Holocaust in Norwegen: Registrierung, Deportation, Vernichtung 9783647310770, 3647310778

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Holocaust in Norwegen: Registrierung, Deportation, Vernichtung
 9783647310770, 3647310778

Table of contents :
INHALT
VORWORT
ABKÜRZUNGEN
1 EINLEITUNG
2 DIE BESETZUNG: EINIGE PRÄMISSEN
3 DIE AKTEURE
4 DAS NETZ WIRD ZUGEZOGEN
5 DIE FATALE WENDUNG: DIE JUDEN WERDEN REGISTRIERT
6 DIE „ENDLÖSUNG“: DIE JUDEN WERDEN DEPORTIERT
7 DER KREUZWEG
8 WIRTSCHAFTLICHE LIQUIDIERUNG
9 DIE LEBENDEN UND DIE TOTEN: RASSENPOLITIK
10 ZUSAMMENFASSUNG
ANHANG 1: DIE QUELLEN ZU DIESEM BUCH
ANHANG 2: DATENBANK ÜBER JUDEN IN NORWEGEN 1939–1945
ANHANG 3: DIE DEPORTIERTEN UND DIE TOTEN

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Bjarte Bruland

Holocaust in Norwegen Registrierung, Deportation, Vernichtung

Bjarte Bruland

Holocaust in Norwegen Registrierung, Deportation, Vernichtung

Aus dem Norwegischen von Jochen Pöhlandt

Vandenhoeck & Ruprecht

Die Übersetzung wurde gefördert von NORLA

Übersetzung aus dem Norwegischen: Holocaust i Norge. Erschienen im: © Dreyers Forlag Oslo, 2017

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2019, by Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Die D/S Donau fährt aus dem Hafen von Oslo. Fotograf: Georg W. Fossums. Nationalbibliothek Norwegen Korrektorat: Constanze Lehmann, Berlin Umschlaggestaltung: SchwabScantechnik, Göttingen Satz: Bettina Waringer, Wien

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-647-31077-0

INHALT

VORWORT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 ABKÜRZUNGEN  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 – KAPITEL 1 –

EINLEITUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 – KAPITEL 2 –

DIE BESETZUNG: EINIGE PRÄMISSEN . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

Einleitung 23 Radikalisierung der antijüdischen Politik 27 Die Grundlage der Entwicklung antijüdischer Politik in Norwegen 29 Die Juden in Norwegen bei Kriegsbeginn 32 Der Antisemitismus in Norwegen vor dem und im Zweiten Weltkrieg 35

– KAPITEL 3 –

DIE AKTEURE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43

Einleitung 43 Offizielle und inoffizielle Bindungen 46 Instrumente antijüdischer Politik 51 Der Aufbau des Reichskommissariats 53 Die deutsche Sicherheitspolizei 56 Die Mentalität der deutschen Sicherheitspolizei 60 Zentrale Akteure in der deutschen Sicherheitspolizei 67 Die norwegische Zentralverwaltung nach der Neuordnung 81 Die Polizei in der Besatzungszeit 86

– KAPITEL 4 –

DAS NETZ WIRD ZUGEZOGEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91

Einleitung 91  Einziehung der Radioapparate von Juden 97 Erfassung von Juden und jüdischen Betrieben 104 Terror und Verhaftungen 117 Konfis­ kationen und Arisierung 139 Aktion gegen das Judentum: außerordentliche Maßnahmen in Mittelnorwegen 147 Propagandakrieg 167 Vorstöße von Nasjonal Samling 187 Wiedereinführung des Verbots jüdischer Einwanderung 197 Zusammenfassung 207

– KAPITEL 5 –

DIE FATALE WENDUNG: DIE JUDEN WERDEN REGISTRIERT . . . . . . . . 213

Einleitung 213 Die Einführung des Nürnberg-Prinzips außerhalb Deutschlands 216 Der Briefwechsel, der zur J-Stempelung führte 218 Die Durchführung der J-Stempelung 223 Fragebogen für Juden 229 Antijüdische Statistik 234 Reelle Statistik 235 Reaktionen und Diskussionen um „den gelben Stern“ 237 Zusammenfassung: Die Bedeutung der Registrierung 242

– KAPITEL 6 –

DIE „ENDLÖSUNG“: DIE JUDEN WERDEN DEPORTIERT . . . . . . . . . . 245

Einleitung 245 Der Beschluss: warum und wie? 249 Von Einzelmaßnahmen zu systematischer Politik: August bis Oktober 1942 258 Ausnahmezustand in Trondheim: Es gibt kein Zurück 270 Der Vorwand: die Ereignisse im Zug nach Halden 277 Verhaftung jüdischer Männer 283 Im Netz gefangen 308 Vorbereitungen zur Deportation 335 Das Schicksal wird besiegelt: die Aktionen vom 25. und 26. November 342 Die Säuberungen werden vollendet: Der Gotenland-Transport 403 Die Deportierten: eine Gesamtübersicht 424 Zusammenfassung 435

– KAPITEL 7 –

DER KREUZWEG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459

Einleitung 459 Leben im Untergrund und Flucht in Europa 463 Frühe Fluchtbewegungen 465 Oktober 1942: die erste Warnung 470 Der Beschluss 475 Im Untergrund 479 Juden in Krankenhäusern 488 Exodus: Neue Warnung vor der großen Aktion 497 Kinder auf der Flucht 502 Fluchtapparate, Fluchtrouten, Bezahlung 514 Personen „jüdischer Herkunft“ fliehen 522 Die Zurückgebliebenen – Leben im Untergrund oder Flucht? 529 Die Helfer 541 Zusammenfassung: Wie viele sind geflohen? 551

– KAPITEL 8 – WIRTSCHAFTLICHE LIQUIDIERUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . . 557

Einleitung: Das Gesetz vom 26. Oktober 1942 557 Einsetzung des Liquidationsausschusses: Durchführungsvorschriften zum Gesetz  567 „Gewöhnliche

Prinzipien“ 574 Verteilung der von deutschen Organen beschlagnahmten Werte 581 Die Verteilung von Inventar und Hausrat aus jüdischen Nachlässen 602 Mietwohnungen der Juden in Oslo 616 Zusammenfassung 642 – KAPITEL 9 –

DIE LEBENDEN UND DIE TOTEN: RASSENPOLITIK . . . . . . . . . . . . 645

Einleitung 645 Systematisierte Rassenpolitik: Gesetz über Meldepflicht von Juden und Entwurf eines Gesetzes über Sonderbestimmungen für Juden 649 Juden in „Mischehen“ 658 „Halbjuden“ und „Vierteljuden“ 671 Ausnahmen von der Definition „Jude“: Die Rassenpolitik des Innenministeriums 674 Auschwitz und die Lager 690 Schwedische Vorstöße zur Rettung norwegischer Juden 700 „Die Rettung“ 713 Briefaktion 730 Zusammenarbeit mit dem Feind? Juden in deutschen Diensten 740 Zusammenfassung 743

– KAPITEL 10 –

ZUSAMMENFASSUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 745 – ANHANG 1 –

DIE QUELLEN ZU DIESEM BUCH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 761

Gesamtübersicht über die Archive 763

– ANHANG 2 –

DATENBANK ÜBER JUDEN IN NORWEGEN 1939–1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 765 – ANHANG 3 –

DIE DEPORTIERTEN UND DIE TOTEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . 767 REGISTER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 827

VORWORT

An einem warmen Frühsommertag Anfang der neunziger Jahre hat eine Buchhandlung in Torgalmenningen im Zentrum von Bergen Ausverkauf. In einem Korb vor dem Geschäft entdecke ich das Buch mit den Untertiteln zu Claude Lanzmanns epischem Dokumentarfilm Shoah von 1985. Der Kauf dieses kleinen Buches ist der eigentliche Ausgangspunkt des Projekts, dessen Ergebnis hier vorliegt. An den Film Shoah erinnere ich mich gut. Er lief, das war wohl im Winter 1987, in NRK, dem damals einzigen norwegischen Fernsehkanal. Der erste Teil wurde am Sonnabend gezeigt, der zweite am Sonntag. Da ich in der ambulanten Altenbetreuung arbeitete, bekam ich den ersten Teil nicht ganz mit. Aber als ich an jenem winterlichen Sonnabendnachmittag nach Hause in unsere kleine Wohnung im Osloer Stadtteil Rødtvedt kam, saß meine Mutter auf dem Sofa und sah fern. „Diesen Film musst du sehen“, sagte sie, „das ist wichtig.“ Der Film dauerte über neun Stunden und hinterließ einen unauslöschlichen Eindruck. Dass der Holocaust ein wesentliches und tragisches Kapitel in der Geschichte Europas und Norwegens war, hatte ich zu der Zeit schon verinnerlicht. Meine Mutter sah die Kenntnis dieser Tatsache als ein Erbe ihrer Eltern an (die ich leider nicht mehr kennengelernt habe, da sie schon gestorben waren, als ich geboren wurde). Dieses Erbe war sozusagen eine Art moralischer Kompass. An ihm habe ich seither immer festzuhalten versucht. Ein anderes und ebenso wichtiges „Mantra“ meiner Eltern habe ich als Richtschnur bewahrt: Das Wichtigste ist nicht, was man wird, sondern was man tut. Einige Passagen in Shoah waren für mich wie in Stein gemeißelt, und dank des Buches mit den Untertiteln kannte ich den Namen des Historikers, den Lanzmann interviewt hatte, Raul Hilberg. Ich versuchte, an sein Hauptwerk heranzukommen, The Destruction of the European Jews. Das war mühsam, denn keine Forschungsbibliothek in Norwegen besaß es. Ein wohlwollender Universitätsbibliothekar in Bergen entlieh das Buch aus Kopenhagen. Von dem Augenblick an, da ich alle drei Bände gelesen hatte, war ich meiner Sache sicher: Ich musste die Ereignisse in Norwegen in ähnlicher Weise untersuchen, wie Hilberg das auf einer übergeordneten europäischen Ebene getan hatte. Was war während des Krieges mit den Juden in Norwegen geschehen? Welche Institutionen waren involviert? Wer waren die Täter? – An der Klärung aller dieser Fragen war ich brennend interessiert. Ich las die Sekundärliteratur, besonders die Bücher von Oskar Mendelsohn und Samuel Abrahamsen. Vielleicht war es falsch, dass ich das Thema nicht für erschöpft

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Vorwort

hielt. Ich hatte indes das Gefühl, dass die Fragen auch auf andere Weise gestellt werden könnten: Dass es wichtig sei, genau herauszuarbeiten, wie die Täter kooperiert hatten, sowohl auf übergeordneter Ebene als auch bei der Durchführung drastischer Aktionen. Diese Untersuchung wurde zu einem Puzzlespiel, aber nach recht umfassenden Quellenstudien schrieb ich über das Thema eine Examensarbeit in Geschichte, die ich im Frühjahr 1995 an der Universität Oslo einreichte. Ich dachte damals nicht weiter darüber nach, dass der Holocaust in der norwegischen historischen Forschungsliteratur vernachlässigt worden war. Mir fiel allerdings auf, dass einzelne Historiker sich dem Thema auf eine Weise näherten, die man „sonderbar“ nennen könnte; es wurde anscheinend auf vielen Ebenen als sekundär betrachtet. Mit Bedauern musste ich auch feststellen, dass mir in Bergen, als ich das Hauptfachstudium (heute würde man sagen Masterstudium) aufnahm, von der weiteren Beschäftigung mit dem Thema abgeraten wurde. Doch solche Ratschläge beachtete ich nicht. Ich hatte Feuer gefangen. Später erklärte sich die Professorin Ida Blom bereit, die Arbeit zu betreuen. Das erwies sich als ein Glücksumstand. Die Beschäftigung mit der Examensarbeit war in vielerlei Hinsicht eine Odyssee durch eine dunkle und brutale Landschaft. Ich erinnere mich noch gut an die erste Reise zum Reichsarchiv in Oslo. Ich wollte das Archiv der Staatspolizei durchsehen. Das war im Mai 1993. Draußen war schöner Frühsommer, aber ich nahm davon nichts wahr. Einen Karton nach dem anderen sah ich durch, und allmählich gewann ich eine Art Überblick über das Geschehen. Etwa zu der Zeit, als ich meine Arbeit ablieferte, schrieb der Journalist Bjørn Westlie, der damals für die Zeitung Dagens Næringsliv arbeitete, einen Artikel über die Enteignung jüdischen Eigentums. Dieser Artikel brachte den Stein ins Rollen. Ich hatte schon lange vorher meine Arbeit an verschiedene Institutionen und Privatpersonen gesandt. Ich erhielt nur wenige Antworten. Aber eine Aufmunterung bekam ich doch: Leo Eitinger, der im Sterben lag, schickte eine Postkarte aus dem Krankenhaus.1 Er war froh, dass jemand die Fackel weitertrug, wie er sich ausdrückte. Das machte Eindruck. Im Herbst 1995 nahm Berit Reisel vom Vorstand der Mosaischen Glaubensgemeinschaft Kontakt zu mir auf. Ich wusste noch nicht, wozu das führen würde, versprach aber zu kommen. Es ging jetzt darum, die wirtschaftliche Liquidierung jüdischen Besitzes genauer zu untersuchen. Reisel sorgte später dafür, dass ich als 1

Leo Eitinger (1912–1996), norwegischer Psychiater tschechischer Herkunft, wurde international bekannt als Erforscher des „KZ-Syndroms“, der psychischen Spätfolgen bei Überlebenden des Holocaust. Er machte sich auch durch unermüdliches Eintreten für die Menschenrechte einen Namen (Anm. des Übersetzers).

Vorwort

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Mitglied eines Ausschusses vorgeschlagen wurde, der ermitteln sollte, was mit dem Besitz der Juden während des Krieges geschehen war. Damit begann eine Zeit großer Herausforderungen und eines Arbeitstempos, wie ich es bisher nicht gekannt hatte. Der Ausschuss, der später Skarpnes-Ausschuss oder Judenbesitz-Ausschuss genannt wurde (der Name sagt über die eigentliche Sache nicht besonders viel aus), leitete eine neue Epoche norwegischer Geschichtsschreibung ein. Der Holocaust wurde sozusagen über Nacht ein heißes Thema. Reichel und ich hatten ein neues Kapitel der Geschichtsforschung aufgeschlagen. Für mich war die Beschäftigung mit der Restitutionsfrage der Anfang einer schwierigen Zeit. Die Arbeit im Ausschuss war meine erste richtige Berufserfahrung. Sie war reich an Konflikten, und ich will nicht verhehlen, dass ich in mancher Hinsicht eine Verantwortung empfand, die ich eigentlich nicht trug. Eine starke psychische Reaktion kurz darauf brachte ich zunächst nicht mit der Ausschussarbeit in Verbindung; viele Jahre sollten vergehen, ehe ich den Zusammenhang erkannte. Eine andere Spätfolge war, dass ich nach Beendigung der Ausschussarbeit Opfer eines undefinierbaren Argwohns wurde. Mir wurden Motive unterstellt, die ich nicht hatte; das war unangenehm. Seither hat mich die Arbeit an diesem Buch immer begleitet. Einige Male war ich hochmotiviert, sie zu Ende zu bringen, aber oft war ich mutlos. Das Thema ist erdrückend, und es gab lange Perioden, in denen ich alles hinwerfen wollte. Ich nahm verschiedene Tätigkeiten auf, stets mit dem Gedanken, dass meine Zeit als Historiker vorbei sei. Aber das Thema ließ mich doch nie los, ebensowenig der Wunsch, mehr herauszufinden, mehr zu begreifen oder auch zu analysieren. Allmählich gewann ich auch immer mehr den Eindruck, dass in den neuerlichen Auseinandersetzungen um all das, was während des Krieges geschehen war, etwas fehlte und dass komplexe Problemstellungen im öffentlichen Diskurs oft vereinfacht wurden. Manche Umstände ermutigten mich weiterzumachen, aber es gab auch immer wieder Gegenwind. Doch das ist jetzt Vergangenheit. Ich habe versucht, die Sachverhalte darzulegen, Antworten zu finden und die wesentlichen Dinge zu analysieren. Ich war fast monoman in dem Streben nach möglichst erschöpfender Arbeit an den Quellen. Nach meiner Auffassung ist das einer der Pfeiler, auf denen historische Arbeit ruht. Auf dieser Ebene entschied ich mich Anfang 2015 ganz bewusst, zum Ausgangspunkt zurückzukehren, zu der Arbeit, die ich 1995 abgeschlossen hatte. Zugleich wollte ich die Perspektive um die seither gewonnenen Erkenntnisse erweitern. Nicht zuletzt war mir wichtig zu zeigen, wie die antijüdische Politik einzelne Menschen und Familien traf – auf verschiedene Weise und auf verschiedenen Ebenen. Dass die Opfer selbst am allerwenigsten wissen konnten, was sie erwartete, war eine wichtige Erkenntnis. Im norwegischen historischen Diskurs

12

Vorwort

war man lange geneigt, es umgekehrt zu sehen: Die Opfer hätten es wissen müssen. Aber wie hätten sie dazu in der Lage sein sollen? Erst als ich mich damit abgefunden hatte, irgendwann einen Schlussstrich ziehen zu müssen, war ich dazu wirklich in der Lage. Ich habe viele Reisen unternommen und viel neues Material gefunden. Vieles davon wird hier vorgelegt. Einiges habe ich eher zufällig gefunden, manchmal nach unergiebigen Stunden in Archiven und Bibliotheken. Aber es war die Mühe wert. Ich könnte ein eigenes Buch mit Danksagungen füllen, aber dieses Buch ist schon dick genug. Am wichtigsten ist der Dank an die, die dazu beigetragen haben, dass es tatsächlich fertig wurde und gedruckt werden konnte. Das verstand sich keineswegs von selbst. Ein selbstverständlicher Dank gilt meinen Eltern und meinen beiden Schwestern. Mein Vater, der unter traurigen Umständen 2011 verstarb, hat meine Fortschritte und Rückschläge genau verfolgt. Sein Tod war dramatisch und traf mich hart. Mein Vater hat seither sehr gefehlt. Meine Mutter war stets meine wichtigste Stütze, moralisch wie ethisch. In den letzten Jahren hat sie die Arbeit am Manuskript begleitet, stets mit der dringenden Mahnung, ich müsse zum Ende kommen. Auf ihre Geduld konnte ich mich immer verlassen, sie war in jeder Hinsicht grenzenlos. Auch meine Schwestern Anne Johanne und Ragna Marie meinten, ich müsse das Projekt zu Ende führen. Sie haben mich in den letzten Jahren ebenso wie meine Mutter nicht nur moralisch unterstützt. Professor emeritus Per Ole Johansen war viele Jahre lang ein wichtiger Gesprächspartner. In all den Jahren unserer Bekanntschaft habe ich mehr von ihm gelernt, als ihm bewusst ist. Er ist auf dem Gebiet in Norwegen der unbestrittene Nestor. Im Jahr 2002 kam ich zum ersten Mal in Kontakt mit Jan Levin in Bergen. Er las die ersten Kapitelentwürfe und hat auch später viele wertvolle Anregungen geliefert. Dozent Arnfinn Moland und alle anderen in Norges Hjemmefrontmuseum, dem Museum der Widerstandsbewegung, hießen mich herzlich willkommen, als ich dort viele Monate lang Material durchsah, das für meine Schlussfolgerungen äußerst wichtig war. Im weiteren Sinne gilt mein besonderer Dank auch dem Historiker und Staatsstipendiaten Ragnar Ulstein. Seine jahrzehntelange unermüdliche Dokumentationsarbeit ist ein Schatz für die norwegische Nation. Die letzten Jahre waren schwierig im rein menschlichen Sinne. Darum will ich meinem „Gesundheitsteam“ Lorenz Notø und Umer Sheikh danken; sie haben dafür gesorgt, dass ich immer noch aufrecht dastehe. Auch mit vielen anderen habe ich Gespräche geführt und Hilfe von ihnen erfahren, aber es würde zu weit führen, alle zu erwähnen. Ihnen allen sei herzlich gedankt. Auch dem Jüdischen Museum in Oslo bin ich zu Dank verpflichtet. In der letzten Phase haben einige Personen sich als Leser zur Verfügung gestellt.

Vorwort

13

Per Ole Johansen, Professor Christhard Hoffmann von der Universität Bergen und Dozent Arnfinn Moland haben das Manuskript durchgesehen und mir viele gute Rückmeldungen gegeben. In letzter Instanz bin natürlich ich für alle Schlussfolgerungen und Analysen verantwortlich. Ein großer Dank gilt auch meinem unendlich geduldigen Verlagsredakteur Edvard Thorup. Diese deutsche Ausgabe wäre nicht zustande gekommen ohne das Interesse und Engagement des Übersetzers Jochen Pöhlandt. Ich schulde ihm großen Dank. Ich bin überzeugt, dass das Schicksal einer der kleinsten jüdischen Minderheiten in Europa zum besseren Verständnis der antijüdischen Politik der Nationalsozialisten über Norwegen hinaus beiträgt. Ich hoffe, das Buch gibt dem Leser mehr Antworten, als es neue Fragen aufwirft. Bjarte Bruland

Oktober 2018

ABKÜRZUNGEN AA BdO BdS DMT

Auswärtiges Amt Berlin Befehlshaber der Ordnungspolizei Befehlshaber der Sicherheitspolizei Archiv der Mosaischen Glaubensgemeinschaft, vom Verfasser geordnet, aufbewahrt im JMO EK Einsatzkommando HSSP Höherer SS- und Polizeiführer IST Internationaler Suchdienst des Roten Kreuzes, Bad Arolsen JMO Jüdisches Museum Oslo JOINT Archiv des American Jewish Distribution Committee (vor allem die im Internet zugänglichen Teile – jdc.org) KdS Kommandeur der Sicherheitspolizei KUD Kungliga Utrikesdepartement, Schwedisches Außenministerium L-dom Urteil in Landesverratsprozessen L-sak Landesverratsprozesse NHM Norges Hjemmefrontmuseum, Museum der Widerstandsbewegung NOU Norges offentlige utredninger, Norwegens öffentliche Untersuchungen NRK Norsk Rikskringkastin, Der norwegische Rundfunk NSB Norwegens Staatsbahnen RA Reichsarchiv Oslo RK Reichskommissar für die besetzten norwegischen Gebiete RN Rekvisisjonsnemnd, Beschlagnahmeausschuss der Stadt Oslo SD Sicherheitsdienst Reichsarchiv Stockholm SRA SSO Personalakten der SS (früher Berlin Document Centre) SUK Statens Utlänningskommission (Schweden) TFK Tilbakeføringskontor, Erstattungsamt für eingezogene Vermögen

– KAPITEL 1 –

EINLEITUNG

Wir Norweger gehören dem nordischen Geschlecht an. Das Judentum ist für uns eine tödliche Gefahr. Das norwegische Volk muss das begreifen. Die das nicht begreifen und auf das norwegische Volk Einfluss haben, müssen weg. Heute ist nicht die Zeit, allzu lange zu diskutieren. Partei- und Propagandaminister Rolf Jørgen Fuglsang 25. Oktober 19421

Im Mai 1942 wurde ein Rechtsanwalt im ostnorwegischen Lena bei der deutschen Sicherheitspolizei angezeigt, weil er Jude sei. In der Anzeige hieß es: „Sein Aussehen ist typisch jüdisch, und er leidet an einem Hass auf die Deutschen, der sehr auffällig ist und dessen Erklärung offenbar in der Rassenfrage liegt.“2 Der Denunziant fügte auch einige allgemeine Betrachtungen zu den Prinzipien antijüdischer Politik in Norwegen hinzu: Nachdem der Ministerpräsident jüdische Einwanderung nach Norwegen verboten hat, meine ich persönlich, dass Norweger und Deutsche daran interessiert sein sollten, das norwegische Volk, das rassereinste in ganz Europa, von Individuen zu befreien, deren Blut zu sehr jüdisch vermischt ist.

Der angezeigte Rechtsanwalt hieß Erling Koppang, und er war mein Großvater mütterlicherseits. Er trug eine runde Brille und fiel möglicherweise durch sein Aussehen etwas auf. Die Anzeige hatte für ihn keine direkten Folgen, aber seine antinazistische Haltung wurde bekannt. Im Januar 1944 wurde er von der norwegischen Staatspolizei festgenommen und in das Internierungslager Berg bei Tønsberg am äußeren Oslofjord gebracht. Für deutsche wie für norwegische Nationalsozialisten war „der Jude“ der Hauptfeind in einem Schicksalskampf, den die Rassen der Welt ausfochten. Vidkun Quis1 Hier zitiert nach einem Artikel in der Zeitung Aftenposten vom 26. Oktober 1942. 2 Reichsarchiv (RA), Betinget dom [Urteil mit bedingter Strafaussetzung] 48. Hamar. Brev til Max Krüger, Lillehammer, 30. mai 1942. Krüger war Chef der deutschen Sicherheitspolizei, Außendienststelle Lillehammer.

16

Einleitung

ling drückte das so aus, als er in seiner Rede zum Nationalfeiertag 1943 in dem großen Klingenberg-Kino in Oslo, weniger als drei Monate nach der letzten großen Deportation von Juden aus Norwegen, auf die Gegner des Regimes einging: Was wollen diese Leute eigentlich? Was wollen sie einführen, wenn sie die Nazisten zerschlagen und die Neuordnung ‚weggefegt‘ haben? Sofort russische Zustände? Oder vorläufig nur die alte Parteipolitik, den Klassenkampf, die Lockouts und Streiks, die Arbeitslosigkeit und Dagbladet – und alsdann sind Aronstam, Cohn, Fein, Glick, Goldberg, Goldenheim, Goldfart, Goldwasser, Levenstein, Levinson, Nachtstern, Nathan, Rabinowitz, Rosenblum, Rubinstein, Salomon, Steinsaphir, Weinstock und Moses Apelsin wieder da mit Hambro3 an der Spitze?

Aronstam, Cohn, Fein … – das waren keine Namen, die Quisling aus der Luft gegriffen hatte; es waren norwegisch-jüdische Nachnamen. Mehrere dieser Familien waren schon vollständig ausgelöscht, als Quisling seine Rede hielt. Er kannte diese Namen, nicht weil sie ihm persönlich etwas bedeuteten, sondern weil sie im Frühjahr 1942 vom Polizeiministerium registriert worden waren. In Quislings Sicht – er sagte das immer wieder – waren die Juden der Kern einer Verschwörung, die das norwegische Volk vernichten wollte. Diese Verschwörung nannte er oft die internationale Judenmacht.4 Ihretwegen meinte er, das Vorgehen gegen die Juden im Herbst des Vorjahres sei absolut notwendig gewesen. War die Tragödie der norwegischen Juden ein Ergebnis dieser ideologischen „Argumentation“? Im weiteren Sinne ja, denn was Quisling sagte, war mehr als ein oberflächlicher rhetorischer Kunstgriff. Für die Nationalsozialisten waren die Juden keine Sündenböcke; sie waren der wirkliche Feind. Der Weltkrieg war daher ein Kampf für das Überleben der „arischen Rasse“. In der nazistischen Ideologie war, anders gesagt, der Rassismus nicht nur das zentrale Element. Sie war eine konspiratorisch-rassistische Ideologie, in welcher der Hass auf „den Juden“ sowohl im idealistischen wie im physischen Sinne im Zentrum stand. Für die Nazisten war „der Jude“ Repräsentant all dessen, was in der modernen Gesellschaft erschreckend und falsch war. „Der Jude“ stand für die 3

4

Carl Joachim Hambro (1885–1964), norwegischer Journalist und führender Politiker der liberal-konservativen Partei Høyre, zum Zeitpunkt der deutschen Invasion Stortingspresident (Präsident des Parlaments). – Zitiert nach Aftenposten vom 18. Mai 1943. Quisling hat in seiner Rede einige der Namen falsch buchstabiert. Diese Fehler sind hier vom Autor korrigiert. Ein Ausdruck, den Quisling auch in der erwähnten Rede vom 17. Mai 1943 verwendete.

Einleitung

17

Industrialisierung, den Kommunismus, die Aushöhlung der sozialen Ordnung, die soziale Mobilität und die moderne Kunst. Alles, was sie hassten und verachteten, wurde mit den Juden verbunden. Somit kommt dem nazistischen antijüdischen Denken eine Sonderstellung zu. Die Nationalsozialisten verachteten auch andere Rassen und Völker, aber, wie der Historiker Saul Friedländer hervorhebt, im Unterschied zu den Juden waren diese anderen „unwürdigen Gruppen“ passive Gegner: The Jew was a lethal and active threat to all nations, to the Aryan race and to the German Volk. The emphasis is not only on ,lethal` but also – and mainly – on ,active. While all other groups targeted by the Nazi regime (the mentally ill, ,asocials and homosexuals, ,inferior῾ racial groups including Gypsies and Slavs) were essentially passive threats (as long as the Slavs, for example, were not led by the Jews), the Jews were the only group that, since its appearance in history, relentlessly plotted and maneuvered to subdue all of humanity.5

Es ist aber wichtig hinzuzufügen, dass die Nationalsozialisten die Juden nicht nur hassten; sie fürchteten sie auch. Für die Täter war die Furcht vor den Juden ein ebenso wichtiges Motiv wie der Hass. Mit der Vernichtung der Juden reinigte sich das Regime von seinen gefährlichsten Gegnern. Die Nazis sahen sich selbst nicht als den aggressiven Part. Dieses Buch handelt im weitesten Sinne von der antijüdischen Politik in Norwegen vom Zeitpunkt der Besetzung durch Nazi-Deutschland 1940 bis zur Befreiung am 8. Mai 1945. Das Hauptinteresse gilt der Frage, wie diese Politik vorangetrieben wurde und wer die Akteure waren. Sie, die Akteure, stehen im Zentrum. So gesehen ist die vorliegende Studie eine kriminalistische Untersuchung – auch im klassischen Sinne. Die Täter suchten nämlich die Verantwortung für ihre Handlungen von sich wegzuschieben und zu verschleiern, besonders seit man im Herbst 1942 ernst machte mit den Festnahmen und Deportationen. Das Gleiche geschah nach dem Krieg, als einzelne Täter sich für ihre Taten rechtfertigen mussten. In einer Hinsicht sind daher wesentliche Aspekte der Frage, wie die antijüdische Politik auf europäischer Ebene in die mörderische Richtung gedreht wurde, auch für Norwegen relevant. Die Täter und das Geschehen sind bekannt, aber es ist schwer zu erklären, warum die Maßnahmen im Herbst 1942 so radikal waren. Das Telegramm von Staatspolizeichef Karl Alfred Marthinsen, das die systematischen Festnahmen am 26. Oktober 1942 einleitete, ist erhalten, aber wer stand dahinter? Welche Entwicklungen führten zu dem Beschluss, alle diejenigen festzunehmen 5

Friedländer (2008), S. XIX.

18

Einleitung

und zu deportieren, die nach Meinung der Nationalsozialisten „Volljuden“ waren und daher in dem „neuen Norwegen“ keinen Platz hatten? Die praktizierenden Akteure – also diejenigen, die die Verhaftungen durchführten, die Deportationen organisierten und den jüdischen Besitz konfiszierten – werden im Mittelpunkt des Berichts stehen. Aber das Ziel ist darüber hinaus der Versuch, eine genauere Antwort anzudeuten auf die Frage, warum die Politik so und nicht anders entworfen und exekutiert wurde. Das Wort andeuten soll besagen, dass die Antwort auf eben diese Frage bisher wenig diskutiert worden ist, weder von Historikern noch von anderen. Der Grund dafür ist der Mangel an Quellen. Ein Historiker stellte schon in den siebziger Jahren fest: Je destruktiver die antijüdische Politik wurde, desto weniger wurde sie in Gesetzen, Verordnungen oder schriftlichen Befehlen festgehalten.6 Die Frage, wer zu den radikalen und mörderischen Aktionen im Herbst 1942 die Initiative ergriff, ist daher in der norwegischen historischen Forschung wenig behandelt worden. In den ersten größeren allgemeinen Darstellungen, die nach dem Krieg erschienen, wurde die Politik gegenüber den Juden recht kurz abgetan, und meist wurde festgestellt, dass der Befehl zur Deportation von zentraler deutscher Stelle in Berlin kam, ohne dass indes ein solcher Befehl tatsächlich gefunden wurde. Nach Kriegsende betonte man die Politik der deutschen Besatzungsmacht. Aber schon in den sechziger Jahren bekam das Bild von dem deutschen Täter, der allein operierte, einige Risse. In den Achtzigern galt die Aufmerksamkeit mehr den norwegischen Tätern. Besonders die Polizei wurde unter die Lupe genommen. Seitdem hat sich ein Geschichtsbild verfestigt, in dem das Verhältnis der verschiedenen Akteure zueinander verwischt wurde, und zentrale Fragen wurden in den Hintergrund geschoben. Die Forschung zum Holocaust in Norwegen war so gesehen fragmentarisch. Hauptziel dieses Buches ist es, den Blick wieder auf das Wie der Kooperation der Akteure zu richten. Wie war die Zusammenarbeit der deutschen Sicherheitspolizei mit der Staatspolizei? Welche formellen Richtlinien gab es? Wie funktionierte die informelle Zusammenarbeit? Diese Fragen sind schwer zu beantworten. Die Verschleierung der Verantwortlichkeiten ist auch hierbei der wichtigste Faktor. Vor allem fehlt das Quellenmaterial der deutschen Sicherheitspolizei in Norwegen. Ehe die deutschen Streitkräfte in Norwegen sich ergaben, wurde der größte Teil des Archivmaterials der Gestapo-Organe zerstört. In mehrfacher Hinsicht unterschied sich die antijüdische Politik in Norwegen von der in anderen von Deutschland besetzten Ländern Westeuropas. Die Juden 6

Siehe Adam (1972).

Einleitung

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in den Niederlanden, Belgien, Luxemburg und Frankreich wurden gleich nach der deutschen Offensive und Besetzung im Mai und Juni 1940 systematisch ausgesondert. Sie wurden zunächst registriert und danach in ihrer Bewegungsfreiheit und ihren wirtschaftlichen Möglichkeiten eingeschränkt. Das geschah systematisch und beruhte auf dem sogenannten Nürnberg-Prinzip, der von deutschen nationalsozialistischen Juristen festgelegten Definition des Begriffs „Jude“. Das alles geschah hierzulande nicht. Erst im Januar 1942 wurde die jüdische Bevölkerung von der Polizei gesondert erfasst. Mehr als durch offizielle antijüdische Maßnahmen (in Form von Gesetzen oder Verordnungen) sorgte man in Norwegen informell dafür, die Juden aus verschiedenen Branchen und Berufsgruppen zu entfernen. Einige Rechtsanwälte erhielten den Bescheid, dass ihre Zulassung kassiert sei. Manche Artisten und Künstler durften plötzlich nicht mehr auftreten. Einzelnen Juden wurde die Arbeitsstelle gekündigt. Jüdische Firmen wurden von der Besatzungsmacht „eingezogen“. In Mittelnorwegen, besonders in Trondheim, wurde diese informelle anijüdische Politik in der Praxis systematisiert, aber ohne dass Gesetze oder andere Regulierungen die Juden aussonderten. Viele Juden wurden auch schon früh festgenommen, anscheinend zufällig und aus nicht immer leicht zu erklärenden Gründen. Besonders gefährdet waren zunächst staatenlose jüdische Flüchtlinge, die aus Deutschland, Österreich oder der Tschechoslowakei stammten. Aber in Verbindung mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 verschärften sich die Aktionen; die meisten arbeitsfähigen Männer in Nordnorwegen wurden im Zuge der Vorbereitungen auf die Invasion festgenommen. Am wichtigsten war aber, dass die Invasion der Sowjetunion das ideologische Kriegsziel der Nationalsozialisten klarmachte. Für sie war der Krieg im Osten ein Vernichtungskrieg gegen das, was sie „die jüdische Weltverschwörung“ nannten. In den besetzten Gebieten Westeuropas begannen im Frühsommer 1942 die Deportationen in die Todeslager in Polen. Die Vorbereitungen wurden aber schon im Herbst 1941 eingeleitet. Noch wichtiger war, dass die systematische Aussonderung der Juden im Frühjahr 1942 schon weit fortgeschritten war. Besonders in den Niederlanden waren die Vorbereitungen gründlich. Zentrale Akteure wie Adolf Eichmann und seine Abteilung im deutschen Reichssicherheitshauptamt (RSHA) spielten dabei eine entscheidende Rolle.7 In Norwegen verlief die Entwicklung anders; der Angriff auf die Juden ist eher als eine größere konzentrierte Aktion zu werten, die darauf abzielte, jüdisches Leben so schnell wie möglich auszuradieren. Auf die vom Quisling-Regime im 7

Moore (1997), S. 354 ff.

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Herbst 1942 eingeführten Gesetze folgten unmittelbar die Verhaftungen und Deportationen; aber, wie wir sehen werden, besteht Grund zu der Annahme, dass das Regime noch weiter gehen wollte. Die Unterschiede zwischen Norwegen und anderen Ländern sind hauptsächlich der Zahl der Juden geschuldet; sie war auch maßgeblich für die Art und Weise des Vorgehens. Auch wenn die Besatzungsmacht und das Quisling-Regime die Kriegsereignisse und den Widerstand gegen sie selbst immer wieder auf jüdischen Einfluss zurückführten, hatte Norwegen zweifellos eine der kleinsten jüdischen Minoritäten in Westeuropa. Auch an zentraler Stelle – bei den Entscheidern in Berlin – wurde das bemerkt. Als der deutsche Chef des Reichssicherheitshauptamts, Reinhard Heydrich, am 20. Januar 1942 die sogenannte Wannsee-Konferenz zur „Endlösung“ leitete, äußerte der Vertreter des deutschen Außenministeriums (mit dem auffälligen Namen Martin Luther), es könne in einzelnen Ländern, nicht zuletzt in den skandinavischen, „Probleme“ geben. Er empfahl daher, vorsichtig vorzugehen, und fügte hinzu: „Im Hinblick auf die unbedeutende Anzahl Juden in diesen Ländern dürfte dies keine wesentliche Einschränkung bedeuten.“8 Zwar sind die Täter und ihre Maßnahmen das Hauptthema dieses Buches, aber auch die Opfer verdienen Beachtung, die, die von den Nationalsozialisten als Juden definiert wurden. Für die Juden in Norwegen war die Politik der Täter schwer zu durchschauen. Es gab viel Propaganda. Einzelne Juden wurden festgenommen, während andere mehr oder weniger erklärlichen Übergriffen ausgesetzt waren. Das Ganze wirkte zufällig und wenig systematisch. Das norwegisch-jüdische Milieu war von einer starken inneren Disziplin geprägt. Es herrschte die Auffassung, wie ein Jude es nach seiner Flucht nach Schweden ausdrückte, dass man „durch loyales Auftreten […] einer Verhaftung entgehen konnte“.9 Die Selbstdisziplin ging über das norwegisch-jüdische Milieu hinaus. Etwa ein Viertel der Juden, die sich bei Kriegsausbruch in Norwegen befanden, waren staatenlose Flüchtlinge. Einige von ihnen flohen nach Schweden, als Deutschland 1940 Norwegen überfiel, aber viele blieben. Wegen der besonderen Entwicklung der antijüdischen Politik in Norwegen waren viele Juden auf den systematischen und gewalttätigen Anschlag im Herbst 1942 nicht vorbereitet. Es ist wichtig, die Reaktionen der Juden auf das Geschehen in diesem Herbst von den Voraussetzungen her zu analysieren. Keiner der Juden, die am 26. November 1942 auf dem Schiff Donau deportiert wurden, wusste, was 8 9

Das Protokoll der Wannsee-Konferenz ist u. a. wiedergegeben bei Friedmann (1963). Arkivet etter Det Mosaiske Trossamfund (DMT) [Archiv der Mosaischen Glaubensgemeinschaft] vom Verf. geordnet, aufbewahrt vom Jüdischen Museum Oslo. AS-11015 Y 0004, rapport fra Marcus Levin vedrørende registrering av deporterte jøder [Bericht von Marcus Levin über die Registrierung deportierter Juden], Stockholm 5. april 1943, S. 1.

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sie erwartete. Das mag heute, 70 Jahre nach den Ereignissen, schwer verständlich sein. Eine Hauptthese dieses Buches ist, dass die großen Aktionen gegen die Juden im Herbst 1942 eng zusammenhängen mit dem erstarkenden Widerstand gegen die Besatzungsmacht und das Quisling-Regime. Als die Besatzungsmacht in Trondheim und anderen Teilen Mittelnorwegens Anfang Oktober 1942 den Ausnahmezustand verhängte, wurden jüdische Männer in der Stadt festgenommen. Ihre Festnahme stand scheinbar in keinem logischen Zusammenhang mit dem Zweck des Ausnahmezustands, nämlich den wachsenden Widerstand zu zerschlagen. Aber für die Nationalsozialisten war die Aussonderung der Juden völlig logisch. Wie wir sehen werden, hat die Entwicklung in Mittelnorwegen und Trondheim die Aktionen dieses Herbstes wesentlich mitbestimmt. Diese These ist nicht so zu verstehen, als wären die antijüdischen Aktionen unterblieben, wenn es den Widerstand nicht gegeben hätte. Im Herbst 1942 war alles schon festgelegt. Millionen Juden waren schon ermordet, und die Züge mit den deportierten Juden fuhren in regelmäßiger Folge aus den besetzten Ländern Westeuropas in die Todeslager in Polen. Aber während diese Deportationen von Eichmanns Büro in Berlin streng überwacht wurden, spricht vieles dafür, dass die Initiative zu den Aktionen in Norwegen vor Ort ergriffen wurde und dass zentrale Stellen in Berlin bei der Lösung „der Judenfrage“ in Norwegen keinen nennenswerten Druck ausübten. Die Ereignisse werden in diesem Buch detailliert dargestellt. Das mag als ein Paradox erscheinen, aber es gibt gute Gründe, so zu verfahren. Während ein Transport von Juden aus Berlin nach Auschwitz 1500 Personen umfassen konnte, wurden während des ganzen Krieges 773 Juden aus Norwegen deportiert. Als die Polizei in Trondheim vom 6. bis 8. Oktober 1942 gegen jüdische Männer (und Jugendliche ab 14 Jahren) vorging, wurden 29 Personen festgenommen. Norwegen war ein Mikrokosmos dessen, was auf europäischer Ebene vorging. Daher stehen auch Einzelschicksale oft im Mittelpunkt, besonders wenn sie uns etwas über die Denkweise der Täter sagen können. Das Buch ist in Hauptkapitel eingeteilt. Kapitel 2 („Die Besetzung“) soll einen kurzen Abriss des Regimes liefern, das nach der Besetzung durch Nazi-Deutschland in Norwegen installiert wurde, sowie der Faktoren, die auf die antijüdische Politik einwirkten. In Kapitel 3 („Die Akteure“) werden die Strukturen skizziert, die für den Aufbau antijüdischer Politik in Norwegen von Bedeutung waren. Besonders die in der deutschen Sicherheitspolizei herrschende Mentalität ist hier zu nennen. Kapitel 4 („Das Netz wird zugezogen“) beschreibt die vielen Maßnahmen und Initiativen der Besatzungsmacht und der Kollaborateure bis zum Herbst 1942.

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Kapitel 5 („Die fatale Wendung“) handelt ausschließlich von der Registrierung der Juden, die aufgrund einer Bekanntmachung des Polizeiministeriums vom 20. Januar 1942 durchgeführt wurde. Kapitel 6 („Die Endlösung“) beschreibt und analysiert die Prozesse und Ereignisse, die die große Aktion gegen die Juden im Herbst 1942 auslösten. Dieses Kapitel ist natürlich sehr umfangreich. Kapitel 7 („Der Kreuzweg“) behandelt Warnungen an und Hilfen für geflohene Juden. Kapitel 8 („Wirtschaftliche Liquidierung“) stellt kurz dar, wie die Täter nach der Deportation oder Flucht der Juden jüdischen Besitz verteilten. Kapitel 9 („Die Toten und die Lebenden“) fasst verschiedene Gesichtspunkte zusammen. Das Quisling-Regime wollte im Zuge der Radikalisierung der antijüdischen Politik im Herbst 1942 systematisch auch sogenannte Halbjuden und Vierteljuden aussondern. Im gleichen Kapitel werden auch das Schicksal der deportierten Juden dargestellt sowie die Versuche herauszufinden, was mit ihnen geschah. Manchen Leser mag der Reichtum an Details irritieren. Es werden auch viele Zitate verwendet. Das Ziel ist indes, anschaulich zu machen, wie die antijüdische Politik funktionierte. Daraus lassen sich Lehren ziehen. Es darf nicht vergessen werden, dass die Konspiration und die Angst – die eigentlichen Grundlagen der Weltanschauung der Nationalsozialisten – auf mehreren Ebenen wirkten. Die Ereignisse in Norwegen sind daher eine gute Illustration ihres Denkens und Handelns.

– KAPITEL 2 –

DIE BESETZUNG: EINIGE PRÄMISSEN

Es gibt eine Rasse, die ganz wurzellos ist, und das sind die Juden. In ihrem Blut liegt kein Streben nach Grund und Boden, aber sie haben ein anderes Streben, und das ist das Streben nach Gold. Mit dem Gold haben sie Jahrhunderte hindurch die übrige Welt vollkommen beherrscht. Vidkun Quisling, November 19411

EINLEITUNG Die antijüdische Politik in Norwegen, die zu Deportation und Mord führte, entwickelte sich nicht in einem Vakuum, sondern war Teil eines größeren Plans: alle Juden Europas zu ermorden. Dieser Plan hatte seinen Ursprung in der nationalsozialistischen Ideologie und hatte mit der Situation in Norwegen eigentlich wenig zu tun. Als Norwegen im Frühjahr 1940 von Deutschland besetzt wurde, hatten Hitler und die anderen nazistischen Führer den Beschluss, alle Juden Europas zu töten, noch nicht gefasst. Im Laufe mehrerer Jahre, in denen sie sich immer mehr radikalisierte, kam die Politik zu einer – für die Nationalsozialisten – logischen Schlussfolgerung. Nach dem Urteil des Historikers Magne Skodvin war die deutsche Politik nach der Invasion vom 9. April 1940 „schwankend und unklar“. Nach Hitlers Willen sollte die Besetzung schnell und ohne große Verwicklungen erfolgen. Die norwegische Regierung und der Staatsapparat sollten sich ganz einfach „unter dem Schock fügen und die deutschen Bedingungen akzeptieren“, wie Skodvin formulierte. Aber Hitler hatte keinen Plan B; andere Lösungen waren nicht vorgesehen. Als die norwegische Regierung sich zum Widerstand entschied und den Kampf fortsetzte, zeichneten sich mehrere konkurrierende Lösungen ab, und einige Akteure sahen ihre Chance. Schon am 9. April 1940 entschloss der Führer von Nasjonal Samling sich zum Staatsstreich, indem er den Rundfunksender in Oslo besetzte. Quisling konnte sich dabei auf Kreise der deutschen Marine und nicht zuletzt auf Hitlers 1

Hirdmannen, Anlage zu der Zeitschrift Fritt Folk, 20. November 1941.

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Die Besetzung: einige Prämissen

Chefideologen Alfred Rosenberg stützen. Zugleich arbeitete der deutsche Gesandte in Oslo, Curt Bräuer, an einer „diplomatischen Lösung“.2 Das Chaos erreichte Berlin und Hitler. Am 19. April bestellte er den Gauleiter in Essen, Josef Terboven, zu sich und und ernannte ihn zum Reichskommissar in Norwegen mit nahezu diktatorischen Vollmachten. Bei einer Besprechung am folgenden Tage, an der Terboven, Göring und Bormann teilnahmen, erhielt Himmler die Erlaubnis, in Norwegen einen eigenen Höheren SS- und Polizeiführer zu ernennen und zusammen mit ihm eine eigene Einsatzgruppe des Sicherheitsdienstes und der Gestapo zu bilden. Der Chef des Reichssicherheitshauptamtes, Reinhard Heydrich, wurde beauftragt, Bedienstete der deutschen Sicherheitspolizei auszuwählen und nach Norwegen zu entsenden.3 Am 24. April unterzeichnete Hitler die Verordnung, mit der Terboven offiziell zum Reichskommissar in Norwegen ernannt wurde. Die Ernennung folgte dem sogenannten Führerprinzip, welches besagte, dass Terboven Hitler direkt unterstellt war. In § 6 der „Führer-Verordnung“, die in Norwegen veröffentlicht wurde, war das so ausgedrückt: „Der Reichskommissar ist mir unmittelbar unterstellt, und er erhält Richtlinien und Instruktionen von mir.“ Auch die deutsche Polizei musste Terboven zur Verfügung stehen: „Zur Durchführung seiner Verordnungen kann der Reichskommissar sich deutscher Polizeiorgane bedienen.“4 Dies ließ sich unterschiedlich auslegen, und von Anfang an herrschte Uneinigkeit über die Stellung, die der deutsche Polizeiapparat in Norwegen haben sollte (vgl. Kapitel 3). Nach Magne Skodvin war das deutsche Reichskommissariat eine ganz spezielle Institution: Es war das erste Mal, dass die Institution außerhalb des Gebietes eingesetzt wurde, das die Nationalsozialisten den ‚deutschen Kulturboden‘ nannten. Und es war das erste Mal, dass innerhalb des gleichen organisatorischen Rahmens ein Beamtenapparat aus Vertretern sowohl der Partei wie des Staates gebildet wurde. Der Reichskommissar persönlich hatte ungewöhnlich große Macht. Hitler hat diese Lösung vermutlich gewählt, weil die Situation der um 1933 zu ähneln begann, weil die Norweger trotz allem ‚Arier‘ und ‚Germanen‘ waren und in die neue großgermanische Gemeinschaft einbezogen werden könnten – die Rassenlehre war ja das nationalsozialistische Evangelium –, weil es eines starken Mannes und ‚alten Kämpfers‘ bedurf2 3 4

Skodvin (1990), S. 73 ff. Longerich (2012), S. 491. Die ausgewählten Mannschaften waren eigentlich Teil des Einsatzkommandos, das für Belgien, die Niederlande und Frankreich vorgesehen war. Siehe Wildt (2003), S. 76 f. Verordnungblatt für die besetzten norwegischen Gebiete Nr. 1, 6. Mai 1940, § 5.

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te, der diese Überzeugungen teilte und es gewohnt war, erforderlichenfalls mit harter Hand durchzugreifen. Die norwegische Entwicklung wurde zum Vorbild für die gleiche Lösung in den Niederlanden, während die dort zunächst vorgesehene dänische Regelung verworfen wurde.5

Der deutsche Historiker Robert Bohn meint, das Besatzungsregime in Norwegen habe sich nicht nach rationalen Prinzipien entwickelt, sondern sei von Personen, die ihre je eigenen Organisationsstrukturen und Interessen vertraten, initiiert und aufgebaut worden.6 Am Anfang spielten Ribbentrop und sein Außenministerium eine zentrale Rolle. Im Hintergrund arbeiteten Rosenberg und die Kriegsmarine für Quisling. Hinzu kam, dass Himmler und Heydrich nach möglichst großem Einfluss strebten. Aber in letzter Instanz entschied Adolf Hitler. Die nach der deutschen Besetzung Norwegens etablierten besonderen Strukturen wurden bestimmend für das, was mit den Juden geschah. Diese Strukturen waren in mehrfacher Hinsicht mit einheitlicher Führung unvereinbar. Nachdem Terboven vergebens versucht hatte, mit dem verbliebenen norwegischen Staatsapparat ein Abkommen zu schließen, erlangte die Partei Nasjonal Samling (NS) unter ihrem Führer Vidkun Quisling eine besondere Machtstellung, eine Stellung, die vielen anderen ambitionierten nationalsozialistischen Führern in Westeuropa verweigert wurde. Seit September 1940 war NS in Norwegen die einzige zugelassene Partei; alle anderen Parteien wurden vom Reichskommissar aufgelöst.7 Zugleich wurden zur Leitung norwegischer Ministerien kommissarische Minister ernannt. Im Februar 1942 wurde Quisling (der bis dahin „nur“ Führer der Partei NS gewesen war) zum Ministerpräsidenten und Chef einer eigenen „nationalen Regierung“ ernannt, aber ohne dass dies die nahezu diktatorische Macht berührte, die Hitler seinem Reichskommissar verliehen hatte. Terbovens eigener Apparat war eine relativ dünn besetzte zivile Verwaltung, deren zentrale Abteilungen zu seinem Büro im Storting in Oslo gehörten und die in wichtigen norwegischen Städten Unterabteilungen hatte. Die Abteilungsstruktur sollte dem wichtigsten deutschen Ziel der Besatzung dienen: der Kollaboration mit der norwegischen Wirtschaft, damit diese in möglichst hohem Maße zur deutschen Kriegswirtschaft beitragen könnte. Eigene Abteilungen sollten für Propaganda sorgen und die Presse und Nasjonal Samling kontrollieren. Ein eigens gebildeter Einsatzstab sollte die neue staatstragende Partei restrukturieren und „beraten“. 5 6 7

Skodvin (1990), S. 76 f. Bohn (1997), S. 71. Verordnungsblatt für die besetzten norwegischen Gebiete Nr. 5, 1940. Verordnung zum Verbot der politischen Parteien in Norwegen, § 1, Absatz 1.

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Die Besetzung: einige Prämissen

Die deutsche Sicherheitspolizei wurde wie erwähnt zuerst als eine Einsatzgruppe mit Hauptsitz in Oslo und Einsatzkommandos in wichtigen norwegischen Städten organisiert. Die deutschen Polizeistrukturen galten zunächst als vorläufig, und in der ersten Phase sollte die deutsche Sicherheitspolizei nur eingreifen, „wenn es für die Kriegführung absolut notwendig war“.8 Feinde Nazi-Deutschlands sollten neutralisiert werden, aber das sollte „taktvoll“ geschehen und ohne dass das norwegische Volk zu viel Schaden litte.9 Erst nachdem offenkundig war, dass die Besatzung Norwegens länger dauern würde, erhielt die deutsche Sicherheitspolizei eine festere Organisationsstruktur. Diese chaotische Annäherung an Macht und Strukturen war in mehrfacher Hinsicht typisch für Adolf Hitlers Regierungsstil. Eine Regierung im klassischen Sinne gab es im nationalsozialistischen Deutschland nicht. Die verschiedenen Minister und Führer hatten zu Hitler ein persönliches Verhältnis und wetteiferten um seine Gunst. Der Historiker Ian Kershaw hat diese Zersplitterung formeller Machtstrukturen als „working towards the Führer“ bezeichnet--: Through ,working towards the Führer‘ initiatives were taken, pressures created, legislation instigated – all in ways which fell into line with what were taken to be Hitler’s aims, and without the Dictator necessarily having to dictate. The result was continuing radicalization of policy in a direction which brought Hitler’s own ideological imperatives more plainly into view as practicable policy options. The disintegration of the formal machinery of government and the accompanying ideological radicalization resulted then directly and inexorably from the specific form of personalized rule under Hitler. Conversely, both decisively shaped the process by which Hitler’s personalized power was able to free itself from all institutional constraints and become absolute.10

In den Machtstrukturen während der deutschen Besatzung erhielten die norwegischen Nationalsozialisten anscheinend eine zentrale Position. Die Partei NS und ihr Führer Quisling sowie die staatlichen, kommunalen und privaten Organe, die mit dem Ausschluss und der Deportation der Juden zu tun bekamen, spielten daher eine wichtige Rolle. Für die deutschen Okkupanten war die Kollaboration bei der antijüdischen Politik nicht nur wünschenswert, sie war notwendig. Nur auf diese Weise konnte das Ergebnis „optimal“ werden.

8 Zitiert nach Gerwarth (2011), S. 175. 9 Ebd. 10 Kershaw (2009), E-Book, Kapitel 12, „Working towards the Führer“, 6. Abschnitt.

Radikalisierung der antijüdischen Politik

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Auch aus sozialpsychologischer Sicht war die Kollaboration wichtig. Es wurde unklar, wer eigentlich die Verantwortung trug, und die Intentionen der Besatzungsmacht konnten hinter den Vordergrundfiguren verborgen bleiben.

RADIKALISIERUNG DER ANTIJÜDISCHEN POLITIK Als Deutschland Norwegen im April 1940 besetzte, war die Frage des Verhältnisses zu den Juden in den Hintergrund gedrängt. Im Zusammenhang mit den Invasionsplänen wurden Bestimmungen zum Verhalten der Besatzungsmacht zu den wirtschaftlichen und politischen Strukturen ausgearbeitet, die man in Dänemark und Norwegen vorfand. Darin wurde festgelegt, dass „die Rassen- und Volksfrage nicht zum Gegenstand deutscher Beeinflussung gemacht werden soll“.11 Aber diese Bestimmungen wurden vor Beginn der Invasion ausgearbeitet und in der Erwartung, dass man mit den Regierungen in Norwegen und Dänemark Abkommen schließen könnte. In einigen der neueren Forschungen zur Vernichtung der Juden steht die nazistische „Ostpolitik“ im Zentrum. Kern der nazistischen Überlegungen zu den Ostgebieten war der Gedanke der Schaffung „deutschen Lebensraums“; dazu wollte man sich in einer gigantischen ethnischen Säuberung der „minderwertigen Volkselemente“ entledigen. Große Teile der deutschen Elite hatten sich diesen Gedankengang zu eigen gemacht, und er war auch in Hitlers gigantomanischen Vorstellungen verankert.12 Die Kriege im Osten – zuerst der Polenfeldzug, später die Invasion der Sowjetunion – waren der Ausgangspunkt dieser Umwälzung. In Polen sollten Gebiete, die Deutschland sich aneignete (u. a. das sogenannte Wartheland) von Polen und Juden gereinigt werden. Für deutsche Kolonisierung sollte Platz geschaffen werden, und eine Umsiedlung der Bevölkerung galt daher als unbedingt notwendig. Im Herbst 1939 und im Frühjahr 1940 wurden folglich Polen und Juden in teilweise chaotischen Operationen aus diesen Gebieten verdrängt. Das besetzte Polen wurde zu einer Arena, auf der mehrere NS-Organe mit Lösungen der „Rassenprobleme“ experimentierten. Für die Juden bedeutete das Verdrängung, Segregation in Ghettos und für viele Tod durch Hunger und Überlastung, lange bevor Hitler die Entscheidung, alle Juden zu töten, wirklich getroffen hatte. Ihren Höhepunkt erreichte die Radikalisierung allerdings erst mit der Invasion der Sowjetunion am 22. Juni 1941. Der Krieg gegen die Sowjetunion war für die 11 Zitiert nach Mendelsohn (1986), S. 22 f. 12 Siehe Aly (2001).

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Die Besetzung: einige Prämissen

Nationalsozialisten kein gewöhnlicher Krieg, sondern ein Vernichtungskrieg gegen das „jüdisch-bolschewistische System“. Dennoch deuteten sie ihn auch zu einem Präventivkrieg um, und von daher wird verständlich, dass die „Endlösung der Judenfrage“ in Deutschlands Eroberungskrieg im Osten ihren Ausgangspunkt hatte. Wenn die Juden hinter dem Krieg standen, wie die Nazisten selbst meinten, wäre es widersinnig, jüdische Zivilisten in den Gebieten hinter der Front zurückzulassen. Schon vor der Invasion wurden daher Einsatzgruppen gebildet, deren Aufgabe es war, die Gebiete hinter der Front zu sichern. Diese Mordgruppen wurden hauptsächlich aus SS und Polizei rekrutiert. Ihre Order war, dem bolschewistischen System „den Kopf abzuschlagen“. Politische Kommissare und Parteifunktionäre sollten auf der Stelle erschossen werden. Aber für die Nazisten standen die Juden hinter allem, und daher sollten auch sie dran glauben. Anfangs betrafen die Massaker hauptsächlich jüdische Männer, aber sehr bald schlossen sie auch Frauen und Kinder ein; die Vernichtungspolitik war allumfassend. In diesem durchgreifenden Kampf sollten alle Juden vernichtet werden. „Die radikale Lösung“, die zunächst Juden auf sowjetischem Territorium betraf, wurde auf das übrige Europa übertragen. Aber während die Mörder ihre Opfer im Osten an Ort und Stelle töteten, sollten die Opfer in Zentral- und Westeuropa zu ihren Henkern deportiert werden. In Polen wurde die Errichtung improvisierter Tötungszentren beschlossen.13 Der Nationalsozialismus in Deutschland war von Anfang an antisemitisch; dennoch war die physische Vernichtung nicht von vornherein bestimmt. Nach der Machtübernahme 1933 wurde die Politik in Eskalationsstufen entwickelt. Zunächst hieß es nur, dass zuerst Deutschland und später auch die besetzten Gebiete von Juden „befreit“ werden sollten. Genau das gleiche Ziel verfolgte der Denunziant, der den Rechtsanwalt Erling Koppang in Norwegen anzeigte. Aber die „Befreiung“ eines Gebietes von Juden war ein komplizierter Prozess. Jedes Gebiet (und jedes besetzte Land) musste, bevor die Juden deportiert werden konnten, entsprechend vorbereitet werden. Der Historiker Raul Hilberg hat das so beschrieben: The implementation of Hitler’s prophecy was a vast administrative undertaking. To start with, the preliminary process of defining the victims, attaching their property, and restricting their movement had to be extended to all the areas from which deportations were to be conducted. Before the completion of these steps in a particular territory, that area was not ready.14 13 Diese Zusammenfassung folgt in der Hauptsache Browning (2004). 14 Hilberg (1985), S. 407.

Die Grundlage der Entwicklung antijüdischer Politik in Norwegen

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DIE GRUNDLAGE DER ENTWICKLUNG ANTIJÜDISCHER POLITIK IN NORWEGEN Quisling und seine norwegischen Nazisten waren Handlanger, Kollaborateure, wie es sie auch in anderen von Deutschland besetzten europäischen Ländern gab. Das bedeutet nicht, dass Quisling und sein Regime für das Schicksal der norwegischen Juden keinerlei Verantwortung tragen. Sein Regierungs- und Machtapparat hat dazu beigetragen, für die Deportation der Juden den Grundstein zu legen, wenngleich der eigentliche Vernichtungsprozess erst mit dem Abtransport einsetzte. Gleichwohl ist es von wesentlicher Bedeutung, die Arbeitsteilung zwischen den verschiedenen Akteuren und Organen zu erkennen. Diese Arbeitsteilung war, als die verschiedenen antijüdischen Maßnahmen in Norwegen eingeleitet wurden, noch keineswegs festgelegt; sie entwickelte sich erst nach und nach. Daher müssen wir den Aktionsmodus der Täter unter die Lupe nehmen. Aber zu allererst müssen wir uns natürlich klarmachen, wer die Täter waren und wie sie interagierten. Ohne diese Kenntnis lassen sich Verlauf und Umfang der Aktion nicht beschreiben. Die deutsche Besatzungsmacht passte die Verwaltung der besetzten Gebiete den von Land zu Land unterschiedlichen Bedingungen an, und in Norwegen wurden einige spezielle Strukturen etabliert. Einerseits bekam Norwegen eine deutsche zivile Führung, mit dem Hitler direkt unterstellten Reichskommissar an der Spitze. Und die militärische Präsenz war erheblich; Norwegen gehörte zum Aufmarschgebiet für die Invasion der Sowjetunion im Sommer 1941. Zusätzlich wurde ein Kollaborationsregime eingesetzt mit Vidkun Quisling an der Spitze, der seit Februar 1942 auch Ministerpräsident einer nationalen Regierung war. Dies war ein Sonderfall. Zwar hatte die deutsche Besatzungsmacht nichts gegen Kollaborationsregime. Das Vichy-Regime in Frankreich, das Tiso-Regime in der Slowakei und die Ustascha in Kroatien hatten auch solche selbständigen Strukturen. Der Unterschied war indes, dass diese faschistischen oder pseudonazistischen Regime einen gewissen Rückhalt in der Bevölkerung hatten. Diesen Rückhalt erwarb Quisling nie. Die Entwicklung und Festigung der Besatzungsherrschaft in Norwegen hatte erhebliche Bedeutung für die Art und Weise, aber auch für den Zeitpunkt der antijüdischen Aktionen. Das Instrumentarium, das der Identifizierung der Opfer, der Liquidierung ihres Besitzes, ihrer Verhaftung und ihrem Abtransport nach Oslo diente, war von erheblichem Umfang, aber wichtiger noch war, dass es die Teile des Organisationsapparates einbezog, die zu nutzen nahelag: die Speditionsbranche, Auktionsfirmen, Polizeiorgane, die örtlichen Finanzämter oder andere Teile der kommunalen Bürokratie. Nur in geringem Maße wurden zur Durchführung

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Die Besetzung: einige Prämissen

einer spezifisch antijüdischen Politik besondere Organe etabliert.15 Es gab noch eine weitere Besonderheit, in der sich Norwegen von anderen Ländern in Westeuropa unterschied: Deutsche Stellen hielten sich weitgehend im Hintergrund. Nicht der deutsche Okkupant machte antijüdische Gesetze und Dekrete, und in der Regel waren es nicht deutsche Soldaten oder Polizeitrupps, die Juden festnahmen. Der Reichskommissar Josef Terboven fertigte praktisch keine antijüdischen Gesetze aus, auch dann nicht, als er von Berlin ausdrücklich darum gebeten wurde. In einigen Veröffentlichungen, besonders in neuerer Zeit, ist dies so gedeutet worden, als sei das Vorgehen gegen die Juden in Norwegen eine „norwegische“, vom Quisling-Regime initiierte Aktion gewesen. Aber vieles spricht für die Annahme, dass die antijüdische Politik in Norwegen in einem Zusammenspiel zwischen der Besatzungsmacht und Kollaborateuren entworfen wurde, bei dem die deutschen Organe so weit wie möglich im Hintergrund blieben und von dort die Fäden zogen. Dennoch müssen wir die erhebliche Mitwirkung des Quisling-Regimes und norwegischer Staatsorgane beim Vorgehen gegen die Juden beachten. Ohne sie wären die Aktionen schwieriger umzusetzen und das Ergebnis wäre ein anderes gewesen. Die Zahl der antijüdischen Maßnahmen war in Norwegen geringer als im übrigen Westeuropa. Während Juden in den Niederlanden, in Belgien und Frankreich brutalen Übergriffen ausgesetzt waren, die sie isolieren, ihnen Lebensunterhalt und Vermögen nehmen und nicht zuletzt ihre Bewegungsfreiheit begrenzen sollten, beschränkte man sich in Norwegen bis zum Herbst 1942 auf die Schritte, die zur Registrierung der Opfer unerlässlich waren (damit die Täter sie identifizieren konnten). Der große Schlag gegen norwegische Juden kam daher in Gestalt zweier größerer Blitzaktionen. Es gab allerdings wichtige Ausnahmen von diesem Muster: Die Besatzungsmacht selbst wurde gegen Juden aktiv in Regionen, die sie für besonders wichtig hielt oder in denen der Widerstandskampf eine besondere Herausforderung darstellte. Juden in Trondheim, an der Küste von Møre und in Nordnorwegen waren früher und härter betroffen als Juden im übrigen Norwegen. Die Unterschiede zwischen Norwegen und anderen westeuropäischen Ländern sind mehreren Umständen geschuldet, aber am wichtigsten waren wohl Wille und Fähigkeit der Täter, die destruktive Politik gegenüber den Juden den Verhältnissen in den einzelnen besetzten Gebieten anzupassen. In Norwegen war die Zahl der Juden gering, und sie waren auf eine große Fläche verteilt. Die Einleitung antijü15 Das wichtigste dieser besonderen Organe war der Liquidationsausschuss für die eingezogenen jüdischen Vermögen, fortan einfach „Liquidationsausschuss“ genannt.

Die Grundlage der Entwicklung antijüdischer Politik in Norwegen

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discher Maßnahmen in Form von Verordnungen des Reichskommissars hätte in der Gesellschaft viel Aufsehen erregt und möglicherweise den Widerstand gegen die Besatzungsmacht gestärkt. Die größte Schwierigkeit in diesem Buch liegt darin zu erklären, warum 53 Prozent der Juden, die registriert wurden und in deren Ausweise ein rotes J gestempelt war, 1942 und 1943 deportiert wurden. Gemessen an der Gesamtzahl der Juden ist das ein sehr hoher Anteil. Er ist höher als in Belgien und Frankreich, aber geringer als in den Niederlanden. Der britische Historiker Bob Moore, der die Deportation von Juden aus den Niederlanden untersucht hat, erklärt den hohen Anteil deportierter und ermordeter Juden vor allem mit den Besonderheiten der Besatzung in den Niederlanden. Das Land wurde wie Norwegen von einem deutschen Reichskommissar (SeyßInquart) regiert, der sich auf eine effektive deutsche Sicherheitspolizei stützen konnte. Zugleich brach die Zusammenarbeit mit der niederländischen Bürokratie nie zusammen. In der Staatsbürokratie gab es keinen organisierten Widerstand gegen die antijüdische Politik. Hinzu kam die „Beteiligung“ jüdischer Institutionen an der Sammlung von Juden vor den Deportationen sowie die Tatsache, dass die Niederlande schon vor der Besetzung die Einwohner des Landes systematisch registriert hatten. Dies konnte sich die Besatzungsmacht später zunutze machen. Zudem verfolgten Eichmann und sein Stab im RSHA die Entwicklung genau.16 Vieles spricht dafür, dass mehrere dieser Faktoren – mit der wichtigen Ausnahme der Beteiligung jüdischer Institutionen – weitgehend auch für Norwegen galten. Aber Norwegen hatte im Unterschied zu den Niederlanden eine äußerst kleine jüdische Minderheit. Die Frage ist auch, was in Norwegen im Herbst 1942 die radikale Wende herbeiführte. Nur gut drei Monate nachdem die ersten Deportationszüge die Niederlande verlassen hatten, wurde eine durchgreifende Aktion eingeleitet. Das ist schwer zu erklären, denn es gibt äußerst wenige Dokumente, die den Ablauf der Ereignisse erhellen. Diese müssen daher so zueinander ins Verhältnis gesetzt werden, dass sie in der Gesamtschau einen Sinn ergeben. Eine Hypothese, die sich wie ein roter Faden durch dieses Buch ziehen wird, besagt, dass die Aktionen im Herbst 1942 im Zusammenhang mit dem intensiver werdenden Widerstandskampf in Norwegen, aber auch mit dem Kriegsverlauf allgemein gesehen werden müssen. Sind die Nazisten deshalb gegen die Juden vorgegangen? Die Spuren, die mich zu dieser Auffassung brachten, führen nicht nach Oslo, sondern weiter nach Norden, nach Mittelnorwegen. Die Situation dort macht verständlich, dass die antijüdischen Maßnahmen so viel radikaler wurden. Anschei16 Moore (1997), S. 253 ff.

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Die Besetzung: einige Prämissen

nend waren es lokale Operationen, die mit denen im übrigen Land nicht zusammenhingen. Mittel- und Nordnorwegen hatten für das Dritte Reich eine besondere strategische Bedeutung, nicht nur wegen der Versorgungsrouten zu den Armeen an der Murmansk-Front, sondern auch wegen der Befürchtung, eine alliierte Invasion könne da erfolgen, wo Deutschland leicht verwundbar war. Die Furcht vor einer Invasion in Verbindung mit der Furcht vor weiteren Widerstandshandlungen veranlasste Terboven, vom 6. bis 12. Oktober 1942 in Trøndelag, der Region um Trondheim, den Ausnahmezustand zu verhängen. Schon in seiner Rede an die Polizeikräfte bei der Ankunft unterstrich er, dass die Juden hinter dem Krieg stünden. Der Ausnahmezustand sollte sie besonders hart treffen. Die Hauptfrage bleibt, woran es lag, dass so viele der norwegischen Juden deportiert wurden. Welche Faktoren trugen dazu bei, dass die beteiligten Organe unter dem moralischen Druck, der die Aktionen begleitete, nicht zusammenbrachen? Und warum waren die ländlichen Gebiete und Kleinstädte am härtesten betroffen?

DIE JUDEN IN NORWEGEN BEI KRIEGSBEGINN Bei Kriegsausbruch befanden sich nur etwas mehr als 2000 Juden in Norwegen. Sowohl in absoluten Zahlen wie prozentual gehörte die jüdische Minorität zu den kleinsten in Europa, und sie konnte auf keine lange Geschichte zurückblicken. 1940 war es nur 89 Jahre her, dass Juden die Erlaubnis zur Einwanderung erhalten hatten. Die meisten Juden waren immer noch Einwanderer der ersten Generation und ihre Kinder. Sie stammten in der Hauptsache aus dem heutigen Litauen, Lettland, dem nördlichen Polen und Weißrussland. Trotz der kurzen Zeitspanne hatten sie mehrere Gemeinden gegründet17, und das Vereinsleben blühte. Die Juden hatten sich auch dem Leben in dem homogenen Norwegen mit einer besonderen Strategie angepasst. Zum einen kamen die meisten aus Kleinstädten und Dörfern ihrer Herkunftsländer, in denen jüdisches Leben stark von religiösen Traditionen und einer eigenen Sprache bestimmt war. Das Leben im „Heimatland“, wie viele norwegische Juden es nannten, war geprägt von Isolation, fehlenden wirtschaftlichen Entfaltungsmöglichkeiten und einer feindlich gesinnten Mehrheitsbevölkerung. Deren Umgang mit den Juden folgte auch überkommenen Mustern, nach denen soziale Mobilität erheblich schwieriger war als in einem relativ offenen, demokratischen 17 So gab es 1904 in Oslo, dem damaligen Kristiania, nicht weniger als vier Gemeinden. 1920 gab es dort zwei und in Trondheim eine. Erst 1939 wurden die beiden Osloer Gemeinden zu einer zusammengeschlossen.

Die Juden in Norwegen bei Kriegsbeginn

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Land wie Norwegen. Während der Druck auf die Juden im „Heimatland“ brutal und willkürlich gewesen war, sahen sie sich in Norwegen einem anderen Druck gegenüber, einem nicht immer direkt geäußerten Assimilationsdruck. Die Gewöhnung an ein Leben in Norwegen war schwierig, aber eine gute Integration war möglich. Die jüdische Minderheit passte sich dem Leben in Norwegen ziemlich gut an, aber hielt zugleich an den in der Religion und im jüdischen Denken liegenden Werten fest. Das war allerdings kein schmerzfreier Prozess. Im Gegenteil, norwegische Juden trafen Entscheidungen, die teilweise zu religiösen Grundsätzen und dem Leben, das sie von früher gewohnt waren, im Widerspruch standen. Es handelte sich indes um eine Selbstanpassung, die mit der Anpassung der norwegischen Mehrheitsgesellschaft an eine neue Minderheit nicht unbedingt synchron verlief. Diese Selbstanpassung bewirkte, dass sich im Laufe der 1920er und 1930er Jahre eine eigene norwegisch-jüdische Identität herausbildete, in der zentrale jüdische Institutionen wie Gemeinden, Jugendvereinigungen und Hilfsorganisationen bemüht waren, in dem schwierigen Verhältnis der Minorität zur Majorität die Grenzen abzustecken. Nach innen war diese Identität geprägt von einer bemerkenswerten Selbstdisziplin und Loyalität gegenüber eigenen jüdischen Werten, doch zugleich gingen die Juden in ihrer Assimilation an die norwegische Gesellschaft ziemlich weit.18 Sozioökonomisch war die jüdische Minderheit anders aufgebaut als in den meisten anderen westeuropäischen Ländern. Wegen der kurzen norwegisch-jüdischen Geschichte waren die norwegischen Juden in den Eliten kaum vertreten. Überdurchschnittlich viele Juden betrieben als Selbständige Läden, Kioske oder Werkstätten, in geringerem Maße Fabriken. Nur wenige arbeiteten in der Staatsverwaltung oder in anderen staatlichen oder kommunalen Betrieben. Äußerst wenige arbeiteten als Wissenschaftler an der Universität oder einer Hochschule. Überhaupt hatte nur ein kleiner Teil der jüdischen Bevölkerung eine höhere Ausbildung. Diese wenigen waren überwiegend in medizinischen oder juristischen Berufen tätig. Während der 1930er Jahre nahm dieser Anteil aber zu; die zweite Generation jüdischer Einwanderer hatte schon bessere Chancen zu studieren. Andere Indikatoren wiederum zeigen, dass die jüdische Minderheit in Norwegen im Vergleich zu anderen Ländern relativ wenig assimiliert war. Als die Juden aufgrund einer Bekanntmachung des Polizeiministeriums vom 20. Januar 1942 registriert wurden, hatten ungefähr 10 Prozent der Osloer Juden einen nichtjüdischen Ehepartner. Dieser Anteil war in anderen Ländern, besonders in Italien, Mitte der 1930er Jahre ungleich höher (vgl. Kapitel 5). 18 Dies ist näher ausgeführt bei Bruland (2010).

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Die Besetzung: einige Prämissen

Norwegische Einwanderungspolitik trug dazu bei, dass ein Teil der norwegischjüdischen Bevölkerung nicht die norwegische Staatsbürgerschaft hatte. Dahinter stand zum Teil eine verdeckte rassistische und antisemitische Strömung,19 aber ebenso eine sozialökonomische Komponente: Es waren in erster Linie arme Juden, die bei Kriegsbeginn nicht die norwegische Staatsbürgerschaft erhalten hatten. Wie wir sehen werden, war der Anteil der Getöteten in dieser Gruppe am höchsten. Gegen Ende der 1930er Jahre kamen jüdische Flüchtlinge ins Land. Im Vergleich zu heutigen Verhältnissen waren es allerdings sehr wenige. Vermutlich befanden sich zum Zeitpunkt der deutschen Invasion am 9. April 1940 400 bis 500 jüdische Flüchtlinge in Norwegen. Idealistische Organisationen hatten ihnen zur Flucht verholfen, vor allem die Nansen-Hilfe (fortan Nansenhilfe genannt) und die Jüdische Hilfsvereinigung, aber auch Norweger, die in eine schwierige Situation geratenen Freunden helfen wollten. Die Aufnahme der Flüchtlinge geschah ohne staatliche Mitwirkung. Man übertreibt nicht, wenn man feststellt, dass der Staat mit seinem Ausländeramt und dem zentralen Reisepassamt die Organisationen in ihren Bestrebungen mehr behinderte als unterstützte. Auch hier wirkte eine verdeckte Skepsis gegenüber Juden, die weniger als politische denn als Wirtschaftsflüchtlinge wahrgenommen wurden. Im Referat über eine Besprechung des Justizministeriums mit dem zentralen Passamt und der Nansenhilfe wird das so ausgedrückt: Dann wurde diskutiert, was unter einem politischen Flüchtling zu verstehen sei. Nansen konnte sich der Auffassung des Ministeriums, dass die Juden keine politischen Flüchtlinge seien, nicht anschließen. Platou: Wir haben immer behauptet, dass die Juden als solche keine politischen Flüchtlinge sind, aber das heißt nicht, dass nicht auch Juden einreisen dürfen. Er selbst habe im Übrigen keine Animosität gegen oder Furcht vor mehr Juden, aber er befürchte, dass mehr Juden zum Keim eines Judenproblems werden könnten.20

Das bedeutete in der Praxis, dass Juden an der Grenze abgewiesen werden konnten, ohne dass ein etwaiger Antrag auf Asyl geprüft wurde. Die meisten Flüchtlin19 Siehe Johansen (1984), der die norwegische Fremdenpolitik in den 1920er und 1930er Jahren behandelt. 20 RA, 3A 12634. Deutsche Flüchtlinge. Referat über eine Besprechung im Büro des Ministerialdirektors Platou am 26. Juli 1939. Anwesend: Ministerialdirektor Platou, Ministerialrat Rognlie und Sekretär Bull. Vom Zentralpassamt: Konstad. Von der Nansenhilfe: Odd Nansen, Architekt Reimers und Sigrid Helliesen Lund. Seite 3. Dem Autor zur Kenntnis gebracht von Professor Per Ole Johansen.

Der Antisemitismus in Norwegen vor dem und im Zweiten Weltkrieg

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ge waren Staatenlose, das heißt, dass ihr Geburtsland sich aller Verantwortung für sie entledigt hatte. Die allermeisten Flüchtlinge hatten nur eine vorläufige Aufenthaltserlaubnis, und viele von ihnen waren in Norwegen in Erwartung des Visums eines Drittlandes. Sehr viele hatten daher keine Arbeitsgenehmigung und waren völlig abhängig von der Unterstützung durch die Hilfsorganisationen. Nur sehr wenige Flüchtlinge fanden Eingang in die norwegisch-jüdischen Milieus. Oft kamen sie aus ziemlich assimilierten Milieus in Deutschland, Österreich oder der Tschechoslowakei. Die Staatenlosen machten einen erheblichen Prozentsatz der Juden aus, die sich am 9. April 1940 in Norwegen befanden. Viele von ihnen flohen sofort weiter nach Schweden, aber einige entschieden sich auch zu bleiben. Man konnte meinen, dass Schweden das nächste Ziel von Hitler-Deutschlands Expansionspolitik sein würde, und viele waren zudem schon mehrere Male vorher geflohen. Einige gaben die Hoffnung auf, den Nazisten zu entkommen. Trotz der gefährdeten Situation der staatenlosen Juden sollte sich im Herbst 1942 zeigen, dass von dieser Gruppe auffallend viele mit dem Leben davonkamen. Gerade sie wurden – entgegen dem, was man hätte erwarten können – meist von einem guten Netzwerk aufgefangen. Die Helfer, besonders die Idealisten im Umfeld der Nansenhilfe, spielten im Herbst und Winter 1942 eine wichtige Rolle, als es galt, Juden aus dem Land hinauszuhelfen (vgl. Kapitel 7). Als die große Aktion gegen die Juden im Herbst 1942 eingeleitet wurde, richtete sie sich zum Teil auch gegen die sogenannten Halbjuden und Vierteljuden, Personen, die nach Auffassung der Nazisten „teilweise jüdischer Herkunft“ waren. Viele von ihnen flohen aus dem Land. In einer Datei über alle Opfer antijüdischer Politik in Norwegen habe ich insgesamt annähernd 2500 Personen registriert. Viele von ihnen wurden mitgezählt, weil sie nach der Ankunft in Schweden ihren jüdischen Hintergrund als Fluchtursache angaben. Andere wurden aufgenommen, weil die Täter ihren jüdischen Hintergrund bemerkten, sodass sie formellen und informellen Diskriminierungen ausgesetzt waren. 1584 Personen wurden registriert aufgrund der Bekanntmachung des Polizeiministeriums über die Registrierung von Juden im Januar 1942 (einschließlich der Kinder „volljüdischer“ Eltern, vgl. Kapitel 5).

DER ANTISEMITISMUS IN NORWEGEN VOR DEM UND IM ZWEITEN WELTKRIEG Die Integration der Juden in die norwegische Gesellschaft war ihr eigenes Projekt, das sie auf verschiedenen Wegen betrieben, ohne Zutun norwegischer Institutionen und des übrigen gesellschaftlichen Lebens. Die norwegische Mehrheitsgesell-

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Die Besetzung: einige Prämissen

schaft und die staatlichen Institutionen traten den Juden gegenüber in der Zeit von 1851 bis 1940 in verschiedener Weise auf. Als die Aufhebung des Einreiseverbots für Juden diskutiert wurde, war ein Haupteinwand rein wirtschaftlicher Natur, vorgetragen von Handelsvereinigungen und einzelnen Personen. Man befürchtete ganz einfach, dass eine freie Einwanderung von Juden die sozioökonomische Struktur des Landes durcheinanderbringen würde. Aber zugleich war die Furcht vor jüdischer Einwanderung auch religiös und ideologisch motiviert. Manch einer fürchtete, „der jüdische Geist“ werde das Zusammenleben in der norwegischen Gesellschaft ungünstig beeinflussen. In mancher Hinsicht ähnelte diese Furcht der in Norwegen ebenfalls ausgeprägten Furcht vor Katholiken und katholischen Institutionen, aber die antijüdischen Tendenzen waren doch anders und äußerten sich konspiratorischer. Dennoch setzte sich der liberale Geist in der norwegischen Politik und dem gesellschaftlichen Leben durch und ermöglichte jüdische Einwanderung. Bis zum Ersten Weltkrieg gab es dagegen keine nennenswerte Opposition, aber Keime des Widerstandes waren in Teilen der Bevölkerung gleichwohl spürbar Der Widerstand hatte sowohl religiöse als auch rassistische Züge, und so sollte es bis zum Zweiten Weltkrieg bleiben. Der Historiker Saul Friedländer nennt diese Mischung aus religiösem und rassistischem Antisemitismus redemptive anti-Semitism.21 Die Ablehnung von Juden in Norwegen nahm richtig Fahrt auf durch die Diskussion über jüdische Schlachtmethoden, das Schächten. Schon in den 1890er Jahren war diese Diskussion in gewissen Milieus virulent. Die Frage wurde sowohl auf örtlicher wie auf nationaler Ebene debattiert. In Kristiania, wie Oslo damals noch hieß, wurden jüdische Schlachtmethoden am städtischen Schachthof 1913 verboten.22 Etwa um die gleiche Zeit weitete sich die Diskussion aus, und am Ende des Jahrzehnts und danach lief eine Kampagne, in der sich Tierschutzvereine und Politiker zusammenfanden. Sie war deutlich antisemitisch geprägt und blieb das im Laufe der 1920er Jahre. Jüdische Schlachtmethoden wurden nach einer von starken Emotionen geprägten Stortingsdebatte am 1. Januar 1930 generell verboten.23 Nach der Russischen Revolution von 1917 wurde zudem die Furcht vor dem Kommunismus mit traditionellem Antisemitismus vermengt, und das führte im norwegischen Beamtenapparat teilweise zu Hysterie. Juden sahen sich erheblichem Misstrauen ausgesetzt. Die Zeitung Tidens Tegn forderte zum Beispiel norwegische 21 Friedländer (1997), S. 73–112. 22 DMT AS-11009 D 001, Mappe 3. Brief des Magistrats von Kristiania an die Mosaische Glaubensgemeinschaft vom 19. Februar 1913; dort heißt es: „Anlässlich Ihres Schreibens vom 23. Januar wird mitgeteilt, dass der Magistrat am 12. Februar beschlossen hat, dass ‚Schächten‘ im Schlachthof von Kristiania zur Zeit nicht gestattet wird.“ 23 Mehr dazu bei Snildal (2014).

Der Antisemitismus in Norwegen vor dem und im Zweiten Weltkrieg

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Juden im Dezember 1938 auf, dem Kommunismus abzuschwören.24 Die Ausländergesetze von 1917 und 1927 machten es für Juden erheblich schwerer, die Staatsbürgerschaft zu erwerben.25 Seit 1933 zeigte der bürgerliche Teil der norwegischen Presse auch deutliche Sympathien für das neue nationalsozialistische Deutschland. Aftenposten kommentierte den nazistischen Boykott jüdischer Geschäfte im April 1933 so: Es kann nicht zweifelhaft sein, dass die Aktion der Deutschen gegen die Juden in diesen Tagen draußen in der Welt den Juden verstärkte Sympathien einbringt, die diese Söhne Israels keineswegs verdienen. Indes fehlen uns hierzulande die Voraussetzungen, über die Aktion gegen die Juden gerecht zu urteilen. Wir wissen zu wenig darüber, in welchem Maße die Leiden des deutschen Volkes jüdischen Methoden und jüdischer Mentalität geschuldet sind. Wir wissen nur, dass sie verhasst sind, und wir müssen davon ausgehen, dass dies nicht nur auf Minderwertigkeitsgefühle und Neid zurückgeht, sondern reale Gründe hat.26

Diese deutliche deutschfreundliche Haltung wurde erst durch die sogenannte Kristallnacht im November 1938 erschüttert. Selbst bürgerliche Zeitungen meinten, diese Ereignisse gingen zu weit. Die Juden von wirtschaftlicher, kultureller und akademischer Tätigkeit auszuschließen sei ein Ding, ein anderes seien Pogrome: Zwar wissen wir, dass die starke Machtstellung der Juden auf mehreren entscheidenden Gebieten – durch Rassensolidarität erarbeitet – für das deutsche Volk ein schlimmes Problem wurde. Aber das liegt ja nun viele Jahre zurück, und man konnte annehmen, dass das Problem längst gelöst sei. Daher wirkt die extreme Verfolgung jetzt so empörend. Das ist, wie wenn man weiter auf einen gefallenen Gegner eintritt.27

Es ist dennoch schwer zu sagen, wie tief der Antisemitismus in Norwegen wirkte. Er war, wie der Historiker Terje Emberland feststellte, vielfach latent und situationsbedingt.28 Allerdings zeigen mehrere Studien, dass der Antisemitismus in der Zwischenkriegszeit etwa in den Zeitungen der Bauernbewegung deutlich ausgeprägt war.29 24 Tidens Tegn vom 7. Dezember 1938. Siehe Mendelsohn (1969), S. 488–490. Nach Mendelsohn wurde übrigens der Antisemitismus für norwegische Juden im Ersten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit zu einem größeren Problem. 25 Zu einer kurzen Darstellung dieser Fragestellungen siehe u. a. Johansen (1988). 26 Aftenposten vom 4. April 1933, Leitartikel „Judenhass“. 27 Aftenposten vom 15. November 1938, Leitartikel „Verfolgung“. 28 Eriksen et al., (2005), S. 401. 29 Siehe z. B. Simonsen (2009).

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Die Besetzung: einige Prämissen

Obgleich es schon vor der Besetzung in einzelnen Gruppierungen eine radikale antijüdische Tendenz gab, entfesselte erst die Invasion durch das nazistische Deutschland eine systematische antijüdische Propaganda. In welchem Maße sie auf den Durchschnittsnorweger wirkte, ist schwer zu beurteilen. Sicher ist dagegen, dass der Antisemitismus in der norwegischen Gesellschaft auch nach der Befreiung weiterlebte, wie einzelne Juden feststellten. Der Sozialarbeiter Marcus Levin drückte das so aus:30 Will man eine Prognose zur Zukunft der noreegischen Juden in Norwegen machen, sind die Perspektiven eher düster. Die Überlebenden müssen neu anfangen, und dabei liegen die Erinnerungen an das Los der nächsten Angehörigen wie eine Wunde im Gemüt. Ihr Vermögen ist dahin, und leider begegnet ihnen auch ein unleugbarer Antisemitismus, obwohl er im Augenblick nicht so tief sitzt und sich selbst im privaten Umgang nicht besonders bemerkbar macht. Man kann indes nicht leugnen, dass viele Norweger Deutschen und Nazisten bereitwillig geholfen haben, jüdischen Besitz zu verteilen, und es nun unangenehm finden, dafür einzustehen und ihn zurückzugeben. Die antisemitische Propaganda während der ganzen Besatzungszeit scheint sich gleichwohl irgendwie festgesetzt zu haben und trat bemerkenswerterweise hervor, sobald der äußere Druck verschwunden war.31

Auch Levin betonte, dass die antisemitische Propaganda nach der Besetzung Norwegens im April 1940 viel sichtbarer wurde. Das galt freilich noch nicht für die erste Zeit (wenn man von den NS-Organen und vor allem dem Hauptorgan Fritt Folk absieht), aber im Winter 1940/41 und besonders in Verbindung mit Deutschlands Überfall auf die Sowjetunion machte sich die Propaganda verstärkt bemerkbar. Auf einer übergeordneten Ebene stellte sie die ganze Zeit einen Zusammenhang zwischen den Juden und Deutschlands Feinden im Krieg her. Vor der Invasion der Sowjetunion wurden die Juden mit dem angelsächsischen Kapitalismus in Verbindung gebracht. Nach der Invasion wurde dies ergänzt, indem man durchgehend einen Zusammenhang zwischen den Juden und dem Bolschewismus herstellte. Das war anscheinend ein Paradox, und man mag versucht sein, es als reine Propaganda abzutun. So war es aber nicht; die Nazisten selbst glaubten an eine solche 30 Marcus Levin (1899–1965) war seit 1938 und bis Ende der 1950er Jahre eine zentrale Figur in der jüdischen Hilfsarbeit in Norwegen (und im Exil in Schweden). Er war nicht von Beruf Sozialarbeiter, sondern hatte ein eigenes Geschäft in der Osloer Innenstadt, aber einen Namen machte er sich in erster Linie als Sozialarbeiter, und daher habe ich ihn hier als solchen bezeichnet. 31 DMT, AS-11015 Yooo1, Die norwegischen Juden während der Besatzungszeit. Bericht an das American Jewish Joint Distribution Committee (JOINT) vom Mai 1946.

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Konspiration. Nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion tauchte in Fritt Folk ein Artikel auf mit der Überschrift „Kapitalismus und Bolschewismus vereinen sich“ und mit dem Untertitel „Die jüdische Finanz hat die Maske fallenlassen“: Für die nationalsozialistische Behauptung, dass die Hochfinanz und der Bolschewismus zwei Extreme des Judentums in seinem Kampf um die Weltherrschaft sind, haben die Ereignisse der letzten Tage klare Beweise geliefert. Kein gesund denkender Mensch kann jetzt mehr im Zweifel sein.32

Aber die Drohungen, wozu der Krieg für die Juden führen würde, hatte Hitler selbst schon früh formuliert. Zum ersten Mal drohte er mit düsteren Konsequenzen für die Juden in einer Rede vom Januar 1939. Als er die Drohungen in seiner Rede zum neunten Jahrestag der Machtübernahme am 30. Januar 1942 wiederholte, wurden sie in Fritt Folk so wiedergegeben: „Die arischen Völker in Europa werden nicht ausgerottet werden, dieser Krieg wird die Vernichtung des Judentums bedeuten“.33 Zugleich kündigte die Zeitung für den nächsten Tag einen wichtigen „Staatsakt“ auf der Festung Akershus an. Es ging um Quislings Ernennung zum Ministerpräsidenten. Die Presse wurde während des Krieges streng zensiert. Die Pressedirektiven der Besatzungsmacht und das Quisling-Regime suchten die übergeordnete antijüdische Propaganda auf die Verhältnisse in Norwegen zu übertragen. Aber wenn sie das taten, war die Konspiration viel schwerer zu erklären. Im März 1941 wurde Quisling zur Eröffnung des Instituts zur Erforschung der Judenfrage in Frankfurt am Main eingeladen. Sein Vortrag wurde danach als Sonderheft zum Gebrauch in NS-Parteischulen gedruckt. Er wurde auch in den Zeitungen groß aufgemacht, in Fritt Folk mit der Überschrift: „Die Juden haben in Norwegen verhältnismäßig mehr Unheil angerichtet als in vielen anderen Ländern mit einem viel höheren Juden-Anteil“.34 Der „jüdische Einfluss“, so behauptete Quisling, sei auf politischem Gebiet entscheidend durch „die internationalen jüdischen Systeme, den Liberalismus und Marxismus“. Es war für Quislings Anhänger schwierig, jemanden in Norwegen zu benennen, der „die Judenmacht“ repräsentierte. „Die Judenmacht“ war eher eine Kraft, die die politischen Ideen durchsäuerte, die sie ablehnten. In einem Artikel in Aftenposten im August 1942 mit dem Titel „Wir hätten beinahe ein Judenproblem bekommen“ wurde „der jüdische Einfluss“ so dargestellt: 32 Fritt Folk vom 8. Juli 1941. 33 Fritt Folk vom 30. Januar 1942. 34 Fritt Folk vom 1. April 1941.

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Wir wissen, dass norwegische Maßnahmen im Handelsleben von Hambro und seinen Verbindungen zu englischen und amerikanischen Judenbanken bekämpft wurden. Auch die Geschäftsmoral seiner jüdischen Glaubensgenossen legte sich wie ein Schatten auf das Handelsleben. Redliche Kaufleute wurden nach und nach in den Hintergrund gedrängt, weil sie aufgrund ihrer Traditionen und angeborenen Moralbegriffe die Konkurrenz mit den Konzernen der Basarjuden nicht aufnehmen konnten, die mit Hilfe von Manipulationen und Tricks Steuern und Zollabgaben umgingen. Ein Norweger, der sich Ähnliches erlaubt hätte, wäre der Bestrafung anheimgefallen, aber die mit ganz anderen Maßstäben gemessenen Juden wurden damit entschuldigt, dass sie ,bloß Juden‘ seien, und damit war die Sache in Ordnung.35

Die Beschreibung war also – der Ausdruck mag passen – ziemlich plump. Aber das heißt nicht, dass sie leere Propaganda war. Diese Art von „lokalem“ Antisemitismus wurde auch mit dem Rassismus verknüpft; das zeigt eine Rede Quislings, die er im November 1941 bei einem Treffen des Hird in Trondheim hielt: Zeiten und Systeme wechseln. Ideen wurden geboren und sind vergangen. Aber das gilt nicht für alle Völker. Die Juden sind die Ausnahme. Es gibt eine Rasse, die ganz wurzellos ist, und das sind die Juden. In ihrem Blut liegt kein Streben nach Grund und Boden, aber sie haben ein anderes Streben, und das ist das Streben nach Gold. Durch Gold haben sie Jahrhunderte hindurch die übrige Welt vollständig beherrscht. Nichts war für sie unmöglich. Wenn eine Rasse oder ein Volk zu mächtig wurde und das Haupt erhob, haben die Juden dafür gesorgt, es aufzuhalten, entweder durch Krieg oder durch Bürgerkrieg. So haben sie die Germanen niedergehalten.36

Ein „Propagandastreich“ des Quisling-Regimes war die Wiedereinführung des Paragraphen 2 des Grundgesetzes, der den Juden den Zutritt zum Land verwehrte. Sie erfolgte kurz nach der Einsetzung Quislings als Ministerpräsident im Februar 1942. Auf diese Weise versuchte das Regime, seine eigene antisemitische Linie an die norwegische Geschichte und Kultur zu binden, als gehöre sie wie selbstverständlich dazu.37 Der Hird ging sowohl in seiner Propaganda als auch mit gezielten Aktionen gegen die Juden vor. Vor einer Aktion in Oslo, bei der Hird-Leute Schaufenster jüdischer Geschäfte übermalten, schickte Fritt Folk einen Fotografen zusammen mit einem Hird-Mann und einem nicht identifizierten Deutschen durch die Stra35 Aftenposten vom 15. August 1942. 36 Hirdmannen, Beilage zu Fritt Folk vom 20. November 1941. 37 Zur Wiedereinführung siehe Kapitel 4, „Grundgesetzverbot“.

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ßen der Hauptstadt.38 Ohne zu fragen, zerrten sie jüdische Ladenbesitzer aus ihren Geschäften und fotografierten sie. Die Bilder wurden später in Hirdmannen gedruckt unter der Überschrift „Norweger, hütet euch vor Juden!“39 Wie wir sehen werden, verfehlte diese Art Aktionismus nach deutschen Vorbildern in Norwegen ihren Zweck; sie verstärkte nur den Widerstand gegen das Regime (siehe Kapitel 4). Mit der Propaganda gingen kurze Meldungen dazu einher, wie im übrigen Europa gegen die Juden vorgegangen wurde. Die Propaganda sollte Verständnis dafür wecken, dass weitergehende und systematischere Maßnahmen gegen Juden erforderlich seien, aber sie sollte auch Radionachrichten aus alliierten Ländern und illegalen Zeitungen in Norwegen entgegenwirken. Die antijüdische Propaganda hörte auch nach der Deportation der Juden nicht auf. Sie ging weiter, war aber von da an natürlich besonders gegen „die Judenmacht“ gerichtet, die hinter dem Krieg gegen „die arische Rasse“ stehe. Wie weit die Propaganda wirkte, ist indes schwer zu sagen. An der Oberfläche hatten die Besatzungsmacht und das Quisling-Regime das Pressemonopol, und das besagte, dass sie – in dem Maße, das sie selbst für richtig hielten – Artikel zur Rassenfrage, zur Macht der Juden in der Welt und in letzter Instanz auch zum Einfluss der Juden auf die norwegische Politik verbreiten konnten. Für sie selbst war diese Propaganda von großer Bedeutung, aber bei denen, die schon Gegner Quislings und der Besatzungsmacht waren, fiel sie auf steinigen Boden. Diejenigen Akteure auf Seiten der Besatzer, die die Situation sahen, wie sie war, begriffen im Herbst 1942, dass die norwegische Bevölkerung für die große Aktion gegen die Juden kein Verständnis hatte. Die Frage ist, welche Bedeutung das hatte, als die Täter die radikale Phase der Aktion einleiteten. Die antijüdische Propaganda und der Antisemitismus von Nasjonal Samling waren nicht so systematisch wie das konsequente Denken, das die Besatzer mitbrachten. Für sie war die Vorstellung vom Juden als Hauptfeind auch direkter an praktische Politik gebunden und an die Sicherheitserfordernisse, wie sie sie sahen. Dieses explosive und radikale antijüdische Denken habe ich in Kapitel 1 dieses Buches mit Saul Friedländers Worten wiedergegeben.

38 Interview des Autors mit Jenny Wulff am 6. Juli 2005. 39 Hirdmannen, Beilage zu Fritt Folk vom 7. Juni 1941.

– KAPITEL 3 –

DIE AKTEURE

Die verhältnismäßig bescheidene Anzahl Juden in Norwegen trägt stark zu der falschen Auffassung bei, wir hätten in unserem Land kein Judenproblem, aber nicht die Zahl der Juden ist entscheidend, sondern ihr Einfluss. Halldis Neegaard Østbye, Februar 19421

EINLEITUNG Nachdem Deutschland Norwegen besetzt und Hitler zur Regierung des Landes einen Reichskommissar eingesetzt hatte, entwickelte sich die norwegische Staatsordnung in eine Richtung, die zunehmend den Prinzipien des „Führerstaates“ entsprach. Aber das hieß nicht unbedingt, dass die alten Strukturen der norwegischen Staatsbürokratie verschwanden. „Die neue Zeit“, wie Quisling die Neuordnung des Landes oft nannte, machte sich auf einigen Feldern stark, auf anderen weniger bemerkbar. Das hatte mehrere Gründe, aber zwei sind offenkundig: Zum einen war Nasjonal Samling eine kleine Partei, die nicht alle Bereiche, die sie selbst für wichtig hielt, abdecken konnte. Zum andern versuchten der Reichskommissar (und manchmal auch andere deutsche Interessenten) übertriebenen Nazifizierungseifer auf einzelnen Gebieten zu bremsen, weil er den Widerstand stärken und die Produktivität in Branchen, die für Deutschland wichtig waren, schwächen könnte. Am wichtigsten war aber, dass die Organisation der Besatzung Konflikte um Macht und Einfluss präjudizierte. Die offiziellen Bindungen waren oft undeutlich, und auch die inoffiziellen waren nicht immer leicht zu erkennen. Dennoch ist es wichtig festzuhalten, dass die Besatzungsmacht das letzte Wort hatte und dass sie ihren Einfluss oft sowohl inoffiziell als auch in aller Öffentlichkeit geltend machte. Ein Beispiel ist die Liquidierung jüdischen Besitzes, als Quisling und Terboven ein Abkommen über die Teilung der „Beute“ eingingen, nachdem das Quisling1

Zitiert nach Fritt Folk vom 21. Februar 1942: „Das internationale Judentum. Frau Neegard Østbye spricht vor einem voll besetzten Klingenberg-Kino.“

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Die Akteure

Regime zunächst ein Gesetz beschlossen hatte, nach welchem der ganze jüdische Besitz an den Staat fallen sollte (vgl. Kapitel 8). In diesem Kapitel soll das Beziehungsgeflecht der Akteure aufgezeigt werden. Am wichtigsten ist die Feststellung, dass während des Krieges alle staatlichen und kommunalen Organe in Norwegen deutscher Kontrolle unterlagen. Diese deutsche Kontrolle der norwegischen Bürokratie lief nicht nur über zentrale norwegische Organe; sie wirkte auf allen Ebenen sowohl vertikal als auch horizontal, durch Quisling und seine Regierung ebenso wie vor Ort. Zugleich hielten deutsche Stellen engen Kontakt zu den entsprechenden norwegischen. Das galt vor allem für die norwegische Polizei, die der Sicherheitspolizei und manchmal anderen deutschen Polizeiorganen, besonders auf örtlicher Ebene, eng verbunden war. Quisling und seine Regierung sowie andere norwegische Instanzen waren völlig abhängig von deutschen Bajonetten. So gesehen handelte es sich um ein klassisches Kollaborationsregime. Aber Quisling und seine Partei hatten dennoch einen gewissen Einfluss; das Regime konnte bis zu einem gewissen Grad selbständig handeln. Antijüdische Politik in Norwegen wurde nicht von einer zentralen Stelle oder Organisation durchgesetzt. Die bürokratische Maschinerie, von Raul Hilberg als Destruktionsmaschinerie bezeichnet, bestand aus Organisationen, die neben anderen Aufgaben „spezielle Funktionen wahrnahmen“.2 Selbst die Abteilung beim Befehlshaber der Sicherheitspolizei (BdS) in Oslo, die in mehrfacher Hinsicht antijüdische Maßnahmen vorantrieb, befasste sich nicht ausschließlich damit. Sie war ein Teil der Gestapo (mit der Bezeichnung IV B 43) und wurde seit Februar 1941 von dem Hauptsturmführer Wilhelm Wagner geleitet. Er war auch für die Kontakte zu norwegischen kirchlichen Kreisen zuständig, und allem Anschein nach war er wegen der Kirchenpolitik nach Norwegen entsandt worden. Nur der zur Einziehung jüdischen Besitzes errichtete Ausschuss hatte zunächst ausschließlich mit antijüdischer Politik zu tun. Ein halbes Jahr später bekam er aber zusätzlich die Aufgabe, die Vermögen auch anderer Norweger zu liquidieren, die aus dem Land geflohen waren (oder es illegal verlassen hatten, wie die Nazisten sagten). Die Destruktionsmaschinerie ging nicht einfach von zentralen Stellen der Okkupationsbürokratie aus. Das bedeutete, dass für die Durchsetzung antijüdischer Politik wichtige Organe des Besatzungsregimes allgemein oft nicht so wichtig waren. So hatte etwa der militärische Teil der Besatzungsmacht mit den Maßnah2 3

Hilberg (1985), S. 53. Diese Bezeichnung wurde gebraucht, soweit es in der Korrespondenz um Juden ging. Sie wurde auch von Eichmanns Referat im RSHA in Berlin verwendet.

Einleitung

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men gegen die Juden wenig zu tun. Deutsche Soldaten nahmen selten an der Festnahme von Juden teil, und den deutschen militärischen Kommandostellen war oft nur daran gelegen, jüdische Geschäfte zu registrieren, um so deutsche Soldaten daran zu hindern, dort einzukaufen. Aber bei der Deportation der Juden war die deutsche Kriegsmarine gleichwohl unverzichtbar. Die einzelnen Hauptabteilungen des Reichskommissariats wurden in die antijüdische Politik auf verschiedenen Ebenen und zu verschiedenen Zeiten einbezogen. Aber im Gegensatz zu Reichskommissar Seyß-Inquart, Terbovens „Kollege“ in den Niederlanden, war Terboven nicht darauf aus, eine radikalere antijüdische Politik öffentlich und sichtbar voranzutreiben. Hinter der Fassade machten aber mehrere seiner engsten Mitarbeiter dabei ihren Einfluss geltend. Besonders die Abteilung, die Nasjonal Samling überwachte, der Einsatzstab, war eine Schlüsselstelle. Ein anderer wichtiger Mann im Hintergrund war der Leiter der Rechtsabteilung beim Reichskommissariat, Regierungsrat Rudolf Schiedermair. Er hatte, ehe er nach Norwegen kam, an der Ausarbeitung antijüdischer Gesetze in Deutschland mitgewirkt. Obwohl Norwegen 1940 einen äußerst geringen jüdischen Bevölkerungsanteil hatte, werden wir sehen, dass sehr viele Ämter, Ministerien und Organisationen auf verschiedenen Ebenen und auf verschiedene Weise mit antijüdischer Politik zu tun bekamen. Das mag paradox erscheinen. Selbst in Norwegen kamen die Impulse der Entwicklung von sehr unterschiedlichen Organisationen und Personen – die letztlich alle Teil eines großen Ganzen waren. Im Blick auf die einzelnen Akteure, also die Individuen, die persönlich bei Verhaftungen und der Organisation der Deportationen eine bedeutende Rolle spielten, betont der Historiker Hilberg, dass diese Menschen für solche Aufgaben nicht besonders ausgebildet waren. Wollen wir die volle Bedeutung der Taten dieser Männer verstehen, müssen wir uns auch klarmachen, dass es sich nicht um Menschen handelt, die eigene, ganz separate moralische Maßstäbe hatten. Die Bürokraten, die in den Destruktionsprozess einbezogen wurden, unterschieden sich in der Hinsicht nicht von der übrigen Bevölkerung. Die deutschen Täter waren kein besonderer Typ Deutsche.4

Hier muss ich Hilberg widersprechen. Einige der Täter, die den Prozess in Norwegen vorantrieben, waren offensichtlich krasse Antisemiten. Ein Beispiel ist der Sturmbannführer Gerhard Flesch, der seit Oktober 1941 die deutsche Sicherheitspolizei in Mittelnorwegen befehligte und es als seine Aufgabe sah, alle Juden aus 4

Hilberg (1985), S. 1011, im Original englisch.

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Die Akteure

dem Gebiet zu entfernen (die Aktion wurde von der Sicherheitspolizei selbst als die Aktion gegen das Judentum bezeichnet). Hilberg geht aber auch auf die „kleinen Räder im Getriebe“ ein, alle, die sich – wenn auch vielleicht nur am Rande – an Maßnahmen gegen die Juden beteiligten. Auf sie trifft seine Beschreibung offenbar zu. So waren einige Männer auf der mittleren Führungsebene der Staatspolizei eher Opportunisten als ideologische Krieger. Diese Polizeidirektoren, wie etwa Sverre Dürbeck und Knut Rød, spielten eine wichtige Rolle bei der Sammlung der Juden und gehörten insofern zu den Stützpfeilern der Deportation. Besonders Knut Rød, der Leiter der Abteilung Oslo und Umgebung der Staatspolizei, hat seit den 1980er Jahren viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Seine zentrale Rolle in Oslo und seine Effektivität bei der Leitung der beiden großen Deportationen waren mit Recht Gegenstand der Diskussion. Die Frage ist, ob seine Rolle dabei nicht doch übertrieben dargestellt wurde. In einem wichtigen neueren Werk zur norwegischen Geschichte erscheint er zum Beispiel als „Polizeipräsident Knut Rød“.5 Rød und Dürbeck waren „Räder“ des Typs, den Hilberg beschreibt; sie waren in jeder Hinsicht kooperationswillige Kollaborateure. Den ausführenden Organen der Sicherheitspolizei waren sie nahezu vorbehaltlos gehorsam. Zugleich konnten beide gut improvisieren, und sie meisterten die enormen Herausforderungen, vor die sie sich gestellt sahen. Aber sie waren nicht der Typ „Kommissare“ für Judenangelegenheiten, den es in der französischen Polizei gab. Die Arbeit an den „Judensachen“ (wie die Staatspolizei sie intern oft nannte) fiel in eine bestimmte Periode ihrer Dienstzeit und kam zu anderen Aufgaben hinzu.

OFFIZIELLE UND INOFFIZIELLE BINDUNGEN Beim Zusammenspiel der deutschen Besatzungsmacht mit norwegischen Instanzen ist die Zusammenarbeit der beiderseitigen Polizei weitaus am wichtigsten. Die Polizei sollte in „dem neuen Norwegen“ zu allererst nazifiziert werden.6 Die Polizeiabteilung des Justizministeriums wurde im September 1940 ausgegliedert und in ein eigenes Ministerium umgewandelt. Der Polizeioffizier Jonas Lie wurde zum Polizeiminister ernannt. Später wurde er Führer von Norwegens SS (der späteren Germanske SS Norge). Aber die inoffiziellen Kontakte der deutschen Sicherheits5 6

May-Brith Ohman-Nielsen, 2011, S. 136. Siehe Ringdal (1987).

Offizielle und inoffizielle Bindungen

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polizei zur norwegischen Polizei wurden schon kurze Zeit nach der deutschen Invasion hergestellt. Wie dies ablief, mag ein Bericht aus Bergen beispielhaft zeigen: Schon mit den Invasionstruppen kam am 9. April 1940 eine kleine Abteilung der deutschen Feldgendarmerie in die Stadt. An ihrer Spitze stand ein Leutnant Haase, der den Polizeipräsidenten August Pedersen bei einem Kurs an „einer Polizeischule irgendwo in Deutschland“ kennengelernt hatte. Dies trug dazu bei, dass der Status einer besetzten Stadt ziemlich reibungslos hergestellt wurde. Anfang Mai kamen die ersten Beamten der deutschen Sicherheitspolizei in die Stadt. Der Polizeikommissar Dankert Thuland benannte 1942 in einem Bericht an das norwegische Oberkommando in London fünf separate Polizeiorganisationen: 1. Sicherheitspolizei und Sicherheitsdienst 2. Die geheime Feldpolizei 3. Feldgendarmerie der Division 4. Feldgendarmerie der Stadtkommandantur 5. Schutzpolizei (Ordnungspolizei) Auf verschiedenen Ebenen kam die Bergener Polizei in Verbindung mit allen Zweigen der deutschen Polizei, aber die deutsche Sicherheitspolizei hatte die beherrschende Stellung. Am 6. Mai fand eine Besprechung im Amtssitz des Polizeipräsidenten statt. Teilnehmer waren der Polizeipräsident selbst, der Leiter der norwegischen Kriminalpolizei Eystein Frigård, Sturmbannführer Gerhard Flesch, Sturmbannführer Adolf Ott7 sowie Vertreter der Feldgendarmerie, der Marine und des Heeres. Die deutsche Seite wollte mit dieser Besprechung die Befehlsverhältnisse klarstellen. Der Polizeipräsident erhielt den Bescheid, dass Flesch das Kommando über die gesamte deutsche Polizei in Westnorwegen übernommen hatte (kurz vorher hatte das norwegische Heer im ganzen südlichen Landesteil kapituliert). Ferner wurden viele Formalien diskutiert, und die deutsche Seite verlangte die Benennung eines des Deutschen mächtigen Kriminalbeamten als Bindeglied zwischen der norwegischen und deutschen Polizei sowie die Herstellung einer direkten Telefonvebindung zwischen dem Hauptquartier der deutschen Sicherheitspolizei und dem Polizeipräsidium. Zum Verbindungsmann wurde der erfahrene Dankert Thuland 7

Nach Klee (2003) leitete Ott später an der Ostfront das Einsatzkommando 7b. Er wurde am 10. April 1948 im sogenannten Einsatzgruppenprozess zum Tode verurteilt. Das Todesurteil wurde später in eine lebenslange Freiheitsstrafe umgewandelt. Ott wurde am 9. Mai 1958 entlassen.

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Die Akteure

ernannt, der gründlich beobachtete und eine genaue Übersicht über die deutschen Polizeiorgane erstellte. Die deutsche Sicherheitspolizei wollte möglichst rasch ein eigenes Gefängnis haben und mietete einen Teil des Bergener Bezirksgefängnisses. Etwas später wurde in Ulven außerhalb der Stadt ein besonderes Gefangenenlager errichtet. Die deutsche Sicherheitspolizei beschlagnahmte zunächst Büroräume im Bergener Museum (das heute ein Teil der Universität ist), zog aber später in ein modernes Gebäude im Stadtteil Veiten um. Thuland bemerkte, dass die Gestapo anfangs zurückhaltend auftrat und sich oft um Dinge kümmerte, die ihm selbst ziemlich absurd erschienen, etwa wenn sie einschritt, weil norwegische Polizisten auf der Straße deutsche Offiziere nicht gegrüßt hatten. Gewalt kam noch wenig vor, aber Thuland stellte doch fest, dass die Gestapo Personen festnahm, die provozierend auftraten oder antideutsche Schlagworte an Wände malten. Sie wurden oft verprügelt, ehe man sie wieder losließ. Im Übrigen legten die deutschen Stellen in der Stadt Wert darauf, das Wirtschaftsleben nach der Besetzung Südnorwegens schnell wieder in Gang zu bringen – und auch für Unterhaltung zu sorgen. Das Leben sollte zur „Normalität“ zurückkehren. Die Kontakte zwischen deutscher und norwegischer Polizei wurden zunächst inoffiziell hergestellt, wobei die deutschen Stellen sich ausbaten, stets informiert zu werden. Diese inoffiziellen Kontakte bestanden trotz der politischen Neuordnung während des ganzen Krieges weiter. Ähnliche Bindungen wie in Bergen wurden im ganzen Land geschaffen und besonders da, wo die deutsche Sicherheitspolizei ihre Dienststellen hatte. In der antijüdischen Politik waren diese Bindungen im Herbst 1942 wichtig, als zuerst jüdische Männer und danach Frauen und Kinder festgenommen wurden. Die Aktion erfolgte auf Befehl der norwegischen Staatspolizei, aber im Hintergrund standen immer ihr zugordnete Gestapo-Offiziere. Diese hatten ihre eigenen Befehle von der Zentrale der deutschen Sicherheitspolizei in Oslo. Die Befehle sagten klar, dass sie die Aktion nicht selbst durchführen, wohl aber genau überwachen sollten. Später versuchte man die Kontakte zwischen norwegischer und deutscher Polizei auch offiziell zu regeln. Ein interessantes Beispiel ist eine von der Grenzpolizei, einer Abteilung der Staatspolizei, versandte Anweisung vom 10. November 1942, genau in der aufgeregten Zeit, als Juden nach Schweden flüchteten. Aufgabe der Grenzpolizei war es, die Grenzübergänge nach Schweden zu überwachen und im weiteren Sinne die Kurier- und Fluchtrouten aufzubrechen, die verschiedene Widerstandsgruppen etabliert hatten. In Punkt 1 der Anweisung hieß es, festgenommene Flüchtlinge seien nicht örtlichen deutschen Dienststellen (der Sicherheitspolizei) zu übergeben, sondern dem

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Hauptquartier der Grenzpolizei in Oslo. Aber die Grenzpolizei sollte dennoch die örtlichen deutschen Stellen über Festnahmen und andere Vorkommnisse in der Region informieren. In wichtigen Angelegenheiten sollten Berichte in Kopie an den örtlichen Chef der deutschen Sicherheitspolizei gehen, aber nicht nur zu seiner Information: „In wichtigen Angelegenheiten größeren Umfangs kann natürlich die deutsche Sicherheitspolizei ihre Erfahrung einbringen und sich in die Arbeit einschalten.“ In Punkt 4 wurden sogar die inoffiziellen Bindungen an die deutsche Polizei behandelt: „Allen wird auferlegt, wie bisher einen engen und kameradschaftlichen Kontakt und eine Zusammenarbeit mit der deutschen Sicherheitspolizei und Ordnungspolizei aufrechtzuerhalten.“8 Wie in allen Polizeiorganisationen auf der ganzen Welt waren die Befehlswege klar. Aber die inoffiziellen Netzwerke, die die Zusammenarbeit der Besatzungsmacht mit den Kollaborateuren vereinfachen sollten, waren dennoch so stark, dass sogar „kameradschaftlicher Kontakt“ in einem offiziellen Dokument genannt wurde. Die Angesprochenen konnten nicht im Zweifel sein, wer in letzter Instanz das Sagen hatte. Auch auf politischer Ebene wurden früh inoffizielle Kontakte geknüpft. Am Anfang, als die Besatzungsmacht noch glaubte, sie könne ein norwegisches Regime auf der Grundlage der verbliebenen Zentralbürokratie und der politischen Parteien etablieren, stellte sie ihre (im Grunde offenkundige) Macht nur relativ vorsichtig zur Schau. Erst im September 1940 begann sie mit einer „Neuordnung“ der politischen Landschaft. In dieser Neuordnung erhielten Nasjonal Samling und ihr Führer Vidkun Quisling als die wirklich wichtigen Kollaborateure in Norwegen eine zentrale Stellung. Und in diesem Punkt unterschied sich Norwegen von den übrigen besetzten westeuropäischen Gebieten. Die Besatzer machten sich natürlich auch in den Niederlanden, in Belgien und Nordfrankreich Kollaborateure zunutze, aber das Ganze war dort anders organisiert, und die Besatzungsmacht war auch nach außen die wirkliche Macht. In Norwegen wurde die Ausübung der Macht, soweit deutsche Interessen nicht berührt waren, scheinbar dem „neugeordneten“ norwegischen Staat überlassen. Das implizierte, dass die inoffiziellen Bindungen zwischen Besatzer und Kollaborateur weiterhin wichtig waren. Für die antijüdische Politik bedeutete es den Versuch, ihre Ziele nach Möglich8

Norges Hjemmefrontmuseum (NHM, Museum der Widerstandsbewegung) FO. II II.4, boks 50, instruks fra lederen av grensepolitiet til de underordnede tjenestestedene [Anweisung des Leiters der Grenzpolizei an die nachgeordneten Dienststellen], 10. november 1942, undertegnet [unterzeichnet von] Erling Søvik.

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Die Akteure

keit auf inoffiziellem Weg durchzusetzen. Schon früh testete die deutsche Sicherheitspolizei, in welchem Maße die norwegische Bürokratie, besonders die Polizei, bereit war, ihren Wünschen zu entsprechen. Der Test war die Einziehung der Radioapparate der Juden. Das führte zu Unbehagen bei einigen der beteiligten Polizeidirektionen, doch nicht bis zu dem Versuch, die Aktion zu stoppen.9 Während der Verhaftungen und Deportationen von Juden im Herbst 1942 und Winter 1943 arbeiteten die Sicherheitspolizei und die Staatspolizei eng und effektiv zusammen, aber ohne dass die Sicherheitspolizei die Aktion brieflich offiziell anordnen musste. Das meiste wurde geregelt in persönlichen Kontakten zwischen den Akteuren. Hauptsturmführer Wilhelm Wagner von der Sicherheitspolizei war auf deutscher Seite der Verantwortliche. Er traf sich mit Marthinsen, dem Chef der Staatspolizei, und den für die jeweiligen Regionen verantwortlichen Polizeidirektoren. Die Treffen wurden nicht protokolliert. Im Nachhinein nahm Wagner oder sein Mitarbeiter, Untersturmführer Harry Böhm, oft nochmals persönlichen Kontakt zu den Direktoren auf. Zwei von ihnen wurden auf diese Weise mit Wagner und Böhm nahe bekannt. Das waren die schon erwähnten Sverre Dürbeck, der bis Januar für die Festnahmen außerhalb Oslos zuständig war, und Knut Rød, der zur gleichen Zeit die Aktionen in der Osloer Region verantwortete, später sich in der Staatspolizei um „Judenangelegenheiten“ kümmerte, bis er im Herbst 1943 seine Stelle aufgab. In Trondheim, wo die meisten Entwicklungen früher und radikaler einsetzten, wurden der Chef der Staatspolizei und der Kommandeur der Kripo in das Gestapo-Hauptquartier bestellt, bevor ein offizieller Befehl von Marthinsen vorlag, jüdische Frauen und Kinder festzunehmen und nach Oslo zu schicken. Der Befehl von Walter Hollack, dem Trondheimer Gestapo-Chef, war ebenso deutlich wie der spätere von Marthinsen und wurde von den norwegischen Polizeibeamten ebenso ernst genommen (vgl. Kapitel 6). Wie schon erwähnt, zeigte das Fehlen schriftlicher Befehle, dass radikale und „endgültige“ Aktionen bevorstanden. So gesehen können die Aktionen gegen die Juden in Norwegen im Herbst 1942 als ein typisches Beispiel für das Vorgehen der Besatzungsmacht gelten. Es gäbe indes sicher mehr schriftliche Quellen, wenn die Archive der deutschen Sicherheitspolizei in den Maitagen 1945 nicht verbrannt worden wären. Ein Historiker muss immer von dieser Tatsache ausgehen: Die deutsche Sicherheitspolizei war die ganze Zeit ein bestimmender Akteur, doch in den Vordergrund trat sie erst, wenn es unbedingt nötig war: Wagner war eine zentrale Figur, als die Juden am 16. November 1942 an Bord des Schiffes Donau geleitet 9

Vgl. den Abschnitt „Einziehung der jüdischen Radioapparate“ in Kapitel 6.

Instrumente antijüdischer Politik

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wurden. Er war es auch, der mittels der Dienststelle der Kriegsmarine in Oslo den Schiffstransport organisiert hatte. Diese als aktive Täter zentralen Figuren sollen in diesem Buch im Mittelpunkt stehen. Aber das heißt nicht, dass diejenigen, die die Besatzungspolitik in Norwegen formten, die Deportationen nicht auch engagiert förderten. Terboven trug ebenso wie Quisling zu ihnen bei. Die jüdischen Männer in Trondheim wurden am 7. Oktober 1942 festgenommen, einen Tag nachdem Terboven anlässlich des Ausnahmezustands im Bezirk Trøndelag dort angekommen war. Terboven und Quisling schlossen das geheime Abkommen, nach welchem das Gold, das Silber und die Armbanduhren der Juden im November 1942 dem Reichskommissar überlassen werden sollten. Auch solche Abkommen passten der Besatzungsmacht gut, denn offiziell und nach außen stand der Quisling-Staat hinter all den Maßnahmen gegen die Juden. Psychologisch wirkte das Quisling-Regime daher auch wie ein Blitzableiter. Als die Kirche gegen die Verhaftung der jüdischen Männer und die Einziehung ihres Besitzes protestierte, wurde der Brief an Quisling adressiert, nicht an Terboven. Als der schwedische Journalist Benkt Jerneck – der vielleicht letzte freie Journalist in Norwegen – verschiedene Behördenvertreter fragte, wer hinter der Aktion gegen die Juden stehe, antworteten die Deutschen, es seien „die Norweger“, und Quislings Leute, es seien „die Deutschen“ gewesen. Jerneck selbst stellte fest, die deutsche Sicherheitspolizei und der Gestapo-Mann Wagner müssten eine entscheidende Rolle gespielt haben.10 Die verschiedenen Abläufe und Aktionen müssen also einerseits im Lichte des vorliegenden Quellenmaterials gesehen werden, aber andererseits auch – im analytischen Sinne – als Teil eines größeren Zusammenhangs, der auf vielen Ebenen, was die Quellen betrifft, im Dunkeln liegt.

INSTRUMENTE ANTIJÜDISCHER POLITIK Norwegen wurde von einem Reichskommissar regiert, der seine Macht direkt von Hitler bezog, und die Politik war in vielfacher Weise von den Zielen geprägt, die 10 Jerneck (1945), S. 31: „Quislings Beamte behaupteten kategorisch, die Verhaltensregeln gingen auf ausdrücklichen Befehl von deutscher Seite zurück. Es gibt aber gute Gründe anzunehmen, dass Quisling das Programm des Dritten Reiches in der Judenfrage bereitwillig akzeptiert hat und selbst die Initiative ergriff, es in Norwegen einzuführen. Aber die Verhaftungen selbst und die Deportation wurden von dem SS-Offizier Wagner von der deutschen Sicherheitspolizei geleitet; dass die Deutschen in solchen Dingen zweifellos am meisten Übung hatten, ist ein Umstand, den man nicht verkennen. sollte.“

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Die Akteure

Terboven persönlich mit der Besatzung verfolgte. Das Wirtschafts- und Arbeitsleben sollte reibungslos funktionieren, aber es sollte so weit wie möglich auch deutschen Kriegsinteressen dienen. Zudem spielten die Bedürfnisse der Wehrmacht eine bedeutende Rolle, auch bei der Ausübung der zivilen Macht in Norwegen. In der antijüdischen Politik gab es zwischen den einzelnen Ländern große Unterschiede. Dennoch überwachten zwei zentrale Stellen in Berlin das Ganze und griffen teilweise lenkend ein.11 Am wichtigsten war das Reichssicherheitshauptamt (RSHA), an dessen Spitze bis zu seinem Tode im Juni 1942 der Obergruppenführer Reinhard Heydrich stand. Unter seiner Führung wurden die ersten wichtigen Pläne zur systematischen Massentötung von Juden in Europa ausgearbeitet, und er leitete die sogenannte Wannsee-Konferenz vom 20. Januar 1942. Das RSHA war eines der Hauptämter der SS und das zentrale Hauptquartier der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes (SD). Es war in die sechs klassischen Abteilungen gegliedert, die auch in der Organisation der Sicherheitspolizei in Norwegen zu erkennen waren: Amt I (Verwaltung), Amt II (Finanzen), Amt III (Sicherheitsdienst), Amt IV (Geheime Staatspolizei), Amt V (Kriminalpolizei) und Amt VI (Ausland). Die einzelnen Ämter waren in Büros mit den Bezeichnungen A, B, C usw. eingeteilt und diese wiederum in sogenannte Referate. Die Leiter der Referate hießen Referenten. Leiter des Referats IV B 4, das für „Judenangelegenheiten“ zuständig war, war Obersturmbannführer Adolf Eichmann. Eichmanns Referat hatte zwei Unterabteilungen. Die eine war für „Evakuierung“ zuständig, mit anderen Worten für die Deportation von Juden zu den verschiedenen Mordzentren im Osten. Diese Abteilung leitete der Sturmbannführer Rolf Günther, der zugleich Eichmanns Stellvertreter war. Die andere Abteilung befasste sich speziell mit „Gesetzen“, also mit Problemen der Koordination: Wer sollte tatsächlich deportiert, wie sollte mit dem zurückgelassenen Besitz verfahren werden usw. Eichmanns Rolle war die eines Bindegliedes zwischen der zentralen Bürokratie in Berlin und den örtlichen Vertretern des Referats IV B 4. Er hatte auch – als einziger Referatsleiter im RSHA – direkten Kontakt zu dem Chef der Gestapo, dem mächtigen Gruppenführer Heinrich Müller. Innerhalb der Grenzen des Dritten Reiches kontrollierte Eichmann die Deportationen nahezu total. Außerhalb war sein Grad der Kontrolle unterschiedlich, aber in den wichtigsten besetzten Gebieten ordnete er den lokalen höheren SS- und Polizeiführern Experten für Judenangelegenheiten zu. Diese Experten waren in den ganzen Vernichtungsprozess so weit wie nur möglich einbezogen, von der Einführung von Gesetzen bis zur Bereit11 Hilberg (1985) S. 407 ff.

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stellung von Transportkapazitäten.12 Wir werden später darauf zurückkommen, ob der Leiter des Referats IV B beim Befehlshaber der Sicherheitspolizei in Oslo direkt von Eichmann entsandt war oder nicht. Das dritte Instrument im Vernichtungsprozess war das für den Transport zuständige Reichsverkehrsministerium. Es war in Norwegen weniger wichtig, weil aller Transport ins Land und aus dem Land in den Händen der Wehrmacht lag. Sobald die Juden deutschen Boden betraten, musste aber das Verkehrsministerium einbezogen werden. Es arbeitete mit Eichmanns engsten Mitarbeitern zusammen, mit Sturmbannführer Günther bei der Bereitstellung der sogenannten Sonderzüge, in denen die Opfer in die Todeslager fuhren. Das Auswärtige Amt in Berlin war sehr wichtig in seinem Einfluss auf Deutschlands Alliierte im Krieg: Italien, Ungarn, Rumänien, Bulgarien. Zugleich verfolgte es auch die Entwicklung in anderen Ländern, darunter Norwegen, genau. Was in Norwegen geschah, wurde nicht zuletzt deswegen wichtig, weil es Folgen haben konnte für Deutschlands Verhältnis zu dem neutralen Schweden. Als Juden aus Norwegen deportiert wurden, veränderte sich allmählich die schwedische Deutschlandpolitik. Das für die antijüdische Politik wichtigste Referat im Auswärtigen Amt war die von dem Unterstaatssekretär Martin Luther geleitete Abteilung Deutschland. Sein wichtigster Mitarbeiter in Judenfragen war Franz Rademacher in der Abteilung III. Auf höherer Ebene spielte auch Staatssekretär von Weizsäcker eine gewisse Rolle. Luther nahm im Januar 1942 an der Wannsee-Konferenz teil. Die Abteilung Deutschland war ziemlich unabhängig und arbeitete recht eng mit dem RSHA und Eichmanns Referat zusammen. 1943 wurde Luther festgenommen und kam ins Konzentrationslager, weil er versucht hatte, Außenminister Ribbentrop abzusetzen. Daraufhin wurde die Abteilung Deutschland umorganisiert. An ihre Stelle trat eine neue Abteilung Inland, geleitet von Horst Wagner. Für die antijüdische Politik hatte die Veränderung keine Bedeutung. Eberhard von Thadden trat an die Stelle Rademachers.13

DER AUFBAU DES REICHSKOMMISSARIATS Reichskommissar Terboven hatte seinen eigenen Stab, das Reichskommissariat. In der Praxis war das seine zivile Regierung, die die zentrale norwegische Bürokratie beaufsichtigen und dafür sorgen sollte, dass deutsche Direktiven befolgt wurden. 12 Hilberg (1985), S. 408. 13 Hilberg (1985), S. 546–551.

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Die Akteure

Das Reichskommissariat hatte eine eigene Abteilung in Berlin, die Dienststelle Berlin. Durch sie waren seine einzelnen Abteilungen mit den Ministerien in Berlin näher verbunden. Außerdem war dem Reichskommissar in Norges Bank, der Bank von Norwegen, ein eigener Beauftragter, ein Aufseher, zugeordnet, und auch die Kontrolle der wichtigen Industrien war gewährleistet. Das Reichskommissariat war in drei Hauptabteilungen gegliedert, Verwaltung, Volkswirtschaft und Volksaufklärung. Diese drei wurden oft Das Engere Reichskommissariat genannt.14 Hinzu kam eine besondere Organisation mit der Bezeichnung Einsatzstab Wegener. 1942 bekam das Reichskommissariat eine weitere Abteilung, Technik, aber sie war für die antijüdische Politik ohne Bedeutung. Auch der Höhere SS- und Polizeiführer Nord wird oft dem Reichskommissariat zugerechnet. Offiziell stimmt das, aber die deutsche Polizei war auch eng an Heinrich Himmler und die zentralen SS-Stellen in Berlin gebunden. Die Zusammenarbeit von Sicherheitspolizei und Reichskommissariat war gleichwohl sehr gut. Die Hauptabteilungen des Reichskommissariats waren in Unterabteilungen gegliedert. Meistens bestand der Stab aus insgesamt ca. 700 Personen, darunter 110 bis 120 Norwegern. Das Kommissariat hatte auch lokale Dienststellen, und zwar in Kristiansand, Stavanger, Bergen, Lillehammer, Trondheim, Narvik und Tromsø. Während die Unterabteilungen die norwegische Zentralverwaltung und Industrie beaufsichtigten, sollte der Einsatzstab Wegener Nasjonal Samling anleiten und finanziell unterstützen. Er hatte neben seiner Zentrale in Oslo 20 Außenstellen, die eng gebunden waren an die NS-Organisationen in den Fylker (Bezirken). Im Herbst 1941 beschäftigte der Einsatzstab gut 70 Personen und war damit eine der großen Abteilungen des Reichskommissariats.15 Der Einsatzstab war nach seinem ersten Leiter, Paul Wegener, benannt. Im Mai 1942 wurde er nach Deutschland zurückberufen (u. a. weil Terboven meinte, er habe zu viel Macht bekommen), und Sturmbannführer Hans-Hendrik Neumann wurde sein Nachfolger. Nach und nach wurde der Einsatzstab enger an die Sicherheitspolizei angebunden.16 Wie schon erwähnt, war der Reichskommissar an der Einführung antijüdischer Verordnungen wenig interessiert. Aber die einzelnen Abteilungen waren dennoch die ganze Zeit mit diesen Fragen beschäftigt und hatten erheblichen inoffiziellen Einfluss. Der Regierungsrat Rudolf Schiedermair war im Reichskommissariat auf vielen Ebenen eine Schlüsselfigur. Schon am 9. April 1940 wurde seine Entsen14 Paulsen (1976). 15 Paulsen (1976). S. 209. 16 Paulsen (1976), S. 205.

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dung nach Norwegen vorgeschlagen. Er war zu der Zeit im Innenministerium in Berlin beschäftigt, u. a. für Wilhelm Stuckart, einen der Beamten, die die Nürnberger Gesetze von 1935 ausarbeiteten.17 1938 gab Schiedermair zusammen mit Stuckart einen juristischen Kommentar zur Rassengesetzgebung in Deutschland heraus. Schiedermair war in der NS-Zeit einer der Emporkömmlinge. Im Reichskommissariat wurde er zum Leiter der Abteilung für Verwaltung und Recht ernannt, und er war Terbovens persönlicher juristischer Berater.18 Im September 1941 war er Vorsitzender des Standgerichts, das in Oslo Viggo Hansteen und Rolf Wickstrøm zum Tode verurteilte. In der antijüdischen Politik taucht Schiedermair im Hintergrund auf, als das Einreseverbot für Juden im März 1942 wieder ins Grundgesetz aufgenommn wurde, aber auch später noch. Er war zudem Richter am SSund Polizeigericht Nord19, das am 17. November 1941 seinen Zuständigkeitsbereich ausdehnte auf politische Prozesse gegen Norweger, die gegen Terbovens Verordnungen verstoßen hatten. Schiedermair war 1939 in die SS eingetreten und hatte den Rang eines Obersturmbannführers. 1943 verließ er Norwegen, angeblich auf Druck Quislings.20 Auch andere Abteilungen und Mitarbeiter des Reichskommissariats hatten mit antijüdischer Politik zu tun. Am wichtigsten war, dass die Hauptabteilung für Volksaufklärung und Propaganda durch ihre sogenannten Pressedirektiven für die Verbreitung antijüdischer Propaganda verschiedener Art und verschiedenen Zuschnitts sorgte. Die Kulturmitarbeiter des Kommissariats bemühten sich, Juden aus dem Kulturleben auszuschalten, jedenfalls die prominenten. Manchmal geschah dies direkt durch ein Auftrittsverbot, in anderen Fällen durch das norwegische Ministerium für Kultur und Volksaufklärung. Leiter der Hauptabteilung Volksaufklärung war Georg Wilhelm Müller; auch er war einer von Terbovens engsten Mitarbeitern. Er war SS-Mitglied und kam aus Josef Goebbels’ Propagandaministerium in Berlin.21 Er war am Einschmelzen des Gold- und Silberbesitzes der Juden beteiligt. Einzelne Mitarbeiter des Reichskommissariats wirkten bei bestimmten antijüdischen Maßnahmen mit. Als das Kommissariat Einfluss auf die DeNoFa-Fabriken zu bekommen suchte, wurde Dr. Blankenagel aus der Abteilung LandwirtschaftErnährung herangezogen. Der Leiter der Hauptabteilung Volkswirtschaft, Dr. Korff, wurde aktiv bei der Frage, was mit den Geschäften der Juden in Trondheim gesche17 18 19 20 21

Näheres zu den Nürnberg-Prinzipien in den Kapiteln 5 und 9. Nøkleby (1996), S. 128 f. Zum SS- und Polizeigericht Nord siehe Nøkleby (1996). S. 83 ff. Dahl et al. (1995), S. 369. Dahl et al. (1995), S. 280.

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hen sollte, die zwischen November 1941 und Februar 1942 von der deutschen Sicherheitspolizei geschlossen worden waren. Und Dr. Wolfgramm, einer von Müllers Mitarbeitern in der Hauptabteilung Volksaufklärung, musste „plötzlich“ eingreifen, als Göring in seiner Eigenschaft als Chef der Luftwaffe deutschen Soldaten verbot, in jüdischen Geschäften einzukaufen. Die Aktivitäten dieser Bürokraten zu verschiedenen Zeitpunkten und bei bestimmten, klar definierten Anlässen belegen exemplarisch Raul Hilbergs These, die antijüdische Politik sei in der Hauptsache nicht von eigens geschaffenen Organen in die Praxis umgesetzt worden, sondern von vorhandenen Organisationen und von Bediensteten, die zusätzliche Aufgaben übernahmen. Weder Blankenagel noch Korff oder Wolfgramm waren nach Norwegen entsandt worden, um dort antijüdische Politik voranzutreiben, aber wenn sie in ihrem Geschäftsbereich mit antijüdischen Maßnahmen zu tun bekamen, fanden sie es ganz selbstverständlich, sich engagiert um diese zu kümmern. Als Terboven im Oktober 1942 in Trøndelag den Ausnahmezustand verhängte, wurde seine eigene zentrale Rolle direkt sichtbar.

DIE DEUTSCHE SICHERHEITSPOLIZEI In Kapitel 2 haben wir gesehen, dass die Rolle der deutschen Sicherheitspolizei in Norwegen von Anfang an zweideutig war. In der Führerverordnung, die Terboven als Reichskommissar einsetzte, hieß es, er könne sich norwegischer Polizeikräfte bedienen. In einem Treffen mit Hitler am 20. April 1940 erhielt Himmler die Erlaubnis, in Norwegen einen Höheren SS- und Polizeiführer einzusetzen. Allem Anschein nach war dies eine unerwartete Wendung, und der Chef des RSHA, Reinhard Heydrich, beeilte sich, SS-Offiziere auszusuchen, die nach Norwegen entsandt werden sollten.22 Die Frage nach dem Status Norwegens, die „endgültig“ erst geklärt war, nachdem man sich mit der norwegischen Regierung über ein Abkommen nicht hatte einigen können, entschied auch mit darüber, wer zunächst eine führende Rolle einnehmen sollte. Der Stab der Wehrmacht in Norwegen und das Außenministerium hatten Himmler schon früh gebeten, eine „geeignete Person“ zu benennen, die die Oberaufsicht über Norwegens innere Verwaltung führen könnte. Himmler schlug den Oberführer Dr. Walter Stahlecker vor. Am 12. April schrieb Ribbentrop an Stahlecker, der zu der Zeit Befehlshaber der Sicherheitspolizei (BdS) im Protektorat Böhmen-Mähren war, und bat ihn, nach Norwegen zu reisen, um „im 22 Longerich (2012), S. 491 f., Gerwarth (2011), S. 174 f.

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Auftrag des Außenministeriums die Oberaufsicht über norwegische Verwaltungsorgane zu führen“.23 Schon am 16. April war Stahlecker auf dem Wege zu seinem neuen Bestimmungsort.24 Am 21. April, also einen Tag nach Himmlers Treffen mit Hitler, Terboven, Bormann und Rosenberg, erging eine Meldung an die Grenzpolizeischule in Pretzsch an der Elbe. Dort war eine ziemlich große Gruppe von Männern der Sicherheitspolizei zu einem Kurs versammelt, der sie auf ihren Einsatz in den Benelux-Ländern und Frankreich vorbereiten sollte.25 Stahleckers Rolle wurde nun sofort zum Befehlshaber der Sicherheitspolizei umdefiniert. Ausgewählte Teilnehmer des Kurses in Pretzsch wurden zu ihrer eigenen Überraschung aufgefordert, sich zum Einsatz in Norwegen bereitzumachen. Am 24. April durchliefen sie einen kurzen Einführungskurs über die Verhältnisse im Lande. Am folgenden Tag reisten sie nach Berlin.26 Unter diesen Ausgewählten waren einige, die bis Kriegsende in Norwegen bleiben sollten. Heinrich Fehlis, der später BdS werden sollte, flog zusammen mit anderen wichtigen Personen am 25. April nach Oslo. Die anderen reisten über Dänemark und kamen am 29. April auf dem Osloer Flughafen Fornebu an. In Norwegen befand sich schon Dr. Werner Knab, der seit Herbst 1939 Kulturattaché an der Deutschen Botschaft in Oslo war. Er hatte früher im RSHA gearbeitet und wurde Stahleckers engster Mitarbeiter, nicht zuletzt weil er die Verhältnisse in Norwegen einigermaßen kannte.27 Im Januar 1942 wurde er aus Norwegen abberufen, angeblich wegen Feigheit.28 Vorher sollte er noch eine Rolle in der antijüdischen Politik spielen.29 23 Kjeldstadli (1959), S. 107. 24 Wildt (2003), S. 508. Stahlecker war 1900 in Sternenfels bei Maulbronn geboren. Seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 diente er bei der politischen Polizei in Württemberg. 1937 wurde er zum Leiter der Stapoleitstelle Breslau ernannt. 1938 wurde er Leiter des SD-Abschnitts Donau in Wien, ehe er BdS im Protektorat Böhmen-Mähren in Prag wurde. Hier arbeitete er mit Adolf Eichmann um den am sogenannten NiskoPlan zusammen; dabei ging es um eine Art jüdisches „Reservat“ in Ostpolen. Nach seiner Zeit in Norwegen arbeitete Stahlecker im Außenministerium in Berlin, ehe er am 18. Juni 1941 in Verbindung mit der Invasion der Sowjetunion zum Chef der Einsatzgruppe A ernannt wurde. Am 15. Oktober 1941 meldete er nach Berlin, seine Einsatzgruppe habe 135.567 „Juden, Kommunisten und Geisteskranke“ ermordet. Er starb am 23. März 1942 in Riga, angeblich im Kampf mit örtlichen Partisanen. Siehe Klee (2003), S. 595. 25 Wildt (2003), S. 507. 26 Kjeldstadli (1959), S. 107. 27 Kjeldstadli (1959), S. 108. 28 Dahl et al. (1995), S. 216. In dieser Quelle steht fälschlich, dass die Abberufung erst „im Herbst 1942“ erfolgte. 29 Besonders bei der Einziehung der Radioapparate der Juden, siehe Kapitel 4.

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Eine Übersicht über die Organisation der Sicherheitspolizei in Norwegen liegt erst für Mitte Mai vor. Aus einem internen Rundschreiben von Werner Best (der später als deutscher Botschafter in Dänemark bekannt wurde) im RSHA geht hervor, dass die Sicherheitspolizei in Norwegen zu diesem Zeitpunkt aus Stahlecker und seinem Stab von 19 Mann bestand. Sie waren in fünf Gruppen mit diesen Zuständigkeiten aufgeteilt: Gruppe I (Verwaltung und Recht), Gruppe II (Nachrichtendienst), Gruppe III (Gestapo), Gruppe IV (Grenzkontrolle), Gruppe V (Kripo). Der Einsatz war regional geregelt, und jedes Gebiet hatte ein Einsatzkommando. Das Einsatzkommando I in Oslo wurde von Sturmbannführer Fehlis geleitet, dem 96 Mann zur Verfügung standen. Standorte, Leiter und Stärken der übrigen Kommandos waren: Kommando 2 in Kristiansand, Sturmbannführer Blomberg, 26 Mann; Kommando 3 in Stavanger, Sturmbannführer Stoßberg, 24 Mann; Kommando 4 in Bergen, Sturmbannführer Gerhard Flesch, 32 Mann; Kommando 5 in Trondheim, Sturmbannführer Ingo Eichmann, 39 Mann. Ein sechstes Einsatzkommando sollte in Narvik oder Tromsø installiert werden, sobald diese Gebiete endgültig erobert wären.30 Insgesamt befanden sich zu diesem Zeitpunkt 236 Mann der Sicherheitspolizei in Norwegen. Heydrich hatte für Norwegen eine deutliche Anweisung herausgegeben: Die Sicherheitspolizei sollte sich zurückhalten. Der Einsatz war bis zu einer festeren Organisation des Besatzungsregimes vorläufig. Heydrich wollte Norwegen nicht als „Feindesland“ aufgefasst wissen, und die Aufgaben sollten „mit dem höchsten Maß an Ordnung und so taktvoll wie möglich“ gelöst werden.31 Norwegen war praktisch das zweite Land, das Deutschland besetzte. Das erste war Polen, und dort hatte die Sicherheitspolizei viel drastischere Aufgaben. Heydrich legte Wert darauf klarzumachen, dass die gleichen Methoden in Norwegen nicht angewandt werden sollten. Obwohl manchmal behauptet worden ist, die SS habe in Reichskommissar Terbovens Regime in Norwegen dominiert32, deuten ebenso viele Quellen darauf hin, dass weder Himmler noch Heydrich mit dem erreichten Einfluss zufrieden war.33 Himmler bekam wie erwähnt einen Höheren SS- und Polizeiführer. Die Wahl fiel auf den Obergruppenführer Fritz Weitzel.34 Nachdem dieser bei einem britischen 30 Staatsarchiv Freiburg F 175/16 Nr. 24 KS 1/67, Abschrift eines Rundschreibens von Werner Best an die verschiedenen Abteilungen im RSHA vom 17. Mai 1940. 31 Kjeldstadli (1959), S. 155 ff. 32 Vgl. Emberland und Kott (2012), S. 136 ff. 33 Longerich (2012), S. 491 f. 34 Weitzel war 1904 in Frankfurt am Main geboren. 1933 wurde er Polizeipräsident in Düsseldorf, 1938 Höherer SS- und Polizeiführer West mit gleichem Dienstort. Er starb bei einem britischen Luftangriff auf Düsseldorf am 19. Juni 1940. Siehe Klee (2003), S. 665.

Die deutsche Sicherheitspolizei

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Luftangriff ums Leben gekommen war, setzte Himmler den Obergruppenführer Wilhelm Rediess ein,35 der bis Kriegsende in Norwegen blieb. Rediess hatte schon ziemlich lange zu Himmlers innerstem Kreis gehört. Er war 1900 in Heinsberg im Rheinland geboren. 1925 trat er der NSDAP und 1930 der SS bei. Im Berufsleben war er gescheitert. Er war gelernter Elektriker, fand aber in seinem Fach keine Arbeit. Später arbeitete er als Mechaniker, in der Wirtschaftskrise wurde er arbeitslos. Nach dem Eintritt in die SS war er Himmler persönlich unbedingt ergeben.36 Rediess war, ehe er nach Norwegen kam, Höherer SS- und Polizeiführer Nordost in Ostpreußen gewesen. Dort hatte er Erfahrungen mit medizinischen Operationen an geistig Behinderten und Juden gesammelt. Die Region um Ciechanów (Zichenau) in Polen war nach dem Feldzug im September 1939 an Deutschland angegliedert worden. Unter den etwa 900.000 Einwohnern waren 80.000 Juden. Diese wurden von zwei SS-Bataillonen in das sogenannte Generalgouvernement getrieben.37 Die geistig Behinderten wurden in Gaswagen ermordet, die das Sonderkommando Lange, benannt nach dem Untersturmführer Herbert Lange,38 Rediess zur Verfügung stellte. Weitzel (in seiner kurzen Funktionszeit) und Rediess ordneten sich Terboven unter, obwohl die Stelle des Höheren SS- und Polizeiführers ihm nominell nicht unterstand.39 Gleiches gilt für Heinrich Fehlis, der Stahlecker nach dessen Rückberufung nach Deutschland am 18. November 1940 als Befehlshaber der Sicherheitspolizei (BdS) ablöste. Aus mehreren Quellen geht hervor, dass der Einsatz der deutschen Sicherheitspolizei heruntergestuft werden sollte, sobald ein Abkommen über die Besatzungsherrschaft vorläge.40 Als dies nicht geschah, erhielt die Sicherheitspolizei eine festere Organisation, und sie begann offensiver gegen erste Widerstandsaktivitäten und gegen Juden vorzugehen.

35 Das geschah am 23. Juni 1940, vier Tage nach Weitzels Tod. Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, SS-Personalmappe (SSO) 13B, Brief von Reichsführer SS Himmler an Wilhelm Rediess. 36 Longerich (2012), S. 134 f. 37 Bundesarchiv, SSO 13B, Telegramm vom SS-Oberabschnitt Nordost an den Reichsführer SS vom 31. Okober 1939. An anderer Stelle heißt es, dass Rediess über zwei SS-Totenkopfverbände verfügte. 38 Longerich (2012), S. 431 f. Lange wurde später Chef des ersten Mordzentrums in Kulmhof (Chelmno) im inkorporierten Warthegau. 39 Longerich (2012), S. 491 f. 40 Siehe z. B. Paulsen (1969), S. 302.

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Die Akteure

Gleichzeitig mit Stahleckers Abberufung wurden die einzelnen Einsatzkommandos in Kommandogebiete mit einem jeweils eigenen Kommandeur der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes (KdS) umgewandelt. Solche KdS wurden in Stavanger, Bergen, Trondheim und Tromsø etabliert. Die zentrale Dienststelle des BdS, die selbst für Oslo und das zentrale Ostnorwegen zuständig war, wurde nach den Organisationsprinzipen aufgebaut, die dem RSHA zugrunde lagen. Die einzelnen Sachbearbeiter bekamen zugleich klarer definierte Aufgaben. Jeder Kommandeur konnte bei der Arbeit in seiner Region sehr selbständig handeln.41 Sie richteten eigene Außendienststellen ein, d. h. kleine Außenkommandos, die ihre Zuständigkeitsbereiche überwachten (und später terrorisierten). Die Leiter der Außendienststellen arbeiteten ebenfalls im Alltag mehr oder weniger unabhängig, aber die Bedeutung der einzelnen Außenkommandos hing vom Grad des Widerstandes ab. Sie konnten auch, wenn der KdS das für erforderlich hielt, von einem Ort an einen anderen verlegt werden. Die Neuorganisation war der politischen Situation geschuldet, wie sie sich in Norwegen in diesem Herbst entwickelte. Terboven verwarf schließlich die sogenannten Reichsratsverhandlungen und setzte auf eine „politische Neuordnung“ mit Quisling und NS im Zentrum. Im Zuge der Neuordnung bekam auch ein eigener Sachbearbeiter bei der Gestapo die besondere Verantwortung für Angelegenheiten der Kirchen, der Juden und der Freimaurer.

DIE MENTALITÄT DER DEUTSCHEN SICHERHEITSPOLIZEI Wie im übrigen Westeuropa spielte die deutsche Sicherheitspolizei eine führende Rolle bei dem Beschluss, die Juden festzunehmen und zu deportieren. Aber schon lange vorher hatte sie gegen die Juden die Initiative ergriffen. Sie forderte die eigene militärische Führung und den norwegischen Verwaltungsrat heraus durch den Beschluss, die Radioapparate von Juden zu konfiszieren (vgl. Kapitel 4). Für die Sicherheitspolizei gehörte die antijüdische Politik zum ideologischen Kern ihrer Überzeugungen. Sie war ein selbstverständlicher Bestandteil aller ihrer Betätigungsfelder, weil sie „jüdischen Einfluss“ auf fast jedem Gebiet zu erkennen meinte. Besonders galt das für ihre Sicht der „Widerstandsarbeit“: Jeder Widerstand gegen die Sicherheitspolizei war grundsätzlich jüdischem Einfluss geschuldet. Frühe Verhaftungen von Juden wurden daher oft mit örtlicher Widerstands­ tätigkeit oder angeblichen Provokationen begründet. Als Truppen der Waffen-SS im April 1940 im Bezirk Vestfold (am äußeren Oslofjord) an Land gingen, war es 41 Kjeldstadli (1959), S. 109.

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für ihren Chef ganz selbstverständlich, sich eine Übersicht über mutmaßlich jüdische Geschäfte zu verschaffen.42 Oft begründete die Sicherheitspolizei ihre Maßnahmen mit Erfahrungen aus früheren Operationen. Als in den Straßen von Sandefjord antideutsche Graffiti gefunden wurden, sollte der einzige jüdische Kaufmann in der Stadt, Abel Lahn, dafür büßen. Zusammen mit anderen „Prominenten“ wurde er zum Abwaschen abkommandiert: Zur Strafe befahlen die Deutschen dreizehn bekannten Männern in der Stadt, die Asphaltdecke abzuwaschen und zu scheuern. Die Prozession der ,Waschweiber‘ wurde von örtlichen Polizisten angeführt, dann folgten Bürgermeister Gulliksen, Stortingsmann Irgens Odberg, Rektor Ringstad, Kaufmann Holtan, Kassierer Corneliussen, Redakteur Hjertholm, Redakteur Lind. Stadtkämmerer Pindsle, Segelmacher Evensen, Stadtbaurat Smidt und Kaufmann Lahn. Den Schluss bildeten Männer von der deutschen Sicherheitspolizei.43

Das erinnerte an den deutschen Einmarsch in Österreich 1938, als Juden gezwungen wurden, Fußwege mit Zahnbürsten zu reinigen. In der Nachbarstadt Larvik, wo die Sicherheitspolizei eine sogenannte Außenstelle hatte, war die Familie Sachnowitz das Opfer.44 Und als man gegen die Widerstandsbewegung in Skien vorging und Geiseln genommen wurden, war es für die Gestapo selbstverständlich, die beiden einzigen jüdischen Männer der Stadt festzunehmen.45 Die Motive der Sicherheitspolizei sind manchmal schwer zu entwirren. Das liegt natürlich in der Hauptsache an dem dürftigen Quellenmaterial. Die Korrespondenz ist nur teilweise erhalten, und sie sagt nicht viel aus, da sie hauptsächlich aus Briefen an norwegische Polizeiorgane und andere Stellen der Bürokratie besteht. Auch vor dem Herbst 1942 wurden Juden verhaftet, und einige wurden deportiert, ohne dass wir genau wissen warum. Die Sicherheitspolizei konnte Juden eher zufällig festnehmen, oft wegen irgendwelcher Vorfälle auf lokaler Ebene. Die britischen Angriffe auf die Lofotinseln 1941, illegale Überfahrten nach England und andere Widerstandsepisoden lieferten den Vorwand, Juden zu verhaften, die sich an den jeweiligen Orten aufhielten und bekannt waren. 42 43 44 45

Siehe den Abschnitt „Erfassung von Juden und jüdischen Betrieben“ in Kapitel 4. Christophersen (1995), S. 197. Siehe den Abschnitt „Terror und Verhaftungen“ in Kapitel 4. Es handelte sich um zwei Brüder, David Becker, geb. 1898 in Drammen, und Louis Becker, geb. 1906 in Oslo. David wurde am 2. Juni 1942 in Skien festgenommen, Louis am 20. Juni in Årdalstangen, wo er auf einer Geschäftsreise war. Beide wurden mit dem Schiff Monte Rosa am 20. November 1942 deportiert.

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Die Akteure

In einigen Fällen nahm die Sicherheitspolizei Juden aufgrund allgemeinerer Befehle im Rahmen größerer Operationen fest. Als jüdische Männer in Nordnorwegen kurz vor dem Überfall auf die Sowjetunion verhaftet wurden, geschah das allem Anschein nach, weil im Vorfeld der Aktion „verdächtige Elemente“ hinter der neuen Front ausgeschaltet werden sollten.46 Hinter manchen Maßnahmen gegen Juden stand auch reine Korruption: Juden konnten ausgenutzt werden. Vom Eigentum der Familie Sachnowitz in Larvik nahmen sich die Männer der Sicherheitspolizei, was sie haben wollten, als sei dies ein selbstverständlicher Teil der Schikane.47 Der junge Heinrich Arnhold, der aus Deutschland stammte, aber in der Schweiz wohnte, hielt sich im April 1940 in Norwegen auf. Sowohl seine eigne Familie als auch seine Gastfamilie in Bergen wurde später von der deutschen Sicherheitspolizei erpresst.48 Ein Beipiel ist besonders vielsagend und soll hier genauer beschrieben werden, weil es möglicherweise die weitere Entwicklung der in Mittelnorwegen ganz speziellen antijüdischen Politik beeinflusst hat. In Trondheim wurde eine größere Korruptionsaffäre aufgedeckt wegen der Trunksucht einzelner Mitglieder der Kommandantur der deutschen Sicherheitspolizei in der Stadt. Nicht zuletzt liebte der Chef selbst, Sturmbannführer Hermann Ling, seit dem 1. August 1940 Kommandeur der Sicherheitspolizei in Trondheim, sowohl Alkohol als auch Frauen. Die Sicherheitspolizei hatte ein enges Verhältnis zur Abwehrstelle der Stadt, dem deutschen militärischen Geheimdienst. Bei einem sogenannten Kameradschaftsabend wurde Ling von einem seiner eigenen Mitarbeiter niedergeschlagen. Die Sache wurde interessanterweise nicht in Trondheim aufgedeckt, sondern in Berlin. Einer der Männer des Kommandeurs, Oberscharführer Jooß, war dort zu Weihnachten 1940 auf Urlaub und erzählte einem Freund in der Berliner Gestapo von den Verhältnissen in der norwegischen Stadt. Seine Anklage bestand aus drei Hauptpunkten: 1. In der Dienstzeit werde ‚reichlich viel Alkohol‘ getrunken. Norwegerinnen kämen oft zu ‚privaten Besuchen‘ (auch während der Dienstzeit). 2. Kriminalkommissar Stübs, Leiter der Abteilung 4 (der Gestapo) in Trondheim, sei verärgert, weil er nicht zum Stellvertreter von Sturmbannführer Ling ernannt worden sei, und in alkoholisiertem Zustand seien die beiden bei mehreren Gelegenheiten aneinandergeraten. 46 Mehr dazu im Abschnitt „Terror und Verhaftungen“ in Kapitel 4. 47 Sachnowitz (1978), S. 10 f. 48 Norges Hjemmefrontmuseum [NHM, Museum der Widerstandsbewegung] 8, F b 0007, Mappe 6, kopi av udatert rapport om det tyske politiet i Bergen [Kopie eines undatierten Berichts über die deutsche Polizei in Bergen], S. 5. Heinrich Arnhold gelang es später, das Land zu verlassen.

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3. Sturmbannführer Ling sei oft stark betrunken, auch in der Dienstzeit, und er sei launisch. Er habe Jooß Meuterer genannt, weil dieser geäußert habe, die herrschenden Zustände in der Kommandantur seien nicht so, wie sie sein sollten.49

Gegen alle drei, also Ling, Stübs und Jooß, wurden im Februar 1941 Ermittlungen eingeleitet. Zunächst war die Sache für Stübs am bedrohlichsten, weil er beschuldigt wurde, seinen eigenen Chef niedergeschlagen zu haben. Stübs und Jooß wurden nach Berlin zurückberufen, später auch Ling. Das Interessante ist, dass während der Ermittlungen ein anderer Umstand auftauchte, der als viel ernster aufgefasst wurde. Im Oktober 1941 wurde ein Chauffeur der Kommandantur, Max Busch, verhört. Er erklärte, Ling habe seinen Männern auch erlaubt, bei einem jüdischen Kaufmann in der Stadt, Paltiel Jacobsen, einzukaufen. Die Einkäufe sollten vorher dem Obersturmführer Bischoff gemeldet werden.50 Bei Jacobsen kauften die Beamten sowohl Kleidung als auch Pelze, und in einem Fall bat Ling den Untersturmführer Karl Wend, der zu Neujahr 1941 auf Urlaub nach Deutschland sollte, für seine Frau einen Pelz zu kaufen. Wend kaufte bei der Gelegenheit auch Waren für sich selbst. Aber seiner eigenen Erklärung zufolge schaffte er es nicht, die Einkäufe Bischoff zu melden. Nach seiner Rückkehr nach Trondheim wurde Wend von Ling vor dem ganzen Kommando ordentlich abgekanzelt, aber natürlich wurde mit keinem Wort erwähnt, dass Wend auch beauftragt war, für Ling einen Pelz zu kaufen.51 Interessanterweise taucht in der Vernehmung von Herbert Bischoff die Frage nach Jacobsen nicht auf. Er war für die Beaufsichtigung der Juden in Trondheim zuständig. Er sollte sie in einer Kartei erfassen, aber einzelne auch unter Druck setzen, wenn dies von der Sicherheitspolizei ausgenutzt werden könnte.52 Jacobsen war von ihm rekrutiert worden. Im Unterschied zu Ling, Stübs, Jooß und Busch blieb Bischoff in Trondheim bis zum Ende des Krieges. Ling wurde in Trondheim abgelöst, nach Berlin und später an das Einsatzkommando 5 in Rowno (heute Riwne) in der Ukraine überstellt.53 Er wurde angeklagt, 49 Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, SS-Personalmappe (SSO) 265A. Brief des Befehlshabers der Sicherheitspolizei Oslo an das RSHA, I D 2, vom 27. Mai 1941, S. 2. 50 Bundesarchiv, SSO 265A. Aus der Vernehmung des Kriminalangestellten (Kraftfahrers) Max Busch vom 5. Oktober 1941. 51 Bundesarchiv, SSO 265A. Aus der Vernehmungsniederschrift vom 26. März 1942, Vernehmung von Karl Wend. 52 Bundesarchiv, SSO 265A. Vernehmungsniederschrift, Vernehmung des Obersturmführers Herbert Bischoff vom 12. Mai 1942. 53 Bundesarchiv, SSO 265A. Ling war dort an der Ermordung von Juden beteiligt, aber auch an der Ausbeutung jüdischer Arbeitskräfte beim Bau der Durchgangsstraße IV, wie die

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aber wegen der Geschehnisse in Trondheim nie verurteilt. Am 9. Juli 1943 wurde er vom SS-Gericht in Berlin freigesprochen, und die Entscheidung wurde von Himmler persönlich am 22. März 1944 bestätigt.54 Ling hatte seine Schuld beglichen und seine späteren Aufgaben zu Himmlers Zufriedenheit erledigt. Die Strafe für Disziplinverstöße in der SS war oft, dass man konkretere Arbeitsaufgaben bekam als die bisherigen. So war es auch mit Ling. Er kam bei einem Luftangriff im Februar 1945 ums Leben. Ling wurde abgelöst von einem anderen SS-Offizier, Sturmbannführer Gerhard Flesch, der am 1. Oktober 1941 aus Bergen nach Trondheim kam. Aber warum wurde gerade er ausgewählt? Flesch sollte aufräumen und Ordnung in die Reihen bringen. Weniger als einen Monat nach seiner Ankunft wurden die ersten Juden festgenommen und ihre Geschäfte beschlagnahmt. Fleschs Vorgehen gegen die Juden in Mittelnorwegen – das später als eine systematischere Aktion gegen das Judentum bezeichnet wurde – ist Teil eines größeren Ganzen, in welchem der Geheimdienst und Terror gegen Widerstandsgruppen eingesetzt wurden.55 Wo der Widerstand als besonders gefährlich galt, setzte die Sicherheitspolizei verstärkten Terror dagegen. Nahm die Furcht vor einer alliierten Invasion zu, führte auch dies zu mehr Terror und Kontrolle. All das bekam die kleine jüdische Minderheit in Mittelnorwegen zu spüren. Dabei maßen die einzelnen SS-Offiziere der Anwesenheit der Juden unterschiedlich viel Gewicht bei. In Trondheim trieb allem Anschein nach Flesch persönlich die antijüdischen Maßnahmen voran. Das bedeutete, dass die Juden in Mittelnorwegen mehr als die in anderen Regionen zu leiden hatten, aber es hatte auch Folgen für die gesamte Politik gegen Juden im Herbst 1942. Flesch war 1909 im polnischen Poznań geboren, das damals Posen hieß und zum Deutschen Reich gehörte. In seinem Lebenslauf an das SS-Hauptamt schrieb er: „Meine Eltern verließen Posen, weil der Krieg verloren war und die Provinz Nazisten sie nannten, der Hauptversorgungsroute für die deutschen Truppen an der Südfront. Im Herbst 1942 verlangte er in dem Zusammenhang, die Erschießung „arbeitsfähiger Juden“ müsse aufhören; er brauche sie für den Straßenbau. Später wurde er dem Befehlshaber der Sicherheitspolizei in Minsk zugewiesen, einem der Gebiete im besetzten Europa, wo Terror und Unterdrückung von beispielloser Härte waren. Im Juni 1944, kurz bevor die Rote Armee durchbrach und praktisch die deutschen Streitkräfte vernichtete, die die Front in Weißrussland halten sollten, wurde Ling der notorischen Mordbrigade Dirlewanger zugewiesen. Er nahm wahrscheinlich beim Warschauer Aufstand am Kampf gegen das polnische Heimatheer teil. Dort war Dirlewanger in erster Linie an Morden, anderen Gewalttaten und Suff beteiligt. 54 Bundesarchiv, SSO 265A. Vermerk des Chefs der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes vom 1. Dezember 1944. 55 Siehe den Abschnitt „Aktion gegen das Judentum“ in Kapitel 4.

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Posen aufgegeben werden musste.“ Die Eltern zogen nach Berlin, wo der Vater in Preußen, dem größten deutschen Teilstaat, Beamter im Bau- und Finanzministerium war. Nach dem Abitur 1929 nahm Flesch an der Berliner Universität das Jurastudium auf. Später studierte er in Marburg. Am 8. April 1933, also nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten, legte er das Erste Juristische Staatsexamen ab, was den Anfang einer Karriere als Staatsbeamter bedeutete. Am 20. April, also nur zwölf Tage später, trat er der NSDAP bei. Schon im August des gleichen Jahres diente er als sogenannter V-Mann (Vertrauensmann), wie man in Deutschland die für Geheimkontakte Zuständigen nennt. Er war mit anderen Worten Spion und vermutlich Denunziant. Das führte ihn in die SS. 1935 wurde er in der Schule des Sicherheitsdienstes in Berlin-Grunewald fortgebildet. Seine Karriere im SS-System verlief parallel zu seiner weiteren Qualifizierung für den Staatsdienst. 1936 legte er das Zweite Staatsexamen ab, war damit Volljurist und wurde zum Dienst im Geheimen Staatspolizeihauptamt beordert, das vor der Gründung des RSHA die Zentrale der Gestapo war. Seit dem 1. Januar 1938 war er stellvertretender Leiter der Stapoleitstelle in Frankfurt an der Oder. Ein Jahr vorher war er „aus ideologischen Gründen“ aus der Kirche ausgetreten.56 Am Polenfeldzug 1939 nahm Flesch als Leiter des Einsatzkommandos 2/VI unter dem Oberführer Erich Naumann teil.57 Zugleich wurde er zum Sturmbannführer befördert. Als solcher kam er in seine Heimatstadt zurück, die jetzt wieder unter dem Namen Posen in das Deutsche Reich eingegliedert wurde. Der Feldzug und die folgende Besetzung Polens waren ein Blutbad; dabei bekam Flesch seine Feuertaufe. Am 10. Oktober 1940 wurde ihm für seinen „Einsatz in Polen“ das Eiserne Kreuz II. Klasse verliehen.58 Wie schon erwähnt, kam Flesch nach Norwegen mit den Männern, die Werner Best eigentlich für den Einsatz an der Westfront in Pretzsch versammelt hatte. Der Auftrag in Norwegen war ein ganz anderer als in Polen, aber Flesch war anpassungsfähig. Allmählich verschärft er auch hier den Terror, und beim Aufrollen der sogenannten Stein-Organisation, einer Widerstandsgruppe in Bergen 194159, nutzte er „negative Kontakte“, d.h. Personen, die für eine Widerstandsorganisation zu arbeiten glaubten, während sie in Wahrheit im Dienst der Sicherheitspolizei standen. Flesch nahm auch einige Juden im Lager Ulven „in Behandlung“. Ein nach Grini überstellter Häftling, der später nach Schweden floh, erklärte das so: 56 Bundesarchiv, SSO 213. Handgeschriebener Lebenslauf vom 30. August 1938. 57 . Abgerufen am 1. Juni 2016. 58 Bundesarchiv, SSO 213. Meldung an die SS-Personalkartei vom 21. Juli 1941. 59 Die Stein-Organisation wurde im Herbst 1941 aufgerollt, und das war so gut wie abgeschlossen, als Flesch Bergen verließ. Siehe Dahl et al. (1995), S. 397.

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Der Chef, Sturmbannführer Flesch, hatte die Angewohnheit, Juden furchtbar zu schikanieren. Einem jungen norwegischen Juden, X.X., setzten Fleschs Finten besonders zu. Er wurde immer ängstlicher, und nach einem von Fleschs Besuchen in Ulven erlitt er einen nervösen Zusammenbruch und bekam einen Schreikrampf. Jedes Mal, wenn er eine deutsche Uniform sah, begann er zu schreien. Er kam in eine Einzelzelle ohne ärztliche Aufsicht. Die anderen Gefangenen wandten sich an Weingärtner, den damaligen Chef des Lagers, mit der Bitte, X einem Arzt vorzustellen. Eine ganze Woche blieb er ohne Aufsicht liegen. Die anderen Gefangenen mussten ihm in allen Dingen helfen, und er konnte nur flüssige Nahrung zu sich nehmen. Endlich kam norwegische [sic] Polizei, holte ihn ab und lieferte ihn in eine Nervenklinik ein.60

Nach seiner Versetzung nach Trondheim terrorisierte Flesch die Juden noch mehr. Damit stoßen wir auf ein anderes Merkmal des Auftretens der Sicherheitspolizei gegenüber den Juden. Flesch war natürlich nicht der Einzige, der Juden brutal behandelte. Es war im System angelegt, dass Juden brutaler behandelt werden sollten als andere Gefangene. Im Gefängnis Møllergaten 19 in Oslo wurden den Juden die schmutzigsten und unangenehmsten Arbeiten zugewiesen. Im Lager Åneby und später in Grini waren die Juden wie selbstverständlich „ausgesondert“; sie sollten in der sogenannten Trabergruppe arbeiten oder andere minderwertige Aufgaben ausführen. Die Behandlung von Juden in deutschen Gefängnissen und Lagern in Norwegen war in vielfacher Hinsicht eine rituelle Misshandlung, für die es auch anderswo in Europa viele Beispiele gibt. Die meisten Opfer dieser Misshandlung konnten später nicht über sie berichten – sie wurden deportiert und ermordet. Die Haltung zu den Juden war im Weltbild der SS und des Nationalsozialismus verankert. Dass einzelne Juden festgenommen und inhaftiert wurden, war nur eine einleitende Phase. Das Hauptziel war die systematisierte Politik, und dabei ging die deutsche Sicherheitspolizei in einer Weise vor, die der norwegischen Gesellschaft angepasst war und, wie wir sehen werden, ohne dass das RSHA in Berlin daran besonders interessiert war. Wichtig war allein, dass die Juden registriert wurden und die „Endlösung“ durchgesetzt, d.h. dass sie in den Osten deportiert wurden.

60 RA, S-1725 DaI Behälter 454, spesialavhør [Sondervernehmung] av Dankert Thuland og Roald Jacobsen, Kjesäter, 5. mars 1942, s. 9.

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ZENTRALE AKTEURE IN DER DEUTSCHEN SICHERHEITSPOLIZEI In Norwegen spielte sich die antijüdische Politik auf mehreren Ebenen ab. In einigen Branchen und auf verschiedene Weise ging man in sogenannten Einzelaktionen gegen einzelne Juden oder „jüdischen Einfluss“ vor (siehe Kapitel 4). An manchen Orten geschah das systematischer, ohne dass es landesweit koordiniert war. Auf nationaler Ebene hatte die Gestapo, die Abteilung 4 beim Befehlshaber der Sicherheitspolizei, die Hauptverantwortung. Diese verschiedenen Ebenen beeinflussten einander, aber auch Faktoren von außen wirkten auf sie ein. Der wachsende Widerstand gegen das Quisling-Regime radikalisierte das Vorgehen gegen die Gegner „der neuen Zeit“. Die deutschen wie die norwegischen Nationalsozialisten waren überzeugt, die Juden seien ihre Hauptwidersacher und arbeiteten stetig im Hintergrund an ihrem Plan, „die arische Rasse“ zu vernichten. Dieses Bild der Wechselbeziehung von Ereignissen und einer radikalisierten antijüdischen Politik war auch vom strategischen Kriegsverlauf beeinflusst. Besonders die Invasion der Sowjetunion verschärfte die Radikalisierung. Der Krieg im Osten war ein Vernichtungskrieg, den zu gewinnen die Nationalsozialisten einige Monate lang sicher waren. Im Herbst 1941 hatte „die Endlösung“ praktisch begonnen. Auf der Wannsee-Konferenz vom 20. Januar 1942 wurden die Deportationen aus den verschiedenen Gebieten Europas besprochen. Wie schon erwähnt, machte Martin Luther von der Abteilung Deutschland des deutschen Außenministeriums in dem Zusammenhang geltend, es könnten in einzelnen Ländern, zum Beispiel in Nordeuropa, Schwierigkeiten auftreten. Man solle daher in diesen Ländern mit einer gewissen Zurückhaltung vorgehen, aber das sei im Blick auf das Ganze nicht weiter bedeutend, weil es dort so wenige Juden gebe.61 Am gleichen Tage begann die systematische Registrierung von Juden in Norwegen. Zwischen dem Geschehen in Norwegen und der Wannsee-Konferenz gibt es natürlich keinen direkten Zusammenhang. Er liegt mehr auf der ideologischen Ebene: Auch in Norwegen ging es der Besatzungsmacht um die „Endlösung der Judenfrage“. Ungeklärt waren das Wie und das Wann. In den Niederlanden überwachten Eichmann und sein Referat im RSHA das 61 Das Wannsee-Protokoll findet sich z. B. bei Friedmann (1963). Das Originalzitat lautet so: „Unterstaatssekretär Luther teilte hierzu mit, daß bei tiefgehender Behandlung dieses Problems in einigen Ländern, so in den nordischen Staaten, Schwierigkeiten auftauchen werden, und es sich daher empfiehlt, diese Länder vorerst noch zurückzustellen. In Anbetracht der hier in Frage kommenden sehr geringen Judenzahlen bildet diese Zurückstellung ohnedies keine wesentliche Einschränkung.“

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Vorgehen sehr genau. Heydrich persönlich und Eichmann drückten in Frankreich aufs Tempo. In Belgien, das in mancher Hinsicht auch ein „schwieriges“ Gebiet war, musste die Sicherheitspolizei sich gegen die Militärverwaltung und die örtliche belgische Bürokratie durchsetzen.62 Aber wie war es in Norwegen? Weder Heydrich noch Eichmann kam nach Norwegen, um Druck zu machen. Es gibt auch in den Quellen so gut wie keinen Beleg dafür, dass das RSHA sich direkt dafür einsetzte, den Prozess in Norwegen zu beschleunigen.63 Heydrich sorgte indes dafür, dass Görings berüchtigter Brief an ihn vom 31. Juli 1941 (in dem er beauftragt wurde, „die Judenfrage“ zu lösen) an alle Befehlshaber der Sicherheitspolizei versandt wurde, also auch nach Oslo. In dem Begleitschreiben erklärte Heydrich in Kürze dies: Durch den Brief Görings habe ich den Auftrag erhalten, organisatorisch und materiell eine Endlösung der Judenfrage in allen Gebieten Europas, in denen deutscher Einfluss geltend gemacht ist, vorzubereiten. Die Arbeit ist von hier schon eingeleitet.64

Selbst als in Norwegen mit der Deportation auf der Donau die „Endlösung“ Wirklichkeit wurde, war Eichmanns Referat offenbar nicht gründlich informiert. Im Gegenteil, nach den Quellen zu urteilen mussten Eichmann und sein Deportationsexperte Rolf Günther überstürzt einen Zug für den Weitertransport von Stettin organisieren, und das in einer Zeit, als der Kampf um Stalingrad alle Ressourcen beanspruchte.65 Im Unterschied zu den Niederlanden gab es in Norwegen auch keinen einzigen Beamten, der zur ausschließlichen Beschäftigung mit antijüdischer Politik abgestellt war. Immerhin wurde im Herbst 1940 bei der Zentrale der deutschen Sicherheitspolizei in Oslo eine Stelle eingerichtet, die das Thema „Kirche, Freimaurer und Juden“ bearbeiten sollte, die Abteilung IV B. Ihr Leiter war bis Februar 1941 der Hauptsturmführer Walther Kolrep. Er war Fachmann für religiöse Sekten und hatte in Deutschland an der Überwachung und Unterdrückung der Zeugen Jehovas mitgewirkt.66 Die Überwachung von Sekten war mit antijüdischer Politik eng verbunden, denn für die SS waren Sekten „jüdisch-christlich“ und daher von „jüdischem Geist beeinflusst“. 62 Siehe Steinberg (1998 II). 63 Abrahamsen (1991) erwähnt das Engagement des RSHA für ein schnelleres Vorgehen in Norwegen, bleibt aber einen klaren Quellennachweis schuldig. 64 Nach von Lang (1983), Anhang „Dokumentation“. 65 Der konkrete Ablauf der Ereignisse im Herbst 1942 wird in Kapitel 6 eingehend analysiert. 66 Siehe Uwe Puschner, 2012, S. 363 f.

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Kolrep hatte in seiner Abteilung zwei Mitarbeiter, den Untersturmführer Erhard (Harry) Böhm und den Untersturmführer Klaus Großmann. Böhm war hauptsächlich für Angelegenheiten der Juden und Freimaurer zuständig, während Großmann sich mit Kirchenfragen befasste. Über Kolreps Dienstzeit in Norwegen ist wenig bekannt, aber im November 1940 ließ er den Schriftsteller Ronald Fangen festnehmen. Diese Festnahme sei hier exemplarisch behandelt, weil sie die Gedankenwelt der SS gut verdeutlicht und zugleich die Entsendung Wilhelm Wagners nach Norwegen erklärt. Fangen war 1934 von der religiösen Oxford-Bewegung inspiriert worden und hatte sich seither über viele und vieles negativ geäußert, nicht zuletzt über den Nationalsozialismus. Schon im Sommer 1940 hatte sich die Sicherheitspolizei für ihn interessiert. Neben anderen hatte auch Klaus Großmann ihn an seinem Wohnort aufgesucht. Fangen hielt Vorträge und schrieb Artikel, auch nach der deutschen Besetzung des Landes. Festgenommen wurde er in Oslo während eines Besuchs bei seinem Verleger Harald Grieg. Großmann hatte erklärt, ein Vorgesetzter interessiere sich für seine Vorträge und Artikel.67 Bei der Ankunft wurde Fangen in ein Zimmer gebeten, wo Kolrep saß und „ein älterer ziviler Mann im Wintermantel, obwohl der Raum überheizt war, ganz unbestimmbar nach Wesen und Profession“.68 Der Mann war Kolreps „Übersetzer“. Dann begann das erste Verhör. Kolreps Mann hatte Fangens Vorträge übersetzt. Zu einem von ihnen sagte Kolrep: „Dieser Vortrag ist ein direkter Angriff auf Deutschland.“ Fangen wurde nach seiner Meinung zu Rosenberg, zum Führer, zu Terboven befragt. Zu Terboven antwortete er: „Nichts. Ich kenne ihn nicht und hatte keine Gelegenheit, mir eine Meinung zu ihm zu bilden.“69 Erst nach einer ganzen Weile verriet Kolrep, warum Fangen überhaupt verhört wurde. Ein Mitreisender im Nachtzug nach Bergen hatte ihn denunziert.70 Fangen wurde „in Untersuchungshaft“ genommen und kam in das Gefängnis Møllergaten 19. Er erlebte nun eine „Bildungsreise“ in Gestapo-Methoden. Er wurde nicht gefoltert, aber immer wieder verhört. Bei einem dieser Verhöre wurde er nach den Juden gefragt. Betrachtete er sie als Menschen?

67 68 69 70

Ronald Fangen, I nazistenes fengsel (1975), S. 13. Ebd. S. 15. Ebd. S. 17. Ebd. S. 19.

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Ja, natürlich! Ich betrachtete sie als meine Mitmenschen. Menschen! schrie er, sie sind schlimmer als Hunde, schlimmer als Würmer! Sie sollen auf der Erde ausgerottet werden! Und hier wagen Sie es, für sie einzutreten – diesen Abschaum der Menschheit!71

Fangen hatte den Eindruck, wegen seiner Festnahme sei Kolrep von Fehlis persönlich ordentlich gerüffelt worden. „Er sollte mich nur verwarnen, mir höchstens ein Redeverbot erteilen.“ Dass Kolrep in Norwegen war, um sich mit kirchlichen Kreisen vertraut zu machen, geht auch aus anderen Quellen hervor. Ohne den Namen zu nennen, äußerte sich Bischof Eivind Berggrav später sehr sachkundig über ihn: Die Gestapo ist ein merkwürdiges Institut, denn seine Leute spionieren auch in den eigenen Reihen. Sie berichten nach oben und, wenn sie wollen, bis ganz an die Spitze. Sie sagten, sie könnten sogar Terboven umgehen. Aber nicht richtig ist, dass die Geheimdienstmänner nur wohlerzogene und nützliche Berichterstatter waren. Sie waren im gleichen Maße Polizisten, Denunzianten und Richter. Der Herr, der als Erster in mein Büro kam, um über die Kirche und ihre Arbeit informiert zu werden, war der nämliche, der später Ronald Fangen festnahm …72

Fangen meinte später, seine Festnahme habe zu Kolreps Abberufung geführt. „Er ist später nicht mehr wiedergekommen, betreibt aber seine Gestapotätigkeit wohl in einem anderen besetzten Land.“73 In dem Zusammenhang erwähnte er auch zum ersten Mal Kolreps Nachfolger, Obersturmführer Wilhelm Wagner: Als ich – Anfang März – hörte, Kohlreb [sic] sei verschwunden, schöpfte ich wirklich Hoffnung, freigelassen zu werden. Es ist auch sicher, dass sein Nachfolger Wagner, der meine ,Sache‘ erbte, sich gleich für meine Freilassung einzusetzen begann. Aber hatte Terboven gesagt, ich solle einsitzen, dann sollte ich auch einsitzen, wenn sich auch noch so sehr erwies, dass er seinen Beschluss auf der Grundlage gefälschten Materials gefasst hatte. Alle Eingeständnisse werden von den Nazisten als Schwachheit aufgefasst – und Schwachheit ist das Panikwort des unbesiegbaren Herrenvolkes. Kohlreb wurde aus Norwegen abberufen, aber ich sollte sitzen.“74 71 Ebd. S 68. 72 Berggrav (1945), S. 97. 73 Fangen (1975), S. 125. 74 Ebd.

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Kolreps Name taucht in den Quellen zur antijüdischen Politik in Norwegen praktisch nicht auf. Sein Nachfolger Wagner (seit dem 20. April 1941 Hauptsturmführer75) kam am 13. Februar 1941 in Norwegen an. Die Anfrage, ob er nach Norwegen gehen wolle, hatte ihn im Januar erreicht. Er selbst erklärte nie, woher diese Anfrage kam, sagte aber, er habe sich „sofort“ einverstanden erklärt. Vielleicht hatte jemand dem Reichsführer selbst den Tipp gegeben, Wagner sei der richtige Mann für den Posten.76 Am 13. Februar 1941 trat also Wagner an Kolreps Stelle. Am gleichen Tage wurde Bischof Berggrav zu einem Treffen in Terbovens Amtssitz Skaugum bestellt, wo Terboven selbst, der Höhere SS- und Polizeiführer Wilhelm Rediess, der Befehlshaber der Sicherheitspolizei Heinrich Fehlis sowie der Reichsführer SS Heinrich Himmler höchstpersönlich ihn erwarteten. Außerdem war eine unbekannte Person anwesend, in der Berggrav Himmlers Adjutanten vermutete. Berggrav nahm den Zug zum Bahnhof Asker und ging nervlich angespannt zu Fuß nach Skaugum. Den Fall Fangen erwähnte er nicht bei seinem Treffen mit Himmler und Terboven, das in der Hauptsache zu einem Streitgespräch zwischen den dreien geriet. Terboven und Himmler waren, so nahm Berggrav es wahr, in der Frage der Kirche uneins.77 Himmler wirkte aufgeschlossener als Terboven. Man mag Berggrav in dieser Sicht Himmlers etwas naiv finden, obwohl er selbst später zugab, das Ganze könne für den Chef der SS ein Spiel gewesen sein.78 Indessen ist es keineswegs ein Zufall, dass Wagner im Zusammenhang mit Himmlers Besuch nach Norwegen versetzt wurde. Dass Kolrep Fangen festnahm, war – mag auch eine Genehmigung von oben vorgelegen haben – ein Missgriff gewesen. Einer musste dafür die Schuld auf sich nehmen, und dazu wurde Kolrep selbst ausersehen. Wagner wurde wahrscheinlich nach Norwegen geholt, um den Kontakt zu norwegischen kirchlichen Kreisen zu halten und nach Möglichkeit ein Gegengewicht gegen das Quisling-Regime und Terbovens konfrontative Linie zu schaffen. Dies ist nicht so zu verstehen, als habe Himmler den verschiedenen Kirchen wohlwollend gegenübergestanden – das Gegenteil ist der Fall. Er war aber der Meinung, die endgültige Abrechnung mit den Kirchen müsse später kommen – nach dem gewonnenen Krieg. Wie eine solche Abrechnung ausgesehen hätte, bleibt unserer Phantasie überlassen. Möglicherweise sollte sich Wagner ursprünglich nur vorübergehend in Norwegen aufhalten. Denn seine vorgesetzte Dienststelle in Berlin, der Unterabschnitt 75 76 77 78

Bundesarchiv, SSO 216B, Beförderungsvorschlag vom 1. März 1941. RA, L-dom 2479-47, avhør av Wilhelm Wagner, 25. Juli 1945. Berggrav (1945) S. 166 ff. Ebd. S. 180 ff.

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Die Akteure

Groß-Berlin des Sicherheitsdienstes, die seine Beförderung zum Hauptsturmführer vorgeschlagen hatte, schrieb in der Begründung, dass er „sich zur Zeit zu einem Einsatzkommando in Norwegen befindet“.79 Zweifellos hat sich Wagner, schon ehe er nach Norwegen kam, mit den Arbeitsfeldern beschäftigt, für die er hierzulande die Verantwortung übernahm, aber mehr im Sinne „klassischer“ Geheimdiensttätigkeit. Wilhelm Arthur Konstantin Wagner war 1909 in Altenkirchen im Westerwald geboren. Der Vater war Rektor der Höheren Schule in der Stadt. 1929 machte Wagner in Betzdorf (Sieg) Abitur. Danach zog er mit der Familie nach Bad Godesberg. Im gleichen Jahr schrieb er sich als Student der Theologie und Philosophie an der Universität Bonn ein. 1934 legte er in Koblenz ein Examen als Mittelschullehrer ab. Er wurde als Lehrer an einer Schule in der Heimatstadt Godesberg eingestellt. Schon im Jahr davor war er in die NSDAP und in die SS eingetreten. Am 10. Oktober 1935 wurde er Mitarbeiter im RSHA in Berlin und 1936 zum SD-Unterabschnitt Groß-Berlin überstellt. Wagner war also Theologe, und er war in der evangelischen Kirche aktiv. Der Pfarrer der deutschen evangelischen Gemeinde in Oslo, Victor Hermann Günther, wurde zu einer vertrauten Kontaktperson. Günther gab nach dem Kriege zu, dass er an Wagner Stimmungsberichte geliefert hatte und von 1944 bis Kriegsende dafür auch bezahlt worden war.80 Wagner kam dabei zunutze, dass Günthers Frau Jüdin war. Sie wurde ganz inoffiziell von der Registrierung und anderen Schikanen ausgenommen. Am wichtigsten war aber, dass Günther, der schon vor dem Ersten Weltkrieg nach Norwegen gekommen war, gute Kontakte zu kirchlichen Kreisen hatte. So bekam auch Wagner Kontakte, u. a. zu Ole Hallesby und Ludvig Hope, die in der oppositionellen Provisorischen Kirchenleitung an führender Stelle standen. In einer Hallesby-Biographie wird Wagner als „Kirchenüberwacher“ bezeichnet.81 Sowohl Hallesby als auch Hope sagten bei der Verhandlung gegen ihn nach dem Kriege als Zeugen für ihn aus. Dass Wagner sich Hallesby zu nähern suchte, zeigt die folgende Passage aus der erwähnten Biographie des norwegischen Theologieprofessors: Eines Tages kam Hauptsturmführer Wilhelm Wagner in das Haus Gabels gate 43 zu einem Besuch, zu dem er sich selbst angemeldet hatte. Er war Chef der Abteilung des deutschen Sicherheitsdienstes, die die Kirche, die Freimaurerei und die Juden über79 Bundesarchiv, SSO 216B, Beförderungsvorschlag vom 1. März 1941. 80 RA, L-dom 2479-47, avhør av Victor Hermann Günther, 4. februar og 11. februar 1946. 81 Norborg (1979), S. 193.

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wachte. Man weiß nicht, was die beiden Männer besprachen, aber kurz darauf brachen auch in Norwegen die Judenverfolgungen los.82

Merkwürdigerweise wandte sich Hallesby nicht an Wagner, als die Aktion gegen die Juden eingeleitet wurde, sondern an Dr. Karl Ohm, den Leiter der SD-Rechtsabteilung in Oslo. Dieser antwortete ihm, die Norweger verstünden nichts von „der Judenfrage“. Das Hauptargument, das er Hallesby mit auf den Weg gab, war, dass „wir […] uns [gegen die Juden] sichern müssen“.83 Hope und Hallesby hatten viel Kontakt mit Wagner, nachdem sie Anfang 1943 festgenommen und in das Lager Grini eingeliefert worden waren. Sie hatten den Eindruck, er bemühe sich um ihre Freilassung. Indessen war es Wagner, der sie am 13. Januar 1943 in das Gestapo-Hauptquartier Victoria terrasse in Oslo bestellt hatte: Als wir in sein [Wagners, der Verf.] Zimmer kamen, war er sichtlich nervös und sagte sofort: Wir sollen heute zum Reichskommissar kommen. Und dann fügte er hinzu: Ja, nun kommt es darauf an, welche Laune er heute hat. Worauf ich antwortete: Kommt es auf die Laune an?84

Dass Wagner die kirchlichen Milieus genau überwachte, geht auch aus Grete Berggravs Bericht hervor. Sie war die Schwester des Bischofs, und als ihr Bruder im April 1942 festgenommen wurde, suchte sie herauszufinden, wer dahinterstand. Sie bemühte sich, G. W. Müller zu erreichen, Terbovens Propagandachef im Storting, traf jedoch nur seine Sekretärin an. Die empfahl ihr, zur Victoria terrasse zu gehen, und fügte hinzu: „Ich werde anrufen und Sie beim Chef der Norwegischen Kirche, Herrn Wagner, anmelden.“85 Ihr erster Eindruck von Wagner war typisch: Der ,Chef der Norwegischen Kirche‘, Herr Wagner, empfing mich korrekt und höflich. Seine ganze Art wirkte kultiviert, und er war sehr elegant gekleidet. Er fragte nicht, wer ich sei, oder nach meinem Verwandtschaftsverhältnis zum Bischof. Es mag merkwürdig klingen, aber ich hatte den Eindruck, dass er mehr von mir wusste, als mir lieb war. 86

82 83 84 85

Ebd, S. 189. Ebd. S. 190. Ebd. S. 193. Grete Berggrav (1945), S. 52 f. Das Kapitel beginnt auf S. 51 und ist betitelt Et besøk hos herr Wagner. 86 Ebd. S. 53.

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Die Akteure

Wagner erklärte, er habe mit Berggravs Verhaftung nichts zu tun. Er bat die Schwester, sich an Quisling zu wenden, aber ließ gleichwohl durchblicken: „Der Einzige, der auf die Frage antworten kann, ist der Reichskommissar.“ Grete Berggrav wurde nicht festgenommen. Ein halbes Jahr später versteckte sie Juden in ihrer kleinen Wohnung im Stadtteil Frogner.87 Wagner pflegte auch ziemlich sonderbare Kontakte. Einer davon war der Pfarrer Hans Egede Nissen, der 1940 die Zeitung Germania herausgab und für eine „germanische Sammlung“ in Norwegen kämpfte. Nissen war ein Gegner Quislings, aber war dem Historiker Øystein Sørensen zufolge während der Besatzungszeit „ein sozialer Außenseiter, alkoholisiert und ohne Arbeit“.88 Nissens Gegnerschaft zu Quisling passte indessen gut zu den Plänen der SS in Norwegen. Unter anderem bekam Wagner von Nissen Informationen über die Freimaurer.89 Wagner spielte also auf mehreren Feldern und bewegte sich in den verschiedensten Milieus. Antijüdische Politik gehörte zu seinem Aufgabengebiet. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger Kolrep taucht er in den Quellen relativ früh auf, aber auch hier erscheint er oft, im Unterschied zu seinem Untergebenen Harry Böhm, als einigermaßen „zivilisiert“. Das war natürlich auch eine klassische Polizeiinszenierung: Wagner sollte zivilisiert, Böhm sollte der Rüpel sein. Die Vorstellung vom zivilisierten Wagner hielt sich in vielen Kreisen auch nach dem Krieg; Hallesby und Hope habe ich schon erwähnt. Aber auch Berggrav ist in dem Zusammenhang zu nennen; vermutlich trug er entscheidend dazu bei, dass Wagner, der zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt war, kurz vor Weihnachten 1951 begnadigt wurde.90 In einem Brief nannte Berggrav im März 1952 drei Hauptgründe dafür, dass er im Stillen für Wagners Freilassung gewirkt hatte: 1. Ich habe immer das Gefühl gehabt, dass Sie eigentlich ein guter Mensch sind. 2. Es hat großen Eindruck auf mich gemacht, als Sie vom Zustand Ihrer Frau sprachen. 3. Ich finde nicht, dass Sie für die Juden-Affäre verantwortlich waren.91 87 Ebd. S. 77 ff. 88 Sørensen (1995), S. 72 89 Zu Egede Nissen und Wagner siehe NHM 8, F 8c 0002, Mappe 1, avskrift av brev fra Hans Egede Nissen til Sverre Helliksen, 30. januar 1952. 90 Die Begnadigung erfolgte offiziell durch Kabinettsbeschluss vom 21. Dezember 1951. Siehe RA, L-dom 2479-47, brev fra Fengselsstyret til Bjørkelangen tvangsarbeidsleir [Brief der Gefängnisleitung an das Zwangarbeitslager Bjørkelangen], 24. desember 1951. Wagner verließ Norwegen von diesem Lager aus, nachdem er im Januer 1952 einen Pass erhalten hatte. 91 Staatsarchiv Freiburg, F-175/16-24, Brief von Bischof Berggrav an Wilhelm Wagner vom 31. März 1952.

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Berggrav hatte ebenso wie Hallesby und Hope in der Haftzeit (die in seinem Falle Hausarrest bedeutete) mit Wagner gute Erfahrungen gemacht. Sein Brief zeugt aber von einer äußerst naiven Haltung zur deutschen Sicherheitspolizei und den Männern, die in ihr Dienst taten. Wagner galt also als einer der „zivilisierten“ Gestapomänner, und das bewahrte ihn vor dem Todesurteil. Er selbst war sich darüber im Klaren, dass seine Beschäftigung mit Kirchenangelegenheiten ihm das Leben retten könnte. Im September 1945, als er auf der Festung Akershus in Oslo in Untersuchungshaft saß, schrieb er darüber einen eigenen Bericht, in dem er hervorhob, dass er sehr maßvoll aufgetreten sei und Erleichterungen für Berggrav, Hallesby und Hope erwirkt habe.92 Für norwegische Juden war dies das Deprimierendste an der Abrechnung nach dem Krieg. Marcus Levin schrieb an den Reichsanwalt, nachdem das Oberste Gericht Wagners Strafe auf 20 Jahre reduziert hatte: Eine so milde Strafe für ein Verbrechen, für das der Angeklagte in allen Punkten für schuldig erkannt worden ist, muss nach meiner Meinung auf die ganze rechtliche Abrechnung verwirrend wirken, und nach meiner Meinung können künftig kaum noch Strafen verhängt werden, die über 20 Jahre Zwangsarbeit hinausgehen – unbeschadet der Schwere des Verbrechens –, wenn ein Urteil wie das im Prozess gegen Wagner ohne Weiteres akzeptiert wird. Man kann sich nicht des Eindrucks erwehren, dass das Urteil Ausdruck einer Herabwürdigung der bestimmten Menschengruppe ist, um die es hier geht, und man fragt sich, ob das Gericht zum gleichen Ergebnis gekommen wäre, wenn es um eine ähnlich große Gruppe norwegischer Staatsbürger irgendeiner anderen zufälligen Zusammensetzung gegangen wäre.93

Aber auch einzelne Juden fanden Wagner manchmal zivilisierter als andere Repräsentanten der Besatzungsmacht. Harry (Meier) Koritzinsky, der 1946 Vorsteher der Mosaischen Glaubensgemeinschaft in Oslo wurde, traf in den Jahren 1941 und 1942 ungefähr 20-mal Wagner oder dessen Mitarbeiter Böhm. Als er sich im Prozess gegen Wagner bei der Polizei als Zeuge meldete, unterstrich er, dass Wagner im Unterschied zu Böhm nicht aggressiv aufgetreten sei.94

92 Staatsarchv Freiburg, F-75/24 Mappe II, Bericht des Gefangenen Nr. 157, Wilhelm Wagner, vom 9. September 1945. 93 DMT AS-11015, Mappe 2, avskriftav brev fra Marcus Levin til Riksadvokaten, 5. april 1947. 94 RA, L-dom 1479/47, brev fra Harry Koritzinsky til Oslo politikammer, landssvikavdelingen [Abteilung Landesverrat], Stockholm 4. desember 1945. Vgl. außerdem Kapitel 9 zu den Behauptungen über Harry Koritzinsky bei Michelet (2014).

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Die Akteure

Zusammenfassend können wir feststellen, dass es sehr vielen Norwegern schwerfiel, die manipulierende Rolle der deutschen Sicherheitspolizei zu durchschauen. Vor allem war es für viele schwer zu erkennen, dass ein SD-Mann „zivilisiert“ auftreten und doch zugleich Aktivist sein konnte. Die einzelnen Referenten in der Sicherheitspolizei hatten eine erhebliche Macht und konnten persönlich die Initiative ergreifen. Sie hielten sich nach Möglichkeit zurück, aber traten wenn nötig selbst ins Rampenlicht. Auch Wagner konnte das im Herbst 1942 nicht vermeiden, als die Aktionen gegen die Juden in ihre extreme Phase traten. Sein Name taucht sowohl in Berichten der Flüchtenden als auch in der ausländischen Presse auf. Er war der prominenteste beteiligte Akteur. Viele haben Wagner von einer anderen Seite kennengelernt als der, die er seinen Kontaktpersonen in Kirchenkreisen zeigte. In den Quellen erscheint er als zynisch antijüdisch. Er nahm seine Aufgaben ernst und war in vielerlei Hinsicht effektiv. Für die Männer der Staatspolizei war er der Vorgesetzte. Er war bei ihnen und im Innenministerium auch geachtet, weil er über die Juden so viel wusste. Dieses Wissen beruhte auf der Judenkartei, die anzulegen man schon vor seiner Ankunft in Norwegen begonnen hatte. Er hatte in Zweifelsfragen das letzte Wort; er entschied insofern in vielen Fällen über Leben und Tod. Andere schriftliche Quellen kennen Wagner als Leiter des sogenannten Sonderreferats, der Abteilung IV S der Gestapo. Dorthin wurde er im Herbst 1943 versetzt.95 Alles deutet darauf hin, dass er auch danach noch Kontakte zu kirchlichen Kreisen hatte. Das Sonderreferat spielte eine wichtige Rolle bei dem, was die Sicherheitspolizei Bandenbekämpfung nannte, dem Kampf gegen Widerstandsgruppen. Das Sonderreferat sammelte alle Informationen über diese Gruppen, über Material, das Flugzeuge aus England in Norwegen abwarfen, über Sabotagehandlungen, die die einzelnen Dienstorte der Sicherheitspolizei meldeten usw. Berichte gingen an den Höheren SS- und Polizeiführer Rediess und an das RSHA in Berlin. Wagner gehörte auch zu Rediess’ Stab und arbeitete dort als Nachrichtenoffizier.96 Aber nach einem Organisationsplan aus der Schlussphase des Krieges war das Sonderreferat auch zuständig für Angelegenheiten von Juden. Wagner war also auch nach der Übernahme anderer Aufgaben weiter Sachbearbeiter auf diesem Gebiet.97 Von Wagners beiden Mitarbeitern war Harry Erhard Böhm in der antijüdischen Politik der aktivere. Wir werden ihm im Folgenden noch oft begegnen. Er war schon 95 RA, L-dom 2579/47. I henhold til avhør 25. juli 1945 ble Wagner overført IV S i septemer1943 [Laut Vernehmung vom 25. Juli 1945 erfolgte die Versetzung im September 1943]. 96 Kjeldstadli (1959), S. 112 f. 97 Hinrichs (2000), S. 35.

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aktiv, bevor Wagner nach Oslo kam, und hatte u. a. Kontakte zu sehr radikalen antisemitischen Kreisen hergestellt. Wagner wurde durch Böhm mit dem Architekten Eugen Nilsen bekannt, dem Herausgeber der antisemitischen Zeitschrift Fronten, und ebenso mit Mikal Sylten, dem Herausgeber der Nationalt Tidsskrift und des Handbuches Hvem er hvem i Jødeverden [Wer ist wer in der Judenwelt].98 Böhm war 1913 in Plauen im Vogtland geboren. Allem Anschein nach kam er mit der ersten Gruppe von SD-Leuten im April 1940 nach Norwegen. Er kam vom SD-Leitabschnitt Leipzig, wo er sich auch schon mit Angelegenheiten der Kirche, der Freimaurer und der Juden beschäftigt hatte. Offenbar hatte er zu diesem Zeitpunkt den Rang eines Unterscharführers (Unteroffiziers), aber er muss recht bald zum Untersturmführer (Leutnant) befördert worden sein. Er verließ Norwegen im Herbst 1943 und wurde nach Riga versetzt.99 Böhms Name taucht in Berichten über Maßnahmen gegen Juden regelmäßig auf. Er nutzte Juden aus und bestahl einige von ihnen. Er stand auf der Mannschaftsliste des sogenannten Sonderkommandos der Sicherheitspolizei (nicht zu verwechseln mit Wagners Sonderreferat). Das Sonderkommando wurde von Hauptsturmführer Oscar Hans geleitet,100 und sein ursprünglicher Zweck war die Bewachung von Victoria terrasse und anderen zentralen Gebäuden. Die Mitglieder des Sonderkommandos waren keine Freiwilligen; sie mussten diesen Dienst zusätzlich zu anderen Aufgaben versehen. Das Sonderkommando bekam nach und nach radikalere Aufgaben: die Verantwortung für Hinrichtungen und Erschießungen von Gefangenen. Oscar Hans und andere Männer vom Sonderkommando wurden bei der Ausrufung des Ausnahmezustands nach Trondheim geschickt (siehe Kapitel 6). Für solche Aufgaben galt das Rotationsprinzip, sodass alle 58 Mann des Sonderkommandos einmal an die Reihe kamen. Böhm war einer von fünf Untersturmführern des Kommandos, und so ist anzunehmen, dass er gelegentlich an Hinrichtungen teilnahm.101 98 RA, L-dom 2479/47, avhør av Wilhelm Wagner 25. Juli 1945, s. 5 f. 99 Staatsarchiv Freiburg, F 175/16 Nr. 24, Vernehmung von Erhard Harry Böhm in BadenBaden am 13. Januar 1966. Böhms SSO-Mappe fehlt im Bundesarchiv. Siehe auch NHM 8, F-8c 0008. Mappe 5. 100 Dahl et al. (1995), S. 198. Oscar Hans war 1910 in Volmeringen in Lothringen geboren. Nach Norwegen kam er im April 1940. Seine erste Aufgabe als Chef des Exekutionstrupps war im September 1941 die Leitung der Hinrichtung von Viggo Hansteen und Rolf Wickstrøm. Angeblich leitete er die Hinrichtung von 312 Norwegern. 78 von ihnen waren nie einem Richter vorgestellt worden. Hans wurde 1947 zum Tode verurteilt, aber das Urteil wurde vom Obersten Gericht aufgehoben. Er wurde ausgewiesen, aber später von einem britischen Gericht in Deutschland wegen der Hinrichtung von sechs britischen Soldaten in Trandum zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt. 101 NHM 152/3, OWIS 3, 28. Juni 1945.

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Die Akteure

Nach dem Krieg wusste er sehr genau, dass die Vergangenheit ihn einholen könnte. Er änderte seinen Namen in Erhard Böhmer und gab als Geburtsort Hamburg an. Das deckte die deutsche Polizei 1954 auf und leitete gegen ihn einen Strafprozess wegen Urkundenfälschung ein – aber ohne dass die Vergangenheit ihm deswegen schadete.102 Böhm wurde somit wegen krimineller Taten oder Verstößen gegen das Völkerrecht nie verurteilt. Mir ist nicht bekannt, wann er starb. Klaus Großmann ist uns schon im Zusammenhang mit Ronald Fangen begegnet. Er war 1912 in Königsberg in Preußen geboren. Von Beruf war er Gärtner. Auch er kam schon im April 1940 nach Norwegen. Vor dem Krieg arbeitete er bei der Gestapo in Tilsit. 1937 heiratete er Erika Schrang; das Paar bekam drei Kinder, geboren 1940, 1941 und 1943.103 Sein Bild ist in den Quellen zunächst weniger deutlich als das Wagners und Böhms. Doch bei den Deportationen von Juden mit den Schiffen Donau und Gotenland war er Transportleiter und damit praktisch Chef der als Bewacher eingeteilten deutschen Ordnungspolizisten. Großmanns Frau brachte das dritte Kind genau an dem Tag zur Welt, als die Gotenland den Osloer Hafen verließ, am 25. Februar 1943. Böhm erklärte bei seiner Vernehmung durch die deutsche Anklagebehörde 1966, dass Großmann sich auf den Transport gefreut habe, weil er so Gelegenheit zu einem Urlaub zu Hause in Ostpreußen bekam.104 An Bord beteiligte er sich an der Durchsicht des Gepäcks der Juden, vielleicht um etwas zu finden, das er seiner Familie mitbringen könnte (siehe Kapitel 6). Großmann trat deutlicher in den Vordergrund, als er im Mai 1943 Leiter der Außenstelle Drammen wurde. Laut Aussage des SD-Chefs Herbert Noot war er „groß und schlank und hatte ein sympathisches Wesen“.105 Die Menschen, die ihm als „Transportchef “ an Bord der Donau und der Gotenland ausgeliefert waren, erlebten ihn von einer anderen Seite. In Drammen war er bald als Folterer berüchtigt.106 Im Januar 1945 war er an den Gegenterrormorden beteiligt, die von dem Gestapochef Hellmuth Reinhard unter dem Decknamen Blumenpflücken angeordnet wurden. Danach wurde er Leiter der Außenstelle Skien. Am 8. oder 9. Mai 102 Staatsarchiv Freiburg, F 175/16 Nr. 24, Brief des Polizeipräsidiums Offenbach an den Untersuchungsrichter beim Landgericht Baden-Baden vom 4. Januar 1966. 103 Bundesarchiv, SSO 38A, RuSHa Großmann, Klaus. 104 Staatsarchiv Freiburg, F 175/16 Nr. 24, Vernehmung von Erhard Harry Böhm in BadenBaden am 13. Januar 1966. Böhm bezeichnete bei der Gelegenheit zugleich Großmann als Wagners Stellvertreter. 105 Nøkleby (2003), S. 127. Noot erklärte auch: „Die Kameraden schätzten ihn wegen seiner bescheidenen und kameradschaftlichen Wesensart.“ 106 Ebd. S. 128. Großmanns Hauptquartier in der Stadt war das Haus Bergstien 55. Er selbst wohnte im Nachbarhaus Bergstien 53 C.

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beging er Selbstmord „auf den Königsgräbern bei Borre“.107 Sturmbannführer Hellmuth Reinhard kam im Februar 1942 als Gestapochef nach Norwegen, nachdem Werner Knab im Spätherbst 1941 versetzt worden war.108 Geboren war er 1911 in Unterwerschen in Sachsen unter dem Namen Hellmuth Patzschke. Er änderte seinen Namen 1939, wahrscheinlich weil er den Namen Patzschke zu „slawisch“ fand.109 Dem Sicherheitsdienst gehörte er seit 1935 an. Reinhard war Jurist. 1938 wurde er Leiter einer von Himmler eingesetzten historischen Kommission. Diese sollte unter dem Namen Arbeitskommando der Historischen Kommission des Reichsführers SS den Putschversuch gegen das faschistische Dollfuß-Regime in Österreich 1934 untersuchen, um Personen zu ermitteln, die den Aufruhr niedergeschlagen hatten. Reinhards Arbeit in Wien war klassische Gegner-Forschung, die Widerstand gegen den Nationalsozialismus erklären sollte. Nach einem missglückten Versuch, Soldat in der SS zu werden,110 wurde Reinhard zum Befehlshaber der Sicherheitskräfte in Den Haag versetzt, wo er die Gestapo-Arbeit in Amsterdam leitete und zugleich Leiter der Zentralstelle für jüdische Auswanderung war. Über seine Tätigkeit dort ist wenig bekannt, aber die Niederlande waren zu dem Zeitpunkt das Land in Westeuropa, in dem die Vorbereitungen zur „Endlösung der Judenfrage“ am weitesten fortgeschritten waren. Seit dem 23. Oktober 1941 galt ein offizielles Ausreiseverbot für Juden.111 Ob Reinhard für dieses Verbot direkt verantwortlich war, ist nicht klar, denn ungefähr zur gleichen Zeit wurde er zur Einsatzgruppe C in Kiew versetzt, die kurz vorher in Babij Jar über 30.000 Juden ermordet hatte. Er wurde dem Stab des Chefs zugeordnet; das war seit Dezember 1941 der Oberführer Erich Ehrlinger. Die beiden waren früher Kollegen im RSHA gewesen, und Ehrlinger war vermutlich einer von denen, die Reinhard damals zum Leiter der erwähnten Kommission vorgeschlagen hatten (Ehrlinger war übrigens gleichzeitig mit Reinhard in Wien tätig). Später war Ehrlinger unter Stahlecker Leiter eines Einsatzkommandos im Baltikum, wo er Tausende in den Tod schickte. Er war auch in Norwegen gewesen: Von August 1940 bis Februar 1941 hatte er – von Himmler persönlich beauftragt – Sol-

107 Ebd. S. 128. Nøkleby datiert den Selbstmord auf den 8. Mai, andere halten den 9. für das richtige Datum. 108 Er war zu dem Zeitpunkt offiziell nur Hauptsturmfüher (Hauptmann). Seine Beförderung zum Sturmbannführer (Major) wurde erst im Juni 1943 bestätigt (Bundesarchiv, SSO 20B). 109 Ugelvik Larsen et al. (2008), S. LXXIX. 110 Wirtz (2014), S. 461 f. Reinhard hatte sich eine Knieverletzung zugezogen. 111 Ugelvik Larsen et al. (2008), S. LXXIX.

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Die Akteure

daten für die Waffen-SS geworben.112 Vielleicht war es daher Ehrlinger, der veranlasste, dass Reinhard als Chef der Abteilung IV beim Befehlshaber der Sicherheitspolizei nach Oslo versetzt wurde. Und in dieser Funktion, als Gestapo-Chef in Norwegen, wurde er nachhaltig bekannt. Er war für alle Maßnahmen gegen Regimegegner verantwortlich und war Wagners Vorgesetzter. Als Gestapo-Chef informierte er das RSHA über den „plötzlichen“ Donau-Transport am 25. und 26. November 1942, ohne dass er als Täter bei den Aktionen gegen die Juden besonders hervortrat (siehe Kapitel 6). Ungefähr zur gleichen Zeit versandte er ein Rundschreiben mit Anweisungen dazu, wie die verschiedenen Kategorien Inhaftierter in deutschen Gefängnissen und Lagern in Norwegen zu behandeln seien. Sie sollten in drei Gruppen eingeteilt werden, für „leichte Häftlingsbehandlung“, „normale Häftlingsbehandlung“ und „harte Häftlingsbehandlung“. Alle Juden sollten zusammen mit Schwerkriminellen und den sogenannten Nacht-und-Nebel-Gefangenen zur dritten Gruppe gehören. Die NN-Gefangenen waren politische Häftlinge aufgrund von Hitlers Nacht-und-Nebel-Erlass vom 22. Mai 1942. Sie sollten nach Deutschland geschickt werden und in dortigen Lagern „in Nacht und Nebel“ verschwinden.113 Reinhards Einstellung zu Juden äußerte sich in seiner Tätigkeit regelmäßig. Er liebte es, Häftlinge persönlich zu verhören, und fragte dabei stets, ob die Familie jüdisch versippt sei.114 Seine Hauptaufgabe war der Kampf gegen die Widerstandsbewegung, aber immer galt: Die Juden standen dahinter. Auch andere Männer der Sicherheitspolizei werden uns in diesem Buch noch begegnen. Hauptsturmführer Wilhelm Esser, den einige für den eigentlichen Chef der Gestapo-Arbeit in Norwegen halten,115 war derjenige, der im Mai 1940 der norwegischen Polizei befahl, die Radioapparate der Juden zu kassieren. Später wandte er sich zusammen mit Wagner an die Dienststelle der Kriegsmarine in Oslo, um einen Schiffstransport zu „bestellen“ – die Gotenland für die Deportation im Februar 1943.116 Hauptsturmführer Werner Wesche, der in der Verwaltungsabteilung beim BdS arbeitete, war tief in die wirtschaftlichen Maßnahmen gegen Juden verwickelt. Er revidierte die Abrechnungen von Fleschs Beschlagnahmungen der jüdischen Ver112 Wildt (2003), S. 509 f. Zu Ehrlinger in Kiew siehe Wirtz (2014) S..455. 113 NHM 221 Mappe 1, Rundschreiben von Hellmuth Reinhard vom 20. November 1942. 114 Siehe z. B. Staatsarchiv Freiburg, F 175/16 Nr. 24, Strafsache gegen Hellmuth Reinhard beim Schwurgericht Baden-Baden am 12. Juni 1967, S. 120 ff., Zeugenvernehmung von Harald Pande. 115 So z. B. Nøkleby (2203), S. 221. 116 Staatsarchiv Freiburg, F 175/16 Nr. 24, Strafsache gegen Hellmuth Reinhard beim Schwurgericht Baden-Baden am 12. Juni 1967, Zeugenvernehmung von Wilhelm Esser.

Die norwegische Zentralverwaltung nach der Neuordnung

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mögen in den Bezirken Møre og Romsdal und Trøndelag, aber beteiligte sich auch selbst aktiv an der Einziehung von Mitteln aus Betrieben des Konfektionsfabrikanten Moritz Rabinowitz. Und er hatte zu tun mit der Schätzung und dem Einschmelzen des Goldes und Silbers der Juden (das Quisling als freiwilligen Beitrag für den Kriegseinsatz zur Verfügung stellte). Andere SD-Angehörige spielten eine Rolle von dem Moment an, da antijüdische Maßnahmen in ihr Arbeitsgebiet fielen. Der Gestapochef in Trondheim, Hauptsturmführer Walter Hollack,117 gab am 24. November 1942 dem Chef der Staatspolizei und der Kriminalpolizei der Stadt den Befehl, die Deportation der Juden aus der Stadt vorzubereiten. Hans Hartung überwachte und unterstützte die Festnahmen in Bergen am 26. Oktober und 25. November 1942.118 Für die Sicherheitspolizei hatte die Verhaftung von Juden einen tiefen Sinn als Abrechnung mit den Gegnern des Regimes. Die antijüdischen Aktionen nannten sie oft „Sicherstellung der Feinde des Regimes“, wie überhaupt der Krieg ein Verteidigungskrieg gegen diejenigen war, die die germanische Rasse bedrohten. Die Juden waren für sie nicht Sündenböcke in einem gegen Nazi-Deutschland gerichteten Krieg der Worte. Sie waren der Feind schlechthin.

DIE NORWEGISCHE ZENTRALVERWALTUNG NACH DER NEUORDNUNG Nach dem Zusammenbruch der Reichsratsverhandlungen ernannte Terboven wie erwähnt einige sogenannte kommissarische Minister. Grundsätzlich waren sie Terboven direkt berichtspflichtig. Sie waren also keine Regierung im eigentlichen Sinne des Wortes. Dennoch kamen sie jeden Freitag zu einer Sitzung zusammen. Auch Vidkun Quisling war dabei anwesend, obwohl er erst nach dem sogenannten Staatsakt vom 1. Februar 1942 zum Ministerpräsidenten ernannt wurde.119 Zehn der von Terboven berufenen kommissarischen Minister kamen aus Nasjonal Samling. Aber Terboven hielt allem Anschein Nach NS bewusst fern vom Handelsministerium (geleitet von Sigurd H. Johannessen), dem Versorgungministerium (Øystein Ravner) und dem Finanzministerium (Erling Sandberg). Der Historiker Helge Paulsen beschreibt das so: 117 Hollack, geb. 1903 in Berlin, kam nach Trondheim zusammen mit Gerhard Flesch. Am bekanntesten wurde er als Folterer. Siehe Nøkleby (2003), S. 227. 118 Hartung, geb. 1903 in Essen, war Chef der Abteilung IV (Gestapo) unter dem Kommandeur der Sicherheitspolizei, Obersturmbannführer Hans Wilhelm Blomberg. Er wurde offenbar im Spätherbst 1942 nach Frankreich versetzt. Siehe Bundesarchiv, RSHA, Hartung, Hans. 119 Paulsen (1976), S. 200 ff.

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Die Akteure

Diese drei Ministerien hielt der Reichskommissar für so wichtig für das Wirtschaftsleben, das die Deutschen sich in Norwegen zunutze machen wollten, dass er einstweilen unpolitische Fachleute vorzog, als Garantie gegen unrentable Experimente in der Wirtschaftspolitik. Vielleicht wollte Teboven damit auch Quisling gezielt verletzen.120

Nach dem Staatsakt vom 1. Februar 1942 wurden auch die drei genannten Ministerien von NS-Leuten übernommen. Quisling konnte nun auch Gesetze ausfertigen, und er unterzeichnete antijüdische Gesetze, die im Herbst 1942 in Kraft traten. Hitlers Verordnung vom 24. April 1940 wurde indes nie aufgehoben, und immer wieder wurde festgestellt, dass Terboven (und nur er) Leiter der zivilen Verwaltung in Norwegen war. Dass in diesem Punkt zwischen ihm und dem Quisling-Regime ein Konflikt bestand und dass Quisling eine nationale Regierung wünschte, war letztlich belanglos. Alle „Bestrebungen, sich von der Kontrolle durch Terboven loszureißen, scheiterten“: Es war einfach eine Tatsache, dass die Überregierung in Norwegen Reichskommissariat hieß und dass Quisling und seine ,nationale Regierung zu den Behörden zählten, derer Terboven sich laut Führererlass bedienen konnte. Ob das Kollegium, dessen er sich bediente, kommissarische Minister hieß oder nationale Regierung, war von untergeordneter Bedeutung; im Wesentlichen war und blieb es für die deutschen Behörden in Norwegen ein hilfloses Werkzeug.121

Mit anderen Worten kann man das Quisling-Regime mit Fug und Recht als typisches Kollaborationsregime bezeichnen, das in Wirklichkeit die Besatzungsmacht praktisch und ideologisch stützte. Andererseits waren auch Terboven und die Besatzungsmacht durch ihre Unterstützung von Nasjonal Samling gebunden. Ein Rückzug war unmöglich, wenngleich Quisling und sein Regime auf den Widerstandskampf in Norwegen in vielfacher Hinsicht wie ein Magnet wirkten. Die Neuordnung der Kommunen, der Organisationen, der Schulen und der Kirche intensivierte den zivilen Widerstandskampf. Terboven und andere deutsche Organe, auch die Sicherheitspolizei, standen mehreren dieser Vorstöße oft skeptisch gegenüber, aber „die Neuordnung“ war ja auch von ihnen gewollt. In der Politik gegen die Juden waren aber Quisling und sein Regime nicht nur ein Werkzeug der Besatzungsmacht; sie waren willige Mitläufer, die eine brutale 120 Ebd. S. 202. 121 Ebd. S. 203.

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und schnelle Lösung durchsetzten. Und sie wurden manchmal auch selbst tätig in einer Weise, die die Besatzungsmacht irritierte, zum Beispiel mit dem Gesetz, das den gesamten jüdischen Besitz zugunsten des Staates einzog. Die Irritation ließ sich aber aus dem Weg räumen durch eine interne Absprache zwischen Terboven und Quisling, nach welcher auch die Besatzungsmacht – und nicht zuletzt Terboven selbst – ihren Teil der Beute abbekamen (siehe Kapitel 8). Die wichtigsten in der antijüdischen Politik engagierten Ministerien waren das Ministerium für Justiz (unter Sverre Riisnæs), für Polizei (unter Jonas Lie), für Inneres (unter Albert Viljam Hagelin) und für Finanzen (unter Frederik Prytz). Von diesen wurde Hagelins Innenministerium in der Praxis das wichtigste Instrument. Es entschied darüber, wessen Vermögen nach dem Gesetz vom 25. Oktober 1942 eingezogen werden sollte. Es verantwortete ferner das Gesetz über Meldepflicht für Juden, das auch die Registrierung von „Halbjuden“ und „Vierteljuden“ ermöglichte. Später erarbeitete es ein „Gesetz über gewisse Bestimmungen für Juden“, das dann nicht eingeführt wurde. Zu Hagelins Ministerium gehörten auch die Stellen, die speziell für Rassenpolitik zuständig waren: die Staatsrechtsabteilung unter Ragn­vald Lassen und das Bevölkerungsamt unter Sigurd Saxlund. Beide bemühten sich, die Rassenpolitik in Norwegen zu einem logischen Ende zu bringen, und das hieß, „jüdisches Blut“ vom norwegischen „Volkskörper“ fernzuhalten (siehe Kapitel 9). Das Justizministerium bekam auf dem Gebiet erstaunlich wenig zu tun. Sein Chef Sverre Riisnæs war aber ein entschiedener Antisemit und ergriff einige Initiativen gegen die Juden. So beauftragte er seine Sekretäre, alle Rechtsanwaltslizenzen des Landes durchzusehen, um Juden auszuschalten. 1941 versandte er ein Rundschreiben zur Registrierung der Immobilien von Juden. Nach der großen Aktion gegen die Juden verlangte er ein Eheverbot zwischen Personen „jüdischen Blutes“ und „Ariern“. Auch befand sich Riisnæs anscheinend am 26. November 1942 am Pier I im Osloer Hafen, als die Donau ablegte. Zu der Zeit war er zugleich stellvertretender Polizeiminister, denn Jonas Lie befand sich an der Ostfront. Anfang November konnte Riisnæs triumphierend an Lie schreiben: „Nun schaffen wir die Juden aus der Welt, und zwar nachdrücklich“.122 Schließlich war Riisnæs an der Ausarbeitung des Gesetzes über die Einziehung des Vermögens der Juden beteiligt. Für diese Einziehung war das Finanzministerium zuständig. Es erarbeitete Richtlinien für den Liquidationsausschuss für die eingezogenen jüdischen Vermögen, das einzige Organ in Norwegen, das sich zunächst ausschließlich mit antijüdischer Politik befasste. Der Ausschuss stand bald im Ruf großer Effektivität, sodass er sich 122 Zitiert nach Rødder (1990), S. 143.

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Die Akteure

im Mai 1943 schlicht in Liquidationsausschuss umbenannte und sich zusätzlich um die Einziehung der Vermögen nach Schweden geflohener Personen kümmerte. Das Polizeiministerium, das 1940 aus dem Justizministerium ausgegliedert worden war, bekam mit der antijüdischen Politik zu tun, als im Januar 1942 die Registrierung der Juden in Norwegen begann. Das Internierungslager Berg – so der offizielle Name – wurde auch vom Polizeiministerium verwaltet, obwohl Riisnæs sich für ein solches Lager eingesetzt hatte. Das Polizeiministerium wurde von Anfang an nach deutschem Muster organisiert, aber noch wichtiger war es als Instrument zur Umformung der Polizei im Zeichen der „Neuordnung“.123 Es wurde damit nicht zu einem Abbild des RSHA, aber es übernahm doch einige seiner Züge. Es hatte zwei Abteilungen: die Sicherheitspolizei, zuständig für die Staats-, Grenz- und Kriminalpolizei, wurde von Oliver Møystad geleitet, die Ordnungspolizei von Egil Olbjørn. Die Sicherheitspolizei – in der Praxis grundsätzlich das „Büro I“ der Verwaltungsabteilung – war zuständig für alles, was Juden betraf. Das Büro hatte ein großes Arbeitsfeld: Ausbildung der Sicherheitspolizei, Disziplinfragen, das Landstreichergesetz, die Ausländerkontrolle, Fragen der Grenzkontrolle, das Ausländergesetz, Personaldokumente. Hinzu kamen die „Angelegenheiten politischer Natur“, wie das Polizeiministerium selbst sie bezeichnete, das Verhältnis der Polizei zum Hird, der NS-Jugendorganisation, und das Sachgebiet „Kommunisten, Juden.“124 Das Polizeiministerium war stark von deutschen Organisationsprinzipien geprägt; dennoch kontrollierten die Deutschen den Polizeiapparat sowohl horizontal als auch vertikal. Als die deutsche Sicherheitspolizei die Juden in Norwegen zu registrieren wünschte, wandte sich der Befehlshaber Fehlis brieflich an das Polizeiministerium. Der Brief war faktisch ein Befehl, Richtlinien für die Registrierung auszuarbeiten; aber als sich erwies, dass die Beamten des Ministeriums nicht „reif “ für die Aufgabe waren, kamen genauere Anweisungen (siehe Kapitel 5). Jonas Lie, der Polizeiminister, war oft abwesend. Er war in Norwegen, als die J-Stempelung ausgearbeitet wurde, und machte dazu einige Vorschläge. Aber im Herbst 1942 war er an der Front bei Leningrad. Riisnæs war unterdes wie erwähnt stellvertretender Polizeiminister, aber tatsächlich hatte er wenig zu sagen. Møystad und Olbjørn waren, solange Lie nicht da war, die eigentlichen Leiter des Ministeriums. Riisnæs war offenbar gekränkt, weil er kaum wirklichen Einfluss hatte.125 123 Johansen (1989), S. 179. 124 NHM 8 F8 C 0008, Mappe 6, Organisasjonsplan for den sentrale ledelse av Sikkerhetspolitiet, j.nr. 1600/42. 125 Røder (1990), S. 149.

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Olbjørn gehörte zu Jonas Lies vertrautesten Mitarbeitern. Er hatte an höherer Stelle in der Staatspolizei der Jahre 1932–1937 und später in einem Überfallkommando gearbeitet.126 Die Staatspolizei der 1930er Jahre darf nicht mit der nazistischen Staatspolizei verwechselt werden. Im Herbst 1940 wurde Olbjørn zusammen mit über 60 anderen Polizeimännern zu einer Studienreise nach Deutschland geschickt.127 Møystad wurde im Oktober 1941 zum Chef der Sicherheitspolizei ernannt. Am 1. Oktober 1942 wurde er oberster Leiter des Hird. Während Lie deutsch-nationalsozialistisch eingestellt war, hielt Møystad einen eher nationalistischen Kurs. Als Chef des Hird meinte er, dieser müsse ein Gegengewicht zu Germanske SS Norge sein.128 Für die antijüdische Politik spielte das keine Rolle. In seiner Eigenschaft als Chef der Sicherheitspolizei versandte Møystad am 10. Januar 1942 an die Polizeistationen ein Rundschreiben zur Stempelung der Personalausweise von Juden. Formationen des Hird beteiligten sich an Festnahmen in Oslo und an der Bewachung des Lagers Berg. Insgesamt gesehen bestimmte die Vorgehensweise der Besatzungsmacht den Grad, in dem die einzelnen Teile der Zentralverwaltung an der antijüdischen Politik mitwirkten. Von der Wirtschaftspolitik und Rassenpolitik abgesehen, wurden einige Ministerien nicht direkt in die Destruktionspolitik hineingezogen. Das geschah meist erst dann, wenn diese die jeweiligen Zuständigkeiten berührte. So wurde das Versorgungsministerium einbezogen, als die Aktionen am 26. November 1942 in ihre entscheidende Phase traten: Hauptsturmführer Wilhelm Wagner erschien überraschend bei dem Ministerialdirektor und erbat einfache Kost für die zu deportierenden Häftlinge.129 Das Ministerium für Kultur und Volksaufklärung entzog Juden die Lizenz als Künstler, sobald ihr jüdischer Hintergrund bekannt wurde. Der Kirchenminister Ragnvald Skancke setzte sich 1941 dafür ein, Personen jüdischer oder samischer Herkunft die Eheschließung mit „Ariern“ zu verbieten. Der Vorschlag war in mehrfacher Hinsicht ein Versuchsballon, der dem Prälaten der Kirche, Bischof Berggrav, zur Stellungnahme vorgelegt wurde. Seine Antwort im Namen der Kirche war als klare Abfuhr nicht misszuverstehen.130 Die kommunale Verwaltung habe ich bisher nicht erwähnt, weil sie selten direkt beteiligt war. Indirekt wurde sie einbezogen bei der Liquidierung jüdischen Eigentums und bei der Registrierung von Personen nach dem Meldepflichtgesetz für 126 Die Staatspolizei war in den 1930er-Jahren eine ausgeprägte „Aufruhrpolizei“. 1937 wurde das gesamte norwegische Polizeikorps staatlich. Johansen (1989), S. 12 ff. 127 Ebd. S. 190. 128 Sørensen (1995) S. 194. 129 Siehe den Abschnitt „Das Schicksal wird besiegelt“ in Kapitel 6. 130 Siehe den Abschnitt „Vorstöße von Nasjonal Samling“ in Kapitel 4.

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Juden vom 17. November 1942. Die kommunalen Beschlagnahmesausschüsse, deren ursprüngliche Aufgabe die Beschaffung von Wohnraum für diejenigen war, die ihre Wohnung an Deutsche hatten „abtreten“ müssen, bekamen viel mit den antijüdischen Maßnahmen zu tun. Die kommunalen Finanzämter wurden gebeten, die Steuererklärungen von Juden auszuliefern. Die wirtschaftlichen Bindungen zwischen Staat, Kommune und jüdischen Bürgern mussten zerschnitten werden, als die Juden deportiert wurden oder flohen. Nur selten findet man in der norwegischen Verwaltung Spuren nennenswerten Widerstandes gegen antijüdische Politik. Das liegt natürlich hauptsächlich daran, dass es nur wenige offizielle Maßnahmen gab und dass diese sich auf eine größere Aktion, eine gigantische Razzia, konzentrierten. Das begrenzte die Möglichkeiten, organisierten Widerstand zu leisten. Ein zweiter Grund ist, dass Teile der staatlichen und kommunalen Verwaltung nazifiziert waren und daher den Direktiven der Quisling-Regierung folgten. Dennoch soll schon hier erwähnt werden, dass der Widerstand staatlicher und kommunaler Behörden in einem Land wie Belgien auch nach der Deportation von Juden oft erheblich größer war.131 Allerdings war Belgien schon im Ersten Weltkrieg besetzt gewesen; für die Belgier war Besatzung daher nichts völlig Ungewohntes.

DIE POLIZEI IN DER BESATZUNGSZEIT Die Besatzungsmacht und besonders die deutsche Sicherheitspolizei hatten schon gleich nach der Invasion bestimmte Vorstellungen von der Zukunft der Polizei. Wie in anderen besetzten Ländern war die Polizei ein wichtiges Bindeglied zwischen der Besatzungsmacht und der Zivilbevölkerung. Nachdem Terboven im September 1940 die Neuordnung proklamiert hatte, wurde die Arbeit beschleunigt, die die Polizei „zuverlässig“ machen sollte. Am 25. Oktober 1940 erhielt der neue Polizeiminister Jonas Lie eine Direktive vom HSSPF Rediess, nach welcher die Polizei jetzt vom Reichskommissar kontrolliert werde. Alle Direktiven und andere Regelungen seien Rediess oder dem BdS zur Kontrolle vorzulegen.132 Die Polizei solle politisiert werden, vor allem in dem Sinne, dass sie ein Werkzeug des neuen politischen Regimes im Land würde. Jonas Lie machte sich sogleich an die Arbeit und begann die Polizei umzuorganisieren. Wichtige Stellen des Ministeriums besetzte er mit ihm treu ergebenen Männern wie dem schon erwähnten Egil Olbjørn. 131 Siehe z. B. Steinberg (1998 II). 132 Rødder (1990), S. 120.

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Schon kurz nach seiner Ernennung zum Polizeiminister forderte Lie in einem Rundschreiben Polizisten auf, sich um Stellen in einer neuen Staatspolizei zu bewerben. Dabei teilte er mit, „dass alle Angenommenen höheres Gehalt, die besten Beförderungsmöglichkeiten und eine Spezialausbildung erhalten sollten“.133 Eine improvisierte Abteilung wurde sehr bald etabliert, aber erst am 1. Juli 1941 wurde die Staatspolizei offiziell organisiert. Vorher fand ein Lehrgang in Oslo statt, bei dem die Teilnehmer über ihre neuen Aufgaben informiert und ideologisch geschult wurden. Zwar deutete Lie bei dem Kurs an, die neue politische Polizei werde die deutsche Polizei in Norwegen „überflüssig“ machen134, aber betonte gleichwohl, die Zusammenarbeit mit der deutschen Polizei werde sehr eng sein. Karl Alfred Marthinsen, Jonas Lies früherer Kollege aus der Geheimdienstarbeit im Eismeerbezirk Finnmark vor dem Kriege, wurde zum neuen Chef gewählt. Er war 1896 in Finnmark geboren. Er behielt die Stelle, bis er am 8. Februar 1945 von der Widerstandsbewegung liquidiert wurde. Er galt als äußerst ehrgeizig. Er war kein Jurist, sondern hatte eine militärische Ausbildung. Der Historiker Nils Johan Ringdal hat sicher recht mit der Behauptung, er habe „wenig Sinn für den Buchstaben des Gesetzes“ gehabt. Marthinsen war weitgehend unabhängig von den formellen Strukturen der Polizei. Oliver Møystad war als Chef der Sicherheitspolizei der Mann, dem Marthinsen Bericht zu erstatten hatte. Als Møystad sich im Juli 1943 beim Ministerpräsidenten über Marthinsens unabhängigen Stil beschwerte, verlor er den Machtkampf. Marthinsen wurde danach Chef der gesamten norwegischen Sicherheitspolizei und in der Praxis auch der zweite Mann hinter Jonas Lie.135 Aber Marthinsen hatte auch ein gutes Verhältnis zur deutschen Sicherheitspolizei, und die Arbeit der Staatspolizei war – jedenfalls in den Bereichen, die die Gestapo für wichtig hielt – eng an die Sicherheitspolizei gebunden. Die Staatspolizei wurde im Laufe des Krieges immer mehr „politisiert“. Viele von denen, die zu Kriegsbeginn führende Stellungen in der Staatspolizei erhielten, waren ganz offenkundig Opportunisten, die eine Chance sahen, schneller Karriere zu machen. Mehrere von ihnen bekamen bei der großen Aktion gegen die Juden im Herbst 1942 an zentraler Stelle wichtige Aufgaben. Nicht zuletzt gilt das für die oben erwähnten Polizeidirektoren Sverre Dürbeck und Knut Rød. Beide hielten entscheidende Fäden in der Hand, als die Juden in jenem Herbst festgenommen wurden. Beide waren vermutlich, wenngleich NS-Mitglieder, ideologisch wenig motiviert, aber sie waren effektiv im Handeln. Weniger effektiv war der Polizeidi133 Ebd. S. 122. 134 Ebd. 135 Dahl et al. (1995), S. 264 f. Siehe auch Nøkleby (2010).

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rektor Roar Lund in Trondheim, der auf seine Weise versuchte, die Deportation der Juden von dort zu verschieben.136 Auch der Leiter der Staatspolizeiabteilung in Narvik bekam Skrupel nachdem er einen Transport jüdischer Frauen und Kinder von dort nach Oslo geleitet hatte. Andere Staatspolizeimänner warnten vor der Aktion. Sehr wenige arbeiteten auch mit verschiedenen illegalen Organisationen zusammen. Als der im Untergrund lebende Deutsche Hans Holm im Januar 1943 verhaftet wurde, meldete die deutsche Sicherheitspolizei nach Berlin, unter denen, die für Holm gearbeitet hätten, seien ein Chauffeur und ein Wachtmeister von der Staatspolizei gewesen.137 Einen strukturellen Widerstand gab es in der Staatspolizei aber nicht. Welche Rolle der Leiter Marthinsen persönlich bei der Aktion spielte, ist ziemlich in Vergessenheit geraten. Das liegt natürlich daran, dass er, als der Friede kam, nicht mehr am Leben war und seine Rolle von der Anklagebehörde daher nicht gründlich untersucht wurde. Die Aktion gegen die Juden wurde von der Staatspolizei zentral organisiert und geleitet. In den Regionen, wo sie eigene Unterabteilungen unterhielt, kümmerte sie sich auch um die Planung vor Ort, aber die Unterstützung durch andere Abteilungen der Polizei war natürlich unverzichtbar. In Oslo war die Kripo stark beteiligt, weil die Kriminalbeamten bei beiden Aktionen zum Dienst bestellt wurden. Ihnen wurde nicht gesagt, worum es ging, und es gab auch keinen organisierten Widerstand. Bei der Aktion gegen Frauen und Kinder in Oslo war der Personalmangel so groß, dass auch junge Rekruten vom sogenannten Polizeibataillon zum Dienst gerufen wurden. Am Abend des 25. November galt für sie Ausgangssperre. Sie sollten, so sagte man ihnen, am nächsten Morgen um 3.00 Uhr geweckt werden, und diejenigen, die zivile Kleidung dabei hatten, sollten diese anziehen. Aber sie erfuhren nicht, was das Ganze sollte.138 In den Landesteilen, in denen die Staatspolizei nicht vertreten war, wurden die Aktionen von den regulären Polizeibehörden durchgeführt. Obwohl auch die gewöhnliche Polizei in zunehmendem Maße der „Neuordnung“ unterzogen wurde, war im Herbst 1942 nur ein Drittel der Polizisten NS-Mitglieder.139 Wo der Anteil hoch war, waren die Aktionen am tödlichsten. In lokalhistorischen Werken 136 Zu Lund siehe den Abschnitt „Das Schicksal wird besiegelt“ in Kapitel 6. 137 Ugelvik-Larsen et al. (2008), S. 961, „B. Gegner, a) Allgemeine Widerstandsbewegung.“ 138 RA, R-1725 DAI Behälter 454, spesialavhør [Sondervernehmung] av Gerhatd Aabelvik Jacobsen, 13. desember 1942. 139 Rødder (1990), S. 118. Am 1. März 1943 waren nach der Statistik etwas mehr als 34 % der 4195 Polizisten NS-Mitglieder.

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ist oft von Ortspolizisten die Rede, die Juden warnten, aber viele der angeblich Gewarnten konnten das später nicht mehr bezeugen.140 Anders gesagt war die Haltung zu den Juden bei der Polizei nicht einheitlich, aber einen strukturellen und effektiven Widerstand gegen die Verhaftungen hat es nicht gegeben. Die Neuorganisation der Polizei nach deutschem Muster führte in Norwegen zur Einrichtung eigener Polizeipräsidien. Die Abteilungen der Staatspolizei hatten mit Ausnahme der Abteilung in Kirkenes ihre Niederlassungen in den Städten, wo auch die Sicherheitspolizei eigene Kommandobezirke etabliert hatte. Die Zusammenarbeit mit der Sicherheitspolizei trug der Staatspolizei bei der Widerstandsbewegung die Bezeichnung „norwegische Gestapo“ ein. Um die Jahreswende 1941/42 wurde unter der Staatspolizei eine eigene Grenzpolizei eingerichtet. Die Richtlinien für die Grenzpolizei habe ich schon erwähnt; auch sie arbeitete mit Organen der deutschen Sicherheitspolizei in den Grenzgebieten eng zusammen.

140 Näheres zu den Warnungen in den Kapiteln 6 und 7.

– KAPITEL 4 –

DAS NETZ WIRD ZUGEZOGEN (APRIL 1940–SEPTEMBER 1942)

Schlimmer als brennende Städte ist Krieg, der unsichtbar wirkt, der Schnee und Äcker und Birken unter giftigen Schleiern verbirgt. Denunzianten und Terror brachten sie uns ins Haus. Aber unsere Träume trieben sie uns nicht aus. Nordahl Grieg: Der 17. Mai 19401

EINLEITUNG Die Invasion Norwegens am 9. April 1940 und die Kapitulation der regulären norwegischen Truppen auf norwegischem Boden am 10. Juni des gleichen Jahres brachte gut 2000 Juden in Norwegen in den deutschen Machtbereich. Ihre Aussonderung und Verfolgung begann sofort und auf mehreren Ebenen. Aber eine Systematik ist dabei nur in zwei Maßnahmen zu erkennen, die aus verschiedenen Gründen und zu verschiedenen Zeitpunkten verfügt wurden. Der allgemeine Terror, der Krieg gegen die Juden, begann im Verborgenen, im Sinne der Zeilen Nordahl Griegs: „Schlimmer als brennende Städte ist Krieg, der unsichtbar wirkt“. Die erste Maßnahme war die Beschlagnahme der Radioapparate von Juden im Mai 1940. Die zweite war die Registrierung der Juden durch eine Bekanntmachung des Polizeiministeriums am 20. Januar 1942. Diese Registrierung ist so wichtig 1

Dritte Strophe eines Gedichts, das der Autor (1902–1943) am Nationalfeiertag, dem 17. Mai 1940, im Rundfunksender Tromsø vortrug, d. h. es wurde aus dem noch unbesetzten Nordnorwegen ins ganze Land gesendet. (Anm. des Übersetzrs). Gedruckt wurde es in der Sammlung Friheten, Oslo (Gyldendal) 1945, S. 11–13.

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und hängt so eng zusammen mit den Ereignissen im Herbst 1942, dass sie in einem besonderen Kapitel behandelt wird. Es ist keine Übertreibung, dass die Politik der Besatzungsmacht und des Quisling-Regimes gegenüber den Juden bis zum Herbst 1942 durch Zögern und Schwanken gekennzeichnet ist. Warum das so war, ist eine ganz wesentliche Frage. Warum handelte die Besatzungsmacht in Norwegen nicht nach den gleichen Mustern wie im übrigen Westeuropa? Warum unterlagen die Juden in Norwegen weniger Beschränkungen als in den Niederlanden, in denen ebenfalls ein Reichskommissar die oberste zivile Instanz darstellte? Dass sich die antijüdische Politik der ersten Kriegsjahre in Norwegen von der in vielen anderen Ländern erheblich unterschied, bedeutete nicht, dass die Besatzungsmacht hierzulande weniger antijüdisch eingestellt war als etwa in den Niederlanden oder in dem semi-autonomen Vichy-Gebiet. Als die Täter in Norwegen im Herbst 1942 losschlugen, war das ebenso tödlich wie in den anderen besetzten Gebieten Westeuropas. Der Weg nach Auschwitz war ein anderer, aber er war im Ergebnis genauso effektiv. Ein Blick auf die deutsche antijüdische Politik insgesamt zeigt, dass bis 1941 über das Ziel des Destruktionsprozesses noch nicht entschieden war. Nach der Machtübernahme 1933 hatte sich die Politik immer mehr radikalisiert, sowohl durch Gesetze und Verordnungen als auch durch offene Gewalt, die mit der sogenannten Kristallnacht im November 1938 ihren Höhepunkt) erreichte Bei Kriegsbeginn im September 1939 waren die Juden, die sich noch im deutschen Machtbereich befanden, sozusagen gelähmt. Sie waren keine deutschen Staatsbürger mehr, sondern „Staatszugehörige“. Wirtschaftlich waren sie verarmt, zuerst durch „freiwillige Arisierung“ und nach der „Kristallnacht“ durch Zwang. Die Muster der in Deutschland praktizierten antijüdischen Politik wurden nach der Besetzung im Frühjahr und Sommer 1940 schnell auf die besetzten westlichen Gebiete übertragen. Die Juden wurden durch eigene Dekrete definiert, und verschiedene wirtschaftliche und andere ausgrenzende Maßnahmen wurden verfügt. Die Politik folgte systematischen Prinzipien. Die Situation in Norwegen war in mehrfacher Hinsicht anders; es gab viel weniger Juden als in den Niederlanden, Belgien und Frankreich. Norwegen bekam einen anderen Status als Belgien und Frankreich. Ein Reichskommissar übernahm die zivile Macht, und die norwegische Minipartei Nasjonal Samling erhielt einen bevorzugten Status. In den Niederlanden wurde ebenfalls ein Reichskommissar eingesetzt, aber obwohl die Partei NSB (Nationaal-Socialistische Beweging in Nederland) unter ihrem Führer Anton Mussert vor der Besetzung im Parlament vertreten war, bekam er keine so herausgehobene Stellung wie Quisling.

Einleitung

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Die Reichskommissare Seyß-Inquart in den Niederlanden und Terboven in Norwegen sahen die antijüdische Politik unterschiedlich. Das ist im Grunde nicht erstaunlich. Während in den Niederlanden 140.000 Juden lebten, waren es in Norwegen nur etwa 2000. Während die Juden in den Niederlanden in Teilen des Wirtschaftslebens wichtige Positionen innehatten, traten sie in Norwegen wenig hervor. Die Ausnahme war Trondheim, wo sie in der Konfektionsbranche eine große und sichtbare Rolle spielten. Die Nazisten sahen in den Juden überall eine Bedrohung, aber in Norwegen war die Bedrohung gleichwohl geringer. In den Niederlanden war auch die Beute größer – bei der „Arisierung“ jüdischen Besitzes gab es etwas zu holen. Angesichts so weniger Juden konnte man in Norwegen auch nicht die gleichen Mittel einsetzen. Dennoch ist zu fragen: Gab es in der antijüdischen Politik in Norwegen bis zum Herbst 1942 eine deutliche Leitlinie? Die Antwort ist nein und ja. Einerseits wollte man Juden da ausschalten, wo man es für nötig hielt. Aber die entsprechenden Initiativen waren oft unkoordiniert und der Ungeduld von Akteuren an einzelnen Orten geschuldet. Zum andern lag der Besatzungsmacht und den Kollaborateuren daran, Juden und jüdische Betriebe zu registrieren und in einer Kartei zu erfassen. Diese Erfassung wurde gleich nach der Besetzung eingeleitet. Besonders „jüdische Emigranten“ wurden rasch registriert, weil man sie für ein Sicherheitsrisiko hielt. Jüdische Geschäfte wurden ermittelt. Zugleich wollte die deutsche Sicherheitspolizei sich eine Übersicht verschaffen über alle jüdischen Organisationen in Norwegen und ihre Mitglieder. Diese Registrierung durch die Sicherheitspolizei war die ernsteste und systematischste; auf lokaler wie auf zentraler Ebene legten die Dienststellen Judenkarteien an. Aber diese ganze Erfassungstätigkeit beruhte nicht auf einer juristischen Definition des Begriffs „Jude“. Auch in dieser Hinsicht war Norwegen ein anderes Land als Frankreich und die Benelux-Staaten. Drittens waren einzelne Juden und jüdische Milieus, die die Besatzungsmacht für „gefährlich“ hielt, einem gezielten Terror ausgesetzt. Die Juden in Norwegen waren gering an Zahl, aber sie waren oft bekannt und geachtet, und an manchen Orten genossen sie die Sympathie der Bevölkerung. Daher wurde es ein Ziel der Politik, diese Sympathie zu untergraben und diese Juden auszugrenzen. Auch andere beliebige Juden konnten in die Gefahrenzone geraten, einfach weil sie zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort waren. Der Rechtsanwalt Einar Nathan wurde festgenommen, weil er auf einem Fußweg in der Hauptstadt versehentlich einen deutschen Offizier anstieß. Der Geiger Leiba Wolfberg geriet zufällig in eine Menschenansammlung auf Karl Johans gate in Oslo und landete im Gefängnis Møllergaten 19 – für ihn der Anfang einer langen Gefangenschaft.

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Die Invasion der Sowjetunion am 22. Juni 1941 markiert in der antijüdischen Politik einen klaren und deutlichen Einschnitt, auch in Norwegen. Hinter den vorrückenden deutschen Panzerdivisionen verübten vier Einsatzgruppen Massaker an der jüdischen Bevölkerung der besetzten sowjetischen Gebiete. Aber der Einschnitt gilt auch insofern, als die Propaganda kräftig angeheizt wurde. Sie stellte den Krieg als einen totalen Kampf um die Werte hin, die Europa prägen sollten. Die Juden standen im Mittelpunkt des Weltbildes der Nationalsozialisten. Die Juden hatten den Krieg begonnen; die Juden standen hinter den britischen Kapitalkräften und der kommunistischen Bürokratie im Kreml. Der Kampf gegen den äußeren Feind war auch ein Kampf gegen den Feind im Innern: gegen alle Juden im deutschen Machtbereich. Trotz aller nazistischen Propaganda fand die ungeheure Brutalität des Krieges gegen die Sowjetunion einen gewissen Eingang in die norwegische Presse. Und norwegische Frontkämpfer erzählten zum Teil offen von ihren Erlebnissen im Osten, auch von der Tötung von Zivilpersonen. Auch die norwegischen Juden bekamen den Einfall in die Sowjetunion deutlich zu spüren. Die deutsche Sicherheitspolizei nahm ihn zum Vorwand, Juden zu „sichern“. Die dabei in Südnorwegen Festgenommenen kamen nach zwei bis drei Wochen wieder frei. Aber die Episode sollte sich im Herbst 1942 auf tragische Weise psychologisch auswirken (siehe Kapitel 6). Doch trotz allem blieben systematischere Maßnahmen auch nach der Invasion der Sowjetunion aus. Der Krieg gegen die Sowjetunion intensivierte auch den norwegischen Widerstandskampf. Vom 3. bis 6. September 1941 war Reinhard Heydrich, der Chef des RSHA, in Norwegen. Er wollte die deutsche Sicherheitspolizei in die Pflicht nehmen, die nach seiner Meinung weder gegen den militärischen noch gegen den zivilen Widerstand energisch genug vorging, um ihn zu unterbinden. In einem späteren Bericht an Außenminister Ribbentrop stellte Heydrich fest, in Norwegen entstehe allmählich eine sehr schwierige und angespannte Situation, vor allem durch Verbreitung von Nachrichten aus Großbritannien und durch Sabotageakte, die die deutsche Besatzung unterminierten. Heydrich hielt die norwegischen Gewerkschaften für besonders gefährlich. Die Antwort müsse sein, bei der erstbesten Gelegenheit rücksichtslos zuzuschlagen, „um den Norwegern endlich klarzumachen, dass die deutschen Maßnahmen […] ernst zu nehmen sind“.2 Die Antwort kam am 10. September 1941, als Terboven über Oslo den Ausnahmezustand verhängte und die beiden Gewerkschaftsführer Viggo Hansteen und Rolf Wickstrøm hinrichten ließ. Dieser Ausnahmezustand hatte an sich keine nennenswerten Konsequenzen für Juden in Norwegen; aber es ist bezeichnend, dass 2

Zitiert nach Berntsen (1995), S. 8.

Einleitung

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die Besatzungsmacht auch hierbei versuchte, Juden mit Widerstand in Verbindung zu bringen. Vor allem wollten die Deutschen wissen, ob Viggo Hansteen Jude war, denn er stand in Mikal Syltens Handbuch Wer ist wer in der Judenwelt.3 Die starke Widerstandstätigkeit an der Küste des Bezirks Møre und in Trøndelag bedeutete auch eine Bedrohung der Juden (Näheres dazu später in diesem Kapitel). Es entsprach der Grundhaltung der SS, dass sie die Juden aufs Korn nahm. Als „die Judenfrage“ im Herbst 1942 ihre im Sinne der deutschen Sicherheitspolizei endgültige Lösung fand, war der zunehmende Widerstand das auslösende Moment der Aktion. Der deutsche Historiker Peter Longerich stellte fest: „Zunehmender Widerstand und der Terror, den die Besatzungsmacht zu seiner Unterdrückung einsetzte, waren Mal für Mal Ausgangspunkt der Lösung ,der Judenfrage´. So war es in Frankreich, im Protektorat, und so war es auch in Norwegen.“4 In einigen Nuancen unterschieden sich die Maßnahmen der Besatzungsmacht von denen ihrer Kollaborateure in Nasjonal Samling. Zwar glich das Weltbild der NS auf weiten Strecken dem der deutschen Nationalsozialisten. Die Juden waren auf allen Gebieten und überall der Feind schlechthin. NS sah auch den gegen sie gerichteten Widerstand von Juden oder jedenfalls von „jüdischen Ideen“ inspiriert. In dem Maße, wie die Partei ihre Stellung festigte, wurde ihr Antisemitismus sichtbarer und wurde deutlicher artikuliert. Auch norwegische Nationalsozialisten forderten eine Endlösung für die Juden. Am 28. März 1941 nahm Quisling in Frankfurt am Main an der Eröffnung des Instituts zur Erforschung der Judenfrage teil. Sein Vortrag wurde in Fritt Folk gedruckt unter dem Titel „Die Juden haben in Norwegen Schlimmeres angerichtet als in vielen anderen Ländern mit weit höherem Judenanteil“.5 Die Propaganda gehörte zu den Aktivitäten von Nasjonal Samling. Die Partei wollte in der antijüdischen Politik besonders aktiv hervortreten. Die Jugendorganisation Hirden schrieb diffamierende Schlagworte, klebte Plakate auf die Schaufenster jüdischer Geschäfte und machte auch durch Aktionen gegen jüdische Künstler und die Israelmission auf sich aufmerksam. Das förderte aber nicht den Antisemitismus der Bevölkerung, sondern führte nur zu mehr Verachtung des Hird. Unangenehmer für Juden war die weniger sichtbare Betätigung der Hird-Leute als Helfer der deutschen Sicherheitspolizei. So beteiligten sie sich am Terror, etwa an einzelnen Verhaftungen, und lieferten so einen Vorgeschmack auf die drastischen Aktionen einzelner Hird-Abteilungen im Herbst 1942. 3 4 5

Ebd. S. 138. Longerich (2012), S. 630 f. Fritt Folk vom 1. April 1941. Der Vortrag wurde auch als eigenes Propagandaheft gedruckt: Kampen mellom arier og jødemakt. Vidkun Quislings tale om jødeproblemet [Der Kampf zwischen Ariern und Judenmacht. Vidkun Quislings Rede zum Judenproblem] i Frankfurt 28. mars 1941. Nasjonal Samlings rikstrykkeri, Oslo, 1941.

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Auf einer anderen Ebene versuchten einige der im September 1940 ernannten kommissarischen Minister die antijüdische Politik zu beschleunigen. Kirchenminister Skancke wollte Ehen zwischen Juden und Samen einerseits und „Ariern“ andererseits verbieten. Justizminister Risnæs entzog jüdischen Rechtsanwälten die Zulassung, suchte durch ein Rundschreiben jüdischen Grundbesitz zu ermitteln und arbeitete an weiteren radikalen Plänen. Aber auch diese führten letztlich nicht zu einer systematischeren und radikaleren Politik. Erst als die deutsche Sicherheitspolizei die Initiative zu einer systematischen Registrierung von Juden ergriff, war der Grund für eine größere Aktion gelegt (siehe Kapitel 5). Die Politik der Täter war so angelegt, dass die Juden selbst schwer erkennen konnten, was im Herbst 1942 geschehen würde. Juden wurden festgenommen, Besitz wurde beschlagnahmt, und Einzelne wurde terrorisiert. Dennoch gab es wenig Grund anzunehmen, dass die Juden als Gruppe betroffen sein könnten. Marcus Levin verfasste nach dem Krieg einen kurzen Bericht über die Kriegsjahre. Die Situation im Herbst 1942 beschrieb er so: Der nächste Schlag kam am Jom Kippur-Fest. Am Morgen wurden sämtliche jüdische Villen und Einfamilienhäuser von der Gestapo beschlagnahmt, und zwei sehr bekannte Juden wurden festgenommen. Man hatte jetzt das Gefühl, dass etwas sehr Verhängnisvolles bevorstand, und die Nervosität war groß; aber man rechnete immer noch damit, dass die Gestapo die Juden einzeln liquidieren würde, indem sie Anklage wegen Gesetzesübertretungen gegen sie erhob, eine Auffassung, die auch von prominenten Norwegern geteilt wurde. Aber dann passiert das!6

Juden waren gefährdet, aber das waren andere Norweger auch. Von einem größeren Plan der Täter ist in den Quellen zwar wenig zu finden; aber die Entwicklung, die sich im ganzen von den Nazis dominierten Europa immer deutlicher abzeichnete, machte sich auch in Norwegen geltend. Der Druck in Richtung auf eine endgültige Lösung „der Judenfrage“ nahm zu. In diesem Kapitel werden die einzelnen Entwicklungen nacheinander behandelt. Es liegt nahe, mit der Einziehung der Radioapparate von Juden zu beginnen. Was stand dahinter, und warum geschah das so früh? Danach wird die deutsche gegen Juden und jüdische Betriebe gerichtete Erfassungstätigkeit behandelt. Hinzu kommen die Maßnahmen gegen einzelne jüdische 6

DMT, AS-11015 Y-00ß03, Mappe 7, Manuskript „De norske jøder unner okkupasjonen“ [Die norwegischen Juden während der Besatzungszeit]. Geschrieben 1946 als Entwurf zu einem Bericht an das American Jewish Joint Distribution Committee (JOINT). - 89 -

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Betriebe als Teil dieser Erfassung. Die Sicherheitspolizei ging mit Terror und Einzelaktionen gegen Juden vor. Wahrscheinlich wurden 17 Juden schon vor dem Herbst 1942 aus Norwegen deportiert. Viel mehr Juden wurden festgenommen und saßen monatelang in deutschen Gefängnissen und Lagern. Die Archive der Gestapo wurden vor dem Zusammenbruch im Mai 1945 nahezu vollständig zerstört, und in vielen Fällen ist daher schwer zu erkennen, warum die Betroffenen verhaftet wurden. Eine Gemeinsamkeit wiesen aber diese Einzelaktionen auf: Juden waren gefährdet, wenn sie sich zur falschen Zeit am falschen Ort aufhielten. In einem Landesteil waren Juden viel härter betroffen als im übrigen Norwegen. In Mittelnorwegen wurde der Sturmbannführer Gerhard Flesch im Oktober 1941 Kommandeur der Sicherheitspolizei. Seine Ernennung hatte die Beschlagnahme jüdischen Besitzes, Verhaftungen, Terror und Hinrichtungen zur Folge. Warum war das so? Bis zum Herbst 1942 wurde die antijüdische Propaganda immer schärfer. Zugleich sorgten die Presseorgane der Besatzungsmacht für die Publikation ausgewählter Mitteilungen über das Geschehen im übrigen Europa. Welchen Hintergrund hatte das, und wie wirkte die Propaganda im Verhältnis zu den illegalen Zeitungen, die auch von Übergriffen gegen Juden berichteten? Am Ende des Kapitels steht eine Übersicht über Aktionen, Initiativen und Maßnahmen von Mitgliedern von Nasjonal Samling. Welchem Zweck dienten sie, und warum wirken sie so zufällig und beliebig? Zum Schluss wird die Wiedereinführung des sogenannten Judenparagraphen im Grundgesetz im März 1942 erörtert, die für die neue „nationale Regierung“ nach dem Staatsakt vom 1. Februar 1942 ein Meilenstein war. In mehrfacher Hinsicht war das ein Teil des Propagandakrieges. Nasjonal Samling wollte demonstrieren, dass antijüdische Politik ein integraler Bestandteil norwegischer Geschichte und Tradition sei. Welche praktische Bedeutung hatte die Wiedereinführung?

EINZIEHUNG DER RADIOAPPARATE VON JUDEN Am 10. Mai 1940 bat Hauptsturmführer Wilhelm Esser im Namen des Einsatzkommandos die Polizeidirektion Oslo, in der Stadt bei „Juden, die jüdischen Gemeinden oder Vereinen angehören“, Radioapparate einzuziehen. Die Polizeidirektion sollte die Radios aufbewahren in Räumen, zu denen norwegische und deutsche Polizei Zutritt hatten. Zugleich machte Esser klar, dass die Sache nicht an die Presse gehen sollte.7 Einige Tage später erhielten die Polizeidirektoren in 7

Auszug aus einem Bericht der Polizeidirektion Oslo, zitiert nach Abrahamsen (1991), S. 79.

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den schon von den Deutschen besetzten Gebieten durch die Präsidenten der Bezirke (fylkesmenn) ähnliche Aufforderungen.8 In den Gebieten, die noch unter norwegischer Kontrolle standen, wurden die Radios später eingezogen. Warum die deutsche Sicherheitspolizei die Einziehung der Radios für notwendig hielt, ist nicht einfach zu erklären. Ein Grund war sicher, die Juden am Radiohören zu hindern, besonders am Empfang von Sendern aus alliierten Ländern oder von Sendern in Norwegen, die noch die Meinung der legitimen norwegischen Regierung zum Kriegsverlauf verbreiteten. Zugleich kann man die Sache natürlich auch als einen Testlauf sehen: Die Sicherheitspolizei wollte wissen, wie die unter deutscher Besatzung operierenden norwegischen Organe auf eine solche Maßnahme reagieren würden. Doch hinter diesen funktionellen Erklärungen ahnen wir den eigentlichen und ideologisch wichtigen Grund, nämlich dass Juden als ein ausgemachtes Sicherheitsrisiko galten. Im weiteren Sinne kann man die Aufforderung an die Polizeidirektion als ein Eingeständnis sehen, dass die deutschen Pläne für Norwegen fehlgeschlagen waren und dass die vor Kriegsbeginn festgelegten militärischen Instruktionen, deutsche Rasseprinzipien in Norwegen und Dänemark nicht einzuführen, für Norwegen nicht mehr gelten sollten.9 Am gleichen Tag, da Esser die Osloer Polizeidirektion aufsuchte, begann die intensivste Phase der Kämpfe gegen die alliierten Mächte Großbritannien und Frankreich. Die Invasion der Niederlande und Belgiens hatte begonnen, und die deutschen Panzerspitzen waren auf dem Weg durch die Ardennen in Richtung auf den Fluss Meuse und die französische Stadt Sedan. Nicht nur in Norwegen wurden Radioapparate von Juden eingezogen. Kurz nachdem ganz Belgien besetzt worden war,10 wurden auch dort Radios, die Juden gehörten, beschlagnahmt.11 Aus dem Bericht der Polizeidirektion Oslo geht hervor, dass 107 Radios eingezogen wurden. Alle wurden sie für die deutsche Sicherheitspolizei von Hauptsturmführer Esser übernommen.12 Die Sicherheitspolizei hatte selbst eine Liste über mögliche jüdische Radiobesitzer, aber sie war sicher nicht vollständig. Mit Hilfe der zentralen Fernmeldeverwaltung (Televerket), die eine Übersicht über alle Lizenznehmer hatte, arbeitete die Osloer Polizei ihre eigene Liste aus.13 8 Ringdal (1987), S. 230. 9 Zu diesen einleitenden Instruktionen vgl. S. 24 oben. 10 Das belgische Heer mit König Leopold II. an der Spitze kapitulierte am 28. Mai 1940. Die belgische Regierung hatte sich nach Süden zurückgezogen und ging nach dem Fall Frankreichs ins Exil nach Großbritannien. 11 Junk und Zimmer (1982), S. 150. 12 Abrahamsen (1991), S. 80. 13 Johansen (1984), S. 137.

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Die Aktion war mit dem Reichskommissariat koordiniert. Am 10. Mai ging eine der allerersten Pressedirektiven in Norwegen an die Zeitungen mit dem klaren Bescheid, dass die Presse die Einziehung der Radios nicht melden sollte.14 Dass die Besatzungsmacht jedes Aufsehen vermeiden wollte, zeigt deutlich, dass sie Reaktionen fürchtete. Die Aktion wurde im ganzen Land durchgeführt, obwohl das zum Teil schwierig war. In Kristiansand, wo es keine Juden gab, wohl aber zwei Läden in jüdischem Besitz, schritt die Polizei am 24. Mai zur Tat. Es wurden keine Radioapparate gefunden.15 In Bergen war die Polizei im Zweifel. Ein Polizist erklärte später: „Die Leute bei uns waren sehr naiv; ihnen war das Verhältnis zwischen den Deutschen und den Juden nicht klar.“ Als die Männer der Kriminalabteilung den Bescheid bekamen, die Radios abzuholen, diskutierten sie untereinander, wie sie vorgehen sollten. Sie waren alle der Meinung, das sei eine ungesetzliche Handlung, aber sie „fanden, wenn sie es nicht täten, so bekämen die Deutschen trotzdem die Radios“: Daher einigten sie sich darauf umherzufahren, mit den Juden zu sprechen und sie zu fragen, ob sie sich vorstellen könnten, die Apparate freiwillig abzugeben. Wenn sie sich weigerten, könnten sie sie behalten. Aber die Polizei in Bergen fand nur sechs bis acht Juden. Es gab natürlich viel mehr. Die Polizisten meinten, die Juden mit norwegischer Staatsbürgerschaft seien keine Juden. Daher gingen sie nur zu denen, die irgendwie auffielen, und darum waren es so wenige. Sie wurden nicht kritisiert, weil sie die Juden nur gefragt hatten, ob sie die Radios abgeben wollten.16

Die Familie Mendelsohn wurde in ihrer Ferienwohnung in der Nähe von Trondheim von einem Ordnungspolizisten aus der Stadt aufgesucht.17 In Stavanger versuchte die Polizei am 18. Mai die Apparate einzuziehen. Auch hier gab es offenbar polizeiinterne Diskussionen: Sollte man die Juden fragen, ob sie bereit seien, die Radios freiwillig abzugeben? Als der Uhrmacher Hille Becker darum gebeten wurde, protestierte er nicht, aber weigerte sich zu unterschreiben, dass er den Apparat (ein Philips Senior-Modell von 1935) der Polizei freiwillig überlassen hatte. Er wolle die Gesetzmäßigkeit des Gebots und vor allem die Auslieferung der Apparate an die deutsche Sicherheitspolizei vom Fylkesmann, dem Bezirkspräsidenten, 14 15 16 17

Kildal (1945), S. 67. Hagen, Kvanvig und Tronstad (2010), S. 62. NHM 115, Teil 1, Interview mit Sverre Rødder am 10. Dezember 1985. Johansen (1984), S. 137.

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überprüfen lassen. In diesem Fall antwortete der Fylkesmann, nach der Haager Konvention sei eine solche Einziehung zulässig.18 Gleichwohl muss man annehmen, dass nicht alle Juden aufgesucht wurden, vor allem nicht in Oslo. Ein systematisches Verzeichnis über Juden gab es ja nicht, und so behielten einige ihre Apparate. Marcus Levin erzählte später, die Polizei habe die Beschlagnahme keineswegs energisch betrieben: Schon im Mai 1940 bekam die norwegische Ordnungspolizei die Order, die jüdischen Radios [sic] abzuholen, eine Order, der die norwegische Polizei sehr verständnislos gegenüberstand und die nicht besonders energisch durchgesetzt wurde. Sehr viele Radios wurden nicht beschlagnahmt. Überhaupt sah es so aus, als sei die Gestapo, die nach Norwegen kam, über die Judenfrage in Norwegen nicht besonders gut informiert gewesen.19

Der Verwaltungsrat, der zu dieser Zeit seine Arbeit aufgenommen hatte, behandelte die Sache am 16. und 17. Mai 1940. Der Osloer Polizeipräsident Welhaven wurde einbestellt und sollte sich erklären. Er sagte, die Polizei habe tun müssen, was sie tat, weil die norwegische Polizei sich einer solchen Anordnung von deutscher Seite nicht widersetzen könne.20 Der Verwaltungsrat bat auch den Richter Harbek im Justizministerium, die Sache mit dem Regierungspräsidenten Dellbrügge zu besprechen, dem kürzlich eingesetzten Leiter der Hauptabteilung Verwaltung des Reichskommissariats. Dellbrügge antwortete, „die Judenfrage“ müsse international behandelt werden und die Einziehung der Radioapparate sei durch eine Führerverordnung gedeckt.21 Damit ließ der Verwaltungsrat das Thema fallen. Sein Eingreifen war bestenfalls halbherzig. Bischof Eivind Berggrav, Prälat der Norwegischen Kirche, erfuhr auch von der Sache, vermutlich am 22. Mai: Vor 10 Tagen kam ein schriftlicher Bericht, dass die Radioapparate einiger Juden ohne Weiteres beschlagnahmt und abgeholt wurden. Das soll sogar durch norwegische Polizei geschehen sein. Genaue Angaben über den Fall lagen vom Buchdrucker P. vor. Andere sinnlose Fälle erfuhr ich von anderer Seite.22 18 Sæland (2015), S. 50. 19 DMT, AS-11015 Y-0003, Mappe 7. Manuskript: „De norske jøder unner okkupasjonstiden“. Geschrieben 1946 als Entwurf zu einem Bericht an das American Jewish Joint Distribution Committee. 20 Mendelsohn (1986), S. 17. 21 Abrahamsen (1991), S. 80. 22 Berggrav (1945), S. 54. Der von Berggrav erwähnte Buchdrucker war Jacob Petlitz,

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Berggrav erhielt auch Berichte über in Sarpsborg angeschlagene Plakate mit der Aufschrift Judengeschäft.23 Am 19. Mai reiste Berggrav zu einer Versammlung seiner Pfarrer in die Nachbarstadt Fredrikstad und bekam dort zu hören, es sei „eine zunehmende Erbitterung über so etwas in der Bevölkerung“. Der Wunsch wurde laut, etwas zu unternehmen. Berggravs Reaktion war interessant: „Dazu habe ich gesagt, es sei nicht unsere Sache, die Deutschen daran zu hindern, Dummheiten zu begehen, wenn sie dadurch ihre wahren Absichten verraten.“24 Am 22. Mai besprach Berggrav die Sache mit dem Ministerialdirektor Olaf Devik25 im Kirchen- und Unterrichtsministerium und mit dem Rektor der Universität, Didrik Arup Seip. Beide teilten offenbar Berggravs Standpunkt, nämlich dass man sich nicht äußern solle: „Sie meinten, nur falls wir direkt gefragt würden, müssten wir Bescheid geben.“26 Diese Haltung Berggravs im Mai 1940 zeigt offensichtlich ein Handlungsmuster. In dem sogenannten Hirtenbrief vom April 1942 verhinderte Berggrav, dass die klaren antijüdischen Tendenzen des Quisling-Regimes erwähnt wurden.27 Andererseits: Wenn er von Repräsentanten des Regimes nach seiner Meinung gefragt wurde, nahm er kein Blatt vor den Mund. Diese Haltung kam der neuetablierten Gestapo sehr entgegen. Die Reaktionen blieben aus, und die Einziehung ging in den später besetzten Gebieten weiter. Am 21. Juni bekam zum Beispiel die örtliche Polizei in Verdal in Trøndelag den Befehl, Radioapparate bei Juden zu beschlagnahmen.28 Am 28. Juni, also 18 Tage nachdem die norwegische Regierung nach Großbritannien ins Exil gegangen war, zog die Polizei in Tromsø die Radioapparate (und Antennen) bei den Juden der Stadt ein. Es gab Reaktionen. Die sogenannte Nordnorwegenadministration wandte ein, die Polizei habe kein Recht, im Namen der Besatzungsmacht ohne vorherige Genehmigung durch norwegische Behörden Gegenstände zu beschlagnahmen.29 Die Einziehung der Radios 1940 war indes nur eine erste Runde. Die Polizei hatte offenbar nicht alle erreicht, wie ja auch aus Marcus Levins Bericht hervor-

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geb. 1875 in Wilna, das damals zum Russischen Reich gehörte. Petlitz gründete 1898 eine eigene Buchdruckerei und wurde später einer der angesehensten Buchdrucker in Oslo. Er wurde am 26. Oktober 1942 festgenommen und saß bis 2. Mai 1945 im Internierungslager Berg. Siehe den Abschnitt „Erfassung von Juden und jüdischen Betrieben“ weiter unten in diesem Kapitel. Berggrav (1945), S. 54. Siehe biographische Angaben zu ihm in Norsk biografisk leksikon. Berggrav (1945), S. 55. Die kursiv gesetzten Worte entsprechen dem Original. Zum Hirtenbrief siehe den Abschnitt „Zusammenfassung“ in Kapitel 6. Veimo (1987), S. 153. Christensen (1994), S. 443.

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geht. In einem Gespräch mit einem Beamten des Polizeiministeriums im April 1941 behauptete der Gestapochef Dr. Werner Knab, es gehe auf die direkte Weigerung norwegische Polizeibehörden zurück, dass nicht sämtliche Radioapparate von Juden eingezogen wurden: Auf Befehl des Ministers nahm ich an ein paar Treffen bei Regierungsrat Dr. Knab teil, um über die Dinge zu sprechen, die Dr. Knab in seinem Schreiben vom 20. Dezember 1940 behandelt. Dieses Schreiben war ursprünglich versandt worden, weil der Polizeidirektor in Arendal gegenüber dem dortigen Standartenältesten erklärt hatte, u.a. nicht zu wissen, dass Juden der Besitz von Radioapparaten verboten ist. Dr. Knab machte mir gegenüber geltend, dies sei ja einer der ersten drastischeren Eingriffe gewesen, die deutsche Behörden hierzulande vorgenommen hätten, und es dürfe keinen einzigen Polizeidirektor geben, der das nicht wisse. Ich verstand Dr. Knab so, dass er meinte, es sei böser Wille seitens des Polizeidirektors. Er wünschte nun, das Polizeiministerium solle ein Rundschreiben versenden, damit es in der Sache keinen Zweifel gebe. Deutlich wurde präzisiert, dass man keine Verordnung wünsche.30

Knab meinte also, norwegische Polizeibehörden hätten die Sache nicht so genau verfolgt, wie man erwarten konnte, und die Polizei wurde gebeten, sie von neuem anzupacken. Am 16. Mai 1941 versandte das Polizeiministerium ein Rundschreiben an die Polizeidirektionen mit der Bitte zu untersuchen, ob es immer noch Juden gab, die einen Radioapparat besaßen. Die Rückmeldungen waren anscheinend dürftig. Aus Trondheim traf allerdings ein Brief des Polizeipräsidiums ein mit der Erklärung, man habe von neuem alle Juden aufgesucht und einige Radioapparate gefunden. Zugleich seien alle Juden und die Radiogeschäfte der Stadt darauf aufmerksam gemacht worden, dass Juden der Besitz von Radioapparaten verboten sei.31 Im Juli 1941 wurde der jüdischen Gemeinde in Trondheim auferlegt, den Mitgliedern in einem Rundbrief einzuschärfen, dass kein Jude ein Radio haben dürfe. In dem Brief wurde betont, ein Verstoß könne „Konsequenzen für die Gemeinde haben“.32 30 RA, Politidepartementet, registrering av jøder, løse dokumenter. Internt notat i Politidepartementet. 3. april 1941, Jnr. 1715-41P3. 31 Ebd. Das Rundschreiben wird behandelt in einem Brief des Polizeipräsidiums Trondheim an das Polizeiministerium vom 28. Mai 1941, Aktenzeichen 00767/1941A. 32 DMT, A-1174, rundskriv fra Det Mosaiske Trossamfund til menighetens medlemmer [Rundschreiben von DMT an die Mitglieder der Gemeinde] fra sekretær Oskar Mendelsohn, 23. juli 1941.

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Zur gleichen Zeit wurde der Sekretär der Mosaischen Glaubensgemeinschaft in Oslo, Harry Koritzinsky, von Untersturmführer Harry Böhm in seinem Geschäft aufgesucht. Er wurde angewiesen, den Gemeindemitgliedern bekanntzumachen, dass der Besitz von Radios verboten sei.33 Im Juli versandte die Glaubensgemeinschaft einen Rundbrief: Es ist allen Juden verboten, ein Radio zu haben. Jeder, der im Besitz von Radioapparaten ist (jeglicher Art), muss diese bis Montag. den 28. Juli 1941, 12 Uhr bei der DEUTSCHEN SICHERHEITSPOLIZEI, Viktoria Terrasse, IV. Etage, Zimmer 51, abliefern. Diese Bestimmung tritt sofort in Kraft. Übertretungen werden streng bestraft. Das Verbot gilt auch für Nichtmitglieder.34

Diese neue Runde war ausgelöst durch den Angriff auf die Sowjetunion. Seitdem galten Juden bei der deutschen Sicherheitspolizei in noch höherem Maße als vorher als ein Sicherheitsrisiko. Im Gegensatz zu den von norwegischer Polizei eingezogenen Geräten scheinen die an die deutsche Sicherheitspolizei abgelieferten „verschwunden“ zu sein. Dass eingelieferte Radiogeräte nach Deutschland gingen, geht aus einer Quittung hervor, die der Osloer Zahnarzt Arnold Selikowitz erhielt. Die von einem Haupttreuhändler für Rückerstattungsverwahrungen ausgestellte Quittung (undatiert, aber offensichtlich aus den Nachkriegsjahren) besagt, dass sein Radioapparat im Wert von 2000 Kronen auf Befehl von Untersturmführer Böhm nach Deutschland geschickt wurde.35 Wie wir später genauer sehen werden, waren Böhm und die beiden anderen in der Abteilung IV B, Wilhelm Wagner und Böhms Kollege Großmann, ungeheuer korrupt. Dass gerade Böhm sich der im Sommer 1941 eingelieferten Radioapparate annahm, geht auch aus der Zeugenvernehmung von Marcus Levin hervor. Er erklärte nach dem Krieg in dem Prozess gegen Wilhelm Wagner, er habe die Aktion im Frühjahr 1941 aufgefasst „als puren Diebstahl, da keine Kontrolle stattfand und keine Quittung ausgestellt wurde“. Levin, der guten Einblick in die Arbeit der Gestapo hatte, behauptete bei gleicher Gelegenheit, dass „die Aktion im Feld von Böhm geleitet wurde“.36 Wenn das zutrifft, kann es auch Böhm gewesen sein, der den Uhrmacher Georg Bernstein aus Drøbak festnahm. Er wurde am 7. Mai 1941 in das Gefängnis Møl33 34 35 36

Mendelsohn (1986), S. 18. DMT, AS-11009, D-0018 Privatarchiv von Arnold Selikowitz. RA, L-dom 2479/47, vitneavhør [Zeugenvernehmung] av Marcus Levin 31. august 1946, s. 1.

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lergaten 19 gebracht und dort furchtbar misshandelt.37 Später wurde er in das Lager Grini verlegt und erst am 26. Oktober 1941 freigelassen. Wahrscheinlich war er der Einzige, der bei der Einziehung der Radioapparate verhaftet wurde, und möglicherweise sollte das Beispiel abschreckend auf andere wirken.38 Der Rundbrief der jüdischen Glaubensgemeinschaft erinnert an ähnliche Aufforderungen, die zu versenden den Judenräten in Osteuropa befohlen wurde; aber da endet auch schon die Ähnlichkeit. Der Rundbrief sollte der einzige dieses Typs bleiben, den die Glaubensgemeinschaft vor dem Herbst 1942 verschickte. Nur kurze Zeit später, am 2. August 1941, brachten die Zeitungen die Verordnung über „Ablieferung von Radioempfängern in bestimmten Gebieten“. Von nun an durften nur Deutsche und NS-Mitglieder offiziell Radioapparate besitzen.39

ERFASSUNG VON JUDEN UND JÜDISCHEN BETRIEBEN Die Erfassung von Juden und jüdischen Betrieben begann unmittelbar nach der deutschen Invasion. An einigen Orten wurden jüdische Geschäfte sofort besonders gekennzeichnet. Das führte in einzelnen Fällen zu erheblichen Reaktionen. Die Initiative zu dieser Erfassung kam von ganz verschiedenen Seiten. Zu nennen sind die deutsche Sicherheitspolizei, örtliche Kommandanturen der Wehrmacht, die deutsche Handelskammer und auch der Oberstkommandierende der Luftwaffe, Hermann Göring. Wenn die Erfassung jüdischer Betriebe recht bald unauffälliger verlief als in anderen westeuropäischen Gebieten, lag das vielleicht an einer frühen Einzelaktion in den Städten Moss, Sarpsborg und Fredrikstad im Bezirk Østfold. Aber was war eigentlich eine Einzelaktion? Dieser deutsche Ausdruck taucht in den Quellen regelmäßig auf. Er bezeichnet Maßnahmen gegen einzelne Juden oder Juden in einem bestimmten Gebiet, zum Beispiel willkürliche Verhaftungen, Einziehung des Besitzes eines einzelnen Juden oder andere nicht zentral gelenkte Aktionen. Ihnen gemeinsam ist, dass sie nicht 37 Grüner-Hegge (1990), S. 53 ff. Zitate aus Grüner-Hegges Buch siehe weiter unten in diesem Kapitel. 38 Georg Bernstein wurde im Oktober 1942 erneut festgenommen und war lange im Internierungslager Berg inhaftiert. Zusammen mit anderen jüdischen Gefangenen des Lagers wurde er am 2. Mai 1945 nach Schweden überstellt. In dem norwegischen Empfangszentrum Kjesäter erklärte er, seine Festnahme im Mai 1941 sei wegen der „Verbreitung von Gerüchten gegen die Deutschen“ erfolgt. – Reichsarchiv Stockholm, Lagerarchiv Kjesäter, Vernehmung von Georg Bernstein am 8. Mai 1945. 39 Siehe Voksø (1985).

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gegen alle Juden gerichtet waren. Oft gab die Ungeduld einzelner Akteure vor Ort den Ausschlag. Das konnte ein deutscher Offizier sein, dem es missfiel, jeden Tag an einem jüdischen Geschäft vorbeizugehen, oder es war eine Gruppe, die eine aktionistische Vorgehensweise gegen Juden verlangte. Einzelaktionen dienten nicht der Vorbereitung eines Gebiets auf systematische Verhaftungen oder eine vollständige wirtschaftliche Liquidierung; sie waren kein Teil des Prozesses, der zu Deportationen und Mord führte.40 Im Bezirk Østfold gingen im April 1940 Abteilungen der sogenannten SS-Totenkopfverbände an Land. Eines der beteiligten Bataillone wurde von Obersturmbannführer Wilhelm Goecke angeführt. Goecke, geboren 1898, hatte am Ersten Weltkrieg teilgenommen und hatte in den Jahren 1919–1920 in einem Freikorps im Baltikum gekämpft. 1931 war er der SS beigetreten.41 Goecke war praktisch Garnisonskommandeur in Østfold. Er war offenbar der Meinung, jüdische Betriebe und Geschäfte müssten besonders markiert werden, damit seine Soldaten sie nicht aus Versehen aufsuchten. Nun gab es aber in Østfold nicht viele jüdische Betriebe. In Moss hatte der jüdische Zahnarzt Harry Hirsch Benkow eine Praxis und die Familie Ullman ein Manufakturgeschäft. In Fredrikstad hatte Abraham Bernstein ein Warenhaus und in Halden die Familie Jaffe einen Laden. Goecke befahl dennoch der norwegischen Polizei, für Plakate zu sorgen und sie anzukleben. Das geschah ausgerechnet an dem symbolträchtigen 17. Mai, dem Nationalfeiertag. In einer Stadtgeschichte von Moss ist das nachzulesen: Am 17. Mai 1940 waren viele Einwohner von Moss schockiert, als sie entdeckten, dass Harry Benkows Zahnarztpraxis mit großen gelben Plakaten, einem Davidstern und den Worten ‚Jüdischer Zahnarzt‘ versehen worden war. Isak und Idas Manufaktur40 Hilberg (1985), S. 53. 41 Bundesarchiv, SSO-18A Goecke, Wilhelm. Goecke wurde im Juli 1941 wegen eines Disziplinvergehens in der Waffen-SS zur Rechenschaft gezogen. Er wurde vom aktiven Dienst zum Dienst in Konzentrationslagern versetzt. 1942 war er wieder in Norwegen, jetzt als Leiter des berüchtigten Lagers Beisfjord im Bezirk Nordland, in dem jugoslawische Kriegsgefangene misshandelt und ermordet wurden. Er galt trotzdem als nicht eifrig genug und wurde erneut versetzt, diesmal nach Mauthausen in Österreich. Später übernahm er die Leitung des Konzentrationslagers Warschau, des berüchtigten Lagers, in dem Überlebende des Ghettoaufstandes in der Stadt und Kommandos aus dem Auschwitz-Komplex einsaßen. Zu diesen gehörten auch zwei Juden aus Norwegen. Noch später übernahm Goecke das KZ Kauen. Im Juli 1944 wurde er zu einem Spezialkommando an der Adria unter der Führung von Odilo Globocnik beordert, einem der Architekten der Todeslager Belzec, Sobibor und Treblinka. Goecke starb im Kampf gegen Partisanen in Norditalien am 22. Oktober 1944.

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geschäft bekam ein entsprechendes Plakat mit der Aufschrift ‚Jüdisches Geschäft‘. Auf einem anderen Anschlag stand das Gleiche auf Norwegisch – in kleinerer Schrift. Die deutsche Gestapo in Fredrikstad hatte das befohlen. Aber die Polizei in Moss führte den Befehl aus.42

Es stellte sich aber heraus, dass die örtliche Dienststelle der Sicherheitspolizei in Fredrikstad mit der Sache nichts zu tun hatte – jedenfalls bestritt sie das später. In Moss lebte Hans S. Jacobsen, Redakteur der nationalsozialistischen und stark antisemitischen Zeitschrift Ragnarok und später Bezirkspräsident (fylkesmann) des Quisling-Regimes. Benkows Zahnarzpraxis lag in dem Haus, in dem Jacobsen wohnte. Jacobsen hatte schon Kontaktpersonen unter den Besatzern. Dazu gehörte der Kommandant der deutschen Besatzungstruppen in Oslo und am Oslofjord, General von Kemski. Nachdem er die Sache dem General zunächst mündlich vorgetragen hatte, schrieb Jacobsen ihm am 29. Mai einen Brief. Am 17. Mai wurden an den Türen und Fenstern der beiden jüdischen Geschäfte in Moss Plakate angebracht. Moss ist eine Stadt von ungefähr 12.000 Einwohnern und mit einem jüdischen Manufakturhändler und einem jüdischen Zahnarzt. [...] An dem Haus, in dem ich wohne und in dem auch der Zahnarzt seine Räume hat, wurde ein Plakat am Haupteingang angebracht, und das in einem Haus, in dem zwei norwegische antisemitische Zeitschriften ihre Büros haben. Nach Verhandlungen mit örtlichen Vertretern der SS-Totenkopfverbände wurde dieses Plakat entfernt. Die Bevölkerung in Moss hat sich über die Plakatanschläge wegen der darin zum Ausdruck kommenden antisemitischen Tendenz furchtbar aufgeregt – beide Juden sind ruhige, fleißige, politisch zuverlässige Menschen, die in der Stadt hoch angesehen sind –, aber auch, weil dies ein Eingriff in innere norwegische Angelegenheiten ist. Norweger sind ein trotziges Volk, und die praktische Bedeutung des Eingriffs kann – wie ich die Reaktionen der Leute einschätze – zu mehr Sympathie für die beiden Juden führen. Das kann ja nicht beabsichtigt gewesen sein.43

Kopien des Briefes schickte Jacobsen an Terbovens Privatsekretär Dr. Lehmann und den späteren Polizeiminister Jonas Lie. Aus einem Bericht des örtlichen Chefs des SS-Totenkopfregiments Nr. 6 in Moss geht hervor, dass Jacobsen ohne Rücksprache mit ihm das Plakat an dem Haus, in dem er wohnte, entfernt hatte. Ein örtlicher Pfarrer hatte auch gegen die Plakate 42 Andresen (1994), S. 330. 43 RA, Statspolitiet, jødeaksjoner, Mappe 25, Sachakten C II B, Abschrift eines Briefes von Hans S. Jacobsen an General von Kemski vom 29. Mai 1940.

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protestiert. Der Bataillonschef fügte trocken hinzu, der betreffende Pfarrer sei Freimaurer des achten Grades.44 Ende Mai begann auch der Verwaltungsrat sich für die Angelegenheit zu interessieren. Richter Harbek im Justizministerium rief den Polizeidirektor Wiegeland in Moss an und verfügte, Aktionen dieser Art, über die das Ministerium nicht informiert sei, zu unterlassen.45 Das waren geradezu Anflüge von Hysterie, in der norwegischen Bürokratie ebenso wie in Terbovens engerer Umgebung und bei der Sicherheitspolizei in Oslo. Am gleichen Tag, an dem Harbek den Polizeidirektor in Moss anrief, reiste ein Vertreter der deutschen Sicherheitspolizei in die Stadt, um die Sache bei der örtlichen Kommandantur zu untersuchen. Ein Gerücht in Oslo besagte, es seien nicht nur Plakate angebracht, sondern auch Geschäfte geplündert worden. Das Gerücht von der Plünderung erwies sich als unwahr.46 Terboven erhielt auch einen Anruf des Oberbefehlshabers der deutschen Wehrmacht in Norwegen, Generaloberst von Falkenhorst. Dieser behauptete, die Sicherheitspolizei sei in Moss eigenmächtig gegen Juden vorgegangen. Der wütende Terboven verlangte einen Bericht der Sicherheitspolizei. Deren Befehlshaber Stahlecker bat Fehlis zu untersuchen, wieso Terboven so etwas behaupten könne und wer ihn informiert habe.47 Nur zwei Tage später schrieb Goecke einen Brief an die Polizeidirektoren in Fredrikstad, Halden, Moss und Sarpsborg. Der Brief ist ein Rückzug auf der ganzen Linie, kaschiert durch Goeckes Behauptung, er sei erst, nachdem er seinen Befehl erteilt hatte, darauf aufmerksam gemacht worden, dass sich in Østfold „eine ungeheuer kleine Anzahl Juden“ befinde. „Anständige Deutsche“, so meinte er, könnten nicht in jüdischen Geschäften einkaufen. Aber wenn die Zahl der Juden so klein sei, genüge es, intern bekanntzumachen, welche Geschäfte in jüdischer Hand seien. „Eine besondere Kennzeichnung jüdischer Geschäfte ist daher nicht zweckmäßig, und ich ziehe meinen früheren Befehl zurück.“48 Goecke bekam also, anders gesagt, die klare Anweisung, dass die Schilder sofort zu entfernen seien. Stahlecker bat zugleich seine Dienststelle in Fredrikstad, ähn44 Ebd. Bericht des 1. Bataillons des SS-Totenkopf-Infanterieregiments Nr. 6 an den Chef des Regiments. Moss, den 31. Mai 1940. 45 Ebd. 46 Ebd. Undatierte telefonische Mitteilung. Der Befehl vom Einsatzkommando Oslo durch Hauptsturmführer Podlich kam am 29. Mai um 18.15 Uhr. 47 Ebd. Brief des BdS Walter Stahlecker an Sturmbannführer Fehlis, Einsatzkommando Oslo, vom 1. Juni 1940 mit dem Vermerk Eilt. 48 Ebd. Brief der Außendienststelle Fredrikstad an das EK Oslo vom 14. Juni 1940. Goeckes Brief an die Polizeidirektoren wird in diesem Brief zitiert.

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liche Einzelaktionen künftig zu unterbinden.49 Mitte Juni wurde außerdem festgelegt, dass eine entsprechende Kennzeichnung von Geschäften in Oslo nicht geplant sei.50 Der Verwaltungsrat diskutierte auch, ob der Polizeidirektor in Moss abgesetzt werden müsse, weil er zu „deutschfreundlich“ sei.51 Die Kennzeichnung jüdischer Geschäfte in Østfold hatte also viel mehr Widerstand ausgelöst als die Einziehung der Radioapparate der Juden. Und anscheinend war der stärkste Widerstand aus den eigenen Reihen der Nazis gekommen, von dem Nationalsozialisten Hans S. Jacobsen, von der Wehrmacht und von Terboven höchstselbst. Aber weder Jacobsens Protest noch das Zurückweichen der Deutschen hatte etwas mit Sympathie für Juden zu tun. Wie einer der Gestapomänner in Fredrikstad bemerkte, war der Rückzug allein „Prestigegründen“ geschuldet.52 Die Ereignisse in Østfold werfen aber ein Licht auf die Strategie des Reichskommissars. Aktionen, die ein negatives Echo auslösten, sollten vermieden werden. Terboven wollte die Norweger für den Nationalsozialismus gewinnen, und in dem Zusammenhang musste auch „die Judenfrage“ warten. Aber jüdische Geschäfte wurden auch an anderen Orten markiert, und ohne dass es zu irgendwelchen Reaktionen kam. In Kristiansand geschah das an zwei Geschäften am 24. Mai. Beide gehörten Juden, die in anderen Städten ansässig waren, das eine Moritz Rabinowitz aus Haugesund, das andere Julius Feins aus Stavanger. Auf den Schildern stand „Jüdisches Geschäft“, aber kein Davidstern. Auch in Kristiansand hatte die norwegische Polizei auf Befehl des deutschen Stadtkommandanten die Schilder angebracht. Der Befehl erging an dem Tag, an dem auch nach Radioapparaten von Juden gesucht wurde – in einer Stadt, in der keine Juden wohnten. Erst im Spätherbst, am 17. Oktober, kam der Bescheid, dass die Schilder entfernt werden könnten.53 Die Frage, wie man gegen Juden und jüdisches Geschäftsleben vorgehen solle, wurde in dieser frühen Phase der Besatzungszeit viel diskutiert. Was dabei herauskam, war eine diskrete Erfassung sowohl von Juden als auch von jüdischen Betrieben. Mit anderen Worten: Man wollte in Norwegen nicht so vorgehen wie in anderen westlichen Ländern. Terboven glaubte immer noch, mit der verbliebenen politischen und bürokratischen Schicht in Norwegen ein Abkommen schließen zu können. Aber selbst nach dem September 1940, als die Verhandlungen über einen 49 Ebd. Brief der Außendienststelle Fredrikstad an das EK Oslo vom 3. Juni 1940. Vermerk unten auf der Seite 6. Juni. 50 Ebd. Bericht des EK Oslo vom 11. Juni 1941. 51 Ebd. Auszug aus dem Journal der Außendienststelle Fredrikstad für die Tage vom 29. Mai bis 2. Juni 1940. 52 Brief der Außendienststelle Fredrikstad an das EK Oslo vom 3. Juni 1940. 53 Hagen, Kvanvig und Tronstad (2010), S. 62.

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permanenten Reichsrat gescheitert waren, änderte sich am Umgang mit den Juden praktisch erst einmal nichts. Hier spielte Erfahrung eine Rolle: Die Einziehung der Radioapparate, die in ruhigen Formen und ohne nennenswerten Widerstand stattgefunden hatte, war Aktionen vorzuziehen, die wie ein Magnet negative Reaktionen anzogen. Beunruhigender für norwegische Juden war indes, dass norwegische Polizei zur Besatzungsmacht nicht nein sagen konnte oder wollte. Die Markierung jüdischer Geschäfte hatte keinerlei Grundlage in norwegischen Gesetzen, und auch die Besatzungsmacht hatte keine Verordnung erlassen. Die Polizei war Wilhelm Goecke gefolgt, dem örtlichen Kommandeur der Besatzungstruppen, statt sich zunächst an das weiterhin amtierende Justiz- oder Polizeiministerium zu wenden. Das war das erste Anzeichen dafür, dass der Polizeisektor gegen Maßnahmen der Besatzungsmacht kaum systematischen Widerstand leisten würde. Natürlich hatten Norwegen und norwegische Behörden keine Erfahrung mit dem Besetztsein. Wo verlief die Grenze dessen, was die Besatzungsmacht sich erlauben konnte? Die deutsche Erfassung von Juden begann schon vor den Ereignissen in Østfold, und von Anfang an war norwegische Polizei einbezogen. Am 15. Mai 1940, nur fünf Tage nach Wilhelm Essers Aufforderung an die Osloer Polizei, die Radioapparate der Juden einzuziehen, bat Polizeipräsident Welhaven die Mosaische Glaubensgemeinschaft, eine Liste ihrer Mitglieder einzusenden. Das geschah auf Ersuchen „deutscher Behörden in Oslo“. Gemeint war die deutsche Sicherheitspolizei. Welhaven bat, die Liste möglichst bald bei der Fremdenpolizei abzugeben.54 Entsprechend verlangte das Polizeipräsidium in Trondheim 14 Tage später von der jüdischen Gemeinde der Stadt die Abgabe einer Mitgliederliste. Auch hier war der Empfänger die Fremdenpolizei, und diese übergab die Liste später der deutschen Sicherheitspolizei.55 Der Sekretär der Gemeinde, Oskar Mendelsohn, wurde auch von norwegischen Polizeiangehörigen gebeten, einen eventuellen Zusammenschluss der jüdischen Gemeinden in Oslo und Trondheim zu sondieren, damit man eine bessere Übersicht über die Juden in Norwegen bekäme.56 Später, im August 1940 und April 1941, wurden die beiden Gemeinden aufgefordert, eine Liste nicht nur der eigenen Mitglieder, sondern aller „Volljuden“ einzureichen. Im April 1941 kam die Aufforderung direkt von Wilhelm Wagner von der deutschen Sicherheitspolizei. Die jüdischen Gemeinden hatten natürlich kei54 DMT, AS-11009, D-0018, Brief von Polizeipräsident Welhaven an die Mosaische Glaubensgemeinschaft, z. Hd. Vorsteher Mendel Bernstein. Der Brief trägt den Eingangsvermerk 17. Mai 1940. 55 Mendelsohn (1986), S. 18. 56 Staatsarchiv Freiburg, F 175/16 Nr. 24, Zeugenvernehmung von Oskar Mendelsohn in Freiburg am 27. Juni 1967.

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ne volle Übersicht über Juden, die keine Mitglieder waren, aber in begrenztem Maße wurden auch sie mitgezählt.57 Zusätzlich erhielt das Einsatzkommando Oslo schon sehr bald nach der Invasion Übersichten über Juden aus mehreren Orten des Landes. So sandte die Polizeidirektion des Bezirks Vestoppland im August 1940 an die Außendienststelle Lillehammer eine Übersicht über norwegische und deutsche Juden in ihrem Bezirk.58 Die deutsche Grenzpolizei in Elverum sandte im Juli 1940 eine entsprechende Übersicht an den Befehlshaber der Ordnungspolizei in Oslo, der die Liste auch an die Sicherheitspolizei weiterleitete.59 Zugleich wurden auch die Jüdische Hilfsvereinigung, der Jüdische Jugendverein, ja sogar das jüdische Bestattungsinstitut Chevra Kadisha aufgefordert, ihre Mitgliederlisten einzureichen.60 Auskünfte über diese und andere Organisationen, u. a. Menschenrechtsorganisationen, schickte das Einsatzkommando Oslo an das RSHA in Berlin.61 Der erste norwegische Jude, der von der deutschen Sicherheitspolizei vernommen wurde, war vermutlich David Goldberg aus Oslo.62 Er war Sekretär der Jüdischen Hilfsvereinigung. Diese war ein Teil des gut entwickelten jüdischen Organisationslebens in Norwegen. Vor Kriegsausbruch hatte sie bei der Aufnahme staatenloser Flüchtlinge eng mit der Nansenhilfe zusammengearbeitet (siehe Kapitel 7). Am 22. Mai 1940 vermerkte die deutsche Sicherheitspolizei, David Goldberg sei wahrscheinlich ein deutscher Emigrant und arbeite (daher) aktiv gegen das

57 Mendelsohn (1986), S. 18. 58 RA, Statspolitiet, Judenaktionen, Mappe 25 Sachakten C II B 2. Untermappe: Sachakten C II B 2 (9) Auswärtige Juden. Brief der Vestoppland politikammer an die Deutsche Sicherheitspolizei, Lillehammer, 7. August 1940. 59 Ebd. Brief der Deutschen Grenzpolizei – Posten Elverum – an den Befehlshaber der Ordnungspolizei, Der Grenzinspekteur Nord, vom 7. Juli 1940, Aktenzeichen: Tagebuchnr. 19/40. 60 Mendelsohn (1986), S. 18. Chevra Kadisha hatte natürlich keine eigentlichen Mitglieder, allerdings einen Vorstand. 61 RA, Staatspolizei, Judenaktionen, Mappe 25 Sachakten C II B 2. Untermappe: Jüdische Verbände. Übersicht über die vom EK Oslo bezeichneten „jüdischen Organisationen“ vom 5. August 1940. Akenzeichen: Tagebuchnr. 804/40. Siehe auch Abschrift des Briefes des EK Oslo an das RSHA, Referat IV A 5, vom 9. September 1940, worin das EK über die Tätigkeit der Jüdischen Hilfsvereinigung in Norwegen berichtet. Es heißt da u. a., die Vereinigung betreibe „hetzerische antideutsche Tätigkeit“. 62 Goldberg war 1879 in Wilna geboren. Er heiratete dort Anna Bojarin, die auch 1879 dort geboren war. 1908 emigrierte er nach Norwegen. Goldberg wurde zusammen mit seinem Sohn Alexander mit der Gotenland deportiert. Seine Frau und zwei andere Kinder wurden mit der Donau deportiert.

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Dritte Reich.63 Es liegt auch ein Vernehmungsbericht vor. Dem Verein wurde auferlegt, eine Mitgliederliste und eine Liste der Personen, die unterstützt wurden, einzureichen. Goldberg gab die Liste der unterstützten Juden ab, weigerte sich jedoch, die Namen aller Beitragszahler zu nennen.64 Das Interesse des EK Oslo an Goldberg wurde verstärkt durch den Umstand, dass sein Sohn Alexander Goldberg hieß.65 Auch er wurde zur Gestapo bestellt. Dass die Sicherheitspolizei solchen Aufwand trieb, lag an der Bitte des RSHA, nach einem Dr. Alex Goldberg Ausschau zu halten. Erst nach mehreren, für David Goldberg und seinen Sohn sehr belastenden Monaten konnte das EK Oslo feststellen, dass die Jüdische Hilfsvereinigung keine antideutsche und „hetzerische Vereinigung“ war und dass weder der Vater noch der Sohn deutsche Emigranten waren: Ein Emigrant Dr. Alex Goldberg ist hier nicht zu ermitteln. Ein Dr. Alex Goldberg war niemals Mitglied der ‚Jüdischen Hilfsvereinigung‘ bzw. Vorstandsmitglied. Der dem Vorstand angehörende Jude David Goldberg ist vor etwa 23 Jahren nach Norwegen eingewandert, hat die norw. Staatsangehörigkeit erworben und ist seit 20 Jahren Mitglied der ‚Jüdischen Hilfsvereinigung‘. Goldberg ist bisher noch nicht in Erscheinung getreten.66

Auch der Jüdische Jugendverein musste eine Mitgliederliste einreichen.67 Dem Historiker Oskar Mendelsohn zufolge wurde die Liste vor der Abgabe zurechtgestutzt, aber sie enthielt dennoch wichtige Auskünfte über 141 Personen, darunter deren Geschäftsadressen und das Jahr der Einreise nach Norwegen.68 Das EK Oslo erstellte auch Listen über Juden, die nicht die norwegische Staatsbürgerschaft hatten, und über ausländische und norwegische Ärzte jüdischer Herkunft.69 Die Übersicht über Staatenlose entstand, indem allen staatenlosen Perso63 RA, Staatspolizei, Judenaktionen, Mappe 25 C II B 2 Jüdische Hilfsvereine. Bemerkung des Einsatzkommandos Oslo vom 2. Mai 1940. Aktenzeichen: C II B 4 Nr. 468/40. 64 Mendelsohn (1986), S. 18. 65 Alexander Goldberg war 1905 in Wilna geboren. Seine Frau Eva (geb. Fein) floh im Dezember 1942 nach Schweden. 66 RA, Staatspolizei, Judenaktionen, Mappe 25 Sachakten C II B 2. Untermappe mit dem Vermerk Sachakten C II B 2. Bericht vom August 1940. 67 Der Jüdische Jugendverein wurde 1909 als Israelitische Jugendvereinigung gegründet. Zu den treibenden Kräften dabei gehörte Aron Grusd, der 1916 die Initiative zu einer gemeinsamen nordischen Jugendvereinigung ergriff: Skandinavische Jüdische Jugendvereinigung. Der Jüdische Jugendverein löste sich 2003 auf. 68 Mendelsohn (1986), S. 18 f. RA, Staatspolizei, Judenaktionen, Mappe 25 Judenaktionen C II B 2, Untermappe mit dem Vermerk Jüdische Jugendvereine. 69 Ebd. Untermappe mit dem Vermerk Jüdische Ärzte. Siehe Liste über jüdische Ärzte in

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nen, Juden wie Nicht-Juden, schon im April 1940 befohlen wurde, sich bei den Dienststellen der Deutschen Sicherheitspolizei zu melden. Nicht nur in Norwegen interessierte man sich für die Juden im Lande. Das deutsche Auswärtige Amt erbat am 24. Juli in einem Brief an den Reichskommissar in Oslo eine statistische Übersicht über Juden in Norwegen. Die Bitte kam von der Abteilung Deutschland, die am intensivsten an antijüdischer Politik arbeitete. Allerdings besaß das Auswärtige Amt schon eine Übersicht. In dem Brief wurde verwiesen auf Friedrich Hermann Zanders Buch Die Verbreitung der Juden in der Welt – 1937. Das AA wollte wissen, ob die Statistik in diesem Buch immer noch den Tatsachen entsprach. Das Amt hielt es für wichtig festzustellen, wie viele Juden in den einzelnen Ländern lebten und in welchen Unternehmen der Großindustrie und des Handels sie besonders vertreten waren.70 Das Reichskommissariat in Norwegen antwortete erst ein Jahr später, am 5. Juni 1941. Rudolf Schiedermair, der Leiter des Justizamtes in der Verwaltungsabteilung, konkretisierte in einem Brief die mit einer solchen Übersicht verbundenen Probleme: Die Feststellungen über die Verbreitung der Juden in Norwegen, insbesondere die Ermittlungen über die jüdischen Bevölkerungszahlen, stoßen auf Schwierigkeiten, da früher die Meldepflicht der Juden nur recht ungenügend durchgeführt worden ist.71

Die Antwort offenbart die Ambivalenz der deutschen Besatzungsorgane in dieser Frage. Die schlichte Wahrheit war, dass im Gegensatz zu den Niederlanden, Belgien und dem besetzten Frankreich in Norwegen keine „Meldepflicht“ eingeführt worden war. Dennoch konnte Schiedermair eine gewisse Übersicht liefern. Dem Brief ­zufolge waren Zanders Angaben immer noch einigermaßen korrekt. Jüdischer Einfluss und jüdisches Kapital – so Schiedermeir – seien besonders auf die Textilbranche konzentriert. „Das Judenkapital“ in Oslo veranschlagte er auf ungefähr 6 Millionen Kronen und die Zahl der Juden in Norwegen auf genau 1106 Per-

Norwegen, ausgearbeitet vom EK Oslo, 25. Juli 1940, und Liste über „nicht inländische Ärzte“ und „Emigrantenärzte“, 28. Juli 1940. 70 AA, Politisches Archiv. Auswärtiges Amt Inland II A/B. Akten betreffend Juden in Norwegen von 1935 bis 1943. Entwurf eines Briefes von Legationsrat Rademacher in der Abteilung Deutschland an den Reichskommissar in Norwegen. 71 Ebd. Brief des Reichskommissariats, Hauptabteilung Verwaltung, gez. Schiedermair, an das Auswärtige Amt vom 5. Juni 1941.

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sonen.72 Die Zahl ist erheblich niedriger als die bei der J-Stempelung im Januar/ Februar 1942 ermittelte (siehe Kapitel 5). Einige Wochen vor Schiedermairs Antwort an das Auswärtige Amt wurde die Mosaische Glaubensgemeinschaft in Oslo noch einmal aufgefordert, eine Übersicht über Juden zu erstellen. Wagner und sein Mitarbeiter Böhm suchten den Sekretär der Gemeinschaft, Harry Koritzinsky, persönlich auf. Die Sicherheitspolizei wollte die Listen praktisch sofort haben. In biblischer Sprache bat Koritzinsky auch die Glaubensgemeinschaft in Trondheim um Einsendung der Übersicht: Von der Deutschen Sicherheitspolizei in Oslo ist die Zählung der Juden in Norwegen angeordnet worden. Sie müssen daher alle Häupter in der Gemeinde zählen, also Juden jeden Alters, und uns die Angaben umgehend per Post senden. In die Zählung sollen auch Nichtmitglieder aufgenommen werden, jedoch nur Voll-Juden.73

Zweifellos stand Koritzinsky unter starkem Druck. Aus seiner Antwort an die Sicherheitspolizei geht hervor, dass man ihm das Heft „Die Volkszählung in Norwegen im Dezember 1930, II“ überlassen hatte, das er nun zusammen mit seiner Statistik zurückschickte. In dieser war die Übersicht aus Trondheim nicht enthalten, weil die Antwort von dort noch nicht eingetroffen war. Abschließend schreibt Koritzinsky wörtlich: „Die Zählung ist von mir durch Mitgliederverzeichnis der j. Gemeinde und durch verschiedene Adressen gemacht worden.“.74 Er hatte also auch seine persönlichen Kenntnisse genutzt; er wusste, wo Juden (Nichtmitglieder eingeschlossen) wohnten. Dennoch: Heute wissen wir, dass er nicht alle erfasst hatte. Die Zahl der Juden in seiner Übersicht lag erheblich unter der tatsächlichen Zahl. Das kann mehrere Gründe haben. Koritzinsky wusste nicht von allen jüdischen Flüchtlingen, die sich in Norwegen aufhielten. Er hätte allerdings die meisten erfassen können, wenn er genauer vorgegangen wäre, sich beispielsweisean die Jüdische Hilfsvereinigung gewandt hätte. Über diese Juden hatte indes die Gestapo selbst 72 Ebd. Der genaue Text lautet: „Das gesamte Judenkapital läßt sich mit Anspruch auf Genauigkeit nicht angeben. Das Judenkapital – soweit es in Oslo erfaßt werden konnte – beträgt ohne Berücksichtigung etwaiger jüdischer Beteiligungen im Ausland rund 6 Millionen norwegische Kronen. Diese Summe wird sich bei der Durchführung umfassender Erhebungen und bei Einbeziehung des jüdischen Kapitals im übrigen Land nicht unwesentlich erhöhen.“ 73 DMT, AS-11009, Durchschlag des Briefes der DMT Oslo an die DMT Trondheim vom 21. April 1941. 74 Ebd. Durchschlag des Briefes der DMT Oslo an die Deutsche Sicherheitspolizei vom 29. April 1941.

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schon eine Übersicht, denn alle staatenlosen Juden mussten sich ja bei ihr melden. In der Übersicht aus Trondheim, die der dortige Sekretär Oskar Mendelsohn erstellt hatte, sind fast alle Juden erfasst, auch zwei tschechische Kinder, die bei Pflegeeltern in der Stadt lebten. Zwei jüdische Mathematiker, beide Flüchtlinge aus Mitteleuropa, sind dagegen nicht aufgeführt. Vielleicht hat Mendelsohn sie nicht gekannt – sie ließen sich auch später nicht als Juden registrieren –, aber das ist wenig wahrscheinlich.75 Zu dieser Zeit, im April 1941, befanden sich etwas mehr als 30 tschechische und slowakische Kinder in Norwegen. Einige von ihnen wurden auf Wunsch der Eltern von der Nansenhilfe im gleichen Monat nach Hause geschickt. Von diesen Kindern sind in den Listen der beiden Gemeinden nur die zwei in Trondheim aufgeführt. Das liegt daran, dass die Mitarbeiter der Nansenhilfe sehr genau darauf bedacht waren, wegen der Kinder kein Aufsehen zu wecken. Dass Koritzinsky von den Kindern wusste, wenn auch nicht unbedingt von ihrem Aufenthaltsort, liegt auf der Hand. Im Unterschied zu anderen besetzten Gebieten in Westeuropa spielten die jüdischen Organisationen in Norwegen bei der Beschaffung von Übersichten über die Juden im Land keine bedeutende Rolle. Sie wurden nicht zur Gründung sogenannter Judenräte gezwungen, die von Organen der deutschen Sicherheitspolizei kontrolliert wurden. In den Niederlanden, in Belgien und Frankreich wurden solche Organe etabliert, die man danach zwang, Judenkarteien anzulegen. Noch später wurde diesen Judenräten auch auferlegt, Listen zu erstellen über Juden, die „nach Osten“ transportiert werden sollten. Im nächsten Kapitel werden wir sehen, wie die J-Stempelung der Ausweise norwegischer Juden die Grundlage der Verhaftungen und Deportationen im Herbst 1942 bildete. Mit dieser Registrierung hatten aber die jüdischen Organisationen oder Gemeinden nichts zu tun, auch nicht mit dem, was dann im Herbst 1942 geschah. Dass einzelne Juden in Norwegen von der Gestapo unter Druck gesetzt wurden, auch von Wagner und seinem Mitarbeiter Böhm, ist klar erwiesen. Der Druck hatte viele Formen: Juden wurden aufgefordert, über bestimmte Milieus Auskunft zu geben; sie wurden aus ihren erlernten Berufen entfernt; sie wurden zur Herausgabe von Geld oder Wertsachen gezwungen. In Kapitel 9 zeige ich, wie die Deutsche Sicherheitspolizei Juden als Agenten und Provokateure benutzte. Im März 1941 schrieb die NS-kontrollierte Reichsvereinigung der Juden in Deutschland an die Gemeinde in Oslo mit der Bitte um eine Übersicht über die Zahl der Juden in Norwegen. Das Material sollte anscheinend in eine „Bevölkerungs-Statis75 Es handelt sich um Ernst Erich Jacobsthal, geb. 1882 in Berlin, und Paul Kuhn, geb. 1901 in Prag. Sehr wahrscheinlich standen beide in Trondheim unter dem Schutz der Norwegischen Technischen Hochschule. Sie gelangten im Januar 1943 wohlbehalten nach Schweden.

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tik der Juden in den wichtigsten europäischen Ländern“ einfließen. Dem Brief war ein Bogen beigelegt, auf dem u. a. die Gesamtzahl der Juden in Norwegen, die Zahl der Glaubensjuden, die Verteilung der Juden auf Berufsgruppen, aber auch eine Übersicht über jüdische Geschäftstätigkeit angegeben werden sollten.76 Auch jüdische Gemeinden in anderen skandinavischen Länden bekamen solche Anfragen.77 Gleichzeitig erhielt auch das Auswärtige Amt Berichte über die Haltungen zu Juden in dem „neuen Norwegen“. Das Deutsche Nachrichtenbüro meldete, die Juden spielten wegen ihrer geringen Zahl in der norwegischen Gesellschaft eine unbedeutende Rolle. Dennoch habe die Zeitschrift Fritt Folk sich mit „der Judenfrage“ befasst, und zwar besonders mit „der jüdischen Geschäftsmoral“. Das neue Norwegen nehme eine klare antisemitische Haltung ein.78 Deutsche Behörden suchten also die Juden demographisch zu erfassen und zugleich eine Übersicht über jüdische Geschäfte und Betriebe in jüdischem Besitz zu gewinnen. Schon am 15. Juli 1940 wandte sich der Befehlshaber der Ordnungspolizei an das EK Oslo mit der Bitte um eine Liste jüdischer Geschäfte in der Hauptstadt. „Es ist vorgekommen, daß Offiziere wie auch Wachtmeister aus Unkenntnis in jüdischen Geschäften gekauft haben.“79 Aus einem Vermerk des EK Oslo geht hervor, dass es eine solche Übersicht nicht gab. Daher musste in aller Eile „eine vereinfachte Liste“ erstellt werden. Dabei waren eine Liste der Landesgruppe der NSDAP, der Auslandsorganisation der deutschen NSDAP und Informationen aus dem Heft Wer ist wer in der Judenwelt von Mikal Sylten „eine unschätzbare Hilfe“.80 Die Arbeit des antisemitischen Phantasten Sylten beruhte allerdings zum Teil auf Vermutungen: Er hatte Geschäfte einbezogen, deren Inhaber einen für ihn jüdisch klingenden Namen hatten, ohne dass es sich immer um einen Juden handelte. Die drei Seiten lange Übersicht enthielt deshalb auch Geschäfte, die nicht in jüdischem Besitz waren.81 76 DMT, AS-11009, D-0018. Der Brief datiert vom 24. März 1941. 77 Mendelsohn (1986), S. 20. 78 AA, Politisches Archiv. Auswärtiges Amt Inland II A/B. Akten betreffend Juden in Norwegen von 1935 bis 1943. Meldung Nr. 289 des Deutschen Nachrichtendienstes, 15. Oktober 1940. 79 RA, Staatspolizei, Judenaktionen, Mappe 25 Sachakten C II B 2. Untermappe mit dem Vermerk Sachakten C II B 2 (6). Ein zweiter Brief datiert vom 17. August 1940, beide unter dem Geschäftszeichen B.d.O. I a 51-20 Nr. 226/40. 80 Ebd. Vermerk des EK Oslo, zusammen mit einer Liste mutmaßlicher jüdischer Geschäfte in Oslo vom 2. August 1940. Die Landesgruppe der NSDAP hatte schon in den 1930er Jahren jüdische Handelsinteressen in Norwegen zu erfassen versucht. Siehe Mendelsohn (1969), S. 638 ff. 81 Ebd. Liste „Juedische Geschäfte in Oslo“ vom 22. Juli 1940. Die Liste wurde am gleichen Tage dem Befehlshaber der Ordnungspolizei übersandt

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Trotz dieser Schwierigkeiten konnte die deutsche Handelskammer in Oslo im September 1941 dem Reichskommissariat mitteilen, dass nun eine „Warnungskartei“ über jüdische und deutschfeindliche Geschäfte in Norwegen erstellt werden solle. Nach Meinung der Handelskammer konnte es dem deutschen Ansehen in Norwegen schaden, wenn die Wehrmacht oder das Reichskommissariat mit solchen Betrieben Verträge schlossen. Die Kammer fügte hinzu, dass regelmäßig aktualisierte Listen versandt würden.82 Die ersten „offiziellen“ Listen gingen im Oktober 1941 hinaus, und nun waren die Abläufe besser organisiert, sodass die deutschen Organe, zivile wie militärische, die auf dem norwegischen Markt einkauften, die Übersichten regelmäßig einsehen konnten. Diese gingen an insgesamt 15 deutsche Verwaltungsorgane, darunter den Befehlshaber der Sicherheitspolizei und die militärische Abwehrstelle Norwegen. Das Verzeichnis jüdischer Betriebe umfasste 15 Seiten und war recht genau geführt. Es war zwar nicht ganz vollständig, aber die meisten Firmen in jüdischem Besitz waren aufgeführt. Eingeschlossen waren auch einzelne Firmen, die die Handelskammer für getarnte jüdische Geschäfte hielt, „betrieben von Ariern im Namen von Juden“.83 Im Laufe des Herbstes und Winters 1941 und 1942 wurde die Liste stets aktualisiert, und das schloss eine Übersicht über die wenigen Betriebe ein, die in der Zwischenzeit „arisiert“ worden waren oder deren jüdischer Mitbesitzer „ausgeschaltet“ worden war.84 Dass die Listen der Handelskammer wirklich verwendet wurden, steht außer Zweifel. Die Heeresverwaltung in Norwegen der deutschen Wehrmacht, also die für Einkäufe und Anschaffungen zuständige Abteilung, schickte die Liste an ihre untergeordneten Dienststellen, um diese vor Betrieben zu warnen, in denen nicht eingekauft werden sollte.85 In Norwegen waren die jüdischen Geschäfte nicht gekennzeichnet, und das war ein Problem. Im Februar 1942 bat z. B. das Luftwaffenkommando 5 das Reichskommissariat um eine Liste aller jüdischen Geschäfte. Das Reichskommissariat antwortete, es gebe kein autorisiertes Verzeichnis jüdischer Geschäfte. Es fügte 82 RA, RK, Dienststelle Lillehammer. Eingetroffene Briefe vom Reichskommissariat vom 1.10. bis 31.12.1941. Paket 5. Abschrift eines Briefes von Dr. Oncken von der Deutschen Handelskammer in Norwegen an das Reichskommissariat vom 12. September 1941. Geschäftszeichen A. Z.- 91383/41 Dr. O/Rü. 83 NHM FO II 11.4, Behälter 49, Mappe Deutsche Handelskammer – Unzuverlässige norwegische Firmen. 84 Siehe verschiedene Briefe ebd. 85 JMO, Privatarchiv. Abschrift eines Rundschreibens der Heeresverwaltung in Norwegen mit dem Vermerk Az. 62 C II (1) vom 31. Oktober 1941.

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aber hinzu, der Einsatzstab habe sich deswegen an Nasjonal Samling gewandt, jedoch noch keine Antwort erhalten.86 Als das Kommissariat später der Luftwaffe eine Liste sandte, geschah das mit dem Vermerk, dass diese leider nicht ganz vollständig sei. Es war die Liste der Deutschen Handelskammer. Der Vorgang verwundert, denn sowohl das Luftflottenkommando 5 als auch das Luftgaukommando Norwegen standen bereits auf der Verteilerliste der Handelskammer.87 Auch in Tagesbefehlen oder Standortbefehlen örtlicher deutscher Kommandanturen wurden Soldaten und Offiziere vor Geschäften in jüdischem Besitz gewarnt, damit sie Einkäufe in solchen Geschäften vermeiden konnten.88 Es ist scheinbar paradox, dass das Interesse an der Ausschaltung jüdischer Firmen nicht zu einer entsprechenden Verordnung des Reichskommissars führte. Indessen ist das ganz im Einklang mit einem Modus, der früh erkennbar wurde, nämlich dass die Besatzungsmacht keine eigenen antijüdischen Maßnahmen einführen wollte.

TERROR UND VERHAFTUNGEN Systematische Festnahmen mit dem Ziel, Juden aus Norwegen zu entfernen, gab es erst im Herbst 1942, aber der Terror traf Juden schon früh. Ich habe 17 Personen ermittelt, die vor dem Herbst 1942 deportiert wurden. Der erste Jude aus Norwegen, der in einem deutschen Konzentrationslager starb, war der staatenlose Flüchtling Eugen Lewin-Dorsch; er starb am 3. Oktober 1941 in Mauthausen. Mehrere jüdische Männer waren in deutschen Lagern und Gefängnissen in Norwegen inhaftiert. Manche saßen nur kurze Zeit ein, andere kamen nie mehr frei. Die vielen Verhaftungen, Beschlagnahmungen und der Terror beunruhigten und verun86 RA, RK, Verschiedenes, Paket 80. Brief von Dr. Wolffgramm vom Reichskommissariat, Hauptabteilung Volksaufklärung und Propaganda, an den Chef des Generalstabes beim Luftwaffenkommando 5 vom 5. März 1942. 87 Ebd. Brief von Dr. Wolffgramm an das Luftflottenkommando 5 vom 21. März 1942. 88 Ebd. Der Höhere SS- und Polizeiführer/Allgemeines. Anordnungen ausgestellt vom Befehlshaber der Waffen-SS 1940–45 etc. Paket 1. Standartenbefehl Nr. 75/40 der 7. SSTotenkopfstandarte vom 2. September 1940, worin die Soldaten des SS-Regiments vor jüdischen Geschäften in Drammen gewarnt werden. Siehe auch Rundschreiben des Reichskommissariats, Hauptabteilung Verwaltung, vom 13. November 1940 an alle Beschäftigten mit dem Bescheid, ein Besuch des Restaurants „Humlen“ in Oslo sei verboten. – Siehe ferner Rundschreiben der Hauptabteilung Verwaltung, Band 1, 11.5.1940– 30.11.1941 etc. Kommandanturbefehl Nr. 2 der Standkommandantur Bergen vom 20. Juni 1940. mit einer Liste über jüdische und deutschfeindliche Geschäfte. Universitätsbibliothek Bergen, Archiv des Coucheron-Komitees.

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sicherten norwegische Juden, aber wurden dennoch kaum als Vorübung zu einer Totalaktion begriffen. Festnahmen von Juden bei Einzelaktionen folgten keinem bestimmten Muster. Juden wurden von deutschen Polizeibehörden mit Saboteuren, Kommunisten und Verbreitern deutschfeindlicher Propaganda gleichgesetzt. Das ergab sich aus dem NS-Feindbild. Jüdische Familien in Kleinstädten fielen auf und waren per se gefährdet. Zudem wollte die deutsche Sicherheitspolizei sich gegen Personen schützen, die man für politisch besonders gefährlich hielt. Das galt vor allem für solche, die man als „Marxisten“ oder „Gegner“ definierte. Nun gehörte nicht viel dazu, unter diese Kategorien zu fallen. Es reichte zum Beispiel, dass ein Jude in einem Café verkehrte, das die deutschen Organe für verdächtig hielten, oder dass er Denunzianten zu nahe kam. Erst recht war die Situation natürlich äußerst ernst, wenn jemand schon in zentralen Polizeiregistern im RSHA als „gefährlicher Emigrant“ vermerkt war. Es ist oft schwer, die Ursachen einzelner Festnahmen zu rekonstruieren. Die Archive der Gestapo, in denen sämtliche Einzelfälle mit Angabe des Grundes verzeichnet waren, wurden von ihr selbst vor der Kapitulation vernichtet. Aber politische Betätigung oder Arbeit im Widerstand floss immer irgendwie in die Begründung ein, auch wenn die Festgenommenen sich nicht politisch betätigt hatten. Oft gaben auch ihre früheren Tätigkeiten oder Vermutungen der Gestapo den Ausschlag. „Emigranten“, d. h. Flüchtlinge, sowie „prominente“ norwegische Juden waren mehr gefährdet als andere, besonders Leiter jüdischer Organisationen oder Personen, die sich vor dem Krieg auf andere Weise hervorgetan hatten. Die staatenlosen Flüchtlinge, von der Gestapo oft als jüdische Emigranten bezeichnet, wurden als Erste verdächtigt. Juden aus Deutschland und den angeschlossenen Gebieten verloren nach der II. Verordnung zum Reichsbürgergesetz ganz ihre Bindung an das Reich, wenn sie sich im Ausland aufhielten.89 Die Verordnung wurde in Deutschland am 25. Oktober 1941 eingeführt und stand eigentlich in engem Zusammenhang mit der beginnenden Deportation von Juden aus deutschen Gebieten. Viele galten bei den deutschen Behörden aber schon lange vorher als staatenlos. Einige hatten ihre Staatsbürgerschaft verloren, als sie Deutschland verließen, sie waren ausgebürgert worden. Viele der staatenlosen Juden verließen Norwegen schon kurz nach der deutschen Invasion, aber einige waren weiterhin im Land.90 89 Siehe Korrespondnz im RA, RK 1940–45, Abt. Finanzen 2500, Paket 44. Die Verordnung sollte dafür sorgen, dass aus dem Dritten Reich oder besetzten Gebieten deportierte Juden ihre Staatsbürgerschaft verloren und dass der von ihnen hinterlassene Besitz dem Reich zufiel. 90 Zu den nach Schweden Geflüchteten siehe Kapitel 7.

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Das Bild dessen, was im Kielwasser der deutschen Invasion Norwegens geschah, wäre unvollständig ohne einen näheren Blick auf das Schicksal Einzelner. Eines steht fest: Solange die Politik unsystematisch und ohne klare Linie war, konnte jede beliebige Person jüdischer Abstammung festgenommen oder auf andere Weise schikaniert werden, ohne dass zugleich alle Juden ebenso betroffen waren. Da auch andere Norweger (oder nach Norwegen Geflohene) verhaftet oder interniert wurden, sind auch nicht alle Aktionen klar als antijüdisch zu erkennen. In Kapitel 3 haben wir gesehen, dass die deutsche Sicherheitspolizei ihren Terrorapparat in Norwegen recht langsam aufbaute. Nach dem ursprünglichen Plan sollte nur ein kleiner Stab der Sicherheitspolizei in Norwegen stationiert sein, gebunden an einen künftigen deutschen Botschafter und hauptsächlich beschäftigt mit Nachrichtendienst, vor allem der Erfassung deutschfeindlicher Milieus. Aber dieser Plan wurde aufgegeben. Im April 1940 kamen nur ungefähr 200 Angehörige der Sicherheitspolizei nach Norwegen, aber im Laufe des Jahres 1941 wurde die Zahl verdoppelt, und sie stieg bis 1945 auf 800 an. Zum Teil hatte das seinen Grund darin, dass es gegen Kriegsende nicht mehr viele Orte gab, zu denen man die frontuntauglichen Sicherheitspolizisten entsenden konnte.91 Schon früh beanspruchte die deutsche Sicherheitspolizei für die von ihr Festgenommenen norwegische Gefängnisse. Die bekanntesten sind wohl Møllergaten 19 in Oslo, Vollan in Trondheim und Arkivet in Kristinsand. Aber solche Gefängnisse gab es in vielen Städten. Nach und nach wurde Personal aus Gefängnissen in Deutschland nach Norwegen geholt. Schon im Juli 1940 errichtete die Sicherheitspolizei in Bergen ein eigenes Gefangenenlager auf dem Exerzierplatz Ulven außerhalb der Stadt. Dort war Platz für etwa 150 bis 200 Häftlinge. Der Initiator war Gerhard Flesch, der damalige Kommandeur der Sicherheitspolizei in Bergen. Juden waren unter den ersten Insassen, und wie erwähnt sorgte Flesch für ihre „Behandlung“ (vgl. Kapitel 3). Das nächste große neu errichtete Lager war das Polizeihäftlingslager Grini. Es war die Fortsetzung eines provisorischen Lagers, das bei Åneby in Hakadal, etwas nördlich von Oslo, etabliert worden war; dort hatte die Sicherheitspolizei von der Wehrmacht einige unfertige Baracken übernommen. Die Aktionen im Gefolge des Angriffs der Briten auf den Lofot (Operation Calymore) vom 4. März 1941 führten zur Erweiterung des Lagers. Nachdem Terboven die Situation vor Ort inspiziert hatte, wurden 60 Geiseln genommen, darunter drei Juden, und nach Süden trans91 Ottosen (2004), S. 33. Aus diesem Grund kamen gegen Kriegsende mehrere Angehörige der Sicherheitspolizei nach Norwegen, die vorher eine große Rolle im Mordapparat in Auschwitz gespielt hatten. Einige von ihnen sollten das norwegische Konzentrationslager Mysen aufbauen.

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portiert. Sie wurden im Gefängnis Møllergaten untergebracht, aber dort war nicht genug Platz. Darum beschlagnahmte die Sicherheitspolizei am 15. Juni 1941 das geplante Frauengefängnis in Grini am westlichen Stadtrand von Oslo. Juden gehörten zu den allerersten Gefangenen sowohl in Åneby als auch in Grini. Vor dem Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 wurde ein Lager auf der Südspitze der Insel am Stadtrand von Tromsø etabliert. Auch hier waren Juden unter den ersten Gefangenen. Nur einer von ihnen, der Arzt Oscar Bernstein, konnte später über den Aufenthalt dort berichten; die anderen wurden deportiert und ermordet. Im Herbst 1941, als Flesch als Kommandeur die Sicherheitspolizei in Trondheim übernahm, wurde in einem früheren Schülerheim in Ekne südlich der Kleinstadt Levanger das Polizeihäftlingslager Falstad errichtet. Dieses Lager sollte eine bedeutende Rolle spielen, nicht nur bei der Terrorisierung von Juden in Trondheim und anderen Gebieten Mittel- und Nordnorwegens, sondern auch bei der Festnahme aller in Trondheim verbliebenen jüdischen Männer am 6. Oktober 1942.92 Die ersten Juden kamen am 20. Dezember 1941 nach Falstad. Falstad wurde als das Lager bekannt, in dem Juden am übelsten misshandelt wurden, vielleicht weil drei Juden dort im November 1941 ermordet wurden (siehe Kapitel 6). Aber Juden wurden in allen Gefängnissen und Lagern härter angefasst als andere Gefangene. Die Misshandlung war oft ein Ritual, wie es ähnlich im ganzen besetzten Europa praktiziert wurde, aber selten war es Tortur im Sinne einer Methode, die die Gefangenen zu Geständnissen oder zur Preisgabe von Informationen zwingen sollte. Im Januar 1942 meldete die Botschaft in Stockholm, in deutschen Gefängnissen in Norwegen sei „das System mit dem Davidstern“ eingeführt worden.93 Ob der gelbe Stern in Grini eingeführt wurde, ist nicht ganz sicher. Oft gehörte das Lächerlichmachen jüdischer Rituale zur „Behandlung“, wie das folgende Beispiel aus Falstad zeigt: Als sie einmal im Steinbruch arbeiteten, ging der Wachmann plötzlich mit Tritten und Schlägen auf einen älteren Juden los. Schließlich lag der Arme am Boden und jammerte: ‚Ich sterbe, ich sterbe.‘ Plötzlich hatte der Deutsche einen Einfall: ‚Du bist tot. Rühr dich nicht!‘ Dann befahl er den anderen, ein Grab auszuheben, und der Jude wurde so hineingelegt, dass nur seine Nase herausragte. Dann musste sein Sohn, der 92 Die Darstellung des Aufbaus des deutsche Lagersystems folgt Ottoden (2004), S. 33-41. 93 NHM 52 C H4, Pressebulletin 73 vom 7. Januar 1942, S. 1. Siehe auch Borgen (1945), S. 200: „Natürlich mussten die Juden auf der Uniform einen großen gelben Davidstern tragen, damit sie für alle erkennbar sein sollten.“ Die Botschaft in Stockholm war die der norwegischen Exilregierung.

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auch dort war, nach dem jüdischen Ritual Erde auf das ‚Grab‘ streuen und die Bestattungszeremonie verrichten. Währenddessen amüsierte der Deutsche sich köstlich. Da hatte er den Kameraden etwas zu erzählen, ‚Heil Hitler!‘ Zweifellos erntete er bei seinen ‚arischen Kameraden‘ großen Beifall für seine geniale Idee.94

Schon im März 1942 berichtete die Norwegische Botschaft in Stockholm, dass Juden in Falstad „der allerbrutalsten Behandlung ausgesetzt“ würden.95 Der Bildhauer Odd Hilt, der nach Gefängnisaufenthalten in Falstad und Vollan am Silvestertag 1942 nach Schweden floh, erzählte dies von der Behandlung zweier Häftlinge dort, der Zwillingsbrüder Hans und Fritz Lustig: Er [der Wachmann Hans Lambrecht, genannt ‚der Wolf ‘, Anm. des Autors] war sehr hässlich zu den Juden, und es war ganz normal, dass alle Wachleute die Juden unmenschlich behandelten. Eines Tages sah ich, was sie mit zwei Zwillingsbrüdern machten, Hans und Fritz Lustig. Sie wurden gezwungen, auf Knien und Ellbogen um den Hofplatz zu kriechen, vorwärts zu robben, und währenddessen schlugen die Wachmänner mit Stöcken auf sie los und traten sie. Langbrecht [sic] war dabei der Anführer, aber auch die anderen machten mit. Ich weiß nicht, wer die anderen waren. Ich sah die Zwillingsbrüder nach der Behandlung. Die Hosen waren bis über die Knie weggeschlagen, und auf den Knien waren offene Wunden, die bluteten, und sie waren voller Dreck. Fritz blieb danach mehrere Tage auf der Pritsche liegen.96

Ein Häftling, der im Sommer 1942 im Gefängnis Møllergaten 19 saß, erzählte später, dass es in seiner Abteilung drei jüdische Mithäftlinge gab: „Sie wurden jeden Tag in den Korridor geführt, wo sie gezwungen wurden, jüdische Messe zu singen. Oft mussten sie auch dastehen und stundenlang aus vollem Hals schreen: Ich werde erschossen, ich werde erschossen´“‘.97 Auch der spätere Ministerpräsident Einar Gerhardsen war im Frühjahr 1942 Zeuge der Misshandlung von Juden im Gefängnis Møllergaten:

94 Veimo (1987), S. 207. Der Vater war vermutlich Hennoch Klein. Derjenige, der ihn begraben musste, war entweder Leib (Leif) oder Josef Klein. Die drei wurden im Oktober und November 1941 festgenommen. Alle drei überlebten den Krieg. 95 NHM 52 C H4, Pressebulletin Nr. 108 vom 31. März 1942, S. 5. 96 RA, S-1725 DaI, Behälter 397, Vernehmung von Odd Hilt am 4. Januar 1943. Hilt schuf später einen Gedenkstein im Wald von Falstad. 97 Ebd. DaI Behälter 454, Sondervernehmung von Rolf Alexander Bjørnstad, Thorolf Johansen und Oliver Stensby in Vingåker am 24. September 1942, S. 2.

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Eine Woche lang quälten die deutschen Wachleute unablässig einen jüdischen Häftling. Ich wusste, wer er war, seine Stimme war leicht zu erkennen. Jeden Abend wurde er in den Korridor geschleift, er musste ein paar Eimer Wasser auf dem Betonboden ausgießen und das dann mit einem Lappen von der Größe eines Taschentuchs auftrocknen. In gewissen Abständen musste der arme Mann mit lauter Stimme rufen: Ich bin ein Judenschwein.98

Manchmal wurden Juden in einer Weise misshandelt, dass kaum zu fassen ist, wie sie überlebten. Der Uhrmacher Georg Bernstein aus Drøbak wurde nach seiner Festnahme im Mai 1941 im Gefängnis Møllergaten furchtbar misshandelt, angeblich weil er als Jude trotz des inoffiziellen Verbotes ein Radio besessen hatte. Der am gleichen Tage verhaftete junge Rolf Grüner-Hegge hat in dem Buch Die Gestapo holt dich in der Nacht Bernsteins Empfang im Gefängnis beschrieben: Ein schmächtiger, dunkelhaariger kleiner Mann mit erschrockenen Augen wurde in den Wachraum gestoßen. Er trug einen schönen, hellen Anzug, und anscheinend war er soeben erst festgenommen worden. Er blickte verwirrt umher. ‚Ein Jude‘, schrie einer der Deutschen. Vier-fünf Deutsche waren im Zimmer. Jetzt umringten sie den kleinen Mann und starrten ihn hasserfüllt an. ‚Sind Sei ein Jude?‘ schrie einer von ihnen dem Ärmsten ins Gesicht. Der Ring um ihn wurde noch enger. ‚Ich habe kein Radio gehabt‘, brachte er hervor, bevor eine Deutschenfaust ihn mitten ins Gesicht traf. ‚Sind Sie ein Jude?‘ brüllte der Schläger. ‚Ein Jude, ein Jude‘, wiederholten die anderen und stürzten sich auf ihn, traten und schlugen zu. Einer hatte Keulen hervorgeholt und drosch los, während andere das Opfer festhielten. […] ‚Ich habe kein Radio gehabt. Ich habe kein Radio gehabt. Ich habe kein ... Die Worte endeten in einem wilden Schmerzensschrei, als eine Keule ihn mitten auf den Mund traf, dass es knirschte. Das Blut sickerte aus Mund, Nase und rann vom Kopf herunter. Rote Flecken breiteten sich auf dem hellen Anzug aus. Der Mann hing hilflos in den Armen seiner Büttel, die ihn wie ein Bündel auf den 98 Gerhardsen (1970), S. 82. Der Häftling war vermutlich Harald Claes, geb. 1902 in Lettland. Allem Anschein nach erlitt er infolge des Aufenthalts in Møllegten einen nervösen Zusammenbruch. Claes war ein bekannter Gewerkschaftler. Am 9. April 1940 hatte er geholfen, das Gold der Bank von Norwegen aus Oslo abzutransportieren. Seine dramatische Flucht nach Schweden wird in Kapitel 7 behandelt.

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Fußboden fallen ließen. Einer der Deutschen sprang mit seinen großen Stiefeln auf ihn, dann legten sie die Keulen beiseite und richteten ihre Koppel. Eine sonderbare Stille breitete sich im Raum aus. Vor mir auf dem Fußboden lag der Jude, unbewegt in seiner Blutlache. Ich glaubte, sie hätten ihn totgeschlagen, und ich wusste, sie hatten es getan, weil er Jude war, nicht wegen des Radios.99

Soweit wir wissen, führten Misshandlungen dieser Art zu keinen Todesfällen vor dem Herbst 1942, als drei Juden im Lager Falstad ermordet wurden.100 Andere Staatenlose wurden aus politischen Gründen festgenommen. Schon an 19. September 1940 wurde der österreichische Redakteur und Journalist Richard Bernstein festgesetzt. Er war 1882 in Wien geboren und hatte sich schon früh in der sozialdemokratischen Partei engagiert. Nach Norwegen kam Bernstein zusammen mit seiner Frau Gisela (geb. 1888) nur sieben Tage vor dem deutschen Überfall auf Polen. Bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten im Januar 1933 war er Redakteur des Vorwärts gewesen, des Hauptorgans der deutschen Sozialdemokraten. Das Ehepaar war danach mit den Kindern Heinz und Susanne nach Prag geflohen. Die Kinder kamen 1938 auf verschiedenen Wegen nach Großbritannien. Vor den deutschen Reichstagswahlen im November 1932 war Bernstein an geheimen Verhandlungen über ein Wahlbündnis zwischen den Sozialdemokraten und den Kommunisten beteiligt. Er wurde in das Verhandlungsgremium berufen, weil er gemäßigt war und alle ihn für verlässlich hielten. Führende Kräfte in beiden Parteien hassten einander stark, und deshalb diente ein Mann aus der Sowjetischen Botschaft bei den Verhandlungen als Vermittler. In letzter Instanz torpedierten die Komintern und Stalin persönlich ein Wahlbündnis. Bernstein war nun zwischen Baum und Borke geraten und war bei einigen Sozialdemokraten wie Kommunisten verhasst.101 Als für Außenpolitik zuständiger Journalist hatte Bernstein norwegische Kontakte, und wahrscheinlich halfen diese ihm und seiner Frau Gisela, nach Norwe99 Grüner-Hegge (1990), S. 53 f. Bernstein wurde am 7. Mai 1941 festgenommen und in das Gefängnis Møllergaen 19 gebracht. Am 19. Juni wurde er nach Grini verlegt. Am 26. Oktober 1941 wurde er freigelassen. Genau ein Jahr später, am 26. Oktober 1942, wurde er erneut festgenommen. Den Rest des Krieges verbrachte er im Internierungslager Berg, weil er mit einer Nichtjüdin verheiratet war. Zusammen mit den meisten anderen Insassen des Lagers wurde er am 2. Mai 1945 über die Grenze nach Schweden geschickt. 100 Die drei waren Moritz Neveretzky Abrahamsen (geb. 1881), Kalman Glick (geb. 1877) und Herman Schidorsky (geb. 1887). Abrahamsn starb vermutlich nach Misshandlung/ Strafexerzieren. Die beiden anderen wurden erschossen. Siehe Kapitel 6. 101 Siehe Skrzypczak (2001).

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gen zu kommen. Sie waren nach der Flucht vollkommen mittellos, sodass schon ein Straßenbahnfahrschein zum Problem wurde.102 Nach dem deutschen Überfall auf Norwegen versuchten sie keine erneute Flucht. Im Unterschied zu den meisten anderen Aktionen lässt sich die Ursache von Richard Bernsteins Verhaftung erklären. In einer Liste des EK Oslo wird er als „Techniker“ bezeichnet.103 Also ist er vielleicht mit einem anderen Richard Bernstein verwechselt worden. Ein Problem für ihn war indes, dass er nach der Flucht aus Deutschland bei der Deutschen Arbeitsfront, der nazistischen Wohlfahrtsorganisation für Arbeiter, eine Entschädigung beantragt hatte. 1933/34 waren die deutschen Gewerkschaften zur Vereinigung mit der Deutschen Arbeitsfront gezwungen worden, aber der Rechtsstaat in Deutschland war noch nicht völlig ausgehebelt, und Rentenansprüche und andere Verluste sollten von einer eigenen Entschädigungsinstanz gedeckt werden. Bernsteins Antrag auf Entschädigung und andere Dokumente wurden nach der deutschen Besetzung der Tschechoslowakei der Sicherheitspolizei in Oslo übersandt. So wurde diese auch deswegen auf ihn aufmerksam. Die deutsche Sicherheitspolizei in Prag schloss ihren ergänzenden Bericht zu Bernstein im September 1941 mit der Folgerung: „Da Bernstein Jude und marxistischer Emigrant ist, kommt eine Entschädigung natürlich nicht in Frage.“ Die Gestapo in Prag hatte mit dem BdS in Oslo Kontakt aufgenommen und notiert, dass Bernstein „in einem Judenlager in Åneby außerhalb von Oslo interniert ist“.104 Bernsteins Haftzeit war äußerst brutal. Er saß zuerst im Gefängnis Møllergaten. Wahrscheinlich ist er in dem folgenden Bericht gemeint: Einer der Juden ist besonders zum Opfer ausersehen. Den ganzen Tag muss er auf der Eisenplattform hin- und herlaufen. Er zieht eine schwere Matte hinter sich her, die dem Saubermachen dient. Beim Laufen muss er die ganze Zeit rufen: ‚Ich bin Jude, ich bin ein Hund, ich bin ein Rassengenosse des Hundes.‘ Eines Tages versucht er in seiner Verzweiflung seinen Plagegeistern zu entkommen. Wie von Sinnen stürzt er ins Untergeschoss. Von dort ziehen sie ihn an den Beinen die Treppe hinauf.105

102 Gespräch mit Susanne Medas, Tochter von Richard und Gisela Bernstein, im Februar 2011. 103 RA, Staatspolizei, Judenaktionen, Mappe 25 Sachakten C II B 2. Undatierte Liste über Juden mit deutscher, österreichischer und böhmisch-mährischer Staatsbürgerschaft. 104 Brief des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD an die Reichsfeststellungsbehörde beim Reichsministerium des Innern vom 8. September 1941. Privatarchiv Susanne Medas. 105 Giertsen (1953). S. 62 f.

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Am 31. März 1941 wurde er in das provisorische Lager Åneby verlegt. Von dort kam er später nach Grini (mit der Häftlingsnummer 99). In Åneby hatte er besonders unter dem Obersturmführer Hermann Koch zu leiden, der später Grinis erster Kommandeur wurde.106 Bernstein wurde kurz vor Weihnachten 1941 freigelassen, weil er sich einer Bruchoperation unterziehen musste. Die Freilassung war aber vorläufig und galt nur der Rekonvaleszenz. Norwegische Freunde scheinen das Ehepaar zur Flucht aufgefordert zu haben, aber Bernstein wollte nicht. Das war verständlich, denn er stand während der kurzen Zeit der Beurlaubung aus Grini unter Druck und musste sich regelmäßig im Gestapo-Hauptquartier melden. Schon im Mai 1942 wurde er wieder festgesetzt. Bernstein war schon 60 Jahre alt. Dass er die Misshandlungen überlebte, ist erstaunlich. Aber er kam nicht davon: Er wurde, nachdem er eine Zeitlang in Kvænangen gearbeitet hatte, am 26. November mit der Monte Rosa deportiert. Er starb in Auschwitz am 21. Januar 1943. Gisela Bernstein wurde am 26. November 1942 festgenommen und mit der Donau deportiert. Während Bernstein sich also wirklich dem Nationalsozialismus widersetzt hatte, wurde der Mechaniker Benjamin Bild aus angeblich politischen Gründen festgenommen, ohne dass seine politische Betätigung erwiesen ist. Der 1912 geborene Bild war mit Gjertrud Jensen verheiratet und wohnte in Strømmen östlich von Oslo. Sein Arbeitsplatz war die in der Nähe gelegene Flugzeugfabrik in Kjeller, die schon früh von der Besatzungsmacht übernommen worden war und aufgrund von Verträgen als Reparaturwerkstatt für deutsche Flugzeuge diente. Ende Februar1941 wurde einer der Arbeiter der Fabrik festgenommen, weil er die Internationale gepfiffen hatte. Es hieß später, er sei von „den Deutschen“ verhaftet worden, aber das ist nicht ganz klar. Am gleichen Abend kamen die Arbeiter zu einer Protestversammlung zusammen. Allem Anschein nach war die Gewerkschaft beteiligt, aber es wurde nichts protokolliert, „weder wer das Wort hatte noch was gesagt wurde“. Es war aber ein Denunziant im Raum. Am nächsten Tag wurde der „Pfeifer“ freigelassen. Jedoch tauchten zwei deutsche Gestapomänner in Ledermänteln auf, um den Sekretär der von ihnen so genannten „kommunistischen Gewerkschaft“ zu verhaften. Sie nahmen vier Männer mit, einer von ihnen war Benjamin Bild. In einem Buch über die örtliche Eisen- und Metallarbeitervereinigung wurde Bild beschrieben als „ein freimütiger und mutiger Kerl, der aus seinem Widerstand gegen die Deutschen kein Hehl machte“.107 Das ist sicher richtig, aber die eigentliche Ursache seiner Verhaftung war wohl, dass es gut passte, im Zusammenhang mit dem „Aufruhr“ einen Juden festzuneh106 Ruud (1995), S. 34. 107 Siehe zu dieser Episode Nærstad (1992), S. 60 ff.

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men. Bild und die drei anderen kamen in das Gefängnis Møllergaten und Bild später in das Lager Åneby. Als Åneby abgewickelt und die meisten Häftlinge nach Grini verlegt wurden, kam er wieder nach Møllergaten. Am 27. April wurde er deportiert, u. a. zusammen mit dem viel bekannteren Moritz Rabinowitz aus Haugesund. Nach der Ankunft in Stettin wurden die beiden getrennt. Rabinowitz kam nach Sachsenhausen, wo er im Februar 1942 starb. Bild wurde in das Lager Groß Rosen bei Breslau geschickt (das bis 1. Mai 1941 ein Nebenlager von Sachsenhausen gewesen war). Bild galt als politischer Gefangener; im Register war er unter Jude Schutzhäftling aufgeführt. Damit gehörte er einer sehr benachteiligten Kategorie an. Allem Anschein nach durfte er nur einmal im Monat seiner Frau schreiben, und zwar einen genau kontrollierten Brief von 15 Zeilen Länge.108 Am 16. Dezember 1941 wurde er auf eine Liste von Gefangenen gesetzt, die „auf Transport geschickt werden sollten“.109 Was dies in der Praxis bedeutete, konnte von Lager zu Lager verschieden sein, aber Bild kam anscheinend am 26. Dezember 1942 ums Leben. Er wurde nur 29 Jahre alt. Seine Frau Gjertrud wurde über seinen Tod benachrichtigt: Ein norwegischer Jude namens Benjamin Bild wurde im Frühjahr 1941 zusammen mit drei Arbeitskollegen an seinem Arbeitsplatz in Kjeller festgenommen. Nach einem Monat im Gefängnis Møllergaten wurden die drei freigelassen, aber Bild blieb in Haft. Im Frühsommer wurde er in das Konzentrationslager Grossrosen [sic] in Süddeutschland [sic] verlegt. Aus diesem Lager durfte er einmal im Monat seiner Frau einen 15 Zeilen langen Brief schreiben. Ende Januar erhielt Frau Bild durch den Pfarrer an ihrem Heimatort die Nachricht, ihr Mann sei am zweiten Weihnachtstag im Konzentrationslager gestorben. Als Todesursache war ‚Kreislaufschwäche‘ angegeben, eine Altmännerkrankheit, etwa gleichbedeutend mit Arterienverkalkung. Bild war 28 Jahre alt, und ihm fehlte nichts, als er festgenommen wurde.110

Dass der Pfarrer Bilds Frau die Todesnachricht überbrachte, war der Befehl der Gestapo, „dass Frau Bild von den norwegischen Behörden in angemessener Weise unterrichtet werden sollte“.111 108 RA, S-1725 DaI Behälter 396, Vernehmung von Eger Ruud-Jensen in Stockholm an 26. Februr 1942 in Verbindung mit der Vernehmung von Johan Sørlie in Kjesäter am 3. November 1942. 109 ITS, Karteikarte Benjamin Bild. 110 NHM 52, Pressebulletin Nr. 94 vom 11. März 1942, S. 5. Gjertrud Bild erhielt später das Angebot, die Asche ihres Mannes zu kaufen. Die Asche kam in einer „Aschentüte“, und der Preis war 100 Reichsmark. Siehe NHM 52, Pressebulletin Nr. 91 vom 6. März 1942, S. 1. 111 RA, S-1725 DaI, Behälter 396, Vernehmung von Eger Ruud-Jensen in Stockholm an

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Bilds Schicksal ist typisch für Juden, die in irgendeiner Weise mit politischer Tätigkeit in Verbindung gebracht werden konnten. Er wurde zum Sicherheitsrisiko erklärt, und zugleich sollte an seinem „Beispiel“ den anderen Arbeitern demonstriert werden, wozu Proteste am Arbeitsplatz führen konnten. Die Besatzungsmacht beantwortete Widerstand stets mit „Gegenmaßnahmen“. Diese wurden in dem Maße schlimmer, wie der Krieg immer brutaler wurde. Der Historiker Peter Longerich drückt das so aus: Die führenden Nationalsozialisten fanden es vollkommen logisch, dass die repressiven Maßnahmen gegen Juden immer intensiver wurden. Sie gingen davon aus, dass Kommunismus und Judaismus praktisch das gleiche Problem seien, und in ihrer Sicht stand die jüdische Minderheit auch außerhalb Osteuropas hinter den Widerstandsaktivitäten.112

Bild, in Oslo geboren, war der erste norwegische Jude, der in einem deutschen Konzentrationslager starb. Aber ein anderer, der deutsch-jüdische Volkskundler und Schriftsteller Eugen Lewin-Dorsch, war vermutlich der Erste, der umkam. Lewin war 1883 in Berlin geboren und konnte auf eine lange Karriere als Journalist und Autor zurückblicken. Er war selbst nicht religiös, aber ein ausgezeichneter Kenner traditionellen Judentums und des Talmud. In Berlin war er Wissenschaftsjournalist bei der Vossischen Zeitung gewesen. Er hatte eine Kinderbiographie von Karl Marx verfasst und unter dem Titel Die Dollarmenschen eine Erzählung für Kinder über die Macht der Kapitalkräfte, die der bekannte Illustrator Heinrich Maria Davringhausen mit satirischen Zeichnungen versehen hatte. 1933 musste er aus Deutschland fliehen; als linksorientierter Pazifist und Jude hatte er keine Wahl. Seine Flucht folgte einem untypischen Muster: über Zürich nach Florenz und von dort weiter nach Cagliari auf Sardinien. Hier verdiente er sein Brot wie so viele andere Exildeutsche: als Sprachlehrer. Vielleicht wollten die örtlichen Faschisten, dass ihre Kinder jetzt Deutsch lernen sollten. Daneben begann Lewin-Dorsch mit einem neuen Projekt: Als Volkskundler wollte er sardische Pflüge studieren. Sardinien erscheint, wie überhaupt Italien, als ein für deutsch-jüdische Flüchtlinge merkwürdiger Aufenthaltsort. Aber der italienische faschistische Staat kannte 1933 keine antijüdische Gesetzgebung. Viele Juden überquerten ohne Visum oder Aufenthaltserlaubnis illegal die italienische Grenze. Sie setzten darauf, dass italienische Bürokraten auf solche Schritte „elastisch“ reagieren würden.113 Erst 26. Februar 1942 in Verbindung mit der Vernehmung von Johan Sørlie in Kjesäter am 3. November 1942. 112 Longerich (2012), S. 545. 113 Hilberg (3003), S. 704.

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1938, als Italien und Deutschland Alliierte geworden waren, kam die Rassenfrage bei Mussolini in Rom auf die Tagesordnung. Am 17. November 1938 wurde die Legia della Razza eingeführt. Auch Flüchtlinge waren von ihr in hohem Maße betroffen, denn die ausländischen Juden, ausgenommen Personen über 65 Jahre und Juden in sogenannten Mischehen, sollten das Land bis zum 12. März 1939 verlassen.114 Lewin-Dorsch beantragte nun ein Transitvisum für Belgien und Frankreich und zugleich eine Aufenthaltserlaubnis für Schweden und Norwegen. Am liebsten wollte er nach Schweden, aber das wurde abgelehnt. Sein Antrag auf Aufenthaltserlaubnis in Norwegen wurde befürwortet von Sigmund Mowinckel, Professor für Theologie an der Universität Oslo. Lewin-Dorsch spricht von Mowinckel als einem guten Freund, und Mowinckel setzte sich zweifellos stark dafür ein, ihn nach Norwegen zu holen. Vermutlich waren die beiden durch Lewin-Dorschs Kenntnisse des Talmud und des Alten Testaments in Kontakt gekommen. Mowinckel hatte 1924 in der Zeitung Tidens Tegn einen sehr stark antijudaistischen Artikel veröffentlicht. Darin hatte er u. a. geschrieben, der Kommunismus sei „ein durch und durch echter und unvermischter Ausdruck jüdischer Sinnesart“.115 Norwegen war also nicht Lewin-Dorschs erste Wahl. Er hatte den Bescheid erhalten, dass er hier nicht arbeiten könne, auch nicht als Sprachlehrer. Zudem war das Fach Volkskunde in Schweden breiter aufgestellt. An den Volkskundler Paul Leser, der sich nach der Flucht aus Deutschland in Schweden aufhielt, schrieb Lewin-Dorsch: „Wovon soll ich leben? Als Schriftsteller? Und zweitens: Wegen der Ablehnung meines Antrags in Schweden ist eine Reise dorthin unmöglich. Aus meinem geplanten Vortrag über Sardinien in Stockholm wird nichts. Und auch nichts aus den anderen Plänen, die ich mit einer Aufenthaltserlaubnis in Schweden verbunden hatte.“116 Leser schrieb später einen Artikel über Lewin-Dorsch. Seine Betrachtungen zur Situation der Flüchtlinge verdienen bis heute Beachtung: Welches Geschichtsbuch erzählt von der Verzweiflung und Angst Hunderttausender Flüchtlinge bei ihren Bemühungen, sich Reisepass, Einreiseerlaubnis, Aufenthaltserlaubnis, Arbeitserlaubnis zu beschaffen? Man kann nicht nur die Mörder anklagen. Auch die Länder, die die Verfolgten und Vertriebenen nicht hineinließen, sind verantwortlich.117 114 Ebd. S. 707. 115 Tidens Tegn vom 2. August 1924. Zitiert nach Mendelsohn (1969), S. 559. 116 Leser (1974), S. 278. Leser zog 1941 in die USA, wo er später Professor für Volkskunde an der Universität Albany wurde. 117 Ebd. S. 275.

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Am 9. August 1939, fast ein halbes Jahr nach Ablauf der italienischen Aufenthaltserlaubnis, buchte Lewin-Dorsch in Italien eine Überfahrt auf einem norwegischen Frachter. Die Reise nach Bergen dauerte 35 Tage. Inzwischen brach der Zweite Weltkrieg aus. Über die Reise schrieb Dorsch: Als wir am 1. September nach Gibraltar kamen, brach der Krieg zwischen Deutschland und Polen aus. Zwei Tage später, während wir Kohle bunkerten, brach der Krieg zwischen Großbritannien, Frankreich und Deutschland aus. Es wurden unmittelbar Maßnahmen zur Sicherung des Schiffes und der Mannschaft eingeleitet. Mir wurde das Rettungsboot gezeigt, in das ich steigen sollte, falls etwas passierte, und in meine Kajüte wurde eine Rettungsweste gehängt. Von Gibraltar nach Bergen brauchte das Schiff zehn Tage: In hohen Wellen steuerte das Schiff mutterseelenallein entlang der Küste nach Norden. Als westlich der Shetlandinseln die norwegische Küste in Sicht kam, zeigte der Kapitän mir den dicken Stapel SOS-Meldungen, die das Schiff unterwegs empfangen hatte … Nach allen Sorgen und der Angst, die die letzten Monate meines Aufenthalts in Cagliari mit sich gebracht hatten, war ich erschüttert. In diesem Zustand kam ich in Bergen an.118

Lewin-Dorsch hatte seine Sammlung sardischer Pflüge nach Norwegen mitgebracht.119 Er hatte nichts, wovon er leben konnte, und bekam monatliche Beiträge von der Jüdischen Hilfsvereinigung und ein möbliertes Zimmer bei der jüdischen Familie Arsch in Oslo.120 Als Norwegen im April 1940 von den Deutschen angegriffen wurde, floh er erneut, nicht über die Grenze nach Schweden, sondern nach Vang in Valdres, gut 200 km nordwestlich von Oslo. Dort ging er unter dem Namen Torgrim Stuestøl in den Untergrund. Wahrscheinlich hat die Nansenhilfe ihm den Aufenthaltsort und den Decknamen verschafft. Lewin-Dorschs Problem war, dass sein neues Leben in Vang nicht lange geheim blieb, weil die Jüdische Hilfsvereinigung in Oslo schon im Mai 1940 gezwungen worden war, eine Liste der von ihr Unterstützten herauszugeben. Lewin-Dorschs neuer 118 University of Albany, Paul Leser papers. Brief von Lewin-Dorsch an Paul Leser vom 24. November 1939. 119 Bald nach seiner Ankunft in Oslo besuchte Lewin-Dorsch auch Norsk Folkemuseum, das große Freilichtmuseum. Er übergab einen sardischen Pflug als Geschenk. Er hatte über 50 kleine und große Gegenstände aus Sardinien mitgebracht. Die meisten von ihnen gingen später an das Norsk Folkemuseum, wo angegeben ist, dass sie 1943 von LewinDorsch dem Museum geschenkt wurden. 120 Alle Mitglieder dieser Familie wurden mit den Schiffen Donau und Gotenland im Herbst 1942 und Winter 1943 deportiert.

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Aufenthaltsort stand auf der Liste.121 Im Herbst 1940 war er wieder in Oslo, diesmal einquartiert bei der jüdischen Witwe Salit und ihrer Tochter im Stadtteil Sinsen. Im Frühjahr 1941 zog sich die Schlinge um Lewin-Dorsch enger zusammen. Am 9. Mai wurde er festgenommen, wahrscheinlich von Hauptsturmführer Wilhelm Wagner persönlich. Wodurch war die deutsche Sicherheitspolizei auf ihn aufmerksam geworden? Es kann natürlich ein Zufall gewesen sein, aber vieles deutet darauf hin, dass er denunziert wurde, vermutlich von einem Nachbarn. Aus einem Bericht der deutschen Sicherheitspolizei nach Berlin geht hervor, dass der Gestapo ein kompromittierender Brief Lewin-Dorschs an Professor Mowinckel in die Hände gefallen war. Die Sicherheitspolizei zitierte in ihrem Bericht Teile dieses Briefes. Aus ihm sprechen eine klare humanistische Haltung und Scham über das Vorgehen der Deutschen. Für Mowinckel und alle Norweger hoffe er, schrieb Dorsch, dass „die Freiheit und das Königshaus bald zurückkehren und alles wiedererrichten, was die deutschen Soldaten zerstört haben“. Er fuhr fort mit einem jüdischen Gebet dafür, „dass dies schon in unserer Zeit geschehen möge“, und schrieb weiter: Ich hoffe aufrichtigen Herzens, dass ich Ihnen in nicht allzu ferner Zeit meine Glückwünsche zu einem anderen Freudentag aussprechen kann, nämlich an dem Tag, an dem die beiden politischen Banditen – par mobile fratrum – [ein edles Brüderpaar, Hitler und Stalin, der Verf.], die jetzt Kultur und Humanität zu zertrümmern versuchen, da hängen, wohin sie gehören, nämlich an einem sehr hohen Galgen. Mit jedem Stundenschlag rückt die Stunde der Abrechnung näher.122

Bei einer Haussuchung fand die Gestapo in Lewin-Dorschs Zimmer „ein umfangreiches Lager an verbotener Literatur (,Emigrantenzeitungen, Privatbriefe mit deutschfeindlichem Inhalt etc.)“.123 Alles wurde beschlagnahmt, kam in LewinDorschs Mappe in der Judenkartei des Gestapo-Hauptquartiers, und da wurde es in den hektischen Tagen vor der Befreiung im Mai 1945 verbrannt. Im Gefängnis Møllergaten 19 wurde Lewin-Dorsch allem Anschein nach furchtbar gequält. Es ging rasch bergab mit ihm.124 Er wurde nicht nach Grini verlegt, ein Zeichen dafür, dass die Gestapo andere Pläne mit ihm hatte, und er verschwand beinahe vom Radarschirm. 121 RA, Staatspolizei, Judenaktionen, Mappe 25 Sachakte C II B 2. Undatierte Liste der Jüdischen Hilfsvereinigung. 122 RA, RK, HSSP, Sicherheitspolizei/SD, Tätigkeitsberichte/Tagesberichte Juli 1940–Mai 1941, Behälter 1. Tagesbericht Nr. 5 des BdS Oslo vom 13. Mai 1941. 123 Ebd. 124 Mendelsohn (1986), S. 62.

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Wahrscheinlich wurde er am 6. September aus Norwegen deportiert. Nach gründlichen Untersuchungen habe ich ermittelt, dass er in Mauthausen umkam, zu der Zeit einem der schlimmsten Konzentrationslager im ganzen deutschen System. Ein 59 Jahre alter Jude hatte dort keine Chance. Nach den Todesbüchern des Lagers starb er am 3. Oktober 1941 um 16.40 Uhr. Als Todesursache wurde im Protokoll „Gehirnschlag“ vermerkt.125 Lewin-Dorsch war ein politischer Gegner der Besatzungsmacht, aber er arbeitete nicht aktiv gegen sie. Eine Denunziation war ein hinreichender Grund, ihn festzunehmen. So erging es auch vielen anderen Juden. Sie konnten auch mit ziemlich absurden Begründungen verhaftet werden. Wie schon erwähnt, wurde der Rechtsanwalt Einar Nathan aus Oslo zum ersten Mal im Dezember 1940 festgenommen, weil er angeblich einen deutschen Offizier auf einem Fußweg nicht gegrüßt hatte.126 Er kam in das Åneby-Lager, später nach Grini. In anderen Gebieten unter deutscher Besatzung, z. B. im Generalgouvernement, war es Juden ganz verboten, auf Fußwegen zu gehen. Über Nathans Aufenthalt in Grini berichtet eine Quelle, dass er zu denen gehörte, mit denen die Wachleute „ihren Spaß trieben“. Er trug bei seiner Festnahme eine Hausjacke, hatte weder Fäustlinge noch Handschuhe, und die anderen Gefangenen durften ihm keine Winterkleidung leihen: „Er musste für die Öfen der Deutschen mit bloßen Fingern aus einem Schneehaufen gefrorenen Koks klauben, und niemand konnte ihm helfen.“127 Nathan kam am 21. Juni 1941 frei, einen Tag vor dem Angriff auf die Sowjetunion. Aber im September 1942 geriet er wieder in die Fänge der Gestapo, diesmal weil ein Mieter in einem Haus, das er besaß, ihn denunziert hatte. Nach einer heftigen Auseinandersetzung in dem Haus hatte dieser Mieter Nachbarn mit dem Konzentrationslager gedroht. Irgendwann hatte er einen Freund, einen früheren Frontkämpfer, gebeten, einen Nachbarn festzunehmen. Nathan als Vermieter hatte darauf mit einer Räumungsklage reagiert. Der Mieter seinerseits drohte damit, zur Gestapo zu gehen.128 Kurz danach wurde Nathan erneut festgenommen. Er 125 ITS, Bad Arolsen, Archiv. Zentrale Namenkartei, Karte für Eugen Lewin. Brief der Mauthausen Memorial Archives an den Autor vom 17. Oktober 2011. – Nach Ottosen (1994) wurde Lewin-Dorsch im Mai 1942 nach Auschwitz deportiert, wo er am 1. Juli des gleichen Jahres starb. Das ist ganz sicher falsch. Nach Oskar Mendelsohn (1986, S. 62) war er drei bis vier Monate im Gefängnis Møllergaten und starb kurz nach der Ankunft in Deutschland. 126 Nordahl-Olsen (1985), S. 163. 127 Karlsen (1979), S. 157 f. 128 Aftenposten vom 6. Oktober 1946: „En plageånd in Munkedamsveien“ [Ein Plagegeist im Munkedamsvei].

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wurde wieder furchtbar misshandelt. Am 19. November 1942 wurde er mit der Monte Rosa deportiert.129 Nach dem Krieg wurde berichtet, dass er im Januar 1943 in Auschwitz erschossen wurde, „weil er seine Meinung gesagt hatte“.130 Das stimmt wohl, denn Nathan war nach dem, was wir wissen, ein mutiger Mann. Diese Schicksale veranschaulichen verschiedene Umstände, die vor dem Herbst 1942 zur Verhaftung von Juden führen konnten. Ich könnte weitere Geschichten hinzufügen, jede einzigartig in dem Leid der Betroffenen, von dem sie erzählen. Gemeinsam ist ihnen, dass die Personen einen jüdischen Hintergrund hatten. In anderen Fällen führte dieser Hintergrund nicht zur unmittelbaren Verhaftung, sondern zu anderen Maßnahmen. Der Elektriker David Rothschild arbeitete bei Kriegsbeginn im Osloer Hafen. Einige Zeit später wurde er entlassen. Die deutsche Kriegsmarine und der in Oslo eingesetzte Hafenkapitän wollten es so.131 Eine junge Frau aus Trondheim, Edith Bekker, war nach der Besetzung im Versorgungsausschuss der Stadt beschäftigt.132 Völlig überraschend wurde ihr brieflich gekündigt: „Ein Grund war nicht genannt, aber in einem Gespräch mit dem Stadtdirektor hieß es, das sei geschehen, weil ich Jüdin sei – an meiner Arbeit sei nichts zu beanstanden.“133 Der künstlerische Direktor des Restaurants Regnbuen [Regenbogen] in Oslo, Jacob Woronowski, wurde am 18. Mai 1942 zu dem Untersturmführer Harry Böhm in der Gestapozentrale bestellt. Dort wurde er gezwungen, eine Erklärung zu unterschreiben, nach der er sofort seine Stelle aufgeben und sich „beim Arbeitsamt melden sollte, um Arbeit in einem Steinbruch anzunehmen“. Zunächst musste er sich täglich in der Zentrale melden. Einmal wurde er dabei „von einem Gestapomann namens Kurt in Gegenwart Böhms verprügelt“ und auch „gezwungen, vor ihnen im Büro zu tanzen“.134 Kurt war Böhms Kollege Großmann. Rothschild, Bekker und Woronowski hatten gemeinsam, dass sie später von der 129 Siehe Borgen (1945), S. 103, und Aftenposten, Abendausgabe, vom 13. Dezember 1946: „Grinisaken. Hva riksmeglingsmann Claussen opplevde“ [Die Grini-Geschichte. Was Reichsschlichter Claussen erlebte]. 130 Grinifangene (1946). S. 3. 131 RA, S-1725 DaI Behälter 396, Vernehmung von David Rothschild in Kjesäter am 13. Dezember 1942. 132 Diese Ausschüsse waren in den Kommunen zur Kontrolle der Versorgungssituation und der Rationierung etabliert worden. 133 RA, S-1725 DaI, Behälter 396, Vernehmung von Edith Bekker in Kjesäter am 5. November 1942. 134 SRA, Socialstyrelsen, Lagerarchiv Kjesäter, Vernehmung von Jacob Woronowski am 8. Mai 1945. Woronowski wurde am 26. November 1942 festgenommen und kam in das Internierungslager Berg. Er entging der Deportation, weil er mit einer nichtjüdischen Frau verheiratet war.

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Behandlung, die sie erfuhren, berichten konnten. Andere verloren ihre Arbeit, wurden misshandelt oder bekamen besondere Auflagen, ohne verhaftet zu werden. Für die, die der Gestapo in die Hände fielen, war die Situation äußerst bedrohlich. Die deutsche Sicherheitspolizei in Oslo schrieb regelmäßig Berichte an das RSHA in Berlin, in denen die verschiedenen Arbeitsfelder behandelt wurden. Diese Berichte, genannt Meldungen aus Norwegen oder Tätigkeitsberichte, waren natürlich frisiert, um die nachrichtendienstliche Arbeit des SD oder die vorgenommenen Verhaftungen ins rechte Licht zu rücken. Die am häufigsten erwähnten Arbeitsfelder waren Marxismus sowie Juden und Freimaurer. Verhaftungen von Juden oder andere antijüdische Maßnahmen tauchen in den Berichten regelmäßig auf. Über Moritz Rabinowitz heißt es zum Beispiel, er sei festgenommen worden, weil er „sich vor der Besetzung in Wort und Schrift deutschfeindlich geäußert hat“.135 Martin Sachnowitz wurde im Dezember 1940 in Larvik verhaftet, weil er in einem Café der Stadt einem deutschen Soldaten „herausfordernd“ gegenübergetreten sei.136 David Wolfsohn wurde im Januar 1941 in Trondheim festgesetzt, weil er angeblich einen Nachbarn beschimpft hatte, der Besuch von deutschen Offizieren bekam.137 In Mosjøen wurden im Frühsommer 1941 vier Juden festgenommen, weil sie gegen die Rationierungsbestimmungen verstoßen hätten.138 Im gleichen Jahr wurde Israel Leib Sachnowitz in Stokke bei Larvik angehalten, weil er „deutschfeindliche Radiosendungen“ gehört und zu Hause Dynamit aufbewahrt habe. Ein einziges Mal vor dem Herbst 1942 wurde von der Festnahme einer Frau berichtet; das betraf am 1. Dezember 1941 Maria Bogomolno in Oslo, weil sie zu einem Mann gesagt hatte, er habe „eine zu gute Auffassung von Deutschland“. Bei der Festnahme habe sie sich außerdem gegenüber der Sicherheitspolizei „herausfordernd“ benommen.139 Mit der Invasion der Sowjetunion trat die antijüdische Politik in eine neue Phase. Die Einzelaktionen nahmen zu; dabei waren Staatenlose aus dem früheren Zarenreich besonders gefährdet. Zu der Verhaftung jüdischer Männer in Nordnorwegen am 18. Juni 1941 fehlen eindeutige Quellen; dennoch hatte diese Aktion sicher mit einer zentralen Polizeiverordnung des RSHA vom 26. März des Jahres zu tun. Darin hieß es: 135 136 137 138

Ugelvik Larsen et al. (2008), Bd. 1, S. 136. Tätigkeitsbericht vom 14. Dezember 1940. Ebd. S. 147. Tätigkeitsbericht vom 3. Januar 1941. Ebd. S. 159, Tätigkeitsbericht vom 16. Januar 1941. Ebd. S. 298, Tagesbericht vom 9. Juni 1941. Die vier waren Zemack Resnick, Elias Fein, Abraham Feidelmann und Isak Shotland. S. 375: Resnick wurde in Tromsø im August 1941 erneut festgenommen, angeblich wegen „Schwindels und staatsfeindlicher Umstände“. 139 Ebd. S. 533, Tagesbericht vom 3. Dezember 1941. Bogomolno kam in das Gefängnis Møllergaten 19. Sie ist die einzige Jüdin, die je dort einsaß.

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Im rückwärtigen Aufmarschgebiet: Sicherstellung vor Beginn von Operationen festgelegter Objekte (Material, Archive, Karteien von reichs- oder staatsfeindlichen Organisationen, Verbänden, Gruppen usw.) sowie besonders wichtiger Einzelpersonen (führende Emigranten, Saboteure, Terroristen usw.).140

Bei der Invasion der Sowjetunion war Nordnorwegen ein Teil des Aufmarschgebiets, und die Juden galten als Sicherheitsrisiko. In Tromsø wurden die Verhaftungen ganz offen vorgenommen, und die Juden wurden „in der Stadt in Karren“ herumgefahren und zur Schau gestellt „und später zur Arbeit in einen Steinbruch beordert“.141 Es handelte sich wahrscheinlich um sieben Männer. Einer von ihnen war der 19-jährige Conrad (Chone Moses) Caplan. Er war gerade im Examen an einer Handelsschule, als die Gestapo auftauchte. Der Lehrer, Gunnar Jordfald, bat den Gestapomann höflich, Caplan die Prüfung abschließen zu lassen. „Als Antwort schlug der Gestapomann Jordfald vor den Augen der Schüler und nahm ihn und Caplan mit in das Konzentrationslager auf der Südspitze der Insel Tromøy.“142 Alle sieben und fünf andere kamen in das Lager auf der Südspitze. Die Behandlung dort ähnelte der ritualisierten Demütigung von Juden in anderen Lagern, aber das wenige Essen und die schwere Arbeit waren eine große zusätzliche Belastung. Im August 1941 meldete die Norwegische Botschaft, dass das Lager schon mit mehr als 130 Mann belegt sei: Im Lager sitzen 4 Gefangene in einem Raum von 2 x 3 Metern Fläche. Die Gefangenen bekommen wenig zu essen und müssen bis zu 12 Stunden am Tag, nur unterbrochen von einer Mittagspause, mit Steinen und Erdreich arbeiten. Sie haben keinerlei Besuch im Lager bewilligt bekommen. Den Angehörigen wurde sogar mit Festnahme und Erschießen gedroht, falls sie sich dem Lagergebiet näherten.143

Dass die Sicherheitspolizei sich manchmal längere Zeit mit Juden beschäftigte, die sie für gefährlich hielt, zeigt eine Episode aus Honningsvåg im Eismeerbezirk Finnmark. Dort führte Meyer Sokolsky ein Geschäft. Er war mit einer Nichtjüdin verheiratet und hatte zwei Kinder. Schon im September 1940 begannen die Männer von der deutschen Sicherheitspolizei in Honningsvåg sich für ihn zu interessieren. „Sie kamen immer wieder in mein Haus und durchwühlten die Wohnung nach 140 Zitiert nach Buchheim et al. (1967), Bd. II, S. 202 f. 141 NHM 52 C H3, Pressebulletin vom 31. Juli 1941. 142 NHM 52 C H4, Pressebulletin Nr. 90 vom 5. März 1941, S. 6 f. Jordfald kam zuerst in das Lager auf der Südspitze der Insel, später nach Grini und wurde erst im März 1943 freigelassen. 143 NHM 52 C H3, Pressebulletin vom 23. August 1941.

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Papieren, aber sie fanden nie etwas.“ Er wurde auch mehrmals zur Vernehmung geholt. Im Juni 1941 wurde er zusammen mit mehreren anderen in Honningsvåg festgenommen, angeblich als „Geisel“. Am 18. Juni, dem gleichen Tag, an dem andere jüdische Männer in Nordnorwegen festgenommen wurden, zwang die Gestapo ihn, sein Geschäft „für so gut wie nichts“ an einen örtlichen Kaufmann zu verkaufen. Sokolsky entging der Gefangenschaft wegen Krankheit.144 In das Lager Südspitze kamen auch Juden, die man in Narvik verhaftet hatte. Einer von ihnen war der Arzt Oscar Bernstein, der Einzige, der später über den Aufenthalt im Lager berichten konnte; alle anderen jüdischen Häftlinge wurden in Auschwitz ermordet. Am 18. Juni wurde er in seinem Haus in Narvik „von lärmenden Stiefeln“ geweckt. Zusammen mit drei anderen Juden aus der Stadt und über zehn nichtjüdischen Geiseln wurde er nach Tromsø transportiert, zunächst in das Gestapo-Hauptquartier in der Stadt und später in das Lager Südspitze. Dort musste er wie die anderen Steine schleppen. Sie arbeiteten zu zweit und trugen Steine auf einer Art Bahre. „Wenn wir nicht gebeugt genug gingen, luden die Deutschen noch einige Kilo mehr auf, zusätzlich zu den 150–200, die da schon waren.“ Er sagte später, er sei nicht physischer Gewalt ausgesetzt gewesen, habe aber Häftlinge gesehen, die aus dem Keller des Gestapo-Hauptquartiers kamen; „sie waren mit Eisenstangen geschlagen worden.“ Bernstein konnte später berichten, wie einer der Juden im Lager sein eigenes Todesurteil anhören musste: Er sollte am gleichen Abend um zehn erschossen werden. Er durfte sein Testament schreiben und war völlig verängstigt. Dann musste er seine Brust entblößen, um sie zu waschen, damit nicht die saubere germanische Kugel von dreckigem Judenschweiß beschmutzt würde … Alle Häftlinge glaubten, der Mann solle erschossen werden, und er selbst litt furchtbar unter dieser Gewissheit. Aber fünf Minuten vor zehn erfuhr er, er sei begnadigt – weil er tüchtig gearbeitet habe. Ein alter Häftling von 70 Jahren bekam einen Herzanfall, während sie auf die Vollstreckung des Urteils warteten.145

Bernstein wurde nach einiger Zeit zur Aushilfe im Krankenrevier des Lagers beordert. Eines Tages kam er mit einem der Wächter ins Gespräch, der ihm riet, um jeden Preis aus dem Lager wegzukommen. „Wenn du jemals von hier wegkommst, musst 144 SRA, Socialstyrelsen, Lagerarchiv Kjesäter, Vernehmung von Meyer Sokolsky am 8. Mai 1945. Sokolsky wurde am 26. Oktober 1942 erneut festgenommen, diesmal von norwegischer Polizei. Er wurde später in das Internierungslager Berg verlegt, von dort kam er am 2. Mai 1945 nach Schweden. 145 RA, S-1725 DaI, Behälter 447. Sondervernehmung von Oscar Emanuel Bernstein in Kjesäter am 1. April 1943.

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du nach Schweden fliehen. Denn alle Juden sollen nach Polen geschickt und ausgerottet werden.“ Mit seinen medizinischen Kenntnissen konnte Bernstein sich so krank stellen, dass er später freigelassen wurde gegen die schriftliche Verpflichtung, die Arztpraxis in Narvik wieder aufzunehmen und die Stadt nicht zu verlassen. Am 12. Dezember wurde er offiziell entlassen. Das war nicht das letzte Mal, dass er simulierte. Bei der großen Aktion gegen die Juden stellte er sich wieder krank, und wieder gelang es ihm zu entkommen diesmal zusammen mit seiner Frau.146 Die Aktion gegen die aus dem früheren Zarenreich stammenden staatenlosen Juden verlief ziemlich sonderbar. Sie wurde am 23. Juni durchgeführt, also am Tag nach der Invasion der Sowjetunion. In Trondheim wurden zwölf staatenlose Juden festgenommen und in das Gefängnis Vollan eingeliefert. Sie wurden kaum misshandelt, aber alle kamen in eine Zelle, und es war sehr eng. Einige wurden schon am 3. Juli entlassen, der Rest elf Tage später.147 In Oslo verhaftete die Gestapo 64 staatenlose jüdische Männer im Alter von 18 bis 60 Jahren. Es waren Personen, die früher die russische, litauische, lettische oder estnische Staatsbürgerschaft gehabt hatten.148 Sie kamen nach Grini, wo sie viele Übergriffe erdulden mussten. Über den Empfang dort schrieb Oskar Mendelsohn: Beim Aufruf draußen und während der nächsten Stunden oben im dritten Stock, wo sie lernen sollten, strammzustehen und ‚Achtung‘ zu rufen, hagelte es Schläge und Tritte. […] Alle sollten kahlgeschoren werden, aber als die Wächter fanden, dass es nicht schnell genug ging, rissen sie die Haarschneidemaschinen an sich und verletzten die Gefangenen schwer. Blutige Haarsträhnen lagen verstreut auf dem Boden. Die Juden mussten diese selbst zusammenfegen und den Boden mit Seife waschen, bis alle Blutflecken entfernt waren. Als sie nach einiger Zeit des Eingesperrtseins sich im Lager bewegen durften, hatten sie immer noch große rote Ränder zwischen den Haarresten.149

Staatenlose jüdische Frauen wurden im Zuge der Aktion nicht offiziell festgenommen, aber es ist anzunehmen, das viele von ihnen sich täglich melden mussten. Eine von ihnen erklärte später, dass sie sich nach dem 22. Juni 1941 zwei Wochen lang täglich melden musste.150 146 Erzählt nach der Zeitschrift Hjemmet Nr. 4, 1990. „Wir flohen in einem Güterwagen, während die Deutschen ein Fest feierten.“ 147 Mendelsohn (1986), S. 58. 148 RA, RK, HSSPN, Tagesberichte Juni–Oktober 1941, Behälter 2. Tagesbericht Nr. 15 der Sicherheitspolizei und des SD Oslo vom 23. Juni 1941. Geschäftszeichen IV C 3 – B Nr. 455/41g. 149 Mendelsohn (1986), S. 58. 150 RA, S-1725 DAI, Behälter 397. Vernehmung von Anna Borin in Kjesäter am 3. Dezember 1942.

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Zur gleichen Zeit ging die Sicherheitspolizei systematischer gegen Kommunisten vor. Einer der Festgenommenen war Vassilij Karjagin, Leiter des sowjetischen Nachrichtenbüros TASS. Nach einem Aufenthalt im Gefängnis Møllergaten wurde er schon am 3. Juli deportiert. Er überlebte die Haftzeit.151 Auch Helene Strand Johansen (geb. Sterlin) arbeitete im Osloer TASS-Büro. Sie wurde am gleichen Tag wie Karjagin festgenommen. Sie war 1903 in der Ukraine geboren und hatte in Moskau den norwegischen Kommunisten Johan Strand Johansen geheiratet. In den 1930er Jahren zog das Paar nach Oslo. Auch ihr Mann wurde verhaftet. Sie wurde am 23. Juli nach Grini und im November 1941 nach Ravensbrück verlegt. Ihr weiteres Schicksal ist schwer zu verfolgen, aber nach Aussagen anderer Gefangener wurde sie im Mai 1942 nach Auschwitz deportiert und kam dort um. 152 Mirjam Kristianen wurde am gleichen Tag wie Strand Johansen festgenommen. Sie war in Orscha im heutigen Weißrussland geboren und war auch mit einem norwegischen Kommunisten verheiratet, Henry W. Kristianen. Sie war 1921 nach Norwegen gekommen und wurde einige Jahre später in der Sowjetischen Botschaft in Oslo als Sekretärin angestellt. Die Geschichte ihrer Haft ist ganz ähnlich der Kristiansens; beide kamen im November 1941 gemeinsam nach Ravensbrück und im Mai 1942 nach Auschwitz. In Oslo hatte sie in Nordstrand gewohnt, und in einer Gedenkschrift für diesen Stadtteil heißt es über ihr Schicksal: Ihre Leidensgenossinnen in Deutschland erzählen von ihrer unglaublichen guten Laune und seelischen Stärke, ihrer Fähigkeit, die schlimmsten Leiden und Erniedrigungen auszuhalten. Sie hatte die härteste Arbeit, schlechte Kleidung, ging im Winter 1942 teilweise barfuß, aber sie lachte und sang und half ihren Mitgefangenen, bei Laune zu bleiben, bis zu dem Tag, da sie ermordet wurde. – Wenn sie sie nicht in die Gaskammer geschickt hätten, so hätten sie sie nicht untergekriegt, sagen die Mitgefangenen. Sie starb im Mai, und ihre Urne wurde nicht nach Hause geschickt. Ihre Asche wurde vermischt mit der von tausend anderen ebenso unglücklichen, vielleicht namenlosen Märtyrern.153

Mirjam Kristiansen und Helene Strand Johansen waren die ersten norwegischen Juden, die in Auschwitz ermordet wurden, bald nachdem die systematischen Vergasungen begonnen hatten.

151 ITS Bad Arolsen, Archiv. Häftlingsauskünfte über Karjagin in Karteikarte. Pryser (200), S. 163. 152 Ebd. Namensliste Verstorbener des Konzentrationslagers Ravensbrück, Ordner 65, S. 39. 153 Lynau (1945), S. 55 f.

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Die Verhaftungen nach der Invasion der Sowjetunion versetzten die Juden in Norwegen natürlich in große Angst. Dass die allermeisten Verhafteten später wieder entlassen wurden, hatte indes eine merkwürdige psychologische Wirkung. Der Aufenthalt in Grini war äußerst belastend gewesen, aber man konnte ihn aushalten. Viele dachten im Herbst 1942, das werde sich wiederholen: dass neue Festnahmen eine Strafaktion seien und dass die Betroffenen nach einer relativ kurzen Zeit der Zwangsarbeit freigelassen würden. Die Freilassung von 37 Gefangenen aus dem Lager Berg im November 1942 verstärkte noch diesen Eindruck (siehe Kapitel 6). Eine andere Person, nach der die deutsche Sicherheitspolizei fahndete, war der 45-jährige Joszef Pap (auch bekannt unter dem Namen Rosenbaum). Pap stammte aus Brasov in Rumänien und war aktiver Kommunist, Journalist und Dichter. Er arbeitete als Sprachlehrer an der Osloer Sprachenschule. Dort stellte er illegale Flugblätter und Zeitungen her, von denen einige sich an Wehrmachtsoldaten richteten. U. a. druckte er ein Flugblatt mit dem Titel Verlustliste, eine Übersicht über deutsche Gefallene und ein eigenes Heft mit dem Titel Kann der Krieg gewonnen werden?154 Pap ging zur Zeit der Invasion der Sowjetunion für eine Weile in den Untergrund, aber am 25. September 1941 wurde er gefunden. Er versuchte zu fliehen, aber wurde in den Fuß geschossen. Im Gestapo-Hauptquartier Victoria terrasse wurde er furchtbar gefoltert. Seine Festnahme hatte auch Folgen für drei norwegische Lehrerinnen der Sprachenschule, die ihm geholfen hatten. Sie wurden verhaftet, nach Grini eingeliefert und später nach Kiel verlegt. Dort wurden sie zusammen mit Pap vor den Volksgerichtshof gestellt, angeklagt wegen Aktivitäten für den Feind und Landesverrat. Die drei Frauen erkannten Pap kaum wieder, als er in den Gerichtssaal geführt wurde – er wog nur noch 45 Kilo. Alle vier wurden verurteilt: Pap zum Tode, die eine Frau, Gudbjørg Skaug, zu sieben Jahren Gefängnis, die beiden anderen, Gudrun Haave und Dagny Dingstad, zu fünf Jahren Zuchthaus. Pap wurde am 15. Dezember 1942 hingerichtet. Ein Zeuge berichtet, er sei bei der Urteilsverkündung gefasst gewesen und habe nur gesagt: „Der Sieg ist unser. Es lebe Stalin!“ Von den drei Frauen kamen zwei in Deutschland ums Leben Nur Gudrun Haave überlebte und konnte später über den Hergang berichten.155 154 Uglvik Larsen et al. (2008), Bd. I, S. 438. Tagesbericht Nr. 23 vom 26. September 1941. 155 Ottosen (1993), S. 128 ff., Kapitel Informasjonskrigen. Ottosen schreibt den Namen „Paap“. Paps Frau Margarete Mezöbandi, geb. Kovács, floh im Dezember 1942 nach Schweden. Sie war Keramikerin und Bildhauerin und bekam in Schweden Arbeit in einer Porzellanmanufaktur. Nach Passieren der Grenze erzählte sie, dass sie ihren Mann seit über einem Jahr nicht gesehen habe und nicht ahne, wo er sich befinde. „Sie ist ganz allein, hat keine Beziehungen und keine Familie“, so Tove Filseth in einem Bericht an die Schwe-

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KONFISKATIONEN UND ARISIERUNG Als die Deutschen Norwegen besetzten, gab es keine Pläne zur erzwungenen Überführung jüdischer Betriebe in „arischen Besitz“. Auch als die ursprünglichen Pläne für die Besatzung fehlschlugen, waren Reichskommissar Terboven und sein Stab vor allem daran interessiert, dass die norwegische Wirtschaft mit der Besatzungsmacht kooperieren sollte. In dem Zusammenhang trat die „Rassenfrage“ in den Hintergrund. Jüdische Geschäfte und Betriebe wurden wie erwähnt registriert, aber eine systematische und landesweite Beschlagnahme jüdischer Geschäfte fand nicht statt. Aber einige Betriebe wurden dennoch auf verschiedene Weise von „Ariern“ übernommen. Eine Ausnahme bilden die Konfiskationen in Mittelnorwegen, die Gerhard Flesch verfügte, nachdem er Kommandeur der Sicherheitspolizei in Trondheim geworden war. Sie werden später in diesem Kapitel behandelt. In Deutschland war der Prozess der Übernahme aller jüdischen Geschäftsunternehmen durch „Arier“ bei Kriegsbeginn so gut wie abgeschlossen. In den Niederlanden begann Reichskommissar Seyß-Inquart sofort mit der Arisierung.156 Die „Goldstücke“, wie etwa Banken oder Betriebe der Diamantindustrie, waren zuerst an der Reihe; später folgten kleinere Betriebe. Die großen wurden oft von den Deutschen selbst übernommen, von kleineren konnten auch nichtjüdische Niederländer profitieren. Es ist in dem Zusammenhang wichtig, dass der Begriff Arisierung nicht unbedingt ein systematisches Vorgehen bezeichnet. In Deutschland geschah der Übergang von jüdischem zu „arischem“ Besitz in zwei Phasen. Vor der „Kristallnacht“ im November 1938 war die Übertragung „freiwillig“, d. h. jüdische Unternehmen wurden aus ihren Branchen gedrängt, indem sie so lange unter Druck gesetzt wurden, bis sie „sich entschieden“, zu einem geringen Preis zu verkaufen. Nach dem November 1938 wurden sie vom Staat zum Verkauf gezwungen; damit fielen die Preise noch weiter. dische Sozialverwaltung. Sie starb in Schweden im September 1943 im Alter von nur 44 Jahren. Die Todesursache war schwer zu ermitteln, aber verschiedenen Quellen zufolge hat sie vermutlich Selbstmord begangen, vielleicht weil sie vom Schicksal ihres Mannes erfahren hatte. SRA, Socialstyrelsen, Statens Utlänningskommission, FrB:1879 Pap, Margareta. 156 Hilberg (1985), S, 570–572. Die jüdische Geschäftswelt in den Niederlanden wurde sehr schnell in einen wirtschaftlichen Destruktionsprozess getrieben, ähnlich wie im Protektorat Böhmen-Mähren. Die deutschen Geschäftsunternehmen hatten freie Hand. Wie Seyß-Inquart selbst sagte, waren die Juden in den Niederlanden nicht Vertragspartner des Waffenstillstands; sie waren Deutschlands Feinde.

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Das andere Vorgehen in Norwegen hat mit der Struktur der jüdischen Unternehmen zu tun. Juden waren hauptsächlich im privaten Sektor tätig. Viele hatten ein eigenes Geschäft, sehr wenige ein relativ großes. Aber die jüdische Minderheit in Norwegen hatte eine kurze Geschichte, und „Goldstücke“ wie in den Niederlanden gab es nicht. Nur in einer Stadt waren jüdische Geschäfte in einer Branche so konzentriert, dass sie einen bedeutenden Faktor darstellten. Das war Trondheim. Einige der jüdischen Flüchtlinge, die nach Norwegen kamen, hatten in ihren Heimatländern Geschäfte oder andere Betriebe besessen. Bei der Ankunft hier waren sie vollständig ausgeplündert, und viele hatten im Gefängnis oder Konzentrationslager gesessen. Als Beispiel seien die Brüder Otto und Hugo Eisler genannt. Otto war Bauingenieur, Hugo besaß eine größere Holzverarbeitungsfabrik in der Heimatstadt Bystritz (heute Lomnice) in Böhmen. Er wurde stark unter Druck gesetzt, damit er seinen Betrieb „arischen“ Händen übergab. Kurze Zeit nach der Invasion der Rest-Tschechoslowakei im März 1939 wurde er von der Gestapo festgenommen. Von der deutschen Sicherheitspolizei in Norwegen wurde er als „tschechischer Emigrant“ registriert. Die Einziehung seines Besitzes und Vermögens in Bystritz wurde höchst unsentimental so beschrieben: Hugo Eisler befand sich vom 11.4.39 bis 19.6.39 bei der Staatspolizeistelle Brünn wegen kommunistischer Betätigung und reichsfeindlichen Verhaltens vor der Errichtung des Protektorats in Haft. Sein Vermögen wurde auf Grund der Verordnung zum Schutze von Volk und Staat vom 28.2.33 beschlagnahmt und eingezogen. Er hat vor seiner Entlassung die Auflage erhalten, das Reichsgebiet und das Protektorat zu verlassen. An der Festnahme des E. besteht kein Interesse. Gegen seine beabsichtigte Auswanderung sind keine Bedenken zu erheben.157

Erst am 18. März 1940 kam Hugo Eisler mit seiner Frau Helene in Norwegen an. Er schloss sich zunächst einem Kreis tschechischer Emigranten an, zu denen u. a. Nora Lustig, ihre Zwillingssöhne Hans und Fritz sowie der spätere Psychiater Leo Eitinger gehörten. Später fand er eine Stelle als Arbeitsleiter in einer Holzverarbeitungsfabrik in Lillestrøm bei Oslo. Im Herbst 1942 floh das Ehepaar nach Schweden; dort starb Hugo Eisler 1944 an einem Herzinfarkt. Sein Bruder Otto wurde bei dem Versuch, nach Schweden zu fliehen, im Herbst 1942 festgenommen.158 Zwei andere 157 RA, Staatspolizei, Judenaktionen, Mappe 25, Jüdische Vereinigungen, Abschrift eines Briefes des BdS Oslo an das EK Trondheim vom 15. November 1940. Siehe auch den Brief der Staatspolizeistelle Brünn an das EK Oslo vom 18. September 1940. 158 Informationen nach RA, ITS sowie Fragebogen für Juden in Norwegen (Otto Eisler, Hugo Eisler, Helene Eisler). Otto Eisler wurde im August 1943 nach Auschwitz deportiert. Wie

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Brüder, Arthur und Moritz Eisler, wurden im April 1940 verhaftet und befanden sich im Herbst 1940 noch im Konzentrationslager.159 Nur Otto überlebte. Ähnliche Verdrängungen von Juden fanden auch in Norwegen statt. Schon im Herbst 1940 wollte Reichskommissar Terboven in Oslo einen „Bierkeller“ nach Münchner Vorbild etablieren.160 Der Bierkeller als Begriff hatte eine gewisse Bedeutung für die nazistische Mentalität, denn in solchen Kellern war die Bewegung nach dem Ersten Weltkrieg entstanden; dort hatte Hitler sein Renommé als Volksredner erworben. Schon im September versandte Dr. Dellbrügge vom Reichskommissariat ein Rundschreiben, das den Beschäftigten ausdrücklich verbot, das bekannte und beliebte Restaurant Humlen [„Zur Hummel“] in Oslo zu besuchen, denn „es steht fest, dass der Inhaber Jude ist“.161 Als eine deutsche Firma beauftragt wurde zu untersuchen, welche Lokale in Oslo sich für einen Bierkeller eignen würden, bot Humlen sich vor allen anderen an. Das Restaurant lag in der Nähe von Karl Johan, der wichtigsten Straße des Zentrums, und damit in der Nähe der meisten deutschen Dienststellen. Besonders geeignet erschien es aber, weil es von Moritz Charles Blumenfeld betrieben wurde. Es wurde vorgeschlagen, ihn „auf dem Dienstweg zu entfernen“, also wohl zu verhaften. Weiter hieß es, die Brauerei, der das Lokal gehöre, könne nur ein Interesse haben, nämlich es an eine deutsche Firma zu vermieten, um so den Umsatz zu erhöhen. Der Brief fuhr fort: Der Plan muss in der Weise durchgeführt werden, dass der Reichskommissar den Betrieb durch seine Dienststelle kauft und danach dafür sorgt, den Juden Blumenfeld auszuschalten.

Ferner wurde vorgeschlagen, das Lokal einem „offenen Handelsunternehmen“ zu überlassen. Als dessen Leiter schlug der Verfasser des Berichts neben zwei anderen sich selbst vor.162

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durch ein Wunder überlebte er und kehrte in seine Heimatstadt in der Tschechoslowakei zurück, wo er später von den kommunistischen Behörden zum Leiter eines Botanischen Gartens bestellt wurde. Eine Biographie über ihn gibt es auf Tschechisch. RA, Staatspolizei, Judenaktionen, Mappe 25, Sachakten C II B 2, Jüdische Vereinigungen, Brief der Staatspolizeistelle Brünn an das EK Oslo vom 31. August 1940. Das geht aus einem Brief der Hauptabteilung Volksaufklärung und Propaganda an den Reichskommissar vom 14. August 1940 hervor. Siehe RA, RK 1940–1945, Hauptabteilung Verwaltung. Paket 34. RA. RK, A/Gen Rundschreiben der Hauptabt. Verwaltung, Bnd I, 11.5.40–30.11.41, Rundschreiben an alle Abteilungen des Reichskommissariats vom 13. September 1940. RA, RK 1940–1945, Hauptabt. Verwaltung, Paket 34. Brief des Leiters der Fachgruppe

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Das Reichskommissariat befand indes, es sei erheblich einfacher, das Lokal zu requirieren, als die Brauerei und Blumenfeld zum Verkauf zu drängen. So wurde die Beschlagnahme für Zwecke der Truppenbetreuung für die deutsche Wehrmacht beschlossen. Blumenfeld erhielt den Bescheid, dass auch das ganze Inventar beschlagnahmt sei. Das Reichskommissariat wies ihn an, während der Kündigungszeit, die vierzehn Tage betrug, dem Personal weiter Lohn zu zahlen.163 Blumenfeld weigerte sich aber, den über 100 Beschäftigten den restlichen Lohn zu zahlen. Er meinte, die Beschlagnahme könne ihm nicht zur Last gelegt werden, daher auch nicht die Kündigungen. In diesem Standpunkt unterstützte ihn die Norwegische Handelsorganisation (NHO), und er konnte sich auch auf einen Paragraphen des Arbeitsstättengesetzes berufen.164 Das Reichskommissariat versuchte dennoch, ihn zur Zahlung des Lohnes zu zwingen, auf den die Beschäftigten unzweifelhaft Anspruch hatten. Das sollte geschehen, indem man ihm die Auszahlung der Entschädigung verweigerte, die mit ihm ganz regulär ausgehandelt war.165 Aber Blumenfeld gab sich nicht geschlagen; aus einem Brief seines Anwalts geht hervor, dass er nach norwegischem Recht nicht verpflichtet war, den Lohn zu zahlen: „Ich habe daher von mir aus keine Möglichkeit, den früheren Inhaber zur Lohnzahlung zu zwingen, da ich das bestehende norwegische Recht nicht ohne weiteres unberücksichtigt lassen kann.“166 In diesem Fall konnte sich also der frühere Inhaber bis zu einem gewissen Grad dem Eingriff des Okkupanten widersetzen. Und obwohl die Beschlagnahme ganz oder teilweise damit begründet war, dass der Inhaber des Restaurants Jude sei, konnte das Reichskommissariat diese Begründung offiziell nicht anführen; die für Beschlagnahmen üblichen Regeln mussten befolgt werden. Das Lokal, später in Löwenbräu umbenannt, wurde von der Firma Mentberger & Horcher in Treuhänderschaft übernommen.167 Es war die gleiche Firma, die untersucht hatte, welche Räumlichkeiten in Oslo für ein Soldatenlokal geeignet wären. Schankgewerbe, Mentberger, in der Wirtschaftsgruppe Gaststätten und Behergungsgewerbe an Reichskommissar Terboven. Berlin, den 28. Oktober 1940. 163 Ebd., Abschrift des Briefes des Reichskommissariats, Hauptabt. Verwaltung, an Blumenfeld vom 27. Januar 1941. Geschäftszeichen HAV, Tgb. Nr. 1187. 164 Ebd., Abschrift des Geschäftsprotokolls für Humlen vom 3. Februar 1941, worin Verhandlungen zwischen Blumenfeld, NHO und den Beschäftigten behandelt werden. 165 Ebd., Brief des Reichskommissariats, Hauptabt. Arbeit und Sozialwesen, an Blumenfeld vom 12. Februar 1941. Geschäftszeichen II a 10/2 DR. B/Sch. 166 Ebd., Brief des Rechtsanwalts Karl Getz an das Reichskommissariat, Hauptabt. Verwaltung, vom 5. März 1941. 167 Die Firma hatte ihren Sitz in Berlin. In Oslo hatte sie einen Geschäftsführer. Siehe Korrespondenz im RA, Reichskommissar 1940–1945. Hauptabt. Verwaltung, Paket 34.

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Der Fall Humlen gleicht ähnlichen Beschlagnahmungen in Deutschland und war insofern typisch: Terboven bekam seinen Willen, und ein mit den Untersuchungen betrauter privater Betrieb profitierte, indem er selbst das Lokal übernahm, das er „ausgeguckt“ hatte. Im Januar 1941 konnte der BdS in Oslo dem RSHA mitteilen, dass das Gebäude und das Restaurant in ein Deutsches Haus umgewandelt werden sollten, wie es das in den meisten großen europäischen Städten gab, die von Deutschland besetzt waren.168 Für Blumenfeld war die Sache ein wirtschaftlicher Absturz. Seit 1932 war er Humlens Direktor gewesen. Nach der Beschlagnahme war er arbeitslos. Erst im Spätsommer 1941 fand er wieder Arbeit als Küchenchef in der Kantine der Brauerei Frydenlund.169 Er stand später unter erheblichem Druck der Gestapo, und Wagners Assistent Böhm war im Zuge der Verhaftungen jüdischer Männer im Oktober 1942 besonders hiner ihm her.170 Blumenfeld war da schon im Lager Berg interniert. Da seine Frau Nichtjüdin war, wurde er nicht deportiert. Es gab auch Trittbrettfahrer, die die bei der Ausschaltung von Juden praktizierten Methoden dazu nutzten, missliebige Konkurrenten loszuwerden, mochten diese auch noch so wenig „jüdisch“ sein. Ein anschauliches Beispiel dafür ist die Lieferung von Margarine an die Wehrmacht. In Briefen des vom Reichskommissar für die führende Firma Denofa „Bevollmächtigten“, Dietrich Hildisch, an die Abteilung Landwirtschaft und Gesundheitswesen des Reichskommissariats wurden einflussreiche Personen in der norwegischen Margarineindustrie als „jüdisch“ oder „deutschfeindlich“ beschrieben.171 Nun war auf Hildischs Behauptungen nicht unbedingt Verlass. Sein Motiv war nämlich nicht nur, die Wehrmacht am Einkauf bei Juden zu hindern. Er wollte auch Verträge über die Lieferung größerer Mengen Margarine von dem Betrieb erreichen, den er selbst vertrat. Hildisch war gebürtiger Deutscher, aber wohnte schon lange in Norwegen und war 1912 an der Gründung von Denofa beteiligt gewesen. Doch nach internen Auseinandersetzungen, in denen es auch um Unterschlagung ging, war er schon in den 1920er Jahren hinausgedrängt worden. Aber m August 1940 kam er wieder in Position, als Terboven

168 Ugelvik Larsen et al. (2008), Bd. I, S. 170. Tätigkeitsbericht Nr. 31 vom 29. Januar 1941. 169 SRA, Socialstyrelsen. Lagerarchiv Kjesäter. Vernehmung von Moritz Charles Blumenfeld am 8. Mai 1945. 170 RA, Polizeidirektion Oslo. Brief von Untersturmführer Böhm an Polizeidirektor Sverre Dürbeck vom 30. Oktober 1942. 171 RA, RK 1940–1945. Hauptabt. Volkswirtschaft, Abt. Ernährung und Landwirtschaft. Briefe von Dietrich Hildisch an Dr. Blankenagel in der Abteilung Landwirtschaft-Gesundheitswesen des Reichskommissariats vom 4. Dezember 1940 und 4. Januar 1941.

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ihn zum „Verwalter“ des Betriebes ernannte.172 Schon vor der Ernennung hatte Hildisch vertrauliche Gespräche mit Vertretern des Reichskommissariats geführt.173 Jedenfalls hatten seine Behauptungen Wirkung. Das Reichskommissariat teilte der Wehrmacht in einem Brief mit, sie habe Waren bei Betrieben bestellt, die in „deutschfeindlichem Besitz“ seien. In einer Beschreibung der Marinefabrik in Drammen wurde die Wehrmacht darauf aufmerksam gemacht: Ich halte es für zweckmäßig, daß, falls nicht durchschlagende Gründe dafür sprechen, die Bestellung beizubehalten, eine Umdisposition erfolgt, da die Deutsche Wehrmacht wohl kaum bei einem Unternehmen bestellen kann, in welchem der Vorsitzende des Aufsichtsrates Volljude ist.174

In einem Vermerk wurden Bestellungen der Wehrmacht bei Margarinefabriken „unter jüdischem Einfluß“ als „geradezu grotesk“ gekennzeichnet.175 Dennoch konnte die Wehrmacht die Verträge nicht einfach annullieren. Bei einer Besprechung des Reichskommissariats mit der Firma Denofa und dem Versorgungsministerium wurde daher entschieden, dass deutschfeindliche Betriebe künftig ausgeschaltet werden sollten und dass Denofa wegen ihrer deutschfreundlichen Haltung Hauptlieferant von Margarine an die Wehrmacht werden solle.176 Der erwähnte „Volljude“ gehörte zu der seit langem assimilierten Samson-Familie.177 Hildisch hatte auch andere Margarineproduzenten auszuschalten versucht. Zum Beispiel wurde das Osloer städtische Krankenhaus zu Bestellungen bei Denofa gezwungen, obwohl andere Produzenten zu einem billigeren Preis liefern konnten.178 „Jüdischer Einfluss“ war ein schlagkräftiges Argument, mit dem man eigenen Profit mehren konnte. Die „Arisierungsversuche“ deutscher Behörden demonstrieren den Unterschied zwischen systematischen und unsystematischen Maßnahmen. Systematische Politik hätte eine Verordnung erfordert, die den administrativen Aufwand vermindert 172 NHM FO II ii.4, Behälter 49, Mappe „Deutsche Handelskammer“. 173 RA, RK 1940–1945, Hauptabt. Volkswirtschaft, Abt. Ernährung und Landwirtschaft. Brief von Dr. Blankenagel an Hildisch vom 14. Dezember 1940. 174 Ebd., Brief des Reichskommissariats, Abt. Landwirtschaft-Ernährung-Gesundheitswesen, an die Wehrmacht, Gruppe XXI, vom 14. Dezember 1940. 175 Ebd., Vermerk des Reichskommissariats, Abt. Ernährung-Landwirtschaft-Fischerei, vom 9. Dezember 1940. 176 Ebd., Aktenvermerk über diese Besprechung, die am 18. Dezember 1940 stattfand. Der Vermerk datiert vom 27. Dezember 1940, Aktenzeichen E III 1331. 177 Zu dieser Familie siehe Mendelsohn (1969), S. 285–287. 178 Klaveness (1947), S. 137 ff.

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hätte. Dass die Besatzungsmacht es nicht zweckdienlich fand, auf jüdische Geschäfte mehr Druck auszuüben, hat zwei Gründe. Zum einen waren Juden in verschiedenen norwegischen Branchen sehr wenig präsent. Zum andern hätte ein systematischeres Vorgehen die antijüdische Linie offen ans Licht gebracht. Dies wurde vermieden, indem man verschiedenen Organen die Initiative zu Aktionen überließ, wann und wo man es für nötig hielt. Am 18. Juni 1941, als arbeitsfähige jüdische Männer in Tromsø festgenommen wurden, konfiszierte die deutsche Sicherheitspolizei auch die in jüdischem Besitz befindlichen Geschäfte in der Stadt. Ob die Sicherheitspolizei auch das beschlagnahmte Gut verwaltete, ist aber unklar. Ein Zeuge, der sich später zu den Ereignissen äußerte, meinte sich zu erinnern, dass sämtliche Warenlager in den Räumen der Firma Klein im Zentrum gesammelt und gelagert wurden. „Über diese Waren verfügte sicher die Dienststelle des Reichskommissariats in Tromsø.“ Der Zeuge wusste nicht mehr, wie die Waren weiterverteilt wurde, „aber er meint sich zu erinnern, dass sie – jedenfalls zum Teil – dazu gebraucht wurden, Personen einzukleiden, die von den Deutschen zum Arbeitsdienst im Süden abkommandiert waren“.179 Der Nachlassverwalter, der später die Nachlässe der Juden von Tromsø liquidieren sollte, teilt in seinem Bericht allerdings mit, dass die Waren in den Geschäften hauptsächlich an Deutsche verkauft wurden, wenngleich auch „Gelegenheit gegeben“ wurde zum Verkauf an Norweger, die auf ihren Rationierungskarten Bekleidungsmarken hatten. Der Nachlassverwalter hatte Angaben über den Gesamtumfang des Verkaufs eingeholt. Es waren 32.000 Kronen zusammengekommen, das entspricht nach heutigem Geldwert 90.000 Euro. Der Betrag wurde an das Versorgungslager beim Reichskommissariat in Oslo überwiesen.180 Das Geschäft Klein wurde später von der Besatzungsmacht als Propagandalokal genutzt. Wo früher der Geschäftsname gestanden hatte, verkündeten jetzt große Buchstaben: „Mit Deutschland für ein neues Europa.“181 Interessant ist auch das Beispiel Elverum. Dort beschlagnahmte die Außendienststelle Lillehammer der deutschen Sicherheitspolizei im August 1942 zwei Geschäfte und nahm die Inhaber fest. Die Festnahmen erfolgten nicht gleichzeitig. Beide Geschäfte wurden von einem eingesetzten Verwalter weitergeführt, einem „zuverlässigen“ norwegischen Geschäftsmann aus der Stadt.182 Die bei179 Landesarchiv Berlin, 3 Rep-01 Nr. 380, Bericht an die Polizeidirektion Tromsø vom 18. Januar 1962. 180 RA, Rückführungsbüro, Nachlassmappe Smith, Herman. Abschrift eines Briefes des Nachlassverwalters Sverre Jacobsen an den Liquidationsausschuss vom 8. April 1944. 181 Broberg (2014), S. 217. 182 Brief des BdS Oslo, Außendienststelle Lillehammer, vom 3. Dezember 1942. Selik Markus erscheint in der Liste fälschlich als Leif Sigurd Markus.

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den Inhaber, Aron Levinsohn und Selik Markus, kamen zuerst in das Bezirksgefängnis in Hamar und später nach Grini. Es unterliegt keinem Zweifel, dass die Sicherheitspolizei und ihre norwegischen Helfer sich aus den Warenlagern der Geschäfte bedienten. Denn als der Liquidationsausschuss für die eingezogenen jüdischen Vermögen später einen Verwalter eigens für die beiden Nachlässe einsetzte, deutete dieser an, „dass die deutsche Sicherheitspolizei bei der Beschlagnahme vermutlich einige Möbel etc. aus Aron Levinsohns Haushalt mitgenommen hat“. Er habe der Sicherheitspolizei eine Liste der mitgenommenen Sachen „abverlangt“, obwohl „die Situation heikel geworden war“. Den Mitgliedern des Liquidationsausschusses war demnach, wie aus der Antwort hervorgeht, völlig klar, dass die deutsche Sicherheitspolizei hier das Sagen hatte. Sie meinten, es reiche aus, wenn die genannten Möbel geschätzt würden, und ferner: „Dies sollte mit der Sicherheitspolizei so einfach und praktisch wie möglich geregelt werden.183 Als Grund der Verhaftung des einen der beiden Geschäftsleute teilte die Botschaft in Stockholm in einem ihrer Bulletins mit, Selik Markus sei angeklagt worden wegen „ungesetzlichen Hamsterns, da die Polizei behauptete, er habe zu viel Marmelade im Keller“.184 Es gehörte nicht viel dazu, einen Grund für die Festnahme eines Juden zu finden. Selik Markus’ Frau Jette Lea Markus und der fünfjährige Sohn Ragnar wurden von der Gestapo aus ihrem Haus geworfen mit dem Bescheid, sie müssten sich anderswo eine Bleibe suchen.185 Jette Lea Markus, der Sohn Ragnar und zwei Töchter wurden mit der Donau nach Auschwitz deportiert. Ein anderer Sohn, Leif Sigurd Markus, war schon im März 1942 festgenommen worden, angeblich weil er Personen geholfen hatte, die nach Schweden fliehen wollten.186 Er wurde am 26. November mit der Monte Rosa deportiert. Nur zwei andere Söhne überlebten. Ein dritter Geschäftsmann in Elverum, Hermann Georg Levin, wurde misstrauisch und verließ die Stadt am 18. August 1942, angeblich weil er wegen eines „nervösen Leidens“ einen Erholungsaufenthalt brauchte. Er gelangte wohlbehalten nach Schweden. Ein deutscher Offizier erschien eines Tages im August 1942 in Levins Geschäft, um einen Anzug zu kaufen. Er hatte aber nicht genug Kleidermarken auf seiner Rationierungskarte, und Levin verweigerte den Kauf, obwohl der Offizier ihm eine hohe Bezahlung bot. Schließlich verließ er wütend das 183 RA, Rückführungsbüro, Nachlassmappe Aron Levinsohn. Brief des Nachlassverwalters an den Liquidationsausschuss vom 14. Januar 1943. Antwort des Liquidationsausschusses vom 17. Januar 1943, Aktenzeichen Lk. 2073. 184 NHM 52 C H7, Pressebulletin Nr. 176 vom 14. September 1942. 185 Ebd., Pressebulletin Nr. 181 vom 28. September 1942. 186 Datenbank über Juden in Norwegen, Bjarte Bruland. Markus, Leif Sigurd.

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Geschäft mit den Worten: „Behalt dein Zeug. Morgen wirst du sowieso verhaftet!“187 Es war eine offenkundige Provokation: Levin sollte zu einem Verkauf bewogen werden, den die Gestapo dann als „ungesetzlich“ abstempeln konnte. Nach Meinung des Lokalhistorikers wurden die Verhaftungen in Elverum vorgenommen, weil in der sogenannten Grenzzone Ost keine Juden wohnen sollten.188 Diese Erklärung wirkt plausibel. Reidar Koppang, ein Mann aus dem Widerstand, verhalf später im Herbst Levins Frau Mina und dem kleinen Sohn Idar zur Flucht nach Schweden.189 Lokale Einzelaktionen und Korruption gingen bei der deutschen Sicherheitspolizei und ihren Helfern Hand in Hand. Die Beschlagnahmungen wurden ausgenutzt, aber auch zum Vorteil derer verwendet, die man begünstigen wollte, wie es in Elverum und Tromsø geschah. Durch Korruption wurden örtliche norwegische Helfer enger an die Deutschen gebunden.

„AKTION GEGEN DAS JUDENTUM“: AUSSERORDENTLICHE MASSNAHMEN IN MITTELNORWEGEN Am 22. Januar 1942 sagte Adolf Hitler bei einer Besprechung mit den Spitzen der Kriegsmarine, Norwegen sei eine Schicksalszone.190 Norwegen, und ganz besonders Nordnorwegen, sollten daher gegen eine eventuelle Invasion „mit allen Mitteln“ gesichert werden. Kurz vorher hatte er selbst einräumen müssen, dass der Krieg gegen die Sowjetunion noch nicht gewonnen war. Auch waren die USA im Dezember 1941 in den Krieg eingetreten. Die Äußerung des Führers ist natürlich in einem größeren Zusammenhang zu sehen, aber dass er Norwegen zu einer Schicksalszone erklärte, wirkte auf die allgemeine Besatzungspolitik entscheidend ein. Vor allem wurden die Maßnahmen gegen die Widerstandsbewegung verstärkt. Die Nazisten sahen „den Widerstand“ als von Juden gelenkt, und im weiteren Sinne sind daher Maßnahmen gegen Juden als gegen den Feind des Reiches gerichtet zu verstehen. Trondheim und die dem KdS Trondheim unterstellten Gebiete lagen sozusagen im Zentrum der von Hitler proklamierten Schicksalszone. Mitten in diesem Gebiet gab es eine vitale jüdische Gemeinde und ein Geschäftsleben, das in mehrfacher 187 SRA. Statens Utlänningskommission, Socialstyrelsen, FIABA: 2382, Vernehmung von Hermann Georg Levin am 12. November 1942. 188 Lunde (1998), S. 294. 189 Nordberg (1990), S. 222. 190 Dahl et al. (1995), S. 369.

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Hinsicht das Stadtbild prägte. Außerdem gab es eine Anzahl Juden in den nicht weit entfernten Städten Kristiansund und Ålesund. Terror und Manipulationen kennzeichneten von Anfang an das Vorgehen gegen die Juden in Trondheim. Wie in Kapitel 3 dargelegt, war auch Korruption eine treibende Kraft. Sie stand unter dem neuen Chef Flesch weiter in Blüte, jedoch in anderer, raffinierterer Form: Korruption, Terror, Verhaftungen und Hinrichtungen sollten ineinandergreifen. Fleschs „Operation“ wurde in der deutschen Sicherheitspolizei intern als „Aktion gegen das Judentum“ in Mittelnorwegen bezeichnet.191 Nach dem Krieg wollten die Beteiligten davon natürlich nichts mehr wissen; das zeigen die Vernehmungen von Beschuldigten ebenso wie von Zeugen. Aber ein Prüfbericht von Hauptsturmführer Werner Wesche vom Juli 1943, acht Monate nach der letzten großen Deportation von Juden, spricht eine klare Sprache. Wesches Bericht war nicht nur für den BdS Heinrich Fehlis oder den HSSPF Wilhelm Rediess bestimmt; er landete auch auf Terbovens Schreibtisch. Und er entschied in letzter Instanz darüber, was mit den Betrieben, Geschäften und Immobilien geschehen sollte, die von der Sicherheitspolizei im Zuge der Aktion „gesichert“ worden waren (vgl. Kapitel 8). Die Maßnahmen in Mittelnorwegen waren „unsystematisch“ in dem Sinne, dass Flesch und seine Leute nicht aufgrund eines Gesetzes oder einer Vorschrift handelten. Flesch gebrauchte einfach seine persönliche Macht in der Region. Er und sein norwegischer Mitarbeiter Reidar (Dunker) Landgraff standen als Hauptakteure hinter allen Aktionen. Das Hauptquartier der Sicherheitspolizei im Missionshotel in Trondheim, das deutsche Gefängnis Vollan und das Konzentrationslager Falstad waren die Stätten des Terrors. Er richtete sich in gleicher Weise gegen Juden und Mitglieder der Widerstandsbewegung. Aber einen Unterschied gab es doch: Als vier Juden und ein Norweger (den die Sicherheitspolizei „Kommunist“ nannte) im März 1942 hingerichtet wurden, waren schon so gut wie alle jüdischen Betriebe in Trondheim von der Sicherheitspolizei beschlagnahmt. Es folgten Aktionen an der Küste vom Møre, dem Bezirk südwestlich der Stadt. Fleschs geheimdienstliche Tätigkeit während seiner Zeit in Trondheim ist gut dokumentiert. Schon 1945 wurde festgestellt, dass er und sein Mitarbeiter Walter Gemmecke zu den tüchtigsten Geheimdienstoffizieren der deutschen Spionageabwehr in Norwegen gehörten.192 Berüchtigt ist der Einsatz negativer Kontakte, also von Personen, die für die Widerstandsbewegung zu arbeiten glaubten, aber tatsächlich die deutsche Sicherheitspolizei mit Informationen versorgten. Auch 191 NHM FO II II.4, Bericht des BdS, Abt, II C II, vom 8. Juli 1943. 192 Flønes und Skirstad (1945), S. 12.

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die Rinnan-Bande gehörte zu Fleschs Bemühen, die Widerstandsbewegung zu infiltrieren. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass er und seine Offiziere den Widerstand der Kommunisten in Trønelag praktisch lahmlegten. Aber Flesch und Gemmecke blieben meist im Hintergrund und ließen ihre Marionetten die Dreckarbeit verrichten.193 Flesch hielt brutales Vorgehen für effektiv, und Folter einzusetzen galt (wie in anderen Teilen des Landes) als normal. In der kollektiven Erinnerung werden Folterungen meist mit der Rinnan-Bande verbunden, aber die von der Sicherheitspolizei eingesetzten Folterinstrumente waren wirksamer und zum Teil auch raffinierter. Im Hauptquartier in Trondheim wurden in besonderen Lichtzellen Glühbirnen von 500 Watt oder mehr installiert. Oft versuchte die Sicherheitspolizei, Personen aus dem Widerstand durch Drohungen und Druck „umzudrehen“. Solche Methoden setzte sie auch gegen die Juden der Stadt ein. Es ist erwiesen, dass die Gestapo mehrere Agenten in die jüdischen Kreise Trondheims eingeschleust hatte (siehe Kapitel 9). Flesch war ein rabiater Antisemit. Für ihn war die Anwesenheit von Juden in Trondheim wie im übrigen Norwegen unerträglich. Dies mag paradox erscheinen. Denn Fleschs Politik lag quer zu der Strategie des vorsichtigen Vorgehens gegen die Juden, an die die Besatzungsmacht sich im übrigen Norwegen bisher gehalten hatte. Warum wurde Flesch nicht ausgebremst? Einerseits waren zentrale Richtlinien auf einer übergeordneten politischen und sozialpsychologischen Ebene nützlich. Ein zu rasches und brutales Vorgehen gegen Juden auf Landesebene konnte den Widerstand gegen die Besatzungsmacht stärken. Aber zweitens gab es auch andere Rücksichten, vor allem die Auffassung der Sicherheitspolizei, die Juden seien ein Sicherheitsrisiko. Zudem war Fleschs besondere antijüdische Linie in Trondheim schon vor seiner Zeit angelegt. Im April 1941 war die Synagoge beschlagnahmt worden. Zugleich „gingen die Deutschen umher und musterten ihre [der Juden] Wohnungen“, wie Dompropst Arne Fjellbu in seinem Tagebuch notierte. Zwei Villen, die Juden gehörten, wurden beschlagnahmt. Der eine betroffene Besitzer, Isidor Isaksen, sagte zu Fjellbu, die Juden „werden mit Freude die Leiden ertragen, die alle anderen in dieser Zeit ertragen müssen, aber es empört uns, auf eine besondere Weise behandelt zu werden“.194 Fjellbu fragte sich, ob dies eine koordinierte 193 Ebd. S. 13. Die Rinnan-Bande, benannt nach ihrem Anführer Henry Rinnan, war eine im März 1942 etablierte Gruppe von etwa 70 norwegischen Denunzianten, die für den deutschen Sicherheitsdienst arbeitete. 194 ITS Bad Arolsen, Archiv, Ordner 433, S. 47. Totenschein vom 22. April 1943, gez. Quakernack. Isaksen wurde im Juli 1942 festgenommen und in das Lager Falstad eingeliefert. Am 26. November 1942 wurde er mit der Monte Rosa deportiert. Er starb in Auschwitz am 9. April 1943.

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Aktion gegen Juden war oder eine zufällige Beschlagnahme, die auch andere Norweger betraf. Nach einer Besprechung mit mehreren der prominenten Juden der Stadt nahmen Fjellbu und der Rechtsanwalt und frühere Fylkesmann („Bezirkspräsident“) Johan Cappelen Kontakt zu dem eingesetzten Bürgermeister Olav Bergan und dem Fylkesmann Frederik Prytz auf. Dem Bürgermeister gegenüber äußerte Cappelen, es wäre eine Schande, wenn Trondheim „sich an die Spitze der Judenverfolgungen im Lande setzte“. Prytz betonte, er sei „Gegner der Judenverfolgungen“. Er und Bergan versprachen, sich in der Angelegenheit an den KdS Ling zu wenden. Ling entgegnete indes, die Feldpolizei des Heeres unter Leitung eines neu eingetroffenen Obersts erwäge jetzt, den Besitz von Juden zu beschlagnahmen, und daraufhin wusch Prytz seine Hände in Unschuld; „Prytz fand, er könne aus Gründen der Etikette diesen Oberst nicht aufsuchen“. Prytz wurde später Finanzminister und war in dieser Eigenschaft für die Liquidierung jüdischen Besitzes zuständig. Fjellbu und Cappelen gingen nun hart gegen Prytz vor. Fjellbu machte ihm klar, er werde, wenn die Juden übervorteilt würden, die Kirche „von einem Ende des Landes bis zum andern“ alarmieren. „Hier steht die Norwegische Kirche zu 100 % geschlossen da, mit so etwas finden wir uns nicht ab.“195 Am 16. Mai 1941 meldete Prytz, es würden keine „weiteren Requirierungen von Judenhäusern vorgenommen, die über das Maß dessen hinausgehen, was andere Norweger abtreten müssen.“ Zweifellos verhinderten Fjellbu und Cappelen vorläufig weitere Beschlagnahmungen des Eigentums von Juden. Das war ein Sieg. Fjellbu blieb engagiert, er suchte auch später Übergriffe zu verhindern, doch ohne dass Flesch sich davon besonders beeindrucken ließ. Aber jetzt, im April/Mai 1941, war die Zeit für drastische Maßnahmen offenbar noch nicht reif. Im Herbst des Jahres, nach dem Angriff auf die Sowjetunion, war die Zeit der Rücksichtnahme abgelaufen. Einige Tage vor Fleschs Ankunft in Trondheim im Oktober 1941 fand ein örtlicher Kaufmann namens Schreiner in seinem Briefkasten einen „Laufzettel“ vor, dem zufolge in Norwegen und Trondheim „heimliche kommunistische Vereinigungen“ gegründet worden waren. Schreiner wurde aufgefordert, Mittel für einen von Dompropst Fjellbu verwalteten „Jubiläumsfond“ zu spenden. Am Ende des Schreibens hieß es: „Indem wir dem neuen Sowjet-Norwegen unter Führung des Genossen Stalin vertrauensvoll entgegensehen, zeichnen wir hochachtungsvoll Abt. Trøndelag der „Freunde der Sowjetunion“, P. Wisløff/G. Schikowsky“.196 Der zweite Name erinnerte verdächtig an Schilowsky, einen örtlichen jüdischen Kauf195 Fjellbu (1946), S. 104–108. 196 Ebd. S. 120 f.

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mann.197 Der Brief war eine von einem örtlichen NS-Mitglied lancierte Provokation, und Fjellbu erfasste sofort die Konsequenzen: Es zeigt sich also, dass NS und die deutsche Sicherheitspolizei zusammengearbeitet haben. Beabsichtigt war die Erstellung eines Dokuments, das Verhaftungen begründen könnte. Dafür spricht auch, dass gerade in diesen Tagen in der Stadt eine Polizeirazzia gegen Kommunisten durchgeführt wurde. Nun hatte aber ich die Sache angezeigt, und mir konnte man so leicht nichts anhaben.198

Der in dem Schreiben subtil unterstellte Zusammenhang ist auch an sich interessant. Der Kommunismus war in nazistischer Sicht eine jüdische Konspiration. Nur einen Monat später ging die deutsche Sicherheitspolizei gezielt gegen jüdische Geschäfte in Trondheim vor. Führend war dabei der Norweger Reidar Landgraff. Er hatte sich schon bald nach der Besetzung des Landes der Sicherheitspolizei zur Verfügung gestellt. Macht und Geld waren die Belohnung. Schon seit Oktober 1940 war Landgraff bei der deutschen Sicherheitspolizei in Trondheim „angestellt“, obwohl er keinen förmlichen Vertrag hatte. Landgraff war 1892 in Trysil nahe der schwedischen Grenze geboren und hatte vor dem Krieg in verschiedenen Firmen als Buchhalter gearbeitet. Anfang 1938 zog er nach Trondheim, wo er sich als „Buchhaltungs- und Rationalisierungsexperte“ niederließ. Die Firma „hörte von selbst auf “, als der Krieg ausbrach; an der Rationalisierung des Geschäftslebens bestand kein Interesse mehr.199 Landgraff war verheiratet; seine Frau betrieb in der Søndregate in Trondheim das Geschäft Modemagasinet, zu dessen Konkurrenten in der Konfektionsbranche tätige Juden gehörten. Bei Kriegsbeginn befand sich Landgraff in Trondheim und trat im Juli 1940 Nasjonal Samling bei. Schon im Mai hatte er einen Raum in der Freimaurerloge bezogen. Eine „Manufakturgruppe“ beschäftigte ihn dort, um „den Verkauf von Manufakturwaren zu bremsen“. Im September 1940 wurde er kommissarischer Abteilungsleiter im Versorgungsausschuss der Stadt, einem kommunalen Organ, das die Versorgungssituation und die Rationierung überwachen sollte. Am 2. Oktober wurde ihm diese Stelle gekündigt, und noch am gleichen Tag 197 Efraim Schilowsky, geb. 1905 in Sundsvall in Schweden. Er war vom 15. Januar bis August 1942 in den Gefängnissen Vollan in Trondheim und Møllergaten in Oslo inhaftiert. Er wurde beschuldigt, Neuigkeiten aus England verbreitet zu haben. Nur seine schwedische Staatsbürgerschaft bewahrte ihn im März 1942 davor, zusammen mit vier anderen Trondheimer Juden hingerichtet zu werden. Er änderte später seinen Namen zu Schilow. 198 Fjellbu (1946), S. 121. 199 RA, L-sak 41730-731 D. Vernehmung von Reidar Johan Dunker Landgraff in Trondheim am 27. Juli 1945.

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wandte sich ein örtlicher Kaufmann an ihn mit der Frage, ob er an der „Durchsicht einiger großer Bilanzen“ interessiert sei. Das betraf die Freimaurerlogen, und Auftraggeber war die deutsche Sicherheitspolizei. Am 4. Oktober traf Landgraff Vertreter der Sicherheitspolizei im damaligen Hauptquartier Hotel Phønix. Dort wurden ihm die Geschäftsbücher der Freimaurerlogen übergeben. Man wies ihm einen Raum im Hotel an, den er sich mit dem Untersturmführer Herbert Wilhelm Bischoff teilte. Auch ein norwegischer „Dolmetscher“ saß mit im Zimmer.200 Bischoff war für die Registrierung der Juden in der Stadt zuständig. Ferner rekrutierte er zusammen mit anderen Agenten für den Sicherheitsdienst, nicht nur im Inland, sondern auch in Schweden.201 Inoffiziell arbeitete Landgraff nun für die Verwaltungsabteilung, die spätere Abteilung I im KdS. Er wurde beauftragt, alle Freimaurerlogen im Gebiet des KdS Trondheim zu liquidieren, d. h. von Dovre und Ålesund im Süden bis Bodø im Norden. Am 25. September wurden wie erwähnt alle politischen Parteien mit Ausnahme von NS von Terboven verboten. Landgraff erhielt nun zusätzlich die Aufgabe, die Bilanzen der Parteien durchzusehen und eine Übersicht über ihren Besitz und ihr Vermögen zu erstellen. Später kam ein weiterer Auftrag hinzu: die Durchsicht der Bilanzen der Trondheimer Zeitungen Adresseavisen, Nidaros und Arbeideravisen.202 Nach dem Krieg gab Landgraff zu, der Sicherheitspolizei auch gedient zu haben „mit Auskünften über die verschiedenen Firmen, die an deutsche Organisationen Waren lieferten und für sie arbeiteten“.203 Die Anfragen, die er beantwortete, kamen vom Reichskommissariat und der Deutschen Handelskammer in Oslo.204 Die Handelskammer erstellte ja Verzeichnisse jüdischer und „deutschfeindlicher“ Firmen in Norwegen. Landgraff hatte vermutlich neben dem KdS noch andere Auftraggeber. Als im Juni 1941 jüdische Männer in Tromsø festgenommen wurden, erschien eine Meldung, dass Landgraff während der Aktionen dort „Berater“ der deutschen Sicherheitspolizei gewesen sei.205 Er war also schon als Agent und Liquidator installiert, bevor Gerhard Flesch als neuer Kommandeur am 11. Oktober 1941 nach Trond200 Die „Dolmetscher“ der Sicherheitspolizei wurden im Laufe der Besatzungszeit oft zu notorischen Folterknechten. 201 Siehe z. B. Christophersen (1995 I), S. 389 f. 202 RA, L-sak 41 730-731 D. Vernehmung von Reidar Johan Dunker Landgraff in Trondheim am 27. Juli 1945, S. 5. 203 Ebd. S. 3 f. 204 Ebd. Vernehmung von Hans Richard Roth in Trondheim am 14. August 1945. 205 NHM 52 C H4, Pressebulletin Nr. 108 vom 31. März 1942.

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heim kam. Landgraffs Kollaboration war in Widerstandskreisen wohlbekannt. Er galt als gefährlich206, sein Ehrgeiz als grenzenlos. Kaum war Flesch da, wurden die Schrauben angezogen. Vereinfacht gesagt, erfolgte die Beschlagnahme jüdischer Betriebe in Trondheim in zwei Schüben, im Oktober/November 1941 und im Februar 1942. Nicht nur in Trondheim, sondern auch in Ålesund und Kristiansund wurden jüdische Geschäfte beschlagnahmt. Flesch formalisierte Landgraffs Rolle, indem die Verwaltung der Beschlagnahmungen einem Verwaltungsbüro übertragen und so von der deutschen Sicherheitspolizei formal getrennt wurde. Landgraff erhielt im Januar oder Februar 1942 in der Stadt eigene Büros und eine eigene Verwaltung. Flesch verlieh ihm den Titel Generaltreuhänder. Damit gingen „weitreichende Vollmachten“ zum Aufbau einer eigenen Organisation einher. Der Stab des Verwaltungsbüros wuchs nach und nach auf ungefähr 25 Personen an.207 Flesch orientierte sich bei seinem Vorgehen vermutlich an früheren Erfahrungen aus Deutschland. Nach dem Krieg erklärte er das so: 3) Ich hatte früher für das Hauptquartier der Geheimen Staatspolizei in Berlin gearbeitet und kannte das System der sogenannten Holdinggesellschaften. Diese Gesellschaften, deren Aktienmehrheit in der Regel der Staat hielt, hatten die Aufgabe, fremdes Vermögen zu verwalten. 4) Bei meinem Gespräch mit Landgraff beschrieb ich eine solche Holdinggesellschaft. Landgraff stimmte meiner Vorstellung von der Verwaltung solcher eingezogenen Vermögen zu, und ich arbeitete daraufhin einen geeigneten Vorschlag aus. So wurde das Verwaltungsbüro etabliert, mit Landgraff als Leiter und mit ihm unterstellten Männern als Verwaltern der einzelnen Nachlässe. Das war ein praktisches Konzept, weil es dafür sorgte, dass alle beschlagnahmten Vermögen in einer Hand lagen.208

Diese Beschreibung ist natürlich Fleschs Bestreben angepasst, mehr als Verhandler und Diskussionspartner zu erscheinen denn als Leiter und Entscheider. Aber das Verwaltungsbüro war eine Kopie der deutschen Treuhandgesellschaften, wenngleich es nicht als Aktiengesellschaft organisiert war. In seiner Erklärung nach dem Krieg beschrieb Flesch, wie die Beschlagnahmen intern geplant wurden, sagte aber nicht, dass sie eine größere Aktion darstellten. Zunächst stellte die mit der jeweiligen Sache befasste Abteilung der Sicherheitspo206 Ebd. 207 RA, L-sak 41 730-731 D. Vernehmung von Reidar Dunker Landgraff in Trondheim am 4. August 1945. 208 Ebd. Schriftliche Erklärung Fleschs, „Komplex Landgraff “, vom 8. August 1945.

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lizei fest, dass der „Beschuldigte“ sich gegen die Interessen des Deutschen Reiches grob vergangen hatte, d. h. man fand einen Vorwand, den Betreffenden festzunehmen und seinen Besitz zu beschlagnahmen. Die Abteilung unterbreitete dann Flesch eine entsprechenden Vorschlag, und Flesch unterzeichnete persönlich eine Vollmacht für Landgraff.209 Der weitere Ablauf war formalisiert. Auf einem Formular mit der Bezeichnung Beschlagnahmeverfügung wurde festgestellt, dass alle Vermögenswerte des Betreffenden auf Befehl der Deutschen Sicherheitspolizei beschlagnahmt waren. Die Beschlagnahme konnte nicht rechtlich angefochten werden. Eine Drohung war auch eingebaut: Einen etwaigen Versuch, den Beschluss zu umgehen, werde die Deutsche Sicherheitspolizei selbst behandeln.210 Auf einem weiteren, an die Familie des Inhabers adressierten Formular wurde Landgraff zum Treuhänder bestellt mit dem Bescheid, dass er das Recht habe, von der Familie alle relevanten Auskünfte über die Vermögensverhältnisse der betreffenden Person einzufordern.211 Was dann folgte, oblag Landgraff und dem Verwaltungsbüro: Direktor Landgraff erklärte die Vorgehensweise der Beschlagnahme bei Juden wie folgt: Landgraff, begleitet von zwei norwegischen Polizisten, suchte den Geschäftsinhaber auf und verlas das Beschlagnahmedokument, worauf der Inhaber festgenommen wurde. Das Geschäft wurde geschlossen, Registrierung und Schätzung wurden eingeleitet, und ein besonderer Kontrolleur wurde eingesetzt. Die Bücher des Geschäfts wurden von fachkundigen Rechnungsprüfern durchgesehen. Banken, die Post und das Telegrafenamt wurden über die Beschlagnahme informiert. In beschlagnahmten Geschäften etc. wurde untersucht, ob diese als lebenswichtig anzusehen waren. In lebenswichtige Geschäfte und Betriebe wurde ein Verwalter eingesetzt. In diese Geschäfte wurden Warenlager und Quoten aus den nicht lebenswichtigen Geschäften überführt, die geschlossen blieben.212

Anscheinend war also Landgraff Herr des ganzen Verfahrens: Er erschien nicht nur in dem Geschäft, um die Beschlagnahme zu proklamieren, sondern nahm auch zusammen mit zwei norwegischen Wachtmeistern von der Ordnungspolizei 209 Ebd. 210 JMO, Liquidationsnachlass Leopold Levin. Beschlagnahmeverfügung des Kommandeurs der Sicherheitspolizei und des SD vom 19. Oktober 1942 über den Nachlass von Hermann Levin, gez. Flesch. 211 Ebd. Formular, auf dem Landgraff zum Generaltreuhänder für den Nachlass von Hermann Levin bestellt wird. Trondheim. 19. Oktober 1942. 212 RA, L-sak 41 730-731 D. Bericht des Rechnungsprüfers des Liquidationsausschusses vom 5. Oktober 1944.

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den Inhaber fest (falls er nicht schon geflohen war). Der ganze Ablauf passte der deutschen Sicherheitspolizei sehr gut, denn so erschien sie nicht offen als Akteur. Aber nichts konnte die Tatsache verdecken, dass die festgenommenen Juden in das Gefängnis Vollan und später in das Lager Falstad kamen. Im Januar 1942 nahm Landgraff die vier Juden fest, die dann vom Höheren SS- und Polizeigericht Nord unter dem Vorsitz von Flesch zum Tode verurteilt und hingerichtet wurden. Und er hatte auch zu tun mit den Verhaftungen während des Ausnahmezustands in Trondheim im Oktober 1942, als fast alle jüdischen Männer und Jugendlichen über 14 nach Falstad kamen. Die Aktion am 6. Oktober 1942 markiert das Ende der „Aktion gegen die Judenherrschaft“, die Flesch im November 1941 eingeleitet hatte. Alle jüdischen Vermögen wurden beschlagnahmt, und jüdische Frauen und Kinder wurden in drei Wohnungen in der Stadt konzentriert. Der erste Vorstoß gegen jüdisches Geschäftsleben datiert vom Oktober 1941. Ein anscheinend anonymer Bericht an Bischof Berggrav in Oslo ist dafür die beste Quelle.213 Verfasser ist vermutlich Dompropst Arne Fjellbu, der sich fortlaufend informiert hielt.214 Gut eine Woche nach Fleschs Dienstantritt in Trondheim, am 20. Oktober 1941, wurden drei der Familie Abrahamsen gehörende Firmen, die Privatwohnung der Familie und weitere Immobilien von der Sicherheitspolizei beschlagnahmt. Schon am 3. November wurde eines der Geschäfte (S. Abrahamsen) unter „arischer“ Leitung wieder eröffnet.215 Im November und Dezember flohen sechs Familienmitglieder aus dem Land.216 Fjellbus Bericht zufolge verhielten sich die Juden in der Stadt vorläufig ruhig, weil sie annahmen, die Familie Abrahamsen sei wegen Unregelmäßigkeiten oder Verstoßes gegen die Rationierungsbestimmungen angeklagt worden.217 Aber die Ruhe hielt nicht an. Am 3. November, dem Tag der Wiedereröffnung der Firma S. Abrahamsen, ging Landgraff gegen die Firma H. Klein vor. Der 56-jäh213 Der Bericht ist in vollem Wortlaut abgedruckt bei Happe et al. (2012), S. 115–117. 214 Fjellbu (1946), S. 123, „Mehr über die Juden“. Er schreibt dort unter dem 11. November 1941: „Ich schickte am Sonntagmorgen einen Bericht über dies mit den Juden an Berggrav“. 215 Happe et al. (2012), S. 115–117.  216 Datenbank über Juden in Norwegen, Bjarte Bruland: Mirjam Abrahamsen (Mutter, geb. 1878), Abel Abrahamsen und Heiman Abrahamsen flohen im Auto und kamen am 1. und 2. November über die Grenze, nachdem sie von schwedischen Grenzposten zunächst abgewiesen worden waren. Leopold Abrahamsen floh etwas später und Jakob Ilevik (geb. Abrahamsen) im Dezember 1941. 217 Happe et al. (2012), S. 115. Der Sohn Oskar Abrahamsen datierte nach seiner Flucht bei einer Vernehmung in Schweden die Beschlagnahme auf den 22. Oktober 1941. SRA, FIABA: 28, polizeiliche Vernehmung von Oskar Abrahamsen in Storlien am 10. Dezember 1941.

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rige herzkranke Henoch Klein wurde festgenommen, etwas später auch der Sohn Leib. Ein anderer Sohn, Josef Klein, war schon seit dem 12. Oktober, dem Tag nach Fleschs Ankunft, inhaftiert.218 Einer der Angestellten des Geschäfts fragte Landgraff, ob nun organisierte Judenverfolgungen anfingen. Landgraff bestritt das. Aber nach einer Anfrage zur Sache bei der deutschen Sicherheitspolizei wurde gleichwohl erklärt, die Aktion sei nicht speziell gegen die Familie Klein gerichtet, sondern gegen die Juden in der Stadt; in deren Geschäftstreiben seien Unregelmäßigkeiten festgestellt worden.219 Am 7. November nahm Landgraff sich die Betriebe der Firma Mendelsohn vor. Nach dem 69-jährigen Aron Mendelsohn und seinen drei Söhnen ließ er gleichzeitig suchen. Nach Verhandlungen mit Landgraff, die vermutlich Fjellbu führte, wurde einer der Söhne, Oskar Mendelsohn, ausgenommen, weil er Lehrer war und mit dem Geschäftsbetrieb nichts zu tun hatte. Isak Mendelsohn floh sofort nach Schweden; schon am 8. November kam er über die Grenze.220 Henrik Mendelsohn wurde vorläufig nicht festgenommen, wohl aber der frühere Verwalter des Geschäfts, ein Nichtjude. Aron Mendelsohn wurde in das Lager Vollan gebracht. Er nahm seine Gebetsriemen und ein Gebetbuch mit. Das Gebetbuch wurde ihm weggenommen. Oskar Mendelsohn schrieb später: „Das bedeutete nicht so viel für einen Mann, der es auswendig konnte.“221 Aron Mendelsohn wurde nach zehn Tagen wieder freigelassen, an seinem 70. Geburtstag.222 Das war wohl eine Äußerung deutschen Humors. Landgraff bestellte für die beiden Betriebe der MendelsohnFamilie, Mendelsohn & Sønner und Trondhjems Konfektionsfabrikk, einen eigenen Verwalter. Auch Privatwohnungen wurden von der norwegischen Ordnungspolizei durchsucht. Aktien, Wertpapiere und Bargeld wurden konfisziert.223 Aron Mendelsohns Frau Esther musste, während ihr Mann inhaftiert war, die Villa der Familie innerhalb von zwei Stunden räumen und durfte nur das Allernotwendigste mitnehmen.224 Nach dieser ersten Aktionswelle trat eine Pause ein. Vielleicht wollte Flesch die jüdische Minderheit beruhigen, aber auch Reaktionen abwarten und einschätzen. Die Juden lebten in nervöser Spannung – es gab Gerüchte, dass alle Männer fest-

218 Eintrag in der Datenbank über Juden in Norwegen, Bjarte Bruland. 219 Happe et al., S. 116. 220 Datenbank über Juden in Norwegen, Bjarte Bruland. Mendelsohn, Isak. 221 Mendelsohn (1986), S. 56. Happe et al. (2012). S. 116. 222 Fjellbu (1946) behauptet, auch Henrik Mendelsohn sei festgenommen worden (S. 123). Das geht aus Mendelsohns Bericht nicht hervor (1986, S. 67). 223 Happe et al., S. 116. 224 Reitan (2005), S. 97.

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genommen werden sollten, wie das früher in Narvik und Tromsø geschehen war.225 Fjellbu erwähnt in seinem Tagebuch eine wachsende Anzahl Verhaftungen, aber er konnte kaum mehr tun, als Berggrav darüber zu berichten. Er stand selbst unter erheblichem Druck, da der Kirchenkampf sich zuspitzte. Am gleichen Tage, da er die Situation der Juden in seinem Tagebuch festhielt, setzte er sich intensiv gegen die Vollstreckung eines Todesurteils ein.226 Fjellbu war für Trondheims Juden ein wichtiger Verbündeter. Unerschrocken kämpfte er für andere. Er widersetzte sich auch entschieden dem Staatsakt vom 1. Februar 1942, bei dem Quisling zum Ministerpräsidenten ernannt wurde. Daraufhin nahm aber der Druck auf ihn noch zu, und er wurde aus der Stadt ausgewiesen. Bei den Beschlagnahmen im Februar 1942 konnte er daher nicht mehr intervenieren.227 Mag sein, dass Berggrav Fjellbus Bericht über die Situation in Trondheim mit einiger Verwunderung gelesen hat. Denn in Oslo gab es zwar auch Verhaftungen, aber sie waren Ausnahmen, und jüdische Geschäftsinhaber konnten ihre Betriebe nahezu ununterbrochen weiterführen. Die Maßnahmen der Sicherheitspolizei in Trondheim waren anscheinend eine isolierte Aktion. Die Situation der Juden wird auch in dem Bekenntnisdokument Kirkens Grunn [Der Grund der Kirche], das die Provisorische Kirchenleitung während des Kirchenkampfes im Frühjahr 1942 als Protestschreiben veröffentlichte, mit keinem Wort erwähnt. Das ist mehrfach als ernster Fehler kritisiert worden. Ein kräftiger Protest der Kirche hatte das eine Mal in Trondheim gewirkt, und er hätte durchaus noch einmal wirken können.228 Im Dezember 1941 blieb es in Trondheim relativ ruhig, aber es gab Ausnahmen. Am 1. Dezember wurde Ephraim Wolff Koritzinsky, Oberarzt am Krankenhaus, festgenommen und beschuldigt, Lebensmittel gehamstert zu haben. Das geschah bei einer Aktion, an der 50 Deutsche von der Ordnungspolizei und 100 Mitglieder des Hird teilnahmen.229 Koritzinsky kam zuerst nach Vollan und dann nach Falstad, wo er eine Zeitlang Lagerarzt war. Am 1. Mai 1942 starb er im Krankenhaus Levanger an Krebs.230 Am Tage nach seiner Festnahme, dem 2. Dezember, wurde ein weiterer Sohn der Abrahamsen-Familie, Oskar Abrahamsen, verhaftet. Bei der 225 Fjellbu (1946), S. 123. 226 Austad (2012), S. 64. Der zum Tode Verurteilte hieß Rolv Lea. Austad behauptet, Fjellbu habe sich für einen Juden eingesetzt. Das stimmt nicht, Lea war ein Mann des Widerstands und Radioagent, siehe Våre falne [Unsere Gefallenen] (1950), Bd. III, S. 121. 227 Siehe Fjellbu (1946), Austad (2012) und Mendelsohn (1986). 228 Austad (2012), S. 66-69. 229 Ugelvik Larsen et al. (2008), S. 537. Tagesbericht Nr. 5 vom 5. Dezember 1941. Koritzinsky wurde beschuldigt, 250 Kilo Mehl gehamstert zu haben. 230 Koritzinsky wurde in das Verzeichnis Våre falne aufgenommen (1950), Bd. II, S. 733.

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Beschlagnahme des Ladens der Familie hatte Landgraff eine Art Entschädigung für die beschlagnahmten Waren versprochen. Oskar Abrahamsen hatte sich nun an ihn gewandt, um sich nach der Entschädigung zu erkundigen. Landgraff verwies ihn an Flesch, den Abrahamsen daraufhin persönlich aufsuchte. „Als Abrahamsen bei dem deutschen Polizeichef ankam und seinen Anspruch auf Entschädigung vorbrachte, schnitt dieser als Antwort nur eine Grimasse, ließ Abrahamsen sofort verhaften und in das Gefängnis Wollan [sic] in Trondheim einliefern.“231 Einige Tage später, als Abrahamsen zusammen mit anderen Häftlingen zur Arbeit im Gefrierfleischlager der Stadt abkommandiert wurde, floh er. Am 10. Dezember gelangte er über die Grenze nach Schweden.232 Am 10. Januar 1942 wurde der Geschäftsmann Hirsch Komissar in das Gestapo-Hauptquartier in Trondheim bestellt. Zugleich wurden sein Geschäft ParisWien AG und sein Privathaus von Landgraff beschlagahmt. Der Sohn Jacob Komissar beschrieb später, wie Landgraff auf dem Stuhl hinter dem Schreibtisch des Vaters thronte und die private Korrespondenz der Familie und das Fotoalbum durchsah. Er teilte kurz mit, dass das Geschäft „nun deutsches Eigentum“ sei. Ein Gestapomann, der dabei war, betrachtete ein Foto, das Jacob Komissar mit nichtjüdischen Freunden zeigte, unter denen auch Mädchen waren. Er schrie mich an: „Ist dir nicht klar, dass du Rassenschande begangen hast? Falls ich dich noch einmal mit norwegischen Mädchen sehe, lasse ich dich augenblicklich kastrieren und nach Deutschland schicken!“233 Ein Freund, der kurz darauf nach Schweden floh, konnte dort berichten, dass die Sicherheitspolizei Jacob Komissar verboten hatte, norwegische Mädchen zu treffen.234 Während des Ausnahmezustands wurde Hirsch Komissar am 7. Oktober 1942 als Sühneopfer hingerichtet (vgl. S. 271 f.). Seine Frau, Marie Komissar, erklärte später, für die Verhaftung sei kein Grund angegeben worden, aber sie nehme an, „dass Landgraff dahinterstand, der ein Interesse daran hatte, meinen Mann aus dem Weg zu räumen, weil sie starke Konkurrenten waren“.235 Die Erklärung ist plausibel. Die Komissars und Landgraffs Frau waren wie erwähnt in der gleichen Branche tätig. 231 SRA, Statens Utlänningskommission, FIABA:28, polizeiliche Vernehmung von Oskar Abrahamsen in Storlien am 10. Dezember 1941. 232 Ebd. Dem Vernehmungsbericht zufolge hatte Abrahamsen einen im Keller vergrabenen größeren Geldbetrag ausgegraben und dann die Stadt zu Fuß verlassen. Siehe auch Mendelsohn (1986), S. 67. 233 Komissar (1992), S. 97 f. 234 RA, S-1725 DAI Behälter 454, Sondervernehmung von Asbjørn Rasmus Gathe in Öreryd am 28. Februar 1942. 235 Ebd., Behälter 397, Vernehmung von Marie Komissar in Kjesäter am 6. Dezember 1942.

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Kurz vor der Festnahme Komissars war etwas geschehen, das die meisten stark schockierte. Die Sicherheitspolizei ging gegen Juden vor, denen sie Tätigkeit für den Feind anlastete. Als Erster wurde David Wolfsohn festgenommen. Er war 42 Jahre alt und hatte in der Stadt ein eigenes Geschäft. Im Januar 1941 war er schon einmal verhaftet worden, weil die Sicherheitspolizei ihn für einen „Hetzer gegen die Wehrmacht“ hielt.236 Er kam zwar am 7. Februar wieder frei, aber wurde seitdem von der Gestapo beobachtet. Am 6. Januar1942 wurde er erneut festgenommen, diesmal zusammen mit dem Nichtjuden Olav Sverre Benjaminsen. Die Sicherheitspolizei beschuldigte sie, englische Sender abgehört und Nachrichten aus England in der Stadt verbreitet zu haben. Wolfsohn war ein Bruder von Marie Komissar, die im Herbst 1942 nach Schweden floh. Dort erklärte sie, eine Kellnerin in einem Café habe ihren Bruder und Benjaminsen angezeigt.237 Einen Tag später folgte die Verhaftung von Efraim Schilowsky,238 der sein Geschäft in dem Haus hatte, in dem Benjaminsen beschäftigt war. Schilowsky erklärte später als Zeuge in der Sache, ein SD-Mann namens Bleich und seine Sekretärin Mary Henriksen hätten ihn, als er nach beendetem Arbeitstag im Geschäft nach Hause kam, dort erwartet. Schilowsky wurde ins Missionshotel, das Gestapo-Hauptquartier, gebracht und dort gefoltert. In einer Pause, während er von Bleich eine Zigarette bekam, schrieb die Sekretärin ein „Geständnis“, das er unterschreiben sollte. Als er sich weigerte, ging die Folterung weiter.239 Schilowsky wurde dann in das Gefängnis Vollan eingeliefert. Zwei Tage später, am 8. Januar 1942, wurden die Brüder David und Wulff Isaksen in Davids Geschäft festgenommen. Zufällig war auch Abel Lazar Bernstein gerade anwesend, und auch er wurde mitgenommen. Ein paar nichtjüdische Kunden wurden ebenfalls angehalten und befragt. Sie waren Stammgäste eines Cafés, 236 RA, RK, HSSPN, Sipo/SD, Tätigkeitsberichte Juli 1940–Mai 1941, Behälter I. Tätigkeitsbericht Nr. 28 vom 16. Januar 1941. Über Wolfsohn heißt es da: „Am 7.1.41 wurde der norweg. Jude David W o l f s o h n, geb. am 21.1.1900 in Trondheim, vom EK Trondheim festgenommen, weil er seinem Nachbarn, der einen deutschen Wehrmachtsangehörigen zu sich eingeladen hatte, durch die Tür zugerufen hat: „Es ist ein Skandal, daß Ihr einen deutschen Offizier zu Euch einladet; das muß abgestellt werden.“ W. ist als Hetzer gegen die deutsche Wehrmacht bereits bekannt geworden.“ 237 RA, S-1725 DaI Behälter 397, Vernehmung vom Marie Komissar in Kjesäter am 6. Dezember 1942. 238 Schilowsky hatte seinen Namen eigentlich in Schilow geändert, wird aber konsequent als Schilowsky bezeichnet. Das ist ein Name mit Konnotationen zur Sowjetunion. Siehe Mendelsohn (1986), S. 68. 239 Jüdisches Museum Trondheim, „Jødeaksjonen i Trondheim i januar 1942“. Undatiert, eingeschlossen ist ein späterer Bericht von Efraim Schilowsky.

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in dem auch die festgenommenen Juden manchmal verkehrten. Als Grund der Verhaftung der drei wird angegeben, dass ein Kunde beim Betreten des Ladens beobachtet habe, wie einer der Angestellten eine illegale Zeitung las, und dies anzeigte.240 Alle Festgenommenen wurden gefoltert, doch ohne dass die Sicherheitspolizei ihnen ein Geständnis abpresste. Sie wurden später in das Lager Falstad eingeliefert. Dort wurden sie möglicherweise gezwungen, ihren Namenszug auf einen leeren Bogen zu schreiben. Am 28. Februar mussten sie sich vor dem SS- und Polizeigericht Nord verantworten. Vorsitzender war ein deutscher Richter (einige Quellen nennen den Namen Gröndahl), außer ihm gehörten zum Gericht Flesch und Sturmbannführer von der Linde vom BdS Oslo, der auch den Ankläger stellte. Eine Verteidigung gab es nicht.241 Alle wurden zum Tode verurteilt. Die vier Juden, David Wolfsohn, Wulff Isaksen, David Isaksen und Abel Bernstein, sowie Olav Sverre Benjaminsen wurden am 7. März 1942 erschossen. Am gleichen Tage musste Abel Bernsteins Frau, die 56-jährige bettlägerige Cesilje Benstein, die Wohnung des Paares räumen.242 Efraim Schilowsky wurde nicht hingerichtet. Er war schwedischer Staatsbürger und wurde nach einigem Hin und Her im Spätsommer 1942 aus dem Osloer Gefängnis Møllergaten nach Schweden abgeschoben. Dass die Anschuldigungen gegen die vier Juden und ihren „kommunistischen Mittäter“ völlig aus der Luft gegriffen waren, steht außer Zweifel. Zwei Männer des Widerstands, Herulf Nygaard und Arvid Hansen, flohen im März 1942 aus Trondheim nach Schweden; dort berichteten sie dies: Die 5 [sic] hingerichteten Juden hatten mit der Herausgabe irgendeiner illegalen Zeitung nichts zu tun. ,Norgesposten‘ ist die einzige illegale Zeitung in Trondheim. Wir waren selbst für die Herausgabe dieser Zeitung verantwortlich und können daher mit Bestimmtheit sagen, dass die Juden mit ,Norgesposten´nichts zu tun hatten. Wir können nicht ganz ausschließen, dass sie ein Flugblatt mit Neuigkeiten des Londoner Rundfunks herausgegeben haben, aber wir halten das für sehr wenig wahrscheinlich. Wir meinen, diese Juden, die wir zum Teil kannten, waren allzu vorsichtig, als dass sie sich auf irgendeine illegale Arbeit eingelassen hätten.243

240 Judisk Tidsskrift, Femtonde Årgangen, desember 1942, nummer 12, S. 344. 241 Jüdisches Museum Trondheim, „Jødeaksjonen i Trondheim i januar 1942“. Undatiert, eingeschlossen ist ein späterer Bericht von Efraim Schilowsky. 242 Reitan (2005), S. 97. 243 RA, S-1725 DaI Behälter 454, Sondervernehmung von Herulf Nygård [sic] und Arvid Hansen in Öreryd am 11. März 1942.

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Einer der Kunden, die bei der Festnahme der Brüder Isaksen und Abel Bernsteins im Laden waren, hatte vermutlich eine illegale Zeitung bei sich. Am 10. März 1942 bezog sich die illegale Zeitung London-nytt auf die Hinrichtungen in Trondheim und erinnerte daran, dass die Menschen im Umgang mit der Zeitung „äußerste Vorsicht“ beachten müssten: „Nennen Sie daher niemals Namen, und versuchen Sie nie herauszufinden, wer hinter der Versendung steht.“ Die Hingerichteten, hieß es weiter, sollten als Märtyrer im Widerstandskampf geehrt werden.244 Die Todesurteile wurden von der Nachrichtenagentur Norsk Telegranbyrå am Tage der Vollstreckung veröffentlicht. Auch die Zeitung Fritt Folk kommentierte sie; dort hieß es, die Urteile „werden von dem verantwortungsbewussten Teil des norwegischen Volkes als gerechte und notwendige Reaktion auf die gesellschaftsfeindliche Maulwurfsarbeit der Kreise betrachtet werden, denen die Verurteilten angehörten. Mit Lügen und Falschmeldungen versuchen diese Kreise, die norwegische Volksseele zu vergiften“.245 Die Todesurteile waren für die Juden der Stadt ein Schock. Das war wohl auch beabsichtigt, denn Flesch praktizierte diese Art Terror nicht ohne Grund. Mit diesen Urteilen hatte er Furcht verbreitet. Er hatte außerdem einen Zusammenhang zwischen „norwegischen Kommunisten“ und den Juden konstruiert. Indem er die vier Juden und Benjaminsen opferte, hatte er die Furcht auch in Widerstandskreise getragen. Die Menschen konnten nun nicht mehr zweifeln, dass die Sicherheitspolizei nicht zögern würde, auch Widerständler hinzurichten, wenn sie es für nötig hielt, selbst wegen geringfügiger Bagatellen. Die Beseitigung Benjaminsens und der vier Juden war mit anderen Worten für Flesch nützlich. Am 24. Februar 1942 befahl er Landgraff, die verbliebenen jüdischen Geschäfte der Stadt zu beschlagnahmen. Das waren noch 16, die profitabelsten waren schon früher konfisziert worden, wobei von Fall zu Fall verschiedene Gründe angegeben wurden. Jetzt hielt Flesch es nicht mehr für nötig, die Aktionen zu begründen, und es gab auch kaum noch Reaktionen. Gleichwohl wurde einer der Geschäftsinhaber, Isidor Isaksen, von Landgraff wegen Unterschlagung angeklagt. Er konnte aber Landgraffs Behauptungen entkräften. Das führte dazu, das er am nächsten Tag zur Gestapo bestellt wurde, wo Landgraff und Bischoff ihn verhörten.246 Isaksen fragte, ob er gehen könne, nachdem festgestellt sei, dass er keine Unterschlagung begangen habe. Nein, antwortete Bischoff, „als Jude müssen Sie wohl ins Gefängnis“.247 Das Häftlingsprotokoll des Gefängnisses Vollan verzeichnet Isak244 London-nytt, Nr. 173 vom 10. März 1942, S. 2. 245 Die Darstellung der Verhaftungen und der Hinrichtung von Wolfsohn, Bernstein und der Brüder Isaksen folgt in der Hauptsache Mendelsohn (1986), S. 68 f. 246 RA, L-sak 41 730-731 D. Zeugenvernehmung von Minna Isaksen am 23. August 1945. 247 Ebd.Vernehmung von Jacob Andreas Parelius Eide am 28. November 1945.

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sens Einlieferung dort unter dem 28. Februar 1942.248 Er blieb inhaftiert und starb in Auschwitz. Einem anderen Ladeninhaber, Wulf Klein, befahl Landgraff, den Beschäftigten bis Monatsende Lohn zu zahlen: Darauf antwortete Klein, das Geschäft sei beschlagnahmt, er könne daher nichts auszahlen. Landgraff geriet in Wut über Kleins Weigerung, er ging auf ihn los und schlug ihn mehrmals mit der Faust in den Nacken. Klein hatte danach, als er wieder frei war, ständig Schmerzen und hielt sich deshalb im Pflegeheim der Gemeindeschwestern in Oslo auf. Er wurde am 6. Oktober 1942 festgenommen.

Landgraff hatte im Laufe des „Gesprächs“ das Gestapo-Hauptquartier angerufen und gebeten: „Machen Sie Platz für noch einen Juden.“249 Kurz nachdem die letzte Aktion gegen die Juden der Stadt beendet war, am 9. März 1942, bestellte Flesch 54 „prominente“ Bürger in das Gestapo-Hauptquartier. Alle wurden in das Lager Falstad gebracht. Grund dieser Geiselnahme war ein Kabelbruch in der Stadt. Einer der Festgenommenen war Louis Feinsilber, der Leiter von NRK Trondheim, dem örtlichen Sender des Norwegischen Rundfunks. Er war nach nazistischer Definition Halbjude und blieb bis Kriegsende in Norwegen in Haft.250 Die Norwegische Botschaft in Schweden schrieb in einem Kommentar, Ziel der Deutschen sei es gewesen, den Widerstand in Stadt und Umgebung niederzuschlagen durch Festnahme „aller Personen, die verdächtigt werden, einen starken, norwegischen Standpunkt zu beziehen“.251 Von den nun beschlagnahmten jüdischen Geschäften wurden zehn weitergeführt. Nach Landgraffs Angaben an das Wirtschaftsministerium im März 1943 verteilten die Geschäfte sich wie folgt Liquidierte/beschlagnahmte Geschäfte (mit Datum der Beschlagnahme): AG Textil 7.11.41 AG Souvenir 7.11.41 AG Trico 24.2.42 Kleins Damekonfeksjon 24.2.42 H. Kahn 24.2.42 248 Häftlingsprotokoll Vollan, S. 5. Mit Dank an Atle Sand. 249 RA, L-sak 41 730-731 D. Zeugenvernehmung von Milla Klein am 15. Oktober 1945. 250 RA, S-1725 DaI Behälter 454, Sondervernehmung von Isak Feinsilber am 6. Dezember 1942. 251 NHM 52, C H4, Pressebulletin Nr. 105 vom 27. März 1942.

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Millys Damekonfektion 24.2.42 Bernh. Isaksen 24.2.42 Rudolf Isaksen 24.2.42 Leonard Isaksen 24.2.42 F. Guttmann 24.2.42 F. Buchmann 24.2.42 City Damekonfektion AG, geschlossen nach Einwilligung J. M. Meyer, geschlossen nach Einwilligung Phillipson, geschlossen nach Beschlagnahme der Räume M. Bekker, geschlossen nach Beschlagnahme der Räume R. Bekker, geschlossen nach Beschlagnahme der Räume

Beschlagnahmte Geschäfte, die weitergeführt werden: A. Buchmann Manufaktur Benh. Buchmann AG S. Abrahamsen S. Paltiel Isidor Isaksen H. Klein Paris-Wien AG Modeforretning [Modegeschäft] Londonerbasaren Saapemagasinet [Das Seifenmagazin] Mendelsohn & Söhne Trondhjems Konfektionsfabrikk252

Am 6. Oktober 1942, als das Quisling-Regime das Gesetz zur Einziehung jüdischer Vermögen einführte, war in Trondheim nur noch ein Geschäft verblieben, das nun vom Liquidationsausschuss geschlossen wurde.253 Auf den Terror in Trondheim folgten entsprechende Aktionen im benachbarten Bezirk Møre og Romsdal. Die ersten Opfer waren die fünf Juden in Nesjestranda bei Molde. Im März 1942 wurden Leo Eitinger, Robert Weinstein, Nora Lustig und ihre Zwillingsöhne Fritz und Hans festgenommen. Keiner von ihnen wurde nach der Verhaftung verhört. Die deutsche Sicherheitspolizei hatte die fünf schon 252 RA, L-sak 41 730-731 D, Brief von Landgraff an den Handelsbevollmächigten des Wirtschaftsministeriums vom 27. April 1943. 253 Mendelsohn (1986), S. 70.

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seit dem Spätsommer 1940 beobachtet.254 Sie kamen zuerst in das Kreisgefängnis in Ålesund, später nach Vollan und Falstad und schließlich in das Gefängnis Bredtveit in Oslo. Von dort wurden sie mit der Gotenland deportiert. Im April 1942 wurde Marcus Bermann in Kristiansund verhaftet, und sein Geschäft wurde geschlossen. Bei der Bombardierung der Stadt im April 1940 waren sein Geschäft und das Privathaus zerstört worden, aber mit den Versicherungszahlungen konnte er in einer sogenannten Schwedenbaracke ein Geschäft neu eröffnen. Bermann erklärte in Schweden, er sei vermutlich festgenommen worden, weil die ihm befohlene Inventur zu langsam ging. Ein örtlicher Rechtsanwalt wurde als Verwalter eingesetzt, „und ein anderer Nazist, Honningsvåg, wurde zum Leiter des Geschäfts bestellt“. Bermanns Frau, eine Nicht-Jüdin, musste die Wohnung der Eheleute räumen und wohnte danach in einer Hütte außerhalb der Stadt. Bermann selbst wurde in das Kreisgefängnis Ålesund eingeliefert und später nach Vollan verlegt. Er war nierenkrank und kam deswegen ins Krankenhaus. Dort blieb er, bis er im Sommer 1943 mit seiner Frau in einem versiegelten Eisenbahnwagen nach Schweden floh.255 Landgraffs Namen nennt Bermann nicht. Ungefähr gleichzeitig mit ihm wurde auch sein Bruder David Bermann in Oslo festgenommen. Dass die Gleichzeitigkeit beabsichtigt war, ist nicht erwiesen, aber wahrscheinlich. Während Marcus Bermann später entkam, wurde David mit der Monte Rosa deportiert und kam am 22. Januar 1943 in Auschwitz ums Leben.256 Am 13. Mai 1942 ging Landgraff gegen das Geschäft Steinfelds Magasin in Ålesund vor. Ein Verwalter wurde eingesetzt, und der Besitzer Israel Steinfeld kam in das örtliche Kreisgefängnis. Von dort wurde er später nach Vollan verlegt, dann nach Falstad, schließlich nach Grini, und von dort wurde er mit der Monte Rosa deportiert. Eine Woche später waren zwei weitere Geschäfte in Kristiansund an der Reihe, Dressmagasinet von Abraham Leiser Borøchstein und Bekledningsmagasinet von Hermann Fischer. Landgraff konnte sich später nicht an Borøchsteins Namen erinnern. Mit Fischer war es anders. Seine Schwester, Minna Isaksen, überlebte den Krieg und konnte bezeugen, was geschehen war. Landgraff bestellte nach der Festnahme Fischers seine Frau Gusta zum Verhör. Das war für sie sehr qualvoll, aber 254 RA, Statspolitiet, Judenaktionen, Mappe 25 Sachakten C II B 2; siehe u. a. Fernschreiben des EK Trondheim an den BdS Oslo vom 4. Juli 1940, unterzeichnet von Hauptsturmführer Stübs, und weitere Korrespondenz mit der Stapoleitstelle Brünn und dem RSHA. 255 SRA, Lagerarchiv Kjesäter, Vernehmung von Marcus Bermann am 7. Juli 1943. Siehe auch Bermanns Mappe im Reichsarchiv, Statens Utlänningskommission, FIABA: 351. 256 Archiv des ITS, Sterbeurkunde von David Bermann vom 30. Januar 1943. Als Todesursache wird „Herzmuskeldegeneration“ angegeben.

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Landgraff suchte sie auch zu manipulieren, indem er ihr vorgaukelte, er könne sie nach Schweden bringen.257 Landgraff behauptete später, er sei gegenüber Hermann und Gusta Fischer nicht brutal aufgetreten. Als Grund des Verhörs von Gusta Fischer gab er an, er habe die Besitzverhältnisse der Familie ermitteln wollen, „um ihr ganzes Vermögen in die Verwaltung einzubeziehen“.258 Das Ehepaar konnte nicht gegen ihn aussagen; beide wurden in Auschwitz ermordet. Mehrere Bürger Kristiansunds setzten sich in einem Protestschreiben an Justizminister Sverre Riisnæs für Hermann Fischer ein, denn dieser war einer der Begründer des Symphonieorchesters der Stadt. Riisnæs erklärte in einer Antwort, die Festnahme falle nicht in sein Ressort, fügte aber hinzu, er sei „grundsätzlich damit einverstanden, dass die Juden, die wir im Lande haben, entfernt werden müssen“: Es war ein Versagen unseres Rassenstolzes und der Verantwortung für unser norwegisches Blut, dass wir den Juden Zugang zu uns gestatteten. Es sollte sich von selbst verstehen, dass wir sie nun loswerden.259

Fischer wurde im Herbst 1942 deportiert, ebenso seine Frau und seine Kinder. Abraham Borøchstein, seine Frau und die fünf Kinder erlitten das gleiche Schicksal. Aus der Anklageschrift gegen Landgraff bei der juristischen Abrechnung mit den Landesverrätern nach dem Krieg geht hervor, dass die jüdischen Geschäfte einen jährlichen Umsatz von über 10 Millionen Kronen hatten.260 Über den Gewinn verfügte die deutsche Sicherheitspolizei. Als Maßstab für die Weiterführung einzelner Geschäfte galt, ob sie als „lebenswichtig“ anzusehen waren. In die so bezeichneten Betriebe wurden die Warenlager und Warenquoten – d. h. die dem einzelnen Geschäft gemäß der Rationierung zugeteilten Waren – aus den nicht lebenswichtigen Geschäften, die geschlossen blieben, überführt. Das ergab einen Rationalisierungseffekt.261 Im Herbst 1943 wurde Landgraffs Verwaltungsbüro mit der Abteilung Mittelnorwegen des Liquidationsausschusses zusammengelegt. Die Verwaltung aller 257 RA, L-sak 41 730-731 D, Zeugenvernehmung von Minna Isaksen am 23. August 1945. Vernehmung von Reidar Dunker Landgraff am 26. November 1945. 258 Ebd. 259 Nordmøre Museum, Kopie eines Briefes von Justizminister Sverre Riisnæs an Rechtsanwalt Leif Roger Jordal vom 11. Juni 1942. 260 RA, L-sak 41 730-731 D. Urteil des Frostating Lagmannsrett [Oberlandesgericht] vom 13. Oktober 1947, Punkt III. Näheres zum Gewinn der beschlagnahmten Geschäfte in Kapitel 8. 261 Ebd. Bericht des Rechnungsprüfers des Liquidationsausschusses vom 5. Oktober 1944.

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jüdischen Nachlässe, seien sie nun vor der Einführung des Gesetzes über die Einziehung jüdischer Vermögen beschlagnahmt worden oder danach, wurde einer eigens dafür eingerichteten Abteilung des Liquidationsausschusses übertragen.262 Wie dies geschah und was die Sicherheitspolizei und das Reichskommissariat an Fleschs Beschlagnahmepolitik verdienten, wird in Kapitel 8 näher dargelegt. Die Beschlagnahme der Geschäfte in Trondheim und den anderen Städten in Fleschs Zuständigkeitsbereich stellte einen beispiellosen wirtschaftlichen Destruktionsprozess dar. In keinem anderen Landesteil gab es Vergleichbares. Es handelte sich um eine nahezu systematische Vertreibung der Juden aus ihren Betrieben, Geschäften und Wohnungen in Trondheim und Umgebung, in Kristiansund und Ålesund. Nach der Festnahme aller jüdischen Männer während des Ausnahmezustands am 7. Oktober war alles, was den Juden der Stadt gehörte, beschlagnahmt. Für die meisten festgenommenen Juden war das Lager Falstad die nächste Station. Wie die Juden dort behandelt wurden, ist vielfach bezeugt. Am 31. März 1942 meldete die Botschaft in Stockholm, die Juden im Lager seien „der allerbrutalsten Behandlung ausgesetzt“: „Sie dürfen sich nicht waschen, werden kahlgeschoren und müssen den Bart wachsen lassen.“263 Beispiele für die von der SS im Lager praktizierten Methoden habe ich schon früher erwähnt. Im August 1942 wurden einige Gefangene zusammen mit Leidensgefährten aus Grini nach Norden zur Zwangsarbeit in den Gruben von Kvænangen geschickt. Die Aktionen in Trondheim veranlassten viele Juden zur Flucht. Einige waren schon im April und Mai 1940 nach Schweden gelangt und entschieden sich, dort zu bleiben, aber noch mehr flohen während der großen Beschlagnahmungsrunden oder kurz darauf. Bis zum 16. März 1942 verließen insgesamt 43 Juden den Bezirk Sør-Trøndelag. Danach blieb es bis zum Herbst 1942 relativ ruhig. Auch das ist ein typisches Merkmal des antijüdischen Terrors der SS: Perioden aktiver Gewalt mit Verhaftungen, Folterungen und anderem Terror wurden von solchen relativer Ruhe abgelöst.264 Im Mai 1942 wandte sich ein Rechtsanwalt wegen der Verhaftungen in Trondheim an das Justizministerium. Er schrieb, die in Falstad internierten Juden müssten entweder vor Gericht gestellt oder freigelassen werden. Die Eingabe wurde an den Ausschuss für Rassenfragen im Innenministerium weitergeleitet, welcher erklärte: „In dieser Sache ist z. Zt. nichts zu machen.“265 Die Gefangenen befanden sich in einem eigenen Universum, einem Universum, dem nur wenige entkamen. 262 Ebd. 263 NHM 52 C H4, Pressebulletin Nr. 108 vom 31. März 1942. 264 Datenbank über Juden in Norwegen, Bjarte Bruland. Vom 17. März bis 1. Oktober 1942 flohen nur vier Juden aus Sør-Trøndelag. 265 Mendelsohn (1986), S. 72.

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PROPAGANDAKRIEG Die deutsche Pressezensur wurde in Norwegen schon am Tag der Invasion eingeführt. Vertreter der Osloer Presse wurden zu einer Konferenz bestellt, und ein deutscher Marineoffizier, wahrscheinlich von der Spionageabwehr, gab die Anweisung, die Zeitungen sollten „von nun an“ nur Nachrichten enthalten, die die deutsche Militärmacht stützten.266 Später wurden die anfänglichen „Direktiven“ von einer systematischeren Politik abgelöst. Die Besatzungsmacht und das QuislingRegime überwachten die Presse genau. Nach Hans Luihn, der selbst während der Besatzungszeit in der illegalen Presse tätig war, hatte die deutsche Pressepolitik zwei Ziele. Zum einen sollte sie dem norwegischen Volk klarmachen, dass Deutschland „dank seiner geistigen und materiellen Übermacht“ den Krieg gewinnen werde. Zum andern sollte das norwegische Volk für den Nationalsozialismus gewonnen werden: Das norwegische Volk sollte sich die Auffassung Hitlers und der deutschen Nazipartei von Richtig und Falsch zu eigen machen. Richtig war die Verherrlichung von Herrenmenschen, wie die Germanen es waren; die übrigen Rassen waren minderwertig und mussten von der germanischen Rasse geführt werden. Einzelne Rassen, in erster Linie die Juden, waren besonders minderwertig. Richtig war auch das Führerprinzip – und falsch das demokratische Prinzip mit geteilter Verantwortung und Individualität.267

Das Erstaunliche an der deutschen Besatzung und der mit ihr beginnenden Gleichschaltung der Presse ist nicht die Zahl der Artikel mit antijüdischem Inhalt, sondern ihre Abwesenheit. Wahrscheinlich war das eine bewusste Zurückhaltung, denn bis September 1940 suchten Terboven und sein Stab ein Abkommen mit der politischen und bürokratischen Schicht in Norwegen zu erreichen. Eine ausufernde antijüdische Propaganda hätte in dieser Periode kontraproduktiv gewirkt. Daher suchten sich deutsche Stellen sozusagen im Stillen eine Übersicht über Juden in Norwegen zu verschaffen, ohne offizielle Maßnahmen zu ihrer Registrierung einzuleiten. Antisemitismus äußerte sich brutal in sektiererischen Organen wie Fronten, Nationalt Tidsskrift oder Ragnarok, aber diese waren wenig verbreitet und hatten nur marginale Bedeutung. Wir wollen uns hier auf den Antisemitismus konzentrieren, der sich vom Herbst 1940 an in der Tagespresse äußerte, sei es in antisemi266 Luihn (1981), S. 7. 267 Ebd.

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tischen Artikeln, Meldungen über antijüdische Maßnahmen in anderen Ländern usw. Diese Art Antisemitismus war viel weiter verbreitet. Die Propaganda änderte sich im Laufe der Besatzungszeit. Nach dem Angriff auf die Sowjetunion trat die konspiratorische Propaganda klarer hervor. Aber auch ein anderer Zug wurde deutlicher. Schon im Herbst 1941 begannen Deportationen aus Nazi-Deutschland nach dem Osten. Ab dem Frühjahr 1942 folgten Deportationen aus anderen Gebieten. In kurzen Meldungen in der deutschkontrollierten Presse wurden sie als „kriegswirtschaftliche Vorsorgemaßnahmen“ bezeichnet. Es war wichtig, Gerüchten und Meldungen aus neutralen und den alliierten kriegführenden Staaten entgegenzutreten, die die illegalen Zeitungen in Norwegen wiedergaben. Als Vidkun Quisling mit dem Staatsstreich vom 9. April 1940 für einige Tage das Amt des Ministerpräsidenten okkupierte, gab er eine Pressemeldung heraus, in der er die Aufgaben von Nasjonal Samling skizzierte. Darin wird „der jüdische Einfluss“ nur einmal genannt: Der Kapitalismus hat sowohl in seiner bürgerlich-demokratischen als auch und besonders in der marxistischen Form ganz überwiegend einen städtischen und internationalen Charakter. Seine Mentalität ist typisch jüdisch. Er führt mit der Notwendigkeit eines Naturgesetzes zu der Landflucht und chronischen Krise der Landwirtschaft, unter der unsere Gesellschaft leidet und die nicht mit „Krisenmaßnahmen“ behoben werden kann, sondern nur durch eine radikale Systemänderung, die die Ursachen des Bösen beseitigt.268

Das war alles. Aber der Zusammenhang von Kapitalismus, Marxismus und „dem jüdischen Geist“ war hergestellt. Das war in der Propaganda von NS nichts Neues, seit mehreren Jahren hatten die Organe der Partei diese Botschaft einem – freilich sehr marginalen – Publikum eingehämmert.269 In den ersten Kriegsjahren konzentrierte sich die Propaganda auf die Feinde des Nationalsozialismus. „Die jüdische Weltverschwörung“ stand hinter dem Krieg. Wenig oder nichts von dem, was sich in der Besatzungszeit an Propaganda über das norwegische Volk ergoss, war wirklich neu. Die Verschwörungstheorien waren die gleichen wie vorher, aber die Propaganda war jetzt viel systematischer. Man kann sie in mancher Hinsicht phrasenhaft und zynisch finden, und das war sie auch. Aber man sollte auch nicht unterschätzen, dass viele Propagandisten wirklich glaubten, was sie schrieben und 268 Aftenposten vom 12. April 1940. 269 Mendelsohn (1986, S. 36 ff.) hat die antijüdische Propaganda, auch die der ausgeprägt nationalsozialistischen und antisemitischen Presse, genau behandelt.

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sagten, gleichgültig ob die Inhalte dem deutschen Propagandaapparat, der Propagandaabteilung von Nasjonal Samling oder anderen, „unabhängigen“ Quellen entstammten. Es gab aber einen Unterschied zwischen der deutschen Propaganda und der von NS. Der deutsche Propagandaapparat konzentrierte sich auf die großen Linien der Verschwörungstheorie (Juden = Bolschewisten = Kapitalisten), während NS eine altmodischere, oft etwas religiös geprägte Perspektive hatte. Die Juden wurden nicht nur mit dem Weltkrieg insgesamt in Verbindung gebracht, sondern auch mit dem 9. April 1940. „Der jüdische Geist“ hatte das norwegische Volk vergiftet – oder hätte es vergiften können, wenn nicht NS die Macht übernommen hätte. Der Einfluss der Juden machte sich im Modernismus, in der „Negermusik“ und in allen möglichen modernen Übeln geltend, die über das norwegische Volk gekommen waren. Die Propaganda wandte sich insofern auch an die, die nicht unbedingt die Meinung der Nazisten teilten. Aber da die Vorstellung, dass die Juden hinter dem Krieg stünden, für die Nazisten ganz real war, stärkte die Propaganda auch die eigene Überzeugung und die Entschlossenheit zum Kampf gegen „die Judenherrschaft“. Für die deutschen Okkupanten war es äußerst vorteilhaft, dass die Propaganda von norwegischer Seite kam. Denn sie wollten, dass Propaganda und antijüdische Maßnahmen als möglichst autonom erschienen. Auf die Dauer funktionierte das natürlich nicht. Dass die Deportation von Juden mit der deutschen Besetzung Norwegens und anderer Gebiete zusammenhing, meldete die illegale Presse ebenso wie Radiosendungen aus London. Oft kam der Antisemitismus während des Krieges in kurzen Meldungen zum Ausdruck. Einer, der immer wieder als Schießscheibe der Propaganda herhalten musste, war Stortungspräsident Carl Joachim Hambro von der konservativen Partei Høyre, der zusammen mit der Regierung im Juni 1940 ins Londoner Exil gegangen war. Im August 1942, also knapp zwei Monate vor der großen Verhaftungswelle gegen jüdische Männer, war z. B. dies zu lesen: Die Juden nehmen in allen demokratisch regierten Ländern eine dominierende Sonderstellung ein. So war es auch in Norwegen. Die gefährlichsten Werkzeuge des ausbeuterischen internationalen Judenkapitalismus, der Marxismus und die angloamerikanische Plutokratie (hierzulande vertreten durch Tranmæl270 und Hambro), kämpften scheinbar gegeneinander, aber waren letzten Endes doch zwei Seiten einer Medaille. Das zeigte sich deutlich, als sie sich zu einer gemeinsamen Front gegen den Nationalsozialismus zusammenrotteten. […] 270 Martin Tranmæl (1879–1967), Journalist und führender Politiker der sozialdemokratischen Arbeiterpartei.

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Die Juden, die eine freie und gesunde Entwicklung unserer kulturellen Werte behinderten, erlangten verständlicherweise allmählich auch großen Einfluss auf unser politisches Leben. Beinahe hätten wir im Laufe kurzer Zeit das Judenproblem ernsthaft zu spüren bekommen. Wir sahen das deutlich, nachdem England und Frankreich Deutschland den Krieg erklärt hatten. Ganz Oslo und große Teile des übrigen Landes waren von Juden überschwemmt, die Norwegen zu ihrem neuen Jagdrevier erwählt hatten. In den Tagen nach dem 9. April 1940 verschwanden indes die meisten dieser Gäste wieder. Hoffentlich für immer. Denn ihre Anwesenheit wirkte fast wie ein Albtraum.271

Quisling nahm im März 1941 in Frankfurt am Main an der Eröffnung von Rosenbergs Institut zur Erforschung der Judenfrage teil. Seine Teilnahme war nicht unumstritten. Im Februar 1941 hatte Terboven an Rosenberg geschrieben, „die Judenfrage“ spiele in Norwegen keine wesentliche Rolle. Dagegen meinte er, die Freimaurerei habe entscheidende Bedeutung. Falls Quisling teilnähme, müsse er sich deshalb darauf konzentrieren und den jüdischen Einfluss auf die Freimaurerei nachweisen.272 Das deutsche Außenministerium mischte sich auch ein mit der Auffassung, Quisling und Hagelin sowie „andere vom Reichskommissar benannte norwegische Persönlichkeiten“ sollten eingeladen werden.273 Es endete aber damit, dass nur Quisling teilnahm. Seine Rede wurde in Nasjonal Samlings Hauptorgan Fritt Folk über zwei Seiten groß aufgemacht. Der Vortrag war eine großangelegte historische Darlegung des „jüdischen Einflusses“ in Norwegen: – Von allen Völkern Europas haben sich die Nordgermanen, und unter diesen wiederum die Norweger, am wenigsten mit Juden vermischt, begann der Führer. Das ist eine natürliche Folge unserer Lage am nördlichsten Rand Europas. Die Zahl der Juden bei uns war verhältnismäßig gering im Vergleich mit den meisten anderen europäischen Ländern, die mehr im Verbreitungsgebiet der Juden lagen. Aber nichtsdestoweniger war der jüdische Einfluss für das norwegische Volk verhängnisvoll und hat schließlich zu einer nationalen Katastrophe geführt.274

Quisling unterschied nicht zwischen „Glaubensjuden“ und konvertierten Juden. Zum jüdischen Einfluss im 18. Jahrhundert stellte er fest: „Getarnt durch den christ271 Aftenposten vom 15. August 1942: „Wir hätten auch fast ein Judenproblem bekommen.“ 272 Nøkleby (1992), S. 232 f. 273 Auswärtiges Amt, Inland A/B, Akten betreffend Eröffnung des Instituts zur Erforschung der Judenfrage in Frankfurt a/M vom 26. bis 29.3.1941. Vermerk des Auswärtigen Amtes vom 18. Februar 1941. 274 Fritt Folk vom 1. April 1941.

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lichen Taufschein, konnten die Juden sich ins Land schleichen. Auf diese Weise übernahmen unter anderem deutsche und holländische Juden am Ende des 17. Jahrhunderts den Handel der Hanseaten in Bergen und prägten in hohem Maße diese damals größte Stadt Norwegens, ohne dass die Menschen richtig erfassten, was vor sich ging.“ So sei auch das deutsch-jüdische Geschlecht „Hamburger-Levy“ („unter dem Namen Hambro“) nach Norwegen gekommen: „Sie drangen durch Heirat in norwegische Familien ein, verdarben deren Blut und wirkten überhaupt wie die zerstörerischen Bazillen, die solche fremden Judenelemente für ein arisches Volk nun einmal sind.“ Der 9. April 1940 sei ein Ergebnis dieses Prozesses: Norwegens Geschichte während der letzten Generation war eine rasch fortschreitende Judaisierung auf allen Gesellschaftsfeldern, eine Entwicklung, die mit Naturnotwendigkeit zu der nationalen Katastrophe vom 9. April 1940 führen musste, als Norwegen in den englisch-jüdischen Krieg gegen Deutschland hineingezogen wurde.

Das Problem könne „ganz einfach durch Ausrottung oder Sterilisierung der Juden“ gelöst werden: Um endlich einmal dieses fremde, orientalische Unwesen in Europa abzuschließen, muss die Gelegenheit genutzt werden, nun da das Schicksal des Krieges Europa einer entscheidenden Persönlichkeit unterstellt hat, Adolf Hitler, dem schon die unvergängliche Ehre zukommt, Europa aus der Beute der Juden gerettet zu haben und der in seinem Stab, mit Reichsleiter Rosenberg an der Spitze, über so große Erfahrung und Sachkunde auf dem Gebiet verfügt. Die Lösung der Judenfrage in Europa wird wenn nicht die Krönung des Werkes, so doch eine der wichtigsten Säulen der neuen Ordnung und des Friedenswerkes sein, das auf den großen Krieg folgt, in den England und die Juden Europa gestürzt haben. Sie wird eine von der höchsten Vorsehung inspirierte Tat sein, die vielleicht mehr als irgendetwas anderes Frieden und Wohlstand kommender Geschlechter sichern wird.275

Der Zusammenhang zwischen dem Krieg gegen den Bolschewismus und der Bedeutung der Juden für die Verschwörung, die die „arische Rasse“ bzw. „die germanische Völkergemeinschaft“ herausfordere, wurde vom Juni 1941 an das Hauptthema der Propaganda. Im NS-Hauptorgan Fritt Folk wurde diese Bot275 Der Kampf zwischen Ariern und Judenmacht. Vidkun Quislings Rede zum Judenproblem am 28. März 1941 in Frankfurt am Main. Sonderheft von Nasjonal Samling, Reichsdruckerei Oslo 1941. Das Heft wurde von der NS-Jugendorganisation und vom Hird zu Unterrichtszwecken genutzt.

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schaft einige Wochen nach der Invasion der Sowjetunion folgendermaßen vorgetragen: Der erste Vorkämpfer gegen das Judentum und den Bolschewismus in Nordeuropa, der bei allen bösen Mächten verhasste Vidkun Quisling, gab in seiner Rede am Freitag jedem Wahrheitssucher reichlich Stoff zum Nachdenken. […] Indem sich der Churchill-Flügel dem Bolschewismus anschloss, haben der rechte und der linke Flügel des Judaismus sich vereint zum letzten Versuch, die Welt zu beherrschen.276

Die Propaganda des Führers von Nasjonal Samling war aber nur eine Weiterführung dessen, was Propagandaminister Goebbels über den nun bevorstehenden Kampf gesagt hatte. In Aftenposten wurde er mit diesen Worten zitiert: Churchills und Roosevelts Sympathieerklärungen haben eine merkwürdige Doppelallianz aufgedeckt. Bisher ist es durch eine umfassende Geheimniskrämerei gelungen, die Menschen über diese Allianz in Unkenntnis zu halten. Heute erkennen indes die, die sehen wollen, dass diese drei Weltfeinde in einer höheren Einheit aufgehen, dem Weltjudentum, das sowohl hinter der Plutokratie als auch dem Kommunismus steht. Hinter diesen beiden Systemen ziehen die Juden die Fäden.277

Auf dieser Ebene war die Propaganda ausgesprochen „einfach“. Die Botschaft wurde den Menschen wieder und wieder eingehämmert und war selten subtil formuliert. Immer standen die Juden dahinter, etikettiert als „der Judaismus“, „das Weltjudentum“, „die Juden-Plutokratie“, „die bolschewistisch-jüdische Schreckensherrschaft“ etc. Eine der in Nasjonal Samling auf diesem Gebiet Aktivsten war Halldis Neegaard Østbye. Schon kurz nach der Invasion, als relativ scharfe antisemitische Artikel noch ziemlich ungewöhnlich waren, schrieb sie eine Artikelserie mit dem Titel „Die Judenfrage und ihre Lösung“. Darin ging sie besonders scharf gegen die Nansenhilfe vor. „Die Nansenhilfe wurde gegründet, um den jüdischen und kommunistischen Flüchtlingen zu helfen – mit dem Ziel, möglichst vielen von ihnen eine Einreise-, Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis in Norwegen zu verschaffen“.278 Auch auf größeren Versammlungen in NS-Regie eiferte sie gegen „das interna276 Fritt Folk vom 8. Juli 1941. 277 Aftenposten vom 27. Juni 1941: „Der Krieg gegen die Bolschewiken. Ein Artikel von Reichsminister Goebbels.“ 278 Fritt Folk vom 10. August 1940.

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tionale Judentum“. Zum Beispiel arrangierte der NS-Verband Groß-Oslo im Februar 1942 im Klingenberg-Kino ein großes Treffen. Dort erklärte sie: „Wie eine unheimliche geistige Pest haben die Ideen der Juden das 20. Jahrhundert durchzogen.“ Gegen die Behauptung, Norwegen habe gar kein Judenproblem, stellte sie die Auffassung, dass allein Hambro „ein ganzes Judenproblem für Norwegen ist“. Die Lösung „der Judenfrage“ wäre nach ihrer Ansicht „das größte Ergebnis der derzeit stattfindenden weltumspannenden Abrechnung“. Nach ihrem Vortrag wurde Veit Harlans Film Jud Süß gezeigt, einer der von Goebbels in Auftrag gegebenen antisemitischen Spielfilme.279 Østbye hatte sich auch dafür eingesetzt, dass die deutsche Ausstellung „Das Sowjetparadies“ in Norwegen gezeigt wurde. Sie wurde am 5. September 1942 in Oslo eröffnet und war für die damalige Zeit sehr modern. Es wurde eigens ein Begleitheft gedruckt, und es gab Filmvorführungen und besondere Führungen für Schulklassen. Der Eintrittspreis betrug 50 Øre für Erwachsene und 25 Øre für „Uniformierte und Kinder“. Mit den Uniformierten waren deutsche Soldaten, norwegische Frontkämpfer und Angehörige des Hird gemeint. In der Einleitung des Begleitheftes hieß es, die Ausstellung vermittle „ein wahrheitsgetreues Bild der Sowjetunion, wie Hunderttausende deutscher Soldaten und freiwilliger Soldaten aus fast allen Ländern Europas sie gesehen und erlebt haben. Auch viele norwegische Freiwillige haben die Sowjetunion und ihre brutale Wirklichkeit erlebt.“ Die Ausstellung und das Heft waren in Abteilungen gegliedert. Die erste trug den Titel „Reichtümer des Ostens“, die zweite „Das Judentum“: Eine plastische Gruppe mitten in der Abteilung kennzeichnet den Marxismus, das Judentum, die Freimaurerei, die Demokratie und den Bolschewismus als eine Einheit, deren einziges Ziel die Weltherrschaft ist. Marx, mit seinem richtigen Namen Mardochay, hat den Marxismus begründet. Er forderte die Beseitigung des Eigentums, die Zerstörung der Familie und die Ausrottung des Glaubens, in der Überzeugung, dass nur Menschen, deren Seele geraubt ist, den Bolschewismus ertragen würden. Heute ist es Kaganowitsch und seiner Judenclique gelungen, Marx’ Programm zu verwirklichen. Die Verhältnisse in der Sowjetunion beweisen nach 25 Jahren bolschewistischer Herrschaft, dass diese Lehre eine Irrlehre ist. […] Der Kampf gegen den Glauben wurde vom Staat organisiert, und die Mehrzahl der führenden Stellungen in der Sowjetunion wurde von Juden besetzt.280

279 Fritt Folk vom 21. Februar 1942. 280 NHM, Ausstellungskatalog, „Das Sowjetparadies“, S. 8.

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Die ideologische Propaganda ging einher mit einer Unzahl Meldungen über antijüdische Maßnahmen überall in Europa. Die deutschen Presseorgane verordneten die Propaganda als Teil einer größeren Offensive, die der „Hetzpropaganda“ aus den alliierten Ländern entgegenwirken sollte. Von dort kamen nämlich regelmäßig Meldungen über Ausschreitungen gegen Juden. Im August 1941 meldete Aftenposten, dass die Juden in Luxemburg aufgrund eines „besonderen Judendekrets“ von nun an „eine gelbe Armbinde“ tragen sollten.281 Etwas später berichtete die Zeitung, dass der „Generalkommissar für Judenfragen“ ein Gesetz unterzeichnet habe, nach welchem jüdischer Besitz in Frankreich beschlagnahmt werden sollte.282 Im Oktober wurde ein Bild veröffentlicht, das ein jüdisches Ehepaar in Berlin mit dem gelben Davidstern zeigte. Die Bildunterschrift lautete: „Wie die Agenturen melden, müssen alle Juden in Großdeutschland jetzt links auf der Brust einen gelben Stern mit der Aufschrift „Jude“ tragen.“283 Die beginnenden Deportationen deutscher Juden „nach Osten“ wurden in der norwegischen Presse – wie in der deutschen – nur kurz kommentiert. Das NSOrgan Vestfold Presse zitierte am 28. Oktober 1941 eine Meldung aus Berlin, nach welcher „die Wilhelmstraße“ als das Auswärtige Amt Deportationen von Juden aus Berlin und anderen Teilen Deutschlands kommentiert habe. Dies sei eine „kriegswirtschaftliche Vorsichtsmaßnahme“, die daher nicht genauer erläutert werden könne. Indessen wurde klargestellt, dass die Juden weder in Gefängnisse noch in Konzentrationslager kämen, sondern „einem nützlichen Arbeitsprozess“ zugeführt würden. Ähnliche Meldungen standen auch in anderen größeren und kleineren norwegischen Zeitungen. Die Meldung war einer der Versuche, der wachsenden Flut von Gerüchten in Deutschland und anderen Ländern entgegenzutreten. In Deutschland musste man einfach merken, dass jüdische Wohnungen geleert wurden und dass es immer weniger Juden gab. In offiziellen deutschen Meldungen hieß es, die Juden würden „nach Osten“ in Arbeitskolonien geschickt.284 So wurde ein Mythos vom „Arbeitseinsatz im Osten“ aufgebaut. Aber die Menschen sollten auch vor Protesten und Interventionen gewarnt werden, erst recht sollten sie nicht mit den Juden sympathisieren. In einem Artikel in Aftenposten, ebenfalls im Oktober 1941, wurde das unterstrichen:

281 282 283 284

Aftenposten vom 11. August 1941. Aftenposten vom 28. August 1941. Aftenposten vom 4. Oktober 1941. Hilberg (1985), S. 470 f.

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Allgemein verlautet, dass eine größere Anzahl Juden Deutschland bis Ende dieses Jahres verlassen haben soll. In Schriften, die in Deutschland verteilt werden, wird das deutsche Volk daran erinnert, dass den Juden ein wesentlicher Teil der Schuld an der deutschen Niederlage von 1918 und an der folgenden wirtschaftlichen Krise zugeschrieben wird. Man fordert daher die deutschen Bürger auf, den Juden jetzt keine Freundlichkeit zu erweisen, und erklärt, dass dies gleichbedeutend mit Verrat am eigenen Volk wäre.285

Mitte November wird aus einem Artikel von Goebbels in der Zeitschrift Das Reich zitiert, dass „die deutsche Regierung mit dem Judentum fertigwerden will“. Der gelbe Davidstern sei „eine hygienische Prophylaxe“, hatte Goebbels erklärt. Und weiter: „Die Juden tragen die ganze Schuld am Krieg und sind unversöhnliche Feinde Deutschlands. Folglich können sie kein Mitleid erwarten, und mit der Behandlung, die sie jetzt erfahren, geschieht ihnen kein Unrecht.“ In den Zeitschriften der von der „neuen Ordnung“ Überzeugten, z. B. Ragnarok, war der Ton erheblich schärfer. In einem Artikel in schwedischer Sprache mit der Überschrift „Der Judenstern“286 hieß es, dass nach der Einführung des Judensterns am 19. September täglich 1000 Juden aus Berlin deportiert worden seien. Sie seien nach Osten transportiert worden, um dort zu arbeiten. Zu den Deportationen schrieb der Autor schlussfolgernd: „Diese Abwanderung geschieht mit unbeirrbarer Konsequenz, sodass man damit rechnet, dass es im nächsten Frühjahr in der deutschen Hauptstadt keinen einzigen Juden mehr geben wird, über den man sich ärgern muss.“ Später folgten Artikel, die die Deportationen aus den verschiedenen von Deutschland besetzten Gebieten kommentierten, aber auch solche, die bestritten, dass derartige Völkerverschiebungen stattfanden. Im Mai 1942 wurde berichtet, dass kein Niederländer nach Russland deportiert worden sei: Einige holländische Juden, die Straftaten begangen hatten, wurden in den früheren Sowjetgebieten in Arbeit gesetzt. Nachrichten über angebliche Deportationen von 100.000 Holländern nach Weißrussland sind unwahr. Der Einsatz der Holländer ist freiwillig. Das gilt sowohl für Arbeit in Deutschland als auch für die angestrebte holländische Kolonisation in den besetzten Gebieten.287

285 Aftenposten vom 25. Oktober 1941. „Deutsche Juden nach Polen 286 Ragnarok, Heft 6/7 1941. Ragnarok war ein norwegisches Magazin. Der Autor Ola Vinberg hatte den Artikel aber auf Schwedisch geschrieben. 287 Aftenposten vom 9. Mai 1942.

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Im Mai 1942 wurde auch gemeldet, dass deutschen Juden die bürgerlichen Rechte aberkannt worden waren.288 Das war tatsächlich schon im September 1941 geschehen. Und schon vom März datierte die Nachricht, dass die Juden im Protektorat Böhmen-Mähren in „eine bestimmte Stadt“ umgesiedelt werden sollten. Theresienstadt wurde nicht mit Namen genannt.289 Den ganzen Krieg hindurch brachten die Zeitungen auffallend viele solche Meldungen. Sie entstammten unverkennbar der Presseabteilung des Reichskommissariats. Dabei werden zwei Absichten deutlich. Zum einen sollten die Meldungen der Mischung von Nachrichten aus den illegalen Zeitungen und von Gerüchten über das, was ringsum in Europa geschah, entgegenwirken. Und zweitens sollte auch die Bevölkerung Norwegens erfahren, dass jetzt in ganz Europa Maßnahmen gegen Juden eingeführt wurden. Einen Schwerpunkt bildeten dabei Meldungen darüber, wie Vichy-Frankreich und andere mehr oder weniger unabhängige Staaten mit Gesetzen und anderen Maßnahmen gegen die Juden vorgingen. So berichteten die Zeitungen von der Beschlagnahme jüdischer Geschäfte in Frankreich, von der Arbeitspflicht für ungarische Juden, von ausgedehnten Berufsverboten für französische Juden und von der Abschaltung der Telefone kroatischer Juden.290 Nach der Deportation der Juden aus Norwegen sollte vor allem vermittelt werden, die verschiedenen Maßnahmen hätten den Zweck, die Juden in Arbeit zu setzen. Und Meldungen aus den alliierten Länden sollten als unwahr hingestellt werden. Aus diesem Grunde wurden das Konzentrationslager Auschwitz und das Unterlager Birkenau schon vor Kriegsende in der norwegischen Presse erwähnt. Im Oktober 1944 wurde an norwegische Zeitungen die Meldung versandt, es gebe in den Konzentrationslagern keine „Massenhinrichtungen“: Reuter hat eine Meldung des britischen Außenministeriums verbreitet, dass die Deutschen – polnischen Emigrantenkreisen zufolge – in den Konzentrationslagern Auschwitz und Birkenau, die auf früherem polnischen Gebiet liegen, Massenhinrichtungen geplant haben. Von offizieller politischer Seite in Berlin teilt man mit, dass diese Meldung völlig aus der Luft gegriffen ist, ähnlich wie vor einiger Zeit, als man Falschmeldungen über die Verhältnisse im Sammellager Pruschkow verbreitete.291

288 Aftenposten vom 12. Mai 1942. 289 Aftenposten vom 3. März 1942. 290 Aftenposten vom 29. November 1941, 24. März 1942, 29. September 1942, 20. November 1942. 291 Aftenpotenn vom 12. Oktober 1944. Pruschkow war vermutlich das Transitlager für die überlebenden Zivilpersonen des Warschauer Aufstands vom Sommer 1944.

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Norwegische Frontkämpfer und andere Mitglieder von Nasjonal Samling kommentierten auch ihre Erlebnisse an der Ostfront. Im November 1941 brachte Aftenposen eine Reportage ihres „Sonderkorrespondenten“ Helge Knudsen aus der Ukraine. Darin hieß es, die Juden seien aus dem Gebiet „vollständig verschwunden“. Aber was war mit ihnen geschehen? Ein Teil ist geflohen, ein Teil ist evakuiert, ein Teil getötet worden. Über das Verhältnis dieser Gruppen zueinander wird die Geschichte dereinst ihr Urteil fällen. Die Ukraine war ein Schauplatz von Pogromen. In Kiew äußerte ein deutscher Regierungsvertreter, dass Juden sich in großer Zahl bewaffnet und in den Wäldern verschanzt hätten. Daher habe die ukrainische Bevölkerung sich auch bewaffnet, und da die deutschen Besatzungstruppen dies natürlich aus Prinzip nicht zulassen konnten, seien die Juden getötet worden. Derzeit sind die Juden in der Ukraine kein Problem mehr.292

Die Zeitungen brachten auch Interviews mit Frontkämpfern. In Hirdmannen, der wöchentlichen Beilage zu Fritt Folk, war schon früh zu lesen, wie sie den Krieg im Osten auffassten. Ein Artikel vom August 1941 bezog sich auf die Erlebnisse eines Frontkämpfers: In einem Zimmer lagen 6 ebenso entstellte Frauen, und unter einem Teppich fanden wir einen quicklebendigen Juden. Als er sah, dass er entdeckt war, blökte er uns an: ,Ich das nicht gemacht. Ich verwundet. Ich wohnen hier in Nähe.´Kurzer Prozess. Vorm Haus wird er aus drei Metern Entfernung erschossen. Der Kopf teilt sich, und seine verfaulte Gehirnmasse quillt hervor.293

Ein kleiner Artikel in Aftenposten gab im November 1941 zwei Auszüge aus Briefen norwegischer Kämpfer an der Ostfront wieder. Einer von ihnen, Guttorm Falch, schrieb: „Nach dem, was wir gesehen und erlebt haben, werden wir in erster Linie verlangen, dass die Judenfrage gelöst wird, und zwar nachdrücklich.“ Der andere, Yngvar Kofoed, setzte seine Fronterlebnisse direkter zu „der Judenfrage“ zu Hause in Norwegen in Beziehung: Wir erregten Ärger, als wir die Judenschaufenster zu Hause ein bisschen beschmierten, aber ich glaube, unsere Jøssinger werden andere Takte erleben, wenn wir nach 292 Aftenposten vom 7. November 1941. 293 Hirdmannen vom 10. August 1941 unter der Überschrift „Und dann geht es weiter! Ein Norweger schildert Episoden des Kampfes an der Ostfront“.

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Haus kommen. Wir kennen die Juden jetzt, wir haben aus nächster Nähe gesehen, welche Pest sie für ein Land sind.294

Und in dem NS-Organ Vestfold Presse war im Januar 1942 dies zu lesen: Das Erste, was wir sahen, als wir in die Stadt Lemberg kamen, waren Haufen von Leichen in den Straßen, Frauen und Kinder, die von Juden mit Messern erstochen worden waren. Wir Norweger konnten nicht glauben, dass die Juden so grausam sein können; wir hatten ja zu Hause so viele schöne und nette Juden gesehen. Aber nun lernten wir diese Menschen wirklich kennen. An einem Ort nahmen wir 12 Juden fest, die wir für uns an die Arbeit setzten. Schlechtere Arbeiter habe ich noch nie gesehen. Hinterher stellte sich heraus, dass alle 12 Mörder waren. Es wurde Standrecht gehalten, und mit ihnen wurde kurzer Prozess gemacht.295

Dieser Bericht stammte von einem Frontkämpfer der SS-Division Wiking, die kurz nach der Invasion der Sowjetunion in die Stadt Lemberg einrückte. Polizeiminister Jonas Lie war mehrere Male an der Ostfront. Vom Herbst 1942 an führte er eine Polizeikompanie der norwegischen Legion, aber schon im Herbst 1941 war er zur Inspektion im Osten gewesen. Auf dem Weg dorthin machte er in Berlin halt, wo er mit dem Leiter des RSHA zusammentraf, Himmlers berüchtigtem Stellvertreter Reinhard Heydrich. Lies Auftrag war, „die Organisation der deutschen Polizei zu studieren“, wie Fritt Folk im Oktober 1941 kurz berichtete. Am Sonnabend, dem 18. Oktober, reiste er an die Ostfront, wo er hoffte, „die norwegischen Jungs zu treffen, die in der Waffen-SS mit den Deutschen gemeinsame Sache im Kampf gegen den Bolschewismus machen“.296 Der Besuch galt danach dem südlichsten Frontabschnitt der Deutschen. Ungefähr zwei Wochen war Lie an der Front. Nach der Rückkehr hielt er darüber Vorträge, so im Januar 1942 im Klingenberg-Kino in Oslo. „Die Juden haben das Volk und den russischen Geist bezwungen“, sagte er unter anderem. Er ging auf seine Reise durch Galizien ein, wo es „von Juden wimmelt“. „Mit ihren gelben Armbändern waren sie nun dabei und kehrten die Straße.“ Danach kam er auf „den kolossalen Einfluss der Juden und ihre Verantwortung für die Entwicklung in Russland“ zu sprechen.297 Lie verriet aber nicht den eigentlichen Grund seines Besuchs am südlichen Frontabschnitt. 294 Aftenposten vom 12. November 1941. 295 Vestfold Presse vom 10. Januar 1942 unter der Überschrift „Das Elend in Russland ist unbeschreiblich“. 296 Fritt Folk vom 20. Oktober 1941. 297 Aftenposten vom 24. Januar 1942.

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Es ist gut dokumentiert, dass er auf seiner Inspektionsreise die von Otto Ohlendorf geführte Einsatzgruppe D besuchte. Was genau er dort tat, ist unklar. Dagegen wissen wir, dass sein Besuch in eine der hektischen Perioden für diese Tötungseinheit fiel, die bis März 1942 in der südlichen Ukraine und auf der Krim mindestens 42.000 Menschen umbrachte, hauptsächlich Juden. Lie wusste mit anderen Worten sehr gut, wie weit „die Endlösung der Judenfrage“ zu dieser Zeit gekommen war. In Odessa und Nikolajev, dem heutigen Mykolai, wurde Lie von Dr. Werner Braune herumgeführt, dem neuen Chef des der Einsatzgruppe D unterstellten Einsatzkommandos IIb. Nach dem Krieg berichtete Braune im Nürnberger Prozess, seine erste Aufgabe nach der Ankunft in Odessa sei es gewesen, sich um Lie zu kümmern, der dorthin gekommen sei, um „die Verhältnisse zu inspizieren“.298 Erst danach rückte das Einsatzkommando auf die Krim vor, wo es kurz vor Weihnachten 1941, unterstützt von der Wehrmacht und dem Generalfeldmarschall von Manstein, eine hohe Anzahl Juden tötete.299 Frontkämpfer und Minister waren also über das Geschehen bestens informiert. Die meisten Norweger waren während des Krieges isoliert in dem Sinne, dass die Presse geknebelt war und sie nicht mehr überall frei reden konnten. Dagegen waren viele norwegische Nazisten auf Reisen. Einer von ihnen, der Filmregisseur Leif Sinding, der das von Quisling gegründete staatliche Filmdirektorat leitete, berichtete 1942 von einem Besuch in Berlin im Vorjahr. Seit seinem letzten Besuch waren da zehn Jahre vergangen: Aber was für ein Gegensatz zu früher! Die zehn Jahre haben Berlin in eine offene und saubere Stadt verwandelt. Eine germanische Stadt. Die grinsenden, unverschämten und hochmütigen Juden sind aus dem Straßenbild verschwunden. Das Übel des profitablen jüdischen Geschäfts ist wie weggefegt.300

Die Zeitungen behandelten auch das Rassenproblem, aber nicht so oft, wie man hätte erwarten können. Hirdmannen präsentierte am 21. Juni 1941, also am Tag vor dem Einfall in die Sowjetunion, in einem breit angelegten Artikel die Nürnberger Rassengesetze. Eine graphische Darstellung erläuterte das Prinzip, und der Text betonte die Notwendigkeit der Gesetze:

298 Institut für Zeitgeschichte München, Aussage Werner Braune, S. 3076 ff. 299 Angrick (2003), S. 305 ff. 300 Norske røster: Inntrykk fra Tyskland [Norwegische Stimmen. Eindrücke aus Deutschland]. Stenersens Forlag, Oslo 1942, S. 99.

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In Nürnberg, der Stadt des Reichsparteitags, wurden im September 1935, zweieinhalb Jahre nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten, die Gesetze beschlossen, die als erste in der Geschichte die arische Menschheit bewusst gegen das Eindringen fremden Blutes in den Volkskörper schützen, besonders gegen das jüdische Blut, das sich als wichtigste Aufgabe vorgenommen hat, alle Rassenmerkmale von Ariern zu zerstören und auszulöschen, um die Völker zu gehorsamen Werkzeugen der verbrecherischen Pläne des Judentums gegen die nicht-jüdische Menschheit zu machen.

Der Artikel wurde später für Schulungszwecke auch als Heft gedruckt.301 Vermutlich hat der Einsatzstab bei der Abfassung mitgewirkt; sowohl die Sprache als auch der Versuch, in den Begriff Rasse eine gewisse Systematik zu bringen, deuten darauf hin. Hirdmannen hatte schon vorher unter der Überschrift „Norweger, hütet euch vor den Juden!“ einen längeren Artikel über die Protokolle der Weisen von Zion veröffentlicht.302 In der gleichen Nummer brachte die Zeitung Fotografien jüdischer Kaufleute in Oslo und kommentierte diese: Wir bringen hier eine kleine Galerie ‚liebenswürdiger‘ Juden, die noch ihr Geschäft in Oslo betreiben. Ach wie freundlich und zuvorkommend können sie sein, wenn ein Norweger in ihren Laden kommt, um etwas zu kaufen. Aber am Abend, wenn sie den Verkaufserlös des Tages zählen, spielt ein höhnisches Lächeln um ihre Lippen beim Gedanken an die dummen Norweger, die auch heute auf ihre Geschäftstricks hereingefallen sind und ihre minderwertigen Waren teuer bezahlt haben.303

Die Fotos zeigten wirkliche Menschen. Wie sie entstanden, geht aus dem Bericht einer Verkäuferin hervor, die im Laden eines jüdischen Kaufmanns in Oslo arbeitete: Eines Tages kamen zwei Männer in das Geschäft; der eine trug deutsche Uniform. Ohne jede Erklärung baten sie meinen Chef, mit auf die Straße zu kommen. Dort wurde er photographiert. Die Szene hat ihn und mich erschüttert.304

301 Ideologisk månedshefte for Hirden, Nr. 4, 1941. 302 Diese Protokolle waren eine Fälschung, angeblich angefertigt bei einem heimlichen Zionistenkongress in Basel im Jahre 1897. Sie wurden später von der russischen Geheimpolizei zur Diskreditierung radikaler Kreise benutzt. Auch die Nationalsozialisten griffen sie begierig auf und verwendeten sie in ihrer Propaganda. 303 Hirdmannen vom 7. Juni 1941. 304 Interview des Verfassers mit Jenny Wulff am 6. Juli 2005.

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Die Propaganda kannte mehrere Ebenen. „Die jüdische Verschwörung“ war das Nervenzentrum der antisemitischen Botschaft. Die Rhetorik war nicht neu; sie war schon vor 1940 genauso offenkundig und deutlich. Wie schon erwähnt, war es zugleich für die Besatzungsmacht wichtig, Gerüchten und Nachrichten von feindlicher Seite entgegenzutreten, hauptsächlich Radiosendungen, aber auch anderen Quellen, die der deutschen Propaganda widersprachen. Die Propaganda war Teil einer Irreführungskampagne, die, als Ganzes betrachtet, darauf abzielte, die drastischen Maßnahmen gegen Juden zu verdecken. Das Reichskommissariat mischte sich in alle möglichen Einzelheiten ein. Als die französische Schauspielerin Sarah Bernhardt 1941 starb, wurde an die Zeitungen die folgende Tagesanweisung ausgegeben: Der Gedenkartikel zu Sarah Bernhardt, den die Norwegische Bildreportage verbreitet hat, darf keinesfalls wiedergegeben werden. Sarah Bernhardt war Jüdin, und es ist nicht angebracht, dass die norwegische Presse sich mit ihr beschäftigt.305

Der Widerstandsbewegung und der norwegischen Exilregierung bereitete die Propaganda der „neugeordneten“ norwegischen Presse große Schwierigkeiten. Was die Zeitungen schrieben, unterlag einer totalen Kontrolle. Seit August 1941 waren auch Radioapparate konfisziert. Das gab illegalen Gruppen Auftrieb, die Untergrundzeitungen herstellten und verbreiteten, um der Darstellung wichtiger Kriegsereignisse sowie repressiver Maßnahmen in Norwegen in der offiziellen, gleichgeschalteten Presse entgegenzuwirken. Die illegalen Zeitungen erreichten nicht alle, aber doch so viele, dass ihre Verbreitung eine äußerst gefährliche Aufgabe war. Norwegen wurde in der Besatzungszeit zu einer Gesellschaft der Denunzianten, und die an illegalen Zeitungen Arbeitenden liefen am ehesten Gefahr, angezeigt zu werden. Hans Luihn, der Historiker der illegalen Presse, stellte dennoch fest, dass ungefähr 20.000 Personen an der Produktion und Verbreitung illegaler Nachrichten beteiligt waren.306 Unter ihnen waren auch mehrere Juden. Alexander Eidenbom in Bergen unterstützte die Herausgabe von illegalen Zeitungen und Propagandamaterial, das sich an deutsche Soldaten in der Stadt richtete. Zusammen mit einigen anderen gründete er auch eine Deckorganisation mit dem Namen Deutsche Freiheitspartei in Norwegen. Sie sollte einen Zusammenschluss deutscher Dissidenten vortäuschen. Diese Betätigung war in höchstem Maße gefährlich, denn Abwehr und Sicherheits305 Vertrauliche Tagesanweisung vom 25. September 1941, gedruckt in Omberg (1945), S. 151. 306 Luihn (1981), S. 9 f.

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polizei nahmen solche Wühlarbeit gegen die eigenen Soldaten sehr ernst. Der illegalen Zeitung Norgesposten gab Eidenbom erhebliche Geldbeträge und warb dafür, dass sie öfter erscheinen sollte. Im Oktober 1941 floh er auf einem Fischkutter nach England; ungefähr gleichzeitig zerschlug die Gestapo die illegale Gruppe.307 Eine der bekanntesten illegalen Zeitungen, London-nytt [London-Nachrichten] wurde von Moritz Wulf Dsenselsky finanziell unterstützt. Die Zeitung wurde täglich, auch an Sonn- und Feiertagen, hektografiert. Eine Zeitlang wurde sie in dem gleichen Osloer Haus hergestellt, in dem Dsenselsky sein Geschäft hatte.308 Im Gegensatz zu Eidenbom konnte er sich nicht retten, sondern wurde bei der großen Aktion gegen die Juden im Herbst 1942 festgenommen und mit der Donau deportiert. Die nach Norwegen geflohene deutsche Jüdin Edith Raphael, die mit dem kommunistischen Flüchtling Hans Hom zusammenlebte, ging relativ früh in den Untergrund. Eine ihrer Aufgaben war es, für Norges Kommunistiske Parti ausländische Radiosender, hauptsächlich aus London und Moskau, abzuhören und Nachrichten schriftlich festzuhalten. Sie wurde am Heiligen Abend 1942 festgenommen und im Februar 1943 mit der Gotenland deportiert.309 Ihr neugeborenes Kind wurde mit Hilfe von Sigrid Helliesen Lund heimlich in einem Osloer Kinderheim untergebracht. Zwei Juden, Markus Senderovitz und Isak Braude, verteilten, wie Mette Michelet berichtet, Untergrundzeitungen im Osloer Stadtteil Grünerløkka.310 Das gleiche taten mehrere Juden in anderen Stadtteilen, vor allem Mitglieder der Familie Claes, die später alle Opfer der Deportationen wurden. Die illegale norwegische Presse hat nicht versucht, die Judenverfolgung, wie sie überall in Europa stattfand, systematisch zu erfassen. Die Kriegsereignisse standen klar im Mittelpunkt. Über Repressionen allgemein und einzelne antijüdische Maßnahmen in verschiedenen europäischen Ländern wurde allerdings berichtet, und solchen kurzen Meldungen suchte das Reichskommissariat mit seiner Propaganda zu begegnen. Im Herbst 1941 meldete z. B. die kommunistische Untergrundzeitung Fridom [Freiheit], dass Juden aus Berlin jetzt „nach Osten“ geschickt würden. Von den 65.000 Berliner Juden seien 55.000 betroffen: „Sie dürfen nur Handgepäck mitnehmen.“ Mehr als 200 Juden in der Stadt hätten nach der Einführung des gelben 307 Siehe Nerheim (1946). Die Deutsche Freiheitspartei in Norwegen gab zur Unterminierung deutscher Moral zwei Blätter heraus, Meldungen der deutschen Soldaten in Norwegen und Volksgenosse. Vgl. auch Haga (1987). 308 Luihn (1999), S. 92. 309 Auskünfte von Inger Binding. Hans Holms Gedenkalbum „Deine Mutter“. 310 Michelet (2014), S. 161.

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Sterns Selbstmord begangen.311 Die Meldung erschien ziemlich genau zu dem Zeitpunkt, da norwegische Zeitungen das früher erwähnte Bild eines Berliner Ehepaars mit dem gelben Davidstern brachten. In der gleichen Nummer wurde auch berichtet, in Belgrad seien 100 jüdische Geiseln hingerichtet worden und im Deutschen sei der Ausdruck „Juden und Kommunisten“ synonym mit „unschuldige Opfer“. In der nächsten Ausgabe meldete Fridom, in Polen drohe nun Juden, die sich außerhalb des Ghettos bewegten, die Todesstrafe.312 Das Problem der illegalen Zeitungen war, dass Berichte über die Tötung unschuldiger Menschen, seien es nun Juden oder andere, leicht für übertrieben gehalten wurden. Im Propagandakrieg arbeiteten natürlich beide Seiten mit Übertreibungen, besonders was die großen Kriegsereignisse betraf. Die Verluste des Feindes an Soldaten und Material wurden regelmäßig übertrieben. Das war schon im Ersten Weltkrieg so gewesen – wobei sich manchmal im Nachhinein herausstellte, dass eine scheinbare Übertreibung doch der Wahrheit entsprach. Als das Deutsche Reich 1914 Belgien angriff, wurden schlimme Übergriffe gegen die Zivilbevölkerung gemeldet. Später wurden solche Berichte unter der Bezeichnung Gräuelpropaganda bekannt, die die Alliierten benutzt hätten, um ein Schreckensbild des deutschen Feindes zu zeichnen. Erst in neuerer Zeit wurde anerkannt, dass das kaiserliche Heer bei der Besetzung Belgiens und Nordfrankreichs tatsächlich viele unschuldige Zivilpersonen getötet, dass es sie beim Vormarsch als menschliche Schilde missbraucht hatte und dass unter dem folgenden harten Besatzungsregime Zivilpersonen auf offener Straße gekidnappt und in Arbeitslager nach Deutschland geschickt worden waren.313 1942 berichtete Friheten, die polnische Exilregierung habe Zahlen über Ermordete vorgelegt: 700.000 Juden in Polen, 30.000 Menschen in Lemberg in der heutigen Ukraine, 50.000 in Vilnius in Litauen und 40.000 in Westpolen, das 1939 an das Großdeutsche Reich angeschlossen worden war. Im letzten Fall habe es „Massaker, die drei Tage dauerten“, gegeben. Um zu beteuern, dass diese Zahlen nicht übertrieben seien, fügte die Zeitung hinzu: „Dies sind nüchterne und unsentimentale Schilderungen im Berichtsstil in einer offiziellen Note. Die Ereignisse werden nicht zu „Kannibalengeschichten“ ausgeschmückt.“314 Auch London-nytt bezog sich in einer Ausgabe vom 27. Juni 1942 auf diesen Bericht. 311 Fridom 1. Jahrgang, Nr. 14, undatiert, aber wahrscheinlich im Spätherbst 1941 produziert. 312 Fridom 1. Jahrgang, Nr. 15, undatiert. 313 Siehe z. B. Strachan (2003), Kapitel „Under the Eagle“, S. 35 ff. 314 Friheten Nr. 21, 1942.

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In einer früheren Ausgabe hatte London-nytt gemeldet, dass „über 2 Mill. Polen als deutsche Sklaven deportiert worden sind“.315 Nachrichten über Grausamkeiten in Polen betrafen nicht nur Juden, und die, die Informationen aus verschiedenen britischen, sowjetischen oder sonstigen Quellen bezogen und wiedergaben, gewannen oft genau diesen Eindruck. Er entsprach ja auch der Realität. Es war oft schwierig, antijüdische von „sonstigen“ Repressionen, Morde an Juden von „sonstigen“ Morden zu unterscheiden, d. h. zu erkennen, ob ein Übergriff der „Endlösung der Judenfrage“ zuzuordnen war oder nicht. Schon früher im Jahr 1942 hatte Friheten geschrieben, dass „die Behandlung der Polen durch die Deutschen womöglich noch schlimmer ist als die Verfolgung der Juden. Sie zielt praktisch ab auf die physische Ausrottung der Polen durch Hunger, körperliche und geistige Misshandlung und alle möglichen Formen von Terror.“316 Während die Meldungen über Deportationen aus Berlin auf Befehl der deutschen Pressezensur in der offiziellen norwegischen Presse wiedergegeben wurden, galt das für Berichte über Massenmorde natürlich nicht. Die Verlegung tschechischer Juden nach Theresienstadt wurde wie gesagt kurz gemeldet, jedoch ohne Nennung des Ortsnamens. In der illegalen Zeitung London-nytt stand dagegen im März 1942, dass 90.000 Juden in die „Mittelalterburg“ Kerentzfeld verlegt werden sollten, und zwar auf Befehl von Reichsprotektor Heydrich, „der angeordnet hat, dass alle Juden in seinem Protektorat in die fürchterlichen unterirdischen Zellen in dieser Mittelalterburg deportiert werden sollen.“317 Theresienstadt war keine Mittelalterburg, und die Juden wurden nicht in unterirdische Zellen gepfercht, aber die Meldung hatte doch einen wahren Kern. Mit Recht nennt sie das Leben im Ghetto ungeheuerlich. Wie die offizielle Presse, so berichtete auch die illegale über antijüdische Maßnahmen in Frankreich. Im September 1942 meldete London-nytt, der französische Ministerpräsident Laval plane, französischen Juden die Staatsangehörigkeit abzuerkennen. Als Staatenlose wären diese Menschen „sogar ohne nominellen Schutz gegen die Auslieferung an die Deutschen“. In der gleichen Nummer stand auch, Präsident Roosevelt wolle später „Amerikas Haltung zu der Deportation von Juden aus Frankreich durch das Vichy-Regime erklären“.318 Diese Meldungen reflektierten die Deportationen, die kurz vorher stattgefunden hatten. Unter anderem waren mehrere Tausend jüdische Kinder in eigenen 315 London-nytt Nr. 265 vom 19. Juni 1942. 316 Friheten Nr. 11, 1942. Anlass der Meldung war, dass polnische Häftlinge zu Zwangsarbeit nach Norwegen geschickt wurden. 317 London-nytt Nr. 167 vom 4. März 1942. 318 London-nytt Nr. 354 vom 19. September 1942.

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Transporten nach Auschwitz deportiert worden. Zunächst hatten Eichmann und die deutsche Sicherheitspolizei der Bitte des Vichy-Regimes entsprochen, Kinder vorläufig von der Deportation auszunehmen. Die Eltern waren aber nicht ausgenommen, und so führte der Beschluss dazu, dass die Kinder in dem Sammellager Drancy in Paris zurückblieben. Dazu meldete London-nytt am 10. September, dass 4000 jüdische Kinder „kürzlich in einen Zug gepfercht und aus dem Land geschickt wurden“. Diese Ereignisse weckten große Empörung in Frankreich und Aufmerksamkeit auch jenseits der Landesgrenzen. Eichmann und seine Leute lernten daraus und aus anderen unglücklichen Entscheidungen. Als norwegische Juden im Herbst 1942 deportiert wurden, hatte das RSHA entschieden, dass Eltern und Kinder nicht getrennt werden sollten.319 Meldungen über die systematische Ermordung von Menschen fanden erst später Eingang in die illegale Presse. Die Zeitung Folk-Fridom berichtete im Oktober 1943 über beginnende Judenverfolgungen in Dänemark. In der gleichen Nummer handelte ein kurzer Artikel unter der Überschrift „Polens Martyrium“ von dem Terror, den Polen nach der Besetzung erlebt hatte. Darin hieß es: Nach der Niederlage 1939 setzte in Polen sofort der Terror ein. Schon in der ersten Kriegswoche wurden ca. 100.000 Zivilpersonen ermordet – sie starben also nicht als Kriegsopfer. Seither ist ununterbrochen polnisches Blut geflossen. In den sogenannten Todeshäusern werden nicht nur Juden, sondern auch Polen mit den brutalsten Methoden umgebracht …320

Die Meldung schockiert. „Todeshaus“ kann nur Gaskammer bedeuten, aber das Wort Gaskammer war noch nicht erfunden. So konnten die Leser nur ahnen, was mit Todeshäusern gemeint war. Im Spätherbst 1944 wurde die Befreiung des Lagers Majdanek durch die Rote Armee bekannt. Die Meldungen darüber wurden in der westlichen Presse zum Teil nicht geglaubt, weil die sowjetische Propaganda deutsche Verbrechen früher manchmal übertrieben hatte. Auch waren Verbrechen der Sowjetunion von der NaziPropaganda groß herausgestellt worden. Als die Deutschen 1943 in der Nähe von Smolensk Massengräber entdeckten, behaupteten sie, es handle sich um ein sowjetisches Verbrechen, begangen an polnischen Offizieren. Was später als das Massaker von Katyn bekannt wurde, stellten britische und amerikanische Zeitungen 319 Bundesarchiv Berlin, ZB 7687 A 2, Telegramm des RSHA an den BdS Oslo vom 25. September 1942. Darin werden praktische Verfahrensregeln für die Deportation verordnet und u. a. festgelegt, dass Eheleute nicht getrennt und Kinder unter 14 Jahren nicht separat deportiert werden sollten. 320 Folk-Fridom vom 7. Oktober 1943.

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als ein deutsches Verbrechen dar, obwohl die alliierten Führer durchaus wussten, dass das Stalin-Regime dahinterstand. In Majdanek fanden russische Militärangehörige Gefangenenlisten, die auch norwegische Namen enthielten. Der sowjetische Journalist und Propagandist Ilja Ehrenburg schrieb daraufhin eine speziell auf norwegische Verhältnisse gemünzte Reportage. Die Listen machten die das Lager betreffenden Meldungen glaubhafter. Ehrenburg kannte das deutsche Vernichtungsregime recht genau und nannte in seiner Reportage u.a. die Lager Maly Trostenets bei Minsk, Rava-Ruska, Paneriai bei Vilnius und vor allem die Lager Belzec und Sobibór. Diese Lager bezeichnete er als Todesfabriken: In der Westukraine und in Polen bauten die Deutschen ‚Todesfabriken‘, in denen sie Millionen von Menschen ermordeten. Sie ‚arbeiteten‘ in großem Maßstab. Die Todesfabriken wurden rationalisiert. […] In Majdanek und Lublin hat man in fünf Öfen Knochen gefunden. Hier töteten die Deutschen ihre Opfer in speziellen ‚Bädern‘ oder vergifteten sie mit ‚Cyklongas‘. Nach Majdanek wurden Menschen aus Westeuropa transportiert, damit sie dort getötet würden.

Die Untergrundzeitung Avantgarden druckte Ehrenburgs Reportage in vollem Wortlaut.321 Die Nachricht von Deutschlands Massenmorden hatte also Norwegen erreicht, aber dass in Belzec und Sobibór vor allem Juden ermordet wurden, war noch nicht erkennbar. Diese Wahrheit wurde erst später bekannt, soweit die Lager Treblinka, Belzec und Sobibór vor dem Eichmann-Prozess von 1963 in norwegischen Medien überhaupt erwähnt wurden. Es ist schwer abzuschätzen, wie weit diese Berichte der illegalen Zeitungen wirkten. Die Nachrichten über den Kriegsverlauf und die von den Deutschen überall in Europa verübten Grausamkeiten waren überwältigend. Meldungen von Übergriffen in Norwegen waren den Lesern aber in Zeit und Raum näher. Sie gaben einen Eindruck von dem, was in anderen Gebieten geschah. Die Telavåg-Aktion und die diversen, z.T. mörderischen Repressalien während der verschiedenen von Terboven verhängten Ausnahmezustände legten davon Zeugnis ab.

321 Avantgarden Nr. 10 vom Oktober 1944.

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VORSTÖSSE VON NASJONAL SAMLING Seit September 1940 war Nasjonal Samling (NS) die einzige zugelassene Partei im Land. Die meisten der von Terboven eingesetzten kommissarischen Minister gehörten NS an. Parallel zu der Entwicklung zur staatstragenden Partei lief der Versuch von Terbovens Einsatzstab, die NS-Organisation nach deutschem Muster umzuformen. Dies implizierte eine gewisse Bürokratisierung der zentralen Parteileitung und eine Gleichschaltung der Propagandaarbeit. Von den Organisationen der Partei war der paramilitärische, der deutschen SA vergleichbare Hird die wichtigste und sichtbarste. Die Uniformen des Hird und sein oft provozierendes Auftreten zeigten, dass die Partei aktiv war. Schon in die Apriltage 1940 fallen die ersten demonstrativ herausfordernden Aktionen. Anfangs griffen sich die Hird-Männer einfach Uniformen der Königlichen Garde und marschierten wie militärische Formationen durch Oslos Straßen. In dieser frühen Phase verfolgten sie nicht Juden, sondern Gegner der NS-Bewegung. Ihre Demonstrationen provozierten die Bevölkerung und waren ein Affront gegen die Polizei. Im Herbst kam es zu Straßenkämpfen mit anderen Jugendlichen, aber vor allem mit der Polizei. Bei der Einsetzung der kommissarischen Minister am 25. September gab es in Oslo mehrere Zwischenfälle, so im Keller der Universitätsaula eine Schlägerei zwischen Hird-Männern und Studenten. Im November kam Polizeiminister Jonas Lie zu einem Vortrag nach Bergen. Die Erschienenen sangen die Königshymne und riefen „Judas Lie“. In beiden Fällen griff die Polizei ein – gegen den Hird. Am 13. und 14. Dezember wurde an mehreren Stellen in Oslo demonstriert. Die Hird-Leute fanden, die Polizei verhalte sich zu passiv, und gingen mit Verhaftungen und Abstrafungen im öffentlichen Raum gegen die Demonstranten vor. Das endete damit, dass 13 Hird-Männer verhaftet wurden. Einige Tage später versandte Minister Lie ein Rundschreiben, nach welchem Männer vom Hird nicht verhaftet werden durften, es sei denn, sie hätten ein Verbrechen begangen. Auch wurde dem Hird das Recht zugestanden, auf Provokationen zu reagieren. Eine der nächsten Aktionen des Hird galt der traditionsreichen Oslo katedral­ skole; der Hird verlangte die Namensnennung von Schülern, die gegen NS demonstriert hatten. In Bergen gab es Straßenschlägereien. Der Konflikt zwischen Polizei und Hird ging weiter, obwohl die deutsche Sicherheitspolizei in einer Besprechung mit Innenminister Albert Viljam Hagelin der Polizei befahl, gegen den Hird vorzugehen.322 Das geschah aber nur in begrenztem Maße, obwohl viele Polizisten mit den Hird-Männern gern ordentlich abgerechnet hätten. 322 Die Beschreibung dieser Konflikte folgt Ringdal (1987), S. 45 ff.

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Ab Februar 1941 nahm der Hird auch die Juden aufs Korn. Es begann in Bergen, wo die Osloer Philharmoniker unter ihrem Dirigenten, dem deutschstämmigen Ernst Glaser, am 16. Februar ein Konzert geben sollten. Glaser sollte Ole Bulls Geige spielen.323 Der Hird bereitete eine Aktion gegen das Konzert vor und druckte Flugblätter, die von den Rängen des Konzerthauses hinabgeworfen werden sollten. Das Blatt war voller Druckfehler, aber die Botschaft war deutlich: Ole Bulls Geige ist Nationaleigentum. Seine Werke sind Grundpfeiler der norwegischen Musik. Die norwegische Jugend lässt nicht zu, dass unsere germanische Ehre von dem Juden Moses Salomon (alias Ernst Glaser) besudelt wird. Dieser jüdische Krämer hat sich Ole Bulls Geige ergaunert, unser nationales Eigentum, und reist damit herum und schlägt daraus Geld. Wir Verlangen, Dass Moses Salomons Krämertournee Hier In Bergen Gestoppt Wird.

Die Unterschrift lautete Nasjonal Ungdom [Nationale Jugend].324 Die Aktion verlief nicht wie geplant. Zwar schafften es die Hird-Männer, Flugblätter von den Rängen in den Saal zu werfen, aber es gab sofort spontane Proteste des Publikums. Pfui-Rufe waren zu hören, und plötzlich begannen einige, die Nationalhymne zu singen; der Hird musste notgedrungen mitsingen. In der darauf folgenden Aufregung wurde Glaser durch die Hintertür hinausgeführt. So hatte sich die „nationale Jugend“ das Ende nicht vorgestellt.325 Die Demonstration hatte außerdem ein Nachspiel in der Presse. Die beiden führenden Bergener Zeitungen kommentierten das Ereignis mit Bedauern und gingen davon aus, dass „die örtliche Führung von NS mit der Sache nichts zu tun hatte“.326 NS nahm auch die Israelmission aufs Korn. Im Februar 1941 wurde eine Versammlung, in der zu Spenden für die Israelmission aufgerufen wurde, von uniformierten Hird-Männern gesprengt.327 Das geschah sicher nicht zufällig und war vielleicht eine regelrechte, von der deutschen Sicherheitspolizei koordinierte Aktion. Darauf deutet ein Verbot der Abteilung für Propaganda und Volksaufklärung im Reichskommissariat hin. Am 14. März 1941 wurde der norwegischen Presse untersagt, Anzeigen der Israelmission anzunehmen.328 323 Ole Bull (1810–1880), norwegischer Geigenvirtuose und Komponist. 324 Nationalbibliothek, Krigstrykkavdelingen [Kriegsdruckabteilung], no-nb_krgstr_00541. 325 Hurum (1946), S. 60 f. 326 Ebd. 327 Mendelsohn (1986), S. 65. 328 RA, RK 1940–1945, Hauptabteilung Volksaufklärung und Propaganda. Verschiedenes, Paket 89, Vertrauliche Information No. 128 des Reichskommissariats, Hauptabteilung

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Aber alle diese Aktionen waren nur ein Vorspiel. In der Nacht zum 20. März 1941 folgte eine größere Aktion gegen jüdische Geschäfte in Oslo. Auf die Schaufenster wurden Schlagworte und Beschimpfungen geschmiert, z.B. „Judenschwein“, „Die Judenparasiten brachten uns den 9. April“ und „Palästina ruft, Juden werden in Norwegen nicht geduldet“.329 Aber einige gaben sich mit Schlagworten nicht zufrieden. Einem jüdischen Schneider wurden die Fenster eingeworfen und ausgestellte Waren zerstört.330 Was der Hird tat, war in keiner Weise neu; die Aktionen waren von ähnlichen in Deutschland inspiriert. Die Hird-Männer wollten ganz einfach zeigen, dass auch sie aktionistisch gegen Juden vorgingen. Bei dem von der SA organisierten Boykott jüdischer Geschäfte in Deutschland am 1. April 1933 wurden die Schaufenster mir Davidsternen, dem Wort Jude, antisemitischen Karikaturen und Schlagworten beschmiert. Auch in Norwegen war so etwas vor dem Krieg schon vorgekommen. Im Dezember 1938 war eine Gruppe Jugendlicher, angeführt von dem antisemitischen Phantasten Alf Maria Amble, gegen jüdische Geschäfte in Oslo vorgegangen. Sie klebten ein Plakat – nicht nicht nur an Schaufenster, sondern auch an Laternenpfähle ringsum –, das eine antisemitische Karikatur zeigte, und der Text lautete: „Wir werden überschwemmt von diesem Volk, das ein Krebsschaden gewesen ist, wo immer es sich niedergelassen hat. Helft uns, die Flut aufzuhalten – zu verhindern, dass unser Land Europas Müllkübel wird.“ Amble wurde daraufhin festgenommen und vor Gericht gestellt. Die Aktion weckte umso mehr Aufsehen, als sie kurz auf die „Reichskristallnacht“ folgte. Aber das Echo war durchaus ambivalent. Ungefähr zur gleichen Zeit stellte Aftenposten in einem Leitartikel fest, dass in Norwegen, selbst wenn es „ohne Ansehen der Rasse“ Flüchtlinge einreisen lasse, dies nicht gleichbedeutend sei mit dem Wunsch, Juden zu importieren“.331 In einem anonymen Leserbrief in Aftenposten war außerdem unter der Überschrift „Gleichheit vor dem Gesetz“ dies zu lesen: Volksaufklärung und Propaganda, vom 14. März 1941: „Ich bitte die Hauptschriftsteller, sofort die Anzeigenleiter zu verständigen, dass Inserate von Judenmissionen in der norwegischen Presse nicht mehr gebracht werden sollen.“ 329 RA, RK 1940–1945, Der Höhere SS- und Polizeiführer Nord. Sipo/SD. Tätigkeitsberichte/Tagesrapporte Juli 1940–Mai 1941. Behälter 1: Tätigkeitsbericht Nr. 51 des Befehlshabers der Sicherheitspolizei und des SD in Oslo vom 2. April 1941, Geschäftszeichen IV C 3 – B. Nr. 455/41g. 330 RA, S-1725 DaI Behälter 396, Vernehmung von John Julius Meieranowski in Kjesäter am 21. November 1942. 331 Die Ereignisse werden ausführlich geschildert in Terje Emberlands Artikel „Norrønamannen Alf Maria Amble“, in Fortid Nr. 2, 2005.

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Vor einiger Zeit kam ich morgens an einem Geschäft in Tollbodgaten vorbei. Das Schaufenster war von oben bis unten mit Plakaten beklebt, die über einen Konflikt in der Firma informierten. Draußen stand ein Jude und verteilte ähnliche Plakate. Ich glaube nicht, dass dagegen das Strafgesetz angewendet wurde, und ebensowenig, dass Arbeiderbladet etwas über Beschmutzung fremden Eigentums geschrieben hat. Damit keine Missverständnisse aufkommen, will ich gleich sagen, dass ich alles verdamme, was Judenverfolgung heißt. Aber ich fühle mich gemüßigt, den hohen Herren im Haus des Volkes mitzuteilen, dass Juden nicht höher über dem Strafgesetz stehen als Norweger, weder bei Verfolgung noch beim Plakatekleben.332

Die Aktion im Dezember 1938 war nicht Nasjonal Samling geschuldet. Gleiches gilt für eine antijüdische Aktion im März 1939, als Jugendliche aus der Minipartei Norges Nasjonalsocialistiske Arbeiderparti gezielt ein Geschäft in der Straße Ullevålsveien in Oslo angriffen. Sie klebten ein Plakat mit einem Text ans Fenster: „Dies war eine Aufforderung, nur in norwegischen Geschäften einzukaufen.“ Darunter standen das Hakenkreuz, mehrere Zeichen „N.S.“ und die Karikatur eines Juden. In den folgenden Nächten wurden auch andere Geschäfte beschmiert.333 Die Aktionen fielen dem Ermittlungsdienst des Osloer Polizeipräsidiums auf, der sie als möglicherweise von Nazi-Deutschland ausgehende Provokationen deutete. Dieser Ermittlungsdienst war praktisch der im Entstehen begriffene polizeiliche Geheimdienst, der schon 1935 die Kontrolle revolutionärer Bestrebungen „kommunistischer oder faschistischer Art“ in Norwegen verstärkt hatte.334 Schon kurze Zeit nach der Besetzung des Landes wurden die ersten antisemitischen Schmierereien auf den Schaufenstern jüdischer Geschäfte gemeldet. Nasjonal Samling profitierte davon nicht, wohl aber der Widerstand. Die Polizei wurde gebeten zu verhindern, dass dergleichen sich wiederholte. Im Oktober versandte Polizeiminister Jonas Lie ein Rundschreiben zu der Sache: In einem Einzelfall ist es vorgekommen, dass einem Geschäft, dessen Inhaber jüdischer Herkunft ist, die Fenster mit der Aufschrift ,Jude‘ bemalt wurden. Aus diesem Anlass werden die Polizeidirektionen ersucht, darauf zu achten, dass dergleichen nicht vorkommt und dass man, falls es doch geschieht, dafür sorgt, dass die Aufschriften sofort entfernt und Ermittlungen aufgenommen werden.335

332 Aftenposten vom 7. Dezember 1938. 333 Aftenposten vom 29. März 1939: „Drei junge Plakatkleber erwischt“. 334 NHM 8 F-8d 0007, Mappe 4, Rundschreiben des Ermittlungsdienstes des Polizeipräsidiums Oslo an die Polizeibehörden des Landes vom April 1935. 335 Zitiert nach Klungnes (1995), S. 139.

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Der Hird ließ sich also vom Schreiben des Polizeiministeriums nicht aufhalten. Niemand wurde für die Aktion vom März 1939 festgenommen oder bestraft. Aber das bedeutete nicht, dass die Zivilbevölkerung mit diesen Handlungen sympathisierte. Im Gegenteil. In der Nacht zum 2. Juli 1941, nur zehn Tage nach der Invasion der Sowjetunion, gingen Hird-Leute gegen jüdische Geschäfte vor. Die deutsche Sicherheitspolizei berichtete nach Berlin, diese Aktion sei zweifellos gegen „jüdisch-kommunistische Kreise in Oslo“ gerichtet gewesen. Aus dem Bericht ging aber auch hervor, dass die Führung von Nasjonal Samling solche Aktionen nicht gern sah, denn die Partei hatte in einer Pressemeldung betont, „daß Einzelaktionen politischen Charakters verboten sind“.336 Diese Pressemeldung brachten die Zeitungen schon am Tag nach den Aktionen. Ergänzend hieß es da, dass Aktionen, „die außerhalb der gewöhnlichen Arbeit der Bewegung liegen, verboten sind“. Und weiter: „Jedes NS-Mitglied muss sich dessen bewusst sein, dass die Partei nach seinem Auftreten beurteilt wird.“ Aftenposten druckte die Pressemeldung auf der Titelseite. Es war ein Versuch, den Abscheu zu dämpfen, auf den die Aktionen stießen, und vor allem zu verhindern, dass die Parteiführung und Quisling selbst mit dem, was die Hird-Männer taten, in Verbindung gebracht wurden. Die Einzelaktionen waren also für die Partei eine Belastung geworden. Als der Hird das nächste Mal gegen Juden in Oslo auftrat, im Herbst 1942, geschah das unter Kontrolle der Staatspolizei und in Kooperation mit ihr und dem Quisling-Regime. An anderen Orten machte der Hird unbeeindruckt weiterhin, was er wollte. In Larvik wurden in der Nacht zum 26. April 1942 die Geschäftsschaufenster der Familie Sachnowitz eingeworfen. Die Sache wurde nicht aufgeklärt; es blieb bei der lapidaren Mitteilung „Die Polizei ermittelt“.337 In der Nacht zum 27. August wurden Läden der Familie Sachnowitz noch einmal angegriffen, diesmal aber auch Schaufenster von Geschäften, die bekannten Regimegegnern gehörten. Die Fenster von Dressmagasinet, einem großen Bekleidungsfachgeschäft, wurden mit den Worten „Die Juden sind schuld am Krieg“ beschmiert.338 Was außerhalb Oslos geschah, wurde weniger beachtet, und Direktiven der Parteileitung wurden offenbar nicht immer genau befolgt. Die norwegische Bürokratie und besonders die Polizei wurden schon kurz nach der Invasion, als die Radioapparate der Juden beschlagnahmt und den jüdischen 336 RA, RK, Der Höhere SS- und Polizeiführer Nord. Sipo/SD. Tätigkeitsberichte/Tagesrapporte Juli–Oktober 1941. Behälter 2: Tagesbericht Nr. 2 des Befehlshabers der Sicherheitspolizei und des SD in Oslo vom 2. Juli 1941. Geschäftszeichen IV C 3 – B. Nr. 455/41g. 337 Nyhus (1990), S. 37. 338 Ebd. S. 153.

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Gemeinden Mitgliederlisten abverlangt wurden, in die antijüdische Politik einbezogen. Diese Kooperation in der Anfangszeit erstreckte sich auf Institutionen, die schon Teil der norwegischen Staatsbürokratie waren. Mit der Ernennung der kommissarischen Minister am 25. September 1940 wurde die politische Richtung deutlicher. Die Staatsorgane sollten möglichst weit nazifiziert werden. Zuerst betraf das die Polizei; aber auch die Ministerien und andere wichtige Institutionen, wie die Kirche (als Staatskirche), das Schulwesen und die Universität, sahen sich zunehmendem Druck ausgesetzt. Ragnar Skancke, geboren 1890, seit 1923 Professor für Elektrotechnik an der Technischen Hochschule in Trondheim, war einer der neuen Minister. Er war schon 1933 Nasjonal Samling beigetreten. Im April 1940 gehörte er als Arbeitsminister zu der nach Quislings Staatsstreich gebildeten kurzlebigen Regierung. Am 25. September wurde er Minister für Kirche und Unterricht. Damit hatte er eine wichtige Position inne, denn NS legte großen Wert auf die Nazifizierung der Schulen und der Kirche.339 Skancke war der erste NS-Minister, der einen speziell gegen Juden gerichteten Gesetzesentwurf vorlegte. Am 13. Juni 1941 sandte er an den Osloer Bischof Berggrav einen Vorschlag über Eheverbote. Ausgearbeitet war dieser von Sigmund Feyling, seit Februar 1941 Ministerialdirektor im Kirchenministerium. Feyling, 1895 geboren, hatte früher den Bezirk Stavanger der Israelmission geleitet. In den dreißiger Jahren hatte er sich kritisch geäußert zu Nazi-Deutschlands Versuch, die Kirchen zu kontrollieren. Es entbehrt daher nicht einer gewissen Ironie, dass er nun in Norwegen genau dies versuchte.340 In dem Brief an Bischof Berggrav ging es nicht nur um etwaige Eheverbote aus rassischen Gründen, sondern auch um weitere Veränderungen des Ehegesetzes. In den Paragraphen 1 dieses aus dem Jahr 1918 stammenden Gesetzes wollte der Minister den folgenden Satz einfügen: „Norwegische Staatsbürger dürfen nicht die Ehe eingehen mit Personen, die in drei Generationen samischer oder jüdischer Herkunft sind.“341 In Deutschland war die Eheschließung zwischen Juden und Deutschen durch das Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre vom 15. September 1935 verboten worden. Den Begriff Jude definierte die Erste Verordnung zum Reichsbürgersetz vom 14. November 1935. Die Definition beruhte auf dem Zweigenerationenprinzip. Der Vorschlag des norwegischen Kirchenministeriums 339 Biographische Angaben nach Dahl et al. (1995), S. 381 f. 340 Ebd. S. 102. 341 RA, Kirchen- und Unterrichtsministerium, Kopiebuch vom Juni 1941: Konzept eines Briefes von Minister Skancke an Bischof Berggrav vom 13. Juni 1941, Geschäftszeichen 2772A.

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war also strenger als das deutsche Gesetz.342 Der Vorschlag war zweifellos primitiv und nicht durchdacht. Ohne eine Definition der Begriffe Jude und Same war er von vornherein nicht praktikabel. Außerdem besagte der Wortlaut, dass die Eheschließung zwischen norwegischen Staatsbürgern einerseits und Juden und Samen andererseits verboten werden sollte. Mit anderen Worten: Juden und Samen – als juristisch definierten Gruppen – musste die norwegische Staatsbürgerschaft aberkannt werden. Juristisch war die Problematik also komplizierter, als Skancke und Feyling offenbar meinten. Es ist aber kaum vorstellbar, dass die beiden so naiv waren. Daher spricht vieles dafür, dass der Vorschlag in Wirklichkeit darauf abzielte, die grundsätzliche Haltung des Bischofs zur „Judenfrage“ auszuloten. Am 9. September 1941 erhielt das Ministerium Bischof Berggravs Antwort. Aus ihr geht hervor, dass er die Angelegenheit mit den anderen Bischöfen diskutiert hatte: Die grundsätzliche Haltung der Kirche zu Eheverboten aus rein rassischen Gründen ergibt sich aus dem christlichen Menschenbild und der christlichen Vorstellung von der Einheit des Menschengeschlechts. Menschen aller Rassen kommt die gleiche Menschenwürde zu (siehe zum Beispiel Galaterbrief 3,28). Rassenbiologische oder „eugenische“ Theorien oder rassenbiologische Verfügungen, die einzelnen Völkern oder Rassen diese Menschenwürde aberkennen oder mit dieser Einheit brechen, stehen zur Grundhaltung der Kirche in offensichtlichem Widerspruch. […] Juden mosaischen Glaubens gehen äußerst selten mit Norwegern die Ehe ein. Aus christlicher Sicht müssen wir auch gegen ein Verbot dieser Fälle protestieren, aber mehr noch gegen den Versuch, norwegische Staatsbürger, die etwas jüdisches Blut in ihren Adern haben, allgemein mit einem Pariastempel als minderwertige Menschen zu versehen. Unser Volk ist von dieser christlichen und menschlichen Sicht durchdrungen, und die Kirche spricht im Namen des norwegischen Volkes, wenn sie gegen den Vorschlag des Verbots der Ehe mit Juden protestiert.343

Skancke und Feyling gaben nun weitere Vorstöße auf. Die Frage der Ehe zwischen Norwegern und Personen mit „jüdischem Blut“ wurde indes mit dem Gesetz zur Meldepflicht von Juden vom 17. November 1942 in gewisser Weise wieder aktu-

342 Zu den Texten der deutschen Gesetze siehe Mendelsohn und Detwiler (1982), Bd. 1, S. 23 ff. Siehe auch Kapitel 5, wo die Gesetze genauer behandelt werden. 343 Bischof Berggravs Antwort ist abgedruckt in Kirkelig Hvitbok [Kirchliches Weißbuch], redigiert vom Sigmund Feyling, Ministerialdirektor im Kirchen- und Unterrichtsministerium, S. 121 ff. Die Antwort trägt folgende Überschrift: „Der Osloer Bischof glaubt im Namen des norwegischen Volkes zu sprechen, wenn er gegen den Vorschlag des Verbots der Eheschließung mit Juden protestiert.“

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ell.344 Inoffiziell versuchte man aber, Juden von gewissen Berufen fernzuhalten. Vor allem galt das für Künstler, Ärzte und Juristen. Den jüdischen Ärzten, die vor dem Krieg als Flüchtlinge nach Norwegen kamen, wurde auf deutschen Druck recht bald, im November 1940, die Zulassung entzogen. Das Reichskommissariat behauptete, jüdische Ärzte könnten Hetzpropaganda gegen Deutschland betreiben. Verhandlungsführer war Dr. Schiedermair, Terbovens juristischer Experte, Leiter der Rechtsabteilung in der Hauptabteilung Verwaltung des Reichskommissariats.345 Auch jüdische Künstler suchte man auszuschalten. Den Geiger und Konzertmeister Ernst Glaser, gegen den sich die Aktion in Bergen im Februar 1941 richtete, versuchte Terboven persönlich aus dem norwegischen Musikleben zu entfernen. Das erfuhr im Kulturministerium sofort der Komponist Geirr Tveitt, der von der NS-Führung zum „Staatlichen Musiksachverständigen“ ernannt worden war. Er informierte gleich Christian Schou, den Leiter der Philharmonie, und den Kapellmeister Olav Kielland. Beide drohten mit ihrem Rücktritt, falls Glaser gezwungen würde abzutreten. Tveitt bat um eine Unterredung mit Müller-Scheld, einem der im Reichskommissariat für Kulturfragen Zuständigen. Schon am Telefon bekam er die Antwort, dass „ein Jude keine öffentliche Stelle in Norwegen bekleiden kann“. Die Beteiligten setzten sich dennoch weiter für Glaser ein, und einige Tage später erhielten sie den Bescheid, dass er seine Stelle vorläufig behalten könne.346 Es hatte sich also gelohnt, Widerstand zu leisten. Glaser war ein hochangesehener Musiker; führende Personen im norwegischen Kulturleben unterstützten ihn. Für andere war die Situation schwieriger. Axel Scheer, ein Geiger im Orchester des Nationaltheaters, verlor im Sommer 1941 seine Stelle.347 Zakken Hurwitz, Gaukler, Zauberkünstler und Clown mit dem Künstlernamen Ben Hur, bekam im Sommer 1941 Auftrittsverbot. Er erhob Einspruch sowohl bei der Kulturabteilung des Reichskommissariats als auch bei der neuerrichteten staatlichen Theaterdirektion. Das Reichskommissariat antwortete lapidar, er könne „aus grundsätzlichen Erwägungen“ keine Zulassung bekommen. Die Theaterdirektion drückte sich deutlicher aus: „Nur Personen arischer Abstammung

344 Die Bürokratie sah das in Verbindung mit diesem Gesetz errichtete Archiv als ein Instrument, das man zur Vermeidung von Eheschließungen mit Personen „jüdischen Blutes“ und damit der Rassenmischung konsultieren konnte. Ein juristisch bindendes Verbot wurde aber nicht eingeführt. Näheres in Kapitel 9. 345 Hem und Børdahl (2001), S. 3571 f. Schiedermair hatte Besprechungen mit dem Leiter der zentralen norwegischen Gesundheitsbehörde und mit dem Sozialministerium. 346 Hurum (1946), S. 60 f. Tveit kündigte übrigens 1942 sein Amt als Staatlicher Musiksachverständiger. 347 Siehe Berman (2008).

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können eine Arbeitserlaubnis als Artisten erhalten.“348 Manchmal ging es auch dramatischer zu. Die aus Deutschland stammende und teilweise jüdische Sängerin Lilly Schneider wurde im Mai 1942 plötzlich zur Victoria Terrasse bestellt, dem Osloer Gestapo-Hauptquartier. Dort wurde ihr mitgeteilt, sie könne nicht mehr auftreten, weil sie Jüdin sei. Natürlich war es ein Schock, zur Gestapo gehen zu müssen.349 Einige Künstler wurden von der deutschen Sicherheitspolizei nach „jüdischem Hintergrund“ befragt. Das widerfuhr dem Komponisten und Musiker Sverre Jordan in Bergen, dessen Nachname der Gestapo aufgefallen war. Die Sache wurde geklärt, indem Jordan ein gedrucktes Familienbuch vorlegte, dessen Richtigkeit die Stadtverwaltung bestätigte.350 Die meisten jüdischen Rechtsanwälte verloren im September 1941 ihre Zulassung. Das hatte Justizminister Sverre Riisnæs veranlasst. Er verfügte, dass alle Anwälte, die nach dem Nürnberg-Prinzip „Volljuden“ waren – dazu gehörten auch die „Dreivierteljuden“ – ihren Beruf nicht mehr ausüben durften. Der Beschluss wurde nicht veröffentlicht. Nasjonal Samlings Juristengruppe wurde beauftragt, Übersichten über jüdische Rechtsanwälte einzureichen.351 In dem Brief an einen der Betroffenen hieß es: „Als Jude sind Sie des Vertrauens und der Achtung unwürdig, die Ihre Stellung erfordert.“352 Aber es gelang dem Ministerium nicht, alle aufzuspüren. Leon Jarner, der eine Kanzlei in Oslo hatte, war weiterhin als Anwalt tätig. Er warb genau an dem Tag mit einer Zeitungsanzeige für sich, an dem die Bekanntmachung über das Stempeln der Personalausweise der Juden veröffentlicht wurde (siehe Kapitel 5). Etwas später, im Oktober 1941, ging Riisnæs einen Schritt weiter. Es sollte eine Übersicht über alle jüdischen Immobilien in Norwegen erstellt werden. Ein Rundschreiben an die Fylkesmenn, die „Regierungspräsidenten“ der Bezirke, lautete so: Das Justizministerium ersucht Sie zu veranlassen, dass alle Katasterämter im Bezirk baldmöglichst eine vollständige Übersicht über alle Immobilien hierher einsenden, die im Besitz von Personen jüdischer Abstammung sind. Zu diesen zählen 348 JMO, Privatarchiv Zakken Hurwitz. Brief des Reichskommissars, Kulturabteilung, an Hurwitz vom 24. Juli 1941 und Brief des Staatlichen Theaterdirektorats vom 11. September 1941. 349 RA, S-1725 DaI Behälter 397, Vernehmung von Lilly Schneider in Kjesäter am 8. Dezember 1942. 350 Jordan (1973), S. 170 f. Jordans Name tauchte aber wieder auf, als Terboven nach der Zerstörung Telavågs Geiseln nehmen wollte. 351 Mendelsohn (1986), S. 47 f. und 561. 352 Der Brief ist abgedruckt bei Ottosen (1994), S. 39.

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1. Mitglieder jüdischer Glaubensgemeinschaften, 2. Personen, deren Name jüdische Abstammung verrät, 3. Personen, von denen Ihre Angestellten wissen, dass sie jüdischer Abstammung sind. Unter den Begriff fallen in diesem Zusammenhang auch Halbjuden (Personen mit zwei jüdischen Großelternteilen). Etwaige Untersuchungen bitte ich so diskret wie möglich durchzuführen. Das Ministerium erwartet nicht, eine ganz zuverlässige und vollständige Liste zu erhalten.353

Hier werden die Konturen der ersten – noch primitiven – Definition des Begriffs Jude in Norwegen erkennbar. Die Antworten auf Riisnæs’ Aufforderung trafen verzögert ein, und nur in wenigen Briefen waren jüdische Immobilien genannt.354 Einige Fylkesmenn verfuhren nach dem von Riisnæs unter 2. und 3. angedeuteten Prinzip der Vermutung und des Hörensagens; so hieß es in einem der Berichte: „Man weiß nicht, ob er jüdischer Abstammung ist, aber so wird gesagt.“355 Alles in allem hatte das Rundschreiben keine praktische Bedeutung. Das heißt, dass die Antworten kaum benutzt wurden. In der Vorbereitung der Liquidierung jüdischen Besitzes im November 1942 deutet nichts darauf hin, dass man bei der Registrierung der Immobilien auf diese Antworten zurückgriff. Bei der Ernennung von Vidkun Quisling zum Staatsoberhaupt, mit dem deutschen Titel Ministerpräsident, wurde seine Rede als staatsrechtliches Dokument im Norwegischen Gesetzesblatt veröffentlicht. Die Botschaft war unverändert: Der materialistische Individualismus und Liberalismus und der importierte jüdische Geist haben die Grundlage des Volkes verdorben und als Vorbereitung und Vorläufer des Bolschewismus gewirkt. Den Rest besorgte die englische Propaganda. Alle diese Lebenslügen führten zum Zusammenbruch der alten Gesellschaft und vergiften noch immer den Geist vieler Landsleute.356

353 RA, L-sak Riisnæs, „Justisministerens kontor. Eiendommer tilhørende jøder“ [Büro des Justizministers. Immobilien im Besitz von Juden]. Rundschreiben von Justizminister Riisnæs an die Fylkesmenn vom 2. Oktober 1941. Geschäftszeichen 794/41.s. 354 Ebd. 355 Zitiert nach Johansen (2007), S. 50. 356 Kunngjøring til det norske folk! [Bekanntmachung an das norwegische Volk]. Bekanntgemacht am 6. Februar 1942 im Gesetzesblatt 1 Nr. 7 für 1942.

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WIEDEREINFÜHRUNG DES VERBOTS JÜDISCHER EINWANDERUNG Bis zum 25. Februar 1943, als der letzte große Transport mit 158 Juden an Bord des Schiffes Gotenland den Osloer Hafen verließ, hatte das Quisling-Regime nur vier gegen Juden gerichtete Maßnahmen verfügt: eine Bekanntmachung zum Stempeln der Personalausweise von Juden, zwei Gesetze (Gesetz zur Einziehung jüdischer Vermögen, Gesetz zur Meldepflicht für Juden) und die Wiederinkraftsetzung jenes Teils des Grundgesetzparagraphen 2 von 1814, der Juden die Einreise nach Norwegen verbot. Während die Bekanntmachung und die beiden Gesetze große funktionelle Bedeutung hatten, indem sie den Zugriff der Täter auf die Juden verschärften, bedeutete die Grundgesetzänderung vom 12. März 1942 in der Praxis wenig. Die propagandistische Wirkung ist dagegen nicht zu unterschätzen. Mit der Wiedereinführung dieses Paragraphphen wollte das Regime den Antisemitismus, wie er in Nasjonal Samlings und deutscher Propaganda zum Ausdruck kam, mit der norwegischen Geschichte verknüpfen. Der Rückgriff auf 1814 wurde dargestellt als Erfüllung eines Wunsches, eine seither verlorengegangene norwegische „Rassenbewusstheit“ wiederherzustellen. Für die Besatzungsmacht bedeutete der Beschluss, dass das Quisling-Regime eine klare antijüdische Linie verfolgte. Das sollte sich im Herbst des Jahres als wichtig erweisen. Zugleich war die propagandistische Bedeutung auch für das Regime selbst groß. Es vergewisserte sich selbst, dass es die Geschichte der Nation auf seiner Seite hatte. Der Gedanke, den sogenannten Judenparagraphen wieder einzuführen, war nicht neu. Am 5. Mai 1925 druckte Aftenposten ein Interview mit der Autorin, Theologin und Vorkämpferin für Frauenrechte Martha Steinsvik. Unter der Überschrift „Juden und Jesuiten“ erklärte sie, dass die Juden hinter dem vier Jahre hindurch wütenden Weltkrieg gestanden und 1919 beim Frieden von Versailles Regie geführt hätten. Am allerwichtigsten sei ihre Rolle bei der Revolution in Russland gewesen. „90 Prozent von allen, die jetzt in Russland führende Stellen innehaben, sind Juden“, stellte sie fest. Ebenso hart urteilte sie über Jesuiten; sie unterstrich, der legendäre britische Ministerpräsident Benjamin Disraeli habe selbst gesagt, die ersten Jesuiten seien Juden gewesen. Steinsvik will nun zu der ursprünglichen Vorstellung der Verfassungsväter von 1814 zurück: Ich möchte mit anderen Worten unser Grundgesetz im Geiste der Männer von Eidsvoll so verändert haben: ‚Juden (ausgenommen die, die schon norwegische Staatsbürger sind), Jesuiten und Bolschewiken werden im Reich nicht geduldet.‘

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1933 wurde die Partei Nasjonal Samling gegründet. Anfangs spielte „die Judenfrage“ für sie kaum eine Rolle, aber das änderte sich allmählich. Zwei der einflussreichsten Parteimitglieder, Professor Herman Harris Aall und der beim Obersten Gericht zugelassene Rechtsanwalt Johan Bernhard Hjort, arbeiteten von Herbst 1934 bis Sommer 1935 den Entwurf zu einem neuen Grundgesetz aus. Dessen Hauptgedanke war, die Macht des Stortings, also des Parlaments, zu begrenzen und als Gegengewicht ein „Reichsting“ nach faschistischem Muster zu etablieren. Außerdem schlug Hjort die Wiedereinführung des Judenparagraphen vor. In diesem Zusammenhang behauptete er, es habe nichts mit religiöser Intoleranz zu tun, dass die Männer von Eidsvoll Juden ausgeschlossen hätten. „Sie auszuschließen hatte nationale, nicht religiöse Gründe“, schreibt Hjorts Biograph Figueiredo.357 Das klingt ganz ähnlich wie das, was Quisling und sein Propagandaapparat während des Krieges äußerten. Es gibt dennoch einen offenkundigen Unterschied. Für Quisling ging es um einen Kampf zwischen „Ariern und Judenmacht“, wie er oft formulierte, so z.B. in der erwähnten Rede bei der Eröffnung des Instituts zur Erforschung der Judenfrage in Frankfurt am Main im März 1941 (vgl. oben S. 160 f.). In seinen Augen war „der jüdische Einfluss“ in Norwegen trotz der geringen Zahl der Juden sehr groß. Dennoch plädierte er in der Rede nicht ausdrücklich für die Wiedereinführung des 1851 aufgehobenen Einreiseverbots für Juden. Es ging ihm mehr um eine „Lösung des ewigen Problems der Juden“, wie er sich ausdrückte. Seine Antwort: „Dazu bedarf es also zu allererst einer nicht nur nationalen, sondern einer internationalen, in diesem Falle europäischen Judengesetzgebung.“358 Vielleicht hinderte ihn seine Position in dem von Reichskommissar Terboven eingeführten Regime an weitergehenden Erklärungen. Seine politische Macht in Norwegen war immer noch nicht gesichert. Nasjonal Samling war zwar die einzige zugelassene Partei im Land, und es waren norwegische Minister ernannt worden, von denen die meisten prominente NS-Mitglieder waren, aber formal waren sie nur dem deutschen Reichskommissar berichtspflichtig, wenngleich dieser sich einmal in der Woche mit dem NS-Führer besprach. Ursprünglich war Quisling kein besonders radikaler Antisemit. Als solcher offenbarte er sich erst bei einer internen Parteikonferenz im Herbst 1935. Da behauptete er, der Kapitalismus sei ebenso wie der Kommunismus von Juden gelenkt.359 Zu diesem Zeitpunkt, zweieinhalb Jahre nach ihrer Gründung, war die 357 Figueiredo (2002). Zum Grundgesetzentwurf siehe S. 150 ff., konkret zur Wiedereinführung des „Judenparagraphen“ S. 152 f. 358 Quisling (1941), S. 119. 359 Eriksen (2005), S. 415.

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Partei auf dem Weg zur Sekte. Von dem radikal antisemitischen, von dem Architekten Eugen Nielsen360 redigierten Organ Fronten wurde sie dennoch ernst genommen und angegriffen. In dem Blatt wurde gefordert, dass alle Juden, die seit der Aufhebung des Einreiseverbots 1851 nach Norwegen gekommen waren, das Land verlassen sollten.361 Quisling, Steinsvik und andere propagierten eine „Wiedererrichtung“ des ursprünglichen Grundgesetzes unter Hinweis auf die „gesunde“ Haltung der Verfassungsväter von Eidsvoll zu jüdischem Einfluss. Das bedeutete aber nicht, dass das Quisling-Regime das Grundgesetz als Fundament ernst nahm und seinen Idealen zu genügen suchte. Im Gegenteil, Mal für Mal setzte es sich über seine Intentionen hinweg, auch in Gesetzestexten. Es hieß dann, das jeweilige Gesetz sei „ohne Rücksicht auf Bestimmungen des Grundgesetzes“ eingeführt worden.362 Hier ging es um psychologische Kriegführung. Norwegische Historiker haben die Frage, wer letztlich hinter der Wiedereinführung des Judenparagraphen stand, unterschiedlich beantwortet. Oddvar Høidal, einer von Vidkun Quislings Biographen, meint, Quisling habe der deutschen Besatzungsmacht 1942 empfohlen, die Juden auszuweisen.363 Oskar Mendelsohn war sich in seinem großen Werk von 1986 nicht sicher, wer die Wiedereinführung veranlasst hatte,364 und zwar deswegen, weil offensichtlich mehrere Personen und Organe sich gleichzeitig darum bemüht hatten. Rudolf Schiedermair, der juristische Berater des Reichskommissars, hatte die Frage schon Anfang Januar 1942 bei einem Treffen mit den Dienststellen des Reichskommissariats in den einzelnen Landesteilen zur Sprache gebracht. Zwar versicherte er zunächst, „zur Klärung der Judenfrage beabsichtigt das Reichskommissariat keine einschneidenden offiziellen Maßnahmen vorzunehmen“, fügte aber hinzu, man werde dafür sorgen, dass 360 Eugen Nielsen (1884–1963) war ein reicher Architekt; er besaß mehrere Immobilien in Oslo. Seit 1928 betätigte er sich als Antisemit in dem Verlag Antuforlaget. 1932 gründete er Norges Nasjonal-Socialistiske Arbeiderparti. In der Besatzungszeit half er der deutschen Sicherheitspolizei bei der Liquidierung der Vermögenswerte der Freimaurerloge. Nach dem Krieg wurde er festgenommen und wegen Landesverrats angeklagt. 361 Bruknapp (1976), S. 17. 362 So war es z. B. bei dem Gesetz, das die Festnahme und Internierung jüdischer Männer legitimieren sollte: „Gesetz über Zusatz zur vorläufigen Verordnung vom 6. Oktober 1941 über die Anwendung von Sicherungsverwahrung bei Personen, die gewisser Gesetzesverletzungen verdächtigt werden“ vom 24. Oktober 1942. Im ersten Passus heißt es da: „Gemäß § 3, Absatz 2 der Bekanntmachung des Ministerpräsidenten vom 5. Februar 1942 wird ohne Rücksicht auf Bestimmungen des Grundgesetzes Folgendes festgesetzt.“ Das Gesetz wurde am 29. Oktober 1942 im Gesetzesblatt 1 Nr. 55 für 1942 bekanntgemacht. 363 Høidahl (2002), S. 452. 364 Mendelsohn (1986), S. 48 ff.

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Juden aus Stellungen im Staatsdienst entfernt würden und dass man sich weiterhin bemühen werde, § 2 des Grundgesetzes „wieder aufleben zu lassen, wonach den Juden Aufenthalt in Norwegen verboten ist“.365 Die kurze Passage in Schiedermairs Rede auf jener Konferenz ist übrigens einer der ganz wenigen Belege für die Intentionen, die die deutsche Besatzungsmacht mit antijüdischer Gesetzgebung in Norwegen verfolgte. Schiedermair war mit der deutschen Rassengesetzgebung gut vertraut; 1938 hatte er das Buch Rassen- und Erbpflege in der Gesetzgebung des Reiches herausgegeben, das bis 1944 fünf Auflagen erlebte.366 Schiedermair hatte guten Kontakt zu Justizminister Sverre Riisnæs. Dieser wollte, dass es in „der Judenfrage“ voranging. Sein Biograph Nils Johan Ringdal sagt das so: „Der Antisemitismus wurde […] zu einem durchgängigen Thema seiner politischen Tätigkeit.“367 Aber nur wenige Maßnahmen fielen in die Verantwortung seines Ministeriums. Wie erwähnt sorgte er immerhin dafür, dass jüdische Anwälte ihre Zulassung verloren und dass Juden, die Immobilien besaßen, registriert wurden. In einem weiteren Rundschreiben hatte er veranlasst, dass Juden nicht mehr auf Wunsch ihren Nachnamen ändern konnten.368 Riisnæs ist die zweite Person, die „die Ehre“ beanspruchen kann, den Judenparagraphen wieder eingeführt zu haben. Die Initiative dazu ergriff er im Oktober 1941 in einem Brief an den am Obersten Gericht amtierenden Richter Arnvid Vassbotten.369 Ursprünglich wollte er den Grundgesetztext noch dahingehend erweitern, dass Juden der Besitz von Grund und Boden in Norwegen verboten werden sollte. Er sah die Rasse in enger Beziehung zur Erde, fast im Sinne eines „Blutbandes“.370 Vassbotten wurde beauftragt, den Wortlaut für die Wiedereinfüh365 RA, RK 1940–1945, Hauptabteilung Volkswirtschaft, Allgemeine Abteilung (Zentralabteilung). Korrespondenz und Manuskripte usw., Paket 7, Abschrift einer Notiz mit dem Titel „Vermerk über die Besprechung der Hauptabteilung Verwaltung mit den Dienststellenvertretern am Freitag, dem 9. Januar 1942“. 366 Schiedermair war 1909 in München geboren. Er wurde nach dem Krieg in Norwegen vor Gericht gestellt, und die Anklagebehörde verlangte die Todesstrafe, doch Schiedermair wurde freigesprochen, weil ihm nicht nachgewiesen werden konnte, dass er in seiner Eigenschaft als Richter am SS-Sondergericht in Norwegen Kriegsverbrechen begangen hatte. Er wurde später Honorarprofessor an der Universität Würzburg und Leiter des dortigen Verwaltungsgerichts. 1963 wurde er zunächst suspendiert, aber später als Richter „in Ehren“ entlassen. Er starb 1991. 367 Ringdal (1991). S. 104. 368 Ebd. S. 103–105. 369 Ebd. S. 105. Vassbotten war 1904 in Florø geboren. Er wurde 1940 zum Ministerialrat im Justizministerium ernannt und war von 1941 bis 1944 Richter am Obersten Gericht. 1944 wuude er Innenminister in Quislings Regierung. Er starb 1985 (Angaben nach Store norske leksikon). 370 Ringdal (191), S. 105.

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rung des Judenparagraphen zu formulieren und das erforderliche Pressematerial auszuarbeiten.371 Es ist denkbar, dass die Initiative – wie Mendelsohn und Ringdal meinen – entweder von deutscher oder von norwegischer Seite ausging. Die eigentliche Erklärung ist aber vermutlich das enge Verhältnis der erwähnten Akteure zueinander. In einem Schreiben an das Osloer Polizeipräsidium gab Schiedermair nach dem Krieg zu, er habe zu Vassbotten und Riisnæs engen Kontakt gehabt.372 Die Frage wurde offenbar unter den dreien besprochen, ebenso die endgültige Formulierung des Gesetzestextes. Ganz sicher ist, dass es ohne Quislings Zustimmung (im Namen der Partei) und ohne das Einverständnis Terbovens keine Änderung des Grundgesetzes gegeben hätte. Das neue „Gesetzesgebot“ des Ministerpräsidenten lautete in seiner offiziellen Form folgendermaßen: Grundgesetzbestimmung In den § 2 des Grundgesetzes wird in Absatz 2 das am 21. Juli 1851 aufgehobene Verbot mit folgendem Wortlaut wieder aufgenommen. Juden sind vom Zutritt zum Reich ausgeschlossen. Oslo, 12. März 1942. Quisling Ministerpräsident

Sverre Riisnæs

R. J. Fuglesang

Das in der ursprünglichen Fassung des Grundgesetzes enthaltene Wort weiterhin war weggelassen. Am 20. Januar 1942, also noch vor der Ernennung Quislings zum Ministerpräsidenten, hatte das von Jonas Lie geleitete Polizeiministerium in den Zeitungen eine Bekanntmachung zur Stempelung der Personalausweise von Juden veröffentlicht. Das war vor dem Herbst 1942 die wichtigste antijüdische Maßnahme; sie lief auf die Registrierung aller Juden hinaus. Wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, wollte die Besatzungsmacht diese Registrierung nicht groß herausstellen, was taktisch und psychologisch von großer Bedeutung war. Im Unterschied dazu wollte sie aber – ebenso wie das Quisling-Regime – die 371 Mendelsohn (1986), S. 49. 372 NHM 8 F 8 C, Behälter 7, Mappe 8. Abschrift einer eigenhändig niedergeschriebenen Erklärung von Rudolf Schiedermair an die Kriminalabteilung der Osloer Polizei vom 24. Mai 1948.

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Wideraufnahme des Judenpassus ins Grundgesetz als deutliches Signal verstanden wissen. Schon am 14. März, zwei Tage nachdem Quisling das Gesetz unterzeichnet hatte, meldeten die Zeitungen dies in großer Aufmachung. Riisnæs hatte den Auftrag erhalten, die Änderung in einer Rede bekanntzumachen, und er zögerte nicht, die Symbolkraft des Grundgesetzes zu nutzen: Zur Zeit der Verfassungsväter von Eidsvoll besaßen wir noch unsere nordische Lebensanschauung. Unser Volk wusste: Eine der ersten Pflichten eines Volkes, das sein Lebensrecht behaupten will, ist dies: das Blut des Volkes zu schützen. Der gesunde, rassenbewusste Gedanke stimmt auch mit Nasjonal Samlings ideologischem Standpunkt überein. Umso mehr war Vidkun Quisling daran gelegen, die Grundgesetzbestimmung zu restituieren, da das Judentum heute ein ungleich gefährlicherer Feind für unseren Stamm ist als zu der Zeit, da das Grundgesetz beschlossen wurde.373

Aftenpostens Leitartikel zum Thema war schlicht „Paragraph 2“ überschrieben. Auch er appellierte stark an die Liebe der Norweger zum Grundgesetz und brachte sie in Verbindung mit der aktuellen Situation in Norwegen und dem Weltkrieg allgemein, der jetzt in Europa wüte. Um etwaigen Einwänden zu begegnen, dass es in Norwegen ja nur wenige Juden gebe, machte der Kommentator den Lesern den wahren jüdischen Einfluss klar: „Nicht die Zahl jüdischer Individuen ist entscheidend. In Sowjetrussland machen die Juden nicht mehr als 1,7 Prozent der Bevölkerung aus, aber sie haben die ganze politische Macht in Händen.“ Und dann kam die Schlussfolgerung, der Kern von Nasjonal Samlings antisemitischer Propaganda während des Krieges: „Der Judengeist ist das eigentliche Judenproblem, er ist der unversöhnliche Feind des nordischen Menschen.“ Eine versteckte Drohung war auch dabei: „Wenn wir die unserem Volk drohende Gefahr kennen und wissen, woher sie kommt, so werden wir ihr jedenfalls mit den passenden Mitteln zu begegnen wissen.“ Die Wiedereinführung des Judenparagraphen, so hieß es abschließend, sei „ein wichtiger Schritt bei unserem Wiedererstehen.“ War dieser Kommentar Aftenpostens noch vergleichsweise subtile Propaganda, so war Fritt Folks Leitartikel mit dem Titel „Norwegen für Norweger!“ deutlicher der antisemitischen Rhetorik der Partei angepasst. „Für so gut wie alle Männer von Eidsvoll war es völlig einleuchtend, dass Juden (und Jesuiten) im Reich nichts zu suchen hätten.“ Nikolai Wergeland, der Vater des Dichters Henrik Wergeland, wurde so zitiert: „Ein wahrer Jude kann nie ein wahrer Norweger werden.“ Der 373 Aftenposten vom 14. März 1942, Titelseite: „Grundgesetz § 2 wieder in seiner ursprünglichen Form“.

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letzte Abschnitt fasste die Bedeutung der Wiedereinführung für die aktuelle Situation zusammen und verwies auf Quislings Rede auf der Tagung in Frankfurt: Heute sind die Ideale für Norweger wieder Norwegen und das, was norwegisch ist. Der wirklichen Humanität hat der Führer des neuen Norwegen Ausdruck gegeben. Norwegen für Norweger, das ist sein Wille. Aber zugleich sei auch daran erinnert, dass er vor einem Jahr auf einer großen Tagung in Deutschland eine gemeinsame europäische Judengesetzgebung vorschlug, damit man eines Tages das orientalische Unwesen in Europa loswerden kann – zum Wohl der kommenden Geschlechter und zum Wohl der Juden selbst.374

Auf einer Ebene muss man feststellen, dass Aftenpostens Leitartikel krasser ist als der in Fritt Folk: Die versteckte Drohung, man müsse sich gegen „den Judengeist“ zur Wehr setzen, kommt stärker zum Ausdruck. In allen größeren, in den Städten erscheinenden Zeitungen wurde die Wiedereinführung ausführlich behandelt. Aber auch die kleinen Bezirks- und Lokalzeitungen brachten die Meldung der Nachrichtenagentur NTB bald nachdem Quisling die Neuregelung unterzeichnet hatte. In Norlandir, einer Halbjahresschrift für deutsche Leser, hieß es kurz, Quisling habe „in Erkenntnis der ungeheuren Wichtigkeit der Lösung der jüdischen Frage auch für Norwegen“ den Paragraphen wieder eingeführt.375 Das NS-Monatsheft würdigte die Wiedereinführung in einem längeren Artikel, der das Aprilheft des Blattes einleitete. Unter dem Titel „Die Stellung heute“ wurde der Einfluss der Juden allgemein in pathetischen Worten überhöht. Jesu Tod sei „der erste grobe Justizmord unserer Zeitrechnung“. Der Artikel war, historisch gesehen, eine Zusammenfassung der Phantasien in den Protokollen der Weisen von Zion. Die verborgene jüdische Macht sollte herausgestellt werden: „Das ist der Hintergrund der Stellung heute – während des Krieges der Juden. Heute kämpft die Judenmacht ihren Kampf ums Leben.“ Die Wiedereinführung des Judenparagraphen gehöre zu diesem Kampf: Aber ein jeder sollte den Zusammenhang sehen, da unsere Bewegung in ihre letzte und unverständlichste [sic?] Phase des Kampfes eintrat, als § 2 unseres Grundgesetzes wieder in seiner ursprünglichen Gestalt erschien.376

374 Fritt Folk vom 14. März 1942. Hervorhebungen im Original. 375 Norlandir, 2. Jahrgang, Nr. 4 (April 1942), S. 25. 376 NS Månedshefte, Nr. 4, 1942, S. 124.

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Letztlich handle es sich um einen Präventivkrieg. In einem 1941 erschienenen umfangreichen Buch, einer – so muss man wohl sagen – rassistischen Geschichte Norwegens, wurde der „judeo-bolschewistische Anschlag“ auf den germanischen Stamm als ein Vernichtungskrieg dargestellt. Die Maßnahmen gegen Juden seien daher notwendige Gegenangriffe. „Die Katastrophe“ vom 9. April 1940 sei ein Werk der Juden: Und so mussten wir also den 9. April 1940 erleben. Wenigen anderen Völkern wurde wie uns sehr anschaulich demonstriert, was es heißt, die Lebenslinie seines Volkes und Stammes zu verlassen. Es war in keiner Weise unser Verdienst, dass nicht auch wir Opfer eines vollkommenen Auslöschungsprozesses geworden sind. Diesmal war es der große südgermanische Volksstamm, der die Gefahr erkannte. Wäre er nicht zur Stelle gewesen, so wäre vielleicht der letzte und beste Rohstoff des altnordischen Stammes in dem Vernichtungskrieg untergegangen, den die jüdisch-bolschewistische Front gegen die germano-europäische Kultur angezettelt hat.377

Die Propaganda im Gefolge der Wiedereinführung des Judenparagraphen ließ Schlimmes befürchten, besonders weil seit Herbst 1941 immer wieder kurze Meldungen über Maßnahmen gegen Juden überall in Europa eintrafen (vgl. den Abschnitt Propagandakrieg). Auch norwegische Medien im Exil nahmen von der Wiedereinführung Notiz. Die von der Botschaft in Washington herausgegebenen Ukens Nytt fra Norge [Neuigkeiten der Woche aus Norwegen] brachten schon am 19. März 1942 eine kurze Meldung über Quislings Maßnahme mit dem Titel „Ein Rückschritt in der Entwicklung“. Dass die Propaganda wohl nicht wirkungslos blieb, zeigt die Reaktion des illegalen Organs Eidsvold. Darin wurde die Wiedereinführung des Paragraphen kommentiert mit dem Versuch zu erklären, warum der Passus in das Grundgesetz von 1814 aufgenommen worden war. Der ursprüngliche Paragraph, so hieß es, „schloss die Juden aus Glaubensgründen aus, nicht aus Rassenvorurteilen“. In der gleichen Nummer brachte das Blatt auch ein Zitat des deutsch-jüdischen Schriftstellers Jakob Wassermann, das im weitesten Sinne eine Anklage gegen den absurden deutschen Antisemitismus war.378 Reale politische Wirkungen der Wiedereinführung sind schwer auszumachen. Zwar untersagte der Paragraph Juden die Einreise, aber die Besatzungsmacht kon377 Nico Solberg, „Vern om og atterreisning av de norrøne livsverdier“ [Schutz und Wiederaufbau der altnordischen Lebenswerte], in H. N. Østby (ed.), Det nye Norge. Blix Forlag, Oslo, 1941, S. 322. 378 Eidsvold vom 22. März 1942.

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trollierte, wie Oskar Mendelsohn betont, alle norwegischen Grenzübergänge nach Schweden und hatte Juden praktisch schon im August 1940 die Einreise nach Norwegen verboten.379 Allerdings lief dieses Verbot auf eine Einzelfallprüfung durch die deutsche Sicherheitspolizei hinaus. Die Wiedereinführung des Judenparagraphen stand höchstwahrscheinlich auch nicht in Zusammenhang mit neuen Regeln für Einbürgerungsanträge, die das Quisling-Regime am 12. April 1942 einführte. Danach musste der Antragsteller mitteilen, ob ein Großelternteil „jüdischen, Neger-, orientalischen oder asiatischen Blutes“ sei.380 Offiziell wurde es damit den staatenlosen Juden – über 250 Personen hatten seit über 20 Jahren in Norwegen gewohnt, ohne Staatsbürger zu sein – unmöglich gemacht, die norwegische Staatsbürgerschaft zu erwerben. Der Judenparagraph hatte auch keinesfalls die gleiche Bedeutung wie die deutsche 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. September 1941. Diese Verordnung legte fest, dass Juden, die deutsches Territorium verließen oder bereits verlassen hatten, automatisch ihre „Staatszugehörigkeit“ verloren (Juden in Deutschland besaßen schon seit 1935 keine „Staatsbürgerschaft“ mehr). Der norwegische Staat konnte, juristisch gesehen, norwegischen Staatsbürgern jüdischer Herkunft die Rückkehr ins Land nur mit zusätzlich geschaffenen besonderen Gesetzesbestimmungen verweigern. Auch bei den großen Deportationen im Herbst 1942 scheint der Judenparagraph keine Rolle gespielt zu haben. Das Quisling-Regime wurde nie aufgefordert, die deutlichen Regeln zu befolgen, um deren Einhaltung bei der Deportation mit der Donau am 26. November 1942 Eichmanns Referat IV B im RSHA die Sicherheitspolizei in Oslo gebeten hatte. Sie besagten u. a., dass die deportierten Juden beim Verlassen des Landes ihre Staatsbürgerschaft verloren. Eichmanns Deportationsexperte, Sturmbannführer Günther, unterstrich in seinem Telegramm nach Oslo: „Eine Rückkehr abgeforderter Juden nach Norwegen kommt in keinem einzigen Fall mehr in Frage.“381 Man darf wohl annehmen, dass die deutsche Besatzungsmacht ebenso wie ihre norwegischen Kollaborateure schon genau wussten, dass die deportierten Juden nicht zurückkommen sollten (siehe Näheres in Kapitel 6).

379 Mendelsohn (1986), S. 16. 380 Rundschreiben des Innenministeriums an die Fylkesmenn vom 12. April 1942: Fremgamgsmåten ved behandlingen av søknader om meddelelse av norsk statsborgerrett ved bevilling [Vorgehensweise bei der Behandlung von positiv entschiedenen Einbürgerungsanträgen]. Bekanntgegeben im Gesetzesblatt I Nr. 22 für 1942. 381 Bundesarchiv ZB 7687 A 2 Judendeportationen aus Norwegen: Telegramm des RSHA, IV B 4, an den Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD Oslo, empfangen am 25. November 1942, 18 Uhr.

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Der Historiker und Quisling-Biograph Hans-Fredrik Dahl hat behauptet, die Wiedereinführung des Judenparagraphen ins Grundgesetz sei die wirklich „fatale“ Maßnahme des Quisling-Regimes gegen die Juden gewesen.382 Eine solche Einschätzung schiebt aber die anderen, in der Praxis ungleich wirksameren Anordnungen in den Hintergrund. Das Stempeln der Personalausweise (20. Januar 1942), das Gesetz zur Einziehung jüdischer Vermögen (26. Oktober 1942) und das Gesetz zur Meldepflicht von Juden (17. November 1942) zielten viel direkter darauf ab, „den jüdischen Einfluss“ in Norwegen endgültig zu beseitigen. Als Vidkun Quisling nach dem Krieg wegen Landesverrats angeklagt und vor Gericht gestellt wurde, behauptete der Staatsanwalt Amnæus Schjødt in seinem Eröffnungsplädoyer, dass alle Gesetze und Verordnungen des Quisling-Regimes völkerrechtlich ungültig gewesen seien: Den Machtraum betreffend, den die Deutschen der Quisling-Regierung überließen, kann also festgestellt werden, dass Quisling seit Anfang Februar 1942 die volle und exklusive Autorität hatte. Andererseits mussten seine Grundgesetzänderungen, Gesetze und Bewilligungen im Voraus vom Reichskommissar genehmigt werden. Völkerrechtlich und staatsrechtlich gesehen liegt es für die Staatsanwaltshaft auf der Hand, dass die sogenannte nationale Regierung und Quisling als ihr Chef keine norwegischen Instanzen waren, sondern ihre Macht ausschließlich von dem Okkupanten liehen und diesen repräsentierten und stützten.383

Die Wiedereinführung des Judenparagraphen war also nach Meinung der Staatsanwaltschaft ungültig. Und das galt auch für alle anderen Gesetze, die das Quisling-Regime in Zusammenarbeit mit der Besatzungsmacht eingeführt hatte. In der Frage, wer die Initiative zur Wiedereinführung ergriffen hatte, waren aber das Gericht und der Staatsanwalt weniger konkret. Bei der Zeugenvernehmung von Albert Viljam Hagelin, dem Innenminister in Quislings Regierung, kam die Frage der antijüdischen Gesetzgebung in allgemeiner Form zur Sprache. Zu dem Gesetz über Meldepflicht für Juden entspann sich folgender Wortwechsel zwischen Schjøtt und Hagelin: Hagelin: Ich hatte den Eindruck, dass das Gesetz auf deutschen Druck zustande kam. Schjøtt: Wieso hatten Sie diesen Eindruck? Hagelin: Ich habe vor diesem Gesetz gewarnt. Ich sagte, in Deutschland habe es sich 382 Themenartikel in Aftenposten vom 30. März 2015. „Warum schlossen sich 55.000 Norweger NS an, mit Quisling als Führer? Weil sie sich Einfluss wünschten.“ 383 Quisling-saken (1946), S. 18.

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sehr unglücklich ausgewirkt, aber dann wurde mir gesagt, gerade die Deutschen wünschten es. Schjøtt: Wer hat das zu Ihnen gesagt? Hagelin: Ich weiß nicht, ob es Riisnæs oder Quisling war, dazu kann ich nichts sagen. Ich erklärte das Gesetz auch für an sich unnötig, weil das Justizministerium schon ein Gesetz herausgegeben hatte, das Juden verbot, nach Norwegen zu kommen. Schjøtt: Sie meinen die Grundgesetzbestimmung? Hagelin: Ja, und deshalb betonte ich, dass dieses Gesetz unnötig sei, weil die geringe Zahl der Juden in Norwegen ja sehr bald verschwinden würde. Schjøtt: Ja, besonders auf diese Weise. Hagelin: Ja, auf diese Weise natürlich noch schneller. Aber damals, als das Gesetz zustande kam, war nicht die Rede davon, dass die Juden festgenommen werden sollten.384

Das heißt im Klartext, dass Hagelin die Wiedereinführung des Judenparagraphen u. a. dazu nutzt zu erklären, dass die von seinem Ministerium verantworteten Gesetze nicht wesentlich gewesen seien und dass er sich nicht für sie eingesetzt habe. Tatsache ist, dass Justizminister Riisnæs die Grundgesetzänderung unterzeichnet hatte, aber Hagelins Ministerium hatte die Verantwortung für die anderen, in der praktischen Auswirkung wichtigeren Gesetze.

ZUSAMMENFASSUNG Wie in diesem Kapitel einleitend dargelegt, war die Zeit bis zum Herbst 1942 reich an Konflikten. Es gab diverse Initiativen und Wünsche zu einer radikaleren antijüdischen Politik. Dazu gehören etwa die Kennzeichnung jüdischer Geschäfte. Später ging der Hird gegen Geschäfte in jüdischem Besitz vor. Beides löste erheblichen Widerstand aus. Auch die ersten Vorstöße gegen die Juden in Trondheim stießen auf Widerstand, vor allem den des mutigen Dompropstes Arne Fjellbu. Die für jedermann sichtbaren Maßnahmen waren mit anderen Worten unpopulär und wenig effektiv. Als die Kennzeichnung jüdischer Geschäfte in Østfold Terboven und von Falkenhorst zu Ohren kam, wurde das Experiment schnell beendet. Aber das hieß nicht, dass die Schilder überall verschwanden; in Kristiansand blieben sie bis in den Herbst 1940 stehen. Die sichtbare Kennzeichnung jüdischer Geschäfte und Betriebe wurde zugunsten einer Erfassung sowohl von Betrieben als auch von Personen aufgegeben. Die384 Ebd.

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se Erfassung wurde von vielen verschiedenen Organen und auf verschiedenen Ebenen vorangetrieben. Begonnen hatte sie schon unmittelbar nach der Invasion, als „jüdische Emigranten“ aufgefordert wurden, sich bei der Sicherheitspolizei zu melden. Der nächste Schritt war, dass die Sicherheitspolizei mittels der norwegischen Polizei die jüdischen Gemeinden zur Abgabe vom Mitgliederlisten aufforderte. Zugleich geriet das jüdische Vereinsleben in den Blick und wurde genau registriert. Soweit es um Geschäfte ging, war die deutsche Handelskammer der wichtigste Akteur. Aber im Ganzen war es höchstwahrscheinlich die deutsche Sicherheitspolizei, die sich die vollständigste Übersicht über Juden und jüdische Geschäftsinteressen verschaffte. Die Einziehung der Radioapparate von Juden war ein Ergebnis des Kriegsverlaufs; sie wurde von der Sicherheitspolizei angeordnet, als endgültig klar war, dass es mit der legalen norwegischen Regierung kein Abkommen über die Besatzung geben würde. In der norwegischen Polizei, die den Auftrag zur Einziehung erhielt, wurde die deutsche Maßnahme intern diskutiert, aber es kam nicht zu Protesten. Auch der bis September 1940 amtierende Verwaltungsrat veranlasste keinen wirksamen Protest. Als Geschäfte von Juden in Moss markiert wurden, drohte dagegen das Justizministerium mit der Absetzung des Polizeichefs der Stadt, weil er es versäumt hatte, vor der Aufstellung der Schilder die Meinung des Ministeriums einzuholen. Die Polizei befand sich in der Besatzungszeit in einem Dilemma.385 Auch andere Institutionen hatten Mühe, ihr Verhältnis zur antijüdischen Linie der Besatzungsmacht zu bestimmen. Bischof Berggravs Reaktion auf die Einziehung der Radioapparate ist im weitesten Sinne interessant.386 Sie zeigt ein Muster, das die Haltung der Kirche wie auch anderer Institutionen zu den Übergriffen künftig prägen sollte: Wenn man nicht direkt gefragt wurde, äußerte man sich nicht zur Sache. Die Besatzungsmacht, die sich in der antijüdischen Politik vortastete, konnte damit gut leben. Das Fehlen einer klaren Linie in der antijüdischen Politik ist offenkundig. Die ist nicht so zu verstehen, als seien die Täter an einer endgültigen und deutlichen Abrechnung mit den Juden nicht interessiert gewesen. Die Unsicherheit bezog sich auf die Methoden. Manchmal schien Terboven an den Juden nicht besonders interessiert zu sein. Die Historikerin Berit Nøkleby geht in ihrer Terboven-Biographie sogar noch weiter:

385 Nils Johan Ringdal, Mellom barken og veden. Politiet under okkupasjonen [Zwischen Baum und Borke. Die Polizei während der Besatzungszeit], Oslo 1987. 386 Berggrav (1945), S. 54.

Zusammenfassung

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Ein eingefleischter Judenhasser war Terboven jedenfalls nicht. Als Gauleiter befolgte er in seinem Gau die die Juden betreffenden Befehle aus Berlin, aber zeigte dabei keinen über das Notwendige hinausgehenden Eifer. In Norwegen hatte er offenbar keine verpflichtenden Richtlinien erlassen, denn die Haltung der Besatzungsbehörden zu den Juden war von Bezirk zu Bezirk verschieden. Sie hing nicht vom Reichskommissar ab, sondern von dem deutschen Polizeichef im jeweiligen Gebiet.387

Das ist eine ziemlich wohlwollende Beurteilung des Mannes, der konsequenter als „Kollegen“ in den meisten anderen besetzten Gebieten alle Fäden in seiner Hand hielt. Terboven selbst und die anderen Organe der Besatzungsmacht hatten ihre eigene Agenda. Bei der entscheidenden Aktion gegen die Juden kann nicht zweifelhaft sein, dass Terboven und die ihm nachgeordneten Organe die Initiatoren waren. Nicht die Haltung zu den Juden war von Bezirk zu Bezirk verschieden, wie Nøklebye behauptet; verschieden waren die eingesetzten Mittel. Die deutsche Sicherheitspolizei verhielt sich unterschiedlich, je nachdem, welches „Sicherheitsrisiko“ die Juden des jeweiligen Gebiets nach ihrer Auffassung darstellten. Der Terror, dem einzelne Juden ausgesetzt waren, war von Ort zu Ort verschieden. Warum manche Juden härter als andere behandelt wurden, konnten sich die Opfer selbst in der Regel nicht erklären. Man konnte den Eindruck haben, wie Marcus Levin einleuchtend erklärte, dass den festgenommenen Juden verschiedene Vergehen angelastet wurden und dass die Sicherheitspolizei immer neue Vorwände fand, einzelne Juden zu verhaften. Manche Einzelheiten sind mit dem, was in anderen Ländern geschah, vergleichbar. So wurden Juden oft in Gebieten mit hoher Widerstandsaktivität als „Geiseln“ genommen. Ein Beispiel ist der britische Angriff auf den Lofot am 4. März 1941: Unter den danach festgenommenen Geiseln waren zwei Juden, die sich gerade in der Gegend aufhielten.388 Die Motive der Besatzungsmacht mochten von Fall zu Fall verschieden sein, aber die antijüdische Grundhaltung stand immer im Hintergrund. In Trondheim drehte die Sicherheitspolizei hemmungslos an den Schrauben des Terrors gegen die Juden der Stadt. Es bedurfte keiner Gesetze oder Verordnungen, um alle jüdischen Betriebe zu beschlagnahmen oder umfassende Verhaftungen vorzunehmen. Die Sicherheitspolizei hatte dabei gute Helfer, vor allem den 387 Nøklebye (1992), S. 233. 388 Es handelte sich um Alfred Gutmann und Arvid Pickelner; beide wurden am 16. März 1941 verhaftet, ebenso Gutmanns nicht-jüdische Ehefrau Eva Frieda. Pickelner wurde im August 1941 freigelassen, das Ehepaar Gutmann erst im Oktober.

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von Kommandeur Flesch mit großen Befugnissen ausgestatteten „Hauptverwalter“ Reidar Dunker Landgraff. Fleschs Vorgehen gegen die Juden in seinem Zuständigkeitsbereich muss auch vor dem Hintergrund der Kriegsentwicklung gesehen werden. Die Besatzungsmacht sah die Sicherheit im Gebiet bedroht. Solche strategischen Erwägungen gingen einher mit Korruption: In Trondheim war bei der Einziehung jüdischer Betriebe und Immobilien wirklich etwas zu holen. Alles in allem ist der Weg in die Katastrophe vom Herbst 1942 nicht durchgehend deutlich zu erkennen. Selbst im Rückblick sind manche Verhaftungen und Terroraktionen nicht ganz erklärlich. Dazu trägt der Mangel an Quellenmaterial bei, das erhellen könnte, wie die Männer der Sicherheitspolizei dachten. Denn die Sicherheitspolizei stand überall im Land im Zentrum aller Verhaftungen und sonstigen antijüdischen Aktionen. Was Norwegen wirklich von den anderen besetzten Gebieten in Westeuropa unterscheidet, ist das Fehlen einer deutlichen antijüdischen Eskalation. In den anderen Ländern verbot man den Juden ganz systematisch diverse Betätigungen, die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und den Aufenthalt an bestimmten Orten. Die Kontaktflächen zwischen der Minorität und der Mehrheitsgesellschaft wurden unterbrochen. Das geschah in Norwegen nicht. Zwar konnte das Justizministerium die Zulassung jüdischer Anwälte kassieren (ohne dass das ganz konsequent durchgeführt wurde), Künstlern konnte das Auftreten verweigert werden (aber in der Praxis waren nicht alle betroffen), Juden konnten aus verschiedenen Stellungen entfernt, ihr Auskommen konnte ihnen genommen werden. Aber nichts von alledem geschah so systematisch wie in den Niederlanden. Alles sollte sozusagen unter der Oberfläche bleiben. Als die Besatzungsmacht erfuhr, dass jüdische Flüchtlinge, genauer: jüdische Männer, mit nicht-jüdischen Frauen sexuellen Verkehr gehabt hatten, wurde ihnen ein schlichtes Verbot auferlegt. Wagner oder Böhm von der Sicherheitspolizei suchten Julius Samuel auf, den Rabbiner der Mosaischen Glaubensgemeinschaft in Oslo, und befahlen ihm, folgenden Brief an die Jüdische Hilfsvereinigung zu senden: Die deutschen Behörden haben mir auferlegt, Ihnen Folgendes mitzuteilen: Bei der nächsten Auszahlung von Unterstützung an die Personen, die zu Ihrer Hilfsarbeit gehören (Flüchtlinge, Emigranten), sollen diese davon unterrichtet werden, dass das Verbot für Juden, sexuellen Verkehr mit arischen Frauen zu haben, auch hier in Norwegen gilt.389

389 DMT, AS-1101 D0002 Mappe 6, Brief des Rabbiners Julius Samuel an den Leiter des Jüdischen Hilfsvereins.

Zusammenfassung

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Das nächste Kapitel wird zeigen, dass auch die Registrierung von Juden in Norwegen so unauffällig wie möglich ablief. Zwar wurde die Maßnahme bekanntgemacht, aber ohne aufwendige Propaganda, dass die Juden nun ausgesondert und registriert seien. Auf der Propagandaebene konnte Quislings „nationale Regierung“ kurz nach dem Staatsakt vom 1. Februar 1942 den Umstand nutzen, dass das sonst so liberale norwegische Grundgesetz von 1814 Juden die Einreise ins Land verbot. Aber wie sollte es weitergehen? Sicher war im Spätsommer 1942 allein, dass aus den westlichen Gebieten des besetzten Europa die Deportationen „nach Osten“ begonnen hatten. Die Ungeduld der Täter und der Druck, „die Judenfrage“ zu lösen, nahmen auch in Norwegen zu. Die Juden waren nicht vergessen. Die Frage war nur, wie „das Problem“ gelöst werden sollte.

– KAPITEL 5 –

DIE FATALE WENDUNG: DIE JUDEN WERDEN REGISTRIERT

Die Nürnberger Gesetze zum Schutze des germanischen Blutes und der germanischen Ehre werden in der Weltgeschichte bestehen bleiben als ein Monument der ersten Erhebung der Menschheit zur Selbsterkenntnis. Hirdmannen, 21. Juni 1941

EINLEITUNG Ein gründlicher Zeitungsleser konnte in den Tagen nach dem 20. Januar 1942 eine Bekanntmachung des Polizeiministeriums finden, meist im Anzeigenteil oder zusammen mit anderen Mitteilungen der Behörden. In der Bezirkszeitung für Sogn og Fjordane war die Bekanntmachung des Ministeriums am 28. Januar zusammen mit einer Information der Polizeidirektion zur Hundesteuer und zum Halsband für Hunde abgedruckt. In der Hauptstadtzeitung Aftenposten stand sie auf Seite 9 der Morgenausgabe vom 22. Januar zusammen mit anderen Anzeigen. Direkt darunter konnte man lesen, dass ein junger Geschäftsmann „von gutem Aussehen, sehr vermögend und geschäftlich erfolgreich“, die Bekanntschaft einer „ausnehmend schönen Dame zwecks ev. Eheschließung“ wünschte. Rechts von der Bekanntmachung stand die Anzeige eines Rechtsanwalts, der – zur Jahreszeit passend – Hilfe beim Ausfüllen der Steuererklärung anbot. Der Anwalt hieß Leon Jarner, und er war Jude.1 Er war wie erwähnt vergessen worden, als Justizminister Riisnæs 1941 inoffiziell dafür sorgte, dass die Zulassungen jüdischer Anwälte eingezogen wurden. Die Bekanntmachung des Polizeiministeriums richtete sich gegen einen bestimmten Teil der Bevölkerung. Diesmal waren die Juden individuell definiert, nicht als 1

Leon Jarner, geb. 1911, floh am 20. September 1942 nach Schweden. Er wurde später Sekretär des Flüchtlingsbüros an der Norwegischen Botschaft in Stockholm. Ab 1944 war er Sekretär des Repatriierungsamtes beim Sozialministerium der Exilregierung in London.

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Gruppe. In Norwegen wurde eine vereinfachte Form des sogenannten NürnbergPrinzips eingeführt, weder als Gesetz noch als Verordnung, sondern durch eine Zeitungsannonce. Die Bekanntmachung sah vor, dass jeder Jude, definiert als jemand, „der von mindestens 3 rassisch volljüdischen Großeltern abstammt“, seinen Personalausweis mit einem roten J stempeln lassen sollte. Ein Zusatz bestimmte indes, dass auch „jüdische Bastarde, die von 2 volljüdischen Großeltern abstammen“, ihre Ausweise stempeln lassen sollten, sofern die jeweilige Person a) einer jüdischen Glaubensgemeinschaft angehörte oder b) mit einem Juden verheiratet oder im Begriff war, einen Juden zu heiraten. Sämtliche Mitglieder jüdischer Glaubensgemeinschaften seien als Juden anzusehen. Das Nürnberg-Prinzip war wie gesagt eine juristische Definition des Begriffs „Jude“, in Deutschland eingeführt als Zusatz zum Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre und zum Reichsbürgergesetz vom 15. September 1935. Die Gesetze, die auf dem Nürnberger Parteitag dieses Jahres angekündigt wurden, enthielten eine Reihe Bestimmungen, die zwischen Personen deutschen oder artverwandten Blutes und Juden unterschieden, doch ohne dass der Begriff „Jude“ definiert war. Das geschah erst durch die Erste Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 15. November 1935. Dieser Zusatz wurde später als das Nürnberg-Prinzip bezeichnet. In allen Zusammenhängen wurden die Nürnberger Gesetze und ähnliche Gesetze und Verordnungen, die in besetzten Gebieten eingeführt wurden, als Rassengesetze bezeichnet. Entscheidend für die Zuordnung einer Person war ihre Abstammung; weder Blutgruppe noch Gesichtsform noch Haarfarbe waren letztlich wichtig. Das Nürnberg-Prinzip operierte mit dem Begriff Großelternteile; Personen „gemischter Herkunft“ wurden als Mischlinge bezeichnet, in der nazistischen Gesetzgebung in Norwegen als Bastarde (norwegisch bastarder). Das Gesetz kannte auch den Begriff jüdischer Blutsanteil. Aber „jüdisches Blut“ konnte als solches nicht definiert werden – in letzter Instanz war das Religionsbekenntnis der Großeltern der maßgebende juristische Faktor. Der Historiker Raoul Hilberg sagt es so: „Alles in allem genommen waren die Nazisten nicht an der „jüdischen Nase“ interessiert. Es war „der jüdische Einfluss“, dem sie beikommen wollten.2 Die Erarbeitung einer praktisch handhabbaren Definition hatte lange gedauert. Die erste einfache Definition brachte in Deutschland der sogenannte Arierparagraph, der zwischen „Ariern“ und „Nicht-Ariern“ unterschied. Am 7. April 1933 bestimmte die neue nationalsozialistische Regierung, dass „Nicht-Arier“ keine Beamten mehr sein durften. Zur Durchführung dieses Gesetzes wurde vier Tage später eine Verordnung erlassen, die einen „Nicht-Arier“ definierte als Person mit 2

Hilberg (1985), S. 68.

Einleitung

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einem jüdischen Elternteil oder Großelternteil.3 Danach waren in der Praxis alle Personen mit einem jüdischen Großvater oder einer jüdischen Großmutter als „Nicht-Arier“ anzusehen. Das Nürnberg-Prinzip war eine Weiterführung des Arierparagraphen; es ging darüber hinaus, indem es unterschied zwischen Volljuden und anderen Personen jüdischer Abstammung. Ein „Volljude“ war jemand mit mindestens drei jüdischen Großeltern. Aber auch eine Person mit zwei jüdischen Großeltern konnte Volljude sein, wenn sie bei Inkrafttreten des Gesetzes einer jüdischen Glaubensgemeinschaft angehörte oder ihr später beigetreten war, ebenso wenn sie mit einem Volljuden verheiratet war oder später einen solchen heiratete. „Mischlinge“ wurden definiert als Personen mit einem oder zwei jüdischen Großeltern. Im ersten Zusatz zum Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre wurde der Begriff „Mischling“ genauer gefasst: Personen mit einem jüdischen Großelternteil waren Mischlinge 2. Grades, Personen mit zwei jüdischen Großeltern Mischlinge 1. Grades. In Norwegen lauteten die entsprechenden Bezeichnungen Vierteljuden („kvartjøder“) und Halbjuden („halvjøder“). Ausgearbeitet wurden die Gesetze vom deutschen Innenministerium, genauer gesagt von Staatssekretär Wilhelm Stuckart und seinem Fachmann für Rassenfragen Bernhard Lösener. Bei der Formulierung der Definitionen war stark umstritten, wie die sogenannten Mischlinge ersten und zweiten Grades behandelt werden sollten. Die Bürokraten der NSDAP meinten, alle „Halbjuden“ sollten grundsätzlich den „Volljuden“ gleichgestellt werden. Die Staatsbürokratie hielt dagegen, der deutsche „Blutsanteil“ müsse geschützt werden. Das bedeutet nicht, dass Schuckart und Lösener die Mischlinge für ungefährlich hielten. Denn in seinem Entwurf der Definitionen schrieb Lösener, die Unterscheidung von „Volljuden“, „Halbjuden“ und „Vierteljuden“ wünsche er primär deswegen, „weil man Halbjuden prinzipiell als gefährlichere Feinde ansehen sollte als die Volljuden, vor allem weil solche Menschen mehrere germanische Züge haben, die den Volljuden fehlen“.4 Doch spielten auch andere Überlegungen eine Rolle. Die völlige Gleichbehandlung von Halbjuden und Volljuden hätte z.B. das deutsche Heer gehindert, 45.000 Männer zum Militärdienst einzuberufen. Dennoch war für Lösener vermutlich am wichtigsten, dass die Bindungen zwischen den so eingestuften Menschen und der übrigen deutschen Gesellschaft stark waren und dass es zu Problemen und Protesten kommen könnte.5 Die Diskussionen um 3 Ebd. S. 6 f. 4 Ebd. S. 71. 5 Ebd.

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die Behandlung der Mischlinge und noch mehr der Juden, die in Mischehen mit Nicht-Juden lebten, sollten bis Kriegsende andauern. Auf der einen Seite standen radikale Kräfte in Partei und SS, auf der anderen Gruppen in der Staatsbürokratie, die meinten, dass andere Rücksichten als die rein rassischen gewichtiger waren. Auf der Wannsee-Konferenz (die zufällig am gleichen Tage stattfand, an dem in Norwegen die Bekanntmachung zum Stempeln der Personalausweise der Juden veröffentlicht wurde) spielte die Haltung zu den „Halbjuden“ und „Vierteljuden“ eine wichtige Rolle. Es kam zu keiner Einigkeit, auch später nicht. Juden in Mischehen und die Mischlinge standen die ganze Zeit am Rande des Abgrunds (siehe Kapitel 9). Ein Widerklang von Löseners Äußerung, „gemischtrassige“ Personen könnten gefährlicher sein als „die Volljuden“, findet sich in Quislings Rede auf dem NSParteitag in Trondheim am 6. Dezember 1942. Er sagte dort u. a.: „Wir haben die Tragödie, dass Juden, Männer wie Frauen, Norweger und Norwegerinnen geheiratet haben. Ihre Kinder sind Halbjuden, deren Kinder wiederum Vierteljuden, d.h. wirkliche Juden, in denen das jüdische Element dominiert.“6 Auf den Nürnberger Gesetzen und den ihnen folgenden Verordnungen beruhte das ganze weitere Vorgehen gegen die Juden sowohl in Deutschland als auch später in allen annektierten oder besetzten Gebieten. Letztlich lag die juristische Definition des Begriffs „Jude“ dem Beschluss zugrunde, alle Juden zu ermorden: „When in the early days of 1933 the first civil servant wrote the first definition of „non-Aryan“ into a civil service ordinance, the fate of European Jewry was sealed.“7

DIE EINFÜHRUNG DES NÜRNBERG-PRINZIPS AUSSERHALB DEUTSCHLANDS Die Art und Weise, in der „die Juden“ in den einzelnen Ländern definiert und registriert wurden, wirkte sich auf das weitere Vorgehen gegen sie aus. Die mit Deutschland verbündeten Länder führten eine besondere antijüdische Gesetzgebung ein. Dabei ging es etwa in Ungarn darum, Juden, die vor dem Ende des Ersten Weltkriegs zum Katholizismus konvertiert waren, von den antijüdischen Gesetzen auszunehmen. In Rumänien wurde der Begriff „Jude“ von Gesetz zu Gesetz unterschiedlich definiert.8 In den von Deutschland besetzten Gebieten und in Ländern, die praktisch deutscher Kontrolle unterlagen (oder überhaupt erst durch 6 7 8

Aftenposten vom 7. Dezember 1942. Hilberg (1985), S. 1044. Hilberg (2003), S. 811 ff.

Die Einführung des Nürnberg-Prinzips außerhalb Deutschlands

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den Krieg entstanden waren), galt aber das Nürnberg-Prinzip in der Praxis uneingeschränkt. In den besetzten Gebieten Westeuropas, d.h. in den Niederlanden, Belgien und dem besetzten Teil Frankreichs, wurden die Juden sehr bald definiert und registriert. In Frankreich wurde das Nürnberg-Prinzip am 27. September 1940 durch ein von General Stülpnagel unterzeichnetes Dekret eingeführt,9 in den Niederlanden durch ein Dekret des Reichskommissars Seyß-Inquart vom 22. Oktober 1940.10 Im gleichen Monat definierte in Belgien der militärische Oberbefehlshaber den Begriff „Jude“.11 In diesen Ländern folgten bald weitere gegen die Juden gerichtete Restriktionen und Auflagen, die alle auf der eingeführten Definition beruhten. In Dänemark und Norwegen ging die Besatzungsmacht anders vor. Dänemark ist ein Sonderfall insofern, als es nach Absprache mit den Deutschen seine Regierung und den Verwaltungsapparat behielt. In Norwegen dagegen lag die zivile Macht in Händen von Reichskommissar Terboven. Vielleicht hat das eingangs erwähnte Invasionsdekret (vgl. S. 24), in dem u. a. die Rassenfrage als nachrangig bezeichnet wurde, den Sonderweg Norwegens bestimmt. Allerdings hatte die Führung der 6. deutschen Armee vor der Besetzung Belgiens ein ähnliches Dekret ausgearbeitet, in dem es u. a. hieß: „Selbst wenn ein (belgischer) Bürger jüdischer Abstammung ist, soll das nicht zu besonderen Maßnahmen unsererseits führen.“12 Vielleicht hat auch Terbovens persönliche Einstellung eine Rolle gespielt, wie Berit Nøkleby andeutet (vgl. S. 208 f.). Sicher ist jedenfalls, dass Terboven keine umfassende antijüdische Gesetzgebung einführte und sich auch nicht für die „Arisierung“ jüdischer Betriebe und Vermögen starkmachte. Die Besatzungsmacht wählte ihre Mittel mit Bedacht. Es war sicher nicht ausschlaggebend, dass Terboven oder andere führende Männer im Reichskommissariat weniger antisemitisch waren als andere deutsche Naziführer. Mochte der Reichskommissar auch keine systematische antijüdische Politik – wie in den Niederlanden und Belgien – intendiert haben, so mussten und sollten die Juden doch nach der in Deutschland geltenden Definition polizeilich registriert werden. Diese Registrierung zeitigte im Herbst 1942 ihre fatale Wirkung. Das Registrierungsgebot vom 20. Januar 1942 hatte nur den einen schlichten Zweck: eine vollständige und systematische Übersicht über alle Juden zu gewinnen, die sich in Norwegen aufhielten, sodass man später gewaltsam gegen sie vorgehen konnte. 9 10 11 12

Hilberg (2003), S. 652 f. Ebd. S. 602. Ebd. S. 637. Ebd. S. 635 f.

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DER BRIEFWECHSEL, DER ZUR J-STEMPELUNG FÜHRTE Am 10. Oktober 1941 sandte BdS Heinrich Fehlis einen Brief an das Polizeiministerium von Jonas Lie. Darin erklärte er einleitend, er halte es für „zweckmäßig“, dass die Personalausweise von Juden „besonders gekennzeichnet“ würden. Als Kennzeichen wünsche er ein J in roter Farbe. Die Juden sollten selbst bei der Polizei erscheinen, um ihre Ausweise stempeln zu lassen. Auch die Kontrollkarten sollten mit dem roten J versehen werden. Auf der Grundlage der Stempelung solle das Polizeiministerium eine besondere Judenkartei anlegen. Fehlis’ Brief bezog sich auf die Personalausweise, die aufgrund der Verordnung über Identitätsdokumente vom 30. Januar 1941 ausgestellt worden waren. Nach dieser Verordnung sollten alle, die nicht bereits (in § 2 definierte) gültige Ausweispapiere besaßen, die Ausstellung eines Ausweises bei der Polizei beantragen. Der Antrag sollte auf einem besonderen Formular bei der örtlichen Polizeibehörde eingereicht werden (§ 3). Personen, die in den sogenannten Grenzzonen im Osten und Westen wohnten, sollten einen besonderen Grenzzonenausweis erhalten. Intern sollten die Polizeibezirke mit neuen Kontrollkarten, die mit Foto, Angaben zur Person, Anschrift und Unterschrift versehen waren, eigene Karteien über die Einwohner erstellen.13 Schon am 24. Februar 1942 legte das Polizeiministerium eine Verordnung zur Erfassung von Gästen in Beherbergungsbetrieben und von Passagieren der küstennahen Schifffahrt in Norwegen vor. Die Hotel- und Pensionsbetreiber wurden verpflichtet, Gästelisten zu führen und die Ausweise der Gäste über Nacht einzubehalten; ausgenommen waren nur Angehörige der deutschen Schutzmacht. Entsprechendes galt für Schiffsführer und Passagierlisten, die aufgrund der Personalausweise anzulegen waren.14 Der Zweck dieser Verordnungen lag auf der Hand: Sie sollten die freie Bewegung im Land erschweren und die polizeiliche Kontrolle institutionalisieren. Sie richteten sich gegen die Widerstandsbewegung und gegen Spione. Bei der J-Stempelung hielt Fehlis eine besondere Verordnung für unnötig. Ein Rundschreiben an alle untergeordneten Dienststellen und eine Bekanntmachung in Zeitungen und im Rundfunk müssten genügen. Dabei müsse „selbstverständlich“ genau klargemacht werden, wer als Jude zu gelten hatte. Am Ende seines Briefes schrieb Fehlis, ihm sollten die Entwürfe des Rundschreibens und der Bekanntmachung zur Genehmigung vorgelegt werden. Zugleich bat 13 Lover og forordninger 1939–1941 [Gesetze und Verordnungen 1939–1941]. Herausgegeben vom Justizministerium, Oslo 1942. 14 Ebd.

Der Briefwechsel, der zur J-Stempelung führte

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er das Polizeiministerium, „den Leiter der jüdischen Glaubensgemeinschaft zu beauftragen, ein Rundschreiben an alle Mitglieder auszuarbeiten.“15 Den Beamten im Polizeiministerium war nicht klar, was Fehlis eigentlich wollte. Zwar verstanden sie, dass die Ausweise der Juden mit einem roten J gestempelt werden sollten, aber in einem internen Vermerk stellte das Ministerium die Frage, ob es dazu einer Bekanntmachung bedürfe. Das Wichtigste sei doch erreicht, wenn die Stempelpflicht auf die Mitglieder der jüdischen Gemeinden beschränkt würde. Das sei doch rationeller: Umfassende Anzeigen würden vermieden, und man brauche nicht an alle Polizeidienststellen Stempel und Stempelkissen zu senden.16 Ein solches Verfahren hätte indes zu keiner systematischen Registrierung von Juden geführt. Es wäre ein weiteres Glied in der unsystematischen Erfassungstätigkeit gewesen, die deutsche Organe in Norwegen schon lange betrieben. In dem auf Deutsch verfassten Antwortbrief an Fehlis Anfang November versuchte sich das Polizeiministerium auch an einer einfachen Definition des Begriffs „Jude“: Als Juden sind nach norwegischer Auffassung zuerst sämtliche Mitglieder der Mosaischen Glaubensgemeinschaften anzusehen und weiter alle Personen von jüdischer Abstammung (beide Eltern von jüdischer Rasse). Was Personen von gemischter Rasse betrifft, hat die Frage jedoch einigen Zweifel verursacht. In Fällen, wo der eine der Eltern Jude und der andere Nicht-Jude ist, sind die Kinder als Juden angesehen worden, falls sie zu der Mosaischen Glaubensgemeinschaft gehörten, sonst nicht.17

Zwar war diese Definition etwas klarer als die von Justizminister Riisnæs in dem etwa gleichzeitig versandten Schreiben an die Fylkesmenn, die Präsidenten der Bezirke, in welchem er um Auskünfte über Immobilien in jüdischem Besitz bat (vgl. S. 195 f.). Aber Ausgangspunkt der Zuordnung waren die Eltern, nicht die Großeltern, und das genügte aus deutscher Sicht nicht. Fehlis antwortete erst am 22. November. Jetzt war sein Ton etwas schärfer. Er bat um sofortige Übermittlung der Verlautbarung und der Dienstanweisung an die Polizei. Zugleich teilte er mit, wie er den Begriff „Jude“ definiert wissen wollte. Seine Definition folgte dem Hauptprinzip der Nürnberger Gesetze, aber mit dem 15 RA, Polizeiministerium, Registrierung von Juden. Brief des Befehlshabers der Sicherheitspolizei und des SD an das Polizeiministerium vom 10. Oktober 1941. Geschäftszeichen Nr. I Nr. 15084/41. 16 Ebd. Anmerkung auf einem zu übersetzenden Brief vom 25. Oktober 1941. Geschäftszeichen 3888/41 A. 17 Ebd. Abschrift eines Briefes des Polizeiministeriums an den BdS Oslo vom 3. November 1941, Geschäftszeichen 3888/41-A.

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Unterschied, dass sie „Halbjuden“ und „Vierteljuden“ nicht klar bezeichnete; Mischlinge 1. Grades allerdings sollten in gewissen Fällen mit Juden gleichgestellt werden. In einer Hinsicht verschärfte Fehlis das Nürnberg-Prinzip: Alle Mitglieder der Mosaischen Glaubensgemeinschaften sollten als Juden mitgezählt werden.18 Wesentlich war aber der Kern: Ein Jude war eine Person, die von mindestens drei volljüdischen Großeltern abstammte. Ihre Staatsangehörigkeit spielte dabei keine Rolle.19 Schon am 28. November hatte das Polizeiministerium den ersten Entwurf eines Rundschreibens an die Polizei fertiggestellt. An den Übersetzer schrieb der Beamte von Hand: „Die Deutschen haben um sehr schnelle Behandlung der Sache gebeten.“ Aber immer noch waren Fragen offen, die im Ministerium einiges Kopfzerbrechen verursachten. In einer Anmerkung zu dem Entwurf hieß es: Die Deutschen sagen, eine besondere Verordnung sei nicht nötig. Wenn wir keine Verordnung erlassen sollen, können wir wohl auch nicht jemanden bestrafen, der unser Stempelgebot nicht befolgt. Dieses Gebot fällt daher ganz in die Verantwortung der Deutschen. Deshalb muss in der Bekanntmachung und im Rundscheiben an die Polizei präzisiert werden, dass die Bekanntmachung auf deutschen Befehl ausgefertigt wurde.20

Daher wurde in den Entwurf der Bekanntmachung der Satz aufgenommen, dass diese auf Befehl der deutschen Behörden ausgefertigt worden sei. In dem Entwurf des Rundschreibens hieß es, dieses werde „auf Wunsch“ des Befehlshabers der Sicherheitspolizei und des SD versandt. Fehlis erklärte sich mit dem neuen Entwurf des Polizeiministeriums zu einem Rundschreiben einverstanden, aber bat darum, alle Hinweise auf deutsche Behörden zu streichen.21 Seine endgültige Klarstellung kam am 15. Dezember, und so wurde das Rundschreiben vor Weihnachten nicht mehr fertig und konnte erst im Januar versandt werden.

18 Nach der Ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz galt eine Person mit zwei jüdischen Großeltern, die einer Mosaischen Glaubensgemeinschaft angehörte oder später einer solchen beitrat, als „Volljude“. 19 RA, Polizeiministerium, Registrierung von Juden. Brief des BdS Oslo an das Polizeiministerium vom 22. November 1941, Geschäftszeichen Nr. I Nr. 15084/41. 20 Ebd. Entwurf des Polizeiministeriums für die Bekanntmachung vom 28. November 1941 und Entwurf des Briefes vom gleichen Tag. Geschäftszeichen 4729/41-A. Der Brief an Fehlis wurde am folgenden Tag abgesandt. 21 Ebd. Brief des BdS Oslo an das Polizeiministerium vom 15. Dezember 1941, Geschäftszeichen 15084/41.

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Formell hatte das Polizeiministerium recht; man konnte schwerlich jemanden für den Verstoß gegen ein Gebot bestrafen, das keine gesetzliche Grundlage hatte. Aber an spitzfindigen juristischen Fragen war die deutsche Sicherheitspolizei nicht interessiert. Für sie waren zwei Momente wichtig. Zum einen wollte sie verbergen, dass das Registrierungsgebot auf die Besatzungsmacht zurückging. Zum andern sollte die Sache möglichst wenig Aufsehen erregen. Warum das so war, lässt sich aus den schriftlichen Quellen nicht erschließen. Nur die Archive des Polizeiministeriums sind einigermaßen intakt. Dass die Beamten der Sicherheitspolizei diese Frage intern gründlich diskutierten, können wir als sicher unterstellen. Diejenigen, die nach dem Krieg deutsche Gestapo-Männer verhörten, waren aber an der J-Stempelung nicht vordringlich interessiert. Daher äußerte sich keiner der Vernommenen klar zum Zustandekommen des Registrierungsgebots. Wilhelm Wagner sagte in seiner Vernehmung immerhin dies: Der Beschuldigte [Wagner, Anm. des Autors] wurde zu Fehlis bestellt, welcher äußerte, man solle hierzulande gegen die Juden genauso vorgehen wie in Deutschland: mit der Markierung von Geschäften, dem Judenstern, dem Verbot des Aufenthalts in Parks usw. Der Beschuldigte meinte, praktisch gebe es kein Judenproblem in Norwegen; dagegen behauptete er, man werde es bekommen, falls man so vorginge wie in Deutschland. Als vorläufige Maßnahme bekamen die Juden einen J-Stempel in ihren Pass.22

So beanspruchte Wagner die „Ehre“ für sich, dass in Norwegen kein radikalerer Weg eingeschlagen wurde, während er Fehlis beschuldigte, Druck gemacht zu haben, damit antijüdische Maßnahmen durchgesetzt wurden. Fehlis konnte sich nicht mehr erklären, er beging am 11. Mai 1945 Selbstmord. Ob Wagners Darstellung den Tatsachen entspricht, ist schwer zu sagen. Aber selbst wenn die Briefe an das Polizeiministerium von Fehlis unterzeichnet waren, haben wir allen Grund anzunehmen, dass Wagner in seiner Eigenschaft als Leiter des Referats IV B 4 die Briefe verfasste, die der J-Stempelung zugrunde lagen, und so indirekt die Bekanntmachung formulierte. Das ist aber wohl nicht die ganze Erklärung. Als Marcus Levin nach seiner Flucht nach Schweden am 7. November 1942 in Kjesäter vernommen wurde, berichtete er, dass Harry Koritzinsky, der frühere Sekretär der Mosaischen Glaubensgemeinschaft, in das Osloer Gestapo-Hauptquartier einbestellt wurde, nachdem der Grenzpolizist Arne Hvem bei einem Schusswechsel im Zug in die grenznahe Stadt Hal22 RA, L-dom 2479/47. Vernehmung von Hauptsturmführer Wilhelm Wagner am 12. April 1946.

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den getötet worden war. Wilhelm Wagners Mitarbeiter, Untersturmführer Harry Böhm, hatte da zu Koritzinsky gesagt, dass Berlin die Einführung eines neuen Judengesetzes in Norwegen vorgeschlagen habe. Der Reichskommissar habe geantwortet, der Zeitpunkt dafür sei jetzt nicht günstig. Eine Judenverfolgung werde nach Meinung des Reichskommissariats nur dazu führen, dass die Menschen sich noch mehr von NS abwendeten, und man solle der Rekrutierung neuer Parteimitglieder nur ja keine Hindernisse in den Weg legen.23

Böhm war ein erfahrener Manipulator und musste zu diesem Zeitpunkt gewusst haben, dass das Quisling-Regime sich entschieden hatte, am 26. Oktober 1942 das erste eindeutig antijüdische Gesetz einzuführen. Dass er sich Koritzinsky gegenüber so äußerte, hatte wahrscheinlich zwei Gründe. Erstens wollte er unter den Juden Desinformation über mögliche künftige Aktionen streuen (die nach der Tötung Hvams nicht lange auf sich warten ließen), und zweitens wollte er den Eindruck vermitteln, dass die Aktionen, von denen er wusste, dass sie kommen würden, nicht auf deutschen Wunsch zurückgingen. In der deutschen Politik gegenüber Juden in Norwegen ist also ein roter Faden erkennbar. Die Besatzungsmacht wollte, solange es zweckmäßig und irgendwie möglich war, sich im Hintergrund halten und norwegischen Organen die Arbeit überlassen. Das war aus Propaganda- und psychologischen Gründen wichtig, aber es war noch aus einem weiteren Grund opportun: Norwegische Organe, die es schon in Friedenszeiten gegeben hatte, würden unter den Juden mehr Vertrauen genießen als die deutsche Sicherheitspolizei. Der endgültige Wortlaut des ministeriellen Rundschreibens war am 10. Januar 1942 fertig, aber noch wenige Tage vorher hatten die Beamten des Polizeiministeriums juristische Bedenken. In einem Vermerk notierten sie: „Das Sonderbare ist, dass die Deutschen sagen, sie wünschten nicht die Form der Verordnung, und dass sie selbst doch dieses Wort gebrauchen.“ Und weiter hieß es, man habe keine gesetzliche Grundlage für Strafen, solange das Gebot in seiner derzeitigen Form vorliege.24 Aber nun war keine Zeit mehr, länger zu zögern. Das Rundschreiben wurde zwei Tage später abgeschickt. Das Ministerium trug den Polizeidirektionen nicht nur auf, dass die Bekanntmachung „in sämtlichen Zeitungen des Landes“ gedruckt 23 RA, S-1725 DaI Behälter 454, Sondervernehmung von Marcus Levin in Kjesäter am 7. November 1942. 24 RA, Polizeiministerium, formlose Dokumente, Vermerk vom 8. Januar 1941 (aber gemeint ist 1942), Geschäftszeichen 5289/41 A.

Die Durchführung der J-Stempelung

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werden solle, sondern gab den örtlichen Polizeistellen auch detaillierte Hinweise zur Durchführung der Stempelung. Aber es mussten noch praktische Probleme gelöst werden. Am 5. Januar hatte das Polizeiministerium die bei einer Stempelfabrik bestellten 700 Stempel zum Preise von 469 Kronen erhalten (etwa 1000 Euro nach heutigem Geldwert).25 Diese Stempel sollten an die einzelnen Polizeibezirke verteilt werden. Am wichtigsten war aber die Registrierung der Juden und ihre Erfassung in Karteien. Die detaillierten Instruktionen waren von größter Bedeutung: Die Karteikarte zum Personalausweis ist ebenso zu stempeln. Es soll ferner ein besonderes Verzeichnis all der Personen angelegt werden, deren Ausweise gemäß dieser Bestimmung gestempelt worden sind. Eine Abschrift des Verzeichnisses wird von der örtlichen Polizei an die Polizeidirektion gesandt, die ein Gesamtverzeichnis der Juden in ihrem Bezirk haben soll. Spätere Änderungen im Verzeichnis werden von der örtlichen Polizei der Polizeidirektion mitgeteilt.26

„Die Stempelung ist gratis“, so wurde erklärt, und weiter: „Die Stempelung soll möglichst mit roter Farbe vorgenommen werden.“

DIE DURCHFÜHRUNG DER J-STEMPELUNG Die J-Stempelung wurde durchgeführt, und fast niemand bat, von ihr ausgenommen zu werden. Ein Beispiel sei aber erwähnt. Ein Mann erklärte in einem Brief an das Polizeiministerium, er müsse wegen Krankheit ausgenommen werden. Auch habe er so gut wie nie Kontakt zu seinen Verwandten gehabt und jedenfalls nicht zu seinen Großeltern. Minister Lie sorgte persönlich dafür, dass das Gesuch abgelehnt wurde, und wies zugleich darauf hin, dass der Betreffende früher einen anderen Namen trug, unter dem er in Mikal Syltenes Heft Hvem er Hvem i Jødeverdenen [Wer ist wer in der Judenwelt] aufgeführt war. Die ganze Planung sah keine Ausnahmen vor, wie die Nürnberger Gesetze und das spätere Gesetz zur Meldepflicht vom 17. November 1942 sie in gewissem Maße zuließen. Die deutsche Sicherheitspolizei war auch grundsätzlich der Auffassung, 25 RA, Polizeiministerium. Leiter der SIPO, Registrierung von Juden 1941, Rechnung der Firma Johs. Krogstie vom 5. Januar 1942. 26 Das Rundschreiben findet sich in vollem Wortlaut bei Mendelsohn (1992), S. 11. Mendelsohn nennt das Schreiben hier „die Verordnung“. Im gleichen Heft ist eine der polizeilichen Kontrollkarten fälschlich so abgedruckt, als sei sie ein Personalausweis.

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dass es keine Ausnahmen geben solle.27 Als ein nicht-jüdischer Zahnarzt auf der Insel Karmøy im Juni 1943, also lange nach den großen Deportationen, seine jüdische Ehefrau von der Stempelung auszunehmen bat, entschied Wilhelm Wagner, dies könne „aus grundsätzlichen Erwägungen nicht genehmigt werden“.28 In Deutschland kam es vor, dass Hitler persönlich jemanden von der Registrierung als „Nicht-Arier“ ausnahm. Soweit das Personen betraf, die, wie sich herausstellte, gar kein jüdisches Blut in ihren Adern hatten, wurde dieser Akt Unechte Befreiung genannt. Bei Personen, die wirklich Juden waren, sprach man von Echter Befreiung.29 In Kapitel 9 werden wir sehen, dass der norwegische Führer Vidkun Quisling ganz wenige Personen von der Registrierung (nach dem Gesetz über Meldepflicht von Juden vom 17. November 1942) oder sogar von der Festnahme im Herbst 1942 ausnahm. Schon am 6. Februar 1942 schrieb Wilhelm Wagner an die Polizeipräsidenten und die verschiedenen Polizeidirektionen mit der Bitte, ihm direkt so schnell wie möglich in duplo ein Verzeichnis der Personen zu senden, deren Karteikarten mit J gestempelt worden waren. Er wollte auch, falls es Änderungen gäbe, jeweils eine neue Liste haben. Zugleich erinnerte er an den korrekten Modus des Stempelns.30 Wagner und sein Referat in der Sicherheitspolizei aktualisierten also ihre Judenkartei fortlaufend aufgrund der Auskünfte unterer Polizeistellen. Das ist eine Einzelheit, die später in Vergessenheit geriet, aber deren Bedeutung gar nicht zu überschätzen ist: Wagner und seine beiden Mitarbeiter hatten eine deutlich bessere Übersicht über Juden in Norwegen als das Polizeiministerium. Aber auch Nasjonal Samling war eifrig bemüht, die Zahlen und persönlichen Daten direkt zu erhalten und in der Statistikabteilung der Partei zu lagern. „Das Verzeichnis muss den vollen Namen, Stellung, Geburtstag und -jahr sowie die Anschrift enthalten und ist später durch etwaige Nachträge zu aktualisieren.“ Diese Anfrage sandte der NS-Verbindungsmann schon am 22. Januar an das Innenministerium.31 27 RA, Polizeiministerium, Registrierung von Juden. Brief über Ausnahmen vom 21. Februar 1942. Entwurf eines Briefes des Polizeiministeriums an einen Antragsteller mit Unterschrift des Beamten vom 24. Februar 1942. Zur Haltung der Sicherheitspolizei siehe Brief des BdS Oslo, Referat IV B 4, an das Polizeiministerium vom 19. März 1942, Geschäftszeichen IV B 4 – B. Nr. 15084/41. 28 RA, Polizeiministerium, Korrespondenz in der Mappe mit dem Vermerk „Jude, Geschäftszeichen 03700/1943A erhalten 16. Juni 1943.“ 29 Hilberg (2003), S. 75–77. 30 JMO, Hønefoss politkammer. Brief von Wilhelm Wagner, BdS, IV B 4, an den Polizeidirektor in Hønefoss vom 6. Februar 1942, Geschäftszeichen 5317/42. Die Überschrift des Briefes war „Erlaß des Polizeidepartements v. 20.1.1942“. 31 RA, L-dom 4091.

Die Durchführung der J-Stempelung

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Die Stempelung in Oslo wurde von der Fremdenpolizei durchgeführt, einer Behörde, die sehr viele Juden gut kannten. Sie war zuständig für alle die norwegischen Juden, die noch immer staatenlos waren, und außerdem für die jüdischen Flüchtlinge aus Mitteleuropa und norwegisch-jüdische Hilfsarbeiter. In einem Interview mit dem Historiker Ragnar Ulstein erklärte einer der Beamten der Fremdenpolizei dies. Ich selbst hatte guten Kontakt zu den Juden, weil sie bei der Fremdenpolizei registriert wurden und ein J in ihre Papiere bekamen. Die Juden waren unsere guten Freunde, und sie kamen ständig vertrauensvoll zu uns – wir bestellten sie nicht per Anzeige oder auf andere Weise zu uns; es stand in der Tagespresse, dass sie sich da oder da einzufinden hätten, und dann diskutieren wir ja ein bisschen – was meinten sie – von Tag zu Tag geschah meist irgendetwas, und danach fragten sie dann.32

Zweifellos hat dieses Vertrauensverhältnis dazu geführt, dass viele Juden keine Bedenken hatten, sich registrieren zu lassen. Es stellte sich heraus, dass fast 250 der registrierten Juden schon lange, einige schon seit 20 Jahren, als Staatenlose in Norwegen wohnten. Diese Juden mussten ihre Aufenthaltserlaubnis regelmäßig bei der Fremdenpolizei erneuern lassen. Dieser enge Kontakt zu den Behörden bewirkte wohl, dass viele der norwegischen Juden glaubten, sie könnten sich dem Gebot nicht entziehen. Hinzu kam die Furcht vor möglichen Konsequenzen, falls man sich dem Gebot der Behörde widersetzte. In dem kleinen Ort Follebu, wo die Nansenhilfe einige tschechische Juden untergebracht hatte, meinte der Ortspolizist Arntzen es gut mit ihnen. Als die vier Juden ihre Ausweise stempeln lassen wollten, sagte er ihnen, sie sollten erst einmal abwarten: „Ich gebe Ihnen Bescheid, wenn irgendetwas gegen Sie eingeleitet wird.“33 Einige Juden ließen sich dennoch nicht registrieren. Ein alleinstehender Mann, der im Januar 1943 nach Schweden floh, hatte es nicht getan. Er hatte sich im März 1942 taufen lassen, nur eine Woche vor der Ausstellung seines neuen Personalausweises. In Schweden gab er als Grund seiner Flucht an, er sei verdächtigt worden, seiner Schwester „bei der Flucht geholfen zu haben“. Die Schwester war nach Schweden geflohen, „weil sie mit einem Juden verheiratet war“.34 Sie und ihre beiden Kinder hatten indes selbst J-gestempelte Ausweise und waren zweifellos „Juden“, 32 NHM 15 J 008, Inerview von Johan Fredrik Myklebust am 27. Februar 1970. Myklebust war im Widerstand aktiv. 33 Pryser (2006), S. 104. 34 SRA, Statens Utlänningskommission, FIABA: 4624, Vernehmung beim Polizeichef („Landsfiskal“) in Töcksfors am 5. Januar 1943.

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Die fatale Wendung: Die Juden werden registriert

für die das Registrierungsgebot galt. Ob der Mann glaubte, er sei nicht registrierungspflichtig, weil er sich hatte taufen lassen, ist nicht überliefert. Ein anderes Beispiel ist ein Osloer Zahnarzt. Er und seine Frau ließen sich nicht registrieren und entgingen auch im Herbst 1942 der Polizei. Die Tochter der beiden, ebenfalls Zahnärztin, wurde aber registriert. Sie hatte einen nicht-jüdischen Ehemann; die beiden flohen. In der mit den Aktionen im Herbst 1942 verbundenen Eile fiel es niemandem ein, die Eltern zu überprüfen. Sie lebten bis Kriegsende weiter in Oslo.35 Auch Juden, die in einem Heim lebten, wurden nicht ohne weiteres registriert. Anfang der 1930er Jahre kam ein vierjähriger Junge in ein Heim in Bærum bei Oslo, nachdem seine Mutter im Kindbett gestorben war. Er wurde im Zuge der J-Stempelung nicht registriert; vielleicht hatte er gar keinen Ausweis. Das Personal wusste, dass er Jude war.36 Ähnliches gilt für einige andere Personen, die in Heimen untergebracht waren. Leiser Karpol kam 1938 als Fünfzigjähriger in das Lierasyl bei Drammen und blieb dort bis zu seinem Tod 1944, ohne dass er je registriert oder von der Polizei beachtet worden wäre. 1947 wurden seine sterblichen Überreste auf den jüdischen Friedhof in Oslo überführt.37 Für die jüdischen Flüchtlinge in Norwegen war die Situation anders und äußerst angstbesetzt. Ein jüdisches Ehepaar, das auf der Flucht in Norwegen gestrandet war, als der Krieg am 9. April 1940 das Land erreichte, beschloss, sich nicht registrieren zu lassen. In einem Brief erklärten sie das nach dem Krieg so: Im Frühjahr 1942 wurde allen Juden in Norwegen befohlen, sich bei der Polizei zu melden. Durch frühere Erfahrung klug geworden, beschlossen wir, das nicht zu tun, aber wir machten uns bereit, über die Grenze zu gehen, sobald sich uns die Möglichkeit dazu böte.38

Eine deutsch-jüdische Frau in Årdalstangen am Sognefjord, Nanon Jeanette Seielstad, ließ sich auch nicht als Jüdin registrieren und entging zunächst der Verhaftung. Sie war mit dem nicht-jüdischen Arzt Tor Seielstad verheiratet und wäre 35 Siehe u. a. Norges tannleger [Norwegens Zahnärzte] (1950), S. 296. 36 DMT, AS-11009 D0022 Mappe 3, Brief von Emma Hjorts Hjem [Staatliches Heim für Geistesschwache] an DMT vom 28. Juli 1951. 37 Ebd., D0020 Mappe 3, Brief von DMTs Vorsteher an Pfarrer Nissen im Kirchspiel Frogner, Gemeinde Lier, vom 15. Oktober 1946. Karpol starb am 21. September 1944 und wurde auf dem Friedhof von Frogner begraben. 38 Ebd., D0023 Mappe 3, Brief von Léne und René Mondiano an die Mosaische Glaubensgemeinschaft vom 9. November 1949. Das Ehepaar ging erst um die Monatswende Oktober/November 1942 in den Untergrund und floh später über die Grenze.

Die Durchführung der J-Stempelung

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wohl erst einmal der Deportation entgangen; aber sie lebte gefährlich, weil nach und nach ihre antinazistische Haltung bekannt wurde. Im Dezember 1943 wurde sie wegen „demonstrativen Auftretens gegenüber deutschen und norwegischen Staatsbürgern“ festgenommen und kam in das Gefängnis Bredtveit in Oslo. Dort stellte man fest, dass sie Jüdin war. Wegen einer Erkrankung kam sie ins Rikshospital, das zentrale Krankenhaus, und ging von dort im März 1944 mit ihrem Mann in den Untergrund. Am 27. Juni 1944 brachten sich beide nach Schweden in Sicherheit.39 Der Autor und Verlagsmann Max Tau erzählt in seinen Memoiren En flyktning finner sitt land [Ein Flüchtling findet sein Land], dass er zusammen mit anderen staatenlosen Flüchtlingen die Fragebögen ausfüllte. Einer von ihnen, Felix Silber, sagte: „Du wirst nicht glauben, was ich sage, aber dies ist das Ende.“40 Die staatenlosen Flüchtlinge begriffen sicher besser als norwegische Juden, was das Registrierungsgebot bedeutete. Viele Flüchtlinge hatten schon in ihre – zu diesem Zeitpunkt nicht mehr gültigen – deutschen Pässe einen J-Stempel bekommen. Die norwegischen Juden konnten sich nicht vorstellen, was sie erwartete. Fast alle staatenlosen Flüchtlinge waren deutsche Juden oder kamen aus Gebieten, die Deutschland annektiert hatte. Sie hatten sich schon bald nach der Besetzung Norwegens bei der deutschen Sicherheitspolizei melden müssen. Abgesehen von denen, die ganz in die Illegalität abtauchten, hätte es für sie ernste Folgen gehabt, wenn sie sich dem Stempeln der Ausweise entzogen hätten. Das hätte die Gestapo sehr leicht feststellen können. Dennoch gab es staatenlose Juden, die sich nicht meldeten. Einer von ihnen war der Jurist Walter Rotholz, geboren 1893. Er war mit einer nicht-jüdischen Norwegerin verheiratet. 1933 war er in Berlin wegen seiner jüdischen Abstammung als Richter pensioniert worden. Dass er nicht einfach entlassen wurde, war seinem Einsatz als Soldat im Ersten Weltkrieg geschuldet. Er verließ Deutschland 1936; in Norwegen heiratete er. Später hielt er sich in den USA und in Frankreich auf und arbeitete dort 39 Nanon Jeanette Seielstad, geb. Stadthagen, war 1901 in Berlin geboren und heiratete 1934 den Arzt Tor Seielstad. Sie starb 1949 in Årdalstangen und ist eine von ganz wenigen, vielleicht die einzige, die mit Genehmigung der Mosaischen Glaubensgemeinschaft auf einem christlichen Friedhof beerdigt ist. Auf ihrem Grabstein steht: Doktorfrua – Ei framand liti jødinne. Eit godt menneskje [Die Doktorsfrau – eine fremde kleine Jüdin. Ein guter Mensch]“ – Zu ihrer Haftzeit, der Karteikarte und dem Aufnahmeprotokoll in Bredtveit siehe RA, Statspolitiet – Zur Vernehmung von Tor Seielstad in Kjesäter am 29. Juni 1944 siehe SRA, Statens Utlänningskommission, Lagerarchiv Kjesäter. 40 Tau (1967), S. 100. Während Tau sich nach Schweden rettete, wurden Felix Silber und seine Frau Fedossi am 26. November 1942 mit der Donau deportiert und bei der Ankunft in Auschwitz ermordet.

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Die fatale Wendung: Die Juden werden registriert

als Wissenshaftler. In Frankreich war er, als deutsche Juden ihre Pässe mit dem J stempeln lassen mussten. Sein Pass wurde in der Deutschen Botschaft in Paris gestempelt. Mit seiner Frau und einer in Paris geborenen Tochter kam er 1939 nach Norwegen und wollte in die USA weiterreisen, aber dann kam der Krieg. Die Familie war in Norwegen gestrandet. Rotholz entzog sich dem Gebot, seinen Ausweis stempeln zu lassen – er hatte sich noch gar keinen beschafft. Acht Tage vor der Aktion gegen jüdische Männer im Oktober 1942 wurde er zur Gestapo und Wilhelm Wagner bestellt und sollte sich erklären. Er sagte, er habe schon einen mit J gestempelten Pass und habe es daher nicht für erforderlich gehalten, sich einen neuen zu besorgen. Er konnte gehen, aber er wurde in die Listen eingetragen. Am 26. Oktober wurde er auf dem Weg zum Einkaufen von der Staatspolizei festgenommen.41 Die Zahl der Juden, die sich nicht registrieren ließen, lässt sich nicht exakt bestimmen. Von den Kindern, die die Nansenhilfe 1939 ins Land geholt hatte, wurden nur wenige registriert.42 Die in der Organisation Verantwortlichen begriffen instinktiv, dass die Kinder, hätte man sie registriert, in eine gefährliche Situation geraten wären. Ihre Helfer konnten das Gebot auch relativ einfach umgehen, da keines der Kinder älter als 15 Jahre und damit selbst nicht registrierungspflichtig war. So hatte die Polizei nur die wenigsten von ihnen im Blick, als die Juden später im Jahr festgenommen wurden. Schließlich sei erwähnt, dass sich auch einige Personen registrieren ließen, die keine „Volljuden“ nach dem Nürnberg-Prinzip waren. Das betraf wenige nichtjüdische Frauen, die mit Juden verheiratet waren, und ihre Kinder. Einige sahen sich selbst als Konvertiten und somit als „Juden“ im Sinne der Bekanntmachung. In einzelnen Fällen führte das zu Verhaftungen, aber keine dieser Frauen und keines der Kinder wurde deportiert.43 Insgesamt gilt aber: Die J-Stempelung erfasste die allermeisten, die die Nazisten als „Volljuden“ ansahen und die deshalb später zum Opfer radikaler destruktiver Maßnahmen werden konnten. 41 Staatsarchiv Freiburg, F 175/16-24, Zeugenvernehmung von Walter Rotholz vor der Sonderkommission des Bayerischen Landeskriminalamts in München am 26. Juli 1963. 42 Es handelte sich um 37 Kinder. 18 von ihnen wurden 1941 auf Wunsch der Eltern in die Tschechoslowakei zurückgebracht. Vier Kinder wurden deportiert, 15 wurden im Winter 1942/43 außer Landes geschafft. Ein Junge, Edgar Brichta, blieb bis Kriegsende in Bergen und Umgebung. 43 Zum Beispiel wurden mehrere Mitglieder der Familie Borøchstein in Kristiansund festgenommen. Die Verhaftung einer Frau in Tromsø, die allem Anschein nach vor der J-Stempelung zum Judentum konvertiert war (und somit nach der Bekanntmachung festgenommen und deportiert werden konnte), unterblieb, nachdem ein örtlicher Rechtsanwalt interveniert hatte.

Fragebogen für Juden

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FRAGEBOGEN FÜR JUDEN Während das Polizeiministerium die Bekanntmachung ausarbeitete, wurde auch die Statistikabteilung von Nasjonal Samling aktiv. Sie wollte erreichen, dass alle Personen, deren Ausweise gestempelt wurden, einen Fragebogen für Juden in Norwegen ausfüllten. Ein entsprechendes Rundschreiben wurde den Polizeibehörden am 6. Februar 1942 zugeleitet. Es wäre ein Missverständnis, die Ausfüllung des Fragebogens als das Wichtigste anzusehen, was bei der Registrierung der Juden im Frühjahr 1942 geschah. Die Verwendung der Fragebögen durch die Polizei bei den Verhaftungen im Herbst des Jahres hat dazu beigetragen, dass die tatsächliche Bedeutung der Bögen überschätzt wurde. So behauptet der Autor und Kritiker Espen Søbye in seinem Artikel Et mørkt kapittel i statistikkens historie [Ein dunkles Kapitel in der Geschichte der Statistik], die Fragebögen der NS-Statistikabteilung hätten maßgeblich zur Verhaftung und Deportation so vieler Juden im Herbst 1942 beigetragen.44 Das ist nicht richtig; die eigentliche Grundlage waren die J-Stempelung und die folgende Registrierung. Aber in einem Punkt sollten die Fragebögen den Tätern im Herbst die Arbeit erleichtern: Auf den Bögen mussten Kinder mit Namen und Alter angegeben werden und ferner, ob der Ehepartner bzw. die Ehepartnerin jüdisch war. Diese Informationen wären nicht verfügbar gewesen, wenn man die Personen, die den J-Stempel bekommen hatten, nicht nachträglich gezwungen hätte, einen Fragebogen auszufüllen. Im Rundschreiben des Polizeiministeriums zur Stempelung (in dem der Fragebogen für Juden in Norwegen nicht erwähnt wird) hieß es: Ferner soll ein besonderes Verzeichnis aller Personen angelegt werden, deren Personalausweise gemäß dieser Bestimmung gestempelt sind. Die örtliche Polizei soll eine Abschrift des Verzeichnisses an die Polizeidirektion schicken, die ein Gesamtverzeichnis der Juden in ihrem Bezirk haben soll. Spätere Veränderungen im Verzeichnis sind von der örtlichen Polizei der Polizeidirektion mitzuteilen.45

Wilhelm Wagners Referat in der deutschen Sicherheitspolizei hatte sich wie erwähnt nach der Stempelaktion eine eigne Übersicht über die Juden verschafft. Wegen des Fragebogens musste nun ein weiteres Rundschreiben an die Polizeibehörden verfasst werden. Die neue Auflage wurde nicht per Anzeige bekanntge44 Søbyes Artikel findet sich in der Zeitschrift Samfunnsspeilet Nr. 4 (1998). 45 Rundschreiben des Polizeiministeriums zum Stempeln der Personalausweise von Juden vom 10. Januar 1942. Gedruckt bei Mendelsohn (1992).

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Die fatale Wendung: Die Juden werden registriert

macht, denn noch eine antijüdische Anordnung hätte wohl negatives Aufsehen erregt. Die Juden, die den J-Stempel bekommen hatten, wurden daher brieflich aufgefordert, den Fragebogen bis zum 7. März 1942 auszufüllen.46 Statt eine eigene Kartei anzulegen, wie das nach dem Rundschreiben zur J-Stempelung vorgesehen war, gebrauchten die Polizei und das Ministerium nun die Fragebögen als Grundlage ihrer Übersicht. Die Polizei war nur an den rein polizeitechnischen Informationen interessiert: Name, Anschrift, Alter, Kinder, vermutete kriminelle Aktivitäten. Der Sozialarbeiter Marcus Levin schrieb in seinem Bericht über die Besatzungszeit zu den Fragebögen: Einige Zeit später [nach dem Stempelungsgebot, Anm. des Autors] wurde allen Juden ein Fragebogen zur Ausfüllung zugestellt. Der Bogen, der an die Fremdenpolizei geschickt werden sollte, enthielt eine ganze Reihe heikler Fragen, z.B. nach früheren Konkursen etc. Welchen Sinn diese Fragebögen hatten, erfuhr man nie, weil die Fremdenpolizei die Behandlung hinauszögerte und auf den Papieren ,saß‘ und inzwischen entwickelte sich die Sache immer dramatischer.47

Es ist gut vorstellbar, dass die Osloer Fremdenpolizei „auf den Fragebögen saß“, denn dort arbeiteten Polizisten, die illegale Tätigkeiten überwachten. Ein Fragebogen wurde illegal nach Schweden geschickt, wo die Presseabteilung der Norwegischen Botschaft ihn ungekürzt als Anlage zu einem ihrer Pressebulletins wiedergab.48 Andererseits ist auch anzunehmen, dass Polizisten in vielen Fällen nicht zögerten, Juden aufzusuchen, damit die Fragebögen richtig ausgefüllt wurden. Dass die gewöhnliche norwegische Polizei dies tat, ließ die Maßnahme weniger gefährlich erscheinen, wie der Kriminologe Per Ole Johansen betont: Es liegt nahe zu fragen, wie raffiniert die Deutschen bei diesen ‚Aktionen‘ gegen die Juden dachten. Die Fragebögen wären […] nicht ordentlich ausgefüllt worden, wenn die Juden sie in Anwesenheit drohender Gestapomänner oder grinsender Hird-Männer hätten ausfüllen sollen. Da eignete sich die norwegische Polizei besser – zum Schaden der Juden und zum Schaden der Polizei.49 46 JMO, Privatarchiv von Fritjof de Lemos. Brief der Oslo politikammer, Pass- und Fremdenpolizei, an Frithjof de Lemos, undatiert. 47 DMT, AS-11015 Y0003 Mappe 2. Manuskript De norske jøder under okkupasjonen [Die norwegischen Juden während der Besatzung]. Geschrieben 1946 als Entwurf eines Berichts an das American Jewish Joint Corporation Committee (JOINT). 48 NHM 52, H4, Pressebulletin Nr. 100 vom 16. März 1944. 49 Johansen (1984), S. 146.

Fragebogen für Juden

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Einiges spricht dafür, dass deutsche Stellen in Norwegen auch bei diesem Einfall ihre Hand im Spiel hatten. Der Leiter der NS-Statistikabteilung, Ingenieur Nylander, arbeitete mit dem Einsatzstab im Reichskommissariat zusammen. Der Einsatzstab war ein besonderer Teil des Reichskommissariats. Er wurde, wie in Kapitel 3 erwähnt, eingerichtet, um Nasjonal Samling als staatstragende Partei anzuleiten und zu formen. Sein wichtigstes Ziel war die Herstellung „einer einheitlichen Stellungnahme in Weltanschauungsfragen“ innerhalb der Partei.50 NS sollte nach deutschem Vorbild eine einheitliche Parteiorganisation erhalten, sozusagen eine norwegische NSDAP werden. In einem Vermerk für Staatspolizeichef Marthinsen vom 27. Oktober 1942, also dem Tag nach der Verhaftung jüdischer Männer, nahm NS die Ehre für sich in Anspruch, eine Kartei über Juden in Norwegen ausgearbeitet zu haben. Ausdrücklich wurde betont, dass die NS-Statistikabteilung die Initiative ergriffen und dabei Kontakt zum Einsatzstab gehabt hatte: Bei der Ausarbeitung der Bestimmungen dazu, wer als Jude bezeichnet werden und somit registrierungspflichtig sein sollte, hat NS mit deutschen Stellen beim Einsatzstab Wagner zusammengearbeitet.51

Weiter unten in dem Vermerk wird präzisiert, dass die Fragebögen im Sinne einheitlicher Regeln mit der Definition des Begriffs „Jude“ in der Bekanntmachung vom 20. Januar 1942 abzugleichen seien. In dem Rundschreiben des Leiters der norwegischen Sicherheitspolizei vom 6. Februar 1942 hieß es, der Fragebogen solle in drei Exemplaren ausgefüllt werden „von sämtlichen Personen, die nach dem Rundschreiben des Ministeriums vom 10. Januar d. J. verpflichtet sind, einen J-gestempelten Ausweis zu besitzen“. Ein Exemplar sollte im Archiv der Polizeidirektion selbst verbleiben, eines sollte die NS-Statistikabteilung erhalten, und eines sollte dem Polizeiministerium, vertreten durch den Chef der Sicherheitspolizei, zugeleitet werden. Der Fragebogen für Juden in Norwegen wurde gedruckt und lag am 26.  Februar 1942 in 12.000 Exemplaren vor.52 Möglicherweise hat die Statistikabteilung mit praktischer und moralischer Hilfe des Einsatzstabes versucht, eine auf dem Nürnberg-Prinzip beruhende eigene Definition zu erarbeiten und damit auch sogenannte Halbjuden zur Ausfüllung des Fragebogens zu verpflichten; aber daraus wurde nichts. Das hätte viel mehr 50 Zitiert nach Norsk Krigsleksikon (1995), S. 79. 51 RA, Polizeiministerium, Mappe mit dem Vermerk Kripo Jnr. 205/42. 52 Mendelsohn (1986), S. 50.

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Verwaltungsarbeit erfordert, und es hätte zu zwei verschiedenen Definitionen des Begriffs „Jude“ geführt.53 Dem Rundschreiben zufolge sollte der Fragebogen „möglichst bei Gelegenheit“ und „soweit es geht in Verbindung mit dem Stempeln der Ausweise“ ausgefüllt werden. Die Polizeipräsidenten sollten die Angaben für ihre Bezirke einsenden.54 Das Ministerium bereute später, um die Ausfüllung „möglichst bei Gelegenheit“ gebeten zu haben; denn die Registrierung zog sich wie gesagt in die Länge. Einige Fragen auf dem Bogen müssen den Juden etwas absurd erschienen sein, aber für die Nazisten waren sie völlig logisch. So wurde nach der Mitgliedschaft in einer Freimaurerloge und dem gegebenenfalls erlangten Grad gefragt.55 In der nazistischen Verschwörungstheorie war die Freimaurerei ein Ausdruck des „jüdischen Geistes“. Der Fragebogen enthielt mehrere Fragen nach den wirtschaftlichen Verhältnissen. Vor allem wollte man wissen, ob die Juden in Konkurse verwickelt gewesen waren, und falls je, in wie viele. Am Ende des Fragebogens sollten sie aussagen, ob sie „wegen irgendwelcher Vergehen angeklagt, mit Bußgeldern belegt oder verurteilt“ worden waren. Außerdem sollte der Polizeipräsident mitteilen, inwieweit der/die Betreffende im Bezirk angezeigt oder angeklagt worden war und ob der Name im wöchentlichen internen Polizeibericht, im Strafregister oder Bußgeldregister verzeichnet war. Die Fragen zur Wirtschaftskriminalität hatte offenbar das Polizeiministerium beigesteuert. In einem internen Vermerk hieß es, es gehe darum, „den Anteil der Juden am Geschäftsleben und ihre Geschäftsmethoden festzustellen, z. B. wie sie mit einem Minimum an Kapital ein Geschäft eröffnen, am liebsten eine Aktiengesellschaft, die nach kurzer Zeit in Konkurs geht nach einem Umsatz, der in keinem Verhältnis zum Kapital steht“. Außerdem sollten die Fragen direkt jüdische Kriminalität aufdecken, „in erster Linie Betrügereien“.56 In einem besonderen Rundschreiben an die Polizeipräsidenten vom 12. Februar wurden die Polizeistellen gebeten, noch mehr Fragen zur Geschäftstätigkeit der Juden zu beantworten. Dem Schreiben war ein internes Registrierungsdokument beigelegt, ein „vorläufiges Verzeichnis jüdischer Firmen mit Stand vom 1. Dezember 1941“ und ein „Zusatz Nr. 1 (Stand vom 1. Januar 1942)“. Die Poli53 RA, Polizeiministerium, Mappe mit dem Vermerk Kripo Jnr. 1205/42. 54 RA, Polizeiministerium, Registrierung von Juden. Rundschreiben des Leiters der Sicherheitspolizei an die Polizeidirektoren vom 6. Februar 1942, Geschäftszeichen 00746/42 A. 55 Es zeigte sich, dass nur sehr wenige Juden Freimaurer gewesen waren. Zudem waren die Freimaurerlogen 1941 schon aufgelöst und wirtschaftlich liquidiert. 56 RA, Polizeiministerium, Registrierung von Juden, „Vorschlag zur Ergänzung des Fragebogens“ vom 30. Januar 1942. Lose Dokumente.

Fragebogen für Juden

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zeidirektoren sollten nun dem Verzeichnis „die Firmen entnehmen, die zu Ihrem Polizeipräsidium gehören, und eine nach Bezirken geordnete Liste dieser Firmen erstellen.“57 Eine solche vollständige Liste kam sicher nicht zustande. Das vorläufige Verzeichnis jüdischer Betriebe stammte von der deutschen Handelskammer (siehe den Abschnitt Erfassung von Juden und jüdischen Betrieben in Kapitel 4). Im April 1942 sah sich die NS-Statistikabteilung zu einem Mahnbrief an das Polizeiministerium veranlasst. Offenbar eilte es mit der statistischen Übersicht über die Juden in Norwegen.58 Ein halbes Jahr später, im Oktober, kurz bevor die große Aktion gegen die Juden losgetreten wurde, machte die NS-Statistikabteilung noch einmal auf sich aufmerksam, diesmal mit einem Vorschlag zur Gestaltung der Karteikarten über Juden. Das Polizeiministerium meinte aber, die Fragebögen reichten aus: Eine Kartei, wie Sie sie vorschlagen, hat für die Belange der Polizei keine praktische Bedeutung, da alle Informationen ohne weiteres dem Fragebogen zu entnehmen sind, falls man nähere Auskünfte über den betreffenden Juden wünscht. Die Kartei der Polizei enthält nur Angaben zu Name, Stellung, Geburtsdatum und -jahr, derzeitigem Wohnort und Polizeibezirk des betreffenden Juden. Die Kartei in dieser Form dient als Schlüssel zum Fragebogen. Die Fragebögen werden daher nach Polizeibezirken und alphabetisch geordnet.59

Das Polizeiministerium nutzte also nur die knappen Angaben zur Person. Nur drei Tage nach der Antwort des Ministeriums an Nylander wurden die Fragebögen aus den einzelnen Polizeibezirken an die Staatspolizei übermittelt. Dort wurden Listen über Juden erstellt, die bei der bevorstehenden Aktion gegen jüdische Männer am 26. Oktober 1942 Verwendung fanden. Ein interner Vermerk des Polizeiministeriums stellt fest, dass „die Initiative zur Registrierung von Juden in Norwegen von der NS-Statistikabteilung ausging, ausschließlich von ihr“. Ergänzend heißt es: „Das Ziel von NS […] ist das Sammeln von Material zur statistischen Bearbeitung der Judenfrage in Norwegen.“ Im Widerspruch dazu steht aber weiter unten in dem gleichen Vermerk, dass die Initiative zur Registrierung nicht von NS, sondern von der deutschen Sicherheitspolizei 57 Ebd., Mappe „Juden – ist dem Chef der Sicherheitspolizei vorzulegen. Kripo Geschäftszeichen 34/42B.“ 58 Ebd., Registrierung von Juden. Brief von Nylander in der NS-Statistikabteilung an den Chef der Sicherheitspolizei vom 25. April 1942. 59 Ebd. Abschrift eines Briefes des Reichskriminalchefs im Polizeiministerium an die NSStatistikabteilung vom 22. Oktober 1942.

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Die fatale Wendung: Die Juden werden registriert

kam.60 Am ehesten hatten die Fragebögen praktische Bedeutung bei der Liquidierung jüdischen Besitzes nach der Deportation oder Flucht der Juden. Die Nachlassverwalter nutzten zum Teil die Fragebögen, um die Besitzer von Aktien oder anderen Guthaben zu ermitteln. Die Hauptpersonen, die Juden selbst, konnten dazu nicht mehr angehört werden.

ANTIJÜDISCHE STATISTIK Laut Rundschreiben des Polizeiministeriums vom 6. Februar 1942 sollte die NSStatistikabteilung ein Exemplar der Fragebögen erhalten. Aufgrund der Bögen erarbeitete die Abteilung eine Statistik über Juden in Norwegen. In dem beigefügten Bericht heißt es, die Juden seien „in Norwegen verhältnismäßig schwach vertreten“. Nur 1149 Juden habe man registriert, „d. h. 0,050 % der Bevölkerung“. Aber: „Zählt man auch die Kinder mit, kommt man auf ca. 0,1 %.“ In Europa, so stellte die Abteilung fest, machten die Juden 1,95 % der Bevölkerung aus. Die Frage nach den Berufsgruppen der Juden ergab, dass die meisten Hausfrauen waren. Nur 1,19 % waren in Land- und Forstwirtschaft beschäftigt, und das war der einzige Punkt, in dem die Klischeevorstellungen über Juden mit der Wirklichkeit übereinstimmten. Kein Jude arbeitete dem Bericht zufolge im Bank- und Finanzwesen. Das fand man merkwürdig, aber die Erklärung erschien einfach: Die Antworten stammten von den Juden selbst. Die Abteilung kam auch auf diese Erklärung, als sich herausstellte, dass das durchschnittliche Vermögen der Juden relativ bescheiden war. Auf die Frage nach jüdischer Kriminalität und der Mitgliedschaft in einer Freimaurerloge ging der Bericht gar nicht ein. Das deutet darauf hin, dass die Antworten den Vorurteilen, die man in der Statistikabteilung hegte, keinesfalls entsprachen.61 Aus heutiger Sicht zeigen die Auskünfte zu „krimineller Betätigung“ eher, dass norwegische Juden deutlich gesetzestreuer waren als die übrige Bevölkerung. Keine Antwort in der Untersuchung konnte die Tatsache verdecken, dass die jüdische Minderheit in Norwegen sowohl numerisch sehr klein als auch gesellschaftlich unbedeutend war. Keinesfalls hatte sie größeren wirtschaftlichen oder politischen Einfluss. 60 Ebd., Mappe mit der Aufschrift „Kripo Jnr. 1205/42“. Vermerk für Staatspolizeichef Marthinsen vom 27. Oktober 1942. 61 Ebd., Registrierung von Juden, Mappe Jøder. Til Generalmajor Møystad til gjennomsyn og retur. Materialet er hersendt fra ing. Nylander NS Statistiske Kontor [Juden. An Generalmajor Møystad zur Kenntisnahme und mit der Bitte um Rückgabe. Das Material wurde hierher gesandt von Ingenieur Nylander in der NS-Statistikabteilung]. Kripo 10/2-43“.

Reelle Statistik

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Im Grunde war die ganze Fragebogenaktion unergiebig. In einem konspiratorischen Weltbild konnten aber Tatsachen so erklärt werden, dass sie „passten“. Die Statistik der NS-Abteilung war mit Grafiken und Säulendiagrammen modern in der Aufmachung. Die Grafiken waren mit antijüdischen Klischees versehen in einem Stil, der an das deutsche Wochenblatt Der Stürmer erinnerte. Wahrscheinlich hatte die Abteilung einen eigenen Grafiker Die Statistik wurde später in den Archiven des Polizeiministeriums begraben – ungefähr zu der Zeit im Februar 1943, als der letzte große Transport mit Juden an Bord der Gotenland Oslo verließ.

REELLE STATISTIK Während Nasjonal Samlings Statistikabteilung 1419 Juden über 15 Jahren registrierte, wurden nach meinen Ermittlungen aufgrund der Bekanntmachung vom 20. Januar 1942 1428 Personen erfasst. Hinzu kamen 154 Kinder unter 15 Jahren, die auf dem Fragebogen der Eltern aufgeführt waren. Insgesamt wurden also 1582 Personen registriert (siehe die Tabelle auf der nächsten Seite). 1107 Personen, Kinder registrierter Juden mitgezählt, Kinder aus „Mischehen“ jedoch ausgenommen, waren in Oslo und der heute eingemeindeten Nachbarkommune Aker registriert, d. h. mehr als zwei Drittel der registrierten Juden wohnten in der Hauptstadt. Im Bezirk Sør-Trøndelag wohnten 146 Juden, die meisten davon in Trondheim und dem heute eingemeindeten Strinda. Wie schon mehrfach erwähnt, war aber Sør-Trøndelag mit Trondheim ein besonderer Bezirk, in dem die Juden viel früher als in anderen Landesteilen Opfer von Verfolgung und sogar Mord wurden. 35 Juden waren aus dem Bezirk geflohen, bevor die Registrierung begann, und weitere folgten in der Zeit von Februar bis Oktober 1942. Hinzu kamen vier im März 1942 hingerichtete Juden – kaum hatten sie sich registrieren lassen, klopfte der Henker an die Tür – und weitere vier, die im Oktober und November ermordet wurden, also bevor die Deportationen begannen. Auch in Nordnorwegen war die Registrierung mangelhaft; sie schloss zunächst nicht die jüdischen Männer ein, die im Zusammenhang mit dem Überfall auf die Sowjetunion verhaftet wurden und in das Lager Sydspissen bei Tromsø kamen. Auch die jüdischen Männer in Südnorwegen, die im Lager Grini oder dem deutschen Gefängnis Møllergaten 19 in Oslo einsaßen, wurden nicht registriert. Die meisten von ihnen wurden mit den beiden Monte-Rosa-Transporten im November 1942 deportiert. Die Tabelle bestätigt, dass es in Norwegen, sieht man von den jüdischen Zentren Oslo und Trondheim ab, sehr wenige Juden gab. In einem Bezirk, Sogn og Fjordane, wohnten überhaupt keine Juden.

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Die fatale Wendung: Die Juden werden registriert

Die Registrierung schloss diejenigen Juden ein, die mit Nicht-Juden verheiratet waren, also nach nazistischer Terminologie in „Mischehen“ lebten. Das betraf 143 Personen; von diesen wohnten 95 in Oslo, in Trondheim und Sør-Trøndelag nur fünf. Die Personen dieser Kategorie sollten grundsätzlich von den Deportationen ausgenommen werden, aber 19 in „Mischehen“ lebende Juden wurden dennoch deportiert. 28 registrierte Juden starben in der Zeit zwischen der Registrierung und der Deportation mit der Donau am 26. November 1942. Inwieweit es sich dabei um natürliche Todesfälle, Selbstmorde oder Tod durch Gewalt handelt, ist nicht bekannt. Tab. 5.1: Juden, die aufgrund der Bekanntmachung vom 20. Januar 1942 über die Stempelung der Personalausweise von Juden registriert wurden Fylke (Bezirk) Finnmark Troms Nordland Nord-Trøndelag Sør-Trøndelag Møre og Romsdal Sogn og Fjordane Oppland Hedmark Hordaland Telemark Buskerud Oslo (mit Aker) Akershus Rogaland Vest-Agder Aust-Agder Vestfold Østfold Summe

Zahl der Kinder Registrierte Vor der Juden in Registrier- registrierter insgesamt Deportation „Mischehen“ ten Juden verstorben 5 0 5 1 2 17 2 19 0 2 12 4 16 0 1 1 0 1 0 0 131 15 146 8 5 27 8 35 0 3 0 23 13 28 6 23 1009 53 17 5 1 38 19 1428

0 0 2 4 2 2 98 9 0 0 0 3 5 154

0 23 15 32 8 25 1107 62 17 5 1 41 24 1582

0 1 1 0 0 1 16 0 0 0 0 0 0 28

0 2 0 8 2 2 95 8 3 2 1 3 4 143

Zieht man von der Summe der Registrierten die 28 vor der Deportation Verstorbenen ab, so verbleiben 1554 Personen, die deportiert wurden.

Reaktionen und Diskussionen um „den gelben Stern“

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Der J-Stempel war die Grundlage systematischer Festnahmen. Als die Aktionen im Oktober 1942 eingeleitet wurden, waren daher 1554 Personen prinzipiell in tödlicher Gefahr. REAKTIONEN UND DISKUSSIONEN UM „DEN GELBEN STERN“ Die raffinierte Art der Einführung des J-Stempels bewirkte, dass die Reaktionen auf sich warten ließen. Andere antijüdische Maßnahmen wurden in den Zeitungen groß aufgemacht und oft auch kommentiert. Als das Quisling-Regime im März 1942 das Einreiseverbot für Juden wieder in das Grundgesetz aufnahm, wurde das sowohl in der Tagespresse als auch in propagandistischen Zeitschriften ausführlich behandelt. Die mit der J-Stempelung einhergehende ohrenbetäubende Stille hatte ihren Grund. Es gab keine redaktionellen Kommentare, keine antijüdischen Artikel, keine antisemitische Hysterie. Die deutsche Sicherheitspolizei, d. h. in letzter Instanz die Besatzungsmacht, wollte Widerstand gegen die Registrierung, diese entscheidende Grundlage weiterer Maßnahmen, um jeden Preis vermeiden. Es sollte in der Zeit danach so still wie möglich sein. Nichts deutet darauf hin, dass das Besatzungsregime die Bewegungsfreiheit der Juden oder ihre Berufsausübung durch offene Eingriffe beschränken wollte. Die J-Stempelung war eine rein polizeiliche Registrierung, die spätere Verhaftungen ermöglichte, aber als Grundlage offener und systematischer antijüdischer Maßnahmen und Gebote nicht taugte. Sie war der effektive Ausgangspunkt einer späteren Blitzaktion gegen die jüdische Bevölkerungsgruppe. Die norwegische Registrierung beruhte auf einer deutschen Polizeiverordnung vom 23. Juli 1938. Dieses Dekret verfügte, dass alle Juden deutscher Nationalität sich bis zum 31. Dezember einen neuen Personalausweis beschaffen mussten. Anfangs galt die Verordnung nicht für die Pässe von Juden, aber das wurde am 5. Oktober 1938 geändert, weil der schweizerische Botschafter in Berlin sich darüber beschwert hatte, dass „die jüdische Emigration“ in die Schweiz „extraordinäre Proportionen“ angenommen hatte. Daher schlug die Schweiz vor, dass die Pässe deutscher Juden besonders gekennzeichnet werden sollten. In der deutschen Verordnung vom 5. Oktober 1938 hieß es, die Pässe aller deutschen Juden sollten mit einem großen roten J gestempelt werden. Diese Lösung erwies sich als sehr zweckmäßig.62 Der nächste Schritt war die Kennzeichnung nicht nur der jüdischen Ausweise oder Geschäfte, sondern auch der Juden selbst. Den Vorschlag machte Heydrich 62 Hilberg (1965), S. 173–175.

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Die fatale Wendung: Die Juden werden registriert

schon nach der „Kristallnacht“ im November 1938, aber er wurde erst im September 1941 umgesetzt. Juden in Deutschland wurden gezwungen, auf der linken Brustseite aller sichtbaren Kleidungsstücke einen gelben Stern mit der Aufschrift Jude zu tragen. Auch diese Auflage wurde nicht durch ein Gesetz oder den Zusatz zu einem Gesetz eingeführt, sondern durch eine Polizeiverordnung. Juden im sogenannten Generalgouvernement mussten schon seit Oktober/November 1939 eine Armbinde mit einem blauen Davidstern tragen. Später wurde der gelbe Stern auch den Juden in den besetzten Gebieten der Sowjetunion aufgezwungen, die die ersten großen Mordaktionen im Herbst 1941 überlebt hatten; sie mussten den Stern vorn und hinten auf der Kleidung tragen. In den östlichen besetzten Gebieten war eine solche Kennzeichnung relativ leicht durchzusetzen. Die Besatzungsmacht herrschte unumschränkt und mit extremer Gewalt gegen Juden und andere. In den westlichen besetzten Gebieten war die Situation eine andere. Am 21. August 1941 rief Obersturmbannführer Adolf Eichmann den Staatssekretär Rademacher im Außenministerium an und berichtete, dass „der Führer seine Zustimmung dazu gegeben hat, dass die Juden in Deutschland ein eigenes Kennzeichen tragen sollen“. Eichmann wollte wissen, ob das auch für ausländische Staatsbürger im Reich gelten sollte und ob der Davidstern außerdem in den besetzten und den mit Deutschland verbündeten Ländern eingeführt werden könnte. In einer Notiz, die Rademacher nach dem Gespräch niederschrieb, schlug er Außenminister Ribbentrop vor, das Kennzeichen solle „ohne weiteres“ auf die besetzten Gebiete übertragen werden und es müsse möglich sein, die Zustimmung befreundeter Regierungen und Vichy-Frankreichs einzuholen. Vielleicht würden neutrale Staaten wie die Schweiz und Schweden protestieren, aber dem sehe er gelassen entgegen.63 Es zeigte sich aber, dass das Gebot in westlichen Gebieten schwerer durchzusetzen war, als Eichmann und Rademacher glaubten. Im besetzten Teil Frankreichs wurde es von der Militärverwaltung am 28. Mai 1942 eingeführt, aber die VichyRegierung weigerte sich, weil es „die französische Ehre verletzen“ könne (der wahre Grund war wohl, dass es den Widerstand gegen Pétains Regime stärken könnte). Durchgesetzt wurde das Gebot, als deutsche Truppen im November 1942 auch in das Vichy-Gebiet einmarschierten. In Belgien wurde das Gebot am 3. Juni, in den Niederlanden schon am 3. Mai 1942 eingeführt. In Belgien widersetzten sich Beamte in manchen Orten der Besatzungsmacht. In den Niederlanden bekundete die Bevölkerung deutliche Sympa63 Institut für Zeitgeschichte München, Auswärtiges Amt, „Die Juden in besetzten Ländern sollen ein Kennzeichen tragen“, 21. August 1941. Aus dem Original von Helge Paulsen notiert.

Reaktionen und Diskussionen um „den gelben Stern“

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thie für die Juden, und eine illegale Zeitung druckte 300.000 sechseckige Sterne mit dem Text „Juden und Nicht-Juden sind alle gleich“. Selbst in Deutschland musste die Sicherheitspolizei feststellen, dass Nicht-Juden öffentlich ihre Sympathie für die Juden ausdrückten.64 In Norwegen meldeten die Zeitungen die Einführung des Kennzeichens in Deutschland (siehe den Abschnitt Propagandakrieg in Kapitel 4). Am 4. Oktober 1941 druckte Aftenposten das Bild eines Ehepaars in Berlin, das den gelben Stern trug, mit diesem Begleittext: „Wie bereits berichtet, müssen alle Juden in Großdeutschland jetzt auf der linken Brustseite einen gelben Stern mit dem Wort Jude tragen.“ Wollte die Besatzungsmacht den gelben Stern vielleicht auch in Norwegen einführen? Viele glauben das wohl, wie ein Witz zeigt, der der Norwegischen Botschaft in Stockholm aus der Widerstandsbewegung zugetragen wurde: Zwei Männer sprachen über die Situation, der eine war Jude. Du, sagte der andere, weißt du schon, dass die Juden in Paris und in verschiedenen Ländern, die die Deutschen besetzt haben, jetzt mit einem J-Zeichen herumlaufen sollen? Ja, sagte der Jude, das ist in Ordnung, aber warum kriegen wir das hier nicht auch? Es ist so eklig, dass man manchmal für einen Deutschen gehalten wird.65

Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass das Reichskommissariat die Einführung des Judensterns ernsthaft in Betracht zog. Wir müssen aber annehmen, dass Eichmanns Referat darauf gedrängt hat, in Norwegen ebenso zu verfahren wie in anderen westlichen Gebieten mit Ausnahme Dänemarks. Es wäre aber der deutschen Sicherheitspolizei nicht schwergefallen, das RSHA davon zu überzeugen, dass ein solches Kennzeichen völlig überflüssig war, nicht nur weil es in Norwegen so wenige Juden gab, sondern auch weil die J-Stempelung aus psychologischer wie administrativer Sicht den deutschen Interessen zur Genüge diente. Am wichtigsten war gleichwohl, dass die Besatzungsmacht eine gewisse Erfahrung mit der Kennzeichnung jüdischer Läden hatte. Kurz nach der Invasion waren deutsche Stellen an mehreren Orten spontan gegen jüdische Geschäfte vorgegangen. Das hatte starke Reaktionen hervorgerufen; sie hatten gelehrt, dass sichtbare Maßnahmen gegen Juden nicht angebracht waren. Am 26. November 1942, also dem Tag, an dem 529 Juden mit der Donau deportiert wurden, meldete aber Globetrotter Morse, Vichy-Frankreichs Nachrichten64 Moore (1997), S. 265. Rozett (2000), S. 129 f. 65 RA, Privatarchiv von Petter Munthe Kaas. Mich hat Trond Winnje auf den Witz aufmerksam gemacht.

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Die fatale Wendung: Die Juden werden registriert

agentur, aus Stockholm, dass Quisling beschlossen habe, den Juden das Tragen von „Salomons Stern“ zu befehlen, einem für Juden charakteristischen Zeichen. Und weiter hieß es, der Hird habe Plakate geklebt, die Juden den Zutritt zu öffentlichen Gebäuden verboten. Diese Plakate seien von Feinden des Regimes wieder entfernt worden und Quisling habe daher die Bewachung verdoppelt.66 Solche Pressenotizen, sowohl mit glaubhaften als auch mit wenig glaubhaften Neuigkeiten, kamen regelmäßig aus den besetzten Gebieten. Während die illegale Presse die J-Stempelung im Winter 1942 kaum kommentierte, war das in der Exilpresse ganz anders. Ukens Nytt fra Norge meldete sogar, dass „die Nazisten Judenverfolgungen in Norwegen vorbereiten“. Juden, „Volljuden“ wie „Halbjuden“, seien gezwungen worden, Angaben über ihr Vermögen einzureichen. Damit waren die Fragebögen gemeint. Und weiter hieß es: In nächster Zukunft erwartet man eine Konfiskation ihrer Vermögen sowie neue Gesetze, die die Juden in Norwegen hindern sollen, bestimmte Berufe auszuüben. In mehrfacher Hinsicht hat der Hird schon die Kontrolle von Juden und jüdischen Geschäften eingeführt. Das gilt z. B. für Trondheim und Oslo, wo einigen Juden, Geschäftsleuten oder Anwälten, ihr Lebensunterhalt genommen wurde. Obwohl es in Norwegen nie irgendein „Judenproblem“ gegeben hat, versuchen die Nazisten nun, einen künstlichen Judenhass zu schaffen, aber ihre Bestrebungen haben in keiner Weise Erfolg gehabt.67

Die Exilbehörden waren gut über die Maßnahmen informiert (wenngleich die Meldung, Halbjuden hätten die Fragebögen ausfüllen müssen, falsch war). In den Presseberichten der Botschaft in Stockholm wurde am 31. Januar 1942 notiert: „Bis Ende Februar sollen Juden in Norwegen in ihre Personalausweise einen großen J-Stempel bekommen.“68 In einem Bericht vom 23. Februar notierte die Botschaft, dass eine Jüdin, die mit einem hohen NS-Führer verheiratet war, wegen ihres J-gestempelten Ausweises schikaniert worden war. Gemeint war Mary Hoel geb. Nathan, die Frau des hohen SS- und Polizeioffiziers Egil Hoel. Beunruhigender fand man, dass die Nazisten nun „eine mächtige antijüdische Kampagne in Norwegen“ vorbereiteten.69 Die schwedische Zeitung Svenska Dagbladet meldete, die Juden in Norwegen würden jetzt registriert und Gesetze, die ihnen die Ausübung bestimmter Berufe 66 AA, Inland II A/B 83-26 R99431, vertrauliche politische Nachrichten, Blatt 26 vom 26. November 1942. Der Artikel hatte den Titel „Der Judenstern in Norwegen eingeführt“. 67 NHM, Ukens Nytt fra Norge vom 22. Januar 1942. 68 NHM 52, C H4, Pressebulletin Nr. 80 vom 31. Januar 1942. 69 Ebd., Pressebulletin Nr. 96 vom 23. Februar 1942.

Reaktionen und Diskussionen um „den gelben Stern“

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verboten, seien in Vorbereitung. Norsk Tidend erwähnte das Registrierungsgebot in der Juninummer 1942 und fügte wörtlich den oben zitierten Kommentar aus Ukens Nytt hinzu.70 Zu diesem Zeitpunkt war die Registrierung längst abgeschlossen. Die Kirche kommentierte das Registrierungsgebot ebensowenig wie die illegalen Zeitungen. Die Taktik der deutschen Sicherheitspolizei scheint gewirkt zu haben: Die Maßnahme sollte so diskret wie möglich abgewickelt werden, um Widerstand zu vermeiden. Es gibt aber einen an Polizeiminister Jonas Lie adressierten Brief, der merkwürdigerweise erhalten ist. Der jüdische Arzt und Kriegsheld Bernhard Goldberg gelangte nach dem Krieg in den Besitz des Briefes, dessen anonymer Verfasser die Sache offensichtlich durchschaut hat: Das Polizeiministerium hat am 20. Januar d. J. eine ‚Bekanntmachung zur Stempelung der Personalausweise von Juden u. ä.‘ ausgefertigt. Diese Bekanntmachung wird in weiten Kreisen im Inland und auch außerhalb der Landesgrenzen auf starke Indignation stoßen. […] Ein aus einer sogenannten Mischehe hervorgegangenes Kind wird sogar als ‚Bastard‘ bezeichnet. Jeder Mensch von Bildung und Kultur weiß diese ‚schmeichelhafte‘ Bezeichnung richtig einzuschätzen. – Es ist außerdem auffallend, dass diese ‚Bekanntmachung‘ weder unterzeichnet noch gegengezeichnet ist und dass sie im Norwegischen Gesetzblatt nicht veröffentlicht wurde. So viel zur rein formalen Seite der Angelegenheit. – Der ‚Bekanntmachung‘ zufolge soll eine rein ‚rassenmäßige‘ Registrierung der Juden in Norwegen vorgenommen werden. Zu deren Durchführung muss das Polizeiministerium nach der Mitgliedschaft der Juden in der Mosaischen Glaubensgemeinschaft fragen. So wird also ‚Rasse‘ mit Religion gleichgesetzt.71

Jonas Lie hat den Brief als erledigt abgetan. Obwohl man im Ministerium wusste, dass das Gebot, die Ausweise mit einem J stempeln zu lassen, eigentlich nicht legal war, und befürchtete, dies könnte auffallen, hat offenbar nur dieser anonyme Briefschreiber den Finger auf die Wunde gelegt.

70 Mendelsohn (1986). S. 51 f. Norsk Tidend war das offizielle Organ der norwegischen Exilregierung in London. 71 Privatarchiv von Leif Arild Levin, Brief an Polizeiminister Jonas Lie, eingegangen am 20. Februar 1942. Geschäftszeichen 296/J (Aufschrift „Ministeren“). Jonas Lie hat selbst „erledigt“ auf den Brief geschrieben.

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Die fatale Wendung: Die Juden werden registriert

ZUSAMMENFASSUNG: DIE BEDEUTUNG DER REGISTRIERUNG Die Bekanntmachung zum Stempeln der Personalausweise norwegischer Juden war zweifellos die wichtigste antijüdische Maßnahme vor dem Oktober 1942, als die allgemeinen Festnahmen von Juden begannen. Die J-Stempelung und die mit ihr einhergehende Registrierung von Juden bildeten den Ausgangspunkt der Aktionen vom 26. Oktober und 25./26. November 1942. So gesehen hatten die Maßnahmen nur eine wirkliche Funktion: über alle Juden in Norwegen eine systematische Übersicht zu gewinnen, die bei den späteren Festnahmen verwendet werden konnte. Zugleich führte die Bekanntmachung auch in Norwegen das Nürnberg-Prinzip ein. Damit wurden die hiesigen Juden dem gleichen Prinzip der systematischen Aussonderung unterworfen wie die Juden in den anderen von Deutschland besetzten Teilen Europas. Der Kreis der Opfer war definiert: Der J-Stempel war ein potentielles Todesurteil. Dass der Befehl zur J-Stempelung in Form einer Bekanntmachung des Polizeiministeriums erfolgte, hatte aus deutscher Sicht eine doppelte Funktion. Zum einen musste den Juden selbst eine Bekanntmachung, verglichen mit einem Gesetz, als eine weniger bedrohliche Maßnahme erscheinen. Natürlich war es unangenehm, einen J-Stempel im Ausweis zu haben, aber zugleich riskierte, wer sich der Registrierung entzog, vielleicht viel unangenehmere Konsequenzen. Wichtiger war indes, dass eine Bekanntmachung auf den Anzeigenseiten der Zeitungen unter anderen Annoncen leicht unbeachtet blieb. Beide Erwägungen erwiesen sich als stichhaltig: Die allermeisten Juden ließen sich registrieren, und nennenswerte Einwände seitens der Beamtenschaft, der Norwegischen Kirche oder anderer Institutionen, von denen man Proteste hätte erwarten können, blieben aus. Solchen Widerstand hätte es dagegen gegeben, wenn die Besatzungsmacht versucht hätte, den gelben Stern in Norwegen einzuführen. Die andere Funktion war, dass es so aussah, als hätten norwegische Behörden aus eigener Initiative die Maßnahme beschlossen. Deutsche wie Norweger wussten genau, dass eine jede Verordnung vor ihrem Inkrafttreten von Reichskommissar Terboven genehmigt werden musste. Daher wünschte Fehlis keine Verordnung, auch keinen Hinweis darauf, dass die deutsche Sicherheitspolizei die Bekanntmachung veranlasst hatte. Schon vor der Registrierung der Juden hatten andere Organe ihre primitiven Definitionen des Begriffs Jude vorgebracht. Kirchenminister Skancke hatte ein Eheschließungsverbot vorgeschlagen. Justizminister Riisnæs hatte die Fylkesmenn, die „Regierungspräsidenten“ der Bezirke, gebeten, jüdischen Besitz aufgrund einer sehr vagen Definition von „Jude“ zu registrieren. Diese frühen Vorstöße sind aber

Zusammenfassung: Die Bedeutung der Registrierung

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eher als Nebenwege anzusehen. Sie trugen zu einer destruktiven Politik wenig bei. Es verwundert, dass das Nürnberg-Prinzip offenbar nicht allen norwegischen NS-Kreisen gut genug bekannt war. Die Zeitschrift Fritt Folk hielt es für geboten, am 21. Juni 1941 in ihrer Beilage Hirdmannen einen längeren Artikel über die Grundsätze der deutschen Rassengesetzgebung zu veröffentlichen, ergänzt durch Diagramme über Rassenzugehörigkeit und Erläuterungen. Der Artikel wurde später in den Ideologischen Monatsheften des Hird nachgedruckt.72 In diesem Artikel, der auch erklären sollte, warum die Juden selbst die Nürnberger Gesetze erforderlich gemacht hätten, hieß es am Ende: In unseren Tagen vergeht die Zeit aber schnell. Mit der zynischen Provokation des Judentums in diesem letzten Abrechnungskampf, den wir jetzt erleben, haben sie den deutschen Nationalsozialismus zu einer schnellen und radikalen Lösung der Judenfrage gezwungen, vorläufig in ganz Europa, wo alle Staaten sich dem Guten oder dem Bösen anschließen müssen.

Kurz nachdem die Registrierung der Juden beschlossen und bekanntgemacht worden war, wurde Quisling in einem feierlichen Akt in Oslo als Ministerpräsident eingesetzt. Schon im März 1942 führte er den Judenparagraphen wieder in das Grundgesetz von 1814 ein. Auch diese Maßnahme brachte die destruktive Politik unmittelbar nicht weiter, aber als Absichtserklärung war sie zweifellos von großer Bedeutung. Am 17. November 1942, nach der Festnahme jüdischer Männer, beschloss das Quisling-Regime ein neues Gesetz zur Meldepflicht von Juden. In dieses Gesetz war das Nürnberg-Prinzip voll integriert. Nun sollten auch „Halbjuden“ und „Vierteljuden“ erfasst werden. Im Unterschied zum Registrierungsgebot vom 20. Januar konnten aufgrund dieses Gesetzes auch weitere einschränkende Maßnahmen verfügt werden (die auch tatsächlich vorgeschlagen wurden, siehe Kapitel 9), aber die Meldepflicht erging nur neun Tage vor der Deportation mit der Donau am 26. November. Das Schicksal der norwegischen Juden war da schon besiegelt. Die Festnahmen durch die Polizei und die folgenden Deportationen gingen letztlich voll und ganz auf die J-Stempelung zurück.

72 Der Hirdmannen-Artikel vom 21. Juni 1941 wurde nachgedruckt in Ideologisk månedshefte for Hirden Nr. 4, 1941.

– KAPITEL 6 –

DIE „ENDLÖSUNG“: DIE JUDEN WERDEN DEPORTIERT

Ich meine, es sollte mitgeteilt und kräftig unterstrichen werden, dass die Aktion gegen die Juden sich nicht dagegen richtet, dass sie nun einmal Juden sind. Das ist eine Tatsache, an der man nicht vorbeikommt. Das Motiv ist eine andere Tatsache, dass der weitere Aufenthalt der Juden in Norwegen sehr große Probleme hervorruft und große Unglücke verursacht. Sverre Riisnæs1

EINLEITUNG Im Herbst 1942 rollten Züge aus Deutschland und aus den besetzten Gebieten in den Niederlanden, Belgien und Frankreich in großer Zahl ostwärts nach Auschwitz und in die anderen Todeslager. Europa sollte „judenfrei“ gemacht werden. In den besetzten Gebieten Westeuropas mit Ausnahme Dänemarks und Norwegens waren den Juden alle Rechte genommen. Gesetz war auf Gesetz gefolgt, Direktive auf Direktive; das Ziel war stets gewesen, die Juden zu isolieren und ihnen alles zu nehmen, was sie besaßen. Dieser Prozess erleichterte den Tätern die Deportations„Arbeit“ und damit die Beseitigung des letzten jüdischen Lebens in Europa. Diese Deportationen waren den deutschen Besatzern in Norwegen nicht unbekannt. Das gilt für Helmuth James von Moltke, der auf Konferenzen in Oslo Hitlergegner in der Wehrmacht vor dem warnte, was bevorstand2, und ebenso für die Offiziere in der deutschen Sicherheitspolizei, die sich konkret mit „der Judenfrage“ beschäftigten. Die Radikalität des deutschen Vorgehens war auch norwegischen Frontkämpfern und in NS-Milieus bekannt. Aber man beabsichtigte auf deutscher Seite nicht, das Netz um die Juden in Norwegen weiter zuzuziehen. Im Gegenteil, der Sommer und der frühe Herbst 1942 waren von einer geradezu ohrenbetäubenden Stille geprägt; es gab keine neuen gegen Juden gerichtete Gesetze oder 1 2

Zitiert nach Fjørtoft (1993), S. 237 f. Sørensen (2003), S. 178 ff.

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Die „Endlösung“: Die Juden werden deportiert

andere einschränkende Maßnahmen. Nach den gewalttätigen Ausschreitungen in Trondheim im Februar und März schien wieder Ruhe eingekehrt zu sein. Aber dann war die Ruhe doch vorbei. Einige Juden, hauptsächlich Staatenlose, wurden bei einzelnen Aktionen festgenommen. Beunruhigender für das norwegisch-jüdische Milieu war im August 1942 die Festnahme prominenter Osloer Juden, mit dem Rabbiner Julius Samuel an der Spitze, bei Nærsnes am Oslofjord. Später im gleichen Monat konfiszierte die deutsche Sicherheitspolizei in der Hauptstadt Villen und Wohnungen von Juden („Villaaktion“). Es ist unklar – und wird immer unklar bleiben –, ob dies Teil einer geplanten Eskalation war oder eine Einzelmaßnahme, mit der die Gestapo-Referenten ausdrücken wollten, dass es an der Zeit sei, wieder einmal etwas zu unternehmen. Klar ist dagegen, dass die Aktion gegen die Juden in Norwegen und Dänemark ganz anders ablief als im übrigen Europa. Die Deportation der Juden aus Frankreich, Belgien und den Niederlanden erfolgte in Transporten verschiedener Größe und erstreckte sich über einen langen Zeitraum, von Mitte Juli 1942 bis Mitte 1944. In den Niederlanden geschah alles nach Plan: Den Juden wurde mitgeteilt, sie hätten sich dann und dann an bestimmten Sammelplätzen einzufinden – und meistens folgten Razzien, wenn sie nicht pünktlich erschienen. Ganz nach Fahrplan wurde ein Transport nach dem anderen „nach Osten“ abgefertigt. Von zentraler Bedeutung in diesem System waren die Transitlager und die Zusammenarbeit der deutschen Seite mit dem Jüdischen Rat in Amsterdam.3 Aber man hat auch darauf hingewiesen, dass die Organisation der Besatzung in den Niederlanden der deutschen Sicherheitspolizei und den Parteiorganen mehr Spielraum gab als in Belgien oder Frankreich. Der Druck des RSHA und des Eichmannschen Referats war in den Niederlanden besonders stark.4 Der Historiker Wolfgang Seibel hat darauf aufmerksam gemacht, dass es bei der Vernichtung der Juden zwischen den Niederlanden, Belgien und Frankreich Unterschiede gab. Die SS und die deutsche Polizei waren in den einzelnen Gebieten verschieden stark vertreten, und das wirkte sich auf die Zahl der Juden aus, die erfasst und ermordet wurden: „Je weniger fragmentiert das Besatzungsregime und je mehr integriert der Sipo/SD-Apparat war, desto mehr Juden wurden ermordet.“5 Norwegen unterscheidet sich gleichwohl fundamental von allen drei Ländern. Zum einen gab es sehr viel weniger Juden, und zum andern hatte Norwegen eine besondere Schicht politischer Kollaborateure, die eine eigene Regierung mit ihrem Führer als Chef gebildet hatten. Belgien und Nordfrankreich standen dagegen unter 3 4 5

Moore (1997), S, 253 f., Seibel (2011), S. 228 f. Moore (1997), S. 255. Seibel (2011), S. 226.

Einleitung

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direkter militärischer Besatzung. Das Vichy-Regime im nicht besetzten Teil Frankreichs war politisch eng an Deutschland gebunden, aber hatte eine eigene antijüdische Gesetzgebung und konnte auch unabhängige Beschlüsse fassen. Das geschah, als der – übrigens stark antisemitisch eingestellte – Pétain sich im Herbst 1943 weigerte, ein Gesetz zu unterzeichnen, das französischen Juden ihre Staatsbürgerschaft aberkannte. Dies führte zunächst zu Irritationen, beendete aber später praktisch alle Versuche, die verbliebenen Juden systematisch in die Gaskammern zu schicken.6 Quisling dagegen spielte willig, ja eifrig mit, als die Juden in Norwegen zusammengezogen und außer Landes gebracht wurden. Nachdem er Ministerpräsident geworden war, „bekamen er und seine Partei etwas freie Hand auf der Ebene der Details“; aber, wie der Historiker Helge Paulsen treffend bemerkt: „Hitler war an Quisling und NS nur insoweit interessiert, als sie deutschen Interessen dienen konnten, und das war nur in begrenztem Maße der Fall.“7 Bei der „Lösung der Judenfrage“ in Norwegen dienten allerdings Quisling und seine Partei in jeder Hinsicht deutschen Interessen, nicht nur aus opportunistischen Motiven, sondern weil das Regime mit den Deutschen darin übereinstimmte, dass das Problem gelöst werden musste und sollte. In den besetzten westeuropäischen Ländern war der Anteil der Juden, die ermordet wurden, verschieden groß. In den Niederlanden wurden 76 Prozent der Juden deportiert, in Belgien 43 Prozent und in Frankreich 25 Prozent. In Norwegen wurden 53 Prozent der registrierten Juden deportiert, also relativ mehr als in Belgien und Frankreich, aber weniger als in den Niederlanden, die ein Besatzungsregime hatten, das dem hierzulande etablierten sehr ähnlich war. In Norwegen wurde die entscheidende Aktion gegen die Juden innerhalb von vier Monaten abgewickelt, in denen Verhaftungen und andere radikale Maßnahmen in raschem Tempo aufeinanderfolgten. Als die Gotenland in der Nacht zum 25. Februar 1943 den Osloer Hafen verließ, war im Wesentlichen alles abgeschlossen. Den Aktionen im Herbst 1942 folgte eine Reihe Gesetze, die jüdische Anwesenheit in Norwegen beendeten und eine Rassenpolitik einführten, die der in Deutschland und anderen besetzten Gebieten völlig angepasst war. Eine solche Vorgehensweise war ungewöhnlich, um es vorsichtig auszudrücken. Alles ging sehr schnell. Kann das daran liegen, dass es – im Unterschied zu anderen Ländern – möglich war, so zu verfahren? Nach meiner Meinung hat die Schnelligkeit mehrere Gründe: 6 7

Ebd. S. 226. Paulsen (1976), S. 205.

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Die „Endlösung“: Die Juden werden deportiert

Am wichtigsten war der psychologische Faktor – auf mehreren Ebenen. Die deutsche Sicherheitspolizei konnte und wollte die Aktion allein mit eigenen Ressourcen nicht bewältigen. Kollaboration war absolut notwendig, vor allem die Teilnahme der norwegischen Polizei mit ihren Kräften und ihrer Ortskenntnis. Die Zusammenarbeit mit der nazifizierten Staatspolizei war also ein unverzichtbares Fundament. Ebenso wichtig war, dass der norwegische Staatsapparat, mit Quisling und Nasjonal Samling an der Spitze, zu radikaleren Maßnahmen bereit war. Von daher war ein rasches und effektives Vorgehen sehr zweckmäßig. Trotz Nasjonal Samlings antisemitischer Haltung war ja eine Skepsis angesichts der radikalsten Schritte nicht undenkbar. Dass ein Grenzpolizist der Staatspolizei am 22. Oktober 1942 von einem Grenzlotsen erschossen wurde, der Juden über die Grenze nach Schweden führen wollte, lieferte den Tätern ein unverhofftes Propagandaargument. Nun konnte man auch das Rachemotiv ins Feld führen. Psychologisch wichtig war ferner, dass die an den Aktionen Beteiligten nicht viel Zeit hatten, genauer darüber nachzudenken, was sie das taten. Für einen Polizisten konnte es eine erhebliche Belastung sein, Frauen und Kinder festzunehmen, auch wenn sie Juden waren. Das wusste die Gestapo. Eine schnelle Aktion konnte verhindern, dass der Apparat versagte. Und ohne einen funktionierenden Apparat konnte man nicht so viele Juden aus dem Land deportieren. Ein relativ rascher Ablauf konnte auch diejenigen am Widerstand hindern, die schon gegen die Besatzungsmacht gekämpft hatten. Dabei dachte man nicht nur an den militärischen Widerstand der „Heimatfront“ (Hjemmefronten), sondern auch an die Kirche und liberale, laut Gestapo „judenfreundliche“ Kreise. Es gab aber auch rein praktische Gesichtspunkte. Ein einziger Deportationszug aus dem Transitlager Westerbork in den Niederlanden konnte mehr Juden aufnehmen, als in ganz Norwegen lebten, auch wenn man die nicht registrierten mitzählte. Die Planung der Aktion gegen Frauen und Kinder in den Tagen vor dem 26. November 1942 sollte zweifellos die ganze jüdische Bevölkerung in Norwegen erfassen, also alle, die J-gestempelte Ausweise hatten, und alle sollten in einem größeren Transport aus dem Land geschafft werden. Das belegen die Dokumente zum Transport mit der Donau. Alle in einem Trasport zu erfassen erwies sich wegen zu kurzer Fristen und schlechter Planung allerdings als unmöglich. In dem Entwurf eines Telegramms an die Sicherheitspolizei in Oslo beklagt sich Eichmann darüber, dass er über die Deportation mit der Donau nicht informiert war. Offenbar war also Eichmanns Dienststelle in die Donau-Deportation tatsächlich nicht eingeschaltet. Wegen der Eile musste im Februar 1943 ein weiterer Transport aus Norwegen organisiert werden. Zweifellos war die deutsche Sicherheitspolizei mit dem Ablauf der Aktion recht zufrieden. Allerdings zeigte sich, dass sehr viele Juden dem entscheidenden Zugriff

Der Beschluss: warum und wie?

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entkamen, und das führte an zentraler Stelle zu einigen Reaktionen. Gleichwohl konnte Hagemann, eine der zentralen Figuren im Einsatzstab, bei einer Geheimdienstkonferenz im Dezember 1942 feststellen: „Die egoistischen Norweger werden die radikale Lösung der Judenfrage schnell vergessen.“8 Er sollte recht bekommen, zumindest teilweise. Das Schicksal der Juden führte zu starken Reaktionen – vielleicht waren sie stärker, als man bisher gemeint hat; aber das ging auch relativ schnell wieder vorüber. Man kann wohl sagen, dass „der nationale Kampf “ am wichtigsten war, wie in anderen Ländern, die gegen den Nationalsozialismus kämpften.

DER BESCHLUSS: WARUM UND WIE? Alles in allem gesehen, ist der Beschluss, die Juden festzunehmen und zu deportieren, in der norwegischen Forschung wenig diskutiert worden. Meist blieb es bei der Feststellung, dass ein Befehl aus Berlin die Aktion auslöste. Ein solcher Befehl oder eine Bezugnahme auf ihn findet sich aber in den Quellen nicht. Sicher ist, dass es von zentraler Stelle allgemeine Richtlinien zur antijüdischen Politik gab. In welchem Maße diese Richtlinien auch für Norwegen gelten sollten, ist dagegen weniger sicher. Was bis zur J-Stempelung und der Registrierung der Juden geschah, war allerdings offensichtlich in hohem Maße norwegischen Verhältnissen angepasst. Heydrichs Besuch in Norwegen im Herbst 1941 mag für den Beschluss zur Registrierung den Ausschlag gegeben haben, obwohl keiner der Akteure dies ausdrücklich erwähnt. Oft ging die Frage nach einem zentralen Befehl mit der Überlegung einher, dass ohne einen solchen nichts hätte geschehen können; so habe das deutsche System nun einmal funktioniert. Es war ja ein „kopflastiges“ System, Deutschland war ein „Führerstaat“. Aber ebensowenig wie ein Befehl Hitlers zur Lösung der „Judenfrage“ gefunden wurde, existiert ein Befehl zur Lösung der Frage in Norwegen. Das ist nicht überraschend. Im Gegenteil, überraschend wäre es, wenn man einen Befehl gefunden hätte, etwa von Terboven persönlich, die Juden aus dem Land zu deportieren. Der deutsche Historiker Uwe Adam stellte schon 1972 fest: Je drastischer und radikaler die Maßnahmen wurden, desto weniger wurden sie schriftlich fixiert. Raul Hilberg zeigte später in einer schematischen Übersicht, wie das nazistische System Verfahrensweisen zur Umsetzung der radikalsten Schritte entwickelte (siehe nächste Seite). Die antijüdische Politik ging von offenen Maßnahmen in Form 8

Magne Skodvin Z706, IC Besprechung 45/32/12 (Dezember 1942). Niederschrift über die Ic-Besprechung beim AOK Norwegen in der Zeit vom 8.–11.12.1942, S. 20.

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Die „Endlösung“: Die Juden werden deportiert

von Gesetzen und Verordnungen aus und entwickelte sich allmählich zu einer grundlegenden stillschweigenden Einigkeit der Täter über die jeweils nächsten Schritte. Bürokratische Verfahren wurden so ausgehöhlt. Man vermied schriftliche Notizen oder Protokolle über Konferenzen, auf denen radikale und brutale Beschlüsse gefasst wurden. Der Übergang von offenen zu versteckten Maßnahmen

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Gesetze  Verordnungen und Bekanntmachungen  Bekanntmachungen örtlicher Befehlshaber, die aufgrund einer angenommenen Notwendigkeit handeln  Schriftliche Direktiven, die nicht veröffentlicht werden  Weitgefasste, nicht veröffentlichte Bevollmächtigungen untergeordneter Befehlshaber  Mündliche Direktiven und mündliche Genehmigung von Maßnahmen  Grundlegende stillschweigende Einigkeit der Täter führt zu Maßnahmen, die keines Befehls und keiner Erklärung bedürfen

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Quelle: Hilberg (1985), S. 55.

Die Frage, wann und wie in Norwegen ein Beschluss gefasst wurde, kann an die entsprechende Frage auf internationaler Ebene angeknüpft werden. Nicht wegen einer Gleichzeitigkeit der Beschlussfassung oder einer Vergleichbarkeit der Entscheidungsebenen, sondern weil die gleichen Mechanismen wirkten. In der Diskussion um das Wann und Wie der Entscheidung, die Juden zu vernichten, hat man oft gefragt: Wann beschloss Hitler, die Juden zu ermorden? Früher war das oft ein Streit zwischen den sogenannten Internationalisten einerseits und den Strukturalisten andererseits. Die einen meinten, Hitler habe die Ausrottung der Juden schon lange vor seiner Machtübernahme beschlossen, vielleicht sogar schon 1919, die anderen sahen den Beschluss als Ergebnis einer allmählichen Radikalisierung der Politik bis 1941.9 9

Kershaw (2000), S. 131.

Der Beschluss: warum und wie?

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Der Historiker Christopher Browning vertritt die Auffassung, diese Radikalisierung habe ihren Ursprung in den Befehlen Hitlers, der SS und der deutschen Heerführung vor der Invasion der Sowjetunion am 22. Juni 1941. Die Propaganda habe die Invasion oft als einen Krieg gegen die bolschewistische und jüdische Barbarei dargestellt, aber in Wahrheit hätten Hitler und Deutschland einen barbarischen Krieg geplant; das gehe aus den vor der Invasion gegebenen Befehlen deutlich hervor. In der Euphorie nach den ersten militärischen Erfolgen traf Hitler am 15. und 16. Juli 1941 mit Himmler und anderen Spitzenleuten des Regimes zusammen, und dabei trieb er die Barbarei auf eine neue Eskalationsstufe. Er wollte aus den besetzten Gebieten einen „Garten Eden“ machen und dabei alle erforderlichen Mittel einsetzen: „Erschießungen, große Umsiedlungen von Menschen etc.“10 Himmler nahm Hitlers Signale sofort auf und verstärkte die sogenannten Einsatzgruppen erheblich, sowohl die Ordnungspolizei als auch andere SS-Brigaden. Das Schicksal der Juden in den besetzten Teilen der Sowjetunion war nach Browning um die Monatswende Juli/August 1941 besiegelt. Aber der Beschluss, alle Juden Europas zu ermorden, ließ noch auf sich warten. Am 31. Juli 1941 besuchte Heydrich Reichsmarschall Göring und veranlasste ihn zur Unterzeichnung eines später berühmt gewordenen Schreibens, in welchem Göring ihn autorisierte, alle erforderlichen Vorbereitungen zur Durchführung „einer totalen Lösung der Judenfrage“ einzuleiten. Göring hatte seit der Pogromnacht von 1938 die ganze antijüdische Politik in Deutschland koordiniert.11 Nach Browning öffnete die Radikalisierung der Politik während des Krieges im Osten umfassenderen und weitergehenden Schritten Tür und Tor. Das endgültige Schicksal der Juden wurde praktisch zwischen Mitte September und Ende Oktober 1941 entschieden. Am 18. September notierte Himmler, dass Hitler nun beschlossen habe, das Dritte Reich so schnell wie möglich „judenfrei“ zu machen. Am 4. Oktober hielt Hitler in Berlin eine Rede, in der er noch deutlicher als früher sagte, dass er die Juden für die Verursacher des Krieges halte. Am 23. Oktober traf Eichmann in Berlin seine „Deportationsexperten“. Am gleichen Tage war Eichmann in Mogilev in Russland; dort sagte er örtlichen Einsatzgruppenführern, dass „die Last der Tötung von Juden nun durch die Konstruktion von Gaskammern vereinfacht werden sollte“. Und noch ein weiterer Schritt der Brutalisierung datiert von diesem Tage: Aus Berlin wurde ein offizielles Rundschreiben versandt, nach welchem jede Emigration von Juden aus den von Deutschland kontrollierten Gebieten aufhören sollte.12 10 Browning (2011), S. 159. 11 Ebd. 12 Ebd,.S. 160 f.

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Nach Browning hatte die Entwicklung jetzt einen Punkt erreicht, der keine Umkehr mehr erlaubte, wenn auch ein „endgültiger“ Beschluss nicht gefasst war. An die Stelle einer Entscheidung auf einer Konferenz oder durch einen deutlichen Befehl Hitlers trat eine Kette unterschiedlicher Prozesse, die aber eine Gemeinsamkeit aufwiesen: Die Politik wurde immer brutaler, immer „endlicher“. Schlussfolgernd sagt Browning in seiner Analyse der weiteren Entwicklung, die „Endlösung“ sei nicht als einheitlicher Prozess und „reine Routine“ verwirklicht worden, sondern man habe auf mehreren Ebenen ein allmählich deutlicher werdendes Ziel verfolgt. In der Einschätzung der Entwicklung bis hin zu dem faktischen Beschluss, die Juden zu vernichten, herrscht unter den Historikern jetzt mehr Einigkeit als früher. Viele schlossen sich der Folgerung an, dass die „Endlösung“ auf einem breiten Konsens beruhte: Hitler spielte die Schlüsselrolle als Antreiber, aber auch durch Legitimierung der Maßnahmen, die untergeordnete Instanzen mehr oder weniger aus eigener Initiative ins Werk setzten. Er arbeitete – wie Browning feststellt – nicht nach einem Manuskript oder aufgrund eines langfristig angelegten Planes. Er signalisierte, was er wünschte, und andere sorgten danach für die Konkretisierung seiner Wünsche durch Pläne und Besprechungen. Man war sich auf allen Ebenen einig, dass „die Judenfrage“ gelöst werden müsse – unbeschadet aller Konflikte zwischen verschiedenen Organen, die oft miteinander um die Gunst des Führers konkurrierten.13 Brownings Analyse der Ereignisse im Sommer und Herbst 1941 ist nicht die einzige Theorie zum Zustandekommen der „Endlösung“. Einige Historiker verlegen den Beschluss in die Zeit vor der Invasion der Sowjetunion und stellen die ideologischen Faktoren in den Mittelpunkt, die den Prozess vorantrieben. Andere beschäftigen sich besonders mit Hitlers manischer Besessenheit von den USA, die seit Herbst 1941 immer mehr in den Krieg eingriffen, zuerst durch den Atlantikpakt mit Großbritannien vom August 1941 und dann durch die Ausdehnung der Lend-Lease-Politik auf die Sowjetunion vom Oktober. Wieder andere sehen den Beschluss als direkte Folge des Eintritts der USA in den Krieg und der deutschen Kriegserklärung an die USA vom 7. Dezember 1941.14 Nach Peter Longerich eskalierte die antijüdische Politik von 1939 bis 1941, und die eigentliche Entscheidung fiel im April/Mai 1942. Die norwegische Forschung zum Krieg hat sich an der internationalen Diskussion einiger wichtiger Fragen kaum beteiligt. Das gilt für die Entwicklung der antijüdischen Politik, für die Organisation der Vernichtung durch die Täter und für 13 Ebd. S. 164. 14 Browning erörtert das gründlich ebd. S. 164 f. Siehe auch Gerlach in Bartov (2001), S. 12.

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das Funktionieren der Machtstrukturen. Dass die deutschen Machtstrukturen ständig im Fluss waren, ist oft unterschätzt worden, auch in Norwegen. Dass Hitler schwankte in seiner Meinung, wie Norwegen zu regieren sei, steht außer Zweifel. Obwohl er akzeptierte, dass Quisling Chef einer „nationalen Regierung“ werden wollte, machte er nie ein Hehl daraus, dass Terboven seine Macht direkt von ihm hatte und – ganz im Sinne des „Führerprinzips“ – die oberste zivile Instanz im Lande war. Quisling hatte auch keinen Rückhalt in Norwegen, seine Machtbasis war dünn. Er war voll und ganz von deutscher Unterstützung abhängig. Die bekam er auch, aber nicht ohne Vorbehalt. Er musste sich der ihm zugewiesenen Rolle anpassen, und das war ein kontinuierlicher Prozess, der andauerte bis zum 8. Mai 1945, als die deutsche Besatzung und das System, das Nasjonal Samling – zum Teil nach deutschem Muster – aufgebaut hatte, über Nacht zusammenbrachen. Im Unterschied zu der internationalen Diskussion der Frage, wann das Dritte Reich und Hitler die Ermordung aller europäischen Juden beschlossen, hat man in Norwegen kaum diskutiert, wann – oder ob überhaupt – ein Befehl zur Sammlung und Deportation der Juden erging. Berit Nøklebye schreibt in ihrer TerbovenBiographie, dass der Befehl zur Deportation der Juden „vermutlich aus Berlin kam, vom Reichssicherheitshauptamt, in dem Ernst Kaltenbrunner Heydrich als Chef abgelöst hatte“, aber einen Beleg bleibt sie schuldig. An gleicher Stelle sagt sie, nicht Terboven, der kein krasser Antisemit gewesen sei, sondern Quisling sei für eine Deportation eingetreten.15 Quisling seinerseits behauptete nach dem Krieg, dass er von den Aktionen vorher nicht gewusst habe und dass „es die Deutschen waren, die diese Dinge regelten“.16 In Norwegen hat Oskar Mendelsohn die Frage am ausführlichsten behandelt. Zunächst macht er klar, die Diskussion müsse davon ausgehen, dass „die Deportation der norwegischen Juden im Einklang mit dem Plan erfolgte, alle Juden im besetzten Europa auszurotten“. Er stellt dann fest, dass die nach dem Krieg verhörten Gestapo-Offiziere meinten, die Verfügung gegen die norwegischen Juden sei „in Form einer Fernschreibmeldung aus dem RSHA in Berlin an die deutsche Polizei in Norwegen“ ergangen.17 Die Hauptquelle für diese Behauptung war der für „die Judenfrage“ verantwortliche Hauptsturmführer Wilhelm Wagner. Mendelsohn sieht Wagner aber skeptisch. Er weist zunächst auf die Mitverantwortung des NSRegimes für die Deportationen hin und zitiert dann, was Wagner in seiner Zeugenvernehmung in dem Landesverratsprozess gegen Quisling sagte. Er behauptete dort, dass „im Laufe des Oktober und November [1942] zwischen Terboven, 15 Nøklebye (1992), S. 235. 16 Quisling-saken (1946), S. 126 ff. 17 Mendelsohn (1986), S. 185 f.

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Fehlis und Marthinsen Verhandlungen geführt worden seien, von denen er [Wagner] nichts Näheres wisse“. Mendelsohn folgert, dass die Verhaftungen von Juden während des Ausnahmezustands in Trondheim und die Aktion gegen alle jüdischen Männer am 26. Oktober „allem Anschein nach auf Initiative deutscher Stellen in Norwegen“ erfolgten.18 Seine Hauptquelle sind die Einschätzungen des Gerichts in dem Prozess gegen Wilhelm Wagner 1947. Dennoch ist Mendelsohn in seinem Urteil nicht eindeutig, denn er stellt fest, in dieser Sache stehe „Behauptung gegen Behauptung“. Eichmann sagte 1961 in dem Prozess gegen ihn in Israel, er wisse nicht, dass Juden aus Norwegen „evakuiert“ worden seien, und er fuhr fort: „Die Vollmachten und Befehle, die die Polizei hätte bekommen müssen, wären ganz allgemein gewesen und hätten für alle Westgebiete gegolten.“19 Bei aller Anerkennung der Forschungen Mendelsohns bleibt festzuhalten, dass er von den Deportationen mit der Monte Rosa und der Donau ausgeht und weniger von der zentralen Frage, wann die Entscheidung, die Juden aus Norwegen zu entfernen, tatsächlich getroffen wurde. Dabei ist zu fragen, ob der eigentliche Beschluss nicht zurückdatiert werden muss. Einen solchen Beschluss muss es gegeben haben, ehe der Befehl zur Massenverhaftung jüdischer Männer am 26. Oktober 1942 erging. Auch das am gleichen Tage eingeführte Gesetz, das den Juden praktisch alles nahm, was sie besaßen, ist ohne diesen Beschluss nicht denkbar. Das Problem der Bereitstellung von Transportmitteln für die „Evakuierung“, wie die deutsche Sicherheitspolizei und die Staatspolizei die Deportation nannten, muss in diesem Zusammenhang als Bitte um den Beistand anderer Instanzen gesehen werden. Der Historiker Samuel Abrahamsen war an dem Zustandekommen eines Beschlusses weniger interessiert, vermerkte aber,, dass die Festnahme von Juden in Norwegen für Berlin offenbar eine Überraschung war. Seine Quelle ist hier Towiah Friedmann, der in einer Dokumentensammlung zur Deportation der norwegischen Juden (herausgegeben in Verbindung mit dem Eichmann-Prozess in Israel) behauptete, Eichmann und sein Stab in Berlin hätten es als unnütz oder sogar sinnlos angesehen, die norwegischen Juden zu deportieren.20 Später schreibt Abrahamsen, dass der Befehl zur Deportation offensichtlich (allegedly) aus Berlin an den SS-Obersturmführer Fehlis erging, aber er gibt keine Quelle an und erörtert die Frage nicht näher.21 18 19 20 21

Ebd. S. 110 f. Ebd, S. 111. Abrahamsen (1991), S. 102; Friedmann (1963). Ebd. S. 118.

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Abrahamsen vermerkt auch, dass deutsche und norwegische Behörden bei den Verhaftungen eng zusammenarbeiteten. Er beruft sich dabei auf Wilhelm Wagners Zeugenaussage im Prozess gegen Hellmuth Reinhard in Baden-Baden 1967.22 Grundsätzlich ist Abrahamsen indes mit Mendelsohn einig, wenn er die Nacht vom 25. auf den 26. November 1942 als the most fateful night in the history of Norway’s Jews bezeichnet.23 Ihm darin beizupflichten ist nicht schwer. Er ist, anders gesagt, wie Mendelsohn nicht eindeutig in seiner Beurteilung der Aussagen der Täter nach dem Krieg. Eine weitere Diskussion der Frage, wann die Sammlung und Deportation der Juden in Norwegen beschlossen wurde, sollte von Ian Kershaws Feststellung ausgehen, dass das Dritte Reich keine Diktatur mit einer klaren Struktur war, die als Basis der Durchsetzung von Hitlers Wünschen diente.24 Die Entwicklung der antijüdischen Politik bis hin zum Massenmord war daher nicht auf einen einzelnen Befehl gegründet, sondern auf eine Radikalisierung, die sich während eines Zeitraums von etwa März 1941 bis Frühjahr 1942 „herbeizwang“.25 Ähnlich wird es auch in Norwegen gewesen sein. Denn es gibt nicht das eine Ereignis oder die eine Entwicklung, die bewiese, dass nun der Beschluss zur Deportation der Juden gefasst war. Nichts deutet hin auf einen zentralen Befehl deutscher Polizeibehörden in Berlin oder von Himmler persönlich. Im Gegenteil, alles spricht dafür, dass die besonderen norwegischen Verhältnisse die große Aktion gegen die Juden auslösten und dass auch in Norwegen ein Radikalisierungsprozess in Richtung auf immer brutalere Schritte ablief. Wenn man sich diese Deutung zu eigen macht und verschiedene ursächliche Faktoren gegeneinander abwägt, so sind natürlich zwei von größter Bedeutung. Erstens fehlt Quellenmaterial der deutschen Sicherheitspolizei, das klarere Aussagen dazu ermöglicht hätte, wie die zentralen Akteure beim BdS Oslo dachten und handelten. Zweitens waren die Täter selbst darauf bedacht, die Entscheidungsprozesse hinter einem dunklen Schleier zu verbergen. Diese Tendenz lässt sich bis in die oberste Ebene der Nazihierarchie verfolgen und gilt auch für die, die in Norwegen die eigentliche Macht hatten. So können wir abschließend sagen, dass heute nur noch wenige Historiker meinen, die Durchsetzung der „Endlösung“ gehe auf einen einheitlichen Beschluss zurück und die Praxis sei einem einheitlichen Plan gefolgt. Die Politik wurde örtlichen Verhältnissen angepasst: Was war dann und dann an dem und dem Ort 22 23 24 25

Ebd. S. 104. Ebd. S. 115. Kershaw (2000), S. 133. Ebd. S. 130.

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machbar? Wichtig ist jedenfalls, sich klarzumachen, dass die Täter sehr oft Opportunisten waren; sie nutzten die Möglichkeiten, die die Umstände ihnen boten. Meine grundlegende These in diesem Zusammenhang – im weitesten Sinne – ist, dass die „Lösung der Judenfrage“ in Norwegen nicht das direkte Ergebnis eines Befehls aus Berlin war, sondern Ereignissen und Möglichkeiten geschuldet ist, die sich in Norwegen eröffneten, vor dem Hintergrund einer allmählich sich bildenden Überzeugung, dass die Juden vernichtet werden sollten. Grundlegend ist ferner die Erkenntnis, dass in dem Prozess die rein ideologischen Faktoren eine bedeutende Rolle spielten. Sowohl im Besatzungsregime, vertreten durch Reichskommissar Terboven und die exekutiven Organe, besonders den BdS in Oslo, als auch im Kollaborationsregime, vertreten durch die QuislingRegierung und ihre exekutiven Organe, war man sich intern einig in der antijüdischen Ideologie, die die Aktionen rechtfertigte. Der Grundgedanke war, die Juden seien ein Sicherheitsrisiko, und dann verstärkte der Kriegsverlauf den äußeren Druck, besonders die deutsche Furcht vor einer alliierten Invasion in Norwegen. Die Besonderheit der antijüdischen Politik in Norwegen ergab sich aus Überlegungen der Täter zur zweckmäßigsten Art und Weise des Sammelns und der Deportation der Juden. Druck aus Berlin auf die deutschen Sicherheitsorgane in Norwegen war natürlich denkbar, aber in Wirklichkeit allem Anschein nach sehr schwach. Für das RSHA und Eichmanns Referat war die Lösung der „Judenfrage“ in Norwegen nicht unwesentlich, aber sie hatte keine hohe Priorität. Die Entscheidung ist also in Norwegen zu verorten. Sie ergab sich zwangsläufig, weil der Widerstand gegen die Besatzung intensiver wurde und weil der vom Reichskommissar verordnete Gegenterror im nazisischen Sinne damit argumentierte, die Juden stünden hinter dem Krieg und dem Widerstandskampf und müssten daher zusammengezogen und deportiert werden. Die erste Stufe dieser Radikalisierung ist auch in Norwegen im Zusammenhang mit dem Angriff auf die Sowjetunion zu sehen, als die meisten arbeitsfähigen jüdischen Männer in Nordnorwegen verhaftet und Geschäfte in Tromsø von der deutschen Sicherheitspolizei beschlagnahmt und anschließend liquidiert wurden. Die nächste Stufe markieren die Ereignisse in Trondheim und Umgebung, wo Flesch gegen die Juden vorging und im März 1942 vier Juden und einen angeblichen Kommunisten hinrichten ließ unter der Beschuldigung, sie hätten Nachrichten aus Großbritannien verbreitet. Noch im August 1942 war aber kein einheitlicher Anschlag auf die Juden in Norwegen geplant, denn in dem Monat wurden 35 bis 40 Juden, die die Gestapo bei Einzelaktionen festgenommen hatte, zu Zwangsarbeit nach Kvænangen in Nordnorwegen geschickt. Das wäre sicher nicht geschehen, wäre die Deportation zu dem Zeitpunkt schon beschlossene Sache gewesen.

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Im September beschleunigten sich dann die Ereignisse, und der Oktober 1942 wurde zum Schicksalsmonat norwegischer Juden. Den Vorwand für eine landesweite Aktion lieferte das, was am 22. Oktober im Zug nach Halden geschah. Der Grenzlotse und Kurier Karsten Løvestad, der mit zehn Juden nach Schweden unterwegs war, erschoss den Grenzpolizisten Arne Hvam.26 Ich meine allerdings, dass nicht dieses Ereignis zur Entscheidung für die „Endlösung“ führte. Die war schon vorher gefallen. Der eigentliche Auslöser waren der wachsende Widerstand im Land und der daraufhin von Terboven persönlich am 6. Oktober ausgerufene Ausnahmezustand in Trondheim. Ich komme darauf ausführlich zurück, aber einige Punkte seien vorweg genannt. Eines der am 7. Oktober hingerichteten Sühneopfer war der jüdische Geschäftsmann Hirsch Komissar (vgl. unten den Abschnitt „Ausnahmezustand in Trondheim“). In der Liste der Hingerichteten, die die Zeitungen am 7. Oktober veröffentlichten, war er als Jude gesondert aufgeführt. Vom 6. bis 8. Oktober 1942 wurden alle jüdischen Männer in Trondheim von der norwegischen Ordnungspolizei festgenommen, die dabei auf Befehl des HSSPF Wilhelm Rediess direktem deutschen Kommando unterstellt worden war.27 Fast alle verbleibenden Frauen und Kinder wurden nach und nach in drei Wohnungen in der Stadt konzentriert und dort unter Polizeiaufsicht gestellt.28 Danach gab es keinen Weg mehr zurück. Peter Longerich hat darauf hingewiesen, dass deutsche Besatzungsbehörden oft in Verbindung mit sogenannten Vergeltungsmaßnahmen gegen Juden vorgingen. Das geschah in Frankreich, im Protektorat Böhmen-Mähren und im Oktober 1942 also auch in Norwegen.29 Diesen entscheidenden Ereignissen in Trondheim waren schon Anzeichen einer Eskalation vorausgegangen, auch in Oslo und Umgebung, wo es lange relativ still gewesen war und wo Verhaftungen sich im Wesentlichen auf Einzelaktionen beschränkt hatten.

26 Greve (1985), S. 116, meint auch, dass die „Endlösung“ zu dieser Zeit schon beschlossen und dass die Tötung Hvams nur ein Vorwand war. 27 NHM 115, til 3, Kopie eines Briefes des Polizeipräsidenten Lange in Trondheim an den Polizeidirektor in Namsos vom 7. Oktober 1942, worin aus dem Brief von SS-Obergruppenführer Rediess an Lange zitiert wird. U. a. heißt es da: „Sämtliche Polizeikräfte Ihres Kommandobereichs unterstehen ab sofort meiner persönlichen Weisung in sämtlichen Angelegenheiten der norwegischen Ordnungs- und Sicherheitspolizei. 28 Abrahamsen (1991), S. 99. 29 Longerich (2012), S. 630 f.

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VON EINZELMASSNAHMEN ZU SYSTEMATISCHER POLITIK: AUGUST BIS OKTOBER 1942 In der kurzen Zeit von August bis Oktober 1942 eskalierte die antijüdische Politik. Es gab keine neuen Gesetze und noch keine systematischen Aktionen, aber immer mehr einzelne Übergriffe. Im September war deren Zahl so hoch, dass die Botschaft in Stockholm in ihrem Pressebulletin vom 14. September feststellte: „Die Gestapo hat jetzt eine Aktion gegen die Juden in Norwegen begonnen.“30 Dennoch war die Situation im Spätsommer 1942 höchst zweideutig. Die meisten jüdischen Männer, die Anfang August in Norwegen in Haft saßen, wurden in einem besonderen Transport zusammen mit mehreren Hundert politischen Gefangenen und Lehrern zu Zwangsarbeit in den Norden des Bezirks Troms geschickt, nach Veiskaret in der Gemeinde Kvænangen, wo sie Schneetunnel bauen sollten. Dies deutet wie gesagt nicht auf eine nahe bevorstehende Aktion gegen alle Juden hin. Aber andere Ereignisse trugen in sich die Keime eines schärferen Kurses. Dass norwegische Gefangene zur Zwangsarbeit in den Norden verlegt wurden, war Heinrich Himmler geschuldet. Nach einem Treffen mit Albert Speer im April 1942 hatte er von der „lebensnotwendigen“ Arbeit an Eisenbahn und Straßen nördlich von Trondheim gesprochen.31 Wie erwähnt hatte Hitler schon im Januar 1942 Norwegen als eine „Schicksalszone“ im Krieg bezeichnet, und die Befürchtung, die norwegische Küste könnte Ziel eines alliierten Angriffs sein, hatte er seit Anfang 1941.32 Dies und die Versorgungssituation der deutschen Truppen an der Murmansk-Front führte zu den hektischen Arbeiten an Bahn und Straßen in Nordnorwegen. Am 2. August 1942 traten die Gefangenen im Konzentrationslager Grini bei Oslo zum Appell an. Gut 350 von ihnen wurden für ein Sonderkommando ausgesucht. Am gleichen Abend wurden sie zu einer halbstündigen „ärztlichen Untersuchung“ bestellt, nach welcher Julius Denzer, einer der Berüchtigten unter den Lagerleitern, äußerte: „Die Norweger werden nie Soldaten.“ Zu den Ausgewählten gehörten die allermeisten der zu diesem Zeitpunkt inhaftierten Juden, insgesamt 23 Mann. Am 4. August wurde dieses Sonderkommando, eine bunte Gruppe von Häftlingen, zum Transport aufgestellt. Einer von ihnen war Odd Nansen, der die Reise in den Norden und den Aufenthalt dort in seinem Tagebuch festgehalten hat. 30 NHM 52 H7, Pressebulletin Nr. 176. 31 Bundesarchiv, SSO 160 Dolp, Hermann, Abschrift eines Briefes des Reichsführers SS an Daluege, Heydrich, Jüttner, Berger und Schmitt. Führerhauptquartier, 27. April 1942. 32 Paulsen (1972), S. 84 ff.

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Am 5. August verließ der Güterzug Oslo in Richtung Trondheim. Dort stießen einige Gefangene aus dem Lager Falstad zu dem Transport, unter ihnen zwölf Juden. Sie waren mehr als die anderen von Misshandlung gezeichnet. Einige hatten lange Bärte, während der Kopf kahlgeschoren war. Einigen hatte man das Hakenkreuz in den Hosenboden geschnitten.33 Am nächsten Tag gingen die Häftlinge an Bord des Schiffes Bodø, mit dem sie am 8. August die gleichnamige Stadt erreichten. Am 12. August verließ das Schiff Tromsø.34 Die Juden wurden schon an Bord besonders demütigend behandelt. Die Deutschen wollten von den Gruppenleitern der Gefangenen Informationen über die Juden haben und sie, wie Nansen notiert, zusammen mit „Spitzbuben, Schuften und überhaupt schlechten Elementen“ aussondern: Indem wir dem Wunsch oder Angebot der Deutschen nachkommen, unsere Schufte zu benennen und sie loszuwerden, machen wir uns einer beschämenden Handlung schuldig. Wir akzeptieren die Einstellung der Deutschen zu den Juden, die mit den Schuften auf eine Stufe gestellt werden, wir bekennen uns zu der Einteilung von Menschen in zwei Gruppen – Juden und Schufte in der einen, andere Leute in der anderen Gruppe. Wir machen uns einer Beleidigung der Juden schuldig und einer groben Taktlosigkeit gegen sie, für die sich Norweger zu gut sein sollten. […] Auf dem Oberdeck wurden Juden und der Abschaum nach eifriger Zusammenarbeit von Norwegern und Deutschen versammelt. Teufel auch! Da haben wir einen hässlichen Fleck auf unseren Schild gekriegt. Ich wusste nicht, was ich Levin antworten sollte, als er später zu mir kam und fragte, ob wir alle diese Unerwünschten benannt hätten, damit sie mit den Juden in eine Gruppe kämen. Meine Antwort klang sicher nicht besonders überzeugend, aber ich versuchte die Taktlosigkeit zu kaschieren. Sie hatte schon böses Blut gemacht, und die diskreten Fragen Levins, der in meiner Abteilung ein bescheidener, zurückhaltender und sympathischer Kerl ist, werden sicher nicht aufhören.35

Mit Levin ist der 27-jährige Leonard Levin gemeint, der gerade in Oslo sein Medizinstudium abgeschlossen hatte. Er wurde ein Vierteljahr später mit der Monte Rosa deportiert und in Auschwitz ermordet. Die Juden wurden auch in Kvænangen in einem besonderen Lager, Baddern, konzentriert. Sie wurden besonders hart angefasst. Die anderen Häftlinge hatten aber deswe33 Aartun (2003), S. 262. 34 Nansen (1946), Band II, S. 5 ff. Band II beginnt mit dem Transport nach Kvænangen. 35 Ebd. S. 30 f.

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gen kein Mitleid mit ihnen. Am 2. September schrieb Odd Nansen in seinem Tagebuch: Es ist wirklich verwunderlich, dass dieser verdammte Judenhass unter uns tatsächlich ein lebender Faktor ist. Aus irgendeinem Grund haben wir einen der Juden aus dem anderen Lager hierher bekommen. Kein Tag vergeht, ohne dass ich die eine oder andere gemeine hingeworfene Bemerkung über die Juden höre, und leider sehr oft von denen, die es mehr als alle anderen besser wissen müssten. Ich habe es aufgegeben, die Juden zu verteidigen; es nützt doch nicht gegenüber Leuten, die nicht begreifen wollen, die sich aufgrund ‚ganz erschöpfender Erfahrungen‘ ein für allemal ihre Meinung gebildet haben. Ich versuche stattdessen ihnen klarzumachen, wie unnorwegisch ihr Benehmen jetzt ist – wie deutschgeprägt! Gerade Toleranz, Redlichkeit, Gerechtigkeit sind ja die Ideale, für die wir kämpfen. Indem wir Hass und Verachtung für Menschen in unserer Mitte schüren, verraten wir unsere eigene Sache und übernehmen Methoden des Feindes. Wir spalten, statt zu einen. Aber nein – das begreifen sie nicht – entweder weil sie nicht wollen oder weil sie nicht können – ich weiß es nicht.36

Der Jude, von dem Nansen hier schreibt, war Hirsch Komissar aus Trondheim. Er wurde aus dem Lager Baddern allein nach Süden zurückgeschickt und am 25. September im Gefängnis Vollan registriert. Das war kein Zufall; am 7. Oktober geht Nansen ganz konkret auf das Schicksal Komissars ein, nachdem dieser als Sühneopfer erschossen worden war: Unter ihnen [den Erschossenen, Anm. des Autors] war Hirsch Kommisar [sic], der Jude, der aus dem Lager Baddern hierher kam und einige Zeit später von hier wieder mit dem ersten Transport nach Süden geschickt wurde. Niemand verstand, warum dieser arme kleine, untersetzte Kerl zuerst hierher und dann nach Süden geschickt wurde. Er selbst glaubte wohl, er solle als Dolmetscher gebraucht werden, denn er sprach Russisch, oder freigelassen werden. Nun ist er erschossen! Ganz sicher völlig unschuldig, eine Repressalie für irgendetwas, was da passiert ist. – Ich muss daran denken, wie unanständig Einzelne hier zu ihm waren, wie sie immer ein Schimpfwort auf den Lippen hatten, wenn er auftauchte. Ich schaudere vor unserer eigenen Rohheit. Nun ist es zu spät für die Reue. Nun hat Kommisar büßen müssen für das Verbrechen, dass er Jude war – Opfer der Antipathie gegen ein armes Wesen, das niemandem etwas Böses getan hatte. Ich muss auch an seine Frau denken, die Arme; ich 36 Ebd. S. 67 f.

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kenne sie aus den Versammlungen der Studentenschaft, wo die beiden ständig waren. Wer tröstet sie in dieser bodenlosen Trauer und Angst? Wer denkt jetzt an sie? Arme Menschen.37

Erst am 10. November wurden die Gefangenen wieder nach Süden transportiert. Am 11. November gingen sie in Tromsø an Bord eines neuen deutschen Truppentransporters. Im Lastraum waren lange Straßen von Kojen, denen die Gefangenen Straßennamen gaben; den Teil der Juden nannten die anderen Golgatha.38 Nach einem abermaligen Transport im Güterzug aus Trondheim kamen die Gefangenen am 22. November wieder in Grini an. Nur drei Tage später, am Abend des 25. November, wurden die meisten Juden, die in Kvænangen gewesen waren, aus Grini abgeholt: Heute Abend wurden die meisten Juden weggeschickt – nach Tønsberg? Nach Deutschland? Niemand weiß das. Ich muss sie bewundern. Ich sah keinen Einzigen verzweifeln. Alle waren guten Mutes und guter Laune. Wir werden das schon gut hinkriegen, versicherten sie, als ich mich von ihnen verabschiedete. Dabei wissen sie ja alle, dass sie in Haft bleiben, bis der Krieg zu Ende ist; sie quälen sich nicht mit falschen Hoffnungen freizukommen. Das hilft ihnen zweifellos.39

Nur zwei Juden aus diesem Transport haben überlebt, Leiba Wolfberg und Josef Berg. Odd Nansen sollte später in Sachsenhausen erfahren, was wirklich mit den Juden aus Kvænangen geschehen war – und nicht nur mit ihnen, sondern mit allen aus Norwegen deportierten Juden. Während die meisten der bei verschiedenen Anlässen verhafteten jüdischen Männer in Kvænangen waren, gab es im Süden immer mehr schärfere Maßnahmen. Es begann mit der Verhaftung eines Osloer Psychiaters, des 38-jährigen Paul Bernstein. Er war Arzt am Krankenhaus Dikemark außerhalb der Stadt. Der Grund seiner Festnahme ist nicht ganz klar. Aber er bewegte sich in radikalen Kreisen und war mit der deutsch-jüdischen Psychiaterin Lotte Liebeck-Kirschner verheiratet – in einer Pro-forma-Ehe, damit sie in Norwegen bleiben konnte; 1942 waren die beiden getrennt.40 Nach Oskar Mendelsohn wurde Bernstein wegen a­ ngeblicher 37 Ebd. S. 119. Hirsch Komissars Frau Marie, geb. Wolfsohn, entkam im Herbst 1942 nach Schweden. Ihr Bruder David Wolfsohn war einer der vier Männer, die im März 1942 in Trondheim erschossen worden waren. 38 Ebd. S. 143. 39 Ebd. S. 159. 40 RA, S-1725 DaI Behälter 397, Vernehmung von Lotte Bernstein in Kjesäter am 18. Dezember 1942. Lotte Bernstein emigrierte unter dem Namen Lotte Liebeck-Kirschner nach

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Verbreitung illegaler Nachrichten angeklagt.41 Am 13. August wurde er von der Gestapo abgeholt und in das Gefängnis Møllergaten 19 gebracht. Der junge politische Gefangene Erling Bauck teilte mit ihm die Zelle und konnte aus nächster Nähe beobachten, wie Bernstein behandelt wurde. Merkwürdigerweise kam Bauck später auch nach Auschwitz, aber da war Bernstein längst tot. Über Møllergaten erzählte Bauck: Schon als wir ihn zum ersten Mal draußen auf dem Flur sahen, machte er so einen erbärmlich hilflosen Eindruck. Er schaffte es nicht mal, aus eigener Kraft durch die Tür in die Zelle zu kommen, sondern ein kräftiger Tritt in den Hintern schickte ihn kopfüber rein.

Es kam vor, so Bauck, dass ein Wärter, wenn er unbeobachtet war, so etwas wie Mitleid mit den Häftlingen zeigte, aber das galt nicht für die Juden. Bei denen „fiel eine Klappe runter über alle Menschlichkeit“: Bernstein hatte den Befehl bekommen, bei jedem Aufruf, wenn Nummer und Name genannt werden mussten, ‚Jude‘ hinzuzufügen. Und das sollte nicht nur gesagt, sondern gerufen werden. ‚Lauter!‘ ‚Jude!‘ ‚Lauter!‘ ‚JUDE!‘42

Was auch immer Hauptsturmführer Wilhelm Wagner und seine Mitarbeiter Böhm und Großmann bewogen haben mag, den Psychiater Bernstein festzunehmen, so kam jedenfalls durch die Verhaftung auch sein Vater, der Uhrmacher Herman Levi Bernstein, in den Blick. Er machte zu der Zeit Urlaub in Nærsnes am Oslofjord. Dort hatte ein kleiner Kreis von Juden, darunter der Osloer Rabbiner Julius Samuel, Ferienwohnungen gemietet. Diesmal gab das Paar Wagner/Böhm jede Zurückhaltung auf. Bei einer Razzia am 21. August wurde Herman Levi Bernstein verhaftet. Den anderen acht jüdischen Männern, die sich in Nærsnes aufhielten, wurde befohlen, sich täglich im Gestapo-Hauptquartier zu melden. Wagner und Böhm wollten von ihnen das dem Krieg in die USA und leitete in Louisville, Kentucky, eine psychiatrische Kinderklinik. Sie starb 1971. 41 Mendelsohn (1986), S. 72. 42 Dieses und das vorige Zitat: Bauck (1979), S. 35–37.

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Geständnis haben, dass sie einer „Widerstandsgruppe“ angehörten, die illegale Zeitungen verteilte. Der Sozialarbeiter Marcus Levin sagte nach dem Krieg als Zeuge in dem Prozess gegen Wagner, dass die Vernehmungen der Männer eine ganze Woche dauerten, ohne dass sie sofort festgenommen wurden: Die Verhöre vor den Verhaftungen wurden von Wagner persönlich geleitet. Rabbiner SAMUEL erzählte, dass dabei BÖHM und ein anderer Gestapomann [Klaus Großmann, Anm. des Autors] an einem Tisch saßen, während Wagner hinter ihnen stand. Böhm und der andere führen das Verhör, während Wagner zuhörte und plötzlich mit seinen Fragen dazwischenfuhr. Rabbiner Samuel nannte Wagner den gefährlichsten von den dreien.43

Die Verhöre waren die reine Farce. Marcus Levin zufolge reagierte Böhm mit einem Wutausbruch, weil zwei der Beschuldigten einander angeblich widersprachen. Auf die Frage, was sie an einem bestimmten Abend getan hätten, hatte der eine geantwortet, sie hätten Bridge gespielt, und der andere, sie hätten gepokert. Ein dritter Beschuldigter war gezwungen worden, eine Erklärung zu unterschreiben, die er nicht durchlesen durfte.44 Das Ganze erinnerte verdächtig an das Geschehen in Trondheim im Frühjahr, als vier Juden hingerichtet wurden. Am 2. September wurden sieben von den acht zum letzten Mal einbestellt. An dem Tage wurden Selig Blomberg, Nathan Fein, Alexander Goldberg, David Goldberg, Bernhard Jacob Levinsohn, Gabriel Plesansky und John Scelofsky festgenommen und nach Grini gebracht. Bei der Ankunft im Lager wurden sie von einem der berüchtigtsten Wachmänner, Unterscharführer Walter Kunze, furchtbar misshandelt: „Obwohl viele von ihnen schon älter waren, mussten sie auf Kommando im Gleichschritt laufen und sich Mal für Mal hinwerfen, und sie wurden regelrecht verprügelt.“45 Wagner und Böhm scheuten vielleicht mögliche Reaktionen und nahmen den Rabbiner Samuel nicht sofort fest, aber eine Woche später wurde auch er nach Grini gebracht.46 Die acht Männer wurden alle am 20. November 1942 mit der Monte Rosa deportiert, dem ersten größeren Transport von Juden aus Norwegen. Die Tochter Selig Blombergs, die 21-jährige Sarah Blomberg, hatte den Mut, Wilhelm Wagner im Gestapo-Hauptquartier aufzusuchen und zu fragen, ob sie und die 43 L-dom 2479/47. Zeugenvernehmung von Marcus Levin am 31. August 1946. 44 Ebd. 45 RA S-1725 DaI Behälter 454, Spezialvernehmung von Olav Stugård in Kjesäter am 5. November 1942, S. 3. 46 Samuel wurde mit der Häftlingsnummer 4404 offiziell in Grini registriert, hatte aber tägliche Meldepflicht bis zum 9. September.

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Familie den Vater besuchen dürften. Sie wurde von einer Sekretärin empfangen und gebeten zu warten. Die Sekretärin ging zu Wagner hinein und erklärte, „Fräulein Blomberg“ wünsche ihn zu sprechen. Er fuhr auf: „Fräulein Blomberg? Die Jüdin Blomberg?“ Sie durfte aber zur Audienz eintreten. Ihr Äußeres kann auf Wagner nicht besonders „jüdisch“ gewirkt haben, denn nach einer Weile stellte er fest: „Man kann sehen, dass Sie eine arische Gestalt haben.“ Auf die Frage, ob Frau Blomberg und die Töchter den Vater besuchen dürften, antwortete Wagner, er wolle darüber mit dem Arzt in Grini sprechen. Sarah Blomberg antwortete: „Kann ich mich darauf verlassen?“ Das war zu viel: Wagner bekam einen Wutanfall und warf sie hinaus. Es gab keine Besuchserlaubnis.47 Auch Tove Filseth, die Sekretärin der Nansenhilfe, suchte Wagner nach der Verhaftung des Rabbiners auf. Böhm war dabei anwesend, da Wagner „für alles, was gesagt wurde“, einen Zeugen haben wollte. Wagner drohte Filseth mit einem Kriegsgerichtsprozess, wenn sie ihre Arbeit für die Juden nicht aufgäbe. Sie war früher manchmal zu Wagner bestellt worden. Sie „besprach oft Judenprobleme mit Wagner, aber seine Antworten in der Diskussion klangen immer […] wie eine Grammophonplatte von Goebbels“.48 Alles war also nutzlos. Ebenso wie andere, die bei Einzelaktionen festgenommen wurden, waren die zehn hoffnungslos verloren. Die Nærsnes-Affäre machte den Osloer Juden den Ernst der Lage klar. Dass auch ihr Rabbiner in Haft saß, war ein schwerer Schlag. Ein Versuch, ihn zum Yom-Kippur-Fest freizubekommen, blieb ohne Erfolg.49 Das Vorgehen gegen die zehn Juden von Nærsnes war in mehrfacher Hinsicht eine typische Einzelaktion. Ihr Umfang und vor allem die Verhaftung des Rabbiners waren aber ein Signal, dass die massive Verfolgung von Juden nun die Hauptstadt erreichte, die bisher von Vorgängen wie in Trondheim und Nordnorwegen verschont geblieben war. Auch die Art und Weise des Vorgehens von Wagner und Böhm deutet auf einen verschärften Kurs hin. Am Tag der Inhaftierung des Rabbiners Samuel in Grini wurde noch ein weiterer Osloer Jude festgenommen, Sigurd Levin. Wagners Mitarbeiter Böhm wollte dessen Eigentum beschlagnahmen. Levins Frau Dora Esther rief ihren Mann im Geschäft an und berichtete, dass die Gestapo da gewesen sei. Levin kam nach Hause, protestierte und wurde sofort verhaftet.50 Er kam in das Gefängnis Møllergaten und Ende Oktober nach Grini. Auch er wurde am 20. November mit der Monte 47 48 49 50

Interview des Autors mit Jenny Dante, geb. Blomberg, in Oslo am 17. November 2014. RA, L-dom 24579/47, Zeugenvernehmung von Tove Filseth Tau am 7. September 1946. Mendelsohn (1986), S. 72. Oskar Mendelsohn, „Krigsårene“ [Die Kriegsjahre], maschinengeschriebenes Manuskript, S. 52.

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Rosa deportiert. Dora Esther Levin zog mit ihren beiden Kindern zu ihrer Schwiegermutter, der 75-jährigen Henriette Levin. Dort wurde sie einige Tage später von Böhm aufgesucht, der behauptete, Sigurd Levin habe illegal Lebensmittel, Zigaretten und Spirituosen gehamstert. Er nahm Essen, wertvolle Bekleidung und andere Dinge mit. Als er in der Küche einen Kühlschrank sah, erklärte er, dieser werde demnächst abgeholt, denn „eine Jüdin darf keinen Eisschrank haben.“51 Auch ein anderer Jude, Herman Valner, bekam diese Art korrupten Druckes von Böhm und Wagner zu spüren. Valner war in der Jüdischen Hilfsvereinigung aktiv gewesen und hatte vor dem Krieg ganze 100.000 Kronen als Garantie für Flüchtlinge zur Verfügung gestellt, einen Betrag, der 20 Flüchtlingen Aufenthalt in Norwegen gewährte. Valners Villa in Oslo wurde von Böhm beschlagnahmt, und zugleich wurde er aufgefordert, mit einer Vermögenserklärung, seinen Silbersachen und zwei elektrischen Öfen, die Böhm gern haben wollte, im GestapoHauptquartier zu erscheinen. Freunde rieten Valner zur Flucht52, aber er ging hin. Die Öfen wurden im falschen Raum abgegeben, und Böhm bat ihn, zwei neue zu beschaffen. da „die beiden ersten von einem anderen Gestapomann gestohlen worden sind“. Böhm bezog dann Valners Villa und forderte ihn auf, die Silbersachen dorthin zu bringen. Valner wurde festgenommen und kam in das Gefängnis Møllergaten. Dort blieb er, bis er am 20. November mit der Monte Rosa deportiert wurde.53 Jetzt wurde auch die Staatspolizei zur Verhaftung von Juden herangezogen. In der Nacht zum 21. August 1942 sprengte eine von Asbjørn Sunde angeführte Widerstandsgruppe die Osloer Station der Staatspolizei. Die näheren Umstände der Tat sind umstritten54, aber eine Folge war die Festnahme eines Mannes, der am Morgen des 21. August an der Polizeistation vor den Absperrungen stand. Das war Martin Kassan, ein 33 Jahre alter Gelegenheitsarbeiter. Er war mit einigen Freunden zum Frühstücken in einem Café, als er von der Sprengung hörte. Zusammen mit zwei anderen ging er zum Ort des Geschehens. Ihre Namen wurden von einem Polizeiwachtmeister notiert. Als Kassan am Abend nach Hause kam, warteten zwei in Zivil gekleidete Staatspolizisten auf ihn. Er wurde in das Gefängnis Åkebergveien gebracht und dort von dem Wachtmeister Rosenberg verhört (der einige Monate später bei der großen Aktion gegen die Juden eine 51 RA, L-dom 2479/47, Zeugenvernehmung von Alf Levin am 3. August 1946. 52 Einer von ihnen war der schon erwähnte Marcus Levin. RA L-dom 2479/47, Zeugenvernehmung von Marcus Levin am 31. August 1946. 53 Ebd. 54 Sehr gründlich dazu Andersen (1992), S. 57 ff. Er behauptet, der Anschlag habe Repressalien ausgelöst, die „bisher im Krieg ohne Beispiel“ waren (S. 67), aber das stimmt nicht. Die Gestapo hatte schon längst eine Aktion gegen Mitglieder von Sundes Gruppe geplant.

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recht bedeutende Rolle spielen sollte). Seine beiden Kameraden, die mit ihm vor der Absperrung gestanden hatten, wurden auch verhaftet, in die Staatspolizeistation gebracht, der der Anschlag galt, und dort beschuldigt, daran beteiligt gewesen zu sein. Schließlich wurden alle drei der Gestapo übergeben und auf Befehl des Polizeirats Ragnvald Krantz nach Grini gebracht. Die beiden Freunde Kassans kamen nach einigen Wochen im Zellenblock des Lagers frei, aber Kassan blieb in Haft. Einer seiner Freunde sagte in einer Zeugenvernehmung nach dem Krieg, es sei „Krantz’ Schuld, dass Max Martin in Deutschland verschwunden ist“.55 Es war das erste Mal, dass die Staatspolizei in die fatale Verhaftung eines Juden verwickelt war. Dass die Gestapo immer mehr gegen die Kommunisten vorging, führte am 23. August zur Verhaftung des 22-jährigen David Gorvitz aus dem Osloer Stadtteil Nordstrand. Ob seine Festnahme etwas mit dem Anschlag auf die Staatspolizei zu tun hatte, ist unklar. Aber auch Gorvitz kam in das Gefängnis Møllergaten, später nach Grini und wurde am 20. November mit der Monte Rosa deportiert.56 Im Frühjahr 1942 beschlagnahmte die Wehrmacht Villen am Holmenkollen in Oslo. In diesem Zusammenhang wurde die Osloer Polizei gebeten zu untersuchen, ob sich in dem Gebiet Villen in jüdischem Besitz befanden. Die Wehrmacht hatte schon die Villa Harry Koritzinskys, des früheren Sekretärs der Mosaischen Glaubensgemeinschaft, im Stadtteil Bygdøy beschlagnahmt. Aber bisher gab es keine Anzeichen dafür, dass die Beschlagnahmen direkt gegen Juden gerichtet waren. Doch im September wurden so gut wie alle Villen, die Juden gehörten, konfisziert, nicht von der Wehrmacht, aber von der deutschen Sicherheitspolizei. Zudem war die Besatzungsmacht darauf aus, sich attraktive Wohnungen zu sichern, die Juden besaßen oder an denen sie Anteile hatten, hauptsächlich solche mit Bad und Toilette (was im damaligen Oslo nicht zum selbstverständlichen Standard gehörte). Die Beschlagnahmen erfolgten, nachdem vier Mosquito-Flugzeuge der Royal Air Force am 25. September 1942 Victoria terrasse, das Hauptquartier der deutschen Sicherheitspolizei in Oslo, mit Bomben belegt hatten. Der Angriff hatte nur teilweise Erfolg, aber löste relativ umfassende Repressalien aus. Nasjonal Samling 55 RA, L-sak, Oslo politikammer D 3425, Verhör von Max Martin Kassan am 22. August 1942. Zeugenvernehmung von Rolf Erling Ruud am 7. Mai 1946. Zeugenvernehmung von Gustav Ernfeldt Ruud am 10. Mai 1946. Vernehmung von Rolf Kassan am 2. Mai 1946. Max Martin Kassan wurde mit der Gotenland deportiert und am 12. Mai 1943 in Auschwitz ermordet. 56 Gorvitz starb in Auschwitz am 6. Februar 1943. Seine Todesursache war angeblich „Darmkatarrh bei Körperschwäche“. ITS Bad Arolsen, Archiv Sterbeurkunde des Konzentrationslagers Auschwitz, Ordner 413, S. 187.

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schob den Jøssingern, den Sympathisanten der Alliierten, die Schuld zu. Dass die Juden, die eigene Häuser besaßen, nun besonders betroffen waren, ging in der Menge der Beschlagnahmen unter. Die Repressalien hatten aber auch damit zu tun, dass NS für den 25. September zu einem Reichstreffen in Oslo eingeladen hatte. 25.000 Parteimitglieder wurden erwartet – tatsächlich kamen wohl etwa 15.000 –, und der relativ kleine Bombenangriff löste eine Panik unter den Teilnehmern aus.57 So gesehen war der Angriff ein Erfolg. Aber zu den Reaktionen gehörte neben der Beschlagnahme von Villen auch eine von NS eingeführte Strafsteuer von 3 Millionen Kronen, die – scheinbar zufällig – einigen wohlhabenden Jøssingern abverlangt wurde. Zu ihnen gehörten Salomon Steinmann und Salomon Plavnik, die beide 35.000 Kronen zahlen sollten (nach heutigem Geldwert etwa 76.000 Euro), und Harry Koritzinsky mit 26.000 Kronen (etwa 56.000 Euro). Dass auch Bäckermeister Samson 10.000 Kronen zu der Strafsteuer beitragen sollte, erklärte Koritzinsky, der deswegen zu Wagner und Böhm einbestellt wurde, nach dem Krieg damit, dass man Samson für einen Juden hielt.58 Dass Juden die Repressalien besonders spüren sollten, war für deutsche Behörden eine Selbstverständlichkeit, und nun schloss NS sich diesem Prinzip an. Die Strafsteuer wurde auferlegt „zum Aufräumen, zur Instandsetzung und zum Aufbau der Häuser und zur Ausbesserung der Schäden, die die Bewohner der Häuser erlitten haben, die bei dem feigen Terrorangriff auf die Osloer Zivilbevölkerung am 25. September 1942 zerstört wurden“. Der Steuerbescheid wurde den Betroffenen in persönlichen Briefen mitgeteilt, und gezahlt werden musste innerhalb von sechs Tagen nach Erhalt des Briefes: „Falls die Zahlung nicht innerhalb der genannten Frist erfolgt ist, bekommt die Polizei Befehl einzugreifen.“59 Die Beschlagnahme der Villen – so vermerkte man in Stockholm – geschah mit Hilfe deutscher und norwegischer Polizei.60 Aber soweit es um Juden ging, deutet nichts auf die Beteiligung norwegischer Polizei hin. Die den Betroffenen, Juden wie Nicht-Juden, gesetzte Frist war äußerst kurz: Innerhalb von ein bis zwei Stunden mussten sie das Allernotwendigste gepackt und das Haus verlassen haben. Der Gestapochef Hellmuth Reinhard griff persönlich ein bei der Beschlagnahme der Villa des Tabakfabrikanten Moritz Glott im Stadtteil Nordstrand. Josef Kuhoff, ein Mitarbeiter der Finanzabteilung der deutschen Sicherheitspolizei, wurde eines Morgens Ende September in Reinhards Büro bestellt. Reinhard befahl 57 Voksø (1985), S. 269. 58 RA, L-dom 2479/47, Zeugenvernehmung von Harry Koritzinsky am 1. Februar 1946. Koritzinsky hatte erklärt, dass Samson nach dem Nürnberg-Prinzip kein Jude war. 59 NHM 52 C H7, Pressebulletin Nr. 191 vom 22. Oktober 1942. 60 Ebd. Pressebulletin Nr. 190 vom 20. Oktober 1942.

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ihm mitzukommen zur Besichtigung eines Hauses in Nordstrand. In einem Auto draußen wartete der SS-Oberführer Hans Loritz. Loritz war früher Leiter der Konzentrationslager Dachau und Sachsenhausen gewesen. Nach dem Angriff auf die Sowjetunion hatte er in Sachsenhausen über 10.000 russische Kriegsgefangene auf besonders abgefeimte Weise erschießen lassen. Aber er hatte auch Gefangene für sich persönlich arbeiten lassen, u. a. beim Bau eines mit seiner Villa verbundenen Bootshauses. Zur Strafe wurde er auf persönlichen Befehl Himmlers nach Norwegen geschickt, „bis der Krieg vorüber ist“.61 Kuhoff, Reinhard und Loritz betraten Glotts Haus, ohne der Familie etwas zu sagen oder auf andere Weise ihre Absichten kundzutun. Kuhoff wurde gebeten, im Laufe von fünf Minuten das Haus und die gesamte Einrichtung zu schätzen. Er sagte, das sei unmöglich. Die Familie Glott bekam zehn Minuten Zeit, ihr Haus zu verlassen; sie durfte nur „das absolut Allernotwendigste“ mitnehmen. Vermutlich sollte Loritz in das Haus einziehen.62 Mehreren Quellen zufolge wurden am 20. Oktober Villen von Juden beschlagnahmt, aber die erste Runde fand schon vor dem alliierten Bombenangriff statt, am 21. September.63 Auch moderne Wohnungen wurden von deutschen Stellen über einen längeren Zeitraum konfisziert. Vor allem Juden, die in modernen Zweioder Dreizimmerwohnungen wohnten, waren von diesen scheinbar zufälligen Beschlagnahmungen betroffen. Hatte die Besatzungsmacht sich einmal eine Wohnung ausersehen, „waren sie nicht davon abzubringen“, wie ein Jude nach dem Krieg schrieb.64 In einigen Fällen führte das dazu, dass Juden versuchten, ihre Wohnungen gegen andere zu tauschen, um so zu verhindern, dass die Deutschen sie nahmen. Solche Tauschabsprachen waren üblich in einer Zeit, da nicht so sehr Geldmittel als vielmehr der Wert eines langfristigen Mietvertrages den „Wohnungsmarkt“ regulierten.65 Dieser Zug erinnert an die Situation in anderen besetzten 61 Bundesarchiv, SSO 275A Loritz, Hans. Dienstlaufbahn. 62 NHM R. I. 01267/1947. Undatierter schriftlicher Bericht von Josef Kuhoff, betitelt „Bericht über meine Arbeit innerhalb Norwegens“. 63 RA, L-dom 2479/47, Zeugenvernehmung von Harry Koritzinsky, „Übersicht über das Verhalten der Deutschen gegenüber den Juden in Norwegen“, 30. Juli 1946. Abel Levin war einer von derjenigen, deren Villen beschlagnahmt wurden. Nach seiner eigenen Aussage geschah das am 21. September. RA, S-1725 DAI Behälter 396, Vernehmung von Alf Abel Levin in Kjesäter am 7. November 1942. 64 Stadtarchiv Oslo, Requirierungsausschuss der Stadt, Brief von Josef Mauritz Kirschner an den Ausschuss vom 3. April 1946. 65 Ein Jude, der später nach Schweden floh, tauschte pro forma seine Wohnung mit einem Bekannten, um so ihre Beschlagnahme zu verhindern. Die Drohung mit Beschlagnahme führte also dazu, dass verzweifelte Menschen Absprachen eingingen, die in der Praxis

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Gebieten, wo Juden oft große Werte zu ungünstigen Bedingungen verkauften, um sich selbst und ihre Familien zu retten. Die Ereignisse im August und September 1942 waren eine deutliche Eskalation der antijüdischen Politik in der Hauptstadt. Zwei Drittel der norwegischen Juden wohnten dort, und im Unterschied zu denen in Trondheim und Nordnorwegen waren sie bisher einigermaßen glimpflich davongekommen. Anders als in Trondheim hatte die Gemeinde ihre Synagogen behalten können, und das Gemeindeleben war ohne große Eingriffe weitergegangen. Oslo war im Gegensatz zu Trondheim und Nordnorwegen für die Besatzungsmacht kein „Schicksalsgebiet“. Die Furcht vor einer alliierten Invasion war immer gegeben, aber eine solche würde nicht Ostnorwegen treffen, sondern irgendeine Stelle an der Küste. Die Gestapo war daher an der Westküste und in Mittelnorwegen von Anfang an viel offener und brutaler aufgetreten, nicht so zurückhaltend wie in Oslo. Es war kein Zufall, dass der Terror gegen die Juden in Oslo im August und September 1942 zunahm. Im Juli begannen wie erwähnt die Deportationen von Juden aus Frankreich, Belgien und den Niederlanden. Es lag etwas in der Luft. In ihrem Bericht über die Aktion gegen jüdische Männer am 26. Oktober traf die Botschaft in Stockholm eine richtige Feststellung: Bei früheren Aktionen gegen die Juden sind Oslo und ein paar anderen Städte in Südnorwegen als einzige einigermaßen verschont geblieben, aber reguläre Judenverfolgungen waren jetzt auch an diesen Orten in Vorbereitung, und sie wurden durch die Ereignisse auf der Østfold-Bahn beschleunigt.66

Besonders die Art, in der Wagner, sein Mitarbeiter Böhm und andere Gestapoleute im August und September 1942 in der Hauptstadt auftraten, erweckt den Eindruck, als sei intern etwas geschehen. Oder, um es konkreter zu sagen: Die Täter näherten sich einer „Endlösung“. Der Auslöser kam aber nicht aus Oslo, sondern aus Trondheim.

bewirkten, dass ein Dritter von der Situation profitierte. Stadtarchiv Oslo, Requirierungsausschuss, Maridalsveien 9 A III. 66 NHM 52, C H7, Pressebulletin Nr. 194 vom 31. Oktober 1942.

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AUSNAHMEZUSTAND IN TRONDHEIN: ES GIBT KEIN ZURÜCK Am Abend des 5. Oktober 1942 bestiegen Reichskommissar Terboven und mehrere seiner engsten Mitarbeiter in Oslo einen Sonderzug.67 Gleichzeitig wurden mehrere Kompanien der deutschen Ordnungspolizei und das sogenannte Sonderkommando, das Hauptsturmführer Oscar Hans leitete, nach Norden transportiert. Am Morgen des 6. Oktober stieg Terboven in Trondheim aus dem Zug, und auf dem Marktplatz der Stadt nahmen sämtliche Polizeikräfte Aufstellung, deutsche und norwegische. Terboven gab bekannt, dass der Ausnahmezustand verhängt sei. Als Grund nannte er die zunehmende Sabotage- und Widerstandstätigkeit in Trøndelag und Teilen des Bezirks Nordland. Der Reichskommissar stellte fest, Sabotage sei „das verwerflichste aller Kampfmittel“. Dahinter stünden „die norwegischen Emigranten“, aber sie seien vom „Weltjudentum“ bezahlt: Zwei Dinge können nicht einmal meine Feinde bestreiten, soweit sie noch über etwas Urteilskraft und Objektivität verfügen: In den zweieinhalb Jahren, in denen ich hier in Norwegen gewirkt habe, bin ich nie kleinlich gewesen. Ich habe die Interessen des Deutschen Reiches wahrgenommen – das ist ja meine selbstverständliche Aufgabe –, aber dazu habe ich auch aufrichtig und mit gutem Willen die Interessen des Landes und Volkes im Auge gehabt. Ich betrachte die Norweger nämlich nicht als Polen und auch nicht als asiatische Bolschewisten. Es ist der Emigrantenclique in London vorbehalten, sich mit diesen minderwertigen Rasseelementen auf eine Stufe zu stellen und Arm in Arm mit ihnen gegen Deutschland zu kämpfen. Ich betrachte vielmehr das norwegische Volk als eine kulturell hochstehende Nation, die den gleichen Ursprung hat wir wir Deutschen. Mein Ideal ist daher, so zu handeln, dass meine Tätigkeit ihren Teil dazu beiträgt, dass Deutsche und Norweger eines Tages als gleichberechtigte Partner in einer germanischen Gemeinschaft zusammengeführt werden können.68

Als Nationalsozialist – so Terboven – wolle er nicht „der demokratischen Methode folgen, die darauf hinausläuft, die Kleinen zu hängen und die Großen laufen zu lassen“. Er wolle dagegen „die Großen packen, die die Fäden ziehen, die sich im Hintergrund halten wollen und die Kleinen vorschicken“.69 Man kann sich denken, dass die letzte Passage, diese versteckte Drohung, denen galt, die Widerstand gegen die Besatzungsmacht leisteten, also den klassischen 67 Nøklebye (1992), S. 221 f. 68 Zitiert nach Aftenposten vom 7. Oktober 1942. 69 Ebd

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Jøssingern. Aber für mich sind diese Worte ebenssehr gegen die gerichtet, die – wie Terboven einleitend meinte – hinter der großen Verschwörung gegen Deutschland standen, „das Weltjudentum“. Der in jeder Hinsicht marginale Kreis der Trondheimer Juden sollte das besonders entgelten. Der 55-jährige Hirsch Komissar war wie erwähnt als erstes Opfer ausersehen. Seine Ermordung war schon mehr als zehn Tage vor der Proklamation des Ausnahmezustandes beschlossen worden. Dieser war von langer Hand vorbereitet. Im Zuge des Ausnahmezustands hatte HSSPF Rediess alle norwegischen Polizeikräfte des Gebiets seiner „persönlichen Weisung“ unterstellt. Offiziell wurde das dem Polizeipräsidenten in Trondheim in einem Brief vom 6. Oktober mitgeteilt.70 In einem späteren Brief an Reichsführer Himmler schrieb Rediess, er habe während der Aktion insgesamt 1700 deutsche und norwegische Polizisten zur Verfügung gehabt. Beide Seiten hätten sehr gut zusammengearbeitet. Aus seinem Bericht geht auch hervor, dass Hitler über den Ausnahmezustand vorweg informiert worden war.71 Noch am Tage der Proklamation des Ausnahmezustandes gab Rediess bekannt, zehn Norweger seien am 6. Oktober um 18 Uhr „als Sühne für mehrere Sabotageversuche, die in letzter Zeit gegen der Versorgung des norwegischen Volkes dienende Betriebe verübt wurden“, erschossen worden. Unter ihnen waren mehrere prominente Bürger Trondheims und also auch Hirsch Komissar. Er stand als Nummer vier auf der Liste als „Geschäftsmann Hirsch Kommissar [sic] (Jude), Trondheim“.72 Später ist Komissar unter den zehn Sühneopfern oft „vergessen“ worden. Immerhin waren es stadtbekannte Männer, die von der Besatzungsmacht ermordet wurden, darunter der Theaterintendant Henry Gleditsch. Es ist oft behauptet worden, dass Reidar Landgraff, Fleschs Helfer bei der Beschlagnahme jüdischer Geschäfte in der Stadt, für die Wahl Komissars als jüdisches Sühneopfer verantwortlich war. Schon am 7. Oktober meldete die Botschaft in Stockholm in einem ihrer Bulletins, „Gestapos Helfer Landgraff “ gehöre einem Komitee an, das die Hinzurichtenden auswählte.73 Dass der NS-Bezirksführer von Trøndelag. Henrik Rogstad, daran beteiligt war, steht außer Zweifel. Sicher ist auch, dass neun der zehn auf einer sogenannten Jøssingliste standen. Rogstad und Flesch nahmen schon am Morgen des 6. Oktober 70 NHM 115, Teil 3, Kopie eines Briefes des Polizeipräsidenten in Trondheim an den Polizeidirektor in Namsos vom 7. Oktober 1942. Dort ist Rediess’ Brief in vollem Wortlaut wiedergegeben. 71 Bundesarchiv, N 19/197, persönlicher Stab des Reichsführers SS, Lage in Norwegen, Bericht von Rediess an Himmler vom 29. Oktober 1942. 72 Aftenposten vom 7. Oktober 1942. 73 NHM 52 C H/, Pressebulletin Nr. 185.

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an einem Treffen mit Terboven in dessen Sonderzug auf dem Trondheimer Bahnhof teil. Terboven bezog später den Stiftshof; dort fand eine weitere Besprechung mit Rogstad, Flesch, Rediess und Fehlis statt. Nach einer Zeugenaussage brachte der Gestapochef Walter Hollack die Personalmappen zweier Opfer, nämlich die Hirsch Komissars und des Ingenieurs Hans Konrad Ekornes, zu der Besprechung mit. Später übergab Flesch die Liste der zehn Sühnopfer an Hollack.74 Komissar war also schon früher ausgesucht worden. Vielleicht war das ganz einfach seinem Namen geschuldet. Der Name erinerte die Nazisten an ihre Erzfeinde, die kommunistischen Kommissare, und vielleicht wurde Komissars Name deswegen auch konsequent falsch mit mm geschrieben. Die zehn wurden hingerichtet, nachdem eine NTB-Meldung über ihre Hinrichtung schon herausgegangen war. Die Opfer konnten ganz einfach nicht schnell genug zusammengeholt werden. Als Oscar Hans am 6. Oktober abends gegen zehn Uhr ankam, waren sie im Missionshotel versammelt, dem Hauptquartier der deutschen Sicherheitspolizei in Trondheim: Gegen 22 Uhr kam ein Patrouillenwagen der norwegischen Polizei, und nachdem ich den Kilometerzähler ausgeschaltet hatte, ging ich ins Missionshotel hinauf, wo die Verurteilten in mehreren Zimmern auf der rechten Seite eines Korridors saßen. Hier rief ich jeden Einzelnen mit Namen, Geburtsdatum und -jahr, Beruf und Wohnung auf, und der jeweils Aufgerufene wurde auf den Flur geholt und an den Händen gefesselt. Danach wurden sie hinuntergeführt in das norwegische Polizeiauto. […] Als wir in Falstad ankamen, blieben die Verurteilten im Auto sitzen, während einige von unseren Leuten im Wald das Grab aushoben. Es war dunkel, und unsere Leute mussten im Schein von Taschenlampen graben. Am Morgen, als es so hell geworden war, dass man schießen konnte, wurde das Auto in den Wald hinaufgefahren. Hier fuhren wir es auf einen Seitenweg, worauf die Verurteilten weiter zur Hinrichtungsstätte geführt wurden, die etwa 200 Meter vom Hauptweg entfernt liegt. Als das Auto im Wald hielt, öffnete ich die hintere Tür und verlas das gefällte Urteil. Den Verurteilten wurde zugleich mitgeteilt, dass sie wegen der Unterstützung von Sabotagehandlungen verurteilt worden seien und dass das Urteil sofort vollstreckt würde. De Verlesung erfolgte auf Deutsch, und Gleditsch, der gut Deutsch sprach, übersetzte für die anderen. Danach holte ich nacheinander jeweils zwei. Auf dem Rücken gefesselt und mit verbundenen Augen wurden sie an den Rand des Grabes geführt. Hier wurden sie mit Blick auf das Exekutionsommando, das aus 8 Mann bestand, aufgestellt.75

74 Lykke (1995), S. 12. 75 Zitiert nach Lykke (1995), S. 25.

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Oscar Hans spricht hier von den Hingerichteten, als seien sie in einem Gerichtsprozess verurteilt worden. Das waren sie nicht. Als die zehn Sühneopfer ausgesucht wurden, muss gleichzeitig auch schon die Entscheidung gefallen sein, jüdische Männer in der Stadt im Zuge des Ausnahmezustandes festzunehmen. Die ideologische Begründung dafür war einfach und stimmte mit Terbovens Äußerungen bei der Ausrufung des Ausnahmezustandes überein. „Das Weltjudentum“ stand hinter dem Krieg und daher auch hinter der verübten Sabotage. Aber davon abgesehen wurde die Verhaftung der Juden nicht groß herausgestellt; auch für die Besatzungsmacht selbst war sie scheinbar nicht besonders wichtig. Das war ein Verhalten, das die Deutschen als Besatzer auch schon in anderen Ländern an den Tag gelegt hatten.76 Die jüdischen Männer, die am späten Abend des 8. Oktober nach Falstad gebracht wurden, waren Geiseln, deren Namen man den Jøssinglisten entnommen hatte. Einer der Nicht-Juden unter ihnen war der Journalist John Amandus Aae. Am Abend des 7. Oktober klingelte es an seiner Tür. Draußen stand ein Polizist, der erklärte, dass er Befehl habe, ihn zu verhaften. Aae antwortete: „Sollen noch mehr erschossen werden?“ „Ich hoffe nicht“, sagte der Polizist. Aae wurde in das Polizeipräsidium und dort in die Ausnüchterungszelle gebracht. Am anderen Tag durften er und die anderen nicht-jüdischen Häftlingen zu Hause anrufen und um für eine Gefangenschaft passende Kleidung bitten. Am späten Abend des 8. Oktober mussten er und 85 andere am Bahnhof in einen Güterzug steigen.77 Die Fahrt ging nach Ronglan bei Levanger, von dort waren es sieben Kilometer zum Lager Falstad: Es war so dunkel, dass der Weg schwer zu erkennen war. Die begleitenden deutschen Wächter machten furchtbaren Lärm. Sie schrien und fluchten und unterstrichen so die unheimliche Stimmung. Gegen Morgen kamen wir nach Falstad und mussten uns in der großen Turnhalle aufstellen. Da mussten wir stundenlang stehen. Das war anstrengend, und ein paar Gefangene fielen ohnmächtig um. Damit es nicht allen so ging, durften wir ‚Arier‘ uns auf den Boden setzen, aber die Juden mussten stehen bleiben.78

Die Zahl der am 8. Oktober nach Falstad gebrachten Geiseln ist durch die Staatsbahnen bezeugt; sie wird mit 86 angegeben, die Zahl der Aufseher mit 9.79 76 Longerich (2012), S. 25. 77 Staatsarchiv Trondheim, Norwegische Staatsbahnen (NSB), Brief des NSB-Bezirks Trondheim an den Oberschaffner Joh. Bø vom 13. November 1942. 78 NHM 18 / 0007 Falstadsenteret, schriftlicher Bericht von Aae, „Krigens trange kår“ [Die engen Bedingungen des Krieges] (1992), S. 81. 79 Siehe Fußnote 77.

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Die „Endlösung“: Die Juden werden deportiert

Die Festnahme der nicht-jüdischen Geiseln erfolgte tagsüber am 7. Oktober, die der Juden dagegen schon frühmorgens vor Aufhebung der Ausgangssperre, die während des Ausnahmezustandes von 20 bis 5 Uhr dauerte. Einer derjenigen, die später über die Verhaftungen berichten konnten, war Julius Paltiel, der die Deportation überlebte. Am Nachmittag des 6. Oktober hatte ein Kunde im Laden, der Polizist Alfred Olai Geving,80 ihn mit den Worten „Tauch unter, Junge!“ gewarnt, dass die Verhaftung aller jüdischen Männer in der Stadt geplant sei. Möglicherweis haben Geving und andere Polizisten noch mehr Juden gewarnt. Paltiel war gerade 18 geworden. Er berichtet, er habe sich zuerst bei einem Nachbarn versteckt, sei aber am nächsten Morgen nach Hause gegangen. Dort holten ihn zwei norwegische Wachtmeister von der Ordnungspolizei ab.81 Er kam zuerst in das Polizeipräsidium und dann in das Kreisgefängnis. Nach dem Aufnahmeprotokoll des Trondheimer Kreisgefängnisses wurde Paltiel dort um 4.00 Uhr registriert. Er trug „beigefarbene Kappe, grauen Hut, braune Schuhe, grauen Anzug“. Sein Portemonnais enthielt 153 Kronen und 6 Øre.82 Nach gängiger Auffassung sollten alle jüdischen Männer über 14 an dem Tag verhaftet werden. Ein Jude, der nach Schweden fliehen konnte, berichtete aber dort, dass ein Festnahmebefehl auch einem zehnjährigen Jungen galt, aber „er kam davon, weil er in einem Kinderheim in Oslo war“.83 Dieser Junge muss Berthold Grünfeld gewesen sein, der 1940 bei der Familie Abrahamsen in Trondheim wohnte und dessen Name auf der Liste stand, die die Mosaische Glaubensgemeinschaft der Stadt im Mai 1940 der deutschen Sicherheitspolizei hatte übergeben müssen. Er wurde später zusammen mit einigen anderen Kindern aus dem jüdischen Kinderheim in Oslo gerettet. – Ein anderer Jude konnte nach der Flucht in Schweden berichten, dass die Polizei „nicht auf der Höhe der Situation war; denn sie fragte nach mehreren, die im Laufe der letzten Jahre gestorben waren.“84 Sollte das zutreffen, so wurden die Verhaftungen höchstwahrscheinlich nicht aufgrund der J-Stempelung vom Anfang des Jahres vorgenommen, sondern aufgrund der eigenen Judenkartei der Gestapo. 80 Geving wurde im Herbst 1943 verhaftet, nach Falstad gebracht und später zusammen mit anderen verhafteten Polizisten nach Stutthof bei Danzig verlegt. 81 Komissar (1995), S. 15 f. 82 Staatsarchiv Trondheim, Trondheim kretsfengsel. Aufnahmeprotokoll 5-02.16, S. 296. Heute heißt das Gefängnis einfach Trondheim fengsel. 83 RA, S-1725 DAI, Behälter 395, Vernehmung von Hirsch Klein in Kjesäter am 28. Oktober 1942. Klein behauptete bei der Vernehmung, er und ein anderer Jude seien die einzigen, die nicht festgenommen wurden, und vermutete als Grund, dass „beide zu der Zeit mit körperlicher Arbeit beschäftigt waren“. 84 Ebd., Behälter 454, Sondervernehmung von Mendel Klein in Kjesäter am 29. Oktober 1942.

Ausnahmezustand in Trondhein: Es gibt kein Zurück

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Der erste in Trondheim Verhaftete war der 19-jährige Mechaniker Kuno Paltiel. Das Aufnahmeprotokoll des Kreisgefängnisses vermerkt seine Einlieferung am 6. Oktober um 20 Uhr. Es sagt nichts darüber, warum er separat festgenommen wurde. In einem anderen Protokoll des Kreisgefängnisses heißt es aber, das Kriegsgericht der deutschen Marine habe seine Festnahme angeordnet. Kuno Paltiels Gefangenschaft verlief anders als die der übrigen Juden. Er wurde am 27. Oktober in das Gefängnis Vollan verlegt, kam von dort am 18. November nach Falstad und gehörte zu der Gruppe Juden, die am 17. November im Osloer Gefängnis Bredtveit registriert wurden. Am 1. Februar 1942 wurde er mit schwedischem Notpass freigelassen und nach Schweden abgeschoben.85 Die genaue Zahl der von der Verhaftungsaktion erfassten jüdischen Männer lässt sich nicht eindeutig bestimmen; es gibt dazu unterschiedliche Angaben. Während Paltiel von 27 Festgenommenen spricht,86 nennt der oben erwähnte Aae 28,87 und die Botschaft in Stockholm nannte in ihren Pressebulletins zunächst 28 und korrigierte das später auf 31.88 In den Aufnahmeprotokollen des Kreisgefängnisses sind 29 Männer erfasst. Der älteste war der 77-jährige Abraham Philipsohn, der jüngste der 16-jährige Abraham Klein. Bis auf einen wurden sie am 8. Oktober um 20 Uhr verlegt.89 Die meisten Frauen wurden wie gesagt in drei Wohnungen in der Stadt konzentriert. Die älteste der so unter Aufsicht Gestellten war die 83-jährige Dora Steinfeld, die jüngste die 13-jährige Cissy Petra Klein.90 Solche Konzentration von Frauen und Kindern nahm die Besatzungsmacht auch in anderen europäischen Gebieten vor. Die Frauen standen unter Polizeibewachung. Oskar Mendelsohn gibt die Zahl der am 7. Oktober in Trondheim Festgenommenen mit 70 an.91 Später sollten auch Frauen und Kinder in Narvik in ähnlicher Weise auf einem Hof außerhalb der Stadt konzentriert werden.

Stadtarchiv Trondheim, Trondheim kretsfengsel, Aufnahmeprotokoll 5.02.16, S. 295. Komissar (1995), S. 18. Siehe oben Fußnote 78. NHM 52 C H7, Pressebulletins Nr. 191 vom 22. Oktober 1942 und Nr. 195 vom 4. November 1942. Eine der Quellen ist Adolf Abe Bekker aus Trondheim, der in Oslo studierte und so der Verhaftung entging. Er floh nach Schweden und bestätigte, dass 31 Männer in Trondheim festgenommen worden waren (RA, S-1725 DaI, Behälter 454, Sondervernehmung von Adolf Abe Bekker in Kjesäter am 20. November 1942). Seine Eltern Moses und Esther Bekker wurden in Trondheim festgenommen, mit der Gotenland deportiert und in Auschwitz ermordet. 89 Stadtarchiv Trondheim, Trondheim kretsfengsel, Protokoll über Aufnahmen 5.05.01. 90 Abrahamsen (1991), S. 99. 91 Mendelsohn (1986), S. 74. 85 86 87 88

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Die „Endlösung“: Die Juden werden deportiert

Kaum waren die Trondheimer Juden verhaftet und konzentriert, stießen Flesch und Landgraff nach und beschlagnahmten, was an Besitz und Vermögen der Juden noch verblieben war. Auch auf die Vermögen der neun nicht-jüdischen Sühneopfer griff Landgraff zu. Der Wert der schon früher beschlagnahmten Geschäfte und Immobilien wurde in dem Bericht eines Wirtschaftsprüfers auf 2,580 Millionen Kronen veranschlagt (gut 7 Millionen Euro nach heutigem Geldwert). Die neuen Beschlagnahmungen nach dem 6. Oktober kamen auf 460.000 Kronen (entsprechend 1,25 Millionen Euro). Von den zehn Sühneopfern, Hirsch Komissar mitgerechnet, wurden Vermögenswerte in Höhe von 550.000 Kronen eingezogen 800.000 Euro nach heutigem Wert).92 Die Zahlen zeigen sehr deutlich, dass das meiste schon in der ersten Runde eingezogen worden war. Jetzt ging es noch um Einrichtungsgenstände und persönliche Effekten. Die Aktion gegen die Juden in Trondheim war mit anderen Worten bis zu einem Punkt vorgetrieben, hinter dem unweigerlich die Deportation der nächste Schritt sein musste. Alle Juden der Stadt waren jetzt entweder verhaftet oder unter strenge Aufsicht gestellt. Alle Vermögen waren eingezogen. Jüdisches Leben in der Stadt war nach dem Ausnahmezustand praktisch beendet. Der Ausnahmezustand war kein Vorwand zur Festnahme der Juden. Im Gegenteil, die Juden wurden als Kern des Widerstandes gegen die Besatzungsmacht aufgefasst; darum wurden sie verhaftet. Aber dies laut und deutlich zu proklamieren hielt die Besatzungsmacht nicht für zweckmäßig. Die Juden in Falstad wurden von der Wachmannschaft furchtbar misshandelt. Darüber gibt es viele Berichte. Drei Gefangene, der 55-jährige Herman Schidorsky, der 65-jährige Kalman Glick und der 60-jährige Moritz Abrahamsen, wurden so krank, dass sie nicht arbeiten konnten. Leo Eitinger erreichte bei dem Kommandanten Scharnschmidt, dass sie von der Arbeit freigestellt wurden. Das erfuhr Gerhard Flesch bei einem unangemeldeten Besuch des Lagers. Er wandte sich daraufhin an Unterscharführer Gneist, der ihn bei der Inspektion begleitete: „Aber Gneist, Sie lassen doch wohl kranke Juden nicht liegen? Machen Sie draußen ein Grab, und alles ist in Ordnung.“93 Am 13. November tauchte ein Trupp von 20 bewaffneten SS-Soldaten im Lager auf und holte die drei. Sie wurden in einem Grab im Wald begraben. Als das Grab nach dem Krieg entdeckt wurde, zeigte sich, dass nur zwei von ihnen Kopfschüsse hatten. Moritz Abrahamsen war entweder schon tot, ehe er begraben wurde, oder

92 NHM FO II.4, Box 44, Mappe „RK Beschlagnahmung und Disposition von Vermögen (feindlichen und jüdischen)“, Aktenvermerk vom 8. Juli 1943. 93 Zitiert nach Ulateig (1984), S. 47.

Der Vorwand: die Ereignisse im Zug nach Halden

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er wurde lebend in das Grab geworfen.94 Schidorsky bereitete Flesch und seinen Leuten Probleme; er war nämlich in Stockholm geboren. Nach wiederholten Anfragen des schwedischen Außenministeriums musste die Sicherheitspolizei zugeben, dass er im Lager Falstad gestorben war, aber – wie es in einem Brief an das schwedische Generalkonsulat in Oslo hieß – an „Blutvergiftung“.95 So wie der 22. Juni 1941 den Massenmord an Juden in Europa in großem Stil einleitete, war der 6. Oktober 1942 der Startschuss in Norwegen. Aber der Plan war schon älter. Jemand hatte einen Gedanken gedacht, und danach wurde der Gedanke zur Tat. Nur wenige Wochen später waren alle Juden in Norwegen an der Reihe.

DER VORWAND: DIE EREIGNISSE IM ZUG NACH HALDEN96 Der Ausnahmezustand in Trondheim, die Verhaftungen im Zusammenhang mit Nærsnes und die Beschlagnahme von Häusern und Wohnungen in Oslo ließen mehrere Juden an Flucht denken. Der Ausnahmezustand in Trondheim begann am Dienstag, dem 6. Oktober. In dieser Woche, zwischen dem 5. und 11. Oktober, floh kein einziger Jude nach Schweden. In der folgenden Woche, vom 12. bis 18. Oktober, flohen dagegen 15 und in der Woche vom 19. bis 25. sogar 21.97 Die Zahlen seien hier genannt, weil sie höher als sonst waren (siehe Näheres in Kapitel 7). Für sich gesehen erscheinen sie nicht hoch, aber sie sind hoch im Vergleich mit der Zeit davor. Von Januar bis September 1942 flohen nach meinen Ermittlungen insgesamt nur 34 Juden. In den zwei Wochen vom 12. bis 25. Oktober flohen also mehr als in den vorangegangenen neun Monaten. Am 15., 17. und 19. Oktober gingen Transporte von Juden aus Oslo in das grenznahe Gebiet bei Halden. Der erste Transport bestand aus nur drei Personen. Am 17. und 19. waren es jeweils sechs, d. h. viele, wenn man bedenkt, wie schwierig es zu dieser Zeit war, Transporte zu organisieren. 94 Ebd. S. 48. 95 SRA. frågor rör. nationella minoriteters ställning, Norge [Fragen zur Stellung nationaler Minoritäten in Norwegen], 1943, Mai–August. Abschrift eines Briefes von Hauptsturmführer Romeick beim KdS Trondheim an das schwedische Generalkonsulat in Oslo vom 31. Mai 1943. 96 Die Darstellung dieser Ereignisse folgt, soweit nichts anderes angegeben ist, Ulstein (1995), S. 84 ff. 97 Datei über Juden in Norwegen, Bjarte Bruland. Die Registrierung bis Ende September kann in Bezug auf staatenlose Flüchtlinge unvollständig sein.

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Die „Endlösung“: Die Juden werden deportiert

Verschiedenen Quellen zufolge war Karsten Løvestad der Organisator. Er war es auch, der am Donnerstag, dem 22. Oktober, einen weiteren Transport mit zehn Juden leitete. Auf diesem letzten Transport wurde im Zug nach Halden geschossen. Die Schüsse trafen den Grenzpolizisten Arne Hvam, der an dem Tage die Ausweise im Zug kontrollierte. Am folgenden Tage berichtete Aftenposten über seinen Tod: Wieder ist ein norwegischer Wachtmeister von der Grenzpolizei von Mörderhand gefallen. Niedergeschossen im Zug gestern Abend am Bahnhof Skjeberg. Die Mörder sind zwei Juden und ein norwegischer Chauffeur.98

„Der Chauffeur“ war Harald Jensen alias Karsten Løvestad, die beiden Juden waren Hermann Feldmann und Willy Schermann. Die Schüsse im Zug nach Halden sollten zum Ausgangspunkt der großen Razzia gegen jüdische Männer werden, die am Montag, dem 26. Oktober, im ganzen Land losgetreten wurde. Die früheren Transporte auf der gleichen „Route“ werden hier erwähnt, weil an ihnen zweierlei deutlich wird: Einzelne Juden, die sich für besonders gefährdet hielten, fanden es nun an der Zeit, das Land zu verlassen. Und einzelne Personen oder Gruppen haben offenbar die Situation zum eigenen Vorteil genutzt. Løvestad hatte sich früh im Widerstand engagiert. Er war Reserve-Feuerwehrmann in Oslo und hatte sich als Kurier zwischen Norwegen und Schweden und in der Versorgungsarbeit in Oslo betätigt. Sein Bruder Håkon Løvestad, dessen Basis der Hof der Familie in Trøgstad zwischen Oslo und der schwedischen Grenze war, hatte gemeinsam mit anderen Flüchtlingen über die Grenze geholfen. Die Aufträge kamen von Anne Olsen, seiner und Karstens Kontaktperson in Oslo. Sie hatte sich früh in der Widerstandsarbeit engagiert. Anfang Oktober gelangte der spätere Historiker Oskar Mendelsohn mit seiner Frau Sussi nach Schweden, und zwar über Trøgstad und den Løvestad-Hof. Die Flucht verlief dramatisch, weil die Menschen auf dem Hof nervös geworden waren.99 Sie befürchteten, die Route sei von Spitzeln infiltriert. Håkon Løvestad signalisierte danach Anne Olsen, er wolle keine weiteren Flüchtlinge über diese Route führen. Dieser Umstand führte wohl zu der neuen Route über Halden. Die beiden Transporte am 15. und 17. Oktober wurden von Harry Pedersen geleitet, einem von Løvestds Kontaktleuten, den viele skeptisch beurteilten. Pedersen hatte den Decknamen Harald; er war auch bei dem unglückseligen Transport vom 22. Oktober als Lotse dabei. Håkon Løvestad und ein anderer Illegaler, Mag98 Aftenposten, Abendausgabe vom 23. Oktober 1942. 99 Mendelsohn, Beretning om krigsåene [Bericht über die Kriegsjahre], undatiert, S. 59 ff.

Der Vorwand: die Ereignisse im Zug nach Halden

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ne Fimland, waren ebenfalls beteiligt; sie sollten die Gruppe nach der Ankunft in Halden übernehmen. Karsten Løvestad kam am 17. Oktober von einem Kurierauftrag aus Schweden zurück, also zwei Tage vor dem Transport mit sechs Juden am 19. Oktober. Der verlief erfolgreich, die Flüchtlinge kamen wohlbehalten über die Grenze. Unter ihnen war Harry Hirsch Benkow, der Zahnarzt aus Moss, dessen Praxis 1940 mit einem antijüdischen Plakat markiert worden war (vgl. S. 105 f). Er erklärte später, sie seien in der schwedischen Grenzstadt Strömstad freundlich aufgenommen worden, aber seine Gruppe und eine zwei Tage später angekommene Familie seien nach Göteborg weitergeleitet und dort zwei Tage im Zentralgefängnis festgehalten worden, bevor sie freikamen. Als Grund seiner Flucht gab er an, er sei nicht „wegen eines bestimmten Ereignisses“ weggegangen, sondern „der Umstand, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis alle Juden in Gewahrsam genommen werden, machte, dass er nach Schweden kam“100. Benkows Instinkte funktionierten. Løvestad und Pedersen brachten diese Gruppe in Sicherheit. Am 22. Oktober ging es also um eine noch größere Gruppe. Zu ihr gehörten die beiden schon Genannten, der junge adoptierte Hermann Feldmann und sein Kamerad Willy Schermann, außerdem das Ehepaar Esayas und Rakel Senderovitz, Hermann und Marie Gettler, ihre erwachsenen Kinder Henrik, Sonja und Svend sowie Henriks nicht-jüdische Frau Ellen Kathrine geb. Fagerli. Løvestad und Pedersen hatten womöglich noch weitere Touren geplant. Der Zahnarzt Leopold Bermann aus Oslo gelangte am 25. Oktober nach Schweden. Er überquerte die Grenze bei Järnskog, in sicherem Abstand von den Tumulten im Bezirk Østfold. Er erklärte in Schweden, er habe die gekannt, die dabei waren, als Hvam erschossen wurde: Am Tag nach diesem Ereignis rief jemand in meinem Geschäft an und fragte, ob ich da sei. Als ich bejahte, legte er auf. Bekannte hatten gesagt, dass ich angeblich auch den Zug nehmen wollte, in dem Hvam erschossen wurde. Deswegen und wegen der übrigen unsicheren Verhältnisse floh ich hierher – wobei ich genug Unterstützung bekam.101

Løvestad nutzte vermutlich den Zug nach Halden auch als Kurierroute. In dem Fall war der Transport in jeder Hinsicht ein Sicherheitsrisiko. Die Frage war, wie viele an der Hilfe für die jetzige Gruppe beteiligt waren und ob einige auch aus wirtschaftlichen Motiven halfen. 100 RA, S-1725, DaI Behälter 454, Sondervernehmung von Harry Hirsch Benkow in Kjesä­ tre am 23. Oktober 1942. 101 Ebd. , Behälter 395, Vernehmung von Leopold Bermann in Kjesäter am 27. Oktober 1942.

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Die „Endlösung“: Die Juden werden deportiert

Leif Kølner, einer von denen, die mit Håkon Løvestad in Trøgstad zusammenarbeiteten, berichtete als „Zeitzeuge“ mehr als 60 Jahre nach dem Krieg über seine illegale Arbeit. Dabei sagte er, „im Nachhinein“ sei bekannt geworden, dass einige, mit denen er in Oslo zusammenarbeitete, „von den Juden Geld genommen haben und vielleicht auch ein bisschen gierig gewesen sind.“102 Dass auch Pedersen – „Harald“ – bei seiner Arbeit solche Motive hatte, geht aus dem Bericht Benjamin Londons hervor, eines anderen Juden, der am 28. Oktober zusammen mit drei Brüdern über die Grenze kam. London hatte in Oslo illegal gearbeitet, aber hatte den Kontakt mit seiner Widerstandsgruppe verloren: Er kam dann in Verbindung mit einem Mann, der sich Harald nannte (Deckname). Er bot sich an, London und seine Brüder über die Grenze zu bringen. London traf Harald in der Woche, bevor er selbst hinüberging. Harald sagte, die norwegische Regierung in London habe ihn ausgesandt. Er und seine Organisation könnten alle Wertsachen verwenden und übernehmen, die die Flüchtlinge zurücklassen müssten. Er sagte auch, sie müssten für die Hilfe über die Grenze bezahlen; jeder solle entsprechend seinen Mitteln zahlen.103

Dass zwei Wachtmeister von der Grenzpolizei zur Ausweiskontrolle in den Zug kamen, war für Løvestad und Pedersen völlig überraschend. Løvestad stand in Verbindung mit dem Schaffner Thoralf Hansson, der Bescheid gegen wollte, falls etwas Ungewöhnliches drohte. Aber dieses Mal klappte das nicht. Løvestad, Schermann und Feldmann saßen in einem eigenen Abteil, die sieben anderen mit Pedersen waren in einem anderen Teil des Zuges. Hvam betrat das Abteil, kontrollierte Løvestads, Feldmanns und Schermanns Ausweise und forderte sie auf, mit auf den Gang zu kommen. Løvestad begriff wahrscheinlich, dass ihm jetzt die Festnahme drohte, und schoss deshalb mit seiner Pistole auf Hvam. Die drei sprangen aus dem Zug. Feldmann brach sich im Fall einen Arm, Schermann zog sich blutende Wunden zu. Die anderen aus der Gruppe verließen den Zug im Bahnhof Berg, der letzten Station vor Halden. Pedersen war kurz vorher abgesprungen. Der andere Grenzpolizist meldete, was geschehen war, und es dauerte nicht lange, bis die neun festgenommen wurden. Sie kamen in das Gefängnis in Halden. Dort wurden die Männer gefoltert. 102 Artikel auf der Internetseite der Organisation Aktive fredsreiser: „Zog am 9. April die Uniform an, aber endete als Sklavenarbeiter in der Heinkel-Fabrik in Deutschland.“ 103 RA, S-1725 DaI Behälter 396, Vernehmung von Benjamin Roberth London in Kjesäter am 1. November 1942.

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Unterdes waren Løvestad, Feldmann und Schermann auf der Flucht. Der Polizeidirektor in der Nachbarstadt Sarpsborg wurde informiert und benachrichtigte seinerseits die Außendienststelle der deutschen Sicherheitspolizei in Fredrikstad. Die Staatspolizei in Oslo setzte eine Mordkommission ein. Auch Polizeihunde wurden herbeigeschafft. Zwei Bataillone der deutschen Ordnungspolizei von je etwa 500 Mann wurden in das Gebiet beordert. Sogar eine Gruppe vom Arbeitsdienst wurde zum Durchkämmen des Gebiets herangezogen. Aus Ragnar Ulsteins Bericht Juden auf der Flucht geht hervor, dass die deutsche Sicherheitspolizei bereits in der Nacht zum 23. Oktober die Sache übernahm. Schon bald kam von dem Hof Bakke die Meldung, einer der Flüchtlinge sei dort gesehen worden und habe dem Knecht 2000 Kronen für Hilfe beim Überqueren der Grenze geboten. Das war Hermann Feldmann. Kurz darauf erhielt die Polizistation in Skjeberg von einem anderen Hof die Meldung, dort sei „ein merkwürdiger Mann im Stall“. Der Ortspolizist von Berg, Harry Bjerkebæk, fuhr hin und nahm Feldmann fest. Er war offensichtlich erschöpft und durch seinen gebrochenen Arm gehandicapt. Bjerkebæk leitete eine Widerstandsgruppe in Østfold und war wegen seiner nachrichtendienstlichen Tätigkeit eine wichtige Person. Später wurde ihm die Festnahme Feldmanns vorgeworfen, so als habe er eine Wahl gehabt. Bjrkebæks Doppelrolle steht außer Zweifel. Feldmann wäre aber ohnehin festgenommen worden, er war zu geschwächt, und die Zahl der Verfolger war zu groß. Bjerkebæk konnte sich zu der Sache nicht äußern. Er wurde im Februar 1945 von der Gestapo in Halden verhört, nachdem Teile der von ihm geleiteten Organisation aufgeflogen waren. Um nicht unter der Folter die anderen zu verraten, nahm er sich am 28. Februar 1945 mit einer Cyanidpille das Leben.104 Willy Schermann wurde in einem Kartoffelkeller gefunden, wo er versucht hatte, mit einer Glasscherbe Selbstmord zu begehen. Er hatte den Bauern auf dem Hof gebeten, ihm weiterzuhelfen, aber der meinte, er solle sich bei der Polizei melden. Er wurde dann zu einer Gruppe der deutschen Ordnungspolizei gebracht, die sich in der Nähe aufhielt. Die unterzog ihn einer Scheinhinrichtung, damit er Karsten Løvestads wahre Identität preisgeben sollte. Das tat er nicht. Später kamen die beiden Jungen in das Haldener Krankenhaus. Ein Zeuge dort berichtete, beide seien „von den Deutschen hart geschlagen“ worden. Die Tortur hatte also schon begonnen.105 Später wurden sie in das Gefängniskrankenhaus Åkebergveien in Oslo verlegt und kamen am 15. Februar 1943 in das Lager Grini. Von dort wurden sie mit der Gotenland deportiert. Merkwürdigerweise waren beide am 19. August 1943 noch am Leben. An dem Tage wurden sie in Auschwitz von 104 Våre falne [Unsere Gefallenen] (1951), Band I, S. 287. 105 NHM 16 J 0009, Interview mit Egil Ohlsen am 26. Juni 1973.

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Die „Endlösung“: Die Juden werden deportiert

der Politischen Abteilung des Lagers, d. h. der Gestapo, an ihren Arbeitsplätzen abgeholt und in den sogenannten Bunker im Stammlager geführt. Dort wurden sie am folgenden Tag durch einen Schuss in den Nacken hingerichtet.106 Karsten Løvestad wurde am 27. Oktober gefasst. Seine wahre Identität war am 24. Oktober aufgedeckt worden, und in den Zeitungen wurde mit Bild nach ihm gefahndet. Zugleich wurde bekannt, dass wahrscheinlich er „den tödlichen Schuss abfeuerte“.107 Auch er wurde nach Aufenthalten im Gefängnis Møllergaten und in Grini hingerichtet, am 3. September 1943 in dem als Hinrichtungsstätte bekannt gewordenen Wald von Trandum nördlich von Oslo. Als die Zeitungen über die Schüsse berichteten, flohen die Eltern von Hermann Feldmann, Jacob und Rahel Feldmann, nach Trøgstad zu dem Løvestad-Hof. Für die Menschen dort kamen sie offenbar überraschend, obwohl sie zu den Løvestads schon früher Verbindung gehabt haben müssen. Sie hatten kein Gepäck mit, ein Zeichen für den sehr überstürzten Aufbruch. Aber sie hatten wahrscheinlich große Werte dabei – wie große sollte nach dem Krieg zum Gegenstand der Diskussion werden. Allem Anschein nach war schon geplant, dass Karsten Løvestad und Harry Pedersen das Ehepaar Feldmann beim nächsten Transport mitnehmen sollten – und ebenso vielleicht Leopold Bermann, der am Tag nach dem Mord den mysteriösen Anruf erhielt. Das Ehepaar Feldmann gehörte zu denen, die kurz vorher ihre Villa durch Beschlagnahme verloren hatten. Einer Beschlagnahme folgte immer ein Verhör durch die deutsche Sicherheitspolizei; das kann dazu beigetragen haben, das Jacob Feldmann besonders nervös war. Das Ehepaar wurde von dem erwähnten Leif Kølner zu einem anderen Hof gefahren. Dort wohnte Peder Pedersen, der sich wie die Løvestads in der Flüchtlingshilfe engagierte. Dorthin kam auch Håkon Løvestad nach der Flucht aus Halden. Zu dem, was danach mit dem Ehepaar Feldmann geschah, gibt es nur die Aussage der Täter und die kriminaltechnischen Beweise, die nach dem Fund der Leichen im Sommer 1943 zusammengetragen wurden. Am 27. Oktober 1942 wurden die beiden von Håkon Løvestad und Peder Pedersen ermordet. Dass die Situation in Trøgstad für die Flüchtlingshelfer prekär war, ist offensichtlich, aber der Mord an dem Ehepaar ist unbegreiflich. Und noch unbegreiflicher ist, dass die Täter nach dem Krieg von der Mordanklage freigesprochen wurden. 106 IST, Archiv, Bunkerbuch des Konzentrationslagers Auschwitz, Ordner 101, S. 72. Ebd., Sterbeurkunde des Konzentrationslagers Auschwitz, Ordner 396, S. 42. In den Sterbeurkunden ist als Todesursache plötzlicher Herztod angegeben. 107 Siehe z. B. Aftenposten vom 24. Oktober 1942: „Der dritte nach dem Eisenbahnmord Gesuchte ist noch auf freiem Fuß. Er tritt wahrscheinlich unter falschem Namen auf.

Verhaftung jüdischer Männer

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Die tragischen Ereignisse in Østfold betrafen elf Juden. Außerdem wurde Karsten Løvestad hingerichtet. Am wichtigsten war aber, dass das Quisling-Regime und die Besatzungsmacht das Geschehen als Vorwand nutzten, massiv gegen die Juden vorzugehen. Als Arne Hvam an 29. Oktober beerdigt wurde, war die große Aktion schon durchgeführt. Reichskommissar Terboven und Ministerpräsident Quisling nahmen an der Trauerfeier teil, zudem eine endlose Reihe prominenter Vertreter der Besatzungsmacht und des Quisling-Regimes: Der Kranz von der Mutter des Toten wurde als erster niedergelegt. Der Pfarrer legte ihn auf die Bahre mit warmen Worten des Dankes der Mutter an den Sohn. Dann legte Reichskommissar Terboven einen Kranz nieder und grüßte den Toten mit erhobener rechter Hand. Danach legte Ministerpräsident Quisling seinen Kranz nieder. SS-Obergruppenführer und General der Polizei Rediess, Befehlshaber der Sicherheitspolizei, Standartenführer Fehlis und Befehlshaber der Ordnungspolizei General Höring legten, wie Aftenposten schon in der gestrigen Abendausgabe schrieb, ebenfalls Kränze nieder. Von norwegischer Seite legten außer dem Ministerpräsidenten Minister Riisnæs vom Polizeiministerium, Minister Fuglsang von Nasjonal Samling, Ministerialrat Getz vom Innenministerium und Fähnleinführer Falchenberg vom 7. Hirdregiment Kränze nieder. Ferner wurden Kränze von der Staatspolizei und der Grenzpolizei niedergelegt.108

Ungefähr gleichzeitig schrieb Justizminister Riisnæs in einem Brief an Jonas Lie, der an der Ostfront war: „Jetzt machen wir mit den Juden Schluss – und zwar nachdrücklich.“109

VERHAFTUNG JÜDISCHER MÄNNER Die Vorbereitungen

Am Sonntag, dem 25. Oktober 1942, um 10.30 Uhr schickte Karl Alfred Marthinsen, der Chef der Staatspolizei, ein verschlüsseltes Eiltelegramm an alle untergeordneten Polizeistellen. Im Klartext war der Bescheid sehr einfach: Alle jüdischen Männer über fünfzehn, „ohne Altersgrenze nach oben“, sollten festgenommen und 108 Aftenposten vom 30. Oktober 1942 unter der Überschrift Da Arne Hvam i går ble stedt til hvile [Als Arne Hvam gestern zur letzten Ruhe gebettet wurde]. 109 Ringdal (1987), S. 237.

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Die „Endlösung“: Die Juden werden deportiert

in das Osloer Hauptquartier der Staatspolizei gebracht werden.110 Vorausgegangen waren hektische Vorbereitungen. Aber deren Anfänge lassen sich in die Tage vor den Schüssen im Zug nach Halden zurückverfolgen. Ein Polizeiobermeister von der Kripo, der um die Monatswende Oktober/November nach Schweden floh, erklärte dort, am 19. Oktober sei ein Telegramm hinausgegangen, „vor allem an Orte in Westnorwegen“, in dem um Informationen zu den Juden des Ortes gebeten wurde. Diese Aussage erscheint glaubhaft, denn der Mann wusste auch ziemlich genau über das verschlüsselte Telegramm vom 25. Oktober Bescheid.111 Also kann es so gewesen sein, wie der Sozialarbeiter Marcus Levin nach dem Krieg erklärte: Die meisten Juden glaubten, dass die Juden einzeln in kleineren Aktionen festgenommen werden sollten. Nach den Verhaftungen jüdischer Männer in Trondheim haben einige wohl gedacht, es gehe so weiter mit einer Schritt-für-Schritt-Aktion. Die Ereignisse in Østfold schufen aber eine neue Situation; die Täter hatten jetzt den gewünschten Vorwand. Die Vorbereitungen auf die große Aktion vom 26. Oktober standen also unter einem enormen Druck. Der Obermeister Homb von der Staatspolizei wurde zehn Tage später von Polizeichef Sverre Dürbeck beauftragt, einen Bericht über den Ablauf zu verfassen. Aufgrund dieses Berichts können wir den Hergang der Ereignisse von Freitag dem 23. bis Montag dem 26. Oktober ziemlich genau zusammenfassen. Homb bekam am 23. um 16 Uhr den Befehl, sich am Abend um 22.30 Uhr zusammen mit zwei anderen einzufinden, „um einige Abschreibarbeiten zu erledigen“.112 Eine Stunde später, also um 23.30 Uhr, kamen Polizeichef Wiermyhr und Polizeirat Unjem vom Polizeiministerium. „Sie brachten ausgefüllte Judenfragebögen über sämtliche Juden im Land mit, nach Polizeibezirken geordnet.“ Ein Karteikartensystem, wie das Polizeiministerium es sich im Januar gewünscht hatte, gab es nicht. So fand nun der „Fragebogen für Juden“ Verwendung. Homb und die beiden anderen mussten nach Polizeibezirken geordnete Listen über Juden anfertigen. Die Listen sollten Namen, Geburtsjahr und -datum sowie die Anschrift enthalten. Sie sollten bis zum 24. Oktober um 9.15 Uhr fertig und in Dürbecks Zimmer abgegeben werden. Es zeigte sich, dass drei Mann das nicht schaffen konn110 Das Telegramm findet sich in den Archiven in mehreren Kopien und Abschriften, siehe z. B. RA, Statspolitiet C II B 2, Mappe „Jødiske forbund“. 111 RA, S-1725 DAI Behälter 454, Sondervernehmung von Finn Didrik H. Kirkerud in Kjesäter am 3. Dezember 1942. 112 RA, L-sak Oslo politkammer D3325, Abschrift eines Berichts des Polizeiobermeisters Homb an den Chef der Staatspolizei vom 5. November 1942. Der Bericht ist in vollem Wortlaut auch bei Aberle (1980), S. 47 ff., abgedruckt.

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ten, fünf weitere mussten herbeordert werden. Mit acht verfügbaren Männern gelang es Homb und seiner Gruppe, die Listen eine Viertelstunde vor Ablauf der Frist fertigzustellen. Um 9.00 Uhr am Sonnabend, dem 24. Oktober, wurden sie in Dürbecks Zimmer abgegeben. Nach Hombs Bericht kam der Befehl zur „Verhaftung sämtlicher Juden über 15 Jahren“ um die Mittagszeit. Für Homb waren offenbar „Juden“ und „Jüdinnen“ zwei verschiedenen Kategorien. Noch am gleichen Tage arbeitete das QuislingRegime ein Gesetz aus, um das Vorgehen zu legitimieren. Es erhielt den sonderbaren Titel Gesetz über Zusatz zu der vorläufigen Verordnung vom 6. Oktober 1941 über die Anwendung von Sicherungsmaßnahmen gegenüber Personen, die gewisser Übertretungen verdächtigt werden. Es hieß darin, dass Sicherungsmaßnahmen, also Verhaftungen, vorgenommen werden könnten bei Personen, die „aus triftigem Grund“ verdächtig seien, „volks- oder staatsfeindliche Bestrebungen“ gefördert zu haben. Das Gesetz war unterzeichnet von Vidkun Quisling und Justizminister Sverre Riisnæs (der in Abwesenheit von Jonas Lie auch Polizeiminister war). Möglicherweise hat Riisnæs persönlich das Gesetz initiiert.113 Es stellt in internationalem Kontext eine Besonderheit dar; es scheint, als habe das Quisling-Regime mehr als vergleichbare Regime in anderen Ländern das Bedürfnis gehabt zu legitimieren, was jetzt geschehen sollte. Die wegen des Verdachts volks- oder staatsfeindlicher Bestrebungen „gesichert“ werden sollten, waren Juden. Das Gesetz war ganz klar ein antijüdisches Gesetz, aber ohne dass das Wort Jude in ihm vorkam. Schon am 24. Oktober, dem Tag der Unterzeichnung des Gesetzes, wirkten die persönlichen Bindungen, die die Operationen bis hin zur Deportation mit der Gotenland – und darüber hinaus – kennzeichnen sollten. Wagner wandte sich brieflich direkt an Polizeidirektor Knut Rød in der Osloer Staatspolizei, teilte die geänderten Adressen derjenigen Juden mit, deren Villen die deutsche Sicherheitspolizei beschlagnahmt hatte, und informierte über einen deutschen Juden, der seinen Ausweis nicht hatte stempeln lassen.114 Die relativ dichte Zusammenarbeit von Wagner und Böhm auf deutscher und den Polizeidirektoren Dürbeck und Rød auf norwegischer Seite sollte das Vorgehen von nun an kennzeichnen. Und ganz außer Zweifel steht fest: Wagner und Böhm erwarteten, dass ihre Anordnungen, seien sie schriftlich oder mündlich, befolgt wurden. Auch Marthinsen war Wagner in dieser Hinsicht unterstellt. So blieb es bis Januar 1943, als Rød die Verantwortung für Angelegenheiten der Juden in und um Oslo übernahm, und danach 113 Ringdal (1991), S. 105 f. 114 RA, L-dom 4091. Der Brief Wagners an Rød vom 24. Oktober 1942 trägt den Vermerk „Persönlich! Sofort vorlegen“. Der Brief enthält die Namen, die früheren und die neuen Anschriften von acht Juden.

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bis zum Frühherbst 1943, als beide, Wagner und Rød, im Großen und Ganzen mit „den Judensachen“ anscheinend fertig waren. Wagner bekam da eine neue Aufgabe als Referatsleiter der Abteilung IV S, die Gestapochef Reinhard und BdS Fehlis täglich über Sabotageakte und andere Widerstandshandlungen berichten sollte. Rød gab kurz darauf seine Stelle in der Staatspolizei auf.115 Diese Rollenverteilung implizierte nicht, dass Wagner die Staatspolizei im Detail lenkte. Sie arbeitete unter Marthinsens Leitung durchaus selbständig, traf ihre eigenen Dispositionen. So sorgte sie für den Transport von Juden nach Oslo und bemühte sich nach dem 26. Oktober, bei kleinen Nachfolgeaktionen möglichst viele Juden zu verhaften. Aber immer wenn die Sicherheitspolizei eingriff, hatte sie das Sagen. Am Sonntag, dem 25. Oktober, um 10.00 Uhr fand bei der Staatspolizei in Oslo eine Besprechung zur Vorbereitung der für Montag vorgesehenen Verhaftungsaktion statt. Teilnehmer waren „der Chef der Staatspolizei, Polizeidirektor Rød, Polizeirat Kranz u. a.“. Marthinsens Telegramm muss da schon vorbereitet gewesen sein, denn es wurde um 10.30 Uhr abgeschickt. Im Laufe des Tages wurden auch die erforderlichen Dokumente fertiggestellt. Die Polizisten, die die jeweilige Verhaftung vornahmen, sollten einen dreiseitigen Beschlagnahmebogen ausfüllen. Der betroffene Jude, auf dem Bogen als „die Hauptperson“ bezeichnet, sollte seine Staatsbürgerschaft nennen und genau Auskunft geben über seinen Besitz: über bewegliche Habe, etwaige Autos, Vermögen im Ausland, Wertpapiere, Bargeld, Taschen- und Armbanduhr, Bankfächer usw. Ein letzter antijüdischer Stich war die Frage, ob er nach dem 9. April 1940 Vermögenswerte ins Ausland überwiesen hatte und, falls ja, an wen. Notiert werden sollten ferner die Ehefrau und etwaige Kinder und vor allem, welche der weiblichen Familienmitglieder der Meldepflicht unterlagen und wem die „Bekanntmachung über Beschlagnahme“ ausgehändigt worden war. Die Osloer Polizisten trugen auf den Bögen mit Schreibmaschine Namen und Adresse ein. Die erwähnte Bekanntmachung wurde vervielfältigt. Sie bestand schlicht aus einem Bescheid in zwei Punkten. Dem verhafteten Juden wurde „aufgrund des Gesetzes vom 24.10.1942“ mitgeteilt: „Ihr Vermögen und das der übrigen Familie ist beschlagnahmt.“ Und zweitens: „Das älteste verbleibende Familienmitglied ist verpflichtet, sich täglich bei der Polizeiwache des Wohnbezirks der Familie zu melden.“ Versuche, Vermögen zu hinterziehen, oder Verstöße gegen die Meldepflicht würden „zu den strengsten Sanktionen führen, die das genannte 115 RA, L-dom 4091. Laut Gerichtsurteil vom 10. April 1948 reichte Rød am 7. August 1943 seinen Abschied ein und trat am 15. September ab. „Sofort danach trat er aus der Partei aus.“

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Gesetz zulässt“.116 Kein Hinweis auf das Gesetz, das Quisling und seine Minister nun in Rekordzeit durchpeitschten und am 26. Oktober unterschrieben und nach welchem der Besitz der Juden zugunsten der Staatskasse eingezogen werden sollte. Vielleicht wussten die Männer von der Staatspolizei das nicht, als sie die „Bekanntmachung“ formulierten,; aber es hätte auch sonderbar ausgesehen, hätte die Bekanntmachung vom 25. Oktober auf ein Gesetz verwiesen, das es erst am nächsten Tage geben würde. Zur gleichen Zeit wurden Einsatzbefehle vervielfältigt (die später mit Namen, Geburtsdatum und Anschrift versehen wurden) sowie Instruktionen für die Mannschaften, die nun zu der Aktion in Oslo einberufen wurden. Das waren 124 Mann oder 62 Patrouillen. Von diesen kamen 40 Mann von der Osloer Kriminalpolizei und 20 von der Germanske SS Norge. Auch „der ganze Ermittlungskurs der Staatspolizei“ war dabei. Die übrigen Einberufenen waren von der Staatspolizei selbst. Die 40 von der Kriminalpolizei wussten nichts vom Zweck des Einsatzes; vielleicht gilt das sogar für alle außer denen, die die Listen geschrieben hatten. Einer der Kriminalpolizisten erklärte das später so: Es war im Herbst 1942 – spät im Herbst. Da bekamen wir den Bescheid, uns frühmorgens, gegen fünf oder sechs, in der Gardekaserne in Kirkeveien einzufinden, wir alle, die keinen Dienst hatten oder nicht mit etwas Besonderem beschäftigt waren. Es waren Leute von der Kriminalpolizei. Wir wussten ja nichts davon, was los war, und wir mussten hin, sonst wären wir geschnappt worden. Als wir hinkamen, erfuhren wir, worum es ging, Wir sollten die Männlichen abholen, nur die Männlichen.117

Auch bei der zweiten Verhaftungsaktion in Oslo am 26. November wurde den Beteiligten im voraus nicht mitgeteilt, was sie tun sollten; aber jetzt ahnten einige es dennoch, und offenbar ließ die Kriminalpolizei vorweg durchblicken, dass etwas Wichtiges bevorstand. Die Zahl der beteiligten Polizisten war natürlich von Ort zu Ort verschieden. Da die Gesamtzahl der jüdischen Männer begrenzt war – in Trondheim waren schon alle „gesichert“ – war es unnötig, den einzelnen Polizeibezirken oder den örtlichen Staatspolizeistellen genaue Anweisungen zu geben. Nach dem Wortlaut des Telegramms war die Ausführung des Auftrags der jeweiligen Polizeibehörde überlassen. 116 Ein Beispiel für eine solche Bekanntmachung findet sich im RA, Statspolitiet 1940–45, Aktion gegen die Juden, Juden in Oslo 1-200, Mappe 47. Die Bekanntmachung datiert vom 25. Oktober 1942. 117 NHM 115, Teil I, S. 687 ff., Interview mit einem früheren Kripo-Mann am 2. Dezember 1985.

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„Die Schreibarbeit“, wie Homb in seinem Bericht sie nennt, ging am Abend des 25. Oktober weiter. Alle Angehörigen der Staatspolizei waren für 20.00 Uhr einbestellt, aber die meisten wurden wieder nach Hause geschickt, denn sie sollten am nächsten Morgen früh aufstehen. Die 124 in Oslo mussten sich am Montag, dem 26. Oktober, um 5.30 Uhr wieder zum Dienst melden. Damit waren die Vorbereitungen beendet. Die Verhaftungen außerhalb Oslos

Marthinsens verschlüsseltes Telegramm wurde also um 10.30 Uhr versandt. Bei der Staatspolizei in Bergen lag es dechiffriert erst um 12.30 Uhr vor. Im Dienstprotokoll wurde notiert, dass „das Telegramm dem Abteilungsleiter unmittelbar nach Empfang ausgehändigt wurde“. Ungefähr zur gleichen Zeit rief Hauptsturmführer Hans Hartung an. Auch der KdS in Bergen hatte das Telegramm bekommen, und zwar vom BdS in Oslo. Ein solches Telegramm ist nicht erhalten, aber aus Vernehmungen nach dem Krieg geht hervor, dass die deutsche Ausgabe „ungefähr das Gleiche war wie das, was die Staatspolizei bekommen hatte – nur umständlicher formuliert“.118 Um 17 Uhr kamen der Abteilungsleiter, Polizeidirektor Alf Hans Granaas, und sein Stellvertreter, Polizeirat Johansen, zusammen, um die Aktion am nächsten Tag zu planen. Alle verfügbaren Polizisten wurden zu Vorbereitungsarbeiten beordert. Ein Staatspolizist holte die Schlüssel des Einwohnermeldeamtes.119 Erst um 22 Uhr war die Arbeit beendet. Am nächsten Morgen um 5.30 Uhr meldeten sich außer Granaas selbst 11 Mann zum Dienst. „Außerdem fanden sich zwei Mann von der Deutschen Sicherheitspolizei ein.“ Nichts deutet darauf hin, das diese beiden sich an den Verhaftungen beteiligten. Sie waren nur zur Überwachung da, denn Granaas hatte von Hartung den Bescheid bekommen, dass norwegische Polizei die Aktion durchführen sollte. Die Staatspolizei in Bergen hatte nur ein einziges Auto mit Chauffeur; daher wurden vier Autos und Chauffeure von der Polizeidirektion hinzubestellt. Kurz darauf ging es los. Um Viertel vor sieben wurde der erste Jude auf die Wache gebracht, der 66-jährige Typograph Emil Salomon. Eine halbe Stunde später kam der Musiker István Ipolyi dazu, einer der Begründer des Budapest-Quartetts.120 Während des ganzen 118 RA, L-dom 490 I-II Bergen, Vernehmung von Alf Hans Granaas am 10. Januar 1946. 119 Staatsarchiv Bergen, Dienstprotokoll der Bergener Staatspolizei, Eintragung für den 25. Oktober 1942. 120 Ebd., Dienstprotokoll der Bergener Staatspolizei, Eintragungen für den 25. und 26. Oktober 1942. Emil Salomon hatte eine nicht-jüdische Frau. Er saß – mit einer kurzen Unterbrechung vom 7. bis 25. November 1942 – bis zum 2. Mai 1945 im Internierungslager

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Tages ging die Verhaftung jüdischer Männer weiter. Am Abend wurden zwei 13-jährige Jungen auf die Wache gebracht, weil sie ein von der Jugendorganisation des Hird angebrachtes Plakat abgerissen hatten. Der Hauptkommissar Kvalheim, der vorher jüdische Männer in der Stadt festgenommen hatte, „ermahnte die Jungen nachdrücklich und forderte sie auf, solche Streiche zu lassen, ordentliche Jungs zu sein und lieber dem Hird für Jungen beizutreten“.121 Insgesamt wurden fünfzehn jüdische Männer im Obdachlosenarrest der Polizeidirektion Bergen untergebracht.122 Im Rahmen der Vorbereitungen musste die Bergener Staatspolizei Verbindung zu den Polizeibehörden der Orte außerhalb der Stadt aufnehmen, in denen Juden wohnten. Einer, der damit einbezogen wurde, war der Ortspolizist in Etne und Skånebik im Bezirk Sunnhordland. In Skånevik wohnte das Ehepaar Hans und Edith Reichwald mit dem zweijährigen Sohn Harry. Hans Reichwald stammte aus Österreich, seine Frau war die Tochter eines der bekanntesten Juden im Land, Moritz Rabinowitz. Sie hatte wenige Monate vorher erfahren, dass ihr Vater in Sachsenhausen gestorben war.123 Die Staatspolizei befahl dem Ortspolizisten, sich am nächsten Morgen bei der deutschen Ortskommandantur einzufinden. „wo eine Order liegen würde“. Auf der Fahrt nach Skånevik begleitete ihn ein deutscher Unteroffizier von der Wehrmacht. Der Polizist erledigte seinen Auftrag sehr gründlich. Aus seinem ungewöhnlich ausführlichen Bericht an den Chef der Staatspolizei geht hervor, dass Hans Reichwald ursprünglich nach Bergen geschickt werden sollte, aber wegen schlechter Verbindungen nach Norden wurde mit dem Polizeidirektor in Haugesund vereinbart, dass er dorthin kommen sollte: „Er würde zusammen mit ähnlichen Transporten aus Haugesund weitergeleitet werden.“ Hans und Edith Reichwald mussten in drei Exemplaren eine Erklärung unterschreiben, dass ihr Vermögen eingezogen sei. Der Polizist ging danach den Besitz der kleinen Familie im Einzelnen durch. Da es in Skånevik keine Polizeiwache gab, wurde Edith Reichwald verpflichtet, sich täglich bei dem Bürgermeister und NS-Mannschaftsführer Kristoffer Tungesvik zu melden.124

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Berg. Von dort wurde er nach Schweden verlegt. – Ipolyi war ungarischer Staatsbürger. Er saß mit einer Unterbrechung bis Mai 1945 im Gefängnis Bredtveit, in Grini und Berg, bis er mit anderen, darunter Salomon, am 2. Mai nach Schweden kam. Ebd., Eintragung für den 26. Oktober 1942. Die Verhaftungen in Bergen sind ausführlich beschrieben bei Sebak (2008). Die Botschaft in Stockholm hatte Rabinovitz’ Tod gemeldet, siehe NHM 52, C H7, Pressebulletin Nr. 178 vom 18. September 1942. Da dies ein „regulärer“ Todesfall war, hat die Tochter vermutlich die Sterbeurkunde erhalten und das Angebot, die Asche zu kaufen. Rabinovitz war einer der ersten norwegischen Juden, die in Deutschland ums Leben kamen. Er wurde wahrscheinlich am 27. Februar 1942 von einem Wachmann zu Tode getreten. RA, Staatspolitiet. Festnahmen von Juden, Juden außerhalb der Stadt 1-94, Bericht des

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Die Festnahme erregte vor Ort Aufsehen aber der Ablauf wird unterschiedlich dargestellt. Einer Beschreibung zufolge nahm die Gestapo die Verhaftung vor,125 eine andere nennt den Ortpolizisten und „zwei Deutsche“ als Täter.126 Das erscheint glaubhaft; vielleicht kamen der Polizist und der deutsche Unteroffizier mit einem Chauffeur. Beide Berichte stimmen indes darin überein, dass Edith Reichwald die Festnahme hinauszuzögern suchte, indem sie Kaffee und etwas zu essen auftrug. Ein Augenzeuge erzählte 40 Jahre später: „Die Verhaftung kam für uns alle ganz überraschend. Sie hatten doch nichts Schlimmen getan.“127 In Bezirk Hardanger hatte die Staatspolizei Kontakt zu dem Ortspolizisten in Kvam aufgenommen. Auch hier wurde die deutsche Ortskommandantur einbezogen. Da die Staatspolizei ihre Order direkt an den Ortspolizisten schickte, fand der Polizeidirektor in Odda, die Sache gehe ihn nichts an.128 Er wollte sich nicht engagieren. Fritz Josef Türkheimer, Ingenieur am Hüttenwerk Bjølvefossen, wurde festgenommen und später in das Lager Berg bei Tønsberg gebracht. In Stavanger, wo der Polizeidirektor John Georg Ekerholt gerade zum Interimschef der Staatspolizei bestellt worden war, bereitete die Entschlüsselung von Marthinsens Telegramm Probleme: „Das Telegramm war unverständlich, weil die Codewörter durcheinandergeraten waren.“ Aber auch in Stavanger rief die deutsche Sicherheitspolizei bei der Staatspolizei an und erklärte, worum es ging. Ekerholt behauptete nach dem Krieg, die Juden, insgesamt elf aus Stavanger und Umgebung, seien ohne seine Mitwirkung verhaftet worden.129 Am Tag der Verhaftungen fand er aber Zeit, Staatspolizeichef Marthinsen brieflich an eine Familie Risting in Oslo zu erinnern, die nach seiner Meinung jüdischer Herkunft war: „Ich kenne die Ahnentafel dieses Mannes nicht näher, aber wenn man ihn sieht, kann kein Zweifel sein.“ Wegen des Briefes erhielt die Familie einen wahrscheinlich sehr unangenehmen Besuch von der Staatspolizei. Es stellte sich heraus, dass sie keine Juden waren.130 In Hønefoss wurde das Telegramm nicht richtig dechiffriert. Man verlegte den Zeitpunkt der Verhaftungen von Montag, den 26. Oktober, 6.00 Uhr, auf 0.00 Uhr Ortspolizisten von Etne und Skånevik an den Chef der Staatspolizei vom 27. Oktober 1942. 125 Haugland (1998), S. 430. 126 Fossen (1991), S. 174 f. 127 Ebd. S. 175. 128 RA, Statspolitiet, Verhaftungen von Juden, Mappe 22, Brief des Polizeidirektors in Odda an die Staatspolizei vom 16. November 1942. 129 RA, L-sak Oslo politikammer D3325, Vernehmung von John Georg Ekerholt am 27. Mai 1946. 130 RA, L-dom 4146. Der Brief datiert vom 26. Oktober 1942.

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vor. Polizeidirektor Hjalmar Neiden und seine Männer nahmen das ganz buchstäblich und leiteten die Aktion schon kurz vor Mitternacht ein. Als Erster wurde der Uhrmacher Eugen Keil um 23.45 Uhr von zwei Wachtmeistern festgenommen: „Eine Armbanduhr und 36 Kronen Bargeld wurden beschlagnahmt.“131 Insgesamt wurden im Bezirk in der Nacht zum 26. November fünf Juden verhaftet. Außer Keil waren das der 60-jährige Alexander Moses Scharff und seine beiden Söhne Jacob, der am 26. gerade 34 Jahre alt wurde, und der 28-jährige Julius Meilach Scharff, ferner Paul Spielmann. Dieser war als politischer Flüchtling aus Wien gekommen, wo seine Frau und ein Sohn lebten, und wohnte jetzt in der Arbeiterkolonie Nakkerudbygda.132 Im Bericht an den Chef der Staatspolizei hieß es: „Alle Festgenommenen lebten in sehr bescheidenen Verhältnissen und haben daher nur das Allernotwendigste an Einrichtung.“ Ein weiterer Sohn von Alexander Scharff, Herman RafaelScharff, war dem Polizeibericht zufolge „geistesschwach und hat bisweilen mehrmals am Tag krampfartige Anfälle“. Er wurde fürs Erste nicht verhaftet; wir werden auf sein Schicksal später zurückkommen. Zurück blieben auch Julius Scharffs Frau Lea und ihre beiden ein und zwei Jahre alten Kinder. Spielmann wurde verhaftet, während er im Kino war, laut Polizeibericht um 23 Uhr. Ein Zeuge erzählte später in dem lokalhistorischen Blatt Ringerike, was an dem Abend geschah: Es war ein dunkler Herbstabend, daher kam ich etwas zu spät und blieb gleich neben der Tür stehen. Der Film war angelaufen, und der Saal war voll. Nicht lange danach geht die Tür einen Spalt auf, und der Ortspolizist steht plötzlich da, begleitet von einem dicken Gestapooffizier mit grimmigem Gesicht. Polizist Abelvik ruft: ‚Ist Paul Spielmann anwesend?‘ Es wird still, und das Licht geht an. Der Aufgerufene steht unten in der Reihe auf und geht langsam zur Tür, während er Bekannten zunickt. Das Auto wartet draußen.133

131 JMO, Honefoss politikammer, von Hand dechiffriertes Telegramm vom 25. Oktober 1942. Durchschrift eines Berichts über die Festnahme von Eugen Keil vom 26. Oktober 1942. Keil wurde nach Auschwitz deportiert, aber landete später in einem Uhrmacherkommando in Sachsenhausen. Dort wurden Uhren repariert, die bei in Auschwitz vergasten Juden beschlagnahmt worden waren. Auf wunderbare Weise überlebte Keil und kehrte später nach Norwegen zurück. 132 Ebd., Durchschrift eines Berichts des Polizeidirektors im Bezirk Ringerike [Hønefoss] an den Staatspolizeichef vom 29. Oktober 1942. 133 Dahl (2003), S. 35.

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Die Festnahme Spielmanns „war für die Siedlung ein Schock“. Sie geschah in aller Öffentlichkeit, und dass ein Gestapomann dabei war, war ein schlechtes Zeichen. Spielmann war schon lange zur Flucht aufgefordert worden, aber er hatte gemeint, dass die Siedlung ein guter Ort sei, sich zu verbergen, und „dass er noch mehr Jahre auf der Flucht nicht ertrüge“.134 In der Polizeidirektion Hønefoss war ein großer Teil des Stabes, angefangen mit Polizeidirektor Neiden, im Widerstand aktiv. Neiden wurde im Herbst 1944 nach der sogenannten Hønefoss-Aktion, in die auch Wilhelm Wagner in seiner Eigenschaft als Sabotage-Referent verwickelt war, aus seiner Stelle entlassen. Er schrieb in den achtziger Jahren einen längeren Bericht über seine Zeit als Polizeidirektor. Darin behauptete er, dass „der Führer der Untergrundarmee im Bezirk die Juden eindringlich aufgefordert hatte, auf der Route der Untergrundarmee nach Schweden zu fliehen, aber dass sie nicht dazu zu bewegen waren, diese Möglichkeit zu nutzen“. Das Zeitfenster dazu wäre für die Juden in Hønefoss in jedem Falle knapp gewesen, da die Verhaftungen früher als an vielen anderen Orten stattfanden. Ohnehin schrieb Neiden an anderer Stelle, dass Alexander Moses Scharff die Gefahr, verhaftet zu werden, schon lange erkannt hatte und daher seine beiden Enkelkinder Bjørn Meier und Idar mit „gewissen Zeichen“ hatte tätowieren lassen. Neiden erklärte weiter: Er muss besser informiert gewesen sein als ich. Als der Festnahmebefehl einige Wochen später tatsächlich kam und ich, bevor ich etwas unternahm, wissen wollte, was mit den Juden geschehen sollte, bekam ich keine andere Antwort als die, ich solle dafür sorgen, dass die namentlich benannten Juden festgenommen und an einen näher bezeichneten Ort geschickt würden, wir glaubten in ein Konzentrationslager in Norwegen. Aber ich bin froh darüber, dass Scharff auf diese Weise vorher zu erkennen gab, dass sie keinen Versuch machen würden, sich der bevorstehenden Festnahme zu entziehen.135

Neiden meinte also, Scharff habe ihn sozusagen von der Schuld an der Verhaftung der Juden in Hønefoss und Umgebung freigesprochen. Wahrscheinlich plagt ihn das Schicksal der Juden, aber seine Rationalisierung des Hergangs wirkt allemal reichlich phantasievoll, zumal er behauptet, die Festzunehmenden seien in dem Befehl, den er erhielt, namentlich aufgeführt worden. Das waren sie nicht. Es war 134 Ebd. Spielmann, der bei seiner Festnahme 38 Jahre alt war, wurde mit der Donau deportiert, zum Arbeitseinsatz eingeteilt und starb wahrschenlich am 3. Februar 1943, nachdem er wegen eines Ödems von Buna-Monowitz in das Krankenrevier des Stammlagers verlegt worden war. 135 Hallmann og Andersen (1979), S. 117.

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Neiden selbst und seinen Leuten überlassen, eine Liste über die Juden in Stadt und Umland zu erstellen. Der Lokalhistoriker Jan Helge Østlund schrieb später, es habe für Neiden und die Polizeidirektion „keinen Ausweg“ gegeben: Während die Polizei beim Protest der Lehrer durchaus Entscheidungsspielraum gehabt habe, weil Neiden keine Namensliste festzunehmender Lehrer erhalten hatte, habe er bei den Juden keine solche Möglichkeit gehabt.136 Eine solche Darstellung ist leider beklemmend zu lesen. Die Polizei in Kongsvinger verhaftete die beiden einzigen Juden in der Gegend, den 64-jährigen Herman Isak Landau und den 66-jährigen Herman Joseph. Einmal im Gange, nahm sie auch Cato Hambro fest, ein Mitglied der Hambro-Familie, das sich gerade in der Nähe aufhielt. Möglicherweise geschah das vorsorglich; Hambro hatte keinen J-Stempel in seinem Ausweis und wurde wieder freigelassen, als die Festgenommenen im Hauptquartier der Staatspolizei in Oslo registriert wurden. Aber der Name Hambro hatte in NS-Kreisen einen besonderen Klang; sie kamen immer wieder auf die angebliche jüdische Herkunft des Stortingspräsidenten zurück.137 Bis weit ins vorige Jahrhundert hinein war es nicht ungewöhnlich, stark behinderte oder auf andere Weise auffällige Kinder „wegzugeben“, sei es zur Adoption oder zur Unterbringung in Heimen oder Pflegefamilien. Einige der auf diese Weise „weggegebenen“ Juden lebten während des Krieges fast unbemerkt. Aber so war es nicht in Bjørkelangen, wo der 37-jährige Benjamin Isachsen bei dem Bauern Anton B. Nilsen wohnte und arbeitete. Isachsen wurde am 26. Oktober vergessen, aber am 2. November bekam der für Bjørkelangen zuständige kommissarische Ortspolizist in Høland vom Polizeidirektor in Lillestrøm den Befehl, ihn festzunehmen und sein Vermögen zu beschlagnahmen. „Isachsen wurde an seinem Arbeitsplatz gefasst“, erklärte der Polizist in seinem Bericht, „er war sogleich bereit mitzukommen und machte keinen Versuch zu fliehen.“ Zu beschlagnahmen war nichts, denn Isachsen besaß nichts. In dem Beschlagnahmebogen sind nur 26 Kronen und 15 Øre vermerkt.138 Er war bei Nilsen seit vier Jahren, und offenbar war zwischen beiden eine Bindung entstanden. Nilsen erklärte dem Polizisten, er bedauere, Isachsen zu verlieren, denn es sei so schwierig, „an seiner Stelle einen andern zu bekommen“. Der nüchterne und sachliche Bericht des Polizisten verdeckt, dass Nilsen bestürzt war. Am Tage nach der Verhaftung schrieb er dem Polizisten einen Brief und 136 Østlund (1997), S. 34 f. Østlund dramatisiert Neidens Bericht über Alexander Scharff und die Tätowierung der beiden Kleinkinder. 137 RA, Statspolitiet, Festnahme von Juden, Behälter 16, Brief der Abteilung Østlandet der Staatspolizei an die Abteilung Oslo vom 28. Oktober 1942. 138 Ebd., Behälter 4.

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erklärte, Isachsen sei „ein so ruhiger Kerl, der sich neben seiner täglichen Arbeit in nichts einmischt“. Er fügte hinzu, er sei sehr gern bereit, selbst die tägliche Meldepflicht auf sich zu nehmen, wenn er Isachsen zurückbekäme. In einem späteren Brief äußerte er sich ausführlicher zu Isachsen. Dieser sei mental auf dem Stand eines Zehn- oder Elfjährigen, aber er sei auch sehr nervös und deswegen früher ärztlich behandelt worden. Vielleicht habe schlechte Behandlung auf den Höfen, die früher sein Arbeitsplatz waren, seinen Zustand verschlimmert. Aber „mit ruhiger Behandlung und guter Pflege in den vier Jahren, die er bei mir war“, gehe es ihm viel besser. Nilsen fürchtete aber, dass die Festnahme bei Isachsen neue Leiden auslösen und dass „er jederzeit geisteskrank werden könnte“. Er hoffte, Isachsen könne freigelassen werden, „zurück zu seiner Arbeit, sodass er dem unglücklichen Schicksal entgehen kann“. Nilsen fuhr auch nach Oslo, um durch Verhandlungen seinen Arbeiter freizubekommen.139 Das gelang nicht. Isachsen kam in das Gefängnis Bredtveit und wurde mit der Donau deportiert. In Auschwitz wurde er einem Arbeitskommando zugeteilt; er erlag schon am 15. Januar 1943 den Belastungen. Die Verhaftungen folgten überall im Land dem hier beschriebenen Muster. Wo die Staatspolizei vertreten war, in Stavanger, Bergen, Trondheim, Narvik und Tromsø, nahm sie selbst die Festnahmen vor. In Trondheim, Narvik und Tromsø lebten allerdings nach früheren Verhaftungen nur noch wenige jüdische Männer. An anderen Orten nahmen die Polizeidirektoren die Telegramme in Empfang und leiteten dann die Befehle an die Ortspolizisten in ihren Bezirken weiter. So gingen die Verhaftungen ihren Gang; das System funktionierte. In ländlichen Gebieten wurden die Juden zu beinahe 100 Prozent erfasst. Ausgenommen waren nur Kranke, die nicht transportfähig waren. Dies zu entscheiden war eine Ermessensfrage; laut Befehl sollten grundsätzlich alle Juden über 15 Jahren nach Oslo in Bewegung gesetzt werden. In Tromsø blieb von fünf Verhafteten einer zurück. Die vier anderen und die Juden aus dem Eismeerbezirk Finnmark – das waren ganze zwei – wurden mit fahrplanmäßigen Verkehrsmitteln nach Oslo befördert. Sie kamen dort, d. h. im Gefängnis Bredtveit, erst am 9. November an; die Reise hatte also 14 Tage gedauert.140 Die Rechnungen für den Transport gingen an den Regierungspräsidenten (Fylkesmann) in Tromsø, der sich weigerte zu zahlen. Es endete damit, dass 139 Ebd., Behälter 4, Bericht des Ortspolizisten in Høland an den Polizeidirektor von Lillestrøm vom 3. November 1942. Die Festnahme Isachsens war vielleicht auch für den Polizisten eine Belastung, denn der Bericht ist falsch datiert auf den „2. September 1942“ und später unterschrieben am „3. Oktober 1942. Briefe von Anton B. Nilsen an den Polizisten vom 2. und 9. November. 140 Ebd., Mappe 22, Telegramm der Staatspolizei in Tromsø an die Staatspolizeizentrale vom 28. Oktober 1942.

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die Transportkosten ungedeckt blieben.141 Auch in Tromsø ist die Überwachung durch die deutsche Sicherheitspolizei offenkundig. Am 6. November musste die Staatspolizei dem Kds in der Stadt Bericht erstatten. In Tromsø war ja die Sicherheitspolizei selbst sehr aktiv gewesen, sie hatte schon 1941 die meisten männlichen Juden festgenommen (vgl. oben S. 134).142 Es zeigte sich, dass die Staatspolizei in ihrem Eifer zwei sogenannte Halbjuden verhaftet hatte, deren Ausweise nicht mit einem J gestempelt waren. Sie wurden erst freigelassen, nachdem sie nach Oslo transportiert worden waren und vier Tage im Gefängnis Bredtveit zugebracht hatten.143 Auch einer der anderen Juden des Transports, der 72-jährige Daniel Caplan, kam nach zwei Tagen in Bredtveit vorübergehend wieder frei. Nach einem Befehl Quislings vom 7. November sollten Juden über 65 Jahren freigelassen werden. Caplan nahm den langen Weg zurück nach Tromsø auf sich. Am 25. November wurde er erneut verhaftet und nach Süden geschickt. Am 25. Februar 1943 wurde er mit der Gotenland deportiert. An den meisten Orten wurde den jüdischen Frauen eine Meldepflicht auferlegt. Wenn die nächste Polizeistation zu weit entfernt war, konnten sie sich vor Ort bei zuverlässigen NS-Mitgliedern melden. In Narvik verfuhr man aber nach dem Vorbild Trondheims, wo die meisten Frauen und Kinder in drei Wohnungen konzentriert worden waren. Die beiden Frauen, Sara Caplan mit zwei Söhnen und Bertha Fischer mit einem Sohn und einer Nichte, wurden gemeinsam auf einem Hof außerhalb der Stadt untergebracht.144 Kristiansund ist das Beispiel einer Stadt, in der die Maschinerie die Aufgabe nur mit gewissen Schwierigkeiten bewältigte. Der Polizeidirektor Roald Theisen unterstrich in seinem am 25. Oktober ausgefertigten Festnahmebefehl, dass auch der Wachtmeister Børresen am nächsten Morgen um 6.00 Uhr zu erscheinen habe, aber mit dem Zusatz, dass „er nichts erfahren soll, bevor er da ist“. Das Ergebnis war, dass kein Jude vor den Verhaftungen gewarnt wurde.145 Auch in Kristiansund wurden drei „Halbjuden“ verhaftet, aber sie hatten sich Anfang des Jahres als Juden registrieren lassen und hatten daher J-gestempelte Ausweise. Sie kamen mit ihrem 141 RA, Tromsø politikammer 2360, Justizprotokoll, Statspolitiet Tromsø, 532/42 Jødeaksjonen. 142 Ebd. 143 Die beiden waren der 17-jährige Bernhard Fischer und der 18-jährige Oscar Fischer, Söhne von Hirsch Fischer, der bis zum 2. Mai 1945 inhaftiert blieb. 144 NHM 52 H C7, Pressebulletin vom 31. Oktober 1942. Bertha Fischer wurde mit ihrem Sohn Idar und der Nichte Lillian mit der Gotenland depotiert. Sara Caplan wurde vom dänischen Konsul in Oslo auf wunderbare Weise nach Dänemark gerettet. Mit ihren beiden kleinen Söhnen floh sie im Herbst 1943 nach Schweden. 145 Borøchstein (2000), S. 154 f.

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Vater, dem 52-jährigen Josef Michael Borøchstein, in das Internierungslager Berg und am 26. November nach Oslo. Dort wurde eher zufällig entdeckt, dass sie gleichwohl nicht an Bord gehen sollten (mehr zu ihnen später in diesem Kapitel).146 Später sollte die Arbeit für die Polizei in Kristiansund noch beschwerlicher werden. An einigen Orten ist gut verbürgt, dass Polizisten Juden gewarnt haben. Ein Beispiel ist Jevnaker, wo der Polizist Asbjørn Bruun die jüdische Familie am Ort, den 78-jährigen David Bersohn und seine Söhne Isak (41) und Markus (37) zur Flucht zu veranlassen suchte. Bruun schlug vor, dass die drei einen Überfall auf ihn vortäuschen und danach verschwinden sollten. Er hatte sogar für Fluchthelfer nach Schweden gesorgt. Warum die Bersohns das Angebot nicht annahmen, ist nicht klar. Vielleicht fühlte sich David Bersohn zu alt für eine risikoreiche Flucht,147 oder die Rücksichtnahme auf eine alte und kranke Verwandte, die 75-jährige Henrietta Selig, gab den Ausschlag. Es sei ausdrücklich betont, dass es oft schwierig ist, Warnungen an Juden zu verifizieren. Das gilt besonders für kleine Orte. Mehrere Polizisten haben erklärt, sie hätten die Juden gewarnt, die zu verhaften ihnen befohlen war, aber dafür gibt es nur selten Bestätigungen. Dass der Chef der Staatspolizei das Telegramm, das die Verhaftungen anordnete, mit Bedacht nur einen Tag im Voraus verschickte, begrenzte ohnehin die Optionen, die die Opfer noch hatten. Der Regelfall war, dass die Politiker und Polizisten vor Ort den Befehl sehr genau ausführten. Großrazzia in Oslo

Mehr als zwei Drittel von Norwegens Juden wohnten in Oslo, und so war hier die Zahl der Täter am höchsten, die an der großen Verhaftungsaktion beteiligt waren. Und hier wurden auch relativ viele Juden wirklich gewarnt, sodass die Chance zu entkommen besser war als an anderen Orten. Als die Mannschaften am 26. Oktober um 5.50 Uhr in der Osloer Staatspolizeizentrale zum Appell zusammenkamen, wurden sie von Polizeidirektor Knut Rød über den geplanten Ablauf der Aktion und ihre Aufgaben dabei unterrichtet. Sie wurden in 62 Patrouillen zu zwei Mann eingeteilt.148 Jede Patrouille bekam einen Umschlag mit einer Liste der zu Verhaftenden, Instruktionen, dem Beschlagnah146 Einer von ihnen, Herberth Borøchstein, äußerte sich später in einem Radiointerview; und das ist das ist eine wichtige Quelle zu dem Geschehen am Pier I am 26. November 1942. 147 Aarflot (1978), S. 45. 148 Eine Liste der Patrouillen zeigt, dass es wahrscheinlich nur 52 waren. RA, Politidepartenentet, Verzeichnis der Patrouillen sowie Quittung für die Mannschaften der Germanske SS, die 20 Kronen für Ihren Einsatz bekamen, vom 29. Oktober 1942.

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mebogen (in drei Exemplaren für jeden Arrestanten) sowie der schon erwähnten Mitteilung über Beschlagnahme und Meldepflicht. Es waren nicht viele Autos verfügbar, und diese sollten nur zur Festnahme der am weitesten entfernt Wohnenden benutzt werden. Anscheinend sollten die Männer selbst die Transportkosten – Straßenbahn- oder Busfahrscheine – auslegen und sie sich später erstatten lassen. Um sechs Uhr machten sich die Patrouillen auf den Weg.149 Im Unterschied zu den ländlichen Gebieten und den kleineren Städten dauerte die Aktion in Oslo bis zum Abend, und das Personal im Hauptquartier der Staatspolizei wurde in der Nacht zum 27. Oktober verstärkt zur Registrierung von Juden, die sich meldeten. Hombs Bericht zufolge verlief alles „im Großen und Ganzen nach dem Programm“. Dennoch hatte sich gezeigt, dass die angegebenen Adressen „ganz mangelhaft“ waren, denn sie standen auf den Fragebögen, die vor über einem halben Jahr ausgefüllt worden waren. Homb erklärte die Abwesenheit so vieler damit, dass die Aktion auf einen Montag gelegt war: „Vielfach zeigte sich, dass es üblich war, sich den Sonnabend, Sonntag und Montag freizunehmen zu einem zusammenhängenden Ausflug aufs Land.“ Er bedauerte zudem die knappe Vorbereitungszeit: „Bei etwas besserer Vorbereitung hätte es vielleicht ein etwas besseres Ergebnis gegeben.“ Die Verwaltung sei auch überarbeitet gewesen, fand er: „So hat Polizeidirektor Rød von Sonntag 10.00 Uhr bis Montag 20.00 Uhr durchgearbeitet.“ Homb hielt auch Reaktionen auf die Verhaftungsaktion fest, wenngleich er selbst wenig Zeit gehabt hatte, diesen Aspekt auszuloten: Persönlich habe ich wenig Gelegenheit gehabt, mit Leuten zu sprechen, außer mit meiner Familie und den Jüdinnen, die mir die Tür einrennen und den ganzen Tag hindurch anrufen. Dennoch ist mir zu Ohren gekommen, dass die Juden allgemein keine große Sympathie genießen. Aber wenn es um die Verhaftung von Krüppeln, Alten, Blinden oder Geisteskranken geht, fällt das natürlich nicht auf fruchtbaren Boden. Ein klarer Bescheid im voraus hätte dieser Kritik vorgebeugt.150

Im nächsten Kapitel werden wir sehen, dass nun viele Menschen sich aktiv für die Rettung von Juden einsetzten. Die nüchternen Zahlen zeigen, dass ungefähr 260 Juden am 28. Oktober im Gefängnis Bredtveit zusammengezogen und in das Internierungslager Berg bei Tønsberg transportiert wurden. Nicht alle waren aus Oslo, einige kamen aus den Bezirken der Umgebung. Nach dem ursprünglichen 149 RA, L-sak Oslo politikammer D3325, Abschrift des Berichts des Polizeiobermeisters Homb an den Chef der Staatspolizei vom 5. November 1942. 150 Ebd.

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Befehl der Staatspolizei sollten diese in die Staatspolizeizentrale gebracht werden, aber am 27. Oktober schickte Marthinsen ein neues Telegramm an die Polizeibezirke und bat, die festgenommenen Juden direkt in das Lager Berg zu transportieren.151 Oft kam dieser Bescheid aber zu spät, die Transporte waren schon nach Oslo unterwegs. Weder Hombs Bericht noch allgemeine Überlegungen der Staatspolizei zu der Aktion konnten die Tatsache verdecken, dass ungefähr die Hälfte der Männer, die in Oslo festgenommen werden sollten, rechtzeitig wegkamen. Einige tauchten aus eigener Initiative unter, als die antijüdische Propaganda nach den Ereignissen in Østfold hochgefahren wurde. Andere wurden gewarnt und versteckten sich bei Freunden und Bekannten, und sehr viele ließen sich in eines der Krankenhäuser der Hauptstadt einweisen. Die einzelnen Patrouillen sollten den angegebenen Wohnanschriften folgen und den jeweils dort Festgenommenen in die Gardekaserne bringen, das Staatspolizeihauptquartier. Von dort wurden die Juden gruppenweise in Bussen in das Gefängnis Bredtveit gefahren. Einer der an diesem Tage Verhafteten war der 41-jährige Moritz Nachtstern, der als Typograph im Verlag Hjemmet arbeitete. Sein Bericht ist der wohl lebendigste, den wir über die Ereignisse dieses Tages besitzen. Schon am Freitag, dem 23. Oktober, hatten er und sein Freund, der Zahntechniker Leo Løgård, ihre Vorkehrungen getroffen, nachdem die Zeitungen in großer Aufmachung über die Ereignisse im Zug nach Halden berichtet hatten. Sie schliefen in Løgårds Büro im Stadtzentrum. In den Nächten zum Sonntag und Montag übernachtete Nachtstern bei einem Freund. Am Sonntag telefonierte er mit Løgård. Dieser hatte einen Freund bei der Polizei, der ihm gesagt hatte, die Deutschen würden sich nicht an den Juden rächen – eine von der Gestapo gestreute bewusste Desinformation. Nachtstern beschloss daraufhin, am Montag zur Arbeit in die Druckerei zu gehen. Unterwegs wollte er aus seiner Unterkunft ein paar Sachen mitnehmen, als es an der Tür klingelte. Draußen standen zwei Polizisten in Zivil. Sie drängten ihn in die Wohnung und erklärten, er sei verhaftet. Dann wurde er gezwungen, den Beschlagnahmebogen zu unterschreiben. Sie nahmen ihn zur nächsten Straßenbahnhaltestelle mit. Mit der Bahn ging es zur Sammelstelle in der Gardekaserne, das letzte Wegstück mussten sie zu Fuß zurücklegen. Unterwegs sah Nachtstern viele andere in der gleichen Situation.

151 JMO, Hønefoss politikammer, Eiltelegramm des Chefs der Staatspolizei an den Polizeidirektor in Hønefoss vom 27. Oktober 9.45 Uhr. Hinzugefügte Bleistiftnotiz: „Alle schon nach Oslo transportiert.“

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Der Empfang in der Kaserne war geprägt von Gewalt und der Androhung von Gewalt, für die Nachtstern „Frontkämpfer“ verantwortlich machte. Tatsächlich waren es Männer von der Germanske SS. Im Kasernenhof stand eine lange Reihe verhafteter Juden. Mit mir wurde sie noch ein bisschen länger. Ein junger uniformierter Nazi ging umher und schrie, dass wir stillstehen sollten. Der Mann vor mir zeigte mir eine große Photographie, die er unter dem Arm hielt. Sie zeigte ein niedliches kleines Mädchen im Alter von vier-fünf Jahren. - Meine Tochter, vertraute er mir an mit einem rührenden Lächeln in seinem erschrockenen Gesicht. - Sie ist die einzige, die ich noch habe, fügte er hinzu. Im gleichen Augenblick kam der junge Nazi herbei. - Her damit! schrie er und zeigte auf das Bild. Der Besitzer hielt das Bild krampfhaft fest und wollte es nicht hergeben. Der Wachsoldat, rasend vor Wut, riss das Bild an sich. Einen Augenblick später war es von seinen eisenbeschlagenen Stiefeln in Stücke getreten. Dann ging er auf den Mann los und zwang ihn, mit dem Gesicht zur Wand zu stehen. Eine Weile später mussten auch wir anderen auf Befehl diese Stellung einnehmen. Wir wurden unterhalten vom Geschrei und Gebrüll der Frontkämpfer, die sich einen Spaß daraus machten, hinter uns Ladegriffe zu üben.152

Der Mann mit der Fotografie war Jakob Bernhard Meiran, ein 36-jähriger Ladenbesitzer. Am 27. Februar des Jahres hatte er seine Frau Rosa, geb. Isaksen, verloren, die Schwester von Wulf und David Isaksen, die Anfang März in Trondheim hingerichtet worden waren. Rosa starb an dem Tag, an dem die Urteile gegen die vier in Trondheim gefällt wurden. Als Todesursache wurde „Gehirnblutung“ angegeben; sie starb an dem Schock.153 Die Tochter, deren Foto der Vater bei sich hatte, war Ellinor Meiran, geboren 1937. Nach der Verhaftung ihres Vaters wohnte sie bei ihrer Großmutter Rosa Meieranowski. Die Verhaftung von Großmutter und Enkelin am 26. November sollte zu einem Menschenauflauf führen. Während einige mit der Straßenbahn oder zu Fuß zur Sammelstelle gebracht wurden, kamen andere mit dem Taxi. Das hing in einigen Fällen wohl mit dem sozialen Status zusammen. Der 64-jährige Geologieprofessor Victor Goldschmidt wurde in seinem Haus im vornehmen Osloer Westen von zwei Polizisten in Zivil abgeholt. Goldschmidt schrieb später einen Bericht über seine Erlebnisse und 152 Nachtstern und Arntzen (2006), S. 18. Die übrige Beschreibung ebd. S. 15 ff. 153 DMT, AS -11009 Y 0006 Mappe 8, ärztliche Todeserklärung, Ullevål sykehus, psychiatrische Abteilung, vom 27. Februar 1942.

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konnte erklären: „Der eine von beiden, der jüngere, schien Polizist zu sein und war höflich und kultiviert, der andere dagegen war ziemlich schroff.“ Die Festnahme dauerte lange, denn es gab viel zu registrieren. Goldschmidt musste auch alle ­„Kostbarkeiten“, wie er sie nannte, abgeben. Dann wurde er aufgefordert, das Beschlagnahmedokument zu unterschreiben und einen Koffer mit Essbesteck, Toilettensachen und Wolldecke zu packen. Als er damit fertig war, telefonierten die beiden Polizisten ein Taxi herbei und fuhren Goldschmidt in die Sammelstelle: „Auf dem Hof stand eine uniformierte norwegische Person, wahrscheinlich von der SS, die die Festgenommenen auf dem Weg zu den Gebäuden oder den Bussen mit dem Schrei Schneller, schneller schikanierte.“154 Auch Kriminalpolizisten, die für die „neue Zeit“ keine Sympathien hatten, berichteten der Botschaft in Stockholm von der Behandlung der Juden durch die Germanske SS Norge; in einem der Berichte heißt es: „Besonders junge Kerle von der sogenannten Germanske SS Norwegen traten mit äußerster Rohheit auf.“155 Männer von der Kripo berichteten später auch über die Verhaftungen in Oslo am 26. November. Nachtstern beobachtete, als er und andere mit einem Bus von der Sammelstelle in das Gefängnis Bredtveit gefahren wurden, an einer Straßenkreuzung einen Bekannten, Nils Behak: „Er blickte uns verstohlen an, ehe er um die Ecke bog und mit langen Schritten und hochgeschlagenem Mantelkragen seinen Weg fortsetzte.“156 Der 39-jährige Musiker hielt sich wahrscheinlich eine Weile versteckt meldete sich aber dann am 31. Oktober. Sein Vater Charles Behak war schwer krank in ein Krankenhaus eingeliefert worden. Die Staatspolizei versuchte mehrere Male Charles Behak festzunehmen, zuletzt mit Erfolg. Er wurde am 25. November in das Gefängnis Bredtveit gebracht, aber nicht am nächsten Tag mit der Donau deportiert. Stattdessen kam er über die Zwischenstation Ärztlicher Notdienst wieder ins Krankenhaus, diesmal ein anderes. Am 29. November nahm er sich dort mit einer Überdosis Veronal das Leben.157 Er war nicht der Einzige, der nach der großen Verhaftungsaktion Selbstmord beging. Ein jüdischer Flüchtling, der alternde Fritz Mankiewitz, hatte schon in der Nacht zum 27. Oktober im Kreisgefängnis in Hamar eine Überdosis Schlaftablet-

154 SRA, Kungliga Utrikesdepartmentet, Fragen betreffend die Stellung der nationalen Minoritäten in Norwegen, 1943, 15. Februar–2. März. Undatierter Bericht Goldschmidts über seine Erlebnisse in Norwegen vor der Flucht. 155 NHM 52 C H7, Pressebulletin Nr. 200 vom 21. November 1942. 156 Nachtstern und Arntzen (2006), S. 19. 157 DMT, AS-11000 Y 0006 Mappe 8, Todesmeldung an das Nachlassgericht vom 1. Dezember 1942. Charles Behak wurde am 3. Dezember beerdigt.

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ten genommen.158 Am gleichen Tag nahm der 75-jährige Flüchtling Salomo Goldstein auch Schlafmittel; er starb im Osloer Krankenhaus Ullevål.159 Goldstein war erst im März 1940 nach Norwegen gekommen und wohnte bei seiner Tochter Käthe Winterfeld, ihrem Mann und zwei Enkelkindern. Wahrscheinlich hat er sich nicht zugetraut, mit der Familie unterzutauchen, die später wohlbehalten nach Schweden gelangte. Die Aufnahme im Gefängnis Bredtveit ging so: Die Gefangenen wurden einzeln vernommen, sie wurden gemessen und gewogen und mussten, was sie mit sich führten, abgeben. Nach der Vernehmung mussten sie stundenlang in einem Korridor stehen, mit dem Gesicht zur Wand. Dann wurden sie in der Baracke, die im Gefängnishof aufgestellt war, auf die einzelnen Räume verteilt: Da waren viele hungrig und zum Umsinken müde. Die meisten hatten seit dem Vortag weder zu essen noch zu trinken bekommen. Spät am Abend bekamen wir endlich etwas zu essen: ein bisschen Suppe, einen Bissen Brot und für jeden zwei kleine Heringe. Alle um mich herum aßen die ganze Ration auf einmal, alle außer dem jüngeren der beiden geistesschwachen Jungen. Er brachte es nicht übers Herz, die Heringe zu essen, er wollte sie mit nach Hause zu seiner Mutter nehmen.160

Der Empfang in Bredtveit ist im Aufnahmeprotokoll des Gefängnisses (das im Internet einsehbar ist) festgehalten. Die beiden „geistesschwachen Jungen“ waren der 17-jährige Bjørn Johnny und der 20-jährige David Gedanken. Auch Victor Goldschmidt nennt die beiden in seinem Bericht aus Stockholm: „Die Jungen waren nett, aber so zurückgeblieben, dass sie sich vollmachten.“ Er erwähnt weiter, dass Hans Eng, der Arzt des Gefängnisses und der Staatspolizei, zur Inspektion in den Raum kam, in dem er und viele andere nun versammelt waren, „Der Arzt […] zuckte nur die Achseln“, als er die Brüder Gedanken sah.161 Auch der Vater der beiden, Josef Gedanken, wurde verhaftet und nach Bredtveit gebracht, aber nach dem Aufnahmeprotokoll nicht zusammen mit den Söhnen. Er hatte bei seiner Festnahme 467 Kronen und 67 Øre bei sich, eine für einen gewöhnlichen Arbeiter erhebliche Summe. Hatte er ursprünglich an Flucht gedacht und sich anders besonnen, als er von der Festnahme der Söhne erfuhr? Es ist plausibel, dass er die beiden wehrlosen Jungen nicht zurücklassen wollte. 158 RA, Statspolitiet, Brief der Polizeidirektion Hamar an den Chef der Staatspolizei vom 27. Oktober 1942: „Er hatte, soweit erkenntlich, Schlafmittel mit in die Zelle bekommen.“ 159 DMT, AS-11009 Y 0006 Mappe 8, ärztliche Todeserklärung vom 27. Oktober 1942. 160 Nachtstern und Arntzen (2006), S. 19 f. 161 Siehe oben Fußnote 157.

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Das junge Mädchen Randi Larssen, später bekannt als Randi Bratteli,162 beobachtete in Oslo die Verhaftung des 54-jährigen Moses Dobkes und später am gleichen Tage seines Sohnes, des 19-jährigen Kjell: Heute geht es hier im Haus aufgeregt zu, denn die Juden in der 1. Etage wurden am Morgen verhaftet. Die Staatspolizei kam und nahm den Vater mit und beschlagnahmte die Wohnung. Der Sohn war in der Schule, aber er kam nach Hause, packte und ging wieder, um sich zu melden. Ich sagte Adieu, als er ging, und das will ich am liebsten vergessen, aber vergesse es nie: Wann werden wir sie wiedersehen?163

Die Quellen sagen allerdings, dass der Sohn Kjell nicht freiwillig nach Hause kam, um zu packen. Seine Mutter berichtete später in Schweden, dass er aus der Schule abgeholt wurde. Vermutlich ging er unter Polizeibewachung nach Hause zum Packen.164 Der jungverheiratete Zahnarzt Arnold Selikowitz tauchte in den Tagen vor dem 26. Oktober unter. Am Morgen des 26. kam die Staatspolizei zu ihm nach Hause, um ihn abzuholen. Seine Frau Rachel sandte ihm eine Nachricht. Ihr wurde die Meldepflicht auferlegt, und vielleicht hatten die beiden Polizisten, die ihn festnehmen sollten, sie bedroht. Auf dem Beschlagnahmebogen, den sie bekam, hatten sie unten notiert, dass Selikowitz sich „heute so schnell wie möglich“ im Staatspolizeihauptquartier, der Sammelstelle, melden solle. Seine Frau sollte ihm „Wolldecke, Lebensmittelkarte, Toilettensachen und Essbesteck“ dorthin bringen. Selikowitz verließ sein Versteck, um sich zu melden, aber begriff auf dem Weg zur Sammelstelle, dass nicht nur er, sondern alle Juden verhaftet werden sollten, und tauchte deshalb erneut unter.165 Homb schreibt in seinem Bericht, dass auch Blinde und Schwerbehinderte festgenommen wurden. Einer der Blinden war der 63-jährige Gurman Nachemsohn, der mit seiner Frau Hanna (52) und den Söhnen Samuel (29) und Henry Kalman (26) recht zentral in Oslo wohnte. Er wurde von der Jüdischen Hilfsvereinigung unterstützt. Als am 26. Oktober die Polizei erschien, gab es dennoch keine Gnade; er und die beiden Söhne kamen nach Bredtveit und später in das Internierungslager Berg. Am 26. November wurde auch die Frau festgenommen. Alle vier wurden in Auschwitz ermordet.166 162 Journalistin und Autorin (1924–2002), Frau von Trygve Bratteli, Ministerpräsident von 1969 bis 1972 und von 1973 bis 1977. 163 Bratteli (1984), S. 151. 164 RA -1725 DAI Behälter 397, Vernehmung von Rachel Dobkes in Kjesäter am 9. Dezember 1942. 165 Ebd., Behälter 454, Vernehmung von Arnold B. Selikowitz in Kjesäter am 7. November 1942. 166 Die beiden Söhne kamen im Lager in ein Arbeitskommando. Samuel starb am 22. Janu-

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Ebenso erging es dem 52-jährign invaliden Moritz Schimberg, er kam über die gleichen Zwischenstationen nach Auschwitz. Bei den Invaliden verfuhr die Staatspolizei aber nicht konsequent; einige wurden verhaftet, andere nicht. Der 65-jährige Siske Astanovski, der seit mehreren Jahren in einem Heim wohnte, wurde nicht mitgenommen, weil er nicht gehen konnte. Auch später wurde er nicht festgenommen. Andere, die permanent oder vorübergehend behindert waren, wurden dagegen am 26. November an Bord der Donau gebracht.167 Juden, die nicht zu Hause waren, wurden am Arbeitsplatz oder in der Schule aufgesucht. Einige erwischte es auch eher zufällig. So wurde der 20-jährige Sigmund Bernstein auf dem Weg zur Schule im Bus gefasst.168 Er wurde zur Sammelstelle gebracht und später in Bredtveit inhaftiert. Sein Leben endete am 5. Februar 1943 in Auschwitz. Einige waren untergetaucht, aber besannen sich anders und stellten sich selbst. Einer von ihnen war Adolf Kraast. Die Staatspolizisten Stekston und Løkkeberg versuchten ihn am 26. Oktober festzunehmen: Der Unterzeichnende hat heute versucht, Adolf Kraast, wohnhaft Markveien 28, festzunehmen. Er war aber nicht zu Hause. Seine Frau teilte mit, dass er als Maler arbeite, und nannte seinen Arbeitsplatz. Nach Anfrage dort wurde mitgeteilt, dass er heute Morgen zur Arbeit erschienen sei. Zuletzt sei er um 10 Uhr gesehen worden, sei aber jetzt vom Arbeitsplatz verschwunden.169

Kai Feinberg, der Auschwitz überlebte, erzählte später, die Polizisten hätten seine Schwester Rakel bedroht, als sie kamen, um ihn mitzunehmen: „Sag ihm, dass wir an seiner Stelle dich verhaften, wenn er sich nicht bis zwölf Uhr meldet.“ Feinberg rief aus seinem Versteck zu Hause an, und seine Schwester berichtete, was geschehen war. Er fand, er habe keine Wahl: „Ich meldete mich bei der Polizei an der Stelle, wo die Juden sich einfinden sollten.“170

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ar 1943, Henry Kalman schon am 14. Januar. Siehe auch RA, S- 1725 DaI Behälter 454, Sondervernehmung von Alf Abel Levin in Kjesäter am 7. November 1942. RA, Statspolitiet, Judenaktionen, Behälter 16, Mappe 31, Verzeichnis von innen- og utenbys jøder som enten ikke er anholdt eller av en eller anen grunn er løslatt [Juden aus der Stadt und von außerhalb, die nicht festgenommen oder aus irgendeinem Grund wieder freigelassen wurden] vom 20. März 1943. RA, Statspolitiet, Juden in Oslo, Beschlagnahmebogen Ernst Sigmund Bernstein vom 26. Oktober 1942. RA, Statspolitiet, Juden in Oslo, Bericht der Polizeiwachtmeister Stekston und Løkkeberg an den Chef der Staatspolizei vom 26. Oktober 1942. Feinberg und Stefansen (1995), S. 22.

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Einige wurden vergessen. Der Fischhändler Idel Lipton war am Wochenende vor dem 26. Oktober untergetaucht, erfuhr aber von seiner Frau, dass die Polizei am 26. Oktober nicht gekommen war. Daher kehrte er nach Hause zurück. Erst als neue Gerüchte umliefen und neue Gesetze eigeführt wurden (Gesetz zur Meldepflicht von Juden vom 17. November), tauchten er, seine Frau und die beiden Töchter unter und flohen später. Als die Polizei bei der Aktion vom 26. November die Wohnung der Familie aufsuchte und alles beschlagnahmte, waren sie schon entkommen.171 Ich habe nur einen Juden ermittelt, der am 26. Oktober festgenommen wurde, obwohl sein Ausweis nicht mit einem J gestempelt war, den deutschen Juristen Walter Rotholz. Das heißt nicht, dass er vergessen worden war. Die deutsche Sicherheitspolizei hatte ihn in ihrer Kartei. Wilhelm Wagner hatte ihn eine Woche vor der großen Verhaftungsaktion zu sich bestellt und gefragt, warum sein Ausweis Anfang des Jahres nicht gestempelt worden war. Als Wagner am 24. Oktober den Polizeidirektor Rød darauf hinwies, dass mehrere jüdische Villenbesitzer infolge der Beschlagnahmungen vom September neue Anschriften hatten, bat er ausdrücklich darum, Rotholz in die Liste der zu Verhaftenden aufzunehmen. Am 25. Oktober wurde Rotholz von einem deutsch-jüdischen Flüchtling vor der für den nächsten Tag anberaumten Aktion gewarnt. Alles war für eine Flucht vorbereitet.; Rotholz hätte mitkommen können. Er lehnte ab. Seine Frau, eine Nicht-Jüdin, war mit ihrem zweiten Kind schwanger. Er befürchtete auch, sie könnte als Geisel genommen werden, und entschied sich ganz bewusst, zu Hause zu bleiben. Als er auf dem Weg zum Lebensmittelhändler war, hielt ein Auto neben ihm, und der Staatspolizist Dønnum stieg aus. Rotholz blieb bis zum 2. Mai 1945 in den Lagern Berg und Grini in Haft.172 Insgesamt wurden am 26. Oktober 248 jüdische Männer in das Gefängnis Bredtveit eingeliefert. Nicht alle waren aus Oslo; laut Aufnahmeprotokoll stammten viele auch aus den umliegenden Bezirken. Am nächsten Tag kamen zehn weitere hinzu, unter ihnen der erwähnte Kraast. Einige kamen mit einem Transport aus Lillehammer. Wie schon erwähnt, war ein Befehl an die Polizeibezirke ergangen, dass die Juden nicht nach Oslo, sondern direkt in das Lager Berg geschickt werden sollten. Mehrere Transporte gingen auch wirklich dorthin; aber die nach dem 28. Oktober in Bredtveit ankommenden Juden wurden nicht nach Berg weitergeleitet, sie blieben in Bredtveit. Damit war signalisiert, dass der Aufenthalt in Berg nicht von 171 RA, S-1725 DAI Behälter 397, Sondervernehmung von Harold Idel Lipton in Kjesäter am 18. Dezember 1942. 172 Staatsarchiv Freiburg, Prozess gegen Helmuth Reinhard, Vernehmungsniederschrift von Walter Rotholz vom 26. Juli 1963.

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Dauer sein sollte. Es hatte keinen Sinn, noch mehr Juden dorthin zu dirigieren, wenn die Deportation schon geplant war. „Repressalien“ oder „Endlösung“?

Die große Aktion gegen jüdische Männer hatte alle Beobachter schockiert. Schon kurz danach kursierten Gerüchte, was mit den Juden geschehen sollte. Obwohl die zurückgebliebenen Frauen der Meldepflicht unterlagen und aller Besitz zugunsten der Staatskasse eingezogen war (vgl. Kapitel 8), erkannten doch nur die wenigsten, dass dies ein finaler Anschlag war. Die Zahl der Flüchtlinge nach Schweden nahm nach dem 26. Oktober zu, aber die große Flüchtlingswelle kam erst Ende November und Anfang Dezember. Die meisten, die nach dem 26. Oktober untertauchten und dann flohen, waren Männer. Viele Familien und Ehepaare, die im November gemeinsam flohen, waren staatenlose Flüchtlinge, die aus Deutschland, der Tschechoslowakei und Österreich nach Norwegen gekommen waren. Was am 26. Oktober geschah, muss im damaligen Kontext begriffen werden. Die Aktion gegen Frauen und Kinder einige Wochen später war nicht vorauszusehen, auch nicht von den Juden selbst. Nur sehr wenige jüdische Frauen waren vor dem Herbst 1942 jemals festgenommen worden, und mit Ausnahme der beiden, die bei der Aktion gegen die Kommunisten im Juni 1941 verhaftet wurden (vgl. S. 137), war keine Jüdin deportiert worden. Alle Verhaftungen hatten bisher Männer betroffen. Viele waren vor dem Herbst 1942 bei Einzelaktionen festgenommen, mehrere waren deportiert, viele misshandelt oder von der Gestapo gefoltert worden. Aber die allermeisten waren wieder freigekommen. Quälereien und Strafarbeit wurden vielfach als zur Not erträglich empfunden. Entscheidend ist, dass keines der Opfer sich das Schicksal vorstellen konnte, das sie später erlitten. Vor der großen Aktion gegen die Juden waren Gaskammern keineswegs allgemein bekannt. Nachrichten über die Ermordung von Juden waren früher in der illegalen Presse verbreitet worden, aber es war kaum vorstellbar, dass solche Ungeheuerlichkeiten in Norwegen oder mit Norwegern Realität werden könnten. Polen hatte vor dem Krieg über drei Millionen jüdische Einwohner. Norwegen hatte nur etwa 2000, und nur gut 1400 waren mit dem J-Stempel im Ausweis als „Volljuden“ registriert worden. Warum sollte die Besatzungsmacht Ressourcen gegen sie einsetzen? Besonders das Vorgehen gegen staatenlose Juden im Osloer Gebiet im Juni 1941 hatte eine fatale psychologische Wirkung, die allerdings, von wenigen Berichten abgesehen, nur statistisch dokumentiert werden kann. 60 Juden wurden am 25. Juni 1941 in Grini eingeliefert. Der Aufenthalt dort war geprägt von grober Gewalt und Brutalität, aber schon nach zwölf Tagen waren viele wieder freigelassen worden.

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Der Rest folgte am 14. Juli, nach drei Wochen Haftzeit. Das führte zu verhängnisvollen Fehleinschätzungen. Von den 60 flohen einige wenige vor dem Herbst 1942 aus dem Land. 47 wurden Anfang 1942 mit dem J-Stempel als „Volljuden“ registriert und befanden sich im Herbst weiterhin in Norwegen. 33 von ihnen, also 70 Prozent, wurden im Zuge der großen Aktion verhaftet. Als Moritz Nachtstern mit seinem Freund Leo Løgård diskutierte, ob sie versuchen sollten, am Sonnabend, dem 24. Oktober, nach Schweden zu entkommen, überzeugte Løgård ihn mit dem Argument, es werde nach den Ereignissen im Zug nach Halden Repressalien geben, aber – Herrgott, sagte er, – voriges Jahr haben sie hundert Juden oder so geschnappt, einen Monat in Grini festgehalten und dann wieder freigelassen. Etwas Schlimmeres passiert diesmal auch nicht, und das können wir wohl aushalten.173

Weder Nachtstern noch Løgård war 1941 verhaftet worden. Als Nachtstern am Sonnabend zur Arbeit ging, traf er mehrere andere Juden: „Sie waren alle beunruhigt, aber die meisten glaubten, es würde ohne Repressalien abgehen.“174 Das glaubten auch die männlichen Mitglieder der Familie Dickman. Dennoch waren etwaige Repressalien und ihre Wirkung ein Thema, als sie am Wochenende vor der Aktion über eine mögliche Flucht diskutierten. Elsa Dickman schrieb später den autobiographischen Roman Korsveien [Der Kreuzweg]; darin sagt sie dies über die Reaktion ihres Bruders: – Ehrlich gesagt glaube ich, es kommt etwas Schlimmes auf uns zu. Ich glaube, wir werden alle interniert, aber sicher nur für kurze Zeit. Du weißt doch noch damals, als der Krieg gegen Russland anfing. Da schnappten sie alle Juden, die in Russland geboren waren, aber ließen sie nach vierzehn Tagen wieder frei.175

Flucht wurde also diskutiert, aber verworfen, weil sie sich entschieden zu glauben, dass mögliche Repressalien von kurzer Dauer wären. Es liegt in der menschlichen Natur zu hoffen, dass es gut enden wird. Elsa Dickmans Vater Meyer Dickman und die Brüder Herman und Sigurd wurden deportiert. Ein dritter Bruder, Rolle Dickman, blieb bis Anfang 1944 im Internierungslager Berg und durfte dann auf Druck des schwedischen Außenministeriums nach Schweden ausreisen.

173 Nachtstern und Arntzen (2006), S. 16. 174 Ebd. 175 Dickman (1946), S. 9.

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Die psychologischen Folgen der Verhaftungsaktion von 1941 waren kein Kalkül der Besatzungsmacht, aber sie kamen ihr zustatten. Die Zahlen sprechen eine klare Sprache. Das heißt nicht, das Juden „sich verhaften ließen“, wohl aber, dass Flucht von vielen als eine Möglichkeit rational diskutiert, aber zugunsten des Bleibens verworfen wurde. Was in Trondheim geschehen war, könnte sich als Drohung auf das übrige Land ausgewirkt haben, vor allem auf Oslo, wo viele Juden bisher ziemlich unbehelligt geblieben waren. Dass manche die Situation in Trondheim ernst nahmen, zeigt die Fluchtstatistik. Ab Mitte Oktober stieg die Zahl der Flüchtlinge aus dem südöstlichen Norwegen nach Schweden. Die sich zur Flucht entschlossen, befürchteten vermutlich, die Ereignisse in Trondheim könnten eine noch schlimmere Fortsetzung finden. Aber im Gesamtzusammenhang der Fluchtbewegung waren die Zahlen zu diesem Zeitpunkt nicht hoch (siehe Näheres in Kapitel 8). Als in Trondheim der Ausnahmezustand verhängt wurde, befand sich dort ein junger Jude aus Oslo, Albert Rubinstein (später Ragle); seine Verlobte wohnte da. Polizeidirektor Østerberg, ein aktiver Widerstandsmann, der nach dem Krieg Polizeipräsident in Trondheim wurde, verschaffte ihm eine Reiseerlaubnis für die Rückkehr nach Oslo. Dort wollte er die Juden der Stadt warnen: Wohlbehalten am Ostbahnhof angekommen, habe ich nur einen Gedanken im Kopf: die Glaubensbrüder in Oslo zu warnen, sie zur Flucht aufzufordern, solange sie noch können. Seit den Apriltagen 1940 haben wir geglaubt, die Deutschen würden nicht wagen, uns anzurühren, aber jetzt brauchen wir das nicht mehr zu glauben. Die Zeit des blauäugigen Optimismus ist vorbei. Aber die Empfänger der düsteren Botschaft sehen mich an, bitten mich, die Ruhe zu bewahren und auf keinen Fall Panik zu schüren.176

Diese Haltung der Osloer Juden war eine natürliche Überlebenstaktik. Die Flucht bedeutete den Verlust einer Lebensgrundlage, für die viele hart gearbeitet hatten, und eine ungewisse Zukunft. Die Zeitungsberichte über die Ereignisse in Østfold waren schon an sich eine Warnung. Versteckte Drohungen folgten, und den meisten Juden war klar, dass Repressalien kommen würden. Aber gerade das stellten sie sich vor: Repressalien, nicht Deportation. Die jüdischen Flüchtlinge aus Mitteleuropa dagegen beurteilten die Situation viel dramatischer. Einige waren in den dreißiger Jahren im Konzentrationslager gewesen und wussten aus schmerzlicher Erfahrung, wozu nazistische Brutalität in der Lage war. 176 Komissar (1992), S. 2.

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Eine Geschichte aus dem Internierungslager Berg mag das verdeutlichen. Herman Sachnowitz, der später das Buch Det angår også deg [Das geht auch dich an] herausgab, lernte Emil Hausmann kennen, als dieser in das Lager eingeliefert wurde. Der 56-jährge Hausmann stammte aus Nürnberg, war aber 1938 mit seiner nicht-jüdischen Frau Martha nach Norwegen geflohen. Sachnowitz beschreibt die Begegnung so: Wir trafen auch einen Juden aus Drammen, Emil Hausmann hieß er; ich schätzte ihn auf gut fünfzig Jahre. Er war ein feiner, hochgebildeter Mensch, aber was er erzählte, war im höchsten Maße beunruhigend. Er hatte aus Deutschland fliehen müssen, und seine Geschichten aus deutschen Konzen.rationslagern klangen so unwahrscheinlich, dass wir ihn für verrückt hielten. Er hatte nur einen Rat an uns: ‚Wenn ihr von hier weitergeschickt werdet‘, sagte er, ‚dann landet ihr in einem Todeslager in Polen oder Deutschland, und ihr kommt nie mehr nach Norwegen zurück, das kann ich beschwören. Ihr, die ihr jung seid, flieht, sobald ihr Gelegenheit dazu hat! Zögert nicht, sondern flieht, flieht!‘177

Hausmann sagte nichts über die Gaskammern; von ihnen wusste er ebenso wenig wie andere Juden in Norwegen. Aber er hatte nach der Pogromnacht in Deutschland ein Konzentrationslager kennengelernt und wusste, wovon er sprach. Die Angst vor einem KZ als Endstation breitete sich allmählich aus.

IM NETZ GEFANGEN Folgeaktionen nach dem 26. Oktober

Die große Verhaftungsaktion vom 26. Oktober war für die Staatspolizei nur der Startschuss zu einem umfassenden Vorgehen gegen die Juden. Besonders zwei Polizeidirektoren spielten dabei eine zentrale Rolle: Sverre Dürbeck für die Gebiete außerhalb der Hauptstadt und Knut Rød für das heutige Groß-Oslo (damals „Oslo und Aker“). Rød hatte wie erwähnt die Aktion in Oslo persönlich geleitet 177 Sachnowitz und Jacoby (1978), S. 12. Hausmann war schon 1933 wegen Rassenschande angeklagt worden, und seine Frau Martha war in Nürnberger Zeitungen mit Namen und Anschrift an den Pranger gestellt worden, obwohl Heiraten zwischen Juden und „Ariern“ zu der Zeit nicht verboten waren; das Verbot kam erst 1935 mit den Nürnberger Gesetzen. Hitlers SA zögerte aber nicht, mittelalterliche Prinzipien der Bloßstellung schon vorher anzuwenden.- Nach der Entlassung aus dem KZ floh Hausmann mit seiner Frau. Er blieb in Berg bis zum 1. Mai 1945, seine „Mischehe“ rettete ihn.

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und die Mannschaften am Morgen um 5.30 Uhr in ihre Aufgaben eingewiesen. Man verglich nun die Listen miteinander, um herauszufinden, wer der Verhaftung entgangen war. Dürbeck suchte mit einer Reihe von Briefen und Telegrammen zu ermitteln, warum einzelne Juden nicht festgenommen worden waren. Patrouillen der Staatspolizei suchten einige Adressen in Oslo nochmals auf. Am 26. Oktober hatten die Polizisten den Frauen gesagt, ihre Männer oder Söhne könnten sich selbst in der Sammelstelle melden. Mehrere taten das, nachdem Mütter, Ehefrauen oder Töchter bedroht worden waren. Solche Drohungen trafen zum Beispiel die Familie Scheer. Am 24. Oktober 1942 nahm der 23-jährige Leonard Scheer Kontakt zu einer guten Freundin auf, Gunvor Østby, die in der großen Osloer Wohnungsbaugenossenschaft arbeitete. Er bat sie, für ihn und seine beiden Brüder Benjamin und Carl ein Versteck zu besorgen. Der Anlass waren die reißerischen Schlagzeilen über den Mord an dem Grenzpolizisten Arne Hvam. Ursprünglich bat er Østby um eine leere Wohnung, aber sie meinte, das sei zu gefährlich. Sie kannte einen abseits gelegenen Hof in dem rund 100 Kilometer entfernten Sigdal und empfahl ihnen den als Versteck. Carl Scheer entschied sich zu bleiben, die beiden anderen machten sich noch am gleichen Abend auf den Weg nach Sigdal. Nach dem 26. Oktober wurde ihre Mutter, Sara Rebekka Scheer, von der Staatspolizei (oder Gestapo?) stark unter Druck gesetzt; sie sollte verraten, wo die beiden Söhne sich aufhielten. Der Aktionstag selbst war für die Frauen in der Familie – auch die beiden Töchter Lilly und Esther waren zu Hause – aufregend genug gewesen. Der Staatspolizist Stian Bech, der gekommen war, um Leonard und Benjamin Scheer zu verhaften, erzwang unter Drohungen und mit Gewalt die Herausgabe von Schmucksachen und Gold.178 Es endete damit, dass Sara Rebekka Scheer über Gunvor Østby die Söhne bat zurückzukehren. Am 10. November waren sie wieder in Oslo und wurden sofort festgenommen.179 Beide und ihre Brüder Carl und Harry, die im Krankenhaus bzw. in Bergen verhaftet wurden, verloren ihr Leben in Auschwitz. Die Frauen überlebten, aber mit Wunden an Körper und Seele.180 178 RA, L-sak Oslo politikammer D3002, Erklärung von Esther Scheer vor der Landesverratsabteilung am 19. September 1945. Sie kannte die Namen der beiden Polizisten nicht, aber konnte Stian Bech wegen seines markanten Aussehens auf einer Fotografie identifizieren. Michelet (2014) deutet in ihrem Buch an, Bech habe Wertsachen von Mutter und Tochter Scheer gestohlen. Alles deutet aber darauf hin, dass die Gegenstände im Beschlagnahmebogen aufgeführt und in der Staatspolizeizentrale abgegeben wurden. 179 Sebak (2008). S. 197 f. 180 Esther und Lilly Scheer überquerten die schwedische Grenze am 4. Dezember 1942, Sara Rebekka folgte am 10. Dezember. Sie wurde noch am gleichen Tage interviewt; in dem Bericht darüber heißt es: „Sie hat wegen eines starken Herzfehlers die letzten 14 Tage in

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Auch andere wurden in ähnlicher Weise bedroht. Am 26. Oktober kam die Polizei in Oslo zu Rebekka Rubinstein, um ihren Sohn David zu verhaften. Er war schon im September nach Schweden geflohen, aber das wusste die Staatspolizei nicht. Sie setzte der Mutter eine Frist von 14 Tagen; „wenn er sich bis dahin nicht gemeldet hat, werden Sie dafür verantwortlich gemacht.“181 Die Folgeaktionen galten Privatadressen ebenso wie Krankenhäusern und anderen Institutionen. Es zeigte sich, dass viele in den Krankenhäusern untergetaucht waren. Hans Eng, der Arzt der Staatspolizei, arbeitete daher eine eigene „Ärztliche Erklärung für kranke Juden“ aus. Damit sollten die Krankenhäuser unter Druck gesetzt werden, ihre Patienten auszuliefern. Aber sie widersetzten sich sowohl direkt als auch indirekt den Vorstößen der Staatspolizei (siehe Näheres in Kapitel 7). Viele der jüdischen Männer, die in den Tagen vor und nach dem 26. Oktober Mühe hatten, ein Versteck zu finden, wurden in Krankenhäuser eingeliefert, mit oder ohne Attest eines privatpraktizierenden Arztes. Dass die Krankenhäuser relativ sicher waren, muss sich in den jüdischen Kreisen Oslos herumgesprochen haben. Aber einige Juden waren natürlich wirklich krank, und für sie war die Situation jetzt prekär. Am 17., 24. und 25. November ging die Staatspolizei gegen Krankenhäuser in der Hauptstadt vor. Unterdessen setzte Polizeidirektor Sverre Dürbeck die Polizeidirektoren im ganzen Land unter Druck; sie sollten die Krankenhäuser veranlassen, die Juden auszuliefern. Während die Staatspolizei so die Juden, die noch auf freiem Fuß waren, weiter bedrängte, brodelte die Gerüchteküche: Was sollte mit den Juden geschehen, die festgenommen waren? Schon am 7. November, neun Tage nach der großen Verhaftungsaktion, sagte Alf Levin, ein prominenter Mann im jüdischen Milieu der Hauptstadt, er habe „vom höherer Polizeistelle“ erfahren, dass die Juden aus Tønsberg [d.h. aus dem Lager Berg, Anm. des Übersetzers] nach Polen geschickt werden sollen“.182 Ein anderer, John Meieranowski, sagte dagegen, nachdem er am 19. November die Grenze passiert hatte: „Die Meldung, dass die Juden nach Polen weitergeschickt werden sollen, ist bis jetzt nur ein Gerücht.“ Doch es sollte nicht lange dauern, bis dieses Gerücht sich als wahr erwies. Zum mutmaßlichen Schicksal der Frauen und Kinder äußerten sich nur wenige der norwegischen Juden, die im November über die Grenze kamen. Meieranowski wusste von einem anderen einem norwegischen Krankenhaus gelegen und wurde in einem Lastauto direkt aus dem Krankenhaus in Oslo bis ungefähr 10 km vor die schwedische Grenze gefahren. Von dort wurde sie teils auf einer Bahre getragen und teils auf einem Schlitten gezogen. Auf einigen Strecken musste sie auch zu Fuß gehen.“ SRA, Statens utlänningsmmission, FIABA: 3696. 181 RA, S-1725 DaI Behälter 996, Vernehmung von Rebecca Rubinstein in Kjesäter am 28. November 1942. 182 Ebd., Vernehmung von Alf Abel Levin in Kjesäter am 7. November 1942.

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Gerücht, nämlich „dass für jüdische Frauen und Kinder Ghettos oder Arbeitslager errichtet werden sollen“.183 Dieses Gerücht wurde nicht ohne Grund von vielen wiederholt. In einem zusammenfassenden Bericht aus Kjesäter nach Stockholm hieß es schon am 16. November, ein Internierungslager für jüdische Frauen und Kinder in Norwegen werde vorbereitet, „daran arbeitet Frau Zahnärztin Dollis.“184 Dahinter stand die Gestapo und eine ihrer Agentinnen. Astrid Døvle Dollis, 1899 geboren, war schon lange vor der großen Aktion gegen die Juden vom Sicherheitsdienst und Hauptsturmführer Preiss angeworben worden. Ihr Deckname war offenbar „Frau Møller“, aber die nach Schweden gekommenen Juden nannten sie bei ihrem eigentlichen Namen, der dann meist „Dollys“ geschrieben wurde.185 Sie muss über mehrere Informationskanäle in das jüdische Milieu verfügt haben; einer war der Umstand, dass ihr Mann Zahnarzt war und eine jüdische Sekretärin hatte, Amalie Goldberg. Ihr Mann hatte übrigens mit der Agententätigkeit seiner Frau und allem, was damit zusammenhing, nichts zu tun. Amalie Goldberg war nicht naiv – sie rettete in der Nacht zum 26. November viele Menschenleben –, und das waren auch die anderen nicht, die nach der Flucht Dollis erwähnten. Offenkundig ist aber, dass die deutsche Sicherheitspolizei großen Wert darauf legte, die jüdischen Frauen und Kinder nach dem 26. Oktober in ihren Wohnungen zu halten. Das geschah durch die offene oder versteckte Drohung mit Repressalien und den Versuch, die Situation zu beruhigen, indem man das Gerücht streute, Frauen und Kinder sollten im Land verbleiben. Die deutsche Sicherheitspolizei wollte auch nicht offen für den 26. Oktober verantwortlich sein. Schon vorher hatte Wagners Assistent Böhm dem früheren Sekretär der Mosaischen Glaubensgemeinschaft, Harry Koritzinsky, signalisiert, dass „die Deutschen wegen dieser Affäre [im Zug nach Halden] nichts gegen die Juden unternehmen wollten“ und dass die Sicherheitspolizei meine, eine Aktion gegen die Juden „sei jetzt nicht angemessen“. Der Reichskommissar selbst sei der Auffassung, sie würde den Widerstand in der Bevölkerung stärken und Nasjonal Samlings Stellung schwächen. Das berichtete Marcus Levin, der am 4. November nach Schweden kam. Er betonte, die Gestapo habe Koritzinsky in seine Doppelrolle hineingezwungen.186 Wir werden später genauer bestätigt finden, dass beide „Part183 Ebd., Vernehmung von John Julius Meieranowski in Kjesäter am 21. November 1942. 184 Ebd., Pressestelle, verschiedene Berichte, E76. 185 Zu Astrid Døvle Dollis siehe Pryser (2012), S. 255 ff. Pryser nennt sie etwas dubios „die Mata Hari des Nordens“. 186 RA , S-1725 DaI Behälter 454, Sondervernehmung von Marcus Levin in Kjesäter am 7. November 1942. Zu Koritzinskys Situation siehe den Abschnitt Zusammenarbeit mit dem Feind? in Kapitel 9.

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ner“, die Besatzungsmacht und das Quisling-Regime, dem jeweils anderen die Verantwortung zuschoben. Nun endete jüdisches Leben in der Hauptstadt und an anderen Orten. Die Verbindungsstränge zwischen der Mehrheitsgesellschaft und der Minorität waren offiziell durchtrennt. Einzelne Norweger bemühten sich um die Freilassung von Juden. Der Uhrmacher Nicolay Øverli beantragte die Freilassung seines Mitarbeiters, des 56-jährigen Tanchum Arsch, der seit 1913 bei ihm arbeitete. Er beschrieb Arsch als einen „stillen und tüchtigen Uhrmachergesellen, einen Spezialisten für die Reparatur kleiner Armbanduhren“. Er vermisste seinen Mitarbeiter und betonte in dem Gesuch, dass es zur Zeit nicht möglich sei, „neue Uhren irgendwelcher Art zu beschaffen“.187 Das Gesuch wurde nicht beantwortet und später mit dem kurzen Vermerk Donau versehen. Tanchum Arsch war unverheiratet und wohnte zusammen mit seinem Bruder und dessen Familie. Sie alle wurden in Auschwitz ermordet. Dass der Arbeitgeber einen Uhrmachergesellen für unentbehrlich erklärte, war kein zureichender Grund, diesen freizulassen. Andere Antragsteller machten andere Argumente geltend. Eine nicht-jüdische Frau, die mit einem staatenlosen, ehemals deutschen Juden verheiratet war, argumentierte zum einen wie Øverli, die Firma, für die er arbeite, halte ihn als Buchhalter für unentbehrlich. Zweitens führte sie an, er habe im Ersten Weltkrieg als Freiwilliger im deutschen Heer gekämpft. Ihr Rechtsanwalt betonte außerdem, er besitze eine „ungewöhnliche Arbeitskraft“ und sei „in sein norwegisches Milieu integriert“.188 Auch das half nicht. Der Betreffende saß bis 2. Mai 1945 im Lager Berg. Die Fabrik Nylands Verksted beantragte eine Ausnahme für ihren Werkzeugmacher. Sie unterstrich, er wohne seit etwa 30 Jahren in Norwegen und sei „verheiratet mit einer Norwegerin, gehört der Norwegischen Staatskirche an und ist getauft im griechisch-katholischen Glauben“. In dem Antrag stand auch, es sei „äußerst zweifelhaft, ob er Jude ist“.189 Nach dem 17. November, dem Tag der Einführung des Gesetzes über die Meldepflicht von Juden, wurden solche Gesuche meist direkt an Quisling gerichtet. Nach dem Gesetz konnte er Ausnahmegenehmigungen erteilen, aber eigentlich nur auf Vorschlag des Innenministeriums (vgl. Näheres in Kapitel 9). Der Werkzeugmacher wurde nicht freigelassen und blieb bis zum 8. Mai 1945 im Lager Berg. 187 RA, Statspolitiet, Judenaktionen, Mappe 29, Brief von Nicolay S. Øverli an den Chef der Sicherheitspolizei im Polizeiministerium vom 13. November 1942. 188 Ebd., Brief des Anwalts Øystein Sverre an Ministerpräsident Quisling vom 19. November 1942. 189 Ebd., Brief von Nylands Verksted an Ministerpräsident Quisling vom 30. November 1942.

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Manchmal half es, wenn der Festgenommene Beziehungen zu wichtigen NSLeuten hatte. Ein 73-jähriger, aus Deutschland stammender Arzt war mit einer Norwegerin verheiratet, die eine Freundin von Finanzminister Prytz war. Der Arzt wurde am 26. Oktober festgenommen und am 28. in das Lager Berg eingeliefert. Am Tag der Festnahme schrieb Prytz in einem Brief direkt an Staatspolizeichef Marthinsen, die Ehefrau des Juden sei die Tochter „eines hochangesehenen norwegischen Geistlichen“. Der Arzt habe 40 Jahre in Hamburg praktiziert „bis Ende 1938, wonach er sich in Norwegen niederließ“. Prytz bat um seine Freilassung, und sei es nur aus Rücksicht „auf seine arische Frau – die ein prächtiger Mensch ist“. Marthinsen hatte aber keine Gnade. Schon am gleichen Tag schickte er das Gesuch weiter an Quisling mit dem Vermerk, er könne es „mit Rücksicht auf die Konsequenzen“ nicht empfehlen. Am 7. November wurde das Gesuch eigentlich unaktuell, denn da wurden alle Juden über 65 Jahren freigelassen. Der Arzt wurde jedoch am 25. November erneut festgenommen und nach Bredtveit eingeliefert. Dort blieb er aber nur bis zum 5. Dezember, denn Quisling hatte am Tag davor an die Staatspolizei geschrieben, „nach erhaltenen Auskünften (u. a. von Minister Prytz)“ meine er, der Arzt müsse „aus der Internierung entlassen werden und weiterhin Aufenthaltserlaubnis in Norwegen bekommen“.190 Es half offenbar, wenn eine der Koryphäen des Regimes sich einsetzte. Wagner schrieb der Staatspolizei, ihm seien nur Gesuche von Juden mit Kriegsauszeichnungen vorzulegen. Nach einem internen Vermerk der Staatspolizei meinte er, andere Gesuche sollten nur der Akte des betreffenden Juden beigelegt werden. Die Standardantwort der Staatspolizei auf Freilassungsgesuche – sofern sie überhaupt antwortete – war, dass solche Gesuche später beantwortet würden. In einem internen Brief an die Ministerien und den Ministerpräsidenten selbst war die Antwort immer, die Gesuche dürften mit Rücksicht auf die Konsequenzen nicht genehmigt werden.191 Der Druck auf die Bürokratie nahm jetzt immer mehr zu: auf das Innenministerium, den Ministerpräsidenten persönlich, das Polizeiministerium und den Chef der Staatspolizei. Es war aber kein Druck aus Prinzip, er galt immer nur dem Schicksal Einzelner. Er kam von Arbeitgebern der verhafteten Juden, von Ärzten 190 Ebd., Brief von Minister Prytz an den Staatspolizeichef vom 26. Oktober 1942, Vermerk des Staatspolizeichefs vom gleichen Tage. Zu Quislings Kommentaren siehe RA, Statspolitiet, Juden in Oslo 371-496, Mappe 455, Abschrift eines Briefes von Ministerpräsident Quisling an den Staatspolizeichef vom 4. Dezember 1942 und Brief des BdS IV B 4 Wagner an Polizeidirektor Dürbeck vom 26. März 1943. 191 RA, L-dom 3323-3325. Brief der Staatspolizeizentrale an die Oslo-Abteilung vom 24. November 1942.

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und Krankenhäusern, von Ehefrauen und Müttern. Weder die Staatspolizei noch die deutsche Sicherheitspolizei ließ sich davon beeindrucken. Besonders die Staatspolizei war unnachgiebig, auch gegenüber NS-Ministern. Und im Hintergrund behielten Wilhelm Wagner und sein Mitarbeiter Harry Böhm stets die Kontrolle. Das Internierungslager Berg

Schon am 26. Oktober nahm Berg als Internierungslager die ersten verhafteten Juden auf; sie kamen laut Aufnahmeprotokoll aus der nahen Umgebung. Am 28. Oktober kam mit einem Güterzug der große Transport aus dem über hundert Kilometer entfernten Oslo; sein Ausgangspunkt war der unweit des Gefängnisses Bredtveit gelegene Vorortbahnhof Grorud. Für Isak Feinsilber, einen 66-jährigen Kaufmann aus Trondheim, war der Marsch vom Gefängnis nach Grorud an sich schon anstrengend genug. Hinzu kam, dass er erst um vier Uhr morgens aus Trondheim angekommen war, und nur drei Stunden später musste er schon wieder aufbrechen. Im Bahnhof Grorud wurden die Gefangenen „in Viehwagen zusammengepfercht, und die Reise ging nach Oslo, über das Hafengleis vom Ostbahnhof zum Westbahnhof und von dort nach Tønsberg.“192 Die korrekte Bezeichnung der Eisenbahnwagen war „G-Wagen“, also Güterwagen. Aus der Rechnung für den Transport, die die Staatsbahnen neun Tage später vorlegten, ging hervor, dass im Zug „259 Gefangene und 21 Staatspolizisten“ gewesen waren. Die Rechnung belief sich auf 2380 Kronen und wurde wahrscheinlich über das Budget des Arbeitsministeriums beglichen. Der Empfang im Lager war für die Juden traurig und erschreckend. Der Musiker Oskar Wulff, der wie Feinsilber in einer sogenannten Mischehe lebte, schrieb kurz nach Kriegsende einen Bericht über seine Zeit als Häftling. Den Empfang beschrieb er so: Kamen am 28. Oktober, einem tristen Regentag, im Internierungslager Berg an. Wir waren zusammen ca. 350 Personen, mussten uns auf dem Acker außerhalb des Lagers aufstellen und wurden von dem stellvertretenden Leiter Leif Lindseth ‚willkommen‘ geheißen. Er führte den Titel ‚Leutnant‘ und hielt eine vorbereitete Rede. Die war gespickt mit Warnungen und Drohungen und drückte aus, es sei eine ‚Forderung der Zeit‘, dass wir verhaftet wurden, und dass wir in Berg die Behandlung erfahre würden, die wir verdienten. Am Ende sagte er, falls jemand Wasser lassen müsse, solle er das gleich tun, denn später sei dazu keine Gelegenheit mehr. Wir wurden in Gruppen 192 RA, S-1725 DAI Behälter 454, Sondervernehmung von Isak Feinsilber in Kjesäter am 6. Dezember 1942.

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eingeteilt und in die Baracke 1 des Lagers geführt. Hier wurden wir von neuem gemustert und mussten mit Ausnahme des Essbestecks alles, was wir hatten, abgeben. Unsere Sachen wurden mit Namen versehen und in das Depot im Verwaltungsgebäude gebracht. Der Schlüssel zum Depot hing frei zugänglich draußen vor einem der Büros, und Leitung wie Wachmannschaften machten von ihm Gebrauch und stahlen so viel von unseren Sachen, bis nur noch ein Minimum übrigblieb.193

Wulff war ein nüchterner Betrachter. Er übertrieb nicht und notierte nicht einmal, dass Lindseth damit drohte, zehn Gefangene zu erschießen, falls jemand flüchtete.194 Ein anderer Häftling, Ernst Aberle, der kurz nach der „Kristallnacht“ 1938 nach Norwegen gekommen war, gab die Drohung etwas anders wieder: „Bei jedem Versuch zu fliehen werdet ihr mit Blei angefüllt, oder es gibt andere Repressalien!“ Nach Lindseth – so Aberle – hielt der „keineswegs nüchterne“ Lagerchef Eivind Wallestad auch eine Rede.195 „Das Lager“ – wenn man es zu diesem Zeitpunkt überhaupt so nennen kann – bestand aus drei Baracken auf freiem Gelände. Weiter waren Wallestad, der NSBürgermeister von Tønsberg und Hird-Führer im Bezirk Vestfold, und seine Leute noch nicht gekommen, nachdem Quisling auf dem sogenannten Pfingsttreffen in Borre 1942 die Errichtung eines Arbeitslagers für Regimegegner in der Nähe von Tønsberg angekündigt hatte.196 Eivind Wallestad wurde am 10. Juli zum Lagerleiter bestellt, nachdem Quisling selbst und Justizministr Riisnæs den Plan des Lagers genehmigt hatten. Es war ursprünglich für 3000 Gefangene geplant, aber es waren nie mehr als 600 da; diese Höchstzahl wurde im Winter 1944/45 erreicht. Wallestad leitete selbst den Aufbau des Lagers, aber schon von Anfang an war ein deutscher Bauleiter von der Einsatzgruppe Wiking dabei, einem deutschen Baukommando, einem Gemeinschaftsprojekt der SS und der Organisation Todt.197 Das Lager war offiziell dem Polizeiministerium unterstellt und hieß im Volksmund Quislings Hühnerhof.198 193 Harry Wulff, Privatarchiv Oskar Wulff, undatierter Bericht von Oskar Wulff, geschrieben für Carl Haave und Sverre J. Herstad, die das Gefangenenbuch Quislings hønsegård [Quislings Hühnerhof] redigierten (1948). 194 Nachtstern und Arntzen (2006), S. 22. 195 Aberle (1980), S. 46. Aberle ordnet die Drohung mit den zehn zu Erschießenden Wallestad zu. 196 Haave und Herstad (1948), S. 12. 197 Ebd. S. 15. 198 Quisling selbst hatte das Lager als „Hühnerhof “ bezeichnet. Der Grund waren die Demonstratioen gegen die Besatzungsmacht und das Kollaborationsregime am Nationalfeiertag 1942, als die Menschen mit Hühnerringen statt mit den früher üblichen Binden und anderen nationalen Symbolen demonstriert hatten.

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Das Personal des Lagers kam anfangs vom Hird und der Bereitschaftsabteilung der Osloer Ordnungspolizei; später wurden immer mehr frühere Frontkämpfer eingestellt. Zusätzlich wurden Norweger rekrutiert, die in dem sogenannten SSWachbataillon gedient hatten. Sie hatten der Besatzungsmacht bei der Bewachung von Gefangenen in Nordnorwegen beigestanden und hatten sich dort an serbischen Kriegsgefangenen vergangen und mehrere von ihnen ermordet. Oskar Wulff, der Verfasser des Berichts, erstellte später eine Übersicht über die Wachmänner, die von Herbst 1942 bis Frühjahr 1945 im Lager gearbeitet hatten. Von 65 Erfassten hatten 21 an der Front gekämpft. Er teilte die 65 nach ihrem Auftreten in vier nummerierte Kategorien ein: 4 besonders aggressiv, 3 weniger aggressiv, 2 einigermaßen gut, 1 untadelig. Ein Strich unter der Kategorie 4 bedeutete sadistisches Verhalten gegenüber den Gefangenen. 25 ordnete Wulff der Kategorie 4 zu, und von diesen hatten 18 in der Behandlung der Gefangenen sadistische Züge gezeigt.199 Obwohl Berg ein norwegisches Lager mit norwegischem Personal war, agierten wie gesagt auch Deutsche im Hintergrund. Isak Feinsilber sagte nach seiner Flucht nach Schweden: „Über dem norwegischen Wachpersonal standen die Deutschen. […] Wenn die Deutschen da waren, neigten die norwegischen Wachmänner zur Brutalität. Sie wollten wohl den Deutschen zeigen, was für Teufelskerle sie waren.“200 Einer von zwei namentlich genannten Deutschen war Scharführer Wimmer.201 Der deutsche Gefangene Ernst Aberle wurde sicher nicht ohne Grund zum Arbeitsleiter einer Gruppe Gefangener bestellt. So war es für die Deutschen „im Hintergrund“ leichter, mit den Gefangenen zu kommunizieren. Die Kommunikation mit Aberle war denkbar einfach: Würde die Arbeit nicht rechtzeitig fertig, würde er erschossen.202 Die beiden Deutschen hielten sich hauptsächlich im Verwaltungsgebäude des Lagers auf, dem sogenannten Weißen Haus. Wenn Appell war, schrien sie aus einem Fenster den Gefangenen zu: „Ich will die Juden leufen [sic] sehen“ oder „Ich will die Juden tot sehen.“203 Die Juden, die in den Tagen nach dem 26. Oktober in das Lager kamen, merkten schnell, dass es auf die Aufnahme von Gefangenen nicht vorbereitet war. Zwar hatte Wallestad am 27. Oktober Marthinsen angerufen und gegen die Aufnahme 199 Harry Wulff, Privatarchiv Oskar Wulff, Wulffs persönliches Exemplar des Buches von Haave und Herstad (1948) mit seinen persönlichen Notizen. 200 RA, S-1725 DaI Behälter 454, Sondervernehmung von Isak Feinsilber in Kjesäter am 6. Dezember 1942. 201 Aberle (1980), S. 51. Haave und Herstad (1948) nennen als zweiten Namen Meyerjohann (S. 21). 202 Ebd. 203 Harry Wulff, Privatarchiv Oskar Wulff, undatierter Bericht von Oskar Wulff, S. 1.

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protestiert, „weil dem Lager jede Ausrüstung fehlt“. Die Antwort war kurz und gut: Die große Gruppe Gefangener werde am nächsten Tag „mit einem Sonderzug“ ankommen.204 Es gab kein Licht, kein Wasser, keine Öfen, Pritschen, Tische oder Stühle. Wir wurden hineingedrängt, immer 24 Mann pro Raum, und lagerten uns, so gut wir konnten, auf dem Fußboden. In dieser ersten Zeit regnete es drei Wochen lang fast immer, und weil das Dach nicht dicht war, tropfte der Regen in den Raum. Die erste Zeit der Gefangenschaft in Berg hat sich unserem Bewusstsein eingeprägt und wird für den Rest des Lebens eine grausige Erinnerung bleiben. In den Nächten saß ein bewaffneter Wachmann im Barackenflur und weigerte sich entschieden, uns aufs Klo zu lassen. Es war furchtbar anzusehen und die Schreie zu hören, besonders der Alten, wenn sie mussten und nicht durften. Mehrere waren krank, und in unserem Raum lagen 4 Mann über siebzig, die an die Tür klopften, um den Wachmann herbeizurufen. Erst als er damit gedroht hatte, uns mit Blei zu füllen, wenn wir weiter klopften, mussten wir aufgeben, und der einzige Ausweg war, unsere Schuhe, Latschen oder sonst etwas zu benutzen.205

Die über 350 jüdischen Gefangenen, die nacheinander nach Berg kamen, wurden gleich zu Arbeiten eingeteilt, die unbedingt notwendig waren, sollte Berg ein richtiges Lager werden. Sie sollten einen Zaun errichten und Gräben für Wasser- und Abwasserleitungen graben, den Weg vom Verwaltungsgebäude ins Lager bauen usw. Wulff notierte, dass einige Häftlinge wohl an Flucht dachten, als sie sahen, dass es keinen Zaun ums Lager gab, aber aus Furcht vor Repressalien machte niemand Ernst damit. Die Arbeit begann ungefähr um halb acht Uhr morgens, nachdem die Gefangenen ihr Frühstück bekommen hatten, das aus einem Achtel Brot und Kaffee-Ersatz bestand, und sie dauerte oft bis 20 Uhr, unterbrochen nur von der Mittagspause, in der pro Mann ein Drittelliter „Wassersuppe“ ausgeteilt wurde. Am Abend des ersten Tages, also am 29. Oktober, bekamen die Gefangenen ein Viertel Brot. Das sollte bis zum nächsten Abend reichen. Wulff schrieb, die meisten seien an dem Tag nach der Arbeit mehr tot als lebendig gewesen. Es sollte im Laufschritt gearbeitet werden, und die einzelnen Gruppen mussten strafexerzieren, wenn jemand eine Pause zu machen versuchte. Einige Male wurde Gefangenen mit Erschießen gedroht. Es gab im Lager keine Latrine und kein Krankenzimmer.206 204 Haave und Herstad (1948), S. 16. 205 Harry Wulff, Privatarchiv Oskar Wulff, undatierter Bericht von Oskar Wulff, S. 1. 206 Ebd.

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Victor Goldschmidt erklärte später näher, was es mit der Latrine auf sich hatte und was er mit Recht für erzwungene Unsauberkeit hielt: Es gab für die ca. 190 Mann in unserer Baracke nur eine primitive einsitzige Latrine, bestehend aus vier Pfählen mit einem Querpfahl zum Sitzen und einem kleinen Dach darüber. Darum musste man seine Notdurft neben der Baracke in einem moorigen, lehmigen kleinen Gehölz verrichten. Später wurde unter Mitwirkung der Gefangenen eine kleine offene Latrine mit mehreren Sitzen gebaut. Das Wasserlassen besorgte man draußen, wo es gerade passte. […] Einige der jüngeren Gefangenen holten Wasser zum Zähneputzen und Mundspülen aus einem kleinen Bach, der sich durch das Latrinengebiet schlängelte. Das unterband ich wegen der Typhusgefahr. Klopapier gab es nicht. Ein älterer Herr unter den Gefangenen, der einen der Wachmänner danach fragte, bekam die Antwort, ein Kiefernbüschel sei gut genug. Die erzwungene Unsauberkeit war für die Gefangenen äußerst lästig. Die Wächter wurden auf die Infektionsgefahr hingewiesen, aber wurden erst nachdenklich, als ein Gefangener darauf aufmerksam machte, dass Typhusbakterien so dumm seien, zwischen Juden und Germanen keinen Unterschied zu machen. Auch sonst hatte man den Eindruck eines völligen Mangels an Organisation.207

Einer der Wachtmeister von der Bereitschaftsabteilung der Osloer Ordenspolizei war Karl Hatlestad. Kurz nach der Hauptaktion gegen jüdische Frauen und Kinder in Oslo floh er mit einem Kollegen nach Schweden, tief erschüttert über sein eigenes Tun. Zu den Verhältnissen in der Baracke, in der er Dienst getan hatte, erklärte er: In den meisten Räumen der Baracke, in der ich Dienst hatte, waren 24 Mann. Da waren 3 Geistesschwache, 1 Blinder, 1 mit Zuckerkrankheit, 1 Lahmer und mehrere sonstige Alte und Kränkliche, die mit den anderen zusammen untergebracht waren. Sie hatten zu zweit eine Matratze bekommen, und einige hatten eine Wolldecke mit. Der Platz war so eng, das man keinen Fuß auf den Boden setzen konnte, nachdem die Gefangenen sich hingelegt hatten. […] Die Fenster, die mit Stacheldraht gesichert waren, ließen sich nicht öffnen, und die Luft in den Räumen war entsetzlich.208

207 SRA, Kungliga Utrikesdepartementet, frågor rörande nationella minoriteters ställning i Norge [Fragen betr. die Stellung der nationlen Minderheiten in Norwegen] 1943, 15. Februar–2. März. Undatierter Bericht Goldschmidts über seine Erlebnisse in Norwegen vor der Flucht, S. 9. 208 RA, S-1725 DaI Behälter 397, Vernehmung von Karl Hatlestad in Kjsäter am 11. Dezember 1942.

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Die Behandlung im Lager war von deutschen Konzentrationslagern inspiriert. Dennoch war die Internierung in Berg in Europa ziemlich einzigartig. In Frankreich gab es auch den Behörden des Lands unterstellte Internierungs- und Transitlager, aber nach den ersten fatalen Deportationstransporten 1942, bei denen Eltern von ihren Kindern getrennt wurden, durften die Familien meistens zusammenbleiben. Das hieß natürlich nicht, dass die Verhältnisse gut waren. Das Gefängnis Bredtveit, in dem Familien aus Trondheim fast drei Monate lang zusammen sein konnten, erinnert mehr an „traditionelle“ Internierungslager in anderen Ländern. Der Unterschied war, dass das norwegische Kollaborationsregime sowohl Berg als auch Bredveit betrieb. In den Niederlanden war das Transitlager Westerbork der deutschen Sicherheitspolizei unterstellt; gleiches gilt für das Transitzentrum Mechelen in Belgien. Der schon erwähnte Feinsilber brauchte im Lager Berg nicht zu arbeiten. Damit war er einer von wenigen – wollte man freigestellt werden, mussten mehrere Bedingungen erfüllt sein. Er bekam auch als einer von wenigen älteren Männern eine Matratze. Trotz dieser Erleichterungen verlor auch Feinsilber im Lager „während des kurzen Aufenthalts viele Kilo“.209 Nach vier bis fünf Tagen begannen die Verhältnisse im Lager sich zu bessern, denn Anton Jervell, Oberarzt am Bezirkskrankenhaus von Vestfold und Leiter des Roten Kreuzes in Tønsberg, griff ein. Er übergab dem Lager gebrauchte Konservendosen als Trinkgefäße für die Gefangenen (Goldschmidt schrieb in seinem Bericht, sie seien „von hervorragender Qualität“ gewesen). Unter den Einwohnern von Tønsberg sammelte er Wolldecken ein, und dank seiner Kontakte zur Brauerei der Stadt lieferte diese Suppe an das Lager. Goldschmidt berichtete später, dass Jervell am 31. Oktober mit „mehreren Lastautos mit Krankenbetten, einem Ofen, Medikamenten und zwei Krankenpflegerinnen“ im Lager ankam. Im Verwaltungsgebäude richtetet er ein provisorisches Krankenzimmer mit zwölf Betten ein. Goldschmidt selbst wurde noch am gleichen Vormittag dorthin gebracht, und am Abend kam er wegen einer Nierenerkrankung mit zwei anderen älteren Juden ins Bezirkskrankenhaus. Die beiden anderen waren Moses Katz und der Spielzeugfabrikant Lesser Rosenblum.210 Goldschmidt unterhielt sich viel mit ihnen, und diese Gespräche sollten sich ihm tief einprägen. Als er einmal voller Wut äußerte, man müsse die Namen der Wachmänner notieren, die sie misshandelten, antwortete der orthodoxe Katz: „Die Rache ist nicht unser, sie muss dem Allmächtigen überlassen blei209 Ebd., Behälter 454, Sondervernehmung von Isak Feinsilber in Kjesäter am 6. Dezember 1942. 210 SRA, Kungliga Utriksdepartementet (vgl. Fußnote 207). Goldschmidts Bericht, S. 11. Katz und Rosenblum wurden am 26. November mit der Donau deportiert.

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ben.“ Rosenblum, der Atheist war, fügte hinzu: „Wir müssen den Teufelskreis der Vergeltung durchbrechen, sonst kann die Bosheit nie ein Ende nehmen.“211 Nach einer Woche wurde Jervell der Zugang zum Lager verweigert. Bei einer Inspektion durch deutsche Offiziere hatte er die Verhältnisse kommentiert mit der Bemerkung, hier erinnere nicht viel an deutsche Ordnung. Erst im Sommer 1944 durfte er wieder ins Lager kommen; da brachte er sogenannte Dänemarkpakete für die Gefangenen mit.212 Nach kurzer Zeit begannen die Frauen in Oslo mit einer Essenspaketaktion für die Männer in Berg. Den Angehörigen wurde erlaubt, über das Rote Kreuz in Tønsberg zweimal in der Woche fünf Scheiben belegte Brote ins Lager zu schicken.213 Jervell war auch dabei der Vermittler. Die Essenspaketaktion dauerte bis etwa eine Woche vor dem 26. November; dann wurde die Erlaubnis widerrufen. Die Gefangenen durften auch in der Zeit vom 26. Oktober bis 26. November zwei Briefkarten an ihre Angehörigen schreiben. Dabei geht es in fast allen, die erhalten sind, um praktische Fragen. So bittet ein Gefangener um seinen Arbeitsanzug und erinnert seine Frau daran, die Stromrechnung zu bezahlen. Ein anderer bittet um Einlegesohlen, ein dritter um Marmelade und noch mehr belegte Brote. Sie schreiben, es gehe ihnen gut, wie das viele Gefangene tun, um ihre Lieben zu beruhigen, oder weil es gefährlich gewesen wäre, etwas anderes zu schreiben. Es gab keinen Grund, die Frauen noch mehr in Angst zu versetzen.214 Aber die in der Umgebung wohnende Bevölkerung brachte auch illegal Briefe und Pakete ins Lager. In einem dokumentierten Fall war selbst einer der Wachmänner beteiligt, der schon erwähnte Karl Hatlestad. Die Schwestern Berta und Rosa London, deren Vater im Lager war, erzählten nach ihrer Flucht nach Schweden, dass sie bald nach seiner Festnahme Besuch von einem „Polizeiwachtmeister Hatlestad“ bekommen hatten, der einen Gruß von ihrem Vater überbrachte und Tabak für die Gefangenen mitnehmen konnte. Hatlestad berichtete ihnen von den Verhältnissen im Lager, u. a. dass die Wachmänner den Befehl hatten, Warnschüsse abzugeben, wenn jemand nach der Arbeitszeit Fenster in den Baracken öffnete.215 Mehrere Frauen, die noch in Oslo waren, besuchten das Lager, auch die Schwestern London. Elsa Dickman erzählt in ihrem autobiographischen Roman Korsvei211 Norsk biografisk leksikon, Artikel über Victor Goldschmidt von Inge Bryhni. 212 Christophersen (1995), S. 181 f. 213 RA, S-1725 DaI Behälter 454, Vernehmung von Rosa und Bertha [sic: Berta] London in Kjesäter am 30. November 1942. Dickman (1946), S. 81. 214 Privatarchiv Jenny Wulff. Karte von Olai Wulff und Herman Levinson an Johanne Levinson vom 14. November 1942. 215 RA, S-1725 DaI Behälter 454, Vernehmung von Rosa und Bertha London in Kjesäter am 30. November 1942.

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en von einem solchen Besuch. Niemand bekam eine Besuchserlaubnis, aber in der Nähe des Lagers kam sie in Kontakt mit einem Wachmann, der Pakete und Briefe zwischen den Gefangenen und ihren Angehörigen vermittelte.216 Wurden Pakete an Gefangene bei der Staatspolizei abgeliefert, wurde der Inhalt kontrolliert. In einem Paket hatte eine Frau auf einem beigelegten Zettel an ihren Mann geschrieben: „Pass auf deine Gesundheit auf, und behalte vor allem die Nerven.“ Das Paket enthielt einen Schal, ein Arbeitshemd, Fäustlinge, ein Essbesteck (Messer, Gabel, Teelöffel), eine kleine Flasche Lebertran, zwei Packungen Kekse und ein kleines Glas Marmelade.217 Die Staatspolizei beförderte das Paket weiter nach Berg, aber nicht den Zettel; er kam in die Akte des Gefangenen. Für die Kranken im Lager waren die Bedingungen von Anfang an miserabel. Mehr als zehn mussten nach und nach in das Bezirkskrankenhaus verlegt werden. Ein Häftling hatte eine Gehirnblutung bekommen, ein paar jüngere Männer, darunter Herman Sachnowitz, wurden am Blinddarm operiert. Am 25. November wurden die kranken Gefangenen in Krankenwagen ins Lager zurückgebracht. Zu denen, die aus dem Lager verlegt wurden, gehörten die schon erwähnten Gebrüder Gedanken, Bjørn und Heiman David. Sie hatten in Berg keine besondere Pflege bekommen, aber bei mehreren Gelegenheiten die Wut der Wachmänner erregt, weil sie sich vollmachten oder auf andere Weise ihre Aufgaben nicht bewältigten. Am 6. November wurden sie vom Amtsarzt in Sem bei Tønsberg in eine Zelle im Bezirkskrankenhaus verlegt. Er bat am gleichen Tage das Fürsorgeamt in Oslo um eine vorläufige finanzielle Garantie für die beiden. Es dauerte acht Tage, bis er diese bekam. Die Fürsorge wollte aber keine permanente Verantwortung übernehmen. Im Gegenteil: In der Rubrik Heimatort hatte man vermerkt „Staatskasse (Russen oder Staatenlose)“. Dennoch erlaubte die Bescheinigung, dass der Arzt in dem psychiatrischen Krankenhaus Dikemark Platz für die beiden beantragen konnte. Am 17. November teilte er jedoch der Fürsorge mit, dass Dikemark sie nicht haben wollte. Als Alternative nannte er Tokerud, eine andere Anstalt für sogenannte Geistesschwache, aber stellte fest: „Das Natürlichste wäre, dass die Mutter sie nach Hause bekommt.“ Er bat das Fürsorgeamt zu untersuchen, ob die Mutter sich für die Aufgabe eigne, und ging dann näher auf die Frage der Verantwortung ein: Ich bin natürlich bei ihrer Unterbringung gern behilflich, aber meine, dass sie in erster Linie eine Sache der Stadt Oslo ist, da Oslo als ihre Wohngemeinde gilt. Hier in 216 Dickman (1946), S. 67 ff. 217 Ra. Statspolitiet, Judenaktionen, Behälter 16, Brief der Staatspolizeizentrale an das Internierungslager Berg vom 3. November 1942.

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Sem (Internierungslager Berg) oder Tønsberg (Bezirkskrankenhaus) halten sie sich nicht freiwillig auf, sondern als von der Polizei Internierte. Daher muss auch der Lagerkommandant von Berg als ihr Tutor auftreten. Die Verwaltung des Bezirkskrankenhauses teilt mit, dass sie keine schriftliche Garantie für den Aufenthalt dort erhalten hat, aber die Auskunft, dass die Kosten aus den beschlagnahmten Mitteln der Juden gedeckt werden sollen.

Am 25. November wurden die beiden Jungen zusammen mit den anderen Patienten aus dem Bezirkskrankenhaus in das Lager Berg zurückgebracht. Am folgenden Tage wurden sie deportiert. Wieder einen Tag später lag die Antwort der Stadt Oslo und der juristischen Abteilung des Fürsorgeamtes vor, die direkt an die Staatspolizei gerichtet war. Man habe sich um Plätze im Krankenhaus Dikemark bemüht, aber vergebens. Der Brief schloss so: Wir haben nach dem Gutachzten des Amtsarztes von Sem vom 17.11.42 untersucht, ob die Jungen wieder bei ihrer Mutter aufgenommen werden könnten, aber erhalten die Auskunft, dass auch sie und eine Schwester jetzt festgenommen sind. Wir stellen fest, dass die Jungen bis jetzt von ihren Eltern unterhalten worden sind. Die Eltern wohnen seit 1914 in Norwegen (hauptsächlich in Oslo) und haben für sich selbst und die Kinder gesorgt, ausgenommen eine kurze Periode 1924, als sie Armenunterstützung bezogen. Unter den gegebenen Umständen gehen wir davon aus, dass es z.Zt. nicht aktuell wird, diese Jungen aus der Armenkasse zu unterstützen oder über die Armenfürsorge nach einem Pflegeplatz für sie zu suchen.

„Das Problem“ war gelöst, die Zeit der Gebrüder Gedanken war abgelaufen. Am 27. November waren sie an Bord der Donau auf dem Weg nach Auschwitz. Weitere Dokumente zur Sache liegen nicht vor. Sie waren auch nicht mehr nötig. Hätte das Krankenhaus Dikemark die Brüder aufgenommen, wären sie sicher nicht der Polizei ausgeliefert worden (es gibt vergleichbare Fälle). Soweit von der armen Familie Gedanken nach der Deportation noch Mittel verblieben waren, wurden diese zur Deckung der Kosten des Aufenthalts im Bezirkskrankenhaus verwendet.218 Was mit den Brüdern Gedanken geschah, macht ein offenkundiges Paradox sichtbar. Die aus irgendeinem Grund in einem Heim Untergebrachten hatten eine 218 RA, Statspolitiet, Judenaktionen, Behälter 4, Briefe des Amtsarztes der Gemeinde Sem, Dr. Lt. Thielemann, an das Osloer Fürsorgeamt vom 6., 12. und 17. November 1942. Brief der juristischen Abteilung des Osloer Fürsorgeamtes vom 27. November 1942. Garantie für den Unterhalt von Bjørn und Heiman David Gedanken vom 14. November 1942.

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größere Überlebenschance als die bei ihren Eltern Wohnenden. Nicht wenige Juden lebten den ganzen Krieg hindurch nahezu unbemerkt in Heimen (und in wenigen Fällen auf Bauernhöfen) oder starben dort während des Krieges (vgl. Einzelheiten in Kapitel 7). Das war aus zwei Gründen möglich: Entweder meinte das Personal, dass die Juden bei ihnen keine Ausweise brauchten, sodass sie keinen J-Stempel bekamen, oder die Heimleitung unterließ die Registrierung bewusst. Am 7. November wurden 35 Juden aus dem Lager Berg entlassen. Der Grund war ein Befehl von Quisling persönlich, alle Juden über 65 seien freizulassen. Was ihn zu diesem Beschluss bewog, ist unklar. Oskar Mendelsohn nennt in seinem Buch keinen Grund und auch keinen Hinweis auf einen schriftlichen Befehl des Ministerpräsidenten.219 Dass kein solcher vorliegt, war möglicherweise von Quisling gewollt. Isak Feinsilber, einer der Freigelassenen, wollte die Entlassung von der Staatspolizei schriftlich bestätigt haben. Das wurde ihm verweigert, aber er hakte nach und bekam daraufhin am 10. November einen Brief, in dem es hieß: „Nach der Verordnung vom 24. Oktober sollten Juden von über 65 Jahren nicht festgenommen werden. Feinsilber, der eine Zeitlang im Lager Berg bei Tønsberg interniert war, ist bis auf weiteres zu entlassen.“220 Der Ausdruck „bis auf weiteres“ gab Anlass zur Besorgnis. Im Material gibt es aber einen Hinweis, dass es tatsächlich Quisling selbst war, der die Freilassung der älteren Gefangenen anordnete. Auf einem Antrag auf Freilassung, der zufällig einem über 65-jährigen Juden galt, findet sich von Quislings Hand der Vermerk „Unterliegt nicht der Festnahme, da er über 65 Jahre ist. V. Q.“ Der Vermerk datiert vom 5. November. Am gleichen Tage schrieb ein anderer mit der Hand: „Der Staatspolizeichef teilt mit, dass alle Juden über 65 freigelassenen sind.221 Tatsächlich wurden die Gefangenen aber erst am 7. November entlassen. Das geht aus dem Gefangenenprotokoll von Berg hervor, aber auch aus erhaltenen Buchungsunterlagen. Die Männer erhielten nämlich bei der Entlassung eine Bahnfahrkarte und 10 Kronen, die wohl für Verpflegung auf der Heimreise gedacht waren. Sie quittierten das vor Verlassen des Lagers auf einer besonderen Liste. Insgesamt verauslagte das Lager 383 Kronen für Fahrkarten und 370 Kronen „Reisegeld“. Die über 10 x 35 hinausgehenden 20 Kronen waren für zwei Gefangene gedacht, die für die Weiterreise über den Osloer Westbahnhof hinaus eigene Fahrkarten lösen mussten. Alf Kjølner, der Zahlmeister des Lagers, schickte die Rechnung an Polizeidirektor 219 Mendelsohn (1986) S. 106 f. 220 RA, S-1725 DaI Behälter 454, Sondervernehmung von Isak Feinsilber in Kjesäter am 6. Dezember 1942. Der Brief, den Feinsilber bei seiner Flucht nach Schweden bei sich hatte, war unterzeichnet „Statspolitiet, Oslo I Haugtvedt“. 221 RA, Statspolitiet, Judenaktionen, Mappe 29, Brief von Finanzminister Prytz an Quisling vom 26. Oktober, Vermerk von Quisling vom 5. November.

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Dürbeck in der Staatspolizei mit dem Vermerk, dass die Beträge für Fahrkarten etc. aus beschlagnahmtem jüdischen Besitz „zurückerstattet werden“.222 Die Liste der Gefangenen mit ihren eigenhändigen Unterschriften ist schon an sich interessant. Sie zeigt mit aller Deutlichkeit den Gemütszustand der Männer, ja auch ihre physische Verfassung. Mehrere haben mit zitternder Hand unterschrieben. Nun waren sie alle alt – und 65 war damals ein erheblich höheres Alter als heute –, dennoch ist deutlich, dass der Aufenthalt im Lager an den Kräften gezehrt hat. Das gilt auch für die Freilassung. Denn zweifellos wurden die Männer bedroht, ehe sie das Lager verlassen durften. Die Drohungen bezogen sich nicht nur auf den Charakter ihrer künftigen „Freiheit“, sondern schlossen das Verbot ein, anderen über den Aufenthalt im Lager zu berichten. Als Isak Feinsilber nach Schweden gekommen war, erklärte der ihn vernehmende Beamte: Erst nach sehr starken Versicherungen ist F. bereit zu erzählen, was er durchgemacht hat. Er bittet darum, das unten Dargelegte bei einer etwaigen Veröffentlichung stark verfremdet zu behandeln. Dabei hat F. nicht besonders viel Neues zu erzählen. Ein gewisses Misstrauen hält ihn zurück, und außerdem hat F. wegen seines hohen Alters und seiner angespannten Nerven Mühe, sich zu konzentrieren und zusammenhängend zu berichten.223

Schon die Rede war von dem Aufenthalt der über 60 staatenlosen Juden in Grini im Juni und Juli 1941 und der deprimierenden Tatsache, dass über 70 Prozent von ihnen im folgenden Jahr deportiert wurden. Von den 35 aus Berg Entlassenen wurden nicht weniger als 27, d.h. 77 Prozent, später erneut festgenommen und deportiert. Von den verbleibenden acht flohen nur drei. Die anderen fünf wurden aus verschiedenen Gründen von der Internierung dauernd befreit.224 Die Entlassung der 35 Männer hat vielleicht bei den anderen Gefangenen in Berg die Hoffnung geweckt, die Zeit im Lager sei bald zu Ende und das Ganze werde ausgehen wie im Sommer 1941, mit Freilassung.225 Das war eine ebenso verzweifelte wie verständliche Hoffnung. Der Unterschied zwischen dem Sommer 1941 und dem Herbst 1942 lag auf der Hand: Am 26. Oktober, dem Tag der Verhaftung jüdischer Männer, wurde auch der ganze jüdische Besitz eingezogen. Die Signale in der NS-kontrollierten Presse waren düster. Im Nachhinein sehen wir, 222 Brief des Internierungslagers Berg an die Staatspolizei vom 1. November 1942 mit Beilagen und Liste. Dank an Bjørn Westlie für das Material. 223 RA, S-1725 DaI Behälter 454, Sondervernehmung von Isak Feinsilber in Kjesäter am 6. Dezember 1942. 224 Eigentlich müsste den Deportierten ein Name hinzugefügt werden: der 72-jährige Daniel Caplan, der mit der Gotenland am 25. Februar 1943 deportiert wurde. 225 Mendelsohn (1986), S. 109 f., deutet dies an.

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dass es keinen Weg zurück gab. Aber konnten die Freigelassenen das auch sehen? Die sozialpsychologischen Prozesse, die der Grini-Aufenthalt 1941 auslöste, sind zum Teil auch im November 1942 zu erkennen. Mehrere der am 7. November Freigelassenen hatten danach offenkundig die Möglichkeit zu fliehen. Aber es ist wichtig, sich klarzumachen, dass sie eine erneute Festnahme natürlich für absurd halten mussten. Denn weshalb wären sie dann erst freigelassen worden? Hinzu kam, dass sie nach den Tagen im Lager in einer besonderen Situation waren. Einige waren schon bei der Festnahme krank gewesen, und einige waren infolge der Strapazen im Lager krank geworden. Bedenkt man zudem die offenen Drohungen bei der Freilassung, so sprachen viele Gründe gegen eine Flucht. Der Typograph Moritz Nachtstern, der die Deportation mit der Donau überlebte, erzählte in seinem 1949 erschienenen Buch von einem Gespräch an Bord des Schiffes mit einem der Männer, die am 7. November freigelassen und später erneut verhaftet wurden: Die ganze Freilassung war bloß ein Trick. Indem sie uns entließen, brachten sie die Frauen und die anderen, die noch nicht festgenommen waren, dazu, sich ruhig zu verhalten und nicht nach Schweden zu fliehen. Und so konnten sie umso effektiver zuschlagen, als dieses Schiff bereit war, uns aufzunehmen. Und wir Freigelassenen waren leichtsinnig genug, den Versprechungen der Deutschen zu glauben. Ich weiß nur von einem von uns, der sich nach der Freilassung in Sicherheit brachte.226

Das Regime war sich dessen bewusst, dass die Freigelassenen eine Kategorie für sich bildeten. In Oslo wurden diese Männer am Tage vor der nächsten großen Aktion gegen die verbliebenen Juden, also am 25. November, festgenommen. Einer, dem an diesem Tage die Flucht gelang, war derjenige, den Nachtsterns Gesprächspartner an Bord meinte, der 64-jährige Markus London. Seine beiden Töchter Berta und Rosa erklärten nach der Flucht nach Schweden, dass die Staatspolizei am 25. November erschienen sei, um ihn zu verhaften, aber dass er zum Glück gerade nicht zu Hause gewesen sei. Sie fragten die Polizisten, ob er wirklich erneut verhaftet werden solle. Die Antwort war, dass „alle Juden über 65 […] festgenommen, nach Bredtveit verlegt und von dort ins Internierungslager Berg zurückgebracht werden sollten“.227 Markus London brachte sich in Sicherheit, ebenso seine Frau und zwei Töchter. 226 Nachtstern und Arntzen (2006), S. 31. 227 RA, S-1725 DaI Behälter 454, Sondervernehmung von Bertha [sic: Berta] und Rosa London in Kjesäter am 30. November 1942. Markus London war staatenlos und wurde daher im Aufnahmezentrum Kjesäter vom Personal der Norwegischen Botschaft nicht vernommen.

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Auch Isak Feinsilber gelang die Flucht. Er war nach seiner Entlassung nach Trondheim zurückgekehrt, aber da seine Frau in ein Erholungsheim in Oslo eingewiesen worden war, fuhr er am 22. November wieder in die Hauptstadt. Am 25. November rief ihn seine Hausgehilfin aus Trondheim an; die Staatspolizei sei da gewesen, um ihn festzunehmen. Feinsilber nahm dies nicht als Signal, sich so schnell wie möglich nach Schweden abzusetzen, sondern suchte stattdessen die Staatspolizeizentrale auf und bat um eine Unterredung mit dem Chef! Die wurde ihm nicht zugestanden, aber er konnte mit einem Mann sprechen, „an dessen Namen F. sich nicht erinnert, er klang so ähnlich wie Dyrhaug“. Der Mann war höchstwahrscheinlich Polizeidirektor Sverre Dürbeck. Das Gespräch dauerte ziemlich lange – erstaunlicherweise, denn Dürbeck hatte an dem Tag vermutlich viel zu tun. Es endete so: Gegen Ende des Gesprächs mit D. sagte dieser: ‚Sagen Sie mir, Feinsilber, wie finden Sie die Situation?‘ Feinsilber: ‚Als Mensch finde ich sie fürchterlich.‘ D.: ‚Ja, das gebe ich zu‘, und weiter: ‚Ich will Ihnen etwas sagen. Dieses Gespräch ist privater Natur. Nehmen Sie diesen Ausgang (zeigte auf eine Hintertür), und gehen Sie direkt nach Hause zu Ihrer Frau.‘ Feinsilber: ‚Ist das für mich irgendwie gefährlich?‘ D.: ‚Das glaube ich nicht.‘228

Feinsilber bekam einen Wink von dem, der bei der großen Aktion gegen die Juden als Täter an zentraler Stelle stand, dem Polizeidirektor, der für die Aktion außerhalb Oslos verantwortlich war. Feinsilber war erschrocken, aber er verstand den Wink. Er tauchte mit seiner Frau unter. Am 4. Dezember waren beide in Schweden in Sicherheit. Die Internierung der jüdischen Männer in Berg illustriert wieder eine Strategie, die auf die deutsche Sicherheitspolizei zurückging und auf früherer Erfahrung beruhte: Durch die Festnahme der Männer sorgte man dafür, die Frauen an ihre Orte zu binden und zugleich den Eindruck zu stärken, dass man es auf die Männer abgesehen hatte. Um die Kontrolle der Frauen zu perfektionieren, wurde der Ältesten in jeder Familie auferlegt, sich täglich bei der nächsten Polizeiwache zu melden. Die Meldepflicht der Frauen

Die Frauen sollten zu Hause bleiben, das war der Hauptzweck der Meldepflicht. Wir sahen schon, dass sie in den ländlichen Gebieten auf verschiedene Weise prak228 RA, S-1725 DaI Behälter 454. Sondervernehmung von Isak Feinsilber in Kjesäter am 6. Dezember 1942.

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tiziert wurde. In Skånevik hatte Edith Reichwald den Bescheid bekommen, sich bei dem örtlichen NS-Führer zu melden. In den meisten Orten nahm der Polizist die Meldung entgegen. Inwieweit das befolgt wurde, lässt sich heute ohne aufwendige Untersuchungen kaum beurteilen. In der Hauptstadt oblag also die Meldepflicht grundsätzlich der ältesten in der Wohnung verbliebenen Frau. In einigen Fällen wurde das später wegen Krankheit oder hohen Alters geändert, aber verpflichtend blieb, dass eine Frau aus jeder Familie sich bei der zuständigen Polizeiwache zu melden hatte. Die im Archiv der Staatspolizei erhaltenen Listen zeigen, dass nicht viele sich der Meldepflicht entzogen. Die Fluchtstatistik bestätigt das: Vor dem Schicksalstag, dem 26. November, flohen nur wenige meldepflichtige Frauen. Das hatte mehrere Gründe, aber einer ist ganz entscheidend. Untersucht man in den Listen, wie viele bei den einzelnen Osloer Polizeiwachen meldepflichtig waren, wie viele deportiert wurden und wie viele flohen, so zeigen sich erhebliche Unterschiede. Die Übersicht (siehe Tabelle 6.1) beschränkt sich auf die größten Polizeiwachen, also die, bei denen die meisten Frauen meldepflichtig waren. Tabelle 6.1: Übersicht über Meldepflichtige bei einigen Osloer Polizeiwachen Alle Frauen Polizeiwa- insges. deporche tiert Sagene Sinsen Møllergaten St. Hanshaugen Frogner Grünerløkka Grønland Hegdehaugen

Geflohen

Ausgenommen 1 3 3

Frauen mit interniertem Mann/Sohn/Vater insges. Depor- Geflo- ausgetiert hen nommen 13 8 4 1 11 5 4 2 28 16 10 2

17 13 37

9 6 19

7 4 15

12

4

8

0

7

3

4

0

18 31

6 9

8 16

4 6

9 23

4 9

5 8

0 0

16 29

11 8

5 16

0 5

12 22

9 7

3 11

0 4

Quelle: Reichsarchiv, Statspolitiet, Mappe 25, Juden mit Meldepflicht

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Die „Endlösung“: Die Juden werden deportiert

Die Zahl der später Geflohenen war am niedrigsten im Stadtteil Grønland und am höchsten in Grünerløkka. Betrachtet man nur die Frauen, deren Ehemänner, Väter oder Söhne im Lager Berg interniert waren, ergibt sich jedoch ein deutlich modifiziertes Bild. In die Überlegungen, die die Frauen anstellen mussten, wirkten sozialpsychologische Faktoren hinein. In Grünerløkka floh die Hälfte aller meldepflichtigen Frauen, vielfach zusammen mit Kindern und anderen Verwandten. Von den 23 Frauen mit internierten Familienmitgliedern flohen aber nur 8, während 9 deportiert wurden. Die Station Hegdehaugen fällt durch den hohen Anteil der Geflohenen auf. Das hat kaum sozioökonomische Gründe. Die Männer von sechs der hier meldepflichtigen Frauen waren schon seit der sogenannten Nersnes-Aktion im September in Grini interniert. Der illegale Meldedienst in Grini sorgte dafür, dass diese Frauen von ihren Ehemännern über die Deportation am 20. November informiert wurden. Mit der Deportation der Männer entfiel der Grund, weiterhin ruhig am Ort zu bleiben. Zu den Frauen, die sich in Grønland zu melden hatten, gehörte Elsa Dickman, die nach dem Krieg den schon erwähnten autobiographischen Roman schrieb, in dem sie leicht verfremdet das Schicksal ihrer eigenen Familie und das anderer Juden behandelt. Sie war die einzige Frau in der Familie; ihre Mutter war 1939 gestorben. Nach der Verhaftung ihres Vaters und ihrer Brüder fragte sie am 27. Oktober bei der Staatspolizei an, wo sie sich befanden. Im Hauptquartier wurde sie von Zimmer zu Zimmer geschickt und schließlich mit dem Bescheid abgefertigt, man könne nicht antworten. Sie erlebte ein einziges Durcheinander. Sie nahm ein Taxi zu einer anderen Station der Staatspolizei und fand dort ein ähnliches Chaos vor. „Niemand wusste etwas, und die Stimmung dort war hektisch.“ Sie kehrte zum Hauptquartier zurück und erfuhr wieder, dass niemand etwas wusste. Jetzt wurde sie wütend und forderte eine sofortige klare Information, wohin der Vater und die Brüder geschickt worden waren. Mehrere der Anwesenden empfanden die Situation nun als peinlich: Einer kam zu ihr und sagte: – Nicht wir haben das angerichtet. Das ist ein Befehl der Deutschen. Sie warf ihm nur einen verächtlichen Blick zu und brachte es nicht fertig zu antworten. Schließlich nahm sich einer namens Røed [sic] der Sache an, und sie erfuhr, dass alle Juden, die am Vortag verhaftet worden waren, sich in Bredtveit befanden.229

229 Dickman (1946), S. 60 f.

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Erst nach ihrem Besuch bei der Staatspolizei dachte sie an die Meldepflicht. Die Romanfigur nennt nicht den Namen der zuständigen Polizeiwache, aber da wir von ihrer Identität mit der Autorin ausgehen können, wird es sich um Grønland handeln.

– Ich soll mich melden.

– Was haben Sie denn Schlimmes angestellt?, fragte einer der Wachtmeister. – Nichts weiter, als dass ich Jüdin bin. – Ach so, antwortete er nur. – Ich hab’ zum Glück damit nichts zu tun, ich hole mal den Zuständigen. Nehmen Sie so lange Platz. Ein anderer Polizeiwachtmeister erschien. – Also Sie sollen sich melden. Er seufzte tief. – Ja, da ist leider vieles, womit man sich derzeit abfinden muss. Aber eines will ich Ihnen sagen. Wir hier auf der Polizeiwache sind daran nicht schuld. Wir haben nur einen Befehl bekommen, den wir leider befolgen müssen. Er lächelte ihr freundlich zu. – Sind Sie hier alle Jøssinger? fragte Sissel. – Ja, sozusagen. Nur bei einem sind wir ein bisschen unsicher, aber er ist gerade nicht da. Sie werde gleich merken, wer das ist, denn wenn er da ist, wird es hier ganz still. – Ach! Das ist wohl für Sie gar nicht gut. Um welche Zeit muss ich hier sein und mich melden? – Wann es Ihnen passt. Und wenn Sie mal keine Zeit haben, kreuzen wir Sie trotzdem an.

Also nahmen sie es in der Polizeiwache Grønland mit der Meldepflicht nicht so genau, jedenfalls im Falle Dickman. Am 13. November wurde ihr die Meldepflicht für zwei Wochen ganz erlassen, nachdem sie wegen eines Halsleidens ein ärztliches Attest vorgelegt hatte.230 Auch bei anderen wurden Ausnahmen gemacht. Aber es sind nur wenige Fälle bekannt, in denen Frauen sich der Meldepflicht entzogen. Ein Beispiel ist die 62-jährige Bertha Meszansly. Am 24. November, also zwei Tage vor der großen finalen Aktion, meldete sie sich nicht auf der Wache St. Hanshaugen. Um 21.10 Uhr informierte der diensthabende Wachtmeister Moren deswegen die Osloer Staatspolizeizentrale.231 Bertha Meszansky und ihr 66-jähriger Ehemann Wulf waren zu diesem Zeitpunkt bereits in Schweden. Er hatte bis zur Flucht im Krankenhaus gelegen. In der Polizeiwache Nydalen, wo nur zwei Frauen sich melden sollten, kamen beide der Meldepflicht nicht nach. Hier war der Eifer der Polizisten groß. Das Ver230 Ebd. S. 61 f. 231 RA, Statspolitiet, Judenaktionen, Mappe 28.

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säumnis wurde sofort der Staatspolizeizentrale in Oslo mitgeteilt, und zwar direkt an Polizeidirektor Knut Rød. Das deutet darauf hin, dass die Frauen die Order hatten, sich jeden Tag ungefähr um die gleiche Zeit zu melden. Beide waren Flüchtlinge, und beide flohen zusammen mit ihren Familien.232 Einige „Probleme“ entstanden, weil man den Frauen nicht deutlich mitgeteilt hatte, bei welcher Polizeiwache sie sich melden sollten. Die Staatspolizei sandte kurz nach dem 26. Oktober ein Schreiben über die Meldepflicht an das Polizeipräsidium in Oslo, aber den Quellen zufolge ließ sie ausführliche Listen erst am 10. November folgen. Am 13. November leitete das Präsidium die Listen an die Polizeiwachen weiter. Nach den Listen zu urteilen gab es zu diesem Zeitpunkt Frauen, die sich nicht bei den für sie zuständigen Wachen meldeten. Wegen des Mangels an Ordnung haben vielleicht manche Polizeiwachen den Frauen die Sache erleichtert, sofern nämlich die Polizisten der „neuen Zeit“ ablehnend gegenüberstanden. Die Rückmeldungen der Polizeiwachen an die Zentrale erfolgten zu unterschiedlichen Zeiten. Die letzte lief am 23. November ein, also nur drei Tage vor der Finalaktion. Da wurde berichtet, dass drei Frauen auf den Listen sich nicht gemeldet hatten. Dies ist kaum anders zu deuten, als dass die zuständigen Polizisten eine frühere Mitteilung bewusst unterlassen haben. Im nächsten Kapitel werden wir sehen, dass gerade die Mannschaft auf dieser Wache vor beiden großen Festnahmetagen aktiv bemüht war, die Juden zu warnen. Die Aktionen gegen Osloer Krankenhäuser

Viele Männer waren der Verhaftung am 26. Oktober entgangen, indem sie Zuflucht in Krankenhäusern der Hauptstadtregion gesucht hatten. Während einige von ihnen in den Aufnahmeprotokollen registriert waren, nutzten andere das Krankenhaus als Versteck. Von den Aufgenommenen war ein Teil natürlich wirklich krank. Einige waren schon seit langem im Krankenhaus oder in anderen Institutionen gewesen. Kranke, aber am 26. Oktober dennoch festgenommene Juden wurden nicht wieder freigelassen. Die Frau des 62-jährigen Flüchtlings Bernard Berenhaut, die 58-jährige Gertrud Berenhaut, bat um seine Freilassung, indem sie sich direkt an den Staatspolizisten Homb wandte. Sie hatte offenbar mit ihm gesprochen und den Bescheid erhalten, sie müsse einen schriftlichen Antrag stellen. Sie legte ein Attest des Dr. med. Jens Dedichen bei, wonach der 62-Jährige hohen Blutdruck hatte und 232 RA, Statspolitiet, Judenaktionen. Mappe 28, Juden mit Meldepflicht, Vermerk auf Rundschreiben der Polizeiwache Nydalen vom 24. November 1942.

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unter häufigen Schwindelanfällen litt. Sie selbst fügte hinzu: „Er ist nicht gesund und wird einen Gefängnisaufenthalt kaum ertragen können.“ Sie machte auch klar, sie selbst sei „ziemlich allein und durch die Festnahme meines Mannes in eine verzweifelte und schwierige Lage gekommen“. Und weiter machte sie geltend, ihr Mann habe als Flüchtling bewusst „still und ruhig hier im Land gelebt und sich nie mit Politik befasst“. Homb notierte auf dem Brief „Vom Chef abgelehnt“, das war in diesem Fall Polizeidirektor Knut Rød.233 Gertrud Berenhaut wurde am 26. November abgeholt und mit ihrem Mann auf der Donau deportiert. Dieses Schicksal teilte das Ehepaar mit anderen älteren Juden. Viele von ihnen waren schon mehrmals geflüchtet und hatten zu einer weiteren Flucht keine Kraft mehr. Ein an Tuberkulose erkrankter Mann befand sich seit langem in dem TB-Sanatorium Skogsborg bei Lillehammer. Am 26. Oktober wollte die Polizei ihn nach Oslo transportieren, aber er lag im Sterben. Ob sein Tod nur zwei Tage später durch den Polizeibesuch beschleunigt wurde, kann natürlich niemand sagen.234 Die Staatspolizei bekam bald mit, dass eine Reihe jüdischer Männer in den Tagen vor dem 26. Oktober ins Krankenhaus gekommen waren. Das kam auf verschiedene Weise ans Licht; oft teilten die Ehefrauen oder Mütter es mit. Am 17. November ging die Staatspolizei zum ersten Mal in einer größeren Aktion gegen Osloer Krankenhäuser vor. Das Ergebnis war aus Sicht der Polizei dürftig, aber tragisch für die festgenommenen Juden. Der 54-jährige Karl Levin kam aus einer Tuberkuloseabteilung in das Gefängnis Bredtveit, ebenso wurde der 64-jährige Rubin Claes festgenommen, und am nächsten Tag wurde der 36-jährige Carl Scheer aus dem Rikshospital abgeholt. Alle drei wurden mit der Donau deportiert. In anderen Fällen blieb es bei dem Versuch der Festnahme. Der 47-jährige Abel Bloch war schon am 23. Oktober ins Krankenhaus eingeliefert worden, also nur einen Tag nach den Schüssen im Zug nach Halden. Am 17. November kam die Staatspolizei, um ihn zu holen, aber auf dem Weg zu einer Haltestelle der Holmenkollbahn wurde er krank und ins Krankenhaus zurückgebracht. Sechs Tage später, am 23. November, bekam er Hilfe beim Untertauchen und später auf dem Weg nach Schweden.235 Dass die Staatspolizei gegen Krankenhäuser vorging, alarmierte die vor und nach dem 26. Oktober Eingelieferten, aber vor allem auch ihre Helfer (siehe Kapitel 7). Die von Hans Eng, dem Arzt der Staatspolizei, ausgearbeitete „Ärztliche Erklärung für kranke Juden“ (vgl. S. 310) wurde nun den Krankenhäusern und Sanato233 Ebd., Behälter 1, Brief von Gertrud Berenhaut an Polizeiobermeister Homb in der Osloer Staatspolizei vom 5. November 1942. 234 RA, Rückführungsbüro, Dokumente in der Nachlassmappe von Morris Riung. 235 RA, S-1725 DaI Behälter 397, Vernehmung von Abel Bloch in Kjesäter am 2. Dezember 1942.

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rien in der Hauptstadtregion übersandt, und der jeweilige behandelnde Arzt musste sie ausfüllen. So machte die Staatspolizei die Ärzte für etwaige falsche Diagnosen verantwortlich. Außer der Diagnose musste der Arzt auch angeben, wann die Krankheit aufgetreten war und in welchen Symptomen sie sich äußerte. Sozusagen als Nachschrift hatte Eng eine letzte Frage formuliert: „Liegt Selbstverletzung oder Simulation vor?“236 Eng ging die Erklärungen selbst durch und entschied, wer abgeholt werden konnte; er schrieb dann mit rotem Stift „kann geholt werden“ auf den Bogen. Sein Ziel war, so viele wie möglich ausgeliefert zu bekommen. So wurden viele kranke – auch todkranke – Patienten aus den Krankenhäusern geholt und deportiert. Eng war auch Gefängnisarzt in Bredtveit und entwickelte dort eine besondere Behandlung von Juden. Einer der Untersuchungsrichter notierte, als Eng nach dem Krieg wegen Landesverrats angeklagt war: „Hatte er an einem Tag wenig Zeit, strich er die jüdischen Patienten aus der Krankenliste und untersuchte nur die NichtJuden.“237 Nach der Aktion gegen die Krankenhäuser vom 17. November forderte die Osloer Abteilung der Staatspolizei die Krankenhäuser und Sanatorien auf, „spätestens am Vortage“ anzugeben, ob ein Jude entlassen werden sollte. Die Krankenhäuser sollten auch „darauf achten, dass diese Patienten nicht davonlaufen“ und „die privaten Sachen des Patienten verschlossen halten, bis die Staatspolizei den Betreffenden abholt“.238 Das wurde nur teilweise befolgt, aber zugleich wurde der Hilfsapparat informiert, und wenn eine Flucht aktuell wurde, brachten oft Helfer fehlende Kleidung (siehe Kapitel 7). Nur eines der Krankenhäuser der Hauptstadt arbeitete eng mit der Staatspolizei zusammen. Das war das Krankenhaus Aker, dessen leitender Oberarzt wahrscheinlich NS-Mitglied war: er unterschrieb seine Briefe an Polizeidirektor Rød stets mit dem NS-eigenen Gruß „Heil und Glück“. In seiner Antwort an die Staats236 Einige Beispiele für solche Fragebögen im RA, Statspolitiet, Judenaktionen, Sicherung jüdischer Patienten. Der Fragebogen wurde später vom Polizeipräsidenten in Oslo wiederverwendet bei der sogenannten Bürgerwacht, als gewöhnliche Bürger, oft sogenannte Jøssinger, als Wachen an Brücken, Industrieanlagen usw. in der Hauptstadtregion rekrutiert wurden. Viele versuchten dem durch Vorlage einer ärztlichen Erklärung zu entgehen, und der behandelnde Arzt musste einen Bogen ausfüllen, der mit dem für die Juden identisch war, nur dass das Wort Jude durch der Betreffende ersetzt war. Beispiele finden sich in NHM, 58, Mappe XX, private Korrespondenz etc. 237 RA, L-sak Oslo politikammer 4031, Bericht der Abteilung für Landesverrat vom 27. Februar 1947. 238 RA, Statspolitiet, Judenaktionen, Sicherung jüdischer Patienten, Abschrift eines Rundschreibens der Osloer Abteilung der Staatspolizei vom 19. November 1942. Das Schreiben war von Rød und Homb unterzeichnet und ging an insgesamt 14 Krankenhäuser.

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polizei schrieb er, er wolle täglich Listen neu eingelieferter Patienten übermitteln, und bat die Polizei, die Juden herauszusuchen: „Es liegt keine Sicherheit darin, dass das Krankenhaus jeden Patienten fragt, ob er Jude ist, denn dann werden vermutlich alle mit nein antworten.“ Auf einer Patientenliste, die das Krankenhaus einschickte, war bei dem Namen Charlotte Hirsch mit Bleistift „Jüdin“ hinzugefügt.239 Weitere jüdische Patienten waren nicht registriert – vielleicht hatten Juden und ihre Helfer begriffen, dass Aker für sie kein gutes Krankenhaus war. Ein zweites Mal ging die Staatspolizei am 24. und 25. November gegen die Krankenhäuser vor, im klaren Hinblick auf die geplante Deportation mit der Donau. Nach polizeieigenen Angaben befanden sich zu diesem Zeitpunkt noch 35 Juden in Krankenhäusern; allerdings waren fünf schon entlassen, ohne dass die Polizei informiert war.240 Die Staatspolizei erhielt sowohl in Oslo als auch an anderen Orten ihren Druck auf Krankenhäuser bis zur Deportation mit der Gotenland und darüber hinaus aufrecht. Am 9. Januar 1943 wurde ein neues Rundschreiben verschickt. Diesmal war der Ton deutlich schärfer: Die Staatspolizei wollte eine Woche vor der Entlassung der Patienten informiert werden. Zudem war der Text ausgeklügelter formuliert: Ob der Patient Volljude ist, wird aus dem Personalausweis hervorgehen, da dieser gegebenenfalls mit einem roten J-Stempel versehen ist. Sofern Zweifel bestehen, ob der betreffende Patient Jude ist, soll er in der Liste aufgeführt werden.241

Aber schon am 15. Dezember schlug Polizeidirektor Rød dem Staatspolizeichef Marthinsen vor, Juden in die Abteilung IV des Krankenhauses Ullevål zu verlegen, weil „ein Teil Juden“ aus Ullevål und anderen Krankenhäusern der Hauptstadtregion geflohen waren. Die Abteilung IV hatte eine Sonderstellung mit kontinuierlicher deutscher und norwegischer Bewachung. Oft wurden Häftlinge aus dem Gefängnis Møllergaten dort behandelt, obwohl es eigentlich eine Abteilung für Geschlechtskrankheiten war. Als Begründung wurde angeführt, dass „Juden aus medizinischen Gründen aus den Krankenhäusern nicht entfernt werden konnten“. Hans Eng schrieb in einem Vermerk zur Sache, die Verlegung dürfte in den meisten Fällen unproblematisch sein, ausgenommen bei bevorstehenden chirurgischen Eingriffen oder bei „unruhigen Geisteskranken“. Aber im letztgenannten Fall müs239 Ebd., Brief des Krankenhauses Aker an Polizeidirektor Rød in der Staatspolizei vom 20. November 1942. 240 Mendelsohn (1986), S. 118 f. 241 RA, Statspolitiet, Judenaktionen, Sicherung jüdischer Patienten, Durchschlag eines Rundschreibens der Abteilung Oslo der Staatspolizei an die Krankenhäuser vom 9. Januar 1943.

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se eine Absprache mit einer Institution, „z. B. dem Krankenhaus Dikemark“, möglich sein. Dort sei das Personal so gut ausgebildet, „dass Fluchten ausgeschlossen sein dürften“. Røds Vorschlag ging auf ein Gespräch zurück, das Polizeiwachtmeister Stian Bech mit dem Krankenhausverwalter von Ullevål geführt und in dem er u. a. die Missbilligung der Staatspolizei über die Flucht so vieler Patienten ausgedrückt hatte. „Davon wusste der Verwalter nichts“, aber Bech konnte ihm berichten, Ullevål sei für die Juden „ein Versteck, in dem sie sich vor der Öffentlichkeit verbergen und dass sie bei passender Gelegenheit verlassen konnten, um alsdann aus dem Land zu fliehen“. Der Krankenhausverwalter bot Bech an, die Kartothek des Hauses durchzusehen, aber bei 2000 Patienten wäre das zweifellos eine große Aufgabe. Bech ließ sich nicht abschrecken und untersuchte zuerst die Abteilung VII: Diese Abteilung hatte ein eigenes Büro, und nach einigem Zögern und Warten konnte ich ihre Kartothek einsehen. Obwohl ich den starken Verdacht hatte, dass sich unter den Patienten der Abteilung mehrere Jüdinnen befanden, konnte ich in der Kartothek keine Judennamen finden. Ich hatte den Eindruck, dass die Krankenschwestern der Abteilung bis hin zum Oberarzt die etwaigen Juden zu beschützen versuchten. Also brachte auch diese Methode nicht viel.

Bech stellte fest, die Juden seien „in Norwegen heute als politische Gegner und als zu sichernde Häftlinge anzusehen“. Daraus resultierte sein Vorschlag, sie in der Abteilung IV in Ullevål zu konzentrieren. Das geschah aber nicht.242 Die Krankenhäuser sahen sich starkem Druck der Staatspolizei ausgesetzt und waren in einer schwierigen Situation. Die einzelnen Abteilungen in Ullevål und die anderen Krankenhäuser der Hauptstadt meldeten jüdische Patienten, aber vermutlich wurden die Helfer der Juden vorweg informiert. Hinzu kamen alle, die in den Krankenhäusern untergetaucht und deren Namen in keiner Kartothek vermerkt waren. Die Staatspolizei war diesen Rettungsaktionen zweifellos auf der Spur, aber sie kam nie weiter als zu dem, was Bech berichtet. Polizeiobermeister Homb, einer von Polizeidirektor Røds engsten Mitarbeitern, organisierte und verfolgte von seinem Büro aus die Jagd auf die Juden. Homb ging selten selbst in die Krankenhäuser; das taten die Wachtmeister Bech und Fokstuen, die die meisten Berichte über die Geflohenen verfasst haben. 242 Ebd., Behälter 16, Weiterleitungsvermerk von Polizeidirektor Knut Rød in der Sache „Betrifft Juden, die aus Krankenhäusern fliehen,“ vom 15. November 1942, Vermerk des Staatspolizeiarztes Hans Eng vom 21. Dezember sowie Bericht des Wachtmeisters Stian Bech vom 14. Dezember 1942.

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VORBEREITUNGEN ZUR DEPORTATION Während die Staatspolizei nach dem 26. Oktober innerhalb und außerhalb der Grenzen der Hauptstadt weitere Folgeaktionen anstieß und immer wieder Listen kontrollierte, um übersehene Juden zu finden, sah sich gleichzeitig auch die deutsche Sicherheitspolizei unter starkem Arbeitsdruck. Sie überwachte genau, was die Staatspolizei tat. Das galt für alle Polizeibezirke, wenngleich immer wieder unterstrichen wurde, dass norwegische Polizei die Verhaftungen vornehmen sollte. In einigen Fällen war auch die örtliche Kommandantur der Wehrmacht beteiligt. Dass die Mitwirkung der Sicherheitspolizei so selten erwähnt wird, ist einer klaren Strategie geschuldet. Sie wollte nicht nur im Hintergrund bleiben, sie wies auch die einzelnen KdS-Gebiete ausdrücklich an, dass deutsche Polizisten sich an den Festnahmen nicht beteiligen sollten. In einigen Fällen baten allerdings Wagner oder sein Mitarbeiter Böhm, dass verhaftete Juden ihnen überlassen werden sollten. Schon am 30. Oktober forderte Böhm, Harry Koritzinsky, der frühere Sekretär der Mosaischen Glaubensgemeinschaft, und Moritz Charles Blumenfeld sollten in das Osloer Gestapo-Hauptquartier verlegt werden. Böhm begründete das damit, dass beide in „Geheimdiensttätigkeit“ verwickelt seien.243 Am 6. November wurde die Bitte, Koritzinsky betreffend, wiederholt.244 Er hatte sich zu diesem Zeitpunkt schon in Sicherheit gebracht, aber Blumenfeld wurde am 1. November von Berg nach Grini verlegt. Durch Koritzinsky hatte die Sicherheitspolizei vor dem 26. Oktober das unwahre Gerücht zu streuen versucht, die Besatzungsmacht plane nach den Ereignissen im Zug nach Halden keine besonderen Maßnahmen.245 Blumenfeld war schon seit dem Herbst 1940, als das Reichskommissariat sein Lokal Humlen beschlagnahmte (vgl. S. 141 f.), starkem Druck der Gestapo ausgesetzt. Am 14. November wurden die Verhaftungen vom 26. Oktober in den Meldungen aus Norwegen erwähnt, den Stimmungsberichten der Sicherheitspolizei an das RSHA in Berlin. Der Bericht, der vermutlich überwiegend auf Wilhelm Wagner zurückgeht, ist in mehrfacher Hinsicht sonderbar. Auch darin suchte nämlich die Sicherheitspolizei den Eindruck zu erwecken, die „enorme Erregung“ der NS-Parteiführung über die Schüsse im Zug nach Halden habe die Verhaftungsaktion ausgelöst. Die norwegische Polizei habe „schlagartig“ reagiert und männliche Juden über 15 Jahren festgenommen. „Einige Juden“, die versucht hätten, nach Schweden 243 RA, L-sak Oslo politikammer, D3325, Brief von Harry Böhm beim BdS IV B 4 an Polizeidirektor Sverre Dürbeck vom 30. Oktober 1942. 244 Ebd., Abschrift eines Briefes der Staatspolizeizentrale an die Abteilung Oslo. 245 RA, S-1725 DaI Behälter 454, Sondervernehmung von Marcus Levin in Kjesäter am 7. November 1942.

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zu fliehen, seien erwischt worden; „einzelne haben sich derzeit in Hütten im Gebirge versteckt.“246 Der Bericht war, milde ausgedrückt, eine Untertreibung der Tatsachen und der klare Versuch, die Verantwortung den norwegischen Kollaborateuren zuzuschieben. In ihrem nächsten Bericht zur Sache räumte die Sicherheitspolizei selbst ein, das Vorgehen gegen jüdische Männer habe in allen Teilen der Bevölkerung zu „Erbitterung“ gegen die Deutschen geführt. Und noch später wies sie darauf hin, die Aktionen seien sogar in NS-Kreisen mit „Verständnislosigkeit“ aufgenommen worden.247 Es sollte später zu Reaktionen im Berliner Außenministerium führen, dass 400 Juden wohlbehalten nach Schweden entkommen waren. Die Deutschen hatten sich zum Ziel der Oktoberaktionen nicht klar geäußert, erst recht nicht öffentlich. Während die Staatspolizei sich darauf konzentrierte, die Opfer zu sammeln und nach Oslo zu schaffen, begann die Sicherheitspolizei ihre Deportation zu planen. Mit Häftlingstransporten hatte die Gestapo Erfahrung, aber diese Sache war anders gelagert: Jetzt sollten ganze Familien mit Frauen und kleinen Kindern deportiert werden. Da musste man mit Reaktionen rechnen. Mit dem 26. Oktober und dem Gesetz zur Einziehung aller jüdischen Vermögen schlug die antijüdische Politik einen klaren radikalen Weg ein. Die zurückgebliebenen Familienmitglieder wurden so streng wie möglich kontrolliert. Die Reaktionen auf die erste Aktionsphase erhöhten auf deutscher und norwegischer Seite den Druck auf die Akteure der nächsten Phase. Wie schon erwähnt, kursierten im Laufe des November immer mehr Gerüchte über das mutmaßliche Schicksal der verhafteten Männer. Ein geflohener Jude wollte aus polizeilicher Quelle erfahren haben, dass Polen das Ziel sei. In den Vernehmungen der Haupttäter nach dem Krieg deutete indes nichts darauf hin, dass „das Ziel“ intern diskutiert wurde. Was die Vorbereitungen zur Deportation betrifft, liegt auch hier vieles im Dunkeln. Aus verschiedenen Gründen suchte man nach dem Krieg die Frage zu verschleiern, und die Verantwortlichkeiten wurden nie wirklich geklärt. Der erste Zeuge, der dazu befragt wurde, war Fridtjof Hammersen, Major und Abwehroffizier und einer der Nazigegner im deutschen Heer, zu denen der Widerstandsmann Arvid Brodersen Kontakt hergestellt hatte.248 In seiner Vernehmung bei dem Prozess gegen Wilhelm Wagner erklärte Hammersen, dass der BdS in Oslo sich beim Transport politischer Gefangener norma246 Ugelvik Larsen et al. (2008), Meldungen aus Norwegen Nr. 47 vom 14. November 1942, S. 874 ff. 247 Ebd. Nr. 49 vom 7. Dezember 1942, S. 934 ff. 248 Brodersen (1904–1996), ein Pionier der Soziologie in Norwegen, hatte in Berlin promoviert, war Deutschlandkenner und hatte 1940 bei den „Reichsratsverhandlungen“ als Dolmetscher gewirkt. Näheres zu Hammersens Unterstützung der Widerstandsbewegung in Brodersens Buch Mellom frontene [Zwischen den Fronten] (1979).

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lerweise an den Transportoffizier der Wehrmacht wandte, der dem Generalstab in Norwegen zugeordnet war. Aber er fügte hinzu, so sei das Verfahren nur dann gewesen, „wenn die Sipo keine eigenen Schiffe hatte“. Nach Hammersen hatte „die Sipo ein großes Interesse, die Transporte so schnell wie möglich durchzuführen“. Seitens des Heeres habe man auf jede nur denkbare Weise „versucht, die Bereitstellung von Transportmöglichkeiten zu vermeiden“. Dies war aber wohl eher generell gemeint, denn Hammersen erklärte auch, der BdS habe eine Transportmöglichkeit „direkt aus Deutschland oder über die Transportflotte Speer“ organisiert, und er deutete an, der BdS habe den Wehrmachtsbefehlshaber General Falkenhorst übergangen. Das sei so weit gegangen, dass Gefangenentransporte den Vorrang vor Urlaubertransporten nach Deutschland bekommen hätten. Speziell zum Transport von Juden sagte Hammersen, diesen – er meinte vermutlich den Donau-Transport – habe der Rotkreuzleiter Heyerdahl durch eine direkte Intervention bei Falkenhorst zu stoppen versucht. „Diese Bitte wurde von Falckenhorst [sic] an den Reichskommissar weitergeleitet mit der Empfehlung, ihr zu entsprechen. Der Reichskommissar, Fehlis und Reinhard lehnten das aber ab.“249 Wilhelm Wagner gab in seiner Vernehmung nach dem Krieg zu, dass er die Verantwortung für die Aktionen in Norwegen hatte, aber er unterstrich, dass „die Festnahme der Juden in Norwegen als Befehl aus Berlin gegeben wurde“ und dass ihm von Fehlis und Reinhard „auferlegt wurde, den Befehl auszuführen“. Er habe auch die Verantwortung dafür gehabt, dass die Aktionen „zufriedenstellend“ abgewickelt wurden. Zur Deportation aus dem Land sagte er klar, dass er dafür die Verantwortung gehabt habe, auch für „Verpflegung, Bewachung usw.“250 Genauer wurde Wagner dazu nicht vernommen. Ebensowenig versuchte die Anklagebehörde festzustellen, wer dem BdS beim Abtransport der Juden aus dem Land beigestanden hatte. So konnten sich die Täter leichter ihrer Verantwortung entziehen und ihre Kenntnis der Transporte leugnen. In dem Telegramm, das der Gestapochef Reinhard in der Nacht zum 25. November an die Stapoleitstelle Stettin schickte – es kam dort um 0.55 Uhr an –, stand ganz klar, dass die Kriegsmarine Schiffsraum für den Transport zur Verfügung gestellt hatte.251 Wagners Befehl an Staatspolizeichef Marthinsen, dass sämtliche Juden mit J-gestempelten Ausweisen festzunehmen seien, erging am 24. November um 20 Uhr,252 also nur vier Stunden vor Reinhards Telegramm nach Stettin. 249 RA, L-dom 2479/47, Vernehmung von Fridtjof Hammersen am 5. Juli 1947. 250 Ebd., Vernehmung von Wilhelm Wagner am 12. April 1946. 251 Bundesarchiv, ZB 7687 A2, Telegramm von Sturmbannführer Rolf Günther im RSHA IV B 4 an den BdS Oslo vom 25. November 1942, 17.45 Uhr. 252 Marthinsens Bericht über die Deportation an Møystad, den Chef der Sicherheitspolizei, datiert vom 27. November 1942 und ist an mehreren Stellen aufbewahrt. Das Original

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Also spricht wenig dafür, dass die Deportation per Schiff vor dem 24. November geregelt war. Alles wurde im Laufe von nur zwei Tagen organisiert. Nach den Protokollen der Osloer Hafenaufsicht kam die Donau am 24. November um 20 Uhr aus Stettin an, und wahrscheinlich wurde ungefähr zu diesem Zeitpunkt festgelegt, dass das Schiff nun zum Abtransport der Juden aus dem Land genutzt werden konnte. Im Protokoll der Hafenaufsicht steht deutlich, wer für das Schiff verantwortlich war, nämlich „KMD“, eine Abkürzung für Kriegsmarinedienststelle Oslo. Auch aus dem Protokoll der Dienststelle selbst, das erhalten ist, geht das hervor. Dort sind die Donau und das Schiff Urundi als besondere Transportschiffe aufgeführt. Die Donau verließ laut Protokoll den Osloer Hafen am 26. November 1942 mit 532 Juden und 62 Mann Bewachung an Bord. Die Urundi kam dagegen am 9. November in Oslo an, mit 999 sowjetischen Kriegsgefangenen, 123 Mann Bewachung, 5 Autos und 44 Tonnen Versorgungsgütern.253 Demnach war es also der Oberbefehlshaber der Marinekommandos in Norwegen, Generaladmiral Boehm, der in letzter Instanz den Abtransport der norwegischen Juden genehmigt hatte. Als er kurz vor Weihnachten 1963 von der deutschen Staatsanwaltschaft zur Sache vernommen wurde, bestritt er das. Die KMD Oslo sei nicht ihm unterstellt gewesen, sondern der Seekriegsleitung in Berlin. Er stellte auch die Frage, ob überhaupt die Kriegsmarine über das Schiff verfügte und nicht vielmehr der Reichskommissar der Seeschiffahrt (Reikosee).254 Der Reikosee – das Amt war erst 1942 eingerichtet worden – hatte seine Vollmachten direkt von Hitler. Er sollte für die Kriegführung noch mehr Schiffsraum rekrutieren und über ihn zentral verfügen. Davon versprach sich Hitler eine effektivere Nutzung der Kapazitäten. Wie in ähnlichen Fällen führte dies aber zu einem Kompetenzgerangel zwischen mehreren involvierten Instanzen. Zum Reikosee ernannte Hitler den Hamburger Gauleiter Karl Kaufmann. Kaufmanns Vertreter in Norwegen war Carlo (Karolus) Otte, einer der Terboven am engsten verbundenen Abteilungsleiter. Konteradmiral Otto Kähler, bis zum 26. Oktober 1942 Verbindungsoffizier zum Reikosee in Oslo, sagte bei seiner Vernehmung in den 1960er Jahren, nur der Reikosee habe einen solchen Transport anordnen können. Die Kriegsmarine habe daher nicht wissen können, ob „Judentransporte“ aus Norwegen stattgefunden hätten. Die Vernehmung zeigt deutlich Kählers Irritation über die Andeutung der Staatsanwaltschaft, die Kriegsmarine befindet sich im RA, L-sak Oslo politikammer D 3525. Der Bericht trägt den Titel Evakuering av jøder. 253 Bundesarchiv Freiburg, RM 45 III-364. Kriegstagebuch KMD Oslo S. 21. 254 Staatsarchiv Freiburg, Vernehmung von Generaladmiral Hermann Boehm am 13. Dezember 1963.

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könne beteiligt gewesen sein.255 Auch Carlo Otte wurde vernommen, aber er behauptete, nie etwas von „Judenaktionen“ in Norwegen gehört zu haben; erst nach dem Krieg habe er von solchen Dingen erfahren.256 In Kapitel 8 werde ich nachweisen, dass Otte über die „Endlösung“ in Norwegen gut informiert war. Im Juli 1943 schlug er vor, Waren aus den in Trondheim beschlagnahmten jüdischen Betrieben in das unter dem Krieg leidende Deutschland zu senden. Dennoch spricht wenig dafür, dass die Donau und später die Gotenland dem Reikosee unterstanden. Im Kriegstagebuch der KMD Oslo sind mehrere Schiffe aufgeführt, die der Reikosee-Verwaltung übergeben wurden, u. a. die deutschen Dampfschiffe Brita, Herman und Ingeborg sowie das norwegische Schiff Stavangerfjord. Aber weder die Donau noch die Gotenland stehen auf der Liste.257 Dass die Kriegsmarine sich der Verantwortung für ihren Anteil an der Deportation der Juden entziehen konnte, liegt auch daran, dass Konteradmiral Eyssen, der damalige Chef der KMD Oslo, 1961 starb und also von der deutschen Anklagebehörde nicht vernommen wurde. Für alle Akteure, die für Schiffstransporte nach und aus Norwegen verantwortlich waren, stand viel auf dem Spiel. Die Kriegsmarine war auf ihr Renommee bedacht; das wird sehr deutlich in den deutschen Versuchen der sechziger Jahre zu ermitteln, was wirklich geschehen war. Die Kriegsmarine hatte die Ehre, im Winter 1944/45 deutsche Zivilpersonen aus Ostpreußen evakuiert zu haben, und war selten mit der Verfolgung oder Ermordung von Zivilpersonen oder dem Transport von Juden in Verbindung gebracht worden. Dennoch war sie zweifellos daran beteiligt, nicht nur in Norwegen, sondern auch in anderen Gebieten, z. B. bei der Deportation von Juden von den griechischen Inseln. Von diesen Dingen wollte sie aber im Nachhinein nichts wissen. Dass auch die Marine von der im Dritten Reich herrschenden typischen antijüdischen Haltung geprägt war, steht außer Zweifel. Wie erwähnt wurde einem norwegischen Juden, der als Elektriker bei der Osloer Hafenaufsicht arbeitete, auf Verlangen des deutschen Hafenkapitäns schon im April 1940 gekündigt.258 Nach der Besetzung wurden in allen norwegischen Häfen deutsche Hafenkapitäne eingesetzt. Es ist durchaus denkbar, dass die Deportation der Juden in der deutschen Heeresleitung in Norwegen intern diskutiert wurde. Vielleicht erklärt sich so der sehr 255 Ebd., Vernehmung vom Konteradmiral Otto Kähler in Kiel am 7. Januar 1964. 256 Ebd., Vernehmung von Carlo Otte in Hamburg am 22. Februar 1964. 257 Bundesarchiv Freiburg, RM 45 III-384, Kriegstagebuch der Kriegsmarinedienststelle Oslo. Eintragungen vom 19. November bis 1. Dezember 1942. 258 RA, S-1725 DaI Behälter 396, Vernehmung von David Rothschild in Kjesäter am 13. November 1942.

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kurzfristige Bescheid an den BdS, dass die Donau für den Transport genutzt werden könne. Die telegrafische Mitteilung Reinhards (oder Wagners) an Eichmanns Referat, dass die Kriegsmarine das Schiff zur Verfügung gestellt hatte, ist nicht erhalten. Das ist aber die Antwort von Sturmbannführer Rolf Günther, einem der Mitarbeiter Eichmanns, denn eine Kopie dieses Telegramms wurde auch der Stapoleitstelle Stettin zugeleitet. Aus Günthers Antwort geht die Information der Osloer Sicherheitspolizei an ihn hervor, dass die Kriegsmarine kurzfristig Schiffsraum bereitgestellt habe. Günther schrieb unmissverständlich und kategorisch: „Die von der Kriegsmarine plötzlich gebotene Möglichkeit, die Juden aus Norwegen abzutransportieren, bitte ich in jedem Fall zu nutzen.“259 Letztlich widersetzte sich die Kriegsmarine also nicht einer solchen Deportation, und sie wollte auch nicht auf andere Weise den Auftrag sabotieren. Generaladmiral Hermann Boehms Kriegstagebuch, das das ganze norwegische Kriegsgebiet von Süden bis Norden erfasst, zeigt sehr klar, dass die Versorgungssituation in Norwegen zu diesem Zeitpunkt äußerst schwierig war und dass es zu wenig Schiffskapazität gab.260 Wahrscheinlich galt das vor allem für Transporte ins Land und weniger für Transporte aus dem Land, aber auch in dieser Richtung war der Mangel fühlbar. Soldaten sollten auf Urlaub fahren, und Fisch und andere Exportartikel sollten nach Deutschland transportiert werden. Dennoch fanden Gefangenentransporte in großem Umfang statt, ins Land und aus dem Land. Nicht nur Juden wurden deportiert, sondern auch politische Gefangene, die in deutsche Konzentrationslager verlegt werden sollten. Paul Grünbeck, Kapitän der Donau von 1940 bis Januar 1945, als sie durch die Sabotageaktion von Max Manus261 im Oslofjord auf Grund ging, wurde 1964 von der deutschen Staatsanwaltschaft im Zusammenhang der Ermittlungen gegen Hellmuth Reinhard und Wilhelm Wagner vernommen. Er erinnerte sich gut an den Transport der Juden nach Stettin 1942, nicht zuletzt weil der Befehl ungewöhnlich war und direkt von der Kriegsmarinedienststelle Oslo kam. Er erklärte ausdrücklich, dass er normalerweise seine Befehle aus Berlin und nicht aus Oslo erhielt.262 259 Bundesarchiv, ZB 7687 A 2, Telegramm von Sturmbannführer Rolf Günther im RSHA IV B 4 an den BdS Oslo vom 25. November 1942, 17.45 Uhr. 260 Bundesarchiv Freiburg, RM 45 III III, Kriegstagebuch des Kommandierenden Admirals Norwegen General-Admiral Boehm vom 16. November bis 20. November 1942, S. 20, „Transportlage“. Das Protokoll ist von Boehm unterzeichnet. 261 Max Manus (1914–1996) war einer der bekanntesten Widerstandskämpfer. Er wurde vor allem durch einige spektakuläre Sabotageakte (Sprengungen) und riskante Fluchten bekannt [Anm. des Übersetzers]. 262 Staatsarchiv Freiburg, F 175/16, Vernehmung von Paul Grünbeck in Oldenburg am 11. März 1964.

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Die Donau war ein typisches deutsches Transportschiff. Es gehörte der Reederei Norddeutscher Lloyd und wurde im April 1940 von der KMD Bremen requiriert. Es war 9035 Bruttoregistertonnen groß, 166 Meter lang, fast 20 Meter breit, und den Schiffsdokumenten zufolge konnte es 1000 Mann sowie 380 Pferde in 10 Pferdeboxen transportieren. Es hatte zwischen 6 und 9 Ladeluken.263 Grünbeck und die Besatzung waren vom Norddeutschen Lloyd angestellt, der für die Nutzung des Schiffes von der Kriegsmarine bezahlt wurde. Die Beschaffung von Schiffstransportraum war für die deutsche Sicherheitspolizei nach dem 26. Oktober die wichtigste Aufgabe. Es unterliegt auch keinem Zweifel, dass Wagner und seine Vorgesetzten im Gestapo-Hauptquartier die bevorstehende Deportation als den entscheidenden Schlag gegen die Juden in Norwegen anstrebten und dass eigentlich alle Juden, die sich im Land befanden, an Bord sein sollten. Wegen der knappen Frist erwies sich das als unmöglich, und schon kurze Zeit nach der Deportation mit der Donau musste ein neuer Schiffstransport vorbereitet werden. Die Deportation von Juden erfolgte in Norwegen ganz anders als in den anderen besetzten Gebieten Westeuropas. Aus Frankreich, den Niederlanden und Belgien gingen die Transporte ganz planmäßig von den verschiedenen Sammelpunkten – Mechelen in Belgien, Westerbork in den Niederlanden, u. a. Drancy in Frankreich – nach Auschwitz und zum Teil in andere Todeslager in Polen ab. Sie wurden von Eichmanns Referat im RSHA zentral organisiert, in der Regel nach Quoten, die Eichmanns eigener Stab festsetzte. Eichmann und sein Mitarbeiter Günther verhandelten selbst mit dem deutschen Verkehrsministerium über diese Transporte. In Norwegen war Eichmanns Stab nicht in gleicher Weise beteiligt. Die Initiative zur Deportation der Juden kam von den deutschen Sicherheitsorganen in Norwegen, nicht aus Berlin. Günthers Telegramm nach Oslo am Nachmittag des 25. November deutet darauf hin. Ein später aufgetauchtes Dokument belegt noch deutlicher, dass Eichmann selbst über die Art des Zustandekommens des DonauTransports sehr aufgebracht war. Das Dokument, dessen Herkunft nicht ganz klar ist, zeigt einen Telegrammentwurf von Adolf Eichmann an den BdS Oslo; er beklagt sich darin deutlich über die „eigenmächtige“ Durchführung des Transports ohne Absprache mit seinem Referat. Er erbat sich eine Erklärung „bis 31. Dezember“ und teilte mit, die Angelegenheit werde Kaltenbrunner, dem Chef der Sicherheitspolizei, gemeldet. „Nur mit Not und akribischer Arbeit“ hätten es seine Leute geschafft, den Weitertransport nach Auschwitz zu organisieren. Der BdS in Oslo bekam den klaren Bescheid, dass diese Art eigenmächtigen Auftretens in Zukunft 263 Bundesarchiv Freiburg, RM 102-3872, Schiffsdokument M.S. Donau.

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nicht toleriert würde.264 Allem Anschein nach war der Transport mit der Gotenland erheblich besser vorbereitet.

DAS SCHICKSAL WIRD BESIEGELT: DIE AKTIONEN VOM 25. UND 26. NOVEMBER Vorbereitungen in Oslo

Erst um 20 Uhr am 24. November erhielt Staatspolizeichef Marthinsen direkt von Wilhelm Wagner den Bescheid, „dass alle Juden mit J-gestempelten Personalausweisen mit ihren Familien aus Norwegen evakuiert werden sollten und dass Schiffsraum dafür zur Verfügung gestellt sei, mit Abfahrt aus Oslo am 26. November um 15 Uhr.“265 Das ist das, was wir wissen. Welche Überlegungen sonst noch angestellt wurden, ist im Dunkel der Geschichte begraben. Doch die deutsche Sicherheitspolizei in Trondheim wurde noch am gleichen Abend über die „endgültige“ Aktion informiert und bestellte sofort Vertreter der norwegischen Polizei zu einer Besprechung in ihre Zentrale. Es eilte. Die Frist war knapp. Marthinsen rief am gleichen Abend seine wichtigsten Mitarbeiter zur Vorbereitung der Aktion zu sich. Auch Wilhelm Wagner war anwesend.266 Polizeirat Ragnvald Krantz wurde beauftragt, am 25. November „Juden aus Krankenhäusern 264 Der Telegrammentwurf wurde am 15. Oktober 2015 dem Museum der Widerstandsbewegung (Norsk Hjemmefrontmuseum) als digitale Fotografievon einem Sammler in den USA zugesandt. Das Museum nahm noch am gleichen Tag Kontakt zu dem Absender auf. Die digitale Datei hatte eine sehr niedrige Auflösung. Am 24. Oktober 2015 erhielt ich von dem Sammler eine Fotografie mit höherer Auflösung. Der Text des Dokuments ist auf dem Telegrammformular des RSHA geschrieben und gerichtet an den „Chef der SiPo u.d.SD in Norwegen“. Er lautet folgendermaßen: „Die obige Dienststelle erwartet zu dem in Marsch gesetzten Schiffstransport vom 25.11. d.J. einen klärenden Bericht bis zum 31.12. d.J. / Die eigenmächtige Behandlung und ohne Absprache mit der / zuständigen Behörde wurde an d n C.d.S. weitergemeldet. / Nur mit Not und akribischer Arbeit ist es der hiesigen Dienststelle gelungen, die etwa 500 Juden von Stettin abzutransportieren. Die / Dienststelle verbittet sich in Zukunft derlei Alleingänge.“ Das Dokument wurde unter der Nummer 112/1942 zu den Akten genommen, aber ist undatiert. Anscheinend ist es von Eichmann selbst unterschrieben. Ich habe das Original nicht selbst gesehen, und die Kommunikation mit dem Sammler war sehr problematisch. Obwohl ich nicht völlig überzeugt bin, spricht vieles dafür, dass das Dokument echt ist. 265 RA, L-sak Oslo politikammer D3525, Bericht von Staatspolizeichef Marthinsen („Evakuering av jøder“) an den Chef der Sicherheitspolizei im Polizeiministerium vom 27. November 1942, S. 1. 266 Mendelsohn (1986), S. 114.

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etc.“ zu verhaften und für den Transport der Juden aus dem Lager Berg nach Oslo zu sorgen. Krantz überließ anderen die unangenehme Aufgabe der Verhaftungen in Krankenhäusern und Institutionen, während er selbst ins Lager Berg fuhr mit Wachmannschaften, die den Transport von dort organisieren sollten. Polizeidirektor Knut Rød hatte die umfassende Aufgabe, die Verhaftungen in Oslo zu organisieren. Zugleich sollte er im Schuppen auf der Landungsbrücke I im Osloer Hafen eine „Empfangsstation“ einrichten lassen. Polizeidirektor Sverre Dürbeck war für die Verhaftungen außerhalb der Stadt verantwortlich und sollte die Transporte der Festgenommenen nach Oslo und später auf die Landungsbrücke I, wenn die Einschiffung dort begann, koordinieren. Polizeirat Lindvig sollte für die in Oslo benötigten Transportmittel sorgen, 100 Taxis und einige Busse, und außerdem Proviant für die Reise beschaffen.267 Es gibt keinen Hinweis darauf, dass die deutsche Sicherheitspolizei oder Wagner das Schiff vor dem 24. November freigegeben hatten. Das Löschen der Ladung sollte dem Bescheid nach erst am 26. November um 7.00 Uhr beendet sein. Wir müssen also annehmen, dass Wagner Marthinsen sehr schnell informierte, nachdem der Beschluss, die Donau zu benutzen, gefasst war. Die knappe Frist war für die Täter psychologisch gesehen günstig. Jetzt galt es, „Blitzaktionen“ zu planen. Wenn alles glattging, war das Ganze nur einen Tag nach dem Ingangsetzen des Apparats überstanden. Dann waren die Juden aus dem Land geschafft. Die deutsche Sicherheitspolizei und Terboven waren auf ziemlich heftige Reaktionen vorbereitet; das zeigen ihre Berichte an das RSHA in Berlin. Die Besatzer hatten für solche Reaktionen ein Gespür Das bedeutete nicht, dass sie bereit waren, das Ziel der Aktionen aufzugeben, wohl aber, dass sie sich den Verhältnissen gern taktisch anpassten. Eine Blitzaktion war also nach ihrer Auffassung vorzuziehen. Sie war ein fait accompli: Die Juden waren schon weg, ehe die Reaktionen sich richtig äußern konnten. Die Geheimhaltung war auch wichtig. Die Staatspolizei und die deutsche Sicherheitspolizei müssen zu diesem Zeitpunkt gewusst haben, dass Warnungen vor dem, was geplant war, durchgesickert waren. Je knapper die Frist war, desto weniger Zeit blieb für Korrekturen. Nachteilig war für die Täter natürlich der Zeitdruck. Der Staatspolizei als Organisator und den überall im Land zur Verfügung stehenden Polizeikräften blieb sehr wenig Zeit, wenn auch diejenigen Juden, die weit weg von der Hauptstadt zu verhaften waren, vor Abfahrt des Schiffes in Oslo sein sollten. Allen Beteiligten 267 RA. L-sak Oslo politikammer D3525, Bericht von Staatspolizeichef Marthinsen (Evakuering av jøder) an den Chef der Sicherheitspolizei im Polizeiministerium vom 27. November 1942, S. 2 f.

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war das klar. Marthinsen schrieb denn auch in seinem Bericht: „Die Zeit zur Vorbereitung einer so umfassenden Aktion war allzu knapp“, ja er behauptete sogar, er hätte eigentlich ebenso viele Wochen benötigt, wie er nun Tage zur Verfügung hatte.268 Auf jeden Fall markierte die erste Deportation das Überschreiten einer Grenze. Für die Täter an zentraler Stelle im Polizeiapparat gab es nun keinen Weg mehr zurück. Dass die meisten Juden bei dem ersten Transport deportiert worden waren, bedeutete, dass die Verbliebenen ebenfalls weg sollten. Mochten manche Täter weiter unten in der Befehlskette auch ihre Zweifel haben, bei den Organisatoren gab es kein Schwanken. Sie waren erst fertig, als die Gotenland am frühen Morgen des 25. Februar 1943 den Oslofjord verließ. Nur eine Handvoll Personen bildeten die Exekutive, die den Gang der Ereignisse lenkte. Wilhelm Wagner und sein Mitarbeiter Harry Böhm waren die Schlüsselfiguren. Schwierige Fragen wurden immer von ihnen entschieden, und was sie sagten, galt als Befehl, auch bei Polizeipräsident Marthinsen. Hinzu kamen die beiden Polizeidirektoren Sverre Dürbeck und Knut Rød. Sie sollten persönlich und mit ihren engsten Mitarbeitern das Fortschreiten der Verhaftungen ständig genau verfolgen, um zu jedem Zeitpunkt sagen zu können, wer noch „fehlte“. In wenigen Fällen griff der Chef Marthinsen selbst ein, z. B. als sich abzeichnete, dass der große Transport von Juden aus Trondheim und Falstad Oslo vor der Abfahrt der Donau kaum erreichen würde. Aber das war die Ausnahme; sonst waren Dürbeck und Rød die großen Organisatoren von Verhaftung und Internierung. Das änderte sich erst Ende Januar 1943. Von da an war die Verantwortung für „Judenangelegenheiten“ allem Anschein nach von der Staatspolizeizentrale auf die Osloer Abteilung und Polizeidirektor Knut Rød übertragen. Einen eindeutigen Befehl, der das bestätigt, gibt es nicht. Aber nach der Blitzaktion vom 25. und 26. November engagierte sich das schwedische Generalkonsulat in Oslo dafür, möglichst viele Juden aus Norwegen zu retten, und in einem Bericht an das schwedische Außenministerium vom 4. Februar 1943 hieß es, „dass Fragen betr. Internierung etc. von Juden, die früher von der Zentrale der norwegischen Staatspolizei für das ganze Land behandelt wurden, seit ein paar Tagen der Oslo-Abteilung der Staatspolizei übertragen sind, auch Personen betreffend, die nicht in Oslo wohnhaft sind.“269 Die Machtstrukturen, die die Tätigkeit der deutschen Sicherheitspolizei ebenso wie die der Staatspolizei im Hintergrund steuerten, werden vor, während und nach den Verhaftungsaktionen kaum sichtbar. Wir werden später in diesem Kapitel auf 268 Ebd., S. 5 f. 269 SRA, Kungliga Utrikesdepartementet, Fragen betreffend die Stellung nationaler Minoritäten in Norwegen, 15. Januar–14. Februar 1943, IV, Handbrief (Diplomatenpost) vom Generalkonsulat in Oslo an Ministerialrat Söderblom vom 4. Februar 1943.

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die Frage der Verantwortung zurückkommen und hier nur konstatieren, dass die genannten Exekutoren der gegebenen Befehle der sichtbarste Teil sind. Manchen Quellen zufolge waren es weder Quisling noch seine Minister, die in letzter Instanz die Aktion befahlen. Wer diese Tatsache überraschend oder gar empörend findet, sollte sich klarmachen, dass das Quisling-Regime in mehr als einer Hinsicht ein typisches Kollaborationsregime war. Sein Einfluss und seine Fähigkeit zu selbständigem Handeln waren begrenzt. Weder Quisling noch einer seiner Minister konnte eine Deportation organisieren. Sie konnten eine Deportation auch nicht stoppen; allerdings deutet auch nichts darauf hin, dass sie das wollten. Teile der Partei, besonders religiöse Kreise, sahen das Geschehen mit Skepsis, aber diese Skepsis wurde nicht deutlich artikuliert. Eine Aktion dieses Ausmaßes hätte nur auf deutliche Weisung einer höheren exekutiven Instanz aufgehalten werden können. Aber die gab es nicht, sie war auch bei der Quislingschen Art der Kollaboration eigentlich undenkbar. Interessant ist ein Vergleich mit einem anderen Kollaborationsregime, das sich auch stark in antijüdischen Aktionen engagierte, dem Vichy-Regime in Frankreich. Während Quislings Herrschaft ganz auf deutsche Bajonette gegründet war, konnte Vichy viel unabhängiger agieren und reagieren. Das hatte zwei Gründe: Vichy kontrollierte wirklich den eigenen Beamtenapparat, und vor allem hatte das Regime eine ganz andere Legitimität als Quisling, weil die französische Nationalversammlung (oder verbliebene Teile) kurz vor dem Zusammenbruch Frankreichs 1940 Pétain nahezu diktatorische Vollmachten übertragen hatte. Zudem hatte Vichy in der französischen Bevölkerung wirklich einen gewissen Rückhalt. Der wurde in dem Maße schwächer, wie die Kriegsereignisse es wahrscheinlicher machten, dass die Alliierten den Krieg gewinnen würden, aber das Regime konnte dennoch bis zuletzt behaupten, die legitime und damit legale Macht zu haben. Die führenden Vichy-Leute waren wie Quisling und seine Minister zutiefst antisemitisch eingestellt. Das Regime stand nicht nur der Besatzungsmacht bei; es führte auch unabhängig von ihr eine eigene antijüdische Gesetzgebung ein. Die jüdische Bevölkerung in Frankreich war natürlich ungleich größer als die in Norwegen, aber während die meisten Juden in Frankreich staatenlos waren, besaßen die meisten norwegischen Juden die norwegische Staatsbürgerschaft. Pétain wollte die staatenlosen – und nach seiner Auffassung kommunistischen – Juden lieber heute als morgen loswerden, aber wollte nicht zur Deportation französischer Juden beitragen.270

270 Vgl. Paxteon (1972).

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Während Pétain und seine Regierung ein gewisses Maß an Unabhängigkeit hatten, war das Quisling-Regime Teil der deutschen Besatzungsherrschaft in Norwegen. Quisling hatte keine Legitimität und keinen Rückhalt in der Bevölkerung. Er konnte auch ohne Zustimmung der Besatzungsmacht – die je nachdem in Hinterzimmergesprächen oder durch Briefwechsel eingeholt wurde – keine Gesetze einführen. In allen Dingen, die die Besatzungsmacht für „lebenswichtig“ hielt, war er Reichskommissar Terboven völlig untergeordnet.271 Quisling hatte selbst von Hitler den deutlichen Bescheid bekommen, dass es sich so verhielt. Zweifellos galt dieses Abhängigkeitsverhältnis genauso für die einzelnen Teile des Verwaltungsapparats, besonders für die Polizei (vgl. Kapitel 2). Quislings Regime war für die Besatzungsmacht in verschiedener Hinsicht vorteilhaft. Vor allem in der Politik gegen die Juden, die in deren Deportation mündete, konnte die Besatzungsmacht immer behaupten, dass Quisling und seine Regierung sie gewollt und sogar ein schärferes Vorgehen befürwortet hatten. Quisling und seine Leute waren mit der radikalen antijüdischen Politik voll einverstanden. Justizminister Riisnæs, Kirchenminister Skancke und vor allem dessen Staatssekretär Feyling machten sich für eine radikale Lösung stark. Man könnte kontrafaktisch fragen: Wenn sie nicht für diese Lösung eingetreten wären, hätten sie sie dann stoppen können? Die Antwort muss wohl ja lauten, denn hätten die Kollaborateure nicht mitgemacht, hätten deutsche Organe selbst die radikale Linie durchsetzen müssen. In letzter Instanz hätte wohl niemand sie daran hindern können, aber die Durchsetzung wäre sehr viel schwieriger gewesen. Die Aktionen hätten dann anderen geähnelt, die ganz in deutscher Hand lagen, wie die gegen die Studenten ein Jahr später oder die gegen die Juden in Dänemark, wo die deutsche Sicherheitspolizei mit Unterstützung durch die Wehrmacht und die deutsche Ordnungspolizei die Verhaftungen vornahm. Mit gutem Grund betont Raul Hilberg die Rolle der Kollaborateure bei der Festnahme von Juden in den verschiedenen von Deutschland kontrollierten Gebieten.272 Besonders die Mitwirkung der jeweiligen örtlichen Polizei war von kolossaler Bedeutung. Die Maschinerie in Norwegen stotterte manchmal, aber nur auf der individuellen Ebene, indem Polizisten „versagten“, weil sie Opfer warnten oder ihnen halfen. Aber im Unterschied zu prinzipiellem Widerstand in Gestalt von Befehlsverweigerung konnten solche individuellen Hilfen die Abläufe nicht wirklich stören.

271 Paulsen (1976), S. 203. 272 Hilberg (1992), S. 75 ff.

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Als die Täter sich entschieden, im Laufe weniger Tage eine totale Säuberungsaktion durchzusetzen, zeigten alle Pfeile in eine Richtung. Die Besatzungsmacht, vertreten durch den Reichskommissar und seine Organe, und das Quisling-Regime handelten in vollkommenem Einvernehmen. Das äußerte sich auch ganz konkret in den einzelnen Teilaktionen. Die Staatspolizei war wie erwähnt im Laufe des Monats November schon mehrmals gegen Krankenhäuser vorgegangen. Am Dienstag, dem 24. November, nahm sie sich die Psychiatrische Klinik des Krankenhauses Ullevål vor. Vier von sieben neu eingelieferten jüdischen Frauen wurden abgeholt. Der Chefarzt Haakon Sæthre protestierte und verhinderte vorläufig, dass die drei anderen auch mitgenommen wurden. Er protestierte offiziell auch beim Verwalter des Krankenhauses, aber bekam die Antwort, „dass nichts anderes zu machen sei, als die Polizei die Patientinnen abholen zu lassen“.273 Die Verhaftungen im Krankenhaus an diesem Tage waren sehr brutal und gaben einen Vorgeschmack auf das, was an den beiden folgenden Tagen geschehen sollte. Sæthre beschrieb die Festnahme so: Einer der Polizisten drängte sich in die Krankenstation, ging durch mehrere Krankenzimmer, in denen die übrigen Patientinnen der Abteilung sich aufhielten, und verlangte, dass eine Patientin, die nicht auf der Verhaftungsliste stand und zu der es keine Papiere gab, sich ankleiden und ihm folgen solle. Es war reiner Zufall, dass der Oberarzt den Polizisten aufhielt und die Patientin zurückhielt. Bei der Verhaftung der jüdischen Patientinnen spielten sich solche Szenen ab, dass der betreffende Polizist es nicht verantworten wollte, zwei von ihnen mitzunehmen.274

Man könnte meinen, dieser Angriff auf das Krankenhaus Ullevål sei schon ein Teil der größeren Aktionen an den beiden nächsten Tagen gewesen, aber das stimmt nicht. Die Frustration der Staatspolizei über die Juden, die in Krankenhäusern geschützt wurden, hatte sich angestaut und brach sich in einer radikalen Aktion Bahn. Am gleichen Tage erhielt also der Staatspolizeichef den Bescheid, die Deportation solle in nur zwei Tagen stattfinden. Das löste wie gesagt hektische Aktivität aus, aber erst gegen 22 Uhr am 25. November ging das Telegramm der Staatspolizei an die Polizeistellen außerhalb des Großraums Oslo ab. Es war kodiert und lautete so: 273 RA, Statspolitiet, Judenaktionen, Behälter 16, Brief des Chefarztes Haakon Sæthre von der Psychiatrischen Klinik des Krankenhauses Ullevål an den Chef der Staatspolizei vom 26. November 1942. 274 Ebd.

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Alle jüdischen Personen ohne Ansehung von Alter und Geschlecht, die auf der Liste sehen, die Sie 1942 an das Polizeiministerium gesandt haben, sowie ihre Kinder und etwaige später zugezogene Personen mit einem ‚J‘-gestempelten Pass sollen umgehend festgenommen und in die Polizeikaserne I in Majorstuen in Oslo transportiert werden, wo sie spätestens am 26. Novbr. um 13.00 Uhr abzuliefern sind. Erforderlichenfalls sind Autos zu benutzen. Sie sollen Essen für vier Tage, Wolldecken und notwendige persönliche Dinge wie die Rationierungskarte mitbringen. Die Wohnungen sind zu verschließen und zu versiegeln. Der Transportleiter soll ein Verzeichnis in 3 Exemplaren mit Namen, Geburtsdaten und Anschriften der Festgenommenen mitbringen.275

Die Verhaftungen sollten demnach sofort vorgenommen werden. Man sollte meinen, ein solches Telegramm hätte früher abgehen müssen, aber der Zeitpunkt war sicher mit Bedacht gewählt. Die Staatspolizei wollte die Aktion so lange wie möglich geheim halten. Aus dem gleichen Grund nahm die Osloer Staatspolizei die Verhaftungen am Mittwoch, dem 25. November, spät am Tage vor. Die älteren Männer, die am 7. November freigelassen worden waren, wurden jetzt von neuem festgenommen. Wie erwähnt wurde einigen der Angehörigen erklärt, sie sollten zurück in das Lager Berg. Erst ab vier Uhr nachmittags und in den folgenden Stunden wurden sie und einige weitere, die in Krankenhäusern gewesen waren, in das Gefängnis Bredtveit eingeliefert. Das Aufnahmeprotokoll verzeichnet bis 1.20 Uhr in der Nacht zum 26. November 33 Männer. Auch zwei Juden, die bisher immer auf freiem Fuß gewesen waren, wurden nun abgeholt. Das waren Jacob Bodd, der Kantor der Mosaischen Glaubensgemeinschaft, und Elias Feinberg, der Leiter der Jüdischen Hilfsvereinigung.276 Bodd hatte die Genehmigung der Staatspolizei, religiöse Angelegenheiten zu regeln; allein im November fanden auf dem jüdischen Friedhof in Oslo drei Beerdigungen statt. Feinberg war verschont worden, damit er sich um die Frauen und Kinder kümmern konnte, die nach der Beschlagnahme ihres Besitzes Hilfe brauchten. Aber schon am Abend des 24. November geschah etwas auch außerhalb von Oslo.

275 RA, L-sak 627, Abschrift des Telegramms des Staatspolizeichefs. 276 Laut Aufnahmeprotokoll von Bredtveit.

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Besprechung im Gestapo-Hauptquartier in Trondheim

Während Wagner und die Staatspolizei die Aktionen vom 25. und 26. November vorbereiteten, hatte der BdS Oslo den Kommandeur der Sicherheitspolizei in Trondheim längst informiert. Der Grund war offenkundig: Das jüdische Milieu in Trondheim war das größte außerhalb der Hauptstadt. Es war wichtig, dass diese Juden so schnell wie möglich nach Süden auf die Reise geschickt wurden, damit sie rechtzeitig zur Deportation in Oslo ankämen. So wie am 6. Oktober in Trondheim praktisch die „Endlösung“ eingeleitet worden war, so wurde hier nun auch der Abschluss vorbereitet. Gegen neun oder zehn Uhr abends am 24. November forderte Gestapochef Hollack den Chef der Trondheimer Staatspolizei, Roar Lund, auf, sich „wegen einer wichtigen Sache“ sofort im Missionshotel, dem Gestapo-Hauptquartier, einzufinden. Zu dem Treffen kamen auch Landerud, der Kommandeur der Trondheimer Kriminalpolizei, und zwei weitere Männer von der deutschen Sicherheitspolizei. Hollack berichtete von dem Befehl aus Oslo, dass alle Juden der Stadt am nächsten Tag gesammelt und nach Oslo geschickt werden sollten. Die Festnahmen sollten um 6.00 Uhr beginnen, und die Juden sollten „den Transport mit dem ersten nach Süden abgehenden Zug antreten.“ Dass sie deportiert werden sollten, sagte er nicht und überließ es den norwegischen Polizisten, alles Praktische zu regeln. Lund und Landerud einigten sich, die Aufgabe zu teilen: Landerud sollte den Transport organisieren, Lund für Verpflegung sorgen. Er bestellte noch für den gleichen Abend Vertreter des Roten Kreuzes zu sich. Mehrere Juden, die in den Tagen nach dem 26. November aus Oslo flohen, erklärten, dass am Nachmittag des 25. November ein Zug mit Juden aus Trondheim in Oslo angekommen sei.277 Das stimmte nicht. Aber eine Nachricht über die Verhaftungen in Trondheim war durchgesickert, sei es über das Rote Kreuz oder über Polizisten, die Kontakt zu Kollegen in Oslo hatten. 277 RA, S-1725 Behälter 454, Vernehmung von Bertha [sic: Berta] und Rosa Amalie London in Kjesäter am 30. November 1942. Die beiden Frauen erklärten u. a.: „Am Mittwoch kamen mit einem Zug die jüdischen Frauen, Kinder und alten Leute nach Oslo, die in Trondheim verhaftet worden waren. Das war ein Hinweis, dass eine ähnliche Aktion in Oslo bevorstand.“ Vgl. auch die Vernehmung von Amalie Goldberg am 28. November: „Am Mittwochnachmittag [25. November, Anm. des Autors] ging das Gerücht in der Stadt um, dass jüdische Frauen und Kinder verhaftet werden sollten. Man hatte erfahren, dass jüdische Frauen und Kinder in Trondheim festgenommen worden und mit einem Zug nach Oslo gekommen waren, und man schloss daraus, dass die gleiche Aktion in Oslo bevorstand.“

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Frühmorgens am 25. November bekamen die Frauen und Kinder in Trondheim Besuch von der Staatspolizei mit dem Bescheid, sie sollten sich „bereit zum Umzug“ machen. Sie würden später am Tag abgeholt. Niemand erfuhr, wohin die Reise gehen sollte.278 Um 10.00 Uhr am 25. November rief der Staatspolizeichef persönlich bei Lund an. Er war überrascht zu erfahren, dass dieser von dem geplanten Transport der Trondheimer Juden nach Süden schon wusste. In seiner Vernehmung nach dem Krieg erklärte Lund, Marthinsen sei „deutlich verblüfft“ gewesen. Der Staatspolizeichef machte dann klar, es müsse sichergestellt werden, dass die Juden spätestens am 26. November um 12.00 Uhr in Oslo ankämen. Lund sagte nach dem Krieg: „Auf diese Weise erfuhr ich zu meiner Bestürzung, dass die Juden außer Landes gebracht werden sollten“. Er antwortete Marthinsen, der Zug aus Trondheim könne frühestens am Spätnachmittag oder Abend des 26. November in Oslo sein. Marthinsen geriet in Wut darüber, dass der Transport „einer so wenig resoluten Person“ wie Landerud überlassen war, und ordnete an, falls kein früherer Zug benutzt werden könne, „wolle er die Juden nicht nach Oslo haben“. Gegen 12 Uhr kam Landerud zu Lund und berichtete, er habe zwei Wagen reservieren lassen, die an einen von der Wehrmacht requirierten Zug gekoppelt werden könnten. Dieser Zug gehe um 13.00 Uhr ab und werde zweifellos vor Abfahrt der Donau in Oslo sei. Lund hielt ihm aber entgegen, „der Verpflegungsapparat könne unmöglich der neuen Situation angepasst werden“, und daher beschloss man, den ursprünglich vorgesehenen Zug zu nutzen, einen fahrplanmäßigen Nachtzug mit Abfahrt gegen 20 Uhr. Lunds Erklärung nach dem Krieg ist äußerst detailliert. Ich habe wohl nie ein Vernehmungsprotokoll gelesen, in dem die Abläufe von einem Angeklagten genauer dargelegt wurden. Normalerweise suchten die Täter ihre eigene Rolle als möglichst unbedeutend hinzustellen, oder sie beriefen sich auf ihr schlechtes Gedächtnis. Am häufigsten trat das Gedächtnisversagen auf, wenn es um eine Aktion gegen Frauen und Kinder ging. Lund dagegen erinnerte sich gut und konnte für sein Handeln andere Zeugen angeben als Hollack und Landerud. Mehr als 40 Jahre später erklärte ein früherer Rat der Trondheimer Ordnungspolizei in einem Interview, Landerud habe Lund vorgeworfen, nicht „hart genug gegen diese Juden zu sein“.279 Ich bin daher nicht im Zweifel, dass Lund versuchte, den Transport zu verzögern. Als Lund wieder mit Obersturmführer Hollack zusammentraf, machte er darauf aufmerksam, dass Marthinsen den Transport nur dann wünsche, wenn er rechtzeitig vor Abfahrt des Schiffes ankomme. Hollack wurde wütend und sagte, 278 NHM 52 C H8, Pressebulletin Nr. 206 vom 12. Dezember 1942, S. 3 f. 279 NHM 115, Teil 1. Interview mit früherem Polizeirat in Trondheim, S. 219.

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der Zug solle abfahren, egal ob er rechtzeitig ankomme oder nicht.280 Und so geschah es. Der Zug verließ als kombinierter Güter- und Personenzug den Bahnhof Trondheim um 19.45 Uhr. In einem Wagen wurden die Frauen und Kinder versammelt, in einem anderen die Männer aus Falstad, die mit einem Zug vom Bahnhof Ronglan nach Trondheim gebracht worden waren. Der Wagen mit den Frauen wurde zuerst an den Zug gekoppelt.281 Sie konnten ihre Männer nicht sehen oder mit ihnen sprechen, bevor der Zug in Oslo ankam. In Hamar wurde der Zug an den von dort abgehenden regulären Personenzug gekoppelt und kam am 26. November gegen 23 Uhr im Osloer Ostbahnhof an. Insgesamt befanden sich 82 Juden im Zug. Sie wurden am 27. November um 1.00 Uhr im Gefängnis Bredtveit registriert, also zehn Stunden nachdem die Donau vom Kai in Oslo abgelegt hatte.282 Eine Zeugin, die Frau von Herman Levin, einem der aus Falstad gekommenen Juden, schrieb später nieder, was sie empfand, als der Wagen der Gefangenen an den Zug gekoppelt wurde. Kristmar Levin hatte von ihrem Bruder erfahren, dass die Gefangenen nach Trondheim kommen sollten. Die Männer aus Falstad waren in elender Verfassung: Sverre und ich standen am Bahnsteig und sahen den Zug langsam hereinrollen [in den Bahnhof Trondheim, Anm. des Autors]. Alle Fenster waren offen, trotz der Kälte, und die Jungs lehnten sich hinaus. Ich erblickte Herman und ergriff seine beiden Hände. So lief ich neben dem Zug her, bis er endlich anhielt, […]. Hermans Gesicht war ganz bärtig, und der Kopf war kahlgeschoren. Das war eine der entwürdigenden 280 NHM 221, Behälter 1, Kopie der Vernehmung von Roar Lund in Snåsa am 26. November 1946. Lund behauptete in seiner Vernehmung weiter, dass er später am 25. November versucht habe, seine Arbeit an der Sache und die der Staatspolizei einzustellen, und deswegen Hollack im Missionshotel aufgesucht habe. Er sei aber nicht durchgedrungen, weil deutsche Beamte am Mittwochnachmittag frei hätten. Obwohl dies zutrifft, darf man bezweifeln, dass Lund ernsthaft vorhatte, seine Arbeit aufzugeben. Aber die übrige Vernehmung ist so genau und stimmt so gut mit anderen Informationen überein, dass man Lunds Auskünfte für korrekt halten muss. In dem Urteil gegen ihn (RA, L-sak Trondheim politikammer D703) wird betont, dass er vermutlich bei dem Transport aus Trondheim ein großes Risiko einging: „Früh am Morgen gab er den Juden Bescheid, sie müssten sich zur Abreise bereithalten, und erst kurz vor der Abfahrt des Zuges am Abend wurden sie von der Polizei abgeholt. Zweifellos ging der Angeklagte mit dieser Vorgehensweise ein großes persönliches Risiko ein, da die Juden die Chance hätten nutzen können zu entkommen. Der Angeklagte benachrichtigte auch das Rote Kreuz, damit dieses sich erforderlichenfalls um die Verpflegung der Juden kümmern konnte.“ Lund wurde am 5. September 1947 zu sechseinhalb Jahren Gefängnisstrafe verurteilt. 281 NHM 52 C H8, Pressebulletin Nr. 206 vom 12. Dezember 1942, S. 3 f. 282 Levin (2015) hat alle zu dem Transport der Juden von Trondheim nach Oslo zugänglichen Dokumente gründlich durchgesehen.

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Die „Endlösung“: Die Juden werden deportiert

Maßnahmen, die die Deutschen gegen die Juden ergriffen. Auf der einen Wange hatte er einen großen Verband. Wegen des Bartes und weil sie sich nicht ordentlich waschen durften, hatte er einen großen Furunkel bekommen. Doktor Leo Eitinger, auch einer der Gefangenen, hatte mit einer Talgkerze und einer Schere ein Loch hineingestochen, aber die Narbe hatte Heman für den Rest seines Lebens.283

Man hat später behauptet, der Transport aus Trondheim sei „sabotiert“ worden, sodass der Zug nicht rechtzeitig in Oslo ankam. Jan Levin, übrigens ein Sohn von Herman und Kristmar Levin, hat in einem Artikel im Jahrbuch für 2015 von Norsk Jernbanemuseum, dem Norwegischen Eisenbahnmuseum, Dokumente über den Transport vorgelegt, die diese Behauptung widerlegen. Der Zug konnte ganz einfach nicht rechtzeitig in Oslo sein. In Hamar hatten die beiden Wagen einen Aufenthalt und wurden an einen fahrplanmäßigen Personenzug überstellt. Die Staatsbahnen arbeiteten bei dem Transport mit dem erwähnten Landerud zusammen, wie aus einem Telegramm vom 25. November hervorgeht.284 Der Transport wurde dem Polizeipräsidenten in Trondheim in Rechnung gestellt, er kostete insgesamt 3045 Kronen; das entspricht heute 6700 Euro. 285 Während der Zug unterwegs war, informierte das Rote Kreuz in Lillehammer Sigrid Helliesen Lund in Oslo, dass ein Zug mit Juden aus Falstad spät am Abend dort ankommen sollte. Helliesen Lund wandte sich sofort an die Staatspolizei und bat um Erlaubnis, bei der Ankunft des Zuges am Ostbahnhof zu sein. Erstaunlicherweise bekam sie diese Erlaubnis – das spricht für ihre Überredungskunst –, und zusammen mit Marie Lous Mohr war sie zur Stelle, als der Zug einlief: Am Ostbahnhof erwartete uns ein merkwürdiger Anblick. Die meisten hatten kein Gepäck, waren offenbar abgeholt worden, wie sie gingen und standen, in Arbeitskleidung, Schürze, dünnen Schuhen; einige wenige hatten Mäntel und etwas Handgepäck.286

Helliesen Lund besorgte Kleidung, Essen und andere Erleichterungen für die Juden aus Trondheim und die anderen, die nach der Abfahrt der Donau in Bredtveit interniert wurden.

283 284 285 286

Levin (2015), S. 118 f. Ebd. S. 116. Ebd. S. 119. Helliesen Lund (1981), S. 99.

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Was in Trondheim am 24. und 25. November 1942 geschah, war in jeder Hinsicht einzigartig. Die örtlichen norwegischen Polizeikräfte wurden tätig, ohne dass ein Telegramm des Staatspolizeichefs eingegangen wäre. Da die Frauen und Kinder schon in drei Wohnungen konzentriert waren, war der administrative Aufwand für die Polizei recht gering. Die Frauen wurden gebeten, sich bereitzuhalten – das ähnelte ganz dem Vorgehen in Ländern, in denen die Juden vorweg in Ghettos konzentriert waren oder – wie in Deutschland – in sogenannten Judenhäusern. Es ist nicht überliefert, dass eine der Frauen oder eines der Kinder am 25. November floh oder untertauchte. Die aus Trondheim entkamen, waren schon im Oktober gegangen oder waren jedenfalls vorher nach Südnorwegen gelangt und von dort aus geflohen (siehe Kapitel 7). Die Verhaftungen außerhalb Oslos am 25. November

Nach norwegischem Geschichtsverständnis ist die Sicht auf das Vorgehen gegen jüdische Frauen und Kinder oft ganz auf ein düsteres Datum konzentriert, den 26. November 1942. Dass die Verhaftungen in zwei Wellen vorgenommen wurden und so, dass es grundsätzlich möglich sein sollte, die allermeisten Juden auf die Donau zu schaffen, wird oft vergessen. Die Aktion in Oslo war natürlich in ihrer Art „ohrenbetäubend“. Aber wir sahen schon, dass die Vorbereitungen in Trondheim gleichzeitig mit dem Treffen zwischen Wagner, Marthinsen, Rød, Dürbeck und den anderen anliefen. In Bergen begannen die Verhaftungen, nachdem der Befehl des Staatspolizeichefs am 25. November gegen 10 Uhr eingetroffen war. Aber die deutsche Sicherheitspolizei war informiert und wirkte mit. Das Besondere an der Aktion in Bergen war, dass sie eine Reihe Personen einbezog, deren Ausweise nicht mit einem J gestempelt waren, die also „von gemischtjüdischer Herkunft“ waren, wie die Nazisten sagten. Vielleicht haben einige Polizisten gemeint, der Ausdruck „sämtliche jüdische Personen“ in dem Befehl des Staatspolizeichefs schließe auch Kinder von Juden in sogenannten Mischehen ein. Diese waren natürlich in den Fragebögen aufgeführt, die die Juden Anfang des Jahres ausgefüllt hatten. Aber man musste schon entweder besonders eifrig oder besonders schlecht informiert sein, wollte man den Befehl so verstehen. Die Verhaftungen in Bergen liefen erst am Nachmittag des 25. November an. Sechs Mitarbeiter der Kriminalpolizei wurden als Helfer herangezogen. Wenn man Per Kristian Sebaks gründlicher Studie über die Juden in Bergen folgt, mussten die Festgenommenen, sollten sie die Donau erreichen, mit einem fahrplanmäßigen

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Die „Endlösung“: Die Juden werden deportiert

Personenzug transportiert werden, der um 16.55 Uhr Bergen verließ und am nächsten Morgen um 7.50 Uhr in Oslo ankam.287 Nicht weniger als vier Polizisten, vermutlich von der Staatspolizei und Kriminalpolizei, fuhren an diesem Nachmittag in zwei Autos zur Schule von Fridalen, um drei Teenager festzunehmen. Zwei von ihnen wurden in ihren Klassenzimmern verhaftet und nach Hause gefahren, damit sie packen konnten. Die Verhaftung der einen, Ruth Kamika, beschreibt Sebak so: Ruth Kaminka ging in die vorletzte Klasse des Englischzweiges. Mitten in der Stunde kam ein in Zivil gekleideter norwegischer Polizist in die Klasse. Ruth musste vortreten und aus der Tür gehen. Sie tat wie befohlen und nahm ihre Bücher und anderen Sachen mit. Die Klassenkameradinnen begriffen nicht richtig, was vorging. Die 18-jährige Ruth sollte verhaftet werden. Draußen auf dem Korridor verlor sie ihre Bücher auf dem Fußboden. Zunächst etwas verwirrt, gelang es ihr, sich so weit zu fassen, das sie den Polizisten fragte, ob sie sich von ihrem Freund verabschieden dürfe, der in die letzte Klasse ging und dessen Klassenraum eine Etage tiefer lag. Das wurde ihr erlaubt.288

Der andere Schüler war Oscar Müller, geboren in Chorzów in Polen, Sohn jüdischer Flüchtlinge. Seinen Vater, Bernhard Müller, hatte die deutsche Sicherheitspolizei schon im Herbst 1940 verhaftet und danach deportiert. Wahrscheinlich war er im Februar 1942 in Dachau gestorben. Im Laufe des Nachmittags wurden 25 Personen, überwiegend sogenannte Halbjuden, in den Obdachlosenarrest des Polizeipräsidiums gebracht. Als die Polizisten zu der Familie Steinfeld kamen, wollten sie nur die drei 13, 10 und 8 Jahre alten Kinder mitnehmen. Ihre Mutter, die „arische“ Elisabeth, durfte zu Hause bleiben. Ihr Mann Jacob war im Lager Berg. Schließlich wurde ihr erlaubt mitzukommen, aber in dem später von der Bergener Staatspolizei erstellten Bericht kommt sie nicht vor. Eigentlich wurden also an diesem Tag in Bergen 26 Personen festgenommen.289 Die Staatspolizei hatte nun ein Problem. Es war nicht möglich gewesen, die Festnahmen so schnell vorzunehmen, dass die Juden mit dem erwähnten Personenzug nach Oslo geschickt werden konnten. Stattdessen sollten sie um 20.40 Uhr einen kombinierten Güter- und Personenzug nehmen. Aber unklar war, ob der 287 Sebak (2008), S. 201. 288 Ebd. 289 Ebd. S. 203. YV, Mappe „Oslo politikammer“ 27.4.1940–30.8.1943, Kopie des Berichts von Johan Bjørgan in der Bergener Staatspolizei vom 30. November 1942.

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Transport auch die sogenannten Halbjuden einbeziehen sollte. Darüber wurde mit der deutschen Sicherheitspolizei in Bergen gesprochen. Dabei griff Kommissar Hans Hartung ein, der auch an der Aktion vom 26. Oktober beteiligt gewesen war. Das führte im Polizeipräsidium zu einer klassischen Selektion: Da man im Zweifel war, ob der Befehl auch für Halbjuden galt, besprach man sich mit der Sicherheitspolizei: Kommissar Hartung, Sipo, und Polizeirat Johansen, Stapo, kontrollierten gemeinsam die Festgenommenen. Die Kontrolle fand in den Räumen des Polizeipräsidiums statt. Kommissar Hartung teilte mit, die Sipo habe neue Direktiven aus Oslo erhalten, nach denen die Verhaftung nur Volljuden betreffe. Daher wurde eine Selektion vorgenommen. Alle Halbjuden wurden freigelassen.290

Es verblieben zehn für den Transport, darunter auch Frauen in sogenannten Mischehen. Nicht weniger als fünf Mann von der Ordnungspolizei unter Führung des Staatspolizei-Wachtmeisters Johansen begleiteten sie als Wachen. Die Juden wurden am 26. November um 23.30 Uhr im Gefängnis Bredtveit registriert, also ungefähr anderthalb Stunden vor Ankunft des Transportes aus Trondheim. In Frafjord nördlich von Stavanger wurden die dort verbliebenen Mitglieder der Familie Reichwald festgenommen. Dorthin war nach der Verhaftung ihres Mannes auch Edith Reichwald, geb. Rabinowitz, gezogen. In Stavanger wurden zwischen dem 25. November 19.30 Uhr und dem 26. November 6.00 Uhr fünf Frauen verhaftet. Frode Sæland schreibt in seinem Buch über die Juden im Bezirk Rogaland, man habe die Festnahme der in den Landgemeinden wohnenden Jüdinnen durch die Ortspolizisten abwarten wollen. Eine ins Krankenhaus der Stadt eingelieferte Frau, die 50-jährige Sofie Joseff, wurde aufgrund eines ärztlichen Attestes verschont. Ihre beiden Töchter Selma Nilsen und Hildur Joseff wurden dagegen zu Hause abgeholt. Vor der Wohnung der 20-jährigen Ada Becker wartete die Staatspolizei ab, bis sie spät am Abend nach Hause kam. Dann erst wurde auch ihre Mutter festgenommen. Beide waren verzweifelt und weinten, wie Nachbarn bezeugten. Folgen wir dem Historiker Frode Sæland, so wurden zusammen neun Frauen und ein Kind im Polizeipräsidium versammelt. Unter den in Stavanger Festgenommenen waren auch Frauen in sogenannten Mischehen, aber diese wurden mit einer Ausnahme (Selma Nilsen) wieder freigelassen. Auch in Stavanger war die deutsche Sicherheitspolizei die ganze Zeit beteiligt. Am 27. November sandte die Staats­ polizei der Stadt einen Bericht an die Abteilung Stavanger der Sicherheitspolizei. 290 Ebd. S. 2 f.

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Erst am 26. November um 7.50 Uhr wurden die Frauen und das Kind, begleitet von zwei Wachtmeistern der Staatspolizei, in einen Zug nach Oslo gesetzt. Um drei Uhr in der Nacht zum 27. verzeichnete des Aufnahmeprotokoll die Ankunft des Transports in Bredtveit.291 Als Polizeidirektor Dürbeck im Januar 1943 wissen wollte, ob sich in Stavanger immer noch Juden befanden, antwortete Ekerholt, der interimistische Chef der dortigen Staatspolizei, es seien nur zwei bekannt. Aber er wollte auch nach der Verhaftung der Frauen und Kinder nicht ausschließen, dass sich noch weitere Personen jüdischer Abstammung in der Stadt aufhielten: „Übrigens halten sich hier mehrere Personen jüdischen Aussehens auf, deren Ausweise aber nicht mit einem J gstempelt sind und deren Herkunft schwer zu klären ist.“292 Auch in den drei nördlichsten Bezirken des Landes wurden die letzten Juden nun gefasst. Die meisten arbeitsfähigen Männer waren schon seit Juni 1941 in Haft (siehe Kapitel 4). Am 26. Oktober waren die verbliebenen Männer festgenommen worden, doch einer, Daniel Caplan, wurde wegen hohen Alters wieder freigelassen und war nach Tromsø heimgekehrt. Jetzt wurde er zum zweiten Mal verhaftet, und das stieß sogar in NS-Kreisen auf Unverständnis. Noch im Sommer 1943 bemerkte ein hoher Offizier: „Selbst wenn man die Juden nicht mag, kann man bei ihrer Verhaftung einigermaßen menschlich auftreten.“ Der Chef der Staatspolizei in Tromsø hatte nämlich einen alten Juden als „Judenschwein“ beschimpft.293 Der alte Jude war niemand anders als Daniel Caplan. Auch ein anderer älterer Jude, Meyer Leib Shotland, wurde im Krankenhaus festgenommen. Beide wurden mit den jüdischen Frauen aus Tromsø und der zweijährigen Ruth Sakolsky mit dem Schnelldampfer nach Süden geschickt. Ein besonderer Bericht über die Verhaftungen wurde am 4. Dezember der deutschen Sicherheitspolizei in Tromsø übergeben.294 Unterwegs in Harstad stieß die 32-jährige Eva Shotland mit ihrem einjährigen Sohn Harry dazu. Sie hatten nach der Beschlagnahme des Hauses und des Ladens, den ihr Mann Isak betrieb, bei der Familie Sollie in der Stadt gewohnt. Ein örtlicher Polizist ging zu ihr, als er erfuhr, dass der Schnelldampfer unterwegs war. Er hatte bange Ahnungen, was mit den beiden geschehen würde, aber Eva Shotland 291 Zusammengefasst nach Sæland (2008), S. 179–183. 292 L-sak Oslo politikammer D 3325, Brief des Büros Stavanger der Staatspolizei an den Chef der Staatspolizei vom 20. Januar 1943. 293 RA, L-dom 985 Oslo, Auszug aus „Notizen von Generalmajor Olbjørns Inspektionsreise nach Nordland, Troms und Finnmark im Juni 1943“, undatiert. 294 RA, Tromsø politikammer, 2360, Justizprotokoll der Staatspolizei Tromsø, Eintragung vom 4. Dezember 1942.

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meinte, dass „sie an einem bestimmten Ort in Europa versammelt werden sollten, einer Art Freistatt für Juden, glaubte sie“. „… Ich für meinen Teil glaubte, dass sie vor die Hunde gehen würden, und so kam es ja auch.“295 Eva Shotlands Antwort war verständlich. Außerdem war ihr Mann schon verhaftet, und die Schwiegereltern und eine Schwägerin waren an Bord des Schnelldampfers auf dem Weg nach Süden. In Sortland wurden die jüdischen Frauen und Kinder aus Narvik an Bord genommen. Zugleich fand Wachablösung statt. Hans Akerøy von der Staatspolizei in Narvik übernahm die Leitung des Transports. Bis Narvik lag die Verantwortung, auch die finanzielle, bei der Staatspolizei in Tromsø. Aber die Fahrkarten, die die Reederei ausstellte, wurden nicht bezahlt. Die Staatspolizei forderte später den Fylkesmann, den Regierungspräsidenten, zur Zahlung auf, aber vermutlich blieb die Rechnung immer offen.296 Akerøy hatte das vorweg geregelt. 800 Kronen – nach heutigem Geldwert 2200 Euro – hatte er bei der Familie Caplan in Narvik eingezogen und „zur Deckung von Transportausgaben in dieser Sache“ mitgenommen.297 Im Ganzen wurden am frühen Morgen des 3. Dezember der Staatspolizei am Osloer Ostbahnhof 15 Juden übergeben. Der älteste, Daniel Caplan, war 72, Ruth Sakolsky war zwei und Harry Shotland ein Jahr alt. Dem dänischen Konsul in Oslo gelang es später, die 26-jährige Sara Caplan aus Narvik und ihre beiden Söhne Sammy (5) und Harry (3) zu retten, weil sie in Dänemark geboren war. Am 18. Februar 1943 konnten die drei den Zug nach Kopenhagen besteigen. Ungefähr ein halbes Jahr danach, am 9. Oktober, mussten sie auch aus Dänemark fliehen. Sie kamen wohlbehalten nach Schweden, aber Sara Caplans Mann Jacob, den sie im Herbst 1943 immer noch im Lager Grini glaubte, war schon längst in Auschwitz ums Leben gekommen.298 Die Begleitung der Juden nach Süden hatte gewissermaßen Akerøys Entschlusskraft auf die Probe gestellt. Als er nach Narvik zurückkehrte, war nämlich der Arzt Oscar Bernstein mit einer scheinbar ernsten Erkrankung in das Krankenhaus der Stadt eingeliefert worden. Seine Frau Sara hatte dem Transport angehört und war 295 NHM 115, Teil 1, Interview mit dem Polizisten am 2. Juli 1985. 296 RA, Tromsø politikammer, 2360, Justizprotokoll der Staatspolizei Tromsø, Eintragungen vom 17. Mai 1943, 29. Oktober 1943 und 7. Januar 1944. 297 RA, Statspolitier, Judenaktionen, Mappe 22, Schreiben betr. Juden N-Ø. Brief der Polizeidirektion Narvik an den Staatspolizeichef vom 8. Dezember 1942. 298 Ebd. Siehe ferner SRA, Statens Utlänningskommission, Lagerarchiv Kjesäter, Vernehmung von Sara Caplan am 6. Dezember 1943. Jacob Caplan wurde am 26. November mit der Monte Rosa deportiert und kam am 19. März 1943 in Auschwitz ums Leben (Totenschein beim ITS).

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nun in Bredtveit. Drei Tage später wurde sie unter der Auflage der Meldepflicht freigelassen und reiste zurück nach Narvik. Das war kein Zufall. Akerøy hatte über Polizeidirektor Sverre Dürbeck an der Freilassung mitgewirkt und versuchte nun auch, beiden Eheleuten die legale Ausreise nach Schweden zu ermöglichen. Einem Kollegen in der Osloer Staatspolizei erklärte er das in einem Brief so: Nun denk nicht, dass ich ein Judenfreund geworden bin, aber du weißt: Keine Regel ohne Ausnahme, und so auch in diesem Fall. Erstens kann ich sagen, dass keine Gefahr darin liegt, sie nach Schweden ausreisen zu lassen. Sie haben sich während ihres Aufenthalts in Narvik völlig passiv verhalten und sich nicht in politische oder sonstige Dinge eingemischt. Sie haben sozusagen ganz für sich gelebt. Ich glaube, wenn man ihnen hilft, so tut man Volk oder Land nichts Falsches an. Die Partei wird jedenfalls davon profitieren. Alle unsere Gegner stellen es ja so hin, als seien wir herzlos und verstünden andere Menschen nicht, und das muss so gut wie möglich widerlegt werden. Ich glaube auch nicht, dass es den Deutschen schadet, wenn sie nach Schweden kommen. Sollten sie z. B. den Deutschen böse sein, so glaube ich, dass sie, wenn sie nach Schweden ausreisen dürfen, einsehen müssen, dass die Deutschen ein gutes Herz haben und gerecht sind.299

Es muss psychologische Gründe haben, dass Akerøy diese Argumente für das Ehepaar Bernstein ins Feld führte, aber nicht für die anderen Juden in Narvik oder gar in ganz Norwegen. Eine legale Ausreise nach Schweden gab es jedenfalls nicht. Dürbeck machte allmählich Druck, er wollte das Ehepaar nach Oslo holen. Aber die Bernsteins waren mit Widerstandsleuten in der Stadt in Kontakt gekommen, und während andere Juden als Gefangene aus ihren Heimatorten in Gefängnisse und Lager geschleppt wurden, gelangten sie in einem versiegelten Bahnwagen nach Schweden.300 Marthinsen und Wagner können nicht geglaubt haben, dass die Juden aus Nordnorwegen rechtzeitig vor Abfahrt der Donau nach Oslo kämen. Aber sie hielten 299 RA, Statspolitiet, Judenaktionen, Mappe 22, Schreiben betr. Juden N-Ø. Brief von Hans Akerøy an Polizeidirektor Storvad vom 21. Januar 1943. 300 Hjmmet Nr. 4 1990: „Wir flohen in einem Eisenbahnwagen, während die Deutschen ein Fest feierten.“ Bernstein hatte, wie in Kapitel 4 erwähnt, schon früher einmal, als er im Lager Südspitze bei Tromsø war, eine Krankheit simuliert. Seine Frau Sara war eine geborene Fischer, und viele ihrer Familienangehörigen, aus Kristiansund, Trondheim und Narvik, wurden in Auschwitz ermordet. Viele von ihnen befanden sich in Bredtveit, als sie freigelassen wurde. In der Reportage in der Zeitschrift Hjemmet sagte sie: „Die Trauer, die ich empfand, als ich mich von meinen Lieben in Bredtveit verabschiedete, wird nie weggewischt werden. Sie wird immer bleiben.“

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das vielleicht für nicht so wichtig. Wäre der Transport aus Trondheim rechtzeitig angekommen, so hätten sie das Hauptproblem gelöst. Es wären danach nicht mehr viele zu Internierende verblieben. In Follo südöstlich von Oslo nahm der Polizeirat Kislegaard das Telegramm des Staatspolizeichefs entgegen. Er befahl den Ortspolizisten seines Bezirks, die erforderlichen Verhaftungen vorzunehmen. Auch in Follo war nicht ganz klar, welche Personen der Befehl einbezog. Lislegaard entschied sich anders als die Staatspolizei in Bergen. Es ging um Cecilie Pettersen, geborene Bild, eine Jüdin, die in „Mischehe“ mit einem dänischen Friseur und Musiker verheiratet war. Die Frage war, „was mit Petersens [sic] Kindern geschehen soll“, wie Lislegaard an den Ortspolizisten in Ås schrieb. Ehe das geklärt sei, solle sie nicht festgenommen werden. Cecilie Pettersen hatte aber gar keine Kinder. Dennoch wurde sie nicht verhaftet und floh später mit ihrem Mann nach Schweden.301 Ihre Mutter, die 61-jährige Tina Bild, und ihre 20-jährige Schwester Ida wurden in Ås festgenommen. Der Ortspolizist fuhr auch zu dem Hof Gulligård und holte Robert Reiss ab, einen 14-jährigen Jungen aus Bratislava. Er gehörte zu der Gruppe tschechischer Kinder, die im Oktober 1939 nach Norwegen gekommen waren. Wie er nach Gulligård gelangt war, ist nicht bekannt, und auch nicht, weshalb der Polizist ihn holte, denn er war nicht als Jude registriert, und dem Telegramm zufolge sollten eigentlich nur Personen mit J-gestempelten Ausweisen und ihre Kinder festgenommen werden. Aber im Unterschied zu den Kindern, die im Winter 1942/43 von den vielen heldenhaften Frauen der Nansenhilfe gerettet wurden, wohnte er bei einer nazistisch gesinnten Familie. Das hätte seine Rettung auf jeden Fall erschwert. Ein anderer Junge aus jener Gruppe, Edgar Brichta, lebte bei einem Pflegevater, der sich den Nazisten angeschlossen hatte und Bürgermeister in Laksevåg bei Bergen geworden war. Dennoch meldete er den Jungen nicht. Die Frauen der Nansenhilfe machten keinen Versuch, ihn zu retten; er lebte bis Kriegsende in Bergen.302 Der Eifer des Ortspolizisten von Ås ließ nichts zu wünschen übrig. Robert Reiss war einer von ganz wenigen nicht registrierten Juden, die bei der großen Verhaftungsaktion am 25. und 26. November abgeholt wurden. Für die Frauen, die für die Pflegekinder aus der Tschechoslowakei verantwortlich waren, war seine Festnahme eine Tragödie.303 Das war sie auch für seine Klassenkameraden, die nicht 301 Das geschah am 8. Dezember 1942. Der Mann, Holger Pettersen, sagte in seiner Vernehmung, dass er „sie nicht allein fliehen lassen konnte“. RA, S-1725 DaI, Vernehmung von Holger Pettersen in Kjesäter am 10. Dezember 1942. 302 Siehe Rossavik (2009). 303 Siehe z. B. Archiv des American Jewish Joint Distribution Committee, Brief von Tove Filseth an Marcus Levin in Alingsås vom 10. März 1943 (ST_0101_00773), in dem sie

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verstanden, warum er verhaftet wurde. 65 Jahre später sagte einer von ihnen zu mir: „Er war genau wie wir anderen, nur seine Haut war etwas dunkler.“304 Die beiden Frauen und der Junge wurden am 26. November in der Polizeikaserne in Oslo der Staatspolizei übergeben. Von dort wurden Mutter und Tochter Bild zusammen mit Frauen und Kindern aus Lillehammer, Elverum, Gjøvik und Osloer Randgemeinden in einem Bus zum Kai der Amerikalinie gefahren, wo die Donau wartete.305 Robert Reiss wurde zurückgehalten, wahrscheinlich weil er keine Eltern oder andere hatte, die für ihn zuständig waren. Am Nachmittag wurde er nach Bredtveit geschickt. Aber auch für ihn gab es keinen Weg zurück: Am 24. Februar 1943 ging er an Bord der Gotenland. Nach Bredtveit kamen später auch zwei andere Kinder aus der Tschechoslowakei, die Geschwister Tibor und Vera Talglicht, die im Bezirk Møre an der Westküste bei Pflegeeltern gelebt hatten. Sie wurden im Januar 1943 denunziert (siehe Kapitel 7). Der Ortspolizist in Oppegård war nicht weniger aktiv als sein Kollege in der Nachbargemeinde Ås. Er hatte zwei Frauen und ihre Kinder zu verhaften., Lilly Anna Gunst mit der zwölfjährigen Gjertrud sowie Helene Knöpfler mit ihren Söhnen Leopold (7) und Odd (2). Beide Frauen waren mit ihren Männern im Herbst 1939 als Quotenflüchtlinge der Nansenhilfe aus der Tschechoslowakei gekommen. Ernst und Helene Knöpfler hatten ihr in Norwegen geborenes zweites Kind zu Ehren des Leiters der Nansenhilfe, Odd Nansen, nach ihm benannt. Gjertrud Gunst wurde von einem Polizisten in Begleitung einer Krankenschwester in der Schule festgenommen.306 In Hønefoss ergriff die Polizei die 23-jährige Lisa Lea Scharff und ihre beiden kleinen Söhne Bjørn Meier (2) und Idar (1), außerdem ihre Schwägerin Jessy. Im Unterschied zu den Frauen aus Oppegård und Ås wurden sie im Auto in das Hauptquartier der Staatspolizei in Oslo gebracht. Von dort wurden 22 Personen aus Tønsberg und anderen Gemeinden des Bezirks Vestfold, darunter der 72-jährige Hausierer Abraham Abosch, im Bus zum Kai gefahren, wo die Donau lag.307 Am Tag vor der Festnahme der Frauen und Kinder in Hønefoss wurde der 31-jährige Herman Rafael Scharff verhaftet. Er war wie erwähnt einen Monat vorher bei der Festnahme der anderen jüdischen Männer in der Stadt verschont woru. a. schrieb: „Man fühlt einen gewaltigen Drang, sich in Arbeit zu vergraben und nach bestem Vermögen zu versuchen, etwas Nützliches zu tun.“ 304 Telefonisches Interview mit Eivind Killingmo aus Kroergranda am 28. Februar 2008. 305 RA, L-sak Oslo politikammer D3325, „Juden festgenommen am 26.11.1942 und von der Polizeikaserne I abtransportiert und am gleichen Tag mit D/S Donau weggeschickt.“ 306 Lilleslåtten und Simastuen (2002), S. 98–102. 307 RA, L-sak Oslo politikammer D3325, „Juden festgenommen am 26.11.1942 und vom Hauptquartier zu D/S Donau transportiert und am 26.11.1942 abgeschickt..“

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den, denn er war, wie der Polizeidirektor dem Staatspolizeichef berichtete, „geistesschwach und hat zeitweise mehrmals am Tage krampfartige Anfälle“. Aber am 23. November wurde die Polizeidirektion angewiesen, ihn dennoch festzunehmen, unabhängig von der Aktion an den folgenden Tagen. Am 24. November erhielt die Polizei eine ärztliche Erklärung, Scharff habe seit seinem vierten Lebensjahr an epileptischen Anfällen gelitten. Die Symptome hätten sich verschlimmert, „sodass er sie oft mehrmals am Tage hat und oft bettlägerig ist“. Aber es gab keine Gnade; am 25. November wurde er festgenommen und noch am gleichen Tag über 130 Kilometer in das Lager Berg bei Tønsberg gebracht. Er muss dort kurz vor Beginn der Selektion angekommen sein, denn er ist im Aufnahmeprotokoll des Lagers nicht aufgeführt. Wohl aber steht er auf der Liste derjenigen, die am frühen Morgen des 26. November mit einem Sonderzug zum Kai in Oslo gefahren wurden. In der Liste stehen jeweils Name, Geburtsdatum, Stellung, Wohnung und Staatsbürgerschaft. Unter „Stellung“ ist bei Scharff „Geistesschwach“ eingetragen, bei Geburtsdatum und Staatsbürgerschaft steht ein Fragezeichen.308 Auf dem Hof Nekstad in Averøy bei Kristiansund wohnte die 32-jährige Mascha Borøchstein mit fünf Kindern im Alter von fünf bis zwölf Jahren. Ihr Mann Abraham war schon im Frühjahr 1942 bei einer von Fleschs Aktionen festgenommen und später zur Zwangsarbeit nach Kvænangen geschickt worden. Nun waren sie und die Kinder an der Reihe. Der Autor Ove Borøchstein berichtet, dass der Ortspolizist Gammelsæther die Familie nicht persönlich aufsuchte. Stattdessen rief er am 30. November den Nachbarhof an und sagte der Nachbarin Tordis Gustad, dass Mascha Borøchstein und ihre Kinder verhaftet werden sollten.: „Ob Frau Gustad so freundlich sein wolle, den Bescheid der Judenfamilie auf dem Hof Nekstad zu überbringen.“ Tordis Gustad wurde wütend und gab die klare Antwort, einen solchen Bescheid müsse er „Manns genug sein, selbst zu vermitteln“. Sie ging danach hinüber und holte Mascha Borøchstein; zwei Kinder kamen mit zum Nachbarhof, wo der Polizist nun näher erklärte: „Er ist der Meinung, dass sie an einen anderen Ort im Land geschickt werden. Wohin, weiß er nicht. Auch nicht, ob sie mit dem Ehemann Abraham wieder vereint werden.“309 Viel Zeit zu Vorbereitungen bekam die Familie nicht. Es blieben einige Stunden bis zur Ankunft einer Taxe, die sie abholte. Sie packten das Allernötigste, und die Wirtsleute auf dem Hof gaben ihnen etwas zu essen mit. Ehe Mascha Borøchstein 308 RA, L-sak Oslo politikammer D3525, Liste der vom Internierungslager Berg nach Oslo transportierten Häftlinge, 27. November 1942. JMO, Hønefoss politikammer, Durchschrift eines Berichts von Wachtmeister Andreas Palerud vom 25. November 1942 sowie Abschrift einer ärztlichen Erklärung von Dr. H. Klouman vom 24. November 1942. 309 Borøchstein (2000), S. 180.

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den Hof verließ, sagte sie den Wirtsleuten, ihre Hilfe für sie und die Kinder werde sie nicht vergessen. Einer ihrer Verwandten, Martin Borøchstein, erklärte lange nach dem Krieg: Johannes Vebestad holte sie mit dem Taxi ab. Er war Bauer. Sein Bruder Herlof hatte eine eigene Taxe, ein schwarzes englisches Auto, und sie ebenso wie wir hatten keine Ahnung, was mit Mascha und der Familie weiter geschehen würde. Der Befehl, sie abzuholen, kam von Gammelsæther, dem Ortspolizisten von Averøy.310

Die Borøchsteins waren die kinderreichste Familie, die aus Norwegen deportiert wurde. In Kristiansund wurden außerdem Gusta Fischer und ihre drei Kinder im Alter von zwölf bis fünf Jahren und eine ältere Frau, Sara Granstein, verhaftet. Sie wurden zur Dampferanlegestelle der Stadt gebracht. Der Polizeidirektor Roald Theisen schickte am folgenden Tag ein Telegramm an das Polizeipräsidium in Oslo: 11 Juden mit Transportleiter gestern von hier abgesandt. Ankommen Oslo über Åndalsnes heute Abend. Erbitte Aufnahme und wenn möglich Überführung nach Grini am Abend. Wenn nicht, erbitte Nachtlogis vor Transport. Erbitte Hilfe für Transportleiter bei Ankunft.311

Das Telegramm verwundert in doppelter Hinsicht. Es war nicht an die Staatspolizei, sondern an das Osloer Polizeipräsidium gerichtet, und der Absender bat um Überführung der Juden nach Grini. Beides widersprach dem Telegramm des Staatspolizeichefs an die Polizeibehörden. Die Frauen und Kinder aus Kristiansund kamen nach Bredtveit; ihre Ankunft dort wurde in der Nacht zum 2. Dezember protokolliert. Sie blieben dort, bis sie am 25. Februar 1943 mit der Gotenland deportiert wurden. Drei Juden waren noch in Kristansund verblieben. Das waren der 76-jährige Jacob Hirsch und seine 73-jährige Frau Frida. Jacob Hirsch war gut eine Woche im Lager Berg gewesen und wurde am 7. November nach Hause entlassen. Das Ehepaar war in schlechter Verfassung, und Polizeidirektor Theisen hatte daher die Tochter Esther (37) bei den Eltern gelassen. Sehr bald kam aber Druck aus Oslo; Dürbeck wollte auch diese drei nach Bredtveit holen. Theisen bat in einem Gesuch an die Staatspolizei um eine Ausnahmeregelung, verwies auf die schlechte Gesundheit der beiden Alten und legte ein ärztliches Attest bei. Das geschah erst am 29. Dezember und in bemerkenswert entschiedenem Ton. Über Esther Hirsch 310 Ebd. S. 183. 311 Zitiert nach Borøchstein ebd. S. 186.

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schrieb Theisen, sie werde nach Oslo geschickt, „falls dem Gesuch nicht entsprochen wird“. Und über die beiden Alten schrieb er kurz und knapp: „Die Eltern sind offensichtlich zu schwach und zu alt, als dass sie transportiert werden könnten, und sie werden daher bis auf weiteres an ihrem Heimatort bleiben.“312 Dürbecks wütende Antwort kam am 6. Januar 1943: Betr. Gesuch der Jüdin Esther Hirsch sowie Schreiben des Angestellten Sogge vom 24.12.1942. Der Jude Jacob Hirsch, geb. 20.5.66, die Jüdin Frida Hirsch, geb. 18.12.68, und Esther Hirsch, geb. 26.5.05, sollen so schnell wie möglich nach Oslo transportiert werden. Der Transport soll so unauffällig wie möglich erfolgen, sodass es keine Gelegenheit zu Menschenansammlungen am Kai gibt wie beim vorigen Transport.313

Dass die Verhaftungen in Kristiansund starke Reaktionen ausgelöst hatten, geht auch aus dem Brief eines Hird-Führers hervor: „Die Leute in Kristiansund zeigen deutliche Sympathie für die Juden. Ihr Auftreten ist eine Demonstration gegen NS, und sie müssen so oder so zurechtgewiesen werden.“314 Weitere Diskussionen gab es nicht. Die drei wurden nach Bredtveit transportiert und dort am 17. Januar 1943 registriert. Gut einen Monat später wurden sie deportiert. Ganz offensichtlich hatte die Polizei in Kristiansund wie die Staatspolizei in Narvik und der Polizist in Akerøy nach dem Abtransport von Frauen und Kindern nach Oslo kalte Füße bekommen. Die Staatspolizei wusste sehr gut, dass Menschen zusammengekommen waren, um Lebewohl zu sagen, als die Frauen und Kinder weggeschickt wurden. Die Aktion war für Theisen und seine Leute eine Belastung gewesen, aber sie wurde durchgezogen, und letztlich wurde auch das alte Ehepaar Hirsch davongeschickt. Es war so gut wie unmöglich, die Maschinerie anzuhalten, die jetzt angelaufen war. Diskussionen mit den führenden Leuten der Staatspolizei waren jedenfalls nicht die geeignete Methode. Es bedurfte eines besonderen Durchsetzungsvermögens oder illegaler Methoden.

312 RA, Statspolitiet, Judenaktionen, Mappe 21, Schreiben betr. Juden I-M, Brief von Polizeidirektor Theisen an die Staatspolizei vom 29. Dezember 1942, als Antwort auf Polizeidirektor Dürbecks Rundschreiben vom 6. Dezember an die Polizeibehörden mit der Anfrage, ob in den einzelnen Bezirken noch immer Personen mit J-getempelten Ausweisen lebten. 313 Ebd., Durchschlag eines Briefes von Polizeidirektor Dürbeck an Polizeipräsident Theisen vom 6. Januar 1943. 314 Sande (1999), S. 301.

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Die „Endlösung“: Die Juden werden deportiert

Regeländerung in letzter Minute: Selektion im Lager Berg

Wie wir sahen, verliefen die Verhaftungen außerhalb Oslos am 25. November nicht störungsfrei. In Bergen wurden 26 Personen festgenommen, aber nur 10 wurden nach Oslo weitergeleitet. Hauptsturmführer Hartung und die Staatspolizei mussten im Polizeipräsidium eine Selektion vornehmen (vgl. S. 355). Was war geschehen, und was für eine neue Richtlinie hatte Hartung erhalten? Der BdS hatte wie erwähnt das RSHA in Berlin über die für den 26. November vorgesehene Deportation informiert. Wann das Telegramm abging, wissen wir nicht, aber wir kennen die Antwort des RSHA, da eine Mappe mit Dokumenten zur Deportation der norwegischen Juden in der Stapoleitstelle Stettin erhalten ist. Am 25. November um 0.55 Uhr hatte der BdS in Oslo seine Kollegen in Stettin benachrichtigt, aber wir müssen annehmen, dass das RSHA schon vorher informiert worden war. Gleichwohl: Aus der Antwort aus Berlin geht hervor, dass das (nicht erhaltene) Telegramm aus Oslo auch erst nach Mitternacht einging.315 Erst um 17.45 Uhr am 25. November antwortete Eichmanns Referat, und diese Antwort führte nun sowohl bei der deutschen Sicherheitspolizei als auch bei der Staatspolizei zu hektischer Aktivität. Sturmbannführer Rolf Günther, Eichmanns Mitarbeiter und Deportationsexperte, fügte nämlich für die bevorstehende Deportation genauere Richtlinien bei, die der BdS und Wagner in Oslo offenbar nicht kannten: 1) Deportiert werden können nur Personen, die nach den vorliegenden norwegischen Bestimmungen [als Juden] gelten und zugleich Staatsbürger Norwegens, des Deutschen Reiches, der Slowakei, Kroatiens und der von Deutschland besetzten Länder sind. (Unter Hinweis auf unsere Verordnung vom 28.7.42 – IV B 4 a – 2644/42 – dürfen Juden, die Staatsbürger des britischen Imperiums, der USA, Mexicos, der mittelund südamerikanischen Feindstaaten sowie der neutralen Länder und alliierten Länder wie Italien, Ungarn, Bulgarien, Rumänien usw.) unter keinen Umständen verschifft werden. 2) Von der Evakuierung sollen ferner ausgenommen werden: a) Deutsche und norwegische Juden in Mischehen und ihre Kinder. b) Jüdische Mischlinge, die nicht als Juden gelten, und ihre Familienmitglieder. Eine Trennung von Eheleuten und eine Trennung von Eltern und Kindern unter 14 Jahren muss vermieden werden.316 315 Bundesarchiv, ZB 7687 A 2, Telegramm des Sturmbannführers Hellmuth Reinhard beim BdS an die Stapoleitstelle Stettin vom 25. November 1942, 0.55 Uhr, Vermerk „109898“. 316 Ebd., Telegramm von Sturmbannführer Rolf Günther im RSHA IV B 4 an den BdS Oslo

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Günthers Telegramm wirkte wie eine Regeländerung mitten im Spiel. Plötzlich sah alles anders aus. Der Kreis der Opfer wurde beschränkt. Das Wichtigste war, dass nicht alle, die J-gestempelte Ausweise hatten, deportiert werden sollten. Und das wurde verfügt, als die Festnahmen überall im Land schon begonnen hatten und die Planung der großen Verhaftungsaktion in Oslo so gut wie abgeschlossen war. Polizeirat Kranz und 25 Mann waren zu diesem Zeitpunkt auf dem Weg nach Tønsberg und zum Lager Berg. Bei den Staatsbahnen war ein Sonderzug bestellt. In einem Telegramm der Zentrale an die Chefs der Bahndirektionen Drammen und Oslo hieß es, ein Zug mit „G-Wagen“ für zusammen 302 Gefangene und 25 Wachmänner solle „auf Rechnung der Staatspolizei“ folgendermaßen verkehren: Sonderzug ab Tønsberg ca. 5.00 Uhr (Einsteigen am Internierungslager Berg bis 5.30 Uhr), Abfahrt Drammen 8.30 Uhr, Ankunft Oslo West 10.05 Uhr, von wo der Transport bis 12.00 Uhr zur Landungsbrücke I weiterzuleiten ist. Die Rechnung ist vom Bahnhof Tønsberg auszustellen und per Dienstpost hierher zu senden. Der Transport ist geheim zu halten.317

Nun lebten ziemlich viele der in Berg internierten Juden in „Mischehen“. Die Selektion im Licht von Autoscheinwerfern in der Nacht zum 26. November soll die erschütterndste Episode in der Geschichte des Lagers gewesen sein. Gleichzeitig mussten Marthinsen und seine Leute in der Staatspolizei neue Telegramme losschicken, und Polizeidirektor Rød musste aufgrund von Günthers Richtlinien ganz neue Anweisungen erstellen für die Verhaftungen, die wenige Stunden später, frühmorgens am 26. November, in Oslo beginnen sollten. Dabei machten alle anderen Aufgaben im Zusammenhang mit der Verhaftungsaktion und der Einschiffung schon genug Mühe. In der „Empfangsstation“, die auf der Landungsbrücke I eingerichtet werden sollte, wollte Rød selbst mit Wagner und Böhm anwesend sein. Trotz der neuen Anweisungen konnte man nicht sicher sein, dass die zum Kai gebrachten Juden tatsächlich das Land verlassen sollten. Es stellte sich denn auch heraus, dass mehrere Personen schon an Bord der Donau waren, ehe – oft rein zufällig – bemerkt wurde, dass sie nicht deportiert werden sollten. Auch mehrere Juden mit ausländischer Staatsangehörigkeit wurden am 26. November deportiert. und mit „Kopie“ an die Stapoleitstelle Stettin vom 25. November 1942, 17.45 Uhr. Die Worte „als Juden“ sind eingeklammert, weil Juden beim Versenden des Telegramms vergessen wurde oder verlorengegangen ist. 317 NSB, Zentralleitung, Verkehrsabwicklung, Kopiebuch, Telegramm der Verkehrsabteilung an die Direktionschefs in Oslo und Drammen vom 25. November 1942. – Dank an Ole Arild Vesthagen. NSBs Archiv wurde später in das RA eingegliedert.

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Die „Endlösung“: Die Juden werden deportiert

Das bereitete dem deutschen Außenministerium und Eichmann persönlich später einige Probleme. Aber besonders mühevoll war es natürlich, alle Juden zurückzuhalten, die in sogenannten Mischehen lebten. Der administrative Aufwand wäre zweifellos viel geringer gewesen, wenn man alle Juden mit J-gestempelten Ausweisen hätte verhaften sollen. Von den 1428 Personen mit dem J im Ausweis lebten 143, also ungefähr zehn Prozent, in Mischehen. Wie konnte es zu diesem Chaos kommen? Es gibt eigentlich nur eine einleuchtende Erklärung. Die ganze Aktion in Norwegen bis hin zur „Endlösung“ war nicht in enger Zusammenarbeit mit Eichmanns Referat im RSHA in Berlin geplant, sondern die Initiative ging von Norwegen aus. Der unlängst bekannt gewordene Telegrammentwurf von Eichmann persönlich an Gestapochef Reinhard in Oslo (vgl. S. 342) weist darauf hin. Die Schüsse im Zug nach Halden hatten den nötigen Vorwand geliefert, und daraufhin wurde ein Apparat in Gang gesetzt ohne Rücksicht auf Direktiven aus Berlin, die für alle besetzten westlichen Gebiete galten und auf den Erfahrungen Eichmanns und seines Stabes beruhten. In Günthers Telegramm wird ein Erlass vom 28. Juli 1942 erwähnt, den der BdS in Oslo eigentlich hätte kennen müssen. Er besagte, dass Juden aus verschiedenen „Feindstaaten“ sowie neutralen und mit Deutschland alliierten Ländern vorläufig nicht deportiert werden sollten. Grund dafür waren die Komplikationen, die andernfalls entstehen konnten. Britische Juden sollten also grundsätzlich nicht wie andere Juden behandelt werden, sondern wie britische Zivilpersonen; sie sollten wie diese in Lagern für Zivilpersonen aus Feindstaaten interniert werden. Ausgenommen waren natürlich sowjetische Bürger, für die keinerlei Rücksichten galten. Hier spielte ein übergeordnetes politisches Ziel hinein: Deutschland wollte Zivilinternierte aus Feindstaaten gegen Kriegsgefangene in alliierten Lagern austauschen. Bei Juden aus Ungarn, Rumänien, Bulgarien und Italien musste Deutschland einkalkulieren, dass diese Länder nicht automatisch der Deportation „ihrer“ Juden zustimmten, auch nicht aus Deutschland oder aus Gebieten, die von Deutschland besetzt waren. Das deutsche Außenministerium, besonders die von Unterstaatssekretär Martin Luther geleitete Abteilung, setzte Deutschlands Verbündete unter starken Druck, um ihre Staatsbürger, die sich außerhalb der jeweiligen Landesgrenzen befanden, deportieren zu können.318 Wenn Fehler gemacht wurden und ungarische oder rumänische Bürger deportiert wurden oder „verschwanden“, führte das zu langen Briefwechseln über einzelne Juden. Das war für das Außenministerium und Eichmanns Referat sehr lästig. 318 Lozowick (2000), S. 114–122. Das von Rolf Günther unterzeichnete Rundschreiben des RSHA IV B 4 wird auf S. 114 behandelt.

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Es kann natürlich sein, dass der Erlass zu diesen Fragen im Juli dem BdS in Oslo aus irgendeinem Grund nicht zugegangen war, aber das ist wenig wahrscheinlich, da Günther selbst sich auf die Zustellung bezieht. In Norwegen lebten nur wenige Juden mit ungarischer oder rumänischer Staatsbürgerschaft, aber es gab sie. Doch deutet nichts darauf hin, dass Adolf Eichmann und seine Leute vor dem November 1942 die Verhältnisse in Norwegen überwachten oder irgendwie versuchten, auf Entwicklungen in Norwegen einzuwirken. Im Gegenteil, alles spricht dafür, dass das RSHA keinen Druck ausgeübt oder gar Deportationen aus Norwegen angeordnet hat. Hätte es das getan, hätten Wagner und seine Leute den Erlass vom 28. Juli 1942 gut gekannt. Die Initiative zur Lösung der „Judenfrage“ in Norwegen entsprang den Ereignissen selbst. Der wachsende Widerstand gegen die Besatzungsmacht, der Ausnahmezustand in Trondheim und die Schüsse im Zug nach Halden machten eine Vergeltung wünschenswert und möglich. Norwegen war in mancher Hinsicht ein Beispiel für das Funktionieren einer „kämpfenden Bürokratie“. In Trondheim hatte Flesch alle jüdischen Betriebe beschlagnahmt, mehrere Juden terrorisiert und andere hingerichtet. Seine Politik ging von der Annahme aus, die Juden seien ein Sicherheitsrisiko und müssten daher abgedrängt, ausgeschaltet und schließlich entfernt werden. So hatte Flesch den Standard gesetzt; nun war es an der Zeit, mit den Juden ein für allemal abzurechnen, wie Justizminister Riisnæs es in einem Brief an Polizeiminister Lie ausdrückte (vgl. S. 283). Günthers Telegramm enthielt auch eine Reihe spezifizierter Anordnungen. Die Juden sollten Essen für nicht weniger als 14 Tage mitnehmen und mit Arbeitskleidung, Schuhen, Unterwäsche, Bettzeug und Essbesteck versehen sein. Aber sie sollten keine Wertpapiere, Sparbücher, Gold- und Silbersachen (außer Eheringen) und kein lebendes Inventar, also Haustiere, mitnehmen. Das alles gehörte zu Eichmanns psychologischer Kriegführung; die Opfer sollten bis zuletzt glauben, das Ziel der Deportationen seien Arbeitslager. Das Telegramm schloss mit einer sehr wichtigen Klarstellung: Ferner bitte ich darauf hinzuwirken, dass abgeschickte Juden mit dem Verlassen norwegischen Territoriums ihre Staatsbürgerschaft verlieren und dass die norwegische Regierung es danach unterlässt, Fragen nach einzelnen Juden zu stellen. Eine Rückführung abgeschickter Juden nach Norwegen kommt jedenfalls nicht in Frage.319

319 Bundesarchiv, ZB 7687 A 2, Telegramm von Sturmbannführer Rolf Günther im RSHA IV B 4 an den BdS Oslo mit „Kopie“ an die Stapoleitstelle Stettin vom 25. November 1942, 17.45 Uhr.

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Dass dieses Wunschziel dem Quisling-Regime vermittelt oder mit ihm diskutiert wurde – sei es auf Beamtenebene oder mit einzelnen Ministern –, ist durch keine deutlichen Quellen belegt. Es ist aber wahrscheinlich, dass Wagner in Gesprächen mit der Staatspolizei oder sogar auf höherer Ebene die Frage aufgegriffen hat. Kein Gesetzestext regelte, was geschehen sollte, wenn Juden mit norwegischer Staatsbürgerschaft das Land freiwillig oder unfreiwillig verließen. Auch die am 1. März 1942 eingeführte Grundgesetzänderung, der „Judenparagraph“, aberkannte norwegischen Juden nicht – wie der Zusatz zum Reichsbürgergesetz in Deutschland – die Staatsbürgerschaft. Dieser Zusatz zu den Nürnberger Gesetzen, eingeführt im September 1941, stellte klar, dass deutsche Juden nach Verlassen des Reichsgebietes keine Staatsangehörigkeit mehr hatten; sie waren staatenlos. Norwegische Regierungsmitglieder oder andere Offizielle fragten indes so gut wie nie nach einzelnen Juden. Einige wenige Ausnahmen gibt es. Polizeidirektor Sverre Dürbeck fragte am 2. Dezember 1942 in einem Gesuch an die deutsche Sicherheitspolizei, ob der Ingenieur Paul Borinski, ein Flüchtling, freigelassen werden könne: „Dr. Borinski sollte auf Anordnung des Staatspolizeichefs freigelassen werden, aber infolge eines Missverständnisses ist er am 26.11.1942 mit den anderen mit der Donau deportiert worden.“ Eine Antwort Wagners liegt nicht vor. Borinski hatte in einer chemischen Fabrik in Bergen gearbeitet und dort geholfen, die Produktion effektiver zu machen. Am 2. Dezember 1942 war der 61-jährige Mann vermutlich längst in den Gaskammern von Auschwitz ermordet.320 Die größte Gruppe, die an Bord der Donau ging, waren die Männer aus dem Lager Berg. Polizeirat Ragnvald Krantz war am 25. November dorthin gereist mit Wachmannschaften, die die Juden nach Oslo begleiten sollten. Der Sonderzug war auch erst am 25. November bestellt worden. Wie bei dem Transport aus Trondheim zeigten die Staatsbahnen, dass sie kurzfristig improvisieren konnten (siehe S. 345). Von Juden war nicht ausdrücklich die Rede, aber allen Beteiligten war klar, dass sich im Lager Berg nur Juden befanden. Die Staatspolizei wollte ursprünglich alle Häftlinge mit J-gestempelten Ausweisen nach Oslo bringen, denn Wagner hatte ja zunächst keine Einschränkungen genannt. Sie – genaugenommen das Polizeiministerium – musste denn auch für die Beförderung von 302 Häftlingen und 25 Mann Bewachung (mit Krantz 320 RA, Statspolitiet, Judenaktionen, Behälter 17, Durchschlag eines Briefes von Sverre Dürbeck an die deutsche Sicherheitspolizei, wahrscheinlich vom 2. Dezember 1942 (wenngleich im Brief irrtümlich „2.11.“ steht). Borinskis Frau war auch in Bergen. Sie wurde am 25. November übersehen, jedoch am 6. Januar 1943 von der Bergener Staatspolizei in ihrer Wohnung abgeholt und am 22. Januar im Gefängnis Bredtveit registriert. Am 25. Febuar 1943 wurde sie mit der Gotenland deportiert.

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eigentlich 26) zahlen und nicht für die Zahl der tatsächlich beförderten Personen. Am Abend des 25. November bekamen die Männer in Berg Wind davon, dass etwas bevorstand. Zwei Führer der Wachmannschaften, Einer Hansen und Ingar Johansen, kamen in die Baracken und sagten, alliierte Streitkräfte seien in Norwegen eingefallen; daher sollten die Gefangenen im Laufe der Nacht in ein anderes Lager verlegt werden. Früh um vier Uhr am 26. November bekam jeder zwei Brote und sechs Heringsbuletten. Die Gefangenen begriffen, dass der Transport einige Zeit dauern würde. Als ihnen gesagt wurde, Oberbekleidung, Gummistiefel und Skistiefel sollten im Lager bleiben, war vielen klar, dass sie das Land verlassen sollten. Oskar Wulff hat später berichtet, was dann geschah: Der Appell kam, und wir wurden wie Tiere aus den Baracken gejagt, um uns alsdann auf dem Platz vor Baracke 1 aufzustellen. Da es natürlich eine Weile dauerte, bis die Kranken aus dieser Baracke sich in der Dunkelheit zurechtfanden, ging es Lindseth zu langsam, und er schrie ‚Mannschaftsführer‘ Hansen zu: ‚Sieh zu, dass du sie raus kriegst; weißt du nicht, dass es nur Juden sind?‘ Einzelne waren so krank, dass sie auf Bahren getragen werden mussten. Sie wurden neben uns anderen platziert. Nur im Lichtschein von ‚Major Wallestads’ Auto wurden alle in alphabetischer Reihenfolge aufgerufen und zugleich sortiert. Alle, die mit jüdischen Frauen verheiratet waren, wurden in eine Gruppe gestellt. Alleinstehende kamen in eine andere. Alle, die ‚arische‘ Frauen hatten, waren die dritte Gruppe. Die beiden ersten Gruppen mussten auf Kommando zur Bahnstrecke hinuntergehen, wo der Zug wartete, der sie nach Oslo und an Bord der Donau bringen sollte zum Transport nach Deutschland, wo die allermeisten gleich den Tod in den Gaskammern fanden, während der Rest binnen kurzer Zeit misshandelt und durch Hunger umgebracht wurde. […] Wir ‚arisch‘ Verheirateten, die zurückblieben, wurden mit Erschießen bedroht, falls wir unseren Ehestand falsch angegeben hätten. So waren wir noch ungefähr 70 im Lager, und wir merkten schnell, dass 280 Mann weg waren. Nie war in Berg die Schufterei bei der Arbeit so hart wie in der nun folgenden Zeit.321

321 Harry Wulff, Privatarchiv Oskar Wulff, undatierter Bericht, verfasst für Carl Haave und Sverre J. Herstad, die das Gefangenenbuch Quislings hønsegård [Quislings Hühnerhof] (1948) redigierten. S. 2. Wulff war sehr aufgebracht darüber, dass sein neun Seiten langer Bericht von den beiden nur in geringem Maße benutzt wurde. Auf Seite 9 bemerkt er trocken: „Von dem, was ich hier geschrieben habe, finden sich 7 – sieben – Zeilen in einem Abschnitt des Buches, der nach Meinung der meisten bei weitem kein richtiges Bild dessen vermittelt, was eigentlich im Internierungslager Berg geschah.“

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Zu denen, die mit dem Zug weggeschickt werden sollten, gehörte Oskar Wulffs Bruder Alfred. Alfred war mit Olga Wulff verheiratet und Vater der Tochter Doris. Mutter und Tochter wurden einige Stunden später festgenommen. Auch andere hatten Brüder und Väter, die nun weggeschickt wurden. Einer von ihnen war Moritz Gorvitz. Sein Vater und vier Brüder waren auch im Lager. Als die Gefangenen das wenige packten, das sie mitnehmen durften, beschlossen sie untereinander, die Brote und Heringsbuletten in Moritz’ Koffer zu packen. Moritz blieb aber zurück, weil er „arisch“ verheiratet war, und sein Vater und die Brüder mussten ohne etwas zu essen den Weg antreten. Das bedrückte Moritz für den Rest seines Lebens. Einige wenige wurden aus anderen Gründen zurückgehalten. Die deutsche Sicherheitspolizei verdächtigte eine Handvoll Männer, gehamstert oder eine Flucht versucht zu haben. Sie wurden am 10. Dezember nach Grini verlegt, und die meisten von ihnen wurden später mit der Gotenland deportiert. Zwei Häftlinge, Sigurd Dickman und Paul Spielmann, waren im Zug, obwohl sie in sogenannter Mischehe lebten. An den Ehen der beiden bestanden Zweifel. Spielmann, der am 26. Oktober unter dramatischen Umständen im Kino verhaftet worden war, wurde in der bedrohlichen Stimmung so nervös, dass er freiwillig in die Gruppe ging, die zum Zug hinunter sollte. Nach dem Krieg wurde das denen berichtet, die gegen Landesverräter ermittelten, und Spielmann wurde per Anzeige gesucht.322 Er war da längst in Auschwitz ums Leben gekommen.323 Auf der Liste, die Krantz und seine Leute über die aus Berg abtransportierten Häftlinge anfertigten, stehen 227 Namen.324 Mehrere Namen wurden später durchgestrichen und einer hinzugefügt. Die durchgestrichenen Namen gehörten Männern, die mit „arischen“ Frauen verheiratet waren. Von Hand hinzugefügt war der Name Isak Jaffes, eines 60-jährigen Mannes, der allem Anschein nach blind war und am 25. November aus dem Krankenhaus ins Lager gebracht worden war. Gleichzeitig wurde sein Vater, der fast 82-jährige Markus Jaffe, mit seiner Frau Esther und der 22-jährigen Enkelin Eva Marie in Tønsberg festgenommen und per Auto nach Oslo ins Hauptquartier der Staatspolizei gefahren.325 Markus Jaffe war der Älteste an Bord der Donau.

322 Suchanzeige in Aftenposten, Abendausgabe, vom 8. April 1946. 323 Spielmann wurde vom Häftlingskrankenhaus in Auschwitz I am 4. Februar 1943 auf „Transport“ geschickt. Er war am Tag davor wegen eines Ödems eingeliefert worden. „Transport“ bedeutet, dass er für die Gaskammer selektiert wurde. IST, Meldebuch des Häftlingskrankenbaus des Konzentrationslagers Auschwitz, Ordner 129, S. 141. 324 RA, L-sak Oslo politikammer D 3325, Angabe über Juden, die vom Lager Berg zur Landungsbrücke I und an Bord der Donau transportiert wurden, 27. November 1942. 325 Ebd.

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Dem Transport von Berg nach Oslo gehörten auch fünf Häftlinge an, die später nicht auf der Liste erschienen. Die Brüder Herbert, Werner und Rolf Borøchstein hatten J-gestempelte Ausweise, waren aber „Halbjuden“. Der staatenlose Herman Becker aus Oslo war mit einer in Schweden geborenen Frau verheiratet. Der Kantor der Mosaischen Glaubensgemeinschaft, Abraham Jacob Fried, war so krank, dass er nicht auf die Donau gebracht wurde. Alle fünf wurden in Autos zum Gefängnis Bredtveit gefahren und dort um 14.45 Uhr registriert, also zehn Minuten bevor das Schiff vom Kai ablegte.326 Razzia in Oslo

Während die Verhaftungen in Kleinstädten und auf dem Lande nur relativ wenige Juden betrafen, war die Aktion in Oslo die größte Operation, die die norwegische Polizei während des ganzen Krieges vornahm. Wie erwähnt wurden 300 Mann einberufen. Nur gut 40 kamen aus den Reihen der Staatspolizei selbst, aber sie genügten als zuverlässige „Kerntruppe“. Ungefähr 100 Taxen wurden bestellt, dazu einige Busse der Osloer Straßenbahnen. Nach den Rechnungen der Taxifahrer waren 143 von ihnen beteiligt.327 Für die Organisation der Aktion verantwortlich waren Knut Rød, der Leiter der Oslo-Abteilung der Staatspolizei, und seine Mitarbeiter. Polizeirat Lindvig organisierte die Transportmittel. Die Taxen wurden am Mittwoch, dem 25. November, requiriert. Die Kriminalpolizei bekam „am Nachmittag“ den Befehl, sich ganz früh am nächsten Morgen mit der ganzen Mannschaft außer denen, die schon zu anderen Aufgaben eingeteilt waren, in der Staatspolizeizentrale einzufinden. Einer der so Abkommandierten schrieb später illegal einen Bericht an die Botschaft in Stockholm: „Alle mussten auf einer vorbereiteten Liste unterschreiben, dass sie den Befehl erhalten hatten.“ Dass es um die Festnahme jüdischer Frauen und Kinder ging, blieb völlig im Dunkeln; niemand sollte wissen, was gleich geschehen würde. Sogar für die Männer vom Hird und von Germanske SS blieb die Sache geheim. Die Taxifahrer wurden natürlich auch nicht informiert. Ihre Wagen wurden ganz einfach von einer staatlichen Behörde angefordert, und ihrer Lizenz zufolge mussten sie erscheinen. Viele von ihnen waren in verschiedener Weise im Widerstand engagiert. Einige arbeiteten mit illegalen Fluchthelfern zusammen, die Flücht326 Aufnahmeprotokoll von Bredtveit. Fried wurde später mit der Gotenland deportiert. Becker bekam später einen schwedischen Notpass, wurde am 2. März 1943 aus Bredtveit entlassen und gelangte noch am gleichen Tag nach Schweden. Seine Frau Dagmar, geb. Saposnikoff, floh am 5. Dezember 1942 nach Schweden. 327 RA. Polizeiministerium, tägliche Vermerke 1942, Rechnung der Oslo-Abteilung der Staatspolizei über verauslagte Mittel vom 27. November 1942.

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linge an die schwedische Grenze brachten. Andere hatten schon unabhängig davon Juden aus Oslo herausgeholfen. Die Bereitschaftsabteilung am Osloer Polizeipräsidium bestand aus jungen Männern, die in Kongsvinger für den Polizeidienst ausgebildet wurden. Widerständler nannten diese jungen Leute oft „die Kongsvinger-Polizei“. Im Unterschied zu den vor dem Krieg Ausgebildeten waren sie auch ideologisch geschult worden. Die sich am 25. November in der Osloer Gardekaserne befanden, gehörten überwiegend der 2. Kompanie an. Zwei junge Anwärter aus der 1. Kompanie desertierten Mitte November vom Dienst und setzten sich nach Schweden ab. Als sie in das Aufnahmezentrum der Norwegischen Botschaft in Kjesäter kamen, wurden sie – beide waren erst 19 Jahre alt – gründlich verhört. Sie hatten die Ausbildung am 15. November 1941 begonnen. Mitte März 1942 waren sie nach Oslo verlegt worden, wo der Unterricht in der Schule des Stadtteils Majorstuen und in den Räumen der OsloAbteilung der Staatspolizei fortgesetzt wurde. Die theoretische Ausbildung habe „im Rahmen der alten Polizeiausbildung“ stattgefunden, aber es habe auch „häufige Propagandavorträge“ gegeben; einmal habe Polizeiminister Jonas Lie einen Vortrag für sie gehalten. Im Juli seien die meisten Anwärter zu gewöhnlichem Polizeidienst in verschiedene Polizeibezirke im ganzen Land beordert worden. So war einer der beiden nach Skien gekommen. Später hatte man ihn als Fahrer von Polizeiwagen nach Oslo zurückbeordert. Am 26. Oktober war er als Chauffeur der Staatspolizei an der Aktion gegen jüdische Männer beteiligt gewesen.328 Die beiden Flüchtigen meinten, 30 bis 40 ihrer Kameraden aus der Kompanie seien NS-Mitglieder, aber auch einige der Übrigen seien deutschfreundlich. Trotz aller Bemühungen der Staatspolizei um Geheimhaltung war am frühen Nachmittag des 25. November offenkundig, dass eine größere Aktion geplant war. Misstrauische Kriminalbeamte und Taxifahrer verbreiteten Warnungen, und aus Trondheim kam wie erwähnt die Meldung, dass ein Zug nach Süden unterwegs sei (vgl. S. 330, Fußnote 930). Im Laufe des Nachmittags wurden die Gerüchte konkreter. Die Zahnarzthelferin Amalie Goldberg erklärte sich nach ihrer Flucht nach Schweden so: Am Mittwochnachmittag liefen in der Stadt Gerüchte um, dass jüdische Frauen und Kinder verhaftet werden sollten. Man hatte erfahren, dass jüdische Frauen und Kinder in Trondheim festgenommen worden und mit einem Zug nach Oslo gekommen waren, und man schloss daraus, dass die gleiche Aktion in Oslo bevorstand. Eine Bestätigung erhielt Frl. G. [sic] von einem Taxichauffeur, der erzählte, er habe den Befehl bekommen, sich am nächsten Morgen vor dem Staatspolizei-Hauptquartier 328 RA, S-1725 DaI Behälter 454, Sondervernehmung von Gudbrand Opdahl und Dagfinn Hansen in Kjesätr am 18. Dezember 1942.

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einzufinden. Er und die übrigen, die diesen Befehl bekommen hatten, weigerten sich mit der Begründung, sie hätten kein Öl für solche Extrafahrten. Sie bekamen die Antwort, das sei ein Befehl. Eine weitere Bestätigung erhielt Frl. G. gegen 16.30 Uhr von einer bei der Kriminalpolizei beschäftigten Dame. Diese Quelle erzählte, alle Polizeikräfte seien für den nächsten Morgen 5 Uhr zum Dienst bestellt. Das gelte sowohl für die Staatspolizei als auch für die Ordnungspolizei.329

Amalie Goldberg warnte sofort alle Bekannten. Sie kam nicht vor 4 Uhr in der Nacht zum 26. November ins Bett. Sie war in ein Versteck gegangen, und als sie erwachte, erfuhr sie, dass die Aktion in vollem Gange sei. Sie verließ Oslo am gleichen Tag und überquerte schon am nächsten Tag die schwedische Grenze. Auch andere Juden berichteten nach ihrer Flucht nach Schweden, dass sie von den requirierten Taxen gehört hatten. Der 29-jährige Leon Leimann, der sich am 25. November noch immer in Oslo versteckt hielt, berichtete, er habe um zehn Uhr am Abend erfahren, „dass zwischen 100 und 150 Taxen requiriert waren, um früh am nächsten Morgen jüdische Frauen und Kinder abzuholen.330 Warnungen kamen auch aus anderen Quellen. Berta und Rosa London bekamen von einem Nachlassverwalter im Liquidationsausschuss, Paul Koren, den Bescheid, dass Verhaftungen bevorstünden.331 Koren war indirekt gewarnt worden von einem Staatspolizisten, der die Familie Fischel aufsuchte, um Kleidung für den 72-jährigen Emanuel Fischel zu holen, der am 25. November erneut verhaftet wurde. Koren erfuhr dabei, dass der Rest der Familie „in einigen Stunden“ verhaftet werden solle.332 Er versuchte die Frauen der Familie zur Flucht zu überreden: Als der Polizist gegangen war, sprach ich ernst mit den drei Damen Fischel. Aber Frau Fischel wollte ungern ihren Mann verlassen. Und die verheiratete Tochter hatte ihren Mann im Asyl für Geisteskranke, während die Tochter Grethe nicht das Herz hatte, Mutter und Vater zu verlassen. Und man wusste ja nichts ganz sicher. Ich konnte ja nichts anderes sagen, als dass ich den Polizisten so verstanden hätte, dass die Verhaftung unmittelbar bevorstehe.333 329 Ebd., Sondervernehmung von Amalie Goldberg in Kjesäter am 29. November 1942. 330 Ebd., Sondervernehmung von Leon Leimann in Kjesäter am 29. November 1942. 331 Ebd., Sondervernehmung von Bertha [sic: Berta] und Rosa Amalie London in Kjesäter am 30. November 1942: „Es steht ferner zweifelsfrei fest, dass Koren mehrere andere Jüdinnen informierte, sodass sie rechtzeitig untertauchen konnten.“ 332 RA, Oslo politikammer, hnr. 250, Paul Korens Erklärung für die Norwegische Botschaft in Stockholm datiert vom „Frühjahr oder Sommer 1945“. Dank an Robert Murphree, der mich auf die Sache aufmerksam machte. 333 Die Frauen waren die 53-jährige Elise Fischel, die Tochter Grethe Fischel (31) und Elli

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Die „Endlösung“: Die Juden werden deportiert

Koren warnte um 0.30 Uhr in der Nacht zum 26. November auch den Gärtner Rolf Syversen. Gemeinsam warnten sie dann alle die, für die Koren Nachlassverwalter war. Am nächsten Morgen und Vormittag fuhren sie im Auto umher, um Menschen zu retten. Aber viele waren schon gefasst worden.334 Während diese Warnungen verbreitet wurden, setzte die Staatspolizei ihre Vorbereitungen fort. Sie verhandelte mit der Osloer Ordnungspolizei über die Nutzung einer Turnhalle an der Polizeikaserne als Sammelplatz für die Frauen und Kinder, bevor sie zum Hafen gefahren wurden. Die Ordnungspolizei „weigerte sich“ – so Marthinsen in seinem Bericht –, und erst nach langen Verhandlungen kam eine Absprache zustande. Diese Verzögerung kann weitere Warnungen ermöglicht haben, denn viele Männer von der Ordnungspolizei waren zweifellos am Abend des 25. und in der Nacht zum 26. November an den Warnungen beteiligt. Die Staatspolizei hatte wenig Zeit, und besonders Wagners neue Anordnungen zu dem Personenkreis, der deportiert werden konnte, verursachten „erhebliches Kopfzerbrechen“. Erst gegen 20 Uhr am 25. November wurde die Staatspolizei informiert. Dennoch arbeitete die Oslo-Abteilung ein sehr effektives Reglement für die Festnahmen aus. Die verfügbaren Kräfte sollten in hundert Patrouillen zu je drei Mann eingeteilt. werden Einer sollte „Patrouillenführer“ sein; das war in der Regel ein Polizist. Jeder Patrouillenführer erhielt vier Listen und konnte über eine eigene Taxe verfügen. Die Patrouillen sollten einem rotierenden Muster folgen: Die Helfer Nr..1 und 2 bekommen jeder eine Liste und werden zu der Adresse gefahren, die auf der Liste steht. Der Patrouillenführer nimmt die Liste Nr. 3 und fährt zu der darauf angegebenen Adresse. Nimmt die Familie fest, fährt sie zur Landungsbrücke 1, liefert die Personen beim Empfang ab. Fährt sofort zu der Stelle, wo Helfer Nr. 1 sich aufhält, nimmt diese Familie ins Auto und fährt zur Landungsbrücke 1, während er zugleich Liste Nr. 4 an Helfer Nr. 1 übergibt, der die Order bekommt, sich schnellstmöglich zu der auf der Liste angegebenen Adresse zu begeben zwecks Verhaftung und Abfertigung der Familie. Nach Ablieferung von Familie Nr. 2 an Landungsbrücke 1 werden die verbleibenden Familien abgeholt (Helfer Nr. 2 und Helfer Nr. 1) und wie oben erwähnt beim Empfang abgeliefert.335 Bondy (28). Nur Elli Bondy konnte entkommen, sie gelangte am 3. Dezember nach Schweden. Ihr Mann Max Bondy lag als Simulant im Krankenhaus Dikemark. Er floh am 7. Juni 1943 nach Schweden. 334 Ebd. 335 RA, l-sak Oslo politikammer D3525, Marthinsens Bericht vom 27. Nobmber 1942.

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Dank der effektiven „Rotationsmethode“ konnten einzelne Patrouillen weitere Nachforschungen anstellen nach Juden, die nicht zu Hause angetroffen wurden. Einige Adressen wurden daher im Laufe des Tages mehrmals aufgesucht, bis die Donau nachmittags um fünf vor drei vom Kai ablegte. Marthinsen war offenbar stolz auf die Organisation; „diese Regelung war sehr praktisch“, wie er selbst es in dem Bericht an Ministerpräsident Quisling ausdrückte.336 Im Hafenschuppen der Amerikalinie war ein Empfangszentrum mit eigener Telefonlinie eingerichtet, in den Quellen oft kurz „der Empfang“ genannt. Dort sollten die Festgenommenen registriert und sortiert werden, bevor sie an Bord gingen. In Günthers Telegramm aus Berlin stand, dass die zu Deportierenden Essen für nicht weniger als 14 Tage mitführen sollten. Die Staatspolizei reduzierte diese Frist auf vier Tage. Am Abend des 25. November hatten die Polizeianwärter in der Gardekaserne Ausgehverbot. Sie bekamen den Bescheid, dass sie um drei Uhr am nächsten Morgen geweckt würden. Bei der Aufstellung am Morgen erfuhren sie, dass sie bei der Verhaftung jüdischer Frauen und Kinder mitwirken sollten, und bekamen dafür einige Verhaltensmaßregeln. „Man ging dann (nicht in Marschordnung) zum Staatspolizei-Hauptquartier und nahm dort im Hof Aufstellung“, so berichtete einer der jungen Männer nach seiner Flucht nach Schweden.337 Als die Mannschaften um 4.30 Uhr ankamen, nahm Polizeidirektor Knut Rød sie in Empfang. Die von der Kriminalpolizei und der Bereitschaftsabteilung der Ordnungspolizei für diesen Tag Abgeordneten wurden namentlich aufgerufen. Danach hielt Rød einen Appell, in welchem er die praktischen Details der Aktion genau durchging. Vorweg machte er allerdings ihren Sinn klar. Die beste Quelle zum Geschehen an diesem Morgen ist der schon erwähnte Bericht eines Wachtmeisters der Kriminalpolizei, der selbst dabei war und sich an die Einzelheiten sehr gut erinnern konnte. Es war der 37-jährige Torgeir Leirud; er war im Widerstand aktiv und floh im März 1943 nach Schweden. Zunächst teilte Rød mit, dass „alle weiblichen Mitglieder jüdischer Familien festgenommen werden sollten sowie die männlichen Mitglieder, die bei der Festnahme der Juden vor ca. einem Monat nicht festgenommen worden waren“. Alle sollten zum Hafenschuppen der Amerikalinie transportiert werden. Danach machte er darauf aufmerksam, dass die Aktion auch die Juden einschloss, die in Krankenhäusern lagen; ein Arzt habe die erforderlichen Entlassungsscheine ausgestellt. Dass dies der Staatspolizeiarzt Hans Eng war, sagte er nicht. In der 336 Ebd. 337 RA, S-1725 DaI Behälter 454, Sondervernehmung von Gerhard Aabelvik Jacobsen in Kjesäter am 13. Dezember 1942.

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Wohnung angetroffene Juden sollten sich nicht damit herausreden dürfen, sie müssten ins Krankenhaus, und auch krank zu Hause zu liegen sei kein „Absagegrund: der Betreffende muss mit“, unterstrich Rød. Er teilte weiter mit, was die Juden „Gelegenheit hatten“ mitzunehmen. Das waren die Dinge, die Rolf Günther am Vortag in seinem Telegramm an den BdS in Oslo angegeben hatte (vgl. S. 367), mit dem Unterschied, dass jede Familie nur Essen für vier Tage mitnehmen sollte. Was mitzunehmen verboten war – Wertgegenstände, Sparbücher und andere Wertpapiere –, sollte Rød zufolge beschlagnahmt und zusammen mit Haus- und Wohnungsschlüsseln zur Empfangsstation mitgebracht werden. Dann kam der wichtigste Bescheid: dass „Halbjuden“ und „mit Juden verheiratete norwegische Frauen“ nicht verhaftet werden sollten, auch nicht Bürger neutraler Staaten. Rød fügte aber hinzu, in Zweifelsfällen sollten „die Betreffenden dennoch festgenommen und zur Staatspolizei gebracht werden“. Leirud sagt in seinem Bericht, die Hird-Leute hätten das ausgenutzt: „Sie taten alles Mögliche dafür, dass die Ausnahme von der Hauptregel keine nennenswerte Bedeutung bekommen sollte.“ Am Ende konnten die Männer Rød Fragen stellen. Einer wollte wissen, wie man mit schwangeren Frauen verfahren solle. „Alle bis zum sechsten Monat sollen mit“, antwortete Rød. Eine andere naheliegende Frage war, was man mit denen machen solle, die keine Essensvorräte für vier Tage zu Hause hatten. Røds Antwort war, die Betreffenden dürften sich nicht mehr als das beschaffen, was sie zu Hause hatten. Die Juden sollten höchstens zwei Stunden Zeit bekommen, zu packen und sich bereitzumachen. Niemand dürfe nach Ankunft der Patrouillen die Wohnung verlassen (was nach dem Rotationsprinzip auch kaum möglich war). Abschließend erklärte Rød, dass „Krüppel und Alte“ auch mitgebracht werden sollten, gleichgültig ob sie sich bewegen könnten oder nicht.338 Er fügte hinzu, man solle den Frauen, die man verhafte, sagen, „dass sie da, wo sie hinkämen, ihre Männer, Söhne oder Väter wiedersehen würden“339, eine zynische Art, die administrative und psychische Last der Exekutoren zu mindern und zugleich den verständlichen Wunsch der Frauen zu bestärken, mit verhafteten Familienmitgliedern wieder vereint zu werden. Die Osloer Abteilung der Staatspolizei hatte auch eine schriftliche Anweisung für die Patrouillen erarbeitet. Sie wurde ihnen zusammen mit den Listen ausgehändigt. Diese enthielten übrigens nicht die Namen der Kinder. Der Patrouillenführer bekam 338 NHM 52 C H8, Pressebulletin Nr. 234 vom 10. März 1943, Beilage. Siehe auch RA, S-1725 DaI Behälter 447, Bericht von Leirud Ang, arr. av kvinnelige jøder og jøder forøvrig [betr. Verhaftung von Jüdinnen und sonstigen Juden] den 26. nov. 42. 339 RA, S-1725 DaI Behälter 454, Sondervernehmung von Gerhard Aabelvik Johansen in Kjesäter am 13. Dezember 1942.

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den Befehl, die Namen der verhafteten „neuen“ Familienmitglieder hinzuzufügen, „u. a. Kinder“. Den Namen sollten Geburtsdatum, Geburtsort, Adresse und Staatsbürgerschaft beigefügt werden „sowie was eventuell beschlagnahmt wurde“. Die Liste sollte vom Patrouillenführer, der hier „Gruppenführer“ hieß, unterschrieben und dann dem „Empfangszentrum“ im Hafenschuppen übergeben werden.340 Dies also war der Ausgangspunkt der großen Aktion in Oslo. Es war eine Razzia, bei der die Stadt im Laufe der frühen Morgenstunden und bis zur Abfahrt des Schiffes von Juden entleert werden sollte. Es war ein sehr drastisches Vorgehen, auch im europäischen Zusammenhang. So zu verfahren hatte zwei Gründe. Einmal war die Zahl der Juden in der Hauptstadt so klein, dass es technisch möglich war, und zweitens war die Razzia eine Aktionsform, die die Polizeikräfte gut kannten. Eine Einberufung war für die Betroffenen an sich nicht unbedingt besorgniserregend. Leirud stellte in seinem Bericht in Schweden fest: „Niemand wusste, worum es diesmal ging. Die meisten vermuteten eine weitere Razzia wegen Rationierungskarten.“ Für norwegische Verhältnisse bedeutete die Razzia vom 26. November eine Mobilisierung in großem Stil: Mehr als 300 Polizisten nahmen teil, über 100 Taxen waren requiriert, dazu Busse und Lastwagen. Von deutscher Seite war der „Einsatz“ ungleich bescheidener, aber von zentraler Bedeutung. Wagner, Böhm und Großmann waren auf der Landungsbrücke I, und Wagner hatte die letzte Entscheidungsbefugnis. Er entschied über Leben und Tod, indem er sagte, wer an Bord gehen sollte und wer ausgenommen wurde. Wagner hatte auch am Vortage in einem persönlichen Gespräch mit Manig, dem Oberleutnant der Schutzpolizei von der deutschen Ordnungspolizei, darum gebeten, 50 Mann vom 2. Bataillon des Polizeiregiments Nr. 17 als Wachmannschaft für den Transport abzustellen.341 Manig und seine Leute waren auch für die Bewachung der Landungsbrücke I zuständig, wo schon zu Beginn des Krieges ein Zaun mit Zugangspforten errichtet worden war. Die Soldaten der Ordnungspolizei konnten an SS-Soldaten erinnern, und viele haben später gemeint, genau das seien sie gewesen. Neuere Literatur zum Holocaust hat die Beteiligung der deutschen Ordnungspolizei an der Ermordung von Juden deutlicher herausgestellt.342 Ein Bataillon (Res. Pol. Btl. 9) war nach Norwegen gekommen, nachdem es an Morden gigantischen Ausmaßes im ganzen besetzten Gebiet hinter der Ostfront 340 Anweisung der Staatspolizei in Oslo zur Festnahme von Juden vom 25. November 1942, u. a. gedruckt bei Greve (1985), S. 475. 341 RA,RK, BdO, Verschiedenes, Behälter 93, Brief vom II. Polizeiregiment 17, Feldposteinheit 40562C, an Befehlshaber der Ordnungspolizei, Abteilung I a, vom 26. November 1942. Geschäftszeichen Gr.Ia 50-81. 342 Siehe z. B. Browning (1998).

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teilgenommen hatte. Die Kompanien des Bataillons waren auf die deutschen Einsatzgruppen A, B, C und D verteilt gewesen, die von der Küste des Baltikums bis zum Schwarzen Meer die Mordaktionen durchführten. Im Juni 1942 wurde das Bataillon ein Teil des Polizeiregiments 27 in Norwegen und blieb dort bis Kriegsende. Einige Angehörige dieses Bataillons wurden nach der Kapitulation vom britischen Feldgeheimdienst verhört. Sie berichteten ziemlich bereitwillig von den Morden, an denen sie an der Ostfront beteiligt gewesen waren, z. B. wie es zuging, wenn im Herbst 1941 jüdische Dorfbewohner ermordet wurden: Usually the Jewish inhabitants of a village were taken by lorries to some outlying place, stripped of their values and belongings, and then liquidated. Sometimes the Jews were told to report to a certain place at a given time in order to be resettled. The [sic: They] hired Russian peasants with carts to take their belongings. In these cases the Russian peasants were included in the liquidation in order to dispose of the witnesses.343

Die Mannschaften des Bataillons hatten auch vorher schon ihre Erlebnisse an der Ostfront nicht verschwiegen. Im Gegenteil, nach ihrer Ankunft in Norwegen hatten sie mit ihrer Teilnahme an Massenmorden geprahlt. Die britischen Ermittler erfuhren davon, als sie nach der Kapitulation nach Norwegen kamen: „Some members of this unit were overheard boasting that the Einsatzkommandos liquidated 300,000 men, women and children.“344 Nun waren es nicht Männer von diesem Bataillon, sondern vom „Schwesterbataillon“, die am Kai und an Bord der Donau Wache hielten; aber die Massenmorde an der Ostfront waren allen Tätern in Norwegen gut bekannt. Alle Behauptungen, die deutsche Sicherheitspolizei oder andere im deutschen Polizeiapparat hätten nicht gewusst, was die Juden erwartete, entbehren jeder Grundlage. Was die norwegische Polizei betrifft, ist die Frage differenzierter zu beantworten. Eins ist dennoch sicher: Die dem NS-Regime ideologisch nahestanden, wussten mehr als andere, und sie müssen auch von Massentötungen gehört haben. Den Teil des Hafens, in dem die Landungsbrücke I liegt, hatten deutsche Behörden schon im April 1940 übernommen. Diese Kaianlagen standen unter totaler Kontrolle. Die Osloer Hafenaufsicht konnte über diese Anlegestellen für zivilen Verkehr nicht verfügen „ohne besondere Erlaubnis der deutschen Behörden für jedes Mal, wenn unbedingt ein Anlegeplatz benötigt wird“.345 Mit den deutschen 343 NHM 152, Mappe 3, PWIS (Norway) 34, Akershus fengsel, 29. Oktober 1945. 344 Ebd. 345 Stadtarchiv Oslo, Oslo havnevesen, Kopiebuch 1943, Durchschlag eines Briefes der Osloer Hafenaufsicht an Berg-Hansen & Co vom 31. März 1943.

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Behörden waren in diesem Fall der deutsche Hafenkapitän und der KMD Oslo gemeint. Während die deutsche Sicherheitspolizei und die Staatspolizei mit den Vorbereitungen beschäftigt waren, bemühten sich in der Nacht zum 26. November die unterschiedlichsten Milieus und Menschen, die von Verhaftung Bedrohten zu warnen. Zweimal wurden sie von Fliegeralarm unterbrochen. Der erste Alarm wurde um 23.28 Uhr ausgelöst und dauerte bis 0.18 Uhr. Um 0.55 Uhr gab es wieder Alarm und um 1.25 Uhr Entwarnung.346 Nach Schweden geflohene Juden und spätere Veröffentlichungen haben die Alarme als bewussten Versuch, Fluchten zu verhindern, gedeutet.347 Bei Fliegeralarm durften sich nur Personen mit besonderer Genehmigung in den Straßen bewegen. Das waren Leute vom zivilen Luftschutz oder vom Roten Kreuz, Ärzte, Polizisten usw. Auch in einer offiziellen Verlautbarung der Norwegischen Botschaft in Stockholm hieß es später, der Alarm habe Juden an der Flucht hindern sollen.348 Eine Durchsicht des Kriegstagebuchs des KMD Oslo hat mich aber zu der Folgerung gebracht, dass die Alarme auf militärischen Flugzeugbeobachtungen beruhten, also real waren. Der erste Alarm ging auf die Beobachtung von Kondensstreifen westlich von Oslo zurück; die Flugzeuge flogen nach Nordosten. Bei dem zweiten Alarm waren Flugzeuge bei Kongsberg, 80 km südwestlich von Oslo, gesichtet worden.349 Die Zufälle spielten den Tätern in die Hände; die Alarme bewirkten, dass viele Juden und ihre Helfer nervös wurden und blieben, wo sie waren. Wie erwähnt war die Donau erst gegen 7 Uhr früh fertig entladen, aber die Verhaftungen liefen trotzdem sofort an, nachdem Knut Rød die Mannschaften in der Staatspolizeizentrale instruiert hatte. Es würde ohnehin einige Zeit dauern, bis die ersten Familien an den Kai gebracht waren, und es war für die Täter wichtig, dass die Aktion schon gut im Gange war, wenn der Morgenverkehr einsetzte. Unklar ist, ob die Staatspolizei es darauf anlegte, Zuschauer von dem fernzuhalten, was jetzt geschehen sollte; aber die psychische Belastung der Täter wäre sicher gerin346 Stadtarchiv Oslo, Hafenaufsicht 1942/43, Monatsbericht vom 12. Dezember 1942. 347 So z. B. Mendelsohn (1986), S. 123. Siehe ferner RA, S-1725 DaI Behälter 454, Sondervernehmung von Leon Leimann in Kjesäter am 29. November 1942. Leimann hatte die genauen Zeitpunkte der Alarme notiert und fügte hinzu: „Man hörte keine Flugzeuggeräusche und kein Schießen, weshalb man annimmt, der Fliegeralarm war Taktik, um die Juden am Entkommen zu hindern und vielleicht, um die Gemüter in Erregung zu versetzen, sodass die Juden sich nicht in Ruhe besinnen und untertauchen konnten.“ 348 NHM 52 C H8, Pressebulletin Nr. 203 vom 2. Dezember 1942: „In der Nacht gab es zweimal Fliegeralarm, das erste Mal gegen 23 Uhr und später gegen 1 Uhr. Der Alarm bezweckte zweifellos, die aufzuhalten, die Juden warnen wollten, um sie in Sicherheit zu bringen.“ 349 Bundesarchiv Freiburg Kriegstagebuch der Kriegsmarinedienststelle Oslo 24. August 1942–15. April 1943, S. 21, Vorkommnisse.

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ger, wenn es wenig Zeugen gäbe. Doch die Aktion war in wenigen Morgenstunden nicht zu bewältigen; sie dauerte an, bis die Donau ablegte. Und Wilhelm Wagner schrieb in einem seiner regelmäßigen Berichte nach Berlin, die Nachricht von der Deportation habe sich wie ein Lauffeuer unter der Bevölkerung verbreitet, aber ohne dass es besondere Reaktionen gegeben habe.350 Einer der Beobachter an diesem Tage war der 29-jährige Journalist und Autor Arne Skouen. Er hatte schon lange illegal gearbeitet; seine Aufgabe war, Presseberichte zu verschiedenen Themen zu verfassen. Diese Berichte wurden dann nach Stockholm übermittelt und dort von der Exilpresse verwendet, aber auch in Untergrundzeitungen in Norwegen wiedergegeben. Einige seiner Berichte wurden 1945 in Schweden unter dem Pseudonym „Björn Stallare“ herausgegeben. „Björn“ war Skouens Deckname. Sein Chef bei der illegalen Arbeit war Egil Meidell Hansen, alias „Truls“.351 Truls rief ihn in der Nacht zum 26. November an und forderte ihn auf, sich schnell zum „Ghetto“ aufzumachen. So wurde eine Gegend um Calmeyers gate im Nordosten des Osloer Zentrums genannt; „dort wohnten in größter Konzentration die ärmsten Osloer Juden.“352 Skouens Fahrrad war kaputtgegangen, also machte er sich zu Fuß auf den ungefähr sechs Kilometer langen Weg von seiner Wohnung ins Zentrum. Er war zur Stelle, bevor es losging, und versteckte sich in einer Toreinfahrt. Was er von da aus beobachtete, brannte sich für den Rest des Lebens in sein Gedächtnis ein: Hier erlebte ich Brutalität als militärische Disziplin. Ich sah keine Fotos und keinen Film; ich war der Wirklichkeit überlassen. Sie umfaste alles, was im Umkreis eines Scheinwerfers geschah, gerichtet auf die Seitenklappen von Militärlastwagen. Sie lösten einander im Lichtkreis ab. Da standen die Übermenschen und luden die Untermenschen auf die Lastfläche. Alte Menschen wurden über die Seitenklappen gewälzt. Hin und wieder erkannte ich Einzelheiten, die verrieten, dass hier SS-Soldaten am Werk waren. Deutschlands stattlichste Jugend. Da war ich im Irrtum. Wir bekamen in großer Bandbreite Reportagen über die Deportation der norwegischen Juden, besonders in britischen und amerikanischen Zeitungen. Aber sie sagten nicht die volle Wahrheit: Ich wusste nicht, dass eine Abteilung norwegischer Frontkämpfer in Oslo Schurkendienste leistete, ehe sie an die Ostfront ging. Es waren Landsleute, die hier in Aktion waren.353

350 Ugelvik-Larsen et al. (2008), Bd. II, S. 942: „Der Abtransport der Juden aus Norwegen sprach sich in der Bevölkerung wie ein Lauffeuer herum.“ 351 Stallare (1994), neues Vorwort zur Ausgabe von 1945. 352 Skouen (1996), S. 103. 353 Ebd. S. 104.

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Im „Ghetto“ wurden also Lastautos verwendet, und Mannschaften von Germanske SS Norge waren bei der „Arbeit“. Reidar Glott, Sohn des Tabakfabrikanten Moritz Glott, war am Morgen um Viertel vor neun auf dem Weg zur Arbeit. Als er in Calmeyers gate einbog, wurde er Zeuge „einer Szene so voller Trauer und Leiden“, dass er sie „bis zu seinem Todestag“ nie mehr vergessen würde. Er wurde von einer Polizeisperrung aufgehalten: Da waren Wachtmeister in blauen und Wachtmeister in grünen Uniformen und ein großes Aufgebot an Autos. G. wollte sehen, was da ablief, und ging durch die Absperrung. Einige Juden standen auf den Fußwegen auf beiden Seiten. Das waren alte Männer, Frauen jeden Alters und kleine Kinder. G. sprach eine der Jüdinnen an. Sie erzählte, die Juden in der Straße hätten den Bescheid bekommen, hier zu stehen und bis 9.30 Uhr zu warten; dann würden sie zur Landungsbrücke I gefahren. Sie dürften nichts aus ihren Wohnungen mitnehmen. Täten sie das, würden sie mit 6 Monaten Gefängnis bestraft. Diese Drohung bewirkte. dass sie alle sich dem Gebot fügten. Sie hatten nämlich zu diesem Zeitpunkt keine Ahnung, dass sie nach Polen deportiert werden sollten. Der Jüdin hatte man außerdem gesagt, sie solle eine Wolldecke und Essen für 4 Tage mitnehmen. Viele hatten nicht so viel im Haus, und darum begleitete die Polizei die Juden zu Lebensmittelgeschäften, damit sie dort einkaufen konnten. Bevor einige Polizisten herankamen und Glott wegjagten, wurde er Zeuge der herzzerreißendsten Szenen.354

Das Vorgehen der Staatspolizei und ihrer Helfer im „Ghetto“ war eine Besonderheit. Es zeigt ihre Fähigkeit zur Anpassung, wenn sie es für notwendig und operativ geboten hielten. Soweit ich feststellen konnte, war dies die einzige Stelle in Oslo, an der mehr Lastwagen als Taxis benutzt wurden und an der die Zahl der Polizisten und ihrer Helfer vom Hird und von Germanske SS beträchtlich war. Ein Beispiel für Anpassung ist auch, dass die festgenommenen Mütter einkaufen durften, sodass sie Essen für vier Tage mitnehmen konnten. Das Ausmaß der Gewaltanwendung oder der Drohung mit Gewalt war für norwegische Verhältnisse erheblich und war für jedermann sichtbar im morgendlichen Verkehr (der allerdings hauptsächlich an den Absperrungen vorbeigelenkt wurde). Den Zeitpunkt hatte Rød wohl nicht so geplant, aber hatte die Lastwagen vielleicht nicht früher bekommen können. Skouen und Glott sahen die Verzweiflung der Versammelten, aber auch die Wut und Verzweiflung von Zuschauern, die ihren Weg zur Arbeit unterbrachen und auf den Fußwegen stehenblieben. 354 RA, S-1725 DaI Behälter 454, Sondervernehmung von Reidar Glott in Kjesäter am 28. November 1942.

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Die „Endlösung“: Die Juden werden deportiert

37 Frauen waren auf der Polizeiwache Møllergaten meldepflichtig, aber einige waren nicht in Oslo wohnhaft. 19 Frauen, die zu dieser Polizeiwache gehörten, wurden an diesem Tage deportiert; hinzu kamen Kinder, Ältere und Invalide, die sich noch auf freiem Fuß befanden. Eine der Festgenommenen war die 31-jährige Sonja Moritz mit ihren beiden kleinen Kindern, dem 9-jährigen Leif und dem 5-järigen John. Sonjas Mann war am 26. Oktober verhaftet und im Lager Berg interniert worden. Die Verhaftung der Frau und der beiden Kinder wurde von Zuschauern beobachtet. Verweint und mit weinenden Kindern kam Sonja Moritz aus dem Haus Calmeyers gate 15. Wahrscheinlich war es diese Verhaftung, über die der Kriminalwachtmeister Leirud aufgrund der Schilderung eines Kollegen nach seiner Flucht nach Schweden berichtete: Ich will nur von einem der traurigen Ereignisse an diesem Tage berichten. Eine Gruppe wurde zu einer Familie im Zentrum geschickt. Nachdem sie lange an der Eingangstür geklingelt hatte, schloss eine erschrockene Frau auf. Sie mochte Ende zwanzig sein. Al sie erfuhr, worum es ging, wurde sie leichenblass und brach beinahe zusammen. Sie fasste sich so weit, dass sie das Nötige tat und sich fertig machte. Ging dann ins Schlafzimmer, wo ihre beiden zwei- und vierjährigen Kinder schliefen. Mit viel Mühe und Aufbietung der letzten Reste von Selbstbeherrschung kleidete sie die beiden Kleinen an. Aber als sie auf die Straße trat und das Auto warten sah, geriet sie außer sich und schrie in Weinkrämpfen: ‚Sie können mich und die Kinder retten, wenn Sie wollen!‘ Das rief sie immer wieder auf dem Weg zum Kai, und manchmal wurden ihre Rufe übertönt von den beiden zu Tode erschrockenen Kindern, die herzzerreißend weinten und Mama riefen.355

Insgesamt wurden an diesem Tage 23 Kinder registrierter Juden verhaftet und deportiert. Aber diese Zahl täuscht, denn sie schließt nur die ein, die nach der Bekanntmachung vom 20. Januar 1942 keine J-gestempelten Ausweise haben sollten. Rechnet man alle mit, die 1942 18 Jahre alt wurden, kommt man auf 35 Kinder. Es hätten noch mehr sein können. Die 30-jährige Nanna Kermann, die aus Kopenhagen stammte, wurde an diesem Morgen um halb sieben von der Polizei geweckt. Bei ihr war ihr knapp zweijähriger Sohn Marwin. Sie hatte keine Milch zu Hause und fragte daher, ob sie zum Milchladen an der Ecke gehen könne. Das wurde ihr erlaubt, „während die Polizei 355 NHM 52 C H8, Pressebulletin Nr. 235 vom 18. März 1943, Beilage: „Als die Juden deportiert wurden. Ein norwegischer Polizist, der Zeuge der Deportation der Juden aus Oslo am 26. November war, hat den folgenden Bericht über das Geschehen gegeben.“

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wartete“. Auf diese Weise entkam sie in ein Versteck. Schon am 29. November waren sie und der Sohn in Schweden. Man muss annehmen, dass der Polizist es bewusst unterließ, ihr zu folgen.356 Ihr Mann war schon früher verhaftet worden und wurde in Auschwitz ermordet. Als die junge Mutter Anna Rothschild sich auf der Polizeiwache im Stadtteil Sagene meldete, wurde sie gebeten, sich am nächsten Tag nicht zu melden. Sie beriet sich mit anderen jüdischen Frauen, aber keine mochte ihr einen guten Rat geben. Sie riskierte es nicht wegzubleiben und meldete sich am nächsten Tag doch wieder. Sie hatte Glück. Der Polizist am Tresen sagte. „Kommen Sie wieder? Ich sagte doch, Sie sollten einen langen Weg gehen.“ Jetzt wagte sie nicht mehr nach Hause zu gehen. Am 4. Dezember gelangte sie über die Grenze nach Schweden. Die neun Monate alte Tochter Inger-Lise musste in Norwegen zurückbleiben. Erst am 16. Mai wurde sie von guten Helfern zu ihrer Mutter gebracht.357 Die Polizei erschien auch in der Wohnung Jakob Bernhard Meirans, des Mannes, dem bei seiner Verhaftung am 26. Oktober das Foto seiner Tochter so brutal weggenommen worden war (vgl. S. 299). In der Wohnung waren jetzt Meirans fünfjährige Tochter Ellinor und ihre Großmutter, die 62-jährige Rosa Meieranowski. Auch Rosas Mann Moritz und ein anderer Sohn, Charles, waren am 26. Oktober verhaftet worden. Was jetzt am 26. November geschah, wissen wir, weil die junge Jüdin Else Mendel später am Tage das Haus aufsuchte und mit den Bewohnern sprach. Das ganze Haus war in Aufruhr geraten, als die Polizei auftauchte, um Großmutter und Enkelin abzuholen. Aber die Proteste der Nachbarn waren vergeblich. Die beiden wurden brutal mitgenommen und in eine Taxe gesetzt.358 In einer weiteren Wohnung wollte die Polizei die verbliebenen Mitglieder der Familie Dobkes festnehmen. Randi Larssen, die spätere Randi Bratteli, hatte am 26. Oktober die Festnahme des jungen Kjell Dobkes beobachtet. Auch Kjells Vater Moses war festgenommen worden. Moses’ Frau Rachel (54) und die Tochter Lilly (18) waren noch da. Nun drohten wieder Verhaftungen:

356 RA, S-1725 DaI Behälter 397, Vernehmung von Nanna Kermann in Kjesäter am 3. Dezember 1942. 357 Johansen (2007), S. 152. Siehe auch Anna Rothschilds Mappe im SRA, Statens Utlänningskommision, FIABA 3530. 358 JOINT. Briefe von John Meieranowski an Marcus Levin vom 10. und 14. Februar 1943. Brief von Marcus Levin an John Meieranowski vom 15. Februar 1943. In seinem zweiten Brief an Levin drückt Meieranowski seine Enttäuschung über Levins Auskünfte aus: „Ich hatte gehofft, dass jedenfalls Mutter und Ellinor aus dieser furchtbaren Tragödie gerettet werden könnten.“

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Die „Endlösung“: Die Juden werden deportiert

Es passiert so viel Grausames, ich kann nicht glauben, dass es wahr ist, dass Menschen einander so viel Schlimmes antun. Heute sind nämlich alle Frauen und Kinder im Land, die Juden sind, verhaftet worden, und ein Staatspolizist, der hier im Flur raufund runterrannte, erzählte, sie sollten heute nach Deutschland geschickt werden. Kranke Menschen wurden aus den Krankenhäusern geholt, alte Frauen und kleine Kinder – alle wurden festgenommen. Wie schlimm es ihnen ergeht. Herrgott, so was kann nicht vergeben werden. Hier unten in der 1. Etage wurden ja vor genau einem Monat die männlichen Juden verhaftet, und heute hat da so’n Staatspolizist draußen gestanden und geläutet, geläutet, geläutet, aber es war wohl niemand zu Hause. Wann wird das aufhören?359

Mutter und Tochter Dobkes waren untergetaucht und befanden sich schon am 4. Dezember in Schweden. Das war übrigens einer der für die Fluchthelfer anstrengendsten Tage – fast 60 Juden passierten die Grenze. Am 26. November wurden mehrere Juden auch in Krankenhäusern festgenommen. Unter ihnen war Alexander Claes, den die Staatspolizei schon zwei Tage vorher in der Psychiatrischen Klinik des Krankenhauses Ullevål festzunehmen versucht hatte. Das hatte der Chefarzt Haakon Sæthre verhindert und noch am gleichen Tag für seine Verlegung in das Krankenhaus Gaustad gesorgt. Nun verhaftete die Staatspolizei ihn dort und schaffte ihn zur Landungsbrücke 1.360 Alexander Claes’ Frau war 1941 gestorben. Seine Mutter, die 63-jährige Sofie Claes, hatte sich anscheinend um die Kinder gekümmert, denn der siebenjährige Sohn Arild wurde zusammen mit ihr festgenommen. Aber Alexander Claes hatte auch eine Tochter, die zwölfjährige Ida Iris. Sie lag mit hohem Fieber im Krankenhaus Ullevål und wurde dort allein von der Staatspolizei abgeholt. Allem Anschein nach wurde sie in einem sogenannten Krankenkorb an Bord der Donau gebracht.361 Eine Jüdin, die nach Schweden floh, berichtete später, Robin Claes, Alexander Cla359 Bratteli (1984), S. 157 f. Randi Bratteli war übrigens selbst von deutschen Übergriffen betroffen. Ihr Vater war schon früher verhaftet worden und gehörte zu denen, die aus Grini nach Kvænangen geschickt wurden. Am 21. November war sie mit ihrer Mutter nach Lillehammer gereist, um zu versuchen, mit ihm in dem Güterzug in Kontakt zu kommen, der die Häftlinge aus Trondheim zurück nach Grini brachte. In dem Zug waren auch die Juden, die in Kvænangen gewesen waren und mit der Monte Rosa am 26. November deportiert wurden. 360 NHM 221, Mappe 1, „Liste über Juden in Krankenhäusern“. 361 Yad Vashem 026/27, Kopie einer Liste der Staatspolizei, „Juden festgenommen 26.11.1942 und am gleichen Tage mit D/S Donau verschickt“. Die Liste ist während der Einschiffung geschrieben worden und nicht alphabetisch. Ida Iris Claes (eingetragen als „Isis Claes“) steht „allein“ auf der Liste. Ihre Großmutter und ihr Bruder stehen auf einer anderen, ihr Vater auf einer dritten Seite der Liste.

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es’ Vater und Ida Iris’ Großvater, habe auf der Donau, während sie noch am Kai lag, einen Schwächeanfall erlitten und sei dort gestorben. Robin Claes war wie erwähnt am 17. November im Krankenhaus Ullevål verhaftet worden. Da keiner der Überlebenden von einem Schwächeanfall berichtet hat, ist es wahrscheinlicher, dass er bei der Ankunft des Transportes in Auschwitz noch am Leben war.362 In eine Wohnung im Osten der Stadt kamen ein Polizist und ein Mann vom Hird, der als Ziviler kommissarisch einen Gewerkschaftsverband leitete, um die 31-jährige Olga Wulff und ihre vierjährige Tochter Doris festzunehmen. Der Historiker Tore Pryser beschreibt den Hergang so: Bei der Ankunft traten sie sehr schonend auf. Sie aßen zusammen Frühstück, das die Frau auftrug, und tranken Kaffee und sogar Likör. Die Frau durfte allein zu einer Apotheke gehen und einige Medikamente kaufen. Dann holten sie das fünfjährige Kind der Frau, das sich an anderer Stelle der Stadt aufhielt. Danach wurden die Frau und das Kind zu dem Gefangenenschiff ‚Donau‘ am Kai gefahren.363

Auch Edith Reichwald in Skånevik bewirtete den Polizisten und den deutschen Unteroffizier, die ihren Mann festnehmen wollten, mit Kaffee und einer kleinen Mahlzeit, vielleicht um das Unvermeidliche hinauszuzögern. War das auch Olga Wulffs Motiv? Nach Pryser waren der Polizist und der Mann vom Hird keine glühenden Nazis; aber können wir sicher sein, dass sich alles so abgespielt hat, wie die beiden es später darstellten? Haben sie Olga Wulff als „mitschuldig“ an dem Geschehen hinstellen wollen? In dem Fall würde die Geschichte an ähnliche Episoden aus anderen europäischen Länden erinnern. Die Familie Levinson im Stadtteil Sagene wurde am Abend des 25. November von einem Polizisten gewarnt. Die Frauen – die Mutter Jette (55) und die Töchter Anna (23), Dina (18) und Jenny (20) – gaben ihm die wenigen Gold- und Silbersachen, die sie der Staatspolizei am 26. Oktober hatten vorenthalten können. Jettes Mann und zwei Söhne waren in Berg interniert. Jenny hatte im September den britischen Staatsbürger Ilai Wulff geheiratet; auch er war in Berg. Jette wusste nicht, wohin sie gehen könnten. Die Diskussion war kurz; die Frauen entschieden sich zu bleiben. Dina, die jüngste Tochter, war mit ihrem Freund im Hinterhaus. Als Jenny die Mutter fragte, ob sie sie hereinrufen solle, sagte Jette: „Nein, lass sie Abschied nehmen.“ 362 Robin Claes steht auf der Liste der Juden, die am 26. November vom Gefängnis Bredtveit zur Landungsbrücke 1 gebracht wurden. RA, L-sak Oslo politikammer D3325. 363 Pryser (2000), S. 43. Pryser gibt für diese Episode keine Quelle an und nennt auch nicht den Namen der Frau, aber in der von ihm bezeichneten Straße in Oslo wohnte nur eine jüdische Familie.

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Am folgenden Morgen wurden die Frauen von zwei Männern in Hird-Uniform festgenommen. Sie hatten in dem Taxi nur zwei Plätze; daher nahm der eine zunächst Dina und Anna mit. Der Mann, der bis zur Rückkehr des Autos auf Mutter und Tochter aufpassen sollte, fragte nonchalant: „Hier sind doch wohl keine englischen oder französischen Staatsbürger im Haus oder Schwangere m sechsten Monat?“ Jenny hob die Hand: „Ich bin englische Staatsbürgerin.“ Das irritierte den Hird-Mann gewaltig; er kratzte sich am Kopf und murmelte: „Verdammt, was machen wir da.“ Schließlich sagte er, sie müsse „mit runter zum Schiff “. Als sie und die Mutter im Taxi am Kai ankamen, wurde sie Zeugin der leidvollen Szenen, die sich dort abspielten. Während ihre Mutter und die beiden Schwestern bald an Bord der Donau gebracht wurden, saß sie im Taxi. Nach einer Weile trat ein Polizist mit markanten Gesichtszügen an das Auto heran und fragte: „Raus mit dir, wenn du Jüdin bist.“ Jenny antwortete: „Ja, ich bin Jüdin, aber ich sollte hier im Auto bleiben, weil ich britische Staatsbürgerin bin.“ Sie blieb im Auto sitzen. Schließlich wurde sie zum Gefängnis Bredtveit gefahren und dort um 10.45 Uhr registriert.364 Der Polizist war Stian Bech. Jenny Wulff sollte ihm noch einmal begegnen. Karl Hatlestad, der Wachtmeister, der den Angehörigen Meldungen aus dem Berg-Lager übermittelt und Lebensmittel und Tabak dorthin gebracht hatte, war jetzt aus der Bereitschaftsabteilung der Ordnungspolizei zu der Verhaftungsaktion abgestellt worden. Beim morgendlichen Appell kam er in eine Patrouille zusammen mit einem Mann vom Hird und einem von der Staatspolizei. Seine Geschichte ist ein Beispiel dafür, dass die Listen, die den Patrouillen übergeben wurden, auch Namen von Frauen in sogenannten Mischehen enthielten. Gleich die beiden ersten Frauen auf seiner Liste waren solche Fälle. Die dritte Frau, Margit Barchan, war nicht zu Hause; sie war untergetaucht und gelangte am 5. Dezember nach Schweden. Erst in dem vierten Haus traf die Patrouille die Gesuchte an, die 32-jährige Elly Salomon. Hatlestad sollte auf sie aufpassen, während die beiden anderen zu den weiteren Adressen auf der Liste eilten: Frl. Salomon war kalt und ruhig. Sie packte ihre Sachen. Eine Briefmarkensammlung und andere Dinge, die sie bei ihrer Rückkehr zurückhaben wollte, brachte sie zu einem Nachbarn. Sie sagte Hatlestad, dass sie ihre Wertsachen längst in Sicherheit gebracht habe. Nach zwei Stunden kamen Nordberg und der Hirdmann zurück. Alle weiteren Adressen hatten sie vergebens angefahren. So war Frl. Salomon die einzige, die die Gruppe verhaften konnte. Sie wurde nun ins Auto gesetzt und zum Kai gefahren, wo sie um zehn Uhr ankamen.365 364 Interview des Autors mit Jenny Wulff am 6. Juli 2005. 365 RA, S-1725 DaI Behälter 454, Sondervernehmung von Karl Hatlestad i Kjesäter am 14. Dezember 1942.

Das Schicksal wird besiegelt: die Aktionen vom 25. und 26. November

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Karl Hatlestad und der schon genannte Gerhard Aabelvik Jacobsen flohen gemeinsam nach Schweden. Aabelvik Jacobsen hatte mit mehr Personen zu tun gehabt, die verhaftet werden sollten. Deren Zahl konnte von Patrouille zu Patrouille stark schwanken, je nach der Entfernung der angegebenen Adressen vom Hafen. Zu Aabelvik Johansens Patrouille gehörten ebenfalls ein Staatspolizeimann und einer vom Hird. Die drei fuhren in den Stadtteil Grünerløkka, ein typisches Arbeiterviertel. Als Erste sollten sie die Eheleute Berenstein verhaften. Nathan Berenstein war im Krankenhaus, seiner Frau Sonja wurde befohlen zu packen. Aabelvik Jacobsen musste sie später am Tage noch einmal aufsuchen, diesmal um ihr zu sagen, dass sie vorläufig zu Hause bleiben solle. Der Grund war Wagners Befehl, dass die Familien nicht getrennt werden sollten. Gute Helfer waren aber auch an diesem Tage am Werk. Sie sorgten dafür, dass Sonja Berenstein ein paar Tage später ins Krankenhaus kam. Von dort halfen sie Nathan Berenstein am 8. Dezember und Sonja am 17. Dezember hinüber nach Schweden. Im gleichen Haus wohnten auch die 68-jährige Fanny Joseph und ihre Tochter Cecilie. Diese beiden brachte Jacobsens Patrouille zur Landungsbrücke I. Und in der Etage über Berensteins wohnte die 48-jährige Rebekka Blatt. Sie war „teilweise gelähmt“, wie Jacobsen nach seiner Flucht nach Schweden berichtete, aber auch ihr wurde befohlen zu packen. Ob sie abgeholt wurde, sagte er nicht, aber sollte es geschehen sein, so wurde sie später wieder freigelassen. Irgendwann kam sie in die Psychiatrische Klinik des Krankenhauses Ullevål. Dort wurde sie von der Staatspolizei am 2. Februar 1943 abgeholt und mit der Gotenland deportiert. An einer anderen Stelle des Stadtteils sollte die Patrouille zwei Frauen festnehmen, die 22-jährige Selma Glikman und ihre Schwiegermutter, die 52-jährige Esther Schuchad. Røds Anweisung, den Frauen solle das Wiedersehen mit ihren Angehörigen in Aussicht gestellt werden. erleichterte den Tätern ihre Aufgabe; das geht aus Jacobsens Bericht klar hervor. Selma Glikman war jungverheiratet; ihr Mann war im Lager Berg gewesen. Sie war ganz begeistert, als sie hörte, dass sie ihren Mann wiedersehen würde. Sie packte ihre Sachen, nahm die Judenbibel mit und wurde zum Kai gefahren. Als sie aus dem Auto stieg, begann sie plötzlich zu weinen. Jacobsen fragte nach dem Grund. Sie antwortete, das hier sei schlimmer als Tierquälerei. Sie sehe nämlich genau in diesem Augenblick, wie ihre eigene Großmutter, die 83 Jahre alt sei, von zwei Polizisten zur Gangway geschubst werde.366

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