie auch in Bezug auf die Kirche. In einer freiheitlichen und politischen Gesellschaft sind (und müssen) für Metz Kirche und Theologie faktisch immer schon politische Größen sein. Der Reflexion dieses politischen Wesens dient politische Theologie dann insofern, als sie »durch ihre gesellschaftsbezogene Reflexion zu verhindern [sucht], daß Theologie und Kirche unkontrolliert [... ] mit bestimmten politischen Ideologien 124

Der Hauptkritikpunkt an diesen Theorien ist die solchen Konzeptionen inhärente j>Figur der gesperrten oder verdrängten Aufklärungsproblematik« (Metz 1969:74). Metz geht es hier insbesondere um den Begriff der Vernunft, der für ihn nur als kritische Vernunft zu denken ist, die :>>nicht von Offentlichkeit, Recht, Freiheit usw. abstrahieren kann« (Metz 1969:75). Ein Vernunftbegriff, der davon abstrahiert stamme - so Metz - ganz wesentlich aus der konstantinischen Epoche der Kirchengeschichte. Unter dem ,>Einfluß der politischen Staatsmetaphysik des alten ROll« hat sich in diesem Kontext eine »klassische DpolitischeD Theologie« herausgebildet, die "die christliche Botschaft direkt innerhalb der bestehenden politischen Ordnungen politisiert[e]« und so nach der Konstantinischen Wende ,>zur direkten Nachfolgerin der religiösen Staatsideologien Roms« werden konnte (Metz 1969:76). In Reaktion auf diese politische Engführung der Theologie, die insbesondere mit dem Verfall der Eschatologie und des eschatologischen BeVl'Usstseins einhergegangen sei, habe Augustinus schließlich (als Gegenbewegung gegen die umfassende Politisierung) die ,>Inhalte dieser endzeitlichen Verheißungen zu einseitig verinnerlicht, spiritualisiert und individualisiert« (Metz 1969:76f.).

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9 Der erinnerungstheologische Entwurf von Johann Baptist Metz

aufgeladen werden« (Metz 1969:77).125

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Eine solche Kritik gilt dann auch ,>im Blick auf die Strukturen und Verfassungen der christlichen Tradition selbst«, wo sie die ,>Wurzeln für die moderne Privatisierung des Christentums« aufzudecken versucht (Metz 1969:77). Von der Grundlogik her ist diese Kirchenkritik für Metz die primäre Form der Gesellschaftskritik.

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9.2 Subjektwerdung und Solidarität

9.2 Subjektwerdung und Solidarität Obwohl politische Theologie für Metz also grundlegend eschatologische Theologie!26 ist, liegt in einer unmittelbaren »Umsetzung der Eschatologie in politische Handlungsorientierung« die Gefahr der »Ideologisierung der Politik und des Verfalls der Eschatologie« (Metz 1969:81). Gegenüber dieser Gefahr betont er, dass Eschatologie selbst gerade keine Ethik ist, sondern vielmehr das Entzogensein des die Freiheit ermöglichenden und sie ausrichtenden Sinn- oder Freiheitshorizonts thematisiert. Diese Geschichte als Ganze!27 kann nicht zu einer »unmittelbaren politischen Handlungsmaxime« werden, weil es »kein unmittelbar politisch signifikantes Subjekt dieser Gesamtgeschichte« gibt bzw. geben kann (Metz 1969:81). Hier gilt es, einen fokussierten Blick darauf zu werfen, wie Metz den Begriff Subjekt versteht. Auffällig ist, dass er diesen Begriff sowohl für die individuelle wie für die kollektive Ebene verwendet. Der dabei grundlegend identische Prozess, auf den es Metz ankommt, ist jener der Konstitution des Subjekts. Die Hinwendung zum Subjekt ist für Metz die zentrale Leistung des Ansatzes und Gesamtwerks seines akademischen Lehrers KARL RAHNER. In der lebensgeschichtlichen Dogmatik!28 Rahners werde die »mystische Biographie der religiösen Erfahrung [... ] in die Doxographie des Glaubens eingeschrieben«, weshalb eine solche Theologie zu einer »begrifflich abgekürzter n] und verdichteter n] Erzählung der Lebensgeschichte vor Gott« wird (Metz 1977:196). Im Zusammenhang einer solchen Theologie lässt sich das Subjekt dann als der »in seine ErInsbesondere gegen eine :»Inflation von sogenannten regionalen Theologien« (Metz 1969:79f.), die er in der zeitgenössischen Theologie ausmacht und die jeweils einen bestimmten Themenzusammenhang aus theologischer Perspektive reflektieren und in denen sich die Theologie so - gewissermaßen durch die Hintertür - j>ihre eingebüßte Universalität erneut erschleicheD«, versteht sich die Politische Theologie ausdrücklich als :>>:>eschatologische Theologieendzeitlichen Vorbehalt Gottes«( (Metz 1969:81). 128 Rahner habe angesichts des die neuzeitliche katholische Theologie prägenden :»tiefgreifenden Schisma[s] zwischen theologischem System und religiöser Erfahrung [... ], zwischen Dogmatik und Mystik« (Metz 1977:195) einen Neuansatz im Sinne einer debensgeschichtliche[n] Dogmatik« bzw. einer :»theologische[n] Existenzialbiographie« (Metz 1977:196) geliefert. 126

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fahrungen und Geschichten verstrickte und aus ihnen immer wieder sich neu identifizierende Mensch« (Metz 1977:196) verstehen, weshalb die religiösen Lebenskontexte wie die Frömmigkeitsbiographie eben als geschichtliche und politische Wirklichkeiten dogmatische Relevanz erlangen. Den entscheidenden Wendepunkt hin zu einer solchen narrativ-biographischen Theologie erblickt Metz schließlich in der Transzendentaltheologie von Karl Rahner129 Diese könne "in ihrer theologischen Stimmigkeit und Evidenz nur dadurch verstanden [... ] werden«, wenn man sie als Existenzialbiographie versteht, »die sich selbst narrativ, durch Besprechung religiöser Erfahrung einführt« (Metz 1977:199). Es ist die (anthropologische) Hinwendung zum freien Subjekt, das sich reflexiv zu seiner Freiheitsgeschichte verhält und in der Erzählung und Entdeckung dieser Freiheitsgeschichte sich als Subjekt (vor Gott) konstituiert, der Metz sein Subjektverständnis verdankt. Erst aus der Vielfalt der theologisch-existenziellen Fragen einer lebensgeschichtlichen Dogmatik!30 kann sich dann schließlich deren »Einheitspunkt« herauskristallisieren. Dieser Einheitspunkt der lebensgeschichtlichen Dogmatik liegt im Begriff des Geheimnisses l3l , ihrem »Grund- und Schlüsselwort«, in dem »der Begriff des unbegreiflichen Gottes und die Erfahrung des sich selbst in diese Unbegreiflichkeit hinein entzogenen Menschen, beziehungsreich zusammengeschlossen« sind (Metz 1977:202). An dieser Aneignung der Transzendentaltheologie Rahners zeigt sich dann Metz ist sich dabei dessen bewusst, dass eine solche gewissermaßen äußere Systematisierung des Ansatzes von Rahner nicht deshalb möglich ist, ,>weil sein Denken besonders markante und leicht identifizierbare Spuren eines solchen Ansatzes erkennen ließe« (Metz 1977:199). Viehnehr geht es ihm eben um die Grundlogik des Rahnersehen Denkens. 130 Wenn bei Rahner also Alltagsfragen als theologische und dogmatische Fragen behandelt werden, dann ist darin gerade - so Metz - kein Abfall von einer schultheologischen Vorgehensweise, sondern gerade die Wiederentdeckung des (klassischen) Ausgangspunkts Dogmatik zu entdecken, weil ja gerade die ,>klassischen Fragen« der Dogmatik ,>freilich allemal die Lebensfragen von vorgestern sind, die Fragen aus einer Zeit, da die Dogmatik sich eben noch nicht darauf beschränkt hatte, bloß Begriffe früherer Erfahrungen zu formulieren, sondern jeweils auch neue Erfahrungen mit diesen Begriffen mitzuteilen und zu tradieren« (Metz 1977:200). 131 Interessanterweise zeigt auch das Rahner' sche Verständnis dieses Geheinmisses als Urgrund und zugleich Abgrund deutliche Spuren des Denkens des späten Schelling (vgl. oben unter 8.1.1.3, S. S. 326-327). Rahner beschreibt es als die notwendige ursprüngliche Gotteserfahrung, dass ,>des Menschen Grund der Abgrund ist: daß Gott wesentlich der Unbegreifliche ist; daß seine Unbegreiflichkeit wächst und nicht abnimmt, je richtiger Gott verstanden wird« und man ilm ,>nie als bestimmten Posten in das Kalkül unseres Lebens einsetzen kann, ohne zu merken, daß die Rechnung dann erst recht nicht aufgeht« (Rahner 1966:23). 129

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9.2 Subjektwerdung und Solidarität

Entscheidendes bezüglich des Subjektbegriffs vonJohann Baptist Metz: Das Subjekt ist also der Mensch in der lebensgeschichtlichen Verstricktheit in seine politischen, gesellschaftlichen und biographischen Kontexte, der sich angesichts des Geheimnisses von Sinn, Leben und Freiheit, also angesichts Gottes und seines dem Menschen eschatologisch entgegenkommenden Gottesreiches, in seiner eigenen (zutiefst dogmatisch relevanten) Lebenserzählung als Subjekt vor Gott und damit im Zueinander und in Beziehung mit diesem Grundgeheimnis der Existenz konstituiert. Es geht hier also weniger um eine gewissermaßen abstrakte Freiheitsgeschichte, vielmehr wird der (einzelne) Mensch in seiner kontextuellen Verwobenheit und in seiner konkreten Lebensgeschichte zum Subjekt vor Gott. Ein derart verstandenes Subjekt bildet sich an und in der Geschichte. 132 Ein solches Subjektverständnis setzt also sowohl die menschliche Freiheit und Autonomie voraus, in der der Mensch »Ereignisse gestalten, erleiden, interpretieren und erzählen kann« (Waldmüller 2005:92f.), als auch eine Geschichte, die immer schon eine Geschichte im Angesicht Gottes ist und damit auch eine erzählte und gedeutete Geschichte. Es treten sich hier also (anders als in der transzendentaltheologischen Konzeption) nicht zwei im göttlichen Akt der Schöpfung konstituierte Freiheiten gegenüber, die wechselseitig aufeinander verwiesen sind. Metz geht es vielmehr zentral um die Freiheit des Menschen. Sie ist nicht im Sinne einer radikalen Autarkie gedacht, sondern verdankt sich dem göttlichen Schöpfungs- und Heilshandeln. Die Freiheit Gottes ist aber nicht erst im Schöpfungsakt begründet, vielmehr ist sie der menschlichen Freiheit bleibend als ihr Ermäglichungsgrund vorgeordnet. Durch ihr Geschaffensein wird diese Freiheit des Menschen aber gerade nicht geschmälert, »sondern Gott bestimmt den Menschen zu einer Existenz in Freiheit - selbst gegen ihn« (Waldmüller 2005:93). Dabei kommt den biblischen Geschichten eine zentrale Bedeutung zu. Sowohl die Kirche als auch der Mensch entdecken sich selbst als freies Subjekt in der Auseinandersetzung mit der biblischen Botschaft. Erst in der existenziellen und reflexiven (geschichtlichen und gesellschaftsrelevanten) Auseinandersetzung mit der biblischen Botschaft im Angesicht Gottes entdeckt der Mensch 132

Ein Subjekt (eine individuelle Person und auch die Kirche als Gemeinschaft) konstituiert sich also j>als Subjekt seiner Geschichte, indem es sich der Geschichte Gottes mit ihm, seinem Volk, erzählend erinnert und daraus zu leben versucht« (Waldmüller 2005:130). Es geht Metz um eine wesenhaft geschichtliche Subjektwerdung, die konstitutiv mit der j>Geschichte der biblischen Religion« verknüpft ist, insoweit diese j>eine Geschichte der Subjektwerdung eines Volkes und des Einzelnen in ihm, im Angesichte seines Gottes« (Metz 1977:57) ist.

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9 Der erinnerungstheologische Entwurf von Johann Baptist Metz

seine Subjektivität!33, die wiederum dann zutiefst praktische Konsequenzen für sein gesellschaftliches Handeln in solidarischer Hoffnung bedeutet. Darin ist auch schon verbürgt, dass der Mensch seine Subjektivität nie alsEinzelner (auch nicht präreflexiv), sondern stets im gesellschaftlichen Zusammenhang und eben in Solidarität findet und verwirklicht. Es ist das Gottesverhältnis des Menschen, das ihn - vermittelt durch die biblische Botschaft - gerade aus unterdrückenden Herrschaftsformen herausführt, was Metz biblisch in der Geschichte des Exodus vorgezeichnet sieht. Die menschliche Subjektwerdung und damit eben zentral auch das Gottesverhältnis sind nie »Ausdruck sklavischer Unterwerfung und schwächlicher Ergebenheit«, die biblische Botschaft »demütigt nicht das Subjektsein der Menschen, sondern zwingt ihr Dasein immer neu in dieses Subjektsein«, und zwar insofern etwa das »Gebet den Betenden [drängt], Subjekt zu bleiben und seine Verantwortung nicht abzuschieben im Angesichte eigener Schuld« (Metz 1977:58). So ist der biblisch-christliche Gottesgedanke »ein identitätsbildender Gedanke, eingreifend in die Basis der Existenz«, der sich der »Bildung einer am Haben und Besitzen orientierten Identität des Subjekts« widersetzt und es stattdessen als solidarisches Subjekt konstituiert, was insbesondere mit einer »praktischen Kritik einer >Kultur des Hasses< ebenso wie einer >Kultur der Apathie«< einhergeht (Metz 1977:58f.). Diese Subjektwerdung vollzieht sich für Metz genauer hin in der Erinnerung. Gerade die Verhinderung von Erinnerung im Rahmen von Unterdrückung, Versklavung und Deportation ist es, die eine geschichtliche Ohnmacht zur Folge hat l34 Diese kann nur durch eine gezielte Kri tik durchbrochen werden. Im Rahmen dieser Kritik, deren Aufgabe es ist, »den Bann des offiziellen Geschichtsbewusstseins [zu] durchstoßen, indem sie es als Propaganda der Mächtigen und Herrschenden entlarv[t]« (Metz 1977:63f.), spielt die Erinnerung die zentrale Rolle. Dabei ist es für Metz entscheidend, dass die »Freiheit der christlichen ErEs ist der »Inhalt der Schrift« (für Metz zentral in seiner eschatologischen Form und der Botschaft vom eschatologischen Gottesreich), der den Horizont dieses Befreiungsprozesses des Menschen prägt. So kann Metz letztlich den j>Glauben der Christen« als eine j>Praxis in Geschichte und Gesellschaft [bezeichnen], die sich versteht als solidarische Hoffnung auf den Gott Jesu als den Gott der Lebenden und der Toten, der alle ins Subjektsein vor seinem Angesicht ruft« (Metz 1977:70). 134 Es ist nämlich - so argumentiert er im Blick auf das biblische Zeugnis - die »Zerstörung von Erinnerung«, die sich j>als systematische Verhinderung von Identität« und damit auch von :»Subjektwerden oder auch Subjektbleiben in geschichtlich-gesellschaftlichen Zusammenhängen« erweist (Metz 1977:63f.). 133

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9.2 Subjektwerdung und Solidarität

innerung« (und damit auch ihr Potenzial der geschichtlichen Befreiung) gerade darin besteht, dass sie nicht fiktiv ist, sondern "die Subjektgeschichte der Menschen vor Gott an[ruft] und [... ] die Christen unter die praktische Herausforderung dieser Geschichte zu zwingen« (Metz 1977:65) versucht. Diese Erinnerung hat also eine enorme Sprengkraft, weil sie in ihrer anamnetischen Gestalt als vergegenwärtigende Erinnerung im Akt des Erinnerns handlungsleitende Gegenwartsrelevanz beansprucht135 Dieser Erinnerungsbegriff bei Metz wird im Folgenden ausführlich darzustellen sein. Hier soll nun zunächst zur Frage nach der Begründung einer politischen Ethik zurückgekehrt werden. Politische Ethik ist für Metz immer zugleich Ordnungsethik, die sich als »Regulativ« auf die Ausgestaltung der jeweiligen gesellschaftlich-politischen Situation bezieht, und Veränderungsethik, die er als »Ethik des möglichen und tatsächlichen Wandels solcher Freiheitsordnungen« versteht (Metz 1969:82).136 Politische Theologie ist für Metz deshalb schließlich »die spezifische christliche Hermeneutik einer politischen Ethik als Veränderungsethik« (Metz 1969:82). Das gilt gerade deshalb, weil die theologische Ethik durch den eschatologischen Bezugspunkt der Theologie dafür sensibilisiert ist, prinzipiell totalitäre Ideologien zu erkennen, und dagegen die (eschatologische) Entzogenheit der Möglichkeitsbedingungen der Freiheit thematisiert. Dieser Zusammenhang von Theologie und Ethik bzw. die grundsätzliche Frage nach einer theologischen Hermeneutik ist dann für ihn nicht ausschließlich ein zentrales Charakteristikum politischer Theologie, sondern die Grundsatzfrage des Verhältnisses von Dogmatik und Ethik, die »sich der Theologie wiederum 135

Deshalb ist auch die j>Krise des Christentums«, die Metz konstatiert, :>>nicht primär eine der Glaubensinhalte und seiner Verheißungen«, sondern eine j>Krise der Subjekte und Institutionen, die sich nicht auf die Herausforderungen des Glaubens einlassen« (Metz 1977:73). Gegen dieses Vergessen der anamnetischen Grundstruktur des Glaubens - wie Metz sagt - muss die (politische) Theologie j>eine Praxis beschreiben und anrufen [... ] können, in der Christen die gesellschaftlichen [...] Bedingungszusammenhänge durchstoßen«, was für ihn dann gleichbedeutend ist mit einer j>Praxis des Glaubens in der mystisch-politischen Nachfolge« (Metz 1969:28).

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Eine politische Ethik ist nach Metz insbesondere deshalb relevant, weil politisch relevante Probleme sich nicht ausschließlich auf "Fragen innerhalb einer bestehenden politischen Ordnung beziehen«, sondern viehnehr auf den ,>WandeiD solcher Ordnungen selbst, insofern sie als freiheitliche Ordnungen auf der Freiheitsgeschichte der menschlichen Gesellschaft basieren« (Metz 1969:81f.). Als Veränderungsethik ist sie aber immer schon sowohl mit ,>Problemen der Gesamtgesellschaft« als auch mit dem ,>gesamtgesellschaftlichen Woher und Wohin« befasst, die beide ,>auch in einem historischen Begründungszusammenhang stehen« und aufgrund dieser universalen Perspektive Objekt einer grundsätzlichen Hermeneutik sind (Metz 1969:82).

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geschichtlich seit der Aufklärung explizit stellt« (Metz 1969:83)137 Theologisch bedeutet das die Notwendigkeit einer neuen Verhältnisbestimmung zwischen Dogmatik und Ethik, die »als primäre hermeneutische Figur der Theologie das klassische hermeneutische Thema von Dogma und Geschichte« enthält, weshalb »Ethik nicht nur als reiner Anwendungsfall von Dogmatik begriffen werden« kann (Metz 1969:83).

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Seinen Begriff der Hermeneutik fasst Metz so, dass :»[hJermeneutische Verfahren [... ] selbst praxisbezogene Verfahren [seien], insofern es in ihnen nicht nur um die Erhellung der Verstehensbedingungen und Verstehenshorizonte in einem bestimmten Erkenntnis- und Handlungszusammenhang, sondern um die Frage der Veränderung solcher Bedingungen und Horizonte selbst geht« (Metz 1969:83). In dieser Schlussfolgerung wird deutlich, wie sehr er dabei auch auf das Denken der Frankfurter Schule Bezug nimmt. Konkret bezieht er sich auf Jürgen Habermas und sein Verständnis der Hermeneutik. Habennas unterscheidet grundsätzlich zwischen einem technischen und einem praktischen Erkenntnisinteresse. Während die analytischen Wissenschaften von einem technischen Interesse ausgehen, prägt die historisch-hermeneutischen Wissenschaften ein praktisches Erkenntnisinteresse. Beide stehen für Habermas insofern in einem Zusammenhang als eine Erkenntnis» [i]n der Selbstreflexion [... ] um der Erkenntnis willen mit dem Interesse an Mündigkeit zur Deckung« kommt und insofern beide »erst aus dem Zusammenhang mit dem emanzipatorischen Erkenntnisinteresse der vernünftigen Reflexion als erkenntnisleitende Interessen« (Habermas 1973:244; Hervorh. AJ) verstanden werden können. Deshalb kann bei Habermas die Hermeneutik "keine bloß formale Fragemethode sein«, sondern muss immer »inhaltliche Kriterien, d.h. theoretische Grundlagen in konkreter Anwendung« voraussetzen (Reich 1978:62). Eine solche Hermeneutik ist also - neben dem Verwiesen-Sein auf Erkenntnisse der analytischen Wissenschaften - nie von der konkreten Anwendung unabhängig, was bei Habermas und dann auch bei Metz bedeutet, dass sie immer in einer gesellschaftlichen Dynamik steht.

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9.3 Memoria passionis als Grundgestalt christlichen Glaubens

9.3 Memoria passionis als Grundgestalt christlichen Glaubens Als Gegenentwurf zu privatistischen Ansätzen zeitgenössischer Theologie, die sich >>letztlich beliebig gegenüber der Welt in ihrer gesellschaftlichen Freiheitsgeschichte« verhalten, gilt es für die Theologie, gerade die »Identität [des Glaubens] mit seiner biblisch überlieferten Grundgestalt« (Metz 1969:85f.) zu wahren. Sie besteht im Verständnis des Glaubens als memoria. Dabei ist der Glaube jenes menschliche Verhalten, in dem »der Mensch sich an ergangene Verheißungen und angesichts dieser Verheißungen gelebte Hoffnung erinnert und sich an diese Erinnerungen lebensbestimmend bindet« (Metz 1969:86). Glaube hat so für Metz nicht eine rein intellektualistische Funktion (ein Für-Wahr-Halten), sondern ist einerseits eine existenzielle Erinnerung, die sich auf die gelebte Hoffnung bezieht, andererseits geschieht in diesem Erinnern zugleich eine Selbstbindung an diese Erinnerung. In diesem verbindlich-erinnernden Glauben vollziehen die Christen dann »die memoria passionis, mortis et resurrectionis Jesu Christi [... ] erinnern [... ] sich an das Testament seiner Liebe, in der die Herrschaft Gottes unter uns Menschen« erschienen 138 ist (Metz 1969:86). Eine so verstandene memoria Jesu Christi ist dann von einer rein affirmativen Erinnerung und damit auch vom Grundtypus fundierender Erinnerung deutlich zu unterscheiden. Sie ist keine verklärende, besänftigende und individualistische Erinnerung, in der die »Vergangenheit zum unangefochtenen Paradies wird, zum Asyl für die gegenwärtigen Enttäuschungen« (Metz 1977:95), sondern eine gefährliche Erinnerung139 , die »unsere Gegenwart bedrängt und in Frage stellt, weil wir uns in ihr an unausgestandene Zukunft erinnern« (Metz 1969:87). Diese kontrapräsentische Erinnerung bringt »unausgestandene verdrängte Konflikte und unabgegoltene Hoffnungen« in den gesellschaftlich-politischen Diskurs, »entsichert damit die Selbstverständlichkeit der Gegenwart« Diese Erscheinung der eschatologischen Gottesherrschaft besteht dann für Metz in ihrer inhaltlichen Bestimmung insbesondere darin, dass j>die Herrschaft zwischen den Menschen anfänglich niedergelegt wurde, daß Jesus sich selbst zu den ,UnscheinbarenSchon< und >N och nicht< des in Jesus Christus gewährten eschatologischen Heiles« (Metz 1969:88) in einen dialektischen (und unaufhebbaren) Zusammenhang gebracht. Im Blick auf den Inhalt dieser christlichen memoria, nämlich ihrem Wesen als memoria passionis, liegt die Begründung, weshalb »gerade darin jene auf die gesellschaftliche Freiheitsgeschichte bezogene kritische Freiheit verwirklich[t]« werden kann (Metz 1969:88)140 Die Erinnerung ist auch deshalb eine Grundkategorie der politischen Theologie, weil sie »sowohl Grundzüge der griechischen Philosophie als auch der jüdisch-christlichen Denktradition« verbindet (Metz 1977:162). Dabei geht es für Metz in erster Linie um die Verbindung von platonischer Anamnesis (vgl. dazu oben, 3.1.2, S. 115-119) und jüdisch-christlichem Geschichtsdenken, das sich insbesondere in der »neuzeitlichen Vermittlung [... ] zwischen apriorischer Vernunftwahrheit und Freiheitsgeschichte« (Metz 1977: 163) ausdrückt 141

Zentral ist es dabei für Metz, dass die ,>Struktur geschichtlicher Erfahrung« gewahrt wird, nämlich dass »jene gesellschaftlichen Widersprüche und Antagonismen, aus denen geschichtliche Erfahrung leidvoll lebt und in denen das geschichtliche Subjekt sich konstituiert« nicht (im Sinne des Deutschen Idealismus) meiner ;.>vorgewußten :-transzendentalen Erfahrung< [ ...] bereits undialektisch versöhnt« werden (Metz 1977:62), sondern, dass ihre Spannung aufrechterhalten wird. Das geht aber nur in Kategorien des geschichtlichen BeVI'Usstseins, zu denen Metz insbesondere die Erinnerung und die Erzählung (wie schließlich auch die Solidarität) zählt. Diese sind die »fundamentalen Kategorien der Vergewisserung und Rettung von Identität in den geschichtlichen Kämpfen und Gefährdungen, in denen Menschen sich als Subjekte erfahren und konstituieren« (Metz 1977:63). 141 In Bezug auf diesen grundlegenden Zusammenhang ist dann für Metz die Differenzierung von Gedächtnis und Erinnerung, von Magazin- und Tafehnetaphern (vgl. dazu Weinrich 1964:26; Assmann, A. 1991:13 und auch oben, 3, S. 113) sekundär (Metz 1977:163). 140

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9.3 Memoria passionis als Grundgestalt christlichen Glaubens

9.3.1 Erinnerungsdynamik zwischen Anamnesis und christlicher memoria Der Erinnerungsvorgang lässt sich für Metz als "Medium des Praktischwerdens von Vernunft als Freiheit«!42 verstehen, in dem diese Freiheitserinnerung »als Leidenserinnerung zur Orientierung für freiheitsbezogenes Handeln« und durch ihre narrative Struktur zur »Kritik erinnerungsloser Geschichtstechnologie« führt (Metz 1977:172). Damit ermöglicht sie eine neue Vermittlung der »Traditionen der Anamnesis und der christlichen memoria« (Metz 1977:172). Wenn also Metz Erinnerung als »indispensable[n] Grundbegriff einer Philosophie, die sich als theoretische Gestalt jener Vernunft begreift, die als Freiheit im Medium der Geschichte - praktisch werden will« (Metz 1977:163) versteht, so behält sie damit doch auch stets ihre (platonische) Verwiesenheit auf die Erkenntnis und auf Wahrheiten 143 Eine solche anamnetische Erinnerung ist für Metz gegenwartskritische Erinnerung und »Protest gegen jede begriffslose Unterwerfung unter vorgegebene Zustände« (Metz 1977:166). Zentrale Bedeutung für die Entwicklung des Erinnerungsbegriffs kommt dem Christentum als »Erinnerungs- und Erzählgemeinschaft« zu, die »den Raum des griechischen Logos und seiner Metaphysik« durchdrungen habe und gleichzeitig ihre Erinnerungen als »auf ein geschichtlich einmaliges Ereignis bezogen [versteht], in dem es die eschatologische Erlösung und Befreiung des Menschen durch Gott unwiderruflich angebrochen glaubt« (Metz 1977:165). Durch diese Wirkungsgeschichte!44 gelangt Erinnerung (in formaler Hinsicht) »in den KonErinnerung gehört für Metz damit in den Bereich der praktischen Vernunft, wodurch sich bei der j>Behandlung der Frage nach dem Praktischwerden von Vernunft als Freiheit die alte Frage nach vorgewußter Vernunftwahrheit verwandelt aufdrängt« (Metz 1977:163). 143 Diese ananmetische Komponente des Erinnerns bezieht Metz allerdings nicht von Platon selbst, wo er konstatiert, dass die Wahrheit dort ,>in steiler Abstraktion von geschichtlichen Verhältnissen« erirmert werde, sondern über Hegel, wo Wahrheit gerade ,>auf dem geschichtlichen Stand ihrer Vermittlung zu denken« und ihre j>Allgemeinheit gewissermaßen aus :-geschichtlicher Apriorität< zu begreifen« sei (Metz 1977:166). 144 Metz zeichnet diese Entwicklungsgeschichte sehr detailliert und kenntnisreich nach. Augustinus habe schließlich - so analysiert Metz anhand des X. Buches der Confessiones (vgl. dazu oben, 3.2, S. 120-129) - über Platon hinausgehend die christliche memoria als biographische Erinnerung vor Gott in den :->Rang einer hermeneutischen Kategorie zur Deutung der Lebensgeschichte im Angesicht Gottes« gehoben (Metz 1977:166). Bei Hegel findet sich für Metz in seiner Verbindung von klassischer Metaphysik und menschlicher Freiheitsgeschichte ein geschichtliches Verständnis der Erinnerung, die die Philosophie :->zwingt [... ], Wahrheit auf dem geschichtlichen Stand ihrer Vermittlung zu denken«, womit Erinnerung :->zur (gegenwarts142

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9 Der erinnerungstheologische Entwurf von Johann Baptist Metz

text der Geschichts- und Freiheitsthematik« und überwindet in ihrer eschatologischen Ausrichtung die Fixierung auf präreflexive Bewusstseins- oder Vernunftinhalte, die Metz - in Abwandlung eines von Kierkegaard stammenden Diktums!45, dass >,Wiederholung und Erinnerung [... ] dieselbe Bewegung [sind], nur in entgegengesetzter Richtung« (Kierkegaard 1843:7) - als Wiederholung nach rückwärts charakterisiert (Metz 1977: 165). In ihrer eschatologischen Ausrichtung wird christliche memoria dagegen zur »wiederholenden >Erinnerung nach vorn«< (Metz 1977:165). Erinnerung ist für Metz also grundsätzlich eine Kategorie der geschichtlichen Identitätsfindung und zugleich eine »Kategorie der Befreiung« (Metz 1977:64). Wie sich die »Zerstörung von Erinnerung [... ] als systematische Verhinderung von Identität, von Subjektwerden oder auch Subjektbleiben in geschichtlichgesellschaftlichen Zusammenhängen« verstehen lässt, beginnt umgekehrt die »Bildung von Identität in der Erweckung von Erinnerungen«, die wiederum im Sinne gefährlicher Erinnerungen »den Bann des >offiziellen< Geschichtsbewußtseins durchstoßen, indem sie es als Propaganda der Mächtigen und Herrschenden entlarven« (Metz 1977:63). An diesem Punkt erhält Erinnerung dann auch eine spezifisch theologische Dignität: Im Vollzug der Erinnerung rufen die Erinnernden »ein Subjekt an, das sich nicht schlicht aus den antagonistischen Mustern einer Klassengesellschaft, durch Negation des jeweiligen Gegners beschreiben läßt« und »gegen jegliche Unterdrückung und Institutionalisierung des Hasses« einsteht (Metz 1977:65). Das ist für Metz keine Utopie, sondern Gott selbst, dessen Name dafür steht, »daß die Utopie der Befreiung aller zu menschenwürdigen Subjekten nicht reine Projektion ist« (Metz 1977:65). In dieser emanzipatorischen Erinnerung wird jede »Macht der Vollendung, der Versöhnung und des Friedens, die der menschlichen Freiheit und ihren Konflikten vorausliegt, [... ] Gott vorbehalten« (Metz 1977:80). )kritischen Erirmerung« als »Protest gegen jede begriffslose Unterwerfung unter vorgegebene Zustände« wird (Metz 1977:166). In diesem Sinne lasse sich Erinnerung als Verbindung von ,>Metaphysik und Geschichte, ,Archäologie< und ,Eschatologie«( (Metz 1977:166) verstehen. Auf dieser Linie sieht er auch die lebensphilosophische Bestimmung der Erinnerung bei Bergson als »dynamischer Grund der Einheit und Kontinuität des geistigen Lebens der Person, des Ich«, die schließlich von Maurice Halbwachs j>in die sozialgeschichtliche und sozialpsychologisehe Dimension hinein ausgeweitet« (Metz 1977:168) worden sei. Eine ausführlichere Auseinandersetzung mit den Erkenntnissen von Halbwachs findet sich in diesem Kontext bei Metz allerdings nicht. 145 Vgl. zu den Gedanken von Kierkegaard insbesondere Reimer 1968:23-25.

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9.3 Memoria passionis als Grundgestalt christlichen Glaubens

9.3.2 Memoria und immanente Eschatologie? Dieses Verständnis von Eschatologie!46 ist in Bezug auf die radikale Geschichtlichkeit des Ansatzes von Metz theologisch insofern kritisiert worden. als sich darin eine Form immanenter Eschatologie ausmachen lasse. Der Vorwurf besteht dabei wesentlich darin, dass Metz eine Identifikation von politischer Freiheitsgeschichte und Heilsgeschichte vornehme. Darin erscheine - wie Metz selbst diese Kritik in Aufnahme einer Formulierung von Jürgen Moltmann zuspitzt!47 - die Emanzipation als Immanenz der Erlösung und die Erlösung als Transzendenz der Emanzipation. Entgegen einer solchen Lesart seines Verständnisses von Eschatologie stellt Metz die Dialektik der Emanzipationsgeschichte heraus, mit der gleichzeitig auch eine »Zweideutigkeit dieser Eschatologie in Bezug auf das Verhältnis von verheißenem Heil und geschichtlicher Zukunft« einhergeht, die es unmöglich macht, »zwischen geschichtlicher Zukunft des Menschen und der Menschheit und eschatologischer Heilszukunft ein >eindeutiges< und >reines< Verhältnis herzustellen« (Metz 1969:92). Es ist gerade die Dialektik von Heilsund Emanzipationsgeschichte, die sich für Metz der in der evolutiven Zeitvorstellung der Moderne grundgelegten Auflösung des Geschichtsbewusstseins verweigert. Nur in einem eschatologischen Horizont, einem »Horizont begrenzter Zeit[,] erscheint die Welt auch als Geschichte« (Waldmüller 2005:116). Dieses Geschichtsbewusstsein ist es, in dem angesichts einer gefährdeten Zukunft und von dieser Zukunft her der Vergangenheit eine Normativität für die Gestaltung von Gegenwart und Zukunft zugesprochen wird. Sie besitzt eine fundamentale Bedeutung für das »verantwortliche Subjekt der Aufklärung«, das sich gerade »auf Zukunft hin entwirft«, womit die (eschatologische) Zukunft für Metz zum »Konstitutivum von Geschichte« wird (Waldmüller 2005:116). Im Versuch, ein eindeutiges Verhältnis zwischen Emanzipation (menschlicher Freiheitsgeschichte ) und Erlösung (eschatologischem Heil des Menschen) In dieser spezifisch theologischen Dimension der memoria Jesu Christi, die der Aufrechterhaltung der eschatologischen Spannung verpflichtet ist, liegt das spezifische Wesen der Erirmerung. Sie ist nicht die einfache (lineare) Realisierung oder Verinnerlichung eines traditionellen Prinzips im Sirme einer fundierenden Erinnerung, sondern bezieht ihre Dynamik aus den narrativen Inhalten dieser Erinnerung, die für Metz selbst wesentlich als Befreiungsgeschichten zu verstehen sind. Diese Befreiungsgeschichten entfalten perfonnativ ihre Dynamik, ohne wiederum ,>ern innerweltliches Subjekt für die Gesamtgeschichte der Freiheit einzusetzen, das potentiell zu totalitärer Herrschaft von Menschen über Menschen drängt« (Metz 1977:80). 147 Metz bezieht sich dabei auf die Versöhnungsformel bei Moltmann 1968:207, hebt jedoch gleichzeitig hervor, dass die Eschatologie Moltmanns j>das Verhältnis zwischen Erlösung und Emanzipation differenzierter sieht, als es diese Formel insinuiert« (Metz 1977:107; Anm. 13). 146

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9 Der erinnerungstheologische Entwurf von Johann Baptist Metz

zu konstruieren, zeige sich vielmehr ein falsches Verständnis von Geschichte, im Kern nämlich ein klassisches teleologisches Verständnis »von Natur, von physis, die allein sich nach einem immanenten telos verwirklicht und in ihm auszeitigt« (Metz 1969:92f.). Gegenüber einer solchen Naturmetaphysik gelte es insbesondere aus der Perspektive einer christlichen Soteriologie zu betonen, dass diese ihren »unaufgebbaren kategorialen Ort in und an der Geschichte« hat (Metz 1969:93). Für Metz ist deshalb ein teleologisches Verständnis von Geschichte, bei dem philosophisch bzw. theologisch ein eindeutiger Telos systematisch zu bestimmen wäre!48 mit dem biblisch-eschatologischen Verständnis nicht vereinbar, das die Auflösung der eschatologischen Spannung einzig Gott vorbehält, was sich wiederum in der Geschichte und nicht außerhalb von ihr ereignet. Jede zeit- und gesellschaftskonkrete Realisierung oder Aktualisierung der memoria muss sich deshalb immer der Aufrechterhaltung dieser eschatologischen Spannung verpflichtet wissen. Das gilt dann auch als kritisches Moment etwa in Bezug auf kirchliche Strukturen.

9.3.3 Die memoria als dogmatische und performative Erinnerung

Im Rahmen dieser befreienden und emanzipatorischen Erinnerungsdynamik der memoria nehmen die »biblischen Traditionen und die aus ihnen erwachsenen Bekenntnis- und Lehrformeln des christlichen Glaubens« den Status von Formeln an, »in denen der Anspruch ergangener Verheißungen und vergangener einst gelebter Hoffnungen und widerfahrener Schrecken in die Erinnerung zurückgerufen werden, um den Bann des gegenwärtig herrschenden Bewußtseins in seiner Instrumentalität und Einsinnigkeit zu durchbrechen« (Metz 1969:88). Insofern lässt sich für Metz als Kriterium der genuinen Christlichkeit von Lehrsätzen und Erinnerungsformeln ihre »kritisch-befreiende, aber auch erlösende Gefährlichkeit [bestimmen], mit der sie die erinnerte Botschaft in die Gegenwart einbringen« (Metz 1969:89). Mit anderen Worten bedeutet das, dass christliche Formeln und Lehrsätze gerade nicht einfach in ihrer geschichtlichen Ursprünglichkeit, sondern in ihrer Relevanz für die je aktuelle Gesellschaft also in ihrem Bezogen-Werden (und Bezogen-Werden-Können) auf konkrete ge148

Metz äußert sich dabei u.a. kritisch zur Theorie der Geschichtlichkeit aber auch zur evolutiven Eschatologie von Teilhard de Chardin, dessen Bestimmung des Einheitspunktes Omega für Metz gerade den eschatologischen Vorbehalt nivellieren würde (vgl. Metz 1969:93).

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9.3 Memoria passionis als Grundgestalt christlichen Glaubens sellschaftliche Prozesse ihre Gefährlichkeit erhalten. Das können sie für Metz aber nur, wenn Kirche und Theologie sich nicht selbst als überzeitlich gebärden oder aber als einfaches Relikt einer (irrelevanten) Vergangenheit betrachtet werden. 149 Entscheidend ist es dabei für Metz, dass die memoria Jesu Christi eine dogmatische - Metz nennt sie mitunter auch eine bestimmte - Erinnerung ist. Die memoria ist in zweifacher Weise bestimmt l50 : Trotz des ihr inhärenten Impulses, die Inhalte der Erinnerung je gesellschaftlich zu aktualisieren - >,das >Gesetz< der Kritik in den >Geist< der Krisis« zu überführen, wie Metz formuliert (Metz 1969:91) - bewahrt die Erinnerung eine narrative Ursprünglichkeit durch die schriftliche Fixierung und Kanonisierung der Zeugnisse von Bibel und Tradition und ruft Menschen gleichzeitig in die konkrete Nachfolge ]esu. Erinnerung lässt sich also nicht abstrahieren und dann in Form einer abstrakten Idee in den gesellschaftlichen Diskurs einbringen l5l , sondern ist auf ihre Narrativität wie 149

Der Auftrag des Aktualisierens der Botschaft als gesellschaftlich relevante, gefährliche Erinnerung bedeutet also für Kirche und Theologie einen Refonnbedarf. Nur so könnten dann trinitarische und christologische Formeln in ihrer Gefährlichkeit für Kirche und Gesellschaft interpretiert werden, so etwa in einer herrschaftskritischen Deutung der Trinitätslehre (wofür Metz aufErik Peterson verweist) oder in der gefährlich-befreienden Wendung klassischer christologischer Formeln. Leider bleibt Metz bei dieser Konkretion sehr vage und deutet es an verschiedenen Stellen nur an, ohne es dann auch tatsächlich durchzubuchstabieren (vgl. etwa Metz 1969:88).

Die memoria ist davor bewahrt, :»Sich des Erirmerten« so zu entäußern, »daß sie von ihm nur das verwandelnd aufbewahrte, was sich allein über kritische Reflexion vermitteln läßt«, weil sie :»um den :>tödlichen< Konflikt zwischen den göttlichen Verheißungen und einer von unseren unverfremdeten Wünschen und Interessen betriebenen Geschichte« weiß und deshalb keine totale Kritik ist, sondern sowohl :»den Schmerz des Sich-Versagens, des Ausharrens, der Ungeduld und der Geduld an sich [trägt], wie sie christliche memoria als :>Nachfolge Jesu< einfordert« (Metz 1969:90f. vgl. auch Metz 1977:179). Insofern kann die memoria passionis keine abstrakte Erinnerung sein, sie lässt sich nicht in eine Abstraktion mit übergeschichtlichem Anspruch überführen, die außerhalb von Geschichte und außerhalb von narrativen Geschichten Gültigkeit beanspruchte, sondern muss als Geschichte (Narration) in der (konkreten) Geschichte immerwieder neu zur Sprache gebracht werden. Es ist die christliche :»Erirmerung des gekreuzigten Herrn, diese bestimmte memoria passionis, [die] als gefährliches Gedächtnis der Freiheit in den gesellschaftlichen Systemen der technologischen Zivilisation« (Metz 1977:95) vernehmbar gemacht werden muss und zwar :»nie rein argumentativ, sondern immer auch :>narrativfür unser Verständnis von Kommunikation keinerlei Bedeutung, wenn durch Auschwitz das Band einer Kommunikation zwischen allem, was Menschenantlitz trägt, verletzt wurde?« (Metz 1999:111). 152 Kultur besitzt nämlich für Metz sowohl den ,>Auftrag, Natur als Voraussetzung einer vernünftigen Zukunft zu bewahren« wie auch den ,>Anspruch, Barbarei zu überwinden« (Metz 1977:93). Kultur ist immer auf die Ambivalenz des natürlichen und geschichtlichen Prozesses verwiesen, der immer zugleich auch eine Leidensgeschichte ist. Das Leid selbst ist es, das j>einer affirmativen Theorie der Versöhnung zwischen Mensch und Natur widersteht«, weil es j>Natur und Geschichte, Teleologie und Eschatologie« kontrastiert (Metz 1977:94).

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9.3 Memoria passionis als Grundgestalt christlichen Glaubens Horkheimer ist die Aufklärung Teil eines grundlegenden menschlichen Prozesses. 153 Diese Grunddynamik ist dann für Horkheimer und Adorno durch die Aufklärung des 18. und 19. Jahrhunderts gewissermaßen noch einmal verstärkt worden, sodass die Logik der Naturbeherrschung jetzt voll zur Entfaltung kommt. Die Folge ist, dass im Zuge dieses Prozesses die Vernunft die »Fähigkeit zur Reflexion auf sich selbst« verliert und nur noch zur instrumentellen Vernunft wird, deren Ziel die »technische Anwendung des Wissens zur fortschreitenden Naturbeherrschung ist« (Waldmüller 2005:67). Wenn es also für Horkheimer und Adorno die Dynamik der Aufklärung selbst ist, die in eine solche Situation der ausschließlich instrumentellen Vernunft und damit auch zur Naturbeherrschung und zu bestimmten gesellschaftlichen Herrschaftsformen !54 führt, so gilt es ihnen doch angesichts dessen, durch eine Kritik an dieser Aufklärung »einen positiven Begriff von ihr vor[ zu ]bereiten, der sie aus ihrer Verstrickung in blinder Herrschaft löst« (HorkheimerlAdorno 1947:4.10). Dabei spielt die Philosophie eine zentrale Rolle, die Horkheimer und Adorno im Gegensatz zu einem ausschließlich zweckrationalen Denken bzw. einer instrumentellen Vernunft als ein Denken verstehen, das »vor der herrschenden Arbeitsteilung nicht kapituliert« (HorkheimerlAdorno 1947:35.4), sich nicht durch physische Gewalt, materielle Interessen oder Suggestion zwingen lässt. Philosophisches, kritisches Denken ist insofern die »Anstrengung, der Suggestion zu widerstehen, die Entschlossenheit zur intellektuellen und wirklichen Freiheit« (Horkheimerl Adorno 1947:35.4). Entscheidend ist es gerade, dass ein »solches Denken [... ] selbst nicht wieder zum System werden [darf] wie die aufklärerische Vernunft, weil sie sonst nicht in der Lage ist, das Neue, das Besondere, das Andere wahrzunehmen« (Waldmüller 2005:68). In ihrem Blick auf die Gesellschaft diagnostizieren Adorno und Horkheimer eine Absurdität, bei der »die Gewalt des Systems über die Menschen mit jedem Schrill wächst, der sie aus der Gewalt der Natur herausführt« (HorkheimerlAdorno 1947:5.24).155 Es ist die Dialektik des Denkens!56, die Horkheimer Das Ziel dieser ,>Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens« ist es dabei seit jeher gewesen, »von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen« (Horkheimer/Adorno 1947:5.1). 154 Von der Exilsituation und der Entstehung des Werkes im Zweiten Weltkrieg her resümieren die beiden Autoren schließlich, dass die j>vollends aufgeklärte Erde [ ... ] im Zeichen triumphalen Unheils« strahlt (Horkheimer/Adorno 1947:5.1). 155 In dieser Absurdität befindet sich gerade auch das aufgeklärte Denken, »in dessen Zwangsmechamsmus Natur sich reflektiert und fortsetzt« (Horkheimerl Adorno 1947:5.24). 156 Bildlich gehärenfür sie zum Denken sowohl das materielle Werkzeug, das »in verschiedenen Si153

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9 Der erinnerungstheologische Entwurf von Johann Baptist Metz

und Adorno gegen die identitären Bestrebungen der Modeme stark machen. Ein ausschließlich begriffliches oder identitäres Denken verabsolutiert sich und wird damit illusionär, wenn es "die trennende Funktion, Distanzierung und Vergegenständlichung, verleugnen will« (HorkheimerlAdorno 1947:5.24). So ist es das Eigentümliche der »Selbsterkenntnis des Geistes als mit sich entzweiter Natur«, dass »wie in der Vorzeit Natur sich selber an[ruft], aber nicht mehr unmittelbar mit ihrem vermeintlichen Namen« (HorkheimerlAdorno 1947:5.24). Nur in der Bescheidung, in der »dieser [der Geist] als Herrschaft sich bekennt und in Natur zurücknimmt, zergeht ihm der herrschaftliche Anspruch, der ihn gerade der Natur versklavt« (HorkheimerlAdorno 1947:5.24). Und so gilt für Horkheimer und Adorno, dass jeder »Fortschritt der Zivilisation [... ] mit der Herrschaft auch jene Perspektive auf deren Beschwichtigung erneuert« hat (HorkheimerlAdorno 1947:5.24). »Während jedoch die reale Geschichte aus dem realen Leiden gewoben ist, das keineswegs proportional mit dem Anwachsen der Mittel zu seiner Abschaffung geringer wird, ist die Erfüllung der Perspektive auf den Begriff angewiesen« (HorkheimerlAdorno 1947:5.24). Durch begriffliches Denken distanziert sich der Mensch also nicht nur von der Natur, was in den Habitus des Beherrschens führt. Durch begriffliches Denken kann der Mensch gleichermaßen in der Selbstbesinnung die »das Unrecht verewigende Distanz ermessen« (HorkheimerlAdorno 1947:5.24). Durch ein solches »Eingedenken der Natur im Subjekt«, wie Horkheimer und Adorno das nennen und in dem »die verkannte Wahrheit aller Kultur beschlossen liegt«, muss Aufklärung also nicht zwangsläufig in Beherrschung von Natur und Mitmenschen münden. Vielmehr ist Aufklärung dadurch »der Herrschaft überhaupt entgegengesetzt« (HorkheimerlAdorno 1947:5.24). Für die Rezeption der Dialektik der Aufklärung bei Johann Baptist Metz spielt es eine entscheidende Rolle, wie »Adorno die Argumentation in seinem Spätwerk Negative Dialektik weiterverfolgt« (Waldmüller 2005:70). Dabei entwickelt sich insbesondere der Begriff der Nichtidentität zu einen Schlüsselbegriff nicht nur bei Adorno, sondern auch bei Metz. Adorno setzt sich dabei insbesondere mit Identitätsdenken auseinander und entwickelt davon ausgehend sein Verständnis von Nichtidentität. Identität ist für Adorno ganz grundsätzlich die »Urform von Ideologie«, insofern sie als eine »Adäquanz an die darin untertuationen als dasselbe festgehalten wird und so die Welt als das Chaotische, Vielseitige, Disparate vom Bekannten, Einen, Identischen scheidet« wie das ideelle Werkzeug (der Begriff), j>das in die Stelle an allen Dingen paßt, wo man sie packen kann« (Horkheimer/Adorno 1947:5.24).

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9.3 Memoria passionis als Grundgestalt christlichen Glaubens drückte Sache genossen [wird]«, die wiederum eine »Unterjochung unter Beherrschungsziele« ist (Adorno 1966:149). Das Kernproblem des Identitätsdenkens liegt für Adorno darin, dass der denkende Vollzug, der sich selbst ganz grundsätzlich nicht ohne eine Bestimmung vollziehen kann, diese Bestimmung, den Begriff, letztlich verabsolutiert durch das »Ein- und Unterordnen des Besonderen, Einzelnen unter abstrakte Begriffsbildungen« (Waldmüller 2005:70), worin Adorno den »Fehler des traditionellen Denkens« erblickt, »daß es die Identität für sein Ziel hält« (Adorno 1966:150). Weil Adorno dieses begriffliche Erfassen des Besonderen unter einen abstrakten Begriff als herrschaftlichen Zugriff, als »Herrschaftsinstrument über die innere und äussere Natur« (Waldmüller 2005:70), versteht, der letztlich in die Dynamik der Verabsolutierung der instrumentellen Vernunft führt, verwehrt er sich dagegen und versteht die Nichtidentität als eigentliches »Telos der Identifikation, das an ihr zu Rettende«, denn je mehr das identifizierende Denken versucht, etwas Besonderes unter einen allgemeinen Begriff zu subsumieren, desto weniger wird es ihm gerecht und »entfernt sich von der Identität seines Gegenstandes um so weiter, je rücksichtsloser es ihm auf den Leib rückt« (Adorno 1966:150). Die negative Dialektik, die Adorno entwirft, ist das »konsequente Bewußtsein von Nichtidentität« (Adorno 1966:15). Den wesentlichen Einspruch gegen das von Adorno kritisierte Identitätsdenken findet sich dabei besonders in der Faktizität des Leidens!57, es ist die »kleinste Spur sinnlosen Leidens in der erfahrenen Welt«, das »die gesamte Identitätsphilosophie Lügen« straft (Adorno 1966:201). Die »Abschaffung des Leidens, oder dessen Milderung hin bis zu einem Grad, der theoretisch nicht vorwegzunehmen, dem keine Grenze anzubefehlen ist« ist nämlich gerade keine Herausforderung des Einzelnen, sondern eine gesellschaftliche Aufgabe!58, die »einzig durch eine sich selbst und jedem Lebenden durchsichtige Solidarität zu verwirklichen« ist (Adorno 1966:20lf.). Von diesen Voraussetzungen her findet sich in der negativen Dialektik und dem Denken der Nichtidentität bei Adorno ein großes Interesse am Begrijflosen, am Einzelnen, am Bruchhaften und Besonderen. Gerade der Gedanke der Nichtidentität hat das Denken von Metz sehr deutlich und in zunehmender Intensität geprägt (vgl. Waldmüller 2005:70). Das leibhafte Moment (die Natur im Menschen) ist es, das die Erkenntnis des Menschen darauf verweist, ,>daß Leiden nicht sein, daß es anders werden solle« (Adorno 1966:201). 158 Im Einspruch gegen das Leiden besteht deshalb für Adorno dann auch eine Konvergenz zwischen Materialismus und der Kritischen Theorie, die in der ,>gesellschaftlich verändernden Praxis« besteht (Adorno 1966:201).

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Auch die Beschäftigung mit seiner Zentralkategorie - der Erinnerung - bezieht Metz aus der Dialektik der Aufklärung. Horkheimer und Adorno sprechen dabei zunächst vom >,Eingedenken der Natur im Subjekt, in dessen Vollzug die verkannte Wahrheit aller Kultur beschlossen liegt« und in der die »Aufklärung der Herrschaft überhaupt entgegengesetzt« ist (HorkheimerlAdorno 1947:5.24). Schon über den Begriff des Eingedenkens, den sie von WALTER BENJAMIN übernehmen, zeigt sich, wie der Zusammenhang von Erinnerung und Leidensgeschichte der Menschheit bei Adorno und Horkheimer wie auch bei Metz zu verstehen ist. Eingedenken verwendet Walter Benjamin im Sinne einer kontrapräsentischen Erinnerung und in Abgrenzung zu einer ver klärten fundierenden Erinnerung. In einer Antwort auf einen Brief von Horkheimer, der zu den Fragmenten seines Passagen-Werks zählt, bestimmt er seinen Begriff des Eingedenkens so, dass dieses »das Unabgeschlossene (das Glück) zu einem Abgeschlossenen und das Abgeschlossene (das Leid) zu einem Unabgeschlossenen machen« kann (Benjamin 1982:589). So kann dieses Eingedenken auch das modifizieren, was »die Wissenschaft >festgestellt< hat« (Benjamin 1982:589). Das Eingedenken ist damit also eine Form der Erinnerung, die gerade die Unabgeschlossenheit des Leids herausstellt und sich nicht mit der Faktizität des vergangenen Leids abfindet. Wenn das Leid der Vergangenheit im Eingedenken »aus einem abgeschlossenen zu einem unabgeschlossenen Sachverhalt gemacht« wird, über den »das letzte Wort erst noch zu sprechen und zu tun sein wird«, so geschieht dies durch die »Tilgung der vergangenen konkreten Erscheinungsweisen dieses Leids in der Gegenwart«, was dann wiederum ermöglicht, »dass - zusammen mit dem gegenwärtigen Leid - auch dessen vergangene Formen abgeschafft und also mit Bezug auf die Vergangenheit widerrufen werden« (Thielen 2005:202; Hervorh. AJ). Damit wohnt dieser Art der Erinnerung - so Benjamin selbst - ein theologisches Moment inne, eine »Erfahrung, die uns verbietet, die Geschichte grundsätzlich atheologisch zu begreifen, so wenig wir sie in unmittelbar theologischen Begriffen zu schreiben versuchen dürfen« (Benjamin 1982:589). In Bezug auf den Begriff der Erinnerung nehmen Horkheimer und Adorno (dieser besonders in seiner Negativen Dialektik) die Intention Benjamins auf. Adorno macht etwa »im Gedanken der Positivität des Nicht-Identischen, des Anderen, das sich entringen und sich befreien, das aus der dialektischen Existenz in Unterordnung in die dialogische von Konstellation übergehen kann« (Thielen 2005:204), die hinter diesem Verständnis des Eingedenkens bei Benjamin stehende Vorstellung einer zeitübergreifenden Gerechtigkeit zur entscheidenden Denkform, die sich im Vollzug der Erinnerung je aktuell und kontraprä-

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9.3 Memoria passionis als Grundgestalt christlichen Glaubens sentisch realisiert. Auch für Horkheimer und Adorno liegt deshalb in der Erinnerung der Widerstand gegen die Herrschaftstendenz der instrumentellen Vernunft159

Auf dieser Linie ist die theologische Konzeption der Erinnerung als memoria passionis zu verstehen, wenn Metz etwa schreibt, dass die »Geschichte des Leidens der Menschen [... ] Maßstäbe zur Kritik der planenden Vernunft« liefert und dazu zwingt, nicht nur die Perspektive der »Durchgekommenen und Arrivierten«, sondern gerade den »Gesichtspunkt der Besiegten und der Opfer« einzunehmen (Metz 1977:92). Und wie Adorno richtet sich auch Metz gegen das Identitätsdenken, wenn er das Leid als jene Wirklichkeit ausmacht, die »einer affirmativen Theorie der Versöhnung zwischen Mensch und Natur widersteht« (Metz 1977:94). Diese Faktizität des Leids des Menschen ist es, die einer Deutung der »Natur als Subjekt dieser Geschichtsprozesse« bleibend entgegensteht (Metz 1977:94). Der »Respekt vor der Dignität des geschichtlich akkumulierten Leidens« verpflichtet dazu, Geschichte und Natur nicht teleologisch, sondern dialektisch aufeinander zu beziehen (Metz 1977:94). Das bedeutet dann theologisch, dass man von dieser Naturgeschichte als »Passionsgeschichte« sprechen muss, von der man »kein Ziel, sondern - wenn überhaupt - eine Zukunft« angeben kann (Metz 1977:95). Metz führt ein disruptiv vorgeprägtes Verständnis von Kontinuität!60 ein, demgegenüber jede affirmative Erinnerung und Tradition, die den Anspruch der Kontinuität behauptet, nur als geschichtlich und diskontinuierlich verstanden werden kann. Die Kontinuität des Leids in der Welt wiederum ermöglicht die Dynamik der memoria passionis als kontrapräsentische Erinnerung, indem sie zum »negativen Bewußtsein von künftiger Freiheit« und zum »Stimulans, im Horizont dieser Freiheit leidüberwindend zu handeln«, wird (Metz 1977:95).

9.3.5 Memoria Jesu Christi als memoria passionis Die memoria Jesu Christi, die memoria passionis, mortis et resurrectionis Jesu Christi, lässt sich in ihrem Kern für Metz als eine solche memoria passionis beWährend nämlich die j>perennierende Herrschaft über die Natur«, die Verdinglichung, j>durch Vergessen erst möglich gemacht« wird, liegt in der Erinnerung, besonders der Erinnerung des (unabgegoltenen) Leidens, die Möglichkeit des Widerstands und der überwindung dieser Verdinglichung (Horkheimer/Adorno 1947:29.4). 160 Es ist für Metz »die ,Spur des Leidens«,in einer bislang unbekannten Dramatik vor die Gottesfrage als Theodizeefrage« gestellt (Metz 2011:19). Besonders weil das Christentum »seine Gottesleidenschaft als >Mitleidenschaft< versteht« (Metz 2011:19). Dafür verwendet Metz auch den Begriff der Compassion, was für ihn einen» unsentimentalen Ausdruck einer Liebe [bedeutet], die sich in der untrennbaren Einheit von Gottes- und Nächstenliebe verwurzelt weiß« (Metz 2011:19). In dieser Compassion stellt sich das Christentum sowohl einem modernen Fortschrittsdenken wie auch einem postmodern-pluralistischen Denken entgegen, die beide ein Geschichtsverständnis vertreten, »das der Dialektik von Erinnern und Vergessen grundsätzlich entzogen ist und damit jene kulturelle Amnesie stabilisiert, in der die Geschichte als Passionsgeschichte verschwindet« (Metz 2011:19). Exkurs: Compassion und Konvivialität bei Metz

Die Haltung der Compassion zielt nicht auf eine »ausschließlich nach innen gewendete Gotteserfahrung, sondern auf jene >unterbrechende< Erfahrung, die im Umgang mit den Anderen, die in der zwischenmenschlichen Begegnung von Antlitz zu Antlitz einsetzt« (Metz 2012: 16f.). Sie ist zugleich mystisch und politisch, weil in diesen zwischenmenschlichen Unterbrechungserfahrungen »die verletzlichen und verletzten Anderen in einer letzten Unverletzlichkeit sichtbar werden können, in jener Unverletzlichkeit des Menschen, die eigentlich unser gesamtes politisches Bewusstsein und Handeln zu prägen hätte« (Metz 2012:17). Diese Alltagsmystik, diese offenen Augen sind es für Metz, die »in uns den Aufstand gegen die Sinnlosigkeit unschuldigen und ungerechten Leidens anzetteln« (Metz 2012: 16). Eine solche Mystik hat dann nicht nur eine kritische Relevanz in Bezug auf die Gesellschaft, sondern auch für das gemeindliche Miteinander, in dem es Menschen lehrt, »dass sie immer mehr >auf AugenhöheSekte< zu werden« (Metz 2012:18).173 Das zeigt aber wiederum, wie sehr die politische Theologie auf gegenseitige Begegnung angelegt ist und wie sehr auch die Erinnerung in diesem Zusammenhang als kommunikative Begegnungswirklichkeit gedacht wird. Es ist geradezu eine solche Ethik der Konvivialität und eine davon »gestützte Kultur der Empfindsamkeit«, die zur Bedingung für ein gelingendes »Miteinander unterschiedlicher Kulturwelten« wird (Metz 2012:18), zu der das Christentum eben aus seiner Wurzelerfahrung als Erinnerungs- und Erzählgemeinschaft in besonderer Weise beitragen könnte. Diese Ethik der Konvivialität sieht Metz insbesondere durch zwei biblische Imperative geprägt. Einerseits ist dies der Imperativ des Augenäffnens, den er auch als »kategorische[n] Imperativ der biblischen Traditionen« bezeichnen kann, insofern das Christentums insbesondere eine »Schule des Sehens, des genauen Hinsehens« und der Glaube die Ausstattung des Menschen mit wachen Augen ist (Metz 2012:19). Daneben ist es aber auch das biblische Bilderverbot, das »vor Vorurteilen, vor Projektionen, vor >übertragungen«< (Metz 2012:20) warnt und gewissermaßen die Kehrseite des ersten Imperativs ist. Für die Begegnung auf Augenhöhe ist es deshalb für Metz zentral, dass man seine Vorurteile vor dem Fremden überwindet, weil man sonst »nicht ihm, dem Fremden, begegne[t], sondern unserem Bild von ihm und darin noch einmal uns selbst, also dem in uns, worin wir uns selbst fremd und unheimlich sind«, was Metz schließlich als Selbstverfeindetheit bezeichnet (Metz 2012:20). In der Logik von Metz stellt sich also die Frage, wie die Erinnerung an die Leidensgeschichte der Menschheit als gesellschaftlich-humanisierende Ressource zur Verfügung stehen kann, in besonderer Weise anhand der Theodizeefrage. Es ist für Metz die »Situation >nach Auschwitz«>nach Auschwitz« diese Frage in neuer Dringlichkeit, weil man - so Metz - nicht mehr abseits von Auschwitz oder daran vorbei nach der Möglichkeit von Rettung und Heil fragen kann. Damit ist auch die Theodizeefrage nicht mehr eine spekulative Frage, sondern eine zutiefst praktische Frage danach, »wie denn überhaupt von Gott zu reden sei angesichts der abgründigen Leidensgeschichte der Welt, >seiner< Welt« (Metz 2011:20). Deshalb ist die Aufgabe der Theologie nicht eine »alles versöhnende Antwort«, sie muss vielmehr »immer neu eine Sprache suchen [... ], um sie unvergesslich zu machen« (Metz 2011:20). Gleichzeitig sieht Metz in der »Katastrophe, die den Namen Auschwitz trägt« letztlich auch eine Unmöglichkeit des Erinnerns begründet (Metz 2011:21). Während viele überlebende an der Erinnerung an Auschwitz bis hin zum Selbstmord verzweifelt seien, hätten nur die »Vergesslichen« oder die, »die schon erfolgreich vergessen haben, dass sie etwas vergessen haben«, Auschwitz überstanden (Metz 2011:21). Eigentlich stellt also Auschwitz sowohl das affirmative Erinnern wie auch das kontrapräsentische Erinnern radikal infrage, weil durch Auschwitz »auch die Idee des Menschen und der Menschheit« sich als »zutiefst verletzbar« herausgestellt habe (Metz 2011:21). Für die heutige gesellschaftliche Situation konstatiert Metz eine »Art religionsfreundlicher Gottlosigkeit« (Metz 2011 :21), die der Theodizeefrage insoweit entgegensteht als Religion in einem solchen Verständnis »gerade der Vermeidung oder Verhinderung dieser Frage« (Metz 2011:22) diene. Nur durch eine Wiederentdeckung der Gottesrede ist es für Metz möglich, Religion nicht ausschließlich als Kontingenzbewältigungspraxis (mit diesem Begriff greift er auf Hermann Lübbe zurück, vgl. oben 2.4.2.1, S. 58-59) zu verstehen. Vielmehr können im Rahmen einer politischen Theologie auch die »Einstellungen der Nichtbewältigung von Kontingenz, der Nichtakzeptanz von Lebenslagen [... ] Artikulationen des Widerspruchs, der Klage, des Schreis« Geltung beanspruchen (Metz 2011:22). Metz erblickt diese in der biblischen Tradition bei den Propheten, in der Exodustradition und insbesondere in der Weisheitsliteratur. Nur dann lässt sich die Theodizeefrage als »eschatologische Frage [verstehen], die sich jeder Funktionalisierung entzieht« (Metz 2011:22). Das bedeutet für die theologische Argumentation bei Metz aber auch eine deutliche Verschiebung hin zu einer negativen Theologie, die nur den Begriff, nicht aber die Argumentation mit der apophatischen Theologie der Kirchenväter gemein hat. Metz versteht die Erfahrung der Gottverlassenheit nicht als Zwischenschritt auf einem mystischen Erfahrungsweg, sondern gewissermaßen

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9 Der erinnerungstheologische Entwurf von Johann Baptist Metz

als theologische Grundperspektive, die "die Transparenz der Schäpfung und der Schäpfungsmacht Gottes [... ] auf ihr gelingendes Ende« verunmäglicht (Metz 2011:22). So bleibt für Metz schließlich nur die Eschatologie »als negative Theologie der Schäpfung« übrig (Metz 2011:22). Durch diese Betonung der Theodizeefrage, insbesondere »nach Auschwitz«, erhält also einerseits die Notwendigkeit der memoria passionis eine neue Dringlichkeit, andererseits führt die Situation dazu, dass erinnerungstheologisch affirmative theologische Konstruktionen geradezu unmäglich sind. Die Problematik eines solchen Verständnisses für eine Vorstellung der memoria passionis als erzählend-erinnernde Wirklichkeit wird in der abschließenden Würdigung des Ansatzes von Johann Baptist Metz diskutiert. Hier sollen zunächst noch einige Anmerkungen zur anamnetischen Kultur und zur anamnetischen Vernunft folgen, die Metz aus diesen Erfahrungen und Reflexionen heraus entwickelt hat. In der Synthese zwischen griechischem und jüdisch-christlichem Denken habe sich eine »anamnetische Grundverfassung des Geistes« ausgebildet, eine anamnetische Vernunft, die noch über die historische Erinnerung hinausgeht, insofern sie »auch jenem Vergessen [widersteht], das in jeder historisierenden Objektivierung der Vergangenheit nistet« (Metz 1999:109).174 Diese anamnetische Kultur wie die anamnetische Vernunft werden nun aber durch die Faktizität der Schoah radikal infrage gestellt. Von Auschwitz her stellt sich für Metz die Frage, »wie ein Grauen, das sich der historischen Anschauung immer wieder zu entziehen droht, gleichwohl im Gedächtnis behalten werden kann« (Metz 1999:110). Hier sieht er die doppelte Verantwortung einer »Historiographie, die ihrerseits von einer anamnetischen Kultur gestützt ist, also von einer Gedächtniskultur, die auch um jenes Vergessen weiß, das noch in jeder historisierenden Vergegenständlichung herrscht« (Metz 1999:110). Einer solchen anamnetischen Gedächtniskultur steht gegen das Vergessen insbesondere (und für Metz geradezu ausschließlich) der Gottesbegriff eines pathischen Monotheismus!75 zur Verfügung, Historisch sieht Metz die Wurzel der ananmetischen Vernunft in der Kombination des :»subjektlosen und geschichtsfernen Seins- und Identitätsdenken[s]« der hellenistischen Tradition mit der j>Entdeckung der Zeit als befristete Zeit, in deren Horizont sich die Welt erstmals in eine geschichtliche Landschaft verwandelt« und dem :>,Bundesdenken als geschichtliches Eingedenken«, die er im christlichen bzw. jüdischen Denken verartet (Metz 1999:109), kurz also zwischen Athen und Jerusalem. 175 Es geht Metz dabei um einen pathischen Monotheismus, einen j>Monotheismus mit einer leidempfindlichen Flanke,[ ... ] der durch die ebenso unbeantwortbare wie unvergeßliche Theodizeefrage konstitutionell ,gebrochen< ist« und für den ,>Geschichte nicht einfach Siegergeschichte ist, sondern vor allem Leidensgeschichte« (Metz 1999:112). An diesem Punkt hat sich Metz 174

414

9.5 Theologie nach Auschwitz und anamnetische Vernunft

der sich »geschichtlich in der biblischen memoria passionis konzentriert« (Metz 1999:112). Dieser pathische Monotheismus, der in der memoria passionis der Gesellschaft Impulse gibt, führt dann auch zu einer »anamnetische[n] Ethik«, die der »Vergeßlichkeit der modernen Freiheit« und einer »Kultur der Amnesie« entgegensteht (Metz 1999:112). Dabei geht es ihm insbesondere um die Etablierung »asymmetrische[r] Anerkennungsverhältnisse«, die in der »Zuwendung der Einen zu den ausgegrenzten und zerstörten Anderen« besteht und die erst »die Gewalt der Logik des Marktes« brechen kann (Metz 1999:113).176

dann auch entschieden in den Diskurs um die Gewalt- und Intoleranzaffinität des Monotheismus - ausgelöst durch die Thesen von Jan Assmann in Moses der Agypter (vgl. Assmann 1998) - eingebracht. 176 Deshalb ist schließlich die christliche Tradierungskrise nicht nur eine Glaubenskrise, sondern »auch eine Freiheitskrise, kurzum eine Humanitätskrise«, wo nämlich :>,fortschreitende Erinnerungslosigkeit zum Paradigma des eigentlichen Fortschritts« werde, j>kommt in solchem ,Fortschritt< schließlich der Mensch sich selbst abhanden« (Metz 1999:114).

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9 Der erinnerungstheologische Entwurf von Johann Baptist Metz

9.6 Kritische Würdigung der Erinnerungstheologie Metz' Mit seiner Konzeption der memoria passionis hat Johann Baptist Metz eine Konzeption vorgelegt, die den Begriff der Erinnerung als theologischen Zentralbegrijf in den fundamentaltheologischen Diskurs eingespielt hat. Dabei ist es besonders die konsequent geschichtliche - in den Worten von Metz besser: eschatologische - Herangehensweise, die den besonderen Reiz seines Entwurfs ausmacht. Sehr bewusst übersteigt er eine (letztlich metaphysische) transzendentaltheologische Konstruktion zugunsten einer geschichtlichen und dialektischen Konzeption, die wesentlich von links-hegelianischenAutoren beeinflusst ist. Dabei kommt insbesondere der menschlichen Leidensgeschichte, die gewissermaßen das einzige kontinuierliche Moment dieser Geschichte ist, zentrale Bedeutung zu. In der memoria passionis wird gerade dieses Leiden in der konkreten gesellschaftlichen Situation und im Sinne der Humanisierung gegen die Vergesslichkeit der modernen Vernunft wie gegen totalitäre Bestrebungen der Herrschenden in Erinnerung gerufen. Theologisch findet dies in der Erinnerung von Leiden, Tod und Auferstehung Jesu seinen Kristallisationspunkt, wobei auch die Auferstehungserinnerung für Metz nur von der Leidenserinnerung her richtig verstanden werden kann. Die memoria passionis ist (in den Worten von Gerd Theißen bzw. Jan Assmann) damit eine kontrapräsentische Erinnerung, die stets der Aufrechtererhaltung der eschatologischen Spannung verpflichtet ist. Die Erinnerung dient dabei in erster Linie der Subjektwerdung und Befreiung des Menschen und der Kirche. Dieses Subjektsein kann der Einzelne jedoch nicht einzeln verwirklichen, vielmehr ist "im Ringen um das eigene Subjektsein immer auch schon das Subjektseinkönnen aller Menschen an[ge ]zielt« (Waldmüller 2005:143). Ein solcher Subjektbegriff ist den Kernanliegen der Aufklärung verpflichtet und steht gleichzeitig in deutlicher inhaltlicher Nähe »zum Begriff der Identität«, wie er »im Rahmen des kulturwissenschaftlichen Erinnerungsdiskurses« Verwendung findet (Waldmüller 2005:143). Wie schon bei Kasper der Begriff der Kontinuität durch den Begriff der Identität ersetzt worden ist, so ist für Metz der Begriff der Kontinuität ausschließlich im Blick auf die geschichtliche Leidensdynamik sinnvoll zu verwenden. Die Vorstellung einer affirmativen Erinnerung - das, was Assmann als fundierende Erinnerung bezeichnet - ist Metz fremd. Solche Erinnerung ist ihm vielmehr der Vertröstung verdächtig. Fraglich ist dabei aber, wie denn eine Identitätskonstruktion

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9.6 Kritische Würdigung der Erinnerungstheologie Metz'

(oder Subjektwerdung) sinnvoll möglich ist, wenn diese nicht positiv im Sinne einer affirmativen Erinnerungsnarration geschehen kann. Die zunehmende Betonung der Nichtidentität und auch der Ausschließlichkeit negativer Theologie bei Metz steht also einer (positiven) erinnernd-narrativen Bildung einer (zumal religiösen) Identität entgegen (vgl. zu dieser Kritik auch Waldmüller 2005:144ff.). Auch wenn Metz betont, dass die Infragestellung durch die memoria passionis nicht nur in Bezug auf die Gesellschaft, sondern auch in Bezug auf die Kirche gilt und er nicht eine bruchlose Vergegenwärtigung der memoria passionis in der Kirche behauptet, so reicht das allein nicht aus, es bedarf auch anderer erinnernden Identitätsbildungsprozesse (affirmativer Art), die dann durch die memoria passionis infrage gestellt werden können. Hinter eine solche selbst zutiefst geschichtliche Konzeption von Identität wird deshalb nicht zurückzugehen sein, was auch bedeutet, dass der Rede von einem überzeitlichen Wesen der Kirche und damit der Vorstellung ungebrochener Kontinuität aus einer solchen Perspektive kritisch und vehement entgegengetreten werden muss (vgl. dazu auch Waldmüller 2005: 150). Auch die Identität der Kirche kann - wie jede personale Identität - nur im Sinne einer Identitätsund Kontinuitäts(re )konstruktion angesichts der Bruchhaftigkeit von Geschichte und Welt verstanden werden, die man als postmoderne Grunderfahrung der Wirklichkeit verstehen kann (vgl. oben, 2.4.1, S. 55-57). Deshalb muss Identität (auch die kollektive Identität der Kirche) ganz grundsätzlich im Rahmen einer diskontinuierlichen Kontinuität verstanden werden, weshalb hier der Rückgriff auf den Gedanken der diskordanten Konkordanz der Identität von Paul Ricceur (vgl. Ricceur 1996:174; dazu auch oben 4.4,189-197) nahe liegt, um die Erkenntnisse von Johann Baptist Metz für eine kommunikativ fokussierte Traditionsund Erinnerungstheologie fruchtbar zu machen. Dem Metz'schen Verständnis der memoria passionis scheint daneben eine gewisse Einseitigkeit zu eigen zu sein, indem sie nur von der Kirche bzw. von Christen in der Nachfolge Jesu gegenüber der politischen und gesellschaftlichen (oder auch kirchlichen) Realität zur Sprache gebracht werden kann. Das dialogische Moment, das das Traditionsverständnis der Konstitution Dei Verbum prägt, könnte hier sinnvoll weitere Impulse verleihen, indem Erinnerung (oder evtl. Erinnerungen im Plural) in ihrer kommunikativen und dialogischen Struktur ernst genommen wird. Im Folgenden sollen deshalb unter Aufnahme der Konzeption des kommunikativen Gedächtnisses bei Maurice Halbwachs Tradition und Erinnerung stärker innerhalb eines (gesellschaftlichen) Dialogs der Gedächtnisse verortet wer-

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9 Der erinnerungstheologische Entwurf von Johann Baptist Metz

den. Das schmälert wohlgemerkt nicht die Bedeutung der memoria passionis, die als eine entscheidende Erinnerung (unter anderen) im Sinne einer Humanisierung von Kirche und Gesellschaft immer wieder zur Sprache gebracht werden muss. Offen bleibt jedoch die Frage, wie etwa eine gesellschaftlich-säkulare Kritik an der Kirche (außerhalb einer möglichen Artikulation der memoria passionis in Bezug auf die Kirche selbst) möglich sein SOll.177 Ein Plural von Erinnerungen, die durch einen Plural von Erinnerungsgemeinschaften inner- und außer halb der Kirche artikuliert und miteinander ins Gespräch gebracht werden, gewissermaßen also ein Erinnerungsdiskurs, würde m. E. die Konzeption der memoria passionis sinnvoll ergänzen und insofern die narrative Konstruktion einer sich immer wieder selbst hinterfragenden Identität ermöglichen, die gerade deswegen nicht einfach bruchlos und eindimensional gedacht werden könnte und müsste. Weiterführend sind in jedem Fall die überlegungen von Metz zur Narrativität der Erinnerung und zu den damit verbundenen Herausforderungen an eine zeitgemäße Theologie, einerseits eine Kriteriologie des christlich-erinnernden Erzählens zu erar beiten und andererseits die grundlegende (gesellschaftliche) Sprachfähigkeit von Theologie und Kirche zu fördern. Metz vertritt dabei ein sehr weites Verständnis von Narrativität, das auch Sakramente als performative Erzählwirklichkeit einschließt. Hierin liegt ein wichtiger Anknüpfungspunkt!78 dafür, dass im Folgenden Tradition im Sinne einer narrativen Erinnerung verstanden werden soll. Ein umfassendes Verständnis einer narrativen Identität nicht nur der Gläubigen, sondern auch der Kirche als Ganzer (im Sinne von Paul Ricceur) kann dann auf wesentliche Erkenntnisse von Metz zurückgreifen und gleichzeitig sein Verständnis der Erinnerung weiten. Es gilt dabei zu betonen, dass Müsste also die Gesellschaft der Kirche gegenüber dann die bestimmte Erinnerung der memoria passionis artikulieren oder gäbe es auch Möglichkeiten eine solche Kritik anders zu artikulieren, sodass sie die Kirche an ihre genuine Erinnerung erirmert. Diese Frage stellt sich ja etwa in besonderer Dringlichkeit in Bezug auf den kirchlichen Missbrauchsskandal, in dem mehr als deutlich wird, welch große Bedeutung eine kontrapräsentische Erinnerung als kritisches Moment der kirchlichen Erirmerung (der Tradition) besitzt. 178 Allerdings lässt sich dabei bei Metz insofern eine Engführung feststellen, als er die Erzählung fast ausschließlich als j>Sprache derSystemunterbrechung« (Metz 1977:192) versteht und damit dem kontrapräsentischen Aspekt des Erzählens gegenüber seinem affinnativen Aspekt einen zu deutlichen Vorzug gibt. Das steht dabei natürlich im Zusammenhang der (eschatologisch fokussierten) Kurzdefinition von Religion als j>Unterbrechung« (Metz 1977:150), in der das erläuterte Verständnis der memoria passionis als kritische Infragestellung politischer und gesellschaftlicher Zustände komprimiert ist.

177

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9.6 Kritische Würdigung der Erinnerungstheologie Metz'

die (affirmative) Ausbildung einer christlichen Identität, die als solche natürlich nicht von der Infragestellung der Identität durch die memoria passionis zu trennen ist, sich im Plural der Konfessionen und der Erinnerungsgruppen (innerhalb dieser Konfessionen) und in ihrem Erinnerungsdialog untereinander ereignet, der durch unterschiedliche Akzentsetzungen im Leitparadigma der jeweiligen Erinnerung ermöglicht wird. Dieser dialogische Plural, überhaupt die Möglichkeit einer Erinnerungskommunikation als gleichberechtigtes Gespräch (wie es im Blick auf die Erkenntnisse von Maurice Halbwachs noch einmal deutlich zu entwickeln ist), spielt bei Metz bis auf den eher marginalen Verweis auf Randgruppen und Bewegungen in der Kirche!79 überhaupt keine Rolle. Dabei fällt darüber hinaus bei Metz auf, dass angesichts der Fokussierung auf die monotheistische und christologische Sinnspitze der memoria passionis, die auf das Verständnis eines pathischen Monotheismus hinausläuft!80, die pneumatologische Komponente des Erinnerns, die sich ja auch als zentrales Element der biblischen Erinnerungstheologie herausgestellt hat l8l , überhaupt keine Rolle spielt. Das hängt wohl damit zusammen, dass sich Metz im Blick auf das biblische Zeugnis insbesondere mit dessen Geschichtsverständnis auseinandersetzt, das dann als Korrektiv der platonischen Anamnesis erscheint, nicht jedoch selbst die theologische Erinnerungsdynamik der Bibel nachzeichnet. Das wird man als bedauerliche Leerstelle im Konzept von Metz bezeichnen müssen. Gerade die biblische Erinnerungstheologie muss jedoch im Kontext einer Hermeneutik der Traditionsdynamik stark gemacht werden. Es legt sich also nahe, das Konzept von Johann Baptist Metz mit jenem von Walter Kasper zusammen zu lesen. Kasper stellt gerade diese pneumatologische Komponente und damit auch den Aspekt der fundierenden Erinnerung heraus, ohne dass dabei die bleibende Neuheit des Evangeliums außer Acht gelassen würde. Diese Neuheit des Evangeliums wird man dabei (u.a. mit Knapp 2015:225, So konstatiert Metz, dass gerade die ,>Randgruppen und ,Bewegungen«( (Metz 1977:186) in der Kirche ihre Vitalität nicht aus (theologischer) Argumentation, sondern aus lebendigen (existenzial-biographischen) Erzählungen beziehen, wenn auch dies manchmal eine gewisse (theologische) Hilflosigkeit andeute. In jedem Fall gingen von diesen Bewegungen hnpulse für die (Veränderung der) Kirche aus. 180 Die Idee des pathischen Monotheismus ist dabei ein Gedanke, der gegen eine Engführung des Verständnisses eines gewalt- und intoleranzaffinen Monotheismus (etwa beilan Assmann) eingebracht werden muss. Auch dies sollte aber aus einem dialogischen (oder kommunikativen) Verständnis der Erinnerung und der erinnernden Erzählung heraus geschehen. 18 1 Prominent ist es die Figur des Parakleten, der für die Kontinuitäts(re)konstruktion von Gemeinde und Kirche verantwortlich ist (vgl. oben 6.3.3, S. S. 287-291). 179

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9 Der erinnerungstheologische Entwurf von Johann Baptist Metz

vgl. dazu auch oben, 2.6.1.6, S. 79-81) im Sinne einer bleibenden christologisch verbürgten Neuheit verstehen müssen. Gerade diese bleibende Neuheit und die damit verbundene stetige Infragestellung einer rein affirmativen (christlichen) Identitätskonstruktion, die sich aus der Paradosis-Dynamik der christlichen Erinnerung auch als Sensibilität für die menschliche Leidensgeschichte speist, ist gewissermaßen der entscheidende Impuls von Johann Baptist Metz. Pneumatologische und christologische, fundierende und kontrapräsentische Perspektive müssen deshalb im Folgenden in einem Verständnis der Traditionsdynamik!82 als Erinnerung zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. Dabei ist es entscheidend, das kommunikative Moment der Erinnerung herauszustellen. Die Frage wie Erinnerung in einem kommunikativen Zusammenhang als Begegnung verstanden werden kann, in der sich eine Verschränkung der Ebenen ereignet, sowohl synchron I diachron wie auch zwischenmenschlich I gottmenschlich, erweist sich damit als eine grundsätzliche Herausforderung für ein kommunikatives Verständnis von Erinnerung.!83

182 183

Zum Begriff der Traditionsdynamik vgl. oben, 2.6.2.1, insbes. S. 83-86. Angesichts der memoria passionis bei Metz stellt sich, wenn diese die Leidenserinnerung als ,>jene Kategorie einfordert, die einen solchen Bruch und den Schmerz darüber lebendig halten könne« ganz grundsätzlich die Frage, ,>wer sich da wessen erinnert«, weil dies sehr grundsätzlich j>eine Identifizierung des Erinnernden mit den Opfern und damit eine zu große Nähe zu den Opfern voraus[setzt]« (Waldmüller 2005:165). Ottmar Fuchs hat in diesem Sinne von der Notwendigkeit und Schwierigkeit einer doppelten Subjektorientierung in der memoria passionis gesprochen. Neben dem erinnernden Subjekt treten dabei j>verstorbene Subjekte in die Erinnerung der Gegenwart und Zukunft«, wobei es ein j>Verhältnis zu [... ] Inhalten [der Erinnerung] ohne die Existenz der vergangenen Subjekte gar nicht gäbe« und sich Erinnerung so auch j>als Kommunikation der gegenwärtigen mit den vergangenen Subjekten ereignet« (Fuchs 2001 :313). Erinnerung ereignet sich denmach nicht nur als j>synchrone Begegnung mit den Lebenden als intersubjektive Begegnung«, sondern auch durch die j>diachrone Erinnerung als Begegnung mit vergangenen Subjekten«, durch die die Erinnerung j>erlebt und rekonstruiert wird« (Fuchs 2001:313). Nur in dieser j>doppelten interdependenten Subjektorientierung« kann sich Erinnerung ereignen. Das hat dann insofern Konsequenzen als die j>synchronen Kommunikationstheorien« der kirchlichen Verkündigung durch j>diachrone Erinnerungskommunikation« ergänzt werden müssen, weil sie sich sonst j>als relativ erinnerungsund geschichtslos auswirken, manchmal sogar als geschichten-los, insofern man den in den Geschichten erzählten Personen nicht wirklich begegnet, sondern sie eher [... ] instrumentalisiert« (Fuchs 2001:314).

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Teil V

Systematisch-theologische Konkretionen und Perspektiven

Wiederholung und Erinnerung sind dieselbe Bewegung, nur in entgegengesetzter Richtung. Denn was da erinnert wird, ist gewesen, wird nach rückwärts wiederholt, wohingegen die eigentliche Wiederholung nach vorwärts erinnert.

- S0fen Kierkegaard

10 Tradition als Erinnerung Nachdem nun immer schon in einem systematisch-theologischen Interesse wesentliche Theorien des kollektiven Gedächtnisses nachgezeichnet, eine biblische Spur der Erinnerungstheologie herausgearbeitet und anhand der Entwürfe von Walter Kasper und Johann Baptist Metz jüngere Ansätze einer Traditions- bzw. Erinnerungstheorie in ihrer Leistungsfähigkeit wie in den in ihnen zutage tretenden Desideraten dargestellt worden sind, gilt es nun, die Fäden des bisher Entwickelten zusammenzuknüpfen und die Grundzüge eines fundamentaltheologischen Verständnisses der Traditionsdynamik als inspirierte Erinnerung zu entwickeln. In einem gemeinsamen Aufsatz aus dem Jahr 2015 haben die beiden Jesuiten David Braithwaite und Gerald O'Collins ein erinnerungstheologisches Verständnis der Tradition im Blick auf Konzeptionen des kollektiven Gedächtnisses als theologisches Desiderat benannt. Ihre Gedanken dienen jetzt noch einmal dazu, das bisher Entwickelte zu rekapitulieren.

10.1 Tradition als kollektive Erinnerung Die beidenjesuiten entwickeln in diesem Kontext zwölf Perspektiven, die für eine zeitgenössische Traditionstheologie entscheidend sind und im Blick aufTheorien des kollektiven Gedächtnisses erfolgversprechend bearbeitet werden können. In ihrem Zusammenhang können sie in eine Traditionstheologie integriert S0Ien Kierkegaard: Die Wiederholung. Ein Versuch in der experimentierenden Psychologie von Constantin Constantius, in: ders: Die Wiederholung. Die Krise und eine Krise im Leben einer Schauspielerin (hrsg. v. Liselotte Richter), Hamburg 1991, S. 7.

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10 Tradition als Erinnerung

werden, die auf der Basis von Konzepten der kollektiven Erinnerung argumentiert. Sie zitieren eine ganze Reihe von Protagonisten der Theorie eines kollektiven Gedächtnisses (u.a. Jan Assmann und auch Paul Ricceur) und ver orten ihre Theorie so in einem breiten Konsens der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung. Sie setzen bei einigen versprengten Bezeichnungen der Tradition als Gedächtnis ein, die sie u.a. bei Yves Congar und Joseph Ratzinger 1 und schließlich auch an einer Stelle im Katechismus der Katholischen Kirche' ausmachen. Von der Aufnahme von Erkenntnissen der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung versprechen sie sich Fortschritte in der Theologie der Tradition und liegen damit grundsätzlich auf der Linie, die auch diese Arbeit verfolgt. Ihre zwölf Perspektiven seien hier kurz referiert, weil sie auch für die anstehende Systematisierung einige weitere Impulse liefern.

10.1.1 Perspektiven ei nes Traditionsverständnisses als kollektive Erinnerung

Ganz grundsätzlich ist für Braithwaite und O'Collins die Erkenntnis, dass sich angesichts der grundlegenden Sozialität von Menschen und in Rezeption der Theorien im Gefolge von Maurice Halbwachs von einer 1) sozialen Bedingtheit der Erinnerungen sprechen lässt, ohne deshalb gleich alle Erinnerung als ausschließlich sozial vermittelt verstehen zu müssen (vgl. BraithwaitelO'Collins 2015:36). Auf diese Schwierigkeit bei Halbwachs, aber auch bei Jan Assmann, hatte uns die Betrachtung der beiden Positionen schon hingewiesen. 10.1.1.1 Die Sozialität kommunikativen Erinnerns

Es wird noch einmal deutlich, wie wichtig es ist, die soziale und die individuelle Dimension des Gedächtnisses so aufeinander zu beziehen, dass das individuelle Gedächtnis nicht gewissermaßen nur noch als Funktion des kollektiven Gedächtnisses erscheint (diese Tendenz ließ sich ja sowohl bei Halbwachs als auch In Bezug aufRatzinger ist bereits im Kontext der Nachzeichnung der Offenbarungskonstitution des 11. Vaticanums auf dieses erinnerungstheologische Vokabular hingewiesen worden (vgl. Ratzinger 1967:522, dazu auch oben unter 2.6.2.3, S. 88). 2 Im Katechismus wird er Heilige Geist als »lebendige[s] Gedächtnis der Kirche« (vgl. KKK 1099) bezeichnet, ohne dass dies jedoch in einen systematisch-theologischen Zusammenhang gebracht worden wäre. 1

424

10.1 Tradition als kollektive Erinnerung

bei Assmann feststellen). Gleichzeitig muss dabei die konstitutive soziale Verwurzelung des individuellen Erinnerns deutlich herausgestellt werden. Kollektive Erinnerung kann dann als 2) ganzheitliches, umfassendes Phänomen beschrieben werden. Sie ist nicht ein rein noetischer Vorgang, sondern sie umfasst intellektuelle, emotionale, moralische und auch religiöse Rahmenbedingungen (oder Bezugsrahmen) menschlicher Existenz (vgl. BraithwaitelO'Collins 2015:34). Das entspricht dem umfassenden Verständnis von Tradition, wie es das 11. Vaticanum in DV 8 entwickelt (vgl. BraithwaitelO'Collins 2015:35). Die Traditionsdynamik von Dei Verbum ist bereits nachgezeichnet worden (vgl. oben, 2.6.2, S. 82-97). Darüber hinaus hat sich ein solches ganzheitliches und theologisches Verständnis der Erinnerungsdynamik auch im bibeltheologischen Durchgang noch einmal sehr deutlich herausarbeiten lassen (vgl. oben 5, S. 207-314, insbes. S. 308314). Auch der 3) Zusammenhang zwischen Identitätskonstitution und kollektiver Erinnerung ist für die beiden jesuiten insoweit relevant, als sie mit der menschlichen Suche nach Sinn zusammenhängen. Aus christlicher Perspektive gelte es hier, die ]esus-Erinnerung in ihrer Bedeutung als Sinnhorizont zu betonen 3 Neben der Frage nach Kontinuität und Identität stellt sich im Blick auf den Charakter der jesus-Erinnerung auch die Frage, wie die Paradosis-Dynamik als inhaltliche Mitte der Erinnerungstheologie des Neuen Testaments (vgl. oben 6.4, S. 292307) adäquat in ein erinnerungstheologisches Verständnis der Tradition als kollektive Erinnerung einbezogen werden kann, zumal diese Paradosis-Dynamik 3

Dieser erinnerte Sinnhorizont und seine Bedeutung für die Identität der Gruppe werde dann sowohl durch die ursprüngliche Jesus-Erinnerung (das apostolische Zeugnis) wie durch die historisch dem Heute näher stehende Erinnerungsfiguren (dabei denken sie insbesondere an Heilige und fiihren Franz und Clara von Assisi als Beispiel an) weitergegeben, womit sich die Frage nach dem Zusammenhang von Kontinuität und Identität stelle (vgl. Braithwaite/O'Collins 2015:35f.). Auch diese beiden Begriffe werden also im kommenden miteinander ins Verhältnis zu setzen sein, wobei durch die beiden untersuchten theologischen Positionen, insbesondere bei Walter Kasper schon deutlich geworden ist, dass es einem theologischen Traditionsbegriff gerade :»Iucht um Kontinuität, sondern um Identität« (Kasper 1970:174; Hervorh. AJ; vgl. dazu auch oben, 8.4, S. 362) geht. Damit ist der theologische Traditionsbegriff (wie der Begriff der kollektiven Erinnerung) stärker von der Frage nach der Identität her zu entwickeln als von jener der Kontinuität. Dabei gilt vielleicht schon ein Ausblick darauf, dass sowohl die Identität des Einzelnen wie auch jene der Kirche damit im Folgenden auf der Linie der Argumentation von Paul Ricceur im Sinne einer diskontinuierlichen Kontinuität gedacht werden soll. In einem solchen Verständnis können beide Momente in eine Dialektik von Identität (Einheit) und Kontinuität integriert werden, die sowohl für Maurice Halbwachs als auch für JanAssmann zentral ist.

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10 Tradition als Erinnerung

ja gerade nicht ein formales, sondern ein inhaltliches, konstitutiv auf die Erinnerungsnarrationen zu beziehendes Kriterium ist. In der vorliegenden Arbeit wird deshalb ein perspektivisches Verständnis der Paradosis-Dynamik und damit der ]esus-Erinnerung (vgl. unten 10.2.3.3, S. 466-467) im Sinne eines Leitparadigmas (Assmann nennt das ein heiligendes Prinzip) des kanonischen Gedächtnisses entwickelt. 10.1.1.2 Die Narrativität der Erinnerung

Wenn Braithwaite und O'Collins darüber hinaus betonen, dass Erinnerung einen 4) Bogen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft spannt und damit nicht ausschließlich als Blick in die Vergangenheit verstanden werden darf, sondern durchaus im Sinne einer christlichen Grundgespanntheit auf die Hoffnung hin als gegenwarts- und zukunfts orientiert, stellt sich damit die Frage nach der Kontinuität noch einmal anders, weil sie dann in diese umfassende geschichtliche Perspektive einbezogen ist. Diese Kontinuität werde durch Riten und Sakramente, in erster Linie durch die »Erinnerungszeremonien [commemorative ceremonies]« von Taufe und Eucharistie garantiert, an denen die Gläubigen in »ritueller Wiederholung [ritually reenacting]« teilhaben (Braithwaite/O'Collins 2015:36). Beides muss in einer theologischen Aneignung von Theorien des kollektiven Gedächtnisses eine zentrale Rolle spielen. Das leitet auch dazu über, dass diese kollektive Erinnerung für Braithwaite und O'Collins nicht in einem intellektualistisch verengten Sinn verstanden werden darf. Sie ist umgekehrt ohne ihre 5) »Körperlichkeit [bodily practice ]« nicht denkbar (Braithwaite/O'Collins 2015:36). Damit sind sowohl Frömmigkeitsgesten gemeint als auch die ganzheitlich-körperliche Erfahrung der Sakramente und der kirchlichen Feste. Bei all dem handelt es sich um Erinnerungsfiguren im Sinne von Halbwachs und Assmann. Wenn auch im Folgenden ein Fokus auf der Narrativität der Erinnerung (im Zusammenhang mit der narrativen Identität der Gläubigen und der Kirche) liegt, so wird doch zu zeigen sein, dass diese Narrativität nicht eine sprachliche Intellektualisierung bedeutet, sondern eine ganzheitliche Erzählwirklichkeit wie sie etwa ]ohann Baptist Metz in Bezug auf die Narrativität sakramentalen HandeIns (vgl. oben 9.3.6.1, S. 407-407) angedeutet hat. Als entscheidender Gegenpol zur Kontinuitätsleistung der Tradition bzw. der kollektiven Erinnerung bedarf die kollektive Erinnerung dann auch 6) der Revision und der Reform. Dafür scheint Braithwaite und O'Collins ein Kern-Schale-

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10.1 Tradition als kollektive Erinnerung

Modell, also die Differenzierung zwischen einem überzeitlich-unwandelbaren Inhalt und zeitangepassten Form, nicht mehr zeitgemäß. Vielmehr verstehen sie eine solche Revision »als Beitrag zu angemessener Stabilität, indem sie [die Revision] die apostolische Identität der Kirche zurückbringt [regaining] und erneuert [renewing]« (BraithwaiteIO'Collins 2015:38). Für ein solches innovatives Moment wird es entscheidend sein, den Gedanken der kontrapräsentischen Erinnerung in ihrem Zueinander zur fundierenden Erinnerung - die Mythomotorik (Jan Assmann) - genau zu bestimmen. Das bedeutet auch, das christologische Paradigma des theologischen Traditionsbegriffs (vgl. oben 2.6.1.6, S. 79-81) als Grundlage einer kontrapräsentischen Erinnerung herauszustellen 4 Als elementarsten und stabilsten Bezugsrahmen der kollektiven Erinnerung verstehen Braithwaite und O'Collins schließlich mit Halbwachs 7) Sprache und Schrift, weil Gruppen, die ihre Erinnerung kommunizieren wollen, immer auf Sprache und Schrift angewiesen sind und sich so an »herkömmliche semantische Rahmenbedingungen halten« müssen, um sich verständlich machen zu können (BraithwaiteIO'Collins 2015:38). Das bedeutet an dieser Stelle für die bei den jesuiten nicht nur, sich der jeweiligen Sprache der Erinnerungsgruppen bewusst zu sein, was ebenfalls ein wichtiger Punkt sein wird, sondern verbürgt darüber hinaus auch die grundsätzliche Bedeutung von Sprache und Schrift. So weisen die beiden jesuiten ausdrücklich darauf hin, dass ein Verständnis von Tradition als kollektive Erinnerung auch die besondere Bedeutung des Alten Testaments als Textkorpus beachten muss, die der neutestamentlichen jesusErinnerung den entscheidenden Rahmen verleiht. Neben vielen Versuchen, die Kanonwerdung des Neuen Testaments zu erklären, die bereits auf der Grundlage von Theorien des kollektiven Gedächtnisses argumentieren, ist für Braithwaite und O'Collins eine zentrale Leistung erinnerungstheologisch argumentierender Traditionstheologie, den konstitutiven Zusammenhang zwischen dem Kanon und der kollektiven Erinnerung zu beachten. Auf diesen Zusammenhang hat auch Halbwachs hingewiesen. Unter der von jan Assmann übernommenen Chiffre des kanonischen Gedächtnisses wird dies auch für das Folgende der zentrale Fokuspunkt sein. Auch in dieser Arbeit wird weniger der Prozess der Kanonwerdung im Fokus stehen als vielmehr die Bedeutung des biblischen Kanons (und anderer kanon4

Eine solche christologische und zugleich kontrapräsentische Fokussierung ließ sich ja besonders beim Verständnis der memoria passionis von Johann Baptist Metz hervorheben (vgl. oben 9.3, S. 391-409).

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10 Tradition als Erinnerung

artiger Sammlungen) in seinem Verhältnis zum kommunikativen Gedächtnis christlicher Erinnerungsgruppen. Dieses Zueinander soll in einem sehr grundsätzlichen Sinn - im Sinne des Verständnisses von Walter Kasper (vgl. oben 8.5, S. 367-372, insbes. S. 369) - als (direkte bzw. indirekte) Schrifthermeneutik verstanden werden, insofern der Kanon und die verschiedenen kanonartigen Sammlungen in Form eines Netzwerks nur in Abhängigkeit zum biblischen Kanon (als geheiligtem Bestand) und dem ihm zugehörigen (narrativen) Leitparadigma (dem heiligenden Prinzip) verstanden werden können. 10,1.1.3 Zwischen Vergessen und Zeugenschaft

Erinnerungstheologie setzt sich dabei auch immer 8) mit der Perspektive des Vergessens auseinander, die in einem erinnerungstheologischen Verständnis in ihrer konstitutiven Bedeutung für das Erinnern deutlich besser zur Geltung gebracht werden kann als unter dem Begriff der überlieferung. Schon Augustinus hatte dieses Verständnis des Vergessens als Ermöglichungsgrund des Erinnerns in seiner Phänomenologie des Gedächtnisses herausgestellt (vgl. oben unter 3.2.2.1, S. 123). Im Kontext eines Verständnisses der Traditionsdynamik als kollektives Gedächtnis in der Dialektik von Erinnern und Vergessen kann das Vergessen nicht mehr als Bruch einer linearen Kontinuität (im Kontext einer teleologisch gedachten Weiterentwicklung) und damit letztlich als negativ zu qualifizierender Traditionsbruch verstanden werden. Das Vergessen ermöglicht vielmehr eine Neuanordnung von Erinnerungsfiguren (angesichts des Leitparadigmas der kanonischen Erinnerung und im je konkreten Zusammenhang gesellschaftlicher Bezugsrahmen) bzw. von grundlegenden biblischen Metaphern, die so innerhalb der veränderten Bezugsrahmen eine neue emergente Sinnkonstitution ermöglichen (vgl. dazu die überlegung von Marianus Bieber zum Wesen der biblischen Metaphern, unten, 10.3.2.1, S. 478-480). Schließlich lässt sich in der Konstruktion eines kollektiven Gedächtnisses für die beiden Jesuiten Erinnerung als 9) Inzentiv für Nachfolge [emulationJ und Einsatz [commitment ] der Gläu bigen verstehen (BraithwaiteIO'Collins 2015:39). Diese Nachfolgedynamik lässt sich im Sinne der ganzheitlichen Oblatio als Folge der Paradosis-Dynamik (das hatte sich etwa im Blick auf das paulinische Verständnis von Taufe und Abendmahl ergeben, vgl. dazu oben Anm. 110, S. 299) und damit als Zeugenschaft der Einzelnen (vgl. dazu oben, 2.6.2.5, S. 91-95; ferner oben unter 2.7.3.3, S. 110) verstehen. Das ist dann wiederum mit dem Grundgedanken einer erinnernd-narrativen Identität der Kirche zusammen zu

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10.1 Tradition als kollektive Erinnerung

denken und auf die verschiedenen Bezugsrahmen zu übertragen, in denen sich die unterschiedlichen kirchlichen Erinnerungsgemeinschaften und auch die einzelnen Christen bewegen.' In den Texten des 11. Vaticanums (insbesondere in Ad Gentes' und der Liturgiekonstitution Sacrosanctum Concilium) sehen die beiden Jesuiten - auch wenn dies nicht expressis ver bis so formuliert ist - 10) die Tendenz zur Inkulturation des Evangeliums und damit einen grundsätzlich positiven Bezug auf andere kollektive Gedächtnisse, worin schon die Idee eines Erinnerungsdialogs kommunizierender Gedächtnisse angelegt ist, auch wenn Braithwaite und O'Collins diese Perspektive so nicht formulieren.

10.1.1.4 Pathologische Erinnerung und die Notwendigkeit der Reform Auch der Gedanke, dass es 11) toxische oder pathologische Erinnerung geben und das kollektive Gedächtnis der Kirche» unter solchen pathologischen Wunden leiden kann [can suffer from pathological wounds ]« (Braithwaite/O'Collins 2015:40), gehört für die beiden Jesuiten zur Leistungsfähigkeit eines erinnerungstheologischen Verständnisses der Tradition. Vor diesem Hintergrund betone das Okumenismusdekret des 11. Vaticanums die Möglichkeit und Notwendigkeit einer "Erneuerung der Kirche«, die wiederum »wesentlich im Wachstum der Treue gegenüber ihrer eigenen Berufung« besteht, worin schließlich auch der »Sinn der Bewegung in Richtung auf die Einheit« zu sehen ist (vgl. UR 6). Diese Möglichkeit der Heilung einer verletzten Erinnerung bedeutet dann auch, dass die Kirche »zu dieser dauernden Reform [perennern reformationern] gerufen [ist], deren sie allzeit bedarf, soweit sie menschliche und irdische Einrichtung ist« (UR 6). Eine solche Erneuerung der Erinnerung bedeutet, dass, wenn etwas »im sittlichen Leben [moribus], in der Kirchenzucht [ecclesiastica discipliBraithwaite und Q'Collins denken dabei auch an das Eräffnungskapitel des Dekrets über die Missionstätigkeit der Kirche :»Ad Gentes«, das Kirchenväterzitate im Sinne einer inzentiven Erinnerung als ,>Inspiration [inspire] und Anleitung [guide] für die missionarische Aktivität der ganzen Kirche« (Braithwaite/O'Collins 2015:39) verstanden werden könne. 6 So erblicken Braithwaite und O'Collins in der positiven Einstellung des Dekrets über die Missionstätigkeit in Bezug auf die Möglichkeit einer j>Bereitung für das Evangelium« (AG 3) eine grundsätzliche Wertschätzung anderer menschlicher Traditionen bzw. kommunikativer Gedächtnisse. So richtig und wichtig der Gedanke ist, dass das Verständnis der Tradition als kollektive Erinnerung (im Sinne insbesondere von Maurice Halbwachs) impliziert, dass (kirchliche) Erinnerungsgruppen sich prinzipiell im Rahmen eines kommunikativen und dialogischen Miteinanders verschiedener Gedächtnisgruppen bewegen, wie im Folgenden noch einmal deutlich herauszuheben ist, so erscheint zumindest auf den ersten Blick für ein solches Verständnis nicht das Missionsdekret der erste Anhaltspunkt zu sein. 5

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10 Tradition als Erinnerung

na] oder auch in der Art der Lehrverkündigung [doctrinae enuntiandae modo]die von dem Glaubensschatz [deposito fidei] selbst genau unterschieden werden muß - nicht genau genug bewahrt worden ist«, es "deshalb zu gegebener Zeit sachgerecht und pflichtgemäß erneuert werden« muss (vgl. UR 6). Das Okumenismusdekret eröffnet damit gerade im Blick auf das Verständnis der Traditionsdynamik als Erinnerung einen Spielraum der Neudeutung, soweit sie nicht das depostium fidei selbst betrifft. Es kann deshalb also nicht um eine Anderung des Glaubensschatzes der Kirche gehen, vielmehr aber um eine Refiguration ihrer Inhalte angesichts der Herausforderungen der Gegenwart. Besonders interessant - allerdings bei Braithwaite und O'Collins so nicht weiter verfolgt - ist die ökumenische Perspektive, die im Gedanken der Heilung verletzter Erinnerung7 steckt. Die ökumenische Sensibilität wird für das zu entfaltende Verständnis von Tradition als inspirierter Erinnerung und insbesondere die Perspektivität des Leitparadigmas der kanonischen Erinnerung ein zentraler Punkt sein. 10.1.1.5 Die Subjekte kollektiver Erinnerung Schließlich und endlich stellt sich für die beiden Jesuiten 12) die Frage nach dem Subjekt der Erinnerung, nach einem »transzendenten Selbst [transcendent self]«, das »dieses kollektive Bewusstsein und Gedächtnis ausübt [exercises]« (Braithwaite/O'Collins 2015:41). In der Tat ist die Frage nach dem Subjekt der Tradition, dem Subjekt (oder den Subjekten) der Erinnerung eine zentrale Frage. Wenn Braithwaite und O'Collins hier - angeregt durch das schon erwähnte Zitat aus dem Katechismus der Katholischen Kirche - an den Heiligen Geist als 7

Interessanterweise haben in ökumenischer Perspektive zum Refonnationsjubiläum 2017 die Evangelische Kirche in Deutschland und das Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz ein gemeinsames Wort gerade unter dem Titel »Erinnerung heilen - Jesus Christus bezeugen« herausgegeben und damit diesen Aspekt auch inhaltlich aufgegriffen. Der Gedanke einer Healing of memories - entlehnt vom Titel des Versähnungsprozesses in Südafrika nach Ende des Apartheid-Regimes - wird dort als ,>Prozess« verstanden, in dem die Beteiligten sich ,>für einen bestimmten Zeitraum [zu] regehnäßige[n] Begegnungen [verabreden], auf denen sie sich gegenseitig ihre Geschichten erzählen und so in ihre unterschiedlichen und oft gegensätzlichen Erinnerungslandschaften hineingehen« (DBK/EKD 2017:12). So :>:>hören und sehen sie mit den Ohren und Augen der jeweils anderen« und suchen :»gemeinsam nach Versöhnung« (DBK/EKD 2017:12). Insoweit lassen sich :»Prozesse der Erinnerung immer auch als Heilungsprozesse gestalten«, bei denen es zur :»Heilung von zerstörten Beziehungen, zur Heilung von schmerzenden Verletzungen und zur Heilung von den Traumata, die der Erinnerung übel mitspielen« kommt (DBK/EKD 2017:11).

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10.1 Tradition als kollektive Erinnerung

lebendiges Gedächtnis der Kirche denken, so ist die darin enthaltene pneumatologische Komponente des Erinnerns (bzw. der Tradition) zweifellos eine Zentralerkenntnis, die nicht nur Walter Kasper als entscheidenden Punkt einer zeitgemäßen Traditionstheologie herausgestellt hat (vgl. dazu oben 8.6, S. 373-375). Auch die Offenbarungskonstitution des 11. Vaticanums betont diese pneumatologische Dynamik der Tradition (vgl. dazu oben 2.6.2.3, S. 86-88). In jedem Fall muss also das Zueinander der Trägerinnen und Träger des kollektiven Gedächtnisses der Kirche zum Wirken des Heiligen Geistes geklärt werden. Allerdings soll in dieser Arbeit nicht das Verständnis des Heiligen Geistes als transzendentales Subjekt der Erinnerung und Tradition entworfen werden, um damit wieder gewissermaßen ein empirisch (oder geschichtlich) nicht rekonstruierbares Kollektivsubjekt zu behaupten (vgl. die Kritik bei Siebeck 2013:80). Vielmehr soll das Wirken des Heiligen Geistes in und an der Tradition (der kollektiven Erinnerung) gerade über ein Verständnis der Inspiration im Zusammenhang mit einem Grundverständnis kirchlicher Identität als narrativer Identität zu erfassen versucht werden (vgl. dazu unten, 10.3.2, S. 471-478). Die verschiedenen Subjekte und Kollektivsubjekte der Erinnerung müssen allerdings in ihrem kommunikativen Zueinander auch noch einmal sehr deutlich dargestellt werden. Ein ausschließlich pneumatologisches Verständnis der Tradition (als Erinnerung) im Sinne einer transzendentalen Subjektivität des Erinnerns scheint aber vor dem Hintergrund des bisher Entwickelten weder möglich noch wünschenswert zu sein. Vielmehr wird man auch hier sehr grundsätzlich an ein trinitarisches und kommunikatives Miteinander denken können. In Bezug auf die Gläubigen und/oder die Kirche ist ein charakteristisches Zueinander von Aktivität und Passivität des Erinnerns herauszustellen, das sich so nur innerhalb einer Erinnerungs- oder Traditionsdynamik als dialogische Wirklichkeit im Sinne des Entwurfs der Offenbarungskonstitution des 11. Vaticanums darstellen lässt.

10.1.2 Eine trinitätstheologische Annäherung an kollektive Erinnerung

Dieses Zueinander wird sich in einem ersten Zugang in einem trinitarisch konzipierten Traditions- und Erinnerungsverständnis (zur Möglichkeit und Notwendigkeit dessen vgl. Wiedenhofer 1992:507) - also in Bezug auf den göttlichen Dialogpartner der gott-menschlichen Erinnerungsdynamik - folgendermaßen systematisieren lassen.

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10 Tradition als Erinnerung 10.1.2.1 Gott-Vater als Garant fundierender Erinnerung und Mythomotorik

Der Vater ist in seiner (Bundes)Treue bleibender Garant des Ursprungs und damit auch der fundierenden Erinnerung. Dieser Schöpfungserinnerung ist eine grundlegende Universalität zu eigen. Der Vater begründet und eröffnet dem Menschen (allen Menschen) in der geschöpflichen Beziehung die dialogische und auf gegenseitige Verinnerlichung zielende Erinnerungsdynamik. Der Dialograum der Schöpfung ist so ein Dialograum wechselseitiger Erinnerung. der von Anfang an auch immer in einer charakteristischen Mythomotorik (also einem spezifisch dialogischen Zueinander von fundierender und kontrapräsentischer Erinnerung) steht. Gerade der Blick auf das Alte Testament hat ein solches Verständnis einer kreativen Schöpfungserinnerung (vgl. oben. 5.2. 6~237 S. 226 ) deutlich herausgestellt. Bei dieser Erinnerung geht es aber keinesfalls um eine bruchlose Vergegenwärtigung der Vergangenheit im Heute. sondern vielmehr um die Möglichkeit der Rückerinnerung und kreative Restituierung des Ursprungs angesichts der Bruchhaftigkeit der geschichtlichen Welterfahrung.

10.1.2.2 Der Sohn als Inbegriffvon Innovation und kontrapräsentischer Erinnerung

Der Sohn hingegen verbürgt die ewige Neuheit (Innovation) der Tradition (vgl. dazu etwa die überlegungen von Walter Kasper. oben 8.3 und 8.4. S. 351-366). weshalb auch die theologische Rede von der Innovation »christologisch angeschärft« (Knapp 2015:226) sein muss. Im Christusereignis erhält die ParadosisDynamik Jesu den entscheidenden Stellenwert. der als inhaltliche Mitte christliche Traditionen und Erinnerungsvollzüge durchformt und damit auch zum inhaltlichen Kriterium für legitime christliche Erinnerung wird. Dabei ist und bleibt natürlich zu beachten. dass diese Paradosis-Dynamik. die selbst in ihrem narrativen Wesen als Leitparadigma des (kanonischen) Erinnerns (Assmann: heiligendes Prinzip) der christlichen Tradition im Folgenden noch einmal eigens herauszustellen ist. nur auf der Grundlage des jüdischalttestamentlichen Kontextes überhaupt verstehbar wird. In ihrem Kern ist sie damit selbst die Auslegung eines unveräußerlichen Traditionsbestands. für den trinitarisch der Vater und die fundierende Erinnerung einstehen. Darin liegt dann auch ein bleibendes Verwiesen-Sein der christlichen auf die jüdische Erinnerung und auch in diesem Zusammenhang aus christlicher Perspektive eine

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10.1 Tradition als kollektive Erinnerung innere Dialognotwendigkeit begründet. Die Erklärung Nostra aetate des 11. Vatikanischen Konzils bezeichnet dies als das reiche »gemeinsame geistliche Erbe« von Christen und Juden, das nicht nur »Frucht biblischer und theologischer Studien sowie des brüderlichen Gespräches« ist, sondern auch eine bleibende Verpflichtung zu diesem Erinnerungsdialog zwischen Kirche und Israel bedeutet (NA 4). Nicht zuletzt liegt in der innovatorischen Q1lalität der Paradosis-Dynamik, wenn man sie etwa mit Johann Baptist Metz perspektivisch fokussiert im Sinne einer memoria pass ions versteht, ein beständiges Moment der Traditionskritik durch Erinnerung, die die fundierende Erinnerung (und damit letztlich auch die christliche Identität) immer wieder als kontrapräsentische Erinnerung infrage stellt und hinterfragt. 10.1.2.3 Der Geist und die Dialektik von Kontinuität und Identität

Durch diese christologisch verbürgte Infragestellung ist Erinnerung und christlicher Identität ein Wachstum oder eine Entwicklung ermöglicht, die nicht teleologisch präfiguriert ist und sich deshalb nicht im Sinne von logischen, satzhaften Schlussfolgerungen, sondern nur im Rückbezug auf das christologischinnovative Wachstum 8 als soziale Emergenz innerhalb der Kommunikationsvollzüge einer Erinnerungsgruppe verstehen lässt. Die im Kontext kommunikativer Erinnerungsvollzüge erreichte Emergenz ist es dann, die wieder pneumatologisch eingeholt und rekontextualisiert wird. Die spezifisch christliche Form der emergenten Entwicklung wird sich dann konstitutiv als (inspirierte) kommunikative Schrifthermeneutik verstehen lassen und damit ein weiteres wichtiges Desiderat des Traditionsverständnisses von Walter Kasper aufnehmen. 10.1.2.4 Emergenz und Entwicklung

Grundsätzlich bedeutet der Begriff der sozialen Emergenz, dass» beim Zusammenschluss von Komponenten [... ] zu einem System [... ] dieses System gänzlich neuartige, unerwartete Eigenschaften aufweisen kann, die von der Ebene der Komponenten her grundsätzlich unverständlich, unableitbar und unvorhersehbar sind« (Hoyningen-Huene 2007:191). Sie kann mit Niklas Luhmann im Sinne 8

Dahinter steht etwa die zentrale Erkenntnis, dass christliche Offenbarung ein j>Ereignis ist und damit etwas, das durch Sätze und Formeln immer nur bruchstückhaft abgebildet werden kann« (Tapp 2015:152). hn Gegenteil muss sich das Christentum »an Leben und Verkündigung Jesu orientieren« (Tapp 2015:152).

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10 Tradition als Erinnerung

der »Idee der Unvorhersehbarkeit kommunikativer Prozesse« (Lohse 2011:205) verstanden werden 9 Ein solches Verständnis der sozialen Emergenz erweist sich als anschlussfähig für eine Theorie des kollektiven Gedächtnisses!O, steht aber umgekehrt in der Gefahr - gewissermaßen durch die Hintertür - wieder eine ontologische ~ualität dieser Emergenz zu behaupten, sie dann theologisch zu subsumieren und einfach als göttliches Wirken im Rahmen der Erinnerung (als Heiliger Geist) zu verstehen. Es ist daher sehr deutlich das kommunikative Moment der Gruppenerinnerung zu betonen. Für ein kommunikationstheoretisches Verständnis des kommunikativen Gedächtnisses sollen deshalb zunächst kurz einige Gedanken von Bernhard Fresacher rekapituliert werden (der Gedankengang findet sich bei Fresacher 2006:304331), die deutlich die Begrenztheit eines kommunikationstheoretischen Ansatzes der Theologie herausstellen. So eignet sich nach Fresacher »[w]eder das subjektive Bewusstsein noch die Kommunikation [... ] zur theologischen Begründung des christlichen Glaubens«, weil gerade Kommunikation »auf ihre eigenen damit unerreichbaren Voraussetzungen in der Welt« (Fresacher 2006:333; Hervorh. AJ) verwiesen ist. Damit ist über ein kommunikationstheoretisches Verständnis also keine Eindeutigkeit zu erreichen, vielmehr besteht die »Realität der Kommunikation [... ] darin, dass sie die Realität mit ihren semantischen Strukturen vor Alternativen stellen kann, die man akzeptieren oder negieren kann« (Fresacher 2006:333). Von daher lässt sich ein kommunikatives Grundverständnis von Erinnerung (und damit von Theologie) mit einem linearen Verständnis von Dogmenentwicklung letztlich nicht vereinbaren. Wenn nun eine solche Entwicklung (mit Kasper) als Dogmenentfaltung bezeichnet und diese Entfaltung zudem als emergent beschrieben wird, ist aus fundamentaltheologischer Perspektive deshalb die Rekonstruktion einer Linearität Dabei werden j>Handlungen und Kommunikationsofferten des Einzelnen [ ... ] durch die im Nachhinein anschließenden Kommunikationsereignisse auf unvorhersehbare Weise strukturiert und sozial überrannt« (Lohse 2011:199; Hervorh. AJ) und sind (in diesem sozialen Zusammenhang) im Sinne einer Determination durch die Einzelnen nicht erklärbar. Der Kommumkationsprozess beeinflusst also j>immer wieder das vorherige [ ... ] und [übt] dadurch auch auf die Kommunikationsteilnehmer einen strukturierenden Zwang aus D«, der ,> Erwartungsstrukturen generiert, stabilisiert, irritiert oder verändert«, weshalb diese Kommunikationsstrukturen nicht als :>:>starr« verstanden werden können, sondern j>eine Art dynamische Stabilität auf[weisen]« (Lohse 2011:199). 10 Das gilt besonders, insofern es auf Durkheim zurückgeht und deshalb im Zusammenhang der Vorstellung eines kollektiven Bewusstseins auch das Verständnis kollektiver Erinnerung bei Maurice Halbwachs geprägt hat (vgl. dazu oben unter 4.1.2, S. 136). 9

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10.1 Tradition als kollektive Erinnerung

und die narrative bzw. argumentative Herstellung von Kohärenz eine immer wieder neue Aufgabe der professionellen Träger des kulturellen Gedächtnisses. Die Aufgabe des kirchlichen Lehramts lässt sich also letztlich nicht als Wahrung einer ungebrochenen Kontinuität, sondern als Kontinuitäts(re)konstruktion des kulturellen Gedächtnisses der Kirche verstehen. Dabei handelt es sich um eine je neue, aber eben wesentlich sekundäre Aushandlung zwischen kulturellen und kommunikativen Gedächtnissen. Das kommunikative Gedächtnis der Erinnerungsgruppen wie das kulturelle Gedächtnis des kirchlichen Lehramts werden hier im Plural verwendet, weil diese Aushandlung nicht ausschließlich auf der Ebene der Universalkirche geschehen muss, sondern dieses kommunikativaushandelnde Miteinander von kulturellem und kommunikativem Gedächtnis gerade die Vitalität des kollektiven Gedächtnisses ausmacht und sich auf der lokalen, regionalen, nationalen und der universalen Ebene ereignet, in denen je unterschiedliche Bezugsrahmen eine Rolle spielen. Ausgehandelt wird dabei stets innerhalb der Spannung von Identität und Kontinuität (vgl. dazu oben, 4.1.6, S. 142-148). Neben verschiedenen anderen Bezugsrahmen spielt besonders die Vernunft, der >>Vernunftrahmen« (vgl. Halbwachs 1925:382f. vgl. dazu auch oben, 4.1.6.1, S. 144) eine zentrale Rolle. Durch den Vernunftrahmen werden die sozialen Emergenzen auf die Entsprechung zur Paradosis-Logik als ihrem narrativem Kriterium hin befragt und dann rekombiniert und in eine neue (aber eben nur geschichtlich kontingente oder punktuelle) Logik reintegriert. Hierbei geht es aber nicht um eine konstruktivistische Beliebigkeit. Der Bezugsrahmen der Vernunft ist vielmehr eine »Instanz [... ], die es uns verwehrt, uns mit logischen Widersprüchen zufriedenzugeben und damit in unserem Denken der Beliebigkeit anheimzufallen« (Knauer 1984:207). Dadurch ist der Aushandlungsprozess gerade der Beliebigkeit entzogen und bleibt gleichzeitig auf die Paradosis-Dynamik als das narrative Leitparadigma der Erinnerung bezogen, das im Folgenden noch genauer inhaltlich zu bestimmen ist (vgl. unten 10.2.3.3, S. 466-467). Die in der kommunikativen Erinnerung der Erinnerungsgruppen verortete sozialeEmergenz und die vernunftgemäße Reintegration gemäß des narrativen Kanonprinzips der Paradosis-Logik - der »Fortschritt«, wenn man so will - muss also stets zwischen den kommunikativen Gedächtnissen und dem kulturellen Gedächtnis neu ausgehandelt werden. Jede Systematisierung kann dabei nur einen zeitbedingten Anspruch erheben, nicht aber zukünftige Auslegungsentwicklungen ausschließen oder verhindern. In diese Entwicklungsdynamik hinein gehärt deshalb ganz zentral der Geist

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10 Tradition als Erinnerung Gottes, der Paraklet, der an alles erinnert, was Christus gesagt und getan hat und zugleich den Reintegrationsprozess unterfasst, der dann im Rückblick betrachtet als Kontinuität (bzw. ihre Rekonstruktion) verstanden werden kann. Der Geist Gottes hält die Kirche durch sein Wirken durch die Inspiration der Schrift einerseits und der Erinnerungsgemeinschaften andererseits in einer diskontinuierlichen Kontinuität, die sich im charakteristischen Zueinander eines aktiven und eines passiven Moments paradigmatisch sowohl in den sakramentalen Vollzügen der Kirche wie in der Schrifthermeneutik ereignet. Angesichts dieser Grundperspektiven eines Verständnisses von Tradition als kollektiver Erinnerung gilt es nun, einen fokussierten Blick auf die einzelnen Ebenen, Träger und Strukturen des Erinnerns zu werfen im Sinne einer fundamentaltheologischen Aneignung zentraler Begriffe des Erinnerns.

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10.2 Ebenen, Träger und Strukturen der Erinnerung

10.2 Ebenen, Träger und Strukturen der Erinnerung Die Theorien des kommunikativen (und damit auch des individuellen), des kulturellen und des kanonischen Gedächtnisses bieten in ihrer Differenzierung und in ihrem Zueinander eine analytische Tiefenschärfe, die Tradition als Phänomen innerhalb von kommunikativen und dialogischen Vollzügen verstehbar werden lässt. In diesem Zusammenhang können auch Aktivität und Passivität des Erinnerns aufeinander bezogen werden. Die Frage nach den Trägern der Tradition, die sich für die moderne Traditionstheologie insbesondere stellt, muss deshalb nicht einfach mit dem Kollektivsubjekt der Kirche beantwortet werden, die dann einzig in der Differenzierung zwischen Lehramt und Gläubigen (wobei beide letztlich als Abstrakta erscheinen) zu denken wäre, sondern erlaubt eine Differenzierung entlang der jeweiligen Bezugsrahmen. Das Wurzelphänomen der kommunikativen Erinnerung ist die individuelle Erinnerung. 10.2.1 Individuelles Gedächtn is

Das individuelle Gedächtnis wurde schon bei Platon ursprünglich von der Metapher der Wachstafel her entwickelt und bedeutet bei ihm zunächst das Einprägen von Gedächtnisinhalten (vgl. oben 3.1.2, 5~119 S. 115 ). Zusätzlich erscheint das Gedächtnis jedoch im Rahmen der platonischen Anamnesis-Lehre zugleich als inner seelisch-reflexiver lebenslanger Bildungs- und Ausprägungsprozess, der zwar von äußeren Reizen und Objekten angestoßen, aber nicht von ihnen (insbesondere nicht von schriftlichen Zeugnissen) abhängig ist. Erinnerung erscheint - und das ist bleibend grundlegend - zunächst als innerlicher Prozess, als anamnetischer Selbstreflexionsprozess, der sich in einem äußeren Rahmen vollzieht. So ist die Anamnesis zugleich ein Prozess des zunehmenden Einstimmens des Einzelnen in die als umfassend gedachte »Wirklichkeit« der ewigen, unwandelbaren Ideen. Schon bei Platon ist also das Erinnern zwar ein primär individueller Prozess, steht aber unauflöslich in einem größeren Rahmen. Augustinus entwickelt in theologischer Aneignung und Weiterentwicklung der platonischen Gedanken - ausgehend von der Metapher des Magazins - ein dialektisches Verständnis, das sowohl eine überindividuell und übergeschichtlich vorgeprägte anamnetische Erinnerung kennt als auch eine geschichtlich geprägte Erinnerung des Einzelnen an das Handeln Gottes in der eigenen Lebensbiographie (vgl. oben 3.2, S. 120-129). Nur durch das konkret geschichtlich

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10 Tradition als Erinnerung

verfasste Gedächtnis (und nicht übergeschichtlich-ideal) kann sich der Mensch für Augustinus zur anthropologisch-grundgelegten Sehnsucht nach Glück und Wahrheit verhalten. Dabei wird das Gedächtnis zum Ort einer verwandelnden Gotteserfahrung in der Selbsterkenntnis, weil Erinnern nur in der Dialektik von Erinnern und Vergessen möglich ist, die man deshalb seit Augustinus als Grunddynamik des Gedächtnisses verstehen kann. Schon das bedingt einen zeitlichgeschichtlichen Zugang zur Wirklichkeit, in dem Erinnern zum reflexiven Selbstund Grundvollzug des Geistes wird, aus dem heraus sich für Augustinus sogar die Zeit struktur der Wirklichkeit erklären lässt. Eine theologische Aneignung des individuellen Gedächtnisses wird dieses also nie ausschließlich als Magazin oder Speicher von Erinnerungsbildern verstehen können, sondern stets die Reflexivität des Gedächtnisses herausheben müssen und es damit wesentlich als autobiographisches Gedächtnis verstehen. Zugleich gilt damit, dass dieser selbstreflexive Vollzug dann als Ort der Gottesbegegnung in der eigenen Lebensgeschichte verstanden werden kann und muss. ll 10.2.1.1 Narrative Struktur und soziale Verwiesenheit des Erinnerns

Für Paul Ricceur liegt die Eigentümlichkeit des Erinnerns gerade in der Gewissheit des Wiedererkennens von etwas (im geschichtlichen Abstand eigentlich) Abwesendem. Wie Platon und Augustinus versteht er das Gedächtnis als reflexive Instanz im Menschen, die sich sowohl auf einzelne Erinnerungsinhalte wie auf das erinnernde Subjekt zurück bezieht, was er anhand des Sprachgebrauchs des Sich-erinnerns verdeutlicht. Von daher kommt der individuellen Erinnerung ein narrativer Grundzug zu, der sich deshalb auch mit Erinnerungen anderer auseinander setzen kann und durch diesen kommunikativen und narrativen Zugriff auch für ein kollektives Gedächtnis als narratives Gedächtnis offen ist (vgl. oben 4.4, S. 189-197). Mit Harald Welzer lässt sich ausgehend von der Differenzierung zwischen dem sozialen, autobiographischen und kommunikativen Gedächtnis dieser Zusammenhang zwischen der Narrativität des individuellen Gedächtnisses und seiner sozialen Einbettung noch genauer beschreiben (vgl. oben 4.3, S. 182-188). Es ist gerade das soziale Gedächtnis, das es erlaubt, Erinnerungsinhalte und Erinnerungsbilder in ihrer jeweiligen (narrativen) Struktur zu Anknüpfungspunkten eigener Erinnerungserzählungen zu machen. Dabei handelt es sich für Wel11

Für Augustinus findet in diesem Sinne die Unergründlichkeit des Gedächtnisses eine Entsprechung der Schäpfung im hmeren des Menschen (vgl. Aug. conf. X,S).

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10.2 Ebenen, Träger und Strukturen der Erinnerung

zer um einen zirkulären Vorgang. Angesichts des im sozialen Gedächtnis angelegten Materials muss die Praxis des konversationalen Erinnerns erlernt werden, die letztlich zu der Erkenntnis der Grundstruktur (etwa von Anfang, Mittelteil, Schluss) von Narration, gerade auch biographischer Narration, führt. Dieser Lernprozess wird in erster Linie durch das autobiographische Gedächtnis geleistet, das als funktionales Metasystem zu verstehen ist und sich in sozialen Interaktions- und Kommunikationsprozessen bildet. Dieser Lernprozess umfasst nicht nur Gedächtnisinhalte. Auch das autobiographische Gedächtnis selbst als System, das in seiner Struktur die Gedächtnisinhalte organisiert, unterliegt sozialer Formung. Es verbürgt für den Einzelnen die Kontinuität mit sich selbst (im Sinne einer durch Erzählung konstruierten Kontinuität) und leistet die beständige Synchronisation und Harmonisierung zwischen der Autonomie auf der einen und der sozialen und körperlichen Abhängigkeit auf der anderen Seite. Das entspricht der Vorstellung von einer diskontinuierlichen Kontinuität, die für Paul Ric02ur das Charakteristikum der narrativen Identität des Menschen ist. Diskontinuierliche Kontinuität vermittelt beständig zwischen der Idem- und der Ipse-Identität, was insbesondere anhand von Literatur und anderen Traditionsinhalten geschieht, die der narrativen Identität in großer Variation je eine neue Selbst-Erzählung und ein neues Selbst-Verständnis ermöglichen (vgl. oben 4.4.2, S. 191-193)12 Dieser Prozess führt dann schließlich dazu, dass man im Gefolge von Paul Ric02ur von einem Ineinander-Verschränktsein von Erzählungen, Lebensgeschichten und Erinnerungen sprechen kann, die sich gerade angesichts ihres Kontrastes untereinander ergänzen. Dieser Prozess ist im umfassenden Sinn als Bildung zu verstehen, der es nicht um eine funktionale Aneignung von Kenntnissen und Fähigkeiten für eine konkrete Problemlösung, sondern um die Bildung und Entfaltung des Einzelnen geht. Dazu verhilft der Selbstvollzug der Erinnerung, der aufgrund seiner sozialen Einbettung immer schon sowohl mit autobiographischen Erinnerungen als auch mit Versatzstücken und Medien des kulturellen Gedächtnisses konfrontiert ist. Seinen Ausgangspunkt nimmt dieser Bildungsprozess innerhalb der familiären Kommunikations- und Sozialisationsstrukturen (in der Sozialisation), kon12

Hierin liegt neben der bei Welzer zur Geltung kommenden Verwiesenheit auf das soziale (oder kommunikative) Gedächtnis auch schon eine Verbindung des individuellen Gedächtnisses mit dem kulturellen Gedächtnis bzw. richtiger mit kulturellen Gedächtnissen. Diese stellen je eine kanonische Sammlung identitätsprägender und deshalb klassischer Schriften zur Verfügung, durch deren Aneignung es immer wieder zu einer neuen Verhältnisbestimmung zwischen beiden Dimensionen der Identität kommt.

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10 Tradition als Erinnerung

kret im sogenannten memory talk, der schon im Kleinkindalter im Rahmen des kindlichen Spracherwerbs seinen Ausgangspunkt nimmt und als »konversationales Erinnern« (Welzer 2002: 16) lebenslang fortgesetzt wird. Hier liegt die Wurzel der elementaren Verbindung von Sprache und Erinnerung, weshalb auch für die Strukturierung und Erzählung der Erinnerung der Sprache eine zentrale Bedeutung zukommt. Jede Sprache wiederum besitzt ihre je eigene spezifische Logik. Individuelles Erinnern ist deshalb aus dem Sozialisationsprozess heraus immer schon sprachliches Erinnern, das die Sinneseindrücke und Erinnerungsbilder sprachlich rekonfiguriert. Gleichzeitig vollzieht sich in der Sozialisation die soziale Synchronisation des Kindes mit seiner sozialen Umwelt bzw. mit dem Plural seiner sozialen Kontexte, die sich ja auch jeweils durch ein eigenes sprachliches Repertoire der Erinnerung auszeichnen. Sozialisation geschieht dadurch, dass das Kind an sozialen Handlungsabläufen teilnimmt, deren vollständiger Sinn sich ihm verschließt, der also einen Sinnüberschuss bietet. Der übergang von periodischer Erinnerung zu autobiographischem Erinnern vollzieht sich innerhalb eines umfassenden kommunikativen Prozesses, in dem (erwachsene) Bezugspersonen kindliche Berichte über Erlebtes (im Blick auf das darin relevant Berichtenswerte) formen und bestätigen. Dadurch wird die narrative Strukturierung der berichteten Ereignisse und damit schließlich auch jene des autobiographischen Gedächtnisses eingeübt 13 Insofern gilt für Harald Welzer, dass sich die Entwicklung des Gedächtnisses gerade vom Sozialen zum Individuellen bewegt. Es gibt also kein individuelles Gedächtnis als erzählendes, autobiographisches Gedächtnis, das nicht schon (im Prozess der Sozialisation) eine Formung durch interaktionale und kommunikative Prozesse erfahren hätte und deswegen gerade als individuelles Gedächtnis sich im Rahmen sozialen Erinnerns vollzieht. Eine solche Zuordnung verdeutlicht, dass im Kontext der Sozialisation nicht nur fundierende Erinnerungen eine zentrale Rolle spielen, sondern der Einzelne auch das autobiographische Erzählen einübt, das wiederum dann die sozialen Bezugsrahmen prägt, in denen sich der Einzelne bewegt. Mit Welzer ist also das individuelle Erinnern, das sich zur autobiographischen Selbstäußerung der kulturellen Deutungsmuster und der Erzählungen des kulturellen Gedächtnisses bedient, und damit auch der Mensch selbst von diesem grundlegenden Sozialisationszusammenhang her 13

Sozialisation vollzieht sich dabei natürlich nicht in einem statischen Zusammenhang, sondern im Kontext einer ständig sich verändernden Welt.

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10.2 Ebenen, Träger und Strukturen der Erinnerung

gewissermaßen als Schnittstelle in einem Netzwerk zu verstehen. 10.2.1.2 Narratives Erinnern und Wahrhaftigkeit

Im kommunikativen Gedächtnis schließlich wird diese autobiographisch eingeübte Narrationslogik im sozialen Miteinander ausgelebt. Dabei werden nie narrative Versatzstücke unverändert weitergegeben, vielmehr werden sie - in der Situation der Kommunikation mitunter unbewusst - nach den (kulturell) erlernten Logiken ergänzt mit dem Ziel, Kohärenz zu erzeugen. Ein kommunikatives Gedächtnis greift deshalb nie auf objektiv vorhandene Gedächtnisinhalte zurück, sondern verlebendigt das Vergangene, sodass es nicht bleibt, was es war. Mit dieser grundlegenden Narrativität des Gedächtnisses stellt sich dann aber auch die Frage, ob Erinnerung nicht zu bloßer Fiktion wird. Mit Paul Ricceur lässt sich die Wahr heit der Erinnerung zunächst als im Akt der Setzung und damit der sich selbst auf diese Erinnerung verpflichtenden Treue des Erinnernden (zu sich selbst) verstehen, durch die eine andere Wahrheit (im Sinne von Wahrhaftigkeit) erzeugt wird als durch reine Fiktion. Die Wahrheit der Erinnerung ist also in der narrativen Struktur als Selbstverpflichtung auf diese Erinnerung (als für den Erinnernden identitätsstiftendes Moment) zu verstehen, was jedoch keine letzte Verlässlichkeit beanspruchen kann und deswegen in den Dialog mit einer historischen Kritik treten muss. Der »Wunsch des Gedächtnisses nach Treue« und das »Streben der Geschichte nach Wahrheit« (Ricceur 2002:14) ergänzen sich gegen sei tig. Ein individuelles wie auch ein kollektives Gedächtnis ist also, wenn es nicht nur nach Wahrhaftigkeit (also Treue zu sich selbst), sondern nach (historischer) Wahrheit der Erinnerung strebt, auf eine kritische Instanz angewiesen. Im Blick auf ein individuelles Gedächtnis drängt sich dabei natürlich nicht in erster Linie eine ausdrücklich historische Instanz auf, vielmehr ist das individuelle Gedächtnis immer schon auf den Dialog mit anderen Gedächtnissen verwiesen, die ihm zu einem solchen kritischen Korrektiv werden. Im Kontext der Sozialisation hat Harald Welzer bereits auf das konstitutive Zueinander von (erwachsenen) Begleitern und dem sich sozialisierenden Kind hingewiesen. Ein individuelles Gedächtnis ist also immer einerseits auf die narrative Infragestellung durch andere Gedächtnisse verwiesen und andererseits auf kritische Befragung im Hinblick auf die Kohärenz des eigenen Erzählens. Ein solches Korrektiv liegt normalerweise im sozialen Nahraum von Familie und Freunden vor.

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10 Tradition als Erinnerung

Das dialogische Zueinander zu einem solchen Korrektiv muss dann im Blick auf kollektive Gedächtnisse noch einmal anders verstanden werden. Auch kollektive Gedächtnisse bedürfen um ihrer Wahrheitsfähigkeit willen grundlegend eines Erinnerungsdialogs mit anderen Gedächtnisgruppen, während schließlich sowohl beim kollektiven wie auch insbesondere beim kulturellen Gedächtnis sehr deutlich eine historisch-kritische Instanz in einem wissenschaftlichmethodischen Sinn nötig ist. 10,2,1.3 Elemente einer theologischen Aneignung

Wenn erinnerungstheologisch von der Traditionsdynamik gesprochen wird, so muss in theologischer Perspektive dieses konstitutive Zueinander von kollektiver und individueller Erinnerung beachtet werden. über die vermeintlich triviale Feststellung hinaus, dass Erinnerung wie Tradition nicht individuell möglich sind, sondern der fundierenden wie der infrage stellenden Erinnerungskommunikation mit anderen bedürfen, ist der Dialog mit Andersdenkenden bzw. Anders-Erinnernden innerhalb der großen Erinnerungsgemeinschaft der Kirche und jener der Gesellschaft gerade im Sinne der eigenen Erinnerung konstitutiv. Vor diesem Hintergrund kann Kirche also gar nicht als undifferenzierte Gedächtnisgemeinschaft oder als transzendentales Subjekt der Erinnerung gedacht werden, weil diese Erinnerung als kommunikative Erinnerung gerade des Dialogs zwischen einzelnen Erinnernden wie zwischen Erinnerungsgruppen bedarf. Erst innerhalb dieser Dialoge, die sich übrigens - darauf hatten Gerd Sebald und Jan Weyand in besonderer Weise hingewiesen (vgl. oben 4.5, S. 198203) - nicht nur in Narrationen sondern auch in Diskursen vollziehen können (vgl. Sebald/Weyand 2011:185), erlangt das Erinnern seine Wahrheit. Zusätzlich ist dabei gerade im Blick auf die religiöse Erinnerungssozialisation bedeutsam, dass in der heutigen Gesellschaft nicht wie früher von einem selbstverständlichen Zueinander der Generationen in der Struktur von Großfamilien ausgegangen werden kann. Das Zueinander der Generationen ist heute vielmehr dynamisch und deshalb - mit Ausnahme des Sozialisationsprozesses - durch eine gleichberechtigte Dialogizität der Generationen geprägt. Sowohl die inter- wie auch die intragenerationelle Kommunikation, die vermehrt innerhalb von Peergruppenlogiken der gesellschaftlichen Milieus funktioniert, hat sich deutlich verändert und pluralisiert. Nicht zuletzt durch die Möglichkeiten digitaler Kommunikation und digitaler Erinnerung ist ein grundlegender Wandel festzustellen. Wenn also von theologischer Seite auf die Bedeutung dieser

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10.2 Ebenen, Träger und Strukturen der Erinnerung

Peergruppen und Milieus verwiesen wird, so wird damit deutlich, dass sich innerhalb dieser sozialen Bezugsrahmen natürlich auch Glaubenskommunikation und -erinnerung verändert, was für Theologie und Verkündigung neue Herausforderungen bereithält. Es scheint jedoch, dass Theologie und Verkündigung gerade die Bedeutsamkeit des Sozialisationszusammenhangs für die religiöse Sozialisation zunehmend außer Acht lassen. Gerade diese ist aber für die Ausbildung der Semantik wie der Syntax des Erinnerns zentral und sollte deshalb auch von Theologie und Pastoral stärker fokussiert werden. Das bedeutet besonders eine erhöhte theologische Aufmerksamkeit für den Primärbereich der Familie, verbunden mit pastoralen Angeboten zu einer (neuen) religiösen Sprach- und damit Erinnerungsfähigkeit nicht nur der Kinder, sondern auch der Eltern und der ganzen Familie. Dies ist ein Erfordernis, das sich angesichts der Pluralisierung und Entobligationierung des Religiösen stellt, weil religiöse Narrationen in ihrer lebensgeschichtlichen Relevanz nicht mehr selbstverständlich einen hervorgehobenen Platz einnehmen. Erst eine solche neue Sozialisation (die in Pastoral und Verkündigung mit dem Begriff der Mission!4 bzw. der [Neu]Evangelisierung!5 bezeichnet werden) ermöglicht den Einzelnen dann eine neue Anknüpfung an Erinnerungsfiguren des kommunikativen und kollektiven Gedächtnisses. Deshalb bedarf es auch neuer Formen religiöser Sozialisation in Lebensphasen jenseits der Kindheit, weil die in der (kindlichen) Sozialisation erlernte AnnäheSie soll hier verstanden werden im Sinne dessen wie Papst Franziskus sie in seiner Enzyklika Evangelii Gaudium dadurch charakterisiert, j>allen das Leben Jesu Christi anzubieten« (EG 49) und zwar insoweit dort gerade die j>Bedeutung des Kontextes als Ausgangspunkt für die Aufgabe der Verkündigung des Evangeliums« (FitzGerald 2015:93) herausgehoben wird. 15 In Bezug auf diesen, besonders in den Pontifikaten von Johannes Paul 11. und Benedikt XVI. verwendeten Begriff sind gerade die kritischen Anmerkungen von Fresacher zu beachten, insofern bei der Verwendung dieses Begriffs von einer :»Säkularisierungsthese« ausgegangen wird, die man als ,>zu undifferenziert und einseitig« bezeichnen muss (Fresacher 1996:46). Diese geht - so Fresacher - ,>von einem stetigen Verdünnungsprozeß des Christentums ausD, als dessen Tiefpunkt der Staatskommumsmus und nach dessen Zusammenbruch vor allem der Konsumismus und der Individualismus betrachtet werden« (Fresacher 1996:46). Andererseits geht die lehramtliche Verwendung des Begriffs in der Regel von der ,>Vorstellung vom drohenden Abreißen des Traditionsfadens« aus, die ,>einseitig auf die Weitergabe und Vermittlung bezogen [ist], ohne das Moment der Aneignung und die Notwendigkeit neuer Ilmalte genügend zu bedenken« (Fresacher 1996:61). Insofern ist es interessant, dass Papst Franziskus die Mission als Evangelisierung versteht und dabei, indem er das ,>,Neu-( weg[lässt]« einen ,>neuen Schwung und eine Neuausrichtung der Evangelisierung durch die (römisch-katholische) Kirche in der heutigen eins werdenden und doch so zerrissenen Welt« (Zulehner 2015:44) intendiert. 14

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rung an klassische oder kanonische Texte im Sinne einer Bildung und Neubeschreibung des Ich natürlich auch religiöse Texte und Erinnerungsfiguren nicht ausnimmt, auch wenn selbst im Kindesalter keine religiöse Sozialisation stattgefunden hat. Dabei müssen Kirche und Theologie einer solchen Annäherung an Texte und Erinnerungsfiguren der christlichen Tradition (im Sinne der eigenen Identitätsbildung) nicht per se eine Patchwork-Mentalität unterstellen. Vielmehr liegt ja in der (noch auszufaltenden) Vorstellung von der Inspiration kanonischer Texte und ihrer Leser wie in der metaphorischen Eigenart biblischer Sprache die Möglichkeit eines hermeneutischen Umschlags (Gadamer) beim Einzelnen, der einen solchen Identitätsbildungsprozess in einen religiösen Sozialisationsprozess oder eben mystagogischen Prozess!6 wandelt. Den kindlichen religiösen Sozialisationsprozess ergänzen also (erwachsene) religiöse Sozialisationsprozesse, die höchst individuell sind und zunächst und grundsätzlich vom Interesse der eigenen Identitätsnarration und -bildung ausgehen (vgl. dazu oben, 2.1.2, S. 30-32). Im Blick auf diese autobiographische Verfasstheit des individuellen Gedächtnisses und ihrem konstitutiven Einbezogensein in soziale Gruppen und Kommunikationszusammenhänge wird eine Traditionshermeneutik, die erinnerungstheologisch argumentiert, besonders auch das individuelle Gedächtnis als Trägerinstanz der Tradition innerhalb des gott-menschlichen Dialograums der Erinnerungsdynamik ernst nehmen. Gerade die Identitätsrelevanz der Erinnerung ist es, die im Kern der biblischen Erinnerungstheologie entspricht, dass nämlich Erinnerung (oder Tradition) nicht eine äußere Verpflichtung oder die Observanz von Regeln und Riten bedeutet, sondern konstitutiv im Kontext eines personalen und gegenseitigen Verinnerlichungsprozesses steht. Im Sinne einer narrativen Theologie bedeutet dies, dass die identitätsrelevanten religiösen Fundierungserinnerungen mit den lebensgeschichtlichen Erinnerungen im individuellen Gedächtnis des Einzelnen dermaßen verwoben sind, dass der (religiöse) Mensch seine Identität in der Selbstreflexion gewissermaßen (nur) mithilfe seiner religiösen Erinnerung (den Traditionsinhalten, Erinnerungsbildern und Erinnerungsfiguren) erzählen oder entwerfen kann. Damit gilt es aber eben auch, lebensgeschichtliehe Theologie als individuelles Zeugnis des Einzelnen ernstzunehmen und in ihrer theologischen Relevanz zu erkennen - eine Forderung, die schon Johann Baptist Metz angesichts der Narrativität der Erinnerung herausgestellt hat (vgl. oben 9.3.6, S. 406-408) und die derzeit zumeist unter dem Stichwort der 16

Vgl. dazu ]aklitsch 2012:252-272.

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10.2 Ebenen, Träger und Strukturen der Erinnerung Leutetheologie diskutiert wird.

10.2.2 Kollektives Gedächtnis

In der Ausfaltung der sozialen Verwiesenheit des autobiographischen Gedächtnisses des Menschen ist der übergang vom individuellen zum kollektiven Gedächtnis eigentlich schon geschehen. Hier gilt es noch einmal, die Gedanken insbesondere von Maurice Halbwachs in einer theologischen Vertiefung zu rekapi tulieren. Der entscheidende Begriff bei Halbwachs, der Erinnerung grundlegend als gemeinsame Erinnerung einer Gruppe von Menschen versteht, ist der des sozialen Bezugsrahmens [cadre (social)]. Es ist also zwar immer der einzelne Mensch, der Subjekt von Gedächtnis und Erinnerung bleibt, jedoch tut er dies in der durch die Sozialisation erworbenen Verwobenheit in Abhängigkeit von verschiedenen sozialen Bezugsrahmen. Außer im Traum ist für Halbwachs das Vergangene selbst nicht in der Erinnerung erhalten, sondern wird von der Gegenwart aus rekonstruiert. Die Vergangenheit (als narrative Vergegenwärtigung des Vergangenen) entsteht - wie Jan Assmann noch einmal deutlich hervorhebt - erst durch diesen aktiven erinnernden Rekurs auf ein zunächst unbestimmtes Gestern. Während eine (präreflexive ) Zugehörigkeit zu einer Erinnerungsgruppe (oder auch zur Gesellschaft) zunächst das handlungsleitende Selbstbild wenig betrifft, entsteht kollektive Identität (wie die Bildung individueller Identität) durch reflexive Teilhabe, das Bekenntnis zu einer Gruppenidentität und damit durch bewusste Auseinandersetzung des Einzelnen mit dieser Gruppe im fortgesetzten Prozess der Sozialisation. In der Angewiesenheit auf bewusste und reflexive Träger zeigt sich auch, dass ein kollektives Gedächtnis seine Mitglieder gerade nicht von außen auf eine Erinnerung und Identität verpflichtet, sondern diese immer wieder kommunikativ, narrativ und diskursiv neu rekonstruiert wird. Jan Assmann verwendet dafür das Bild eines Immun- oder Identitätssystems der Gruppe (vgl. Assmann 1992:140), innerhalb dessen soziale Identität durch Interaktion aufgebaut und reproduziert wird. Diese Rekonstruktion geschieht in kommunikativen Vollzügen bzw. Narrationen, die auf individuelle Erinnerungen zurückgreifen und sie miteinander ins Gespräch bringen. Eine grundlegende Voraussetzung dafür ist, dass bestimmte Artefakte der Vergangenheit noch zugänglich sein müssen und zugleich eine charakteristische Differenz zum Heute aufweisen. Insofern kann man kollektive Erinnerung nicht als einen bloßen Konstruktivismus bezeichnen, weil sie

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10 Tradition als Erinnerung

sich auch auf Erinnerungsobjekte bezieht. Trotzdem ist dieses Erinnern aber eine kreative Rekonstruktion im Heute angesichts sozialer Bezugsrahmen. Ein solcher Rahmen darf nicht hermetisch und auch nicht ausschließlich im Singular verstanden werden. Es gibt nicht nur eine Vielzahl solcher Bezugsrahmen und damit zu jedem Bezugsrahmen (zumindest prinzipiell) auch ein »Außerhalb«. Gemeint sind vielmehr auch gemeinsam geteilte Referenzrahmen. Der Einzelne und auch das einzelne Gedächtnis kann am sinnvollsten als Schnittpunkt seiner sozialen Referenzrahmen verstanden werden. Halbwachs versteht dies grundsätzlich von kommunikativen Gruppen oder gesellschaftlichen Primärgruppen her, in denen die Mitglieder prinzipiell in einem Nahbereich miteinander von Angesicht zu Angesicht in Kommunikationsprozessen stehen. Das bedingt, dass das kommunikative Gedächtnis sich im Wesentlichen auf den Rahmen der biographischen Erinnerung beschränkt und damit auch auf die eigenen Erfahrungen mit ihren spezifischen Rahmenbedingungen. Dieses kommunikative Erinnern fokussiert sich dabei auf die jüngere Vergangenheit von etwa 80-100 Jahren, in der noch eine (direkte) intergenerationelle Erinnerungskommunikation (also ein Rahmen von maximal 3-4 Generationen) möglich ist. Man wird heute eine derart konstruierte interaktionszentrierte Gedächtnistheorie modifizieren müssen, weil die Erkenntnisse - so grundlegend sie insbesondere in einer theologischen Perspektive im Blick auf kirchliche Gemeinden und Gemeinschaften bleiben - nur mühsam auf Institutionen und Organisationen übertragbar sind, die über eine andere Kommunikationsstruktur verfügen. Aus theologischer Perspektive gilt dies nicht nur für das Zueinander von kirchlichen und gesellschaftlichen Organisationsformen, sondern gerade auch für das Zueinander der unterschiedlichen Ebenen kirchlicher Gemeinschaft (Familie, Gemeinde [gruppen J, Pfarrei, Dekanat, Bistum [Teilkirche J, Kirchenprovinz, Kirchenregion, Bischofskonferenz, Universalkirche).17

17

Von daher stellt sich in einer erirmerungstheologischen Betrachtung die Schwierigkeit, wie die gemeinsamen Großerzählungen und -erirmerungen angesichts der Vielzahl der Gedächtnisgruppen zur Sprache gebracht werden, wenn Sie nicht nur im Sinne einer Interaktionspraxis in sozialen Gruppen verstanden werden können (vgl. SebaldlWeyand 2011 :179). Das wird im Folgenden noch zu verdeutlichen sem.

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10.2 Ebenen, Träger und Strukturen der Erinnerung 10.2.2.1 Erinnerungsfiguren - Narration, Lokalisierung und Chronologisierung

Bezugsrahmen sind für Halbwachs zunächst kulturelle Artikulationsweisen. Eine besondere Stellung nimmt dabei die Sprache ein (in der Narration). Sie bildet den schlechthin grundlegenden Rahmen, auf dem ein kommunikativer Umgang mit Erinnerungen erst möglich wird. Theologisch ist es vor diesem Hintergrund interessant, wie die Liturgiekonstitution des 11. Vaticanums für die Liturgiereform die Bedeutung der Muttersprachen heraushebt. Getragen sind die überlegungen dabei von der participatio actuosa also jenem Grundsatz ),Texte und Riten« so zu ordnen, »daß sie das Heilige, dem sie als Zeichen dienen, deutlicher zum Ausdruck bringen« und, »daß das christliche Volk sie möglichst leicht erfassen und in voller, tätiger und gemeinschaftlicher Teilnahme mitfeiern kann« (SC 21). Vor diesem Hintergrund betont die Liturgiekonstitution, dass zwar der »Gebrauch der lateinischen Sprache [... ] in den lateinischen Riten erhalten bleiben« soll, dennoch in der Messe, Sakramentenspendung und anderen Bereichen der Liturgie »der Gebrauch der Muttersprache für das Volk sehr nützlich sein kann« und es deshalb »gestattet sein [soll], ihr einen weiteren Raum zuzubilligen« (SC 36), was die Konstitution vor allem auf Lesungen, Orationen und Gesänge bezieht. Damit hat sich neben dem immer schon faktisch bestehenden Plural der Muttersprachen, in denen die religiöse Sozialisation in den familiären Primär gruppen sowieso vor sich geht, auch im zentralen Erinnerungsvollzug von Kirche und Gemeinde in Liturgie und Sakramentenspendung ebenfalls eine faktische Pluralität der Erinnerung ergeben, insoweit eben schon der Bezugsrahmen der Sprache in seiner gesellschaftlichen Abhängigkeit und Entwicklung die Erinnerungsvollzüge prägt.!8 Neben der Sprache machen besonders die Lokalisierung (Raum) und Chronologisierung (Zeit), die wechselseitig aufeinander verwiesen sind, die entscheidenden Dimensionen solcher Bezugsrahmen aus, die so als dynamische und interdependente Bezugssysteme verstanden werden müssen. Jede Gruppenzugehörigkeit mit dem Anspruch aufIdentitätsrelevanz in Bezug auf ihre Mitglieder, die Erinnerungsfiguren und/oder Narrationen für die Identitätskonstruktion der Einzel18

Dabei scheint nicht nur der von Alex Stock diagnostizierte doktrinale Formalismus (vgl. oben, S. 70, Fn. 59), die möglichst wortgetreuen übersetzung liturgischer Texte aus dem Lateinischen, mittlerweile überwunden zu werden, vielmehr unterstreicht Papst Franziskus im nachsynodalen apostolischen Schreiben Querida amazonia die Bedeutung eines eigenen amazonischen Ritus im Sinn der Inkulturation (vgl. QA 81-84).

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10 Tradition als Erinnerung

nen bereitstellt, kann im Sinne eines solchen Bezugsrahmens gedeutet werden. Als wesentlichen Begriff für Elemente der umfassenden Erinnerungsnarrationen verwenden Assmann und Halbwachs den Begriff der Erinnerungsfigur. Gemeint ist damit eine Konkretisierung in Raum und Zeit, in der es zu einer Verschmelzung von Begriff und Bild kommt und die eben schon einen narrativen Fokus besitzt. Entscheidend ist dabei, dass die Interpretation und Erinnerung von Erfahrungen aus praktischen und sozialen Interessen heraus geschieht. Dabei besteht eine konstitutive Beziehung (für Halbwachs sogar Identität) zwischen dem Bezugsrahmen und den Inhalten, Narrationen und Figuren des Erinnerns. Das gilt insbesondere für die Sprachlichkeit der Erinnerung, die gesellschaftlich und evtl. gruppenspezifisch vermittelte und präfigurierte Semantiken und Syntaxen voraussetzt, wobei Halbwachs klar herausstellt, dass es einen reziproken Prozess zwischen Sprache, Erinnerung und Vergangenheit geben muss. Aus fundamentaltheologischer Perspektive gilt es an dieser Stelle noch einmal auf den gesellschaftlichen Bezugsrahmen einer kritischen Vernunft (vgl. oben, S. 435) hinzuweisen. Der Vernunftrahmen verweigert sich offensichtlichen Widersprüchen innerhalb von Erinnerungserzählungen bzw. stellt wahrgenommene Widersprüche in kritischer Dialogizität im Sinne eines Diskurses (vgl. Sebald/Weyand 2011: 185) als Angebote zur vertieften Selbstreflexion der Erinnerungsgruppe oder aber als Movens der Entwicklung einer neuen, innerhalb dieses Bezugrahmens nachvollziehbaren Erinnerungserzählung zur Verfügung. Eine solche kritische Vernunft, die sich in einem Erinnerungsdiskurs - also in einem dialogischen Miteinander von Erinnerungsgruppen bzw. ihren Vertretern - vollzieht, bedarf also immer eines gesellschaftlichen Dialograums, der sich neben der Verständigung über eine gemeinsame Sprache, in der bestimmte Elemente der Erinnerungsnarration übersetzt werden müssen, auch auf einen derart gemeinsamen Rahmen einer kritischen Vernunft verständigt. Dieser Vernunftrahmen darf nicht als statisch verstanden werden, vielmehr hängt er mit den Syutaxen erinnernden Erzählens zusammen. Die kirchliche Erinnerung bedarf also des Dialogs mit anderen gesellschaftlichen oder religiösen Erinnerungsgruppen ebenso wie eines inneren Dialogs unterschiedlicher christlicher Erinnerungsgruppen untereinander im Sinne der Wahrhaftigkeit ihrer Erinnerung. Die Beziehung zwischen Bezugsrahmen und Inhalten, Narrationen und Figuren des Erinnerns lässt sich für Halbwachs so verstehen: Erinnerungen haben eine je größere Relevanz, desto größer die Zahl an Bezugsrahmen ist, in deren Schnittpunkt die Erinnerung auftaucht. Hierbei geht es zentral auch um die Frage der gesellschaftlichen Sprachfähigkeit nicht nur im Bezugsrahmen der

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10.2 Ebenen, Träger und Strukturen der Erinnerung

Vernunft, sondern auch in den gesellschaftlichen Identitätsnarrationen. Gesellschaftlich relevante Erinnerungen sind und bleiben daraufverwiesen, auch über einzelne Bezugsrahmen hinaus zur Sprache gebracht werden zu können. Es geht dabei aber weniger um eine Abstraktion (vgl. dazu auch die Kritik abstrakter Erinnerung bei Metz, oben 9.3.3, S. 396-398), sondern um die Narrativität in Konkretion und Verortung in Raum und Zeit. Der Zugriff auf Erinnerungsbilder ist immer sprachlich vorgeprägt. Individuelle Erinnerungsbilder (Bild) und kollektiv versprachlichte Erinnerung (Sprache) stehen in einem so engen Zusammenhang, dass eine Unterscheidung zwischen Erinnerungsinhalt (den individuellen Erinnerungsbildern) und Erinnerungsform (dem kollektiven Rahmen der Erinnerung) letztlich nicht möglich ist, weil beide "Gefäß und Inhalt« (Halbwachs 1925:370) zugleich sind. Wie im dargelegten Verständnis des autobiographischen Gedächtnisses sind auch hier also Erinnerung und Erzählung derart miteinander verwoben, dass zwar eine kritische Differenzierung in einem historisch-kritischen Sinn möglich ist, aber erst im Nachhinein. Erinnerungen streben - so Halbwachs - immer nach Lokalisierung, und je deutlicher sie zu lokalisieren sind, desto konkreter ist die Erinnerung. Die Lokalisierung geschieht in gesellschaftlich zugänglichen Anhaltspunkten und dient der Aktualisierung sowohl des Erinnerungsinhalts wie auch des Erinnerungsprozesses selbst (d.h. der Erfahrungen und Reflexionen) in einer ganzheitlichen Repräsentation dieser Erinnerung. Jede Gedächtnisgruppe bedient sich also solcher ihr konkret zugänglicher Anhaltspunkte, was auch bedeutet, dass solche Konkretionen sich auf den schon unterschiedenen Ebenen kirchlichen Erinnerns deutlich unterscheiden. Familien und Gemeinden etwa werden in ihrem sozialen Nahbereich solche Konkretionen des Erinnerns finden, die von besonderer lokaler Bedeutsamkeit sind. Insoweit ist etwa die Frage nach der Zukunft von Kirchengebäuden, die ja in ganz besonderer Weise lokale Erinnerungsorte (im Sinne von Nora 1998:11; vgl. oben, S. 58) sind und deshalb auch zutiefst mit der Identität einer christlichen Erinnerungsgemeinschaft (kirchliche Gemeinde) und gleichzeitig mit einer lokalen, nicht ausdrücklich christlichen Erinnerungsgemeinschaft (politische Gemeinde) zusammenhängen, nicht einfach trivial. Ein erinnerungstheologisches Verständnis, das Gemeinden als Gemeinschaften des kommunikativen Gedächtnisses und damit Trägerinnen kirchlicher Tradition gerade in ihrer erinnernden Lokalisierung und Chronologisierung versteht, kann deshalb die christliche Iden-

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tität einer Gemeinde nicht in Form von (theologischen) Abstraktionen fassen 19 Noch deutlicher gilt es mit Halbwachs zu betonen, dass es in erinnerungstheologischer Sichtweise kein universales Gedächtnis (in einem transzendentalen oder metaphysischen Sinn) geben kann, weil jedes kollektive Gedächtnis eine zeitlich und räumlich begrenzte Gruppe zum Träger hat. 10,2,2,2 Erinnerung und Sakramentalität

Religiöse Erinnerungsgruppen lassen sich nach Halbwachs einerseits durch gelebte Riten, Sakramente und Gebete und andererseits durch dogmatische Formeln, die ihren Daseinsgrund in der Vergangenheit und nicht in der Gegenwart haben, charakterisieren. Das Verständnis von Dogmen und dogmatischen Formeln, das das Zueinander von kommunikativem und kulturellem Gedächtnis betrifft, wird noch eingehend zu betrachten sein. Hier geht es zunächst um die Dimension des kommunikativen Gedächtnisses. Religiöse Sprache ist dabei wesentlich durch das Denken in Symbolen als Ausdrücken für eine Wirklichkeit, die sich dem Denken und Sprechen entzieht, zu verstehen. Gerade dieses Denken in Symbolen oder Metaphern soll auch hier als Charakteristikum religiöser Sprache herausgehoben und insbesondere im Blick auf die biblische Sprache noch einmal genauer betrachtet werden (vgl. unten, 10.3.2.1, S. 478-480). Stärker als in anderen Erinnerungsgruppen ist das religiöse Erinnern für Halbwachs durch Lokalisierung geprägt, der es grundsätzlich nicht um Ursprünglichkeit geht. 20 Neben dieser Lokalisierung vollzieht sich die Erinnerung religiöser Gruppen wesentlich in der symbolischen Reproduktion in sakramentalen Vollzügen, die auch für ein erinnerungstheologisches Verständnis (zumal katholischer Fundamentaltheologie) zentral ist. Sakramentale Vollzüge lassen sich als lebendige Erinnerung verstehen. Sie stehen in einer charakteristischen Spannung zwischen Aktivität und Passivität, in der das aktive, anamnetische Gedächtnis (der Gemeinde) untrennbar mit der So wird im Rahmen der zweifellos notwendigen kirchlichen Umstrukturierungsprozesse gerne der Gegensatz zwischen den konkreten Steinen der Kirche (als Gebäude) und der Kirche aus lebendigen Steinen (vgl. lPetr 2,4-8) als lebendige Gemeinschaft hergestellt. Eine Theologie, die um diese Lokalisierungstendenzen der identitätsrelevanten kollektiven Erinnerung weiß, muss solche Essenzialisierungstendenzen von Identität und Erinnerung deutlich kritisch hinterfragen. 20 Vielmehr bilden die Erinnerungsorte Verortungen und zeichnen damit selbst ein Bild der erinnernden Gruppe und ihrer Erinnerung (vgl. dazu die Gedanken zur Erirmerungstopologie bei Halbwachs, oben unter 4.1.5.2, S. 141). 19

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10.2 Ebenen, Träger und Strukturen der Erinnerung

(aus Sicht der Gemeinde) passiven, epikletischen Bitte um den Heiligen Geist verbunden ist. Das Zentrum dieser Erinnerung ist die Eucharistiefeier. Sie ist der Erinnerungsvollzug der zentralen Paradosis-Dynamik, in dem auch der christliche Identitätskern der jeweils feiernden Gemeinden wie der Kirche als ganze zu finden ist. Sakramente prägen also als Gedächtnis Jesu Christi in ihrer spezifischen symbolischen Struktur das Selbstverständnis und Handeln der Gläubigen 21 Eucharistie lässt sich so als Zentrum und Kristallisationspunkt dieses umfassenden Erinnerungsgeschehens, das aktive Momente der Erinnerung der Gemeinde mit dem passiven Moment des Wirkens des Geistes Gottes verbindet, verstehen. Diese Gedanken sollen im weiteren Verlauf dieser Arbeit durch einen ausführlichen Blick auf die Fundamentaltheologie der Sakramente von Louis-Marie Cauvet noch einmal deutlicher profiliert werden (vgl. unten, 11.1, S. 483-488). Der Erinnerungsvollzug der Gemeinde und der Kirche darf aus fundamentaltheologischer Perspektive nicht ausschließlich aktivisch verstanden werden. Im Wirken des Geistes Gottes liegt eine charakteristische Passivität des Erinnerns begründet, die Gemeinde und Kirche gerade in einer Kontinuität hält, die sie selbst nicht ausschließlich aktiv erhalten kann. Es ist dies eine diskontinuierliche Kontinuität, die durch das Wirken des Heiligen Geistes konstituiert wird. So verweist der Zentralvollzug des kommunikativen Erinnerns, die symbolische Reproduktion in den sakramentalen Vollzügen, immer schon auf die Notwendigkeit eines gott-menschlichen Dialogs um der Treue zur Erinnerung willen. Gleichzeitig lässt sich im Zusammenhang der pneumatologischen Passivität bzw. des charakteristischen Zueinanders von Aktivität und Passivität auch der Begriff der Inspiration verorten. Die schon skizzierte soziale Emergenz, die christliche Kreativität, lässt sich als jener Vorgang des kollektiven Gedächtnisses beschreiben, der gerade im Akt der Kreativität eine Refiguration der Erinnerung leistet, die wiederum dann etwas hervorbringt, das man mit Alex Stock als poiesis (vgl. dazu noch einmal ausführlich, unten, 11.2, S. 488-492) oder in erinnerungstheologischer Sprache als relevante (neue) Erinnerungsfigur bezeichnen kann. Im Blick auf diese Spannung von Aktivität und Passivität, gilt es, die die Dif21

In der Teilnahme an der Eucharistie - am eucharistischen Hochgebet und schließlich der Kommunion - üben die Gläubigen die Haltung der Hingabe ein, die im Vorherigen schon als Oblatio bezeichnet worden ist (vgl. oben unter 2.7.3.3, S. 110). Diese in der Eucharistie eingeübte Oblatio prägt gleichzeitig die Identität der Erinnerungsgruppe und befähigt und ermutigt damit andererseits auch den Einzelnen zu einem ethischen Verhalten im Sinne dieser Hingabe.

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ferenzierungen verschiedener Erinnerungsgruppen und des Wandels der Erinnerung bei Maurice Halbwachs noch einmal in fundamentaltheologischer Perspektive zu betrachten. 10.2.2.3 Paradigmatische Erinnerungsgruppen und Erinnerungswandel

Halbwachs entwickelt seine Gedanken anhand der drei paradigmatischen sozialen Gruppen von Familie (als gesellschaftlicher Primärgemeinschaft), Religionsgemeinschaft und sozialer Klasse. Die Primärgemeinschaft der Familie ist eine gesellschaftliche Institution, spezifische Verwandtschaftsverhältnisse beanspruchen aber angesichts der je konkreten Familiengeschichte keine objektivierbare oder normative Bedeutung. Es ist vielmehr das spannungsvolle und unauflösliche Zueinander von institutionellen Verhältnissen und durch konkrete Ereignisse geprägter Familiengeschichte, das diese Erinnerungs- und Sozialisationsgemeinschaft ausmacht. Die Bedeutung von Familie und Sozialisation ist im Zusammenhang des autobiographischen Gedächtnisses schon ausführlich dargestellt worden (vgl. oben 10.2.1.3, 2~445 S. 442). Hier sei nur noch einmal daraufhingewiesen, dass in diesem spannungsvollen Zueinander von Institution und Familiengeschichte auch schon die grundsätzliche Möglichkeit des Wandels an biographischen Bruchstellen (Lebenswenden) herausgehoben wird. Halbwachs erläutert dies in Bezug auf die Heirat, die er als paradigmatischen Bruch und Anlass der Neukonfiguration einer Familie versteht, wo die Erinnerungen beider Stammfamilien in eine neue Familienerinnerung umgeschrieben werden. Daneben kennt Halbwachs soziale Milieus, die sich in der Regel durch kongruente Anerkennungsverhältnisse herausbilden und selbst Resultat einer geschichtlichen Entwicklung sind. Anhand der sozialen Milieus lässt sich mit Halbwachs die zentrale Bedeutung von gesellschaftlichen Brüchen und Umbrüchen für die Erinnerungs(re)konstruktion zeigen, insofern die soziale Umformung einer Gruppe oder der Gesellschaft - die ja für Halbwachs identisch ist mit einer Veränderung der Bezugsrahmen - gewissermaßen zu einer neuen Identitätskonstruktion zwingt, die zugleich eine Erinnerungskonstruktion ist. Umgekehrt scheint es, dass auch in einer veränderten Erinnerung ein enormes gesellschaftliches Veränderungspotenzialliegt. Die Dynamik des gesellschaftlichen Wandels, auch des Erinnerungswandels, ist für Halbwachs von zwei zentralen Bedürfnissen in ihrem Zueinander be-

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stimmt: einerseits dem Bedürfnis nach Einheit (insbesondere in bzw. mit der Gesellschaft) und andererseits dem gruppenspezifischen sozialen Bedürfnis nach Kontinuität. Auch für Jan Assmann sind es gerade die Kontinuitäts- und Traditionsbrüche, die zur Entstehung von Vergangenheit (im Sinne einer Refiguration der Erinnerung) führen. Dabei denkt er zunächst an die ursprünglichste Brucherfahrung, den Tod eines Menschen. Für Assmann verschleiert gerade der Begriff der Tradition diese zentrale Bruchhaftigkeit und stellt die (bruchlose) Kontinuität in den Vordergrund. Man wird jedoch mit dem Paradigmenwechsel in der Traditionstheologie betonen können, dass Assmann hier in seiner Kritik eher ein traditionalistisches oder zumindest pointiert konservatives Verständnis von Tradition vor Augen hat. Es ist aber noch einmal deutlich hervorzuheben, dass es der theologischen Tradition - wie Walter Kasper herausstellt - gerade >>nicht um Kontinuität, sondern um Identität« geht (Kasper 1970:174; Hervorh. AJ; vgl. dazu auch oben unter 8.4, S. 362). Wenn also Tradition (im Sinne von Kasper) als kommunikative Erinnerung (im Sinne von Assmann und Halbwachs) gedacht wird, so geht es dabei auch darum, die dynamische Identität der Kirche und der Tradition angesichts der Geschichte in ihrer Bruchhaftigkeit zu verstehen und nicht eine bruchlose Kontinuität zu behaupten. Das führt dazu, dass man Kontinuität letztlich adäquat nur im Modus diskontinuierlicher Kontinuität verstehen kann, die dann erst in ihrer narrativen Rekonstruktion - also erst imNachhinein - als Kontinuität rekonstruiert wird. Für das Verständnis von Wandel der Tradition bedeutet das ein charakteristisches dialogisches Zueinander. Wandel in Erinnerungsgruppen geschieht nur dann, wenn sie sich mit den Erinnerungen von anderen für sie relevanten Gruppen oder Ressourcen ihrer eigenen Erinnerung auseinandersetzen. Wandel vollzieht sich also nicht dort, wo rationale Forderungen gegen die Erinnerung der eigenen Gruppe argumentativ eingebracht werden, sondern nur im Dialog der Erinnerungsgruppen untereinander, der sich wiederum innerhalb des geteilten Bezugsrahmens der Vernunft vollzieht. Für Halbwachs wird das an der Religion besonders deutlich, wo Wandel gerade nicht gemäß dem theologischen Selbstverständnis der organischen Weiterentwicklung der Tradition als fortgesetzte Ausfaltung des Ursprungs erfolgt. Das Selbstverständnis religiösen Wandels lässt sich nach Halbwachs als ein hermeneutisch fokussiertes immer tieferes Verständnis der apostolischen Tradition verstehen. Schon dieses Selbstverständnis macht die Notwendigkeit eines Wandels deutlich, weil auch ein vertieftes Verständnis ja in einer je konkreten Zeit

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Relevanz beansprucht. Umgekehrt hieße ein solches Verständnis aber auch, dass in der ursprünglichen Erinnerung alle Antworten auf Fragen späterer Zeiten schon enthalten sind, was erinnerungstheoretisch gewendet bedeuten würde, dass in der ursprünglich angelegten Erinnerung, die sich linear weiterentwickelt und ausdifferenziert, schon eine bestimmte lineare gesellschaftliche Entwicklung vorgezeichnet wäre. Gesellschaftlicher Rahmen und Glaubenserinnerung stünden also nicht gewissermaßen in einem dialogischen Zueinander und schon gar nicht in einem Dialog mit anderen gesellschaftlichen Gruppen. Dieses klassische Traditionsmodell, das Halbwachs nachzeichnet, funktioniert als Denkmodell also ausschließlich in einer (fiktiven) Gesellschaft, in der es nur eine christlich präfigurierte Erinnerungsgemeinschaft gibt. Das aber ist schon allein aufgrund der innerchristlichen Pluralität nicht zu denken. Halbwachs diagnostiziert gegenüber diesem kirchlich-theologischen Ideal eine andere Entwicklung, bei der fortwährend neue Ideen und Gesichtspunkte in die kirchlich-theologische Erinnerung integriert worden sind und die Kirche bei der Auswahl der für sie dann kanonische Geltung beanspruchenden Erinnerungen das ausgewählt hat, was sowohl größtmögliche Einheit wie größtmögliche Kontinuität versprochen hat. Die Kirche hat dabei die älteren Traditionen je neu kontextualisiert und zwar in den Zusammenhang von Erinnerungen anderer Erinnerungsgruppen, die für Kirche eine Relevanz hatten, weil sie sich von diesen Gruppen versprochen hat, »sich zu einer weiteren religiösen Gemeinschaft zu verschmelzen« (Halbwachs 1925:387). überzeugungen, die eine Veränderung sozialer Rahmen anstreben, können innerhalb des kommunikativen Gedächtnisses nur in Form von (kontrapräsentischer) Erinnerung - also wenn sie selbst in Form von Traditionen vorliegen in den Dialog der Erinnerungsgruppen eingebracht werden." Angesichts von Kontinuitätsbrüchen (in den Worten von Halbwachs: in der Veränderung der sozialen Bezugsrahmen), besonders dort, wo die Selbstverständlichkeit der Identität verloren geht, entsteht in den Erinnerungsgruppen (also auch in den christlichen Gemeinden) im Kontext ihrer kommunikativen Vollzüge eine Neukonfiguration der Erinnerung. Die Erinnerungsgruppen können schon deshalb vom Wandel der Bezugsrahmen nicht absehen, weil die Individuen, die die Erinnerungsgruppen bilden, in einer Vielzahl solcher gesellschaft22

Soziale überzeugungen einer Gruppe haben deshalb für Halbwachs immer die Doppelgestalt, dass sie einerseits kollektive Erinnerungen sind, die aus der Vergangenheit stammen bzw. sich auf sie beziehen und andererseits Ideen oder Konventionen, die sich aus der Kenntnis des Gegenwärtigen speisen.

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10.2 Ebenen, Träger und Strukturen der Erinnerung

licher Bezugssysteme stehen. Die individuellen Gedächtnisse können von diesen Bezugssystemen - weil sie durch Sozialisationsprozesse mit ihnen verwoben sind - außer in absoluter und vorsätzlicher Distinktion nicht abstrahieren. Die Neukonfiguration angesichts des Kontinuitätsbruchs besteht dann darin, dass die Erinnerungsgruppe entweder Erinnerungsfiguren anderer Erinnerungsgruppen übernimmt oder aber in der eigenen (kulturellen) Erinnerung Erinnerungsfiguren findet, die sich in eine kohärente Erinnerungserzählung integrieren lassen. In diesem Sinne ist oben (vgl. 10.1.2.4, S. 433-436) von sozialer Emergenz gesprochen worden. Diese Emergenz wiederum, die sich in einer konkreten Erinnerungsgruppe (sei es lokal, regional oder national) vollzieht, wird dann (im theologischen Verständnis) in einen Dialog mit anderen Erinnerungsgruppen der strukturierten Erinnerungsgemeinschaft der Kirche eingebracht oder gelangt durch ihre Träger, die ja auf unterschiedlichen Ebenen des Gedächtnisses aktiv sein können, dorthin. Wenn sich solche neuen Erinnerungsfiguren also emergent entwickelt haben, ist es schließlich im entweder narrativen oder aber diskursiven Dialog die Aufgabe des kirchlichen Lehramts, eine Refiguration und Rekonstruktion eines Erinnerungsnarrativs (auch in einer verbindlichen Form) zu leisten. Dies geschieht gleichermaßen im Blick auf die Erinnerungsfiguren des kulturellen Gedächtnisses sowie auf den Kanon (und die anderen kanonartigen Sammlungen) unter Berücksichtigung sowohl des Bedürfnisses nach Einheit (und damit Identität) als auch des gruppenspezifischen Bedürfnisses nach Kontinuität. In diesem Zusammenhang von Emergenz und Erinnerungsrefiguration (in den Erinnerungsgruppen) gilt es deshalb, die theologische Rede vom sensus fidei fidelium zu verorten (vgl. unten 11.5, S. 500f.). Wandel dient insbesondere der möglichst umfassenden Integration der Einzelnen in die Gruppe. Diese Harmonisierungstendenz oder das Streben nach Kohärenz, das ja auch schon die autobiographischen Selbstvollzüge ausgemacht hat und in ihnen wurzelt, kann sich dann im Blick auf die Gesellschaft sowohl in gesellschaftlicher Integration wie in Distinktion vollziehen. In diesem Fall nimmt die Erinnerungsgruppe im Dialog mit anderen Erinnerungsgruppen eine spezifische distinktive Position ein, die entweder durch limitische Symbolik (Selbstkennzeichnung der Gruppe) oder elitäre Distinktion ausgedrückt wird. Einer solchen Distinktion wohnt nach Assmann ein religiöses Moment inne (ein Ausschließlichkeitsanspruch). Sie vollzieht sich wesentlich gegenüber als übermächtig empfundenen Erinnerungsgruppen. Hier gilt es noch einmal herauszustellen, dass Assmann dabei insbesondere den deuteronomisch-deutero-

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10 Tradition als Erinnerung

nomistischen Erinnerungsimperativ und die Erinnerung Israels als Paradigma solchen religiösen Erinnerns betrachtet. Die Würdigung der umfassenden erinnerungstheologischen Dynamik, die der Blick dieser Arbeit auf das biblische Zeugnis herausgestellt hat, erfordert hier jedoch eine andere Bewertung. Zwar lassen sich erinnerungstheologisch Distinktionsmerkmale ausmachen, immer wird aber das partikulare Moment durch ein auf Universalität angelegtes Moment ergänzt. Das kommunikative Verständnis eines Zueinanders von kommunikativem und kulturellem Gedächtnis, das gleichermaßen im gesellschaftlichen Erinnerungsdiskurs verankert wie auf das Zueinander zur eigenen kulturellen Erinnerung verwiesen ist, muss deshalb die Distinktion nicht zum Normalfall religiöser Erinnerung erklären. Vielmehr hatte auch das trinitarische Grundverständnis der Erinnerung schon die christologische Perspektive kontrapräsentischer Erinnerung mit der pneumatologischen Perspektive fundierender Erinnerung zu einem solchen gleichermaßen spannungsvollen Miteinander verbunden. Es wird deshalb nun im Wesentlichen darum gehen, das nachzuzeichnen, was Jan Assmann als kulturelles Gedächtnis versteht. In Bezug auf die schon erläuterte Spanne des kommunikativen Gedächtnisses von etwa 3-4 Generationen (80-100 Jahre) gilt es hier noch auf eine charakteristische Problematik hinzuweisen. Sie besteht in dem, was Jan Assmann unter Aufnahme einer Formulierung vonJan Vansina als floating gap bezeichnet. Gemeint ist damit zunächst die Grenze des kommunikativen Erinnerns mit dem Ende der jüngeren Vergangenheit, die noch im Modus von biographischen Erzählungen der letzten 3-4 Generationen 23 und damit im Zusammenhang bestehender und erklärbarer Artefakte oder Erinnerungsmaterialien steht. In der kollektiven Erinnerung wird - so Assmann - zusätzlich zu den autobiographischen Erinnerungen eine mythisch verstandene Urzeit rekonstruiert, die der narrativen Aufrechterhaltung bzw. Rekonstruktion der Gruppenidentität dient und selber gerade nicht geschichtlich, sondern mythisch-vorgeschichtlich verortet wird. Diese Erkenntnis stammt bei Assmann zwar insbesondere aus der Beschäftigung mit Kulturen, die ausschließlich über eine mündliche Erinnerungskultur verfügen, jedoch scheint diese floating gap für den erinnerungstheologischen Zusammenhang insbesondere deshalb interessant zu sein, weil im Gedächtnis der Gruppe anhand dieser floating gap autobiographisch-kommunikatives Erinnern mit der narrativen »Urzeit« in eine rekonstruierte Konti23

Gedacht werden muss dieses biographische Erinnerung hier nicht im Singular, sondern im Plural der erinnernden Subjekte.

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10.2 Ebenen, Träger und Strukturen der Erinnerung

nuität hinein verwoben werden, ohne dass sich das kommunikative Gedächtnis dieser Verwobenheit von Mythos und autobiographisch verwurzelter Erinnerungsnarration bewusst wäre. Es kommt dabei etwa zu Phänomenen, die Assmann als erfundene Traditionen bezeichnet. Dabei wird in der kollektiven Erinnerung etwas für uralte und ursprüngliche überlieferung gehalten, das gerade nur unmittelbar jenseits des kommunikativen Gedächtnisses entstanden ist (vgl. Assmann 1992:81). In erinnerungstheologischer Sicht ist das insofern interessant, als es noch einmal sehr deutlich die Notwendigkeit einer Ergänzung dieses kommunikativen Gedächtnisses einerseits durch das, was ]an Assmann als kulturelles Gedächtnis bezeichnet, andererseits aber auch durch eine historische Kritik herausstellt, um die Wahrhaftigkeit des Erinnerns durch eine tatsächliche Wahrheitsfähigkeit zu ergänzen. 24 Das gilt zumal dann, wenn Erinnerungstheologie gerade innerhalb eines geschichtlichen Verständnisses entwickelt wird.

10.2.3 Kulturelles Gedächtnis

Als kulturelles Gedächtnis versteht]an Assmann die institutionalisierte Form der Erinnerung mit professionellen Trägern, wobei in theologischer Aneignung das kirchliche Lehramt gemeint ist. Das kulturelle Gedächtnis dient in der Vergegenwärtigung fundierender Erinnerungsfiguren der Vergewisserung der Gruppenidentität durch symbolische Repräsentation in Zeit (Chronologisierung), Raum (Lokalisierung) und Sprache. über diese bereits im Kontext des kommunikativen Gedächtnisses entfaltete Figuration und Narration der Erinnerung ist es gerade die Professionalität des Erinnerns als Funktion für die kommunikativen Gruppengedächtnisse, die das kulturelle Gedächtnis prägt. So entsteht in der Festschreibung von Riten (Chronologisierung) etwa die gesellschaftlich zentrale Unterscheidung zwischen Alltags- und Festzeit. Im Medium des Kunstwerks, das ästhetisch erschlossen werden kann, lässt sich nach Assmann der entscheidende Verbindungspunkt zwischen Gedächtnis und kultureller Formensprache 24

So wird etwa das 19. Jahrhundert im kommunikativen Gedächtnis (oder besser: in manchen kommunikativen Gedächtnissen) mitunter als solche mythisch-normative Urzeit verstanden, was auch ein neues Verständnis der traditionalistisehen Traditionsverständnisses der katholischen Integralisten und ihrer Distinktion ermöglicht. In keinem Fall darf dies aber dazu verleiten, anhand dieser besonderen Form der Nostalgie auf eine dezidierte historische Kritik zu verzichten. Neben dem katholischen Integralismus und seiner Distinktion spielt diese Perspektive auch bei anderen Erinnerungsfiguren in :>>normalen« Gemeinden eine Rolle.

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10 Tradition als Erinnerung

finden. In der Lokalisierung schließlich geschieht eine Verräumlichung von Erinnerung, in die hinein auch authentische Erinnerungsspuren oder -artefakte integriert werden können. Im Sinne der Institutionalisierung des Gedächtnisses vollziehen sich grundsätzlich die gleichen Erinnerungsfigurationen wie in einem »einfachen« Gruppengedächtnis. Sie beanspruchen aber eine (institutionelle) Verbindlichkeit und sind dadurch deutlich weniger dynamisch und weniger direkt von den autobiographischen Gedächtnissen der Erinnerungsgruppe abhängig. Dabei gilt jedoch, dass das kulturelle Gedächtnis das Verfestigen und Verschriftlichen bestimmter Erinnerungen gerade im Sinne der Identitätsrelevanz für die Erinnerungsgruppe(n) vornimm!. Assmann unterscheidet heiße und kalte Gedächtnisoptionen, die entweder im Dienst einer Kontinuität und Regelmäßigkeit stehen (kalt) und so als ~uietive des Geschichtsbewusstseins zu verstehen sind oder als Inzentive (heiß), die das Einmalige und Verändernde betonen. Beides hängt von der Sozialstruktur ab. 25 Für Assmann ist Unterdrückung insofern gerade ein »Inzentiv für (lineares) Geschichtsdenken« (Assmann 1992:72), das solche Sinnhorizonte konstruiert, in denen gerade Bruch und Veränderung in besonderer Weise als bedeutungsvoll erscheinen. Das lässt sich besonders mit den Gedanken von Johann Baptist Metz zur Bedeutung der memoria passionis verbinden, die aber - wie schon erwähnt - in einem erinnerungstheologischen Verständnis nur als Pol im dynamischen Spannungsverhältnis zur fundierenden Erinnerung verstanden werden kann. Im Begriff der Mythomotorik steht genau dieses Spannungsverhältnis im Fokus des Interesses. Wenn Assmann zwischen fundierender und kontrapräsentischer Erinnerung unterscheidet, steht ihm dabei auch eine grundsätzliche gesellschaftliche Unterscheidung vor Augen. Es sind besonders heiße Gesellschaften26 , in denen eine solche Mythomotorik zum Tragen kommt, weil in solchen Gesellschaften die Verinnerlichung ihres geschichtlichen Werdens in Form eines historischen Mythos die zentrale Rolle des Erinnerns einnimm!. Dieser narrative Vergangenheitsbezug ist es, der einerseits als fundierende Erinnerung fungiert, So tendieren staatlich organisierte Kulturen für Assmann zu kultureller Hitze, also einer Veränderungsdynamik, die hauptsächlich von den nach Veränderung strebenden Beherrschten ausgeht, während die Machthabenden in einer solchen Gesellschaft wesentlich kalten Gedächtnisoptionen bevorzugen, cl.h. zu einer Kultur des Vergessens tendieren. 26 Im Gegensatz dazu behält eine kalte Gesellschaft gewissermaßen die je gleiche Distanz (der Ewigkeit) zwischen einer absoluten (mythischen) Vergangenheit und der Gegenwart, weshalb die Erinnerung sich ausschließlich in zyklischer Wiederholung vollzieht. 25

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10.2 Ebenen, Träger und Strukturen der Erinnerung

andererseits aber auch kontrapräsentische Erinnerung im Bezug auf die Gegenwart ermöglicht. Assmann bezieht dieses mythomotorische Zueinander auf Gesellschaften, in denen er die Religion (ihm schwebt dabei wie schon erwähnt gerade ein deuteronomisch-deuteronomistischer Erinnerungsimperativ vor) auf eine spezifische gesellschaftliche Funktion reduziert, die in der Verpflichtung auf die kontrapräsentische Erinnerung und in der Herstellung von Ungleichzeitigkeiten besteht. Dieses funktionalistische Religionsverständnis soll hier nicht übernommen werden. Es fällt zwar auf, wie nahe diese Position bei Jan Assmann dem Verständnis der memoria passionis bei Johann Baptist Metz kommt, allerdings gilt es hier noch einmal zu betonen, dass jede Gruppenerinnerung in einem mythomotorischen Zueinander verstanden werden muss. Es ist die Grundproblematik des Ansatzes von Jan Assmann, dass er zwar von den gruppenspezifischen Konzepten des kommunikativen Gedächtnisses bei Maurice Halbwachs ausgeht, sie dann jedoch unmittelbar auf die gesellschaftliche Ebene überträgt und damit einzelne Gruppen zu Momenten an diesem kulturellen Gedächtnis der Gesellschaft macht. Damit kann er etwa der Religion nur eine gesellschaftlich-funktionale Bedeutung zusprechen.'7 Ein solches funktionalistisches Verständnis der Religion muss aus fundamentaltheologischer Perspektive als Reduktion zurückgewiesen werden (vgl. Rentsch 1996:245-249 und Knapp 2009:198f.). Es ist gerade religiöses Kernanliegen, "im Gegenzug zu instrumentellen Welt- und Selbstverständnissen«, eine »Sensibilität für das Unerklärliche (das Wunder) allen existierenden Sinns wachzurufen« (Rentsch 1996:248). Religiöses Erinnern besitzt damit immer eine über die Partikularität sowohl der Erinnerungsgruppe wie auch der Gesellschaft hinausgehende Universalität. Aber auch aus der inneren Systematik kulturwissenschaftlicher Erinnerungstheologie im Gefolge von Maurice Halbwachs ist Assmann vor dem Hintergrund des kommunikativen Erinnerns als identitäts- und gruppenkonkrete Erinnerung zu widersprechen. Nicht zuletzt findet sich auch bei Assmann selbst ein Hinweis darauf, dass er religiöses kollektives Gedächtnis nicht ausschließlich als gesellschaftliche Funktion denkt, wenn er es als »komplex, pluralistisch, labyrinthisch, [... ] eine Menge von in Zeit und Raum verschiedenen Bindungsgedächtnissen und Wir-Identitäten« umgreifend versteht, das »aus diesen Span27

Ohne Zweifel steht Assmann dabei im Blick auf die Religion und die Herstellung und Vermittlung von Ungleichzeitigkeit eine universale Funktion des kulturellen Gedächtnisses vor Augen, das das Lebens in »Zweidimensionalität oder Zweizeitigkeit« (Assmann 1992:84) ermöglicht (in Alltags- und Festzeit).

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10 Tradition als Erinnerung

nungen und Widersprüchen seine Dynamik« bezieht (Assmann 2000:43). Deshalb wird man also für das religiöse Gedächtnis eine spannungsvoll-dynamische Mythomotorik in einem ebenso dynamischen und spannungsreichen Miteinander zwischen kommunikativen und kulturellen Gedächtnis(sen) der Kirche annehmen können. Hier sollen Gedächtnisse wieder im Plural verwendet werden, weil sich dieses diskursive Miteinander zwischen dem (lebendigen, autobiographisch verankerten) kommunikativen Gedächtnis einer Gruppe und dem institutionellen kulturellen Gedächtnis auf allen kirchlichen Ebenen im Zueinander von offiziellem kirchlichem Amt (kulturelles Gedächtnis) und einer Gruppe von Gläubigen (kommunikatives Gedächtnis) ereignet. Gerade dieses spannungsvolle Zueinander ermöglicht die Mythomotorik zwischen fundierender und kontrapräsentischer Erinnerung. Die Bedeutung des kulturellen Gedächtnisses hat dabei besonders mit der Verschriftlichung und der Sammlung schriftlicher Erinnerungen zu tun, weshalb das kulturelle Gedächtnis seine zentrale Punktion als kanonisches Gedächtnis erfüllt. 10,2.3,1 Kanonisches Gedächtnis

Die besondere Bedeutung des übergangs von (sprachlicher) Narration hin zu textlicher Kohärenz - wie Assmann das nennt - liegt in der Verschiebung von der wiederholenden Internalisierung (Repetition) zur Auslegung von Texten der Tradition (Interpretation). Wenn Erinnerungen in Form von Texten verschriftlicht werden, beginnt damit für Assmann der Prozess der Kanonisierung. Texte sind grundlegend dem lebendigen und autobiographischen Wandel der Erinnerung aus den Erfordernissen der jeweiligen Gegenwart entzogen. In dieser Abgeschlossenheit ermöglichen sie dann in der Interpretation eine andere Form des Bezugs auf die Gegenwart. Die Kanonisierung selbst ist dann für Assmann die zweite Stufe der Schriftlichkeit, die die Verbindlichkeit der Texte steigert, sowohl in Bezug auf ihre Gestalt (den Wortlaut) als auch in Bezug auf ihre Autorität. Diese Autorität ist für Assmann als reziprokes Normativitätskriterium zu verstehen. Einerseits beanspruchen die Inhalte der Texte eine Normativität, andererseits muss sich alles Normative als Sinn oder Folgerung des Textkanons ausweisen lassen. Kanonische Texte können in ihrem kanonischen Anspruch weder ergänzt noch fortgeschrieben werden. Wie jeder Text bedürfen auch kanonische Texte (institutioneller) Interpre-

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10.2 Ebenen, Träger und Strukturen der Erinnerung ten, die in der Textauslegung die Gegenwartsbedeutung des Textes erschließen und zwar gerade »angesichts des Bruchs«, der durch die Abgeschlossenheit der Schrift zwischen Text und Gegenwart besteht. In dieser Angewiesenheit auf Auslegung in die Gegenwart hinein ist ein Kanon deshalb kein reines Speichergedächtnis, sondern ein Funktionsgedächtnis, das unverzichtbare symbolische Formen und Erinnerungsfiguren für die Weltorientierung und die Identitätsrekonstruktion der Erinnerungsgruppe zur Verfügung stellt. Im Sinne eines Funktionsgedächtnisses darf ein solcher Kanon auch nicht in Engführung einer bei Assmann gebrauchten Metapher - ausschließlich in seiner Festigkeit betrachtet werden. Es ist geradezu - wie Harald Welzer betont - die ständige Verflüssigung im Sinne eines Vergegenwärtigungsvorgangs durch Kommunikation und Narration bzw. in sakramentalen Vollzügen im Hinblick auf das kommunikative Gedächtnis, was das Spezifikum des kulturellen bzw. kanonischen Gedächtnisses ausmacht. In Bezug auf die Interpretation kanonischer Texte kennt Assmann deshalb auch eine ganze Reihe von Möglichkeiten: den Kommentar, die Imitation (wobei manche Imitationen dann selbst zu klassischen Texten werden) und schließlich die Kritik als wissenschaftlich-diskursiver Bezug auffundierende Texte, gleich ob kanonischer, klassischer oder archivierter Art. Der Kanon ist dabei in seinem Wesen eine Kulturleistung, die nicht eine anthropologische Normalität, sondern eher eine Ausnahme ist. Im Gegensatz zu einem einfachen gesellschaftlichen Code als selbstverständlicher und unhinterfragter Regulierung sozialen Zusammenlebens besteht ein Kanon aus »geheiligte[n] Prinzipien« (Assmann 1992:116), die von einer Erinnerungsgruppe als unaufgebbar erachtet und immer wieder erinnert werden. Obwohl aus der Perspektive einer christlichen Theologie einem solchen Kanonverständnis grundsätzlich zuzustimmen ist, gilt es dennoch zu betonen, dass diese geheiligten (oder als heilig erachteten) Prinzipien im Kanon nicht in Form von Erinnerungsimperativen zu finden sind. Gerade der Aspekt der Interpretationsbedürftigkeit des Kanons - oder in theologischer Sprache: der Heiligen Schrift - ist dabei herauszuheben. Damit geht es in traditionstheologischer Perspektive um die Frage nach dem Zueinander von Schrift und Tradition. Nach dem Ende der »Idealphase der echten Augenzeugenschaft des Christusereignisses« wird der Kanon zur »paradigmatischen Ausdrucksgestalt der Zeugenschaft für das Christusereignis und der Nachfolge« (Rahner, ]. 2019:190). Damit lässt sich die »normative Mitte« des Erinnerungs- und Auslegungsprozesses dieses Kanons als durch einen »personal vermittelten, individuell konstituierten

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10 Tradition als Erinnerung

und intersubjektiv strukturierten Erfahrungsbezug« (Rahner, ]. 2019:191) gekennzeichnet verstehen. Die Auslegung des Kanons ist damit also immer schon auf die Pragmatik und die identitäts- und lebenskonkreten Kontexte der Erinnerungsgruppen angelegt. Charakteristisch für den Kanon ist dabei nicht die starre Einheitlichkeit eines literarischen Werks, sondern das »vielgestaltige apostolische Zeugnis in seiner die Individualität des Zeugens festhaltenden Perspektivität« (Rahner,]. 2019:191). Gerade in dieser Multiperspektivität eröffnet der Kanon deshalb den »lebendige[n] Dialog unterschiedlicher normativ gewordener Traditionen, die nur gemeinsam und in ihrer gegenseitigen Verwiesenheit maßstäblich sind« (Rahner, ]. 2019:191). Gerade diese Multiperspektivität und die darin inhärente Ambiguität prägen das Verständnis des christlichen Kanons, der ein »lebendiger Bezugspunkt« für das kollektive Gedächtnis der Kirche bleibt, »weil die durch den Text konstituierte Gemeinschaft auch und gerade aus der existentiellen Verlebendigung der Schrift als lebendiger Tradition lebt« (Rahner, ]. 2019:191). Wenn man also aus christlicher Perspektive die Schrift in dieser Weise als Kanon versteht, so bedeutet das auch, dass den Trägern des kulturellen und kommunikativen Gedächtnisses darin eine »Mehrzahl von kulturellen Gedächtnissen« in einer »orchestrierbaren Polyphonie« (Welker 2007:330) zur Verfügung stehen. Insofern ist der Kanon schon sehr grundsätzlich als kontrastive Einheit (vgl. Janowski 1998: 16f.) zu verstehen. Eine Besonderheit des christlichen Kanons besteht darin, dass er als »kohärentes Sinngefüge, also als die zutreffende und verbindliche Darstellung von Lebenserfahrungen einer Glaubensgemeinschaft«, nämlich des Christentums, und damit als auf die Gruppenidentität bezogenes Funktionsgedächtnisses verstanden wird Oanowski 1998:6). Zugleich ist sowohl der Kanon selbst wie die christliche Identität bleibend auf Israel bezogen, was darin begründet ist, dass »die christliche Bibel aus zwei Teilen besteht, deren erster als Tanach zugleich die Bibel Israels ist« Oanowski 1998:6). Damit sind alle Fragen nach der »Einheit der Schrift« - was gleichbedeutend mit der im Folgenden zu untersuchenden Frage nach dem heiligenden Prinzip als grundlegender Hermeneutik des Kanons ist - für Bernd Janowski »dem Dialog mit dem Judentum ausgesetzt« Oanowski 1998:6). Christliche Theologie ist demnach immer daraufverwiesen, »nach dem Verhältnis der bei den Testamente und dem in ihnen tradierten Zeugnis von dem einen Gott zu fragen« Oanowski 1998:35; Hervorh. AJ). Auffällig dabei ist, dass die Entstehung des Tanach wie jene der christlichen Bibel als zwei interdependente Prozesse verstanden werden müssen, wobei es

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10.2 Ebenen, Träger und Strukturen der Erinnerung

im Rahmen der Kanonwerdung der christlichen Bibel- der »Zusammenfügung von Altem und Neuem Testament« - »nicht zur Veränderung des ersten Teils in Form einer reduktionistischen Auswahl kam« und das Alte Testament »vielmehr >rein und unvermischt< (kanonische Integrität) in der zweigeteilten christlichen Bibel« Qanowski 1998:9) steht. So lässt sich die kontrastive Einheit der christlichen Bibel als bleibende Verpflichtung zum Erinnerungsdialog mit Israel verstehen. Beide sind dem Wirken Gottes verpflichtet. In christlicher Perspektive kommt dem Alten Testament die konstitutive Aufgabe zu, »die neue Heilsinitiative des Gottes Israels in seinem Sohn Jesus Christus als schriftgemäß zu deuten [... ]« Qanowski 1998:10).

In der Betrachtung der biblischen Erinnerungstheologie hat sich dieses Moment des konstitutiven Bezugs auf Traditionen und Erinnerungsmomente des Alten Testaments um der Erinnerung willen und damit um der gott-menschlichen Erinnerungsdynamik willen sehr deutlich gezeigt, etwa in der erinnernden Anknüpfung Gottes an seine Heilsgeschichte mit Israel im Magnifikat und den anderen lukanischen Hymnen (vgl. oben 6.2.2, S. 263-266). Deshalb ist Janowski eindeutig zuzustimmen, wenn er betont, dass es den neutestamentlichen Autoren darum geht, »daß der Gott Israels sich in Jesus neu und abschließend geoffenbart hat und gerade darin seiner Verheißung treu blieb« Qanowski 1998:11; Hervorh. AJ). In diesem Verständnis der Treue - erinnerungstheologisch gewendet: dem Festhalten an der grundlegenden und wechselseitigen Erinnerungsdynamik (im Sinne gegenseitiger Verinnerlichung) zwischen Gott und Mensch ist gerade ein entscheidender Aspekt der diskontinuierlichen Kontinuität des biblischen Kanons zu sehen.

In Ergänzung der beschriebenen Verwiesenheit aufIsrael gilt dann allerdings in den Worten von Michael Theobald (imjohanneischen Verständnis) auch, dass es gerade die Funktion des Evangeliums gemeinsam mit der Schrift Israels ist, gelesen (oder gehört) zu werden, »um so die Erinnerung an Jesus in der Lesegemeinschaft der Kirche wach und lebendig zu halten« (Theobald, M. 2007: 129). Damit muss die Frage nach dem heiligenden Prinzip des Kanons aus der Perspektive einer christlichen Theologie dann in großer Sensibilität für die Bibel und den Glauben Israels, aber doch deutlich von Jesus Christus her gestellt werden.

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10 Tradition als Erinnerung 10.2.3.2 Differenzierung zwischen Kanon und kanonartigen Sammlungen

Aus traditionstheologischer Perspektive ist hier eine weitere Differenzierung einzuführen. Während der Begriff des Kanons bisher eindeutig und ausschließlich für den biblischen Kanon verwendet worden ist. gilt es zu festzuhalten. dass es funktional ähnliche Sammlungen im kulturellen Gedächtnis des Christentums gibt. die dabei die Kanonlogik übernehmen. Assmann hat in seiner Studie schon die unterschiedlichen Verständnisse des Kanonbegriffs differenziert. wobei Kanon sowohl im Sinne des Maßstabs. des Modells. der Regel und der Liste verstanden werden kann. Auch im kirchlichen Verständnis wird Verschiedenes als Kanon bezeichnet oder als solcher verstanden. Beispielhaft lässt sich das sowohl im liturgischen (der canon romanus) wie auch im kirchenrechtlichen (dem kanonischen Recht) Sprachgebrauch zeigen. Auch Chorherren (Kanoniker) werden von ihrer lebensprägenden Regel her so bezeichnet. Von daher bietet es sich in Bezug auf das. was in der klassischen traditionstheologischen Terminologie als traditiones (als Einzeltraditionen) bezeichnet wird. an. diese als in Kanones zweiter Ordnung oder besser kanonartige Sammlungeri'8 des kulturellen Gedächtnisses zu verstehen. Mit dem biblischen Kanon teilen sie die Eigenart der Sammlung von Erinnerungsfiguren und Traditionsmaterialien im Sinne eines Funktionsgedächtnisses. das diesen Sammlungen eine Verbindlichkeit und Autorität verleiht. Dabei gilt es jedoch. eine eindeutige Abhängigkeit der kanonartigen Sammlungen vom biblischen Kanon als Primärkanon herauszustellen. Im Sinne klassischer Terminologie wird der biblische Kanon (inklusive seines narrativen Leitparadigmas. des heiligenden Prinzips) als norma normans non normata bezeichnet. Sie ist also zwar auf Auslegung durch das kulturelle Gedächtnis verwiesen. besitzt jedoch keine ihr voraus liegende Norm des Erinnerns und muss vielmehr selbst - in den Worten von Jan Assmann - als reziprokes Normativitätskriterium verstanden werden. Dahingegen kommt den kanonartigen Sammlungen eine davon abgeleitete norma normans normata zu. Angesichts des Zusammenhangs zwischen dem inhaltlichen Bestand eines Kanons und seines Auslegungsparadigmas. den Assmann als Zusammenhang von geheiligtem Bestand und heiligendem Prinzip beschreibt (vgl. oben 4.2.7.5. 28

Die grundlegende Legitimität eines solchen Gedankens ergibt sich schon daraus, dass Assmann selbst den Begriff des Kanons sowohl aufreligiäse, klassische, poetische, philosophische aber auch wissenschaftliche Texten anwenden kann (vgl. Assmann 1992:119).

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10.2 Ebenen, Träger und Strukturen der Erinnerung

S. 178-179), wird man den inhaltlichen Zusammenhang der einzelnen kanonartigen Sammlungen mit dem (biblischen) Kanon in analoger Weise mit dem Begriff der hierarchia veritatum verdeutlichen können, wie ihn das Okumenismus dekret des 11. Vaticanums verwendet. Die Wahrheiten stehen »je nach der verschiedenen Art ihres Zusammenhangs mit dem Fundament des christlichen Glaubens« (UR 11) in einem hierarchischen Zusammenhang, haben in je größerer Nähe zum christlichen Glaubensfundament (der Paradosis-Dynamik) eine höhere Verbindlichkeit. Dieser Zusammenhang lässt sich auch für die Auslegungsparadigmen der kanonartigen Sammlungen zum Auslegungsparadigma des biblischen Kanons herstellten. Die Paradosis-DynamikJesu, die man als Auslegungsprinzip des biblischen Kanons verstehen kann, ist dabei selbst als narratives Fundament zu verstehen und nicht als eine metaphysische Abstraktion als Auslegungsrichtlinie für die kanonartigen Sammlungen. Die Auslegungsparadigmen stehen selbst in einem narrativen Zusammenhang. Kanonartige Sammlungen können dabei sehr kleinteilig unterschieden werden. Neben den altkirchlichen Symbola, die sich im Wesentlichen als narrative Darlegung der Paradosis-Dynamik Jesu in den Gesamtzusammenhang der Heilsgeschichte verstehen lassen, sind dies etwa: Sammlungen von verbindlichen liturgischen Texten, das im Codex zusammengefasste Kirchenrecht, eine Sammlung von lehramtlichen Aussagen und Dogmen, ein Kanon von Kunstwerken, eine Sammlung prägender theologischer Entwürfe (etwa der Kirchenväter), ein Kanon von (etwa) gregorianischen Gesängen usw. Auch das deutschsprachige Gesangbuch »Gotteslob« kann als solche kanonartige Sammlung verstanden werden. Das gilt auch für eine Sammlung von Gebeten und Liedern, die für eine konkrete Gemeinde oder Gruppierung eine grundlegende Bedeutung zum Ausdruck ihrer Identität als christliche Erinnerungsgemeinschaft besitzen. Nicht alle dieser kanonartigen Sammlungen müssen dabei für die gesamte Kirche Geltung haben. Je beschränkter Ort, Zeit und Sprache ihrer Gültigkeit ist und damit auch je kleiner die Erinnerungsgruppe ist, für die sie identitätsrelevant sind, desto geringer ist ihre Verbindlichkeit und Autorität. Umgekehrt gilt für diese kanonartigen Sammlungen aber auch, dass sie nicht allein daraus Verpflichtungskraft beanspruchen können, dass sie gewissermaßen lehramtlieh zusammengestellt sind. Ihre Verbindlichkeit ist von der Rezeption durch die Gläubigen abhängig. Damit spielt auch die Frage, inwieweit sie einer Erinnerungsgruppe zum Ausdruck ihres Glaubens und ihrer Identität als Erinnerungsgruppe dienen, eine zentrale Rolle. In jedem Fall gilt dem biblischen Primär kanon eine selbst nicht normierte

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10 Tradition als Erinnerung

Normativität. Andere kanonartige Sammlungen sind anders als der Kanon der Bibel dabei nicht abgeschlossen, sondern einer Veränderung der Erinnerung zugänglich, die im Rahmen eines Zueinanders von kommunikativem Gedächtnis und kulturellem Gedächtnis ausgehandelt wird (vgl. oben 10.1.2.4, S. 433-436). 10.2.3.3 Die Paradosis-Dynamik als Kanonprinzip

Jan Assmann führt im Blick auf das Funktionsgedächtnis des Kanons neben dem geheiligten Bestand, also dem konkreten Textbestand eines Kanons, auch das heiligende Prinzip ein. Dieses Prinzip lässt sich als die grundlegende Form des erinnernden Rückbezugs, als Leitparadigma des Erinnerns, verstehen. Bei Assmann bezeichnet der Begriff Kanon immer schon das Zueinander beider Perspektiven in einem dynamischen Verhältnis. Der geheiligte Bestand ist ohne das heiligende Prinzip - den auf Aktualisierung und übertragung auf das konkrete kommunikative Gedächtnis angelegten Zugriff - nicht denkbar. Zu dieser Form des erinnernden Rückbezugs gehärt deshalb umgekehrt auch der Akt der Rezeption durch das kommunikative Gedächtnis. Aus erinnerungstheologischer Perspektive ist es zentral, das grundlegende Kanonprinzip des christlichen Kanons (und der kanonartigen Sammlungen) zu bestimmen. Im Blick auf die biblische Erinnerungstheologie des Neuen Testaments ist die Paradosis-Dynamik als innere Mitte wie als inhaltliches Kriterium für legitime Erinnerungstheologie herausgestellt worden. Damit muss das christliche Kanonprinzip grundsätzlich vom christologischen Pol der Erinnerung her konzipiert werden. Die Erinnerungsgruppen entwickeln oder rekonstruieren ihre Identität (im Zueinander mit dem kulturellen Gedächtnis) also wesentlich anhand der Erzählung von der Identität Jesu Christi, die sich ihrerseits nur als Geschichte erzählen lässt (vgl. dazu ausführlich unten, 11.3,492-494). Diese Narration liefert wiederum für das kollektive Selbstverständnis der Erinnerungsgruppe wie für das autobiographische Gedächtnis der Einzelnen und ihre Narrativität Anknüpfungspunkte. Eine solche (perspektivische) Erzählung verweist die Erinnerungsgruppen wie auch die Einzelnen immer wieder auf eine je neue Auseinandersetzung mit dem biblischen Kanon bzw. der Schrift als Zeugnis dieser Geschichte Jesu in der kontrastiven Einheit der Zeugnisse. Darin besteht das bleibend Neue des Evangeliums (vgl. Kasper 2015a:22; vgl. dazu auch oben unter 9.6 S. 419 und ferner 2.6.1.6, S. 79-81), insofern in der Auseinandersetzung mit der Schrift diese Geschichte Jesu je neu entdeckt werden kann, was auch zu einem Wandel des

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10.3 Inspirierte und inspirierende Erinnerung

eigenen Erinnerns führt. Im katholischen Selbstverständnis wird die Lebensgeschichte Jesu und damit auch die Paradosis-Dynamik primär aus inkarnationstheologischer Perspektive erzählt 29 Diese Erzählperspektive wird durch eine staurologische (Kirchen der Reformation) und eine anastatische Perspektive (Kirchen der Orthodoxie) ergänzt. Keine der drei großen Perspektiven ist allein in der Lage, die biblischen Zeugnisse mit exklusivistischem Anspruch zu deuten. Das Bewusstsein der Perspektivität des eigenen Erinnerungszugangs ist immer schon auf einen Dialog mit anderen Erinnerungsgemeinschaften angewiesen, insofern - erinnerungstheologisch formuliert - die verschiedenen konfessionellen Perspektiven der Aneignung sich gegenseitig an Aspekte, Erinnerungsfiguren und -inhalte erinnern, die bisher in den kollektiven Gedächtnissen der eigenen Konfession in Vergessenheit geraten sind. Das gilt nicht im Sinne einer Einbahnstraße, sondern wechselseitig. Ein so verstandener ökumenischer Erinnerungsdialog dient dazu, die Perspektive der je anderen Erinnerungsgruppe und damit letztlich die eigene Perspektive adäquater zu verstehen. Wenn damit der christologische Pol des Erinnerns deutlich gemacht worden ist, so gilt es nun noch den pneumatologischen Aspekt der kommunikativen und kulturellen Erinnerung zu entfalten.

10.3 Inspirierte und inspirierende Erinnerung Im Bereich des sakramentalen Erinnerns hat sich schon ein charakteristisches Zueinander von pneumatologischem und christologischem Pol gezeigt. Nun gilt es deutlich zu machen, inwiefern Tradition in erinnerungstheologischer Sprache als inspirierte Erinnerung verstanden werden kann. Der Ansatzpunkt liegt 29

Hier liegt ein erster Anknüpfungspunk für ein metaphorisches Verständnis des Zueinanders von Tradition und Innovation, wie es Markus Buntfuß angesichts der Inkarnation - dem jPvere homo et vere deus«< - als :»absolute[r] Grundmetapher des Christentums« entwickelt hat (Buntfuß1997:227). In dieser :»fundamentale[n] Spannungsmetapher der christlichen Religion« liegt für ilm auch das :»Spannungsverhältnis zwischen Tradition und hmovation« den ,>Grundzug der metaphorologischen Theologie dar« (Buntfußl997:227). Buntfuß ist in seiner Entwicklung einer metaphorologischen Theologie eindeutig zuzustimmen, besonders hinsichtlich des Spannungscharakters im Verständnis der Metapher der Inkarnation. Was Buntfuß als (Grundmetapher der) Inkarnation bezeichnet, ist in derTenninologie dieser Arbeit als Paradosis- Logik Jesu bezeichnet worden. Es ist durch ihren narrativen und metaphorischen Charakter ausgezeichnet und bedarf daher gerade einer perspektivischen Narration. Als Metapher ist sie aber eben nie eindeutig und bedarf immer wieder neu der Erzählung.

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10 Tradition als Erinnerung

darin, mit Walter Kasper die (theologische) Tradition grundsätzlich als "die in Lehre, Leben und Liturgie der Kirche geschichtlich wie geistlich ausgelegte Schrift« (Kasper 1990:183) zu verstehen. Damit erscheint die Gesamtdynamik der Tradition als kirchliche Erinnerung im Zueinander von kulturellem bzw. kanonischem Gedächtnis zu den kommunikativen Gedächtnissen im Wesentlichen als Schrifthermeneutik. Inspiration wird nach dem breiten Konsens heutiger inspirationstheologischer Ansätze (vgl. die übersicht der Entwürfe bei Gabel 2019) grundsätzlich nicht mehr (ausschließlich) als »äußeres, besonderes Einwirken Gottes speziell auf die biblischen Autoren verstanden« (Gabel 2019:180). Wenn darüber hinaus die »Inspiration der Schrift [... ] nicht behauptet werden [kann] unabhängig von ihrem Inhalt« (Gabel 2019:180), so kann sie auch nicht »unabhängig von ihrer faktischen Wirkungsgeschichte behauptet werden, in der sich ihre inspirierende Kraft bewährt« (Gabel 2019:181). Es ist die Zentralerkenntnis der neueren Inspirationstheologie, dass Inspiration »von vornherein im Strukturzusammenhang von Autor, Text und Leser anzusiedeln« (Gabel 2019:181) ist und sinnvollerweise nicht außer halb oder nur anhand eines der Momente dieses Zusammenhangs verortet werden kann. Damit wird die Inspiration »von einem Abgrenzungs- zu einem Beziehungsbegriff« (Gabel 2019:182). Der Ansatzpunkt für eine zeitgemäße Inspirationstheologie muss dabei» bei der inspirierenden Kraft der biblischen Texte« gesucht werden (Gabel 2019:182). Dabei gilt es, die Eigenart der »inspirierenden, lebensverändernden Kraft« biblischer Texte gerade in »ihrem Bezug zum Geist Gottes, der diese Welt verwandelt«, zu suchen, Inspirationstheologie also pneumatologisch zu betreiben (Gabel 2019:184). Grundlegend sind dabei die Ausführungen der Offenbarungskonstitution des 11. Vaticanums zur biblischen Hermeneutik. Dort wird im Blick auf den Begriff der Inspiration grundsätzlich der Zusammenhang zwischen der Inspiration des Ursprungs und der Inspiration des Lesens hergestellt, insofern »die Heilige Schrift in demselben Geist, in dem sie geschrieben wurde, auch zu lesen und auszulegen ist« (DV 12; vgl. dazu auch oben 2.6.2.4, ~91 S. 88 ). Im Blick auf die Bibel lässt sich der bei Ulrich Kärtner entwickelte Impuls zur Öffnung des Inspirationsbegriffs auf den Gesamtkomplex von Autor, Werk und Leser - den es im Folgenden genauer zu betrachten gilt - unterstreichen. In Bezug aufPaulus lässt sich herausstellen, dass bei ihm das Verständnis der Inspiration »nicht auf das Schreiben und Lesen von heiligen Texten« beschränkt ist, sondern sich »auf das christologische Heilsgeschehen selbst, auf die Person Jesu und auf die Anteilhabe an Gottes Gnade durch Glaube und Liebe« bezieht

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10.3 Inspirierte und inspirierende Erinnerung

(Söding 2019b:29). Diese Inspiration ist für Paulus nötig, um >,die Weisheit Gottes in der Torheit dieser Welt und um in der Torheit dieser Welt die Weisheit Gottes zu entdecken« (Söding 2019b:29f.). In dieser Paradoxie, die die Inspiration bedeutet, führt sie gleichzeitig »in die Krise des eigenen Lebens, in die Krise des Volkes Gottes, in die Krise des Kosmos hinein, um genau diese Krise als Geburt einer neuen Gottesrede, einer neuen Sinnsuche, einer neuen personalen und sozialen Identität zu feiern - in der Begegnung mit Gott« (Söding 2019b:30). So lässt sich also schon bei Paulus die Frage der Inspiration nicht auf eine besondere Q1lalität von Schriften reduzieren. Vielmehr steht sie in einer engen Beziehung zu einer »Glaubenserkenntnis, die das ganze Leben prägt« (Söding 2019b:30). Dabei kommt für Paulus der Auslegung biblischer Texte eine zentrale Bedeutung zu. Es gilt angesichts der sich kreativ und paradoxal auswirkenden Weisheit Gottes, »die Schriften Israels zu lesen, weil sie von dieser Verheißung zeugen« (Söding 2019b:30). Im Akt des Lesens wird deutlich, »inwiefern sie >um unseretwillen geschrieben< worden sind« (Söding 2019b:30). Der Einbezug des Lesers ist in diesen Prozess der Inspiration immer schon mitgedacht. Es lässt sich bei Paulus deshalb festhalten, dass eine solche »inspirierte Exegese, die Paulus [... ] praktiziert und identifiziert«, geradezu auf eine »inspirierte Lektüre seines eigenen Briefes« zielt (Söding 2019b:31).

10.3.1 Bibellektüre als inspiriertes Geschehen

In seinem Buch Der inspirierte Leser (1994), das für die Frage nach einem neuen Verständnis der Inspiration des Lesers mit Recht als klassisch bezeichnet werden kann, setzt sich ULRICH KÖRTNER insbesondere mit rezeptionsästhetischen Konzeptionen auseinander (vgl. dazu ausführlich, unten, 11.4, S. 495-499). Wenn er dabei (insbesondere über Paul Ricceur und Umberto Eco) den hermeneutischen Umschlag des Lesens, in dem der Lesende sich vor dem Text neu versteht, im theologischen Vokabular der Inspiration beschreibt, so gilt es, dies hier noch einmal deutlicher zu profilieren. Es ist dabei zunächst die charakteristische Spannung zwischen dem aktivischen Verstehen-Wollen eines Textes (gewissermaßen im Sinne eines Objekts) und dem passivischen Umschlag des Verstehens als Sich-selbst-Verstehen zu konstatieren. Dieses charakteristische Zueinander von Aktivität und Passivität im Lesen der Bibel kennzeichnet den Moment des

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10 Tradition als Erinnerung

Verstehens. 30 Dabei ist die Voraussetzung des Lesens zunächst der grundlegende Bruch, der im Wesen der »Welt, die der Text vor sich entfaltet«, liegt und der eine »Distanz gegenüber der alltäglichen Wirklichkeit« aufrichtet (Ricceur 1974a:40). Es ist die Herausforderung einer solchen rezeptionsästhetischen Annäherung an die Bibel, dass man sie gerade »von dem Sein her, das sie entfaltet«, als für die »ganze Wirklichkeit einschließlich meiner Existenz und meiner Geschichte offenbarend« verstehen lernt (Ricceur 1974a:40). Wenn man sich im Akt des Lesens der Bibel also zunächst wie einem Objekt nähert, kann der Umschlag des Verstanden-Werdens durch den Text gerade diese autobiographisch identitätskonkrete Bedeutung entfalten. Nun denkt Ulrich Körtner den Akt des Lesen jedoch streng individualistisch. Er kennt nur einen abstrakten einzelnen Leser. Aus erinnerungstheologischer Perspektive muss hier ergänzend betont werden, dass auch ein individueller Leser über das kommunikative Gedächtnis seiner Erinnerungsgemeinschaft in Kommunikationszusammenhänge verwoben ist. Von daher sollte das Moment der Inspiration stärker im Akt eines gemeinsamen Lesens verortet werden. Das hat sich schon im Blick auf das johanneische Verständnis des Parakleten deutlich herausstellen lassen (vgl. oben, 6.3.3, S. 287-291, sowie S. 312). Auch die Dogmatikerin Veronika Hoffmann setzt sich mit der Frage nach einem Verständnis der Inspiration ausgehend von rezeptionsästhetischen Fragestellungen auseinander. Sie begründet die Notwendigkeit dieser Auseinandersetzung jedoch (anders als Körtner) auch mit dem Paradigmenwechsel der Ojfenbarungstheologie durch die Offenbarungskonstitution des 11. Vaticanums. Dort wird Offenbarung als »heilvolle Begegnung Gottes mit dem Menschen, als Selbstmitteilung Gottes« verstanden, was »auch für die Inspirationstheologie von fundamentaler Bedeutung« ist (Hoffmann 2008:65). Dabei stellt sich dann 30

Kritisch wendet etwa Veronika Hoffmann in Bezug auf Körtner ein, dass bei diesem die Tendenz einer :»radikalleserorientierten Sicht« zu konstatieren sei und er damit gerade das Spannungsverhältnis zwischen Autor, Text und Leser einseitig auflöse. Aus theologischer Sicht gilt es hier einzuwenden, dass eine rezeptionsästhetische Betrachtung nicht in einen hermeneutischen Automatismus münden darf. Die bleibende Bedeutsamkeit des Ursprungs muss dabei genauso herausgestellt werden wie die :»Normativität von Schrift und Tradition« (Hoffmann 2008:69). Rezeptions- und produktionsästhetische Perspektive müssen so in ein Verhältnis gesetzt werden, dass die Inspiration am Ursprung und die Inspiration des Lesers aufeinander bezogen bleiben. Auch der Akt der Aneignung muss für Hoffmann theologisch, genauer: pneumatologisch, in einer charakteristischen ,>Verteilung von Aktivität und Passivität im Vorgang der ,Aneignung des Wortes Gottes< « (Hoffmann 2008:69) bestimmt werden.

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10.3 Inspirierte und inspirierende Erinnerung

für Hoffmann insbesondere auch das Problem der Zeitlichkeit, weshalb Inhalt und Faktizität der Offenbarung nicht mehr in ein Kern-Schale-Modell integriert werden können, sondern in ihrer Untrennbarkeit gedacht werden müssen, was auch für die überlieferung gilt (vgl. Hoffmann 2008:65). Es ist die - auch von Körtner in pneumatologischer Perspektive dargestellte - charakteristische Passivität des Lesers, die sich als "das anthropologische Pendant zum Wirken des Geistes verstehen [lässt], das seinerseits das entscheidende Moment darstellt, durch das der Leser des biblischen Textes zum Empfänger der Selbstoffenbarung Gottes wird« (Hoffmann 2008:72). Aus einem Interpreten wird ein »Zeuge, der nicht mehr zuerst ergreift, sondern ergriffen - zum Zeugnis befähigt und beauftragt - wird« (Hoffmann 2008:72). Im Begriff der Verfremdung (Paul Ricceur) ist dabei aber schon angedeutet, dass es hier nicht um einen bruch lasen Prozess des Verstehens gehen kann, es ist vielmehr der »Durchgang durch eine gewisse Krisis« (Hoffmann 2008:72), die sich mit der Gebrochenheit des eigenen Lebens und Verstehens auseinandersetzt und die Veronika Hoffmann dann als für den Glauben notwendige metanaia verstehen kann.

10.3.2 Inspiration und narrative Identität der Kirche Weil Veronika Hoffmann einen Traditionsbegriff in Gegenüberstellung zur Innovation als unzulässige Aufspaltung des Traditionsbegriff versteht, sucht sie ihren Ansatzpunkt beim Konzept der narrativen Identität von Paul Ricceur. Angesichts des in dieser Arbeit entwickelten Begriffs der Tradition als kollektiver Erinnerung (im charakteristischen und spannungsreichen Zusammenspiel von kommunikativem und kulturellem Gedächtnis und damit auch von fundierender und kontrapräsentischer Erinnerung) soll dahingehend das spezifische Moment inspirierter Erinnerung herausgearbeitet werden. Wenn die Identität der Kirche in analoger Weise als narrative Identität 3 ! ge31

Das Konzept der narrativen Identität bei Paul Ricceur bedeutet für Hoffmann zentral die :>,Einschreibung der Zeitdimension in die Identität der Person« (Hoffmann 2008:78). In einem solchen Verständnis, das sich mit einem pneumatologischen Kirchenbegriff verbinden lässt, erweist sich j>die Polarisierung von ,Tradition< und ,hmovatioll< als unsachgemäß«, insofern der Unterschied beider Begriffe j>im Konzept der narrativen Identität von Anfang an miteinander verschränkt« (Hoffmann 2008:78) ist. In den vorherigen überlegungen zu Paul Ricceur hatte sich bereits herausarbeiten lassen, dass die beiden Pole der Identität (Idem und Ipse) im Konzept der narrativen Identität im Sinne einer diskontinuierlichen Kontinuität miteinander verbunden werden, die es erlaubt "Veränderlichkeit, Verschiedenheit und Diskontinuität in das

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10 Tradition als Erinnerung

dacht wird, bedeutet das, "dass sie - in Analogie zur Konstitution der Identität der Person über die Erzählung - als Zeugen- und Rezipientengemeinschaft der Offenbarung von deren Fortgang her ihre Identität erhält« (Hoffmann 2008:81). In dieser diskontinuierlichen Kontinuität bezieht sie sich »sowohl auf das Leben der einzelnen Glaubenden als auch auf das der gesamten Gemeinschaft« und zwar sowohl in der »Rückbindung an den normativen Ursprung« als auch »in der Bezeugung des HandeIns Gottes in der Geschichte respektive den Geschichten« (Hoffmann 2008:81). Der Rückbezug auf den normativen Ursprung (im Kanon) als dynamische Bindung in ihrer »identitätskonstitutiven Eigenschaft für die Kirche« (Hoffmann 2008:81) verbürgt dabei gewissermaßen das Moment der Selbigkeit der Kirche (Idem-Identität), die schon mit einem Moment der Selbstheit (Ipse-Identität) - insbesondere in der Selbstbindung an diesen Ursprung verwoben ist (zur Differenzierung von Idem- und Ipse-Identität vgl. oben, 4.4.2 S. 191f.). Dieses in der Selbigkeit der Kirche liegende Moment der Selbstheit schließt jedoch nicht »die Annahme einer unwandelbaren Wesensstruktur, von der akzidentelle Einkleidungen unterschieden werden könnten, ein[ ... ]« (Hoffmann 2008:81). Die Selbstheit (Ipse-Identität) dagegen »bezeichnet den Ort des Geistes« (Hoffmann 2008:81). Entscheidend ist dabei, dass die Kirche ihre Treue gerade nicht selbst wirkt, sondern »in der Treue Gottes gehalten ist, der zu seinem gegebenen Wort steht« (Hoffmann 2008:82). Diese Treue Gottes ist für Hoffmann also »die Zusage des Heiligen Geistes«, sodass wiederum »die pneumatologische Dimension mit einem Moment der Passivität verknüpft« ist (Hoffmann 2008:82). In einem Verständnis kirchlicher Identität als narrativer Identität werden beide Momente zusammengehalten. Wenn der Geist als Selbstheit der Kirche verstanden wird, so ist er dem Charakter der Kirche »in der Inspiriertheit der Schrift und ihrer kirchlichen Rezeption« eingeschrieben und so mit der Selbigkeit der Kirche verwoben. Dabei ist der Geist also »mindestens so sehr der Garant der Kontinuität wie der Schöpfer des Neuen in der Kirche« (Hoffmann 2008:82). Wenn die Identität der Konzept der Identität mit auf[zu]nehmen« (Hoffmann 2008:78f.). Während die Idem-Identität (Selbigkeit) der Kontinuität in der Zeit verpflichtet ist, liegt in der Ipse-Identität (Selbstheit) in gewisser Weise ein Akt der Verneinung des Wandels. Die Selbigkeit einer Person verwirklicht sich dabei wesentlich in ihrem Charakter. Die Selbstheit hingegen ereignet sich paradigmatisch im gehaltenen Wort, in dem ein konstitutives Moment der Treue enthalten ist (vgl. dazu oben 4.4, S. 189-197, bes. 4.4.2, S. 191).

Die narrative Identität besteht dann wesentlich darin, dass sie zwischen beiden Polen der Identität oszilliert, womit nach Ricceur eine »personale Identität ohne die Annahme eines unwan-

delbaren Kerns gedacht werden kann« (Hoffmann 2008:8of.).

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10.3 Inspirierte und inspirierende Erinnerung

Kirche im Sinne einer »pneumatologisch-narrativen Identität« verstanden wird, lässt sich das Wirken des Geistes in der Inspiration der Schriftsteller wie der Tradenten und Leser im Sinn der »geistgewirkten Treue« verstehen, in dem auch der »Zusammenhang von Schriftwerdung, Kanon und Interpretation [... ] ein pneumatologisch-narrativer« (Hoffmann 2008:82f.) ist. In einer erinnerungstheologischen Aneignung dieser Erkenntnisse lässt sich zunächst Folgendes festhalten: Wenn die Identität der Kirche als pneumatologisch-narrative Identität im Sinne von Veronika Hoffmann verstanden wird, lässt sich damit die Frage nach dem Su bjekt kirchlicher Erinnerung in einer neuen, nicht substanzialistischen oder metaphysischen Weise stellen. Im passiven Moment des Verständnisses biblischer Texte lässt sich mithin die gleiche Logik des Wirkens des Geistes feststellen, die Louis-Marie Chauvet anhand der Struktur des zweiten Hochgebets für das Verständnis von Sakramenten herausarbeitet (vgl. unten, 11.1.2, S. 486-488). In der Passivität des Verstehens weicht das (aktive) Interesse des Lesers an dem Text dem Verstehen als einem VerstandenWerden und damit der Einsicht in die existenzielle und biographische Bedeutung des biblischen Textes. Diese Einsicht wiederum wird dann in einem gläubigen Akt des Lesers als Wirken Gottes im Medium des Textes (aktivisch) bekannt. Ein solches Verständnis des Geistes als Träger kirchlicher Erinnerung oder als Garant der Treue der Kirche zu ihrem Ursprung läuft aber gerade nicht auf die (übergeschichtliche) Behauptung eines transzendentalen Subjekts der Erinnerung hinaus. Vielmehr ist es das charakteristische dialogische Zueinander zwischen Gott undMensch im Heiligen Geist, die gegenseitige Verinnerlichungsdynamik der Erinnerung, die der Blick auf das biblische Zeugnis herausgestellt hat. Eine solche narrative Identität bringt sowohl das aktive Erinnern der kommunikativen und kulturellen Gedächtnisse wie das passive Erinnert-Werden durch den Geist Gottes in eine spannungsvolle Dialektik. In dieser Dialektik kann die Erinnerung der Kirche weder ausschließlich im Sinne fundierender (vgl. etwa Walter Kasper) noch ausschließlich im Sinne kontrapräsentischer Erinnerung (vgl. Johann Baptist Metz) gedacht werden. Vielmehr sind beide Momente notwendig ineinander verwoben. Im Blick auf das Verständnis von Tradition als inspirierter Erinnerung gilt es hier schließlich noch, zwei weitere Momente hervorzuheben, die man gegenüber Veronika Hoffmann einwenden kann. Auch bei ihr wird letztlich wie bei Ulrich Körtner der Akt des Lesens, der über die Hermeneutik von Ricceur die zentrale Bedeutung auch für kirchliche Identitätsrekonstruktion (im Sinne narrativer Identität) erhält, auf einen abstrakten Leser bezogen. Das ist in der Logik

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10 Tradition als Erinnerung

von Ricceur konsequent und schmälert nicht die Richtigkeit des Entwurfs. Eine erinnerungstheologische Herangehensweise wird jedoch das kollektive und kommunikative Moment des Erinnerns und damit eben auch der Schriftlektüre nicht außer Acht lassen dürfen. Es gilt zu betonen, dass das für das kollektive - gerade für das kommunikative - Gedächtnis entscheidende Moment des Sich-neu-Verstehens vor dem Text der Schrift gerade innerhalb einer spezifischen sozialen Interaktion der Erinnerungsgruppe verstanden werden muss. Das Paradigma des (im gläubigen Sinn) verstehenden Lesens ist umgekehrt in seiner individualistischen Fassung gerade deshalb nicht vollständig erfasst, weil hier zwar die charakteristischen Momente eines rezeptionsästhetischen Zugangs zur Bibel und auch das Moment der Passivität zum Tragen kommen, der Zentralakt des kommunikativen Gedächtnisses aber gerade sowohl ein Sich-neu-Verstehen der Einzelnen wie ein Sichneu-Verstehen der erinnernden Gemeinschaft bedeutet, die in der gemeinsamen Bibellektüre liegt. Für Johanna Rahner ist es die zentrale Erkenntnis des Paradigmenwechsels der Inspirationstheologie, dass dem Rezeptionsprozess in der Gemeinschaft der Kirche entscheidende Bedeutung zukommt. Es müssen »nicht einfachhin die einzelnen Schriftsteller des biblischen Kanons und damit der Produktionsvorgang der Schriften« als inspiriert verstanden werden, sondern die »Schriftwerdung und Kanonbildung im umfassenden Sinne«, was gerade den »vielfältigern] und mehrstufige[n] Konzeptions- und Rezeptionsprozess in der Gemeinschaft der Kirche« (Rahner, ]. 2019:192; Hervorh. AJ) umfasst. Einerseits bringt der einzelne inspirierte Leser sein gläubiges Verstehen der Bibeltexte in den Figurationsprozess der Erinnerung im kommunikativen Gedächtnis ein - etwa durch eine biographisch geprägte Narration oder aber einen künstlerischen oder auch theologischen Ausdruck dieser Leseerfahrung. Andererseits bildet sich dieses gläubige Verstehen letztlich - so wie Kasper die »Neubesinnung auf die Schrift« (Kasper 1970:181) als Ursprung und Movens jeder wesentlichen Reform der Kirche versteht - in den Kommunikationsvollzügen des kommunikativen Gedächtnisses im Sinne einer Emergenz heraus, die sich dann auch in einem davon abgeleiteten Verständnis als Folge dieses Inspirationsprozesses als inspirierte Emergenz beschreiben lässt. Die gemeinsame Schriftlektüre, wie sie etwa als lectio divina, in Bibelkreisen oder bei der Methode des Bibelteilens oder des Bibliologs praktiziert wird, ist dafür ein paradigmatisches Beispiel. Im Unterschied zur individuellen Lektüre ist es hier gerade eine Erinnerungsgruppe mit}e unterschiedlichen Perspektiven und biographischen Prägungen, die

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10.3 Inspirierte und inspirierende Erinnerung

sich einem biblischen Text nähert. Dabei tritt der Text dann gewissermaßen in ein Gespräch ein und wird aus der Multiperspektivität der Gruppenmitglieder in seiner Multiperspektivität oder Ambiguität und im bruchhaften Zusammenhang mit anderen Glaubenserinnerungen erfahr bar. Auch hier kann er für die autobiographischen Gedächtnisse der Einzelnen Relevanz entwickeln wie er auch - gewissermaßen direkt - das Selbst- und Glaubensverständnis der versammelten Gruppe, ihre kollektive Erinnerung, prägt. Auch hier vollzieht sich also inspirierte Emergenz. Eine so skizzierte Dynamik kann sich letztlich auch in der Auseinandersetzung mit Zeugnissen der Tradition (traditiones / Elemente kanonartiger Sammlungen) in einer davon abgeleiteten Weise vollziehen, insofern in der grundsätzlichen Kanonlogik der Paradosis-Dynamik Jesu (katholisch: als dem menschgewordenen Sohn des Gottes Israels) auch die Grundlogik der kanonartigen Sammlungen besteht und die Traditionszeugnisse damit immer sowohl auf die (christologisch gefasste) Kanonlogik als auch auf die pneumatologisch unterfasste Verstehens-Dynamik verwiesen bleiben. Es könnte gegenüber dem Ausgeführten eingewendet werden, dass sich ein Widerspruch ergibt, wenn diese Arbeit in der spezifischen Perspektive auf die Paradosis-Dynamik Jesu das je konfessionell unterschiedliche Kanonprinzip in christologischer Weise bestimmt, nun aber die Dynamik des Lesens und Verstehens pneumatologisch-narrativ als gläubiges Sich-neu-Verstehen bestimmt. Es ist jedoch gerade die spannungsvolle Dialektik dieser beiden Perspektiven, die nicht nur das Wesen christlicher Bibellektüre, sondern damit auch das Wesen der Tradition als christlicher Erinnerung ausmacht: Indem sich die Erinnerungsgemeinschaft auf ein (aktives) Verstehen (und Sich-selbst-Verstehen im Angesicht) Jesu, auf den sich die katholische Kirche in inkarnationstheologischer Perspektive bezieht, ausstreckt, bleibt sie auf ein pneumatologisch gefasstes (passives) Verstehen durch den Geist Gottes, der das sich Neu-Verstehen der Kirche wie auch der Einzelnen erst ermöglicht, verwiesen. Nur wo sich sowohl die aktive als auch die passive Dimension des Erinnerns ereignen, geschieht eine solche identitätsrelevante Erinnerung, die auch ein neues Erzählen von dieser Erfahrung (eine Erinnerungsnarration) ermöglicht. Das wiederum macht den gottmenschlichen Erinnerungsdialog als einen gegenseitigen Verinnerlichungsprozess wieder deutlich. Die Erinnerungsfiguren (die Artefakte des Erinnerns und die traditiones) entfalten ihren Sinn (als Produkte inspirierter Emergenz, die sie selbst sind und bleiben) nur in dieser umfassenden Logik der Erinnerungsdynamik.

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Sowohl im Blick auf die Schrift als auch im Blick auf die Erinnerungsartefakte (oder traditiones) bedarf aber diese umfassende Logik als geschichtliche Logik einer Kriteriologie, die dem kulturellen Gedächtnis insbesondere durch die Theologie zur Verfügung steht. Obwohl die Relevanz der Aktualisierung der (biblischen) Erinnerung also den Fokus ausmacht, bildet die Theologie als auf Geschichte verwiesene Theologie eine kritische Instanz. Diese Instanz hinterfragt das in der Selbigkeit der Kirche sich ausdrückende Bestreben nach Kontinuität und setzt es einer historischen Kritik aus, die eine Sprachfähigkeit mit anderen kommunikativen Gedächtnissen und eine Reflexion der Wahrheitsfähigkeit ihres Erinnerns erst ermöglicht. Anknüpfungspunkte für eine solche Kriteriologie finden sich sowohl bei Walter Kasper als auch bei Johann Baptist Metz. Entscheidend ist dabei, dass die Theologie gerade in der Multiperspektivität ihrer Fächer zu einer solchen kriterio logischen Instanz wird, die also auf wissenschaftlicher Basis Entscheidungskriterien und Argumente liefert, die einer grundsätzlich legitimen historischen Kritik entsprechen und standhalten. Der biblischen Theologie kommt dabei eine besondere kriteriologische Rolle zu, sowohl im Blick auf die kirchlichen Erinnerungsgemeinschaften als Ganze, als auch zur Erfüllung der kritischen Rolle des Lehramts (vgl. oben 2.6.2.3, S. 87). Mit einer Formulierung von Walter Kasper wird man vom Wächteramt der Exegeten sprechen können (vgl. oben unter 8.5, S. 369), das darüber wacht, "daß sich Glaube und Verkündigung der Kirche nicht von ihrem Ursprung entfernen« (Kasper 1970:184). Gleichzeitig damit ist es die historische-kritische Betrachtung der biblischen Texte, die einen zentralen Dienst an der Wahrheit und Wahrhaftigkeit der biblischen Texte tut. Alle geistliche Schriftauslegung ist postkritische geistliche Schriftauslegung (Kasper 1990:185), die erfordert, dass historisch-kritische und systematisch-dogmatische Schrifthermeneutik sich in einen konkreten und dynamischen Dialog begeben (vgl. dazu auch die Aussagen von DV 12; dazu oben 2.6.2.4, S. 90-91). Der Exegese kann es dabei nicht um die lineare Rekonstruktion einer Kontinuität gehen. Vielmehr verhilft die Rekonstruktion der jeweiligen Kontexte dazu, neue Perspektiven auf die Hintergründe der biblischen Texte zu erhalten, die neue Anknüpfungsmöglichkeiten im Heute ermöglichen. Auch historischer Theologie geht es darum, die identitätsprägenden Erinnerungsnarrative der Kirche - und das heißt in einer notwendig mikrologischen Betrachtung: der einzelnen Gemeinschaften und Ebenen der Kirche, die als unterschiedliche kommunikative Gedächtnisse beschrieben worden sind - auf ihre Kohäsion, d.h. auf den Zusammenhang mit anderen Artefakten und Q1lellen aus

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10.3 Inspirierte und inspirierende Erinnerung

ihren jeweiligen historischen Kontexten, hin zu befragen. Die systematische Theologie ist dann - im dialogischen Miteinander zur Exegese und zur Kirchengeschichte - von dem her zu verstehen, was Metz als apologetische Funktion argumentativer Theologie versteht. Ihre Aufgabe ist es, "die erzählende Erinnerung des Heils in unserer wissenschaftlichen Welt zu schützen, sie kritisch in der argumentativen Unterbrechung aufs Spiel zu setzen und immer wieder neu zum Erzählen anzuleiten, ohne das die Erfahrung des Heils stumm bliebe« (Metz 1977:190). Damit ist systematische Theologie auf die (primäre) narrative Theologie der Erinnerungsgemeinschaften verwiesen. Sie dient diesen Erinnerungserzählungen, indem sie sie auf ihre Kohärenz hin befragt und dadurch vor vorschnellen identitären Bestrebungen bewahrt. Sie macht dabei gegen die fundierenden Aspekte der Erinnerung auch immer wieder die kontrapräsentische Erinnerung stark und stellt damit christologisch fokussierte Momente der Innovation - oder in den Worten von Metz: die memoria Jesu Christi als memoria passionis - als Maßstab theologischen Redens zur Verfügung (vgl. dazu auch oben 9.3.6.2, S. 406-408, bes. S. 407f.). Damit stellt systematische Theologie Selektionskriterien zur Verfügung, anhand derer die Erinnerungsnarrationen der kirchlichen Erinnerungsgemeinschaften gedeutet und organisiert werden (vgl. Essen 2015:190). Diese Kriterien dienen aber nicht einer Vereinheitlichung, sondern einem »produktiven Umgang mit Mehrdeutigkeitspotentialen innerhalb der Kirche« (Essen 2015:193; vgl. dazu insgesamt auch oben unter 2.6.1.3, S. 75). Die Praktische Theologie setzt sich im Zueinander der theologischen Disziplinen insbesondere mit den biographischen Relevanzräumen heutiger theologischer Erinnerungsnarrative auseinander. Sie stellt exegetischer, historischer und systematischer Theologie Erkenntnisse in der Erforschung der Mit- oder Umwelt in ihrer geschichtlichen Kontextualität zur Verfügung, von denen her Kirche und Theologie ihre Lehre, ihren Glauben und ihre Erinnerung neu verstehen müssten (vgl. dazu oben 2.6.2.6, S. 95-97). Eine solche theologische Kriteriologie ist damit nur grob umrissen. Sie vollzieht sich im je neuen dialogischen Miteinander der theologischen Disziplinen und des geschichtlichen Kontextes. Das Zueinander der Schrift zu ihrer identitätsprägenden und -verändernden Lektüre ist bisher hauptsächlich in formaler Perspektive und in theologischer Aneignung rezeptionsästhetischer Prämissen geschehen. Im letzten Schrill soll nun noch plausibilisiert werden, dass diese Möglichkeit des Sich-neu-Verstehens vor dem Text geradezu auch im Wesen der biblischen Sprache, nämlich in

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10 Tradition als Erinnerung

ihrer Metaphorik, angelegt ist. 10,3,2,1 Die inspirierende Metaphorik biblischer Sprache

Für die biblischen Schriften lässt sich mit MARIANUS BIEBER als wesentliches Merkmal die »Uneindeutigkeit und Pluralität der narrativen und metaphorischen Redeweise des Wortes Gottes« (Bieber 2015:262) feststellen, die sich einer monolithischen Systematisierung gerade entzieht. Von daher gilt es noch einmal zu betonen, dass die als Kanonprinzip herausgestellte Paradosis-Dyuamik (katholisch in ihrer inkarnationstheologischen Perspektive) gerade in ihrer Narrativität selbst nicht beansprucht, Eindeutigkeiten hervorzubringen, sondern im Sinne einer Grundperspektive zu verstehen ist, die sich in je unterschiedlichen, nicht selten sogar kontradiktorischen narrativen Konkretionen aktualisiert. Von daher lebt eine »religiöse literarische Hermeneutik [... ] von dieser Sinnschöpfung neuer Welten aus den Bildern des Wortes Gottes« (Bieber 2015:265). Dabei fällt auf, dass gerade »die Worte Jesu über Gott, sein Reich und seinen Christus [... ] nur metaphorisch in Gleichnissen und Bildworten ergehen«, was sich nur so deuten lässt, dass Jesus von Gott »nur metaphorisch reden konnte« (Bieber 2015:265). Ein Sprechen von Gott ist deshalb nicht anders als metaphorisch möglich, weil der »Referenzbereich >Gott< gar nicht direkt beschreibbar, sondern nur metaphorisch umkreisbar ist« (Bieber 2015:266). Nur eine narrative oder eben metaphorische Redeweise kann sich Gott etwa im Bild des Vaters 32 nähern, der nicht ein »äußerlich feststellbares >Person-Ding< [ist] wie [... ] ein menschlicher Vater«, sondern vielmehr »nur eine innerlich erfahrbare atmosphärische Nähe, die sich als >väterlich< bildhaft andeuten lässt« (Bieber 2015:267), wie Bieber unter Bezug auf Gedanken von Paul Ric02ur ausführt. Dabei gilt für solches metaphorisches Sprechen bzw. solche Sprachbilder, dass sie »ein Produkt aus metaphorischen Begriffen (Bildworten) oder Aussagen (Gleichnissen) und der Erfahrung durch den Hörer (oder Leser)« (Bieber 2015:267; Hervorh. AJ) sind. Die Metapher ist damit also gewissermaßen die sprachliche Form, die der Verfremdung entspricht. Diese Verfremdung macht die Begegnung mit Texten aus und führt dann zur verändernden Erfahrung des Sichneu-Verstehens vor dem Text. Metaphern sind (wie die biblische Sprache insgesamt) Grenzausdrücke, die zunächst an die »Einbildungskraft und erst dann 32

über das Bild des Vaters und des Reiches (Gottes) hinaus hat Bieber dieses Verständnis auch auf die Gleichnisse Jesu, ihre alttestamentlich vorgezeichneten Bilder und die Bildworte des johanneischen Jesus erweitert (Bieber 2019:94-102).

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10.3 Inspirierte und inspirierende Erinnerung

an unseren Willen« (Ricceur 1974b:70) appellieren. Die menschliche Kreativität wird also durch spezifische sprachliche Merkmale angesprochen, die in den Erzählungen und Metaphern der Bibel angelegt sind. Die Metapher findet dabei >,ihr Leben gerade in der Uneindeutigkeit, die sich in der Mehrdeutigkeit, der Vielfältigkeit von Konnotationen und Assoziationen ausdifferenziert« (Bieber 2015:267). Es ist das Prinzip der Fülle, das erst »das Schöpferische der metaphorischen Sprache zur Entfaltung bringt« (Bieber 2015:267). Dabei ist der metaphorischen Kreativität jedoch insbesondere durch den Kanon eine Grenze gesetzt, innerhalb deren sie Sinn entfalten kann. Auch und gerade in einem solchen metaphorischen Verständnis gibt es die »Notwendigkeit der Exegese«, die »über die geschichtliche Situation und den Kontext der metaphorischen Aussage zu informieren« hat (Bieber 2015:267), damit die Sinngebungsprozesse nicht in eine Beliebigkeit münden. Angesichts dessen kann sich dann die Kreativität der Metaphern Jesu im Leser ereignen. In einem solchen Verständnis geht es grundsätzlich weniger um die Interpretation, als vielmehr um die »Meditation, d.h. nicht um die Feststellung des objektiven >eigentlichen< Sinnes der Bildrede - den es dann so vielleicht gar nicht gibt (7) -, sondern um die Produktion von Wirkungen (Vorstellungen, Assoziationen) im Hörer« (Bieber 2015:267). Die Gleichnisse und Bildworte Jesu geben dem Leser dabei »keine ausgeprägten Bilder vor [... ], sondern nur bestimmte >schematisierte Ansichten«< (Bieber 2015:268). Der Begriff der Schemata - den Bieber ebenfalls von Ricceur übernimmt - meint »einfache Angaben, die [... ] als bloße >Bedeutungsträger< zur Erscheinung kommen« und damit nicht Phantasiebilder erzeugen, sondern »bedeutungsträchtige Assoziationen als Wirkungen hervor[]rufen« (Bieber 2015:268). Das ist für Bieber der zentrale Unterschied zu fiktionaler Literatur. Die Bibel legt dabei - ebenfalls im Gegensatz zu fiktionaler Literatur - »keinen Wert auf eine äußerliche Beschreibung von Personen, Landschaften oder Dingen« (Bieber 2015:268). Das verdeutlicht, dass es den biblischen Schriften nicht um ein »vorstellungsmäßiges Sich-Hineinversetzen in die Erzählung geht« (Bieber 2015:268). Es sind »modellhafte Grundbeziehungen«, die dargestellt werden, um sie dann »auf das Göttliche [zu] übertragen« (Bieber 2015:268). Zentral für das Verständnis ist die Eingebundenheit der Bildworte und Gleichnisse in das Gesamtwerk des Evangeliums wie auch des Kanons. Erst diese Gesamtheit »ergibt die >Lehre< Jesu von Gott und seinem Reich« (Bieber 2015:269). So interpretieren sich etwa die Bilder der Gleichnisse in diesem Kontext gegenseitig oder eröffnen »den Horizont für die Deutung des aktuell vorliegenden

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10 Tradition als Erinnerung

Textstücks«, woraus sich schließlich »ein >Beziehungsnetz< der verschiedenen Bilder und Modelle von >Gott< aus [bildet]« (Bieber 2015 :269). Entscheidend ist dabei, dass Jesus selbst keine Verbindungen der einzelnen Perspektiven untereinander andeutet. Wenn man sich an einer solcher »>offenen< Lektüre der Schrift [versucht], ist man deren Ambiguität und Rätselhaftigkeit ausgesetzt« (Bieber 2015 :270). Gerade dort, in den Widersprüchen und Paradoxien und den »fehlenden Synthesen zwischen den Gleichnissen« (Bieber 2015:270), liegt dann aber die Möglichkeit eines (tieferen) Verstehens. Zentral ist für Bieber, dass der Leser seine »Situation [... ] aus Not, Verzweiflung, Sehnsucht und Hoffnung, Sünde und Schuld« als entscheidende Frage an den Text heranträgt (Bieber 2015:271). Aus diesem perspektivischen Lesen, ausgehend von den eigenen existenziellen Fragen, eröffnet sich dann eine Perspektive »auf Erlösung und Freiheit, Erfüllung und Befriedigung, Vergebung und Versöhnung« (Bieber 2015:271). Das ist deshalb so zentral, weil es den biblischen Gleichnissen nie darum geht, »was der Gott >an sich< ist, sondern immer nur, was er >für uns< ist« (Bieber 2015:271). Weil also die Gleichnisse und die in ihnen verwendeten Metaphern immer schon eine auf den Menschen und seine Situation gerichtete Rede sind, entwickelt sich in der gerichteten Lektüre, in der der Einzelne seine Situation - oder erinnerungstheologisch formuliert: seine autobiographischen Prägungen und Erinnerungsfiguren - dem Text aussetzt, ein Verstehen, das gleichermaßen ein SichVerstehen nicht nur vor dem Text, sondern letztlich vor Gott ist. Mit dieser Beziehungskomponente der metaphorischen Sprache der Bibel geht einher, dass ein tieferes Verständnis letztlich mit einer »Zerstörung der >GottesbilderNehmen< wird zum >Zurückgeben< - zur >Danksagung< [... ] resp. zur Antwort auf Gottes Gnade« (Chauvet 1987:270). In Bezug auf das Verständnis der Gabe bedeutet das bei Chauvet folglich, dass »[d]ie >objektive< Gestalt der Darbringung von Gaben und die >subjektive< der eigenen Hingabe« sich nicht voneinander trennen lassen, »weil eine Gabe nicht denkbar ist ohne ein Element der Selbstgabe« (Hoffmann 2015:127). In der Teilhabe an der Eucharistie - am eucharistischen Hochgebet und der Kommunion - üben die Gläubigen, zentral im (aktiven) kollektiven Gedächtnis der Anamnese, diese Haltung der Hingabe ein, die im Vorherigen schon als Oblatio bezeichnet worden ist. Als Desiderat war ein solches erinnerungstheologisches Verständnis der Oblatio34 im Sinne einer von der Paradosis-Dynamik Jesu abgeleiteten und auf sie bleibend bezogenen Selbst-überlieferung des einzelnen Christen in Bezug auf die Lebens-Dimension des dynamischen Traditi34

Biblisch hatte sich ein solches Verständnis unter Verweis auf das paulinische Verständnis von Taufe und Abendmahl nahegelegt (vgl. oben Fn. 110, S. 299).

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11 Perspektiven

onsverständnisses der Offenbarungskonstitution Dei Verbum (vgl. oben unter 2.7.3.3, S. 110) benannt worden. Die Oblatio lässt sich also einerseits als eine Haltung beschreiben, die im Kontext des zentralen kollektiven Erinnerungsvollzugs der Eucharistie eingeübt wird und damit die Identität der Erinnerungsgruppe prägt. Andererseits aber befähigt und ermutigt sie den Einzelnen zu einem ethischen Verhalten (im Sinne der Hingabe), das Chauvet ja u.a. im Blick auf das Verständnis der Schöpfung und der damit zusammenhängenden ökologischen Fragen deutlich macht (vgl. oben).35 Sakramente sind dabei als Gedächtnis Jesu Christi verstanden worden und prägen in ihrer spezifischen symbolischen Struktur das Selbstverständnis und Handeln der Gläubigen. Als Zentrum und Kristallisationspunkt dieses umfassenden Erinnerungsgeschehens, das aktive Momente der Erinnerung der Gemeinde mit dem passiven Moment des Wirkens des Geistes Gottes verbindet, lässt sich die Eucharistie verstehen.

11,2 Theologie des kommunikativen GedächtnissesAlex Stock Die poetische Theologie von ALEX STOCK kann man als Theologie der sich stetig wandelnden kommunikativen Erinnerung der Kirche verstehen. Stock geht dabei grundsätzlich davon aus, dass im »Wandlungskontinuum« der Kirchengeschichte die Kirche gerade »Veränderungen unterliegt wie ein lebendiger Körper« und sich »in komplexen Wechselwirkungen mit seiner Umwelt [... ] entfaltet und behauptet, wächst oder erkrankt, abmagert, abstirbt, was alles nicht nur unmittelbar erlebt, sondern auch berichtet und erzählt werden kann« (Stock 2016:8). So gilt etwa vom christlichen Gottesdienst, dass er »in seiner Textstruktur [... ] gewollter Mehrzeitenraum« (Stock 2016:11) ist, und zwar insofern als die »zyklische Zeit der Liturgie [... ] die lineare Zeit der Geschichte in ihr kurzzeitiges Gefüge ein[fängt]« (Stock 2012: 11). In diesem Zusammenspiel zwischen Rhythmisierung und Linearität steckt für Stock gerade die charakteristische Möglichkeit nicht nur »retrospektiver Einbettung, sondern auch [... ] prospektiver Öffnung« (Stock 2012:11), weshalb also Vergangenheits- und Zukunftserinnerung in der Liturgie zusammenfallen und ihre charakteristische (eschatologische) Spannung ausmachen. Unter Verweis auf Augustinus zeigt Stock, dass 35

Man wird also ein solches Verständnis der Eucharistie gerade sowohl als identitätskonkret wie auch als auf praktisches Tun offen verstehen können.

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11.2 Theologie des kommunikativen Gedächtnisses - Alex Stock

dabei nicht in erster Linie eine äußere Zeit im Blick steht, sondern eine innere, "die innere Erfahrung, das Erleben von Zeitlichkeit« (Stock 2016:15). Poetisch ist seine Dogmatik für Stock insoweit, als dieses Wort »das weite Feld einer von der Hl. Schrift durchaus inspirierten und von der magistralen Tradition nicht getrennten, aber doch von bei dem nicht schlechthin dirigierten religiösen Einbildungskraft« bezeichnet (Stock 2012:25). Es geht dabei um den Wortsinn der griechischen poiesis, die »etwas ins Werk setzt, Werke hervorbringt mit den Mitteln von Sprache und bildender Kunst« (Stock 2012:25). Es ist also erinnerungstheologisch formuliert gerade das Moment der Refiguration von Erinnerung, das bei ihm im Mittelpunkt des dogmatischen 36 Interesses steht. Entsprechend der umfassenden poetischen Grundanlage seines Werks sind die Q1lellen einer solchen Dogmatik nicht nur in den normativen Texten des kulturellen Gedächtnisses 37 zu finden, vielmehr richtet sich der Blick auch »auf die kulturelle Kreativität der christlichen Religion, ihren schöpferischen Reichtum, ihre geschichtliche Einbildungskraft, orientiert an den Q1lellen nicht primär der lehramtlichen Tradition, sondern der Liturgie und Frömmigkeit, der Bilder und Gedichte« (Stock 2012:25), womit ganz explizit auch das jeweils zeitkonkrete kommunikative Gedächtnis in seiner dogmatischen Relevanz erschlossen wird.

11.2.1 Kommunikatives Gedächtnis als locus theologicus Die Logik der poetischen Dogmatik verdankt Stock in erster Linie der Lehre von den loci theologici 38 So nimmt die poetische Theologie insbesondere »in Erkenntnisgebrauch [... ], was außerhalb der akademischen wie kirchenamtlichen Verwaltung des depositum fidei« liegt und »in der praxis fidei christianae Ausdrücklich als solche Dogmatik ist poetische Dogmatik eine :>>nach Traktaten geordnete Darstellung des Zusammenhangs der christlichen Glaubenslehre«, wobei das :>,konfessorisch Verbindliche [... ] in seiner heilslogischen Kohärenz dargestellt« (Stock 2012:25) wird. 37 Stock denkt dabei an »die normativen Texte der Glaubensgemeinschaft, die Hl. Schrift, das Lehramt, die Dogmengeschichte der Konzilien mit ihrer professionell-theologischen Vor- und Nachgeschichte« (Stock 2012:25). 38 Sie :>>nimmt all diese theologischen Orte« - sowohl die loei proprii (Schrift, Tradition, katholische Kirche, Konzilien, römische Kirche, Väter, scholastische Theologen) wie auch die loei alieni (Vernunft, Philosophie und menschliche Geschichte) - "als Erkenntnisquellen in Anspruch« wobei ihr Spezifikum, "die Nutzung liturgischer, hynmologischer, devotionaler, ikonischer Q!Iellen [...] nicht einmal unter den Loci alieni anstandslos unterzubringen« (Stock 2012:34) ist. 36

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11 Perspektiven

in Gebrauch ist, war oder jedenfalls sein könnte und dadurch Respekt verdient« (Stock 2012:35). Die Liturgie ist dabei ein Dispositiv, das »aus der unübersehbaren Fülle der biblischen, patristischen etc. überlieferung bereits eine prägnante Auswahl trifft« (Stock 2012:37). Sie wird so zum Modell für das Vorhaben einer poetischen Dogmatik, als »Raum, in dem kurze Texte, Erzählungen und Gedichte, Lieder, Gebete, auch Bilder unterschiedlicher Herkunft sich nicht nur beispielhaft finden, sondern auch in einer Anordnung, die nicht beliebig ist, ein Gesamtkunstwerk, in dem die Wahrheit von der Schönheit nicht zu trennen ist« (Stock 2012:37). Was Stock als Dispositiv der Liturgie bezeichnet, ist gerade die je zeit- und identitätskonkrete kollektive Rekonstruktion der Erinnerung (in einer Erinnerungsgruppe ), in der Momente des kulturellen wie des kommunikativen Gedächtnisses in eine kohärente Form der Erzählung integriert werden. Entscheidend ist dabei die »Evidenz einer einleuchtenden Gestalt« (Stock 2012:3 7f.). Darin unterscheidet sich die poetische Dogmatik sowohl von einer Dogmatik unter der Herausforderung philosophischen Systemdenkens 39 wie auch von der Dogmengeschichte, in der sich die Evidenz als »historisches Kontinuum [ergibt], das von einem angenommenen Anfang (z. B. in der Hl. Schrift) durch die Zeit bis in die Gegenwart läuft« und »die in heilsgeschichtliche Systeme transferiert werden kann« (Stock 2012:38). Die Evidenz poetischer Dogmatik ergibt sich »im Lauf des Verfahrens einer Konfiguration von Fundstücken zu einer anschaulichen Gesamtgestalt« (Stock 2012:38).40

Diese Form der Dogmatik ergibt sich j>deduktiv aus einem zugrunde gelegten Prinzip, das in einem logisch und terminologisch konsistenten Diskurs organisch entwickelt wird« (Stock 2012:38). Poetische Dogmatikfolgt nicht einem spezifischen philosophischen System, ihr ,>fehlt der ,AnsatzNur wenn es der Fundamentaltheologie in Wahrnehmung ihrer Zuständigkeit für die Wissenschaftslehre der Theologie insgesamt gelingt, den theoretischen Status dieser unterschiedlichen Unternehmungen und ihre je besondere Funktion im Arbeitsprozess der gegenwärtigen Theologie genauer zu bestimmen, wird die Dogmatik der auf diesem Gebiet ebenso verführerischen wie unergiebigen Konfusion entgehen« (Stock 2012:45).

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11.3 Kanonlogik als perspektivische Narration

so dabei, dass Küster dieses Erzählen direkt in einen kommunikativen Rahmen einbettet, bei dem auch den Zuhörern eine Bedeutung für das Verständnis des Textes zukommt. Christologie - Küster nennt es »christologisches Reden« - ist dabei immer ein »hermeneutisches Geschehen«, für das »Leben Tod und AuferstehungJesu Christi [... ] gewissermaßen die ikonographischen Eckdaten [sind], von denen aus sich die Christologie immer wieder neu erzählen läßt« (Küster 1999:34). Entscheidend ist dabei, dass Küster diese narrative Logik grundsätzlich nicht von einem spezifischen Moment dieser Lebensgeschichte Jesu her entwickelt, sondern den Gesamtzusammenhang zum narrativen Anknüpfungspunkt macht. Im Blick auf die bereits herausgestellte Notwendigkeit einer Sensibilität für den konstitutiven Rückbezug der Christologie (des Neuen Testaments) auf den jüdischen Tanach als Anteil des christlichen Kanons, und damit die bleibende Verwiesenheit der Kirche und ihres biblischen Kanons aufIsrael, muss diese narrative Logik so ergänzt werden, dass gerade im LebenszusammenhangJesu (als neue und abschließende Offenbarung Gottes) der Gott Israels seiner Verheißung treu bleibt. 45 Volker Küster macht in dieser Lebensgeschichte Jesu drei Eckpunkte aus, von denen »sich jeweils eine unterschiedliche Zentralperspektive auf Jesus Christus« eröffnet (Küster 1999:35). Diese drei Perspektiven sind für ihn »durch die drei großen Konfessionen vertreten: in der katholischen Inkarnationstheologie, der protestantischen Kreuzestheologie und der orthodoxen Auferstehungstheologie« (Küster 1999:35). Man kann also sehr grundsätzlich von einer inkarnationstheologischen, einer staurologischen und einer anastatischen Grundperspektive auf Jesus Christus und seine Paradosis-Dynamik sprechen. Wird die katholisch-inkarnationstheologische Perspektive eingenommen, so erscheint etwa »der Kreuzestod Jesu als Konsequenz seines Lebensweges«, der dann in Form einer Hingabe gedeutet werden kann (Küster 1999:35). Die »Auferstehung ergibt sich dann ebenfalls mit einer gewissen Notwendigkeit aus der Inkarnationsvorstellung wie diese vor die Geburt zurück in die Präexistenz erweitert wurde« (Küster 1999:35). Dabei ist entscheidend, dass weder die staurologische Perspektive (zentrale Bedeutung des Kreuzes Jesu) der Reformation, noch die anastatische Perspektive der Orthodoxie (Auferstehung und von daher zentra45

In diesem Sinne versteht Küster den christlichen Glauben als einen j>breiten Strom der Tradition, die ihren Ausgang bei der Geschichte Gottes mit Israel und der Erneuerung und gleichzeitig Universalisierung des alten Bundes in der Person Jesu Christi nimmt« (Küster 1999:37) und zeigt damit genau jene Verwiesenheit auf das Alte Testament.

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11 Perspektiven

le Bedeutung der Ikonen) auf eine andere Geschichte zurückgreifen. Je nach Perspektive wird sie jedoch deutlich anders erzählt (vgl. Küster 1999:35f.). Von daher müssen mit Küster die großen Traditionslinien des Christentums als ein "in sich plurales, offenes System« gedacht werden, dessen Pluralität insbesondere darin besteht, »daß hier konkrete Menschen immer wieder neu Zeugnis von ihrem Glauben an Gott den Dreieinigen ablegen« (Küster 1999:36).

Hier zeigt sich, dass im Prozess der Kanonwerdung verschiedene kommunikative und kulturelle Gedächtnisse zu einer kontrastiven Einheit zusammengefasst worden sind. Dies geschah nicht im Sinne einer Vereinheitlichungstendenz, sondern mit dem Ziel, die Geschichte Jesu (je aus einer bestimmten Zentralperspektive heraus) erzählen zu können. Der Blick auf die drei konfessionell vorgezeichneten Zentralperspektiven deutet darauf hin, dass es in einer solchen Form der perspektivischen Aneignung »eine Einheit nur noch in der Vielheit geben kann« (vgl. Küster 1999:37). Dieser Pluralismus der Perspektiven darf gerade nicht »als Bedrohung der jeweiligen konfessionellen Binnenidentität« verstanden werden (vgl. Küster 1999:37). Pluralität ist dabei aber nicht mit Beliebigkeit zu verwechseln: Jede der Perspektiven ist für sich eine legitime Deutung des biblischen Kanons (aus christlicher Perspektive) und mündet in eine je identitätskonkrete und praktisch ausgerichtete kommunikative und kulturelle Erinnerung.

Da es sich bei den Perspektiven immer schon um eine Narration handelt, die aus einer bestimmten Perspektive erzählt wird, darf diese Kanonlogik nicht zu abstrakt verstanden werden. Küster selbst stellt klar, dass er »nicht von einem Kanon im Kanon aus[geht], auf den sich alles zurückführen läßt«, sondern er stattdessen, »analog zu dem Netz von Geschichten, in das wir verstrickt sind, ein ganzes Geflecht von generativen Themen an[ nimmt], die immer wieder neu arrangiert werden« (Küster 1999:38). Als generative Themen bezeichnet er (in Aufnahme des Begriffs von Paulo Freires) solche Themen, die einerseits für das jeweils kulturell geprägte Verständnis und andererseits für die Identität des christlichen Glaubens Bedeutung beanspruchen, in denen also beide Ebenen miteinander verwoben sind. Auch hier geht es zentral um die pragmatische Bedeutung für die Identität und die Lebensfragen der Erinnerungsgruppe(n).

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11.4 Inspirierte Bibellektüre

11.4 Inspirierte Bibellektüre Körtners Ausgangspunkt in Der inspirierte Leser (1994) bestimmt er selbst wie folgt: "die nachchristliche Religiosität [zehrt] von einer großen Erinnerung, die mehr und mehr zu verblassen droht« (Körtner 1994:12). Damit konstatiert er für die moderne oder postmoderne Situation nicht nur einen immensen Bedeutungsverlust des Christentums, sondern auch einen damit einhergehenden »Sprachverlust des christlichen Glaubens«, mit dem »auch der Bezugspunkt des Glaubens, Gott selbst, zu entschwinden droht« (Körtner 1994:12). Diese Situation ist durch eine »Hermeneutik des Unverständnisses«46 geprägt (Körtner 1994:13). Das fordert eine (gewissermaßen kontrapräsentische) Erinnerung heraus, nämlich, dass »angesichts des Schweigens Gottes die Erinnerung daran wachgehalten wird, daß Gott zu uns Menschen vormals geredet hat und sein in der Vergangenheit ergangenes Wort nicht dementiert« (Körtner 1994:41). Interessant ist dabei, wie sehr Körtner seine Frage nach einer adäquaten biblischen Hermeneutik in erinnerungstheologischem Vokabular ausdrückt. Auf der einen Seite steht ein »erwartungsvolles Erinnern«, das auf der anderen Seite »den Texten der Bibel [... ], jener zu Buchstaben geronnenen Erinnerung an Gottes heilvolles Reden« (Körtner 1994:41), entspricht. Diese Erinnerungen müssen für Körtner angesichts der Sprachlosigkeit von Theologie und Verkündigung neu zur Sprache gebracht werden. Bei jeder Bibelauslegung ist die »jeder Interpretation gestellte Aufgabe der Applikation nachdrücklich in Erinnerung zu rufen« (Körtner 1994:81), die in einer historisch-kritischen Exegese normalerweise keine Rolle beansprucht. Dagegen stellt Körtner heraus, dass auch in der philosophischen Hermeneutik erkannt wird, »daß jede Interpretation eine Einheit von Verstehen, Auslegen und Anwenden eines Textes ist« (Körtner 1994:81). Die zentrale These von Ulrich Körtner ist dabei, dass der »implizite[] Leser der kanonisierten Texte«, nach dem eine Hermeneutik zu fragen hat, als »ein vom Geist Gottes inspirierter Leser« (Körtner 1994:16) verstanden werden muss. Der Begriff des impliziten Le46

Die Hermeneutik des Unverständnisses bedeutet für Körtner, dass an die Stelle des hermeneutischen Zirkels und des selbstverständlichen Verstehens gewissermaßen ein Teufelskreis getreten ist, den :»[u]nser Unverständnis gegenüber der Botschaft des Neuen Testaments und unsere fehlende Bereitschaft zur Nachfolge bilden« (Körtner 1994:51). Eine solche Hermeneutik des Unverständnisses zeigt darm Berührungspunkte mit den Erkenntnissen einer modernen Rezeptionsästhetik bzw. einer literarischen Hermeneutik; sie greift dabei wesentlich auf Erkenntnisse von Paul Ricceur zurück (vgl. Körtner 1994:57).

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11 Perspektiven

sers stammt von Wolfgang Iser und bezeichnet den vom Autor beim Schreiben eines Textes grundsätzlich schon mitgedachten Leser, der in seiner Rolle als Leser eine konstitutive Bedeutung für den (interaktiven) Auslegungs-, Deutungsund Rezeptionsprozess des Textes besitzt (vgl. Iser 1972:8ff.). Für Körtner ist es das Wesen der (inspirierten) Lektüre biblischer Texte, dass der Leser sich im Akt des Lesens "in einer Weise neu verstehen lernt, welche die Sprache der christlichen Tradition als Glauben bezeichnet« (Körtner 1994:16). Damit stellt sich die Frage der Inspiration insofern neu, als sie sich »vom Text oder seinem Autor auf den Leser und den Akt des Lesens« verlagert (Körtner 1994:16). In der Auseinandersetzung mit dem biblischen Text, in dessen Zuge der Einzelne sich angesichts und vor dem Text neu verstehen lernt (im Sinne dessen, dass er damit Material und Anregung zur Neukonfiguration seiner narrativen Identität erhält), liegt also ein hermeneutischer Umschlagspunkl, den man in der Sprache der Theologie »im Sinne des Zum-Glauben-Kommens« beschreiben kann (Körtner 1994:16). Die zentrale Erkenntnis moderner Rezeptionsästhetik ist für Körtner, dass die Bedeutung des Textes und die Autorenintention auseinanderfallen, wodurch »der Leser und der Akt des Lesens fundamentale Bedeutung für das Verstehen« (Körtner 1994:57f.) gewinnen. Er bezieht sich dabei wesentlich auf Paul Ricceur 47 , der dieses Auseinanderfallen gerade nicht als Symptom des Verfalls versteht. Der Akt der Verschriftlichung eines Textes bewahrt die »Rede vor Zerstörung« und macht gleichzeitig »den Text gegenüber der Autorenintention autonom« (Ricceur 1974a:28)48 Auch Veronika Hoffmann greift in diesem Zusammenhang auf die Hermeneutik von Paul Ricceur zurück. In der Konzeption von der dreifachen Verfremdung des Textes (von Autor, ursprünglichem Kontext und ursprünglichem Publikum) ist nicht eine Beziehungslosigkeit des Textes gemeint, sondern »eine Erweiterung seines Sinn- und Referenzraumes« (Hoffmann 2008:71). Dabei gibt es bei Ricceur eine spezifische Verbindung von Text und Leser: Die Bewegung von :»Dekontextualisierung und Rekontextualisierung, von Distanzierung und Aneignung im Prozess der Interpretation« betrifft gerade nicht nur den Text, sondern auch (und vielleicht noch deutlicher) den interpretierenden Leser. Wenn ein Verstehen also als ,>SichVerstehen vor dem Text« (Ricceur 1974a:33) zu beschreiben ist, dann ist die Interpretation ,>nicht einfach durch das Subjekt steuerbar« (Hoffmann 2008:71), umgekehrt erzeugt der Verstehensprozess eine ,>Verfremdung von sich selbst, die in jedem sich verstehen vor dem Text impliziert ist« (Ricceur 1974a:44). Und so schließt Ricceur in Bezug auf den Leser: ,>Ich finde mich als Leser nur, indem ich mich verliere« (Ricceur 1974a:33). 48 Damit ist die Aussage des Textes nicht mehr mit der Aussageabsicht des Autors identisch, weil er in dieser Verfremdung - wie es Ricceur nennt - ,>dem begrenzten intentionalen Horizont des Autors entzogen wird« (Ricceur 1974a:28). Im Akt des Lesens schließlich lässt sich der Text 47

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11.4 Inspirierte Bibellektüre Im Akt des Lesens gerät der Leser "in den Text hinein, um ihn so zu vervollständigen und zugleich selbst als Subjekt neu konstituiert zu werden« (Körtner 1994:60), was sich für Körtner mit einem theologischen Glaubensbegriffüberein bringen lässt. Dabei gelte es allerdings, die produktionsästhetische Perspektive (also das Verständnis, dass der Heilige Geist den biblischen Text und ihre Autoren inspiriert habe) durch eine theologische Aneignung dieser rezeptionsästhetischen Perspektive zu ergänzen 49 Unter Bezug aufUmberto Eco betont Körtner dann die literaturwissenschaftliche Grunderkenntnis, dass ein Text der »Mitarbeit des Lesers als wesentliche Bedingung seiner Aktualisierung« bedarf, weil der Text »ein Produkt ist, dessen Interpretation Bestandteil des eigentlichen Mechanismus seiner Erzeugung sein muß« (Körtner 1994:109). Vor dem Hintergrund der rezeptionsästhetischen Erkenntnisse liegt es also nahe, dass »auch der heutige Leser ein integrierender Bestandteil des von den neutestamentlichen Schriften bezeugten Ereignisses und somit ein Bestandteil der Schrift selbst ist« (Körtner 1994:110; Hervorh. AJ). Für ein gläubiges Lesen biblischer Texte gilt für Körtner, dass der Leser »nicht nur in den Text gerät, um ihn zu vervollständigen, sondern [... ] er seinerseits verwandelt wird, indem er sich neu verstehen lernt«, weshalb Körtner Glauben als »Widerfahrnis verwandelnden Verstehens« und damit nicht nur als Tat (aktiv), sondern auch als Gabe (passiv) versteht (Körtner 1994:110f.). Wo sich also »im Akt des Lesens gläubige Annahme ereignet, vervollständigt sich der Text in dem von ihm selbst intendierten und provozierten Sinne« (Körtner 1994:111). Eine theologische Deutung dieses hermeneutischen Umschlags muss seinen »Ausgangspunkt in der Pneumatologie suchen« (Körtner 1994:111f.). Was im Rahmen einer produktionsästhetischen Texttheorie im Rahmen der Lehre von der dann in einen :>meuen Kontext einfügen« (Ricceur 1974a:28). Ein Text ist für Ricceur insofern ein ,>Entwurf von Welt, die ich bewohnen kann, um eine meiner wesenhaften Möglichkeiten darein zu entwerfen« (Ricceur 1974a:32). Dabei bezieht sich Ricceur auf den Verstehensbegriff bei Heidegger, der das j>Verstehen eines anderen«, sondern den :>:>Entwurf des eigensten Seinkönnens« bedeutet (Ricceur 1974a:32). Indem der Text also so angeeignet wird, eröffnet er »neue Möglichkeiten des In-der-Welt-Seins« (Ricceur 1974a:32). Schließlich gipfelt das :>,Sich verstehen vor dem Text« darin, »ein erweitertes Selbst zu gewinnen, einen Existenzentwurf als wirklich angeeignete Entsprechung des Weltentwurfs« (Ricceur 1974a:33). 49 Die Prämissen der Rezeptionsästhetik stellen also die :>:>Annahme eines einzigen Literalsllms prinzipiell in Frage« und halten gleichermaßen "die hermeneutische Sicherstellung der ursprünglichen Intention des Autors für ein unmögliches Unterfangen« (Körtner 1994:97). Schon Schleiermacher habe - so Körtner - anhand der Deutung mythischer Texte erkannt, dass dort die Deutung eines Textes als :»Lebensäußerung eines Individuums« (Körtner 1994:97f.) prinzipiell nicht möglich ist.

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11 Perspektiven

Inspiration der Texte und ihrer Autoren formuliert worden ist, lässt sich rezeptionsästhetisch also als "Lehre vom inspirierten Leser rekonstruier[en]« (Körtner 1994:112).50

Im Blick auf das Ursprungsgeschehen der Inspiration biblischer Texte und angesichts der Komplexität ihrer Entstehungsprozesse mit einer Vielzahl von Autoren (Autorengruppen) und Schreibsituationen wäre es sinnvoller, »von inspirierten Gemeinschaften zu sprechen« (Hoffmann 2008:66). Auch lässt sich angesichts des kommunikativen und auf Partizipation angelegten Offenbarungsverständnisses nur schwerlich aufrechterhalten, dass »das Ende der Textentstehung bzw. der Abschluss des Kanons und das Ende der Inspiration« zusammenfallen (Hoffmann 2008:66)51 Es ist die - auch von Körtner in pneumatologischer Perspektive dargestellte - charakteristische Passivität des Lesers, die sich als »das anthropologische Pendant zum Wirken des Geistes verstehen [lässt], das seinerseits das entscheidende Moment darstellt, durch das der Leser des biblischen Textes zum Empfänger der Selbstoffenbarung Gottes wird« (Hoffmann 2008:72). Aus einem Interpreten wird ein »Zeuge, der nicht mehr zuerst ergreift, sondern ergriffen - zum Zeugnis befähigt und beauftragt - wird« (Hoffmann 2008:72). Im Begriff der Verfremdung (Paul Ricceur) ist dabei aber schon angedeutet, dass es hier nicht um einen bruch losen Prozess des Verstehens geht. Vielmehr ist es der »Durchgang durch Für Körtner gehört der Leser dabei nicht als causa principalis, sondern als causa instrumentalis ,>auch nach theologischem Verständnis in den biblischen Text« (Körtner 1994:112). Ein klassisches biblisches Beispiel ist für Körtner der Autor des zweiten Petrusbriefs, der selbst als inspirierter Leser der Evangelientexte, auf die er Bezug nimmt, produktiv geworden ist (Körtner 1994: 165). 51 In diesem Zusammenhang verweist Hoffmann ausdrücklich auf den Entwurf von Ulrich Körtner und Wolfgang Iser und stellt als zentrale Erkenntnis heraus, dass ein Text gemäß dieser rezeptionsästhetischen Herangehensweise neben seinem Zeichenkomplex auch durch den ,>Erfassungsakt des Lesers konstituiert« wird und so ,>nur als Wirkung der Lektüre erfahrbar« wird (Hoffmann 2008:67). Es geht dabei also weder um eine Rekonstruktion der Autorenabsicht, noch um eine ,>rein von den Assoziationen des Lesers geleiteteD Textverwendungen«, sondern um das Zusammenwirken von Text und Leser, wenn sie ,>das Realisationsspektrum, das der Text bietet, ausloten« und man so davon sprechen kann, dass der Sinn des Textes ,>zwischenAutor, Text und Leser zirkuliert und sich erst in dieser Bewegung überhaupt aktualisiert« (Hoffmann 2008:67). Wenn man etwa - mit Bernhard Lang - auch davon ausginge, dass die Schrift ,>nur insofern zum ,Wort Gottes< werde, insofern ich als Leser oder Hörer bereit sei, mich von ihr als einem solchen ergreifen zu lassen« (Hoffmann 2008:68), wäre darin auch die grundsätzliche Möglichkeit innerhalb einer inspirationstheologischen Herangehensweise gegeben verschiedene legitime Rezeptionen, also etwa eine gläubig-mystagogische von einer rein literarischen Leseabsicht, biblischer Texte zu unterscheiden. 50

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11.4 Inspirierte Bibellektüre

eine gewisse Krisis« (Hoffmann 2008:72), die sich mit der Gebrochenheit des eigenen Lebens und Verstehens auseinandersetzt und die von Veronika Hoffmann dann als für den Glauben notwendige metanoia verstanden wird.

Im Blick auf die Inspirationstheologie spielt dieser passiveAspekt die entscheidende Rolle. Gerade wenn »man die Pneumatologie mit einer passivischen Form der Aneignung zu einer >pneumatologischen Passivität< verbindet«, löst sich die »falsche Alternativstellung zwischen einem >inspirierten< und einem >inspirierenden< Text« auf (Hoffmann 2008:72f.). Hierin liegt der Bezug zwischen der Inspiration am Ursprung (inspiriert) und der Inspiration im Akt des Lesens (inspirierend). Beide sind »durch die Momente der Passivität und der Herausforderung zu Umkehr und neuem Selbstverständnis gekennzeichnet« (Hoffmann 2008:73). In einem solchen Verständnis kann Inspiration weder als additum zu den Texten menschlicher Autoren, noch ausschließlich als qualifizierende Legitimation dieser Texte gedacht werden. Vielmehr muss Inspiration im Sinn einer Bekenntnisaussage verstanden werden, die sich der Erfahrung verdankt, »dass mir im Wort der Bibel Gottes Offenbarung entgegengetreten ist, dass es nicht einfach bequem bestätigt hat, was ich von ihm hören wollte oder ohnehin schon wusste und glaubte, sondern mich in einer >Kritik der Illusionen des Subjekts< zur Umkehr aufgefordert hat, die erst den Glauben ermöglicht« (Hoffmann 2008:73; Hervorh. AJ). Wenn also diese pneumatalogische Passivität betont wird, wird dabei der Glaube als Gabe oder Geschenk erfahr- und verstehbar. Dabei ist klar, dass ein solches Verständnis des Glaubens nicht ohne ein existenzielles Involviertsein des Lesenden auskommt, der diesen hermeneutischen Prozess (im Lichte seiner Glaubens- und Lebenserinnerungen) im Sinn einer »Bezeugung des Geistwirkens an mir« versteht (Hoffmann 2008:74).

Diese individuelle Deutung der Inspiriertheit als inspirierendes Wirken Gottes an mir ist nicht einfach sekundär. Andererseits muss nicht jeder Text, der als inspirierend erfahren wird, auch im pneumatologischen Sinne als inspiriert verstanden werden. Hier gilt es tatsächlich den biblischen Kanon als Kriterium anzulegen. Andererseits folgt aus einem solchen Inspirationsverständnis »eine gewisse Relativierung der Kanongrenzen und damit eine Relativierung möglicherweise überscharfer Abgrenzungen zwischen >Schrift< einerseits und >Tradition< andererseits« (Hoffmann 2008:75).

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11 Perspektiven

11.5 Sensus fidei als Grundlage inspirierten Erinnerns In der Lehre des 11. Vaticanums vom sensus fidei fidelium (vgl. LG 12) wird in der übereinstimmung - oder erinnerungstheologisch formuliert: in der gemeinschaftlichen Refiguration der Erinnerung und ihrer Erinnerungsnarration im Sinne sozialer Emergenz anhand geschichtlicher oder sozialer Kontinuitätsbrüche - eine Unfehlbarkeit der Gemeinschaft der Gläubigen ausgesagt, die theologisch als die Voraussetzung für die Unfehlbarkeit des Papstes zu verstehen ist. In einer solchen allgemeinen übereinstimmung (ich folge der Argumentation von Walter Kasper) kann deshalb sowohl ein positives Moment als auch - und das lässt sich besonders mit einem Verständnis des Dialogs von kommunikativem und kulturellem Gedächtnis in Form von Narration oder Diskurs verbinden - ein kritisches Moment liegen, insbesondere in Bezug auf die Rezeption lehramtlicher Festlegungen der Erinnerungsnarration (vgl. dazu Kasper 1970:175ff. ausführlicher dazu auch oben unter 8.4, S. 364-365). Aus der Lehre vom sensus fidei fidelium folgt für Walter Kasper eine Notwendigkeit kirchlicher Veränderung (vgl. Kasper 1970:176), insofern darin ein gegenseitiges Verwiesen-Sein von kirchlichem Amt und Gemeinschaft der Glaubenden ausgesagt ist. Das gilt schon allein deshalb, weil der objektive Glaube weder von seiner subjektiven Rezeption noch vom >>lebendigen Verständnis, das er in der Kirche findet« gelöst werden kann (Kasper 1970:176; vgl. dazu auch Bremer 2020:21). Darüber hinaus geht es (LG 12) ja nicht ausschließlich um den sensus fidei fidelium als umfassende (ideelle) übereinstimmung52, sondern gleichzeitig um eine pneumatologisch begründete Pluriformität christlicher Sendung, die sich in der Zeugenschaft des Einzelnen verwirklicht (vgl. oben, 2.6.2.5, 93-95). Die Lebendigkeit des Glaubens ist es, die ein lebendiges und dialogisches Miteinander des kommunikativen und kulturellen Gedächtnisses erfordert. Jeweils geht es darum, die dogmatische Relevanz der existenziellen Erinnerung der Gläubigen in den konkreten kommunikativen Erinnerungsgemeinschaften einzubringen und von daher die Glaubensinhalte, Erinnerungsfiguren und Artefakte des Erinnerns, die im kulturellen Gedächtnis bewahrt sind, so neu zu verstehen, dass sie auch für diese identitätskonkrete Erinnerung der Gläubigen existenzielle Relevanz gewinnen. So wird also auch eine gemeinsame (emergente) Erinnerung oder überzeugung einer Erinnerungsgruppe (einer Gemeinde oder Teil52

Eine solche umfassende übereinstimmung ist nahezu unmöglich - ,>ganz abgesehen davon, dass es in praktischer Hinsicht gar nicht möglich wäre, ihn zu erheben« (Bremer 2020:19; vgl. auch Knapp 2016:225).

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11.5 Sensus fidei als Grundlage inspirierten Erinnerns

kirche) zum Ansatzpunkt dafür, das eigene (apostolische) Zeugnis auf einem neuen Hintergrund neu zu verstehen. Es geht dabei nicht um die Konstruktion einer bruchlosen Kontinuität, sondern um eine Rekonstruktion von Kontinuität gerade angesichts und ausgehend von Brüchen. Im Blick auf den sensus fidei fidelium gilt es deshalb insbesondere im Blick auf die jüngeren theologischen Diskussionen und Vertiefungen 53 nicht ausschließlich die übereinstimmung (consensus) zu betonen, sondern vielmehr auch das sich im sensus fidei ausdrückende Zueinander von individuellem und kollektivem Glaubensvollzug54. Darin zeigen sich deutlich Parallelen zum in dieser Arbeit entwickelten erinnerungstheologischen Verständnis der Tradition. Das Gottesvolk hält ja gerade durch diesen Glaubenssinn "den einmal den Heiligen übergebenen Glauben [... ] unverlierbar fest« und »dringt [... ] mit rechtem Urteil immer tiefer in den Glauben ein und wendet ihn im Leben voller an« (LG 12). Es ist gerade der konstitutive Zusammenhang zwischen der» Verinnerlichung des Glaubens« (Knapp 2016:214) und der Anwendung im Leben der Gläubigen (vgl. Slunitschek 2020:87), die den sensus fidei fidelium ausmacht. Zu beachten ist die grundsätzliche Verortung der Rede vom sensus fidei fidelium in Lumen Gentium im Zusammenhang der »sakramental begründete Sendung der Getauften im Unterschied [... ] zu den Nichtgetauften« (Knop 2016:244). Begründet ist der Glaubenssinn damit in der »Teilhabe am dreifachen Amt Jesu Christi«ss, die »jeder amtlichen oder standesbezogenen Spezifizierung zugrunde[liegt]« (Knop 2016:244). Konkret verortet ist sie in LG 12 dann im prophetischen Dienst der Gläubigen, den sie »auf zwischenmenschlicher Ebene durch ihr lebendiges Lebenszeugnis und auf Gott hin in einer Doxologie ihres ganzen Lebens« realisieren (Knop 2016:245). Es handelt sich damit beim sensus fidei also um ein Vermögen des einzelnen Glaubenden, ein »Moment der lebendigen Hermeneutik der überlieferung«, das der Verinnerlichung des Glaubens dient und darin auch konstitutiv auf den consensus fidelium ausgerichtet ist, der die »infallibilitas in credendo, die BewahZu nennen ist hierbei insbesondere das Dokument der Internationalen Theologischen Kommission (IThK 2014) und die in der Auseinandersetzung damit entstandenen Reflexionen (beispielhaft sei hier auf Söding 2019 und jüngst Bremer I Slunitschek 2020 verwiesen). 54 hn Blick auf das Dokument der Internationalen Theologischen Kommission gilt es, die Differenzierung zwischen dem sensus fidei fidelis (Singular) und dem sensus fidei fidelium (Plural) in diesem Sinne zu verstehen (vgl. dazu auch Slunitschek 2020:72). 55 Die dogmatische Kirchenkonstitution integriert in diesem Sinne »die Christustitel Priester, König und Prophet im Einvernehmen mit deren patristischer und liturgischer überlieferung« in eine grundlegende "Theologie des Christseins« (Knop 2016:244). 53

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11 Perspektiven

rung vor Täuschung im Glauben« verbürgt (Knop 2016:246). Weder besteht der Glaubenssinn ausschließlich in der übereinstimmung, noch ist er ein individualistisches Vermögen des Einzelnen (vgl. dazu auch Knapp 2016:217). Der sensus fidelium ist also durch eine grundlegende Öffnung auf Dialog gekennzeichnet. Das gilt sowohl für einen verinnerlichenden Glaubensdialog mit Gott als auch gleichzeitig für einen Dialog der Glaubenden. Es ist die Geistbefähigung der Gläubigen in Taufe und Firmung, die diesen (dialogischen) Glaubenssinn begründet. In erinnerungstheologischer Sprache geht es hier um das, was als Zueinander von individueller und kommunikativer Erinnerung beschrieben worden ist. Es ist die identitätsrelevante Erinnerung des Einzelnen in seinen verschiedenen gesellschaftlichen Bezugsrahmen, die sich im kommunikativen Erinnern innerhalb der Erinnerungsgruppe vollzieht und (in einem konsensorientierten Sinn) zu einer gemeinsamen Aneignung bzw. einem Neuverstehen des Glaubens führt. Im Sinne des in dieser Arbeit Ausgeführten ereignet sich gerade in diesem Erinnerungsdialog eine inspirierte Emergenz. Der sensus fidei fidelis der Glaubenssinn des einzelnen Glaubenden - ist also die durch das Wirken des Heiligen Geistes im Einzelnen geschaffene Grundlage für Erinnerungsdialog und inspirierte Emergenz. Im Blick auf die biblischen Wurzeln einer solchen Konzeption des Glaubenssinns im johanneischen Verständnis des Parakleten ließe sich der sensus fidei fidelis in erinnerungstheologischer Terminologie als Moment der inspirierten Erinnerung im einzelnen Gläubigen bezeichnen. Die dogmatische Kirchenkonstitution verweist für das Verständnis der »Salbung von dem Heiligen« (LG 12), die die Grundlage für den sensus fidei bildet, auf 1Joh 2,20f.27 (vgl. dazu auch die Ausführungen bei Slunitschek 2020:72-78). Aus einem exegetischen Zugriff lässt sich auch hier im Blick auf das Wirken des Geistes Gottes im Einzelnen etwas herausarbeiten, das man im Sinne einer spezifischen pneumatologischen Passivität verstehen kann. Es ist das Empfangen, das »die Empfangenden [... ] in Wissende« verwandelt: Sie sind also »Gott gegenüber [... ] rezeptiv und passiv, anderen Menschen gegenüber jedoch unabhängig und eigenständig« (Slunitschek 2020:74). Sowohl das Moment der Aktivität wie auch das (pneumatologische) Moment der Passivität müssen deshalb bei der Rede vom sensus fidelium je einzeln hervorgehoben und gleichzeitig miteinander verbunden werden. Es zeigt sich hier die gleiche Struktur wie bei den beiden paradigmatischen kirchlichen Erinnerungsformen: Sowohl das liturgisch-sakramentale Erinnern (Louis-Marie Chauvet) als auch die (inspirierte) Lektüre der Bibel - beide ver-

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11.5 Sensus fidei als Grundlage inspirierten Erinnerns

standen als inspiriertes Erinnerungsgeschehen - zeichnen sich gerade durch dieses spezifische Zueinander von aktivem Erinnern und (pneumatologisch) passivem Erinnert-Werden aus. Sowohl das liturgische Erinnern als auch die Bibellektüre sind dabei als gemeinschaftliche und kommunikative Vollzüge verstanden worden. Sie sind immer schon auf Gemeinschaft verwiesen. Der sensus fidei fidelis ist letztlich also das Vermögen des einzelnen Gläubigen, sich in diesen Erinnerungsdialog, der gleichzeitig ein gegenseitiger Verinnerlichungsdialog zwischen Gott und Mensch ist, hineinnehmen zu lassen. Dabei steht der Glaubenssinn - gerade, was seine aktive Komponente angeht - mit einer spezifischen Bibelhermeneutik in Zusammenhang. Mit Margaretha Gruber lässt sich die »geistgewirkte paradigmatische Fähigkeit, das Christusgeheimnis in seiner Spannung und Einheit wahrzunehmen« als »Grundlage [... ] für den sensus fidei fidelium« verstehen (Grub er 2016:130).56 Der Glaubenssinn erscheint in dieser Deutung in seinem Zusammenhang zum Verständnis biblischer Texte als Bedingung der Möglichkeit, die Erzählung von Jesus, dem Christus, in einen spannungsvollen Zusammenhang zu bringen. So ermöglicht es also der Glaubenssinn, sich der Christuswirklichkeit narrativ zu nähern und ist damit auch die Grundlage für das Verständnis dessen, was im Vorherigen als perspektivisches Kanonprinzip bzw. als Paradosis-Dynamik bezeichnet worden ist. Erst in einer durch den Glaubenssinn ermöglichten gläubigen Annäherung an die biblischen Erzählungen lässt sich diese Paradosis-Dynamik dann schließlich konfessionell-perspektivisch entweder inkarnationstheologisch, staurologisch oder anastatisch erzählen. Angestoßen von diesen Deutungen der dogmatischen Kirchenkonstitution hat sich die Frage gestellt, ob dieser sensus fidelium selbst als locus theologicus zu verstehen ist, als »repräsentative Instanz und theologische Autorität des Glaubenszeugnisses und der Glaubenserkenntnis im Gefüge der anderen loci theologici« (Knop 2016:253). Es gilt dabei jedoch herauszustellen, dass der Glaubenssinn in seiner konstitutiven Verknüpfung zwischen einzelnem Gläubigen und der Gemeinschaft der Gläubigen, nicht einfach unter andere loci theologici eingeordnet werden sollte, sondern - wenn überhaupt - ein locus theologicus sui generis ist. Er besitzt für das »Zusammenspiel der verschiedenen Knoten56

In ihrem ,>vom Paschamysterium ,formatierten< Glaubenssinn« - Gruber greift dafür auf den von Sandra M. Schneiders stammenden Begriff der Pascha-Imagination zurück (Schneiders 1991:105 bei Gruber 2016:130 - j>durchdringen sich die verschiedenen Elemente des JesusBildes, historische, transhistorische und theologisch-interpretative, und sind nicht voneinander zu trennen« (Gruber 2016:130).

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11 Perspektiven punkte (Joci) im Netzwerk kirchlicher Glaubenserkenntnis« (Knop 2016:253) eine derat zentrale Bedeutung, dass die Eigenart noch einmal anders herausgestellt werden muss. Diese spezifische Eigenschaft des sensus fidei fidelium lässt sich mit Markus Knapp 57 darin sehen, dass der Glaubenssinn dazu befähigt, "die in den loci theologici sedimentierte Glaubenswahrheit in ihrer existentiellreligiösen Bedeutung zu erschließen, sie gewissermaßen wieder so zu verflüssigen, dass ihr Ursprung im unmittelbaren Glaubensvollzug selbst erspürt und erfasst wird« (Knapp 2016:224). In erinnerungstheologischer Sprache ist der Glaubenssinn damit in einzelnen kommunikativen Gedächtnissen - also innerhalb unterschiedlicher Bezugsrahmen der erinnernden Subjekte - zu verorten. Genauerhin geht es darum, dass in diesem kommunikativ angelegten Glaubenssinn Elemente des kulturellen Gedächtnisses (wieder) dem Erinnerungsdialog - und zwar sowohl innerhalb kirchlicher Erinnerungsgemeinschaften wie auch durch Gläubige in anderen Erinnerungsgemeinschften - zugänglich gemacht werden. Deshalb lässt sich der sensus fidelium (gg. Knop 2016:253 und Slunitschek 2020:89) gerade nicht selbst als locus theologicus bezeichnen, sondern als das »spezifische Vermögen, ohne das auch eine aus den loci theologici schöpfende und argumentierende Theologie nicht auskommt« (Knapp 2016:224). Trotz der Konsensorientierung des sensus fidei fidelis besitzt dieser auch außerhalb einer faktischen übereinstimmung eine besondere theologische Dignität. Der sensus fidei fidelium besteht eben nicht nur dann, wenn er in umfassender übereinstimmung steht. Der Normalfall ist es vielmehr, dass es zunächst verschiedene sensus fidei in unterschiedlichen Erinnerungssubjekten und Erinnerungsgruppen gibt, die aber aufgrund der Konsensorientierung zu einem Dialog streben. Dabei erweist es sich als konkretes Hindernis, »dass die katholische Kirche bisher kaum Instrumente dafür hatte, dass die Glaubensüberzeugungen der Gläubigen auch tatsächlich artikuliert werden können« (Bremer 2020:25). Wenn die Rede vom sensus fidei fidelis keinen Glaubenssubjektivismus meint, dann ist es gerade die heutige Situation der Ambiguität bzw. des Plurals von Glaubensüberzeugungen, in der die »einzelnen Glaubenden« und auch die »unterschiedlichen Ortskirchen gefordert sind, ihren je eigenen Beitrag in diesem prinzipiell unabschließbaren Erkenntnisprozess [... ] unter Berücksichtigung der Außerungen des Glaubenssinnes Anderer und in redlicher Auseinandersetzung damit« zu leisten (Knapp 2016:226). Wenn die Kirche sich »ihrer Identität [... ] 57

Knapp erweist das anhand einer Rekonstruktion des Verständnisses der loci theologici bei Melchior Cano (vgl. Knapp 2016:218-221).

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11.5 Sensus fidei als Grundlage inspirierten Erinnerns

nicht einfach nur unter Bezugnahme und gestützt auf ihre eigene Tradition versichern« kann (Knapp 2016:230), so erfordert das eine grundsätzliche Dialogizität der Kirche, sowohl nach innen als auch nach außen und hat im Rahmen ihrer »~prophetischer n] Berufung [... ] auch eine Bedeutung für die >Außenrelationen< der Kirche, ihre Sendung in alle Welt« (Knop 2016:250f.). Der Glaubenssinn lässt sich damit als jene Instanz verstehen, die es ermöglicht, »nach den Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten« (GS 4). Der sensus fidei fidelium ist also jenes Vermögen in den einzelnen Gläubigen, das die bereits skizzierten Erinnerungsdialoge pneumatologisch begründet und ermöglicht. Dabei stehen sowohl die Glaubensvertiefung der Gläubigen wie das Eintreten in unterschiedliche Dialoge (der Erinnerung) miteinander in Beziehung. Indem der Glaubenssinn »den Glauben in den Gläubigen immer stärker verinnerlicht [... ], schafft er die Grundlage dafür, diesen Wahrheitsgehalt auch im Anderen und Fremden entdecken und ihn so auch neu verstehen zu können« (Knapp 2016:232). Dass ein solches Verständnis des sensus fidei als pneumatologisch gewirkte Instanz im einzelnen Gläubigen, die ihn auf die Notwendigkeit von Dialogen (der Erinnerung) verweist, »beträchtliche theologische, insbesondere ekklesiologische Konsequenzen« besitzt (Knapp 2016:215), ist damit deutlich geworden. Er begründet die grundsätzliche Verantwortlichkeit aller Gläubigen für das, was im Vorherigen als Traditionsdynamik bezeichnet worden ist und macht sie als grundsätzlich dialogischen, sich »durch das ganze Leben hindurch erstreckende[n] und daher prinzipiell unabschließbare[n] Prozess« deutlich, der »von den Gläubigen selbst in eigener Verantwortung und Freiheit initiiert und durchlaufen werden« muss (Knapp 2016:215). Dieser Prozess ist in erinnerungstheologischer Sprache als Dialog von Erinnerungssubjekten und Erinnerungsgruppen verstanden worden. über den Begriff des sensus fidei fidelium lässt sich so die Bedeutung des Wandels der kollektiven Erinnerung (Traditionswandel) mit der Dogmenentfaltung angesichts dieses Wandels zusammen denken und in einen kommunikativen Gesamtrahmen einbinden. Wenn der Glaubenssinn jene grundsätzlich kommunikativ-dialogische Instanz in jedem einzelnen Gläubigen ist, die der Verflüssigung der Inhalte des kulturellen Gedächtnisses, ihrer Vertiefung und lebenspraktischen Anwendung dient, so ist darin ein pneumatologisch begründeter Konnex zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis im einzelnen Erinnernden gegeben. Damit ist auch die Erfordernis eines neuen, wirklich kommunikativ-dialogischen Zueinanders von Gläubigen und Lehramt benannt, das jenseits des Duals von einer lehrenden (Lehramt) und einer lernenden Kirche

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11 Perspektiven

(Laien) entwickelt wird. Wenn dieses Zueinander also in einem umfassenden Erinnerungs- und Verinnerlichungsdialog eingeordnet wird, der im Einzelnen pneumatologisch durch den Glaubenssinn eröffnet und immer schon auf die Gemeinschaft der Glaubenden verwiesen ist, können damit theologisch einige Aporien - insbesondere im Blick auf die Frage, wie Veränderung bei dogmatischen Formulierungen, die Unveränderlichkeit insinuieren, möglich sein soll - reformuliert werden. Wenn man mit Walter Kasper betont, dass die Notwendigkeit einer kirchlichen Veränderung eben nicht einfach »aus offiziellen Dokumenten und liturgischen Zeugnissen« (Kasper 1970:176) abgelesen werden kann, weil kirchliche Dokumente und kirchliche Verkündigung primär sowohl auf die Dynamik des Evangeliums wie auf den Kontext der jeweiligen Zeit verwiesen sind, so gilt dann zwar zweifellos eine gegenwärtige Bedeutung und Festlegung kirchlicher Dokumente und der Verkündigung, die jedoch nicht teleologisch die Bedeutung in der Zukunft definitiv festlegen kann. Das gilt gerade deshalb, weillehramtliehe Dokumente sich dem je neuen und je geschichtlich und gesellschaftlich konkreten diskursiven Erinnerungsdialog zwischen kommunikativen Gedächtnissen und kulturellem Gedächtnis verdanken. Zweifellos steckt darin eine nicht unerhebliche Aufgabe für die Dogmenhermeneutik im Sinne einer Hermeneutik der Reform. Einige Gedanken dazu sind im Blick auf das textlich-kontextuelle Paradigma des Traditionsbegriffs (vgl. oben 2.6.1.2, S. 70-73) schon dargelegt worden.

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12 Tradition als inspirierte Erinnerung Wenn die Traditionsdynamik als inspirierte Erinnerung verstanden wird, ergibt sich damit insgesamt eine neue Perspektive auf den Zusammenhang von Traditionsdynamik, Schrift und Tradition. Im Blick auf das Alte und Neue Testament hat sich ein dynamisches und kommunikatives Erinnerungsverständnis, eine Erinnerungstheologie, zeigen lassen. Diese Erinnerungstheologie findet im Neuen Testament ihre innere Mitte wie ihr inhaltliches Kriterium in der ParadosisDynamik Jesu (dem narrativen Zusammenhang von Leben, Leiden, Sterben und Auferstehen Jesu Christi). Dabei ist auch deutlich geworden, dass das christologische und das pneumatologische Moment dieser Erinnerung aufeinander bezogen werden müssen. Hier bietet sich grundlegend die Anknüpfung an das dynamische Traditionsverständnis der Offenbarungskonstitution des 11. Vaticanums an, die - ohne den Begriff der Erinnerung theologisch zu verwenden - die Traditionsdynamik parallel zur biblischen Erinnerungsdynamik versteht. Entscheidend bei beiden ist, dass es sich nicht ausschließlich um einen Strukturbegriff handelt, sondern an ein gegenseitiges Verinnerlichungsgeschehen, also eine personale Wirklichkeit gedacht wird. Während der traditionstheologische Entwurf von Walter Kasper gerade die Bedeutung fundierender Erinnerung sowie des pneumatologischen Pols eines Erinnerungs- und Traditionsverständnisses hervorhebt, wird bei Johann Baptist Metz das kontrapräsentische und christologisch (auf die memoria passionis) zugespitzte Moment der Erinnerungsdynamik in besonderer Weise betont. Beide Perspektiven gilt es in einem erinnerungstheologischen Verständnis der Traditionsdynamik unter dem kulturwissenschaftlichen Begriff der Mythomotorik aufeinander zu beziehen. Beide müssen in wechselseitiger Verwiesenheit in ein erinnerungs- und traditionstheologisches Konzept integriert werden. In dieser Arbeit ist insofern versucht worden, exemplarisch anhand der einflussreichen theologischen Entwürfe von Walter Kasper und Johann Baptist Metz die beiden notwendigen Spannungspole eines erinnerungstheologisch fokussierten Traditionsverständnisses zu benennen und zueinander in Beziehung zu setzen. Es bietet sich an, auf der Grundlage des hier Entwickelten - vielleicht im Rahmen einer dann noch etwas weiter ausgreifenden Perspektive - das ebenfalls ein-

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Systematisch-theologische Konkretionen und Perspektiven

flussreiche, auf der Ebene einer breit angelegten Kulturtheorie argumentierende und höchst differenzierten Traditionskonzept von Siegfried Wiedenhofer in die weitere Diskussion einzubringen. Auch wenn m.E. Wiedenhofer die (explizit theologische) kommunikativ-dialogische Dynamik eines erinnerungstheologisch fokussierten Traditionsbegriffs unterschätzt, wenn er in Verhältnisbestimmung zum kulturellen Gedächtnis (und in konkreter Auseinandersetzung mit Jan Assmann) die Tradition als die Uberliejerung des kollektiven Gedächtnisses versteht (vgl. etwa Wiedenhofer 2002), lohnt hier mit Sicherheit eine differenziertere Auseinandersetzung. Besonders auch deshalb, weil Wiedenhofer auf der Linie von Kasper eher am fundierenden (transzendentalen) Pol des skizzierten Spannungsverhältnisses ansetzt und so bei aller Differenziertheit und Dialogfähigkeit seines Ansatzes im Hinblick auf die "Einordnung des Schriftkanons in die Tradition der Kirche, insbesondere in ihrer kritischen, normativen Funktion« (Fresacher 1996:312) gerade eines solchen kontrapräsentischen Aspekts oder Korrektivs (Metz) bedarf. An dieser Stelle kann das allerdings nur als Forschungsdesiderat benannt werden. Entscheidend ist, dass die Traditionsdynamik (und damit auch die einzelnen Traditionen) jeweils als (direkte bzw. indirekte) Schrifthermeneutik verstanden wird. Auch muss die Bedeutung der Identität gegenüber einer einseitigen Betonung der Kontinuität stark gemacht und die Trägerinnen und Träger der kirchlichen Erinnerung in ihrem differenzierten Zueinander dargestellt werden, ausgehend von der Bedeutung des sensus fidei fidelium. Im Kontext der Desiderate traditions- und erinnerungstheologischer Konzeptionen verhilft die Rezeption der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung zu einer Weitung der Perspektive. über das grundlegend kommunikative Verständnis kollektiver Erinnerung, wie es Maurice Halbwachs erarbeitet hat, lässt sich das je individuelle autobiographische Gedächtnis der Einzelnen in seinem Zusammenhang mit kommunikativen Gruppengedächtnissen herausstellen, in denen Erinnerungsinhalte angesichts gesellschaftlicher Bezugsrahmen je neu angeordnet und re konfiguriert werden. Auch der Wandel der Erinnerung und die Verwiesenheit auf einen Dialog unterschiedlicher Erinnerungsgruppen um der Wahrheit und Wahrhaftigkeit der Erinnerung willen verleiht diesem Traditionsverständnis Tiefenschärfe. Wenn religionssoziologische Entwürfe die Beweglichkeit und Dynamik der postmodernen Situation gerade auf neue Arten der Glaubensvalidation (Daniele Hervieu-Leger) verwiesen sehen, die wiederum letztlich in kommunikativen Vollzügen bestehen, passt sich ein solches Erinnerungsverständnis hier gut ein.

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12 Tradition als inspirierte Erinnerung

Gerade anhand des gottesdienstlichen Lebens der Kirche hat sich dabei ein charakteristisches Zueinander von Aktivität und Passivität des Erinnerns herausstellen lassen (Louis-Marie Chauvet). Dieses Zueinander kennt einen christologischen Pol des Erinnerns (Anamnese) wie auch einen pneumatologischen Pol (Epiklese), dem sich alles aktive Wirken der Gläubigen letztlich verdankt. Die poetische Theologie (Alex Stock) dient gewissermaßen als Paradebeispiel einer Theologie des kommunikativen Gedächtnisses, dessen zentraler Akt - die poiesis - sich gerade auch dem pneumatologischen Wirken der Inspiration verdankt. Gemeint ist damit die je situative Rekombination von Traditionsvorgaben und Materialien zu einer solchen inspirierenden Emergenz. Auch darin zeigt sich das charakteristische Zusammenspiel von aktiver Refiguration und passiver (d.h. durch den Geist Gottes gewirkter) Einsicht oder Erkenntnis. über den soziologischen Begriff der Emergenz lässt sich darstellen, dass in diesen kommunikativen und kollektiven Zusammenhängen Erkenntnisse entstehen, die sich prinzipiell nicht ausschließlich als Summe der Kommunikationsteilnehmer erklären lassen. Wie das epikletische Wirken in der Liturgie als Wirken des Geistes Gottes verstanden wird, ist auch diese Emergenz pneumatologisch zu beschreiben. Im Blick auf das kulturelle Gedächtnis, das nach Assmann wesentlich ein kanonisches Gedächtnis ist, lässt sich herausstellen, dass es neben dem biblischen Kanon (dem christlichen Primärkanon) auch weitere kanonartige Sammlungen gibt, deren Auslegungsparadigmen (Assmann: »heiligende Prinzipien«) gemäß der Vorstellung der hierarchia veritatum auf das Auslegungsparadigma des Primärkanons bezogen sind. Mit diesem Zusammenhang der Auslegungsparadigmen stehen auch der Kanon und die kanonartigen Sammlungen inhaltlich miteinander in Beziehung. Das narrative Kanonprinzip ist dann als die Paradosis-Dynamik zu verstehen. Die Erkenntnisse von Volker Küster können hier noch eine weitere Differenzierung einbringen. Das Kanonprinzip (wie die Paradosis-Dynamik) als narrative Wirklichkeit lässt sich jeweils aus einer bestimmten Perspektive heraus erzählen. Als solche Perspektiven lassen sich paradigmatisch (und nicht umfassend) die inkarnationstheologische (katholische Kirche), die staurologische (Kirchen der Reformation) und die anastatische Perspektive (Kirchen der Orthodoxie) unterscheiden. Die Unterscheidung geschieht nach den drei Kristallisationspunkten der Lebensgeschichte Jesu (Geburt, Leiden/Kreuz/Tod, Auferstehung), ohne dass dabei die je anderen Perspektiven deshalb keine Rolle spielen. Vielmehr verweist gerade die Perspektivität der Paradosis-Dynamik noch einmal auf die

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Systematisch-theologische Konkretionen und Perspektiven Notwendigkeit eines ökumenischen Dialogs im Sinne der Wahrheit und Wahrhaftigkeit des kirchlichen Erinnerns. Die anderen konfessionellen Perspektiven erinnern dabei an in der eigenen Konfession vergessene Aspekte und Perspektiven. Auch die Re- und Konfiguration der traditiones (also der Inhalte der kanonartigen Sammlungen) geschieht anhand dieser perspektivischen ParadosisDynamik. Dabei gilt grundsätzlich in Bezug auf den biblischen Kanon auch eine bleibende Verwiesenheit der Kirche und ihrer Traditionsdynamik aufIsrael. Sowohl die ökumenischen als auch die interreligiösen Perspektiven eines solchen erinnerungstheologischen Verständnisses der Tradition müssten noch einmal deutlicher und expliziter dargestellt werden, was man als Desiderat für die weitere Forschung bezeichnen kann. Das pneumatologische Moment der Erinnerungsdynamik ist im Blick auf das Verständnis des Zusammenhangs von Inspiration, Bibellektüre und narrativer Identität der Kirche noch einmal herausgestellt worden. Dabei steht (von Veronika Hoffmann und Ulrich Körtner) gerade der (abstrakte) Leser im (aktiven) Akt des Lesen und (passiven) Akt des Verstehens im Mittelpunkt. Auch dieses Zueinander von Aktivität und Passivität wird mit dem Begriff der Inspiration beschrieben. Ein solches Verständnis inspirierter Leser im Zueinander zu den inspirierten Autorengemeinschaften der biblischen Texte plausibilisiert also ein neues Verständnis der Inspiration. Inspiration ist nicht ausschließlich als Additurn oder Legitimation der biblischen Texte zu verstehen. Vielmehr ist es der Geist Gottes, der sowohl das Schreiben wie auch das Lesen der Texte umfasst und durchwirkt. Deshalb ist der Wirkungsort dieser Inspiration gerade die Erinnerungsdynamik der Kirche. Der Geist Gottes - der Paraklet, wie das Johannesevangelium ihn nennt - umfasst diese zeitübergreifende Gemeinschaft der Kirche. Insofern wird man die Traditionsdynamik der Kirche treffend als inspirierte Erinnerung verstehen können, die sich ebenfalls im charakteristischen Zusammenspiel zwischen Aktivität und Passivität (wie schon Liturgie, Poiesis und Bibellektüre) ereignet. So ist also sowohl die (an dem christologischen Zentralparadigma des Erinnerns orientierte) Erinnerung der Gläubigen (aktiv) als auch das vom Geist Gottes in der Treue Gehalten-Werden und an diese ErinnertWerden (passiv) in ihrem dialogischen Zueinander zu beschreiben. Im gemeinsamen Lesen der Schrift und in der gemeinsamen kommunikativen Erinnerung der Erinnerungsgruppen, die sich an den Figurationen des Erinnerns (den traditiones) orientiert und sie kon- und re figuriert, ereignet sich deshalb die Identitätsrekonstruktion der Kirche (bzw. der einzelnen Gemeinden), die im Verständnis und in der Emergenz als pneumatologisch vermittelt

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12 Tradition als inspirierte Erinnerung

und damit als inspiriert verstanden werden darf. Weil die Bibel gerade nicht aus Erinnerungsimperativen besteht, sondern zentral durch ihre metaphorische Sprache gekennzeichnet ist, eröffnet sie Verstehensmöglichkeiten, die in einem fortwährenden Wandel stehen - insbesondere angesichts des Einbezugs der Lebenswirklichkeiten der Gemeinden und der Gläubigen. Dieser Wandel wiederum lässt sich nicht (metaphysisch) in Form von linearen Fortschreibungen von dogmatischen Aussagen wiedergeben. Vielmehr erfordert dieser dynamische und in der metaphorischen Sprache der Bibel selbst angelegte Wandel im Blick auf die Frage der Dogmenentwicklung einen Paradigmenwechsel. Mit Walter Kasper gilt es, die Zeitbedingtheit dogmatischer Aussagen in ihrem Zueinander zur Erinnerungsdynamik der Kirche (Kasper nennt es die Dynamik des Evangeliums) herauszustellen. Im Zueinander zwischen dem sensus fidei fidelium und dem kirchlichen Lehramt bedeutet das, dass Neuentwicklungen sich nicht ausschließlich als Fortschreibungen oder linear-logische Ausfaltungen vorheriger Aussagen verstehen lassen können. Vielmehr müssen auch sie im Akt einer Poiesis vorherige dogmatische Aussagen in ihrer Aussageabsicht in Bezug auf die zentrale Paradosis-Dynamik des Glaubens verstehbar machen, ohne dass diese vorherigen Aussagen die zukünftige Entwicklung festlegen können. Damit sind einige Herausforderungen an eine Theorie der Dogmenentfaltung benannt, die sich auf diese dynamische inspirierte Erinnerung zurück bezieht und ihr in der jeweiligen Zeit und vor dem Kontext dieser Zeit einen nachmetaphysischen dogmatischen Ausdruck verleiht. Ihre Aufgabe ist es besonders, die Kohärenz zur narrativen Kanonlogik (zur Paradosis-Dynamik) aufzuweisen. Von daher können dann Entwicklungen nicht ausschließlich als Abweichung von der Tradition verstanden werden. Für ein erinnerungstheologisches Verständnis bleibt es zentral, dass es sich hier um eine grundlegend kommunikative und dynamische Wirklichkeit handelt, in der sowohl die gott-menschliche als auch die zwischenmenschliche Kommunikation ihren Ort hat. Dogmen und dogmatische Aussagen haben gegenüber dieser umfassenden Dialogwirklichkeit einen dienenden Charakter. Im Rückblick auf die Entwürfe von Walter Kasper und Johann Baptist Metz sollen nun noch einige Aspekte dargestellt werden, die die Leistungsfähigkeit einer erinnerungstheologischen Traditionshermeneutik verdeutlichen. Dabei gilt ganz allgemein, dass es gerade das spannungsvolle Zueinander von fundierender und kontrapräsentischer Erinnerung ist, das sich durch ein Traditionsverständnis als inspirierte Erinnerung darstellen lässt. Wenn es im Traditionsverständnis Kaspers die zentrale Leistung ist, Aspek-

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Systematisch-theologische Konkretionen und Perspektiven

te eines statischen Traditionsverständnisses, das auf den normativen Ursprung des apostolischen Zeugnisses rekurriert, und eines dynamischen Traditionsverständnisses, das die organische Lebendigkeit im jeweiligen Heute fokussiert, in eine spannungsreiche und kritische Synthese zu bringen, so knüpft ein erinnerungstheologisches Traditionsverständnis genau dort an. Durch die kulturwissenschaftliche Differenzierung zwischen kommunikativen Gedächtnissen und kulturellem Gedächtnis kann diese Spannung auch noch einmal deutlicher mit den kommunikativen Vollzügen der Erinnerungsgruppen innerhalb der Kirche zusammen gedacht werden. So ergänzt der Gedanke der inspirierten Emergenz die Bedeutung des sensus fidei fidelium und lässt Kirche als einen Dialograum kommunizierender Gedächtnisse verstehbar werden, die eingeordnet sind in die umfassende Erinnerungs- und Verinnerlichungsdynamik zwischen Gott und Mensch. Das hier dargelegte erinnerungstheologische Verständnis kann dabei deutlich differenzierter von den Trägerinnen und Trägern kollektiver Erinnerung sprechen und hat auch das Zueinander ihres individuellen Gedächtnisses mit den kollektiven Gedächtnissen herausgestellt. Stärker als bei Kasper lässt sich damit darstellen, dass die Erinnerung einzelner Erinnerungsgruppen gerade nicht unabhängig von den einzelnen Erinnernden ist, sondern eine wechselseitige Verwiesenheit zu konstatieren ist. Im Rahmen inspirierter Emergenz entstehen dabei in Erinnerungsgruppen auch neue Erinnerungskonfigurationen, die in den innerkirchlichen wie in den gesellschaftlichen Dialog eingespeist werden. Dabei ergeben sich aber nicht nur Vertiefungen der fundierenden Erinnerung, sondern gerade auch Infragestellungen dieser Erinnerung und mit ihr der Identität. Die in den kirchlichen Vollzügen fundierender Erinnerung (insbesondere in der Liturgie und der Feier der Sakramente) rekonstruierte Identität der Erinnerungsgemeinschaften wie der Einzelnen ist dabei zwar einerseits in gewisser Weise vorgegeben, wird jedoch andererseits durch die christologisch fokussierte Innovation immer wieder infrage gestellt. Hier geht es insbesondere um eine kontrapräsentische Erinnerung wie sie im Konzept von Johann Baptist Metz unter dem Begriff der memoria passionis dargestellt wird. Dabei gilt es trotz der großen Vorbehalte bei Metz gegenüber dem Begriff der Identität, dass gerade die Infragestellung der Identität konstitutiv zur christlichen Identitätsrekonstruktion hinzu gehärt. Es ist die Nichtidentität, die Ausnahme bzw. das Einzelne, dem Metz sein besonderes Augenmerk widmet. Christlicher Identität geht es nicht um eine einfache Bruchlosigkeit. Vielmehr geschieht die Identitätsrekonstruktion der Einzelnen wie der Kirche insgesamt anhand und ausgehend von

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12 Tradition als inspirierte Erinnerung

der Bruchhaftigkeit menschlicher Existenz und Geschichte. Die Infragestellung der Identität mündet deshalb immer in eine neue Identitätsrekonstruktion, die aber immer eine Vorläufigkeit besitzt. Im Paradigma der inspirierten Bibellektüre ist das deutlich geworden. Es geht dabei ausgehend von den Erkenntnissen der Rezeptionsästhetik nicht um eine einfache Aneignung des Textes. Vielmehr kommt es angesichts der existenziellen Bruchstellen und der metaphorischen Offenheit biblischer Texte zu einem hermeneutischen Umschlag, einem SichNeuverstehen vor dem Text. Das gilt für die Einzelnen wie für Gemeinschaften, die sich in geistlicher, existenzieller und identiätsrelevanter Weise mit biblischen Texten auseinandersetzen. Diese Beschäftigung mit den biblischen Texten bleibt aber nicht bei einer Nichtidentität stehen, sondern sie ermöglicht eine fragile, sich immer wieder wandelnde und wandlungsbedürftige Identität der Einzelnen, der Erinnerungsgruppen wie der Kirche als ganzer. Sie ist und bleibt immer verwiesen auf die Narrativität der Erinnerung, die in neuen Kontexten und von diesen Kontexte her immer wieder neu erzählt werden will, ohne sich dabei von der ursprünglichen Erfahrung der Erinnerungsdynamik zu entfernen. Die umfassende Erinnerungsdynamik mündet nicht in eine triumphalistische überzeitliche Identität der Kirche. Vielmehr ist eine solche (inspiriert) erinnernde Kirche immer neu auf der Suche nach ihrer Identität, weil sie darauf verwiesen bleibt, dass sowohl in der fundierenden Erinnerung (paradigmatisch in der Liturgie und den Sakramenten) wie auch in der kontrapräsentischen Erinnerung (paradigmatisch in der geistlichen Bibellektüre) immer eine charakteristische Passivität begründet ist. Diese pneumatologisch verstandenen Passivität lässt sich dann als Inspiration verstehen, die die Erinnerung der Kirche der Verfügung der erinnernden menschlichen Subjekte insoweit entzieht, als sie auf den großen Erinnerungs- und Verinnerlichungsdialog verweist, auf die Geschichte Gottes mit seiner Kirche und mit seiner Schöpfung.

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Die heiligen Lehrer und die liebenden Seelen der Kirchen haben viele Geheimnisse und Wunder in diesem Leben entdeckt. Aber immer noch bleibt der größte Teil zu verkünden und vor allen Dingen zu verstehen. Deshalb müssen wir in Christus tief schürfen wie in einem reichen Bergwerk, das viele Lager aus Schätzen enthält. Wenn einer dort noch so tief gräbt, findet er niemals Ende und Grenze. Ja in jeder Schicht entdeckt er rechts und links immer neue Adern mit neuem Reichtum.

- J ohannes vom Kreuz

13 Epilog Mit den ausführlicher dargestellten Perspektiven sind einige mögliche Anknüpfungspunkte für ein erinnerungstheologisches Verständnis benannt. Grundsätzlich werden in einem solchen Verständnis die Gläubigen selbst zu Trägerinnen und Trägern der Tradition, die die Bruchhaftigkeit der Geschichte wie auch die Bruchhaftigkeit ihrer eigenen Existenz in den großen Erinnerungsdialog mit Gott hineinbringen. Von dorther verstehen sie ihre Identität und die Identität der Kirche sowohl im aktivischen Zugriff wie in der Passivität des inspirierenden Wirkens des Geistes Gottes immer wieder neu im Sinne einer fragilen und dynamischen Identität, die sich von der Paradosis-Dynamik Jesu immer neu infrage stellen lässt. Mit diesem Begriff der kommunikativen und der kulturellen Erinnerung in ihrem spannungsvollen Zueinander, lässt sich das kommunikationstheoretische, dialogische und dynamische Verständnis der überlieferung wie es das 11. Vaticanum entwickelt hat deutlich adäquater darstellen als im Rahmen von Deduktionslogiken. Im Ursprung der Botschaft von Jesus ist es angelegt, dass es nicht um eine Deduktion geht, sondern um ein je neues Sich-Verstehen im Angesicht des Wortes Gottes. In diesem Wort Gottes selbst und in der kontrastiven Einheit 'Johannes vom Kreuz, Cantico Espiritual 37, Obras deI Mistico Doctor Bd. 2, Toledo 1912, S. 350f.

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Epilog der biblischen Texte, die es normativ bezeugen, liegt die Möglichkeit das jeweilige Heute in seiner Bruchhaftigkeit ins Gespräch mit dem biblischen Zeugnis zu bringen. Das ermöglicht es dann schließlich "in Christus tief [zu] schürfen wie in einem reichen Bergwerk« (Johannes v. Kreuz, Cantico Espiritual, 37). Und so steht wie am Anfang dieser Arbeit auch hier am Ende ein Zitat, das mit Bergbau und Bergbaugeschichte zusammenhängt. Wie in der Kunstinstallation »Fünf Tore« von Ludger Hinse (vgl. oben, 1, S. 17) lädt also auch die Erinnerung der Kirche ein, durch die großen Bögen der Tradition hindurchzugehen, den Erlebnisraum zu betreten und die (Bruch-)Stücke der Erinnerung wieder neu zusammenzufügen, aktiv und nicht rein passiv, und sich so neu zu verstehen als Einzelner, als Gemeinde, als Kirche ... In diesem Sinne: »Glück auf!«

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Teil VI

Verzeich nisse

14 Literatur 14.1 Literaturverzeichn is Das Literaturverzeichnis ist nach den Kurztiteln sortiert. Diese Kurztitel richten sich jeweils nach dem Datum der Erstveröffentlichung. [Adorno 1966] Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, Frankfurt a. M. 1966. [Albertz 2009] Rainer Albertz: Die Josephsgeschichte im Pentateuch, in: Thomas Naumann (Hrsg.): Diasynchron. Beiträge zur Exegese, Theologie und Rezeption der Hebräischen Bibel, Stuttgart 2009, S. 11-36. [Angehrn 1999] Emil Angehrn: Selbstverständigung und Identität. Zur Hermeneutik des Selbst, in: Burkhard Liebsch (Hrsg.): Hermeneutik des Selbst im Zeichen des Anderen. Zur Philosophie Paul Ricceurs, Freiburg i. Brsg. 1999, S. 46-69. [Angenendt 2007] Arnold Angenendt: Toleranz und Gewalt. Das Christentum zwischen Bibel und Schwert, Münster 2007. [Assmann 1988] Jan Assmann: Kultur und Gedächtnis, Frankfurt a. M. 1988. [Assmann 1991] : Die Katastrophe des Vergessens. Das Deuteronomium als Paradigma kultureller Mnemotechnik, in: Aleida Assmann und Dietrich Harth (Hrsg.): Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt a. M. 1991, S. 337-355. [Assmann 1992] : Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, 6. Aufl., München 2007. [Assmann 1994]- : Unsichtbare Religion als kulturelles Gedächtnis, in: Walter M. Sprondel (Hrsg.): Die Objektivität der Ordnungen und ihre kommunikative Konstruktion (~ FS Thomas Luckmann), Frankfurt a. M. 1994, S.404-421.

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[Stock 2011]- : Orationen. Die Tagesgebete imJahreskreis neu übersetzt und erklärt, Regensburg 2011. [Stock 2012] : Zur Idee einer poetischen Dogmatik. Asthetik trifft Theologie, in: Edmund Arens (Hrsg.): Gegenwart. Asthetik trifft Theologie (~ QD, Bd. 246), Freiburg i. Brsg. 2012, S. 21-45. [Stock 2014]born 2014.

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[Stock 2016]born 2016.

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http://www.unifLch/bkv/buch61.htm (besucht am 01. 06. 2020). [Aug. conf.] Augustinus: Bekenntinsse, hrsg. v. Alfred Hofmann (~ Bibliothek der Kirchenväter, 1. Reihe, Bd. 18; Online-Ausgabe, bearbeitet von Horst Reichhardt und Eva-Marie Laumann), München 1914, Digitale Ressource: http://www.unifLchlbkv/buch19.htm (besucht am 01. 06. 2020). [Plat. Apo!.] Platon: Apologie des Sokrates, in: Ders.: Kratylos, Parmenides, Theaitetos, Sophistes, Politikos, Philebos, Briefe, hrsg. v. Ursula Wolf (~ Sämtliche Werke, Bd. 3; übers. v. Friedrich Schleier macher), Berlin 2004.

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14.3 Verzeichnis lehramtlicher Dokumente

[Plat. Kritias] : Kritias, in: Ders.: Timaios, Kritias, Minos, Nomoi, hrsg. v. Ursula Wolf (~ Sämtliche Werke, Bd. 4; übers. v. Friedrich Schleiermacher), Berlin 2004. [Plat. Men.]- : Menon, in: Ders.: Apologie des Sokrates, Kriton, Ion, Hippias 11, Theages, Alkibiades I, Laches, Charmides, Euthyphron, Protagoras, Gorgias, Menon, Hippias I, Euthydemos, Menexenos, hrsg. v. Ursula Wolf (~ Sämtliche Werke, Bd. 1; übers. v. Friedrich Schleiermacher), Berlin 2004. [Plat. Phaidr.]- : Phaidros, in: Ders.: Lysis, Symposion, Phaidon, Kleitophon, Politeia, Phaidros, hrsg. v. Ursula Wolf (~ Sämtliche Werke, Bd. 2; übers. v. Friedrich Schleiermacher), Berlin 2004. [Plat. Phil.] : Philebos, in: Ders.: Apologie des Sokrates, Kriton, Ion, Hippias 11, Theages, Alkibiades I, Laches, Charmides, Euthyphron, Protagoras, Gorgias, Menon, Hippias I, Euthydemos, Menexenos, hrsg. v. Ursula Wolf (~ Sämtliche Werke, Bd. 1; übers. v. Friedrich Schleiermacher), Berlin 2004. [Plat. Pol.] : Politeia, in: Ders.: Lysis, Symposion, Phaidon, Kleitophon, Politeia, Phaidros, hrsg. v. Ursula Wolf (~ Sämtliche Werke, Bd. 2; übers. v. Friedrich Schleiermacher), Berlin 2004. [Plat. Tht.]- : Theaitetos, in: Ders.: Kratylos, Parmenides, Theaitetos, Sophistes, Politikos, Philebos, Briefe, hrsg. v. Ursula Wolf (~ Sämtliche Werke, Bd. 3; übers. v. Friedrich Schleiermacher), Berlin 2004. [Thom. S. Th.] Thomas von Aquin: Die katholische Wahrheit oder die theologische Summa des Thomas von Aquin. übers. von Ceslaus M. Schneider, Regensburg 1886-1892, Digitale Ressource: http://www.unifLch/bkv/summa/ (besucht am 01. 06. 2020).

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14.3 Verzeichnis [ehramtlicher Dokumente

[IThK 1990] Internationale Theologische Kommission: Die Interpretation der Dogmen, in: Communio 19 (1990), S. 246-266. [IThK 2014] : Sensus fidei und Sensus fidelium im Leben der Kirche, in: Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 199 (2014), S. 1-89. [KKK] Katechismus der Katholischen Kirche. Neuübersetzung aufgrund der Editio typica Latina, München 2003. [LG] 2. Vatikanisches Konzil: Dogmatische Konstitution über die Kirche »Lumen Gentium«, in: Heinrich Denzinger (Hrsg.): Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen. Verbessert, erweitert, ins Deutsche übertragen und unter Mitarbeit von Helmut Hoping herausgegeben vonPeter Hünermann, 42. Aufl., Freiburg i. Brsg. 2009, §§ 41014179. [NA] : Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen »Nostra aetate«, in: Heinrich Denzinger (Hrsg.): Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen. Verbessert, erweitert, ins Deutsche übertragen und unter Mitarbeit von Helmut Hoping herausgegeben von Peter Hünermann, 42. Aufl., Freiburg i. Brsg. 2009, §§ 4195-4199. [Pastor aeternus]1. Vatikanisches Konzil: Erste dogmatische Konstitution »Pastor aeternus« über die Kirche Christi, in: Heinrich Denzinger (Hrsg.): Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen. Verbessert, erweitert, ins Deutsche übertragen und unter Mitarbeit von Helmut Hoping herausgegeben von Peter Hünermann, 42. Aufl., Freiburg i. Brsg. 2009, §§ 3050-3075. [QA] Papst Franziskus: Nachsynodales apostolisches Schreiben »Q1lerida Amazonia« an das Volk Gottes und an alle Menschen guten Willens, Rom 2019, Digitale Ressource: http://www.vatican.va/content/ francesco / de / apost _ exhortations / documents/papa -francesco _ esortazione- ap _ 20200202 _ querida- amazonia. html (besucht am 01. 06. 2020).

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14 Literatur

[SC] 2. Vatikanisches Konzil: Konstitution über die heilige Liturgie »Sacrosancturn concilium«, in: Heinrich Denzinger (Hrsg.): Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen. Verbessert, erweitert, ins Deutsche übertragen und unter Mitarbeit von Helmut Hoping herausgegeben von Peter Hünermann, 42. Aufl., Freiburg i. Brsg. 2009, §§ 40014048.

[SP] Papst Benedikt XVI.: Apostolisches Schreiben Summorum Pontificum. Brief des Heiligen Vaters an die Bischöfe anlässlich der Publikation (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, Bd. 178), Bonn 2007. [UR] 2. Vatikanisches Konzil: Dekret über den Okumenismus »Unitatis redintegratio«, in: AAS 57 (1965), S. 90-99.

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Studien zur Traditionstheorie/Studies in tradition theory hrsg. von Prof. Dr. Jaroslav VOkOllll (Südböhmische Universität Böhmisch-Budweis) Jaroslav Vokoun (Hg.) Traditionstheorie im Gespräch der Wissenschaften Das internationale Projekt der interdisziplinären Traditionstheorie, das von Prof. Wiedenhofer angeregt \VUfde und von der Universität in Bölnnisch-Budweis weiterenhvickelt lNird, wird mit diesem Band fortgesetzt, wobei die Interdisziplinarität um Beiträge aus Soziologie, Kulturwissenschaft, Medienforschung, Folkloristik und Gedächtnistheorie erweitert wird. Daruberhinaus bringt das Buch auch Beiträge aus philosophischer, philologischer und theologischer Sicht. Bd. 13 , 2019, 288 S. , 39,90 € , br. , ISBN 978-3-643-91184-1

Blahoslav Fajmon; Jaroslav Vokoun (Hg.) Interdisziplinäre Traditionstheorie Motive und Dimensionen In Traditionen leben oder verlorene Traditionen lNiederzuge"Winnen setzt voraus, zu erfassen, lNie Traditionsbildung geschieht und lNie Traditionen zu bearbeiten sind. Dazu bedarf es entsprechender Theoriebildung und methodologischer Arbeit. Das Phänomen " Tradition" ist überdies so vielseitig und vielschichtig, das die Arbeit an Traditionstheorien nur interdisziplinär erfolgen karm. Der vorliegende Band bietet Zugänge aus Philosophie, Soziologie, Sprachtheorie, Philologie und Biogenetik. Die Studien zielen darauf, die verschiedenen Perspektiven in einer Traditionstheorie zusammenzuführen, die darm mit weiteren Perspektiven versehen werden karm Das betrifft nicht zuletzt die Traditionsbildung im Christentum. Ein Teil der Autoren sind Theologen, die diese Thematik in dieser interdisziplinären Reichweite so auch für die Theologie erschließen. Bd. 12, 2016, 424 S. , 49,90 € , br., ISBN 978-3-643-90733-2

Seung Sung Oh Critical Reftection on Wolfhart Pannenberg's Hermeneutics and Theology of History vol. 11, 2007, 240pp. , 29,90 € , br. , ISBN 978-3-8258-0340-7

Martin Spaeth Gewonnene Zeit - verlorenes Heil? Zum clui.stlich verantworteten Umgang mit der Zeit im Zeitalter der Beschleunigung Bd. 10, 2007, 360 S. , 24,90 € , br. , ISBN 978-3-8258-0246-2

Gunther Ludwig Der Wahrheit auf der Spur bleiben Die transzendentale Erfahrungstheorie Richard Schaefflers als Wegweiser im Dialog der Religionen Bd. 9, 2007, 240 S., 24,90 € , br., ISBN 9782 3-8258-0173-1

Jean Gabriel Fokouo Donner et transmettre La discussion Sill le don et la constitution des traditions religieuses et culturelles africaines Bd. 8 , 2006, 280 S., 39,90 € , br. , ISBN 3-8258-9843-1

Bemhard Waldmüller Erinnerung und Identität Beiträge zu einem theologischen Traditionsbegriff in Auseinandersetzung mit der memoria passionis bei 1. B. Metz Bd. 7, 2005 , 312 S. , 24,90 € , br. , ISBN 3-8258-8845-2

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Kulturelle Grundlagen Europas begIÜIldet von Wolfgang Kmus lllld Bemd Schröder in Verbindung mit Wolfgang Behringer, Anne Comad, Wolfgang Kraus, Heinrich Schlange-Schöningen hrsg. vom Dekanat der Philosophischen Fakultät der Universität des Saarlandes Karen Aydin; Christine van Hoof; Lukas Mathieu (Hg.) ecclesia victrix? Zum Verhältnis von Staat lllld Kirche in der Spätantike. Festschrift für Klaus Martin Girardet Seit der Anerkerumng des Christentums als religio licitaund der " constantinischen Wende" veränderten sich die Konflikte zlNischen dieser Religionsgemeinschaft und dem römischen Staat deutlich. Statt Verfolgungen von Angehörigen dieses Glaubens bestimmen nun dogmatische smvie hierarchische Streitigkeiten und Auseinandersetzungen um das Verhältnis von Kaiser und Kirche zueinander das christliche Leben. Diesem Konfliktfeld lNidmet sich der Band unter der Frage , imviefem die christliche Kirche in ihrem Verhältnis zum römischen Staat als Siegerin (ec clesiavictrix) betrachtet werden kann. Bd. 9, 2021, ca. 224 S., ca 34,90 € , br. , ISBN 978-3-643-14950-3

Michaela Bill-Mrziglod (Hg.) Asketische Selbstbeschränkungen und Entgrenzungsstrategien Religion - Politik - Geschlecht Asketische Praktiken gehen maßgeblich auf philosophische und monastische Lebensformen der Antike zurück, die sich durch die christlich-asketischen Ideale der Pilgerschaft und Heimatlosigkeit in ganz Europa verbreiteten. Die Beiträge des Bandes entfalten ein weites Spektrum interdisziplinärer und epochenübergreifender Annäherungen an die Denkfigur asketischer Räume in den Bereichen Politik, Religion und Geschlecht. In Ritualen und Übungen des Weltverzichts entwerfen AsketiIlllen und Asketen Kontrastbilder zu gesellschaftlichen und religiösen Normen. Die Analyse der Vielfalt asketischer Lebensformen, ihrer Ursachen und Intentionen eröffnet neue Perspektiven. Bd. 8 , 2021, 204 S. , 39,90 € , br. , ISBN 3-643-14854-4

Michael Hüttenhoff; Wolfgang Behringer; Wolfgang Kraus (Hg.) Reformation und Aufklärung - Reflexionen zum Reformationsjubiläum Tagllllg des Zentrums für Historische Europastudien im Saarland (ZHEUS) in Saarbrücken

Oktober 2016 Bd. 7, 2020, 136 S., 29,90 € , br., ISBN 978-3-643-14452-2

Wolfgang Behringer; Arm Comad; Wolfgang Kraus (Hg.) Die Reformation zwischen Revolution und Renaissance Reflexionen zum Reforrnationsjubiläum Bd. 6, 2019, 350 S. , 39,90 € , br. , ISBN 978-3-643-13986-3

Wolfgang Behringer; Eric-Oliver Mader; Justus Nipperdey (Hg.) Konversionen zum Katholizismus in der Frühen Neuzeit Europäische lllld globale Perspektiven Bd. 5, 2019, 336 S. , 39,90 € , br. , ISBN 978-3-643-13981-8

Wolfgang Behringer; Wolfgang Kraus; Heinrich Schlange-Schöningen (Hg.) Der Friedensauftrag Europas Impulse aus dem Zentrum fur Historische Europastudien (Universität des Saarlandes) Bd. 4,2017, 248 S. , 29,90 € , br. , ISBN 978-3-643-13504-9

LIT

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Religion - Geschichte - Gesellschaft Flllldamentaltheologische Studien begründet von Prof. Dr. Dr. Joharm Baptist Metz