Die Rüstungskontrolle: Rückblick auf eine kurze Ära [1 ed.] 9783428529285, 9783428129287

Gestützt auf seine praktischen Erfahrungen, geht der Verfasser den weltpolitischen Entwicklungen nach, denen Abrüstung u

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Die Rüstungskontrolle: Rückblick auf eine kurze Ära [1 ed.]
 9783428529285, 9783428129287

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Zeitgeschichtliche Forschungen

36

Die Rüstungskontrolle Rückblick auf eine kurze Ära

Josef Holik

Duncker & Humblot · Berlin

asdfghjk

JOSEF HOLIK

Die Rüstungskontrolle

Zeitgeschichtliche Forschungen Band 36

Die Rüstungskontrolle Rückblick auf eine kurze Ära

Von Josef Holik

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagbild: „Schwerter zu Pflugscharen‘‘ – Skulptur des sowjetischen Bildhauers Jewgeni Wutschetitsch im North Garden des UN-Hauptquartiers in New York (# UN Photo by Andrea Brizzi) Alle Rechte vorbehalten # 2008 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Werksatz, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 1438-2326 ISBN 978-3-428-12928-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Inhalt Die Vorgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Kalter Krieg und Hochrüstung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Aufbruch zur Rüstungskontrolle in den USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Der SALT-Prozeß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Rüstungskontrolle in Europa – eine andere Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 Exkurs 1: Rüstungskontrolle als Instrument der Sicherheitspolitik . . . . . . . . . . . . . . 26 Exkurs 2: Ideologie und Propaganda

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Die Bemühungen um ausgewogene Truppenverminderungen (MBFR) . . . . . . . . . . . 34 Der Streit um die Neutronenwaffen

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Militärische Transparenz und Vertrauensbildende Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 „Doppelbeschluß“ und erste INF-Verhandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Der schwierige Weg zu einer kooperativen Sicherheitsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 INF: Die doppelte Nullösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Die LANCE-Debatte: Modernisierung oder Rüstungskontrolle? . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte in Europa (VKSE) und die Begrenzung der deutschen Streitkräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Strategische Offensivwaffen gegen Defensiv- und Weltraumwaffen . . . . . . . . . . . . . 76 Abrüstung im globalen Maßstab: Chemische Waffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Die Verlängerung des Nuklearen Nichtverbreitungsvertrags (NVV) . . . . . . . . . . . . . 86 Die Nachgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Anhang Zeittafel 1961 – 1983 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Zeittafel 1985 – 1992 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Ausgewählte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106

Die Vorgeschichte Die Vision des Propheten Jesaja von den Schwertern, die zu Pflugscharen umgeschmiedet werden, hat die Menschen seit Jahrtausenden bewegt und immer wieder motiviert. Herausgekommen ist freilich nicht viel. Bis in die jüngste Vergangenheit hinein fand Abrüstung fast immer nur einseitig statt – zu Lasten der Besiegten. Sehr selten waren Staaten im Frieden bereit, sich freiwillig und auf Basis der Gegenseitigkeit in der Verfügung über ihre militärischen Machtmittel einschränken zu lassen. 1 Die erste Initiative für Abrüstung und Frieden, die von der Staatenwelt halbwegs ernstgenommen wurde. liegt erst gut hundert Jahre zurück. Am 18. Mai 1899 trat in Den Haag, von Zar Nikolaus II. angeregt, eine Große Friedenskonferenz zusammen. Sie sollte „die wirksamsten Mittel suchen, um allen Völkern die Wohltaten des wahren und dauernden Friedens zu sichern“, und sie sollte „die übermäßigen Rüstungen herabsetzen, die auf allen Nationen lasten“. Auch Bertha von Suttner, Vorkämpferin aller Friedensbewegungen und erste Trägerin des Friedensnobelpreises, war beeindruckt. Sie sah in der Friedenskonferenz die „wichtigste und weittragendste Erscheinung der zukunftsbestimmenden Gegenwart“. 2 Kaiser Wilhelm in Berlin schätzte weder die Baronin noch die Haager Konferenz besonders. Einem Vermerk seines Petersburger Gesandten entnahm er, Zar Nikolaus habe mit der Konferenz nur ein Ziel im Auge: den ewigen Frieden, 1 In diesem Sinne werde ich, ungeachtet der spezifischen Entstehungsgeschichte des Begriffs, den Terminus Rüstungskontrolle im weiteren Text verwenden. Ich rechne dazu auch Abrüstung, wenn darunter die vereinbarte Abschaffung von Waffen verstanden wird. In der Alltagssprache wird Abrüstung allerdings oft undifferenziert als umfassender Begriff verwendet, und in der Politik spricht man gern, um nichts auszulassen, von Rüstungskontrolle und Abrüstung. In der Praxis waren bisher folgende Maßnahmen Gegenstand von Verhandlungen und Verträgen zur Rüstungskontrolle: − Vertrauensbildende Maßnahmen wie Vorankündigung von Truppenbewegungen und Manövern − Begrenzung militärischer Aktivitäten − Einfrieren oder Höchststärken für Streitkräfte oder Waffenbestände − Beschränkungen für militärische Aktivitäten oberhalb vereinbarter Schwellen oder in bestimmten geographischen Zone − Verringerung von Streitkräften oder Waffenbeständen − Verbot bestimmter Waffen oder Waffentechniken Auch Maßnahmen, die auf Verhinderung der Verbreitung von Waffen und Waffentechnologien abzielen, werden meist zur Rüstungskontrolle gezählt. 2 Schönbohm (Hrsg.), Ausgewählte Texte, S. 59.

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dessen Segnungen er durch diesen Schritt der Welt zu geben gedachte. Da schrieb der Kaiser an den Rand des Papiers: „Heilige Bertha!“. 3 Und als Staatssekretär v. Bülow Weisung für die Schlußabstimmung der Friedenskonferenz einholte und an Zusagen gegenüber dem Zaren erinnerte, echauffierte sich der Kaiser wieder in einem Aktenvermerk: Ich habe dem Zaren versprochen, zu einer befriedigenden Lösung meine Hülfe angedeihen zu lassen. Damit er sich nicht vor Europa blamire, stimme ich dem Unsinn zu. Aber werde in meiner Praxis auch später mich nur auf Gott und mein scharfes Schwert verlassen und berufen! Und scheiße auf die ganzen Beschlüsse! 4

Abrüstung war in Berlin offensichtlich nicht „in“, und leider sah es in den anderen Hauptstädten nicht viel besser aus. Die Groß- und Mittelmächte Europas sahen in ihrer militärischen Schlagkraft zu Lande oder zur See die Basis ihrer Sicherheit und das wichtigste Instrument zur Durchsetzung eigener Macht- und Kolonialpolitik. Ende des 19. Jahrhunderts setzte ein immer zügelloserer Rüstungswettlauf ein. Er verschärfte die aus Weltherrschaftsgelüsten und Volksverhetzung resultierenden allseitigen Spannungen und trug entscheidend zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs bei. Die Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907 hatten sich am Ende, was die Abrüstung angeht, zu nicht viel mehr als einer Erklärung durchgerungen, die es als wünschenswert bezeichnete, die Militärausgaben zu beschränken. Dagegen einigte man sich – gewissermaßen vorsorglich – auf Regeln zum Schutz derer, die künftige Kriege aktiv führen sollten: Wichtige Normen des Kriegsvölkerrechts, des „ius in bello“, wurden erstmals kodifiziert, Waffenarten wie Giftgas, DumdumGeschoße oder von Luftschiffen abgeworfene Sprengkörper verboten. Nach dem Ersten Weltkrieg, so konnte man hoffen, würde die internationale Staatengemeinschaft Konsequenzen aus der Katastrophe ziehen und an Abrüstung denken. In der Tat wurde bald umfassend abgerüstet, wenngleich – nach bewährtem Muster – einseitig: Vae victis! Dem Deutschen Reich wurden in Versailles tiefgreifende Fesseln für Umfang von Streitkräften und Rüstungen auferlegt, die die Reichswehr im Laufe der Jahre freilich geschickt zu umgehen wußte. Von der militärischen Großmacht Österreich-Ungarn überlebten in Wien im wesentlichen die Regimentskapelle der Hoch- und Deutschmeister, in Budapest die „Gulaschkanonen“, die mobilen Feldküchen des Heeres. Zehn Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs zeichnete sich dann doch ein Aufbruch zu neuen Ufern ab. Im Briand-Kellogg-Pakt verzichteten 1928 die Mitgliedstaaten des Völkerbunds, aber auch die Außenseiter Deutschland, Japan und 3

Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, Acta betr. den russischen Abrüstungsvorschlag, Bd. 12, R 100. 4 Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, Acta betr. Verhandlungen der Haager Friedenskonferenz im Jahre 1899, Allgemein, Bd. 7, R 101.

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die USA feierlich auf Krieg als Instrument nationaler Politik. Im Gefolge dieses Pakts trat 1932 die Erste Weltkonferenz für Abrüstung zusammen. Sie sollte der Kriegsverhinderung, der Abrüstung und der Eindämmung von Waffenproduktion und Waffenhandel dienen und entwickelte Konzepte und Projekte, die der Abrüstungsdiskussion nach dem Zweiten Weltkrieg Auftrieb geben sollten. 5 Der Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund führte 1936 zu einem ergebnislosen Abbruch der Weltabrüstungskonferenz. Der Durchbruch zur Abrüstung gelang erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Das knappe halbe Jahrhundert, das zwischen dem Aufbau und dem Abbau einer gewaltigen militärischen Konfrontation lag, wird nicht nur als Zeit der Hochrüstung, sondern auch als Zeit der Rüstungskontrolle und Abrüstung in die Geschichte eingehen. In der letzten Phase dieses Zeitabschnitts war die Bewältigung der Abrüstung nicht einfach eine „Friedensdividende“, die man einkassieren konnte, sondern eine Herausforderung: Rußland brauchte „Abrüstungshilfe“, um Massenvernichtungswaffen der Sowjetunion zu entsorgen, und auch im Westen wurde die Konversion militärischer zu zivilen Strukturen zu einer Wissenschaft. „Der Abbau der politischen Konfrontation hat den Abbau der militärischen Konfrontation möglich gemacht“ – das war die einfache Formel, auf die sich die Entwicklung in Ministerreden anschaulich bringen ließ. Die Wirklichkeit war komplizierter. Oft machte der Abbau der militärischen Konfrontation den Abbau der politischen Konfrontation sogar erst möglich: Als Außenminister Hans-Dietrich Genscher im Februar 1987 vor dem Weltwirtschaftsforum in Davos von einem grundsätzlichen Wandel der sowjetischen Außen- und Sicherheitspolitik sprach und die westlichen Politiker dazu aufrief, Gorbatschow ernst zu nehmen und ihn beim Wort zu nehmen, 6 löste er von Washington bis Bonn eine Welle der Entrüstung und des Spotts aus; „Genscherismus“ stand damals in der NATO für blauäugige Sicherheitspolitik. Erst nachdem Gorbatschow die „doppelte Nullösung“ für die Mittelstreckenraketen akzeptiert hatte, wurde über eine Wende in den Ost-West-Beziehungen ernsthaft nachgedacht. Wer den Beitrag der Rüstungskontrolle zur Geschichte der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts bewerten will, kommt zuallererst nicht daran vorbei, daß es die Interaktion zwischen Rüstung und Rüstungskontrolle war, die der 5 Die wichtigsten Themen waren − Konsultationsmechanismen zum Brian-Kellog-Pakt, − Begrenzung und spätere Reduzierung von Streitkräften, Rüstungen und Verteidigungsausgaben, − Ein Verbot chemischer, bakteriologischer und Brandwaffen, − Beschränkungen für Waffenhandel und -produktion − Verifikation und Sanktionen − Moralische Abrüstung. 6 Krause, Dokumentation zu Abrüstung und Sicherheit, Band 24, SS. 73.

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Welt den Frieden erhielt: Die Androhung gegenseitiger Vernichtung, dank einer ungeheuerlichen Waffenentwicklung glaubwürdig, schreckte beide Seiten vor kriegerischen Handlungen ab; das Risiko eines Kurzschlusses in diesem System machte aber – wie die Kubakrise 1962 erschreckend vor Augen führte – einen Dialog über die gegenseitige Kontrolle der bedrohlichen Rüstungen unerläßlich. Der Dialog der Militärs ebnete den Weg für den Dialog der Politiker und Diplomaten und erbrachte Spielregeln, die sich auch als Grundlage für das Management des Entspannungsprozesses bewährten. Die Stabilisierung des militärischen Kräfteverhältnisses erleichterte die Stabilisierung der politischen Beziehungen. Wenn man die Geschichte des Ost-West-Konflikts den Abläufen der Rüstungskontrolle gegenüberstellt 7, ergeben sich deutliche positive und negative Wechselwirkungen. Rüstungskontrolle war aber selten nur Selbstzweck. Die wichtigsten Ergebnisse wurden erzielt, wenn Staaten und Bündnisse sie nutzten, um übergeordnete politische Ziele durchzusetzen – miteinander oder gegeneinander. In der Entspannungsphase nach der Kubakrise bemühten sich die USA und die Sowjetunion über den SALT-Prozeß, ihre weltmachtpolitische Konkurrenz durch Einhegung des militärischen Elements zu stabilisieren. Als die Zeiten schwieriger wurden, diente die Rüstungskontrolle der NATO als Instrument einer Sicherheitspolitik, die wachsende militärische Überlegenheiten des Warschauer Pakts auszugleichen suchte. Zuweilen gelang es, mit einer überzeugenden Politik der Rüstungskontrolle – etwa mit Hilfe des „Doppelbeschlusses“ – in der militärischen Konfrontation zwischen Ost und West die Weichen neu zu stellen. Als eine „zweite Nachrüstung“, diesmal bei den Kurzstreckraketen der NATO, debattiert wurde, verhinderte die deutsche Bundesregierung mit der Forderung nach Rüstungskontrolle statt Modernisierung einen Rückfall in den Kalten Krieg. Dann zeichnete sich das Ende des Kalten Kriegs wirklich ab und Rüstungskontrolle wurde zum Instrument einer kooperativen Sicherheitspolitik zwischen Ost und West, um den friedlichen Wandel in Europa abzusichern; Abrüstung wurde, so Hans-Dietrich Genscher, „zum Kern der deutschen und der europäischen Vereinigung“. Bevor der Erfolg der Rüstungskontrolle in Europa verblaßte, strahlte er noch einmal auf die globale Abrüstungsbühne aus und erleichterte in den 90er Jahren das weltweite Verbot chemischer Waffen und die unbefristete Verlängerung des Nuklearen Nichtverbreitungsvertrags; Grundlage dieses Erfolgs war das übereinstimmende Interesse der Staatengemeinschaft, die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen zu unterbinden. Themen der Abrüstung und Rüstungskontrolle waren damals in heute nicht mehr nachvollziehbarem Ausmaß Gegenstand der politischen und wissenschaftlichen Debatte. Es kam zu einem kontinuierlichen Kapazitätsausbau der einschlägigen Institutionen, was wiederum zur Ausweitung und Vertiefung der Diskussion und 7

s. Zeittafeln im Anhang.

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zur Anhebung ihres Niveaus beitrug. Samuel Parkinson erklärte die Abrüstung zur Wachstumsindustrie. Mit dem Ende des Kalten Kriegs wurde es um die Rüstungskontrolle still. Militärische Macht trat in der „post-modernen“ Sicherheitsdebatte zunächst hinter wirtschaftlichen, sozialen und humanitären Faktoren zurück. Erst die jüngste Diskussion über neue Atommächte, Aufrüstungsprogramme und Raketenabwehrsysteme hat militärische Bedrohungen wieder greifbarer gemacht. Und schon wird in Parlamenten und auf Parteitagen gefordert, die Abrüstung „wieder ganz oben auf die politische Tagesordnung zu setzen“. Ob sich allerdings Rüstungskontrolle wieder „zur politischen Realität machen“ läßt, erscheint fraglich. Rüstungskontrolle ist ein Instrument. Sie kann nur erfolgreich sein, wenn die Politik, der sie dienen soll, von den maßgeblichen Akteuren der Staatenwelt mitgetragen wird. Andernfalls werden stets naheliegende Versuche, Rüstungskontrolle und Abrüstung innenpolitisch zu instrumentalisieren, ins Leere laufen. Ich war von 1987 bis 1995 Beauftragter der Bundesregierung für Rüstungskontrolle und Abrüstung 8 und konnte in den entscheidenden Jahren die Entwicklung miterleben und teilweise auch mitgestalten. In der Amtszeit meines Vorgängers, der die Regeln unserer Kunst mindestens ebenso gut beherrschte und sich nicht weniger Mühe gab, waren kaum wichtige Verhandlungsergebnisse zu verzeichnen. Daß es dann anders kam, lag weder am Geschick der Unterhändler noch an der Weisheit ihrer Weisungsgeber, sondern an veränderten politischen Rahmenbedingungen. In diesem Buch möchte ich – aus der Sicht des Praktikers – über die weltpolitischen Konstellationen nachdenken, die Rüstungskontrolle und Abrüstung zu erstrangigen Faktoren in allen Dimensionen der Außen- und Sicherheitspolitik werden ließen: für die Beziehungen zwischen den Bündnissen und ihren Führungsmächten, für die politischen Beziehungen innerhalb des westlichen Bündnisses, aber auch für die innenpolitische Auseinandersetzung. Dabei werde ich mich auf diejenigen Verhandlungskomplexe konzentrieren, bei denen die instrumentelle Rolle von Rüstungskontrolle und Abrüstung für die gesamte Sicherheitspolitik besonders deutlich wird 9. Natürlich werde ich auf Verhandlungen, an denen ich persönlich beteiligt war, intensiver eingehen als auf Vorgänge, die ich als nicht direkt Beteiligter nur referieren kann – etwa im Zusammenhang mit dem bilateralen Rüstungskontrolldialog der USA und der Sowjetunion.

8 Diese Funktion wurde 1965 auf Grundlage einer Entschließung des Bundestags im Auswärtigen Amt geschaffen. 9 Einen umfassenden Überblick über alle Verhandlungen und Verhandlungsergebnisse der Zeit gibt Goldblat, Jozef, in Arms Control, A Guide to Negotiations and Agreements. Informationen über laufende Verhandlungen finden sich auf der Homepage des Auswärtigen Amts unter www.auswaertiges-amt.de.

Kalter Krieg und Hochrüstung Unsere Geschichte beginnt mit einem Paradigmenwechsel. Nach dem Sieg der Alliierten in dem – so Raymond Aaron – „Dreißigjährigen Krieg gegen Deutschland“ führten sehr bald ideologische und machtpolitische Gegensätze zu neuen Freund-Feind-Verhältnissen. Die Sowjetunion machte sich daran, ihren im Kriegsergebnis gewonnenen Machtbereich im östlichen Europa zu konsolidieren und auszuweiten. Während die USA und Großbritannien ihre Streitkräfte weitgehend demobilisierten, behielt die Sowjetunion weiterhin Millionen Soldaten unter Waffen. Unter Historikern und Politikwissenschaftlern wurde darüber debattiert, ob die sowjetische Politik immer noch vom Endziel der weltweiten Überwindung von Kapitalismus und Imperialismus oder von traditionellen Großmachtinteressen geleitet war. Für die politische Praxis im Westen waren die von der Sowjetunion in Europa geschaffenen Fakten ausschlaggebend. Um die gefährliche Entwicklung einzudämmen, schlossen sich die Regierungen der ehemals kriegsverbündeten Länder im Westen nur vier Jahre nach dem gemeinsamen Sieg über Hitler unter Führung Washingtons und unter amerikanischem Oberkommando in der Nordatlantischen Verteidigungsgemeinschaft zusammen und begannen mit dem Aufbau einer gemeinsamen Verteidigung. Der „Kalte Krieg“ begann. Nur sechs Jahre später, zehn Jahre nach der Kapitulation des Deutschen Reichs, wurde die Bundesrepublik Deutschland, die sich als dessen Rechtnachfolger betrachtete, in das westliche Bündnis aufgenommen. Von Anfang an und bis zum Ende der Konfrontation mußte die NATO mit einem zweifachen Nachteil fertig werden: mit der geostrategischen und mit der quantitativen Überlegenheit der Sowjetunion und ihrer Verbündeten in Europa. Der Warschauer Pakt besaß auf der „inneren Linie“, auf dem europäischen Kontinent, stets mehr Streitkräfte und konnte sie rascher und sicherer verstärken. In ihrer Friedenspropaganda oder in Rüstungskontrollverhandlungen wollten die Sowjets diese Vorteile verständlicherweise nicht gelten lassen, doch intern klang das anders. Noch 1989 warnte Verteidigungsminister Jasow vor der Unterzeichnung des KAE-Vertrags die sowjetische Verhandlungsdelegation: Bedenkt, was ihr aufgeben wollt! Unsere Streitkräfte in Mitteleuropa sind die stärksten der ganzen Geschichte. Wir müssen nur den Befehl geben, und sie werden rollen, eine unaufhaltsame Welle, bis zum Englischen Kanal. 10 10 Berichtet vom sowjetischen KSE-Delegationsleiter Oleg A. Grinjewskij in seinem Beitrag „The Story behind the Picture“, in Newsweek 22. 11. 1993, S. 11.

Kalter Krieg und Hochrüstung

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Bei der gegebenen geostrategischen Sachlage konnte das militärische Kräfteverhältnis in Europa mithin nur ein dynamisches „Gleichgewicht der Ungleichgewichte“ sein: Die nuklearen Streitkräfte der USA mußten nicht nur vor einem nuklearen Angriff der Sowjetunion auf amerikanisches Territorium abschrecken, sondern auch die Lücke beim konventionellen Gleichgewicht in Europa ausgleichen, also eine erweiterte nukleare Abschreckung („extended deterrence“) gewährleisten. Es war das revolutionäre neue Element der Nuklearwaffe, das die militärische Konfrontation zwischen Ost und West im historischen Vergleich so einmalig macht. Von Anfang an verliefen Kalter Krieg und nukleare Rüstung parallel und verstärkten sich gegenseitig in einem eng verzahnten Prozeß von Ängsten und Herausforderungen 11. Zum ersten mal besaßen zwei Mächte die Fähigkeit, sich aus dem Stand gegenseitig zu vernichten. Anders als in der bisherigen Kriegsgeschichte ging die Gefahr der kriegerischen Eskalation bis zur totalen Vernichtung weder von der Größe von Kriegszielen noch von der Raserei der Menschen aus, sondern vom Charakter der verfügbaren Waffen. Für die Zerstörungskraft dieser Waffen gab es seit Hiroshima und Nagasaki makabre Maßstäbe. Die Befürworter der Abschreckung glaubten, daß die ungeheure Zerstörungskraft nuklearer Waffen, verbunden mit der inhärenten Eskalationsgefahr, sicherstellen konnte, daß der Krieg als Mittel der Politik nicht mehr in Betracht gezogen wird. Das Risiko einer nuklearen Katastrophe sollte die Verantwortlichen auf beiden Seiten zur Rücksichtnahme und Zurückhaltung auch bei militärischen Konfrontationen zwingen. Doch abgesehen davon, daß jemand von den Verantwortlichen im Extremfall durchdrehen konnte, wäre das im Grunde einfache strategische Kalkül eines „Gleichgewichts des Schreckens“ objektiv nur richtig gewesen, wenn nicht der bilaterale Rüstungswettlauf das Gleichgewicht immer wieder gefährdet hätte. 12 Dabei war nicht das Streben nach einseitiger Überlegenheit der Auslöser, sondern ein strategisches Dilemma: Um gewiß zu sein, daß ihre Nuklearwaffen nicht eingesetzt zu werden brauchen, mußte jede der beiden Supermächte sicherstellen, daß die Gegenseite glaubte, sie könnten erfolgreich eingesetzt werden. 13 Deshalb mußten konkrete Pläne für nukleare Kriegführung entwickelt, geübt und perfektioniert werden. Der Zwang, die nukleare Abschreckung lückenlos glaubwürdig zu machen, führte zu einem beispiellosen Boom der einschlägigen Wissenschaft und Technik.

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Bundy, Crowe, Drell, S. 14/15. Schmidt, S. 184. Talbott, S. 255.

Aufbruch zur Rüstungskontrolle in den USA Die systematischen Grundlagen der nuklearen Abschreckung wurden in den USA nicht von Militärs, sondern von Wissenschaftlern geschaffen. Eine führende Rolle spielten Physiker, die bereits am „Projekt Manhattan“, dem Bau der ersten Atombombe, beteiligt waren. Bereits zu Beginn der Sechziger Jahre wurden sich aber einige von ihnen der Gefahren bewußt, die das Streben nach Perfektionierung der gegeneinander gerichteten Waffenpotentiale mit sich brachte. Es waren nicht „Friedensforscher“, die damals für eine Kontrolle der Rüstungen eintraten, sondern Wissenschaftler, die das System der Abschreckung mitgeprägt hatten und auch weiterhin für unerläßlich hielten. „Wir haben erlebt“, schrieb Jerome B. Wiesner, einer der Pioniere dieser Bewegung, „daß die Sowjets jedem Waffenfortschritt auf unserer Seite etwas Gleichwertiges entgegenzusetzen hatten, so daß im Laufe der Zeit nur eines deutlich erkennbar wurde: Beide Mächte entwickelten immer mehr Vernichtungswaffen, gegen die es keinen Schutz gab“. 14 In einer Sonderausgabe des „Daedalus“, des Organs der American Academy of Arts and Sciences, stellte im Herbst 1961 Wiesner zusammen mit Kollegen wie Donald G. Brennan, Herman Kahn und Thomas C. Schelling die Bemühung um die gegenseitige Kontrolle von Rüstungen – Arms Control – zum erstenmal konkret auf die Tagesordnung der internationalen Diskussion. Auch wenn Gedanken und Vorschläge in unterschiedliche Richtungen gingen, suchte man gemeinsam nach Wegen, Entwicklung und Einsatz der nuklearen Potentiale zu kontrollieren, und zwar in Kooperation mit dem potentiellen Gegner. Ein Kuriosum: Thomas C. Schelling, einer der Träger des damaligen Projekts, wurde im Jahre 2005 im Alter von 81 Jahren mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenshaften ausgezeichnet – für seine Spieltheorie, mit der er strategisches Handeln im globalen Wirtschaftsablauf analysierte. 1960 hatte er diese Theorie bereits auf die Interaktion zwischen Abschreckung und Rüstungskontrolle angewandt. Gemessen an herkömmlichen Abrüstungsvisionen ging es damals um ein scheinbar bescheidenes Ziel: Minderung der Gefahr eines Nuklearkriegs durch Stabilisierung des militärischen Kräfteverhältnisses, Eindämmung des nuklearen Wettrüstens und vor allem Verhinderung eines Überraschungsangriffs. Abrüstung im 14

Brennan, Strategie der Abrüstung, S. 19.

Aufbruch zur Rüstungskontrolle in den USA

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Sinne einer Verringerung von Streitkräften und Rüstungen war den meisten kein prioritäres sicherheitspolitisches Anliegen. Die Idee der Rüstungskontrolle entsprang der nüchternen Erkenntnis, daß jede der beiden Supermächte zwar existentiell daran interessiert war, die Bedrohung der anderen wirksam und glaubwürdig zu erhalten, aber ebenso existentiell auch an der Vermeidung eines Nuklearkriegs. Grundlage der Abschreckung sollte die Fähigkeit jeder der beiden Seiten sein, den Gegner zu vernichten. Die Zweitschlagsfähigkeit, d. h. die Fähigkeit, dem Gegner nach dessen erstem Nuklearschlag mit dem verbleibenden Nuklearpotential einen katastrophalen Schaden zuzufügen, mußte auf beiden Seiten erhalten bleiben, um die Abschreckung zu stabilisieren. Gerade weil man keine Alternative zur gegenseitigen Abschreckung sah, mußte man nach Wegen suchen, das militärische Kräfteverhältnis zu stabilisieren statt zu destabilisieren. 15 Deshalb sollte die Rüstungskontrolle aus den politischen Gegensätzen, die dem Ost-West-Konflikt zugrunde lagen, herausgehalten werden. Diese These der „Separability of Arms Control from the Underlying Political Issues“ war nicht nur für die Ideologen im Kreml weltfremd. Auch in Westeuropa glaubte man an den Primat der Politik gegenüber dem Militärischen, was den Umgang mit den neuen amerikanischen Ideen erschwerte. Aber unter dem Schock der Kubakrise des Jahres 1962, als die Welt, zum ersten mal für alle sichtbar, an den Rand der nuklearen Katastrophe geriet, kam die Rüstungskontrolle in ihrer ursprünglichen Konzeption zum Durchbruch in der praktischen Politik. Robert McNamara, zur Zeit der Kubakrise amerikanischer Verteidigungsminister und enger Mitarbeiter Präsident Kennedys beim amerikanischen Krisenmanagement 16: In Moskau wie in Washington zogen wir zwei wichtige Schlüsse: Erstens, daß in diesem Zeitalter der Hochtechnologiewaffen Krisenmanagement gefährlich, schwierig und ungewiß geworden ist. Deshalb mußten wir unsere Aufmerksamkeit darauf lenken, Krisen zu vermeiden. Vermeiden erfordert zum mindesten, daß sich potentielle Gegner mit großer Sorgfalt bemühen zu verstehen, wie die Gegenseite ihre Aktionen interpretieren wird.

Die sowjetischen Militärs ließen sich schon bald nach der Kubakrise auf Gespräche ein. Bei aller Übereinstimmung in der Sache wurde allerdings der Terminus „Rüstungskontrolle“ von den Sowjets bis zum Schluß nicht übernommen – offenbar aus ideologischer Schwerfälligkeit. Dessen ungeachtet fanden die USA und die UdSSR, auch wenn ihre Beziehungen als Führungsmächte der beiden gegnerischen Lager grundsätzlich durch Feindseligkeit und Mißtrauen geprägt waren, in einem begrenzten, aber besonders gefährlichen Bereich der Konfrontation zu einer kooperativen Politik. Der militärische Dialog schuf eine Vertrauensbasis, die eine Ausweitung der Zusammenarbeit erleichterte, und erbrachte Spielregeln für die Regelung von Streitfragen, die auch der politischen Entspannung zwischen 15 16

Schelling, S. 234. Interview mit International Herald Tribune, 10. 10. 1992.

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Aufbruch zur Rüstungskontrolle in den USA

Ost und West zugute kamen. Wenn neue Spannungen ausbrachen, trugen die durch die Rüstungskontrolle geschaffenen Netzwerke maßgeblich zur Erhaltung von Stabilität und Frieden bei. In den amerikanisch-sowjetischen Verhandlungen über Rüstungskontrolle ging es zunächst um formlose Vereinbarungen, die die Gefahr eines Krieges aus technischem Versagen, Mißverständnis oder Fehlkalkulation vermindern sollten. Die wichtigsten waren − die Hot Line Agreements, mit denen schnelle und zuverlässige Kommunikationsstränge zwischen Regierungs- und Kommandostellen errichtet wurden; die erste Vereinbarung dieser Art, in der Folgezeit wiederholt modernisiert, kam im Juni 1963, innerhalb eines Jahres nach Beendigung der Kubakrise zustande; − das Nuclear Accidents Agreement von 1971, das technische Maßnahmen zur Verminderung des Risikos eines Nuklearkrieges durch Versehen oder falsche Kalkulation festlegte und erstmals Notifizierungen für den Start ballistischer Raketen (1988 weiter verstärkt) vorsah; − das Agreement on the Prevention of Nuclear War von 1973, das bilaterale Konsultationen für politische Krisensituationen vorsah, die zum Ausbruch eines gewollten, nicht nur versehentlichen, Nuklearkriegs führen könnten; − die Einrichtung von Nuclear Risk Reduction Centers in den beiden Hauptstädten (1987) zur Optimierung der für gefährliche Situationen vorgesehenen Kommunikationen.

Der SALT-Prozeß In diesen frühen Verhandlungen konnten beide Seiten noch von gleichgerichteten Interessen ausgehen. Als Umfang und Struktur strategischer Potentiale Gegenstand des Dialogs wurden, bestimmten jedoch zunehmend antagonistische Interessen das Vorgehen. Bei der Definition von Verhandlungszielen und in den Verhandlungen selbst suchten beide Seiten ihre militärischen Vorteile. Als Reagan mit START offen eine Korrektur des strategischen Kräfteverhältnisses zugunsten der USA erreichen wollte, sprachen Spötter in Washington von Rüstungskontrolle als Fortsetzung der Verteidigungspolitik mit diplomatischen Mitteln. Am Anfang war es das Pentagon, das Nixon zu Verhandlungen über die Begrenzung strategischer Waffen drängte, um einseitigen amerikanischen Reduzierungen als Folge von Haushaltskürzungen vorzubeugen. 17 Bei der militärischen Führung in Moskau stießen Verhandlungen über eine Begrenzung der Potentiale zunächst auf strikte Ablehnung. Im Politbüro zürnte Verteidigungsminister Gretschko, allein der Gedanke, man könne mit den Amerikanern auf diesem Gebiet eine Übereinkunft erzielen, müsse als verbrecherisch bezeichnet werden. 18 Die politische Führung sah das anders, nachdem die Sowjetunion Ende der 60er Jahre nuklearstrategische Parität mit den USA erreicht hatte. Sie ließ sich darauf ein, die Parität auch über die strategische Rüstungskontrolle festzuschreiben und so den Status der Sowjetunion als gleichberechtigte globale Supermacht zu bestätigen. Für Breschnew wie für Nixon war SALT überdies Grundlage für den Ausbau eines umfassenden Entspannungsprozesses. Bereits im Dezember 1968 gab es vertrauliche Kontakte, in denen über das allgemeine Verhandlungsziel Einigung erzielt wurde: stabile gegenseitige Abschreckung unter Anerkennung eines engen Zusammenhangs zwischen Offensivsystemen und strategischer Verteidigung. 19 Als im Herbst 1969 die Strategic Arms Limitation Talks (SALT) – vorsichtshalber „Gespräche“ und nicht „Verhandlungen“ benannt – begannen, wollten die Sowjets nur über Begrenzungen defensiver Waffen verhandeln, bei denen sie technologische Vorteile der USA sahen, die Behandlung offensiver Raketensysteme aber verschieben. Im Sommer 1970 klärte Nixon in einem Briefwechsel mit dem Sowjetischen Premierminister Alexej Kossygin den Rahmen für Verhandlungen über beide Komplexe. Die amerikanische 17 18 19

Kissinger, S. 748. Kwizinski, S. 281. Garthoff, S. 136 ff.

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Der SALT-Prozeß

Verhandlungsposition wurde von Nixons Sicherheitsberater und späterem Außenminister Henry Kissinger maßgeblich geprägt. Die USA bemühten sich vor allem um Maßnahmen, die das Wettrüsten eindämmen und die Entwicklung der gefährlichsten Waffenkategorien auf beiden Seiten verlangsamen sollten. Reduzierungen standen nicht auf der Tagesordnung, Höchststärken nur im Zusammenhang mit dem Einfrieren des Bestandes einer Waffenkategorie. Dabei wurde auf Flugkörper, nicht aber auf Gefechtsköpfe abgestellt. Am Anfang stand – als Teil von SALT – der Vertrag über die Begrenzung von antiballistischen Raketensystemen von 1972, in die Geschichte eingegangen als Anti Ballistic Missile (ABM) Treaty und bis heute von politischer Aktualität. Verboten wurde, von ausdrücklich vereinbarten Ausnahmen abgesehen, die Stationierung von Systemen zur Verteidigung der Gesamtterritorien der USA und der UdSSR oder einzelner Regionen. Zugelassen wurden zwei Systeme für jedes Land: zum Schutz der Hauptstädte – wie es für Moskau bereits existierte – sowie zum Schutz je eines Abschußkomplexes für offensive interkontinentale Flugkörper. Des weiteren wurde u. a. die Entwicklung, Erprobung und Stationierung mobiler ABM-Systeme verboten. Der Vertrag, ergänzt durch vereinbarte und einseitige Auslegungserklärungen und 1974 ergänzt durch ein Zusatzprotokoll, wurde für unbestimmte Dauer geschlossen, doch hatte jede Seite das Recht zur Kündigung mit einer Frist von 6 Monaten. Davon sollten die USA nach einer wechselvollen Geschichte fast 20 Jahre später Gebrauch machen. Damals war der ABM-Vertrag jedoch die Grundlage der Bemühungen um Begrenzung und später Reduzierung offensiver strategischer Potentiale. Denn zwischen offensiver und defensiver Raketenrüstung sahen beide Seiten einen klaren Zusammenhang: Der ungehemmte Ausbau eines Abwehrsystems hätte die Gegenseite gezwungen, ihre offensiven Systeme zu verstärken, um die Abwehr zu überwinden. Umgekehrt hing die Lebensfähigkeit eines Verbots von Raketenabwehrsystemen von der beiderseitigen Bereitschaft zur Begrenzung von Offensivwaffen ab. Es machte deshalb Sinn, daß die erste vorläufige Vereinbarung zur Begrenzung strategischer Offensivsysteme, das SALT I Interim Agreement, gleichzeitig mit dem ABM-Vertrag 1972 in Kraft trat. Darin verständigten sich die USA und die UdSSR darauf, die Gesamtzahl ihrer landgestützten strategischen Trägersysteme und ihrer ballistischen Trägersysteme auf modernen U-Booten fünf Jahre lang nicht zu erhöhen. Das klingt einfach und ausgewogen, hatte aber wegen der bestehenden Asymmetrien innerhalb der beiderseitigen Potentiale komplizierte Auswirkungen. Für die USA ergab sich eine Höchststärke von 1.710 der erfaßten Trägersysteme, rund 700 weniger als die Sowjetunion bereits besaß. Die Festschreibung dieser Unterlegenheit war für Washington weniger wichtig als eine spezifische Untergrenze von 308 schweren Interkontinentalraketen, mit denen das sowjetische Monopol bei diesen Trägersystemen eingefroren werden konnte. Auch angesichts der technologischen Überlegenheit der USA im Bereich der Feststoffraketen, der Verkleinerung und Genauigkeit von Sprengköpfen, vor allem aber

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wegen des noch bestehenden amerikanischen Monopols in der MIRV-Technik 20 erschien die festgeschriebene sowjetische Überlegenheit damals tragbar. Während für den ABM-Vertrag unbegrenzte Laufzeit festgelegt wurde, sollte das SALT I Interim Agreement spätestens 1977 durch einen längerfristigen Vertrag ersetzt werden. Die Bemühungen um SALT II scheiterten aber zunächst wegen Nixons Rücktritt im Gefolge des Watergate-Skandals. Erst sein Nachfolger Ford konnte bei einem Treffen mit Breschnew in Wladiwostok 1974 einen weiteren Fortschritt erzielen: In einer informellen Absprache wurden Gesamthöchststärken für ballistische Trägersysteme und Bomber mit interkontinentaler Reichweite bei 2.400 sowie eine spezifische Höchststärke für ballistische Raketen mit MIRV-Sprengköpfen vorgesehen. Darauf aufbauend, unterzeichnete Fords Nachfolger Carter mit Breschnew 1979 beim Gipfeltreffen in Wien den SALT II-Vertrag, in dem gleiche Höchststärken für einige nuklearstrategische Waffenkategorien festgelegt wurden – so 2.400 für ICBM- und SLBM-Trägersysteme 21, schwere Bomber und ballistische Luft-Boden-Raketen über 600 km Reichweite. Die Sowjets akzeptierten auch eine Höchststärke für landgestützte ballistische Raketen mit MIRV-Sprengköpfen, die sie inzwischen selbst besaßen, behielten aber ihr Monopol in der Subkategorie der schweren landgestützten ballistischen Trägersystemen. Mittlerweile war der SALT II-Vertrag in der strategischen und innenpolitischen Diskussion in Washington unter massive Kritik geraten. Tatsächlich lag eine Schwachstelle des SALT-Prozesses darin, daß er sich auf die Begrenzung der Zahl von Trägersystemen konzentrierte, die Modernisierung insbesondere von Sprengköpfen aber kaum beeinträchtigte. So hatte die Sowjetunion im Verlauf des SALT-Prozesses bei Gefechtsköpfen auf landgestützten Trägersystemen eine Überlegenheit von 5:2 erreicht. Als sie das amerikanische Monopol aufbrach und ihrerseits die MIRV-Technik einführte, vervielfachte sie damit ihr traditionelles Übergewicht bei den schweren Interkontinentalraketen. Kissinger sah das Problem, hielt aber die Rüstungskontrolle nicht für ein taugliches Instrument zur Korrektur von Fehlentwicklungen, die die militärischen Planer zu verantworten hatten 22: Das Pentagon hatte seine Planungsziele für strategische Offensivwaffen schon lange vor Beginn der SALT-Verhandlungen festgelegt und keine Anstalten zur Aufstockung getroffen, als etwa in der Absprache von Wladiwostok höhere Höchststärken vorgesehen wurden. Hinter dem Streit um SALT sah Kissinger den sich ausbreitenden Schock über das in jedem Falle unvermeidliche Ende der strategischen Überlegenheit der USA. Im übrigen verließ er sich darauf, 20 Multiple Independent Reentry Vehicles, d. h. Bewaffnung der Raketen mit mehreren unabhängig lenkbaren Gefechtsköpfen. 21 Intercontinental bzw. Sea Launched Ballistic Missiles. 22 Kissinger, S. 749 f.

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daß sich die Asymmetrien innerhalb der beiderseitigen Arsenale selbst neutralisieren würden. Auch James Schlesinger, als Verteidigungsminister Kissingers Gegenspieler, setzte auf Vernunft und Einsicht der Gegenseite, um destabilisierende Ungleichgewichte zu korrigieren. An Georgi Arbatov, den führenden AmerikaBerater des Kreml, appellierte er: „Eure große neue Rakete wird ernsthafte Probleme schaffen, nicht nur für uns, sondern auch für euch .... Der ungebremste Aufwuchs des Wurfgewichts auf euren geMIRVten Interkontinentalraketen ist für beide Seiten nachteilig, da es unsere gegenseitige Verwundbarkeit und damit die Instabilität unseres Verhältnisses erhöht.“ 23

Das war den Erfindern der Rüstungskontrolle aus der Seele gesprochen – und Schnee von gestern, als Ronald Reagan 1981 ins Weiße Haus einzog. Schon Carter hatte nach dem Einfall der Sowjetunion in Afghanistan den SALT IIVertrag aus dem Ratifikationsverfahren zurückgezogen, aber bereits vorher lagen die Chancen für eine Ratifikation im Senat bei Null. Dann wurde Ronald Reagan Präsident, der die Sowjetunion für das „evil empire“ hielt und Entspannungspolitik grundsätzlich ablehnte. SALT II bewertete er als „fatally flawed“, sein Berater Edward Rowny, später selbst Unterhändler für START, prägte den Ausdruck „Window of Vulnerability“. Die konservativen Sicherheitsexperten im „Committee on the Present Danger“ waren davon überzeugt, daß die Sowjetunion dank der Rüstungskontrollpolitik der Vorgänger Nixon, Ford und Carter, vor allem durch die SALT-Gespräche von 1969 bis 1979, nuklearstrategische Überlegenheit erreicht hatte. Wenn mit der Sowjetunion überhaupt weiter verhandelt werden sollte, wollte Reagan eine Korrektur des nuklearen Kräfteverhältnisses erreichen, also nachholen, was den USA mit ihren bisherigen Verteidigungsprogrammen nicht gelungen war. Als erstes mußte die Zielrichtung von Verhandlungen mit Moskau drastisch verändert werden: Nicht die zukünftige Entwicklung sollte gekappt und stabilisiert, sondern die bestehenden Arsenale reduziert werden: „Strategic Arms Limitation Talks“ sollten durch „Strategic Arms Reduction Talks“ (START) ersetzt werden. Und weil die Sowjetunion für überlegen gehalten wurde, mußten Reduzierungen in erster Linie in die sowjetischen Arsenale eingreifen, und zwar bei den modernsten und bedrohlichsten Waffensystemen. Außerdem durfte das ehrgeizige eigene Programm zur strategischen Modernisierung keinesfalls beeinträchtigt werden. Reagans „Revolution der Rüstungskontrolle“ dauerte aber nur drei Jahre. Die Sowjetunion ließ sich zwar im Mai 1982 auf Verhandlungen über START in Genf ein, vor allem um die INF-Verhandlungen zu flankieren, die im Zeichen der Vereitelung der „Nachrüstung“ der NATO standen 24. Nachdem dies mißlungen war, verlor sie ihr Interesse an START und brach die Verhandlungen nach 23 24

Talbott, S. 216. Vgl. unten S. 50 ff.

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der dritten Runde im Dezember 1983 ab. Die amerikanische Seite hatte ihr den Abbruch leicht gemacht. Ihre Verhandlungsführung war, da sich der Präsident für die komplizierten Niederungen nuklearer Strategie und die Details nuklearer Rüstungskontrolle wenig interessierte, 25 politisch nicht koordiniert, sondern lag bei Ressorts, deren führende Experten gegeneinander um Prestige und Einfluß rangen. Ohne Einvernehmen zwischen den zahlreichen beteiligten Regierungsstellen konnte aber keine überzeugende Verhandlungsposition entstehen, und ohne Verhandlungsposition konnte die Delegation in Genf – deren Leiter überdies von der Gegenseite nicht ernst genommen wurde – die Sowjets kaum zu seriösen Verhandlungen zwingen. Es bedurfte eines radikalen Wandels des geopolitischen Umfelds, um den nuklearstrategischen Dialog fünf Jahre später wieder aufleben zu lassen. 26

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Talbott zitiert einen Mitarbeiter Reagans mit der Bemerkung, es gebe hinsichtlich der Fähigkeit des Präsidenten, nukleare Themen zu erfassen, „Löcher in seinen Taschen“ (S. 263). 26 Vgl. unten S. 76 ff.

Rüstungskontrolle in Europa – eine andere Geschichte Die Europäer hatten schon vor dem Dialog der Amerikaner und Sowjets über Rüstungskontrolle einen historischen Beitrag dazu geleistet, das Rüstungsproblem unter Kontrolle zu bringen: Nach den verheerenden Erfahrungen zweier Weltkriege verständigten sich die sechs Gründerstaaten der Montanunion darauf, die damals für die Rüstung zentralen Rüstungsbereiche Kohle und Stahl einem gemeinsamen Kontrollregime zu unterstellen. Die neuen amerikanischen Ideen zur Rüstungskontrolle stießen dagegen in Europa zunächst auf Skepsis. Bei aller Faszination nuklearstrategischer Glasperlenspiele war man in Europa weniger besorgt über die Gefahr eines Überraschungsangriffs als über das gesamte Wettrüsten. 27 Anders als in Boston und in Berkeley wurden die Vorschläge zur vollständigen Abrüstung in drei bis vier Jahren, die die Großmächte in regelmäßigen Abständen den Vereinten Nationen vorlegten, auch von Intellektuellen ernst genommen. Die amerikanische These der „Separabilty of Arms Control from the Underlying Political Issues“, der Loslösung der Rüstungskontrolle von den dem Ost-West-Konflikt zugrunde liegenden politischen Gegensätzen, stieß sich an dem von unterschiedlichsten Seiten geforderten Primat der Politik, der auch Themen wie Rüstungskontrolle und Abrüstung unterzuordnen waren. In der Bundesrepublik Deutschland fielen die Anfänge der amerikanischen Rüstungskontrolle in eine besonders aktive Phase der Entspannungspolitik. Zwar waren Washington und Moskau schon zuvor – im Gefolge des Kubaschocks – von der Konfrontation zur Entspannung übergegangen. In Europa aber übernahm, von Washington argwöhnisch beobachtet, die deutsche Bundesregierung mit der Ostpolitik Willy Brandts eine Vorreiterrolle, die nicht nur Kabinette und Parlamente, sondern auch die Menschen bewegte. Der sichtbare Erfolg dieser Politik und ihre Anerkennung in Ost und West schufen neues Selbstbewußtsein. Im Fernsehen sahen die Deutschen diesseits und jenseits der Mauer die Verleihung des FriedensNobelpreises an Willy Brandt; sie sahen Brandt mit Breschnew im Motorboot vor Jalta oder, von den ostdeutschen Landsleuten bejubelt, am Hotelfenster in Erfurt. Die SPD sprach vom Modell Deutschland, der Kanzler versicherte den Deutschen, sie könnten stolz sein auf ihr Land. Die Ostverträge waren unter Dach und Fach, 27 Vgl. die Stellungnahmen von Alastair Buchan, Jules Moch und Philip Noel Baker, in Brennan, S. 440 ff.

Rüstungskontrolle in Europa – eine andere Geschichte

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Zuversicht war verbreitet, daß die noch fortbestehenden Gegensätze zwischen Ost und West auf dem Wege friedlicher Verständigung beigelegt werden könnten: Wandel durch Annäherung. Doch die Lage war vielschichtig. Die Achtundsechziger rebellierten nicht nur gegen den „Mief der Adenauerzeit“ und den „Muff unter den Talaren“, sondern bliesen zum Sturm auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung, als „FDGO“ verspottet. Mit dem Protest gegen den Vietnamkrieg wuchs der Widerstand gegen die Einbindung in einen von den USA geführten Militärblock. Hier trafen sich die Protagonisten der Neuen Linken mit einer seit 1945 ungebrochenen pazifistischen Tradition, die sich aus den eigenen Kriegserlebnissen ebenso speicherte wie aus den Erinnerungen an Hiroshima und Nagasaki und vor allem aus latenter Angst vor einem dritten Weltkrieg. Als sich Ende der Siebziger Jahre die Beziehungen zwischen den Supermächten verschlechterten und das Tempo des Wettrüstens zulegte, wurde die Ablehnung der NATO-Strategie der Abschreckung zum gemeinsamen Nenner einer breiten Friedensbewegung. Eine militärische oder eine politische Bedrohung Westeuropas durch die Sowjetunion war – so der JusoVorsitzende und spätere Bundeskanzler Gerhard Schröder Anfang 1980 – ohnehin nicht zu erkennen. Schlagworte wie „politische Sicherheit“ (im Gegensatz zur militärischen), „gemeinsame Sicherheit“ und „Sicherheitspartnerschaft“ mit der Sowjetunion und ihren Verbündeten gaben der Stimmung in breiten Kreisen auch der SPD Ausdruck. Wer für angemessene Verteidigungshaushalte warb, wer sich auf die „Erbsenzählerei“ von Streitkräftevergleichen einließ oder gar neue Rüstungsprojekte für erforderlich hielt, geriet in Verdacht, Feind der Entspannung zu sein. „Militärische Entspannung“, so die Hoffnung, würde sich als notwendige Ergänzung der „politischen Entspannung“ von selbst ergeben, wenn erst mal alte Feindbilder abgebaut sind. Für diejenigen, die in der Sicherheitspolitik Verantwortung trugen, verschärfte diese Situation ein Handicap, das sich aus den unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Strukturen in Ost und West ohnehin ergab: In der kritischen demokratischen Gesellschaft war es eine schwierige Führungsaufgabe, den Bürgern und Wählern verständlich und akzeptabel zu machen, warum mitten im Frieden Opfer für Rüstung und stehende Armeen zu erbringen waren. Den Führern des „sozialistischen Friedenslagers“ blieb diese undankbare Aufgabe erspart. Über allem Militärischen lag dort ein Schleier der Geheimhaltung. Die gesteuerte öffentliche Diskussion ließ die eigenen militärischen Anstrengungen tunlichst außer acht und konzentrierte sich auf das vom „imperialistischen Lager“ inszenierte Wettrüsten. Noch in der Gorbatschow-Ära war es nichts Außergewöhnliches, daß der Ministerpräsident eines verbündeten Landes wie Ungarn erst Monate nach seinem Amtsantritt erstmals erfuhr, daß in seinem Land sowjetische Raketen stationiert waren. 28 28

Ministerpräsident Nemeth in einem Pressegespräch in Berlin, FAZ 11. 09. 2004.

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Rüstungskontrolle in Europa – eine andere Geschichte

Innerhalb der Bundesregierung war es in vorderster Front das Auswärtige Amt Hans Dietrich Genschers, das die Begeisterung für die „militärische Entspannung“ mit Besorgnis verfolgte. Hier ergaben sich bald Gemeinsamkeiten mit der oppositionellen CDU, wo man seit je befürchtete, daß das Bewußtsein der politisch-militärischen Bedrohung durch die Sowjetunion „in einem Klima trügerischer Entspannung schwinden und die psychologischen Voraussetzungen der Sicherheitspolitik erodieren könnte“. 29 Genscher forderte eine realistische Entspannungspolitik – Bereitschaft zur Entspannung ja, aber nicht ohne die militärischen Realitäten zur Kenntnis zu nehmen und in Rechnung zu stellen. Unerläßlicher Bestandteil einer solchen Politik sollte die Rüstungskontrolle sein. Denn Rüstungskontrollverhandlungen verlangten, daß die militärischen Dispositionen beider Seiten zur Diskussion gestellt werden. Wer für eine verantwortliche Politik der Abrüstung und Rüstungskontrolle eintritt – und wer wollte das nicht? – durfte deshalb die militärischen Realitäten nicht außer acht lassen 30. Diese einfache Rechnung ging zunächst auf. Spätestens als die Bundesrepublik Deutschland zusammen mit anderen europäischen NATO-Partnern aktiv am Verhandlungstisch von MBFR saß, wurde die öffentliche Sicherheitsdebatte nüchterner und sachlicher. Die ausführliche, oft auch polemische Diskussion gegenseitiger Verhandlungspositionen brachte eine Sensibilisierung der Öffentlichkeit für militärische Probleme mit sich und förderte eine rationale Debatte über militärische Hardware statt über unkontrollierbare friedliche Absichten. Rüstungskontrolle bewährte sich als konkretes Gegenkonzept zu der im Atmosphärischen angesiedelten „militärischen Entspannung“. 31 Doch schien es, als würden die mühsam errichteten Dämme nicht standhalten, als es um den Widerstand gegen die „Nachrüstung“ ging. Gegen eine auf emotionale Mobilisierung der Massen angelegte Agitation hatte die rationale Diskussion militärischer Zusammenhänge wenig Chancen. Zum Protest gegen die Nachrüstung strömten Hunderttausende in den Bonner Hofgarten – Studenten, Lehrer, Dichter und Denker, Arm in Arm mit Persönlichkeiten aus dem Dunstkreis des Ministeriums für Staatssicherheit. Die Sitzstreiks vor dem Pershing-Stützpunkt Mutlangen werden heute noch kultisch verklärt. Daß die NATO die Nachrüstung „durchdrücken“ konnte, hatte sie in erster Linie ihrer Rüstungskontrollpolitik zu verdanken. Ohne die Koppelung mit einem 29

Mertes, Kontinuität und Wandel in der deutschen Außenpolitik, S. 139. Wie selbstverständlich dieser Zusammenhang in der deutschen Politik wurde, zeigt sich daran, daß der Deutsche Bundestag mit Entschließungen vom 14. Januar 1982 und vom 12. März 1982 die Bundesregierung zu jährlichen Berichten zum Stand der Bemühungen um Abrüstung und Rüstungskontrolle sowie über Veränderungen des militärischen Kräfteverhältnisses aufforderte. Dieses Format wurde bis 1989/90, also bis zur Auflösung des Warschauer Pakts, beibehalten. 31 Mertes, Sowjetische Kriterien der Sicherheit und Rüstungskontrolle, S. 270. 30

Rüstungskontrolle in Europa – eine andere Geschichte

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glaubwürdigen Verhandlungsangebot an die Sowjets hätte der Deutsche Bundestag der Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen in der Bundesrepublik Deutschland im November 1983 kaum zugestimmt. Rüstungskontrolle hatte sich als Instrument der Sicherheitspolitik bewährt.

Exkurs 1: Rüstungskontrolle als Instrument der Sicherheitspolitik Bis zu den Achtzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts wurde die Sicherheit der Staaten, anders als heute, ausschließlich der politisch-militärischen Dimension ihrer Beziehungen zugeordnet. In der klassischen Definition Walter Lippmans 32 war ein Staat dann sicher, wenn er keine Grundwerte – wie Souveränität, territoriale Integrität und die Fähigkeit, die Sicherheit seiner Bürger zu gewährleisten – opfern mußte, um einen Krieg zu vermeiden; und wenn er in der Lage war, diese Werte notfalls in einem aufgezwungenen Krieg siegreich zu sichern. Da solche Bedrohungen der Sicherheit in aller Regel militärischer Natur sind, war der Staat letztlich auf militärische Machtmittel angewiesen, um vor Übergriffen eines potentiellen Gegners abschrecken, aber auch, wenn die Abschreckung versagt, einen Krieg erfolgreich führen zu können. Militärische Machtmittel waren beherrschendes Thema und Instrument der Sicherheitspolitik. Die Grenzen waren freilich fließend. Militärische Machtmittel hatten auch diesseits von Abschreckung und Verteidigung stets eine politische Funktion. Schon Clausewitz dachte der Sicherheitspolitik die Aufgabe zu, „aus dem alles überwältigenden Element des Krieges ein bloßes Instrument (zu machen); aus dem furchtbaren Schlachtschwert, das mit beiden Händen und ganzer Leibeskraft aufgehoben sein will, um damit einmal und nicht mehr zuzuschlagen, einen leichten, handlichen Degen, der zuweilen selbst zum Rapier wird“. 33 Soweit und solange die nukleare Abschreckung wirkte, war das „furchtbare Schlachtschwert des Krieges“ dem politischen Kalkül weiter entrückt als zur Zeit von Clausewitz – aber nicht ganz. Zwar konnte die Auslösung eines Atomkriegs von keiner Seite mehr ernsthaft ins Auge gefaßt oder angedroht werden. Doch Abschreckung konnte nur funktionieren, wenn die Eskalation bis zur obersten Stufe militärischer Gewaltanwendung für beide Seiten unkalkulierbar blieb. Wenn eine Seite hoffen konnte, den Gegner an seiner eigenen Fähigkeit zur Eskalation zweifeln zu machen, hätte sie ihre militärische Überlegenheit – auch wenn sie nur in der Perzeption des Gegners bestand – zur politischen Erpressung einsetzen können. Vor diesem Hintergrund sahen viele in Europa die forcierte Aufrüstung, die die Sowjetunion in den Siebzigerjahren mit ihren „eurostrategischen“ Mittelstreckenraketen betrieb. 32 33

Lippman, S. 51. Clausewitz, S. 890.

Exkurs 1: Rüstungskontrolle und Sicherheitspolitik

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Auch als „leichtes Rapier“, im guten alten Sinne des Säbelrasselns, blieb militärische Macht im Atomzeitalter weiterhin ein nützliches Instrument der Sicherheitspolitik. Zwar waren im 19. Jahrhundert beliebte Manöver wie Mobilisierung der Armee und Aufmarsch im Grenzgebiet nicht mehr üblich. Aber gelegentlich ließen die westlichen Alliierten schwerbewaffnete Militärkonvois über die interzonalen Autobahnen passieren, um ihre Entschlossenheit zur Wahrung der freien Zugänge nach Westberlin zu demonstrieren. Auch Flottendemonstrationen, so der Oberbefehlshaber der sowjetischen Kriegsmarine, machten es immer noch möglich, „politische Ziele zu erreichen, ohne zum Mittel des bewaffneten Kampfes greifen zu müssen, indem lediglich mit Hilfe der Machtpolitik und der Androhung militärischer Maßnahmen Druck ausgeübt wird.“ 34 Was für den Zusammenhang zwischen militärischen Machtmitteln und der Sicherheit von Staaten galt, mußte erst recht gelten, wenn es um Verteidigungsbündnisse wie die NATO ging. Hier war die Abschreckung eines Angriffs auf die Bündnispartner sowie deren Verteidigung gegen einen Angreifer raison d’ètre des Bündnisses und erklärte Kernaufgabe der Sicherheitspolitik. Seit Mitte der 70er Jahre aber scheint in den Verlautbarungen der NATO eine neue Aufgabe der gemeinsamen Sicherheitspolitik auf: Die Sicherheit der Mitgliedstaaten sollte nicht mehr allein durch die Fähigkeit zur Abschreckung und Verteidigung, sondern auch durch Bemühungen um kooperative Rüstungskontrolle und Abrüstung gewährleistet werden. Beide Elemente wurden zu integralen Teilen atlantischer Sicherheitspolitik erklärt. Daß Rüstungskontrolle ein wichtiges Instrument der Sicherheitspolitik war, war keine neuen Erkenntnis. Spätestens seit der Kubakrise hatten weitsichtige Regierungen sie genutzt, um dem Teufelskreis von Spannung-Bedrohung-Rüstung zumindest vorübergehend zu unterbrechen. Jetzt aber gab es eine neue innenpolitische Dimension, die sich aus einer neuen militärischen Gefährdungslage für die NATO ableitete: Zur konventionellen Überlegenheit des Warschauer Pakts kam in den 70er Jahren eine wachsende Lücke im substrategischen nuklearen Kräfteverhältnis. Rüstungsmaßnahmen, die zum Ausgleich für erforderlich gehalten wurden, stießen auf zunehmende Kritik in der eigenen Öffentlichkeit. Das Bekenntnis zur Rüstungskontrolle sollte deshalb in erster Linie eine politische Botschaft übermitteln: Als Defensivbündnis müssen wir die Fähigkeit zur Abschreckung und Verteidigung sicherstellen, wollen dies jedoch auf dem niedrigst möglichen Niveau der Streitkräfte und Rüstungen erreichen. Deshalb fordern wir die Gegenseite auf, über Rüstungsverminderungen zu verhandeln, und gemeinsamer Maßstab sei das Gleichgewicht. Die Idee des militärischen Gleichgewichts ist so alt wie die Bibel: Wenn ein König gegen einen anderen in den Krieg zieht, setzt er nicht zuvor sich hin und hält Rat, ob er sich mit seinen zehntausend Mann dem entgegenstellen kann, der mit 34

Admiral Gorschkow, zitiert in der FAZ vom 30. 09. 1980.

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Exkurs 1: Rüstungskontrolle und Sicherheitspolitik zwanzigtausend gegen ihn anrückt? Kann er es nicht, dann schickt er eine Gesandtschaft, solange der andere noch weit weg ist, und erbittet die Bedingung zum Frieden (Lukas 14.31 – 32).

In Europa hatte das Gleichgewichtssystem seit dem Westfälischen Frieden und bis zum Ersten Weltkrieg für die Stabilität der Staatenordnung gesorgt. In England galt „Balance of Power“ sogar als offizielle Doktrin: Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts mußte die Aufrechterhaltung einer stehenden Armee gegenüber dem Parlament stets ausdrücklich mit der Notwendigkeit des Kräftegleichgewichts gerechtfertigt werden. 35 Dieses System des Gleichgewichts der Mächte stand und fiel mit der souveränen Gleichheit der teilnehmenden Staaten und der Symmetrie der Kriegführung. 36 Als mit dem Ersten und erst recht mit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr die von professionellen Militärs ausgetragene bewaffnete Auseinandersetzung, sondern die Involvierung der gesamten Bevölkerung kriegsentscheidend wurde, verlor das Prinzip des militärischen Gleichgewichts seine Bedeutung. 1918 war es die dramatisch verschlechterte Ernährungslage, 1943/44 die Zerstörung der zivilen Infrastruktur mit Hilfe von Bomberflotten, die dem Gegner die Möglichkeit zur Fortführung des Krieges nehmen sollte. Dann brachte der Kalte Krieg eine nie zuvor gekannte Symmetrie in die internationale Ordnung – es gab nur noch Verbündete, Gegner oder Neutrale. Damit waren günstige Voraussetzungen für die Anwendung des Gleichgewichtsprinzips gegeben. Allerdings mußten, um es in der Rüstungskontrolle zur Geltung zu bringen, auch beide Seiten daran interessiert sein – das Interesse der überlegenen Seite ist verständlicherweise meist geringer als das der unterlegenen. Aber auch gegenüber einem Gegner, der sich Vorschlägen und Initiativen verweigert, kann eine glaubwürdige Politik der Rüstungskontrolle ein wirksames Instrument sein. Der kreativste Vordenker der Philosophie des Gleichgewichts im Atlantischen Bündnis war der deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt: Ich sehe mich bei neuem Nachdenken immer wieder auf das Prinzip des Gleichgewichts zurückgeworfen, des Gleichgewichts der militärischen Kräfte und derjenigen, die von außen auf Europa einwirken. Das ist zwar noch keine hinreichende Bedingung für die Stabilisierung des Friedens, wohl aber eine Bedingung, ohne die der Frieden nicht stabilisiert werden kann. 37

Für Schmidt mußten die Bemühungen um Rüstungskontrolle und Abrüstung vom gegebenen militärischen Kräfteverhältnis ausgehen und sich am Ziel des Gleichgewichts orientieren. Parität war wichtigstes Kriterium, die Herstellung glei35 36 37

Howard, S. 24. Münkler, S. 62. Debattenbeitrag im Bundestag am 30. 01. 1981.

Exkurs 1: Rüstungskontrolle und Sicherheitspolitik

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cher Höchststärken auf möglichst niedrigem Niveau wichtigstes Verhandlungsziel. Und wenn die Gegenseite sich verweigerte und nicht bereit war, bestehende Überlegenheiten abzubauen? Dann blieb dem Westen, so der Umkehrschluß, nichts übrig, als Gleichgewichtslücken im Interesse der Stabilität durch eigene Rüstungsanstrengungen auszugleichen. Helmut Schmidt brachte diesen Zusammenhang auf die Formel, daß es theoretisch zwei Möglichkeiten gibt, um konventionell ein Gleichgewicht mit den Mächten des Warschauer Pakts herzustellen: Man könnte auf der Seite des westlichen Bündnisses massiv aufrüsten und die Zahl der Soldaten und Waffensysteme hochtreiben. Man könnte aber auch sowohl auf der Seite der NATO wie auch auf der Seite des Warschauer Pakts die Streitkräfte reduzieren, um so zu einer niedrigeren Gesamtstärke auf beiden Seiten zu kommen. Meine Präferenz hat die Reduktion. 38

Das klingt zunächst banal. Aber es war die Gleichgewichtspolitik, mit Rüstungskontrolle als ihrem unverzichtbaren Instrument, die für die Dauer des kalten Kriegs Stabilität zwischen Ost und West sicherstellte. In den Verlautbarungen der NATO wurde die Gleichgewichtsidee konzeptionell den strategischen Bedürfnissen des Bündnisses angepaßt und die Rüstungskontrolle funktionell entsprechend ausgerichtet. „Bei Entscheidungen über Rüstungskontrollfragen müssen die Erfordernisse der Abschreckungsstrategie in vollem Umfang zum Ausdruck kommen“, konnte man zuletzt in dem „Gesamtkonzept des Bündnisses zur Rüstungskontrolle und Abrüstung“ lesen, das die Staats- und Regierungschefs der NATO auf ihrem Brüsseler Gipfeltreffen am 31. Mai 1989 beschlossen. 39 Mit anderen Worten: Die Bemühungen der Bündnispartner um Rüstungskontrolle und Abrüstung waren auch daran zu messen, ob sie der Fähigkeit zur Abschreckung und Verteidigung zugute kamen. Dieses „Gesamtkonzept“, zwölf Jahre nach der Londoner Rede Helmut Schmidts und nur ein halbes Jahr vor dem Fall der Berliner Mauer verabschiedet, ließ allerdings schon einen Paradigmenwechsel im militärischen Denken aufscheinen. Die Erklärung schrieb auf 15 Seiten das gängige Verständnis der Wechselbeziehungen zwischen den Bereichen Verteidigung und Rüstungskontrolle noch einmal in der gebotenen scholastischen Ausführlichkeit fest. Der formale Konsens in konzeptionellen Fragen konnte aber nur mühsam politischen Streit verbergen, der bei der Bewertung der stürmischen Entwicklung in Osteuropa bereits ausgetragen wurde. Für die NATO stand die Frage im Vordergrund, ob sie ihr Kurzstreckenpotential modernisieren mußte, um die Abschreckung glaubwürdig zu erhalten. Für die Nachgeschichte waren nicht die verbalen Kompromis38 Helmut Schmidt in seiner „Buchan-Rede“ vor dem Londoner Institute for Strategic Studies am 28. 10. 1977, Siegler, Band XV, S. 127 f.; Schmidt hatte den gleichen Gedanken schon bei der Tagung der Staats- und Regierungschefs der NATO in London im Mai des gleichen Jahres vorgetragen. 39 Ziff. 61 des Gesamtkonzepts, in Krause, Band XXV S. 31.

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Exkurs 1: Rüstungskontrolle und Sicherheitspolitik

se in strategischen Grundsatzfragen der Gipfelerklärung entscheidend, sondern die grundsätzliche Zustimmung zu Rüstungskontrollverhandlungen über Kurzstreckenraketen und, damit verbunden, die Verschiebung der Entscheidung über eine neue „Nachrüstung“ auf 1992 40. Dazu sollte es aber nicht mehr kommen. Zwischen 1989 und 1992 vollzog sich in Europa eine Entwicklung, die das herkömmliche Verständnis militärischer Sicherheit mit seinen Grundpfeilern Abschreckung und Verteidigung erschütterte und das Gleichgewichtsdenken verblassen ließ. Und der Rüstungskontrolle fiel erneut eine wichtige Funktion zu: Sie wurde zur Stütze einer Politik der kooperativen Sicherheit, die die fundamentalen Veränderungen in Europa aufzufangen und abzusichern hatte. Wieder übernahm die deutsche Politik eine Pionierrolle, um das neue Sicherheitsdenken im Westen ideologisch zu verankern und Rüstungskontrolle als Instrument des Wandels zu nutzen. Hans-Dietrich Genscher hatte schon früh ein „Netz kooperativer Sicherheitsstrukturen“ gefordert, „das die antagonistischen Militärsysteme überlagern sollte“. Jetzt wurde die Abrüstung für ihn „zum Kern der deutschen und europäischen Vereinigung“: Ohne den Vertrag über die Konventionellen Streitkräfte in Europa und die darin verankerten Verpflichtungen zur Begrenzung des Umfangs der Bundeswehr wäre es nicht gelungen, die Sowjetunion als Partner für die Wiedervereinigung Deutschlands und für den Umbau Europas zu gewinnen. Die Auflösung des Warschauer Pakts und der Zerfall der Sowjetunion wären nicht so friedlich verlaufen, wenn die Sowjetunion, solange sie noch bestand, nicht vertragliche Begrenzungsquoten für nukleare und konventionelle Waffen akzeptiert hätte, die ihre vorherigen Bündnispartner und dann ihre Nachfolgerstaaten – auch unter dem Druck westlicher Vertragspartner – unter sich aufteilen konnten.

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s. unten S. 65.

Exkurs 2: Ideologie und Propaganda Solange der Kalte Krieg dauerte, setzten beide Seiten in ihren Ideologien und in ihrer Propaganda die Schwerpunkte unterschiedlich. Während der Westen zur Verteidigung von Freiheit und Demokratie gegen den „Totalitarismus und Diktatur“ aufrief, setzte die Sowjetunion in erster Linie auf den Kampf eines von ihr geführten „Friedenslagers“ gegen den von den USA geschürten „aggressiven Imperialismus“. Die NATO stand damit von Anfang an im Fadenkreuz östlicher Agitation. In ihren frühen Jahren war das kein ernsthaftes Problem. Den meisten Menschen in Westeuropa wie in Amerika leuchtete ein, daß amerikanische Soldaten in Europa bleiben mußten, damit „die Russen nicht kommen“. Als aber Entspannungseuphorie und Angst vor dem „Wettrüsten“ der NATO das Leben schwer machten, mußte sie der eigenen Öffentlichkeit die Weltlage und die Rolle, die sie darin spielen wollte, erklären, um sie für ihre Sache zu gewinnen. Wenn man unter Ideologie ein System von Ideen versteht, das die Welt gleichzeitig erklären und verändern will, 41 wird man dem Atlantischen Bündnis, soweit es um die Entwicklung und Verbreitung sicherheitspolitischer Konzeptionen geht, eine eindrucksvolle ideologische Leistung nicht absprechen können. Zu den weltanschaulichen Kernkonzepten des Atlantischen Bündnisses gehörte spätestens seit dem Harmel-Bericht von 1967 der duale Ansatz zur Gewährleistung der Sicherheit seiner Mitgliedstaaten: Bereitschaft zum Ausgleich und zur Entspannung, gestützt auf die Fähigkeit zu Verteidigung und Abschreckung und verknüpft durch das Prinzip des Gleichgewichts. Das war der harte Kern, um den herum Generationen von Diplomaten und politischen Beamten, Offizieren und Redenschreibern ein eindrucksvolles scholastisches Beiwerk erarbeiteten, das vorwiegend in Schlußkommuniqués, zuweilen in gesonderten Erklärungen der Außenminister oder der Staats- und Regierungschefs fortgeschrieben wurde: Eine auf Themen der nuklearen Abschreckung spezialisierte „Strategic Community“ entwickelte ein intellektuell anspruchsvolles Kompendium von Thesen zur Stabilität der Abschreckung, mit denen sich erforderlichenfalls auch Rüstungsbedarf begründen ließ; die „Arms Control Community“ definierte Kriterien wie Parität, Transparenz, Verifizierbarkeit und Nichtumgehung, um die Verhandlungsstrategien der NATO plausibel zu machen. Etablierte völkerrechtliche Vorstellungen wurden nutzbringend weiterentwickelt: Aus dem Gewaltverbot, dem Grundprinzip 41

The New Encyclopedia Britannica, Macropedia, Band 20.

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Exkurs 2: Ideologie und Propaganda

der VN-Schlußakte, und dem Gewaltverzicht der Schlußakte von Helsinki wurde die Forderung nach Verzicht auf militärische Überlegenheit und auf Parität als Prinzip der Rüstungskontrolle abgeleitet. Das Verbot eines Angriffskriegs mußte sich im militärischen Kräfteverhältnis manifestieren, woraus wiederum die These der strukturellen Angriffsunfähigkeit entstand. Auch Sophismus wurde gelegentlich geboten: Dem in der westlichen Öffentlichkeit nicht unpopulären Vorschlag der Sowjetunion, auf den Ersteinsatz von Kernwaffen zu verzichten, setzte die NATO die Erklärung entgegen, keine ihrer Waffen jemals als erste zum Einsatz zu bringen. Die Ausgangsbedingungen für die ideologische Auseinandersetzung waren stark asymmetrisch. Die Sowjetunion konnte im Westen vielerorts auf Aufgeschlossenheit für ihr politisches Werben und vor allem auf Unterstützung für ihre Friedeninitiativen zählen. Der Westen hatte kein vergleichbares Aktionsfeld im Osten – er mußte sich mit dem Gegner auf eigenem Territorium auseinandersetzen. Schiedsrichter in der ideologischen Auseinandersetzung zwischen Ost und West in Fragen des Friedens und der Sicherheit war immer die Öffentlichkeit in den demokratischen Ländern. Diese Erkenntnis prägte die „Öffentlichkeitsarbeit“ der NATO. Auf dem Terrain der Massenpropaganda, wie sie die Sowjetunion immer wieder lancierte und – vom Weltfriedensrat bis zu den Aktionskomitees gegen spezifische Rüstungsprogramme – steuern ließ, konnte der Westen nicht mithalten. Die NATO mußte auf konkrete Projekte setzen, die, weil sie politisch und militärisch Sinn machten, von den maßgeblichen politischen Akteuren mitgetragen werden konnten. Dafür boten, gerade im Zeichen der Entspannung, schlüssige Vorschläge zur Rüstungskontrolle die besten Chancen. Wir setzten erfolgreicher als die Gegenseite auf Meinungsbildung für die Meinungsbilder. Die Vorgaben der NATO wurden von Politikern aller Parteien, von Sicherheitsexperten in einschlägigen Instituten, vor allem aber in den tonangebenden Medien ernst genommen und gründlich diskutiert. Es entstand ein gemeinsamer Diskussionsrahmen, der die konstruktive Behandlung auch strittiger Fragen ermöglichte. Wer vor Gremien des Bundestags berichten, an öffentlichen Debatten teilnehmen oder Hintergrundgespräche mit Journalisten führen mußte, weiß den Wert dieser Gemeinsamkeit zu schätzen. Lenin hatte zwischen Propaganda und Agitation unterschieden: Propaganda sollte der Aufklärung der Führungskader, Agitation der Massenerziehung dienen; Propaganda hatte viele Ideen an wenige, Agitation wenige Ideen an viele zu vermitteln. Nach dieser Einteilung fielen die berühmten Friedenskampagnen der Sowjetunion nicht in die Sparte der Propaganda, sondern der Agitation, während wir Propaganda im besten Sinne Lenins betrieben – Vermittlung guter Ideen an ausgewählte Adressaten. Die in der NATO entwickelten sicherheitspolitischen Konzepte entfalteten eine Tiefen- und Breitenwirkung, der sich auch der ideologische Gegner nicht entziehen

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konnte. Die Zielvorstellung militärischen Gleichgewichts etwa war in der Theorie und Praxis der politischen Führung in Moskau oder in Ost-Berlin lange Jahre Anathema. Noch 1976 verkündete der Verteidigungsminister der DDR, Heinz Hoffmann: Nicht ein gewisses „Minimum an militärischem Offensivpotential“ unserer Koalition, auch kein sogenanntes „Gleichgewicht des Schreckens“ haben einen Zustand in den internationalen Beziehungen herbeigeführt, den die Menschheit erleichtert als Wende vom Kalten Krieg zur Entspannung empfindet. Die im zähen Kräfteringen der Nachkriegsjahre hart erkämpfte militärische Überlegenheit der Sowjetunion und ihrer Verbündeten über die imperialistischen Hauptmächte war es, die den Frieden sicherer, die antiimperialistischen Kräfte selbstbewußter gemacht und den weltrevolutionären Prozeß vorangebracht hat. 42

In Mandaten für Rüstungskontrollverhandlungen wie SALT oder MBFR lehnte die UdSSR lange Zeit jede Festlegung auf „ausgewogene Ergebnisse“ oder auch nur das Kriterium „gleicher Sicherheit“ ab und bestand auf „unverminderter Sicherheit“. Erst unter dem Eindruck der Unterstützung, die die Nato vor allem in der deutschen Öffentlichkeit für ihr Verhandlungsziel der Parität bei MBFR oder in der Debatte um den INF-Doppelbeschluß erhielt, schwenkte die politische Führung in Moskau ideologisch um. In der Schlußerklärung zu seinem Besuch in Bonn im Mai 1978 unterschrieb Breschnew erstmals, daß „beide Seiten es als wichtig betrachten, daß niemand militärische Überlegenheit anstrebt. Sie gehen davon aus, daß annäherndes Gleichgewicht und Parität zur Gewährleistung der Verteidigung ausreichen“. Freilich blieb von der Anerkennung im Prinzip bis zu seiner Verwirklichung am Verhandlungstisch noch ein langer Weg.

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In: Einheit, Heft 3 1976.

Die Bemühungen um ausgewogene Truppenverminderungen (MBFR) Doch zurück zur praktischen Politik der Zeit, als sich die NATO auf die Nutzung der Rüstungskontrolle angewiesen sah, um der befürchteten Erosion ihrer Fähigkeit zu Abschreckung und Verteidigung entgegenzuwirken. Bei den konventionellen Streitkräften war die Ausgangslage für Rüstungskontrollverhandlungen für die NATO taktisch denkbar ungünstig. Helmut Schmidt hatte in seiner Londoner Buchan-Rede 43 zwar bildhaft das konventionelle Gleichgewicht als Zielvorstellung angesprochen, in Wirklichkeit ging es ihm jedoch um das nukleare Kräfteverhältnis. Im konventionellen Sektor wäre es für den Westen wenig glaubwürdig gewesen, Aufrüstung auf das östliche Niveau der Truppenstärken anzudrohen. Substantielle Verstärkungen der westeuropäischen Verteidigungsbeiträge waren politisch nicht durchsetzbar; es war bereits ein ehrgeiziges Ziel, auf längere Sicht Kürzungen zu vermeiden. Hier lag der operative Zweck des Verhandlungsvorschlags, den die NATO im Juni 1968 dem Warschauer Pakt unterbreitete. Auf amerikanische Initiative riefen die Außenminister der NATO auf ihrer Frühjahrskonferenz in Reykjavik „die Sowjetunion und andere Länder Osteuropas auf, sich an der Suche nach Möglichkeiten beiderseitiger und ausgewogener Truppenverminderungen zu beteiligen“ – Mutual Balanced Force Reductions, abgekürzt MBFR. Ich erinnere mich an die Einführung der Initiative durch den amerikanischen NATO-Botschafter Cleveland. An einem arbeitsfreien Samstag lud Generalsekretär Brosio die Ständigen Vertreter zu einer informellen Sitzung in sein Büro, zu der ich als „Notetaker“ den deutschen NATO-Botschafter Grewe begleiten durfte. Cleveland verteilte einen Textvorschlag zur Ergänzung des in der NATO bereits beratenen Schlußkommuniqués für Reykjavik, mit dem ich – Anfänger in der Branche der multilateralen Diplomatie – Probleme hatte. Nach der Sitzung und vor dem Bericht nach Bonn fragte ich Grewe, ob er das vorgesehene Angebot zu Verhandlungen über ausgewogene Truppenreduzierungen für verhandelbar hielt. Warum sollte der Warschauer Pakt seine konventionelle Überlegenheit ohne substantielle Gegenleistung der NATO auf den Verhandlungstisch legen? Grewe lächelte nachsichtig und strich mit seinem Bleistift die Ziffer 4 des Entwurfs an:

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S. oben S. 29.

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Da die Sicherheit der NATO-Länder und die Aussichten auf beiderseitige Truppenverminderungen geschwächt würden, wenn nur die NATO Verminderungen vornähme, bekennen sich die Minister zu dem Konzept, daß das militärische Gesamtpotential der NATO nicht vermindert werden sollte, es sei denn im Rahmen eines nach Umfang und zeitlichem Ablauf ausgewogenen Systems beiderseitiger Truppenverminderungen.

Die Geschichte gab uns beiden Recht. Der Warschauer Pakt dachte – bis Gorbatschow – nie ernsthaft daran, sich seine konventionelle Überlegenheit abhandeln zu lassen. Aber die Verhandlungen halfen der NATO elf Jahre lang, ihre konventionelle Unterlegenheit in Europa in Grenzen zu halten. Auch in einer anderen politischen Dimension dienten die MBFR-Verhandlungen erfolgreich als Instrument der Sicherheitspolitik des Atlantischen Bündnisses: als Gegenprojekt zur KSZE. Manche in Washington, vor allem aber in Bonn, hatten davor gewarnt, sich auf das langjährige sowjetische Projekt einer „Gesamteuropäischen Sicherheitskonferenz“ einzulassen. Sie sorgten sich um die Festschreibung des Status quo in Europa, einschließlich der Teilung Deutschlands, und um die Ausgrenzung der USA und Kanadas. Und sie befürchteten eine gefährliche Verschiebung der öffentlichen Sicherheitsdebatte, weg von den militärischen Realitäten und hin zur Deklaration friedlicher Absichten. Verhandlungen wie MBFR, in denen die Bündnispartner gemeinsam das konventionelle Ungleichgewicht in Europa thematisieren konnten, sollten da ein wirksames Korrektiv bieten. Die KSZE, die die politischen Aspekte der europäischen Sicherheit behandeln sollte, wurde von MBFR ergänzt, das sich auf die militärischen Aspekte konzentrierte. Die Rechnung ging auf. Auch ohne Verhandlungserfolge war MBFR jahrelang ein besonders ergiebiges Forum für den Sicherheitsdialog zwischen Ost und West. Die interessierte Öffentlichkeit in Westeuropa lernte durch die MBFRVerhandlungen mehr über die Gefahren militärischen Ungleichgewichts, als sie aus Reden der verantwortlichen Politiker und aus Weißbüchern der Militärs je erfahren hätte. Und als die westliche MBFR-Position sich selbst überlebt hatte, war der KSZE-Prozeß längst zu einem dynamischen Instrument westlicher Entspannungspolitik geworden, das keines Korrektivs mehr bedurfte. Von ihrem konzeptionellen Ansatz her waren Verhandlungen zur Stabilisierung des militärischen Kräfteverhältnisses in Mitteleuropa, wo sich die Armeen der beiden Paktsysteme auf Schußweite gegenüberstanden, mit der von ihren Erfindern vorgegebenen Funktion der Rüstungskontrolle durchaus kompatibel. Die MBFRVerhandlungen sollten, so ließ sich argumentieren, in einem begrenzten Ausschnitt des militärischen Kräfteverhältnisses einen Beitrag zu dem umfassenden Prinzip der Parität leisten; gerade nach SALT sollte ein paritätisches Kräfteverhältnis bei den konventionellen Streitkräften in Europa die Grundlage für einen tragfähigen sicherheitspolitischen modus vivendi schaffen, der den Sicherheitsinteressen beider Seiten gerecht würde. 44 Leider jedoch waren in den Hauptstädten der wich-

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tigsten Protagonisten die Verhältnisse nicht so, daß man ein Gelingen des Projekts erwarten konnte. Für Moskau war MBFR allenfalls als Instrument einer Politik des „Disengagements“ – in Kontinuität der alten Rapacki-Pläne – von Interesse, die auf ein Mitspracherecht in Sicherheitsfragen der Bundesrepublik Deutschland abzielte. Julij Kwizinskij, damals stellvertretender sowjetischer Verhandlungsleiter in Wien, später Botschafter in Bonn und Verhandlungsführer bei INF in Genf, vertraute meinem Vorgänger Friedrich Ruth in gelöster Heurigenstimmung an: „Wir brauchen keine Reduzierungen, wir wollen Euch!“ Zu asymmetrischen Reduzierungen war die Sowjetunion bei MBFR – anders als später in den KSE-Verhandlungen – nie bereit. Das vom Westen geprägte Kürzel MBFR wurde von den östlichen Verhandlungsteilnehmern nie gebraucht, weil es für „ausgewogene Reduzierungen“ stand. Für Washington war MBFR vor allem „Alliance Management“: Die erstmalige Beteiligung der europäischen Partner an Rüstungskontroll-Verhandlungen an der Seite der USA sollte die kollektive Verteidigung durch eine neue rüstungskontrollpolitische Kollektivität konsolidieren. Gelegentlich setzten sich amerikanische Experten kreativ für Verhandlungsergebnisse ein – so der erste Verhandlungsführer Jonathan Dean, der sich ohne Beteiligung seiner europäischen Partner mit dem sowjetischen Gegenüber um einen Durchbruch bemühte (und damit einen diplomatischen Protest Genschers auslöste). Näher am Mainstream in Washington lag wohl Richard Perle, damals beigeordneter Staatssekretär im Pentagon, als er dem 1984 scheidenden MFBR-Verhandlungsleiter Starr gratulierte: „You obviously did a good job, because nothing happened“. 45 Die Labour-Regierung in London unterstützte, in der bekannten Tradition der besonderen Partnerschaft, den amerikanischen MBFR-Vorschlag vorbehaltlos und ließ sich auch von Skrupeln anderer NATO-Partner nicht beirren. Während einer Regierungskonsultation in Checkers nahm Außenminister Owen seinen deutschen Kollegen beiseite, um ihm seine MBFR-Skepsis auszureden; er berief sich auf einen maßgeblichen Vertreter der SPD, der ihn darum gebeten hatte. Paris verweigerte sich von Anfang an jeder Mitwirkung an MBFR, weil eine kollektive Block-zu-Block-Verhandlung mit dem eigenen Verständnis von Frankreichs Rolle in der Atlantischen Allianz unvereinbar war. Auch ohne diese Mitwirkung mußte sich die NATO deshalb die französischen Streitkräfte in Deutschland auf ihre Höchststärken im „Raum der Reduzierungen“ anrechnen lassen. In Bonn wirkte, als die Diskussion über MBFR begann, der Streit über den „Rapacki-Plan“ noch nach. Der seit 1957 in mehreren Fassungen vorgelegte 44 45

Genscher am 6. April 1977 im Interview mit dem „Bonner Generalanzeiger“. Talbott, S. 18.

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Vorschlag des damaligen polnischen Außenministers wollte die Bundesrepublik Deutschland, die DDR, Polen und die Tschechoslowakei in eine Zone mit besonderem militärischen Status einbinden. Während solche Gedanken in der SPD auf Sympathie stießen, lehnte die Regierung Adenauer die vom Warschauer Pakt in verschiedenen Varianten immer wieder unterstützten polnischen Vorschläge entschieden ab: „Sie bringen uns der wirklichen Abrüstung keinen Schritt näher, sie verewigen die Teilung Deutschlands, verschieben das Kräfteverhältnis zugunsten des Ostblocks und erhöhen daher die Unsicherheit in der Welt.“ 46 Außenminister Genscher und seine engeren Berater sahen sich – in gewollter Abgrenzung zum Koalitionspartner SPD – mit dieser Einstellung weitgehend konform und verfolgten die Bemühungen um das Zustandekommen der MBFRGespräche auch im eigenen Hause mit Argwohn. Der damalige Politische Direktor im Auswärtigen Amt, Berndt von Staden, erzählte gerne, er habe sich im Krankenhaus von einer Kreislaufschwäche erholt, als ihm ein Mitarbeiter stolz berichtete, in Brüssel sei die Einigung über ein Mandat für MBFR-Verhandlungen gelungen – da habe er einen Rückschlag erlitten. Selbst die Abrüstungsexperten der CDU, wie der von Genscher sonst hochgeschätzte Alois Mertes, standen unter Anfangsverdacht: „Der Mertes ahnt gar nicht, wie gefährlich das ist, worauf er sich da einlassen möchte!“ Die Sowjetunion, das war für Genscher klar, wollte mit den MBFR-Verhandlungen Zugriff auf die einzig wirklich bedeutsame europäische Armee gewinnen – die Bundeswehr. Nur für die Bundeswehr nämlich wäre ein MBFR-Ergebnis wegen der geographischen Rahmenbedingungen auf tatsächliche Abrüstung hinausgelaufen, für alle anderen Beteiligten auf Streitkräfteverdünnung im Raum Mitteleuropa. Da hatte Genscher recht. Der in Wien vereinbarte „Raum der Reduzierungen“ beschränkte sich nämlich auf östlicher Seite auf die DDR, Polen und die Tschechoslowakei, auf westlicher Seite auf die Bundesrepublik Deutschland und die Benelux-Staaten – ein Raum, der die strategischen Disparitäten in ihrem gesamten Umfang nicht berücksichtigen konnte. Verhandlungsgegenstand waren die einheimischen und die stationierten Truppen in diesem Raum. Natürlich wären die Teilnehmerstaaten, die mit ihrem Territorium und mit allen ihren Streitkräften im Raum der Reduzierungen lagen, von einem MBFR-Abkommen viel stärker betroffen gewesen als diejenigen, die dort nur Stationierungsstreitkräfte unterhielten. Dies galt besonders für die Reduzierung und Begrenzung von Waffensystemen: Die Sowjetunion hätte ihre Panzer höchstens einige hundert Kilometer an ihre Westgrenze zu Polen verlegen müssen, wo sie für einen schnellen Einsatz in Mitteleuropa verfügbar geblieben wären; für die USA hätte ein Rückzug ihrer Panzer auf eigenes Territorium schon schwerwiegende strategische Nachteile gehabt; für die Teilnehmerstaaten im Raum der Reduzierungen aber wären permanente Begrenzungen ihrer Verteidigungsfähigkeit herausgekommen. 46

Regierungserklärung vom 9. 10. 1962, in: Siegler, Band 2, S. 301.

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Aus diesen Erwägungen heraus sah die NATO in ihrem für die Verhandlungen ausgearbeiteten Vorschlag von einer generellen Einbeziehung von Waffensystemen ab und begnügte sich mit Reduzierungen und Begrenzungen der Mannschaftsstärken bei den Land- und Luftstreitkräften; vorgeschlagen wurden gleiche kollektive Höchststärken für beide Kategorien zusammen in Höhe von 900.000 Mann, darunter nicht mehr als 200.000 für das Personal von Luftstreitkräften. Nur die Sowjetunion und die USA sollten Panzer reduzieren, die USA aber ihre Panzer unter Aufsicht einlagern dürfen. Die sogenannte „Selektivität“ in Hinblick auf die Einbeziehung von Waffen war eines der Prinzipien, die die NATO aus den ungleichen geographischen Rahmenbedingungen ableitete. Das für uns wichtigste aber war die „Kollektivität“: Um ein Mitspracherecht der Sowjetunion für die Bundeswehr zu vermeiden, sollten nationale Verpflichtungen und insbesondere nationale Höchststärken der Teilnehmerstaaten gegenüber der Gegenseite vermieden werden: Zwischen Ost und West sollten kollektive Höchststärken vereinbart werden, über deren Aufteilung, wie auch über spätere Änderungen der Aufteilung, nur intern innerhalb der Bündnisse entschieden werden sollte. Erst als es gelang, in der westlichen Verhandlungsposition die Kernprinzipien Parität, Kollektivität und Selektivität unverrückbar zu verankern, war das Auswärtige Amt beruhigt: Ein MBFR-Abkommen, das diesen Kriterien Rechnung getragen hätte, lag nicht in Reichweite. Fortan begnügte sich die Amtspitze damit, Aufweichungsversuchen vorzubeugen. Beliebtestes Streitthema war die Wahrung der Kollektivität – ein eherner Schutzschild zur Abwehr aller Bemühungen um ein Mitspracherecht der Sowjetunion in Fragen der deutschen Verteidigung. Die üblichen Verdächtigen saßen in der SPD-Fraktion und im Verteidigungsministerium des Koalitionspartners Hans Apel. Aber auch Gedankenspielen im eigenen Hause mißtraute Genscher. Als MBFR-Referatsleiter versuchte ich – schon der Sicherheit des Arbeitsplatzes zuliebe – die stagnierenden Gespräche durch etwas mehr Verhandlungsspielraum in der Kollektivitätsfrage, abgesichert durch raffinierte Vertragsklauseln, voranzubringen; verlorene Liebesmüh, die Vorlage kam mit dem Randvermerk „Formelkram!“ zurück. Bald hatte ich jedoch Gelegenheit, diese Scharte auszuwetzen. Bundeskanzler Helmut Schmidt, Vordenker des Gleichgewichtsprinzips, identifizierte sich in einer Bundestagsdebatte ad personam – „ich persönlich könnte mir vorstellen“ – mit einer Position, die für das Auswärtige Amt nicht diskutabel war: Er hielt eine vertragliche Festschreibung der Reduzierungsquoten der westlichen MBFR-Teilnehmer für denkbar, solange sichergestellt bleibe, daß über diese Quoten zuvor nur allianzintern entschieden werde. Leider hörte ich als zuständiger Referatsleiter der Debatte im Bundestag aufmerksam zu und sorgte mit Hilfe des anwesenden Staatssekretärs van Well umgehend für eine linientreue Korrektur des stenographischen Protokolls der Sitzung – weil nicht sein kann, was nicht sein darf.

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Die geschilderten Rahmenbedingungen machen heute verständlich, warum der in jahrelangen Konsultationen in der NATO entwickelte Verhandlungsvorschlag kompliziert, schwer verhandelbar und in seiner militärischen Relevanz begrenzt war. Und sie erklären auch die Schwerfälligkeit des Verhandlungsapparats auf westlicher Seite 47 - auf der Gegenseite kam es im Bedarfsfall nur auf die sowjetische Delegation an – und den Dogmatismus, der sich in den jahrelangen Verhandlungsrunden herausgeformt hatte. Damit konnte der Westen vor der Öffentlichkeit halbwegs bestehen, solange es hauptsächlich um das Paritätsprinzip ging, das der Osten grundsätzlich ablehnte, um auf gleichgewichtigen Reduzierungen zu bestehen. Schwierig wurde es erst als der Osten 1978 in dieser Grundsatzfrage einlenkte. Bei einem Besuch in Bonn im Mai 1978 räumte Generalsekretär Breschnew in einer gemeinsamen Erklärung mit Bundeskanzler Schmidt erstmals ein, „daß annähernde Gleichheit und Parität zur Gewährleistung Verteidigung ausreichen. (Ihrer Meinung nach) würden angemessene Maßnahmen der Abrüstung und Rüstungsbegrenzung im nuklearen und konventionellen Bereich, die diesem Grundsatz entsprechen, von großer Bedeutung sein“. 48

Es dauerte nicht lange, bis die östlichen Verhandlungsführer in Wien ideologisch aufschlossen und Parität als Verhandlungsziel im Prinzip anerkannten. Der ideologische Sieg brachte dem Westen allerdings nicht viel, denn die Sowjetunion behauptete gleichzeitig – und legte zum Beweis eigenes Datenmaterial vor – daß bereits in der Ausgangslage Parität bestehe, so daß gleichgewichtige Reduzierungen zu einem gleichgewichtigen Ergebnis führen würden. Damit wurde die „Datendiskussion“ zum zentralen Thema: Wenn beide Seiten ein paritätisches Verhandlungsergebnis wollten, mußte, um die notwendigen Reduzierungen festlegen zu können, zuvor Einigung über die numerische Ausgangslage erzielt werden, die sogenannte Dateneinigung. Die östliche Seite legte aber nur pauschale Daten für ihre Streitkräfte im Raum der Reduzierungen vor, die der Westen nicht für glaubwürdig hielt. Sie wichen von den westlichen Ein47 Die NATO unterhielt in Wien eine Art Filiale in Form einer „Ad hoc Group“, der die acht direkten MBFR-Teilnehmer – deren Truppen in Mitteleuropa stationiert waren – und fünf andere europäische NATO-Partner als indirekte Teilnehmer angehörten. Kollektiv erhielten sie förmliche Weisungen des NATO-Rats, die einzelnen Delegationen aber auch Weisungen ihrer Außen- bzw. Verteidigungsministerien, wobei beide Ministerien nicht immer übereinstimmten. Die Delegationen einschließlich Militärberater stimmten sich wöchentlich in Plenarsitzungen nach Vorbild des NATO-Rats über die Verhandlungsführung ab, die allerdings in deutsch-amerikanisch-britischen Sonderkonsultationen, den offiziell nicht existenten „Trilaterals“, vorbesprochen wurde. Mit der Gegenseite traf man sich mittwochs im Redoutensaal der Hofburg zu den öffentlichen „Plenaries“, donnerstags in wechselnder Besetzung zu den „Informals“ im Format 3+3; die Plenarerklärungen wurden zwar nicht mit dem Gegenüber diskutiert, nicht desto weniger aber ebenso wie die Beiträge für die informellen Treffen zuvor in der Ad hoc Group gründlich abgestimmt. Bei der Abstimmung kam es hauptsächlich darauf an, dogmatischen Aufweichungen vorzubeugen. 48 Siegler, Band XVII, S. 35.

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schätzungen ziemlich genau um die Zahl ab, die für die NATO die bestehende Disparität ausmachte – d. h. der Osten kaschierte seine numerische Überlegenheit durch gezinkte Zahlenangaben. Die vom Westen geforderte vertiefte Diskussion über die Diskrepanz zwischen westlichen Einschätzungen und östlichen Vorlagen wurde abgelehnt. Für die sowjetischen Militärs war die angestrebte Transparenz in militärischen Dingen, vor allem die Forderung nach Aufschlüsselung militärischer Daten, ohnehin eine Zumutung. Darüber hinaus waren sie davon überzeugt, daß die Armeen des Warschauer Pakts den NATO-Armeen im Hinblick auf Ausbildung und Qualität der Kampftechnik deutlich im Rückstand waren. Ihr einfaches Kalkül für den Streitkräftevergleich: Im Gefechtsfall könnte ein amerikanischer Panzer zwei der eigenen veralterten Panzer vernichten. Deshalb mußte ein dritter sowjetischer Panzer da sein, um den amerikanischen Gegner abzuschießen. 49 Auch wenn sich sowjetische Unterhändler in Moskau darüber beschwerten, daß sie falsche Daten vorlegen mußten 50, ging die Verweigerungstaktik auf die Dauer auf. Die grundsätzliche Position der NATO zur Datenfrage war in der interessierten westlichen Öffentlichkeit anfangs fast einmütig unterstützt worden. Aber es wurde schwierig, den Stillstand der Verhandlungen von einer Runde zu anderen immer wieder mit dem Hinweis auf die mangelnde Kooperation des Ostens in der Datenfrage zu begründen. Als sich die Datendiskussion jahrelang ergebnislos hinzog, büßte die westliche Verhandlungsposition für MBFR (Erbsenzählerei!) zunehmend an Glaubwürdigkeit ein. Eine Initiative, mit der ich versuchte, die Einigung über Ausgangsdaten durch Überprüfung der Ergebnisse der Reduzierungen über entsprechende Verifikationsmittel zu ersetzen, scheiterte in trilateralen deutsch-amerikanisch-britischen Vorbereitungsgesprächen; vor allem die Briten zeigten sich in der Datenfrage dogmatischer als die CIA, dem wichtigsten Lieferanten der westlichen Einschätzungen für die Streitkräfte des Warschauer Pakts. Als sich ein neuer, in Downing Street einflußreicher britischer Verhandlungsleiter in Wien über die Bedenken in London hinwegsetzte und im Juli 1985 eine westliche „Daten-Verifikations-Initiative“ möglich machte, war es zu spät – schon zeichnete sich ein neues und größeres Forum für die konventionelle Rüstungskontrolle ab: die Konferenz über Abrüstung in Europa, aus der die Verhandlungen um die Konventionellen Streitkräfte in Europa (VKSE) hervorgingen. In dieser Konferenz, die noch vor dem einvernehmlichen Abschluß der MBFRVerhandlungen begann, war das Verhandlungsziel der Parität von Anfang an allgemein anerkannte Geschäftsgrundlage. Daß dieses Prinzip schon im Verhandlungsmandat durchzusetzen war, ist sicher auch den jahrelangen Bemühungen bei MBFR zu verdanken.

49 50

Kwizinskij, S. 276. Grinjewski, S. 176.

Der Streit um die Neutronenwaffen Die frustrierenden Bemühungen um ein MBFR-Ergebnis bestärkten viele in der Überzeugung, daß die Sowjetunion als Verhandlungspartner nur dann Konzessionen machen wird, wenn der Westen Gegenkonzessionen in Aussicht stellen kann. Bei den konventionellen Streitkräften verhandelte die NATO freilich aus einer Position der Unterlegenheit, so daß der Spielraum für Gegenkonzessionen sehr begrenzt war. Schon in einem frühen Stadium der MBFR-Verhandlungen war deshalb ein do-ut-des unter Einbeziehung des nuklearen Sektors in Betracht gezogen worden. Ende 1975 unterbreitete der Westen ein „einmaliges Zusatzangebot“: Unter der Bedingung, daß der Osten das westliche Verhandlungsziel Parität beim Personal der Land- und Luftstreitkräfte akzeptieren und bereit sein sollte, in der ersten Reduzierungsphase eine sowjetische Panzerarmee mit 68.000 Mann und 1.700 Panzern abzuziehen, würde die NATO in der ersten Phase zusätzlich zu dem Abzug von 29.000 amerikanischen Soldaten eine bestimmte Anzahl spezifischer nuklearer Elemente abziehen. Der Osten reagierte zwar mit Interesse, akzeptierte jedoch nicht die Bedingung, so daß der Zusatzvorschlag, intern „Option III“ benannt, bald in den Schubladen verschwand. Zwei Jahre später bot die Diskussion über die Neutronenwaffen erneut Raum für rüstungskontrollpolitische Gedankenspiele. Dabei ging es um eine neue Nukleartechnik für Sprengköpfe auf Kurzstreckenraketen sowie für nukleare Artilleriemunition, die niedrige Sprengwirkung mit hochwirksamer Strahlung verbinden sollte. Damit hätten überlegene Panzerformationen ausgeschaltet werden können, ohne größere Kollateralschäden durch Druck- und Hitzewellen zu verursachen. Militärische Planer versprachen sich von dieser Waffe einen wirkungsvollen Einsatz gegen auf NATO-Territorium vorrückende Panzerkräfte des Warschauer Pakts. Auf einen anderen Aspekt machte Helmut Schmidt in seiner bereits erwähnten Rede vor dem Londoner IISS am 28. Oktober 1977 aufmerksam: Die Neutronenwaffe ist daraufhin zu prüfen, ob sie als zusätzliches Mittel der Abschreckungsstrategie, als Mittel zur Verhinderung eines Krieges für das Bündnis von Wert ist. Wir sollten uns aber nicht auf diese Prüfung beschränken, sondern auch untersuchen, welche Bedeutung und welches Gewicht dieser Waffe in unseren Bemühungen um Rüstungskontrolle zukommt.

In Bonn nahmen die Experten im Bundeskanzleramt, im Auswärtigen Amt und im Verteidigungsministerium diesen Hinweis ernst. Der klare Vorteil der Neutronenwaffe für die Abschreckungsstrategie der NATO wurde darin gesehen, daß sie dem Warschauer Pakt für den Fall eines Angriffs seiner überlegenen Panzerkräfte glaubhafter als bisher hohe Verluste androhen konnte. Lag es nicht nahe, für einen

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Verzicht auf die Neutronenwaffe den Abbau dieser Überlegenheit zu verlangen? Daß ein gegenseitiger Verzicht auf die Neutronenwaffe, wie von Breschnew angeboten, für die NATO wenig interessant war, ergab sich aus den unterschiedlichen Militärstrategien: Die des Warschauer Pakts sah offensive Landnahme vor, die sich auf eine massive Panzerüberlegenheit abstützte; die NATO konnte allenfalls „vorne verteidigen“, also auf eigenem Territorium kämpfen. Nur für die NATO war deshalb die Aufgabe der Neutronenwaffe der Verzicht auf eine potentiell wichtige militärische Option. In der lebhaften öffentlichen Diskussion um die Neutronenwaffen ging es jedoch kaum um strategische oder gar rüstungskontrollpolitische Fragen, sondern um waffentechnische Details wie Zerstörungskraft, Verstrahlung, Kollateralschäden, Tötungsraten usw. Den Ton gaben Experten in Hauptquartieren, einschlägigen Instituten und in den Medien an, deren Fachjargon zuweilen auch Wohlmeinende abstieß 51. In Deutschland reagierte die öffentliche Meinung schockiert. Die Regierungspartei SPD war auf ihrem Hamburger Parteitag am 17. November 1977 tief gespalten; Egon Bahr, abrüstungspolitischer Sprecher seiner Partei, sprach von einer Perversion des Denkens: Die neue Waffe wolle Menschen töten, materiellen Besitz aber unzerstört lassen. Auch in anderen NATO-Ländern artikulierte sich, von Friedensbewegungen gesteuert, der Widerstand gegen Neutronenwaffen. Im März 1978, als formelle rüstungskontrollpolitische Konsultationen noch gar nicht stattgefunden hatten, signalisierten die Amerikaner ihre grundsätzliche Bereitschaft, die Neutronenwaffe in Rüstungskontrollverhandlungen einzubringen. Die Entscheidung über ihre Stationierung könne davon abhängig gemacht werden, ob innerhalb von zwei Jahren ein Verhandlungserfolg erreicht werde; ein Forum oder ein Verhandlungsvorschlag wurden jedoch nicht spezifiziert. Auf einer Sitzung des NATO-Rats sollte am 28. März über diese Frage beraten werden. Am Vorabend bat die amerikanische Delegation jedoch um Verschie51 In einer Analyse des Pentagon für den Außenpolitischen Ausschuß des USSenats – und damit für Presse und Öffentlichkeit – wurden u. a. folgende Erläuterungen gegeben: „Die W-70 MOD 3 wird entwickelt, um die Forderung der Armee nach einem Sprengkopf mit niedriger Sprengwirkung und hochwirksamer Strahlung für das LanceRaketensystem zu erfüllen. Die hochwirksame Strahlung wird durch Verschmelzungsreaktionen erreicht, die Neutronen mit hoher Energie erzeugen. Wenn diese Neutronen im Zusammenhang mit relativ niedriger Spaltungs-Sprengwirkung erzeugt werden, dann ist der Wirkungsbereich der Neutronen größer als der tödliche Wirkungsbereich der Druckund Hitzewirkung. Damit kann die eigentliche Zerstörungskraft auf einen relativ kleinen Bereich (ca. 200 m Durchmesser) begrenzt werden. So ist es möglich, größere Panzeransammlungen – zumindest temporär – auszuschalten, ohne große Druck- und Hitzewellen zu erzeugen, die sich auf die Umgebung auswirken würden. Panzer werden heute so konstruiert, daß sie gegen Druck- und Hitzewellen relativ unempfindlich sind, wenn eine Nuklearwaffe nicht in unmittelbarer Nähe explodiert. Dagegen können sie mit dem W-70 MOD 3 Gefechtskopf außer Gefecht gesetzt werden, indem die Besatzung durch Strahlenwirkung getötet wird (Siegler, Band XV, S. 83).

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bung, weil, wie Außenminister Genscher telefonisch von seinem amerikanischen Kollegen Cyrus Vance erfuhr, Präsident Carter im Augenblick eine Entscheidung über die Einführung der Neutronenwaffe nicht treffen wollte. Genscher war sich mit Helmut Schmidt darin einig, daß die Amerikaner keinen definitiven Verzicht auf die Produktion der Neutronenwaffen aussprechen sollten, um die Option für Rüstungskontrollverhandlungen zu nutzen, und flog nach Washington, um auf die amerikanische Entscheidung in diesem Sinne Einfluß zu nehmen 52. Bei Carter stieß er auf Unwillen über die „wankelmütige Haltung“ der europäischen Bündnispartner 53; wenn die die Neutronenwaffen nicht wollten, müsse man eben auf ihre Einführung im Bündnis verzichtet. Nach einem Gespräch im Oval Office wurde jedoch eine Erklärung formuliert, die darauf hinauslief, daß die Entscheidung über die Produktion der Neutronenwaffe zurückgestellt wird – ein Begräbnis zweiter Klasse, wie sich Genscher erinnert. Die Sowjets konnten zufrieden sein. Die NATO gab ein Waffensystem auf, das für ihre Abschreckungsstrategie relevant war, ohne eine Gegenleistung zu fordern. Daß die Debatte aus dem Ruder gelaufen war, lag vor allem an fehlender politischer Koordination. Die militärischen Vorbereitungen waren weit fortgeschritten, bevor konkrete Überlegungen über ein Konzept für die Rüstungskontrolle in der NATO überhaupt angestellt wurden. „Federführend“ für die Behandlung der Neutronenwaffen blieb das Bundesministerium der Verteidigung; im Auswärtigen Amt, nach der Geschäftsordnung der Bundesregierung verantwortlich für Rüstungskontrolle und Abrüstung, blieb ungeklärt, ob das für konventionelle Rüstungskontrolle in Europa zuständige Referat die Option eines westlichen Verzichts auf die Neutronenwaffen bei MBFR einbringen oder das für nukleare Fragen zuständige Referat ein Deal mit der SS 20 ausarbeiten sollte. Im Bundessicherheitsrat, in dem sich der Bundeskanzler mit Außen- und Verteidigungsminister für die Beratung im Bündnis abstimmte, gab es zwar generell eine Präferenz für die erste Option, die Entscheidung sollte aber der NATO-Rat treffen. Immerhin gab der Vorgang den Anstoß, über einen neuen Ansatz nachzudenken, der sich später bewähren sollte – die Entscheidung über eine Rüstungsmodernisierung mit dem Angebot zu Rüstungskontrollverhandlungen zu verbinden. Diesmal fehlte es noch an einem schlüssigen rüstungskontrollpolitischen Konzept, das den Politikern ihre Führungsaufgabe erleichtert hätte: die Öffentlichkeit zu gewinnen und der Sowjetunion so die Entschlossenheit zur Modernisierung glaubwürdig zu vermitteln. Dazu war die NATO, anders als später bei der Nachrüstung der Mittelstreckenraketen, noch nicht in der Lage. Der Ansatz, mit dem sie in die Debatte um die Neutronenwaffen ging, war, wie es im Volksmund heißt, nichts Halbes und nichts Ganzes. 52

Genscher, S. 405 f. Er berief sich dabei, offensichtlich an richtigstellenden Details nicht interessiert, auf Äußerungen des österreichischen Bundeskanzlers Kreisky. 53

Militärische Transparenz und Vertrauensbildende Maßnahmen Vertrauensbildende Maßnahmen im militärischen Bereich werden oft als Königsweg zum Frieden zwischen zerstrittenen Staaten und Völkern gepriesen: Wenn es gelingt, das gegenseitige Mißtrauen abzubauen – mag es auf geschichtlichen Erfahrungen oder auf anerzogenem Argwohn herrühren – muß doch das gemeinsame Interesse an der Wahrung des Friedens zum Durchbruch kommen. Als es um Entspannung und Rüstungskontrolle zwischen Ost und West ging, war diese Weisheit nicht Allgemeingut. Das lag schon an einer begrifflichen Unklarheit: Soll das Vertrauen dadurch entstehen, daß man sich auf bestimmte Regeln verständigen kann, oder kommt es mehr auf die Einhaltung von Regeln an? Der Osten setzte auf ersteres und drängte darauf, in feierlichen Deklarationen hehre Ziele festzulegen und bösen Absichten zu widersagen; dabei ging es um Frieden und Freundschaft zwischen den Völkern, Verurteilung des Revanchismus, allgemeinen Gewaltverzicht 54 etc. Der Westen glaubte nicht, daß solche „deklaratorischen Maßnahmen“ Frieden und Sicherheit festigen würden. Man wollte auch nicht vertraglich gehalten werden, an die guten Absichten des Gegners zu glauben, Der Westen verlangte „militärisch signifikante“ Maßnahmen, wobei nicht so sehr die Festlegung von Verpflichtungen, sondern das Maß ihrer Implementierung Vertrauen im militärischen Bereich schaffen sollte. Dahinter stand zum einen eine Philosophie, die schon die amerikanischen Väter der Rüstungskontrolle inspiriert hatte: Man wollte verhindern, daß militärische Aktivitäten falsch eingeschätzt werden und Anlaß zu gefährlichen Gegenmaßnahmen geben könnten. Zum anderen sollte Rüstungskontrolle als Instrument genutzt werden, um die in den kommunistischen Systemen gepflegte Geheimhaltung in allen militärischen Dingen aufzubrechen. „Sie wollen ein Loch in unseren Zaun bohren!“, warf der sowjetische Außenminister Gromyko seinem deutschen Kollegen Genscher einmal vor; keineswegs, antwortete Genscher, wir wollen den ganzen Zaun wegreißen. Den Hebel für den Einstieg in Verhandlungen über Vertrauensbildende Maßnahmen, wie der Westen sie verstand, hatte das langjährige Interesse der Sowjetunion an einer Europäischen Sicherheitskonferenz geboten. Erst Anfang der 70er Jahre 54 In der KSZE-Schlußakte ist der Verzicht auf militärische Gewalt konkret mit der Frage der friedlichen Veränderbarkeit von Grenzen verbunden.

Militärische Transparenz und Vertrauensbildende Maßnahmen

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ließ sich der Westen auf die Konferenzidee ein 55. Dann allerdings gelang es den NATO-Ländern in strategischer Kooperation mit den neutralen und ungebundenen Staaten Europas, die Konferenzidee „umzufunktionieren“: Der Sowjetunion wurden für die Einberufung einer „Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE)“ wichtige Zugeständnisse für den freien Austauschs von Menschen, Informationen und Ideen im „Helsinki-Prozeß“ abgerungen. Die Schlußakte von Helsinki, am 1. August 1973 angenommen, enthielt darüber hinaus aber auch ein „Dokument über Vertrauensbildende Maßnahmen und bestimmte Aspekte der Sicherheit und der Abrüstung“, mit ersten, aber ausbaufähigen Verpflichtungen aller Teilnehmerstaaten: Größere Manöver der Landstreitkräfte auf europäischem Territorium sollten 21 Tage zuvor angekündigt, Beobachter dazu eingeladen werden. Letzteres sollte auf freiwilliger Basis erfolgen, aber die Pflicht zur Vorankündigung war immerhin politisch, wenn auch nicht rechtlich verbindlich. Eine wichtige geographische Ausnahmeregelung galt allerdings für die Sowjetunion (und für die Türkei): Der Anwendungsbereich beschränkte sich auf einen Streifen von 250 km ihrer Territorien entlang der Außengrenzen zu anderen Teilnehmerstaaten. Die weitere Entwicklung der militärischen Vertrauensbildung erfolgte jeweils mit Mandaten der KSZE-Folgetreffen und verlief mehr und mehr im westlichen Sinne. Der Konferenz von Stockholm, die von 1984 bis 1987 tagte, lag ein Mandat des KSZE-Folgetreffens Madrid von 1983 zugrunde. Es sah bereits die Vereinbarung von Maßnahmen vor, die militärisch signifikant, politisch verbindlich, verifizierbar und auf dem gesamten europäischen Territorium, einschließlich der europäischen Sowjetunion, anwendbar sein sollten. Schon in der neuen Bezeichnung „Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen“, auf die man sich in Madrid geeinigt hatte, zeichnete sich der Erfolg der westlichen, von den neutralen und ungebundenen Mitgliedstaaten der KSZE mitgetragenen Konzeption ab. Im Laufe der fast dreijährigen Verhandlungen in Stockholm konnten auf verschiedenen Gebiete wesentliche qualitative Verbesserungen gegenüber Helsinki erzielt werden: Verlängerte Vorankündigungsfristen nicht nur für Manöver, sondern für alle militärischen Aktivitäten, Einbeziehung von Elementen der Luftwaffe und amphibischer Truppen, jährlicher Informationsaustausch über alle vorgesehenen militärischen Aktivitäten, verbesserte Einsatzbedingungen für Beobachter. War die sowjetische Delegation noch soweit mitgegangen, verweigerte sie sich, als es um Verifikation ging: Sie widersetzte sich der geforderten Verpflichtung aller KSZE-Staaten, auf ihrem Territorium jährlich eine bestimmte Anzahl von Inspektionen zuzulassen. Es bedurfte der Intervention des neuen Generalsekretärs der KPdSU, Michail Gorbatschow, um hier den Durchbruch zu erzielen 56 und im letz-

55 56

Vgl. oben S. 35. Vgl. unten S. 55.

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Militärische Transparenz und Vertrauensbildende Maßnahmen

ten Augenblick vor Ablauf des Konferenzmandats, am 19. September 1987, das Stockholmer Dokument über Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen zu verabschieden. Darauf aufbauend, wurden die Vertrauens- und Sicherheitsbildenden Maßnahmen im KSZE-Rahmen kontinuierlich in Richtung auf militärische Signifikanz weiter entwickelt. Den Abschluß fanden die Verhandlungen mit dem Wiener Dokument über Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen, das die KSZE am 4. März 1992 billigte. In der schwierigen Phase des Übergangs zu einer kooperativen Sicherheitsordnung in Europa spielten sie eine wichtige vertrauensbildende Rolle. Nach der Wende in den Ost-West-Beziehungen sollte Vertrauensbildung im militärischen Bereich auch außerhalb der eingeschlagenen Wege möglich werden: 1992 unterzeichneten die KSZE-Mitglieder den Vertrag über den Offenen Himmel (Open Skies Treaty), der ungehinderte Beobachtungsflüge mit vertraglich festgelegten Sensoren in einem Anwendungsgebiet von „Vancouver bis Wladiwostok“ erlaubt. Der Vertrag ist nicht nur in sich ein einzigartiges Instrument der Rüstungskontrolle, sondern leistet auch durch die Überwachung anderer Verträge, etwa des Übereinkommens zum Verbot Chemischer Waffen, einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung von Stabilität und Sicherheit.

„Doppelbeschluß“ und erste INF-Verhandlungen Mitte der 70er Jahre zeichnete sich in der NATO eine Diskussion über die Verschiebung des nuklearen Kräfteverhältnisses ab. Besorgnis erregte vor allem der Ausbau eines „eurostrategischen“ Kernwaffenpotentials, das die Sowjetunion nur gegen Westeuropa, nicht gegen die USA einsetzen konnte. 1975 kam die SS 20 zur Stationierung – eine neu entwickelte mobile Feststoffrakete, die mit drei Sprengköpfen unabhängig von einander in 15 Minuten europäische Ziele erreichen konnte. Die NATO sah darin eine treffsichere und unverwundbare Kernwaffe, der sie nichts Gleichwertiges entgegen zu setzen hatte. 57 In manchen westlichen Hauptstädten bestand der Verdacht, daß es die Sowjetunion darauf angelegt hatte, ein Potential zur Erpressung Westeuropas aufzubauen. Während in Washington die Bedrohung insbesondere von Carters Sicherheitsberater Brzesinski eher heruntergespielt wurde 58, vertrat Frankreichs Präsident Mitterand in Interviews die Überzeugung, die Sowjetunion häufe ihre Waffen an, um einen Krieg gewinnen zu können, ohne ihn zu führen 59. Besonders deutlich artikulierte Bundeskanzler Helmut Schmidt seine Besorgnisse. Mit seiner „BuchanRede“, am 28. Oktober 1977 vor dem International Institute for Strategic Studies in London gehalten, erregte er weltweites Aufsehen. 60 Seine Kernaussage: Durch SALT neutralisieren sich die strategischen Nuklearpotentiale der USA und der UdSSR gegenseitig, in Europa wächst die Bedeutung der Disparität auf nukleartaktischem wie auf konventionellem Gebiet und damit das Erpressungspotential der Sowjetunion. Für die Lösung des Problems gab Helmut Schmidt die Lösung vor: Wenn die Sowjetunion auf ihrer neuen „eurostrategischen“ Rüstung bestand, mußten die USA diese Drohung durch eine eigene „eurostrategische“ Rüstung neutralisieren – also durch Systeme, mit denen sie ohne Rückgriff auf ihre in Amerika stationierten interkontinentalen Systeme vergleichbare Zerstörungen auf sowjetischem Territorium androhen konnten. Deshalb bedurfte es der sichtbaren Stationierung 57 Die Argumentation ist der 1980 für die Öffentlichkeitsarbeit des Auswärtigen Amts veröffentlichten Broschüre „Es geht um unsere Sicherheit“ entnommen. 58 Ruhfus, S. 197. 59 Krause, Band XXIV S. 371. 60 Vgl. oben S. 29.

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„Doppelbeschluß“ und erste INF-Verhandlungen

neuer amerikanischer Mittelstreckenraketen, mit denen erstmals von Westeuropa aus das sowjetische Kernland einschließlich Moskau angegriffen werden konnte – es sei denn, die Sowjetunion erkläre sich zum Abbau ihrer „Vorrüstung“ bereit. Daß es die Sowjetunion damals tatsächlich darauf angelegt hatte, ein Potential zur Erpressung Westeuropas aufzubauen, läßt sich heute – zumindest nach zugänglichen Quellen – nicht belegen. Zwar vermittelten Gespräche mit Diplomaten aus dem Warschauer Pakt damals mitunter den Eindruck, daß es in der sowjetischen Führungsschicht Kräfte gab, die angesichts des bereits spürbaren Verfalls des Imperiums auf die militärische Option setzten. Interne Äußerungen Marschall Achromejews und anderer sowjetischer Militärs, über die der sowjetische INF-Unterhändler Kwizinskij berichtet 61, vermitteln eher den Eindruck, daß hinter dem abenteuerlichen Tempo der sowjetischen Raketenrüstung kein strategisches oder politisches Kalkül, sondern eine dumpfe Furcht vor der technologischen Überlegenheit der USA stand. Gorbatschow hatte später sogar Zweifel, ob irgend jemand in der Armee Übersicht über alle Rüstungsprogramme hatte. 62 Auch im Hinblick auf die strategische Einschätzung des Nachrüstungsbedarfs durch die NATO bleiben aus heutiger Sicht Fragen offen. Ob die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenwaffen in Europa wirklich unerläßlich war, um die Glaubwürdigkeit der nuklearen Abschreckung aufrecht zu erhalten, hätte sich verläßlich nur im Ernstfall beurteilen lassen, der gottlob nicht eingetreten ist. Für die Geschichte zählt, daß die Regierenden auf beiden Seiten entschlossen waren, die Stationierungsfrage zum Gegenstand einer politischen Konfrontation mit unübersehbaren Folgen für Europa zu machen. Der Ansatz Helmut Schmidts wurde von den engsten Verbündeten positiv aufgenommen. Auf französische Einladung trafen sich am 5. Januar 1979 Staatspräsident Giscard d’Estaing, Präsident Carter, Premierminister Callaghan und Bundeskanzler Schmidt, um in der Abgeschiedenheit der französischen Karibikinsel Guadeloupe offen und formlos über die Probleme der internationalen Lage zu diskutieren – darunter auch die deutschen Sorgen um die sowjetischen Mittelstreckenwaffen. 63 Gemeinsam mit Schmidt brachte Giscard die Idee ein, die Stationierung neuer amerikanischer Raketen mit einer Rüstungskontrollinitiative zu verbinden: Man müsse die Menschen davon überzeugen, daß die Stationierung mit dem Ziel der Rüstungskontrolle nicht nur vereinbar ist, sondern sogar Voraussetzung für einen Verhandlungserfolg 64. Zum erstenmal zeichnete sich zwischen Europäern und den Amerikanern Übereinstimmung zu einem neuen Konzept ab:

61 62 63 64

Kwizinskij, S. 312. s. unten S. 51. Ruhfus, S. 214 f. Talbott, S. 37.

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Stationierung von neuen Rüstungssystemen durch die NATO, verknüpft mit einem Angebot, das Gleichgewicht durch Abrüstungsmaßnahmen zu stabilisieren. Aber diesmal sollte es, anders als im Falle der Neutronenwaffen, um ein konkretes Projekt gehen. Kurz nach dem Treffen in Guadeloupe setzten die Verteidigungsminister der NATO eine High Level Group unter amerikanischem Vorsitz ein, um zu prüfen, welche Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Abschreckung erforderlich sind. Sie kam zum Ergebnis, daß als Gegengewicht zur SS 20 amerikanische bodengestützte Nuklearwaffen produziert und stationiert werden sollten, die von europäischen Abschußplätzen aus Ziele in der Sowjetunion erreichen konnten. Da die vorhandenen Raketen vom Typ Pershing Ia mit einer Reichweite von ca. 700 km dazu nicht imstande waren, wurde ihr Ersatz durch ein Nachfolgemodell vorgeschlagen, der Pershing II, mit einer auf 1.800 km gesteigerten Reichweite. Für eine ballistische Rakete dieser Reichweite war freilich nur eine Stationierung in der Bundesrepublik Deutschland sinnvoll. Deshalb sollte sie – aus Solidarität im Hinblick auf das nukleare Risiko, aber auch um die mit einer Stationierung verbundenen politischen Lasten auf mehrere Schultern zu verteilen – durch Marschflugkörper mit einer Reichweite von rund 2.500 km ergänzt werden, die auch in anderen europäischen NATO-Ländern stationiert werden sollten. In der NATO wurde – als Gegengewicht zur militärischen High Level Group (HLG) – eine von Abrüstungsbeauftragten aus den Hauptstädten besetzte High Level Task Force (HLTF) eingesetzt, die sich mit den rüstungskontrollpolitischen Aspekten des Themas befaßte. Nach intensiven Konsultationen in Brüssel und in den Hauptstädten konnten die Außen- und Verteidigungsminister der NATO auf einer Sondersitzung am 12. Dezember 1979 den berühmten Doppelbeschluß fassen: − erstens, in einem fünfjährigen Modernisierungsprogramm von 1983 an 108 Pershing-II-Raketen als Ersatz für die 78 Pershing-Ia-Raketen in der Bundesrepublik Deutschland und 464 Marschflugkörper in mehreren europäischen Ländern zu stationieren; − zweitens, der Sowjetunion Verhandlungen über Begrenzungen der LRTNF mit dem Ziel vorzuschlagen, Begrenzungen der sowjetischen und (vorgesehenen) amerikanischen LRTNF nach dem Grundsatz der Gleichheit beider Seiten auf möglichst niedrigem Niveau zu vereinbaren. 65 65 Zur Terminologie: Im NATO-Kontext waren die Kategorien der nuklearen Waffensysteme ursprünglich (1) Strategische Einsatzmittel (interkontinentale ballistische Flugkörper (ICBM), U-Boot-gestützte ballistische Flugkörper (SLBM) und Schwere Bomber), (2) „Theater Nuclear Forces“, also Nuklearstreitkräfte für den Kriegsschauplatz, und (3) Nukleare Gefechtsfeldwaffen geringer Reichweite wie nukleare Artillerie und Kurzstreckenraketen. Für die INF-Verhandlungen setzte sich folgende Terminologie durch: (1) „Intermediate (Range) Nuclear Forces (INF)“, die sich wiederum unterteilten in „Longer Range Intermediate Nuclear Forces (LRINF)“ mit Reichweiten zwischen 1.000 und 5.500 km und

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„Doppelbeschluß“ und erste INF-Verhandlungen

Der vereinbarte Stationierungsumfang sollte im Lichte konkreter Verhandlungsergebnisse geprüft und angepaßt werden. Die NATO würde 1983 mit der Stationierung beginnen, falls Verhandlungen bis dahin kein Ergebnis erbracht haben sollten. Die weitere Geschichte ist bekannt 66. Die Sowjets verurteilten den Doppelbeschluß als üblen Propagandatrick, mußten sich aber unter dem Druck der öffentlichen Meinung im Westen auf das Verhandlungsangebot einlassen. Im November 1981 begannen in Genf die Verhandlungen über eine Begrenzung der Mittelstrecken-Nuklearwaffen (Intermediate Range Nuclear Forces, INF). Jetzt konnte sich die NATO nicht mehr allein auf die Zugkraft der Formel verlassen, auf die sie ihre Sicherheitspolitik mit dem Doppelbeschluß gebracht hatte. Jetzt mußten die USA am Verhandlungstisch – und um den Verhandlungstisch herum – zeigen, daß sie eine Verhandlungslösung für die Mittelstreckenfrage ernsthaft wollten. Beide Seiten waren sich darüber im klaren, daß die Glaubwürdigkeit der Verhandlungsführung für die öffentliche Meinung in Deutschland der entscheidende Faktor im Kampf um die Nachrüstung war. Zwei nüchterne Überlegungen gaben dafür den Ausschlag: Die Stationierung der Feststoffrakete Pershing II – der militärisch wichtigste, politisch sichtbarste und umstrittenste Teil der westlichen Nachrüstung – war aus strategischen Gründen nur in der Bundesrepublik Deutschland sinnvoll. Sie bedurfte hier jedoch – anders als in den meisten demokratisch verfaßten Staaten Europas – der Zustimmung des Deutschen Bundestags. Das Parlament mußte vor Beginn der Stationierung, nach der Zeitplanung des Doppelbeschlusses also vor Ende 1982, seine Zustimmung geben. So kam es, daß es in der hitzigen Debatte bald nicht mehr um Raketen und Strategien, sondern um „die Köpfe und Herzen der Deutschen“ ging. Als amerikanischer Verhandlungsführer wurde Paul Nitze nach Genf entsandt, einer der erfahrensten amerikanischen Abrüstungsdiplomaten, und für die Deutschen, wie sich herausstellen sollte, ein besonders glaubwürdiger Partner. Zusammen mit seinem weit jüngeren sowjetischen Kollegen Julij Kwizinskij, dem späteren Botschafter in Bonn, war er bemüht, alle Möglichkeiten der Verhandlungen auszuschöpfen. Doch die Hauptstädte ließen sie meist allein. Die Situation in Moskau war für Kwizinskij bald klar: Die Militärs wollten keine Übereinkunft, und das Außenministerium unterstützte sie darin in allen Punkten. 67 Für die Militärs war ausschlaggebend, daß die Pläne zur Stationierung von insgesamt 500 SS 20-Abschußrampen nicht beschnitten werden durften. Vergebens warnte Kwizinskij seinen Außenminister Gromyko, ohne Bereitschaft zur „Shorter Range Intermediate Nuclear Forces (SRINF)“ mit Reichweiten zwischen 150 und 1.000 km, sowie (2) „Short (Range) Nuclear Forces (SNF)“ mit Reichweiten unter 150 km. 66 Vgl. oben S. 24 ff. 67 Kwizinskij, S. 306 ff.

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Reduzierung der SS 20 werde es kein ernsthaftes Gespräch mit den Amerikanern geben, und Moskau werde seinen Einfluß auf die westeuropäische Öffentlichkeit verlieren. Für die sowjetische Führung liefen die Verhandlungen, wie Kwizinskij resigniert feststellte, praktisch über Presse und Fernsehen. Seine wichtigste Direktive war, alles zu unternehmen, um die Stationierung neuer amerikanischer Raketen in Europa über Moratoriumsvorschläge zu verhindern. Gegenüber der westlichen Öffentlichkeit wurde das Argument herausgestellt, das Kräfteverhältnis im Mittelstreckenbereich sei auch ohne Stationierung der Pershing II ausgeglichen, wenn man die Raketen- und Flugzeugpotentiale Großbritanniens und Frankreichs in die Rechnung einbeziehe. In Washington war die Lage zu Beginn der Verhandlungen weniger übersichtlich. Nach dem Wahlsieg Ronald Reagans über Jimmy Carter Ende 1980 stellten die Falken im Kongreß und im Verteidigungsministerium den Doppelbeschluß der NATO zunächst in Frage: Wenn die Sowjets auch nur 100 SS 20-Abschußrampen mit 300 MIRV-Sprengköpfen behalten dürften, könnten sie alle wichtigen NATOZiele in Westeuropa abdecken. Nur mit einem Reduzierungsziel nahe an Null wäre es möglich, eine Gefährdung dieser Ziele zu vermindern, argumentierte Richard Perle, Beigeordneter Verteidigungsminister und einflußreichster Spieler auf der militärischen Seite. Anders als das Pentagon hielt das State Department eine Allesoder-Nichts-Position in Genf nicht für durchhaltbar und trat, in Übereinstimmung mit dem Doppelbeschluß, für „Reduzierungen auf das niedrigst mögliche Niveau, im Idealfall auf Null“ ein. Am Ende setzte sich das Pentagon durch, denn Präsident Reagan wollte einen einfachen und kühnen Vorschlag, der wirklich auf Abrüstung abzielte: die Nullösung. Taktisch ging es ihm darum, die Sowjets in die Defensive zu drängen und ihrer Moratoriumskampagne „die Schau zu stehlen“. So wurde die Nullösung der alleinige amerikanische Verhandlungsvorschlag in Genf. In Europa fühlten sich viele bestätigt, die, wie Hans-Dietrich Genscher und seine FDP, längst vor Washington für eine Nullösung eingetreten waren – allerdings als Endziel, das in Zwischenschritten zu erreichen war. Bei einer Weisungslage, die Rückfallpositionen ausschloß, waren aber „Zwischenlösungen“, auf die besonders die deutsche Bundesregierung drängte, im NATO-Rahmen nicht verhandelbar. Daß die Unterhändler in Genf trotzdem nicht aufgaben und über die Grenzen dessen hinausgingen, was die Weisungsgeber zu akzeptieren bereit waren, zeigt die berühmt gewordene Episode des „Waldspaziergangs“: Nitze, für deutsche Empfindlichkeiten stets offen, unterbreitete Kwizinskij einen mit Washington nicht abgestimmten Kompromißvorschlag, der Elemente für Zwischenlösungen enthielt, die er zuvor mit dem Abrüstungsbeauftragen der Bundesregierung, meinem Vorgänger Friedrich Ruth, diskutiert hatte: auf sowjetischer Seite Begrenzungen für die SS 20 unterhalb des gegenwärtigen Bestandes (75 Flugkörper mit 225 Sprengköpfen in Europa, weitere 90 Flugkörper auf asiatischem Territorium der UdSSR), auf amerikanischer Seite Verzicht auf die Stationierung der Pershing II, nicht aber auf 75 Cruise Missile-Abschußrampen. In Washington stieß der per-

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sönliche Vorstoß Nitzes auf Ablehnung, weil die Anerkennung eines sowjetischen Rechts auf die SS 20 bei Verzicht auf die Pershing II politisch und militärisch unakzeptabel schien. Nitze hielt diese Weisung aber zurück und wartete ab, bis Kwizinskij ihn darüber unterrichtete, daß Moskau den Vorschlag abgelehnt hatte; erst dann teilte ihm Nitze mit, er sei beauftragt zu erklären, daß „ihr gemeinsamer Vorschlag“ auch für die amerikanische Seite nicht annehmbar sei. 68 Nach diesem gescheiterten Kompromißversuch gerieten die Genfer Verhandlungen vollends in die Sackgasse, und die Heimatfront kam ins Wanken. Bei der Vorbereitung des Doppelbeschlusses hatte Bundeskanzler Schmidt noch die Zustimmung der Führung der Koalitionsparteien SPD und FDP, obgleich innerhalb der SPD die Stimmung zu einer möglichen Nachrüstung bereits skeptisch war. Im Zuge der Kampagnen gegen die Nachrüstung verlor Helmut Schmidt die Unterstützung seiner Partei, und die FDP kündigte unter Führung Hans Dietrich Genschers die Koalition auf; auch wenn es in der Regierung auch sonst knirschte – die Haltung der SPD zum Doppelbeschluß war für Genscher der „Scheidungsgrund“ 69. Am 1. Oktober 1982 wurde Helmut Kohl nach einem Mißtrauensvotum im Bundestag zum Kanzler gewählt. Die neue Regierung Kohl / Genscher hielt am Kurs Helmut Schmidts in der Nachrüstungsfrage klar fest. Drei Tage vor den wegen des Mißtrauensvotums ausgeschriebenen Neuwahlen stellte sie in einer vom Fernsehen übertragenen Debatte des Bundestags ihre Absicht zur Stationierung offensiv zur Abstimmung. Die Wähler honorierten diese Haltung, und das neu gewählte Parlament stimmte der Stationierung der Pershings und Cruise Missiles am 22. November 1983 zu. Auch wenn die Sowjets nach dieser Entscheidung die Genfer Verhandlungen verließen und in Deutschland die Demonstrationen gegen die Stationierung weiter anhielten – der Westen hatte eine Schlacht gewonnen, von der sich die Sowjetunion nicht mehr erholen sollte. Richard Schröder, DDR-Menschenrechtler und Vorsitzender der SPD-Fraktion der einzigen frei gewählten Volkskammer, erinnert sich: Wenn die Amerikaner die Nachrüstung nicht trotz aller Sitzblockaden durchgedrückt hätten, wäre ich noch heute in der DDR eingemauert. Die Amerikaner haben verstanden, welche Sprache die Sowjets verstanden. Die westdeutsche Friedensbewegung hat das nicht verstanden. Sie lebte in der pubertären Illusion, „seid nett zueinander“ sei ein Rezept für alle Konflikte.

68 69

Kwizinskij, S. 317. Genscher, S. 415.

Der schwierige Weg zu einer kooperativen Sicherheitsordnung Die Überwindung der Teilung Europas ist mit vielen Namen verbunden, die in die Geschichte eingegangen sind. Ohne Michail S. Gorbatschow aber wäre nichts gegangen. Angetreten war er mit dem Ziel der Reform der Sowjetunion, für die er den Ausgleich mit dem Westen brauchte. Als Reformator scheiterte er tragisch, der Ausgleich mit dem Westen aber ist gelungen. Und es war die Abrüstungspolitik Gorbatschows, die den Abbau der militärischen und der politischen Konfrontation möglich machte. Abrüstung stand aus zwei Erwägungen heraus im Zentrum des außenpolitischen Programms Gorbatschows. Zum einen brauchte er Abrüstungserfolge, um sich dem Westen als vertrauenswürdiger Partner für die Überwindung der Selbstisolation der Sowjetunion anzubieten – vor der Zustimmung zur „doppelten Nullösung“ für die Mittelstreckenraketen genoß er hier nur begrenzten Kredit. Abrüstung sollte, wie er seinen engsten Mitarbeitern erklärte, zur „Lokomotive unserer Außenpolitik der Perestroika“ und zum „Schlüssel unseres Verhältnisses zum Westen“ werden. 70 Zum anderen war die Sowjetunion auf Abrüstungserfolge, auf eine „Friedensdividende“, wirtschaftlich ungleich mehr angewiesen als die NATO. Gorbatschow hatte als neuer Generalsekretär der KPdSU im März 1985 ein System übernommen, das im Begriffe war, an seinen Widersprüchen zugrunde zu gehen – was nach Marx eigentlich für den Kapitalismus vorgesehen war. Einer der folgenreichsten Widersprüche war der zwischen der maroden Wirtschaft und einer monumentalen Überrüstung. Gorbatschow empörte sich, daß sich ausgerechnet die wirtschaftlich dahinsiechende Sowjetunion mit 16% ihres Bruttoinlandsprodukts für militärische Zwecke und zusätzlich 4% für Truppen des Innenministeriums und des KGB das teuerste Militärbudget der Welt leistete. Er bezweifelte, daß irgend jemand in der Armee Übersicht über das Ausmaß der Rüstungsanschaffungen hatte. „Sie ruinierten das Land, ließen das Volk hungern, zerstörten die Landwirtschaft, aber wir saßen auf Raketen.“ 71 War es wirklich Reagan, der die Sowjetunion zu Tode gerüstet hat? Sicher hat die konfrontative Politik, mit der Reagan Anfang der achtziger Jahre die Entspan70 71

Grinjewski, S. 189. Gorbatschow im Mai 1986 im engsten Beraterkreis, s. Grinjewski, S. 190.

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Der Weg zu einer kooperativen Sicherheitsordnung

nungsbemühungen seiner Vorgänger beendete und den „Zweiten Kalten Krieg“ auslöste, die Malaise des sowjetischen Systems verschärft. Aber die sowjetischen Militärs hätten wohl auch ohne diese Herausforderung ihr Land früher oder später in den Ruin getrieben. Für die Geschichte ist entscheidend, daß Gorbatschow in seinen ersten beiden Jahren als Generalsekretär die militärische Agenda an sich riß. Er trennte sich zunehmend von überkommenen sowjetischen Positionen in der Abrüstungspolitik und drängte seine Leute entschlossen zu neuem Denken auch auf diesem Terrain. Gorbatschow übernahm sicherheitspolitische Konzeptionen, die der Westen in den letzten Jahrzehnten geprägt und ohne viel Erfolg gegen die Sowjetunion verfochten hatte: Verzicht auf militärische Überlegenheit, die Zielvorstellung der Parität für Streitkräfte und Rüstungen, die Bereitschaft zur Transparenz und zur Verifizierbarkeit von Absprachen. Freilich fiel es Gorbatschow leichter, solche Kernsätze aus der Ideologie des Gegners zu übernehmen, weil der langjährige OstWest-Dialog in den Rüstungskontrollverhandlungen schon gewisse ideologische Grundlagen für eine kooperative Sicherheitsordnung geschaffen hatte. Bereits Breschnew hatte in seiner Spätzeit, aus Anlaß eines Besuchs in Bonn im Mai 1978, das Paritätsprinzip anerkannt 72. Bei meinen östlichen Kollegen in Wien stieß Gorbatschows „neues Denken“ nicht gerade auf begeisterte Zustimmung. Als ich die MBFR-Delegation im Herbst 1987 verließ, waren meine östlichen Verhandlungspartner bemüht, jeden Verdacht zu entkräften, sie nähmen die in Moskau angestrebten Reformen ernst. Ich erinnere mich an eine informelle Sitzung, in der ich die Frage aufwarf, ob die von Gorbatschow unter dem Stichwort „Glasnost“ proklamierte Transparenz nicht auch Auswirkungen auf die negative Haltung unserer östlichen Verhandlungspartner in Sachen Datenaustausch und Verifikation haben müßte. Mein sowjetischer Kollege hielt diese Überlegung für abwegig: „Glasnost“ sei ein Kriterium für die Rationalisierung des Partei- und Staatsapparats und habe nichts mit militärischer Sicherheit zu tun. Über „Perestroika“ waren im östlichen Lager hämische Witze im Umlauf. Als der zum TASS-Direktor ernannte bisherige Leiter der internationalen Abteilung des Zentralkomitees der KPdSU, Wladimir Falin, laut darüber nachdachte, ob das europäische Territorium der Sowjetunion in zukünftige Verhandlungen über konventionelle Rüstungskontrolle einbezogen werden sollte, meinte mein polnischer Kollege, Falin habe in seinem neuen Job halt eine gewisse Narrenfreiheit. Im Westen dagegen beeindruckte Gorbatschow Gesprächspartner und Öffentlichkeit mit seiner für einen sowjetischen Machthaber ungewohnten Art zu denken und zu artikulieren. Aber noch überwogen die Zweifel, ob man ihm trauen könne. Westliche Sowjetologen und Politiker, an der Spitze der amerikanische 72

Vgl. oben S. 39.

Der Weg zu einer kooperativen Sicherheitsordnung

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Verteidigungsminister Caspar Weinberger, befürchteten, Gorbatschow wolle mit einer Charmeoffensive nur Zeit für die Überwindung wirtschaftlicher Probleme gewinnen 73. Auch Gorbatschows rhetorische Bilder vom gemeinsamen Haus Europa u.ä. erinnerten an altbekannte sowjetische Propaganda, und selbst größere Truppenreduzierungen der Sowjetunion, einseitig angekündigt, vermochten nicht zu überzeugen. Zu Gorbatschows markantesten Eigenschaften gehörte aber seine Lernfähigkeit. In einem großen Abrüstungsplan, den er am 15. Januar 1986 vor den Vereinten Nationen verkündete, hatte er die Eliminierung aller Nuklearwaffen in drei Stufen bis 2000 vorgeschlagen und damit in Washington und in westeuropäischen Hauptstädten nur skeptische Reaktionen ausgelöst. Jetzt setzte er statt auf weitere kühne Zukunftspläne darauf, seine guten Absichten in laufenden Rüstungskontrollverhandlungen über weniger spektakuläre und militärisch relevante Themen zu zeigen. Er wählte dafür die Konferenz über Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen aus, die seit 1984 inStockholm tagte 74. Diese Konferenz drohte nämlich im letzten Augenblick an der Haltung der sowjetischen Delegation zu scheitern: Die Sowjets widersetzten sich den westlichen wie den neutralen und ungebundenen Teilnehmerstaaten, die ein Recht auf eine bestimmte Anzahl von Inspektionen auf dem europäischen Territorium eines jeden KSZE-Teilnehmers forderten. Obgleich die Konferenz ihr Ergebnis bis 19. September 1987 der KSZE vorlegen mußte, zeichnete sich Mitte September noch keine Lösung ab. Da rief Gorbatschow die mit der Sache befaßten Minister und Funktionsträger zu sich. Vom Leiter der sowjetischen Verhandlungsdelegation in Stockholm gibt es eine anschauliche Schilderung dieser Sitzung 75: Generalstabschef Achromejew lehnte ein Recht auf Inspektionen auf sowjetischem Territorium empört ab. „Man will uns davon überzeugen, daß es im Interesse des Vaterlandes ist, dem Feind unsere Gefechtsbereitschaft zu enthüllen! Das ist ein bewußter Anschlag auf die Sicherheit des Landes, das ist Verrat!“ Gorbatschow unterbrach ihn kühl: „Wenn Sie über Sicherheit und Gefechtsbereitschaft sprechen, hören wir Ihnen aufmerksam zu – das ist Ihr Geschäftsbereich. Aber unser Vorrecht ist es, politische Wertungen vorzunehmen, politische Entscheidungen zu treffen und sie dem sowjetischen Volk zu erklären.“ Marschall Achromejew wurde überstimmt, die Sowjetunion akzeptierte erstmals ein Recht auf Inspektionen anderer Staaten auf ihrem Territorium. Achromejew, der sich drei Jahre später nach Verstrickung in den Putsch gegen Gorbatschow das Leben nehmen sollte, mußte persönlich nach Stockholm fahren, um 73

Mit der Geschichte von einem neuen und dynamischen Generalsekretär der KPdSU, der den Westen einlullt und gleichzeitig einen Angriffskrieg auf Westeuropa vorbereitet, konnte der Bestsellerautor Tom Clancy in „Red Storm Rising“ einen Treffer landen. 74 s. oben S. 45. 75 Grinjewskij, 185 ff.

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Der Weg zu einer kooperativen Sicherheitsordnung

Geschlossenheit zu demonstrieren. Der Westen war beeindruckt, die Konferenz konnte ihr Verhandlungsergebnis, das Stockholmer Dokument über Vertrauensund Sicherheitsbildende Maßnahmen, in letzter Sekunde verabschieden.

INF: Die doppelte Nullösung Nach dem Durchbruch in Stockholm waren die amerikanisch-sowjetischen Verhandlungen über nukleare Mittelstreckenwaffen in Genf das nächste Rüstungskontrollforum, an dem Gorbatschow seine neue Flexibilität demonstrieren konnte. Die ersten INF-Verhandlungen in Genf waren ebenso wie die START-Verhandlungen im Jahre 1983 von sowjetischer Seite nach der Zustimmung des Deutschen Bundestags zur Stationierung amerikanischer Mittelstreckenwaffen abgebrochen worden. Noch unter Gorbatschows Vorgänger Tschernenko waren die USA und die Sowjetunion Anfang Januar 1986 aber übereingekommen, Verhandlungen über Kern- und Weltraumwaffen wieder aufzunehmen und drei Verhandlungsgruppen einzusetzen: Strategische Waffen, Nuklearwaffen mittlerer Reichweite und Weltraumwaffen. Eine Bewegung in diesen Verhandlungen zeichnete sich jedoch erst ab, nachdem Reagan und Gorbatschow im Oktober 1986 in Reykjavik erstmals zusammengetroffen waren. In Reykjavik schien, auch wenn das Treffen ohne Ergebnis endete, ein Paradigmenwechsel in der Geschichte der nuklearen Abrüstung auf: Reagan und Gorbatschow teilten die Vision einer Welt ohne Nuklearwaffen. Doch während Reagan die Eliminierung der Nuklearraketen nur zusammen mit dem Aufbau seines Strategischen Verteidigungsprogramms für die Abwehr offensiver Raketen (SDI) für verantwortbar hielt, setzte Gorbatschow alles daran, die Verwirklichung dieses Programms zu blockieren. Außenminister George Shultz, nach Reagan der wichtigste Teilnehmer auf amerikanischer Seite, hatte den Eindruck, daß Gorbatschow in dieser Frage – vielleicht nach Abrede im Politbüro, denn noch war er auf kollektive Führung angewiesen – keinen Verhandlungsspielraum hatte: Er mußte SDI als Skalp heimbringen 76. Um dieses Ziel zu erreichen, bot Gorbatschow beim Abbau der offensiven Nuklearwaffen Konzessionen an, die über alle amerikanischen Erwartungen hinausgingen: Reduzierungen der strategischen Nuklearwaffen um 50% innerhalb von fünf Jahren sowie Eliminierung aller Mittelstreckenraketen bis auf je 100 Systeme, die die Sowjetunion in Asien und die USA auf amerikanischem Territorium stationieren sollten. Die Einigung scheiterte im wesentlichen daran, daß Gorbatschow die Forschung und Erprobung von SDI-Komponenten nur innerhalb von Versuchslabors zugestehen wollte. Aber Shultz lag mit seiner Voraussage richtig: Konzessionen dieser Dimension programmieren, selbst wenn sie zurückgenommen werden, den Verhandlungserfolg vor. 76

Shultz, S. 772.

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Zwar galt das sowjetische Junktim zwischen offensiven und defensiven Systemen in den Genfer Verhandlungsgruppen über Strategische Waffen und über Weltraumwaffen zunächst fort und verhinderte Fortschritte. Für die Problematik der Mittelstreckenwaffen dagegen schien es, wenn man einen raschen Verhandlungserfolg wollte, weniger relevant: Im Februar 1987 bot Gorbatschow die Abtrennung der INF-Verhandlungen an und verzichtete insoweit auf das SDI-Junktim. Auch ein anderes Problem, das die abgebrochenen INF-Verhandlungen belastet hatte, löste sich auf: Die von den Sowjets geforderte Anrechnung der britischen und französischen Systeme für die amerikanische Seite hatte vor der Unterbrechung der Genfer Verhandlungen vor allem den Sinn, den Vorwand sowjetischer Überlegenheit als Argument für die amerikanische Nachrüstung zu entkräften; nach dem Beginn der Stationierung der Pershings und Cruise Missiles war diese Erwägung hinfällig; Gorbatschow hatte bereits im Oktober 1986 in Reykjavik darauf verzichtet. Entscheidende Frage blieb, wie viele Raketen jede Seite reduzieren sollte. In Reykjavik waren Gorbatschow und Reagan der vollständigen Abschaffung aller amerikanischen und sowjetischen Mittelstreckensysteme nahe gekommen – für manche im Westen gefährlich nahe. Von den Westeuropäern war die Nullösung für LRINF, bevor die Verhandlungen 1983 abgebrochen wurden, mitgetragen worden, zumindest als Endziel. Jetzt, wo Gorbatschow darauf einging, zeigten sich viele besorgt. Angesichts der fortbestehenden Disparität im konventionellen Bereich und bei den Nuklearwaffen kürzerer Reichweite könnte, so wurde argumentiert, der Verzicht auf alle amerikanischen INF–Systeme in Europa die Strategie der flexiblen Antwort gefährlich schwächen. Manchen stimmte auch die ganze Richtung nicht. „A love affair with the status quo has started, a lot of people are starting to love the bomb“, mokierte sich Rozanne Ridgway, Europa-Direktorin im State Department, in Reykjavik 77. Aus europäischer Sicht war es vor allem die sowjetische Überlegenheit bei den Nuklearsystemen im Reichweitenband von 500 bis 1000 km, die Besorgnis erregte, da sie bei der Entfernung aller Systeme über 1000 km Reichweite entscheidend an Gewicht gewinnen müßte. Es zeigte sich, daß Reagan und Gorbatschow in ihrem visionären Diskurs in Reykjavik die Rolle der Nuklearwaffen und der Rüstungskontrolle anders eingeschätzt hatten als die Westeuropäer. Die wollten mit der Rüstungskontrolle die nukleare Abschreckung stabilisieren – nicht die Nuklearwaffen abschaffen. Damit standen sie allerdings in der Tradition der amerikanischen Väter der Rüstungskontrolle. In Moskau war die Lage für Gorbatschow nicht weniger schwierig: War für ihn die Nullösung der Einstieg in die wirkliche Abrüstung, sahen seine Gegner darin eine Kapitulation. Aber noch während Gorbatschow den Widerstand seiner Generäle überwand, setzte er zu einem weiteren kühnen Schritt an: Zusätzlich zu den Mittelstreckenraketen sollten auch Raketen mit Reichweiten von 500 bis 77

Shultz, S. 777.

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1.000 km verschwinden. Für die sowjetischen Militärs war das eine Provokation: In diesem Reichweitenband hatte die Sowjetunion mehr als 700 Flugkörper, die NATO dagegen mit Ausnahme der 78 deutschen Pershing 1A-Raketen mit ca. 700 km Reichweite keine weiteren Systeme. Eine Eliminierung auf beiden Seiten mußte also für die Sowjetunion kraß asymmetrisch ausfallen. Noch sechs Jahre später, im Prozeß gegen General Warennikow – einem der wenigen Teilnehmer am Militärputsch gegen Gorbatschow, der vor Gericht kam (und freigesprochen wurde) – empörte Gorbatschow sich über die Kritik der Militärs an der unmäßigen Reduzierungsquote, die die Sowjetunion damals übernommen hatte: Als Sie, das militärische Kommando, die politische Führung hinters Licht geführt und unsere modernen Mittelstreckenraketen neuer Bauart stationiert hatten, bekamen wir als Antwort die Pershings, die innerhalb von zwei, drei, fünf Minuten die Wolga erreichen konnten. Und einen Schutz, eine Möglichkeit, die Pershing-Schläge abzuwehren, gab es in der Sowjetunion nicht. 78

Gorbatschow setzte sich gegen die internen Widersacher durch und bot dem Westen im April 1987 seine doppelte Nullösung bis zur Untergrenze von 500 km Reichweite an. Während die amerikanische und die britische Regierung sie sofort aufgreifen wollten, formierte sich in Brüssel und in Bonn Widerstand – war doch zu befürchten, daß in Mitteleuropa nur noch nukleare Systeme mit Reichweite unter 500 km übrig bleiben würden: Waffensysteme, die praktisch nur auf deutschem Boden – in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR – zum Einsatz kommen konnten. Wenn schon eine zweite Nullösung, wollte sie das Auswärtige Amt zunächst auf die Systeme zwischen 150 und 1000 km Reichweite ausweiten, während im BMVg auch über eine neue Raketenversion im unteren Reichweitebereich nachgedacht wurde. Die CDU-Abgeordneten Alfred Dregger und Volker Rühe flogen am 13. / 14. Mai nach London und Paris, um vergebens für die Ablehnung der Einbeziehung der Systeme von 500 bis 1.000 km Reichweite in den INF-Vertrag zu werben. In Bonn kam es im Bundestag am 5. Mai 1987 zu einem kontroversen Meinungsaustausch zwischen CDU / CSU und FDP, aber nach Wochen schwerster Kontroversen innerhalb der Koalition 79 setzte sich Genscher mit seinem Votum für die doppelte Nullösung durch, und Bundeskanzler Kohl erklärte in einer Regierungserklärung am 4. Juni 1987 seine Zustimmung – unter der Bedingung, daß in einer weiteren Verhandlungsrunde über amerikanische und sowjetische landgestützte Nuklearsysteme mit einer Reichweite auch unterhalb 500 km verhandelt werden sollte. Noch blieb jedoch ein weiteres Hindernis für den INF-Abschluß, das die Bundesregierung aus dem Weg räumen mußte: Die Pershing Ia-Raketen der Bun78 Gorbatschow im Russischen Fernsehen I am 21. 07. 1994, zitiert v. Hörfunk / Fernsehspiegel Ausland des Bundespresseamts v. 22. 07. 1994. 79 Genscher, S. 569.

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deswehr, deren Einbeziehung in die INF-Verhandlungen von amerikanischer und deutscher Seite stets abgelehnt worden war, weil es sich, auch wenn die Sprengköpfe in amerikanischer Verwahrung lagen, um „Drittstaatensysteme“ handelte. Die Sowjetunion war aber nicht bereit, diese deutschen Raketen mit einer Reichweite von ca. 700 km, deren Nuklearsprengköpfe in amerikanischer Verwahrung standen, von einer doppelten Nullösung auszuklammern. Bundeskanzler Kohl schaffte das Problem mit einer einseitigen Aktion vom Tisch: Er erklärte sich am 27. August bereit, mit der endgültigen Beseitigung aller sowjetischen und amerikanischen Mittelstreckenflugkörper auch die deutschen Pershing Ia-Raketen abzubauen. Zuvor hatte Genscher – nach einem Gespräch, zu dem ihn der sowjetische Botschafter im Auftrag Schewardnadses an seinem Urlaubsort in Frankreich aufgesucht hatte – den Bundeskanzler zum Verzicht auf diese Raketen gedrängt. So konnten die USA und die Sowjetunion am 8. Dezember 1987, kein ganzes Jahr nach Wiederaufnahme der INF-Verhandlungen in Genf, den Vertrag über die Beseitigung ihrer Flugkörper mittlerer und kürzerer Rechweite unterzeichnen. Innerhalb von drei Jahre nach Inkrafttreten wurden 846 amerikanische und 1 846 sowjetische Raketen zerstört. Zum erstenmal in der Geschichte hatten sich zwei Staaten darauf verständigt, eine ganze Kategorie besonders gefährlicher Waffen abzuschaffen. Für Gorbatschow brachte der INF-Vertrag die Anerkennung seiner Erneuerungspolitik im Westen. Seine Gegner in Moskau aber sahen darin den Verzicht auf überlegene militärische Machtmittel, die ihnen der Westen entgegen allen Erwartungen aufzwingen konnte – eine Niederlage, von der sich die Sowjetunion nicht mehr erholen sollte.

Die LANCE-Debatte: Modernisierung oder Rüstungskontrolle? Daß der Übergang zu einer neuen Sicherheitsordnung nicht nur vielen Militärs und Funktionären im Warschauer Pakt, sondern auch manchen im Westen schwer fiel, zeigte die Debatte über die Modernisierung der LANCE-Kurzstreckenrakete, die schon vor dem Abschluß des INF-Vertrags begann. In der Kategorie der Short Range Nuclear Forces, der Nuklearwaffen mit Reichweite unter 150 km, verfügte die NATO über 88 konventionell wie nuklear einsetzbare LANCE-Raketen, der Warschauer Pakt über 830 vergleichbare Systeme (SS 21, FROG). Da die eingeplante Nutzungsdauer der LANCE Mitte der 90er Jahre zu Ende ging, waren die militärischen Planer in Brüssel an einer rechtzeitigen politischen Entscheidung über ein Nachfolgesystem, wenn möglich mit gesteigerter Reichweite, interessiert. Rechtzeitig hieß, daß die Entscheidung über das unter dem Abkürzungsnamen FOTL (Follow On To Lance) bekannt gewordene Nachfolgesystem, um militärischen Erfordernissen Genüge zu tun, etwa 3 Jahre vor der vorgesehenen Außerdienststellung, also 1992, getroffen werden mußte – wobei bei einer Verschiebung der Entscheidung, wie Spitzenmilitärs der NATO einräumten, die Strategie der flexiblen Erwiderung nicht gerade zusammengebrochen wäre. Man kann also zumindest feststellen, daß die Debatte in der NATO sehr frühzeitig losgetreten wurde. Hinter dem Zeitdruck standen zwei unterschiedliche Interessen: Zum einen die der Herstellerfirmen in den USA, die auf eine möglichst frühzeitige Bewilligung des Projekts durch den Kongreß warteten, der wiederum auf eine Anforderung seitens der NATO angewiesen war. Zum anderen wollte die britische Regierung ein Zeichen dafür setzen, daß – bei aller modischen Begeisterung für Abrüstung – eine Entnuklearisierung Europas nicht auf der Tagesordnung steht. Als die deutsche Bundesregierung der doppelten Nullösung unter der Bedingung zustimmte, daß zu gegebener Zeit Verhandlungen über amerikanische und sowjetische landgestützte Nuklearsysteme mit Reichweiten von 0 bis 500 km geführt werden müßten, widersprach Premierministerin Thatcher entschieden: Nach der Beseitigung aller weiter reichenden Nuklearwaffen müsse jetzt eine „Brandmauer“ gezogen werden. Die NATO müsse die Modernisierung ihrer Kurzstreckenwaffen – es ging, wenn auch in der Öffentlichkeit nicht so beachtet, auch um nukleare Artilleriemunition sowie um das Projekt eines nuklearen

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Abstandsflugkörpers – wenn nötig auch gegen den Widerstand der Öffentlichkeit durchsetzen. Die Eiserne Lady sah darin einen Lackmustest für die „Virilität des Bündnisses“. Anders der deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher. Die Entscheidung über ein Nachfolgemodell für die LANCE aus militärisch nicht gebotenen Gründen vorzuverlegen, lehnte er ab. Würde diese Entscheidung, wie mit den strategischen Erfordernissen durchaus vereinbar, nicht schon 1987, sondern erst zu Beginn der 90er Jahre getroffen, könne man dem historischen Prozeß einer Wende in den OstWest-Beziehungen, wie er sich bereits abzeichne, eine Chance geben. Genscher wollte aber nicht bloß abwarten, ob sich die Bedrohungslage von selbst verändern würde, sondern den Versuch unternehmen, die sowjetische Überlegenheit im SNF-Bereich auf dem Verhandlungswege zu beseitigen. Dabei war ihm besonders wichtig, daß ein Signal westlicher Rüstungs- statt Abrüstungsbereitschaft die Hardliner im Kreml gestärkt und den Kurs derjenigen erschwert hätte, die auf Überwindung des Ost-West-Konflikts hinarbeiteten. Wahrscheinlich hätte auch der eine oder der andere Bündnispartner diese Konsequenz gerne in Kauf genommen 80 – im Rückblick nicht ganz unverständlich: Die Welt war klar geordnet, man hatte seinen privilegierten Standort in der internationalen Hierarchie, Kriege fanden durch Stellvertreter statt, Terrorismus nur dort, wo es nicht so weh tat, etc. Im Bündnis konnte Genscher auf Unterstützung Norwegens, Dänemarks, Belgiens, Italiens und Spaniens hoffen. Selbst in Paris, das von einer Entscheidung der NATO gar nicht direkt betroffen war, aber politisch gern mitmischen wollte, stieß ich bei einem Versuch, für Verständnis für unsere Position zu werben, im Außenministerium und im Verteidigungsministerium auf Ablehnung. Nur Paul Védrine, Sicherheitsberater Mitterands und späterer französischer Außenminister, nahm mich beiseite und ließ mich wissen, daß die Einschätzung seines Präsidenten mit unserer Position übereinstimme. In Bonn trieb die britische Kampagne die Bundesregierung in die Enge. Mit ihrem Wort von der „Brandmauer“ gab Frau Thatcher den Gegnern der Modernisierung in Deutschland Auftrieb. Obgleich wohl an eine Brandmauer gegen den Trend zur Entnuklearisierung gedacht war – hier wurde sie vielfach so verstanden, als wolle sie sicherstellen, daß im Falle eines Angriffs auf das Bündnis ein Nuklearkrieg auf Mitteleuropa beschränkt bleiben müßte. Die Bundesregierung geriet unter Druck nicht nur von links, sondern auch von rechts: „Je kürzer die Raketen, um so toter die Deutschen“, formulierte Alfred Dregger, der Fraktionsvorsitzende der CDU / CSU im Bundestag. Im Bundeskanzleramt und im BMVg hatte man Verständnis für die britischen Besorgnisse und scheute vor allem den Dissens mit den USA. Aber Genschers Position blieb hart. 80

Der britische NATO-Botschafter, ein Vertrauter Frau Thatchers, befürwortete eine Modernisierungsentscheidung, um die Teilung Deutschlands für weitere 20 Jahre zu garantieren.

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Im Weißen Haus wurde die Belastung des Koalitionsklimas in Bonn mit Sorge gesehen. Durch Vermittlung von Freunden im Weißen Haus traf ich am 5. Juni 1987 im Büro des amerikanischen NATO-Botschafters in Brüssel mit Max Kampelman, Counsellor im State Department und wichtiger Berater Präsident Reagans, zu einem privaten und vertraulichen Gespräch zusammen. Im Auftrag Genschers erklärte ich Kampelman, den ich aus seiner Zeit als Leiter der amerikanischen KSZE-Delegation in Madrid kannte, sehr offen die schwierige innenpolitische Situation in Bonn. Ich stellte heraus, daß Genscher 1982 sein politisches Überleben riskiert habe, um die Nachrüstung der NATO im Zuge des Doppelbeschlusses durchzusetzen; heute sei er zum gleichen Risiko bereit, um eine Nachrüstung bei den Kurzstreckenraketen zu blockieren. Kampelman ließ durchblicken, daß er Verständnis für unsere Position hatte, vermied allerdings eine Diskussion über sachliche Ansätze für einen Ausweg aus der Krise. Als „food for thought“ überließ ich ihm jedoch den Text einer Entschließungsantrags der Bundestagsfraktion der CDU / CSU zu Fragen der Rüstungskontrolle und Abrüstung vom 3. Juni 1987, 81 den ich vor der Abreise nach Brüssel auf meinem Schreibtisch vorgefunden hatte. Der Antrag nahm einen Begriff auf, der zwischen Auswärtigem Amt und BMVg seit einiger Zeit strittig diskutiert wurde, und forderte ein „Gesamtkonzept für eine umfassende Abrüstung“ mit folgenden nächsten Schritten: − Eine 50% Reduzierung der strategischen Kernwaffenarsenale der Sowjetunion und der USA; − die weltweite Beseitigung der chemischen Waffen; − die Verringerung der konventionellen Land und Luftstreitkräfte in Europa vom Atlantik bis zum Ural auf ein ausgewogenes niedriges Niveau bei Beseitigung der Überlegenheit des Warschauer Pakts bei den konventionellen Kräften; − eine substantielle Verringerung des in Europa noch vorhandenen nuklearen Potentials der USA und der Sowjetunion. Zum letzten Punkt sprach sich der Antrag dafür aus, die in Europa noch vorhandenen amerikanischen und sowjetischen bodengestützten nuklearen Systeme im Reichweitenbereich zwischen 0 und 500 km in Verhandlungen „Schritt für Schritt im Zusammenhang mit der Herstellung eines konventionellen Gleichgewichts und einer weltweiten Beseitigung chemischer Waffen deutlich und überprüfbar zu reduzieren“. Kampelmann hielt den Ansatz eines „Gesamtkonzepts“, der immerhin von der Fraktion Kohls propagiert wurde, auch unter dem Aspekt gesichtswahrender Sprachregelung für das ganze Bündnis für interessant. Er fürchtete aber, die sehr konkrete Einbeziehung der nuklearen Systeme kürzerer Reichweite in den Rüstungskontrollprozeß würde manche in Washington sehr stören. 81

Bundestagsdrucksache 11/405.

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Offenbar doch nicht. Denn ein paar Tage später, beim G 8-Gipfeltreffens in Venedig, eröffnete Reagan sein bilaterales Frühstückstreffen am 8. Juni mit Kohl mit der Feststellung, er könne unser „Gesamtkonzept“ akzeptieren. Kampelmann zwinkerte mir zu. Damit waren wir gut gerüstet, uns in der NATO durchzusetzen. Schon auf ihrer Tagung in Reykjavik (11. / 12. Juni 1987) erteilten die Außenminister dem Ständigen NATO-Rat den Auftrag, „die weitere Entwicklung eines Gesamtkonzepts für Rüstungskontrolle und Abrüstung zu prüfen“, das u. a. einschließen sollte im Zusammenhang mit der Herstellung eines konventionellen Gleichgewichts und einer weltweiten Beseitigung chemischer Waffen deutliche und überprüfbare Reduzierungen amerikanischer und sowjetischer bodengestützter nuklearer Flugkörpersysteme kürzerer Reichweite, die zu gleichen Obergrenzen führen.

Damit erkannten alle Bündnispartner an, daß Rüstungskontrollverhandlungen über nukleare Systeme kürzerer Reichweite unter bestimmten Voraussetzungen möglich waren. Zwar blieb noch offen, wann über die Modernisierung der Lance entschieden werden sollte, aber die Weichen waren richtig gestellt. In einer Rede vor der Kommandeurstagung der Bundeswehr am 13. Dezember 1988 zog Bundeskanzler Kohl die richtigen Schlüsse 82: Umfang und Struktur des Nuklearpotentials der Allianz sind nicht ein für allemal festgeschrieben. Sie sind unter anderem abhängig von Änderungen der politischen Lage und der militärischen Bedrohung, von Ergebnissen der Abrüstung und Rüstungskontrolle sowie von technischen Entwicklungen. Gerade weil alle diese Gesichtspunkte zu berücksichtigen sind, verbieten sich isolierte Erörterungen, ob und gegebenenfalls welche Systeme ausgemustert oder erneuert, eingeführt oder vermindert werden sollen. Über die künftige Struktur der nuklearen Bewaffnung, die wir in und für Europa brauchen, um die Abschreckung zu gewährleisten, wird das Gesamtkonzept unseres Bündnisses Auskunft geben.

Seine Zuhörer konnte Kohl damit wohl nicht restlos überzeugen. Im „Bericht zum Stand der Bemühungen um Rüstungskontrolle und Abrüstung sowie der Veränderungen im militärischen Kräfteverhältnis 1987“, den das Auswärtige Amt gemeinsam mit dem Bundesministerium der Verteidigung dem Bundestag im April 1988 vorlegte, wird das Gesamtkonzept in dem vom Auswärtigen Amt gestalteten Teil ausgiebig behandelt, im Beitrag des BMVG überhaupt nicht erwähnt. Um so düsterer wurden dort die Risiken geschildert, die sich für die NATO nach Eliminierung der LRINF durch die zunehmende Diskrepanz im unteren Teil des SRINF-Bereichs ergeben würden. Auch der Oberbefehlshaber der NATO-Streitkräfte in Europa (SACEUR), der scheidende amerikanische General Rogers, warnte vor einer Lücke im Abschreckungsarsenal, sein Nachfolger Galvin forderte eine Modernisierung der in Europa verbleibenden Nuklearwaffen der NATO unter 500 km Reichweite 83. 82

Krause, Band XXIV S. 776 f.

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Kohls Sicherheitsberater Horst Teltschik suchte eine Formel, die den Weg zur Modernisierung ohne ausdrückliche Zustimmung der Bundesregierung freigeben könnte, und lag damit auf der gleichen Linie wie Washington: In seinem ersten Gespräch mit Genscher wollte der neue amerikanische Außenminister Baker, um dem Kongreß grünes Licht in der Modernisierungsfrage geben, die Deutschen für eine positive Entscheidung der NATO mit dem Vorbehalt abspeisen, daß die Bundesregierung ihre Auffassung in dieser Frage nicht geändert habe 84. Deutschland wäre damit ein „Fußnotenstaat“ geworden – so nannte man in der NATO Mitgliedstaaten, die eine gemeinsame Entscheidung nicht blockierten, sich davon aber in einer Fußnote distanzierten. Obgleich die USA, Großbritannien und der deutsche NATO-Generalsekrär Wörner weiterhin auf Modernisierung und gegen Verhandlungen drängten, konnte sich Genscher in Bonn durchsetzen. Nach heftigen Debatten einigten sich die Spitzen der Koalition am 18. April 1989 auf eine Position zum Gesamtkonzept, die eine Entscheidung über die Lance erst 1991/92, aber baldige Verhandlungen über gleiche niedrigere Obergrenzen bei den Systemen bis zu 500 km Reichweite vorsah. Am Vorabend des NATO-Gipfeltreffens kam es am 29. Mai in Brüssel zum Showdown: In einer Nachtsitzung zur Vorbereitung der Gipfelerklärung – bei normalen Kommuniqués und Erklärungen wird diese Aufgabe von der zweiten oder dritten Garnitur der NATO-Vertretungen wahrgenommen – rangen die Außenminister von 16 NATO-Staaten um einen Kompromiß in der Lance-Frage. Die Kontrahenten waren Genscher und sein britischer Kollege Geoffrey Howe. Baker stand zwar in der Sache zunächst unverändert zur britischen Position, bemühte sich aber im Verlaufe der Sitzung immer mehr um Verständigung; vorangegangene Gespräche mit Genscher dürften ihn nachdenklich gemacht haben, vielleicht auch die Warnung Paul Nitzes, die deutsche Bundesregierung nicht in eine Krise zu stürzen. Kurz vor Mitternacht verließ Baker den Tagungsraum und suchte Rücksprache mit Präsident Bush. Dann bot er Genscher einen Text zu den beiden strittigen Punkten an, der in das vom Gipfel am nächsten Tag verabschiedete Gesamtkonzept zur Abrüstung und Rüstungskontrolle eingehen sollte: − Verhandlungen über eine teilweise 85 Reduzierung landgestützter nuklearer Flugkörpersysteme kürzerer Reichweite sollen nach Beginn der Implementierung eines KSE-Abkommens aufgenommen werden; − die Frage der Einführung und Stationierung eines Folgesystems für die Lance wird erst 1992 im Lichte der sicherheitspolitischen Gesamtentwicklung behandelt 86. 83

Krause, Band XXIV S. 102 und 446. Genscher, S. 595. 85 Das Wort teilweise wurde auf britischen Wunsch unterstrichen, um eine Nullösung auszuschließen; in ihrer Pressekonferenz am nächsten Morgen begründete Frau Thatcher damit ihren Sieg: Das Bündnis habe der Entnuklearisierung Europas einen Riegel vorgeschoben. 84

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So blieb die Lance wortwörtlich ein Auslaufmodell. Schon kurz nach dem Gipfel erklärte Präsident Bush erstmals seine Bereitschaft zu Verhandlungen über nukleare Kurzstreckenraketen – unter der Voraussetzung, daß die Wiener Verhandlungen über die Konventionellen Streitkräfte in Europa (VKSE) innerhalb des nächsten Jahres erfolgreich abgeschlossen würden; gleichzeitig räumte er die wichtigsten noch verbleibenden Erfolgshindernisse für diese Verhandlungen aus dem Weg, indem er einseitig Positionen aufgab, auf denen die USA in Wien bis dahin bestanden hatten. 87 Ein Jahr später zog Bush im Kongreß die Vorlage zur Modernisierung der Lance wie auch das Pogramm zur Modernisierung der nuklearen Artillerie in Europa zurück. Die angekündigten SNF-Verhandlungen erübrigten sich allerdings dann durch den Abzug der sowjetischen Truppen aus Osteuropa, durch die Auflösung des Warschauer Pakts und schließlich den Zerfall der Sowjetunion. Die Entscheidung über die Lance war ein bemerkenswerter, mancherorts beneideter Erfolg der Bundesregierung; es war kein Zufall, daß Präsident Bush im Anschluß an das Gipfeltreffen Deutschland die Bundesrepublik Deutschland besuchte und die Bundesregierung zu partnership in leadership einlud. Bemerkenswert ist, wie Hans-Dietrich Genscher als Außenminister und als Parteivorsitzender die Rüstungskontrolle zum Instrument seiner Politik zu machen verstand: 1982 half ihm der Doppelbeschluß, die Nachrüstung möglich zu machen und so einen Erpressungsversuch der Sowjetunion zu vereiteln; 1989 setzte er auf das „Gesamtkonzept der Rüstungskontrolle“, um eine neue Nachrüstung, die die Chancen einer Neugestaltung Europas verstellt hätte, zu verhindern. Ohne diese doppelte Weichenstellung wäre es sicher nicht zum „Wunder von Berlin“ gekommen.

86 87

Krause, S. 29. s. unten S. 69.

Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte in Europa (VKSE) und die Begrenzung der deutschen Streitkräfte Bei aller Bedeutung für die Geschichte der Abrüstung änderte der INF-Vertrag nichts an der strategischen Schwachstelle, die die NATO für ihre empfindlichste hielt: die konventionelle Überlegenheit des Warschauer Pakts in Europa. Wie die Debatte um Nullösung und Modernisierung zeigte, führte der nukleare Ausgleich sogar zu einer Verschärfung des Problembewußtseins in dieser Richtung. Nicht ohne Grund hatte die NATO im Gesamtkonzept ihre Bereitschaft zu neuen Verhandlungen über Nuklearwaffen von der Herstellung eines konventionellen Gleichgewichts abhängig gemacht. Gorbatschow war sich darüber im klaren, welche Bedeutung der Westen diesem Anliegen zumaß. Und er war bereit, sich zu bewegen, um seinem großen Ziel näherzukommen – der Überwindung der militärischen Konfrontation. Dabei spielte sicher auch die Situation der sowjetischen Wirtschaft eine Rolle, die ihren Abstieg im zweiten Halbjahr 1987 beschleunigt hatte und die Versorgung der Bevölkerung mit Konsummitteln kaum mehr sicherstellen konnte. Vielleicht wäre die Geschichte anders verlaufen, hätte der Boom auf dem globalen Ölmarkt ein paar Jahre früher eingesetzt. In Moskau gab es innerhalb der militärischen Führung eine ungewohnt lebhafte Debatte um eine Restrukturierung und Modernisierung der sowjetischen Streitkräfte und insbesondere über das Verhältnis zwischen „reasonable sufficiency“ und Parität. Obwohl viele Militärs inzwischen Qualität statt Quantität anstrebten, über defensive Strukturen nachdachten und intern Modelle asymmetrischer Reduzierungen prüften, opponierten sie bis zum Schluß gegen größere Verminderungen ihrer Streitkräfte. 88 In den für die Verhandlungen über die konventionellen Streitkräfte in Europa entscheidenden ersten beiden Jahren konnten sich Gorbatschow und sein Außenminister Schewardnadse mit ihrem Drängen auf entschiedene Abrüstungsschritte noch durchsetzen. Je mehr Gorbatschows Macht in Moskau aber verblich, um so stärker sollten gegen Ende der Verhandlungen die Karten der Militärs in der Auseinandersetzung mit der Diplomatie werden. Der XXVIII. Parteitag der KpdSU, der vom 1. bis 11. Juli 1990 in Moskau stattfand, war ein 88

Bluth, S. 235.

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Wendepunkt. Zwar konnte Gorbatschow seine politische Position gegenüber den Reformgegnern behaupten, aber deren „wutschnaubende und aggressive Kritik“ sei ein „ernstes Signal“ gewesen, fand der damalige sowjetische Botschafter in Bonn Julij Kwizinskij, selbst Teilnehmer des Parteitags; „die Zeit der Begeisterung über die Erfolge unserer Außenpolitik ging zu Ende“. 89 Vier Jahre vorher, als neuer Generalsekretär, mußte Gorbatschow jedoch innenpolitisch noch wenig Rücksichten nehmen. Zu Beginn des Jahres 1986 äußerte er sich – zum Erstaunen der sowjetischen Delegation in Wien – positiv zu einer Initiative, die die westlichen MBFR-Teilnehmer eingebracht hatten, um einen Ausweg aus dem Datendilemma zu finden. Dann ergriff er selbst die Initiative für einen alternativen und sensationell neuen Verhandlungsansatz. Während eines Besuchs in der DDR schlug Gorbatschow am 18. April 1986 vor, über die Reduzierung konventioneller Streitkräfte in ganz Europa, „vom Atlantik bis zum Ural“, zu verhandeln. Er nahm damit eine alte Forderung de Gaulles’ auf, die die sowjetische Führung bis dahin für undiskutabel gehalten hatte. Über Reduzierungen in Mitteleuropa war sie bereit zu verhandeln, nicht aber über Einbeziehung des europäischen Territoriums der Sowjetunion. Die Außenminister der NATO nahmen Gorbatschows Initiative positiv auf und forderten in ihrer Erklärung von Halifax am 30. Mai 1986 kühne neue Schritte zur konventionellen Rüstungskontrolle. Nach informellen Konsultationen und einem Positionsaustausch über Schlußkommuniqués einigten sich die Mitgliedsstaaten von NATO und Warschauer Pakt am 10. Januar 1989 in Wien über ein Mandat für Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte in Europa (VKSE), das davon zeugte, daß sich das „neue Denken“ in Moskau durchgesetzt hatte: Ziel war u. a. „die Schaffung eines stabilen und sicheren Gleichgewichts der konventionellen Streitkräfte auf niedrigerem Niveau“, „die Beseitigung von Ungleichgewichten“ und „die Beseitigung der Fähigkeit zu Überraschungsangriffen und großangelegten offensiven Aktionen“. Vom 6. bis 8. März 1989 tagte in Wien eine Außenministerkonferenz aller 35 KSZE-Staaten, in deren Verlauf die Verhandlungen unter den 23 Mitgliedstaaten der NATO und des Warschauer Pakts wie auch Verhandlungen im vollen KSZE-Kreis über einen erweiterten Satz Vertrauens- und Sicherheitsbildender Maßnahmen eröffnet wurden. 90 In den KSE-Verhandlungen setzte der Westen nach den Erfahrungen mit MBFR von Anfang auf die Erfassung von Rüstungen, und zwar auf Waffensysteme, die besonders zu offensiven Aktionen befähigen: Panzer, gepanzerte InfanterieKampffahrzeuge und Artillerie. Es war ein Arbeitspapier des deutschen Verteidigungsministeriums, das dieses Konzept in die NATO einbrachte, und unsere 89

Kwizinskij, S. 37. Beide Verhandlungen, über VSBM und über KSE, fanden im gleichen Gebäudekomplex, der Wiener Hofburg statt, die VKSE-Teilnehmer sollten die übrigen KSZE-Staaten regelmäßig über ihre Verhandlungen informieren und konsultieren. 90

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Argumente überzeugten auch die Öffentlichkeit: Keine der beiden Seiten sollte mehr als 20.000 Panzer, 16.500 Artilleriegeschütze und 27.500 Kampffahrzeuge haben – Zahlen, die ungefähr 15% unter dem gegenwärtigen Niveau der NATO, aber weit unter dem Niveau des Warschauer Paktes lagen. Zusätzliche Obergrenzen sollten für verschiedene Subregionen innerhalb des gesamten Anwendungsgebiets gelten, um rasche Truppenverstärkungen zur Angriffsvorbereitung zu erschweren. Kein Land sollte mehr als 30% der Gesamtstärken des jeweiligen Bündnisses haben – die sogenannte Hinlänglichkeitsregel, die natürlich auf die Sowjetunion abzielte. Schließlich schlug der Westen ein wirksames Verifikationssystem u. a. durch Inspektionen vor Ort ohne Ablehnungsrecht vor. Nach einem konstruktiv geführten Dialog, wie er bei MBFR unvorstellbar gewesen wäre, übernahm der Warschauer Pakt schon nach zwei Verhandlungsrunden wesentliche konzeptionelle Vorschläge der NATO, bestand jedoch auf der Einbeziehung von Kampfflugzeugen, Kampfhubschraubern und Militärpersonal. Schon in der dritten Verhandlungsrunde ging der Westen darauf ein: Am 30. Mai 1989 unterbreitete Präsident Bush auf einem für die ganze westliche Rüstungskontrollpolitik entscheidenden NATO-Gipfeltreffen 91 eine Initiative, die die Forderung des Warschauer Pakts nach Einbeziehung von Kampfflugzeugen und Kampfhubschraubern berücksichtigte. Bush bot gleichzeitig gleiche Obergrenzen von 275.000 Mann für Personal der amerikanischen und sowjetischen Land- und Luftstreitkräfte an, das in Europa außerhalb des eigenen Territoriums stationiert war. Nach diesen Durchbrüchen im Konzeptionellen liefen sich die Verhandlungen an einer Vielzahl meist schwieriger technischer Fragen fest. In zahlreichen Verhandlungsgruppen und Untergruppen wurde über die Definition der vom Vertrag erfaßten Waffenkategorien gestritten, wobei sich beide Seiten auf diejenigen Systeme konzentrierten, in denen sie die Stärken des Gegners sahen. Dem Westen ging es hauptsächlich um Panzer und gepanzerte Gefechtsfahrzeuge, dem Osten um die tactical strike aviation, wo er nicht nur eine westliche Überlegenheit sah, sondern auch in die Struktur der taktisch-nuklearen Streitkräfte der NATO eingreifen wollte; Luftverteidigungskräfte sollten dagegen weitgehend herausgehalten werden. Die umfangreiche Thematik des Verifikationsregimes, die im Grunde eine eigene Verhandlung darstellte, 92 wurde in informellen Kontakten nicht nur zwischen Ost und West, sondern auch innerhalb der westlichen Gruppe strittig behandelt. Während die KSE-Unterhändler in den ersten beiden Verhandlungsrunden des Jahres 1990 mühsame Fortschritte in solchen Fragen erzielten, veränderte sich 91

Vgl. oben S. 66. Kommentar zum Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa, verfaßt von Mitgliedern der deutschen VKSE-Delegation, S. 23. 92

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außerhalb des Konferenzsaals das politische Umfeld fundamental. Obgleich in der gesamteuropäischen KSZE verankert, waren die KSE-Verhandlungen in der Sache ein Block-zu-Block-Ansatz: Es ging um den Abbau der militärischen Konfrontation zwischen NATO und Warschauer Pakt. Mit dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 und mit den politischen Umwälzungen in den osteuropäischen Ländern bald darauf entfiel schrittweise die reale Grundlage dieses Ansatzes. Es begann in Deutschland. Daß sich die sowjetische Führung einer Wiedervereinigung verweigern würde, war lange Zeit die allgemeine Erwartung – und in manchen westeuropäischen Hauptstädten unverhohlene Hoffnung. 1990 hielt selbst Gorbatschow noch daran fest, daß die Geschichte über die deutsche Frage entscheiden werde. Aber dann schritt die Geschichte mit unvorstellbarem Tempo voran: Die Politiker konnten, wie der damalige amerikanische Präsident George Bush erst jüngst bemerkte, nur noch auf das reagieren, was die Bürger auf den Straßen von Leipzig und anderswo forderten. Die sowjetische Führung drängte zunächst darauf, die Entwicklung in Deutschland im Rahmen der Vier Mächte, die seit Potsdam die Verantwortung für Deutschland als ganzes beanspruchten, unter Kontrolle zu bringen. Einige Konservative in Moskau dachten an einen Friedensvertrag à la Versailles mit der Möglichkeit, „aus Deutschland gigantische Reparationen herauszuholen“, wie sich der damalige sowjetische Botschafter in Bonn erinnert. 93 Im engen Einvernehmen mit Washington gelang es der Bundesregierung, solche Bestrebungen abzuwehren und die Diskussion in die richtige Bahn zu führen: Mit Hilfe seines amerikanischen Kollegen James Baker erreichte Außenminister Genscher am Rande einer Ost-West-Konferenz in Ottawa im März 1990 die Zustimmung Frankreichs, Großbritanniens, der Sowjetunion und der DDR für den Zwei-plus-Vier-Rahmen zur Regelung der äußeren Aspekte der deutschen Einheit. Die beiden deutschen Staaten sollten in Verhandlungen mit den vier Mächten diese Fragen einer endgültigen Regelung zuführen – gleichberechtigt, ohne Diskriminierung und Singularisierung. Die Mitgliedschaft eines vereinten Deutschland in der NATO, auf der die deutsche Bundesregierung und ihre NATO-Partner in den 2+4-Verhandlungen bestanden, mußte für weite Teile der Bevölkerung der Sowjetunion als Revision der Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs wirken. Es war vorherzusehen, daß eine Erweiterung des NATO-Territoriums bis zur polnischen Westgrenze eine Machtverschiebung mit unübersehbaren Folgen für das östliche Bündnissystem und für die UdSSR selbst haben würde. Die Zusammenlegung von Bundeswehr und Nationaler Volksarmee hätte einen Streitkräfteumfang von mehr als 600.000 Mann ergeben, und was sollte aus den in der DDR stationierten sowjetischen Streitkräften werden? Außenminister Genscher und seine Berater waren sich darüber im klaren, daß das 2+4-Forum diese Fragen nicht allein lösen konnte. Komplementäre bilaterale 93

Kwizinskij, S. 12.

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und multilaterale Verhandlungsstränge waren erforderlich, um die Vorteile der deutschen Vereinigung und die Mitgliedschaft eines vereinigten Deutschland in der NATO für die gesamteuropäische Stabilität, aber auch für die Sowjetunion selbst herauszustellen. 94 Und im Gefüge der geplanten, untereinander gekoppelten Verhandlungsstränge spielte der KSE-Vertrag eine Schlüsselrolle. Innerhalb der Bundesregierung bestand Einvernehmen, daß der nachdrücklichen Forderung der Sowjetunion – und der Erwartung anderer europäischer Staaten – nach Begrenzung der Streitkräfte eines vereinten Deutschland Rechnung getragen werden mußte; dies durfte allerdings, um eine Sonderbehandlung Deutschlands nach Muster eines Friedensvertrags zu vermeiden, nicht im Rahmen der Regelung der deutschen Einheit geschehen, sondern in multilateralen Rüstungskontrollverhandlungen, an denen die Bundesrepublik Deutschland und die DDR gleichberechtigt mit anderen europäischen Staaten teilnahmen, also in den KSE-Verhandlungen. In den KSE-Verhandlungen wurde allerdings nur über Waffensysteme verhandelt, nicht über Personalumfänge der Streitkräfte. Für die in den Verhandlungen erfaßten Waffensysteme ließ sich eine vertragsrechtlich verhältnismäßig einfache Lösung für das deutsche Problem finden: Die Bundesrepublik Deutschland, die noch vor dem Inkrafttreten des KSE-Vertrags die NVA der DDR mitsamt ihrer Ausrüstung sozusagen „erbte“, mußte ihre neuen Gesamtbestände auf den Stand herunterrüsten, den sie zu Beginn der Verhandlungen als für die westdeutsche Seite verbindliche Anteilshöchstgrenze übernommen hatte. Damit allein trug das vereinte Deutschland den höchsten Reduzierungsanteil aller KSE-Staaten. 95 Aber diese vertragsimmanente Begrenzung der erfaßten Rüstungskategorien reichte nicht aus. Für die politische Wahrnehmung, vor allem in Moskau, war wichtiger, ob Deutschland eine Begrenzung seines gesamten Streitkräfteumfangs in Mannschaftszahlen akzeptieren würde. Um aber in Wien über den Umfang von Streitkräften verhandeln zu können, hätte es einer Erweiterung des Verhandlungsmandats bedurft, die wegen des von allen Seiten wirkenden Zeitdrucks nicht mehr ernsthaft in Betracht gezogen werden konnte. Wie also konnte man eine Lösung finden, die die Balance wahrte zwischen einer für Moskau hinreichenden Form der Begrenzung der deutschen Streitkräfte und dem Erfordernis, Deutschland nicht unzumutbar zu singularisieren? Diese Frage war für Genscher und das Auswärtige Amt wichtiger als der Umfang künftiger deutscher Streitkräfte. Was den Umfang der Streitkräfte betrifft, traten Bundeskanzler Kohl und Verteidigungsminister Stoltenberg für ein Niveau von 400.000 Mann, Außenminister Genscher für 350.000 Mann ein. Die Frage wurde in den Verhandlungen Kohls mit Gorbatschow am 16. Juli 1990 im Kaukasus gelöst: Der Bundeskanzler erklärte 94 95

Kiessler / Elbe, S. 138. Meyer-Landrut, S. 49.

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sich bereit, die Streitkräfte des vereinten Deutschland auf eine Personalstärke von 370.000 zu reduzieren. Dabei mußte jedoch ein Unterschied gemacht werden zwischen der Begrenzung der Gesamtstreitkräfte einerseits und der Personalstärke für Land- und Luftstreitkräfte andrerseits. Denn nur letztere standen laut KSEVerhandlungsmandat auf der Tagesordnung. Deshalb mußte in einer Verpflichtung spezifiziert werden, daß von der Gesamtzahl von 370.000 Mann nicht mehr als 345.000 Mann den Land- und Luftstreitkräften zugeordnet würden. Zu der anderen Frage, wie eine solche Begrenzung der Bundeswehr in den KSE-Verhandlungen ohne „Singularisierung“ Deutschlands erfolgen sollte, hatte ich bereits beim Treffen der NATO-Außenminister in Turnberry am 7. / 8. Mai mit Zustimmung Genschers den engsten Verbündeten einen dreiteiligen Vorschlag unterbreitet: Die spezifische Begrenzung der deutschen Streitkräfte sollte von zwei alle KSE-Teilnehmerstaaten verpflichtende Elemente flankiert werden – eine Absichtserklärung, unmittelbar nach einem ersten KSE-Abkommen in Folgeverhandlungen nationale Personalhöchststärken für alle Teilnehmer zu vereinbaren, sowie die Verpflichtung aller Teilnehmer, bis zum Inkrafttreten solcher Vereinbarungen das Personal ihrer Land- und Luftstreitkräfte im Anwendungsgebiet nicht zu erhöhen. Die amerikanische Administration nahm dieses Modell auf und setzte es, nachdem sich auch die Bundesregierung am 3. Juli dafür entschied, 96 gemeinsam mit uns in der NATO durch. Die endgültige Regelung erfolgte dann in den in Turnberry vorgesehenen drei Schritten: 1. Außenminister Genscher gab am 30. August 1990 vor dem Plenum der KSEVerhandlungen folgende Erklärung ab, zu der der gleichfalls anwesende Ministerpräsident und Außenminister der DDR, Lothar de Maizière, seine Zustimmung erklärte: „Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland verpflichtet sich, die Streitkräfte des vereinten Deutschland innerhalb von drei bis vier Jahren auf eine Personalstärke von 370.000 Mann (Land-, Luft- und Seestreitkräfte) zu reduzieren. Diese Reduzierung soll mit dem Inkrafttreten des ersten KSE-Vertrags beginnen. Im Rahmen dieser Gesamtobergrenze werden nicht mehr als 345.000 Mann den Landund Luftstreitkräften angehören, die gemäß vereinbartem Mandat allein Gegenstand der Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte in Europa sind. Die Bundesregierung sieht in ihrer Verpflichtung zur Reduzierung von Land- und Luftstreitkräften einen bedeutsamen deutsche Beitrag zur Reduzierung der konventionellen Streitkräfte in Europa. Sie geht davon aus, daß in Folgeverhandlungen auch die anderen 96 Als Kohl noch Anfang Juni von Bush in Washington darauf angesprochen wurde, wunderten sich die Amerikaner, daß er den Vorschlag seines eigenen Abrüstungsbeauftragten – von Condoleezza Rice „Holik-Plan“ genannt – nicht kannte oder nicht daran interessiert war: Zelikow / Rice, S. 287.

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Verhandlungsteilnehmer ihren Beitrag zur Festigung von Sicherheit und Stabilität in Europa, einschließlich Maßnahmen zur Begrenzung der Personalstärken, leisten werden“.

2. In Artikel XVII des KSE-Vertrags wurden Folgeverhandlungen mit dem Ziel vereinbart, ein Übereinkommen u. a. über die Begrenzung der Personalstärken zu schließen. 3. In einer den KSE-Vertrag begleitenden politischen Erklärung verpflichteten sich alle Vertragsstaaten, für die Dauer dieser Verhandlungen den Personalumfang ihrer Streitkräfte nicht zu erhöhen. Die vereinbarten Folgeverhandlungen begannen unverzüglich nach Unterzeichnung des KSE-Vertrags, und bereits auf dem KSZE-Gipfel von Helsinki wurde am 10. Juli 1992 das Ergebnis unterzeichnet, die „Abschließende Akte der Verhandlungen über Personalstärken der Konventionellen Streitkräfte in Europa“. Alle KSE-Teilnehmer akzeptierten Begrenzungen ihres Streitkräfteumfangs, Deutschland war nicht mehr singularisiert. Die deutsche Frage war jedoch nur eines der Probleme, die sich aus den Veränderungen im Osten für die KSE-Verhandlungen ergaben. Während die Bemühungen um eine Regelung für Deutschland noch andauerten, vereinbarte die Sowjetunion den vollständigen Rückzug ihrer Truppen aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn; der Warschauer Pakt löste sich auf. Der Streitkräftebedarf seiner nichtsowjetischen Mitgliedstaaten bestimmte sich nicht mehr nach ihrem Beitrag zum Bündnis mit der UdSSR, sondern nach ihren nationalen Sicherheitsinteressen, und übertraf in der Summe die zuvor festgelegten nationalen Höchststärken an der kollektiven Quote für den Warschauer Pakt; andererseits schuf der Wegfall des Anteils der Nationalen Volksarmee der DDR Spielraum nach oben. Da die politische Führung der Sowjetunion die Entwicklung zur Emanzipation anerkannte, einigten sich die früheren Mitgliedstaaten des Warschauer Pakts am 3. November 1990 in Budapest zu Lasten der Sowjetunion auf eine neue Aufteilung der östlichen Gesamtquote. Die sowjetischen Militärs sahen sich durch diese Entwicklung in ihren Vorbehalten gegenüber den KSE-Verhandlungen bestätigt 97 und verstärkten ihre Obstruktion im internen Abstimmungsprozeß in Moskau. Da Weisungen aus Moskau oft ausblieben, war die sowjetische Delegation in Wien zeitweise handlungsunfähig. Schon am 13. Februar 1990 hatten sich die Außenminister der NATO und des Warschauer Pakts in Ottawa zu ihrer gemeinsamen Verpflichtung bekannt, „ein KSE-Abkommen so schnell wie möglich noch im Jahre 1990 zu verabschieden“. Im Herbst 1990 aber lagen auf dem Verhandlungstisch in Wien noch wichtige ungelöste Fragen. Zwar gelang in der zweiten Verhandlungsrunde des Jahres 97 Vgl. die drastische Kritik Verteidigungsminister Jasows an der Verhandlungsführung der Diplomaten, o. S. 12.

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1990 die Einigung über die Definitionen für das Großgerät der Landstreitkräfte und über die Einbeziehung der Kampfflugzeuge und der Kampfhubschrauber. Es bedurfte aber des persönlichen Einsatzes der Außenminister Baker und Schewardnadse, um in bilateralen Treffen am Rande des Außenministertreffens der KSZE-Staaten in New York am 1. / 2. Oktober 1990 in praktisch allen noch ausstehenden Einzelfragen Entscheidungen zu treffen. Die Entscheidungen der beiden Außenminister wurden in Wien von den übrigen Verhandlungsteilnehmern akzeptiert; nur in Ankara und in Moskau selbst, nämlich beim sowjetischen Generalstab, stießen Einzelaspekte immer noch auf Widerspruch: Für die Türkei ging es um die Behandlung paramilitärischer Verbände, für die sowjetischen Militärs um die Zuordnung des Militärbezirks Kiew. Es bedurfte einer weiteren amerikanischsowjetischen Runde am 8. / 9. November in Moskau, in der, weil Schewardnadse sich offenbar nicht mehr durchsetzen konnte, Generalstabschef Moissejew für die sowjetische Seite auftrat. Aus Moskau reisten die beiden Delegationen mit einem praktisch vollständigen Vertragsentwurf in Wien an, der, wollte man das selbst gesetzte Zieldatum nicht verstreichen lassen, von den anderen Delegationen nur noch gebilligt werden konnte. Nachdem der KSE-Vertrag dann, wie vorgesehen, beim KSZE-Gipfeltreffen in Paris am 19. November 1990 unterzeichnet werden konnte, verlagerten die sowjetischen Militärs ihre Obstruktion auf seine Implementierung. Beim vertraglich vorgesehenen Informationsaustausch legten sie, gestützt auf ihr Monopol für Informationen über die Streitkräfte, Daten vor, die deutlich unter den Einschätzungen der CIA lagen. Andere westliche Vorwürfe bezogen sich auf Vertragsumgehung durch Abschiebung von Waffen an Verbände, die nicht den Begrenzungen des KSE-Vertrags unterlagen, sowie auf die Verlagerung von Gerät in den asiatischen Teil der Sowjetunion, um es der vertraglich vorgesehenen Zerstörung zu entziehen. Mein sowjetischer Kollege, Vizeaußenminister Viktor Karpow, rief an, um für ein großzügiges Herangehen zu werben: „Kommt eh nicht mehr drauf an.“ Der Westen sah das schließlich ähnlich und stimmte, um den KSE-Vertrag nicht zu gefährden, auf einer Außerordentlichen Konferenz der KSE-Staaten im Mai 1991 einer gesichtswahrenden Beilegung der Streitfragen zu. Wenn schon die Auflösung des Warschauer Pakts die Grundlagen erschütterte, auf denen der KSE-Vertrag aufbaute, mußte das Schlimmste befürchtet werden, als die Sowjetunion selbst zerfiel. Vor allem stellte sich die Frage, wer den KSEVertrag – ähnlich wie den amerikanisch-sowjetischen START-Vertrag – in der sich neu bildenden Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) überhaupt noch ratifizieren konnte und welche Rolle den auseinander strebenden neuen Republiken zukommen sollte. 98 Nach der Auflösung der UdSSR erklärten die Nachfolgestaaten zunächst, daß sie deren internationale Verpflichtungen, einschließlich der Abrüstungsverpflichtun98

Vgl. im folgenden Meyer-Landrut, S. 63 ff.

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gen, übernehmen wollten. Die Führer der meisten europäischen Nachfolgestaaten der Sowjetunion hatten ein Eigeninteresse an der Erhaltung des KSE-Vertrags, den sie als stabilisierendes Element in einer unruhigen politischen Entwicklung sahen 99. Vom KSE-Vertrag betroffen waren neben Rußland die Ukraine, Weißrußland, Moldawien, Aserbeidschan, Armenien, Georgien und (mit einem kleinen Landzipfel) Kasachstan. In Brüssel verpflichteten sie sich, die Verpflichtungen der UdSSR, einschließlich der festgelegten nationalen Höchststärken, untereinander aufzuteilen. Am Rande eines Gipfeltreffens der GUS in Taschkent einigten sich die betroffenen Staaten – auf westliches Drängen – am 15. Mai 1992 konkret über die Aufteilung ihrer Rechte und Pflichten. Mit dem Schlußdokument der Außerordentlichen Konferenz der KSE-Staaten in Oslo wurden sie am 5. Juni 1992 auch völkerrechtlich in das KSE-Regime eingebunden. Die Verhandlungen um den KSE-Vertrag waren ein Höhepunkt europäischer Rüstungskontrollpolitik. Angefangen hatte die konventionelle Rüstungskontrolle in den frühen Siebzigerjahren mit Bemühungen um bescheidene Truppenreduzierungen zwischen NATO und Warschauer Pakt. Am Ende stand ein eindrucksvolles Abrüstungsprogramm und in ein Regelwerk zur Kontrolle der in Europa verbliebenen konventionellen Rüstung. Die beiden sich konfrontierenden Militärbündnisse hatten die KSE-Verhandlungen mit dem Ziel paritätischer Höchststärken begonnen, waren aber flexibel genug, dieses Konzept, solange es gerade noch ging, als Hebel für nationale Begrenzungen zu nutzen. Der Vertrag steht gleichzeitig für eine Wende in der Geschichte Europas. Die KSE-Verhandlungen trugen maßgeblich dazu bei, die sich neu entfaltenden militärischen Realitäten in eine kooperative Sicherheitsordnung einzubinden und abzusichern. Es war ein Glücksfall der Geschichte, daß während der Monate, in denen sich der Epochenwechsel vollzog, sicherheitspolitisch kompetente Vertreter der damals militärisch relevanten Staaten Europas in Wien ständig präsent waren. Die für den Warschauer Pakt und für die Sowjetunion ausgehandelten vertraglichen Begrenzungen konventioneller Waffensysteme schufen Quoten militärischer Macht, die nach Zerfall des Pakts unter den früheren Bündnispartnern und nach Auflösung der Sowjetunion unter deren Nachfolgestaaten aufgeteilt werden konnten. Daß der tiefgreifende Wandel in Osteuropa so friedlich verlaufen konnte, wie das in der Geschichte Europas nicht immer üblich war, ist auch den KSE-Verhandlungen zu verdanken.

99 Die einzige Ausnahme bildeten die baltischen Staaten, die im September 1991 ihre Unabhängigkeit erlangten, bevor die UdSSR formell aufgelöst wurde. Am 18. Oktober 1991 vereinbarte die Gemeinsame Beratungsgruppe des KSE-Vertrags, daß Estland, Lettland und Litauen nicht mehr in den Anwendungsbereich des KSE-Vertrags fallen sollten; vertragserfaßtes Gerät der Sowjetunion, das sich noch auf ihrem Territorium befand, sollte jedoch weiterhin dem Vertrag unterliegen.

Strategische Offensivwaffen gegen Defensiv- und Weltraumwaffen Ebenso wie die INF-Verhandlungen waren die Verhandlungen über Reduzierungen der strategischen Nuklearwaffen (START) unter der ersten Reagan-Administration initiiert, aber erfolglos abgebrochen worden. Gorbatschows Vorgänger Tschernenko stimmte Anfang 1985 der Wiederaufnahme von Verhandlungen zu, in denen sich drei Verhandlungsgruppen mit (1) Nuklearwaffen strategischer und (2) mittlerer Reichweite sowie mit (3) Weltraumwaffen beschäftigen sollte. Neue Perspektiven eröffnete das Gipfeltreffen Gorbatschows mit Reagan im November 1986 in Reykjavik, doch zogen sich die Verhandlungen über strategische und Weltraumwaffen, anders als über INF, noch mehr als vier Jahre dahin. Ausschlaggebend dafür waren die im Vergleich zu INF technisch schwierigere Materie, vor allem aber das sowjetische Junktim zwischen strategischen Offensiv- und Defensivwaffen. Die Fähigkeit zur Verteidigung gegen offensive Nuklearwaffen des Gegners war im Verhältnis der beiden Supermächte von Anfang an ein strittiges Thema und ist es bis heute geblieben. Die Sowjetunion hatte schon 1956 mit Experimenten zur Abwehr ballistischer Raketen begonnen und trotz Meinungsverschiedenheiten innerhalb der militärischen Führung mit der Stationierung von Systemen zum Schutz von Leningrad und Moskau begonnen. Noch 1967 hielt Ministerpräsident Kossygin in einer öffentlichen Rede die Verteidigung vor ballistischen Raketen nicht für einen Faktor des Wettrüstens, sondern für eine Chance, der Vernichtung von Menschen, Städten und ganzen Staaten vorzubeugen. Intern wuchs in Moskau allerdings die Einsicht, auf die Entwicklung eines umfassenden Abwehrsystems besser zu verzichten, um die Errichtung eines technisch überlegenen amerikanischen Programms zu verhindern. Im SALT-Prozeß war die sowjetische Führung deshalb mehr an Begrenzungen für Defensivwaffen als für Offensivwaffen interessiert. Als Teil von SALT I akzeptierte sie im ABM-Vertrag von 1972 eine beiderseitige Höchststärke von 200 ABM-Werfern, die 1974 durch weitere Vereinbarung auf 100 Werfer vermindert wurde 100. Dann kam Reagans „Revolution der Rüstungskontrolle“, die zur Aufkündigung des SALT-Prozesses führte. Schon in seinem ersten Verteidigungshaushalt setzte Reagan eine bedeutende Steigerung der Ausgaben für die Forschung zur Abwehr 100

Vgl. oben S. 18 f.

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ballistischer Flugkörper durch. Am 23. März 1983 präsentierte er in einer Fernsehansprache dem amerikanischen Publikum seine berühmte Strategic Defense Initiative (SDI) und rief die Wissenschaft zu entschlossenen Anstrengungen auf, um Nuklearwaffen „impotent und obsolet“ zu machen. Die sowjetische Regierung reagierte mit scharfer polemischer Kritik. Im Interview mit dem SPIEGEL warf Breshnews Nachfolger Andropow den Amerikanern vor, einen ersten Atomschlag in Betracht zu ziehen, weil sie meinten, sich vor einem Gegenschlag schützen zu können. Gleichzeitig gab es aber auch Zweifel an der Realisierbarkeit von SDI. Nach seiner Ernennung zum Verhandlungsführer über Weltraumwaffen in Genf hielt Julij Kwizinskij in einem Gespräch mit Außenminister Gromyko Reagans Projekt für in hohem Maße spekulativ und meinte, daß es vor allem politische Ziele verfolge. „Und wir ließen uns mit der ganzen Grazie eines Elefanten bereitwillig darauf ein, gegen diesen billigen Trick einen ernsthaften politischen Kampf zu führen“ 101. In Genf aber sollte der Zusammenhang zwischen Offensivwaffen und Defensivwaffen auch für Kwizinskij die beherrschende Frage werden. Nach Amtsantritt Gorbatschows wurde die Verhinderung von SDI zunächst ein besonders wichtiges Ziel der sowjetischen Rüstungskontrollpolitik Hier ging es schließlich auch um ein zentrales Anliegen des Reformkurses, nämlich die Senkung von Militärausgaben. Gorbatschow sah ein Dilemma: Wenn sich die Sowjetunion nicht auf einen für ihre finanziellen Ressourcen ruinösen Wettbewerb bei den strategischen Defensivsystemen einlassen wollte, mußte sie, um die strategische Verteidigung des Gegners zu überwinden, ihre eigenen strategischen Offensivwaffen weiter ausbauen – eine nicht minder teure Option, die zudem ein Aus für die strategische Rüstungskontrolle bedeutet hätte. Nachdem Gorbatschow noch in Reykjavik ein Ergebnis des Gipfeltreffens an SDI hatte scheitern lassen, kam die überraschende Wende: Bei einem Treffen mit seinem amerikanischen Kollegen Baker im September 1989 verzichtete Außenminister Schewardnadse auf ein Junktim zwischen einem Vertragsabschluß bei den Offensivwaffen und einer Übereinkunft für Defensiv- und Weltraumwaffen. Offenbar hatte sich Gorbatschow damit abgefunden, daß, solange Reagan im Amt war, an SDI nicht zu rütteln war, und daß es unverantwortlich gewesen wäre, Fortschritte in der strategischen Rüstungskontrolle bis zum Amtsantritt eines Nachfolgers blockieren zu wollen. Und so konnte der erste Vertrag über die Reduzierung der Strategischen Nuklearwaffen, START I, im Juli 1991 unterzeichnet werden. Seine zentralen Vereinbarungen waren Obergrenzen von je 1.600 für strategische Trägersysteme sowie von 6.000 für Gefechtsköpfe auf strategischen Trägersystemen. Obgleich diese Obergrenzen erstmals tiefe Reduzierungen von ca. 25 bis 35% des strategischen 101

Kwizinskij, S. 361.

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Nuklearwaffenpotentials erforderlich machten, änderte der Vertrag, militärisch gesehen, wenig an der bestehenden nuklearen Konfrontation und blieb damit hinter den politischen Möglichkeiten zurück, die der rasante politische Wandel zwischen Ost und West bereits bot. Schon wenige Wochen nach Vertragsunterzeichnung verkündeten Bush und Gorbatschow am 29. September bzw. am 5. November 1991 einseitige Maßnahmen, die das verdeutlichten, indem sie über START hinausgingen: Aufhebung der Alarmbereitschaft für alle strategischen Bomber; seegestützte Marschflugkörper, ein umstrittenes Thema bei START, nur noch mit konventioneller Bewaffnung; Einstellung der Entwicklungsprogramme für bestimmte, bei START als besonders destabilisierend angesehene Raketentypen; weitergehende Vorschläge für zukünftige Verhandlungen. Wichtiger als der Beitrag zur strategischen Stabilität war jedoch der Beitrag, den der START I-Vertrag zur Gestaltung des Wandels in Osteuropa leistete. Er wurde gezielt als Instrument genutzt, um die nicht-russischen Nachfolgestaaten, auf deren Territorium die Sowjetunion strategische Waffensysteme unterhalten hatte, zur Aufgabe dieser Systeme zu bewegen und damit sicherzustellen, daß in diesem Raum keine neuen Nuklearstaaten entstanden. 102 Während die taktischen Nuklearwaffen der Sowjetunion auf ihrem gesamten Territorium und in den anderen Mitgliedsstaaten des Warschauer Pakts stationiert und gelagert waren, verteilten sich die strategischen Nuklearstreitkräfte ziemlich gleichmäßig auf Rußland, Weißrußland, die Ukraine und Kasachstan. Nach Auflösung der Sowjetunion gab es in Moskau wie im Westen Besorgnisse, die mit der Einsatzkontrolle für die Nuklearwaffen, der physischen Sicherheit der Waffenbestände und mit der Gefahr der Proliferation zusammenhingen. Die Präsidenten der elf sowjetischen Republiken, die am 21. Dezember 1991 die Auflösung der Sowjetunion und die Bildung einer „Gruppe Unabhängiger Staaten“ beschlossen, setzten kurz darauf den letzten sowjetischen Verteidigungsminister Schaposchnikow als Kommandeur über die strategischen Streitkräfte der früheren Sowjetunion ein. Er sollte unter der politischen Kontrolle der Präsidenten von Rußland, Weißrußland, Ukraine und Kasachstan die operative Befehlsgewalt über die Nuklearwaffen erhalten. Die Bemühungen um Gemeinsamkeit stießen jedoch bald auf Grenzen, und im Einvernehmen mit Rußland bemühten sich die USA, einen einzigen nuklearen Nachfolgerstaat der Sowjetunion sicherzustellen. Zunächst gelang es, die betroffenen Nachfolgerstaaten in START I einzubinden: Mit einem am 23. Mai 1992 in Lissabon unterzeichneten Zusatzprotokoll zu START I verpflichteten sich neben Rußland auch Weißrußland, die Ukraine und Kasachstan, die Verpflichtungen aus diesem Vertrag zu übernehmen und darüber hinaus dem Nuklearen Nichtverbreitungsvertrag in kürzestmöglicher Zeit als Nicht-Nuklearwaffenstaaten beizutreten. Damit erlangte der START-Vertrag eine Schlüsselrolle bei der Stärkung des nuklearen Nichtverbreitungssystems. 102

Vgl. auch im folgenden: Bluth, S. 159.

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Im Laufe des Jahres 1992 wurde der START-Vertrag von Kasachstan, den USA, Rußland und Weißrußland ratifiziert. Die Ukraine dagegen spielte mit dem Gedanken, selbst Nuklearmacht zu werden und einen Teil der auf ihrem Territorium stationierten Nuklearwaffen der früheren Sowjetunion zu behalten. Zwar stimmte Präsident Krawtschuk nach einer Vereinbarung mit Jelzin im September 1993 erneut zu, alle Nuklearwaffen an Rußland zu übertragen; substantielle amerikanische Zusagen für finanzielle Hilfe, aber auch deutsche Bemühungen, hatten Krawtschuk in diesem Kurs bestärkt. Das ukrainische Parlament zeigte sich jedoch wenig beeindruckt und ratifizierte den START-Vertrag und das Lissaboner Protokoll nur unter Vorbehalten und mit Bedingungen: Der Beitritt zum NVV als NichtNuklearstaat wurde abgelehnt, gefordert wurden Entschädigungen, Sicherheitsgarantien und die Anerkennung der territorialen Integrität der Ukraine. Der Westen und Rußland übten massive Kritik an dieser Entscheidung, und Präsident Krawtschuk versprach, den Vertrag nach der Wahl 1994 einem neuen Parlament erneut zur Ratifizierung vorzulegen. Tatsächlich ratifizierte die neue Rada nicht nur den START-Vertrag ohne Vorbehalte und billigte das Lissaboner Protokoll, sondern stimmte auch dem Beitritt der Ukraine zum NVV als Nichtkernwaffenstaat zu. Die langwierige Auseinandersetzung unter den Nachfolgestaaten der UdSSR wurde somit mit einem Erfolg für die nukleare Nichtverbreitungspolitik abgeschlossen, ging aber zu Lasten des weiteren Rüstungskontrolldialogs zwischen Washington und Moskau. Rußland hatte den START I-Vertrag seinerseits bald nach Unterzeichnung im Juli 1991 ratifiziert, sich den Austausch der Ratifikationsurkunden aber vorbehalten, bis alle Unterzeichner des Lissaboner Protokolls dem NVV beigetreten sein und mit Rußland Vereinbarungen über die Beseitigung ihrer strategischen Waffen geschlossen haben würden. So verging wertvolle Zeit. Als START I dann mit dem Austausch der Ratifikationsurkunden am 5. Dezember 1994 endlich in Kraft treten konnte, war bereits ein weit stringenterer Nachfolgevertrag, START II, ausgehandelt und unterschrieben und stand im russischen Parlament zur Ratifizierung an; hier aber hatten sich die Verhältnisse seit 1991 tiefgreifend verändert. START II, am 3. Januar 1993 von George Bush und Boris Jelzin in Moskau unterzeichnet, baute auf dem ersten START-Vertrag auf, übernahm dessen technische Regelungen einschließlich Verifikation, setzte aber erheblich niedrigere Obergrenzen für strategische Nuklearwaffen fest: Am Ende der 2. Reduzierungsphase sollte jede Seite nur noch über 3.000 bis 3.500 Gefechtsköpfe verfügen. Landgestützte Interkontinentalraketen sollten nur noch einen Gefechtskopf tragen dürfen – was für Rußland den Verzicht auf seine schweren landgestützten Raketen bedeutete –, seegestützte Raketen insgesamt nicht mehr als 1.700 – 1750 Gefechtsköpfe – für die USA ein Verzicht auf zwei Drittel ihrer seegestützten Gefechtköpfe. Also beiderseits tiefe Reduzierungen, eingebettet in ehrgeizige weitere Verhandlungsabsichten der beiden Führungen: Bush und Jelzin kamen überein, bei ihrem nächsten Gipfeltreffen die Ratifikationsurkunden zum START II-Vertrag auszu-

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tauschen, sofort anschließend die zur Reduzierung anstehenden Nuklearwaffen zu deaktivieren und weitere Einschnitte bei den verbleibenden Nuklearwaffen auszuhandeln. Jelzins Mitarbeiter faßten für START III schon eine Obergrenze von 1.000 – 1.500 Sprengköpfen ins Auge, die Amerikaner aber wollten erst START II ratifiziert und implementiert sehen. Die Skepsis der Amerikaner war verständlich. Seit Ende 1992 schon schwelte der Konflikt zwischen Präsident Boris Jelzin und dem Kongreß der Volksdeputierten, dessen Mehrheit die marktwirtschaftlichen Reformen und die Außenpolitik des Präsidenten bekämpfte. Nach einem abgewehrten Putschversuch und der Annahme der von ihm vorgeschlagenen neuen Verfassung im Volksentscheid sah sich Jelzin Ende 1993 einem neuen Zwei-Kammer-Parlament gegenüber, das seine Rüstungskontrollpolitik indessen ebenso ablehnte wie zuvor der Kongreß der Volksdeputierten. Erst 2000 sollte die Duma START II ratifizieren – aber nur unter der Bedingung des Fortbestands des ABM-Vertrags von 1972. Da dieser Vertrag, der die Errichtung einer flächendeckenden, das ganze Staatsgebiet umfassenden Raketenabwehr untersagte, von George W. Bush am 13. Dezember 2001 gekündigt wurde, konnte START II somit nie in Kraft treten. Auch wenn der Dialog damit nicht abbrach und ein 2002 von George W. Bush und Wladimir Putin geschlossener Vertrag an die Stelle von START II treten sollte – ein „window of opportunity“ für wirklich stringente Einschnitte in die strategischen Potentiale wurde versäumt. Die bilaterale strategische Rüstungskontrolle war so lange zur Geisel der Entnuklearisierung der nichtrussischen Nachfolgestaaten der Sowjetunion gemacht worden, bis die verschlechterten politischen Rahmenbedingungen in Moskau wie in Washington den schon ausgehandelten Durchbruch verhinderten. Trotzdem kann sich die Bilanz von START sehen lassen: Die beiderseitigen Verpflichtungen aus dem START I-Vertrag von 1991 wurden zeitgerecht erfüllt und die Arsenale aus der Zeit des Kalten Krieges um ca. ein Drittel abgesenkt. Nicht weniger wichtig ist, daß es gelang, das strategisch-nukleare Potential der früheren Sowjetunion in den Republiken Weißrußland, Kasachstan und Ukraine abzubauen.

Abrüstung im globalen Maßstab: Chemische Waffen Während die Europäer mühsam, aber mit wachsendem Erfolg an ihren kooperativen Sicherheitsstrukturen arbeiteten, war auf der globalen Ebene der Abrüstung von einem neuen Sicherheitsdenken nichts zu spüren. Seit der Konvention über das Verbot militärischer und anderer feindseliger Verwendung von Umweltänderungstechniken (ENMOD) von 1977 war kein Abrüstungsvertrag mit weltweiter Geltung mehr zustande gekommen. In der Genfer Abrüstungskonferenz, de facto ein Organ der Vereinten Nationen, wurde seit 1981 erfolglos über ein umfassendes weltweites Verbot chemischer Waffen verhandelt. Dabei ging es im wesentlichen um Giftgase, deren Einsatz nach den grauenhaften Erfahrungen im Ersten Weltkrieg durch das Genfer Protokoll von 1925 bereits verboten worden war; allerdings waren Produktion, Lagerung und Zweiteinsatz möglich geblieben. Im Zweiten Weltkrieg kamen chemische Waffen zwar nicht zum Einsatz, doch wurden – vor allem in Deutschland – Nervengase entwickelt, deren todbringende Wirkung die der alten Giftgase weit übertraf. Die zuletzt 39 Mitglieder des für chemische Waffen zuständigen Verhandlungsausschusses der Genfer Abrüstungskonferenz 103 verhandelten seit 1984 über den Entwurf einer Konvention, den „Rolling Text“, der für die unstrittigen Teile bereits in Vertragssprache gefaßt war und für die strittigen Teile Alternativformulierungen vorsah. Vom Rolling Text galten ungefähr drei Viertel als vereinbart, aber die schwierigsten Fragen hatten sich jahrelang einer Lösung entzogen. Das größte Problem war: Die Überprüfung der Verpflichtungen aus einer Konvention mußte das Vertrauen aller Mitgliedstaaten gewährleisten, daß keiner von ihnen heimlich verbotene Aktivitäten betreibt; gleichzeitig durften souveräne Rechte der Mitgliedstaaten auf ihrem Territorium und ihre wirtschaftlichen Interessen, vor allem in der chemischen Industrie, durch intrusive Maßnahmen der Verifikation nicht beeinträchtigt werden. Hier lag ein wichtiger Unterschied zu anderen Feldern der Abrüstung: Während sich die Verifikationsfrage meist erst stellt, wenn Rechte und Verpflichtungen aus einem Vertrag hinreichend geklärt sind, herrschte bei den Verhandlungen über chemische Waffen in der zentralen 103

Obgleich die Verhandlungen im Prinzip blockübergreifend waren, stimmten die Teilnehmer ihr Vorgehen in drei Gruppen ab: der westlichen, der östlich sowie der der Neutralen und Ungebundenen.

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Verbotsfrage von Anfang an Übereinstimmung. Um so schwieriger aber war die Verifikation. Zwar ist ein Einsatz von Giftgasen leicht nachzuweisen, aber schon die Lagerung kann überall erfolgen – vom versteckten unterirdischen Bunker bis zum Präsidentenpalast. Noch schwieriger wird es bei der Produktion gefährlicher chemischer Substanzen etwa in Labors, die in harmlosen wissenschaftlichen Instituten unauffällig unterzubringen sind, aber auch in Waschküchen versteckt werden können. Erschwerend kommt hinzu, daß Chemikalien, die für Waffenzwecke taugen, auch für die zivile Produktion nutzbar und sogar unerläßlich sein können. Im März 1991 erhielten die Genfer Verhandlungen durch eine Initiative des amerikanischen Präsidenten George Bush einen wichtigen Impuls. Unter dem Eindruck der friedlichen Veränderungen in Europa wie auch der Aufdeckung der irakischen Giftgaslager im ersten Golfkrieg gab Bush eine wichtige Position der USA auf: den Vorbehalt einer Sicherheitsreserve an chemischen Waffen und ihres Einsatzes, sollte sie ein Gegner als erster eingesetzt haben. Damit wurde es möglich, das Verhandlungsmandat auf das Verbot jeglichen Einsatzes und jeglicher Produktion und Lagerung chemischer Waffen auszudehnen. Außerdem schlug Bush das Zieldatum 1992 für den Abschluß der Verhandlungen vor – ein Vorschlag, dem sich alle Verhandlungsparteien in Genf anschlossen. Die Administration in Washington trug allerdings zunächst wenig dazu bei, diesem Datum zügig näherzukommen. Maßgeblich waren dort nicht mehr die militärstrategischen Implikationen, die ein Verbot chemischer Waffen für das Verhältnis zur früheren Supermacht Sowjetunion hätte haben können, sondern das Bestreben, die Verbreitung der Waffen in der Dritten Welt zu verhindern; ein globales Verbotsabkommen sollte hauptsächlich westliche Kartellabsprachen wie die der sogenannten „Australischen Gruppe“ ergänzen, in denen die wichtigsten Exporteure Ausfuhrkontrollen gefährlicher chemischer Substanzen koordinierten. Diese Akzentverlagerung verschärfte die Polarisation mit Ländern der Dritten Welt wie Indien und Pakistan und auch mit China, die sich von einer globalen CW-Konvention vor allem den Wegfall der ihnen aus den Kartellabsprachen erwachsenden wirtschaftlichen Nachteile erhofften. Dafür waren sie bereit, ihre Aktivitäten auf dem Gebiet der chemischen Waffen einem Verbotsregime zu unterwerfen, das allerdings eher kursorisch überprüfbar sein sollte. Hier trafen sich ihre Interessen wiederum mit den Vertretern derjenigen Ressorts in Washington, denen die Vorstellungen der europäischen Bündnispartner in der Frage der stringenten Überprüfung eines Verbots der Entwicklung und der Produktion chemischer Waffen zu weit gingen. Für das entscheidende Jahr 1992 ging der Vorsitz des Verhandlungsausschusses für chemische Waffen auf den deutschen Vertreter, Ritter Adolf von Wagner, über – für uns eine große Verantwortung, aber auch eine einmalige Chance: Alle Teilnehmer waren sich darüber im klaren, daß eine Konvention, wenn sie je zustandekommen sollte, der Generalversammlung der Vereinten Nationen bis

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September 1992 vorgelegt werden mußte – jetzt oder nie. Daraus ergab sich erheblicher Druck auf die Verhandlungsteilnehmer, den es taktisch zu nutzen galt. Dem Vorsitzenden des Verhandlungsausschusses stand dafür eine Palette von Instrumenten zur Verfügung, die weit über das sonst in multilateralen Verhandlungen Übliche hinausgingen. Um auf einen rechtzeitigen Abschluß zu drängen, mußten diese „Bordmittel“ mit diplomatischen Aktionen in den Hauptstädten der maßgeblichen Akteure – im sogenannten „back channel“ – koordiniert werden. In diesem Sinne wurde zu Beginn des Jahres 1992 zwischen dem Auswärtigen Amt und der Genfer Delegation eine Strategie für das entscheidende nächste Halbjahr festgelegt. Bereits am Ende der ersten Verhandlungsrunde des Jahres 1992 hatte der australische Außenminister den Modellentwurf einer CW-Konvention eingebracht, der zu ca. 80% den in langen Jahren erarbeiteten Rolling Text übernahm und zu den strittigen Fragen Lösungen vorschlug, die die Australier für konsensfähig hielten. Diese Vorschläge stießen außerhalb der westlichen Gruppe zwar auf wenig Zustimmung, versetzten Botschafter v. Wagner aber in eine günstige taktische Situation: Er konnte, von vielen Seiten ermuntert, in der Verhandlungspause bis zum 11. Mai informelle Gespräche führen, um die Konsensmöglichkeiten in den strittigen Fragen weiter auszuloten. Ziel mußte es sein, auf dieser informellen Basis und nach förmlichen Verhandlungen zu Beginn der zweiten Runde einen bereinigten Entwurf als „Chairman’s Draft“ vorzulegen, dem hinreichende Chancen für einen Konsens gegeben werden konnten. Der Entwurf, den Wagner schließlich am 22. Juni in Abstimmung mit Moderatoren und Verbindungsleuten („Friends of the Chair“) in den verschiedenen Gruppen vorlegte, enthielt keine geklammerten Alternativtexte mehr, sondern schlug in eigener Verantwortung für alle noch offenen Fragen Kompromißlösungen vor. Der Entwurf wurde in der westlichen wie in der östlichen Gruppe grundsätzlich akzeptiert, auch bei einer Reihe von Drittweltstaaten stieß er auf positives Echo. Aber 14 der 21 Verhandlungsteilnehmer aus der Dritten Welt, die ihre Interessen durch die Vorschläge Wagners nicht gewahrt sahen, taten sich zusammen und schlugen in einem umfangreichen Papier gewichtige Änderungen vor. Wir waren uns darüber im klaren, daß der deutsche Konventionsentwurf nicht mehr aufgeschnürt werden durfte, da umfassende Neuverhandlungen die Büchse der Pandora öffnen mußten. In Schreiben an maßgebliche Kollegen appellierte Außenminister Kinkel am 22. Juni an deren Verantwortung für den Verhandlungserfolg. Er bat, sich in der jetzt entscheidenden Phase der Verhandlungen nicht mehr mit Verbesserungsvorschlägen aufzuhalten, sondern sich auf unabdingbare nationale Anliegen zu konzentrieren. Zur flankierenden Unterstützung unternahm ich zwei Reisen in eine Reihe von Hauptstädten, die für einen Verhandlungserfolg wichtig waren bzw. deren Haltung Anlaß zu Besorgnis gab: Washington, Tokyo, Peking, Islamabad, New Delhi, Kairo, Tel Aviv, Teheran.

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Bereits vor Einbringung des „Chairman’s Report“ hatte ich in einer Rede vor der Abrüstungskonferenz am 21. Mai erklärt, Botschafter v. Wagner habe Weisung, alles zu unternehmen, um für die Konvention den Konsens aller Teilnehmer zu erreichen. Allerdings könnte es die gemeinsame Verantwortung für ihre rechtzeitige Verabschiedung u.U. verbieten, auf kleine Minderheiten entschlossener Verweigerer Rücksicht zu nehmen. Als Vorsitzender des Verhandlungsausschusses gelang es Botschafter v. Wagner, aus dieser Ankündigung eine Umkehrung der üblichen Konsensregel abzuleiten: Bei der Präsentation seines Konventionsentwurfs stellte er fest, daß Alternativlösungen nur berücksichtigt werden könnten, wenn sie einen Konsens der Verhandlungsteilnehmer fänden. Obgleich zunächst nicht unbestritten, setzte sich dieses Verfahren durch. Innerhalb von drei Wochen gelang es, für jahrelang umstrittene Fragen Lösungen zu erarbeiten, die mehr und mehr Anhänger in allen Lagern fanden, bis die isolierten Verweigerer schließlich ihren Widerstand aufgaben. In der Sache ging es vor allem um folgende Fragen: − Für die Verifikation der chemischen Industrie wurde ein umfassendes und abgestuftes Regime von Meldepflichten und Inspektionen geschaffen, das toxische Substanzen je nach ihrer Gefährlichkeit in drei Listen gliedert. Die Vertragsstaaten haben in einem je nach Liste abgestuften Verfahren periodische Meldungen an die Internationale Organisation zum Verbot chemischer Waffen abzugeben, zu deren Überprüfung die Organisation Routineinspektionen in der chemischen Industrie durchführt. − Jeder Mitgliedstaat erhält das Recht, bei Zweifeln an der Vertragstreue eines anderen Staates eine Verdachtskontrolle durch das Inspektorat der internationalen Organisation vornehmen zu lassen. Für die Ausgestaltung der Kontrollen gelang es, einen Kompromiß zwischen den gegensätzlichen Zielen Aufklärung / Abschreckung und Verhütung des Mißbrauchs (Ausspähung sensitiver Anlagen) zu erzielen. − Um die Länder der Dritten Welt zu gewinnen, wird die wirtschaftliche und technologische Entwicklung vorangetrieben und vor allem ein Abbau der bisher bestehenden Exportkontrollen vorgesehen, der von Wirksamkeit der Konvention und Vertrauensbildung abhängig sein soll. − Zur Umsetzung der Konvention wurde die „Organisation zum Verbot chemischer Waffen“ in Den Haag gegründet. Ihre Organe sind die Staatenkonferenz aller Mitgliedstaaten, der Exekutivrat aus allen Regionen, die durch Rotation oder nach der Bedeutung ihrer chemischen Industrie bestimmt werden, der Generaldirektor und das technische Sekretariat. Nach einer dramatischen Schlußsitzung einigten sich die Mitgliedstaaten am 3. September 1992, den Konventionstext zum Chemiewaffenverbot an die Generalversammlung der Vereinten Nationen zu übermitteln. In der Generalversammlung wurde der Bericht ebenso wie der im Anhang übermittelte Konventionstext im Konsens angenommen. Die Generalversammlung forderte den VN-Generalsekretär

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auf, die Konvention als Depositar zur Zeichnung aufzulegen, und rief alle Staaten zum Beitritt auf. In einer Zeichnungskonferenz, die auf Einladung des französischen Staatspräsidenten Mitterand vom 13. bis 15 Januar 1993 in Paris stattfand, fanden sich 140 Staaten als Erstunterzeichner – darunter auch drei arabische Staaten, obgleich die Arabische Liga die Zeichnung so lange verweigern wollte, wie Israel sich den Bemühungen um eine nuklearwaffenfreie Zone im Nahen Osten entzog. Am 29. April 1997 trat die Konvention in Kraft. Inzwischen sind ihr 181 Länder beigetreten, die zusammen über 98% der chemischen Industrie der Welt verfügen. Die Konvention zum Verbot chemischer Waffen ist damit zu einem globalen Abrüstungsabkommen geworden, das dem Ziel der Universalität am nächsten kommt. Die Mitglieder der internationalen Staatengemeinschaft übernehmen auf der Grundlage gleicher Rechte und Pflichten die Verantwortung dafür, daß auf ihrem Territorium Entwicklung, Besitz und Einsatz chemischer Waffen unterbleibt und daß vorhandene Bestände vernichtet werden. Die Konvention zum Verbot Chemischer Waffen ist damit das ideale Modell kooperativer Sicherheitspolitik auf globaler Ebene.

Die Verlängerung des Nuklearen Nichtverbreitungsvertrags (NVV) Weniger ideal ist, vom Modellcharakter her, der Nukleare Nichtverbreitungsvertrag ausgefallen, die völkerrechtliche Grundlage des bestehenden Systems zur Verhinderung der Verbreitung nuklearer Waffen. Der 1968 geschlossene NVV behält einigen wenigen Mächten den Besitz von Kernwaffen vor, während die übrige Staatengemeinschaft auf Entwicklung und Produktion und Besitz von Kernwaffen verzichtet hat. Daß der Nichtverbreitungsvertrag zu einer Zeit, als die Polarisierung der Welt unüberwindbar schien, gegen vielfachen Widerstand zustande gekommen war, war der weitsichtigen Zusammenarbeit der beiden Supermächte USA und UdSSR zu verdanken. Trotz aller ideologischer und machtpolitischer Gegensätze teilten sie das fundamentales Interesse, die Verbreitung auf Kernwaffen abgestützter militärischer Macht zu kontrollieren. Die Verhandlungen über die Nichtverbreitung nuklearer Waffen waren in dem unter UN-Dach angesiedelten Eighteen Nations Disarmament Committee (ENDC) in Genf, einem Vorläufer der Genfer Abrüstungskonferenz, unter dem gemeinsamen Vorsitz der USA und der Sowjetunion geführt worden. Als Co-Chairmen legten sie im Januar 1968 einen gemeinsamen Vertragsentwurf vor, der gemeinsame Positionen in den wesentlichen Sachfragen präsentierte. Ihr gemeinsames Bestreben war es, die Herstellung und den Erwerb von Nuklearwaffen durch Länder, die noch nicht darüber verfügten, zu unterbinden und sicherheitshalber auch deren friedliche nukleare Aktivitäten umfassend zu kontrollieren. Als Gegenleistung war die Verpflichtung der Kernwaffenstaaten vorgesehen, „in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen, um das nukleare Wettrüsten bald anzuhalten und nukleare Abrüstung voranzubringen“. Frankreich und China nahmen an den Genfer Verhandlungen noch nicht teil, traten aber später dem NVV als Kernwaffenstaaten bei. Unter den Verhandlungsteilnehmern in Genf leisteten wichtige Industriestaaten und Entwicklungsländer lange Zeit Widerstand, weil sie militärisch ihre Optionen offen halten wollten und um ihre nuklearen Forschungsaktivitäten und Industrien fürchteten. In Deutschland wuchs das Mißtrauen vor einer „Kollusion der Supermächte“, Franz Josef Strauß befürchtete gar ein „Versailles von globalen Ausmaßen“. In der großen Koalition Kiesinger / Brandt war das Projekt heftig umstritten, und auch im Auswärtigen Amt stand Außenminister Brandt mit Egon

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Bahr, dem Leiter seines Planungsstabs, gegen die politischen Abteilungen und insbesondere gegen den Abrüstungsbeauftragten Swidbert Schnippenkötter, die den Vertragsentwurf ablehnten. Erst nach Bildung der sozial-liberalen Koalition Brandt / Scheel unterzeichnete die Bundesrepublik Deutschland im November 1969 den Nichtverbreitungsvertrag. Der Vertrag trat am 5. März 1970 in Kraft und wurde entgegen vielen Erwartungen ein Erfolg. Obgleich kritische Staaten wie Israel, Indien und Pakistan nicht zeichneten, erlangte er mit 170 Vertragsstaaten nahezu universelle Geltung und wurde das Kernstück des internationalen Nichtverbreitungssystems. Anders als ursprünglich befürchtet, beeinträchtigten die Beschränkungen und Kontrollen, die der Vertrag den Nichtkernwaffenstaaten auferlegte, nicht die Entwicklung der friedlichen Nutzung der Kernenergie und förderte sogar die Zusammenarbeit der Vertragsstaaten auf diesem Gebiet; die Vereinbarungen, die die Nichtkernwaffenstaaten mit der Internationalen Agentur für Atomenergie (IAEO) in Wien vor allem zur Kontrolle des nuklearen Brennstoffkreislaufs abschlossen, nahmen auf ihre wirtschaftlichen Anliegen hinreichend Rücksicht. Der NVV war zunächst für eine Geltungsdauer von 25 Jahren abgeschlossen worden. Danach sollte eine Konferenz einberufen werden, die mit der Mehrheit der Vertragsparteien beschließen sollte, ob der Vertrag auf unbegrenzte Zeit in Kraft bleibt oder um eine oder mehrere bestimmte Frist oder Fristen verlängert wird. Als die 25 Jahre abgelaufen waren, wurde für den 17. April 1995 in New York eine Überprüfungs- und Verlängerungskonferenz einberufen, die über folgende Optionen zu entscheiden hatte: 1. Weitergeltung für eine bestimmte Frist 2. Weitergeltung für mehrere bestimmte Fristen 3. Konditionierte Verlängerung des Vertrags 4. Unkonditionierte und unbefristete Verlängerung. Eine unkonditionierte und unbefristete Verlängerung war rechtlich natürlich der einfachste Weg. Sie bedeutete aber den Verzicht auf ein direktes Druckmittel gegen die Kernwaffenstaaten: Die im NVV verankerte Abrüstungsverpflichtung könnte ohne Drohung mit der Beendigung des Vertrags ein zahnloses Instrument werden, um den Prozeß nuklearer Abrüstung voranzutreiben. Trotzdem hatten sich vor der Konferenz die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft, der NATO, der KSZE sowie eine Reihe weiterer Länder für diese Option ausgesprochen. Denn die erste Option, die Weitergeltung des NVV für eine bestimmte Frist, hätte zur Folge gehabt, daß der Vertrag nach Fristablauf fortfällt; ob es gelingen würde, zuvor einen besseren oder ausgewogeneren Vertrag auszuhandeln und die überwiegende Mehrheit der Staatengemeinschaft zum Beitritt zu gewinnen, mußte zweifelhaft erscheinen. Die zweite Option hätte das Risiko des Fortfalls des NVV zwar eingegrenzt, aber nicht beseitigt. Die konditionierte Verlängerung des Vertrags, z. B. in Form von Vorgaben für die nukleare Abrüstung, hätte die Fortgeltung des

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Vertrags gefährdet, zumal sich erfahrungsgemäß eine grundsätzliche Ablehnung oft hinter unrealistischen Bedingungen verbirgt. Ob sich eine Mehrheit für die Option der unkonditionierte und unbefristeten Verlängerung des NVV erreichen lassen würde, war höchst unsicher. Mexiko, Indonesien, Sri Lanka, Malaysia, Nigeria sowie die meisten arabischen Staaten lehnten sie rundweg ab oder knüpften ihre Zustimmung an weitreichende Bedingungen – wie signifikante Abrüstungsschritte der Kernwaffenstaaten, den Abschluß eines umfassenden Teststoppabkommens und Sicherheitsgarantien der Kernwaffenstaaten für Nichtkernwaffenstaaten. Die Haltung der Bundesregierung Kohl / Kinkel war klar: Um den Nichtverbreitungsvertrag als Eckpfeiler der Bemühungen gegen die Verbreitung von Kernwaffen zu erhalten, trat sie gemeinsam mit ihren Bündnispartnern für eine unbefristete und unkonditionierte Verlängerung ein. Auch in der Innenpolitik wurde diese Frage – in eindrucksvollem Gegensatz zur Debatte um den NVV 25 Jahre zuvor – nicht kontrovers diskutiert. Der Bundestag schloß sich am 23. Juni 1993 in einer Allparteienentschließung der Haltung der Bundesregierung an. Nur sehr vereinzelt gab es Stimmen, die es mit nationalen Interessen für unvereinbar hielt, ein Nichtverbreitungsregime zu verfestigen, in dem die Bundesrepublik Deutschland als Nichtkernwaffenstaat auf Dauer diskriminiert wird – leider auch in politischen Stiftungen, die über enge Kontakte in den USA verfügten; an manchen Stellen in Washington gab es Zweifel an der Ernsthaftigkeit der in Bonn erklärten Politik. Die Argumente der deutschen NVV-Gegner waren kurzsichtig. Deutschland hatte, unabhängig vom Nichtverbreitungsvertragg, wie kein anderer Staat wiederholt einseitig und völkerrechtlich bindend auf Massenvernichtungswaffen verzichtet und diesen Verzicht zuletzt im „2+4-Vertrag“ zur deutschen Einigung bekräftigt. Die globale Fortgeltung des Nichtverbreitungsvertrags verhinderte einen nationalen Sonderstatus, eine „Singularisierung“ Deutschlands, und stellte sicher, daß Deutschland seinen nuklearen Status mit dem überwiegenden Teil der Staatengemeinschaft teilte. Gerade nach dem „2+4-Vertrag“ hätte eine Debatte über dieses Thema unabsehbare Folgen für unser internationales Ansehen haben können. Deshalb setzten wir uns an die Spitze der Bewegung, die für die unbefristete und unkonditionierte Verlängerung des Nichtverbreitungsvertrags eintrat – mit einer 10-Punkte-Initiative Außenminister Kinkels, mit koordinierten Demarchen unserer Auslandsvertretungen und mit Missionsreisen in 15 Schlüsselstaaten, die ich mit meinem Vertreter Peter v. Butler aufteilte. Dieser Einsatz wurde, wie ein Brief Außenminister Christophers bestätigt, in Washington besonders gewürdigt. Immer wieder zeigte sich, daß wir als Befürworter des Nichtverbreitungsvertrags glaubhafter waren als Vertreter der Kernwaffenmächte, eben weil wir kein Sonderrecht zu verteidigen hatten 104. Das deutsche Beispiel zeige – so wurde ich als Gastteilnehmer der Generalkonferenz der Organisation für das Verbot nuklearer

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Waffen in Lateinamerika begrüßt – daß man keine Nuklearwaffen brauche, um in der Welt an die Spitze zu kommen. Daß die Konferenz in New York an ihrem vorletzten Tag die unbefristete und unkonditionierte Verlängerung des Nichtverbreitungsvertrags beschloß 105, kam für die meisten Beobachter überraschend. Wichtig für den Erfolg war sicher eine überlegene westliche Konferenzstrategie, die die Unfähigkeit der Gegner in der Blockfreien-Bewegung nutzte, eine gemeinsame Position mit Eigenprofil zu erreichen. Um den Kritikern entgegen zu kommen, erklärten sich die Kernwaffenmächte in einer Resolution zu den „Prinzipien und Zielen nuklearer Nichtverbreitung und Abrüstung“ zu einer eindrucksvollen Bekräftigung ihrer in Art. VI des NVV niedergelegte Abrüstungsverpflichtung bereit. Sie stimmten einem Aktionsprogramm zu, das als essentiell für die Verwirklichung dieser Verpflichtung bezeichnet wurde. Vorgesehen waren darin der Abschluß eines umfassenden nuklearen Teststoppvertrags bis 1996, ein Übereinkommen über das Verbot der Herstellung von spaltbarem Material für Kernwaffen sowie entschlossene, systematische und fortschreitende Bemühungen um eine Verringerung der Kernwaffen weltweit mit dem Endziel der Beseitigung dieser Waffen. Daß die Verpflichtungen der Kernwaffenstaaten zur nuklearen Abrüstung erstmals über den allgemein gehaltenen Art. VI des NVV hinaus konkretisiert wurden, erweckte vielerorts die Erwartung, die Nichtkernwaffenstaaten sollten eine Berufungsgrundlage für ihre Forderungen nach Abrüstungsverhandlungen erhalten. In der Tat berechtigte die Lage in Europa und der Stand der Beziehungen zwischen den nuklearen Vormächten zu der Zeit, als die Konferenz in New York tagte, zu Optimismus. Die Zwischenbilanz der amerikanisch-russischen Abrüstungsbemühungen war eindrucksvoll wie selten zuvor oder danach. Ohne den in New York präsentierten, wenn auch später nie in Kraft getretenen START II-Vertrag mit seinen radikalen Reduzierungsvorgaben und ohne das verkündete gemeinsame Ziel, danach über die weitere Verringerung der strategischen nuklearen Gefechtsköpfe zu verhandeln, wären die Bemühungen um das nukleare Nichtverbreitungsregime sicher weit schwieriger verlaufen. Solche „Zwischenergebnisse“ machten es leichter, den Abrüstungswillen der vom Vertrag privilegierten Nuklearmächte glaubwürdig zu machen und die Gruppe der radikalen Kritiker des NVV in der Blockfreien-Bewegung zu isolieren.

104 Daß die Bundesrepublik Deutschland heute als einziger Nichtkernwaffenstaat an der Seite der Ständigen Mitglieder des Weltsicherheitsrats an den Bemühungen um die Lösung der nuklearen Probleme mit dem Iran beteiligtt wird, dürfte auch mit dieser Erfahrung zusammenhängen. 105 174 Vertragsstaaten befürworteten ohne Abstimmung, also im Konsens, eine entsprechende Resolution mit drei Begleitresolutionen: zur nuklearen Abrüstung, zum künftigen Überprüfungsprozeß und – um den arabischen Mitgliedstaaten entgegen zu kommen – zur Kritik an Israel, das dem NVVaus bekannten Gründen nie beigetreten ist.

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Leider blieb das Zeitfenster, das damals so günstige Aussichten für Abrüstung und Nichtverbreitung bot, nicht mehr lange offen. Von dem Aktionsprogramm, zu dem sich die Nuklearmächte aus Verantwortung für die nukleare Abrüstung bekannten, ist wenig verwirklicht worden: Ein Umfassender Nuklearer Teststoppvertrag, von der Genfer Abrüstungskonferenz ausgehandelt, wurde zwar im September 1996 durch Resolution der VN-Vollversammlung angenommen und zur Zeichnung aufgelegt. Bis Ende 2006 haben 177 Staaten gezeichnet, ein „Vorläufiges Technisches Sekretariat“ wurde bereits errichtet. Der Vertrag wird auf absehbare Zeit trotzdem nicht gelten: Von den 44 besonders aufgeführten Staaten, deren Ratifikation Voraussetzung für sein Inkrafttreten ist, haben bis Ende 2006 nur 34 ratifiziert – nicht darunter die Nuklearmächte USA und China. Das Übereinkommen über das Verbot der Herstellung von spaltbarem Material für Kernwaffen wird nicht mehr verhandelt: Die Genfer Abrüstungskonferenz, das weltweit einzige ständig tagende Verhandlungsforum für Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung, ist seit 1998 völlig lahmgelegt; die 65 Mitgliedstaaten können sich wegen mehrerer unauflöslicher Junktims nicht auf die Aufnahme irgendwelcher substantiellen Verhandlungen einigen. „Entschlossene, systematische und fortschreitende Bemühungen der Kernwaffenstaaten um eine Verringerung der Kernwaffen weltweit mit dem Endziel der Beseitigung dieser Waffen“, wie im Aktionsprogramm versprochen, sind nirgendwo in Sicht. Doch damit sind wir leider, zeitlich wie inhaltlich, beim letzten Teil dieser Betrachtungen angekommen.

Die Nachgeschichte Nach der Zeitenwende von 1989 schien die neue internationale Ordnung, die Präsident George Bush verkündet hatte, zu funktionieren. In den Vereinten Nationen herrschte eine seit den Gründungsjahren nicht mehr gekannte Kooperation vor, im Weltsicherheitsrat wurde vom Vetorecht kaum mehr Gebrauch gemacht. Zum ersten und zum einzigen Mal in ihrer Geschichte gingen die Vereinten Nationen nach der Invasion Sadam Husseins in Kuweit geschlossen mit einer Militäraktion gegen einen Aggressor vor. In Europa beschritt die Europäische Gemeinschaft, durch die Wiedervereinigung Deutschlands entgegen manchen Befürchtungen gestärkt, den Weg zur wirtschaftlichen und politischen Union. Während sich die NATO um Anpassung ihrer Strategie an neue Herausforderungen außerhalb Europas bemühte, wurde in westlichen wie in östlichen Hauptstädten über den Ausbau der KSZE zu einer regionalen Organisation kollektiver Sicherheit nachgedacht. Rußland kämpfte, vom Weltmachtsockel gestürzt, wirtschaftlich und innenpolitisch um sein Überleben; seine politische Führung hielt aber auch nach dem Abtritt Gorbatschows an der Politik der Eingliederung in die demokratische Staatenwelt fest. Die Lage im Mittleren Osten schien nach dem ersten Golfkrieg stabilisiert und das Risiko heimlicher Produktion von Massenvernichtungswaffen unter Kontrolle gebracht zu sein. Südafrika zerstörte seine heimlich gebauten Atomwaffen, Länder wie Argentinien, Brasilien und Libyen gaben ihre Atomwaffenprogramme auf, die Ukraine, Weißrußland und Kasachstan verzichteten auf die auf ihrem Territorium gelagerten Nuklearwaffen der untergegangenen Sowjetunion und übergaben sie an Rußland. Da Länder der „Dritten Welt“ ihre strategische Bedeutung für den Ost-West-Konflikt verloren, bestand für „Stellvertreterkriege“ kein Bedarf mehr. Langjährige Bürgerkriege in Äthiopien / Eritrea, Uganda und Angola wurden beigelegt, Südafrika schaffte die friedliche Überwindung der Apartheid. Der international organisierte Terrorismus war noch keine eine reale Bedrohung für die Staatengemeinschaft. Bald jedoch verdüsterte sich der Horizont. Das Ende der Geschichte, wie von Francis Fukuyama nach dem Sieg des Westens im Kalten Krieg etwas voreilig verkündet, war nicht eingetreten. Der Übergang von der bipolaren zur multipolaren Staatengemeinschaft erwies sich als unerwartet holprig. Umberto Ecco, in den Achtziger Jahren ausgewiesener Friedensaktivist, spricht mehr nostalgisch als spöttisch von „jener großen gesegneten Pax unserer Ersten Welt, die wir Kalten Krieg nennen und der wir alle nachtrauern“ 106. Wie weit die internationalen 106

Ecco, S. 41.

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Ordnungskonzepte noch greifen, die der Westen erfolgreich zur Geltung bringen konnte, ist zweifelhaft geworden. Zu diesen Konzepten gehört auch die Vorstellung, daß sich die Konkurrenten im globalen Machtkampf über die gegenseitige Einhegung ihrer militärischen Machtmittel verständigen sollten – der Gedanke der Rüstungskontrolle. Wenigstens innerhalb der „Ersten Welt“, im gegenseitigen Verhältnis der nicht mehr in Ost und West aufgespalteten Industrieländer, sollte man hoffen, daß es ein gemeinsames Grundinteresse gibt: das bisher Erreichte, den Acquis der geschaffenen Regime der Rüstungskontrolle, tunlichst zu erhalten und, wo nötig, an veränderte Umweltbedingungen anzupassen. Der deutsche Außenminister Steinmeier appelliert gern an das gemeinsames Interesse aller Europäer, „daß unsere in Jahrzehnten entwickelte Abrüstungsarchitektur nicht rückabgewickelt wird“. Sein russischer Kollegen Lawrow hingegen mißtraut dem nach 1991 gewachsenen System, weil es auf der Grundlage des Kalten Krieges beruhe und auf eine „Eindämmung“ und „Umerziehung“ Rußlands ziele; wenn die ganze derzeitige Sicherheitsarchitektur in Europa zusammenbreche, müsse eine neue geschaffen werden, „aber dann unter Bedingungen, die unter Beteiligung Rußlands abgestimmt werden“ 107. In der Tat bietet die zunehmende Entfremdung Rußlands von seinen westlichen Partnern den größten Anlaß zur Sorge um das in den letzten beiden Jahrzehnten in Europa Erreichte. Rußlands Außenpolitik, gestützt auf eine expandierende Petromacht und – nach dem Chaos der neunziger Jahre – auf ein autoritäres zentralistisches System, scheint darauf fixiert, seine Nachbarn, Europa und die USA daran zu erinnern, daß sie es mit einer von allen zu respektierenden Weltmacht zu tun haben. Militärische Macht hat in Moskau wieder einen überragenden Stellenwert erhalten. Klammerte man sich in der Phase des Niedergangs an die Nuklearmacht eher als Statussymbol, gibt der wirtschaftliche Erfolg dem Drang nach zusätzlicher militärischer Absicherung Auftrieb. Und man zeigt gern, was man schon erreicht hat; im Fernsehen werden neue Wunderwaffen vorgestellt, „die in der Welt ohne ihresgleichen sind“. Auf reale oder eingebildete Herausforderungen der NATO wird harsch reagiert. Zu Hause kommt das gut an, aber im „Nahen Ausland“, in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion und im früheren Herrschaftsbereich des Warschauer Pakts, wachsen die Besorgnisse. Schon 1993 hatte sich Jelzins Außenminister Kozyrew vor seinen Kollegen der NATO über eine Politik des „cordon sanitaire“ beschwert, mit der der Westen Rußland isolieren wolle. Ganz neu sind die russischen Empfindlichkeiten also nicht – und auch nicht ganz unverständlich. Die westlichen Verbündeten brachten – mit Ausnahme eines für die Wiedervereinigung dankbaren Deutsch107 Laut Regierungszeitung „Rossiskaja Gaseta“ in einer nichtöffentlichen Sitzung des Föderationsrats, zitiert in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung v. 10. 11. 2007.

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land – nach der für viele schmachvollen Niederlage der Sowjetunion im Kalten Krieg wenig Feingefühl für die verletzte russische Seele auf. Während Kohl und Jelzin noch die letzten abziehenden russischen Truppen mit Freundschaftsparaden verabschiedeten, beschlossen die Außenminister der NATO, einen Prüfungsprozeß einzuleiten, um – nur noch – das Wie für die Aufnahme neuer Bündnispartner aus dem früheren Warschauer Pakt festzulegen. Über die „roten Linien“, die Moskau für die NATO-Erweiterung gezogen hatte, setzte man sich großzügig hinweg. Ob die NATO mit ihrer Erweiterungspolitik sich selbst und den neuen Mitgliedstaaten einen Gefallen getan hat, oder ob man den „Stabilitätstransfer nach Osten“ nicht besser anderen Institutionen wie der Europäischen Union oder der OSZE überlassen hätte, ist eine müßige Frage. Nach der Aufnahme der ersten neuen NATO-Mitgliedstaaten erklärten die USA, daß sie auf deren Territorium strategisch relevante Waffenpotentiale nicht dauerhaft stationieren würden. Gerade darin aber sahen manche ost / mitteleuropäischen Regierungen, als das Klima wieder rauher wurde, ein Sicherheitsdefizit gegenüber anderen NATO-Partnern, das sie durch bilaterale militärische Sonderabkommen mit den USA auszugleichen suchten. Die USA ließen sich gern darauf ein und setzten die Errichtung von Militärbasen in Polen, der Tschechischen Republik, Rumänien und Bulgarien auf die Tagesordnung. Auch die Erweiterung der NATO war für Washington längst nicht abgeschlossen: Schon Clinton stellte Georgien den Beitritt in Aussicht, George W. Bush versprach, noch vor Ende seiner Amtszeit die Aufnahme Georgiens und der Ukraine durchsetzen. Als es dann auch noch um die Stationierung eines amerikanischen Raketenabwehrsystems in Polen und in der Tschechischen Republik ging, das in fernerer Zukunft denkbare Nuklearschläge aus Iran oder Nordkorea abfangen soll, stellte Putin wichtige Teile des rüstungskontrollpolitischen Acquis in Frage. Gemeint war vor allem der KSE-Vertrag, dessen Entstehungsgeschichte die seit Beginn der Verhandlungen radikal veränderten politischen Rahmenbedingungen in Europa anschaulich reflektiert. Die 23 Delegationen der beiden sich konfrontierenden Militärbündnisse hatten 1986 die Verhandlungen mit dem Ziel paritätischer Höchststärken für Ost und West begonnen, waren aber flexibel genug, dieses Konzept, solange es gerade noch ging, als Hebel für nationale Begrenzungen zu nutzen. Nach der Unterzeichnung des KSE-Vertrags im November 1990 löste sich die UdSSR auf, bevor sie die den Vertrag ratifizieren konnte. Die vom KSE-Vertrag geographisch betroffenen Nachfolgestaaten einigten sich über die Aufteilung ihrer Rechte und Pflichten aus dem Vertrag und wurden – mit Ausnahme der baltischen Staaten – am 5. Juli 1992 völkerrechtlich in das KSE-Regime eingebunden. Obgleich der KSE-Vertrag in seiner 1990 beschlossenen Form nach Inkrafttreten erfolgreich implementiert wurde, drängte Rußland bald auf Verhandlungen über eine Anpassung an die neuen Verhältnisse im Osten Europas. Am Rande des KSZE-Gipfeltreffens von Istanbul wurde 1999 ein neuer Vertrag beschlossen,

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der die Funktion des KSE-Vertrags als Eckstein der konventionellen Stabilität in Europa unter Berücksichtigung der neuen Lage weiter ausbauen sollte; vor allem wurden nationale Obergrenzen für die erfaßten Waffensysteme rechtsverbindlich vereinbart und die im ersten Vertrag vorgesehenen Vorkehrungen gegen destabilisierende Streitkräftekonzentrationen zugunsten Rußlands gelockert. Während Rußland, die Ukraine, Weißrußland und Kasachstan den Anpassungsvertrag ratifizierten, machten die NATO-Staaten ihre Ratifizierung von der Erfüllung russischer Zusagen ab, die am Rande der Unterzeichnung des Anpassungsvertrags in Istanbul gegeben wurden: In einer Schlußakte der Konferenz der Teilnehmerstaaten des KSE-Vertrags hatte Rußland seine Absicht erklärt, seine in Georgien und in Transnistrieren stationierten Truppen abzuziehen. Rußland verwies darauf, daß es den Rückzug seiner „Friedenstruppen“ aus Südossetien eingeleitet hat, in Transnistrien nur Truppen zur Bewachung früherer sowjetischer Waffendepots unterhält, und bestreitet im übrigen einen rechtlichen Zusammenhang zwischen seinen Absichtserklärungen und dem Abschluß des KSE-Anpassungsvertrags. Putin warf der NATO vor, Nebenfragen als Vorwand für ein Abgehen von den Prinzipien des KSE-Vertrags zu mißbrauchen und frühere Versprechungen, keine Truppen nahe an Rußlands Grenzen zu stationieren, gröblich zu verletzen. Mit Zustimmung der Duma setzte er die Anwendung des KSE-Vertrags unter Berufung auf „außerordentliche Umstände, die die Sicherheit Rußlands betreffen und unaufschiebbare Maßnahmen erforderlich machen“, aus. Es gibt im Augenblick also zwei KSE-Verträge, die beide nicht angewandt werden: Der 1989 unterzeichnete nicht, weil Rußland die Anwendung ausgesetzt hat, und der Anpassungsvertrag von 1999 nicht, weil er von den westlichen Vertragspartnern nicht ratifiziert wurde. In der NATO wurde vergebens nach einem Ausweg gesucht. Nicht alle NATO-Partner brachten allerdings für die Bewahrung des KSE-Regimes den gleichen Enthusiasmus auf wie seinerzeit für den Abschluß des ersten Vertrags, als es noch darum ging, die konventionelle Übermacht des Warschauer Pakts in Europa rüstungskontrollpolitisch zu neutralisieren, oder in der schwierigen Übergangszeit, als der KSE-Vertrag von allen Beteiligten als unentbehrliches Instrument kooperativer Sicherheit in Europa anerkannt wurde. Heute setzen die neuen NATO-Mitglieder mehr auf ihr Militärbündnis mit den USA als auf die Vorstellung gemeinsamer Sicherheit mit ihrem früheren Hegemon. Und den USA ist ihre strategische Handlungsfähigkeit wichtiger als ein Vertragsregime, das die Disposition über ihre Streitkräfte – vor allem im Hinblick auf künftige Interventionsgebiete im Nahen Osten – erschwert. Bei dieser Interessenlage dürfte das KSE-Regime Herausforderungen wie militärische Konfrontationen im „Nahen Ausland“ Rußlands – auch Georgien liegt im Anwendungsbereich des Vertrages – kaum überleben. Im Hinblick auf den INF-Vertrag, in dem die USA und die Sowjetunion 1987 die Beseitigung ihrer Flugkörper mittlerer und kürzerer Reichweite vereinbarten, hatte Putin schon im Februar 2007 in einer fulminanten Rede vor der Münchener

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Sicherheitskonferenz die Frage aufgeworfen, ob nach dem Erwerb solcher Waffen durch Länder wie Nord- und Südkorea, Indien, Iran, Pakistan oder Israel der Verzicht für Rußland noch zumutbar sei. Seine Generäle nahmen die vorgesehene Stationierung amerikanischer Raketenabwehrsysteme in Polen und Tschechien zum Anlaß, eine neue nukleare Zielplanung anzukündigen und neue russische Mittelstreckenraketen gegen diese Standorte anzudrohen. Da gleichzeitig aber die flexible Reichweite der eben erprobten neuen Bulawa-Langstreckenrakete gerühmt wurde, könnten solche Äußerungen mehr politische Drohgebärde als lautes strategisches Denken sein. Militärisch haben Nuklearraketen der im INFVertrag begrenzten Reichweiten angesichts der neuen Trägertechnologie weder für die USA noch für Rußland große Bedeutung. Der INF-Vertrag scheint deshalb nicht ernsthaft gefährdet. Auch für den Dialog über die Begrenzung strategischer Nuklearwaffen, wie er unter den Kürzeln SALT und START in die Geschichte eingegangen ist, stehen die Zeichen eher auf gelb als auf rot. Zwar sind die Zeiten vorbei, da man von Beratern Präsident Jelzins hören konnte, daß Rußland für die strategische Partnerschaft mit den USA mehr auf gegenseitiges Vertrauen und Kooperation baue als auf Abschreckung. 108 Aber Moskau wird – mehr noch als Washington, das in Gewißheit seiner Überlegenheit rechtsverbindliche Verpflichtungen heute eher scheut und auf Flexibilität setzt – an einer stabilen und kontrollierten Einbindung der strategischen Offensivwaffen interessiert bleiben, gerade in Zeiten schwindenden Vertrauens. Für Rußland unterstreicht der Dialog überdies seinen Status als militärische Supermacht auf Augenhöhe mit den USA. Die alte Streitfrage der Raketenabwehr schafft zwar auch heute Mißtrauen, allerdings mehr im europäisch-regionalen Kontext. Wenn die Außenministerin der USA die Ängste der Russen vor einem Dutzend Abfangraketen an ihrer Grenze lächerlich findet, wird in Moskau an die Kubakrise erinnert, als die geplante Stationierung von „ein paar“ Mittelstreckenraketen vor der amerikanischen Haustür beinahe zur nuklearen Katastrophe geführt hatte. Und je heftiger Rußland – mit Trotzgesten wie der Wiederaufnahme strategischer Patrouillenflüge – auf wirkliche oder vermeintliche Zurücksetzung reagiert, um so geringer die amerikanische Neigung zu partnerschaftlichem Entgegenkommen, was wiederum Trotzgesten provoziert usw. Der Dialog wird trotzdem weitergehen. Als George W. Bush den Vertrag über Raketenabwehrsysteme von 1972 am 13. Dezember 2001 einseitig kündigte, erklärte Putin, die Sicherheit Rußlands könne auch ohne den ABM-Vertrag gewährleistet werden, und unterzeichnete am 24. Mai 2002 den Moskauer Vertrag über die Reduzierung der strategischen Offensivwaffen (SORT). Dieser Vertrag sieht die Verminderung der beiderseitigen nuklearen Gefechtsköpfe auf 1.700 – 2.000 bis Ende 2012 vor, überläßt die Entscheidung über Zusammensetzung und Struktur der strategischen Offensivwaffen jedoch den Parteien und sieht kein System 108

Bluth, S. 159/160.

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der Überprüfung vor – Rüstungskontrolle auf dem Bierdeckel, wie spöttische Kommentatoren bemerkten. Das ist zwar viel weniger, als beide Seiten mit START II erreichen wollten. Aber während Start II der Duma zu weit ging, waren es jetzt die Amerikaner, die auf möglichst flexiblen Regelungen bestanden und sich nur widerstrebend auf eine völkerrechtlich verbindliche Vertragsform einließen. Die Abrüstungsbereitschaft der Nuklearmächte spielt eine wichtige Rolle für die Lebensfähigkeit eines globalen Vertrags, der zusammen mit dem Übereinkommen über das Verbot chemischer Waffen (CWÜ) zum Acquis der Rüstungskontrolle der 90er Jahre gehört: Dem nuklearen Nichtverbreitungsvertrag (NVV), der wichtigsten Grundlage des internationalen Regimes zur Verhinderung der Verbreitung nuklearer Waffen. Nur durch weltweite Zusammenarbeit läßt sich der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und ihrer Trägermittel nicht nur an Staaten, sondern auch an nichtstaatliche Akteure entgegenwirken – das war der eindrucksvolle Konsens der Staatengemeinschaft, der 1995 zur unkonditionierten und unbefristeten Verlängerung des NVV und 1997 zum Abschluß des Übereinkommens über das Verbot Chemischer Waffen geführt hatte. Diesen Acquis zu bewahren, muß die wichtigste Aufgabe internationaler Sicherheitspolitik bleiben. Während das Übereinkommen über das Verbot chemischer Waffen von seinen inzwischen 195 Mitgliedstaaten insgesamt erfolgreich implementiert wurde, gab es beim nuklearen Nichtverbreitungsvertrag seit 1995 schwere Rückschläge: Indien, Pakistan und Nordkorea etablierten sich als Atomwaffenstaaten. Indien und Pakistan, die dem NVV nie angehört hatten, sahen sich zunächst heftiger internationaler Kritik ausgesetzt: In zahlreichen Erklärungen der EU, der NATO, der G8 sowie in einer Resolution des VN-Sicherheitsrats wurden ihre Atomtests verurteilt und beide Länder zur Zeichnung und Ratifikation des Teststoppvertrags aufgefordert. Nachdem schmerzhafte Sanktionen jedoch ausblieben, scheint die normative Kraft des Faktischen zu wirken. Die USA schlossen mit Indien ein Nuklearabkommen, das, falls es in Kraft tritt, Indien de facto als Kernwaffenstaat anerkennen wird – mit gravierenden psychologischen Auswirkungen auf die Nichtverbreitungspolitik. Im Falle Nordkoreas, das die Mitgliedschaft im NVV vor seinem ersten Nukleartest aufgekündigt hatte, lassen sich die USA gemeinsam mit China, Südkorea, Japan und Rußland seit Jahren auf einen erstaunlich geduldigen Dialog ein, um das störrische Regime in Pjöngyang durch Hilfszusagen und Sicherheitsgarantien zur Aufgabe seiner nuklearen Waffenkapazität zu bewegen. Um so heftiger verläuft die Kontroverse um die Bemühungen des iranischen Regimes, die nuklearen Technologien des Landes so weit voranzutreiben, daß die Fähigkeit zur Herstellung nuklearer Waffen in absehbarer Zeit gesichert werden könnte. Trotz wiederholter, wenn auch begrenzter Sanktionen des Weltsicherheitsrats hat der Iran sein Programm zur Urananreicherung, wichtige Voraussetzung für die Herstellung von Nuklearwaffen, nicht aufgegeben. Während in Washington und in

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Tel Aviv gelegentlich über militärische Optionen diskutiert wird, bemühen sich Vertreter der Ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats und Deutschlands, Iran auf diplomatischem Wege zum Einlenken zu bewegen – bislang ohne Erfolg. Dabei ist der strategische Nutzen, den das Land aus dem Erwerb von Kernwaffen ziehen könnte, sehr begrenzt, wenn man bedenkt, daß nicht nur die USA, sondern auch Israel jede Androhung eines iranischen Nukleareinsatzes mit der Androhung eines vernichtenden Zweitschlags kontern könnten. Was am meisten beunruhigt, ist die Gefahr, daß Nuklearwaffen in die Verfügung eines unberechenbaren Regimes und am Ende gar in die Hände terroristischer Netzwerke fallen könnten. Aber auch abgesehen davon ist der Iran ein wichtiger Präzedenzfall: Während beim Abschluß des NVV 1968 für die allermeisten Vertragsstaaten die Entwicklung eigener Atomwaffen außerhalb ihrer technologischen Kapazität lag, reichern heute an die zwanzig Staaten Uran an, und das Interesse an dieser Technologie wächst. Wer in der Lage ist, auch nur schwach angereichertes, noch nicht waffenfähiges Uran in ausreichenden Mengen auf Vorrat zu produzieren, könnte die weitere Anreicherung bis zur Waffenfähigkeit in einem kürzeren und weniger aufwendigen Verfahren im Auge haben. Mißtrauen über die Zielrichtung solcher ziviler Programme wird immer häufiger zu gefährlichen politischen Spannungen führen. Und immer mehr Staaten könnten versucht sein, ihre Optionen offen zu halten, um zunächst den weiteren Verlauf der weltpolitischen und militärischen Entwicklung abzuwarten. Dabei werden sie auch die im NVV verankerte Verpflichtung der Nuklearmächte im Auge haben, „in redlicher Absicht Verhandlungen über wirksame Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft und zur nuklearen Abrüstung zu führen“ – eine Verpflichtung, die für die nichtnuklearen Mitgliedstaaten von Anfang an das quid pro quo für ihren Verzicht auf die nukleare Option war. Auch wenn wenige eine nuklearwaffenfreie Welt für ein Ziel halten, das sich in naher Zukunft verwirklichen ließe, ist der Vertrag ohne die Vision allgemeiner nuklearer Abrüstung auf Dauer nicht lebensfähig. Aus dieser Einsicht heraus bekräftigten und konkretisierten die Nuklearmächte 1995 gleichzeitig mit der unbefristeten Verlängerung des NVV eindrucksvoll ihre Abrüstungsverpflichtung. Seither hat sie jedoch viel an Glaubwürdigkeit verloren. Kritische Beobachter auch bei uns meinen bereits, die unbefristete und unkonditionierte Verlängerung des NVV könnte ein Fehler gewesen sein: die Kernwaffenstaaten bildeten sich jetzt ein, den Rest der Welt „in der Tasche“ zu haben. 109 Ist eine Welt ohne Atomwaffen überhaupt vorstellbar? Unter den Nuklearmächten wäre das, wenn verläßlich realisierbar, allenfalls für die USA eine erstrebenswerte Option: Nuklearwaffen sind Gleichmacher – deshalb auch ihre Attraktivität 109 Müller, Harald, Direktor der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung, in „Friedensgutachten 2007“, S. 143.

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für Staaten im zweiten und dritten Glied. Die technologische und materielle Übermacht der USA käme, wenn sie nicht mit nuklearen Abschreckungspotentialen von Gegnern rechnen müßte, viel stärker zum Tragen. Aus umgekehrtem Kalkül heraus erscheint ein Verzicht Chinas oder Rußlands auf Nuklearwaffen in vorhersehbarer Zeit schlicht unvorstellbar. Indien und Pakistan fühlen sich an Abrüstungsverpflichtungen aus dem NVV, den sie nicht unterschrieben haben, ohnehin nicht gebunden. Für die anerkannten Nuklearmächte Großbritannien und Frankreich steht nicht zuletzt ein Statussymbol auf dem Spiel, das – mehr noch als die Mitgliedschaft im Weltsicherheitsrat – mit den sich abzeichnenden Verwerfungen in der Entwicklung der Staatenwelt an Bedeutung gewinnen könnte. Solche Verwerfungen werden meist mit Stichworten wie Globalisierung, Klimawandel, Energiesicherheit, Bevölkerungsexplosion und Migration assoziiert. Von der Struktur der internationalen Ordnung her sieht Henry Kissinger drei revolutionäre Entwicklungen in verschiedenen Teilen der Welt, die sich auf die Hierarchie unter den etablierten Mächten und auf das Gesamtgefüge der staatlichen und nichtstaatlichen internationalen Akteure auswirken werden 110: Die Transformation des traditionellen Staatensystems in Europa, deren Ergebnis noch nicht abzusehen ist; die radikal islamistische Herausforderung des historischen Souveränitätsbegriffs; und die Verschiebung des internationalen Gravitationszentrums vom Atlantik zum Pazifik und zum Indischen Ozean, wo die Rolle der Nation immer mehr dem überkommenen europäischen Verständnis entspricht. Nur eines wird sich zumindest in den nächsten zwei Jahrzehnten nicht ändern: Militärisch werden die USA, falls kein katastrophaler Rückschlag erfolgt, die einzige Supermacht bleiben – zur klammheimlichen Bewunderung auch ihrer Kritiker. Für Harald Müller, meinen Nachfolger im Beirat des VN-Generalsekretärs für Sicherheit und Abrüstung, ist es schwindelerregend, wie Amerika seine durch die Globalisierung potenzierte Wirtschaftskraft in militärische Macht umsetzt 111. 550 Milliarden Dollar gibt die Regierung Bush jährlich für militärische Zwecke aus. Die USA unterhalten ca. 860 Militärbasen in allen Kontinenten, mit 93 Ländern haben sie Stationierungsabkommen geschlossen. 112 In ihrer Nationalen Sicherheitsstrategie von 2002 erklärten sich die USA entschlossen, keinen Rivalen auf Augenhöhe kommen zu lassen. Ihre Nuklearwaffen seien im Rahmen des „Prompt General Strike“ Teil eines Kontinuums von Optionen, das offensives Handeln an jedem Punkt des Erdballs durch die jeweils geeigneten Mittel zuläßt. Freilich lehrt uns die neuere Erfahrung, daß militärische Macht, wie sie aus Budgetansätzen und ihrer Umsetzung in Streitkräftestärken und Technologie resultiert, auch nicht mehr das ist, was sie in den Tagen Walter Lippmans war. 110

In einem Diskussionsbeitrag, der in der International Herald Tribune am 8. April 2008 wiedergegeben wurde. 111 Vgl. im folgenden Müller, Harald, „Allein gegen den Rest der Welt“, in Internationale Politik, Berlin Mai 2007. 112 Cooley, S. 33.

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Gegenüber der militärischen Macht der USA hat Rußland trotz seines neuen Petroreichtums keine Aufholchance, auch wenn Putin als Präsident enorme Anstrengungen zur Restitution der verfallenen Armee unternimmt und „grandiose“ neue Nuklearwaffen ankündigt: Der russische Militärhaushalt beläuft sich auf ein Zehntel des amerikanischen, und volkswirtschaftlich, technologisch, selbst demographisch, fällt Rußland weit hinter die USA zurück. Im Falle Chinas ist das Wirtschaftswachstum rasant, und die Rüstungsausgaben wachsen mit noch höheren Raten als das Bruttosozialprodukt. Aber selbst wenn Chinas Wirtschaftsmacht in absehbarer Zeit – wiederum: falls kein katastrophaler Rückschlag erfolgt – mit der amerikanischen gleichziehen sollte, wird Amerika immer noch von seinem nachhaltigen militärischen Vorsprung zehren können. Vom Wachstum des chinesischen Nuklearpotentials geht wiederum ein Impuls auf die künftige Weltmacht Indien aus und wirkt von dort aus auf das pakistanische weiter. Daß in diesem Umfeld auch Großbritannien und Frankreich ihre Nuklearstreitkräfte modernisieren, kann niemanden überraschen. Wir sind also Zeugen eines Rüstungswettlaufs, der an Tempo nicht hinter dem des Kalten Kriegs zurückfällt. Entscheidendes hat sich jedoch verändert: Es fehlt die Symmetrie militärischer Macht, die der Rüstungskontrolle das Denken in Gleichgewichtskategorien erschlossen hat; es fehlt das Bewußtsein tödlicher gegenseitiger Bedrohung – die Raketen sind nicht mehr gegen einen bestimmten Gegner gerichtet, im Bedarfsfall lassen sich beliebige Koordinaten in die Zielcomputer einführen; und Friedensbewegungen, die von ihren Regierungen Abrüstung fordern, gibt es allenfalls noch in einigen westlichen Ländern – Chinesen, Inder und Pakistani sind stolz auf ihre Atomwaffen. Damit entfallen Fundamente, auf die die Rüstungskontrolle im Kalten Krieg bauen konnte. Auch leidenschaftliche Appelle für eine neue Ära der Rüstungskontrolle und Abrüstung werden leider nichts daran ändern: Akteure, die eine gegenseitige Kontrolle ihrer konkurrierenden Rüstungsprogramme ernsthaft in Erwägung ziehen, sind heute noch nicht zu erkennen. Immerhin werden aber die USA und Rußland ihren Dialog über nuklearstrategische Waffen fortsetzen; ob in Anknüpfung an den gescheiterten START II-Vertrag radikale Zielsetzungen wieder auf die Tagesordnung kommen, wird auch von der neuen Administration in Washington abhängen. Die gegenwärtige Diskussion in den USA, in der sich frühere Politiker und Militärs wie Henry Kissinger, George Shultz und Sam Nunn vehement für nukleare Abrüstung einsetzen, könnte das erleichtern. Für einen breiteren Rüstungskontrollprozeß könnte die Geschäftsgrundlage auch mit dem Interesse an der Einbindung aufsteigender Mächte wachsen, wenn etwa China militärischer Konkurrent Rußlands und später auch der USA werden sollte. Zu einem Umdenken in der Frage der nuklearen Abrüstung wären die Kernwaffenstaaten am ehesten bereit, wenn die nukleare Weltordnung, die sie gegenwärtig privilegiert, auf dem Spiele stehen sollte. Ein reale Gefahr für die Privilegien

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der Nuklearmächte – und Chance für die Abrüstung – wäre eine entschlossene Fronde von Staaten, die ihren weiteren Verzicht auf eigene Atomwaffen von konkreter Abrüstung der Kernwaffenstaaten abhängig machen würde. Freilich ist eine direkte Konfrontation in dieser Frage nach der unbefristeten und unkonditionierten Verlängerung des NVV schwieriger geworden. Und die Furcht vor dem Aufbrechen des nuklearen Nichtverbreitungsregimes vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Krisenfälle hat bisher nicht ausgereicht, der nuklearen Abrüstung neue Perspektiven zu geben. Eine weniger direkte Konfrontation zwischen Nuklearmächten und ihren Verbündeten einerseits und den Teilnehmerstaaten aus der Dritten Welt andererseits spielt sich allerdings bereits im Genfer Abrüstungsausschuß ab. Die Länder der Dritten Welt blockieren die Arbeit des Ausschusses seit Jahren, weil sie darauf bestehen, daß gleichzeitig und gleichberechtigt mit den vom Westen geforderten Verhandlungsthemen über nukleare Abrüstung und über negative Sicherheitsgarantien verhandelt wird; das sind die im NVV verankerten und im Zusammenhang mit seiner Verlängerung bekräftigten Zusagen der Nuklearmächte, ihre Kernwaffen nicht gegen solche Staaten einzusetzen, die vertraglich auf ihren Besitz verzichtet haben. Eine generelle Ausweitung dieser Sicherheitsgarantien, wie von manchen gefordert, bis hin zum Verzicht auf die Anwendung oder Androhung jeglicher militärischer Gewalt gegen Nichtnuklearstaaten, würde die Nuklearmächte überfordern; gegenüber einzelnen Staaten aber, die vom nuklearen Weg abgebracht werden sollen – wie im anstehenden Arrangement mit Nordkorea – , könnten Sicherheitsgarantien, die über den bisherigen NVV-Kontext hinausgehen, eine wichtige Rolle spielen. Bei einem weiteren Thema, das den Genfer Abrüstungsausschuß blockiert, den Weltraumwaffen, stehen die USA alleine sowohl gegen die Nuklearmächte Rußland und China als auch gegen die Ungebundenen. Mit dem Abschuß eines eigenen ausgemusterten Satelliten hat Peking Anfang 2007 seine Fähigkeit zur Nutzung von Weltraumwaffen demonstriert und die Forderung nach Rüstungskontrollverhandlungen in diesem Bereich unterstrichen. Washington beharrt auf Aktionsfreiheit im Weltraum, lehnt Rüstungskontrollinitiativen ab und setzt auf die Fähigkeit, Gegnern die Nutzung des Weltraums für feindliche Zwecke einseitig zu „verweigern“. Früher als an anderen Fronten könnte diese Haltung unter einer neuen Führung von der Einsicht aufgeweicht werden, daß die USA am meisten zu verlieren haben, wenn sich mehr und mehr Staaten zur ungeregelten Stationierung von Weltraumwaffen entschließen. Denn die USA sind auf den freien Zugang zum Weltraum nicht nur aus militärischen, sondern auch aus wirtschaftlichen Gründen mehr als alle anderen angewiesen. Verhandlungen über Welltraumwaffen im Genfer Abrüstungsausschuß könnten nicht nur ein Wettrüsten in einem neuen Sektor militärischer Konfrontation verhindern, sondern auch die Blockierung anderer Initiativen der Rüstungskontrolle überwinden helfen, die auf globale Regime ausgerichtet sind.

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Wenn es schon schwer genug sein wird, bisher Geschaffenes zu erhalten und auszubauen, dürfte sich die Rüstungskontrolle bei der Bewältigung der neu entstehenden Konfliktlagen als wenig brauchbar erweisen. In der gegenwärtigen Weltlage steht der Einsatz militärischer Gewalt mehr denn je unter dem Stichwort der Asymmetrie. Einerseits setzen die großen Militärmächte auf die Asymmetrie der Stärke, indem sie ihre technologische Überlegenheit gegenüber schwächeren Konkurrenten zu steigern suchen; und wer seinen technologischen Vorsprung sichern will, wird keine Abkommen zur Begrenzung von Rüstungen abschließen 113. Auf der anderen Seite setzen die gefährlichsten ihrer Gegner zunehmend auf eine Asymmetrie der Schwäche: Terroristische Netzwerke greifen – anders als in früheren asymmetrischen Kriegen – nicht in erster Linie die Streitkräfte des Gegners an, sondern administrative, wirtschaftliche und infrastrukturelle Einrichtungen im Hinterland. „Postheroische“ Gesellschaften 114 geraten unter Druck, wenn es den Angreifern gelingt, die militärisch-technologische Überlegenheit irrelevant zu machen, indem sie durch Erzeugung von Angst und Schrecken politischen Druck auf die Regierungen dieser Gesellschaften ausüben. Die aus den europäischen Kriegen geläufige Reziprozität der Akteure als übergreifender Ordnungsrahmen spielt als Grundlage für mögliche Formen der Einhegung militärischer Gewalt keine Rolle mehr. Das gilt vor allem für den transnationalen Terrorismus, der im Verlauf der Neunziger Jahre eine Herausforderung der internationalen Ordnung geworden ist. Oft verbinden sich terroristische Netzwerke mit Warlordstrukturen in verfallenden Staaten, die zwischen der Position des politischen Verhandlungspartners und der des bewaffneten Kontrahenten changieren. In der nächsten Reihe stehen die Regierungen der üblichen „Schurkenstaaten“, die Terrornetzwerke mehr oder weniger getarnt unterstützen und sich gleichzeitig auf das souveräne Recht der Nichteinmischung in ihre inneren Angelegenheiten berufen. Eine Option von zunehmender Aktualität – vor allem in Ländern mit Millionen Immigranten – ist der Rückgriff auf hausgemachten Terrorismus. Wo aber Kriege militärisch nicht zu gewinnen sind, stellt sich die Frage nach dem Nutzen militärischer Macht und erst recht der Rüstungskontrolle. Auch in Regionalkonflikten, die noch von herkömmlichen staatlichen Akteuren ausgetragen werden, hat sich Rüstungskontrolle selten als taugliches Instrument erwiesen. Im Nahostkonflikt sind gelegentlich Konstruktionen genutzt worden, die aus der europäischen Rüstungskontrolle entlehnt wurden, stets aber als Maßnahmen des „Post Conflict Management“ externer Akteure unter dem Schirm der 113

Vgl. im folgenden Münkler, S. 150 ff. Der Begriff der postheroischen Gesellschaft wird seit Mitte der 1990er Jahre von Kriegstheoretikern wie Edward Lutwark, Michael Howard, John Keegan und Herfried Münkler verwendet und mit der Vorstellung einer Kriegführung ohne eigene Verluste in Verbindung gebracht; vgl. Münkler , S. 310 ff. 114

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Vereinten Nationen und gewöhnlich ohne nachhaltigen Erfolg; auch die Vereinten Nationen, bekannte kürzlich einer ihrer Sprecher vor Ort, können Friedenssicherung nur dort betreiben, wo es einen Frieden zu sichern gibt. Die Entwicklung eines autochthonen Rüstungskontrollregimes, selbst auf Vertrauensbildung im militärischen Bereich beschränkt, müßte, wie im Europa der Siebziger Jahre, auf Bereitschaft zum Gewaltverzicht, zu kooperativer Sicherheitspolitik oder gar zur „Sicherheitspartnerschaft“ aufbauen – eine Vorstellung, die aus heutiger Sicht nicht sehr realistisch erscheint. Daß sich das ändert, wenn die seit vielen Jahren angestrebte friedliche Regelung des Nahostkonflikts gelingen sollte, bleibt zu hoffen. Wer rüstungskontrollpolitische Vorhaben wie militärische Vertrauensbildung ohne eine solche politische Regelung auf die Tagesordnung setzen will, zäumt das Pferd von hinten auf. Auf dem afrikanischen Kontinent sind Regionalkonflikte meist hausgemacht, auch wenn strategische, wirtschaftliche und religiös-ideologische Interessen externer Mächte eine wachsende Rolle spielen. Die verheerendsten Konflikte in Afrika sind brutale Bürgerkriege, für die der Gedanke gegenseitiger Absprachen mit dem Ziel von Vertrauensbildung oder Rüstungsbegrenzung abwegig erscheint. Die gängigen Formen der Rüstungskontrolle und Abrüstung setzen funktionierende Staatlichkeit und ein vorhandenes staatliches Gewaltmonopol voraus. Seit einigen Jahren gibt es jedoch neue Formen der humanitären Rüstungskontrolle, die klassische Ziele der Rüstungskontrolle in die Entwicklungszusammenarbeit zu integrieren suchen. 115 So werden in den Vereinten Nationen Aktionsprogramme zur Eliminierung von kleinen Kriegswaffen entwickelt, die in weiten Regionen Afrikas eine Plage für die Menschen und ein Hemmnis für die Entwicklung sind – „Micro Disarmament“ oder „Practical Disarmament“ sind die Stichworte. Die Entwaffnung rivalisierender Parteien, im Zusammenhang mit „Post Conflict Management“ schon erfolgreich geübt, ist Abrüstung in einem neuen Sinne des Wortes. Die Konversion militärischer in zivile Ressourcen, als Teil oder genauer als Folgemaßnahme von Abrüstung, war im Europa in den Neunziger Jahren eine herausfordernde Aufgabe; auch in Afrika und in anderen Krisengebieten stellen sich wichtige Aufgaben der Konversion: die Auflösung von Streitkräftestrukturen im Zuge der Konfliktbewältigung, die Integration der Kombattanten in die zivile Gesellschaft, die Entsorgung von Waffenbeständen. Hier scheinen Abrüstung und Rüstungskontrolle Instrumente der Entwicklungspolitik, nicht mehr der Sicherheitspolitik, zu werden. Aber ist Entwicklungspolitik nicht längst Teil unserer Sicherheitspolitik geworden? Ein Modell für neue globale Rüstungskontrollansätze ist die Internationale Konvention zum Verbot von Antipersonenminen. Erstmals kam ein Waffenverbot auf 115 Wisotzki, Simone, Kleinwaffen ohne Grenzen. Strategien jenseits der Rüstungskontrolle gefordert, in HSFK-Report Nr. 15/2005.

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Grund des Drucks der Öffentlichkeit zustande: Auf Initiative der Internationalen Kampagne zum Verbot von Landminen trafen sich eine Reihe von aufgeschlossenen Staaten – „Like Minded States“ – zu einer Serie von Konferenzen, um außerhalb des in New York und in Genf blockierte VN-Rahmens über ein Verbot von Landminen zu verhandeln. Unter Mitwirkung von Nichtregierungsorganisationen gelang es, den Kreis der teilnehmenden Staaten zu erweitern und eine völkerrechtliche Konvention auszuarbeiten, die 1997 in Ottawa von 121 Ländern unterzeichnet wurde. Selbst wenn bis heute kein universelles Verbot erreicht werden konnte, sind auch die Länder, deren Armeen noch über Minen verfügen, unter Druck geraten. Über 30 Mio. Minen wurden vernichtet, die Zahl der Produzenten konnte drastisch vermindert werden, der grenzüberschreitende Handel mit AntiPersonenminen ist zum Erliegen gekommen. Erstmals konnte ein Abrüstungsabkommen um humanitäre Verpflichtungen erweitert werden; über 2 Mrd. Dollar sind bisher für Minenräumprogramme ausgegeben worden 116. Die Internationale Kampagne zum Verbot von Landminen,1997 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet, hat inzwischen Schule gemacht. Eine Konferenzinitiative von „Like Minded States“ und Nichtregierungsorganisationen hat zu einer Konferenz in Dublin geführt, die am 29. Mai 2008 den Entwurf eines Übereinkommens zum sofortigen und umfassenden Verbot von Streumunition angenommen hat. Das Übereinkommen soll im Dezember von möglichst vielen Staaten unterzeichnet werden, um nach Ratifizierung durch mindestens 30 Staaten in Kraft zu treten. Auch hier ist der Schwerpunkt das Kriegsvölkerrecht, erweitert um humanitäre Verpflichtungen und soziale und politische Auflagen. Im zivilgesellschaftlichen Engagement, wie es sich im „Oslo-Prozeß“ manifestiert, wie auch in der humanitären Rüstungskontrolle bei der Entwicklungszusammenarbeit zeichnen sich grundlegend neue Wege zur Abrüstung und Rüstungskontrolle ab. Und das ist gut so, denn die alten Wege werden nicht so schnell weiter führen.

116 Gebauer, Thomas, (Medico International), in einem Beitrag zum Forum für Globale Fragen, veranstaltet vom Auswärtigen Amt am 5. / 6. März 2007 in Berlin.

Anhang Zeittafel 1961 – 1983 Weltpolitik

Rüstungskontrolle Herbst 1961

Kubakrise

„Strategy of Disarmament“: In einer Sonderausgabe des Organs der American Academy of Arts and Sciences („Daedulus) propagieren amerikanische Wissenschaftler die „Arms Control“

Ende 1962 Juni 1963

Erste formlose Vereinbarung zwischen USA und UdSSR zur Rüstungskontrolle: Hot Line Agreement

August 1963

USA, UdSSR und UK vereinbaren Ende der Atomtests auf der Erde, im Weltraum und unter Wasser

Mai 1972

SALT I Interim Agreement und ABM-Vertrag

Januar 1973

Beginn der exploratorischen Gespräche über MBFR

Unterzeichnung der KSZE-Schlußakte von Helsinki

August 1973

Gipfeltreffen Carter / Breschnew in Wien

Juni 1979

Unterzeichnung von SALT II

Sowjetische Invasion Afghanistans

Dez. 1979

„Doppelbeschluß“ der NATO

Amtsantritt Präsident Reagans

Januar 1981

Carter bittet den Senat um Aufschub des Ratifizierungsverfahrens für SALT II

Nov. 1981

Beginn der INF-Verhandlungen in Genf

Juni 1982

Beginn der START-Verhandlungen in Genf

Nov. 1983

UdSSR bricht INF- und STARTVerhandlungen ab

Zustimmung des Deutschen Bundestags zur Stationierung der P II und Cruise Missiles

Anhang

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Zeittafel 1985 – 1992 Weltpolitik

Rüstungskontrolle

Amtsantritt Michail S. Gorbatschows als Generalsekretär der KPdSU

März 1985

Gipfel von Reykjavik

Okt. 1986 März 1986 Beginn der KSE-Verhandlungen in Wien Dez. 1987

INF-Vertrag abgeschlossen

NATO-Gipfel in Brüssel

Mai 1989

Gesamtkonzept zur Abrüstung und Rüstungskontrolle, Beilegung des Streits um die Modernisierung der nuklearen Kurzstreckenraketen

Fall der Mauer

Nov. 1989

„Open Skies“-Konferenz in Ottawa: Einsetzung des 2+4-Rahmens zur Regelung der äußeren Aspekte der deutschen Vereinigung

Nov. 1990

Erste freie Wahlen in der DDR

März 1990

Erstes 2+4-Treffen der Außenminister

Mai 1990

NATO-Gipfel in London Treffen Kohl / Gorbatschow im Kaukasus

Juli 1990

Einigung über Höchststärken für die Streitkräfte eines vereinten Deutschland

Einigungsvertrag zwischen den beiden deutschen Staaten

Aug. 1990

AM Genscher gibt vor dem KSE-Plenum eine verpflichtende Erklärung zu den deutschen Höchststärken ab, der sich DDR-AM de Maizière anschließt

Deutsche Einigung vollzogen

Nov. 1990

KSZE-Gipfel in Paris: Charta von Paris

Einigung über wichtige offene Fragen der KSE-Verhandlungen und über ein Zieldatum

KSE-Vertrag gezeichnet

Förmliche Auflösung des Warschauer Pakts

Juli 1991

Förmliche Auflösung der UdSSR, Gründung der „Gemeinschaft Unabhängiger Staaten“ (GUS)

Dez. 1991

Mai 1992

Unterzeichnung des START-I-Vertrags

Aufteilung der Rechte und Pflichten der UdSSR aus Abrüstungsverträgen unter den Nachfolgestaaten

Ausgewählte Literatur Bluth, Christoph: The Collapse of Soviet Military Power, Dartmouth Aldershot 1995. Brennan, Donald G. (Hrsg.): Strategie der Abrüstung, Deutsche erweiterte Ausgabe, herausgegeben in Verbindung mit der DGAP von Uwe Nerlich, Bertelsmann Verlag, Gütersloh 1962. Clancy, Tom: Red Storm Rising, Collins, London, 1987. Clausewitz, Carl von: Vom Kriege, Ferd. Dümmlers Verlag, Bonn. Cooley, Alexander: Base Politics, Democratic Change and the US Military Overseas, Cornell University Press, New York 2008. Ecco, Umberto: Im Krebsgang voran, Carl Hanser Verlag, München 2007. Genscher, Hans-Dietrich: Erinnerungen, Siedler Verlag, Berlin 1999. Goldblat, Jozef: Arms Control, A Guide to Negotiatons and Agreements, International Peace Research Institue, Oslo 1994. Grinjewskij, Oleg A: The Anatomy of Russian Defense Conversion, Institute for International Studies, Morrison Institute for Population and Resource Studies, Walnut Creek / Cal., Vega Press 2001. Hartmann, Rüdiger / Heydrich, Wolfgang / Meyer-Landrut, Nikolaus: Kommentar zum Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa, Nomos Verlagsgesellschaft, BadenBaden 1994. Howard, Michael: The Invention of Peace, Yale University Press, New Haven & London 2000. Kiessler, Richard / Elbe, Frank: Ein runder Tisch mit scharfen Kanten, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 1993. Kissinger, Henry: Diplomacy, Simon & Schuster, New York 1994. Krause, Joachim / Mageira-Krause, Christiana (Hrsg.), Siegler & Co., Verlage für Zeitarchive, Sankt Augustin; ab Band 25: Academia Verlag Sankt Augustin. Kwizinskij, Julij A.: Vor dem Sturm, Siedler Verlag München 1993. Lippman, Walter: US Foreign Policy: Shield of the Republic, Little Brown, Boston 1943. Mertes, Alois: Kontinuität und Wandel in der deutschen Außenpolitik, veröffentlicht in: Günther Buchstab (Hrsg.), Der Primat des Politischen, Droste Düsseldorf 1994.

Ausgewählte Literatur

107

– Sowjetische Kriterien der Sicherheit und Rüstungskontrolle, veröffentlicht in Schriften Forschungsinstituts der DGAP, Reihe Sicherheit und Rüstungskontrolle, Reihe Rüstungsbeschränkung und Sicherheit, Bd. 14. Meyer-Landrut, Nikolaus: Die Entstehung des Vertrags über konventionelle Streitkräfte in Europa und die Herstellung der deutschen Einheit, Forschungsinstitut der DGAP, Bonn 1992. Münkler, Herfried: Der Wandel des Krieges. Von der Symmetrie zur Asymmetrie, Velsbrück Wissenschaft, Weilerswist 2006. Ruhfus, Jürgen: Aufwärts, EOS-Verlag, St. Ottilien 2006. Schelling, Thomas C.: The Strategy of Conflict, Oxford University Press, Oxford 1960. Schmidt, Helmut: Die Mächte der Zukunft, Siedler Verlag, München 2004. Schoch, Bruno / Heinemann-Grüder, Andreas / Hippler, Jochen / Weingardt, Markus / Mutz, Reinhard (Hrsg.): Friedensgutachten 2007, Lit Verlag Dr. W. Hopf Berlin 2007. Schönbohm, Wilfried (Hrsg.): Bertha v. Suttner - Ausgewählte Texte, Pohl-Rugenstein, Köln 1993. Shultz, George P.: Turmoil and Triumph, Maxwell Macmillan International, New York 1993. Siegler, Heinrich (Hrsg.): Dokumentation zu Abrüstung und Sicherheit, Verlag für Zeitarchive Bonn / Wien / Zürich. Talbott, Strobe: Deadly Gambits, Picador London, 1984. Wisotzki, Simone: Kleinwaffen ohne Grenzen. Strategien jenseits der Rüstungskontrolle gefordert, Report der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung Nr. 15/ 2005, Frankfurt a. M. Zelikow, Philip / Rice, Condoleezza: Germany Unified and Europe United, Harvard University Press Cambridge Mass., 1999.